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Buch Das 18. Jahrhundert sah im Schamanismus der osteuropäischen, finnischen und tatarisch-mongolischen Völker eine...
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Buch Das 18. Jahrhundert sah im Schamanismus der osteuropäischen, finnischen und tatarisch-mongolischen Völker eine primitive Religion. Früh entdeckte man ihre geistigen Übereinstimmungen mit dem lange verfolgten und verkannten »Hexenwesen« Europas. Unter der Diktatur Stalins erlebten die Anhänger des Schamanismus eine Unterdrückung, die den blutigen Religionskriegen der Vergangenheit in nichts nachsteht. In der Gegenwart wirken die Lehren der Schamanen, vermittelt von bekannten Autoren wie Helena Blavatsky, Georg Gurdjieff, Nikolaus Roerich und vielen anderen, als Anregung zahlreicher moderner mystischer Bewegungen. Von diesen »Abenteurern des Geistes« wird uns eine nahezu unerschöpfliche Quelle der Erfahrungen erschlossen, die uns die Beziehungen unserer Kultur zum Mitmenschen, zur lebendigen Umwelt und »zu allen Wesen der Erde« neu ins Bewußtsein rückt. Auf »Adlerflügeln« flogen einst die Schamanen Eurasiens in die Welten der Steine, Pflanzen, Tiere, der Ahnen und Sterne. Beiden Geschlechtern stand damals wie heute der Weg des Schamanen offen, dieses ersten intellektuellen Berufes, in dem sich die Urform von Arzt, Priester, Künstler und Lehrer harmonisch vereinigt. Autor Sergius Golowin, während der Flucht seiner Eltern vor dem Stalinismus 1930 in Prag geboren, lebt seit seinem dritten Lebensjahr in der Schweiz, dem Heimatland seiner Mutter. Sein Vater führte ihn 1945 in Paris in die BohemeKreise Cocteaus, Sartres und Celines ein. Dort begegnete er Flüchtlingen aus allen östlichen Völkern, auch Zigeunern der verschiedenen Stämme, deren Überlieferungen und Traditionen ihn stark beeinflußten. 1950-68 war Golowin als Bibliothekar mit besonderer Ausbildung in Richtung Heimat- und Volkskunde, in Bern tätig. Als Verfechter der politischen Rechte der Nomadenstämme in Mitteleuropa und als freier Schriftsteller hat sich Sergius Golowin international durchgesetzt.
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Sergius
GOLOWIN
Das Reich des
Schamanen
Die eurasische Kultur der Spiritualität der Weg des Alten Wissens
GOLDMANNVERLAG
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Das Buch erschien bereits 1981 im Sphinx Verlag Basel unter dem gleichen Titel und liegt hier in überarbeiteter und um das Nachwort erweiterter Fassung vor.
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann Made in Germany 8/89 l. Auflage © 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: A. A. Lichanow Druck: Presse-Druck Augsburg Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Verlagsnummer: 11885 Lektorat: Michael Görden/DvW Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-11885-9
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Inhalt
Vorwort 9
Erster Teil Die Himmlischen aus den Hochländern 13
Der Adlermensch 15
Religion und Regierung der großen Stämme 19
Zauberer durch alle Zeiten 21
Das Reich des Sternenvolkes26
Abkunft von den Göttern 28 Um die ewige Welt -Ordnung 32
Gottheit in allen Religionen 36
Buddha Sakjamunis Schatten über Europa 38
Nomaden und Glaubensfreiheit 41
Religion der heiligen Natur 45
Wanderer durch den Kreis der Jahreszeiten 47
»Tatarentum« als zeitlose Überzeugung 51
Fliegenpilz und Seelenwanderung54
Die Erberinnerung 58
Der Volksstamm als Lebensbaum 60
Der Hexenmeister von Nordeuropa 64
Skythischer Kultur-Untergrund 66
Weise Frauen und Gaukler 70
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Energie aus heiliger Erotik74
Glück aus dem weiblichen Element 77
Religion, Sex und moderne Mißverständnisse 80
Die Magie als vergessene Naturwissenschaft 86
Gedanken-Übertragung in Tibet und der Mongolei 89
Verborgene Kräfte und Kobolde 92
Weltgeschichte für Wahrsager 97
Bewegung und Wanderung als Schicksal 100
Kulturen im Kreislauf 103
Zweiter Teil Völkerwanderung ohne Anfang und Ende 107
Attila, der Vater des Mittelalters 109
Urbild der Ritterschaften 112
Hoffnung auf Dietrich von Bern 115
Der Traum von Groß-Ungarn 118
Nomadenreich Europa im 10. Jahrhundert 122
Der »Ahnenweg« im Szeklerland und den Karpaten 124
Die Ost-Brücken des Abendlandes 128
Völkervielfalt als Himmelsgesetz 130
Das letzte Gotenreich 134
Der Sturmgott der goldenen Rasse 138
Militärtechnik aus Ekstase 140
Kaiser und Dichter 144
Der Kaiser der Welt 149
Heilige Herrscher in Ost und West 152
Königsweg zur Unsterblichkeit 155
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Das asiatische Mittelalter 160
Um Frauen und Gewürze 162
Der Abschluß des eurasischen Weltreichs 166
Politik der Freundschaft 171
Die ungebrochene Macht der Nomaden 174
Urzeit hinter dem Maskenspiel 177
Zar Peter entdeckt Europa 181
Opium für das Volk 185
Adel als Unterschicht 187
Dritter Teil Eurasische Erbschaft und Gegenwart 191
Die Ankunft der Spielleute und Wunderschmiede 193
Verfemte Überlieferung 195 Zwischen Slums und Ahnenstolz 199
Von Chazarenfürsten und dem Ost-Judentum 202
Seelenwanderung und Familienreligion 204
Vermittler zwischen Paradies und Erde 208
Die Nomadenwelt in uns212
Aristokratien und Hirtenwesen 215 Der Ahnenkult der Jugendbünde 219
Drogen und Technologie aus dem Märchenland 223
Die Alchimie des Bewußtseins 226
Entwicklungsland Europa 230
Skythische Sehnsucht 234
Schamanistisch-buddhistischer Kultur-Untergrund 237
Wahrheitssucher und fahrendes Volk 240
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Vom Mythos zum Massen-Aberglauben 245
Urgemeinschaft und kommunistische Utopie 247
Rassen-ldeologie 251
Totaler Staat oder Bund von Stammeskulturen 256
Die konservative Revolution 258
Lenin zwischen Märchen und Macht 262
Zukunftsmacht Sibirien 265
Geister der Ahnen 268
Wiedergeburt im mongolischen Grenzraum 271
Morgenröte für Stämme 276
Völkerverbindung und neue Bildung 279
Jugendbewegung zur Eigen-Art 283
Nachwort - 8 Jahre später 288
Träume um Kosak Gorbatschow 288
Odessa, ein Versuch für die Zukunft 290
Die Seelentore von Kiew 293
Wiedergeburt der Glaubenskraft 295
Der Heilige Andreas im Skythenland 298
Schamanismus und neue Wissenschaft 300
Entdeckung der Heiligen Orte 304
Morgenröte vom Osten her 307
Anhang 311
Anmerkungen - Bibliographie 313
Bildnachweis 339
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Vorwort
In der europäischen Überlieferung gibt es eine große Lücke, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf: die Rolle der Tataren und Schamanen als Träger der ursprünglichen Religiosität. Da ich auf der Suche nach den gemeinsamen Wurzeln der Kulturen immer wieder auf diese Tradition gestoßen bin — finde ich die Arbeit meines Freundes Sergius Golowin von geradezu epochemachender Bedeutung. Betrachten wir die Haltung gegenüber dieser Urüberlieferung aus zwei Gesichtspunkten: dem europäisch-christlichen und dem indischen. Europäer lehnten den Schamanismus und die Überbleibsel der germanisch-keltischen Volksreligion als Heidentum ab; und in Indien gibt es den Gegensatz zwischen der vedischen Überlieferung, die das Alltagsleben bis in die kleinste Einzelheit nach geistigen Vorbildern festlegt, und dem Vedanta, welches im Verstehen und im Weg des Wissens das entscheidende Kriterium der Befreiung sieht. Beide nun haben durch die Buchreligionen — die Bibel und die Vedas — den ursprünglichen Zusammenhang verloren, den die mongolischen Stämme noch bewahrten. Aber in Indien ist der Zusammenhang leichter zu finden; denn die Weisheit der Vedas und Upanishaden stammt von Sehern, Rishis — und ihr Wahrheitsbegriff ist Vidhia, das Geschaute - natürlich nicht über die Augen in der Wirklichkeit, sondern über die innere Vision des Traumes. Nur eine Rückbesinnung auf die Religion des Menschen, deren methodischer Ausdruck der Schamanismus in all seinen Ausprägungen von Sibirien bis nach Afrika und Südamerika ist, kann heute die sogenannte dritte Welt in ihrer menschheitlichen Bedeutung den westlichen und östlichen kapitalistischen und sozialistischen Zivilisationen gleichstellen. Im Gegensatz
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zur Überlebensphilosophie der früheren Industriegesellschaft bringt diese Erinnerung, die noch nicht ganz zerstört wurde, die Lebensqualität dem einfachen Menschen zurück und begeistert daher die Jugend. Man kann behaupten, daß die technische Revolution im Zuge der Aufklärung für den Menschen wesentliche Erleichterungen gebracht hat. Aber die traditionellen Religionen haben den Weg zur unmittelbaren Erfahrung des Geistes, wie sie die Schamanen aller Landstriche gleichsinnig zugänglich machen, verloren. Im Sinne der Wassermannzeit, des Human Potential Movement und auch der russischen Erneuerung von Glasnost und Perestroika ist die heutige Bewertung der beiden Aspekte der Urreligion Ahnenkult und Einstimmung in die Natur sowohl von ihrem physischen als auch ihrem geistigen Aspekt - nicht nur eine vordringliche Aufgabe, sondern gleichzeitig auch eine Möglichkeit, die Weltreligionen auf ihre unmittelbare Erfahrungsgrundlage jenseits aller Theologie und Liturgie zu eichen. Golowins Buch ist hierbei in Verbindung mit seinen anderen Werken ein wichtiger Ansatz. Die alte Überlieferung lebt überall auf den Dörfern noch fort, ist aber genau wie bei allen Stammeskulturen von der Vernichtung durch die Aufklärung und die Technik bedroht. Man wird heute bei den Eskimos, wie mir erst vor kurzem ein Forscher berichtete, schwerlich echte Schamanen mehr finden. Um so wichtiger ist es daher, die grundsätzlichen Züge dieser Weltschau, welche die Erde als göttliches Wesen anerkennt und der Frau die gleiche religiöse Bedeutung zuspricht wie dem Mann, aus dem Geiste wieder zu erschaffen. Erst wenn man etwas verloren hat, kann man es wiederfinden, das heißt aus dem Geiste neu gebären. Manche deutschen Forscher haben das für vergessene Überlieferungen durchgeführt, wie Richard Wilhelm für China, Heinrich Zimmer für Indien und Leo Frobenius für Afrika. Das Wer k Golowins reiht sich würdig in diese Tradition ein, weil es ihm nicht um ein bloßes Berichten aus philologischem oder wissenschaftlichem Interesse
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geht - sondern man bei jedem Buch spürt, daß er selbst existentiell von seinem Verstehen ergriffen ist, also über das exakte Wissen den Eros Paideutikos zu erwecken versteht. Wien, im Februar 1989
Arnold Keyserling
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ERSTER TEIL
Die Himmlischen aus den Hochländern
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Der Adlermensch Bei den Burjäten sandten »die Himmlischen« den Adler als den ersten Schamanen zu den Menschen, damit er ihnen Wege zeige, alle ihre Leiden zu überwinden. Ein Nachkomme des alten »Fahrenden Volkes«, der Nomaden im Alpengebiet, schmückte seine hölzerne »Zigeunerhütte« am Stadtrand auch mit seltenen Adlerfedern. »Die großen Vorfah ren haben sie an ihren Hüten getragen«, erzählte er, und er ge brauchte ein Wortspiel: »Sie waren eben schwindelfrei und Wahrsager.« Sie seien auf die Höhen gestiegen und hätten dort vor ihren inneren Augen »die Fahrten« der Ahnen von der Urhei mat bis heute erstehen lassen. Aus den Erinnerungen an die Ur väter und Urmütter sei dann diesen »Adlerleuten« der Ge danke daran gekommen, was sie in ihrer Gegenwart zu tun hät ten.1 Von der gleichen magischen Kunst des »Adlerflugs« hörte ich am Anfang der sechziger Jahre, zusammen mit einem einheimi schen fahrenden Geiger, am Lagerfeuer von nomadisierenden »Wahrsagern« in Südfrankreich. Von ihnen vernahm ich auch Andeutungen über diese alte Wissenschaft, scheinbar »aus dem Leib zu gehen und die Schwere der Welt zu verlieren«: Man kann dann »wie ein Adler« die Vergangenheit und Zukunft durchfliegen, zumindest wenn man schon Eltern mit dieser An lage hatte und in einer Sippe lebt, die daran glaubt: »Besonders Frauen« geben dem Seher die Kraft, sich von allen Fesseln zu lö sen und in einen Zustand zu gelangen, in dem er Bilder sieht und Gedanken hört, »die ihm eigentlich niemand erzählt hat«.2 Hier vernahm ich auch von weiteren Hilfsmitteln, um diesen Zustand zu erreichen: Leise Trommelschläge, die zuerst dem Schlagen des Herzens entsprechen müssen, sollen den Geist des »Wahrsagers« für seinen Flug befreien. Die Zigeuner behaupten im übrigen, dazu auch bestimmte Töne der Balalaika oder von
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ändern Saiteninstrumenten gekannt zu haben, die im empfäng lichen Menschen »die Erinnerungen« weckten, gelegentlich an geblich sogar an Dinge, »die nicht ihm selber, sondern seinen entfernten Ahnen bekannt gewesen waren«... Auch diese Mär chen erzählten mir in Paris aus dem Osten stammende Zigeu ner, die behaupteten, ihre Verwandten hätten noch für den rätselhaften Sibirier Rasputin gespielt, »diesen letzten Schama nen des letzten russischen Kaisers«. Adlerfedern, die er in seiner Wohnung in der Großstadt aufbe wahrte, zeigte mir in den fünfziger Jahren auch ein großer Dich ter, der sich sein Leben lang mit eurasischen Ketzereien und Ge heimsekten von heidnisch-christlichem Ursprung herumge schlagen hatte: Sie waren nach ihm ein Zaubermittel der »heil kundigen Wissenden« (Znachari), die vom Schwarzen Meer bis zum Ural und Altai in abgelegenen Wald- und Berghütten hau sten, wie ihre Vorfahren im Mittelalter.3 Wenn der Mensch sich »wie auf Adlerflügeln« über seinen Alltag erheben kann, so lehrten sie, strömen »von Sternen, Ge birgen, Tieren und Pflanzen her« die Lebenskräfte in ihn. Alter und Schwäche weichen dann, und es fällt ihm »von selber ein«, was er noch tun muß, um ein volles Dasein weiterzufüh ren, »sich zu erneuern«. Wenn man »diesen Strom der Kraft« erleben kann, »genau wie der Adler die Lüfte«, das glaubten diese Menschen, dann weicht jede Verkrampfung des Leidens, und sogar der Vorgang der Ge burt beim Weib wird schmerzlos: Es war für mich später sehr wichtig, daß in den modernen Bewegungen für die schmerzlose Geburt, wie sie heute zunehmend bei den Frauen in Nordame rika und Rußland beliebt werden, die Bräuche und Gedanken der alten Nomadenkulturen bewußt wieder als Anreger herange zogen werden... Besonders bei den eurasischen Stämmen kennt man nun diese wunderbaren »Wahrsager und magischen Heilkundigen« unter dem Wort Schamanen: Oft wird angenommen, der Aus druck sei aus den indisch-buddhistischen Mundarten nach Sibi rien gekommen. Einige Gelehrte sehen ihn aber noch immer als
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das etwas anders ausgesprochene türkisch-tatarische Wort »Kam«, das ebenfalls Menschen mit den entsprec henden Fä higkeiten bezeichnet.4 Wieder ersteht vor uns, wie bei den unbedeutenden Sagenie sten, die ich vernehmen konnte, der Adler als das Leitbild des Kulturkreises: Bei den Burjäten sandten ihn »die Himmli schen« (tengri) als den ersten Schamanen zu den Menschen, da mit er ihnen Wege zeige, alle ihre Leiden zu überwinden: Das Erscheinen eines Adlers wird darum bei ihnen etwa von dem Menschen, der ihn wahrnimmt, als ein Zeichen empfunden, seine Begabung zum Schamanentum zu entwickeln.5 Auch bei den sibirischen Jakuten ist der Adler der Schöpfer des ersten Schamanen und trägt geradezu den mythischen Na men »Schöpfer des Lichts« (Ajy tojon). Er sitzt zweihäuptig oben im Weltenbaum5 : Dies erinnert uns z. B. auch an den kos mischen Adler der germanischen Mythen, der zuoberst in der Weltenesche thront, diesem gewaltigen Sinnbild für die Einheit aller Lebensvorgänge. Der Schamane ist in seiner ganzen Vielseitigkeit kaum durch eine nüchterne Aufzählung widersprüchlicher Tatsachen zu erfassen: Die Mythen der euras ischen Völker zeigen ihn uns als den Menschen, der die Anlage besitzt, die Fähigkeit seines Gei stes so zu steigern, daß er einen lebendigen Überblick über das Grundwesen der Völker und ihrer einzelnen Wesen gewinnt. Er schaut Bilder, aus denen die ekstatischen Dichter der Stämme ebenso ihre Vorstellungen entnehmen wie ihre Häuptlinge für Wanderungen in Krieg und Frieden. Um den gesamten gewaltigen Kulturkreis, der sich um den Schamanen bildete, besser zu begreifen, müssen wir uns mit den Gesellschaften und Völkern befassen, deren Phantasien durch Jahrtausende um Menschen dieser Art kreisten.
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In der religiösen tibetanischen Kunst »fliegen« die Weisen mit ihren Gefährtinnen »adlergleich« durch die Lüfte
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Religion und Regierung der großen Stämme Die europäischen Forscher studierten den Schamanismus im 19. und 20. Jahrhundert vielfach mit Vorurteilen. Je mehr sie aus Gebieten kamen, die selber diese »Kulturerscheinungen« eben überwunden hatten, um so mehr neigten sie dazu, ihre geistige Überlegenheit gegenüber »den Zauberpriestern der Primitiven« herauszustreichen. Im sibirischen Raum Rußlands, wo sich am dichtesten solche Vorstellungskreise befinden, arbeiteten etliche der entsprechen den Forscher mit der Staatskirche der Zarenzeit zusammen. Diese sah im »Heidentum« der Ural- und der Altaivölker den Ausdruck der feindlichen Haltung der Stämme: Man war überzeugt, daß von hier Ideen aufsteigen könnten, die bei diesen Völkern eine »alltürkische«, »panmongolische«, »turanische« Romantik fordern würden. Also eine Weltanschauung des Ah nenkults, des Glaubens an die eigenen Werte durch alle Zeiten hindurch — die diese Rassen verständlicherweise daran hindern würde, unkritisch die europäische Zivilisation zu überneh men.6 Nach der Revolution von 1917 bis 1921, als die Zentralmacht der Zaren durch die von Lenin und Stalin ersetzt wurde, änder ten sich bei solchen »Forschungen« sehr häufig nur deren Vor zeichen: Einige der wichtigsten Arbeiten über das sibirische Schamanentum entstanden — im Klartext in den Vorworten nachzulesen — ausschließlich zu dem Zweck, die besten Wege herauszufinden, wie man auch diese Völker der abgelegenen Ge genden für eine für sie noch völlig unverständliche »athei stisch-materialistische Ideologie« gewinnen könnte. 7 Erst nach den sechziger Jahren scheint sich auch hier einiges zu ändern: Eine Jugend, die ohne Vorurteile und Größenwahn wegen ihrer technologischen Zivilisation die Begegnung mit den Stämmen wagte, beginnt in deren Umkreis fast verschüttete Wege zum eigenen Wesen zu entdecken. Für das Mittelalter war aber der Schamanismus nicht nur ir gendwelchen »unterentwickelten« Volkern eigen: Die Khane,
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die großen Fürsten der Tataren und Mongolen, die man als die mächtigsten Herrscher der Welt bewunderte, betrieben ihn und waren damit Meister, »die alle verborgenen Künste kön nen«.8 Der orientalische Chronist Djudjanis bezeugt sogar die entsprechende hohe Begabung des Djingis-Khan, unter dem und seinen unmittelbaren Nachfolgern die Nomadenheere des 13. Jahrhunderts ihren Einfluß von Wien bis Japan und Java auszu dehnen vermochten: »Wenn der Geist über ihn kam, stammelte seine Zunge von siegreichen Taten... Alle Worte, die DjingisKhan in entrücktem Zustand hervorstieß, wurden sofort von ei nem Schreiber festgehalten.. .«9 Die größten und teilweise sogar dauerhaftesten Reichsgründungen der Geschichte sah man also als Frucht der Anregungen, die die Khane bei ihren magischen Sitzungen zu gewinnen wußten! Die europäischen Augenzeugen sahen deshalb bei den von ihnen bewunderten Nomadenkulturen des Ostens im Regieren und schamanistischen Schauen sozusagen eine unauflösbare Einheit: »Die Missionare des Mittelalters haben beinahe durch gängig Kam = Priester und Khan = Fürst verwechselt und bei des mit einem >m< geschrieben.«10 Die Beziehung war auf alle Fälle sehr eng, die Khane waren selber für »den seelischen Ad lerflug« begabt, und die Schamanen hatten gleichzeitig (wie man aus ihren Räten entnehmen kann), eine hochentwickelte Fähigkeit für das Erkennen politischer Zusammenhänge: Beide waren häufig eng genug verwandt, stammten aus der gleichen Sippe und arbeiteten für das Heil ihrer Stämme zu sammen. Der große Reisende Wilhelm von Rubruk schildert den Scha manismus, den er hartnäckig »Wahrsagerei« nennt, als die ei gentliche »Religion« der Tataren und Mongolen im Reich des Djingis-Khan, aber auch als ihr Mittel zur »Regierung des Vol kes«." Das Zelt des obersten Schamanen war auch im Noma denlager in der Nähe des Zelts des Fürsten oder Khans, die der anderen Schamanen standen bei den Zelten der ändern Vorneh men, für den übrigen Stamm hausten die magischen Menschen ferner.12
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Die Fähigkeit zur »Schau«, zum »Seelenflug«, »zum Besuch der Ahnen und der himmlischen Götter« war für die entspre chenden Völker geradezu ein Merkmal der menschlichen Ent wicklung: Je höher bei den Nomaden ein Fürst stand, desto mehr magische Gaben besaß er, konnte er die Erkenntnisse sei ner »Seher« nachvollziehen und beim Leiten seines Volkes an wenden. Umgekehrt: Je bedeutender ein »Wahrsager« sich sei ner Gaben bewußt wurde, desto besser vermochte er sie zum Glück der ganzen Gemeinschaft zu nützen. Tatarische, mongolische, indische, iranische Mythen schil dern übereinstimmend »die großen Fürsten der Urzeit« als We sen, bei denen beide Fähigkeiten eine Einheit bildeten: Sie wa ren Könige (Khane) und »Seherpriester« in einem.
Zauberer durch alle Zeiten Als »Mahasiddha«, der große Magier, tanzt Gott Shiva nach dem indischen Glauben im Himalajagebirge. Zu seinen Bewegungen, deren Geschwindigkeit jeden Zuschauer in Verzückung ver senkt, schlägt er die Trommel. Unzählig sind die erschrecken den Masken, Gestalten, halbtierischen Verkleidungen, die er sich dabei, besonders nach den tibetanisch-mongolischen Dar stellungen, zu verleihen vermag. Um von ihm und seiner Gattin, »der Tochter des Königs des Himalaja und Bergherrin (Par vati)«, alle Geheimnisse der Magie zu erlernen, ziehen noch heute nach dem Volksglauben »die Eingeweihten« in die er schreckendsten Gebirgseinsamkeiten. 13 Die Vedas, die Gesänge der urindischen Hirtenkrieger, be singen den Schamanen und Freund des Shiva (Rudra) als »den Langhaarigen«. Er ist »der Verzückte« (muni), für den der lichte Himmel »zum Schauen ist« und der frei durch die Lüfte wandern kann. Er kann im Zustand seiner Erleuchtung die ganze Welt erkennen und »alle Gestalten schauen«. Er ist der Gefährte aller Wesen und trinkt mit Rudra-Shiva den Rausch trank der Unsterblichkeit. 14
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»Der weiße Alte«, hier als Felsbild in der Mongolei, gilt als Lehrer und Vorbild der Schamanen Indisch-buddhistische Gelehrte setzen ihn gelegentlich dem Gott Mahakala-Shiva des Himalajagebiets gleich
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Diese Menschen mit der Fähigkeit zur verzückten Serum, Magier, tragen noch heute in Indien, Tibet und China langes Haar14 — wie man mir anscheinend zuverlässig erzählte, gele gentlich auch noch in Sibirien und bei den Wolga-Kalmücken. Der in den Vedas verwendete Ausdruck »Muni« für diese alt in dogermanischen Schamanen ist wurzelverwandt mit dem grie chischen Wort »mania« = Verzückung, Raserei, geistige Erre gung. »Sakjamuni«, der Ehrenname des Königssohns Buddha Siddharta, würde also eigentlich den großen Verzückten, den ekstatischen Seher des ganzen Sakja-Volkes bedeuten: Dies scheint die uralte Bezeichnung einer Gesamtheit von kriegeri schen Stämmen gewesen zu sein, die durch große Zeitalter in Eurasien die Reiche gründeten. Der balinesische Adel in Indo nesien leitet sich von ihnen ab15, wie auch die griechische Be zeichnung der »Skythen«, dieser osteuropäischen Nomaden völker, nach indischen und europäischen Altertumsforschern das gleiche Wort ist!16 Die Geschichte von Buddha, dem Erleuchteten oder Erwach ten aus einem Fürstentum am Fuße des Himalaja, der tatsäch lich etwa 500 fahre vor Christus lebte, geht vor allem in tibeta nisch-mongolischen Mythen im Bild eines ewigen Buddha auf: Der »lotusgeborene« Padma-Sambhava durchwandert, ohne den Tod zu kennen, durch Jahrtausende Indien, Persien, China, Nepal, Bhutan, Sikkim, Tibet. Er ist Meister aller geheimen Wis senschaften und beherrscht alle Kunstfertigkeiten.17 Er begrün det überall die Weisheit und vertreibt Aberglauben und Irrtum, die nur aus den Entartungen der Lehren bestehen, die von seinen früheren Aufenthalten unter den Menschen blieben! 85 (!) Vertreter der magischen Wahrheitssuche - teilweise ausdrücklich als Nachfolger dieses unsterblichen Buddha ange geben - soll es im 7.-11. Jahrhundert in Indien und Tibet gege ben haben. Auf heiligen Darstellungen, die im Himalajaraum bis in die Mongolei noch immer verbreitet sind, werden wir jeden Augenblick an unsere mitteleuropäischen Magier-, Feen- und Hexensagen erinnert: Diese buddhistischen Schamanen sitzen in einsamen Höhen, meistens mit ihren schönen weiblichen Ge
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fährtinnen. Diese können »fliegen«, und gelegentlich entgehen beide, Magier und Magierin, der Schwerkraft der Erde und schweben in ihrer Verzückung in die Luft empor.18 Auch der große chinesische Weise Lao-Tse, der Begründer ei ner Gemeinschaft »der Gaukler, Magier und Astrologen«, soll einem Zeugnis nach »nach Baktrien«, also Mittelasien, gegangen sein. Man erzählte von ihm, daß er »weit im Westen reiste« oder in einem früheren Dasein im Westen lebte19 : Hier scheint wieder die Erinnerung an die Herkunft der ostasiatischen Mystik und Magie aus der mythischen Urheimat in der Mitte des Erdteils durchzuschimmern. Gelegentlic h betrachtete man auch Lao-Tse als leiblich un sterblich und als eine Menschwerdung des ewigen Gottes Shih wei oder Peng Tsu - des Genießers der Wunderpilze und Ken ners des Geheimnisses der Schwerelosigkeit. Die chinesischen Götternamen verweisen ihrer Bedeutung nach auf Paukenschlag und Wildschweinleder, letzteres im Sinn des Fells der damit be spannten Schamanen-Trommel20. Hier scheint die Beziehung der magischen Überlieferung Ostasiens zum ursprünglichen Schamanentum so deutlich wie beim indischen Shiva. Der Kreis schließt sich. Um die gleiche Zeit finden wir in China, Tibet, Indien, Iran, Europa erstaunliche Überein stimmungen. Die schamanistischen Tataren und Mongolen, die im 13. Jahrhundert aus dem Herzen dieses Raumes in alle Richtungen vorstießen und ihn fast zu einer Einheit verban den, begegneten überall Stammeskulturen mit gleichen Vor stellungen. Die Zivilisationen, die sich um das Kerngebiet des Schamanis mus im Mittelalter erheben und wieder vergehen, zeigen zu die sem deutliche Beziehungen. Sogar den Fürsten des christlichen, vortatarischen Rußland wurde von ihren Sängern eine Fülle von magischen Eigenschaften zugeschrieben. Fürst Wseslaw von Polotzk, der um 1100 herrschte, und, wie sein ganzes Geschlecht, eng mit westeuropäischen Königs häusern verbunden war 21, verstand sich demnach auf verschie denste Künste: blitzschnell riesige Strecken durcheilen,
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auf große Entfernungen hören, seine Gestalt wechseln können Menschen wie er sind offenbar »gleichen Wesens wie die Schamanen«. Sie erinnern uns »an die vergleichbaren Fähig keiten der indischen Götter und der taoistischen Weisen von China«.22
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Das Reich des Sternenvolkes Alle Völker des eurasischen Kulturkreises sind überzeugt, Vertreter der Himmlischen in ihren Reihen zu haben, durch die sie zu jeder Zeit Hinweise auf die göttliche Ordnung er halten können. Ihr Weltbild sahen die Tataren des 13. Jahrhunderts als aus der mystischen Schau ihrer Schamanen gewonnen. Khan Mangu sagte zum europäischen Reisenden Wilhelm von Rubruk: »Euch gab Gott die Schrift (also die biblischen Bücher), aber ihr Christen richtet euch nicht danach... Uns aber gab er Wahrsa ger (divinatores), und wir tun, was sie sagen, und wir leben in Frieden.«1 Auch die abendländischen Schriftsteller des Mittelalters tei len mit, Djingis-Khan selber habe seine Überzeugungen aus un mittelbaren Begegnungen mit dem Göttlichen gewonnen. In der Nacht habe er ein »Gesicht« erhalten, das seinen märchenhaf ten Lebenslauf prägen sollte: Er sah einen weißen Ritter auf ei nem weißen Pferd und erhielt so den Auftrag »des unsterblichen Gottes«, die Hirtenstämme zu vereinigen und sein Kaisertum zu gründen.2 Christliche und islamische Zeugen des letzten großen Tata renvorstoßes im 13. Jahrhundert sind sich einigermaßen einig, daß die Nomadenkrieger hinter allen Erscheinungen der sichtba ren Welt eine bewußte und ewige Urkraft vermuten: Diese Auf fassung soll sich bei ihnen ganz anders äußern als in den be kannten westlichen Religionen. Wir lesen etwa: »Sie anerkennen einen einzigen unsterblichen Gott und rufen seinen Namen an, aber dies ist alles.«3 Johannes von Piano Carpini erklärt genauer: Die Tataren seien vom Da sein einer allmächtigen Gottheit überzeugt - sie ehrten sie aber weder durch Gebete noch durch Lobgesänge oder andere got tesdienstliche Bräuche.4
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Diese ewige Grundkraft des Alls ist »der Himmel«, auf den sich tatsächlich auch Djingis-Khan gern bei seinen feierlichen Aussprüchen und Beschlüssen bezog: Das zur Bezeichnung ge brauchte Wort tönt bei Mongolen, Türken, Ujguren, Kalmük kcn, Kirgisen, Jakuten — also über riesige nordasiatische Räume hinweg - erstaunlich ähnlich. Es lautet, je nach den Mundarten, Tängri, Tengri, Tengeri, Tenri, Tanri, Tinri, Tegir, Tegri5. Die Grundbedeutung des Ausdrucks ist umstritten. Vambery erklärte die Wurzel des Wortes von »tan«, was Licht, Helle be deuten mag: Davon kämen z. B. im Ujgurischen »lang«, was Tagesanbruch bedeutet, usbekisch ebenfalls »tang« für Morgen dämmerung, im Kumanischen - Tagesanbruch, Wunder usw.5 Erstaunlicherweise haben die indogermanischen Völker in der Urzeit ihre religiösen Begriffe wesensverwandt gebildet, worauf unter anderem auch Koeppen in seinem Werk über die Religion des Buddha Sakjamuni hinwies: »>Deva< mit der Wurzel >div< - leuchten - hat sich irgendwie als Bezeichnung für >Gott< in allen indogermanischen Sprachen erhalten... Auch die Chinesen, Mongolen und Türken haben ein Wort (Thian, Taegri, Tangry) für Himmel und Gott.«6 Die Vorstellungswelt der indischen, germanischen und sprachlich diesen nahestehenden Stämmen hat sich ganz offenbar auf ähnlichen geistigen Grundlagen gebildet wie die der Tataren und Mongolen: Aus dieser urzeitlichen Tatsache verstehen wir, warum sich all diese Völker in dieser ganzen Geschichte dauernd beeinflußten und in unzähligen Kulturen deutlich zusammenwirkten. Der gleiche Ausdruck Tengri oder Tängri wird bei den Mon golen für mächtige, übermenschliche Wesen verwendet, was man meistens mit Götter übersetzt, eigentlich aber »die Himmli schen« bedeutet: Sie leben mit ihrem ganzen Sein die göttliche Ordnung des Kosmos. Sie sind darum die »von ihren ununter brochenen Lustbarkeiten stets Trunkenen«.7 Die Rasse der Himmlischen haust vor allem auf dem Berg »Sümmer-Ola« im Mittelpunkt des Weltalls, der bekanntlich dem Götterberg Meru der indischen Mythen entspricht und
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häufig dem irdischen Himalaja gleichgesetzt wird.8 (Der große Orientalist Burnouf erklärte darum den Namen des Pamir-Ge birges als eine Verkürzung des altindischen Ausdrucks UpaMeru, also als »Gegend jenseits des Meru«.) Der König (Khan) des Tengrivolkes, das also auf dem Meru »mit den umliegenden Gebirgen«, in ewigen Himmeln, wohnt, heißt »Hormusta-Tengri«8 : In der mongolisch-tatarischen Über lieferung ist er sogar der, der den neugeborenen Buddha »in ei nem göttlichen Wasser« getauft hat.9 In deutlicher Verbindung mit diesem Götterkönig von den höchsten Bergen steht der Planet Jupiter, der im Alttürkischen bezeichnenderweise »Ormizt« heißt10 : Dieser glänzende Wan delstern kann »wie die Sonne sich hoch in den Himmel erhe ben«. Er wird darum mit dem Adler verglichen, und sein alttür kischer Name hat geradezu die Bedeutung »der Adler«." Die gelehrte orientalische Magie, die für Jupiter auch den ira nischen Namen »Hurmuz« anführt, schildert den Planeten als einen Mann, der »mit den Füßen auf den Schultern des Adlers« sitzt 11 : Er ist also offensichtlich das Sinnbild des kühnen Gei stes, der sich am nächsten zum ewigen Himmel und der Er kenntnis seiner zeitlosen Gesetze aufschwingen kann. Es ist verständlich, daß der mongolische Mythos mit Hormu sta oder Ormizt seine höchsten Gestalten in Verbindung bringt: den frommen Königssohn Buddha, den mythischen Dämonen bezwinger Gesar-Khan und den geschichtlichen Nomadenherr scher Djingis.
Abkunft von den Göttern Der Gelehrte Mosheim, der besonders viele wichtige Nachrich ten über die frühen Beziehungen des Christentums zu den »Tar taren«-Reichen sammelte, berichtete den Gebildeten des 18. Jahrhunderts, daß die Lamas der buddhistischen Mongolen von der »Religion der Europäer« mit Geringschätzung zu reden pflegen: Sie »kenne nur den Herrn des Himmels«, vermittle aber
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kein genaues Wissen über die unter ihm, aber hoch über den ge wöhnlichen Menschen stehenden göttlichen Wesen und deren geistige Kräfte (espris, deos inferiores).12 Schon seit dem 13. Jahrhundert, der Zeit der vollkommenen Machtentfaltung der Tataren und Mongolen, wußte man im Abendland: »Sie nennen die alten Begründer ihrer Stämme Götter, und zu bestimmten Zeiten gedenken sie dieser feierlich: Es gibt nur vier allgemeine Feste...« Auch aus diesem Bericht scheint hervorzugehen, daß die Nomaden sich, dank ihrer Über zeugung der Abkunft von den Göttern, als die weisesten Völker der Welt hielten: »Sie glauben, daß alle Dinge für sie allein ge schaffen wurden.. .«'3 Die »Tängri«, die »Himmlischen«, sind nun, unter »allerlei angenommenen Gestalten«, die Bewahrer oder Beschützer von »jedem Teil des Weltsystems, jedem Reich und Volk, ja jedem Menschen«: Sie haben ihre Sitze »in Wäldern und ändern un zugänglichen Gegenden«.14 Dies war alles andere als ein aber gläubischer Geisterglaube; die Tängri oder Tengri, die Devas der Sanskritvölker, sind noch immer für die Himalajakulturen Menschen von Fleisch und Blut, die sich aber ihrer Abkunft vom Himmelsvolk erinnern. Ursprünglich, so glaubten bis in die Gegenwart Mongolen, Tibetaner und Kalmücken, »war alles Chubilgan«, waren also alle Menschen bewußte Gestaltwerdungen, Verkörperungen des Göttlichen: Sie waren entsprechend sonnenhaft, stets voll von »unaussprechlichen Freuden und Zufriedenheit«. Alle Erdbe wohner bes aßen darum »viele« der den Tängri »eigenen Kräfte«; all deren »wunderbare geistige Gaben«.15 Die Erinnerung an die göttliche Herkunft aus dem TengriReich »in der Mitte der Welten« haben sich aber verfinstert. Dennoch sind alle Völker des Kulturkreises davon überzeugt, unter sich Vertreter der Himmlischen zu haben, durch die sie zu jeder Zeit Hinweise auf die göttliche Ordnung erhalten können. Die »Tängri« werden nach ihrer Auffassung »unter dem menschlichen Geschlecht als die vollkommensten Chubilgane wiedergeboren, welche... (sich) ihres vorigen Standes bewußt
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Für verschiedene buddhistisch-hinduistische Weltbilder ist unsere Well ein Lebewesen (hier Schildkröte, darauf die 12 Erdteile als Lotosblüte mit dem Götterberg Meru in der Mitte): Sie bewegt sich durch die Ewigkeil, die als sich in den Schwanz beißende Schlange dargestellt wird
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sind, ihn (ihrer ganzen Umwelt) durch Wundertaten und Wohl taten beweisen...« Ihr Dasein ist entsprechend einer solchen Herkunft »ganz dem Dienst des Himmels« gewidmet." »Fürstliche Personen können aber auch wahre Chubilgane oder aus besseren Reichen wiedergeboren sein.«15 Die Könige, die großen Häuptlinge gelten als der weltliche, für die Men schen sichtbare Ausdruck des Tengrireichs. Djingis-Khan galt anscheinend darum für seine Zeitgenossen (und auch in seiner Selbstbetrachtung!) als »Tengri-Sohn«, »Tengri-Sprößling«.16 Von seinem Tengri-Vater, dem Götterkönig »Hormuzda«, er hielt er, damit er wieder voll seine göttliche Herkunft und sein unsterbliches Grundwesen erkenne, die Jadeschale »mit köstli chem Getränk«: Erst als er dieses in sich aufgenommen hatte, erlangte er seine unvorstellbaren Kräfte, die ihm alle seine Ta ten ermöglichten.16 Münster weiß über die nomadischen Tatarenvölker, daß nach diesen die Christen als Vertreter des Göttlichen nur Götzenbil der aus Holz und Stein (sie meinten offenbar die mittelalterli chen Darstellungen von Gott, den Engeln und den Heiligen) be säßen: Dies sei, so glaubten sie (immer noch nach Münster), geradezu eine Religion für »Hunde«17 : also eine Verehrung des Göttlichen aus Zwang und Gewöhnung, nicht aus lebendigem Wissen und Erkenntnis der wahren Zusammenhänge. Sie selber hätten dagegen durch ihre Menschen mit Schama nengaben (der abendländische Gewährsmann redet natürlich von »Schwarzkünstlern und Zauberern«) eine unmittelbare Be ziehung zu der himmlischen Ordnung, oder wie sie es ausge drückt haben sollen: »Gott rede mit ihnen und offenbare ihnen seinen Rat.«18 Seinem Gefolge soll der gestaltgewordene »Tengri-Sohn« Djingis-Khan gesagt haben: »Vor dem Antlitz der Ewigen Kraft des Himmels, in meiner Macht vervielfältigt durch den Himmel und die Erde, führte ich auf den Weg der Wahrheit das Reich der vielen Völker.. ,«19 In einer mongolischen Dichtung, die aus dem 13. Jahrhundert zu stammen scheint, wird Djingis-Khan von einem Gefährten entsprechend angeredet: »Du erbatst
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beim Hohen Himmel dir die Herrschaft und den gewaltigen 20 Glauben.« Die Macht über die Völker erscheint auch hier als der sichtbare Ausdruck der geistigen Kraft, die Djingis-Khan aus seiner von den Ahnen übernommenen Einstellung gewann.
Um die ewige Welt-Ordnung Um ihr Weltall darzustellen, errichteten die Mongolen Volkshei ligtümer: Dazu brauchte man 13 Hügel! In der Mitte war der Götterberg Meru, im Kreis um ihn standen die zwölf ändern, die den zwölf Erdteilen entsprachen.21 Wie wir aus tibetanisch-indischen Modellen der Erde ersehen können, versuchte man zu allen Zeiten diese mythische Spiege lung des »ewigen Himmels« (wohl mit dessen 12 »Reichen« des Tierkreises!) in den geographischen Gegebenheiten wiederzu finden. So deutet man etwa den südlichen Erdteil als das eigent liche Indien, den östlichen als China, den nördlichen ungefähr als Sibirien-Rußland, den westlichen als die Gegenden um das Kaspische und Schwarze Meer, aber auch das ferne Europa. (Zwischen jedem der vier Haupterdteile fand man noch zwei kleine, sozusagen als Übergänge. ..)22 In der Mitte wäre aber das heilige Meruland, der Himalajaraum der Hochgebirge, wohin die ansteigenden Täler von Nordindien und Nepal und — von der anderen Seite — von der Mongolei aus führen sollen. Hier liegen, zumindest für die mystische Phantasie der Seher, die Reiche der Himmlischen, der Tengri für die Mongolen, der Devas für die indischen Stämme: Dies sind die Wesen, die in ihrem ganzen Dasein die kosmischen Gesetze leben und darum die eigentlichen Vorbilder für die Völker aller zwölf Erdteile in ihrem Umkreis sind. Die Seher der Stämme des in zwölf Abschnitte zerfallenden Weltkreises stammen selber von ihnen ab und vermögen in Ge sichten etwas von ihrem »dem Himmel nahen« Dasein zu er schauen. Sie erzählen dies ihren Stämmen, und die Besten von
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Bei den beweglichen Nomadenwohnungen, den Jurten, hält die Holzkrone die Trägerstangen zusammen Durch diesen Ring entweicht der Rauch des heiligen Feuers - und die Seele des Schamanen soll hier m die Hohe steigen, sich mit den Sternenkräften des ewigen Himmels (tengri) vereinigen
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diesen setzen alles daran, den Himmlischen in den Hochtälern und Burgen des Meru-Gebirges nach Möglichkeit nachzueifern: Gelingt es ihnen, dann wird ihnen nach und nach etwas vom Glanz und der Lust des Daseins der »Himmlischen« zuteil. Auch wenn sie in den zwölf »äußeren« Welten leben, sind sie dann doch im Geiste Nachbarn und Gefährten der Rasse des Götter königs Hormuzda. Die Feinde des Tengri- oder Deva-Volkes sind die Assuri, die den götterhassenden Titanen der Inder, Griechen und Germa nen entsprechen. Ursprünglich mit den gleichen göttlichen Fä higkeiten begabt wie die Himmlischen, wollen sie diese erniedri gen und führen mit ihnen unzählige Kriege um die Macht. Dabei wurden sie immer weiter aus den Himmelsbergen des Meru-Landes hinausgedrängt und verloren damit »immer mehr ihre bisherige Vollkommenheit«. Zum Schluß sind sie ganz aus »den höheren Gegenden« verdrängt und Bewohner »der niedri gen Erdteile«: Sie zerfallen in zwei Gruppen, »die Gesetzlosen« und »die Gesetz-Untertänigen«.23 Offenbar erschienen den freien Stämmen der Urzeit beide Zustände, der des Daseins ganz ohne angestammten Brauch und der der Erniedrigung un ter erstarrten Gesetzen — gleichermaßen unmenschlich, dämo nisch, teuflisch! Es ist kaum zu bezweifeln, daß die Nomaden der Zeit DjingisKhans im 13. Jahrhundert die Wirklichkeit wieder an die Ord nung ihrer Mythen anzunähern versuchten: Die Zivilisationen, die nach und nach bis in die Steppen und Hochebenen vorstie ßen, empfanden sie als dem Leben entfremdet, ungerecht und gottlos, teuflisch, als Ausdruck der Unterdrückung durch die in Bosheit versunkenen Assuri. Noch im 20. Jahrhundert gibt es mongolische Anrufungen des Djingis-Khan, von dem ausdrücklich erzählt wird, er habe »ohne die Lehren der Weisen - die unzerstörbaren Gesetze be sessen«: »Durch den Willen des Hohen Himmels geboren, Trä ger des göttlichen Ruhmes, Bezwinger der Reiche der Welt, gött lich geborener Djingis-Khan: Nachkomme des ruhmreichen Tengri, erfüllt von Erhabenheit und Kraft.. ,«24
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Wie auch Raschid ad-Din bezeugt, erklärte der Khan selber während seinem denkwürdigen Aufenthalt im Altai-Gebiet, in einer Umwelt der Entartung und Zerstörung für die ihm nahe stehenden Gefährten wieder eine Annäherung an die himmli sche Ordnung zu erschaffen: »Meine Bemühungen und Absich ten sind gegenüber den Kriegern, die dunkel dastehen, gleich dem dichten Wald, und den Gattinnen, Bräuten und Töchtern, glänzend wie das Feuer, die folgenden: zu versüßen ihre Mün der mit der Süße des Zuckers der Gnade. Sie zu schmücken vom Haupt bis zu den Füßen mit dem Gewebe der Goldgewän der... Sie zu tränken mit reinem und süßem Wasser, zu be schenken ihr Vieh mit grasreichen Weiden. Meine Bemühungen und Absichten sind, zu befehlen die Säuberung der Wege von allem Unrat und allem, was Schaden bereiten kann. Sind, nicht zu bewilligen, daß Dornen und trok kene Pflanzen wachsen.«25 Djingis-Khan soll von Hormuzda-Tengri, seinem »Vater«, den Auftrag erhalten haben, über »die 12 Fürsten des Menschen geschlechts« (also wohl die Hauptfürsten der 12 Erdteile des mongolischen Weltbildes!) zu herrschen, »und durch Friede und Recht allgemeine Glückseligkeit zu verbreiten.«26 Das Tengri- oder Deva-Reich sollte damit in alle 12 Richtun gen der Erde ausstrahlen und somit sozusagen den Himmel auf die Erde bringen.
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Gottheit in allen Religionen
Einige Nomaden sehen noch heute in den sich bekämpfen den Religionen und Ideologien der Seßhaften nur den äußer lich verschiedenen Ausdruck der gleichen stets lebendigen Urwahrheiten — wie sie auch der eigene Stamm in seinen Überlieferungen und Bräuchen kennt. Im ganzen Mittelmeerraum von den Heeren des arabischen und iranischen Islam hart umdrängt, sahen die christlichen Kreuz ritter in den auftauchenden mongolischen und tatarischen Kriegerstämmen Djingis-Khans ihre Brüder und Verbünde ten. Im Brief des Marschalls von Armenien (anscheinend 1248) an den König von Cypern kann man die damalige Freudenbotschaft nachlesen, Khan Djingis behandle alle Christen »mit großer Ehre«. Er gewähre ihnen die edelsten Freiheiten und verbiete den Angehörigen der ändern Religionen, sie zu »kränken«. 1 Schadenfroh sehen nun die Christen die Macht des Islam bis an die Grenzen ihrer Ostreiche von den Tataren aufgerollt: Jeder Alleinanspruch der Mohammedaner schien in den reichsten Ländern aufgehoben — ihre Lehre wurde hier scheinbar nur zu einer Religion unter den ändern. »So wird den Sarazenen, die ih nen (den Christen) früher so große Furcht einflößten, nun zwie fach heimgezahlt, was sie einst verübten.« So frohlockten nun die Abendländer.1 Zahlreich sind die dunklen Nachrichten, die sich in den deut schen und ändern Gebieten Europas verbreiteten, nach denen die Tataren sozusagen geheime Christen seien. Noch so belesene Geschichtsschreiber der Kirche wie J. L. von Mosheim (1694—1755) oder |. S. Assemani in seiner »Bibliotheca Orien talis« (1728) sammelten die zeitgenössischen Behauptungen dieser Art: Demnach habe das 10. Jahrhundert einen »überall höchst kläglichen« Verfall des Christentums gebracht. Es habe
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für dieses ein einzigartiges Glück bedeutet, daß sich damals die 2 Überlieferung nach Osten verbreiten konnte. Die Bewegung der christlichen Nestorianer habe damals nach und nach bis über das biblische Chaldäa gereicht, »die eigentli che sogenannte Tatarei«: Durch diese Glaubensboten, die eine bessere Welt zu begründen hofften, sei »ein beträchtlicher Teil der Tatarei oder des asiatischen Skythien« bekehrt worden.2 Den Mittelpunkt des Djingis-Reichs, Karakorum, am Fuße des Altaigebirges und südlich vom Baikalsee, wähnte man genau im Bereich dieses nestorianischen Christentums liegend: Der große Khan selber soll die Tochter aus einem einheimischen christlichen Häuptlingsgeschlecht zu einer seiner Gattinnen genommen haben.3 Verschiedene Prinzen aus Djingis' Geschlecht, so Sartak, der Sohn von Batu-Khan, werden von Assemani als Christen ge nannt. Hulagu, dessen Volk im 13. Jahrhundert die islamische Hauptstadt Bagdad eroberte, und die meisten seiner Nachfolger hat man begeistert bei den abendländischen Christen geprie sen: »Weil ihre Gemahlinnen, zum Teil wenigstens, Christinnen waren und einige der Fürsten selbst sich zum Christentum be kehrt haben sollen«.3 Verzückt lobten die Christen noch lange den Djingisiden »Ylion« (Hulagu) als den eigentlichen Erretter ihrer Kultur: Er habe die Araber besiegt und dabei das heilige Land von Syrien und Palästina »ganz und gar« erobert und damit auch das Grab Christi, das Europa als sein Heiligtum und die wichtige Verbin dung zu den Christen von Asien ansah: »Und er gab es den Chri sten in ihre Verwaltung (unter die Hand)...« Reuig glaubten viel später die Christen: »Und von unserer Sünd' wegen wurde das heilige Land wieder verloren.«4 Die Nachrichten über gute Kenner des Christentums unter den Tatarenführern und ihren Frauen können kaum bezweifelt werden. Es ist aber ganz sicher, daß es so viele voneinander ab weichende Christenkirchen im Orient gab, die der Byzantiner, Russen, Georgier, Armenier, Nestorianer, Anhänger des Apo stels Thomas, Kopten, Äthiopier usw., daß sie den europä
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ischen Rittern und Pilgern mit der ähnlichen Vielfalt der dortigen buddhistischen Schulen durcheinandergingen: In beiden Glaubensrichtungen sahen sie Verehrung eines göttlichen Erlö sers, der von einer »Jungfrau« geboren wurde, und einer Unzahl von vorbildlichen Wesen, umgeben von himmlischer Ausstrah lung. Die Europäer sahen fast keinen Unterschied zwischen den Heiligen, Göttern (Devas) oder Engeln beider Kulturen.5 In der christlichen Kunst Osteuropas scheinen damals unter den Tataren viele süd- und ostasiatische Einflüsse noch stärker lebendig geworden zu sein als im Kaiserreich Byzanz.6 Bei den dunklen Gesichtern auf den Ikonen, vor allem von Maria und Christus, vermutete man während der Romantik östlichen Ein fluß7 : Auch russische Ketzer sollen die gleichen Kunstwerke gern »aus dem Aussehen der Menschen im Wunderland Indien (Indija tschudess)« erklärt haben.8 Den Buddhisten selber mag der christliche Glaube an eine enge Beziehung zu ihren Sekten kaum viel ausgemacht haben. Die buddhistischen Kalmücken im 18. Jahrhundert waren überzeugt, daß Christentum und Islam in deren geistigem Kern auf den Königssohn Buddha Sakjamuni zurückgehen. Er habe diese Religionen begründet, weil er gewußt habe, »daß nicht alle Völker fähig wären«, seine höchste Auffassung in ihrer ganzen Reinheit zu »fassen«. Es sei aber nun einmal sein fester Wille gewesen, ihnen die verschiedenen Wege zu ihrem Heil zu ver mitteln.9
Buddha Sakjamunis Schatten über Europa Man hat zeitweise vermutet, daß erst die späteren buddhisti schen Lamas den Versuch unternahmen, dem Volkshelden Djin gis-Khan eine Abkunft von berühmten indisch-buddhistischen Königen der Frühzeit nachzuweisen: Es ist aber tatsächlich ziemlich sicher, daß sich bereits seine Vorfahren auf irgendeine Art mit dem Buddhismus auseinandergesetzt haben müssen. In islamischen gelehrten Weltbeschreibungen des Mittelalters
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kann man die Überlieferung finden, daß noch vor den Leinen Mohammeds und auch des Iraniers Zarathustra der Buddhismus über ganz Persien ausgebreitet war.10 In den Heldendichtungen des Firdusi werden die gegen den Iran seit jeher anstürmenden Turanier »Götzendiener« genannt, was offenbar lange für die zarathustrischen und islamischen Iranier gleichermaßen Buddhisten bedeutete: Ihr König ist nach der Überlieferung Peghu, was der alte Ausdruck für Tibet gewesen sein soll." Turanisch soll der Name Bochara oder Buchara sein, dieses einzigartigen Kulturmittelpunkts, dessen Handelspolitik sogar auf das ferne Abendland ihren Einfluß ausgeübt haben soll: »Buchar heißt noch heute auf mongolisch ein buddhistischer Tempel, ein Kloster.« Noch der Mohammedaner Narschachi berichtet von zwei jährlichen Riesenmärkten von »Götzenbildern« — also anscheinend aller Darstellungen der Götter und Helden in der Art der indisch-buddhistischen Kulturkreise —, die hier statt fanden.11 Mohammedanische Schriftsteller behaupteten, der Name der Stadt Buchara »bedeute in der Sprache der Götzenanbeter... einen Sammelort des Wissens, also ein Kollegium oder Schule«." Wie fast das ganze Mittelalter hindurch konnten sich hier die Reisenden aus Ost und West, wie an allen wichtigen Handels plätzen der »Groß-Tartarei« (also z. B. in den Handelsstädten am Schwarzen Meer) über alle Religionen unterrichten. Im 8.—9. Jahrhundert bestand im übrigen, auch ein Vorläufer des Reichs von Djingis-Khan, das Khanat der Ujgur: Beide Reiche besaßen ihren Mittelpunkt im Raum von Karakorum. Auch diese Ujguren vereinigten unter sich bereits die Mongolen, Tataren, Kirgisen und retteten, stützten, beherrschten das von ihnen ebenfalls hoffnungslos abhängige chinesische T'ang-Reich: Die Schrift, in der sie nun ihre buddhistischen Werke ver breiteten, diente ihren Nachfolgern und Erben, den Mongolen und Tataren des 13., den Mandschus des 17. Jahrhunderts als Grundlage für die Entwicklung ihrer Alphabete.12 Gerade die Ujguren setzten sich aber gegenüber den chinesi schen Kaisern für vermehrte Toleranz, z. B. gegenüber dem
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Manichäismus, ein, dieser von allen Seiten blutig verfolgten Religion des Morgenlandes, die den Iranier Zarathustra, den Sakja-Inder Buddha und Christus gleichermaßen zu ihren Ver kündern rechnete.'' Vor allem der Buddhismus scheint aber bei ihnen sehr verbreitet gewesen zu sein, und die Beschäftigung mit buddhistischem Schrifttum, wie heute bei den Mongolen, Tibetanern und Kalmücken, bildete die Grundlage der Bildung. Wegen einiger Aspekte seiner Freude am Buddhismus war Khan Tschagatai, der Sohn des Djingis, in Zentralasien verhaßt. Zu seiner Zeit mußten sich die Mohammedaner »unter Todes strafe dem Schlachten der Haustiere enthalten«.14 Eine iranische Volksüberlieferung weiß, daß dies den Metz gern und den mit diesen erfolgreichen Geschäftsleuten ver bündeten »Pfaffen« den Anlaß gegeben habe, den alle Wesen be schützenden Khan zu verleumden: Wenn man ihre Geschäfte schädige, hätten sie geschworen, würden sie den Stadtmassen erzählen, die Tataren seien Freunde der Tiere, weil sie gern Menschen morden und sogar auffressen...15 Erst der Djingis-Nachfolger Khan Ghazan ging in dem von ihm beherrschten Persien 1295 zum Islam über, »wiewohl er tief in die Lehren des Buddhismus eingeweiht war.«16 Bei dieser Ge legenheit beendet er ein letztes Zeitalter der großen Duldung, das unter ihm fast den ganzen arabisch-iranischen Orient beein flußte und dessen Kultur prägte. Seine Befehle lauteten eindeu tig: »Alle Kirchen und Klöster der Christen, alle Feuertempel der Mongolen und Heiden, alle Götzentempel der Bekenner der Lehre des Buddha zu vernichten.«16 Wie man weiß, tat es dieser Khan »aus politischen Grün den« 15. Seine Stellung war vor allem durch den Zank mit Vet tern auf den ändern Thronen von Asien und Europa immer mehr erschüttert. Verstärkung durch die verbündeten Ritterscharen von Mongolei und Turkestan blieben aus. Immer häufiger brauchte er die Gunst der arabischen und iranischen Massen der beherrschten orientalischen Städte, und die Tataren begannen das erniedrigende Buhlen um die fanatischen und an Bildung haushoch unter ihnen stehenden Mullahs.
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»Wir sehen Abkömmlinge des Welterschütterers, die in der Moschee in Gegenwart des Volkes in öffentlicher Predigt Ver weise entgegennehmen und errötend oder gar weinend Abbitte tun.«17 Eine Pöbelherrschaft zwingt die immer schwächeren Khane auf die Knie und beendet eine Zeit von unvorstellbar un abhängiger Religiosität und Geistesfreiheit.
Nomaden und Glaubensfreiheit »Die allgemeine Duldung (der Religionen) blieb Herrscherprinzip der Khane, auch der persischen, und selbst noch zum Teil nach ihrer Bekehrung zum Islam.«18 In der Goldenen Horde, die nach Batu-Khan fast ganz Osteu ropa beherrscht, werden Schamanen erwähnt, »daneben bud dhistische Priester, so zuletzt anläßlich ihrer Vertreibung durch Özbeg bei seiner Thronbesetzung... Bei Ausgrabungen sind einige buddhistische (und dschainistische) Statuetten gefunden worden.«19 Aber auch: »Die vielen in Serai sich aufhaltenden russischen Künstler und Kaufleute genossen dort bei den anfangs sehr tole ranten Khanen der Goldenen Horde, ehe sie sich zum Islam wandten, freie Religionsausübung. Auf Anhalten des wladimiri schen Großfürsten Alexander Newsky erlaubte der Fürst BerkaiKhan sogar, daß in seinem Hoflager ein russisches Bistum er richtet wurde...«20 Oft stützte die russische Kirche geradezu die »Heiden«, weil sie unter deren Förderung ganz unbestritten an Reichtum und Glanz zunahm.21 Vieles der religiösen Hetze gegen die Tataren entstand bei den Christen, ähnlich wie bei den Mohammedanern — oder sogar im Bereich der chinesischen Religionen und Philosophien — nicht weil sie sie selbst unterdrückten, sondern weil sie auch die ändern Überzeugungen als wertvoll ansahen. Die Duldsamkeit der mächtigsten Stämme der Beherrscher von Asien und Osteuropa erschien als etwas geradezu Dämonisches, der Ausdruck von unheimlichem Geschick zu dauernden geistigen Ver
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Wandlungen: »Die Slawen sagen in ihren Volksliedern, daß die Tataren jeden Tag eine andere Gottheit ehren.. ,«22 Unter dem Großkhan der Tataren, seinem Gefolge der Berater und Ritter, sahen die staunenden europäischen Reisenden Christen und Heiden jeder erdenklichen Richtung vereinigt. Nicht wenig berührten sie in diesem bunten Kreis die angesehe nen Anhänger der Verehrung von großen Stammesahnen: Etli che in der Umgebung der Khane seien der Überzeugung, »daß Herkules und Jupiter, die in ihrer Zeit Menschen gewesen sind, nun göttlich (gotlik) wurden. Diese göttlich gewordenen Helden beten sie an«.23 Um als Häupter ihrer Völker anerkannt zu werden, mußten auch die christlich-russischen Fürsten jedesmal ins Reich der unbesiegbaren Khane ziehen. Sie mußten dort erst einmal »zwi schen zwei Feuern durchgehen, sich vor dem Götzen, dem Gür tel, der Sonne und dem Feuer verneigen und Geschenke darbrin gen«.24 Der Orientalist Hammer erklärte, unter diesen Sinnbildern habe man: »Kastu, persisch Kesti (cestus), den heiligen Gürtel der Magier (Maghen) und Inder. Auch der Name des Götzen priesters, Bolchbü, ist persischen Ursprungs, indem derselbe auf (die heilige Stadt) Balch, den Ursprung des Magiersitzes, hindeutet.«24 Unabhängig von ihrer einheimischen Volksreli gion mußten also die verschiedenen Fürsten des Khanreiches in die magische Erkenntnis ihres gemeinsamen Urgrunds einge weiht werden. Aus diesem »tatarischen« Glauben entstand im modernen Rußland ein seltsamer Kultur-Untergrund: Bergmann schildert uns »mehrere tausend Kalmücken in der saratneschen Gegend und der Wolga«, die zwar nach außen Christen geworden seien, in Wirklichkeit aber dem Buddhismus der Tibetaner und Mon golen folgen. Man wettere verzweifelt: »Eigennutz und Betrug (also der Wille zu einer guten Stellung im Reich der christlichen Zaren! S. G.) sind die einzigen Triebfedern, welche den Bur chandiener (also den Besitzer der buddhistischen Göttersinnbil der) zum Taufwasser hinziehen.«25
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Der Dreizack besitzt im Schamanenglauben im Raum des si birischen Riesenstroms Jenissei keine geringere Bedeutung als m der Magie der indischen Shivagläubigen vom Hima laja bis Java und Ball
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Solche äußeren russischen Christen hatten, vor den Fremden wohlversteckt, ihre aus dem Lamaismus stammenden »Reli gionsbücher, Opfergeräte, Rauchfässer«: »Ihre Priester ge hen zwar (um unter den Christen nicht aufzufallen) in weltli chen Kleidern und lassen ihre Haare wachsen...« Aber »bei ih ren heimlichen Versammlungen« seien sie allen ursprünglichen Bräuchen treu, und »leben in verstohlenem Einverständnis mit den echten Lamiten (also den offenen Anhängern der La mas), deren oberste Geistliche selbst die Weihe der langhaari gen Priester besorgen«.26 Übrigens finden sich unter den Buddhisten von Nepal, Tibet und Mongolei noch heute Priester von bestimmten Richtungen, »die lange Haare« tragen. Sie sollen zwar ihre Bildwelt zum gu ten Teil mit der der großen buddhistischen Kirchen gemeinsam haben, aber in Wirklichkeit noch immer die schamanistisch-tan tristischen Ekstasen zum Inhalt ihrer Kultur machen: Ob also Tarnung oder Überzeugung, die »langhaarigen Heidenmagier« sind zumindest für das Rußland des 18.—19. Jahrhunderts leben dige Wirklichkeit, und sie erklären möglicherweise einiges über die wahre Geschichte all der »fahrenden« Ketzer und He xen des westlichen Mittelalters.27 Hier erhielt sich oder erwachte unter den Völkern die alte No madenlehre. Äußere Angleichung an die Dogmen der mächti gen Ideologien lehren etwa Zigeunerstämme der Gegenwart, z. B. an Islam oder den zum Staatskult erstarrten Marxismus; sie ist bei den Wanderungen zulässig: Schließlich seien diese alle nur verschiedenen Ausdrücke der gleichen stets lebendigen Ur wahrheiten, wie sie auch der eigene Stamm seit jeher in seinen Überlieferungen und Bräuchen kenne.28 Hier finden wir noch immer die gleiche Schau der Zusammen hänge wie im 13. Jahrhundert bei den tatarischen und mongoli schen Eroberern von China: Die verschiedenen Religionen seien wie die Finger einer gleichen Hand! Ihre Bewegungen hätten in jedem Fall die gleiche Quelle — die gemeinsame Erkenntnis des Göttlichen.29
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Religion der heiligen Natur Die Nomadenkrieger lehrten: Die Welt ist ein ewiges Spiel der Wandlung. Im Gegensatz zu den nachträglichen Schreckbildern, die man von ihm entwarf, zeigen gerade die chinesischen Quellen den Nomadenhelden Djingis-Khan als einen frommen Philosophen, der seine Auffassungen von Gott und der Schöpfung auszubrei ten suchte. An einen chinesischen Mönch, einen Anhänger des Taoismus (des deutlich mit dem mittelasiatischen Schamanis mus verbundenen Lao-Tse) habe er 1219 geschrieben: »Der Himmel ist der Arroganz und des Luxus müde, die von China auf die Spitze getrieben werden. Ich dagegen, ich verbleibe in den wilden Gegenden des Nordens, wo der Mensch in Verhält nissen lebt, die keine Lockungen und Lüste aufkommen lassen. Ich komme zurück auf die Einfachheit und kehre zurück zur Reinheit.« Bewußt, so erzählt im weiteren Djingis-Khan sei nem taoistischen Zeitgenossen, esse und kleide er sich wie seine Kuhhirten.1 In diesem Sinn lauten die besten Schilderungen der Völker, die »nach dem Gesetz« des großen Khans zu leben versuchten — gleich ob wir sie aus dem 13. oder 19. Jahrhundert nehmen. Bei Rubruk heißt es für die Zeit, als fast die ganze Welt wieder unter die Vorherrschaft der Nomaden zu kommen schien: »Wie ich in ihre Mitte trat«, so schien es ihm »als setze ich den Fuß in eine an dere Welt«. 2 Ganz ähnlich schildert uns der fromme katholi sche Priester Huc, der bereits während des allgemeinen Glau bens an den technologischen Fortschritt die Weiten der »Tarta rei« durchstreifte. »Sie achten die Dinge dieser Welt nur ge ring«, staunte er über diese Völker, und zwar gleich, ob sie ihren Sehern (Schamanen) glaubten oder, zumindest vordergründig, den verschiedenen Richtungen des Buddhismus anhingen. »Sie leben auf Erden, als lebten sie nicht auf ihr. Sie beackern
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den Boden nicht und bauen auch keine Häuser. Sie sind (auf dieser Erde) gleichsam nur durchreisende Fremdlinge.« Dies lehrte Huc ausdrücklich nicht nur wegen der von ihm beobach teten Neigung der Nomaden zu unzähligen Pilgerfahrten an ihre heiligen Orte, sondern wegen ihres ganzen »fahrenden« Le bensstils, dessen vollendete Einheit mit ihren religiösen Auffas sungen auch er gründlich beobachtete. 3 In den alten Schilderungen der mongolischen und turko-tata rischen Stämme werden diese als alles andere als »primitiv« ge sehen: Unzählige Zeugen staunten über die Neigung der Kal mücken, Burjäten und Kalka-Mongolen, in ihren Jurten an den langen Winterabenden über Geschehnisse der Jahrmillionen und sogar Jahrmilliarden zu schwelgen. Es ist oberflächlich, dies alles auf den Einfluß der gelehrten buddhistischen Priester, der Lamas zurückzuführen, die ihre phantastische Vorge schichte den tibetanischen und nordindischen Enzyklopädien entnahmen. Ein russischer Offizier, der während des Ersten Weltkriegs und der Revolution über Mongolei und Mandschurei nach dem europäischen Westen kam, staunte über die Durchhaltekraft und die Genügsamkeit der Hirtenkrieger: In der höchsten Not und von der Übermacht ihrer Feinde umzingelt, so erzählte er meinem Vater, schwelgen sie in Geschichten von Khanen, die sich vor Jahrhunderttausenden (!) gegen unmenschliche Tyran nen behauptet haben sollen. Alles ist nur ein ewiges Spiel der Wandlung, war ihre feste Überzeugung. Untergänge von Zivili sationen und Aufstiege von glücklichen Reichen wiederholen sich ohne Ende. Es ist der Sinn jedes Menschen, dessen Bewußt sein »unsterblich ist und ewig wiederkommt«, stolz und frei durch alle Abenteuer zu wandern und ihre Buntheit zu genießen. Auch der Reisende Vambery staunte in Mittelasien, Turke stan, über die »bei den Nomaden so oft auftauchende Sage von vergangener Zivilisation«. Entsprechend dieser Auffassung be traten sie die in den turkmenischen Wüsten so häufigen Luft spiegelungen als eine Art magischen Beweises dieser endlosen Vergangenheit ihrer Völker.4
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Dieses (auch nach den westeuropäischen Reisenden) »aller schönste optische Gaukelspiel, das man sich vorstellen kann«, zeigt ihnen die früheren Wirklichkeiten: »Die Schatten der einst dort vorhandenen und untergegangenen Städte und Men schen.«4 Es soll zu den hohen Künsten gewisser buddhistischer Priester der Mongolei und von Tibet gehören, ihrem Gefolge Luftspiegelungen sozusagen auf magische Bestellung vorzufüh ren: Durch solche »Vorführungen« von ewigen Vorgängen er hielten angeblich sogar noch die Hirtenkrieger des 20. Jahrhun derts Mut für ihren Lebenskampf. Auch im deutschen Werk der Weltbeschreibung Münsters sind die Tataren Menschen, für die der selbstgewählte Lebens stil die Grundlage ihrer auch von Gegnern bewunderten Eigen schaften darstellt: »Sie sind also kundig, daß sie kein Tier metz gen und fressen, dieweil es ganz und gesund ist, sondern wenn es lahm, alt, oder an einem Glied krank wird — dann (erst) tun sie es ab... Sie lassen sich mit wenigem vergnügen, also daß sie häu fig (zum öfftermal) am Morgen trinken ein oder zwei Becher mit Milch, und behelfen sich damit den ganzen Tag.«3
Wanderer durch den Kreis der Jahreszeiten Es ist naiv, die Nomaden als Menschen ohne jede Bindung an eine Umwelt zu sehen. In der Regel kennen sie alle das feste Dorf, in dem die Sippen und das Vieh überwintern, »Aul« bei den Kaisachen, »Ayil« bei den Mongolen.6 Die Überlieferungen von Rumänien und der Krim, über Kaukasus und Turkestan bis nach Tibet und Nepal verbinden diese Siedlungen für die kalte und dunkle Winterszeit etwa noch mit den Ruinen von »Burgen« oder Steintürmen: Sie dienten anscheinend nicht nur für einen großen Überblick der Landschaften und die Verteidi gung des Dorfes, in dem im Sommer fast nur »die gebrechlichen Alten« lebten. In ihnen wurden auch die Stammbäume, Chro niken und die heiligen Schriften der Häuptlings familie gehü tet.7
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Eine solche »Ordnung« der Dinge breitete sich, wenn wir die erhältlichen asiatischen und europäischen Urkunden verglei chen, schon mehrfach über die ganze bekannte Welt aus. So schildert eine chinesisch-buddhistische Quelle des 6. Jahrhun derts die Hunnen, die gegen Indien vordrangen - und die selbst verständlich kaum von ihren Verwandten verschieden waren, die ungefähr gleichzeitig die abendländische Völkerwande rung auslösten: »Sie wohnen nicht in Städten, sie haben den Sitz ihrer Regierung in einem beweglichen Lager... Sie sind im mer auf der Suche nach Wasser und Weiden, begeben sich im Sommer in die kühlen Gegenden, im Winter in die gemäßigten Kantone.«8 Das Leben des Nomaden ist das Erlebnis des Jahres als eines Kreislaufs von Wechsel und Wandlungen: Für die Ge lehrten und Belesenen unter den Kalmücken und Mongolen stammt aus dieser Erkenntnis der Natur die Sicherheit, daß die Zustände des Todes und des Lebens einander ebenso abwech seln wie die Niederlagen und Siege der Völker... Der koreanische Pilger Houeitsch'ao schildert ganz entspre chend die Tibetaner des beginnenden 8. Jahrhunderts: diese hat ten keine eigentlichen ummauerten Städte, sondern waren of fenbar noch mehr oder weniger in ihrer Gesamtheit reine Zelt nomaden. Nach chinesischen Quellen besaßen nur ihre Könige ganz kleine »ummauerte Städte«, also wohl eher feste Plätze, Burgen, wie sie ähnlich auch der mittelalterliche Adel Europas zu den Stützpunkten seiner Kultur und des umwohnenden Vol kes erbauen ließ. Hier war etwa auch der Sitz der verwöhnten chinesischen Prinzessinnen, die damals die in ganz Ostasien so gefürchteten Fürsten des tibetanischen Berglandes heirateten: Adel und Hirtenstämme lebten offenbar auch hier in der schö nen Jahreszeit als reine Nomaden, nur im Winter zogen sie sich in ihre festen und sicheren Sitze zurück.9 Das Gesetz eines solchen Lebenstils erfaßte dann im 13. Jahr hundert, wie man damals schrieb, ganz »Skythien«, also den rie sigen Raum von Asien bis zur Donau. Dieses Gebiet »haben sie (die Tatarenstämme) unter sich geteilt«, schildert es uns etwa der zuverlässige Rubruk: Jeder Häuptling »kennt die Grenzen
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seiner Weidetriften« und bewege sich nach der Ordnung der Jahreszeiten innerhalb von ihnen. Im Sommer befanden sie sich im Norden, im Winter in den »wärmeren Strichen im Süden«.10 Auch Münster zeigt uns die gleichen Zustände, die sich in der »Tartarei« mehr oder weniger bis zur europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts voll erhielten: »Aber zur Winterszeit, daß sie sich der Kälte erwehren, ziehen sie zum Kaspischen Meere, da die Luft etwas milder ist, und im Sommer ziehen sie wieder in ihr Land.«11 Noch bis zum Untergang der selbständigen Khane der Krim unter den Schlägen des nordrussischen Zarenreichs leben die Hirtenkrieger am Schwarzen Meer und nutzen wesentliche Teile der heutigen Ukraine als ihr Weideland. Es war die feste Überzeugung der Tataren, daß dieser Lebens stil, wie schon Djingis-Khan gelehrt habe, »der Ausdruck des Willens des ewigen Himmels« und damit die Quelle all ihrer gei stigen und leiblichen Fähigkeiten sei. Die chinesische Überliefe rung erwähnt von den Mongolen Kublai-Khans, die ihr Ostreich beherrschten, daß sie in ihren prächtigen Palästen und Gärten auch etwas Steppengras anpflanzen ließen: Sie waren überzeugt, daß sie so lange tüchtig und in jeder Beziehung leistungsfähig bleiben würden, solange sie noch deutlich von ihrer Herkunft und darum auch vom Geheimnis ihrer Stärke wüßten. Zum Verständnis dieses Sinnbilds kann man hier noch kurz ergänzen, daß der russische Adel des 19. Jahrhunderts den Sommer fast immer in recht ursprünglichen Landhäusern (Datschi) verbrachte, was er oft bewußt »aus den Neigungen der alten Nomaden für Hirtentum und Jagd« erklärte: Auch in der Schweiz und in Süddeutschland der gleichen Zeit zogen die Edelleute während der warmen Jahreszeit in ihre Landsitze und sogar in sehr einfache Alphütten — wo ihre Jugend »nach altem Brauch« den Kuhhirten bei ihren Arbeiten half.12 Und auch in Mitteleuropa kannten die wunderbarsten Gartenanlagen »eine wilde Ecke, das Zigeunergärtchen, wo man al
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»Der ewige Großvater« ist auch im modernen russischen Film Sibiriada der Sprecher der zeitlosen Gesetze der Natur und der Ahnenweisheit
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les nach der Laune der Natur durcheinander wachsen ließ«: du. verspielte Erinnerung an eine alte Beziehung zu abenteuerlichen Nomaden der dunklen Vergangenheit.
»Tatarentum« als zeitlose Überzeugung Überall, wo der Einflußkreis der Tataren hinkommt, bilden sich, und dies noch bis ins 17.-18. Jahrhundert, ihre eigenartigen In seln: Nie hatten die Nomadenkrieger ihre riesigen Räume ver teidigen können, wenn sie nur auf ihre Hauptlager um das Sehwarze und Kaspische Meer hätten zurückgreifen können. Diese »Tartaren« gibt es seit ihren Entfaltungen unter den Er ben des Djingis-Khan überall, um den eigentlichen von den Rus sen bewohnten Norden herum und im Balkan, nicht zuletzt in den Grenzgebieten von Polen, Litauen und Preußen: Sie leisten überall ihre Ordnungsdienste, bewachen die Ränder ihrer Rei che gegen äußere Feinde und sind sofort zur Stelle, wenn ir gendwo innere Unruhen ausbrechen. Die russische Geschichtsschreibung des Adels erklärt diese Menschen als Nachkommen von geraubten Sklaven, die mit der Zeit vollkommen »tatarisches Wesen« annahmen — und diesem dann fast fanatischer anhingen als ihre Verbündeten und »Volkszugehörigen«, die immer Nomadenkrieger gewesen wa ren. Im russischen Volksglauben, im Norden wie in der Ukraine, hieß es mit einigem Spott anders: »Wem das Bauernleben nicht gefiel, wer an Sonne und Sterne oder an sonst was glauben wollte, wer gern ein paar Weiber im Haus haben wollte, wer das faule Herumliegen beim Vieh und das Herumstolzieren mit dem Säbel als Freiheit ansah — der ging einfach zu den Tataren.« Es erhielt sich also im ostslawischen Volke, das bis heute lebendige Sagen über »das Zeitalter des Tatarentums« (Tatarschina) be sitzt, die feste Erinnerung, daß sich deren über ganz Europa zer streute »Horden« alles andere denn »aus Zwang« bildeten. Auch hier erkennen wir die Richtigkeit der mittelalterlichen
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Auffassungen, wie sie der Philosoph Bacon auszudrücken ver suchte: Die »Tataren« waren in ihrer Gesamtheit nicht etwa bar barische Eroberer, aufgetaucht aus den skythischen Steppen Eu rasiens, irgendwo zwischen Ukraine und Mandschurei: Es wa ren die verschiedensten Stämme, vereinigt durch eine gemein same »magische« Weltauffassung. Das Wesen ihrer Kultur war demnach tatsächlich als eine Art »Religion« zu begreifen. Dieser »Tatarenglaube« (wera tatarskaja) ergriff eine Unzahl von Menschen, die der Herrschaft der byzantinischen, islami schen, ostasiatischen Stadtzivilisationen »müde« waren, weil diese nach ihren Auffassungen »die Reinheit« und göttliche Schönheit, die schöpferische Vielfalt und den Freiheitssinn der Völker zerstörten. »Den Tataren kennt man nicht an der Haarfarbe, man kennt ihn am harten Kopf und am eigenwilligen Gang«, sagten die Großrussen. Auch beim allgemeinen und auf einheitliche Auf fassungen ausgerichteten Schulzwang von heute sollen von Ost preußen bis in die Ukraine oft gerade jene einsamen Tatarendör fer am hartnäckigsten ihre Eigenart verteidigt haben - die ihrer Herkunft nach fast reine Ostslawen waren. Wie russische Schriften schildern, bildeten sich diese Inseln der Tataren ganz verschiedener Herkunft um die Sitze (pome ste) der Verwandten und Gefolgsleute von Djingis-Khan und seinen Nachfolgern.13 Ganz ähnlich entdeckte der Priester Huc in der Mongolei des 19. Jahrhunderts die eigentlichen Stammes angehörigen des großen Eroberers und Schamanen als die ei gentlichen Hüter von dessen Lebensstil: Teilweise sollen sie von den Herren Chinas unter Kublai-Khan abstammen, die den Zau ber, aber auch die Gefahr des Luxus der alten chinesischen Zivi lisation erlebt und sich bewußt wieder in die Steppen des kalten Nordens zurückgezogen hatten. Hier hofften ihre Ahnen, die in der Weichheit und Bequemlichkeit der Städte fast verlorene Kraft wiederzufinden.14 Bei diesen Nachkommen von Djingis-Kahn, den »Taitsi«, fand der fromme Huc sozusagen noch den göttlichen Lebenskreis der Heiligen Schriften wieder: Hier sehe man noch, verkündete er
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den staunenden Europäern, »am genauesten die Bräuche da Patriarchen erhalten, so wie die Bibel sie im Leben von Abraham, Jakob und der ändern Stammväter von Mesopotamien schildert.«14 Auch die Vertreter von Staaten, die sich über die Kulturstufe der tatarisch-mongolischen Nomaden für haushoch erhaben hielten, mußten bis in die Gegenwart deren geistigen Begabungen und ihrer Zuverlässigkeit in Krieg und Frieden, schon aus Gründen des Eigennutzes, Tribut zollen: Unter dem Adel der Kinder von Djingis-Khan, so bezeugt uns zusätzlich Huc, »wählen die Herrscher von verschiedenen Reichen ihre Berater (ministres).«14 Wir sehen also aus dem Umkreis der großen Nomadenkulturen durch die Jahrhunderte immer wieder die gleichen Überzeugungen von der Notwendigkeit eines Lebens, das dem Erlebnis des Kreislaufs der Natur nahe ist, aufflammen und ganze andere Völker auf diesem Weg mitreißen: Dies geschieht, nicht weil die Magier der Weiten keine anderen Möglichkeiten des Daseins kennen — sondern im Gegenteil: Die unzählige Male erneuerten bitteren Erfahrungen ihrer »dem Himmel nahestehenden« Ahnen scheinen ihnen stets zu beweisen, daß allein »das Wandern gleich den Sternen des ewigen Himmels« den Stämmen immer von neuem eine Wiedergeburt und damit glänzende Zukunft ermöglicht.
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Fliegenpilz und Seelenwanderung Die Schamanen und ihre europäischen Anhänger glaub ten, etwas in ihrem Wesen sei unsterblich und vermöge sich an die fernste Urzeit der Ahnen zu erinnern. Carl Kiesewetter versuchte in seinem sehr umfangreichen Werk die Überlieferungen der europäischen »Geheimwissenschaf ten« des 19. Jahrhunderts zusammenzufassen. Er schildert den Somatrank der indischen Mythen - der wohl dem geheimnisvol len Trank entspricht, den in der mongolisch-tatarischen Sage der »Khan der Himmlischen« vom Götterberg seinem »Sohn« Djingis-Khan bringt: Kiesewetter scheint überzeugt zu sein, daß die alten Kulturen tatsächlich eine vergessene Alchimie der pflanzlichen Wirkstoffe besaßen, die die im Menschen sonst schlafenden Anlagen zum »Hellsehen« zu wecken vermochten.1 Anschließend stellt er fest, daß die Stämme von Nordsibirien noch immer ein solches Mittel besäßen, nämlich den Fliegen pilz. Kiesewetter stützt sich besonders auf den Bericht in den Tagebüchern des polnischen Generals Kopec, der nach Sibirien verbannt worden war. Von einem Schamanen war der Offizier in die Welt des gefährlichen Rauschmittels eingeweiht worden! Seine ersten Gesichter schildert der kühne Mann: »Ich fand mich, als wäre ich magnetisiert worden, in einem Garten, in dem nur Schönheit und Freude zu herrschen schienen.« In die sem »irdischen Paradies« befanden sich die wundervollsten Frauen, die begeistert waren, ihren polnischen Gast zu beglük ken.2 In nachträglichen Erfahrungen lösten sich beim Schüler der Schamanenkunst alle Ketten von Zeit und Raum: »Ich wage nicht alles zu erzählen, was ich in meinen Träumen sah. Die ganze Vergangenheit und Zukunft enthüllten sich vor mir. Alles
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erblickte ich, die Menschen, die Ereignisse, alles, Tag um Tag, Jahr um Jahr.« Unmittelbar anschließend an diesen Bericht schreibt auch C. Kiesewetter (1895): »Ich selbst habe mehrfach mit ähnlichen (!) Stoffen und Hexensalben experimentiert.« Ähnlich scheinen auch seine Erlebnisse gewesen zu sein, anscheinend gelangte er »blitzschnell« in südliche und östliche Länder: »Dabei kam es mir mehrfach vor, daß ich mich auf einer Art Pagode stehen sah...«3 »Seine (des Fliegenpilzes) Benutzung ist in Nordasien so ver breitet, daß es dort schwerlich einen Nomadenstamm gibt, der 4 ihn nicht benutzt...« Dies wurde freilich später als übertrie ben angesehen, wie z. B. auch der 1780 von Johann Gottlieb Ge orgi veröffentlichte Hinweis auf den Gebrauch dieses Pilzes beim Volk der Jakuten.5 Aber wir haben aus dem 8. Jahrhundert, der Zeit der Vorherr schaft des in seiner Kulturfülle von seinen tatarisch-mongoli schen Nachfolgern bewunderten Ujguren-Reiches, eine wich tige chinesische Nachricht: Die religiösen Gemeinschaften der von der Ujguren-Oberschicht geförderten (von den Chinesen gern mit dem Buddhismus verwechselten) Manichäer hätten bei ihren religiösen Bräuchen »Rote Pilze« zu sich genommen.6 Auch scheinen die Ausdrücke, die die Nordsibirier für ihren magischen Pilz verwenden, deutlich mit denen verwandt zu sein, die im indisch-iranischen Raum für das Rauschmittel Bhang verwendet werden7 : Also mögen die seltsamen Pilzkulte, die im asiatischen Norden angetroffen wurden, nur die Trümmer einer uralten Schamanen-Wissenschaft enthalten. Die sogenannten »primitiven« Völker des europäischen und sibirischen Nordens erzählten den russischen Verbannten, die unter ihnen lebten, sozusagen als Trost in ihrer Lage: Auch sie selber, zumindest Teile von ihnen, hätten ursprünglich »in gro ßen Reichen« gelebt. Erst nach deren Verfall seien ihre Ahnen in die »abgelegensten Teile der Welt« gezogen, um dort möglichst unbelästigt von Machtkämpfen als Fischer und Jäger zu hau sen und dabei »über die wechselhaften Schicksale der Welt« nachzudenken.8
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Man hat heute nicht nur nördlich des eigentlichen Kerngebiets der tatarisch-mongolischen Großreiche Nachrichten über die gefährliche Wissenschaft »der pflanzlichen Schlüssel zu den Bildern der Seele« gefunden, sondern auch südlich davon, bei den Afghanen des mittleren Hindukusch: Hier hat der Fliegen pilz geradezu einen Namen, der »Augenöffner« heißt — »was na türlich im übertragenen Sinn der übernatürlichen Schau ge meint sein kann«.9 Während der Entfaltung der großen magischen Kulturen des Ostens mögen die entsprechenden Kulte sehr weit nach Westen vorgeschoben worden sein: Daß die russischen Kosaken und po litischen Flüchtlinge sich anscheinend recht häufig von den si birischen Schamanen in ihre Bräuche einweihen ließen, er klärte man mir mehrfach aus der Tatsache — »daß sie in ihren zi vilisierten Heimatländern dunkle Nachrichten über die ent sprechenden alten Künste der Zauberer und Hexen erhalten hatten«.10 Besonders deutlich scheinen die Erinnerungen an den Ge 11 brauch des Pilzes beim Zaubervolk in Ungarn zu sein. Aber während der Romantik wußte man noch, daß er (der Fliegen pilz) »nicht nur hin und wieder in dem kalten Rußland, sondern auch in dem wärmeren Frankreich und Deutschland gespeist« werde:12 Bezeichnenderweise erzählt man auch im Alpenland, daß hier »Fahrendes Volk« die für Unvorsichtige tödliche Kunst be sessen habe, »gewisse Pilze« so zu bereiten, »daß man meinte, man fliege in andere Länder«. Nur den Viehhirten in den Ber gen hätten es aber diese letzten Medizinmänner mitgeteilt: Bezeichnenderweise erklärt noch heute das Volk den Ausdruck »Fahrendes Volk« für Zigeuner und andere Nomaden aus deren Wissenschaft, zu »fahren«, also »auszufahren«, »blitzschnell durch die Lüfte zu reisen«.13 Durch das magische Erlebnis der »Seelenreise«, der mär chenhaften Fähigkeit des Bewußtseins, sich in ändern Räu men und Zeiten aufzuhalten, entstand eine feste Überzeugung der Schamanen: Sie und ihre Anhänger glaubten, daß etwas in
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Noch während der Aufklarung bewunderten die Europäer die Fähigkeit der nomadischen Sippen, um das heilige Feuer der Jurten ihre gemeinsame Lebensfreude zu finden
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ihrem Wesen unsterblich, durch keinen Tod zerstörbar sei und sich an die fernste Urzeit der Ahnen zu »erinnern« vermöge.
Die Erberinnerung Die verwirrende Welt der buddhistischen Darstellungen mit ih rer Unzahl von Tieren, Dämonen, Menschen, Feenwesen, Göt tern aller Art ist eine Veranschaulichung der »Reise« jedes We sens durch unzählige Gestalten: Die großartigen buddhisti schen Märchen, die teilweise über unzählige Einwanderungs wellen nach dem Westen kamen, sind ein Ausdruck dieser Vor stellungen. Ihr Held ist sehr häufig Buddha Sakjamuni selber, der in seinen früheren Leben in unzähligen Tierkörpern und menschlichen Entwicklungsstufen Abenteuer ohne Ende erlebt haben soll.14 Buddha soll sich, besonders im Volksglauben der Kalmük ken, Burjäten und Mongolen, an seine sämtlichen früheren Erlebnisse, also Jahrmillionen zurück, erinnert haben. Odoric, der in der Zeit der mongolisch-tatarischen Machtentfaltung des 14. Jahrhunderts Asien durchwanderte, erzählte den Europä ern von der buddhistischen Verehrung der heiligen Tiere. In ih ren Körpern sollten sich Seelen aufhalten, die denen der leben den Menschen wesensverwandt wären.15 Unter höchsten Ver tretern ihrer Geistlichkeit soll nach den Tibetanern die Erinne rung an frühere Zustände in ändern Körpern fast so deutlich sein wie in ihrem ewigen Leitbild Buddha Sakjamuni selber. Vom Dalai Lama wußte man schon früh in Europa, daß er, nach der festen Überzeugung seiner Anhänger, »alles sieht«: Man sagte von ihm, »daß er unsterblich ist, und, wenn er zu sterben scheint, er nur seine Wohnung (demeure) wechselt, um in einem ganz neuen Leib wiedergeboren zu werden«.16 Chinesische Zeugen stellten fest, daß gerade die Tibetaner die Fülle aller wechselnden Erscheinungen der Welten als einen Kreislauf darstellen, wobei dessen Sinnbild das Rad (Khor) sei. Die Erdteile kreisen um den kosmischen Berg Sumeru. Alle le
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benden Wesen wandern im »Rad« der Wiedergeburten. Das Da sein des einzelnen Wesens oder auch seiner Sippe ist dämm auch das Kreisen um einen heiligen Mittelpunkt, der ein heiliger Gipfel, ein heiliger See, ein heiliger Tempel (Pagode), ein heili ger Mann sein kann.17 Der Schamane scheint bei den eurasischen Stämmen noch die Fähigkeit zu besitzen, in ekstatischen Zuständen (ob er sich nun in diese durch Tanz, Trommelschlag oder andere Mittel hineinsteigert) durch Zeiten und Räume zu »reisen«: Wäh rend sein Leib im Kreis seiner Gefährten bleibt, soll sich seine Seele auf Wanderschaft begeben. Es werden, wie wir schon sa hen, phantastische Geisterreiche genannt, dazu aber auch wirk liche Gegenden — durch die wohl die Ahnen des Stammes bei ih ren Wanderungen kamen.18 Frau Blavatsky, mit Mädchennamen Helena von Hahn, er schütterte die Gebildeten des 19. Jahrhunderts mit der Behaup tung, die magisch veranlagten Menschen Eurasiens könnten durch ihre Gesichter genauere Bilder der Vorgeschichte der menschlichen Rassen erhalten als die materialistische Wissen schaft ihrer Tage. Russische Theosophen, wie ich sie in den vierziger Jahren in Genf, Paris und München traf, erzählten mir sehr übereinstim mend die Überlieferung, diese moderne Schamanin hätte die sie überzeugenden Erfahrungen mit »Zauberern« (kolduni) der Kosaken, Kalmücken und Zigeuner in ihrer fugend gewonnen. Sie selber bezog sich vor allem auf ihre umstrittenen Besuche bei den Weisen in verborgenen Himalajatälern. Der englische Offizier Churchward, der vor allem in Nord amerika mit ähnlichen Geschichten viel Anhang gewinnen sollte, bezog sich dann vor allem (genau wie der Magier Gurd jeff) auf entsprechende Erlebnisse in geheimen asiatischen Klö stern - die er als Aufbewahrungsorte der Weisheit des UjgurenReiches ansah, das nach ihm den Raum vom heutigen Moskau bis zum Stillen Ozean umfaßte...19 Diese phantastischen Geschichten von »Seelenreisen in die Urzeit« fanden auch Anhänger bei den Vertretern der
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Fachwissenschaft: Der Paläontologe Dacque behauptete, daß in alten Mythen genaue Schilderungen ältester Vorgänge, sogar von ausgestorbenen Tieren zu finden seien, daß es sich unmöglich um einen Zufall, sondern um die magische Schau der Ahnen handeln müsse.20 Das nomadische oder halbnomadische Dasein im Umkreis der schamanistischen Kulturen erscheint auf alle Fälle, zumin dest für einen Teil ihrer Vertreter, nicht als Ausdruck eines »un terentwickelten« Zustandes oder von zufälligen Notlagen. Ihre Wanderung wäre, wie heute noch einige Zigeuner -Wahrsager erzählen, ein bewußter »sichtbarer« Nachvollzug des inneren Gesetzes unserer Welt, das die ewige Wandlung, den Wechsel aller Erscheinungen, den Kreislauf der Wesen bedeutet.
Der Volksstamm als Lebensbaum Der Schamane empfindet die ganze Sippe sozusagen als eine Ge samtheit, einen Leib: Ahnen (bis zu den mythischen Helden und Stammesgründern der Urzeit!), die Lebenden der Gegenwart, die Nachkommen in der Zukunft, sie alle verbindet der gleiche Lebensstrom. In ihn »taucht« man beim Tode ein, und aus ihm steigt das Neugeborene als Neugeburt der Vorfahren: aus ihm entnimmt der Schamane in seinen magischen Zuständen seine Ideen und Energien — zum Heil der ganzen Sippengemeinschaft. Dies ist der »Lebensbaum«, wie ihn die ekstatischen Seher als Bild schauen und wie er möglicherweise über die Kunst der sky thischen Nomaden am Anfang der europäischen Geschichte in unsere Volkskunst kam.21 Oder wie ein Jakute zu einem russi schen Reisenden feststellte: Nimm alle Zweige, Verästelungen, Blätter und Knospen, die aus einer Wurzel herauskommen, und du hast »eine Sippe«.22 Von den Kirgisen wurde noch im 18. Jahrhundert festgestellt, daß die Achtung, die ihre Khane bei ihrem ganzen Volke genos sen und die man auch in der Regel ihren Weisungen entgegen brachte, vor allem auf der Vielheit ihrer Verwandtschaften be
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Der Tanz der männlichen und weiblichen Schamanen ver senkte durch Rauch in der Jurte, Klang, Glanz des Schmucks usw. auch die Phantasie aller Anwesenden in den Zustand der gesteigerten Wahrnehmung
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gründet war: Die Alten des Stammes waren sozusagen alle seine »Brüder«, die Jugend seine Kinder (Prinzen), deren Vettern, versippte Freunde.23 Der berühmte »Reichtum« der Khane war nur bedingt Reich tum in unserem Sinn, weil er auf der Vorstellung des Sippenei gentums beruhte, das von der eigentlichen Häuptlingsfamilie für eine große Zahl von mit ihr verbundenen Menschen »verwal tet« wurde. Bei den buddhistischen Wolga-Kalmücken waren z. B. Roßherden »von 10000 Stück keine Seltenheit«: Es war aber eine »uralte Gewohnheit«, daß, wenn der Besitz eines Ei gentümers sehr groß war, jeder Nomade sozusagen das Recht besaß, »ungestraft« von der Fülle »zu rauben«. Selbstverständ lich durfte er es »nicht zu arg« treiben, nicht zu maßlos, »damit die Herde sich bald wieder auf die vorige Zahl mehren könnte«. Denn nur so war es möglich, dieses »erlaubte Rauben« »desto eher zu wiederholen«.24 Es ist sehr lesenswert festzustellen, daß solche Zustände bei einer großen Zahl der eurasischen Stämme im oberflächlich-ideologischen Schrifttum des 19. und 20. Jahrhunderts, je nach vorgefaßter Meinung des Verfas sers, bald als Reste einer ursprünglichen sozialistisch-kommu nistischen Gesellschaft verherrlicht, dann wieder geradezu als ein »aristokratisch-kapitalistisches Ausbeutungssystem« ver dammt wurden. Doch auch als diese Besitztümer der Nomadensippen wäh rend des Stalinismus »verstaatlicht« und die Nomaden teilweise zum seßhaften Hausen in Kleinfamilien-Hütten gezwungen wurden, erfanden sie unzählige Wege, dem Wesen ihrer geerb ten Kultur treu zu bleiben. Gründliche Untersuchungen bezeu gen dies z.B. für das Dasein der Kirgisen der siebziger Jahre. Bis in das dritte, vierte Geschlecht tun die Nachkommen eines männlichen Ahns alles, zusammenzubleiben, ihre außeror dentlich engen Bindungen auf allen Gebieten zu bewahren. Solche gesellschaftlichen Gebilde umfassen häufig »einige Dutzende von (Klein-)Familien«: »Gewöhnlich leben diese Sip pen zusammen in einem Dorfe, ihre Häuser liegen an der glei chen Straße oder im gleichen Stadtteil.«25
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Diese »Zellen« sind »der Nährboden für viele Überbleibsel der vorislamischen Religion«: Sehr wichtig scheint die Tatsache, daß bei den Frauen, die die entsprechenden Bräuche und Feste hochschätzen, die unter 45 Jahren zahlreicher sind als die über 46jährigen. Dies erklärt sich aus der Tatsache, »daß die Kind heit und Jugend dieser Frauen, die Bildung ihrer Weltanschau ung während dem Großen Vaterländischen Krieg (also dem Weltkrieg 1939-1945) stattfanden, als die Religiosität... ent schieden zunahm.« Im übrigen ermöglichen die geheimen Groß familien diesen noch (oder wieder) in ihnen lebenden Frauen, sich »fast ganz nur mit dem Haushalt und der Familie zu be schäftigen«.25 Dieser Widerstand der Sippe gegenüber der Gleichschaltung der Frau im »Arbeitsprozeß«, diese noch erhaltene Verehrung der Ahnen, der göttlichen Glückskraft und der Fruchtbarkeit, scheinen tatsächlich noch immer die Lebensenergie der aus der Nomadenkultur stammenden Völker zu enthalten: »In den Kir gisenfamilien findet man doppelt so viele Kinder als in denen des europäischen Teils der Sowjetunion.«26
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Der Hexenmeister von Nordeuropa Der Kreis der Frauen »mit Wunder-Kraft«, der den europäi schen Zauberer umgibt, erinnert ganz an die Zustände in den tatarisch-mongolischen Sippen. Aus dunklen Erinnerungen an die Bewegungen der skythischen Nomaden und deren Verbindung mit ihren Ahnen entwickelten die skandinavischen Chronisten und Sagenerzähler die großar tige Vorgeschichte ihrer Völker. Die Züge der Stämme zu Be ginn des christlichen Zeitalters entstanden sozusagen als Ant wort der unabhängigen Völker gegen die Ausbreitung der spätantiken Stadtzivilisation: In jener Zeit seien die Römer »weit durch die Welt« gezogen, viele Stammeshäuptlinge hät ten vor ihrer Macht fliehen müssen. So schildert den Vorgang der mittelalterliche Geschichtsschreiber Snorri Sturluson. 1 Da sei gegen sie der große Magier Odin gezogen, der »in Asien« seine Heimat besessen habe. Von dort sei er mit seinen 12 weisen Gefährten gekommen, Priestern und edlen Herren (drottnar), die das Volk als Götter (diar) ansah. Das Schicksal der Welt und die Zukunft habe er entsprechend der schamanistischen Kunst erkannt und sein Wissen angewendet: »Aber dadurch, daß Odin vorschauend und zauberkundig war, da wußte er, daß seine Nachkommenschaft in der Nordhälfte der Welt wohnen werde.« Der große Häuptling der Völkerwanderung wird in der skan dinavischen Überlieferung maßlos gerühmt: »Er war so schön und stattlich von Antlitze, wenn er bei seinen Freunden saß, daß allen das Herz dabei lachte.« Schrecklich sahen aber seine Ge stalt seine Feinde: »Aber das geschah dadurch, daß er Antlitz und Gestalt vertauschte, auf welche Weise er wollte.«1 Durch seine magische Wissenschaft, die er sein Gefolge
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lehrte, besaß er angeblich Nachricht »aus ändern Wellen« und soll sogar mit den Geistern der Toten, also mit den Ahnen gere det haben. Seine Kenntnisse hüteten besonders die »Cydiar«, was wörtlich Göttinnen, göttliche Frauen bedeutet - eine Nach richt, die uns sicher auf den Ursprung des germanischen Hexen wesens im Mittelalter hinweist. »Von diesen Kräften ward er sehr berühmt, seine Unfreunde fürchteten ihn. Aber seine Freunde setzten ihren Trost auf ihn und glaubten an seine Kraft und an ihn selbst...«: »Viele andere lernten doch viel davon und hat sich von da die Zauberkunst weit ausgebreitet und hielt sich lange.«1 »Odin konnte so machen, daß in der Schlacht seine Unfreunde blind oder taub oder furchterfüllt wurden... Aber seine Man nen gingen panzerlos und waren toll wie Hunde oder Wölfe, bis sen in ihre Schilde, waren stark wie Bären oder Stiere; sie er schlugen das Menschenvolk, aber weder Feuer noch Eisen wirkte auf sie: Das wird genannt Berserks-Gang.«1 Wenig vernehmen wir bei Snorri vom Wesen dieser »asiati schen« und schamanistischen »Kunst« bei den mythischen Häuptlingen während deren Ringen mit der dem Verfall ge weihten römischen Zivilisation. Wichtig ist sein Hinweis, daß der Leib des Hexenmeisters Odin, wenn er seine Magie an wandte, »wie eingeschlafen oder tot lag«. 1 Die entsprechende Überlieferung hat sich in Skandinavien tatsächlich »lange ge halten«: Samuel Ödmann, der 1784 in Stockholm schrieb, er klärte Odins Zauberkunst aus dem Gebrauch eines aus dem Fliegenpilz gewonnenen Mittels durch die sibirischen Schama nen. Noch während des schwedisch-norwegischen Krieges von 1814 sollen, nach einem Offizier des Regiments aus Värmland, Soldaten eine entsprechende Droge verwendet haben, um in sich den Geist der alten Berserker -Krieger zu erwecken...2 Auch ein anderer Chronist des mittelalterlichen Skandina vien, Saxo Grammaticus, weiß viel über die Kämpfe von Odins Volk gegen eine feindliche Bevölkerung, die ihm voranging. Diese habe mehr körperliche Kräfte besessen als die Magier rasse, letztere sei aber ihren Gegnern durch ihre »pythische
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Kunst«, also ihre seherischen Fähigkeiten weit überlegen ge wesen. Gewaltig seien die Auseinandersetzungen gewesen, »bis die Zauberer siegreich das Riesengeschlecht unterjochten und sich nicht nur das Recht der Herrschaft, sondern auch den Ruf der Göttlichkeit aneigneten«. Erst nach und nach sei die Fähig keit zur »Ausübung von Künsten« im Norden verschwunden.3 Die Wanderung der Schamanen-Häuptlinge aus Asien west wärts, über Rußland (Garada-riki) nach Deutschland und Skandinavien erhielt sich aber bis ins 18. Jahrhundert in den Ge schichtsbüchern des Nordens und bildete die geistige Grund lage für die Versuche schwedischer Könige, mit östlichen Stämmen, Kosaken, Tataren, Chazaren, Bündnisse einzuge hen. Der schwedische Sagensammler Afzelius, der auf die Dichter und Gelehrten der deutschen Romantik einen bedeutenden Ein fluß hatte, erklärt die bei »allen Völkern skythischen und goti schen Stammes« vorhandenen Einrichtungen an das »in unsern Liedern so hochgepriesene Osten- oder Morgenland«: »Wovon wir, selbst bei unseren Kinderspielen, so oft haben singen hören: >Nach Ostenland will ich ziehenschamlosen Spielen der Heiden< (igrischam pogannym) verfallen«. Als die Mongolenreiche verfielen, sahen darin wiederum die Christen und Mohammedaner bezeichnenderweise eine Folge der entfesselten »weiblichen Herrschsucht«, die es nun einmal für alle Zeiten zu unterdrücken gelte. Die Ursache für diesen Niedergang der anfänglich unbesiegbaren Stämme »lag wohl in der Einmischung der Frauen, deren Einfluß als Mütter, Ge mahlinnen, Schwestern, Basen, Schwägerinnen von allen Sei ten nicht nur in die Wahl der Khane, sondern in alle Begebenhei ten ihrer Regierung eingriff.«13 Hammer-Purgstall stellte geradezu fest: »Allen Zwanges des Harems befreit, welcher in moslemischen Ländern... doch dem offenen Anspruch desselben (also der >weiblichen Herrschsucht
Religion, Sex und moderne Mißverständnisse Zigeuner -Wahrsagerinnen erklärten noch im 19. und 20. Jahr hundert die Vorstellung von der hohen Stellung der Frau in den asiatischen Urkulturen als Ursprung aller in islamischen und christlichen Ländern so bekämpften »Ketzereien«. »Der
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Gott Mahakala in Vereinigung mit seiner ewigen Gefährtin (Shakti) aus dem tibetanisch-nepalesischen Grenzgebiet. Der mongolisch-indische Tantrismus sieht in der männlich-weiblichen Vereinigung den Ursprung aller Energien der Welt
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Mann braucht ihre magische Kraft. Je mehr sie zusammen eine unauflösbare Einheit bilden, um so weniger kann eine Macht der Welt etwas gegen sie machen, und Gott selber wird sie lieben.« Als Beweis für solche Geschichten nehmen sie noch immer die von ihnen vielbenützten Tarotkarten, die sie häufig »als das älteste Bilderbuch der Welt« ansehen — »das von den großen Häuptlingen stammt, die einst bei den Bergen im Osten (>hin ter denen die Sonne aufgehtauf dem Winde< einer kleineren Minderheit von Einge
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Im Lebensstil der türkisch-tatarischen Frauengemacher fand die west-östliche Kulturbegegnung statt- Von hier dran gen Feenmarchen, erotische Ästhetik nach Europa
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weihten vorbehalten... Möglich, daß gewisse natürliche Ein flüsse, Folgen der Höhenlage von Tibet, dabei mitspielen, aber auch die Stille, die über dem ganzen Lande liegt. Auch möglich, daß seelische Kräfte hier besser gedeihen, weil es an den großen Menschenansammlungen fehlt, die anderswo mit ihrer geistigen Tätigkeit mannigfaltige Wirbel seelischer Kräfte hervorbrin gen und so die Wellenbewegung unterbrechen, die dem Phäno men vermutlich zugrunde liegt.«16 Als die chinesischen Armeen 1912 mit unglaublicher techni scher Überlegenheit die Mongolen unterwerfen wollten, soll ein Magier, ein russisch-mongolischer Buddhist, dem Volk durch Gedankenübertragung seine Zukunft gezeigt haben: das Luft bild reicher Jurten und Herden, kühne Männer und schöne, in 17 Seide gekleidete Frauen beim Siegesfcst. Solche Erzählungen vernahm man seinerzeit von den Flüchtlingen, die über die Mandschurei nach Europa kamen: Ähnliche tröstende Gesichte, »Kollektivhalluzinationen« sagen die Menschen der Zivilisation, sollen die tibetanischen Gebirgskrieger erlebt haben, die nach 1960 gegen die Kriegsmaschine Maos Widerstand leisteten. Es ist sicher kurzsichtig, jeden wunderbaren Bericht vorbe haltlos für bare Münze zu nehmen. Es ist aber ebenfalls nichts als Aberglaube, jedes Zeugnis über Vorgänge in ändern Kultu ren, die über die Grenzen unseres stets unvollständigen Wis sens zu gehen scheinen, grundsätzlich abzulehnen.
Verborgene Kräfte und Kobolde Zu den eigenartigsten Auffassungen, die wir aus den Herzgebie ten der schamanistischen Kulturen besitzen, gehört diejenige von der magischen Fähigkeit der »Materialisation«: Die kosmi sche, vom »Ewigen Sternenhimmel« strömende Kraft kann sich für eine bevorzugte Sippe verdichten, stoffliche Gestalt annehmen. Diese sozusagen verkörperte Energie kann dann aufbewahrt werden und gibt ihre »Kraft« langsam an die Umgebung ab und verbreitet dadurch in der Folge bei ihrem ganzen Um
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kreis Gesundheit, Stärke, Fruchtbarkeit und die Fähigkeit der Zeugung... Bei den islamischen Kirgisen wurde eine ähnliche Auffas sung, die als mehr oder weniger im geheimen befolgte Familien religion weiterlebte, geradezu als »Götzendienst« mißverstanden: Die Verdichtung der Glückskraft (Kut) »kommt von oben« — vom hölzernen Rad her, das bei der Jurte die ganze Nomaden behausung zusammenhält, den Rauch vom Herd hinausläßt, den Einwohnern fast immer den Anblick des Sternenhimmels freigibt. Als ein Stück Metall fällt dann dieses Geschenk, im Kult mit der göttlichen Urkraft der Welt und den Ahnen verbunden, zur Sippe nieder: »Dem, der es ergreifen kann, bringt es das Glück. Ergreifen kann es nur ein guter und reiner Mensch. Wenn der Kut in seinem Aussehen an die Gestalt eines Menschen erinnerte, nahm man an, daß der, der ihn in seinen Besitz gebracht hatte, viele Kinder haben werde. Wenn er aber an ein Tier erinnerte — dann würde sein Besitzer viel Vieh haben.«18 Der Gegenstand aus »Glücksenergie« wurde sorgfältig und ehrfürchtig in Watte eingewickelt und dann von Lumpen umge ben, angeblich mit Vorliebe in solche von blauer und roter Farbe. Endlich kam er in die Truhe und galt als eines der wichtigsten Besitztümer der Großfamilie. »Die besondere Hüterin dieser Religion war die älteste Frau der Sippe. Vor ihrem Tode ver traute sie diesen heiligen Gegenstand der Sippe jener unter ihren Schwiegertöchtern an, die nach ihrer Auffassung für das Amt der Hüterin am würdigsten war. Man nahm an, daß im Falle, daß sich das Weib unwürdig aufführt, der Kut verschwinden wird.«18 Selbstverständlich haben wir damit nur eine Nachricht über einen eurasischen Glauben, der im ganzen Kreis der mit der schamanistischen Himmelsreligion verbundenen Nomaden ver breitet war. Hier handelt es sich zweifellos um die gleichen Vor stellungen, die die europäischen Beobachter der Kultur im mongolisch-tatarischen Großreich von Djingis-Khan und seinen Nachfolgern in eine Reihe von Widersprüchen brachten: Einer
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seits sahen sie überall die Verehrung eines großen, allumfassenden Himmelsgottes, den wir schon unter dem Namen Tengri kennenlernten. Anderseits bezeugen sie uns den Besitz von »Götzen« bei den Nomadensippen.19 Zum Kirgisen-Kut, der Gesundheit, Fruchtbarkeit und Vieh reichtum verbreitet, vernehmen wir auch bei seinen russischen Erforschern: »Man muß vermerken, daß entsprechende Vorstel lungen auch bei den Usbeken und Tadschiken verbreitet sind. In der Regel waren sie mit dem Wahrsagen beim Einzug in eine neue Jurte verbunden... Die kirgisischen Kut-Idole entsprechen den Götzenbildchen, die als Sippen-Heiligtümer in jeder Behau sung vieler Völker von Sibirien und des Altai gehütet wurden.«20 Schon im 18. Jahrhundert verglichen Gelehrte diese Bilder der Sibirier »von Gold, Erz, Stein, Holz und Knochen« mit entspre chenden Figuren im Kult der alten Skandinavier und Deutschen: Sie nahmen an, daß die Verwandtschaft des Volksglaubens über riesige Räume hinweg wahrscheinlich Aufschluß »über die ursprüngliche Heimat der gotischen und skandinavischen Völkerschaften und ihre ältesten Wanderungen« gibt21 : Bei dieser Gelegenheit bezeugen uns übrigens die gelehrten Schriften, wie allgemein noch in unserer jüngsten Vergangenheit solche »Götzen« in ganz Mitteleuropa ebenfalls sorgfältig in Truhen aufbewahrt wurden und man von ihnen nicht weniger Glück, Fruchtbarkeit, Zeugungskraft, Reichtum erwartete als bei den Nordvölkern Asiens.21 Anläßlich der Untersuchung eines im Schrifttum berühmt gewordenen Spukfalls im Alpenland (1966—1967), zu dem ei nige bekannte Parapsychologen und Volkskundler wichtige Tat sachen sammelten 22, vernahm ich im Volk die Meinung: Im Haus, in dem die unerklärlichen Kratz- und Klopfgeräusche stattfanden, habe jemand eine glückbringende »Figur« (es Al rünli) verborgen — dies habe er sicher von einem »Fahrenden«, einem »Zigeuner« erhalten. Er habe sie aber nicht gebührend behandelt; die darin steckende »Zauberkraft« entlade sich nun und erzeuge die seltsamen Wirkungen.
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Die buddhistische Kunst Tibets und der Mongolei verherr licht die Erfahrung des magischen Schwebens- ob sie dieses nun als seelischen oder sogar leiblichen Vorgang auffaßt
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Auch ein moderner Buddhist schreibt zu solchem Koboldspuk, der trotz vorherrschendem Materialismus in Europa seit dem 19. Jahrhundert eher zuzunehmen scheint und neuen Aber glauben ohne Maße erzeugt: »Diese Erscheinungen sind ge wöhnlich (!) im Osten, und werden meistens den Elementarund Naturgeistern zugeschrieben, die sich auf Kosten der menschlichen Wesen belustigen, die sie beleidigt oder vernach lässigt haben.«23 Wenn wir uns mit dem eurasischen Schamanismus befassen wollen, wird uns wohl nichts übrigbleiben, als neue Arbeitshy pothese die folgende in Erwägung zu ziehen: Die Möglichkeit, daß die einstigen »Seher« — gleichzeitig naturverbunden und Er ben der Bildung einer Kette von versunkenen Hochkulturen — durch ihre gesteigerte Sinneswahrnehmung auch einen erstaun lichen Einblick in das Kräftespiel unserer Welt besaßen.
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Weltgeschichte für Wahrsager Die Mauern einer Zivilisation, errichtet gegen die »Barba ren« von außen, werden mit der Zeit für ihre Menschen zu Gefängnismauern, die alles junge Leben in ihren immer dü stereren Schatten krank machen. Court de Gebelin erforschte im 18. Jahrhundert die Tarotkarten, als sie von den Zigeunern zum Wahrsagen verwendet wurden, wie auch heute von Odessa am Schwarzen Meer bis nach Kali fornien. Er verglich sie mit entsprechenden Bilderreihen, die er aus China kannte, und erwog auch Indien und Tibet als ihre ei 1 gentliche Urheimat. Remusat und Huc, die dann im darauffol genden Jahrhundert sich besonders mit den mongolisch-tatari schen Kultureinflüssen abgaben, vermuteten geradezu, diese Karten (die Spielkarten überhaupt!) seien zusammen mit der Druckerkunst in der Zeit der Nomadenreiche der Djingis-Nach kommen nach Europa gekommen.2 Wenn dem so wäre, hätten wir in der Wahrsagekunst, wie man sie noch nach dem Zweiten Weltkrieg in den Wohnwagen und um die Lagerfeuer der zigeunerischen Nomadensippen von Westeuropa, in der Bretagne und in der Camargue, urtümlich erlernen konnte, ein Zeugnis für die mittelalterliche Geschichte: Etwas von den mythischen »Wahrsagekünsten der Schamanen« im Gefolge der großen Khane hätte überlebt. Von der Einwanderung dieser Bildkarten in unsere Kultur, wie sie offenbar im 14.—15. Jahrhundert im Schatten der »Tata ren« stattfand, schreibt Starkie - was er von Sagen der ihm be freundeten Zigeuner hörte: »Nach orientalischer Art sangen sie (die Nomaden) zu ihren hexerischen Handlungen seltsame rhythmische Beschwörungsformeln, deren Wirkung durch die Wiederholung einer und derselben Phrase erzielt wurde... Die Hexe legte ihre ganze Suggestivkraft in die Beschwörung, sie übte ihre Kunst gern unter der Erde in einer Höhle oder auch auf
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einem einsamen Friedhof aus...« Besonders die Tarotkarten mit ihren seltsamen Bildern hätten dabei mitgeholfen, den Adel und das Volk zu bezaubern: »Die ständige Wiederholung der rhythmischen Phrase hypnotisierte den Zuhörer. Sein Denken löste sich aus der alltäglichen Wirklichkeit und trieb in ein Traumland hinein.. .«3 In einigen der erstaunlichen Karten wollen die »Fahrenden« und auch deren Freunde deutliche Hinweise auf deren uralte asiatische Herkunft erkennen. Über die Karte 9, »Der Weise«, »Der Einsiedler« oder »Der Alte«, erzählen z. B. die ZigeunerWahrsagerinnen: »Weiter wanderten unsere Sippen (aus ihrer gemeinsamen Urheimat), bis sie die Höhe des Alten Mannes vom Berg erreichten, der in der Rechten die Lampe der okkulten Weisheit und in der Linken einen Zauberstab hält. Wie oft ha ben wir in den vergangenen 500 jähren den Alten Mann vom Berg angerufen, damit er uns beim Wahrsagen, beim Zaubern und bei unserem fonjano Baro (großer Trick) helfe! Er hat uns gelehrt, das Los zu werfen und dem Glücksrad mit den sieben Speichen die Entscheidung zu überlassen.«4 Bezeichnenderweise vernehmen wir etwa auch als Regeln beim zigeunerischen Wahrsagen: »Diese Karte verkündet eine geheime Reise... und eine verborgene Zusammenkunft. Das Su chen nach Wissen und den Kampf gegen den Aberglauben.«5 Gelegentlich wird von den Tarot-Künstlern die Bedeutung die ses Bildes als die des Hüters und Lehrers alter Geheimnisse noch deutlicher herausgestrichen: »Wenn die Laterne durch ein Buch ersetzt ist, wie auf gewissen Zeichnungen, wird der Stek ken zum Zauberstab, und wir haben den Weisen in Tätigkeit, sich der Geheimüberlieferung ergebend und die magischen Künste anwendend.« Auch der hier angeführte Verfasser weist auf die Tatsache hin, daß »in allen Zigeunerstämmen« noch im mer ein solcher »alter Weiser« vorhanden ist, der die jungen Menschen zum Erlernen und Hüten der alten Überlieferung an regt.5 Die westeuropäischen Geheimwissenschaftler, die im 18. l9. Jahrhundert die Tarotkarten als die Schlüssel zu allen
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ewigen Weisheiten zu preisen begannen, geben sehr gerne »dein Stab« oder »Wanderstecken« des Weisen eine schlangenartige Windung - oder sie zeichnen eine Schlange, die sich neben dem Stecken auf dem Boden windet6 : Meistens betrachtet man sie als das Bild der Energien, Kräfte der Erde, die »der Alte vom Berge« beherrscht. In den mittelalterlichen Tarotkarten, die dem französischen König KarlVI. gehört haben sollen, steht der Weise oder der Ein siedler tatsächlich neben einem hohen Felsen. Genau wie die gleiche Gestalt auf den prächtigen Tarotbildern der Visconti hält sie in ihrer Hand, an Stelle der Lampe, ein Stundenglas — das uralte Sinnzeichen für den Lauf der Zeit. 6 Für die neueren Okkultisten, die die Gedanken des Court de Gebelin weiterentwickelten, bedeutet darum der alte Mann die Überlieferung (tradition) überhaupt: »Den tiefen, verinnerlich ten Geist... Den bewährten Arzt für Geist, Seele und Leib. Den Eingeweihten (adepte), der das höchste Heilmittel (la medi eine universelle) anwendet. Den Philosophen der Geheimwis senschaft, der die Lösung des Rätsels nach dem Stein der Wei sen besitzt. Den Herrn der Einweihung.«7 Es ist schwer, diese Gestalt nicht mit dem ewigen »Weißen Al ten« zu vergleichen, der in den schamanistischen Kulturen von den Kalmücken bis zur Mongolei auftaucht. Auch er besitzt ei nen Wanderstecken, der oft in einen Drachenkopf ausläuft, und er waltet, gelegentlich im Auftrag von Buddha selber, über alle Geschöpfe der Welt: Die Burjaten bringen ihn ausdrück lich mit einem geheimnisvollen Gebirge in Zusammenhang, das Deuter dem Himalaja gleichsetzte. 8 Gelegentlich glaubt man, sein helles, lichtes, »weißes« Aussehen stehe mit der reinen Welt des Eises und des Schnees der Höhen im Zusammenhang. Möglicherweise finden wir also in den eigenartigsten und ver breitetsten der Spiel- und Wahrsagekarten noch immer die Erin nerung an die Weisen der Nomadenstämme, die ihren Ur sprung kannten und die einst ihre Geschichten und Erinnerun gen ihren Söhnen und Töchtern berichteten, sie damit auf allen ihren Wegen steuerten.
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Bewegung und Wanderung als Schicksal Schon im 18. Jahrhundert erkannte man in den wunderbaren Tarotkarten die Bedeutung der Zahl 7 im ganzen Spiel: Es gibt 78 Karten, die eigentlich (da das Bild »Der Narr« mit der »0« an gegeben ist und damit eine Sonderstellung besitzt) 77 sind — also 11x7. Als die großen Trümpfe (Arkanen) haben wir, wiederum ohne den Narren, 21 — also 3x7. Die kleinen Arkanen zerfallen in vier Abteilungen (Stäbe, Münzen, Schwerter, Kelche), zu je 14 oder 2x7 Karten.9 Noch heute erklären die Zigeuner-Wahrsagerinnen, deutliche Hinweise auf die Bedeutung »der heiligen Zahl« in ihrer Ur heimat zu besitzen: Sie verweisen auf die sieben Schöpfungstage oder Welt-Zeitalter der Bibel; die sieben Planeten der alten Astrologie und die sieben Grundelemente der Alchimie; die sie ben Wochentage; den siebenarmigen Leuchter der Juden, den auch gewisse Wahrsager der Zigeuner bei ihren Bräuchen an zünden — einige behaupten, ihn bei ihren Wanderungen durch den Osten übernommen zu haben, andere wollen ihn schon aus der Urzeit ihrer Stämme besitzen... Deshalb ist es auf jeden Fall verständlich, daß unter den »Großen Trümpfen« derjenige mit der Zahl 7 eine besondere Bedeutung besitzt: Taucht er beim Kartenlegen auf, so bedeutet er in der Regel Glück, Sieg, Zunahme der Lebenskraft, Erfolg »in Ausmaßen, wie man ihn eigentlich selber gar nicht erwartet«. Das Bild 7 zeigt in der Regel einen Mann auf einem von zwei Pferden gezogenen Wagen stehen. Auf verschiedenen Arten der Tarotkarten hat dieses Gefährt ein Dach und erinnert uns je nachdem an die alten Kampfwagen der asiatischen Epen, an die Triumphwagen, auf denen sich die Herrscher dem Volk zeigten oder auf denen man Götter- und Heiligenbilder durch das Land fahren ließ: selbstverständlich auch an die Wohnwagen der No maden.10 Sogar in Südfrankreich sehen die »Fahrenden« in dieser Karte noch eine Erinnerung an die große Nomadenvergangenheit: »... darum ziehen unsere Wagen weiter, wie du im siebenten
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Schlüssel, dem mit zwei Pferden bespannten Zigeunerwagen, sehen kannst. Merke dir, daß uns Zigeunern das Pferd heilig ist und wir sein Fleisch niemals essen dürfen, denn es ist uns verbo ten. Unsere Stämme beurteilen andere Menschen sogar nach deren Verhalten zum Pferde.«'' Besonders heute, da die meisten »Fahrenden« in West- und Mitteleuropa wegen dem engen Netz der Autobahnen gezwungen sind, ihre Wohnwagen durch Ma schinenkraft zu bewegen, erklären sie vielfach den Verfall ihrer Stammeskultur durch die gestörte Beziehung zum Pferd. Auf dem Tarotbild »Trumpf 7«, wie es verschiedene Künstler schauten, sehen wir nun die beiden Rosse »des Siegers auf dem Wagen« in verschiedene Richtungen streben: »Der Sieger ist im mer derjenige«, so erklärte mir in Lyon eine Zigeunerin, deren Sippe bis etwa 1920 in der Ukraine und Bessarabien Pferdehan del betrieb, »der die innere Sicherheit besitzt, den für sich und die seinen richtigen Weg zu finden. Die alten Häuptlinge haben sogar gesagt, daß ein Mann, der eine falsche Entscheidung trifft, immer noch mehr ein Mann ist als der, der immer zögert. Wenn man seinem Wagen frischgemut eine Richtung gibt, die in die Irre führt, kann man dabei doch etwas gewinnen, nämlich Er fahrung. Wenn man immer zu lange zögert, die Entscheidungen immer von ändern Leuten treffen läßt, lernt man nie etwas.« Alte Tarotbilder zeigen »diesen siegreichen Mann« auf dem Wagen gern in einer Rüstung, die gelegentlich »mit Gesichtern« oder Masken geschmückt ist: Er sei eben nie allein, deutete mir die gleiche Wahrsagerin! Die Antlitze auf seinem Kriegergewand, das seien die Erinnerungen an seine großen Ahnen. Von denen habe er schließlich seine Rüstung, seinen Wagen, seine ganze Härte und Fähigkeit zur Entscheidung geerbt. Diese Erinnerung an die Vorfahren, »die großen Alten«, seien in mehr als einer Hinsicht die eigentliche Grundlage von Sieg und Glück: Einmal geben sie dem Mann, der für seine Sippe »den Wagen« führt, die notwendige innere Sicherheit. Hat er im Sinn der Überlieferung richtig entschieden, »den guten Weg ge wählt«, so wächst sein Vertrauen in sich selber, der Glaube, daß er es in Zukunft ebenfalls tun kann.
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Aus der Tarotkarte »Die Zerstörung« (Trumpf 16) erklären die Zigeuner ihre Erinnerung an den unvermeidlichen Unter gang entarteter Zivilisationen der Vergangenheit
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Dieses Wissen um die Ahnen, die hinter ihm stehen, sich durch ihn äußern, ist auch die Ursache, »daß sein Stamm an ihn glaubt.« Sogar dessen Feinde können dann zu den Mitträgern seines Erfolges werden: »Gegen einen Häuptling, von dem man weiß, daß seine Vorfahren schon immer Glück hatten, unter nimmt niemand etwas: Tut es aber dennoch jemand, so macht er es unsicher genug, weil er im voraus überzeugt ist, daß der an dere mit großer Wahrscheinlichkeit alle Schwierigkeiten zu überwinden vermag.« So faßte mir mein Vater die Überzeugung von kalmückischen Hirten zusammen: Auch hier haben wir die gleiche gemeinsame Überzeugung der alten Nomadenkulturen, aus der heraus die Zigeunerwahrsager »den Sieger auf dem Wa gen« auch »den Mann der Lebenskraft« nennen. Ähnlich erklären die Kirgisen ihre Khane als Träger von Energien (kut), die die Schamanen in ihrem ekstatischen Zu stand sogar als sichtbar erleben sollen: »Die Übereinstimmung mit der >Matt ok megin< (Lebenskraft, Glückskraft) der alten skandinavischen Könige ist überraschend.«12
Kulturen im Kreislauf Für die Zigeuner ist die Anwendung der Tarotkarten für das Wahrsagen der Geschehnisse des Alltags eine Tätigkeit, wie sie die großen Alten nie betrieben — »zumindest nicht für sich selber oder ihre unmittelbaren Angehörigen«: Die Bilder sind ihnen eine Einführung »in die großen Gesetze der Welt, mit denen die Ahnen den großen Königen der mächtigsten Reiche den Weg der Siege und Niederlagen erklärten«. Diese Auffassung scheint mit einer Nomaden-Philosophie verbunden zu sein, die die letzten »Fahrenden Stämme« unse res Erdteils aus einer gemeinsamen Urheimat geerbt und mitge bracht haben wollen: Sie sehen sich dann etwa als »heimatlos ge wordene Abkömmlinge einer Kultur, die alles, was heute ist, schon vor langem übertroffen haben, menschliche Reste eines versunkenen Paradieses«.13
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Sie erzählen dann etwa: »Wir waren oft am Ende der Welt und wir kommen immer wieder hin...« Ganze 2000 Jahre dauere eine solche Wanderung in ihrer Gesamtheit, und sie werde von den Nomaden, jedesmal wenn sie abgeschlossen sei, neu unternommen: Wenn man zu lange an einem Ort verweile, werde man ein Opfer der teuflischen Mächte, Gott selber habe den Stämmen die Bewegung ohne Ende empfohlen.14 Mit solchen Auffassungen vom Kreislauf der Schöpfungen und des Untergangs im Dasein der menschlichen Reiche bringen sie etwa die Tarotkarte »Der Turm« oder »Die Zerstörung« in Zusammenhang: Ein gekröntes hohes Gebäude wird auf dieser Darstellung durch einen himmlischen Blitz gespalten und zum Zusammensturz gebracht. Ein Paar, gelegentlich deutlich als Mann und Frau gezeichnet, stürzt kopfüber in die Tiefe. Die kö niglichen Kronen, die sie getragen haben, verlieren sie im Fallen. Die modernen Tarotbücher sehen hier gelegentlich die An spielung an das Ende der alten Kulturen, den Untergang von Ba bylon, Sodom und Gomorrha, Jerusalem, Rom. Ein alter Zigeu ner, der seine Jugend in der Umgebung von Odessa ver bracht hatte und entsprechend viele okkultistische Überlieferungen der verschiedenen Völker des Schwarzen Meeres kannte, verwies dazu auf die geschichtlichen Ereignisse seines Kulturkreises: den Fall Kiews unter den Schlägen der Tataren, die Katastro phe der Goldenen Horde durch Timur, die Einnahme von By zanz durch die Türken, den Zusammenbruch des Zarentums durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1917. In seinem Zigeuner-Buch hat In der Maur geistreich darauf hingewiesen, daß das »Fahrende Volk«, der Stammessagen über die Vergänglichkeit der Macht wegen, in den verschiedenen Jahrhunderten der abendländischen Geschichte seine erbitter ten Gegner gewann: »So gelten sie allenthalben als unange nehme Mahner, als Boten, die die Hinfälligkeit bleibender Werte< anschaulich machen...«14 Viele Mächtige hätten ihnen schon die Seßhaftigkeit und die entsprechende »Ordnung« lehren wollen, erzählen sie etwa — nur kenne man heute nicht einmal den Namen ihrer Reiche, sie
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Der Magier mit dem Drachenszepter im modernen Mythenfilm Excalibur: »Der weiße Alte« als Schutzmacht und Lehrer der Schamanen von den kalmückischen Steppen bis China trägt in den Händen den magischen Schlangenstab wie »Der Weise« auf Tarotbildern der Zigeuner
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selbst seien aber noch immer da. Sie zögen noch immer durch die Welt, weil sie wüßten, worauf es in Wirklichkeit ankomme — auf die Fähigkeit des Zusammenlebens im Stammesbund.15 Mit befreundeten Künstlern, die ebenfalls in den sechziger Jahren dem Nomaden wissen nachgingen, vernahm ich zweimal, in der Camargue und in Basel, eine sehr wichtige Spielerei, die man mit der Karte »Zerstörung« durchführen kann16 : Dreht man sie auf den Kopf, so wirkt — zumindest auf gewissen Dar stellungen - das Königspaar, das da vom geborstenen Turm stürzt, gar nicht verzweifelt! Es scheint dann den Zusammen bruch als eine Befreiung zu empfinden, und sozusagen von der Schwerkraft befreit in der Luft herumzutanzen. Die Mauern einer Zivilisation, errichtet gegen die »Barbaren« von außen, werden mit der Zeit für die Menschen zu Gefäng nismauern, die alles Leben in ihren immer düstereren Schatten krank machen. Das göttliche Gesetz der ewigen Wandlung läßt die Festung zusammenstürzen, aber erst wenn gar niemand von ihren Bewohnern an ihr seine Lust empfindet... Das Königspaar, das von den Mauern stürzt, wird damit nach einer Lehre der Wahrsager zum Sinnbild für die Menschen, die wieder einmal den Zusammenbruch einer erstarrten und damit toten Herrschaft überleben: Sie verlassen die in nutzlose Rui nen zerbröckelnde Burg oder Stadt und sind damit ungebunden, fähig, »von vorne zu beginnen«, in der freien Landschaft ein nicht mehr eingeengtes Dasein zu führen. So lebt im Kreis der Deuter der Tarotkarten, die seit der Ju gendbewegung der sechziger Jahre so ungeheure Beliebtheit wiedergewannen, sehr viel vom uralten Glauben an den Kreis lauf in allen Kulturen, das abwechslungsweise Steigen und Sin ken in jedem Menschenwerk: Die zumindest mittelalterlichen Wahrsagekarten verweisen auf das beneidete Weltbild der No madenstämme, die auch nach verzweifelten Niedergängen ihre feste Überzeugung bewahrten, daß schon die baldige Zu kunft für sie einen neuen Frühling bringen müsse.
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ZWEITER TEIL
Völkerwanderung ohne Anfang und Ende
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Attila,
der Vater des Mittelalters
Das neue Zeitalter stieg auf, als erstarrte, von den Menschen als unmenschlich empfundene Ordnungen zusammenbra chen. Im 5. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung dringen die Horden der asiatischen Hunnen in den Kreis der abendlän disch-römischen Zivilisation. Die Staatsordnung, die sich unge fähr ein Jahrtausend hindurch vom Mittelmeerraum aus ent wickelte, bricht zusammen. Ob nun die zahllosen Städte teil weise durch die Gleichgültigkeit ihrer verweichlichten Bewoh nermassen zerfallen oder durch die Brutalität der innenpoliti schen Kämpfe — der Volksglaube erklärt bis heute die Zerstö rung der antiken Welt durch die sprichwörtliche »Wildheit des Hunnensturmes«. Die Renaissance und auch die Reformation wollten sich dann über alle Kulturen des Mittelalters, also über das 5.—15. Jahr hundert erheben. Zum Leitbild wählte man wieder die rö misch-griechischen Städte und ihre Rechtsverhältnisse — die traurigen Jahrhunderte von Verfall in Pöbelherrschaft und schamlosen Diktaturen verdrängte man gründlich. Die Hun nen und der en Oberherr Attila wurden nun zu »Gesandten der Hölle«, die für ein Jahrtausend die Entwicklung der Menschheit aufgehalten und Europa wieder »in ein Zeitalter der asiatischen Barbarei« zurückgestürzt hätten. Obwohl wir heute genug Tatsachen besitzen, dieses einseitige Propagandabild zu berichtigen, spukt das Bild des Attila-Gefol ges als das »der primitiven Steppensöhne« noch immer durch die Geschichtsbücher: Sogar während der Weltkriege unseres Jahrhunderts brauchten es die europäischen Staaten, um das je weils östlichere Nachbarvolk im Falle der kriegerischen Aus einandersetzung zu verteufeln — die Franzosen bezeichneten
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dann die Deutschen, die Deutschen die Polen, die Polen die Rus sen als Nachkommen der »teuflischen Hunnen«. Nach den asiatischen Chroniken besitzen die hunnischen Stämme, die offenbar seit jeher aus Menschen von ursprüng lich ganz verschiedener Abstammung bestanden, schon über ein Jahrtausend vor Attila eine verhältnismäßig hohe Zivilisa tion: Die chinesische Geschichtsschreibung scheint sie zumin dest seit dem 8. Jahrhundert vor Christus gekannt zu haben. 1 Obwohl die Chinesen den Hunnen verständlicherweise »kei neswegs wohlgesinnt« waren, bewunderten sie aber offenbar seit jeher das politische Geschick und die geistige Stufe dieser Völker. Nach den Angaben, die man auf diese Weise gewann, stand diese Kultur »zwischen denen Irans, Indiens und Chi nas« ': Wenn wir also die Hunnen unseres beginnenden Mittelal ters als Anhänger des eurasischen Schamanismus antreffen, so müssen wir dies kaum, wie noch meistens im 19. Jahrhundert, »als Erbschaft einer primitiven Nomadenzeit« ansehen.2 Die »Barbaren« hatten bei ihren Zügen durch Asien genug Gelegenheit - bald als Herren, dann wieder als Untertanen - die verschiedenen höchsten Zivilisationen der damaligen Welt ken nenzulernen. Wenn wir sie dann aber während der Völkerwan derung offenbar mehr oder weniger ohne deren weltanschauli che Werte antreffen, so muß bei ihnen geradezu ein bewußter Entschluß vorhanden sein, sich von diesen zu befreien... Die chinesischen Historiker erklärten die hohe Bildung unter den vorchristlichen Hunnen — zumindest unter deren Ober schicht — durch deren Verbindung mit dem Adel des chinesi schen Reiches, der in vorangegangenen, peinlichen Machtkämpfen gestürzt worden war: Die Mitglieder der entthronten Hia-Dynastie hätten nach diesen Hinweisen mit zahllosem Ge folge »Zuflucht bei den Hunnen gesucht«, sie hätten auch nach und nach weitgehend deren Führung übernommen. 3 Schon in diesen für uns Europäer so frühgeschichtlichen Zeiten entstehen bereits hunnische Riesenreiche, gelegentlich anscheinend vom Baikalsee bis zum Himalaja, vom Aralsee bis zum großen Ozean. Zu Beginn der chinesischen Han-Zeit stößt
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der hunnische Groß-Khan Mao-Tun bis zur Hauptstadt des chi nesischen Reiches vor: Im 2. vorchristlichen Jahrhundert zahlt ihm sogar der Han-Kaiser Tribut.3 Die Taten dieses hunnischen Völkerführers, den einige Ge schichtsschreiber an Bedeutung sogar über seine späten Erben Attila und Djingis-Khan stellen, prägten die Entwicklung von Ostasien gründlich: Nach dem Zerfall des Mao-Reiches besitzen Leute aus dessen kriegerischem Gefolge in den chinesischen Staaten hohe Vertrauensposten - »viele der nordchinesischen Adelsgeschlechter sind hunnischen Ursprungs«.4 »In der Han-Zeit werden Kleidung, Bewaffnung und Taktik 5 von den Hunnen übernommen...« Die Volksheere, offenbar schwach genug gegen die kriegerischen Nomaden, werden nun in China »durch Berufssoldaten, hunnische und türkische Söld ner sowie eine nach hunnischer Weise bekleidete und exerzierte Reiterei mit selbständiger Verwaltung ersetzt«.5 Die Hunnen und in ihrem Lebensstil wesensverwandte tür kisch-tatarische Völker sind also bald untereinander schwach und zerstritten — dann dienen ihre abenteuerlichsten Söhne den chinesischen Herrschern als Söldner und Verwalter. Oder sie können sich unter einem eigenen Häuptlingsgeschlecht, wie unter dem von Mao-Tun, einigen und werden selber unaufhalt sam zur eigentlichen Oberschicht in weiten Räumen Ost asiens: Es scheint unbestreitbar, daß eine mit Sagen arbeitende ostasiatische Geschichtsschreibung solche wechselnden Zu stände auch für viele Jahrtausende der mythischen Vorge schichte schildert... Gesichert ist aber, daß mindestens zwei Dutzend Geschlech terfolgen vor Attila die Hunnen bereits alles andere als »ge schichtslose Barbaren« waren. Sie lebten in den Randgebieten der hochentwickelten Zivilisationen der vorchristlichen Welt. Sie kannten deren Luxus und deren Schwächen aus unzähli gen Erfahrungen ihrer Ahnen.
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Urbild der Ritterschaften Das großartige Waltharilied des Ekkehard von St. Gallen, das den Geist der ersten Jahrhunderte des Mittelalters in dessen Hö hen und Tiefen zusammenfaßt, beginnt mit einem Überblick über die Welt. Einen Erdteil »nennt man Europa«: »Mannigfal tig sind seine Völker in Sprache, Sitte und Namen, nach ihrer Le bensart unterschieden und nach ihrem Glauben.«6 Von diesen bunten Stämmen, an deren Vielfalt der mittelal terliche Mensch seine Freude hatte, wird nun hervorgehoben: »Unter diesen verdient besonders das Volk der Pannonier seinen Platz, das zumeist wir auch Hunnen pflegen zu nennen.« Nicht allein seine umliegenden Länder beherrsche es, »sondern es überschritt auch des Ozeans Küsten, und schenkte Bündnis den Flehenden, wie es die Widersacher zerstäubte«. 6 Hier er scheinen also die Hunnen nicht als Verderber der römischen Zi vilisation, wie man sie später darzustellen suchte, sondern so zusagen als Retter der Unterdrückten, die unter dem )och einer alten und entarteten Welt litten. Sie treten in dieser Dichtung nicht etwa aus dem Nichts ihrer Barbarensteppen auf die Bühne der abendländischen Geschichte: »Über (!) eintausend Jahre hatte es (das Hunnenvolk) also geblühet, als an die Spitze des Reichs der König Etzel getreten, unermüdlich, für sich zu er neuern die alten Triumphe.«7 Wie wir also heute als seine ver gessenen Vorläufer gewaltige uralte Herrscher oder Verbün dete von China gleich dem Khan Mao-Tun sehen, ist also auch für das Mittelalter Attila, »König Etzel«, nur ein Erneuerer »der alten Triumphe« seiner Ahnen. Für die deutsche Heldendichtung ist Etzel oder Attila auch sonst »Hort der Vertriebenen, treuer Freund derer, die sich wie Dietrich von Bern seinem Schutz anvertraut haben«. 8 Für die mittelalterlichen Poeten und Sagensammler, deren Geist weitge hend unsere Ritterzeit prägte, ist er »das Vorbild der Weisheit und der Tugend«: »Der König der Hunnen, sagen sie, war der ir dische Gott der Vornehmen und des bescheidenen Volkes, das er mit seinen Wohltaten überschüttete.«9
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Märchenhaft, für das ganze Mittelalter ein Vorbild, wenn auch zumeist ein unerreichbares, seien die wunderbaren Feste gewesen, die Attila mit seinen Rittern zu feiern verstand: »Die Pforten seines Schlosses waren für jedermann offen, und Attila wiederholte mit einem edlen Ehrgeiz: >Ich habe keine Feinde.< So war der große Herrscher, dessen Ruhm sogar den des be rühmten Arthus von Britannien verdunkelte.«9 Es ist nach der heutigen Auffassung sehr gut möglich, daß dieses Leitbild des guten Herrschers, das durch das ganze Mittelalter geht, von den Ahnen der deutschsprachigen Völker unmittelbar aus den Dich tungen der schamanistischen Sippen entnommen wurde. Man hat sogar schon behauptet: »Alles, was das germanische Heldenlied kennzeichnet, ist irgendwo in dessen hunnischen und alanischen Vorgängern bereits vorhanden.«10 Hier haben wir auf alle Fälle die Vorstellung »des wahren Kö nigs«, die dank der Überlieferung der Jahrtausende Mao-Tun mit Attila und mit dem späteren Djingis-Khan vereinigt: Er ist un besiegbar und für seine Feinde schrecklich, aber nicht nur durch seine Strategie und sein Waffengeschick. Er zieht »von Triumph zu Triumph«, weil sein Wesen gütig und gerecht ist. Sein Heim, wo es auch liegen mag, ist für die be sten Menschen seiner Zeit ein Ort der Zuflucht. Sein Gefolge sind die berühmtesten Ritter aus allen Ländern und selbstver ständlich auch die begabtesten Dichter und Sänger. Er, umgeben von den Wundern aus allen Erdteilen und mit den schönsten Frauen aus allen Völkern, beschäftigt täglich die Phantasie dieser lebendigsten unter den Menschen — wer kann da schon gegen ihn sein, wenn diese glänzende Tafelrunde überall in der Welt »seinen Ruhm« verbreitet? An die Stelle der spitzfindigen geschriebenen Ordnung der Ju risten der Stadtstaaten der sterbenden antiken Reiche entsteht nun für die mittelalterliche Dichtung durch den Archetypus »des guten Königs« eine neue Gesellschaft: Die Menschen schließen sich zusammen, wenn sie sich für einander begeistern können. Die Gastfreundschaft und das Fest werden zu politischen Mitteln, die Reiche zusammenzuhalten. Die gegenseitige
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Liebe und Treue sind stärkere Mittel als irgendwelche starren Vorschriften. Die Völker folgen ihren Königen und deren Rittern, weil sie durch fahrende Sänger von deren glänzenden Taten und guten Eigenschaften überzeugt wurden. Noch der Magier Agrippa von Nettesheim, der während der Renaissance mit viel Gelehrsamkeit die mittelalterliche Überlie ferung zusammenzufassen versuchte, sieht im Königtum die Verkörperung der himmlischen Ordnung auf Erden. Auch er stützt sich bei seinen Überlegungen auf die Geschichte vom gött lichen Helden Odin, die er aus den skandinavischen Chroniken kennt: Dieser sei, so berichten diese, während der Völkerwan derung und dem Zusammenbruch des römischen Reiches mit ei nem Stamm von Magiern von Asien her eingewandert, und wie man weiß, führten viele der nordeuropäischen Königsge schlechter auf ihn ihre Stammbäume zurück." Hier begegnen sich die europäischen Überlieferungen recht deutlich mit denen von China: Auch für Ostasien sieht die neu ere Forschung die Entstehung der Vorstellung von der Göttlich keit der Kaiser in der Verschmelzung der einheimischen Zivili sation der Seßhaften »mit der Kultur der nordeurasischen Rei ternomaden«.12 Das Mittelalter steigt auf, als erstarrte, von den Menschen als unmenschlich empfundene Ordnungen zusammenbrechen. Die menschlichen Gesellschaften werden nicht mehr zusammenge halten und unverständlich gewordene Vorschriften und die Angst vor der Strafe bei ihren Übertritten: Das Denken der Völ ker kreist wieder um Menschen, die in ihrem ganzen Tun und Lassen sich gegenüber dem Göttlichen verpflichtet fühlen und die darum auch von ihrem ganzen Umkreis als Vorbilder göttli chen Handelns empfunden werden. Was uns die chinesische Geschichte schon mehrfach für die Urzeit bezeugt, geschieht nun auch zu Beginn unseres einheimi schen Mittelalters: Das innere Gesetz der Nomaden, das wie durch ein Wunder in den verborgenen abgelegenen Hirtenlän dern überlebte, dringt wieder einmal vor und wird für ganze Geschlechterfolgen zur Grundordnung für die ganze Welt.
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Hoffnung auf Dietrich von Bern Die deutschen Stämme des Mittelalters liebten die Ritter am Hof Attilas als ihre unerreichbaren Vorbilder und Ahnen.13 Noch Etterlin schildert in seiner »Kronica«, daß die Nachkom men Attilas »untereinander alle (!) Länder teilten« — von ihm kämen Menschen »von großem Geschlecht und Adel«: »Ein Teil fuhr nach Britannien und England, ein Teil nach Spanien und ein Teil nach Italien; da erwählte (machte) jeder Teil einen König innerhalb (under) seinem Teil, und ist also eine Menge von Königen von den Goten und Hunnen auferstanden...«14 Aus den verworrenen Nachrichten über die Nomadenreiche der Völkerwanderung leitet fast jedes der mittelalterlichen Länder den Beginn seiner eigentlichen Geschichte ab. »Die Franken, aus Skythien vorrückend«, heißt es etwa, hätten Ger manien und Gallien eingenommen — wobei die Skythen übri gens noch ausdrücklich mit den »Tataren« gleichgesetzt wer den.15 Das Schloß der Könige von Burgund am späteren eidge nössischen Thunersee, berichtet etwa die märchenhafte Stret linger-Chronik (und noch die spätere Volkssage!), sei um den Turm des Königs Attila oder Etzel entstanden.16 »Venedig die Stadt« habe ihren »Ursprung genommen« von den Menschen, die sich während der Verwirrung der Hunnen züge »ab dem Land in das Wasser hinein« zurückzogen.17 Nach einer italienischen Überlieferung baut Karl der Große das durch den Hunnenzug zerstörte Florenz wieder auf. In einer Chronik aus dem Umkreis von Ratisbonn, die auf das 13. Jahrhundert zu rückzugehen scheint, werden sogar noch die Bayern mit den 18 Hunnen gleichgesetzt. Gegenüber der Dämonisierung der »heidnischen« Hunnen rücken diese nach der Überlieferung der mittelalterlichen Ritter kultur und ihren fahrenden Sängern in den europäischen Rei chen vor, weil diese innerlich versagen. Das Nibelungenlied schildert den Untergang der burgundischen Recken am Hof Et zels oder Attilas, weil deren Gesellschaft durch Neid und feigen Verrat die eigene Zerstörung auslöst. In den Dichtungen um den
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Rosengarten, die manche Beziehung zu den Nibelungen aufwei sen, kommen die Hunnen an den Rhein, weil sie von den Bur gundern selber dorthin gerufen werden! Die Burgunder, immer teilweise als Erben der römischen Zivi lisation geschildert, haben nach dieser Quelle alle Wunder der menschlichen Zivilisation und auch der Natur bei sich versam melt. Um diese Pracht zu beschreiben, »würde eine Woche nicht ausreichen«.19 Offenbar erzeugt aber nach der Ansicht der mit telalterlichen Sänger und Sagenerzähler eine solche Fülle Überdruß und Langeweile: Wegen der Ankunft der Helden aus dem Hunnenland, vernehmen wir, »freute sich an dem Rheine manch kluges Mägdelein (magedin) und auch viel schöner Frauen...«20 Die zwölf Helden, die Attila bei diesem Abenteuer der Erobe rung begleiten, zählen unter sich Namen wie die der berühm ten Sagenrecken Dietrich von Bern, Heime, Härtung, Hilde brand. Obwohl sie uns als germanische, russische, byzantinisch griechische Fürsten geschildert werden, gelten sie wegen ihrem König und Vorbild Attila alle als »Herren von den Hunnen«.21 Diese Helden aus dem Bund der östlichen Stämme besiegen, zur Freude der schönen Damen vom Rhein, all die besten Krie ger von Gibeche, dem König von Burgund, dem Besitzer des Ro sengartens und dem Vater der Kriemhild. Der einst übermütige Herrscher gibt nun seine Krone und sein Kreuz dem Hunnen Et zel als Zeichen seiner völligen Unterwerfung. Er klagt: »Heute früh war ich ein König, nun bin ich ein armer Mann.«22 Doch Attila zeigt sich auch in dieser Dichtung als Vorbild für das Verhalten der mittelalterlichen Herrscher. Vom Burgunder will er nur, daß er, seine Söhne Gunter und Gernot, dann auch der berühmte »Siegfried von Niederland« (der Gatte der Kö nigstochter Kriemhild) — von nun an ebenfalls zu seinem Heldenkreis gehören: Darauf gibt er ihm seinen ganzen Besitz und die Zeichen seiner Königswürde wieder als Lehen zurück. Noch das deutsche »Heldenbuch«, das ebenfalls die einheimi schen Überlieferungen zu ordnen und zusammenzufassen ver suchte, beginnt mit der Aufzählung »der Länder«, die »vor
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Zeiten« die eigentliche Heimat der Helden gewesen seien. Es er wähnt das durch die Dichtungen um den Rosengarten verklärte Burgund (Burginne) und kommt dann besonders zum »Land, das nun heißt Ungernland, das hieß vor Zeiten Hunnenland«.23 Ohne diese Heldengeschlechter, dies wird auch hier gelehrt, gäbe es auf der Welt nur die Gesinnung von Zwergen oder die rohe Gewalt der Riesen: »Darnach schuf Gott die starken Helden ... Gott machte starke Helden und gab den Helden ein ange borenes Wesen (ein natture), dank dem deren Mut und deren Sinne standen auf Mannheit und auf Ehre.. ,«24 Entsprechend den Überlieferungen der deutschen Stämme des Mittelalters, die mit großer Sicherheit auf die schamanistischen Mythen der Hunnen und Goten der Völkerwanderung zu rückgehen, läßt aber auch das »Heldenbuch« diese wunderbaren Geschlechter durch göttlichen Beschluß verschwinden: »Da kam ein kleiner Zwerg und ging zu dem Berner (also zum Helden Dietrich von Bern, S. G.) und sprach zu ihm: >Berner, Berner, du sollst mit mir gehen!< Da sprach der Berner: >Wo soll ich hin?< Da sprach der Zwerg: >Du sollst mit mir gehen, dein Reich ist nicht mehr von dieser Welt.Tartaria< (also der Tar taros! S. G.) heißt, und durch ihr Land läuft.«2 Durch seine Berge und Wüsten ist dieses Reich »unfruchtbar... und ist an manchen Orten unbewohnt«. Seine Völker heizen darum mit Kuh- und Roßkot. Furchtbar seien in diesem im Norden (gegen Mitternacht) liegenden Land die Unterschiede zwischen Hitze und Kälte, unvorstellbar stark die Gewitter und Stürme.2 In dieser »höllischen« Urwelt konnten nach den mittelalterli chen Chronisten und Philosophen nur die Völker überleben, die ihre Lust an der Unabhängigkeit über alle Lockungen der Hochzivilisationen setzten. Wenn sie aber die Natur der Hoch ebenen, Steppen und Wüsten zu bestehen vermochten, seien ih nen seelische und körperliche »Tugenden« entstanden, die sie al len innerlich entarteten Staaten überlegen machten. Es gab hier kein Überleben, mochte man selber noch so tüch tig sein, wenn man nicht im Kreis von Sippe und Stamm mit än dern zusammenzuarbeiten vermochte. Dazu gehörte selbstver ständlich auch ein sehr enges Verhältnis und eine sich ergän zende Tätigkeit zwischen Mann und Frau. Ferner auch der Brauch der großzügigen Gastfreundschaft gegenüber dem ein samen Wanderer — der ganz auf sich gestellt nicht überleben konnte. Die Liebe zu der Welt der Ahnen, die mit ihrem Dasein ihren Erben zeitlose Beispiele hinterließen, prägte hier vollständig das Leben. »Die Ideologie Djingis-Khans«, versichert uns ein
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heutiger Geschichtsschreiber, »waren die Überlieferungen der Urzeit.«3 Der Orientale Raschid ad-Din lehrt schon im Mittelal ter, einzigartig sei bei den Mongolen — im Vergleich zu allen än dern Völkern! — »die Überlieferung des Geschlechts und die Kenntnis des Stammbaumes«. Dies sei bei ihnen der eigentliche Gehalt ihrer Religion und die Quelle der Sittenlehre für jedes neugeborene Kind.4 Man staunt, wie gering in der berühmten sog. »Geheimen Ge schichte der Mongolen«, besonders auc h in den großartigen mongolischen Dichtungen des 17. Jahrhunderts, die Beachtung der eigentlichen Feldzüge Djingis-Khans ist. Seine Größe beruht nach all diesen Quellen in seiner Bedeutung »als Einiger der mongolischen Stämme«:5 Die Eroberungen waren offenbar diesen Geschichtsschreibern und Dichtern eine fast gesetzmä ßige Folge dieser eigentlichen Tat seines Daseins... Beachtenswerterweise kämpften die Tataren und Mongolen fast gar nicht gegen jene Völker, deren Lebensweise sie ihrer ei genen als verwandt ansahen. Roger Bacon bezeugt: »Es gibt (mitten in den Riesenreichen der Tataren) einige Völker, die sich in die Berge zurückzogen, die es (für die Tataren) unmöglich zu besiegen ist, obwohl sie in unmittelbarer Nähe sind: weil die Orte, in die sie sich zurückzogen, unbezwingbar sind.«6
Militärtechnik aus Ekstase Ein Kenner der Kriegsgeschichte wie C. F. Kollbrunner findet das Geheimnis der Mongolen- und Tatarensiege schon beim Hunnen Mao-Tun vorgebildet, der sich im 2. vorchristlichen Jahrhundert gegen China durchsetzte. Sein Grundsatz lautete, daß man erstens stets angreifen müsse, zweitens dies mit voller Kraft tun muß, und drittens, daß man dabei den Gegner beidsei tig zu überflügeln habe. Diese Taktik des Sieges sei durch Jahr tausende weitervererbt worden: auf Attila, Djingis-Khan, die Preußen Friedrichs des Großen. 7 Dieser unentwegte Ansturm war diesem Verfasser nach nur
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aus dem Wesen der Nomadenvölker erklärbar. Schon die Chi nesen schilderten die Hunnen des Mao-Tun »als stolze, tapfere und ehrliebende Krieger mit ritterlicher Denkart«. Auch hät ten sie nur auf den Rat ihrer Wahrsagerinnen angegriffen, wenn alle Kräfte der Natur im Zunehmen begriffen waren. 8 Den Sieg solcher Vorstöße erklärten nicht nur die alten Chi nesen als nur durch die Zunahme der Entartung in den »zivili sierten« Reichen möglich. Schon der Prophet Mohammed soll nach einer sehr alten arabischen Überlieferung die Tataren- und Türkenstämme, die regelmäßig gegen die orientalischen Länder vorstießen, als »Allahs Heere« bezeichnet haben: »Er rächt sich durch sie an denen, so sich wider ihn empören.«9 Der große japanische Reformator einer erstarrten Religion, Nichi ren, sah in den 1281 gegen seine Heimat vordringenden Mongo len und Tataren des Kublai-Khan geradezu »Botschafter Bud dhas«, durch die die entarteten Volks stamme zu einer inneren 10 Erneuerung ermahnt würden! Auch die byzantinisch-christli chen Russen waren während ihrer Tatarenkriege des 13.—16. Jahrhunderts überzeugt, daß ihr ganzes Leben dadurch auf den Weg der göttlichen »Tugend« gebracht werde.11 Von Mittelasien bis Iran versichern im übrigen die Ge schichtsschreiber, wie sehr überall die einheimischen Nomaden und Halbnomaden - oft Adel, Geistlichkeit, Kaufleute, Hand werker — die Krieger Djingis-Khans begrüßten, sich mit ihnen verbündeten, ihnen anschlössen. Der Hauptwiderstand gegen die große Völkerbewegung ging, nach den gleichen Quellen, »vor allem von der städtischen Unterschicht« aus.'2 Es ist nun sehr wichtig festzustellen, was dieses »Proletariat« im Rom der Spätzeit, von wo wir schließlich den Begriff geerbt haben, bedeutete: Wir dürfen hier nicht vergessen, daß sich die ganze städtische Welt des Orients im 10.-13. Jahrhundert als ein Erbe der römischen Zivilisation empfand; ebenso das von Byzanz aus zum Christentum bekehrte Rußland, dessen Fürsten sich geradezu um oströmische Beamtentitel reißen: Nach skan dinavischen Quellen heißt ja dieses »vortatarische« Rußland Gardariki, also das Reich der Städte.
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Das Weltbild der Himalajarassen sieht die 12 Erdteile als Lotosblume: Vier gewaltige Stromsysteme (Oxus, ]enissei, Amur, Ganges-]amuna) gehen in die verschiedenen Richtungen. Aus den Göttergebirgen der Mitte entstehen die Völker, Religionen, Kulturen ewig neu
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Arabische, iranische, tatarische Hinweise reden in diesem Zeitalter, wenn sie die byzantinischen Reiche, aber wahrschein lich auch Klein- und Vorderasien und Rußland meinen, meistens nur von »Rum«, also dem weiterbestehenden Rom! »Ohne den großen Völkeraufstand von Djingis«, so sollen nach einem geor gischen Sagenkenner die Osseten im Kaukasus erzählt haben, »wäre schon damals die ganze Welt, wie in den Tagen von Ba bylon und des alten Roms, wieder in die drückende Sklaverei der großen Städte zurückgesunken.«13 Das römische »Proletariat« bestand nun vor allem aus ruinier ten Kleinbauern, die ihre angestammte Tätigkeit verloren hat ten, weil man die Nahrungsmittel nun viel billiger aus den Kolo nien des Weltreichs beziehen konnte. Sie zogen in die anschwel lende Großstadt, wo sie jene Massen bildeten, die die Machtha ber der entarteten »Demokratie« gegeneinander »manipulieren« konnten: Dafür erhielten sie nun einmal »Brot und Spiele« und das ihnen dauernd eingehämmerte Bewußtsein, »römische Her renmenschen« zu sein, turmhoch allen »unzivilisierten Barba ren« überlegen.14 »Es (dieses Proletariat) lebt von Getreidespenden, von stän digen Arbeitslosenfonds, der stolzen Errungenschaft seiner re volutionären Partei. Es lebt von Wahlgeschenken, die die Kan didaten beider Parteien wetteifernd ins Volk streuen. Der Pöbel von Rom, von Ackern und Arbeit befreit, verkauft sich den Her ren — fürs tägliche Butterbrot.«14 Um solche Zustände in der Geschichte zu verstehen, ver weist Genner auf die stolze Lehre der Zigeunernomaden, man dürfe nie in das »Tal der Affen« niedersteigen, also nie Masse ohne Überlieferung und Stammesbewußtsein werden. Er erin nert dazu auch an die Hinweise bei Karl Marx, die gerne überle sen werden: »Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Ge sellschaft...« Oder: »Die römischen Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern faulenzender Mob...«14 Die russischen Heldendichtungen, die Bylinen, schildern sehr anschaulich die Zustände in der reichen, mit Byzanz verbunde nen Stadt Kiew bei den Tatareneinfällen. Zahllos sei das Volk,
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das er durchfüttern müsse, klagt der Großfürst, er habe aber keine Helden mehr, um die Frauen und Kinder des Landes zu verteidigen...15 Unmittelbar vor der Eroberung durch die Djingisiden herrscht in den Städten des Orients blutiges Chaos. Die Ge heimbünde der Haschischim verkünden von Indien bis Europa die Lehre des Terrors und töten jeden, der ihnen im Wege steht. Orientalische Gelehrte deuten diese Armeen der Nacht nach ei genem Standpunkt bald als anarchistisch-sozial, dann wieder als elitär-faschistoid: Entscheidend ist, daß man die Mongolen ge radezu als Befreier von diesem Schrecken begrüßte! 16 Noch bei der Ausdehnung der tatarisch-türkischen Reiche vom 15. bis zum 17. Jahrhundert sehen ganz ähnlich viele der europäischen Beobachter diese Siege als eine Folge der zuneh menden Gottlosigkeit, der Religionsstreitigkeiten, der Klassen kämpfe unter den »Christen«. Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), der 1493—1541 lebte, verkündete darum die na hende Eroberung von ganz Europa durch die »Türken« und so gar, daß aus ihrem Geschlecht der Kaiser des Abendlandes kom men werde.. ,17 Dies erklärte er für gottgewollt, da er in den östlichen Noma denvölkern ein sittlicheres Verhalten zu erkennen glaubte als »im Reiche der Deutschen und Welschen«: Die Christen hätten zwar den richtigeren Glauben, seien aber die Gegner von jedem Gebot. Die Türken, die täten aber, was sie der Vater (Gott) zu tun geheißen habe.17
Kaiser und Dichter Die Staaten in der unmittelbaren Nachfolge des Nomadenrei ches von Djingis-Khan mögen noch so im Zwist um dessen Welterbe zerstritten gewesen sein; durch ihre gemeinsamen Wurzeln im Ahnenkult der Schamanenvölker und im ganzen Hirtenkrie gertum waren sie auf mannigfaltige Art verbunden. Die Türken, obwohl sie in den uralten Zivilisationsräumen
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von Kleinasien und des oströmischen Balkans recht rasch ihr ur sprüngliches Wesen einbüßten, waren bis ins 18. Jahrhundert die eigentliche europäische Großmacht durch ihre Verbindung mit den Tataren- und Kosakenstämmen von Südrußland. Das berühmte »Türkenbüchlein« von 1522 w eiß darüber: »Es sind die Nachkommen der Skythen des Altertums,... tapfere Krie ger, die eine kräftige Faust schreiben. Sie sind nüchtern, an spruchslos, abgehärtet, auch eiligen Wanderns mit Weib und Kind gewohnt und immer angriffslustig, so daß der türkische Kaiser sogar ihren Fürsten Tribut gibt... Mit den Tattern allein vermag der Türke die Christen zu besiegen.«18 Bis ins 18. Jahr hundert hinein war der Abwehrkampf gegen die tatarischen Vorstöße das Schicksal der Österreicher, Ungarn, Polen und Russen. Zum eigentlichen Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung ge worden, konnten sich die Khane der Krim, des »Tatarenlandes« von Kaukasus bis Podolien, nur halten, wenn sie aus den östli chen Steppen stets ihre ursprünglichen Nomaden-Verwandten »aufnahmen«. Obwohl die russischen Tataren weitgehend, zu mindest oberflächlich, den »Türkenglauben«, nämlich den Is lam, übernommen hatten, finden wir noch bei Olearius über die gefürchteten »tscheremissischen Tataren« — »ein ungetreu, räuberisch und zauberisch (!) Volk«: »Die so um Kazan her umwohnen, sind, soviel ich erforschen konnte, alle Heiden.. ,«19 Und bis ins 20. Jahrhundert vernahm man von den Nogai-Tata ren, daß es unter diesen überzeugten Nomaden noch »heidni sche« Sonnenanbeter geben solle, die mit ihren Herden »zwi schen Stawropol und Astrachan umherziehen«, die Wirtschafts beziehungen von riesigen Räumen sichernd.20 Aus diesem noch lange erhaltenen »zauberischen und heidni schen« Wesen stammte wohl noch die magisch-schamanistische Überlieferung der türkisch-tatarischen »Eingeweihten«, durch die die Europäer deren Unbesiegbarkeit erklärten. Es gebe bei ihnen ein Wundermittel, von dem man im übrigen ganz ver schiedene Geheimrezepte nachlesen kann! Der Basler Leonhard Thurneysser wußte etwa davon: »Von derselbigen die Größe ei
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ner Bohne eingenommen, erweckt alsbald einen Zorn und Grimm im Menschen, so daß er den Tod nicht fürchtet. Er wird stark blutgierig und wütend...«21 Aus dem eigentlichen Herzgebiet dieses Raums entstand noch im ausgehenden Mittelalter der Versuch der Reichsgründung des wilden Timur oder Tamerlan (1336-1405). Obwohl aus einem eher machtlosen Häuptlingsgeschlecht zum Herrn von Sa markand aufgestiegen, sah er sich selber als einen Nachkommen und Erben von Djingis-Khan: Die westlichen Geschichtsschrei ber haben dies bezweifelt, aber bei der Neigung der Mongolen zu möglichst vielen schönen Gattinnen ist es ziemlich sicher, daß fast 180 Jahre nach der Geburt von Djingis jedermann in den wichtigen Familien von Rußland bis China mit ihnen irgendwie verwandt war. Timur betrachtete sich als einen rechtgläubigen Mohamme daner, seine und seiner Nachkommen Neigung zu einer ekstasti schen Glaubenswelt ist aber so offensichtlich, daß man sie im ganzen Orient als »Heiden« ansah: Schon er selber neigte zu ei ner rauschhaften Religiosität und umgab sich mit Derwischen, die ganz offensichtlich diesen Neigungen entgegenkamen.22 Es ist kaum zu bezweifeln, daß die entsprechende Vorliebe ihm in den mohammedanischen Ländern die Neigung und damit die Hilfe aller Leute einbrachte, die gegenüber den nüchtern-ratio nalen Richtungen des Islam Überdruß empfanden. Seine Vorstöße gegen Iran, Türkei und Rußland waren dazu angetan, die dort bereits sehr zerstrittenen Erben von DjingisKhan noch mehr zu schwächen. Zwischen Afghanistan, Tibet und Süd-Indien bildeten aber seine Nachkommen ein glänzendes Kaiserreich, daß durch die Pracht seines Hoflebens und den Welthandel bis nach Westeuropa in Alltag und Politik die Moden beeinflußte. Die Herrscher Babur, Humajun, Akbar, Dschahangir, Dscha han liebten nicht nur die Erotik und den Rausch, was man aus den zahllosen Dichtungen, die sie umgeben, annehmen könnte: In Astrologie, Alchimie und den ändern Naturwissenschaften, in allen Künsten suchten sie Wege zum Preis Gottes.23
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Unter den islamischen Derwischen, mit denen sich der Tatar Timur und viele seiner Nachkommen umgaben, lebt nach türkischen und russischen Forschem die Überlieferung der Schamanen ihrer »heidnischen« Ahnen
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Ob sie die buddhistischen Mythen über die ursprüngliche Verbindung der »mongolischen« Djingisiden zu dem indisch-ti betanischen Raum ernst nahmen oder auch nicht, durchschnitt lich zeigten sie eine ausgesprochene Neigung zu den in ihrem Wirkungsgebiet vorherrschenden Mitteln der Ekstase, zu Dich tung, Tanz, Musik, entsprechender Architektur, der Kunst des farbfrohen Umzugs. Zum wachsenden Schrecken islamischer Eiferer ist ihr Thron meistens umgeben von ekstatischen »heidnischen« Künstlern und Gelehrten, wie der ihrer Ahnen, der türkisch-tatarischen und mongolischen Khane, von Schamanen und Sängern der Ahnenepen. Noch heute lieben die Inder die Geschichte, wie der große Kaiser Akbar mit seinem Hofkünstler Tansen zu der schö nen Königin und Dichterin Mira Bhaj pilgerte, die ihr ganzes Da sein dem Besingen von Krishna widmete, des Gottes der Liebes ekstase. Er neigte sich vor der ganz im religiösen Rausche lebenden Frau und beging darum für viele eine unglaubliche »Ketzerei«. Treu war er aber damit dem Geist seiner Ahnen, denen die in nere Beziehung des Menschen »zur himmlischen Kraft« stets wichtiger war als das sture Einhalten erstarrter Formen. Erst als der Timuride Aurangzeb, gestorben 1707, die indi schen Religionen zu verfolgen begann, folgte der verzweifelte Aufstand der großen einheimischen Geschlechter. Das Kaiser reich zerbrach, und damit war erst die Stunde der puritanischen Eroberer (und Ausplünderer!) von Asien gekommen.
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Der Kaiser der Welt Ähnlich wie von den großen Khanen bei den schamanisti schen Völkern glaubte man auch von Friedrich von Hohen staufen, daß er durch wunderbare Künste unsterblich gewor den sei. Das Mittelalter, besonders seit der Tatarenzeit, ist voll von Nachrichten über einen östlichen »Weltenherrscher«, der trotz seines unvorstellbaren Reichtums und seiner Macht sich be scheiden nur für einen Diener Gottes ansieht: »Im Indierland nennt man ihren Patriarchen Priester Johann.« Er werde »auch als ein Kaiser geachtet«.1 Er sei »großer und edler Kaiser von India«, 72 Könige sähen in ihm ihren Oberherrn.2 Obwohl er für Christen als ein Vorbild aller (!) »priesterlichen« Tugenden geschildert wird, redet man ausdrücklich und gern von seinen schönen Frauen, und er war mit den Tatarenkhanen durch lange Zeiten sehr eng »durch Ehen verbunden«: »Da jeder von ihnen des ändern Tochter oder des ändern Schwester heiratet.«3 Sein Palast, in dessen unvorstellbaren Köstlichkeiten die Dichtungen schwelgten, brachte die mittelalterliche Überliefe rung gern »mit dem Tempel des Grals in Verbindung«.4 Man schilderte z. B. in der Obhut des Priesterkönigs einen duftenden Born, »der den Palast nie verlassend, von einer Ecke desselben zur entgegengesetzten fließt. Hier nimmt ihn die Erde auf, unter ihr kehrt er zu seiner Quelle zurück. Gerade wie die Sonne von Westen nach Osten zurückkehrt.«5 In einem berühmten Br ief des Priesters Johann, den man an scheinend seit dem 12. Jahrhundert allgemein als echtes Doku ment ansah, erscheint er als Herr aller von den europäischen Orienthändlern so ersehnten »Gewürze«: »In einem gewissen, uns gehörigen Lande wächst und sammelt man allen Pfeffer...«6
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Die Ordnung in seinem Reich galt für Fürsten und Volk des Mittelalters geradezu als für die ganze Welt vorbildlich, auch wenn jedes Königreich unter ihm ganz nach eigenem Brauch lebte. In seiner Botschaft, die man in den verschiedensten Fas sungen verbreitete und an deren Inhalt allgemein fest geglaubt wurde, lesen wir: »Unter uns weilt kein Armer; alle Gäste, alle Fremden bewirten wir. Weder Diebe noch Räuber, weder Ehe bruch noch Geiz finden sich bei uns.«7 Sein »Heim« ist auch nach dem Jünger Titurel »in Indien sehr nahe (vil nah) dem Paradiese«: Dieses liegt auf einem hohen Berg mit einer wie Feuer erglänzenden Spitze. Heilige Wasser strömen von hier herab — und badet ein Siecher »darinnen, er wird von aller Siechheit wohl geheilet«.8 Das Paradies, zu dem man durch das Reich des Priesterkönigs kommt, »ist der am höchsten liegende Teil der Erde, und es ist im Osten, wo die Welt beginnt (au commencement de la terre)... Es liegt so hoch, daß die Sintflut in den Zeiten von Noah es nicht erreichen konnte.. .«9 Es ist schwer, hier nicht die Nachrichten über den Himalaja zu sehen, der auch für die Völker von Nordindien bis in die Mongolei zu allen Zeiten als Aufenthalt ihrer unsterbli chen Götter und ihrer vergötterten Herrscher der Urzeit gilt. Bischof Otto von Freising wußte im 12. Jahrhundert vom Prie ster Johannes: »Jener König soll nämlich aus dem alten Ge schlecht der vom Evangelium erwähnten Magier stammen und über die selben Völker, denen die Magier einst geboten, herr schen.«10 Eine wichtige Ergänzung zu diesem Mythus unserer Vorfahren finden wir im 14. Jahrhundert in der Legende des Jo hannes von Hildesheim: Die drei für die Christen heiligen Ma gierkönige aus dem Morgenland hätten geherrscht »in den Lan den zu Indien, Chaldäa und Persien«. Sie seien überhaupt ge kommen »vom Orient, da das Erdreich sich endet und die Sonne aufgeht. Dort hört man beim Anbruch der Morgenröte die Sonne mit so großem Geräusch und Schall und mit so erschreckli chem Getöne aufgehen, daß, wer das nicht gewohnt wäre, es nicht möchte ertragen.«11 Man war überzeugt, die drei Magierkönige - »sie waren in In
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dia.. ,«12 Die zeitgenössische Quelle (Annales Marbacenses oder auch Argentienses pleniores) schildert das abendländische Ge rücht, nach welchem die in Rußland eingefallenen Tataren sozu sagen auf einem Pilgerzug nach dem Westen waren: Sie seien auf dem Wege nach der Kaiserstadt Köln, um die dort aufbe wahrten Leiber ihrer drei Magierkönige heimzuholen.13 Entsprechend seiner Abkunft aus einer Welt der Kenntnis al ler göttlichen Kräfte sah man auch die Herrschermacht des Priesters fohann: Er besitze einen Spiegel aus wunderbaren Stoffen. Alles in seinen unzähligen Reichen »können die Be schauer auf das Deutlichste sehen«.14 Es ist schwierig, hier nicht Spuren des genauen Wissens unse res Mittelalters über die Urheimat des Schamanismus und der noch heute diesem zugeschriebenen Sehergaben zu erblicken. Unbestreitbar gehören in den Kreis dieser Vorstellungen auch die Berichte über die gespenstischen Länder voll von schreckli chen »Stimmen« und dämonischen Gefahren, die man durch queren muß, um zu diesem großen König zu kommen. Solche er schreckenden Töne in den Wüsten von Zentralasien, heute er klärt durch die Bewegung des Sandes und das Singen des Stur mes, werden ja übereinstimmend »von alten und neuen Reisen den erwähnt«.15 Die Erinnerungen an die Gespenster-Landschaften, die man nur überwinden könne, wenn man »stark im Glauben« sei, wa che Seelenkräfte besitze, drangen aus den Schilderungen des asiatischen Magierreichs in die europäische Phantasie: Das Tal des Todesschattens, wie wir es beim englischen Mystiker Bun yan finden, stammt wahrscheinlich aus dem Bild des Tals der Gefahren (Valley Perilous), durch das man ins paradiesische Morgenland des Königs und Priesters zu reisen glaubte. 16 Die Schilderungen der Wanderungen in das östliche Mär chenreich gehörten eben bis ins 16. Jahrhundert zu den »belieb testen Schriften des Occidents«, ja, sie überlebten »als Volks buch bis in unser Jahrhundert«.17 In die unmittelbare Gegen wart hinein blieb der Geist des Europäers zum wesentlichen Teil im Zauberkreis der Mythen des Himalajaraumes.
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Heilige Herrscher in Ost und West Die mittelalterliche Sage schwelgt im Lob der Macht des mysti schen Herrschers: »Priester Johann von India, der König von al len Königen da«17; »Herr der Herren«; »König der Könige«18; »auf Erden lebt nicht sein Genösse«; »der größte Herr, der auf der Welt lebt«.19 Usw. Auch wenn wir nicht die ausdrückliche Gleichsetzung dieses Märchen-Priesters mit den Nachrichten über die wirklichen Nomadenkhane besäßen, decken sich entsprechende Mythen mit den Berichten über die Tatarenreiche: Von deren Herrscher wird etwa versichert, er sei »der größte Kaiser, der unter dem Himmelszelt (under the firmament) lebt«. 20 Marco Polo weiß von ihm sehr anschaulich zu berichten: »Wenn alle Christen der Welt, ihre Kaiser und Könige sich zusammenschließen würden, die Christen und Araber würden (gemeinsam!) nicht gleichviel Macht besitzen, könnten nicht gleichviel machen (tant fere)...«21 Dieser Priester Johannes ist die Hoffnung und die Zuflucht auch des guten Adels und des Volkes von ganz Europa. Das Mit telalter liebte die Dichtung über Manuel, den König der »Roma ney«. Dieser hörte die gute Nachricht vom Priester Johannes, dem es in seinem Reich gegeben sei zu leben »hin bis an den Jüngsten Tag«. Der entschlossene Herrscher »nahm sein Volk allesamt und zog zu ihm in sein Land«.22 Diese Auswanderer aus der böse und ungerecht gewordenen abendländischen Welt sollen nun im wunderbaren »indischen« Reich alle Wonnen genießen: »Derjenige, der vorher dem Tod verfallen war (der da vor tödlich was), dem ist jetzt wohl und nicht weh; diese Gnade haben sie von Gott, der ihnen hilft aus aller Not.«22 Des Königs verlassenes Land heißt von da an »die Wüste Ro maney« - »von allen Leuten ist es frei«. Nur Schlangen und wilde Tiere haben darin Aufenthalt!22 Man hat versucht, in Sagen dieser Art einen wichtigen geschichtlichen Kern zu entdecken: Dieses märchenhafte »Romaney«, dessen Bewohner auf
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die Suche nach paradiesischen Ländern auszogen, wäre dem nach die romanische Welt Südfrankreichs. Sie erlebte, wie man weiß, bis in das 13. Jahrhundert hinein eine erstaunliche Kultur blüte des religiösen Suchens und der Liebesdichtung. In furcht baren Kreuzzügen, ausgelöst anscheinend vom französischen König, der keine unabhängige Eigenart in der Provence entste hen lassen wollte, fand dieses »Romaney« (Romanien) tatsäch lich den Untergang. Zumindest fand sich bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhun derts bei den Seßhaften und auch den nomadisierenden Zigeu nern die Sage, daß sich bei diesem schrecklichen Vernichtungs krieg gegen die »Ketzer« der freiheitsliebende Teil der Bevölke rung irgendwelchem »Fahrenden Volk« angeschlossen habe und »mit unbekanntem Ziel ausgewandert« sei.23 Schon früh suchten kluge Europäer in dunklen Nachrichten über die schamanistisch-buddhistische Seelenwanderung eine Erklärung für die »Unsterblichkeit« des asiatischen Priesters und Kaisers Johannes. Einer schreibt z. B., als er über Kalmük ken, Sibirier, Mongolen, Tibetaner das Wissen des 16.—17. Jahr hunderts sammelt: »Ich kann allhier nicht untersuchen, wie weit das Vorgeben einiger Gelehrten statt habe, ob seie dieser Dalai Lama der in den Historien so berühmte Priester Johannes... Dies ist gewiß, daß man den Dalai Lama selten zu sehen be kommt.. ,«24 Gleichzeitig vernehmen wir: »Sie (also die Tibetaner, Mongo len, Kalmücken) geben von ihm aus,... er seie unsterblich, und wissen sie den Leichnam des abgestorbenen in der Stille zu be graben, und einen ändern an dessen Stelle zu verordnen, in wel chem Nachfolger der vorige Dalai gleichsam wieder lebet.«24 Wie wir schon sahen, galten bei den gleichen Völkern die gro ßen Häuptlinge aller Zeiten nicht wenige als Verkörperung der ewigen göttlichen Wesen, oft sogar als Ausstrahlungen des Sakja-Helden Buddha selber: Es ist unbestreitbar, daß jede Aus breitung der eurasischen Reiche eine gleichzeitige Entfaltung oder auch Wiederkehr ähnlicher Auffassungen im Adel und Volk von Europa bedeutet. Jedesmal entsteht die Sage von Koni
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Der mythische Weitenreiter auf neueren nepalesischen We bereien gilt oft ah Gesar-Khan, das aus schamanistisch buddhistischen Sagen entstammende Vorbild wirklicher No madenhäuptlinge
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gen, die märchenhafte geistige Kräfte besitzen und die sogar über der menschlichen Sterblichkeit stehen — Jahrhunderte später erzählt man häufig von ihnen, daß sie noch immer ge heimnisvoll leben »und über ihre Nachkommen wachen«. Das 5. Jahrhundert der Hunnen und Goten kennt den Mythos über den Feenkräfte besitzenden, rätselhaft verschwundenen Freund Attilas, Dietrich von Bern, den Gotenkönig Theoderich. Mit der gleichen Zeit verbinden die Kelten ihren König Arthus, den Freund des Magiers Merlin und der schönen Feen. Wenn man den Phantasien der ritterlichen Dichter, der Sa generzählungen des Volkes und den entsprechenden Chroni sten folgt, wäre sogar der spätere Kaiser Karl der Große nur ein bleicher Schatten vom Glänze dieser Märchenkönige der Völkerwanderung. Im 10. Jahrhundert mit den Zügen der schamanistischen Un garn tauchen in dauernden Auseinandersetzungen mit ihnen wiederum Herrscher auf, die, zumindest für das Volk, vom Ruf der »Heiligkeit« umgeben sind: Das Königspaar Rudolf und Ber tha von Burgund; Kaiser Otto, der von diesen Burgundern die heilige Lanze des Reichs erhält und deren Tochter Adelheid heiratet. Zur Geschichte der Tatarenkriege gehört zweifellos der Höhe punkt der Kultur-Renaissance unter dem Geschlecht der Ho henstaufen.
Königsweg zur Unsterblichkeit Die Zeit Djingis-Khans im 13. Jahrhundert kennt den letzten großen Versuch der abendländischen Völker, ihren Erdteil im Sinn der Leitbilder der mittelalterlichen Ordnung zu einer lok keren Einheit zu vereinigen: Viele der klugen Menschen von da mals, die Zeugen dieser Vorgänge waren, haben ihre Überzeu gung ausgedrückt — die Reichsgründungen von Asien und Eu ropa stünden zueinander in einem geheimnisvollen, aber außer ordentlich engen Zusammenhang.
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Für Oswald den Schreiber, der um 1400 wirkte, stand Kaiser Friedrich von Hohenstaufen in unmittelbarer Beziehung zum »Priester Johann«, von dem er den Verjüngungstrank und andere Wunderdinge von dessen Wissenschaft besaß 25 : Hier sehen wir, in der Art des Volksmärchens weitervermittelt, die Nachricht von einer häufig vermuteten Beziehung des großen Herrschers zu den Hochkulturen des Ostens. Solche Vermutungen, für die man damals geradezu Beweise zu besitzen behauptete, wurden von den politischen und religiösen Feinden des Kaisers schon zu seinen Lebzeiten verbreitet. Albrecht von Troisfontaines versichert uns: »Der König der Tataren schrieb an Kaiser Friedrich und forderte ihn auf, er möge sich bereit finden, irgendein Amt an seinem Hofe zu wählen und sein Land von ihm zu Lehen zu nehmen.«26 Die französische Reimchronik des Philipp Mousket ergänzt: »Und es wurde durch die Welt berichtet, daß der Kaiser Friedrich durch einen Vertrag die Tataren kommen ließ, um die Christenheit zu vernichten.«26 Öffentlich wurde damals verbreitet, im Mongolenheere seien Gesandte des Kaisers gesehen worden, von denen die Tataren dauernd zum Kampf gegen die Macht der römischen Kirche angefeuert würden. Bei einem englischen Chronisten findet sich die Behauptung, der Kaiser habe die Tataren bewußt angestiftet, um mit ihrer Hilfe seine Vorherrschaft über Europa auszudehnen - und ihm dazu bei seinem »Umsturz des Christenglaubens« zu helfen. Die Taten der Tataren hielten »viele (der Zeitgenossen) für erfüllt von den Anschlägen des Kaisers«. 26 Die Tataren werden uns auch hier als »Skythen« geschildert, »die die Götter der Berge anbeten und das, was sie zuerst am Tage erblicken«: Diese ewigen Kriegernomaden und Heiden »hätten mit den ihnen benachbarten und jetzt auch verbündeten Kumanen, auf Anstiften (!) des Kaisers, den König von Un garn nebst einigen ändern Magnaten überwältigt, damit der König erschöpft unter die Fittiche des Kaisers flüchte und ihm für seine Hilfe huldige. Daher seien, als dies geschah, die (tatarischen) Feinde abgezogen.«26 Der Vorstoß der Nomaden gegen
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Mitteleuropa hat nach einer solchen Propaganda nur die Bedeu tung, den Ländern Furcht einzujagen: damit sie erschrocken die Oberherrschaft des listigen Friedrich anerkennen — der im geheimen der Verbündete, Vasall, Ratgeber der Tataren gewe sen sei! Die Geschichten um die magischen, angeblich in unmittelba rem Gespräch mit Gott stehenden Nomadenfürsten und der Mythos vom »Priester Johannes« vermischten sich vollständig Das durch die Widersprüche im Zeitgeist ermüdete Volk schöpfte aus solchen Berichten geradezu die Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Vom Kaiser Friedrich erzählte man auch, er habe den Befehl zur Abfassung einer damals bekannten Schrift gegeben. In dieser steht die Erklärung des Tatarenkhans, er sei als Richter der Erde gekommen, »zur Vermittlung zwischen Kai ser und Kirche«.. ,26 Seine Berichte scheinen auf alle Fälle einigermaßen zuverläs sig, nach denen der eigenartige abendländische Kaiser die er starrten Religionen seiner Zeit nicht weniger sachlich-spöttisch betrachtete als sein angebliches Vorbild, der Schamane DjingisKhan. Ein arabischer Zeitgenosse meint, er sei nur »aus Spaß« ein Kirchenchrist gewesen: »Aus seinen Reden entnahm man, daß er (Äternist) war.«27 Das heißt, er war Anhänger einer phi losophischen Ketzerschule, die im Orient und in Europa die Welt und ihr Treiben als einen ewigen Kreislauf ansah! Der Papst in Rom verhängte über Friedrich einen Kirchen bann, weil man 1242 über ihn berichtete, er habe die deutschen »Fürsten und Edlen« versammelt, und denen, die er für seine Erkenntnisse als reif ansah, einen Vortrag über die Religionsge schichte gehalten: Islam, Christentum, Judentum seien, in der zeitgenössischen Form, ein Betrug. Wenn seine Zuhörer mit ihm einig seien, werde er »eine viel bessere Art des Glaubens und Le bens für alle Völker anordnen«.28 Ähnlich wie von seinem Vorgänger in der Zeit der Hunnen und Goten, Dietrich von Bern, glaubte von ihm das Volk, er sei durch wunderbare Künste unsterblich geworden und niemand wisse, »ob er noch lebendig ist«29 : Aus diesem Grunde entstan
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Auch die Krieger aus den russischen Fürstentümern des 13. bis 15. Jahrhunderts erscheinen häufig als Hilfstruppen der Tatarenkhane
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den, weil niemand recht an seinen leiblichen Tod glaubte, noch lange nach seinem Abgang Unruhen in ganz Mitteleuropa – kei ner seiner Nachfolger in der Kaiserwürde fand eigentlich umfas sende Anerkennung. Die Bauern erzählten von ihm gern, daß er sich als geheim nisvoller Wallfahrer »oft bei ihnen habe sehen lassen« - er werde auch leibhaftig wiederkehren und »die Pfaffen vertreiben«29 : Johannes Rothe schrieb noch in seiner 1421 beendeten Chronik, daß noch immer eine gefährliche »Ketzerei« im Volke umgehe. Der Kaiser Friedrich lebe weiter, wurde herumerzählt, niemand könne ihn darum ersetzen und richtig Kaiser werden.30 Die Vorstellung des großen Herrschers, der nicht nur der poli tisch-gesellschaftliche Leiter seiner Völker ist, sondern auch der erste Anreger ihres Geistes, erstand so nochmals im Europa des 13.-15. Jahrhunderts: Sie gewann zweifellos ihre Lebenskraft durch die neue und starke Berührung mit Schamanenkulturen.
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Das asiatische Mittelalter Die Loslösung Europas vom Märchenland der orientali schen Jahrmärkte mit ihrer Fülle romantisch-ritterlicher Überlieferungen bedeutet das Ende des Mittelalters. Nach dem Vorstoß Djingis-Khans war Europa in kultureller Be ziehung eine ausgesprochene Halbinsel Asiens. Die russischen Geschichtsschreiber stellen etwa fest: »Unsere Fürsten, Boja ren, Kaufleute und Handwerker lebten in den Hordenlagern, die Großen der Horde und die Kaufleute derselben in Moskau und ändern Städten.«1 Der ganze Lebensstil von Osteuropa unter schied sich kaum noch von dem der meisten asiatischen Län der: »Vor Zeiten hatten sie (die Russen) dieselbe Kleidung wie die Tataren.. .«2 Mag Zar Peter der Große im 18. Jahrhundert (und heute noch besonders durch die Ideologie Stalins) als Begründer des mo dernen russischen, auf Hochleistung und Technologie fußenden Staates gelten, so hängen die überlieferungstreuen Russen überzeugt an ihrer früheren »tatarisch-asiatischen« Ge schichte: An einer beschaulichen Lebensweise, umgeben von der Pracht der eurasischen Volkskultur. Am Anhören von Hel denepos, Volkslied und Zaubermärchen als höchste Lebens lust, auch für die gebildete Oberschicht. An weichen und beque men Kleidern ihrer »indisch-tatarischen« Geschäftsfreunde. 3 An den Festbräuchen, hinter deren malerischer Heiligenpracht deutlich die heidnische Urzeit durchschimmert. An Speisen wie dem Kaviar, an die sich die russischen Edel leute durch ihre Verwandtschaften und Handelsbeziehungen zum Kaspischen Meer gewöhnten. Am ewigen Teetrinken und am Genuß des skythischen Rauschmittels »Penka« (Bang).4 Durch unzählige Verbindungswege, die für ihre Beherrscher im Mittelalter Reichtum und Einfluß ohne Ende bedeuteten, griff die Kultur der Tatarenreichc auch weiter nach dem Westen.
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Über die Stadt Nowgorod, das Baltische Meer und die Hanse städte beeinflußte sie den europäischen Norden. Noch wichti ger waren Sudak und Kaffa in der tatarischen Krim, um die im 13.—15. Jahrhundert die Genuesen und Venezianer kämpften. Die Beziehung der italienischen Handelsstädte zum Schwarzen Meer ist wohl ein Hauptgrund »für die Bedeutung, die diese bei den Republiken in der damaligen Zeit einnahmen.«5 Kaffa galt geradezu als Hauptstadt der ganzen Krim — die man noch immer gern »Gazarien« (Chazarenland!) nannte — ja gera dezu »des ganzen Schwarzen Meeres«. Kaffa galt neben Orten wie Sudak und Tana (das heutige Asow an der Mündung des Don) als Tor zum ganzen Indienhandel: »Der indische Handel ist der Welthandel«, wer ihn beherrsche, der sei der Herr von Europa! Diese Erkenntnis, die das 18. Jahrhundert dem gefeier ten Zaren Peter zuschreibt6, stammt eigentlich schon aus dem Mittelalter. Kaffa oder, wie es griechisch hieß, Theodosia, pries man über alle Maßen: »In diesen Zeiten, bevor die Portugiesen den Meerweg nach dem östlichen Indien erschlossen, kamen nach Kaffa das Gewürz und die ändern Drogen und die wunderbaren Dinge (curiositez) des Orients, wohin sie über Land und Wasser ge bracht wurden...«7 Als Tamerlan die venezianische Kolonie Tana im Jahr 1395 zerstörte, galt dies in Venedig als eine schreckliche wirtschaftli che Katastrophe: Zwar konnten die Venezianer mit ihren Galee ren das eigene Volk retten, aber sie befürchteten schon den Nie dergang ihrer ganzen Stellung. Bald wandten sie sich mit aller notwendigen Liebenswürdigkeit an den »Kaiser der Tataren«, wieder »Volk« nach Tana zu senden, damit ihre Stadt von neuem besiedelt werde8 : Nur durch solch enge Beziehungen und die Unterwerfung gegenüber den Khanen der Ostreiche sah man eine Möglichkeit, die wichtigen Wirtschaftskolonien und damit auch das ganze Beziehungsnetz der Tataren zu den über alles ge schätzten Waren von Iran, Indien, China zu erhalten. Venedigs Senatsbücher von 1395 bezeugen, daß »unsere Kaufleute« in der ganzen tatarisch-türkischen Welt »mit An
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stand behandelt« werden und »keine Belästigung zu ertragen 9 haben« : Wenn Schwierigkeiten auftauchten, waren es regel mäßig die geschäftlichen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen westlichen Handelsstädten oder die zuneh menden Stammeskriege unter den Nomadenreichen, wie 1395 in den Tagen Timurs. Auch als — unseren Schulbüchern nach — unerbittlicher Haß zwischen Islam und Christentum tobte und sich russische Za ren, türkische Sultane, tatarische Khane unermüdlich be kämpften, »blühten« noch immer alle entsprechenden Bezie hungen: »Die Russen waren immer noch in Kaffa und Asow, die Türken aber trieben, zugleich mit den Armeniern, in Moskau Handelsgeschäfte.«10 Bei der Schlacht von Tannenberg (1410) kämpfen die Kreuzritter, die aus den verschiedensten Ländern von Westeu ropa ihren Zuzug haben, unglücklich gegen Polen und Litauer, unter denen wir christlich-orthodoxe Russen, mohammedani sche Tataren unter ihrem Khan, heidnische Samogiten, jüdische Krim-Tataren (Karaiten, Chazaren) antreffen.11 »Nach Kriegsende siedelte Großherzog Wilno als Grenztrup pen... Tausende von Tataren an. Heute noch gibt es dort 19 Ta tarengemeinden und muselmanischen Adel.«11 Grundlegende Unterschiede zwischen wichtigen Fürstentü mern des mittelalterlichen Europa und denen der Kulturgebiete Asiens herauszufinden, ist oft sehr schwierig: Diese waren in fast jeder Beziehung durch unzählige, heute freilich fast verges sene Kulturbrücken sehr eng verbunden.
Um Frauen und Gewürze Noch bis lange über das Mittelalter hinaus sind die wichtigsten Handelsgeschäfte des Ostens Fenster des ewigen Orients. Aus dem 16. Jahrhundert haben wir über die Stadt Wilna im preu ßisch-litauischen und polnischen Norden den Bericht eines deut schen Reisenden, der erstaunlich genug ist: »Neben der türki
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schen Kirche sahen wir... stattliche Türken..., welche mit den Armeniern von Konstantinopel durch Alexandrien, Kairo (Al cair), Skythien und Indien mit köstlichen Waren und Gold und Silber und Edelsteinen angekommen...«12 Die Menschen aus West- und Mitteleuropa staunten, »daß sich eine solche Menge Barbaren und fremde Völker darin (in der Stadt Wilna) finden, daß nicht leichtlich... ein Ort der Christen heit zu finden, da mehr fremder Nationen und seltsamer Klei dungen zusammenkommen«.12 Für die Reisenden war dies eine einzigartige Gelegenheit, hier die verschiedenen Bräuche kennenzulernen: »Letztlich sind wir in zwei moskowitische, zwei tatarische, eine litauische, zwei polnische, eine armenische, eine türkische, eine jüdische, zwei deutsche, darunter eine niederländische und eine wälsche Kirche gegangen.. .«12 Hier haben die deutschen Gäste, also Händler, Söldner und Abenteurer ohne Zahl, »Moskowiter, Türken, Juden, Tataren, Armenier, Skythen, Indianer (Inder), Isländer, Lappen und aus mancherlei Ort sehr seltsam gekleidete Leute gesehen, welche wegen ihren Geschäften allda zusammenkommen«.12 Noch während Renaissance und Reformation begegneten in diesem erstaunlichen Osten Westeuropäer Händlern und Kriegsleuten aus der ganzen weiten Welt: Hier gab es noch keine innere oder auch nur äußere Gleichschaltung. Die Menschen waren stolz, sich durch die Zeichen ihrer Herkunft, Trachten und Sitten voneinander abzuheben. Waren aus allen Windrich tungen wurden ausgetauscht, aber offensichtlich auch die Ideen der Religionen. Wie wir aus den unermüdlichen Kirchenbesu chen des deutschen Reisenden erkennen, waren die Gäste aus bereits weniger bunten Ländern glücklich, auf diesem Jahr markt der Weltbilder einmal erleben zu können, was es alles in den verschiedenen Reichen für Auffassungen gab! Bezeichnend für die Reiseberichte des 17. und 18. Jahrhun derts sind noch die Schilderungen eines Söldners aus der Schweiz, der nach Moskau, Kazan, Astrachan kam, auch unter die Stämme der kriegerischen buddhistischen Kalmücken und
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dann sogar bis nach Persien. Am Kaspischen Meer lernt er »eine gewisse Nation kennen, die man zwar insgeheim Inder (Indianer) heißt«: Sie seien aber »ein Überbleibsel der alten Manichäer«, die die Welt als Ringen einer guten und schlimmen Kraft angesehen hätten.13 Dort sei auch »eine Art Tataren« zu finden, die trotz der Aus breitung des Islam unter ihren Stämmen stark heidnisch geblie ben seien: »Sonne und Mond« würden sie »alle göttliche Ehre er weisen«.13 Ein besonderer Mittelpunkt dieser Welt, in der es al les in Wirklichkeit gab, was anderswo nur in der Erinnerung der Sagen weiterbestand, war die Stadt Astrachan—einst die Haupt stadt eines Tatarenreiches und seit dem 16. Jahrhundert unter der Oberherrschaft der Moskauer Zaren: »Da sich stets eine Menge Tataren, Russen, Perser, Armenier, Inder und andere dort aufhalten. Es ist hier im übrigen alles sehr wohlfeil und im Überfluß...«14 Die Handelsstädte des Zarenreiches von Moskau und der Tataren am Schwarzen Meer waren, wie es uns z. B. im 17. Jahr hundert der deutsche Reisende Olearius zeigt, den mit ihnen verbundenen Städten in Iran wesensverwandt. Auch hier mischten sich, meistens offen die Art ihrer Länder zur Schau stellend, die Besucher aus West und Ost. Von Isfahan - so wich tig für den ganzen damaligen Handel auf dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer - vernehmen wir, daß hier besonders die Händler von Indien Einfluß besaßen: Sie hätten eben Waren, »welche sowohl an Güte als Zierlichkeit der Perser Waren über treffen«.15 Über 12000 (!) dieser tüchtigen Inder seien in Isfahan, davon »etliche aber Heiden«, offenbar Angehörige der hinduistischen Urreligionen. Sonst treffe man an dieser Begegnungsstätte zwi schen Ost und West »unterschiedliche Tataren..., Türken, Juden, Armenier, Georgier, und neben denen Engländer, Holländer, Franzosen, Italiener und Spanier.«15 Während also im ausgehenden Mittelalter und unmittelbar nach der Reformation die Gelehrten über das Heidentum und dessen Gestirnanbetung, Religionsbewegungen wie die Manichäer, die Weisheiten
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Tatarenkhan aus dem sowjetischen Spielfilm Rubljow: Die Zerstrittenheit der osteuropäischen Gesellschaftsklassen und Religionen ermöglichte nach russischer Überlieferung den Nomadenstämmen des 13. bis 17. Jahrhunderts ihre Vorherrschaft
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Indiens, meistens nur sehr mißverständliche, schlecht weiter gegebene und übersetzte Nachrichten aus der Vergangenheit besaßen und über diese sehr entfremdet stritten, bestand dies al les im Umkreis von Wilna, Krim, Kazan, Astrachan, Isfahan weiter: Die wachen Menschen Europas, die Söldner, Kaufleute, fahrenden Schüler konnten den Wundern und Mythen des ewi gen Orients begegnen und sie, eigentlich ohne Schwierigkeiten es sei denn behindert durch die eigene Unduldsamkeit — erfor schen. Gerade über das Schwarze Meer und die Krim betrieben die Venezianer und Genuesen schwunghaften Frauen- und Mäd chenhandel, dessen unglaubliches Ausmaß erst in der Gegen wart wieder erkenntlich wird: Tausende der »tatarischen« Schö nen, also wohl der Weiber aus allen von den Tataren beherrsch ten Ländern, kommen während der Renaissance nach Europa und werden zu Geliebten oder auch zu Ehegattinnen einflußrei cher Männer.16 Sie sind ihrer leiblichen und geistigen Vorzüge wegen be rühmt, und wohl eine Unzahl der Kinder der europäischen Rei che wird dank solcher Mütter durch die Märchen und Sitten des Orients beeinflußt.
Der Abschluß des eurasischen Weltreichs Moskau selber, das stufenweise seine Unabhängigkeit von den Tatarenreichen gewinnt und dann selber zur Oberherrschaft über den riesigen Raum aufsteigt, bleibt bis ins 18. Jahrhundert »asiatisch«. Der Teil dieser Stadt, welcher »denn auch eigentlich der zum Handel bestimmte Ort ist«, heißt damals sogar KitaiGorod, also China-Stadt: »Die Russen sagen, diese Mittel-Stadt hätte den Namen von den chinesischen oder kitaischen Waren, so daselbst abgeladen und verhandelt werden.«17 Besonders der Pferdehandel, unentbehrlich für das ganze Da sein in den endlosen Weiten, ist hier noch ganz in den Händen islamischer und buddhistischer Nomaden: Tabun, so verneh
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men wir vom großen Reisenden und Forscher v. Strahlenberg, ist das tatarische Wort für Pferdeherde. In Moskau pflegten im 18. Jahrhundert »alle Jahr« riesige Tabunen »aus unterschiedlichen tatarischen und kalmückischen Orten zusammenzukommen, die in kurzer Zeit nicht weit von der Stadt im Felde verkauft werden«.18 Diese enge Beziehung mit den Kulturkreisen von ganz Eura sien löst sich gegen die Neuzeit zu unglaublich langsam und für die betroffenen Völker fast unmerklich. Obwohl Khan Timur ge gen 1400 die Goldene Horde zerschlägt, also die Nomaden krieger ihre Vormacht in endlosen Stammeskriegen selber schwächen, bleiben die meisten ostslawischen Völker noch lange in ihrer Abhängigkeit. Die russischen Fürsten treten zwar in berühmten Steppenkriegen immer häufiger gegen die Tataren an, aber meistens als Verbündete anderer Tataren. Von der Zeit des Großfürsten Iwan III. von Moskau ist es offensichtlich: »Die ersten russischen Armeen, die man gegen die Horde sandte, wurden immer von Prinzen der Horde geführt, die man Zaren nannte. Sie spielten in diesen Kriegen eine wichtigere Rolle als die Moskauer Fürsten... Um die Tataren zu zerstören, benützte man die Tataren.«19 Sogar die Angabe, Moskau und damit Nordrußland seien 1480 von den noch immer Süden und Osten beherrschenden Tatarenstämmen »unabhängig« geworden, scheint gründlich falsch. Der Khan der Krim nimmt noch 1571 in einem Vorstoß von unglaublicher Kühnheit Moskau ein. Offenbar ist ihm dieses, zumindest nach dem zaristischen Geschichtsschreiber Ka ramsin, nur möglich dank »einigen Ausreißern von unseren Bojarensöhnen, welche das Entsetzen vor den moskowitischen Hinrichtungen aus dem Vaterland vertrieben hatte«20 : Für russi sche Edelleute des 16. Jahrhunderts kann also das Leben im Ta tarenreich als weitaus wünschenswerter erscheinen als »das strenge Regiment« des eigenen Herrschers... Was tat damals der Moskauer Zar Iwan (Johann) der Schreck liche, dessen Machtfülle man auch im westlichen Europa be
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wunderte? »Er schlug die Stirn vor dem Khan... Die Stirn schla gen vor jemandem, heißt soviel, als einen Fußfall tun, wobei mit der Stirne die Erde berührt wird.«21 1571 wurde dem Moskauer Zaren wieder von den Krim-Tata ren der Tribut, also die Steuerpflicht, als Anerkennung ihrer Oberherrschaft auferlegt, »dessen Zahlung erst Peter der Große abgeschafft hat«22 : Erst 1783 erfolgt, als Abschluß der »Tataren zeit«, die Aufnahme der Krim ins Zarenreich. Peter der Große, dessen Herrschaft nicht nur die eurasischen Steppenstämme, sondern auch die »altgläubigen« Russen mit dem Ende »der heiligen Welt« des Mittelalters gleichsetzen, wollte sein Rußland aus einem Reich der Magie und Mystik in den fortschrittlichsten Staat der Welt verwandeln. Er stürzte in einer unglaublichen Revolution von oben die einheimischen Bo jaren und ersetzte sie durch die Beamtenherrschaft von Verwal tern, die er teilweise aus dem Westen bezog. Die Haare und Barte wurden den Leuten in der Umgebung seines Hofes mit Gewalt (!) geschnitten. An Stelle der orientali schen Trachten wurden die Leute in modische Uniformen ge steckt. Anstatt des tatarischen Osthandels über die Steppen und Ströme trat nun für Peter die Notwendigkeit jeder kaufmänni schen und industriellen Bindung an den Westen. Sogar das alte »fromme Moskau«, nach dem Volksmund »die Stadt der vierzig mal vierzig Kirchen«, wurde als »zu tatarisch« verlassen und am Baltischen Meer, »der Tür nach Europa«, die völlig neue Beam tenstadt Petersburg (heute Leningrad) mit endlosen Menschen opfern aus dem sumpfigen Boden gestampft. Die wichtigen Stufen im Niedergang der so zählebigen Rei che der Nachkommen Djingis-Khans bilden damit entschei dende Daten für die ganze europäische Kulturgeschichte. Der Niedergang der Goldenen Horden unter inneren Zwistigkeiten ihrer zahllosen Prinzen und unter den Schlägen des neuen tata risch-chinesischen Reichs des Khans Timur ist entscheidend für das eigentliche Ende des Mittelalters: also die Loslösung von Eu ropa vom Märchenland der orientalischen Jahrmärkte mit ih rer Fülle der romantisch-ritterlichen Überlieferungen.
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Tatarin aus der Krim. Unter den Tatarenstämmen sieht man bis heute die Nachwirkungen des Brauchs ihrer Ahnen, »die schönsten Frauen aller Völker der Welt als Gattinnen heimzuführen«
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Der Ausgang des Krimreichs im 18. Jahrhundert endet nicht nur für das Moskauer Rußland, sondern bedeutet für das ganze angrenzende Europa den Abschluß der engen Beziehung zu den asiatischen Kulturländern. Erst im Zeitalter, das etwa mit dem von den Aufklärern so bewunderten Zaren Peter anfängt und mit der Französischen Revolution von 1789 einen Abschluß fin det, entsteht der Aberglaube vom europäischen Lebensstil als »dem Höhepunkt aller menschlichen Entwicklung«. Die Voraussetzung zu dieser Zivilisation bilden nicht nur die vergötterten Leistungen der abendländischen Philosophen des 16.-19. Jahrhunderts: Es sind dies auch die zunehmenden chao tischen Zustände und damit die Schwäche der Tatarenreiche — die Folge der Zerstrittenheit ihrer Prinzen und ihrer wunder schönen Haremsdamen, die nach und nach den eigentlichen Geist ihrer Kultur vergaßen.
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Politik der Freundschaft Halbgeheime Bindungen zwischen Europa und Asien schei nen nach dem Kreis der Überlieferungen der alten Geschlech ter bis in die Gegenwart bestanden zu haben. Die volkstümlichen Heldenlieder der Russen, die Bylinen oder Starinen, zeigen uns ein treues Bild der russischen Geschichte durch vielleicht ein halbes Jahrtausend: Im Mittelpunkt des Ge schehens steht fast immer der märchenhaf te »Großfürst Wladi mir«. Unter einem Herrscher dieses Namens nahmen im 10. Jahrhundert die Stämme in seinem Umkreis den christlich-by zantinischen Glauben an. Die Helden, die ihn umgeben und die stets mit türkisch-tatarischen Bezeichnungen »Bogatyre« oder »Kosaken« heißen, stammen offensichtlich aus den verschieden sten Abschnitten der östlichen Geschichte - so kommt etwa häufig auch Jermak unter ihnen vor, der im 16. Jahrhundert für Moskau das Tatarenreich von Sibirien unterwarf.' Die wichtigste Kraft, die nach diesen Liedern das alte Rußland entstehen und wachsen ließ, ist die Güte, Gastfreundschaft, Leutseligkeit, Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit des Fürsten: Handelt er entsprechend, dann eilen von allen Seiten der Welt die »Helden« zu ihm, um am Glück und der Gnade in seiner Um gebung teilhaben zu können. Alles in den Hallen um die Tafelrunde des Fürsten zieht sie nach den Liedern (und den mit diesen eng verwandten Volks märchen) an: die Schönheit und die Kleiderpracht der Frauen aus seinem Geschlecht, die jedermann zu heiraten träumt, um in die Sippe des guten Herrschers eintreten zu dürfen. Bezeich nenderweise werden diese gern mit Morgenröte, Sonne, Mond und Gestirnen verglichen. Dann auch die ausgewählten Rauschtränke, der »Kräuter wein« und der Met (zeleno wino i mjod), die um ihn endlos flie ßen. Dazu die Kunst seiner Sänger von Heldendichtungen, der
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Sagenerzähler und Musikanten, die seine Gäste endlos in Ver zückung versetzen. Sogar die Kunstwerke um ihn, die Bild werke, die die Fürstenhalle schmücken und die den Helden oft als lebendige Wunder erscheinen: Vieles in dieser Märchen welt erscheint tatsächlich aus wirklichen Berichten der scha manistischen Sitzungen entstanden zu sein.2 Die Helden (Bogatyre), die von den Russen ganz ähnlich ge schildert werden wie in den kaukasischen, tatarischen, mongoli schen Heldenepen, sind Wesen, die noch die Kunst der »Unauf haltsamkeit« besitzen: »Entbrennt« in ihrem Herzen die »Hel denkraft« (sila bogatyrskaja), dann gibt es nichts, das sie auf ih rem »Spaziergang« aufhalten kann: Wenn genug dieser Helden aus aller Welt um den Großfürsten versammelt sind, miteinan der in Frieden und Freundschaft leben, ist der gute Herrscher die Seele der Tafelrunde - der Mittelpunkt einer weiten Umwelt. Alle Stämme eines riesigen Raumes huldigen ihm, zahlen ihm gern den »Tribut«. Vernachlässigt der Fürst aber die Gastfreundschaft, spart er an seinen Festen, ist grob zu seinem Gefolge, zerstreitet sich letz teres untereinander - dann wollen die »Helden« nicht mehr in »Diensten« des Herrschers stehen. Sie ziehen weg in die Step pen, offensichtlich um sich freundlichere Königshöfe zu suchen: Wie die Lieder unermüdlich wiederholen, dreht sich dann das Rad des Glücks — die Tatarenkhane freuen sich, daß der russi sche Fürst so ganz ohne sein Gefolge ist, sammeln nun ihrerseits Helden und feiern bald, und fast ohne Widerstand, in der Halle des gestürzten Herrschers mit ihrem Volk: bis der Fürst sich wieder mit den Helden »aussöhnt«. Und so weiter und so wei ter... Schon vor der Zeit von Djingis-Khan, also im 9.—11. Jahrhun dert, besteht tatsächlich eine sehr enge Beziehung der russi schen Fürsten zu den Nomadenstämmen, wie wir von Chaza ren, Kumanen (Polowzen) usw. wissen. Der Aufstieg Rußlands beginnt, wie es u. a. etwas einseitig Karl Marx betonte, durch ein unaufhaltsames »Strömen« von tatarischen Geschlechtern an den Hof der Großfürsten von Moskau3 : Dieses Volk wird sogar
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durch »Iwan den Schrecklichen und seine unmittelbaren Vor gänger« ganz offensichtlich bevorzugt.4 Die geschichtlichen Gestalten zeigen, wenn wir den Weg ihrer Geschlechter durch die Jahrhunderte zu verfolgen suchen, fast noch mehr der Beweglichkeit als ihre mythischen Vorbilder in den Dichtungen schamanistischen Ursprungs. Die Armenier lie ßen ihre Fürsten teilweise von Indien und sogar anscheinend aus Tibet, zusammen mit ihrem Gefolge einwandern. »Die Fürsten Orbelliani in Georgien behaupten noch jetzt von... chinesischen Fürsten abzustammen.«5 In Rußland »ist eine große Zahl der heutigen Adelshäuser tatarischer Herkunft. Einige andere stammen von Georgiern, Tscherkessen, Meschtscheren, Mord winen, Buchariern oder ändern Völkern des Orients.«6 »Das Stammbuch der russischen edlen Familien führt nicht weniger als 130 auf, welche alle türkischen oder tatarischen Ursprungs sind.«7 Der 1389 in russische Dienste tretende Osslan-Murza hatte fünf Söhne; die christlichen Namen, die sie erhielten, wurden in der Folge zu fünf adeligen Geschlechtsnamen.8 Oft haben wir aber noch immer die Erinnerungen an die alte Herkunft: Das berühmte russische Geschlecht Kantemir geht auf die Worte Khan Temir (oder Timur) zurück.9 Die Fürsten Dschingissow, kirgisischer Abstammung, heißen noch immer so als Nachkommen des Djingis-Khans.10 Die Vorfahren der Grafen Tolstoi, des Geschlechts, das drei der wichtigsten russischen Dichter im 19. und 20. Jahrhundert hervorbrachte, kamen anscheinend unter dem Namen Indris oder Tengri (dieser Götterbezeichnung der schamanistischen Völker) nach Moskau: Ermüdet von den Sippenkriegen unter den Tataren sollen sie bei dieser Gelegenheit gleich 3000 Gefolgsleute mitgebracht haben.11
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Die ungebrochene Macht der Nomaden Das russische Zarenreich besaß sogar seit dem Ausgang des Mit telalters einen seltsamen Ort für »Verwandlungen«: Nach dem Tatarenhäuptling Kassym, der 1469 starb und im übrigen un ter seinem Namen noch das alte Wort »Tengri« für Himmel und Götter besaß, war es die Stadt Kassymow am Flusse Oka im Rja zan-Gebiet.12 Dieses locker unter den Moskauer Zaren stehende und doch von ihnen unabhängige »Reich« hatte anscheinend bis 1718, also bis in die Zeit des unduldsamen Kaisers Peter, das Recht, sich »Zarentum« zu nennen. Dieses »Kaisertum von Kassy mow«, an dessen Spitze immer noch »tatarische Zaren« stan den, war also durch Jahrhunderte »ein Ort der Zuflucht« (mesto prijuta) für das Volk aus dem Machtgebiet der noch völlig von Moskau unabhängigen Nomadenstämme: »Welche erschie nen, um der russischen Regierung zu dienen und die immer von den russischen Herrschern gefördert wurden.«13 »Hier (in Kassymow) gewöhnten sich diese Auswanderer (wy chodzi), durch nichts eingeengt bei der Ausübung ihrer Reli gionsbräuche, nach und nach so weit an die Russen, daß sie sich von selber den Gefühlen nach in Russen wandelten (ob bra schtschaliss).«13 Unter der Betreuung von eigenen Zaren er schien durch solche Rücksichten das russische Reich des 15.—18. Jahrhunderts den kriegerischen Nomaden gar nicht als etwas ihrem ursprünglichen Wesen völlig Fremdes: Sie erkann ten in ihm eine Gesamtheit von Ländern, in der ihre Stammesgenossen seit jeher eine entscheidende Rolle spielten und das be stenfalls ein wenig andere gesellschaftliche Spielregeln besaß als ihre »Tatarenheimat«. Als der Deutsche Olearius Kassymow (oder Kassimowgorod) besuchte, stand dieses »Zarentum« gerade unter einem jungen Tatarenprinzen, den die Russen mit den Versprechungen ihrer höchsten Würden überhäuften. Sie schlugen ihm vor, daß wenn er sich ihnen ohne Vorbehalt anschlösse und sich taufen ließe, ihr Großfürst ihm sogar seine Tochter »zum Ehegemahl
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nicht versagen würde«.14 Als der Urenkel eines Khans der Gol denen Horde und »Zar von Kassymow« sich zum russischen Christentum bekannte und den Namen Simeon annahm - wurde er für Iwan den Schrecklichen zu etwas wie seinem Stellvertre ter: 1573, als dieser unglückliche Zar nach erniedrigenden No madenkriegen und Unruhen seines Adels zurücktreten wollte, ernannte er sogar diesen Tatarenprinzen für kurze Zeit zum »Kaiser (Zar) aller Russen«...15 Rußlands Politik ist in dieser Beziehung, und dies fast bis in die Gegenwart, nicht viel anders als die der asiatischen Groß staaten: Die Häuptlingsgeschlechter der kriegerischen Hirten nomaden werden rücksichtsvoll behandelt »wie rohe Eier«, da mit sie nicht plötzlich auf den Gedanken kämen, »den Geist der Zeiten Djingis-Khans zu beschwören«, sich zusammenzuschlie ßen und dann durch ihre stets gerühmte Leistungsfähigkeit je des fremde Joch abzuschütteln. Huc beobachtet für unsere unmittelbare Vergangenheit des 19. Jahrhunderts, daß die Kaiser von China - was die mongoli schen Edelleute und ihr Hirtengefolge angeht — weder auf ihre Grenzmauern vertrauen noch auf ihre Soldaten: Mit viel List und Geld fördern sie in der Mongolei einen »kaiserlichen« La maismus, also »buddhistisches« Priestertum, das den Völkern der weiten Ebenen und Hochebenen die alte Sakja-Religion als einen Glauben der Friedfertigkeit und Demut darzustellen ver sucht. Nur durch die Verbreitung eines solchen Weltbildes unter den großen Stämmen hofften die Chinesen auf eine Verhinde rung »der Erneuerung der schrecklichen Kriege von früher«, die den Hirtenhäuptlingen durch die noch vorhandenen Tugenden ihrer Völker ermöglichen würden — wieder einmal zu den Ober herren von ganz Ostasien zu werden.16 »Die Eheschließungen sind (ähnlich wie im alten Rußland! S. G.) ein zw eites Mittel, durch welches die regierende Dynastie Chinas ihre Stellung in der Mongolei zu festigen sucht. Die Töchter und die nächsten Verwandten des Kaisers, als Gattin nen in die Fürstensippen der Tartarei aufgenommen, leisten ih ren Beitrag zu den friedlichen und wohlwollenden Beziehungen
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Kalmücken-»Prinzessinnen« und andere Frauen aus Häuptlingsfamilien der Nomaden finden sich sehr häufig in den Stammbäumen des russischen Adels auch im 16. bis 20. Jahrhundert
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zwischen den Völkern«: Huc ging so weit zu behaupten, daß man noch im 19. Jahrhundert (»wenn man die Dinge sachlich anschaut«), annehmen konnte, nicht die chinesischen Kaiser seien die Beherrscher der Nomaden - sondern sie hätten umge kehrt an diese ihren Tribut zu zahlen: Die Stämme gaben ihnen als jährliche Steuern verhältnismäßig wenig Vieh, bekamen aber dafür als »Geschenke« Geld, Seidenkleider, Pfauenfedern, Schmuck und Luxus jeder Art.16 Wenn noch im 19. Jahrhundert die nach außen so stolzen Randreiche von Eurasien (mit all den englischen oder französi schen Militärberatern und der modernen Artillerie!) gegen ihre »barbarischen« Nomaden gewaltsame Feldzüge unternehmen, endet dies schließlich in der Regel mit unvorstellbaren Katastro phen: Ihre Soldatenmassen, bestehend aus Menschen der Stadt zivilisation und aus ihrer Landarbeit zwangsweise herausge rissenen Bauern, versagen vollkommen. Sie verflüchtigen sich beim ersten Auftauchen der wilden Krieger, die den Erkenntnis sen ihres ganzen Lebensstils gemäß ihre Umwelt als Verbünde ten benützen.17
Urzeit hinter dem Maskenspiel Der Hauptteil der berühmten »Kriege« zwischen den Herr schern von Rußland, Iran, China, die ja alle aus Teilfürstentü mern der Nachkommen Djingis-Khans entstanden sind, beru hen auch weitgehend auf dem gegenseitigen »Abwerben« der stolzen Häuptlinge aus »himmlischem« Geschlecht.18 Ajuka, der begabte Khan der buddhistischen Kalmücken, kann sich bis zu seinem Tode 1734 gegenüber Rußland ziemlich alles leisten: Er spielt ebenfalls sehr geschickt zwischen Rußland und China, von denen er jeweils Gesandte empfing. Die des Za ren Peter, obwohl dieser damals gerade sein Reich endgültig »europäisierte«, sind ihm gegenüber demütig genug und brin gen den Nomaden regelmäßig Waffenlieferungen. Peter mußte im »Großen Nordischen Krieg« seinen Rücken einigermaßen
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frei halten19 : Sein schwedischer Gegner Karl XII. hatte ebenfalls großzügige Pläne, die »Moskowiter« durch ein Bündnis mit unzufriedenen Kosaken, Tataren, Türken in die Zange zu neh men. Als geistigen Hintergrund zu solchen verwegenen Schach zügen verbreitete sich ja schließlich damals unter den skandina vischen Offizieren die Lehre, die Tataren im Osten seien sozusa gen die nahen Verwandten ihrer eigenen »gotischen Ahnen«, und dies noch von der Völkerwanderung des Mittelalters her.20 Peter ging so weit, dem Kalmücken Ajuka zu versprechen, daß keine Angehörigen seines Volkes zu Christen bekehrt wer den dürften! Die Politik des Zaren dem stolzen Khan gegenüber ging nur darum, Zeit zu gewinnen und auf dessen Ableben zu warten: also schlau alles zu tun, »daß der Erbe des Kalmücken 21 herrschers nicht so energisch und klug sei«. Außerordentlich bezeichnend ist z. B. auch die Geschichte des tungusischen Fürsten Gantimur aus dem 17. Jahrhundert. Er sollte für den chinesischen Kaiser die Grenzgebiete des Mos kauer Reiches bekriegen. Doch da »sah« er, wie wir aus zeitge nössischen Berichten wissen, »der russischen Leute gutes Leben 22 und wurde auf dieses eifersüchtig (porewnowaw tomu)«. Also trat er auch in »russische Dienste« - weil ihm eben das Dasein eines »russischen« Adeligen schöner erschien als eines solchen von China: Auch diesem Mann folgte eine sehr lange Li ste ostsibirischer, tungusischer, kalmückischer, mongolischer Häuptlinge, die ungefähr gleichzeitig einen ähnlichen Ent scheid fällten und hohe Würdenträger des Zarenreichs wur den. Oder wie es die russischen Handbücher der vornehmen Geschlechter zusammenfassen: »Von ihnen allen gingen selbst verständlich Fürstengeschlechter aus.«22 Diese »russischen« Fürsten, die als Berater, Heerführer, Di plomaten, Künstler des Zarenreiches nun auch in der westlich europäischen Welt Einfluß und zahlreiche Verwandtschaften fanden, bleiben stolz auf ihre Herkunft: Die Kalmückenfürsten Dondukowy haben z. B. als Würdenträger des Zarenreichs auf ihrem Wappen auf einer Seite einen Ritter in abendländischer Tracht als Schildhalter; auf der ändern aber einen Kalmücken
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mit Krummsäbel am Gurt und einem Pfeilköcher am Rücken.23 In dieser Welt entstand bezeichnenderweise die Sage vom ma gischen Menschen, »der seine Gestalt nach Belieben frei wan deln kann« (oboroten). Also vom Zauberer aus alten Familien, der jede europäische Bildung besitze und sich einen Teil seines Daseins im Kreis der Höfe und der Künstlersalons der westlichen Zivilisation bewege, der aber sonst im geheimen sein Leben »in seinem abgelegenen Herrensitz« unter seinen »heidnischen« Nomaden verbringe! Was hier das abergläubische Volk aus der magischen Kunst der Verwandlung erklärte, mag wohl eigentlich in einigen Fällen eine Folge der eigenartigen Sippen überlieferungen gewesen sein. Die seltsamsten Bindungen dieser Art scheinen tatsächlich bis in die Gegenwart bestanden zu haben: Die Kalmücken-Khane gingen in der Regel noch lange selber nach Tibet und blieben durch zuverlässige Boten mit dem Mittelpunkt ihrer Kultur verbunden. Erst um das Ende des 18. Jahrhunderts seien diese engen Beziehungen »seltener« geworden »und am Anfang dieses Jahrhunderts hörten sie auf amtlicher Ebene (offizialno) völlig auf«24: Um freilich, zumindest nach der Volkssage, »im Unter grund« um so gründlicher weitergeführt zu werden. Helena von Hahn, als Frau Blavatsky die Begründerin der Theosophie des 19. Jahrhunderts und im übrigen mit verschie denen russischen Fürstengeschlechtern eng verwandt, versi cherte, in Urkunden der russischen Freimaurerei entsprechende Beweise gefunden zu haben: Es sei geradezu ein Brauch von al ten Geschlechtern gewesen, »Reisen« nach dem sibirisch-mon golischen Osten zu unternehmen, um sich dort in die treu be wahrten Geheimlehren einweihen zu lassen.23 Als diese abenteuerliche Frau selber nach Indien, Nepal, Tibet reiste, um für Europa wieder eine Beziehung zu den großen Überlieferungen zu finden, glaubte sie auf den nie völlig verges senen Wegen ihrer Ahnen zu wandern.
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Männer, die selber aus Nomadengeschlechtern stammten, entschieden im 15. bis 18. Jahrhundert die Loslösung des Moskauer Staates aus eurasischen Reichen Theodor (Fjodor) Golowin, 1650-1706, stolz auf seine Abkunft aus der tatarischen Krim, war Berater des Zaren Peter, Statthalter von Sibirien und führte Verhandlungen mit Khan Galdan und den Boten der Mandschu Kaiser
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Zar Peter entdeckt Europa Erst die Gleichschaltung der Fülle von Volkskulturen unter dem Sargdeckel einer Einheitszivilisation unterbrach jede le bendige Beziehung von Mitteleuropa zum eurasischen No madentum. In den »Tatarenreichen«, wie es sie fast noch im 18. Jahrhundert von China bis zu den Fürstensitzen des Balkans, Polens, von Un garn und Österreich gab, herrschten märchenhafte Zustände. Noch immer gab es eine Schicht der »freien« Nomadenkrieger, Kosaken, Ritter, für die die eigentliche Religion aus der inneren Beziehung der Sippe zum Göttlichen bestand: Zog man in die Weite, um Abenteuer, Erfahrungen und Liebe zu finden, so »diente« man dem Reich, von dem man annahm, daß es um sich die ewige Ordnung möglichst vollkommen zu verwirklichen ver suchte: In diesem Fall schloß man sich auch den äußeren Bräu chen des Landes an. Man nahm an, daß man hier nur mitwirken könne, wenn man bei den Sitten und Festen mitspielte, wie sie sich nun einmal in den fremden Räumen entwickelt hatten. Heidnische, islamische, jüdische, christliche Ritter umgeben darum in den mittelalterlichen Berichten die tatarisch-mongoli schen Großkhane. Gemeinsam, so wird uns geschildert, glauben sie aber an die Magie und die Sternenwissenschaft: Also, wie es uns immer wieder umschrieben wird, an die ekstatische Kunst des menschlichen Bewußtseins, das Göttliche in der Schöpfung zu erleben und dann die heiligen Gesetzmäßigkeiten der Welt auch am »Ewigen Himmel« zu schauen! Ein gemeinsamer Ah nenkult, den dieses so verschiedene Gefolge bewahrte, war ein weiterer Beitrag, diese eurasischen Tafelrunden zu festigen. Nur dunkel wissen die europäischen Christen, daß man in der Um gebung des Groß-Khans Lieder und Sagen kannte, nach denen die Ritter von Europa bis Indien, China und Java zu einem Ge schlecht gehörten, miteinander von alters her verwandt waren. 1
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Dies blieb noch lange! Die usbekische Heldendichtung »Alpa mysch« erzählt z. B., wie sich ein buddhistisch-kalmückischer Held dem islamischen Ritter anschließt und auch dessen Glauben annimmt - weil er erkennt, daß der andere noch höhere Rit tertugenden besitzt.2 Ein anderer kasachischer Held zieht zum Khan der Krim, um dessen Krieger zu werden: Er wirbt am Schwarzen Meer um eine schöne Prinzessin. Dies tut im übrigen auch ein anderer Recke, von dem es sogar heißt, daß er nicht nur aus Turkestan, sondern aus China kam.3 Der Aufstieg des griechisch-christlichen Moskau, das sich im 15.—18. Jahrhundert stufenweise von der Krim befreite, war für die Nomadenstämme nichts Besonderes. Sie sahen darin einfach den Aufstieg eines ändern Mittelpunkts der gemeinsamen Kultur mit großzügigen Fürsten, phantasievollen Magiern und Astrologen, wunderschönen Prinzessinnen und stolzen Kriegern aus aller Welt. Man ging jetzt nach Moskau und glich sich den religiösen Bräuchen von dessen Bewohnern an, wie man in der langen Geschichte von Eurasien zu islamischen, manichäischen, zarathustrischen, jainistischen, buddhistischen und unzähligen ändern Höfen gezogen war: »Wenn du in die fremde Horde ziehst, behalte deine Sitten daheim« war ein altes Sprichwort. Die russischen Zaren machten diesen Vorgang einfach. Sie bezeichneten die Tatarenreiche von Kazan, Astrachan und Sibir als ihre angestammte »Wotschina«, also ihr Vatererbe. Sie nann ten sich gern »Weiße Zaren«, was man heute von den »Weißen Knochen« ableitet, der mongolischen und tatarischen Bezeich nung der Menschen aus altem Geschlecht4 : Für die Nomaden völker des Ostens war damit der Kaiser von Moskau sozusagen selber ein neuer Groß-Khan aus dem Geschlecht der Djingisi den. Wie hätte er sonst ihre Gebiete »als von den Vätern ihnen zubestimmt« zu bezeichnen vermocht? Über dem Doppeladler, dem uralten Sinnbild der magischen Macht, schwebten auf dem Wappen der Zaren drei prächtige Kronen, die man als ihre Macht über die drei Tatarenreiche von Kazan, Astrachan und Sibirien deutete.5 Im Verkehr mit den
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asiatischen Reichen sieht sich Rußland noch ganz als eines von ihnen, als der eigentliche Nachkomme der Macht der »Goldenen Horde«. Dem türkischen Sultan erklären seine Gesandten ent sprechend im Jahre 1570: »Mein Zar ist kein Feind des moslemi schen Glaubens. Sein Diener Sain-Bulat herrscht über das Kha nat Kassymow, der Prinz Kaibula in Juriew, Ibak in Suroschsk und die Nogaischen Fürsten in Romanow«.6 Schon beim Mos kauer Fürsten Wassili hatten die Bewohner seiner Stadt über sein zunehmendes Gefolge von Nomadenprinzen geklagt: »Wozu hast du die Tataren auf die russische Erde gebracht, um ihnen Städte und Länder zu Unterhalt zu geben? Wozu liebst du über die Maßen die Tataren und ihre Rede...?« 7 Eine Schilderung um 1700 erzählt von der Beziehung der Zaren gegenüber den Tataren, Nogajern, Tscherkessen, Samo jeden und Tschungusen, sie hätten keinen Tribut gezahlt, son dern seien mit Gaben überhäuft worden: Man habe diese Völ ker eigentlich »mit Zuvorkommenheit, Geschenken und viel fältigen Künsten« verwaltet.8 Strahlenberg erwähnt 200 russische Fürstenfamilien (Kne zen), vor allem »vornehme Tatern« von Kazan und Kassymow, die dafür, daß sie sich taufen ließen und in die Dienste von Zar Alexei traten, zu hohen Edelleuten ernannt wurden!9 »Viel tau send (!)« hätten so die christliche Staatsreligion von Moskau angenommen. Strahlenberg schreibt lächelnd: »Ich habe in ei nem Dorfe 18 solche fürstliche Häuser gesehen«, ihre Mitglie der betrieben gleich ihren Nachbarn ganz gewöhnliche Landar beiten...10 Der Vertreter einer solchen Sippe pflegte zu sagen: »Unsere Familie war ganz sicher durch die Jahrhunderte buddhistisch, chazarisch-jüdisch, mohammedanisch, römisch- und grie chisch-christlich, sie hat aber immer an Gott in allen Religionen geglaubt und auch an die großen Ahnen. In allen wechselnden Reichen haben sie versucht, ihrem Lebensstil treu zu bleiben.« Die »tatarischen Edlen« waren es, die die Ausbreitung der Macht des »Weißen Zaren« über die Weiten Eurasiens ermög lichten, sicher so wie ähnliche Häuptlinge das gleiche in den
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vergessenen Reichen der hunnischen, chazarischen, mongoli schen Groß-Khane getan hatten. Ihren noch heidnischen, islami schen, buddhistischen Stammesverwandten erzählten sie über die Pracht des Moskauer Hofes und von den Möglichkeiten des »großzügigen Lebens«, das er bot: »Nur die tatarischen Züge könnten die russische Herrschaft bei den asiatischen Völkern sympathisch machen«.11 Fedor Golowin verhandelt für den Zaren im 17. Jahrhundert mit Sibiriern und Mongolen; so etwa mit dem berühmten Gal dan-Khan. Eine hübsche, aber fragwürdige Familiensage wußte sogar von seiner Romanze mit dessen wunderschönen Tochter. Er zieht die Grenze gegen China und wird Statthalter von Sibi rien: Dies bedeutet »eine glückliche Zeit für die Bewohner des Landes; die Erinnerung daran ist noch nicht verloschen«.12 Rußland verdankt Fedor, wie noch die Nachschlagebücher des 19. Jahrhunderts priesen, »den Verkehr, den es seit 200 Jahren mit China besitzt«.13 Aber auch zu dieser Leistung, die als entscheidend für den Aufstieg der westeuropäischen Zivilisation gilt, ist zu sagen, daß der erwähnte Vertreter der sibirischen Geschichte von den tatarischen Häuptlingen abstammte, die in der mittelalterlichen Krim die Städte Sudak, Mankup und Kaffa verwalteten: Sie pflegten dort Beziehungen zwischen den östlichen Reichen und der Mittelmeerwelt, besonders mit Griechenland und dem Reich von Trapezunt 14 : Um 1400 als Nachkommen eines Khowrin, Khomra oder Chowra in Moskau eingewandert, ohne die Verbindungen zum Schwarzen Meer ganz abzubrechen, pflegten sie die gleiche Vermittlerrolle unter den christlichen Zaren wie unter den zuerst schamanistischen, dann islamischen Khanen.
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Opium für das Volk Der Glanz, der aus dem Flug der Phantasie stammte, verblich aber immer mehr. Ein russischer Schriftsteller, Fürst Wladimir Odojewskij, schildert als ein Symbol für das 18. Jahrhundert den Aufstieg eines armen Finnen zu einem völlig traditionslosen hohen Beamten in der Umgebung des Zaren Peter. Vorausset zung für diese »Erhöhung« ist für ihn, genau wie beim ganzen entwurzelten »Dienstadel« dieser Zeit, die Loslösung von jeder Überlieferung. Notwendig ist vor allem das Verlassen seiner zwar schönen, aber im Sinn der neuen Zivilisation völlig »ungebildeten« Braut, die noch ganz in der Musik und in den Heldenliedern ihres Stam mes lebt: in Dingen, von denen im übrigen Odojewskij sehr aus führlich zeigt, wie sehr sie noch mit der alchimistischen Mystik der Paracelsisten wesensverwandt waren. Der unglückliche neugebackene »Abendländer« im Sinn der seichten Aufklärung hat aber mit dem bedauernswerten Mäd chen, das nun einmal alle Anlagen zu einer Schamanin oder Hexe hat, andauernde gefährliche Rückfälle! Aus ihren Au gen leuchten ihm immer noch »der heimatliche Himmel und die sagenhafte Kindheit« entgegen. Also bleibt den Vertretern der Zivilisation nichts anderes übrig, als in ihr, genau wie in zahllo sen ähnlichen Menschen des gleichen Zeitalters, jede Neigung zu Magie und Wahrsagen »wissenschaftlich« zu beseitigen. Das Rezept war in den entsprechenden Fällen sehr einfach: »Man steckt die Kranke ins Bett, ich werde Ihnen von zu Hause eine treffliche Arznei schicken, die, wie unser berühmter hol ländischer Arzt „von Ander“ beweist, gegen alle Krankheiten hilft, und zwar ist es Opium. Geben Sie ihr jeden Tag vier Tropfen davon und geben Sie ihr ferner viel Kaffee und Sie werden gewahren, wie dieses den ganzen Unsinn wie mit der Hand fortnehmen wird.«15 Der alte, aus den Stämmen herausgewachsene, für die Volkseigenarten viel Verständnis besitzende Adel verlosch bis auf unbedeutende Reste in einem qualvollen zweihundertjähri
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gen Vorgang. Lesskow läßt ihn in einer Geschichte klagen, die bezeichnenderweise »Ein absterbendes Geschlecht« heißt: »Seit Peter wurde alles Vaterländische bei uns geplündert und dem Gespött der Ausländer ausgeliefert. Der Adel mußte darunter leiden, die Profitjäger aber und Geschäftsmacher wurden im mer häufiger...«16 Schon 1682 soll der Zar von Moskau die Urkunden seines Adels nach Möglichkeit verbrannt haben: »Er erklärte, daß in Zukunft die Vorrechte seiner Untertanen sich einzig auf ihre Verdienste, aber nicht auf die Geburt gründen sollten«. 17 Seit dem Zaren Peter trat nun an die Stelle der alten Geschlechter eben der Dienstadel: Titel erhielt man für Staatsdienste - wer sich ihrer enthielt, wurde arm, »proletarisiert«, sank in Bedeu tungslosigkeit hinab. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahr hunderts gilt der Adel in russischen Schilderungen, wie sie dann auch Karl Marx übernahm, als »geschwächt, verschuldet, machtlos«.18 Um für die aufstrebende »westlich-zivilisierte« Beamten klasse Raum zu bekommen, wurde nun »gesäubert«: So ließ Zar Nikolaus I. 64000 Angehörigen von polnischen Edelge schlechtern (Schljachta) ihren Adel wegnehmen... 19 Viele Geschichtsschreiber betrachten das Wirken des seltsa men sibirischen Sektenmönchs Rasputin — nach einigen ein Ver wandter von echten Schamanen20 — als eigentliche Auslösung des Untergangs des Zarentums: Ein volkstümlicher Magier, der bis zur Ekstase ganze Nächte zur Zigeunermusik tanzte, konnte allein die Bluterkrankheit des Kaisersohns durch seine »Ausstrahlung« heilen und wurde zum Berater der herrschen den Familie. Der Widerspruch, daß man im zivilisierten Petersburg »in die Welt der Zauberei vor der Zeit Peters des Großen« zurückfiel, enttäuschte das »fortschrittliche« Beamtentum wie die Überre ste des Adels und führte zum Umsturz von 1917.
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Adel als Unterschicht Die Gleichschaltung der Fülle von Volkskulturen unter dem Sargdeckel einer Einheitszivilisation, wie sie seit dem 18. Jahr hundert der Zaren Peter und Katharina Rußland überzog, un terbrach jede lebendige Beziehung von Mitteleuropa zum eura sischen Nomadentum: Erst von da an haben wir eigentlich die vollständige Herauslösung des Abendlandes aus dem Kraftfeld der großen Überlieferungsströme der Welt. In Osteuropa gelten die Länder und Völker nicht mehr als lockere Verbündete, die den Zaren als Oberherrn anerkennen, wie früher die Khane der Nomadenreiche. Sie sind »Unterta nen« in Kolonien, die sich möglichst rasch der Religion und allen Moden der Hauptstadt anzugleichen haben. Ähnlich behandeln von nun an immer mehr auch die Staaten von Westeuropa fast alle Völker der ändern Erdteile. Die alten Sippen, die sich noch an die große Geschichte erin nern, leisten dagegen Widerstand: »Es trifft zu, daß die Opposi tion gegen das kaiserliche Regime im 19. und 20. Jahrhundert größtenteils von Personen aus dem Adel (Dworjanstwo) getra gen wurde«. 21 Lenin, so genannt nach dem sibirischen Fluß Lena, war aus einer geadelten Familie: Großvater und Großmut ter väterlicherseits waren nach russischen Quellen noch bud dhistische Kalmücken. 22 Ihr Nachkomme suchte in einer Ver änderung der Gesellschaft einen Ersatz für die verlorene Kul tur seiner Ahnen wiederzufinden. Ähnliches kann man sicher von sehr vielen aus seinem Gefolge nachweisen. Josef Stalin, nach Lenin Diktator über das Reich der vielen Völker, schilderte 1918 die Zustände allein in sei nem kaukasischen Heimatland Georgien: Armenier, Aserbeid schaner, Tataren, Türken, Lesghier, Inguschen, Osseten, Tschetschenen, Abchasen, Griechen und Kumiken seien hier mit Erobererwellen gekommen und blieben als kleine Völkerin seln. Jedes Dorf redete in gewissen Tälern eine eigene Spra 23 24 che. So war es »im Land, wo die Hirten Prinzen sind« : Jeder mann fühlte sich als der Erbe einer großen Vergangenheit, der
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Bis zur Zeit Peter des Großen zählte der Moskauer Staat den Tatarenkhanen der Krim Tribut, bis zum Ende des 17. Jahr hunderts entschied vielfach der Wille dieser Häuptlinge über den Ausgang der inneren Auseinandersetzungen in Polen und Rußland
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Nachkomme von fürstlichen Ahnen, darum verpflichtet, gegen jede geistige Unterdrückung Widerstand zu leisten. Josef Stalin selber wurde übrigens nicht zuletzt Revolutio när, weil in seiner Schulausbildung jede Nachricht über die ei gene georgische Kultur unterdrückt wurde. 25 Wie er dann zur Revolutionszeit verallgemeinerte, hätten die Armeen Lenins »keinen einzigen von diesen (>weißenrussischen Restaurants< als auch in ändern Restaurants sind die sogenannten >Künstler< oder >Schauspieler< eben Wesen aus der großen Gemeinschaft Rußland und meistenteils Wesen der früheren herrschenden Klasse dort.«28 Gurdjieff sieht dies in vielen Fällen mit Recht als Folge einer Entwicklung, die diese Menschen noch vor kurzem mitgetragen hatten. Oder wie er sagt: »Sie verlachten und beleidigten die in
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dividuelle Würde der Wesen anderer Gemeinschaften.«28 Sie, die beim Versuch, die zahllosen Stammeskulturen im 18. und 19. Jahrhundert gleichzuschalten, mitwirkten, flohen nun zu etwa zwei Millionen nach dem Westen: »Zar Peter hat für Rußland ein Fenster nach Europa geöffnet — und uns hat man aus diesem Fenster rausgeschmissen.« Dies war unter ihnen eine ge flügelte Redewendung.29 Durch die asiatischen Mythen vom ewigen Kreislauf der Kul turen und Reiche versuchte gerade Gurdjieff diesen Flüchtlin gen von Paris bis Kalifornien wieder den Lebensmut für die Zu kunft zu schenken: Wer zumindest den Rest dieser zahllosen orientalischen, kaukasischen, russischen, zigeunerischen Re staurants sah, wie es sie etwa noch bis 1950 gab, entdeckte tat sächlich den Sinn in der ganzen Völkerwanderung. Für wache Menschen war diese Welt der »Fahrenden« und Flüchtlinge eine Art Hochschule. Unter den Klängen der eksta tischen Zigeunermusik, der, zumindest nach der Angabe der Künstler selber, »schon die ältesten Khane und Zaren ge lauscht hatten«, dachte man über das eigentliche Wesen und die Vergänglichkeit der Kulturen und den Wert der siegreichen Massen-Zivilisation nach.29 »Hier vergaß man für Augenblicke wieder das Spießbürger tum seit dem 19. Jahrhundert«, sagte mir der französische Dichter Jean Cocteau (um 1956): »Die Künstler aus dem Kosakenland brachten uns in der Gesamtheit eine Ahnung davon, was schöpferisches Leben bedeutet. Sie betrachteten sich als die Op fer alter Fehler, die letzten Nachzügler großer Zeiten des freien Geistes. Aber sie regten, durch ihre Flucht in die Kunst, die Ju gend an, und damit die Zukunft.«
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DRITTER TEIL
Eurasische Erbschaft und Gegenwart
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Die Ankunft der Spielleute und Wunderschmiede Die Nomaden behaupten: Ein Vagabund, der seine Herkunft kennt und anerkennt, ist mehr wert als ein entwurzelter Bür ger. Eine Quelle für Beziehungen der europäischen Völker zu Asien, an der sich die Jugend seit den sechziger jähren zunehmend begeistert, ist die Volksüberlieferung der letzten Nomaden unseres Erdteils, der Zigeuner. Der Zigeuner-Dichter Maximoff, selbst Nachkomme einer aus Osteuropa nach Frankreich eingewanderten Sippe, erzählt über seine Vorfahren — die er gern mit ihren morgenländischen Bezeichnungen Yado, Djats, Loulis nennt - folgendes: »Im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung folgten sie den von Attila befehligten Hunnenhorden nach Europa hinein und blieben, als diese sich zurückzogen, im Land. Wahrscheinlich sind die Zigeuner Ungarns ihre Nachkommen. Im 12. Jahrhundert hatte Djingis-Khan den Ehrgeiz, die Welt zu erobern. Seine Reiterscharen drangen schonungslos gegen Westen vor. Die Loulis, in heute nicht mehr zu schätzender Zahl, folgten ihnen nach. Sie führten als Zeichen einen schwarzen Raben auf weißem Grund. Das waren unsere direkten Vorfahren, die, ohne Krieger zu sein, durch eine besondere Gunst, wahrscheinlich ihrer Kunstfertigkeit und ihrer Musik wegen, den Armeen des großen mongolischen Eroberers folgen durften. Als diese, zwar unbesiegt, umkehren mußten, blieben die Loulis, die sich ihnen angeschlossen hatten, im westlichen Europa. Doch wurden sie heftig verfolgt, da man keinen Unterschied zwischen den Mongolen und ihnen zu machen geneigt war... Im 14. Jahrhundert wiederholte sich das Phänomen... Die Loulis folgten den Armeen des Tamerlan und blieben, als
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diese sich nach der Auflösung des mongolischen Kaiserreiches zurückzogen, im Land.« Die Geschichten des Maximoff, er stützt sich vor allem auf die »Überlieferungen, die in meinem Stamm lebendig sind«, stehen selbstverständlich nicht allein da.1 P. Fleury berichtet einer Sage nach: »Andere Stämme, welche im Zeitalter der großen Völkerwanderungen das Skythenland in Rußland durchstreiften, mischten sich bei ihrer Bewegung zur Donau unter die Hunnen, die sich von den Sintis (heute noch häufigster zigeunerischer Stammesname in Deutschland! S. G.) durch deren Taschenspielereien und magische Kunststücke unterhalten ließen. Sie dienten auch den Kriegern Attilas als Kundschafter und Späher, da sie gute Reiter und landeskundig waren...«2 Ein anderer Verfasser, der sich ebenfalls unmittelbar auf die mündliche Zigeuner-Überlieferung stützen will, nennt das No madenreich Attilas einen Völkerbund, der den Stämmen ver schiedenster Herkunft nach der Zeit der Unterdrückung unter der römischen Spätzivilisation zu einem Sinnbild der Hoffnung und Freiheit wurde: »Die Zigeuner, sagt die Legende, waren Attilas Freunde und Berater.«3 Anderseits folgten, nach einer Überlieferung der Khaldera-Zi geuner, den Heeren der Tataren (also im 13.—15. Jahrhundert, S. G.) Zigeunergruppen, Schmiede, die mit der Instandhaltung der Kriegsgeräte beauftragt waren. Mac Munn stellte fest: »Die Zigeuner Europas zogen zweifellos hinter den Heeren der Hun nen, Tataren und Seldschuken, und unsere Romanischeis, die heute unsere Messer schleifen, haben sicherlich die Degen und Klingen der Heere geschärft, die kreuz und quer durch Europa zogen.«4 Als »Tataren« werden auch schon die echten Zigeuner be zeichnet, die 1407 in Hildesheim auftauchten. Noch heute wer den in gewissen Teilen Deutschlands sozusagen alle »Fahren den« als »Tatern« bezeichnet, in Schweden als »Tattare«. Die Bezeichnung »Tatar« für Zigeuner ist aber auch in Ägypten und der Türkei verwendet worden.5 Wir dürfen nicht vergessen, daß auch diese beiden Gebiete im Mittelalter unter dem unmittelba
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ren Einfluß der eurasischen Tatarenreiche standen: Die Türkei wurde lange, genau wie der ganze Raum des Schwarzen Meeres, von den Djingisiden beherrscht. Ägypten geriet — wie die euro päischen Reisenden und Chronisten berichten — im 13. Jahr hundert unter die Herrschaft der Kumanen (Polowzen), die sich aus Südrußland vor den Mongolenheeren zurückzogen.. . 6 Die Beziehung der Zigeuner »zu den Türken und Tataren« war tatsächlich im ausgehenden Mittelalter und noch mehr während der Reformation ein Hauptgrund zu ihrer Verfol gung. Im bekannten »Türkenbüchlein« von 1522 erscheint ein Angehöriger des »Fahrenden Volkes« als ein großer Kenner und darum auch Parteigänger des »heidnischen« Ostreichs: Er be richtet von unzähligen Christen, sogar von einem Kardinal, die damals beim Sultan Zuflucht vor ihren Landsleuten suchten. Die deutschen Soldaten seien zwar kriegstüchtig, berichtet er, es fehle ihnen aber im Gegensatz zu Türken und Tataren an »Einigkeit und Gehorsam«. In Böhmen machte der innere Streit zwischen Adel und Städten, erst recht der Religionskrieg, Wi derstand gegen einen starken Gegner fast unmöglich. Überhaupt herrschte im Abendland, im Unterschied zu den Reichen der Tataren und Türken, ein unvorstellbares Durchein ander. Der Zigeuner weist »auf die Volksaussaugerei und Räu berei der städtischen Kaufleute hin, ferner auf allerlei Ver kehrtheiten, Irrtümer, Mängel und Fehler der Christen«, die er beim Durchwandern ihrer Länder beobachtet hat.7
Verfemte Überlieferung Viele der Sippen und Stämme des »Fahrenden Volkes« von West- und Mitteleuropa sind noch immer stolz auf ihre Herkunft aus den Steppenreichen der östlichen Weiten. Wenn sie die dor tigen Reiche, etwa Ungarn, Rußland oder die Türkei bezeich nen, handelt es sich dabei weniger um genau umgrenzte geogra phische Räume der Gegenwart oder auch unserer unmittelba ren Vergangenheit: Es sind dunkle Erinnerungen an die Land
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schaften der Urheimat, durch die sich ihre Vorfahren durch viele Jahrhunderte bewegten. Ein zeitgenössischer Fahrender erzählt aus den Zeiten vor der Ankunft seiner Ahnen in den Bündner Alpen: »Die fern sehen, wie sie sich selber nennen, stammen aus Indien... Sie zo gen nach Norden, lernten in der Weite des heutigen Rußlands im frühen Mittelalter Kälte und Hunger kennen, aber auch harte Arbeit, um zu überleben. Schließlich gelangten sie nach Europa und ein Teil davon in die Schweiz.«8 Ähnlich wie die Rom-Stämme, die Khalderasch, Lovari, Sinti oder wie sie sich sonst nennen mögen, sind auch viele »jenische Zigeuner« fest überzeugt, daß es die große Nomaden-Vergan genheit ist, die den Wert und die (auf gewissen Gebieten hoch entwickelten!) Fähigkeiten ihrer Sippen bestimmt. Die Wan derung durch endlose Steppen, in denen sie »Hunger und Kälte« kennenlernten, habe nur die überleben lassen, die die Kunst beherrschten, »sich selber zu helfen«: Gleichzeitig lern ten sie, selbstverständlich im Kreis einer großen Familie, zu sammenzuhalten und die verschiedenen Fähigkeiten, die in den einzelnen Menschen ungleich entwickelt sind, zum gemeinsa men Wohl des Stammes zu ergänzen. »Diese Zusammenarbeit der Menschen in einer Familie«, er zählte uns ein Jenischer (Yeniche) aus dem Elsaß, »braucht auf dem Gebiet, das nun einmal die Sippe beherrscht, keine Worte, weil sie auf der Übung und Überlieferung von vielen Jahrhunder ten beruht. Diese Zusammenarbeit ist den Seßhaften als ein wunderbares Ding erschienen und hat die Nomaden in Europa mehr in den Verruf gebracht, mächtige Zauberer zu sein, als ihre Beschäftigung mit Kräutern, Tarotkarten und dem Hand lesen.« Noch bevor eine unduldsame technologische Zivilisation die Fahrenden zur »Seßhaftigkeit« zu zwingen versuchte, begann nach der zweifellos zuverlässigen Überlieferung die Zersetzung ihrer angestammten Volkskultur. Der gleiche fenische, der bis heute der nomadischen Lebensweise seiner Vorfahren treu zu bleiben versuchte, berichtet darüber: »Die Bauern hatten kaum
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Geld, um die Geschichtenerzähler etwa beim Ernten oder an langen Winterabenden, die Schausteller und Musikanten (aus den fahrenden Stämmen, S. G.) zu bezahlen. So gaben sie ihnen zu essen und allzuoft auch Schnaps, der manche fahrende Familie ruiniert hat.«9 Ein kluger Vertreter einer Organisation, die 1926-1973 alles tat, damit »die Kinder des Fahrenden Volkes« ihren Eltern weg genommen würden, damit sie (in der Regel ohne das Wissen von ihren Ahnen und ihrer Herkunft!) »zu seßhaften Bürgern umerzogen würden«, erklärte 1981: »Diese Aktion war nicht zum Wohle der Kinder, sondern zum Wohle einer sauberen Öf fentlichkeit.«9 Die meisten dieser Menschen, die unter unmenschlichem Druck »in die seßhafte Zivilisation eingegliedert wurden«, verlo ren bis auf unbedeutende Sagenreste die Erinnerung an die ei gene Stammeskultur, ihr schöpferisches Tagwerk, die großen Sippenfeste. In ihrem Ehrgefühl und Familienstolz getroffen, gerieten sie darauf in der Regel zwischen Stuhl und Bank und erreichten dann höchstens die »Sozialstellung« eines zwischen untergeordneten Gelegenheitsarbeiten pendelnden »ungelernten Proletariers«.10 Eine aus dieser Schicht kommende Schrift stellerin sagte in diesem Sinn 1980 bei einer Podiumsdiskussion in Basel: »Fast alle Probleme, die wir heute haben, sind auf diese Zwangsentwurzelung ganzer Generationen zurückzuführen.«11 Dr. (an Cibula, selber einst in einer »ungarischen« Sippe in ei nem Wohnwagen in der Tschechoslowakei geboren und heute Arzt in der Schweiz, stellt dazu fest: »Die Zigeuner-Intelligenz versagt leider! Viele von uns nutzen die Chance nicht, etwas für unser Volk zu tun, die meisten verleugnen ihre Abstammung, sie schämen sich, Zigeuner zu sein, sie assimilieren sich, wenn sie arriviert sind.«12 Von diesen wenigen »Studierten« verlassen, die als Alibi für die »Fortschrittlichkeit« der technologischen Zivilisation »in die höhere Klasse aufsteigen können«, werden die Nomaden in häßliche Ghettos abgedrängt: »Sie leben auf rattenverseuch
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Besonders auch die Zigeuner der Krim galten als gute Kenner der asiatischen Geheim-Überlieferungen in Handwerk und Wahrsage-Kunst
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ten Plätzen, bei Kiesgruben, Schutthalden und Müllabfuhrplätzen, ausgedienten Steinbrüchen, in >toten Winkeln< zwi schen Autobahnen, in eingezäunten Elendsquartieren und Ba rackenlagern am Rande von Industriegebieten und an Gleisanla gen.. . Sie bewohnen Wohnwagen oder auch Caravans, Sozial bauwohnungen und Notbehausungen, Bretterhütten oder Gar tenlauben, oft ohne Stromanschluß, oft ohne Wasser und Sani täranlagen...«13
Zwischen Slums und Ahnenstolz Grauenhafter als das materielle Elend dieser Ghettos und Slums, die sich um die europäischen Großstädte ausbreiteten, war und ist noch immer die geistige Unterdrückung: Nur ein Verzicht auf die eigene Überlieferung, die Bräuche und die Groß-Sippe wurde zur Eintrittskarte für »die seßhafte Gesell schaft« mit Kleinfamilie und dem unschöpferischen Tagwerk an den Maschinen. Ein Aufsatz in der »Neuen Zürcher Zeitung« kennzeichnete das Leben der Gruppe der Nomaden-Nachkommen, die man als »teilweise Angepaßte« zu bezeichnen pflegt: »Sie versuchen seit Jahrzehnten, sich in einer fremden Lebensweise und Kultur zu rechtzufinden. Oft sind die Folgen solcher Versuche Alkoholis mus, Familienzerrüttung und Verwahrlosung. Der Sippe ent fremdet, entwurzelt und ohne einen Halt der Tradition enden nur allzu viele in Pennerhäusern, psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen.«14 Anläßlich des 3. Welt-Kongresses der Roma, der 1981 in Göttingen stattfand, lautete eine wichtige Erklärung über die verzweifelte Lage der aus ihrer Stammeskultur herausgerisse nen Menschen, die in den Städten Mitteleuropas leben: »Sie schämen sich ihrer Herkunft, erzählen ihren Kindern nichts über ihre Traditionen, ja sie haben sogar teilweise ihre Namen gewechselt, damit man sie nicht als Abkömmlinge des »Fahren den Volkes« erkennt... Diese Gruppe hat einen großen Prozent
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satz von unglücklichen Menschen, von kaputten Ehen, von Kin dern im Generationenkonflikt, von Alkoholikern, von Pillensüchtigen. Diesen Menschen müssen wir auch etwas geben, zu mindest das Gefühl, daß ihre Vorfahren mit ihren Handwerken und ihrer Kultur wertvolle Menschen waren und keine kriminel len Asozialen.«15 Während wir unter den Zigeunern von Europa überliefe rungstreue Sippen treffen, die trotz materiellem Elend stolz sind, an ihren Lagerfeuern keinen Zwist zwischen den Ge schlechtern und den Generationen, keine Perversionen, Sc hei dungen, Abtreibungen, harte Drogen, keine Notwendigkeit der Bevormundung durch Sozialbeamte kennen, herrscht bei den »Integrierten« häufig das Gegenteil davon: Obwohl diese, vom Standpunkt einer von Ideologen mißbrauchten Wirtschaftsstati stik, »sich auf eine höhere gesellschaftliche Stufe entwickelt ha ben« — und auch vom Standpunkt »des Pro-Kopf-Einkommens« durchschnittlich wohlhabender sind. Offizielle indische Schätzungen reden von gut 13 Millionen Angehörigen fahrender Stämme außerhalb ihrer Urheimat16 : Forscher, meistens zigeunerischer Herkunft, mit denen ich vor allem an der denkwürdigen Tagung der »Romani-Union«, des Weltbundes der Zigeuner, 1978 in Genf reden durfte, schätzen die Zahl der Nomaden allein in Osteuropa auf 4-8 Millionen. Selbstverständlich versuchen die meisten davon, bei staatli chen Unternehmen einer »exakten Statistik« ihre Herkunft nicht anzugeben! Einmal nennen sich die meisten Stämme gar nicht gern mit dem herkömmlichen Gemeinplatz »Zigeuner«, und an derseits, wer will schon zu Sippen gehören, die man seit 500 Jah ren »als erklärte Feinde jeder seßhaften und besonders städti schen Zivilisation« bezeichnete... 17 Die großen Überlieferungen der Stämme, wie sie etwa Maxi moff niederschrieb, waren es aber, die in den sechziger Jahren unzählige Gammler und Hippies zu den Lagerplätzen der ech ten Fahrenden zwischen Pyrenäen und Alpen wandern ließen. Aber auch die Hunderttausende der »Halbintegrierten« in den Elendsvierteln der Großstädte, auf ihrem Leidensweg zwi
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schen Wohnwagen und Baracken-Zivilisation, hatten in der Ge genwart einen unglaublichen Einfluß auf ihre Umwelt: Dies im Sinn einer Anregung zur Suche nach der Überlieferung. Oder wie etwa ein Zigeunermusiker, dessen Vorfahren schon im 14. Jahrhundert mit den Tataren nach Mitteleuropa kamen und die man ihm in seiner Jugend zu »vermiesen« versuchte, behauptete: »Jeder Mensch ist die Quintessenz (das Ergebnis) seiner Vorfahren. Ein Vagabund, der seine Herkunft kennt und anerkennt, ist mehr wert als ein entwurzelter Bürger.«18 Dies ist eigentlich, auf moderne Art ausgedrückt, der Gehalt der zeitlosen Überlieferung der Stammeskulturen. In einem Kin dermärchen aus der Mongolei sagt »der Weise Alte«, der häufig in den schamanistischen Mythen auftaucht, zum Helden (Bator), der die Prüfung bestanden hat: »Wer in Ehren sein Leben zu Ende führt, den haben die Menschen ein Jahrhundert im Ge dächtnis. Wer ehrlos lebt, den vergessen schon die eigenen Kin der.«19
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Von Chazarenfürsten und dem Ost-Judentum Die Wahrsager in den Wohnwagen sehen in Tarotkarten und ähnlichem Wissen die Erinnerung an die weisen »Fahren den Völker« im Osten, von denen die verschiedensten Stämme erbten. Während der russischen Revolution nach 1917 gab es viele Ju den und Russen, die »für eine eigene jüdische Republik« in der Krim arbeiteten. Nicht nur die religiöse Richtung der dortigen Karaim-Bevölkerung oder »Krimtschaken«, sondern ein Groß teil der Ostjuden galt ihnen als aus den frühmittelalterlichen Nomadenkulturen des Raums hervorgegangen1 : Sie lehrten, daß dieses ganze Volk den einheimischen Stämmen von anderer Religion »in seinen Sitten und in seinem Äußeren durchaus glei che«. Diese Juden seien zweifellos »viel mehr Tataren« als Semi ten und kämen eigentlich aus dem Chazarenreich des 8.—10. nachchristlichen Jahrhunderts, das die Verbindung zwischen Europa und Asien beherrschte und seine Hauptstadt Itil an der Stelle des heutigen Astrachan an der Wolga besaß. 1 Von ihrem heidnischen Herrscher, dem Kagan (Khan), er zählt der arabische Geschichtsschreiber Al-Bakri im 11. Jahr hundert, er habe, um sich für eine neue Religion zu entscheiden, ein Streitgespräch zwischen Christen, Mohammedanern und Juden veranstaltet; die letzteren hätten gesiegt, und ihr Glaube wurde im rasch wachsenden Reich zumindest zur Angelegenheit der Oberschicht.2 Wir haben keinen Grund, dies lediglich für eine Sage zu hal ten: Der russische Großfürst Wladimir, der in der früheren Chazarenstadt Kiew regierte, läßt die verschiedenen Religio nen ebenfalls zu einem Gespräch antreten und entscheidet sich für das byzantinische Christentum.3 Eine ausgesprochene
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Freude an solchen Auseinandersetzungen hatten die Djingisi den, die Mongolen- und Tatarenherrscher seit dem 13. Jahrhun dert, auch wenn sie selber ihre ureigene Religion bewahrten. Noch ihr Nachkomme, der große indische Kaiser Akbar, läßt die Vertreter der verschiedenen Sekten und Religionen als Schauspiel streiten und bewahrt selber seine großzügige Gottes auffassung. Die großen Nomadenherrscher und die von ihnen unmittelbar beeinflußten Fürsten glauben offenbar immer an die Möglich keit eines Gesprächs mit dem Göttlichen und den eigenen, den gleichen Weg vorangegangenen Ahnen. In einer Welt der Reli gionskriege sehen sie aber die Annäherung ihrer so verschie denvölkischen Gebiete an bestimmte Glaubensrichtungen als eine Bedingung des innern und äußern Friedens: Für die Cha zaren, die sich gegen die Heere des Islam und der byzantinischen Ost-Römer zu verteidigen hatten, war das biblische Judentum eine Möglichkeit für Kultureinheit und Selbstbehauptung. Das Reich der jüdischen Nomaden hatte einen ungeheuren Einflußkreis: Mieses vermutet, daß die österreichische Chronistensage des Mittelalters, die außer von Heiden auch von 22 alten einheimischen »jüdischen« Fürsten berichtet, auf den Einfluß der Chazaren »bis an den Fuß der Alpen« zurückgeht. 4 Die Geschichte vom Untergang des Reichs unter den Schlä gen der (zuerst von ihm beherrschten!) Kiewer Slawen stimmt nicht ganz, so wie die Behauptung dessen Zerstörung wegen den Horden des Djingis-Khan: Noch im 15. Jahrhundert scheint es im Umkreis der Krim nicht nur Goten, sondern auch jüdische Fürsten gegeben zu haben, die bis Ende des Mittelalters zwi schen den Europäern und den Tataren vermittelten. 5 Poliak vermutet »das Einströmen chazarisch-jüdischer Ele 6 mente in hohe Positionen des Moskauer Staates« : Es gibt sogar heutige sowjetrussische Quellen, die die Zahl der von solchen »jüdischen« Bevölkerungsschichten abstammenden Russen auf nahezu 8 Millionen schätzen!7 Großherzog Vitold von Litauen brachte von seinen Kriegszü gen um 1400 »Hunderte von Chazarenfamilien mit nach
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Hause«: »Er wußte, daß sie mutige, verläßliche Krieger waren. Darum siedelte er sie als Grenzschutz gegen den vordringenden Deutschen Orden an. Sie wurden also gleichsam die Kosaken Li tauens.«8 Die Leibärzte der polnischen Könige stammten lange »aus schließlich von diesen ehemaligen Chazaren«. Gerne vertraute man ihnen im gleichen Reich diplomatische Ämter an: »Vor al lem, wenn es galt, mit Turkvölkern zu verhandeln. Da sie neben der polnischen Landessprache nach wie vor ihren alten Turkdia lekt beherrschten und — bis in die Speisen hinein - Turksitten be wahrt hatten, waren sie für solche Aufgaben wie geschaffen.«8 Der schwedische König Karl XI. beschäftigte sich mit den Karäern in Polen und Litauen: Ihre Bildung war noch immer hoch. Sie waren »ausgesprochen militärisch orientiert« und be saßen »große Neigung zum Soldatenberuf«: Dank diesen Anre gungen hatte dann sein Nachfolger Karl XII. bei seinem Krieg gegen den russischen Zaren Peter den Großen die Idee einer Pro paganda in jüdischer Sprache für Ukraine und Polen. 9 Auch im großen Nordischen Krieg (l700-1721), in welchem Karls Schweden und Peters Rußland um den Rang als erste Großmacht von Osteuropa kämpften, entschied wahrschein lich mehr als alle Waffen die Beziehung der beiden Parteien zu Religion und Völkergeschichte im umstrittenen Raum.
Seelenwanderung und Familienreligion Von den Chazaren wird etwa festgestellt: »Der komplizierte Tal mud mußte ihnen skurril und fremd erscheinen... Das junge Turkvolk fühlte sich einerseits zu dem gewaltigen Urdokument, der Bibel, hingezogen, anderseits zu allen aktuellen, lebendigen Wissenschaften.«10 In den Geschichten von den biblischen No maden und deren Auseinandersetzungen mit den entarteten Stadtzivilisationen in Babylon, Assyrien, Ägypten und Rom mußten sich die Chazaren selber wiederfinden: Sicher nicht we niger als einige der heutigen Zigeunerstämme, die behaupten,
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ihre Ahnen seien die Begleiter von Abraham und Moses gewesen — die Bibel sei also ein zeitloses Vorbild für »die fahrenden Stämme, die in der Urzeit von der gemeinsamen Heimat im fer nen Osten auswanderten«.11 Eine solche Auffassung, die Vorstellung eines gemeinsamen göttlichen Ursprungs, ermöglichte den Chazaren die Zusam menarbeit mit den ändern Stämmen ihres Umkreises. Jesus und Mohammed gelten den Karäern als heilige Männer, nicht als Begründer von gegnerischen Religionen. Sie hätten den ur sprünglichen Glauben herzustellen und ihn auf zeitgemäße Art zu verbreiten versucht.12 Geschichtlichen Quellen verdanken wir den erstaunlichen Hinweis, daß im mittelalterlichen Chazarenreich jedermann, Jude, Mohammedaner, Christ und Heide, von Richtern des eigenen Glaubens beurteilt wurde. 13 Ähnlich wie im etwa zur gleichen Zeit China beherrschenden Ujgurenreich scheint auch der iranische Manichäismus einen gewissen Einfluß auf die ganze Kultur gewonnen zu haben. »Manche von ihnen glaubten, wie die Inder, an die Seelenwanderung.«14 Die geistige Verbindung des mächtigen Nomadenstaates in Südrußland mit den reichen Ländern von Persien und des ganzen Himalajaraumes bildete den Hintergrund gewaltiger Wirtschaftsverbindungen. Kirkisani, Karäer des 10. Jahrhunderts, bezeugt in seinem »Buch der Lichter«, »daß der weise Anan die Lehre von der See lenwanderung angenommen und darüber eine eigene Schrift verfaßt habe. Viele seiner Anhänger... seien dieser Lehre ge folgt.« Kirkisani schrieb in seinem Werk zwei Kapitel dagegen. Der Einfluß dieser Ketzerei war also wohl noch in seiner Umge bung sehr stark.15 Scholem fand »die Tatsache auffällig, daß die Vorstellung der Seelenwanderung in der Kabbala zuerst genau in derselben Zeit und derselben Umgebung auftritt, in der die katharische Bewe gung in Südfrankreich ihre größten Erfolge hatte.«16 Die westeuropäische »Ketzerei« bei den Christen wurde teil weise durch östlich-balkanische Weisheitslehrer, »Bulgaren«,
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angeregt. Gleichzeitig wanderten Flüchtlinge aus dem seit dem 10. Jahrhundert schwächer werdenden Chazarenreich in die jü dischen Gemeinden ein: Christen und Juden besaßen also in der zweiten Hälfte des Mittelalters deutliche Verbindung zur östli chen Hochkultur, die nach allen Berichten die erstaunliche Be gegnungsstätte der verschiedenen Religionen gewesen war. Die jüdische Lehre von der Seelenwanderung wird im übri gen, ahnlich wie im Umkreis der indischen, tibetanischen, mongolischen Stammesreligionen, in einer sehr vernünftigen Gestalt vorgetragen. Der Kabbalist „Isaak ihn Farchi“ in Saloniki lehrte etwa: »Wisse, daß jede Familie in Israel, die einen Verband bildet, einen Baum im Paradiese darstellt. Dieser Baum ist aber nichts als ein Zweig vom Baum des Lebens... Denn die Toten jeder Familie sind wie die Wurzeln eines Baumes, dessen Zweige die Lebendigen sind — und durch Verdienst der Toten bestehen die Lebendigen.«17 Die Menschen einer Sippe sind also eigentlich immer die glei chen. Die Verdienste der Ahnen sind der Ursprung der Energie für diejenigen, die heute auf Erden wandeln. Auch Rabbi Na than Schapira, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor allem in Krakau wirkte, sah den Gang seines Stammes durch die Ge schichte »als eine Welt von Seelenwanderungen«: »Es waren einst Seelen in der urältesten Zeit und diese Seelen kommen wieder und werden in der Zukunft wiederkommen.«18 Auf der Grundlage ähnlicher Auffassungen müssen wir die — offenbar aus ihrer schamanistisch-skythischen Frühgeschichte übernommenen — Überzeugungen der Chazaren begreifen: Ihr Herrscher hatte - arabischen Berichten zufolge - ähnlich wie bei den späten tatarischen und mongolischen Khanen, stets aus dem riesigen »Stammbaum« ihrer einstigen Könige zu stammen. Einst habe ein ganz armer Jüngling, so wird berichtet, der auf dem Markt sein Brot verkaufte, als der mögliche Nachkomme des mächtigen Chazarenherrschers gegolten - obwohl dieser ein Jude war und er ein Mohammedaner 19 : Wie in ihrem scha manistischen Urglauben waren also auch diese Nomaden noch immer fest überzeugt, daß das geerbte göttliche Wissen im Men
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Die Karaim-Juden am Schwarzen Meer spielten eine ent scheidende Rolle bei den Kulturverbindungen zwischen Abendland und Orient
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schen als ewiger Wert über allen zeitbedingten Äußerungen der Religionen und den menschlichen Fehlern und Fälschungen unterworfenen Büchern stünde.
Vermittler zwischen Paradies und Erde Verschiedene jüdische und russische Gelehrte, die den Überlie ferungen ihrer Heimat nachgingen, erklärten auch den unter den Juden in Osteuropa verbreiteten Chassidismus aus dem Ein fluß der Chazaren zwischen Krim und Wolga: Gott wolle »fröhli che Anhänger«, nicht bekümmerte Menschen, lehrten diese. Im Umkreis der Wunderrabbis, der Zaddikim, finden wir »orgia stische Reigentänze«, die, wie in ändern asiatischen Kultur kreisen, Zustände religiöser Ekstase hervorrufen. Damit ver bunden sei der Kult der Heiligengräber wie im Islam, der auch dort aus dem wesensverwandten Derwischtum und aus dem »Eindringen turko-tatarischer Ideen« herkomme. 20 Vorstellungen, eher schwach im früheren Judentum, sollen sich hier im Umkreis von »heiligen Familien« — die Träger der großen Überlieferung- erstaunlich entfaltet haben. Nie soll man zweifeln, sogar wenn man an einem Zaddik »zweifelhafte« Handlungen bemerkt: »Denn auch darin gleicht der Zaddik sei nem Schöpfer, daß manches an seinen Taten unverständlich bleiben muß...« Sogar wenn es scheine, er ketzere, handle gegen die göttlich-biblischen Gesetze der Thora, sei dies ein Irrtum: »Die Thora ist in seine Hand gegeben, er darf ihren Sinn nach sei nem Sinn auslegen. Er selbst ist Gesetz und Recht.«21 Der Zaddik kann recht weltliche Witze und Geschichten er zählen - doch er muß sich gelegentlich so aufführen: »...um sich für einen Augenblick der Gedanken an Gott zu erwehren, er muß es tun, um sein Leben zu erhalten.« Maßlose Ergriffen heit würde sonst seine Seele vom Leib losreißen, damit sein irdi 21 sches Dasein beenden. Der Zaddik bildet eine Einheit mit dem ewigen Ursprung des Seins: »Gott entnimmt seiner Wesenheit gleichsam ein Licht
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»Die Karawanen der Tatarei«, Bringer aller Wunder des Mor genlandes, beschäftigen die heutige Phantasie — genau wie die von Altertum und Mittelalter
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bündel, streut es in die Welt und läßt daraus einen Zaddik her vorsprießen.« Er ist darum »die Seele und das Leben der Welt«. Die Menschen, die ihn umgeben, sind gleichsam der Leib, der ihm, ihrer Seele, als Hülle dient.22 Sie »gleichen den Sternen..., wie die Sterne die ganze Welt re gieren, so auch die Gerechten...« Wie die Gestirne stehen sie »hoch und erhaben über den Erdbewohnern«. Ihre Macht «kommt der Macht Gottes beinahe gleich«. Göttlich und für die ändern Menschen grenzenlos ist ihr Wissen: »Räumliche Ent fernung bietet kein Hindernis, denn der Gerechte (Zaddik) ver mag von einem Ende der Welt zum ändern zu sehen.«23 Von der Dynastie der Wunderrabbis von Sadadogara weiß man: »Sie besaß Paläste mit Sommer- und Wintergärten, Gold und Silbergeräte, reichhaltige Bibliotheken...« Ihre zahlreichen Anhänger sahen »wunderbare Geheimnisse in dieser Lebensweise«. Der Rabbi David von Talna hatte einen »sil bernen Thronsessel«: Er geriet in Schwierigkeiten mit den russi schen Behörden, weil darauf stand - »David, König von Is rael«.24 Der »Hof« solcher Zaddikim »umfaßt stattliche Häuser, mit unter Prachtgebäude, Gärten, Gefährte, Gold- und Silbergeräte, Diener und Dienerinnen...« Rabbi Mordechai, der Sohn von Rabbi Nachum, »fuhr in einem Viergespann, in einer pracht vollen Kalesche nach Art der polnischen Adeligen« - seine Gläubigen sahen sogar »Engel die Kalesche begleiten«. Zaddik Rabbi Nachum, der Enkel des Rabbi Mordechai, hatte seinen siebenarmigen Leuchter (Menorah) »aus reinem Silber und rei nem Gold«. Jahrelang hatte ein berühmter Goldschmied daran gearbeitet! Er hatte »Mannesgröße«, und er war mit getriebenen Figuren, Blumen und einem kunstvollen Häuschen ge schmückt.24 Nicht nur in diesen gelehrten, die Überlieferung treu bewah renden Sippen fand man innere Beziehungen mit verwandten Erscheinungen der ändern asiatischen Hochkulturen. Schon in der Abneigung des Stadtlebens und der Vorliebe für Holzdörfer sah man bei den Ostjuden gern ein Nachleben des Chazaren
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tums. Sie stellten, bis zum Sieg der Eisenbahn im Osten, Pferde karren und Fuhrleute für den Warenaustausch bereit, was u. a. Koestler als einen Beruf aus chazarischen Zeiten ansieht: Der gleiche Verfasser sieht in der jüdischen Leidenschaft für »ge fillte Fisch« eine Erinnerung an die Kultur um das Kaspische Meer. Im langen seidenen Kaftan glaubt er eine Nachahmung des Mantels der polnischen Edelleute zu erkennen, »die selber aber wiederum eine Nachahmung der Tracht der Mongolen der Goldenen Horde ist«. Das Käppchen (Jermolka) wird noch im mer von frommen Ostjuden getragen, »aber ebenso auch von den Usbeken und anderen Turk-Völkern der Sowjetunion«. 25 Von der ostjüdischen Mischsprache, dem Jiddisch, glaubte Poliak, es sei ursprünglich »in den gotischen Siedlungen der cha zarischen Krim entstanden«: Diese hatten nach ihm Verbin dung mit anderen germanischen Stämmen — der deutsche Die ner des Joseph Barbaro aus Venedig konnte sich ja noch im 15. Jahrhundert mit ihnen ohne große Mühen verständigen! So sei in Chazarien die erste germanisch-semitische Mischsprache ent standen, die sich nach und nach über ganz Osteuropa verbrei tete.26 Auch im »Jenischen«, der Mundart eines großen Teils des »Fahrenden Volkes« von Mitteleuropa, überwiegen die Aus drücke von hebräisch-germanischen Wurzeln fast die eigentli chen indisch-zigeunerischen 27 : Von den jenischen Nomaden kann man etwa hören, daß ihre Vorfahren irgendwo, »ferner als Österreich und Ungarn«, in Ländern lebten, »in denen zigeune rische und jüdische Stämme eng miteinander verkehrten«. Während gelehrte Okkultisten oft darüber streiten, ob die Wahrsagekarten »Tarot« Spuren zigeunerisch-indischer oder jü discher Weisheit in sich tragen28, sehen die Wahrsager in Wohn wagen in ihnen die Erinnerungen an »kluge >Fahrende Völker< im Osten, von denen die verschiedensten Stämme erbten«. Ohne das Wissen um die Chazaren, so wie um die früheren und späteren eurasischen Nomadenreichc, bleibt die europäi sche Kulturgeschichte ein Buch mit sieben Siegeln.
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Die Nomadenwelt in uns Auch in Mitteleuropa wirkte der Glaube nach, »die Hirten völker würden zur Erhaltung der Würde unserer Natur auf Erden gelassen«. Als der Maoismus in den Grenzen des chinesischen Riesenrei ches alles zu tun begann, um die Kulturen der Minderheiten möglichst rasch in der »Staatsnation« aufgehen zu lassen, flüch teten Hunderttausende Tibetaner ins Nachbarland Nepal: Viele dieser Menschen, denen ein materialistischer Staat jede religiöse und gesellschaftliche Überlieferung entreißen wollte, träumten noch von einer rettenden Wanderung um die Erdkugel, nach der Schweiz in Mitteleuropa, die unter den Himalaja Völkern ein »neuer magischer Begriff« geworden war.1 Nach Geschichten, wie sie die Tibetaner von ihren gebildeten Edelleuten vernommen hatten, stellten sie sich dieses Gebiet als erstaunlich wesensverwandt vor, als ein Gebirgsland, »dem hei matlichen Erinnerungsbild gleich«, bewohnt von einem gleich ihnen freiheitsliebenden Hirtenvolk.1 Wie ich aber in den siebziger Jahren in verschiedenen Ge sprächen mit schweizerischen und deutschen Sozialarbeitern erfuhr, mündete dieser Traum von der Flucht in eine ähnliche Umwelt sehr häufig, zumindest bei den asiatischen Kindern, in eine Kette von Enttäuschungen. Schon wegen ihres »mongoli schen« Aussehens wurden sie offenbar häufig von ihren neuen Nachbarn und Schulgenossen abgelehnt, oder sie fühlten sich selber als äußerlich fremd, andersartig und darum auch ent sprechend unglücklich. Als Versuch, diesen Flüchtlingen zu helfen, haben wir damals die zahllosen einheimischen Alpensagen zusammengestellt, nach denen ganze Talschaften des Berglandes einst stolz auf ihre »Abkunft« von Asiaten, von hunnischen oder »heidnisch-ungari schen« Flüchtlingen oder Eroberern waren. Mindestens in zwei
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Fällen scheinen solche Geschichten, die wir selbstverständ lich auf ihren Wahrheitskern nicht überprüfen konnten, den ti betanischen Kindern geholfen zu haben, ihre neue Heimat bes ser zu begreifen. Vor allem mögen aber ihre einheimischen Schulgenossen durch solche Sagen einen Weg gefunden haben, die Tibetaner nicht mehr als Ankömmlinge von einem ändern Stern zu verste hen. »Sie sind mit ihrem Aussehen und ihrem buddhistischen Glauben unter uns fremd«, schrieb einer der Schüler, »aber das waren ganz sicher die Ahnen von uns, die einmal ebenfalls ein wanderten, auch. Wir müssen ihnen entgegenkommen, genau wie wir möchten, daß man uns entgegenkommt, wenn wir auch in der Fremde neu anfangen müßten. Unsere Ahnen wurden wohl durch die Leute, die schon früher auf dem Platze waren, si cher einigermaßen gut empfangen, sonst wären sie weitergezo gen und wir wären selber darum gar nicht da.« Ein Kenner der nordschweizerischen Überlieferung, die im übrigen vollkommene Übereinstimmung mit denen aus angren zenden deutschen und französischen Gebieten aufweist, stellte fest: »Die orkanartige Erscheinung der Ungarn klingt in so man chen Volkssagen und Liedern bis auf den heutigen Tag nach, zum Zeugnis, wie tief und gewaltig in allen Schichten die Bevöl kerung von den Schrecken der wilden Horden erschüttert wor den ist.«2 Jede Ruine, vor allem aus der Römerzeit, aber auch viel spätere, hat das Volk sehr gern auf die Einbrüche der Noma den zurückgeführt: »Die Sagen schreiben dem Attila den letz ten Untergang vieler Helvetischer Städte zu... Zumal weil die viel späteren Ungarn mit Etzels Hunnen verwechselt werden.«3 Wie wir aus der heute lebenden Volkssage vermuten dürfen, wurde von den mittelalterlichen Menschen der »Untergang« der übertriebenen römischen Stadtzivilisation, wie er tatsächlich im 5.—10. Jahrhundert stufenweise stattfand, nicht als »Schrek ken der wilden Horden« empfunden, sondern als Tat der Befrei ung: Sie fühlten sich, wie die Verherrlichung Attilas in deut schen Sagen beweist, den Nomaden der Völkerwanderung nä her als den überzivilisierten, dem widerlichsten Euxus, dem
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Kult ihrer Diktatoren und selbsternannten »Kaiser« verfallenen Bürgern des spätrömischen Reiches. Der Sagensammler Bridel schildert etwa, wie »Ruhe su chende« Nomaden »sich, wie man glaubt, in den Tälern von Visp, Anniviers, Herens, Bagnes niederließen«: Sie »wurden der Ursprung (souche) der Hirtenvölker, die man bis in unsere Tage findet«.4 Im heimatkundlichen Schrifttum findet man sogar Versuche, in den noch immer fremdartig klingenden Ausdrük ken der eigenwilligen Mundarten dieser »Hirtenvölker« Spuren aus hunnischen, iranischen oder slawischen Sprachen zu finden: So z. B. in Worten aus dem Eifischtal im Wallis, wie etwa »lesu« (für Wald), »bera« (Widder), »wodas« (Bach), usw.5 Wie wir aus solchen Überresten bis in die Sagen der Gegen wart und deren Vergleich mit den Chroniken des 15.-16. Jahr hunderts nachweisen können, bezog der Mensch des Mittelal ters seinen Stolz und sein Selbstbewußtsein aus ganz ändern Quellen als sein moderner Nachfahr: Die Talschaften, die sich zur Eidgenossenschaft zusammenschlössen, sahen sich nicht als »ein Volk« — sondern als Nachkommen von Stämmen, die in auseinanderliegenden Zeitaltern einwanderten. Auch die füh renden Geschlechter des deutsch-römischen Reichs erkannten sich als Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Sitten, deren Ahnen ihren Weg durch die Geschichte in verschiedener Weise genommen hatten. Der mittelalterliche Adel besaß darum eine Wichtigkeit, die weit über dessen Rolle in Kriegsdienst und Verwaltung hinaus ging: Er war dank seinen mündlichen Traditionen und Chroni ken fast noch wie die zum Schamanentum neigenden einflußrei chen Geschlechter der Tataren, Mongolen, Tibetaner, Träger der Überlieferung. Die berühmte Chronik der Herren von Zimmern erinnert sich z. B., daß diese einen großen Teil von Europa und Asien durch streift hatten: Im »cimbrischen Chersoneso«, also anscheinend am Schwarzen Meer, sei deren »väterlicher, angeborener erster Sitz und Wohnung« gewesen; von den Skythen (Schytis) seien sie verjagt worden.6
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Sie hätten sich dann in zahllosen Auseinandersetzungen mit »deren Hungern (auch hier werden offenbar Hunnen und Un garn als eine Einheit genommen! S. G.), Gothen, Wenden, Abern (Awaren) und ändern mächtigen Völkern« sehr bewährt6 : Der Adel erscheint hier noch ganz im Sinn der eurasischen Vorgeschichte als der Bewahrer des Wissens der Jahrtau sende, wie man mit ändern Völkern zum gemeinsamen Nutzen in Krieg und Frieden zusammenwirken kann.
Aristokratien und Hirtenwesen »Skythen sind Tartaren« schrieb noch im 16. Jahrhundert in sei ner gewaltigen Weltbeschreibung der belesene Münster, und er war offenbar überzeugt, daß die Grundeigenschaften der krie gerischen Nomadenvölker durch den ganzen Lauf der Ge schichte bis in seine Gegenwart gleichgeblieben waren.7 Wie die Überlieferung aus den Zeiten ihrer großen Khane er zählt, lehnen sie nach ihm noch immer die Zivilisation ab, weil sie ihre ursprünglichen geistigen und leiblichen Fähigkeiten entarten lasse: »Sie achten gar nicht und brauchen auch viel minder fremde Ding, so man ihnen zubringt...« Dies offenbar weil sie befürchten, daß sie »dadurch weibisch und unmännlich möchten werden«7. Durch ihre Grundhaltung »haben sie gerade und wohlgesetzte Körper, und dazu eine sonderliche Stärke...« Darum übertreffen die Völker, »so gegen Mitnacht wohnen«, also die Tataren, Skythen, die Bewohner der wärmeren Mittag-Länder, freilich mit der Ausnahme der Menschen, die der Hirtenkultur treu blie ben: »Es mag sein, daß gegen Mittag Leute auf den Bergen wohnen, und nicht minder stark und gerade von Leib sind als die Mitnächtigen, wie das wohl scheint in den Schweizer Schnee-Bergen.«7 Entsprechend solchen Auffassungen, die noch im ausgehen den Mittelalter und während Renaissance und Reformation von Volk und Gebildeten geteilt wurden, lehrt Sigmund Mei
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sterlin in der »Chronik der Reichsstadt Nürnberg« (1488) von den Hunnen: »Sie sind geblieben und haben das Land besessen von dem Berg, wo (als) der Rhein entspringt, bis an den großen Pregnitzer See, den wir nun Bodensee nach dem Dorf Boden nennen.«8 Der Hauptmann dieser Hunnen, die das Gebirge zu ihrer Fe stung nahmen, habe »Senner« geheißen—was wahrscheinlich ei nen Hinweis auf das Sennentum, also das uralte Hirtentum die ser Menschen, enthalten soll: Er »und sein Volk trieben das Vieh auf den Berg«.8 Ein anderer Hauptmann »hielt das Tal«: »Darnach mochten sie sich nicht vertragen, sondern ein Bruder schlug den ändern zu Tode.« Offenbar haben wir hier die mittelalterlich-deutsche Fassung des Mythos von Kain und Abel, der Spannung zwischen wesensverschiedenen Lebensstilen, den Bauern und Hirtenkrie gern, den Talmenschen und den Bewohnern der für das Vieh ge eigneten Alpen. Der große Chronist Johann Stumpff beginnt sein Werk, damit die Leser besser die Gesetzmäßigkeit und Zusammenhange in den Bewegungen der Völker verstehen, mit einem Überblick über Europa: Die Welt »in den hohen Alpengebirgen«, die we gen ihrem rauhen Klima schwer zu bewohnen sei, vergleicht er mit »Moskovia« — also dem damals noch recht kleinen, mehr oder weniger von den Nomaden ziemlich abhängigen Rußland. Dieses Reich ist auch auf seiner Karte ziemlich bescheiden zwi schen »Tartaria« und »Skythia« eingezeichnet.9 Auch bei diesem Geschichtsschreiber besitzen viele der euro päischen Gebirgsbewohner, die in ihrer Lebensweise mehr oder weniger Hirten geblieben sind, noch immer das freiheitli che und kriegerische Wesen ihrer Ahnen während der Volker wanderungen. Stumpff behauptet geradezu: »Dieweil die ebe nen, fruchtbaren Länder allgemein (gemeinlich) friedsame, ru hige Leute haben, die viel mehr auf die Arbeit und ihre häusli chen Gewerbe, denn auf Krieg gerichtet sind« — seien dagegen aber die Bergleute »Hitze, Kälte, Hunger und Durst gewohnt«. Entsprechend dieser Umwelt, der sie treu geblieben seien, blieb
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Mit den Kalmücken des 18 Jahrhunderts, wie mit den ihnen verwandten Nomadenstämmen des Mittelalters, drangen buddhistisch-indische Vorstellungen m den osteuropäi schen Kulturkreis
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nach dem Verfasser ihr Grundwesen kriegerisch und abenteuerlustig. »So folget denn, daß die beiderlei Völker Europas einander mit gemeiner Wohltat und guten Diensten allzeit dermaßen entgegenkommen, daß die rauhen Streitbaren den Friedsamen mit Waffen, Hilfe, Schutz und Schirm leisten und hinwieder die ändern diesen (also ihren kriegerischen Beschützern!) mit allerlei Früchten und benötigter Ware... zuraten mögen.«10 Im Gegensatz zu den späteren Theorien des »Klassenkampfes«, wie sie in Europa seit dem 18. Jahrhundert zu einem ideologischen Dogma erhoben werden, haben wir hier die Überlieferung von einer liebevollen Beziehung zwischen dem kriegerischen Adel und den Bauern und Handwerkern. Der erstere entstammt offenbar der wilden Völkerwanderung, tritt aber in je dem Land mit den »friedsamen, ruhigen Leuten« in für beide Seiten erfreuliche Beziehung: Er verteidigt (wie wir aus mittelalterlichen Quellen wissen), sich auf Gefolge aus kriegerischen Hirtengegenden stützend, das Volk gegen neue Erobererwellen und erhält dafür die für seinen Lebensunterhalt nötigen Mittel. 10 Das alte Schauspiel »von dem frommen ersten Eidgenossen, Wilhelm Teil genannt« ist bekanntlich eine der ersten und ausführlichsten Quellen der Sage über den kühnen Schützen aus dem Gebirgsland Uri, der sein Land von den fremden Verwaltern und Unterdrückern befreit: Ausdrücklich wird hier am Anfang der Dichtung sein Stamm von den Hunnen und Goten, den Völkern aus »Skythia« (Schythia, Cithia), abgeleitet. Der gedruckten Fassung des Spiels ist sogar ein Holzschnitt eines Königs mit Mantel und Krone beigegeben, des Hunnen Attila, der offensichtlich in der ersten Zeile der Teil-Geschichte erwähnt wird 11 : In den Völkern lebte noch die feste Auffassung, daß man dem stolzen Wesen der Stämme der großen Nomadenwanderungen den Willen zur Verteidigung von Freiheit und Frieden verdanke, für die in der Sage fast bis in die Gegenwart der Schütze Teil das sprechende Sinnbild blieb. 218
Der Ahnenkult der Jugendbünde Die Cimbern sind nach Stumpff von »Skythien (Scythiam), jetzt in die Klein-Tartarey«, gekommen.12 Nicht weniger stolz als die Chronisten von verschiedenen ändern mittel- und sogar westeuropäischen Völkern, schreibt er über seine Landsleute: »Daß aber der Schweizer Ursprung von diesen Cimbriern hergeflossen, gibt gute Anzeigung die alt hergebrachte Sage, so bei ihnen von je und je gewesen, und von einem Alter auf das andere geerbt ist...«12 Die heutigen Leser dieses Chronisten zeigen sich in der Regel enttäuscht, daß er, um diese Stämme der Völkerwanderung zu schildern, nicht diese »alt hergebrac hten« Sagen seines Volkes benützt - sondern die Schilderungen der antiken Schriftsteller über die nordischen und östlichen Barbaren: »Der alten und ersten Cimbrier... Sitt und Gewohnheit war, daß sie ihre Eheweiber mit sich in den Krieg führten, gleich wie in unseren Tagen die Landsknecht. Sie hatten auch etliche Weiber unter sich, die wurden für Priesterinnen gehalten, die konnten weissagen und künftige Dinge verkünden, hatten graue Haare und weiße Kleidung...«13 Nun, hätte der Chronist die gleichen Angaben aus den einheimischen Sagen geschöpft, so hätte er damit das noch vorhandene Hexenwesen seines Landes als etwas Ursprüngliches gepriesen, was während Renaissance und Reformation als eine verdammenswerte Ketzerei galt. Es ist vermerkenswert, daß dort, wo adelige Sippen oder die Bewohner ganzer Hirtengegenden sich als Nachkommen der Skythen, Hunnen, Ungarn, Tataren, Goten, Cimbern, kurz von Nomadenstämmen ansahen, sie sehr häufig überzeugt waren, »daß von diesen trotzigen Ahnen die Anlage zum Weissagen herkommt«14 : Dunkel lebt hier die Erinnerung an die schamanistische Welt der Stämme aus den Zeitaltern Attilas und Djingis-Khans, und häufig erscheinen noch die dadurch geweckten Begabungen, trotz der Verfolgungen »des Hexen- und Zauberwesens« vom 15 . bis 18. Jahrhundert, als etwas Beneidenswertes. Von den Mongolen wird erzählt, daß sie in einen Hügel,
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den sie zum Mittelpunkt und Heiligtum (Obo) ihres Gebiets auserwählten, Waffen steckten, besonders auch ein Schwert15 : Er war für sie ein Abbild des Götterberges Meru, aus dem sie die endlose Kraft ihrer Ahnen ableiteten! Eine Alpensippe — sie sei einst aus dem Norden unter drei Brüdern eingewandert — erzählt noch heute, wie sie ähnlich ihre Waffen im Berg in der Mitte ihres Gebiets eingegraben. Darum zeige ihr Wappen noch immer »einen Dreiberg mit dem Schwert«16. In den gleichen Alpengebieten wird noch vom »eingewander ten Volk der Ahnen« erzählt, das in bestimmten Nächten »heimkehrt ins uralte Heimatland«: »Nicht schrittbreit weicht es dabei von seiner ursprünglichen Straße ab.«17 Wir kennen Leute, die noch in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts ein entsprechendes Erlebnis gehabt haben wollen... Es wird in der Innerschweiz, Hasli, Frutigen, Obersimmental und anderen Alpengegenden erzählt, daß man im 19. Jahrhun dert die fugend verwarnte, »die wilden Feste« in den Alphütten und den einsamen Bergwiesen durchzuführen, weil man sonst »durch das in seine Heimat ziehende Nachtvolk« mitgenommen werden könne. Ursprünglich scheint die Hirtenjugend nicht etwa trotz der abergläubischen Angst vor irgendwelchen Dä monen ihre ekstatischen Alpenfeste durchgeführt zu haben, sondern gerade weil sie sich nach einer Begegnung mit den Ah nen sehnte. Zigeuner, die bei solchen Gelegenheiten in der Schweiz, Bay ern, Savoyen, Norditalien sehr häufig die Musiker (Geiger) stellten, wissen noch sehr sachlich über die Herkunft dieser Ge sichter zu berichten: »Der rasche Aufstieg der fugend in die Höhe, die Erregung durch die erste Liebe, die Stille der Alpum gebung, der Rauch vom offenen Feuer in der Berghütte, die un gewohnt wilde Musik durch den Zigeunergeiger und der ent sprechende Tanz, das bewirkt, daß Traum und Wirklichkeit zur Einheit werden.«18 In diesem Brauch, den die Vorfahren »aus dem Reiche gegen Mitternacht« gebracht haben sollen, empfindet der Festkreis der Jugend die Welt der Ahnen »als immer näher« und sieht auf ein
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Kalmückischer Priester. Der offene Buddhismus der Kal mücken beeinflußte das Denken russischer Sekten bis in den Raum des Schwarzen Meeres
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mal den Zug »ins Heimatland«: also »Männer in Bären- und Wolfsfellen«, bewaffnete Weiber mit zahlreichen Kindern, gele gentlich angeblich sogar das Flackern von Lagerfeuern und »rie sige runde Zelte«.18 Im Umkreis der Nomadenkultur, wie sie sich in abgelegenen Teilen von Europa noch erhalten konnte, lebten also Reste der schamanistischen Seelenhaltung »aus Skythien und Tartarei« bis in die Gegenwart. Wenn aus »Bergfesten« dieser Art auch viel von der abergläubischen Sage um den »Hexensabbat« ent standen sein mag, drückten die Regierungen der Länder mit solchen »Untertanen« gerne ein Auge zu19 : Die gleichen, auf ihre »von den Alten (den Ahnen) stammenden« Freiheiten stolzen Hirtengegenden stellten auch in ganz Europa, wenn man sie nur einigermaßen auf ihren Kuhweiden in Ruhe ließ, die besten Krie ger für die Landesverteidigung und das Söldnerwesen. Die Vorstellung von dem unzerstörbaren Grundwesen jeder Sippe war hier die unversiegbare Quelle der Begeisterung zur Selbstbehauptung. Vom Geschlecht des großen Chronisten Ägi dius Tschudi (der u. a. mit den Freiheitssagen um Teil so stark Goethe und Schiller anregte!) glaubte man, es gehöre zu den äl testen im Lande. Gleichzeitig wußte man aber auch von dessen Einwanderung und verband es mit den östlichen Stämmen der »Tschudi« der russischen Überlieferung. 20 Der Chronist Stumpff, dessen Geschichten über die Völkerwanderung wir er wähnten, sah im Hirtenwesen die ursprünglichen Sitten sehr treu erhalten21 - in seiner Umgebung erkannte er also die glei chen Anlagen wie zur Zeit der Ankunft der Stämme. Von der Überlieferung her war man geradezu überzeugt: »Ein samkeit und Hirtenleben verewigt Gewohnheiten, Sitten, viel leicht Glück. So daß man glauben möchte, die Hirtenvölker würden zur Erhaltung der Würde unserer Natur auf Erden ge lassen, und um entnervte, ausgeartete Völker bisweilen auszu rotten oder zu beherrschen.«22
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Drogen und Technologie aus dem Märchenland Eurasien glaubte an die Wichtigkeit der »Verbotenen Kün ste«: Seine Völker sahen die Möglichkeit von deren Miß brauch im Falle ihrer Verbreitung unter den zumindest »halb blinden« Massen. In den Mythologien der großen asiatischen Religionen, bei hin duistischen Shivaisten, bei Buddhisten und Jainas wandern Sonne und Sternenhimmel in gewaltigen gesetzmäßigen Krei sen um das Göttergebirge im Herzen des Weltkreises, den Meru: Ausdrücklich wird noch heute erzählt, daß die Himmlischen, die Götter, die Devas oder Tengri für ihre Beobachtungen des Kosmos, von denen alle die menschlichen Wissenschaften stam men, gar keine küns tlichen Geräte brauchten, sondern ihre ge steigerten Sinnesfähigkeiten. In der Mitte von Asien lebten Stämme, die durch ihre Wan derungen unter freiem Himmel die Beobachtung seiner Gestirne seit Urzeiten als eine Selbstverständlichkeit besaßen und die die Erkenntnisse darüber zwischen den Zivilisationen vermit telten. Die Ausdrücke der alttürkischen, noch vorislamischen Sternkunde zeigen »Entlehnungen aus dem Chinesischen, Indi schen und Iranischen«1 : In den Jurten der Nomaden begegneten sich offenbar in allen Zeitaltern Wahrheitssucher und zivilisa tionsmüde Flüchtlinge aus allen Weltgegenden. Hier erneuerte sich das ursprüngliche Naturwissen, und aus gemeinsamen Wurzeln entstanden dann durch die Wanderstämme die ver schiedenen Hochkulturen Asiens. Auch das arabische Sprichwort verweist als Ursprung der orientalischen Weisheit auf den iranischen Westen und Norden: Die Wissenschaft wäre demnach ein Baum, »dessen Früchte aber in Chorasan gedeihen«2. Al-Biruni behauptete, daß in vor
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geschichtlichen Zeiten die buddhistischen Reiche von Indien aus sogar Syrien erreichten3 : Aus alten, tatsächlich vorhande nen Verbindungen kommen wohl die Geschichten über die von Gott aus »rauchlosem Feuer« geschaffenen Djinnen im Koran, ein Märchenvolk, das ursprünglich den Devas oder Tengri der eurasischen Urmythen entsprach. Sie hätten »den Himmel be rührt« und dabei versucht, den Willen Allahs zu erfahren4 : Die turkmenisch-usbekische Sage »übersetzte« sogar den Namen Djingis-Khan — als Häuptling dieser Djinnen!5 Die Nachrichten über die Neigung der Nachkommen von Ti mur, die von ihrer mittelasiatischen Heimat von Samarkand aus Indien erobern, zum Bau von Sternwarten und für die astrono mischen Wissenschaften, mögen aus den ursprünglichen Über lieferungen ihrer Vorfahren stammen: Die mogulisch-indische Freude an der Beobachtung des Kosmos, in deren Kreis man die Himmelskörper als lebendig und belebt ansah, half sicher mit, die abendländische Sternkunde während Renaissance und Reformation zu beleben. Noch der französische Astronom Bailly, mit seinem ungeheu ren Einfluß auf die westeuropäischen Gebildeten im 18. Jahr hundert, bewunderte die von ihm über Indien erhaltenen Be rechnungen, die nach ihm gut fünftausendjährige Sternenstel lungen ganz genau angaben: Er prüfte die Angaben der uralten Wissenschaft nach und kam dabei zum Schluß, daß sie ziemlich weit im Norden gemacht zu sein scheinen — auch er sah darum in Tibet, Mongolei, Sibirien die eigentlichen Heimatländer seiner Wissenschaft. Von hier sei sie dann dank Völkerwanderungen nach allen Richtungen, China, Indien, Persien vorgedrungen!6 Aber schon der große fahrende Ritter Theophrastus von Ho henheim (Paracelsus), soll nach seinem tiefgelehrten Jünger van Helmont sein Wissen bei einer Fahrt zu den Moskowiten, zum tatarischen Krim-Khan, erworben haben7 : Auf alle Fälle be hauptete schon er von der Astronomie, sie sei ursprünglich nur den Königen und den Hohepriestern bekannt gewesen, sie stamme aus dem Orient, aus Asien, und ihre weisesten Vertreter hätten stets »im Zentrum« des Weltkreises gewirkt.8
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Die europäischen Zigeuner sehen in den Bewegungen der leuchtenden Gestirne die ewige Entsprechung zum Herumwan dern ihrer Sippen auf dem Erdboden, wobei sie ihre Lagerfeuer im Stammeskreis mit dem Licht der himmlischen Sterne verglei chen.9 Die stark in ihre mystische Astronomie verliebten indi schen Jains, die schon auf die tatarische Goldene Horde Einfluß besaßen und dann von Akbar und ändern Mogulen-Herrschern bewundert wurden, erkennen in den kosmischen Kreisläufen eine Entsprechung zu ewig gleichen Vorgängen in allen Län dern. Wie über dem Meru so auch unter ihm, »dem Dach der Welt«, wiederholen sich in ewigen Zyklen die Aufstiege und Ab stiege der Weltreiche, die Kultur-Zerstörungen und die Erneue rungen des Bewußtseins der Völker durch göttliche Wahrheits bringer10 : Genau wie für die Zigeunersage »das Lesen der Tarot karten«, war auch die Astronomie oder Astrologie nach den Tantrikern im Himalajagebiet eine »königliche« Wissenschaft. Sie diente nicht dem Wahrsagen der kleinen Menschenschick sale, sondern dem religiös-philosophischen Verständnis der Gesetze im Wandel der Welt. Die Tataren des Mittelalters betrieben nach orientalischen Quellen Poesie, Astronomie, Genealogie, Arzneikunde, Berg werkskunde, Alchimie und Wahrsagerei — dies seien die sieben Wissenschaften gewesen, die ihre Bildung ausmachten.'' Vom Khan Toktai hören wir im 14. Jahrhundert, daß er »Idole und Ge stirne verehrte«: »Philosophen und Ärzte standen bei ihm in gro ßem Ansehen...« Er war mit einer Tochter des byzantinischen Kaisers vermählt, und sie und zahlreiche andere Prinzessinnen aus dem schwachen Ost-Rom halfen bei der Verbindung des Abendlandes mit den eurasischen Räumen. 12 Auch die mittelalterlichen Christen schildern am Hof des Groß-Khans 4000 Freiherren und 12 Könige, darunter angeb lich eben sehr viele Christen, und die dort herrschende Begeiste rung für vielerlei Wissenschaften, besonders wiederum für Astronomie und Magie. 13 Auch Roger Bacon wußte, daß diese Herrscher »durch Wissenschaften, die die Menschen über die Zukunft belehren, regieren.«14
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Die gebildeten Christen des ausgehenden Mittelalters und später waren von den Khanen überzeugt: »Sie kennen alle ver borgenen Künste, die niemand anderes kann als sie. Sie lehren diese auch niemandem, außer jeder (etliker) seinem ältesten Sohne... Darum sagen sie, daß sie mit beiden Augen sehen, die christlichen Menschen (nur) mit einem...«15
Die Alchimie des Bewußtseins Als der gelehrte Johannes Weier, ein Jünger des Magiers Agrippa von Nettesheim, die Gesichter und Seelen-Flüge der Hexen zu erklären versuchte, verwies er besonders auf die Drogen-Wissenschaften des Orients, der Türken, Inder und Perser. Unter anderem erzählt er vom Mogulen-Kaiser Babur, »daß er gepflegt habe zu sagen, daß wenn er im Schlaf gern einmal nach Lissabon, Brasilien, Klein-Asien, Arabien oder Persien spazieren wolle, so nehme er nichts anderes, denn nur ein wenig Ban-gue«16. Gerade Weier beweist auf Schritt und Tritt, daß auch in Europa die Wissenschaft der geheimen Pflanzenmittel zur Beeinflussung des Bewußtseins recht verbreitet war. Sie seien, versichert er, »den Erforschern (Erkundigern) natürlicher Heimlichkeiten nicht unbekannt«. Man könne sie »auf mancherlei Gattung zubereiten«, aber es sei besser, darüber keine genauen Angaben zu verbreiten, »damit niemand sie zu mißbrauchen einen Anlaß habe«. Wichtig sei, daß diese Alchimie für den Geist »nicht jedermann kundbar werde«17 . In einer europäischen Schilderung des 17. Jahrhunderts, herausgegeben vom unternehmungslustigen deutschen Morgenlandfahrer Olearius, vernehmen wir vom »Bengi« oder »Benck« als Mittel für Lustgewinn, den man beim Khan von Amadabad genießen konnte: Er besaß davon »von vielerlei Art« in seiner goldenen Apotheke, und die Droge war »ein Pulver von Hanfblättern und -samen bereitet«. Sie sollte, »wie sie (also die asiatischen Fachleute) sagen, die Natur zum Venus-Spiel gewaltig
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stärken, wird auch in Persien von geilen Leuten sehr viel ge 18 braucht« . Der Gewährsmann hatte aber, zumindest nach seinen schriftlichen Erinnerungen, einen Schrecken vor der ganzen, of fenbar mit der Zauber-Apotheke verbundenen Festkultur von Amadabad: Es seien dort zwar »die schönsten Tanz-Weiber zu finden«, die (auch ein sehr wichtiger Hinweis auf die ganze eu ropäische Reiserei in die indischen Mogulen-Reiche!) »auch den Deutschen und Engländern sehr zugeneigt (affectionie ret)«. Aber es sei nun einmal für einen Christen gefährlich, mit den »Heidinnen« näher zu tun zu bekommen. 19 Doch die Reisenden, die besonders über die noch immer von indischen Händlern überlaufenen »Tataren-Städte« Kazan und Astrachan in das Morgenland der Märchen vorstießen, sehnten sich nicht nach phantastischen Seelenreisen in ferne Welten in Begleitung der Liebes-Tänzerinnen der MogulenKhane. Wie uns u. a. der gleiche Erforscher der Verbindungen nach Asien, Olearius, erzählt, beschäftigten sie viel mehr die in Europa unbekannten Drogen von grundverschiedener Wir kung. Da war nun einmal das Mittel »Tee« oder »Tzai« — Tschai schreiben noch heute die Russen, die es unmittelbar von den Ta taren erhielten. Nach den Auskünften, die Olearius bekam, ver trieb es die Feuchtigkeit im Leib, durch die »der Mensch träge und schläfrig wird«. Auch dieser Reisende lehrte: »Einer der dies (Tee-)Wasser fleißig gebrauchet, soll etliche Nacht munter und wachsam ohne Beschwerung des Schlafes sitzen und Kopf arbeit mit Lust verrichten können.«20 Im Jahr 1638 fand der Tee, durch das Geschenk eines Mongo lenkhans an den Zaren, in Rußland Eingang, und der tatarisch russische sog. »Karawanentee« wurde dadurch für lange Zeit den Europäern viel wichtiger als der, den sie mit Schiffen erhal ten konnten: »Nicht ohne Grund, denn bei dem viele Monate dauernden Seetransport im dumpfen Lagerraum teeriger Segel schiffe mußte das Aroma des Tees stark leiden.«21 In seiner Dissertation über die »neue« Droge behauptete der
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Die Frauenhygiene m den öffentlichen Badern der türkisch tatarischen Welt im Balkan und um das Schwarze Meer (Krim) erschien vielen europäischen Beobachtern des 18. Jahrhunderts vorbildlich
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Arzt M. P. Morisset, daß der Tee die Intelligenz steigere und vor allem die Wirkungen der Nachtschattengewachse beseitige, die Weier und andere als das wichtigste Rauschmittel der Hexenbunde bezeichneten... Doch die Universität von Paris wollte damals offenbar nichts vom Drogenwechsel wissen — sie ließ 1648 die gelehrte Verherrlichung des Tees den Flammen übergeben!22 Olearius kannte bei den Türken und Persern noch einen än dern in seiner Heimat unbekannten Genußstoff: Er schildert dieses »heiß schwarzes Wasser«, das diese »Cahwae« oder »Kahawe« nannten. Wer sich daran gewöhne, behaupteten die erfahrenen Asiaten, der vergesse von der Liebe zum ändern Geschlecht, bekomme »vor dem Beischlaf einen Ekel«. Bei »übermäßigem Gebrauch« vertilge diese Droge, Kaffee, »die fleischlichen Lüste«23. Doch gerade diese Gegnerschaft gegenüber einer erotisch sinnlichen Kultur erschien dem Abendlande, das sich nun einmal durch eine rationale, verstandesmäßige Zivilisation wegzuentwickeln trachtete, an den neuen Drogen wünschenswert. Vom Kaffee hatte schließlich auch der Türkei-Reisende Pietro della Valle, ebenfalls in diesem 17. Jahrhundert der großen Umbrüche, behauptet: »Auch sagt man, daß nach dem Abendessen dieser Trank das Einschlafen verhindert. Und deshalb lieben ihn die Leute, die in der Nacht studieren wollen.«24 Die orientalische Überlieferung behauptet, daß MogulenFürsten aus dem Geschlecht von Djingis und Tirnur sich entsprechend ihrem Sternenglauben jeden Wochentag nicht nur verschieden kleideten und sich mit verschiedenen Angelegenheiten abgaben, sondern auch verschiedene Wirkstoffe zu sich nahmen, die in ihnen auch verschiedene Seelenkräfte beschworen: Das Abendland wollte seit dem 17. und 18. Jahrhundert keine Kunst der Phantasien mehr, sondern vor allem Weckstoffe, die seinen Menschen eine vermehrte Herrschaft über die Umwelt ermöglichten. Ebenso einseitig wurden nun die ändern Kulturgeschenke benutzt, die über die Tataren- und Turkenreiche zugänglich wurden.
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Entwicklungsland Europa Der gesellschaftliche Zerfall der östlichen Reiche unter den »ta tarischen« Hirtenkriegern erzeugte am Ende des Mittelalters ge radezu eine Überschwemmung des Westens durch fahrende Weise und Spielleute von vielgenanntem Wissen. Von den Tata ren lernten die Russen die Kunst des Destillierens, damit der Schnaps-(Wodka-)Bereitung: Man trank, entsprechend der Herkunft des Getränks aus einer Kultur voll Liebe zu ekstati schen Getränken, nicht mäßig und regelmäßig, sondern an Festtagen elementar25 : Bis man sich, wie mir noch russische Zi geuner in Paris sagten, als Bestandteil des breiten Lebensstroms (schirokoi reki schizni) fühlte. Bei den großen alchimistischen Erfindern oder Wiederfin dern, Paracelsus, Faust, dem Basler Thurneysser, finden wir un zählige Hinweise auf ihre Berührungen mit den Fahrenden aus dem eurasischen Osten. Noch Johann Friedrich Böttcher, dem Europa das Geheimnis der chinesischen Porzellanherstellung verdankt, hatte als Lehrer einen geheimnisvollen Wanderer »Laskaris«, der aus dem türki schen Reich geflohen sein soll26 : Es ist möglich, daß er durch ihn auch das ostasiatische Rezept erhielt. »Die meisten der Erfindungen, die das Ende des Mittelalters bedeuten, waren schon seit Jahrhunderten bei den Asiaten ver breitet.« Dies lehrte A. Remusat und fand in der ersten Hälfte 27 des 19. Jahrhunderts zahlreiche Bestätigungen. Er erwähnt die Polarität des Magneten, die auf alle Fälle in China seit sehr fernen Zeiten beobachtet und benützt wurde. Die alte Chronik der Könige des Kaschmir enthält übrigens die Sage, daß auch diese geheimnisvolle Kraft von den asiatischen Weisen vor allem zur Darstellung des göttlichen Wunders der Schöpfung verwendet wurde: Ein Bild des Gottes Vishnu soll in einem Tempel in die Spannung der Energien von zwei Magneten so geschickt gebracht worden sein, daß es scheinbar völlig frei in der Luft schwebte.28 Als weiteres Beispiel muß man die »Rechenmaschine« er
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wähnen, den »Zählrahmen« (Abakus), diesen volkstümlichen Ahnen unserer Elektronenhirne: »Er wurde ohne alle Zweifel nach Europa durch Batus Tatarenheer gebracht.« Diese »Rechenmaschine« war dann so sehr in Rußland und Polen verbreitet, »daß die Frauen des einfachen Volkes, die nicht lesen können, damit die für ihren Haushalt und den Kleinhandel notwendigen Rechnungen ausführen«29 . Selbstverständlich gehören in diese Liste auch die Schilde rungen von Sprengstoffen und den Möglichkeiten, sie abzu schießen und zu schleudern, wie sie z. B. der Sanskritforscher Brunnhofer bereits in den Darstellungen der urindischen Veden fand: Wahrscheinlich übertrieben, kennen ihre Wirkungen auch die Epen über die Taten der göttlichen Helden Krishna und Rama, also Mahabharata und Ramayana. 30 Die Chinesen besaßen anscheinend schon im 10. Jahrhundert ihre »Blitzwagen«, die Kanonen oder auch Geräte zur Fortbewegung von einer Art Raketen gewesen sein mögen. Der Djingi-side Hulaga, der gegen Persien zog, hatte in seiner Armee bereits eine ganze chinesische Artillerie-Abteilung. Die Tataren, die in den Zeiten des Friedrich von Hohenstaufen unter Khan Batu in Europa vordringen, besitzen eine Art feuerspeienden »Zauber«: Auch hier sieht Prawdin den eindeutigen Hinweis auf eine Art von Geschützen. 31 Geheimnisvolle »Ungarn und Zigeuner« üben am Ende des Mittelalters im Abendland bei der Herstellung von Geschützen und Feuergeschossen ihr kriegerisches Kunsthandwerk aus: Islamische Türken und christliche Herrscher werben sie gleichermaßen an, um ihren Heeren die ersehnte Schlagkraft zu geben. Neuerdings wird in indischen Geschichtsbüchern behauptet, daß diese türkisch-ungarischen Zigeuner sogar im 16. Jahrhundert offenbar noch immer »eine vollkommenere Kenntnis der Herstellung von Artillerie besaßen als die westeuropäischen Rassen« 32. Nach den kurz erwähnten Zigeunersagen handelt es sich um Stämme von Schmieden und Handwerkern, die sich nach der Auflösung der Reiche von Djingis und Timur nach dem Westen 231
begaben: Erst die Massenherstellung ihrer uralten Kampfge räte gab dann im 18. Jahrhundert den europäischen Mächten das Übergewicht über die Ursprungsländer der übernomme nen Erfindungen. Wir wissen heute, daß der Buchdruck sehr früh im buddhisti schen Kulturkreis verbreitet war. Ein solches Werk wurde z. B. im Gebiet von Kansu gefunden, und es stammt aus dem Jahr 868. Als Gedenken für seine toten Eltern hat es ein Herr Wang Chieh »zur freien Verteilung an die Allgemeinheit« vervielfälti gen lassen: Dies ist noch heute ein lebendiger Brauch der Vereh rung für die Vorfahren in den buddhistischen Ländern. Mit der großzügigen Verbreitung des gedruckten Wortes der religiösen Wissenschaft glaubt man hier die gute Erinnerung an die eige nen Verstorbenen im ganzen Volk zu beleben und diesen mit diesem »Opfer« zu nützen.33 Ein moderner Buddhist verwies 1968, zum 500. Todestag des »ersten europäischen Buchdruckers Johann Gutenberg«, auf eine von diesem vervielfältigte Bibel, erschienen in Mainz 1454: Sie zeigt als Schmuck der Sprüche des Königs Salomo ei nen jungen Mann, der nach Bekleidung, dem Aussehen, der seg nenden Gebärde seiner Hand ganz und gar einem buddhisti schen Mönch, einem Bhikku gleicht.33 Wie wir am Anfang des Kapitels lasen, glaubten die Khane von der Goldenen Horde in Rußland bis zu den mongolischen Ländern von China und die »Länder von Groß-Indien« an die Wichtigkeit der »verbotenen Künste«: Sie sahen die Möglich keit von deren Mißbrauch im Falle ihrer allgemeinen Verbrei tung unter den zumindest »halbblinden«, »nur einseitig, auf ei nem Auge sehenden« Massen. In den Büchern des 19. Jahrhunderts wird diese Geheimwis senschaft, von der christliche, islamische und chinesische Nach richten zeugen, meistens »als mittelalterlicher Aberglaube« ver spottet: Zumindest wenn diese Veröffentlichungen nicht aus den esoterisch-aristokratischen Kreisen um die Morgenlandfah rer Graf St. Germain oder Helena Blavatsky stammen. Wir kennen heute diese gehüteten »Geheimwissenschaften«
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— dies sind eben u. a. die Chemie der Sprengwirkungen, die Technik des Drucks, die Drogen- und Destillierwissenschaft usw. Ob einige dieser uralten Erfindungen von Eurasien, die die Tibetaner, Mongolen und Nepal-Stämme für die Geschenke des Schamanengottes Shiva (Mahakala) halten, wirklich in die Hände von jedermann gehörten? Darüber streiten sich seit der Renaissance die Kultur-Philosophen.
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Skythische Sehnsucht Der wache Teil jeder europäischen Generation, die unter dem Alpdruck des Materialismus leidet, sucht einen Weg »zum Urwissen im Morgenland«. Der Fortschrittstaumel seit dem 18. Jahrhundert, der zuerst ein mal zu Versuchen der Gleichschaltung des Lebensstils und einer wachsenden Verachtung der einheimischen Überlieferung führt, erzeugt den Traum von einer Flucht in die Urzeit: Die Ro mantiker träumten, dazu vor allem die neuentdeckten indi schen Quellen verwendend, von der patriarchalischen Urge meinschaft, da der Mensch noch im Kreis seiner Sippe »mit Gott reden konnte«. Fabre d'Olivet, von den dogmatischen Ideologien im Umkreis der Französischen Revolution enttäuscht, dichtete über den Ursprung der Geschichte »vom Reich Ramas«, des göttlichen Helden (und nach dem Hinduismus die Menschwerdung des Weltengottes Vishnu), das angeblich schon viele Jahrtausende vor Christus die europäischen und asiatischen Völker zu einer Gemeinschaft in Gerechtigkeit geeint haben soll: Dieses »RamaReich«, so glaubten es von da an viele französische, englische, nordamerikanische Okkultistenschulen, soll in allen Träumen und Philosophien von einem einigermaßen glücklichen Zusam menschluß der Völker fortleben.' Rußland, das Asien und Europa verband, erschien dem ebenso gelehrten wie phantasievollen Saint-Yves d'Alveydre voll der Erinnerungen an das Weltreich Ramas (l'antique empire ramide), genau wie er dessen Fürstengeschlechtern ihre viele Jahrtausende (!) alten Stammbäume und die dazugehörenden Überlieferungen glaubte: »Das tiefreligiöse Gefühl der russi schen Volksmassen, ihr Sinn für die okkulten Wissenschaften, ihre Sprache, ihre Legenden, ihre Zukunftsschau (leurs prophe ties), ihre hermetischen Deutungen, die gewisse ihrer Religions
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gemeinschaften von den heiligen Schriften hüten - dies alles enthält Hinweise auf geistige und gesellschaftliche Bindungen mit Asien.«2 Nicht nur die russischen Völker leben für die westeuropäi schen Okkultisten des 19. Jahrhunderts in einer Umwelt voll der erhaltenen Überlieferungen über einstige Kulturverbindungen: »Noch heute ist es wertvoll zu beobachten, daß ein irischer Bauer und ein oighurischer Tatare sich verständigen können...«3 Die keltischen Völker der westeuropäischen Küsten, die der Gleichschaltung durch die Einheitszivilisation widerstehen konnten, sind für ihn deutlich Brüder der Stämme Mittel asiens, die die Ursprünglichkeit ihrer Glaubenswelt und ihrer Bräuche bewahrten. Auch d'Alveydre ist übrigens mit seinem Vorläufer, dem schwedischen Seher Swedenborg überzeugt, daß auf den Hoch ebenen des Tatarenlandes (sur les plateaux de la Haute-Tartarie) die echten verlorenen Bücher der ursprünglichen Heiligen Schrift aufzufinden seien:4 In einer Sicht dieser Art sind schon für Fahre d'Olivet der Volkskern der Kelten und Germanen im Westen — und die Ujgu ren und Tataren im Osten - Vettern, die im großen Spiel der Welt geschichte immer wieder zusammenwirken müssen: Ihre Über lieferungwisse um die gleichen Ahnen, die mit dem Göttlichen re den konnten, und schon in der fernsten Urzeit hätten sie von Eu ropa bis Iran und Indien ihre gemeinsamen Reiche errichtet—my thische Vorbilder der geschichtlich erfaßbaren Eroberer... 5 Die wichtigste Gestalt in der Wechselbeziehung zwischen den Schulen der westlichen und östlichen Geheimwissenschaft wird dann die ekstatische Frau Helena von Hahn, mit ihrem verwir renden Geflecht russischer und deutscher Verwandtschaften: Ihre Gesichtszüge nennt sie gelegentlich selber »kalmückisch 6 buddhistisch-tatarisch«. Ihre verrückte Lebensgeschichte faßt so ziemlich alles zusam men, was wieder unsere Gegenwart mit ihren Jugendbewegun gen zwischen Kalifornien und Katmandu erlebte. Sie heiratet »siebzehnjährig« (und aus eigenem festen Willen!), um die
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Möglichkeit für ein »ungehütetes« Dasein zu finden, den be jahrten zaristischen General Blavatsky. Sie flieht dann schon in der Hochzeitsnacht in die Türkei. Dann macht sie so ziemlich al les mögliche und unmögliche: Sie tritt im Zirkus, entsprechend ihrer Kindheit in der Ukraine mit roßkundigen Kosaken und Zi geunern, als Reitkünstlerin auf. Oder sie beteiligt sich in Män nerkleidern bei den Feldzügen Garibaldis und wird dabei ver wundet. Sie stößt, offenbar neugierig nach Tantrismus und Drogenmy stik, nach Nepal und Tibet vor. Wie einige Hippie-Philosophen der Gegenwart lehrte sie schon über 100 Jahre früher: »Ha schisch vertausendfacht unser Leben. Meine unter dessen Ein fluß erlebten Erfahrungen (my experiences) sind mir ebenso wirklich wie die gewöhnlichen Geschehnisse meines Daseins in der Gegenwart... Ich habe die Erklärung dafür. Es handelt sich dabei um ein Wieder-Einsammeln meiner früheren Leben, meiner vorangegangenen Verkörperungen.. .«7 Gleichzeitig etwas wie eine letzte Schamanin Eurasiens und die erste Hippie-Frau der Zukunft, erschütterte die deutsch-rus sische »Kalmückin« alle Gebildeten eines Jahrhunderts, die ge genüber einer materialistischen Zivilisation fröstelten. Vor al lem durch ihren Einfluß wird es erklärlich, daß in der ZarenHauptstadt Petersburg, wenn der Morgenlandfahrer Ouspensky 1915 über die Mystik und Magie von Indien redete, »über tau send Menschen« in einer Riesenhalle jeder solchen Veranstal tung beiwohnten.«b Ein alter Mann, der noch vor dem l. Weltkrieg im Tessin all die deutschen und russischen Wahrheitssucher erlebt hatte, be hauptete um 1956: »Der wache Teil jeder europäischen Gene ration, die unter dem Alpdruck des Materialismus und der rück sichtslosen Klassenkämpfe leidet, sucht einen Weg zum Urwis sen im Morgenland.« Wenn wir zumindest mit dem Suchen der Kreise um Fahre d'Olivet während der Französischen Revolu tion und den Feldzügen Napoleons beginnen, können wir für eine solche Lebenserfahrung unzählige Bestätigungen finden.
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Schamanistisch-buddhistischer Kultur-Untergrund Als der katholische Missionar Huc noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die schamanistischen und buddhistischen Nomadenvölker von Asien besuchte, fand er unter deren gebildeter Oberschicht eine sehr bemerkenswerte Zukunftsschau verbreitet: Sogar die Länder von Tibet würden demnach künftig von den Chinesen überschwemmt werden, doch auf dieses Ereignis erfolge ein elementarer Aufstand der einheimischen Stämme. 9 Die Bruderschaft der Kelans werde ihn vorbereiten und auch zum grenzenlosen Siege führen. Dank der guten geistigen Rüstungen werde der kriegerische Buddhismus jeden Damm des Unrechts niederbrechen und sein Reich begründen: »Tibet werde erobert, dann China, darauf die Tartarei, zuletzt das weite Reich der Oros (der Russen).« Der lamaistische Buddhismus würde dann zum Glauben der weiten Welt. 9 Solche Prophezeiungen wurden, wie man mir mehrfach er zählte, noch im gleichen Jahrhundert bei den Gebildeten des weiten Zarenreiches wohlbekannt: Man behauptet wiederum, wegen der Vermittlung durch die nach Westen vorgeschobenen Kalmücken — die ja tatsächlich immer noch zu ihren Glaubensbrüdern in Tibet und Mongolei gute Verbindungen unterhielten. Der einflußreiche russische Philosoph Wladimir Solowjew bekämpfte aus diesem Grunde die sich unter der russischen Ge-bildetenschicht rasch ausbreitende Theosophie der Helena Bla-vatsky. Er fand, es bestünden genügend Gründe zur Behauptung, daß diese Bewegung (die mit unzähligen aristokratischen Klubs das ganze Reich überzog!) »nicht ohne Einwirkung des nördlichen Buddhismus erfolgte«. 10 Auch er redete von geheimnisvollen mythisch-kriegerischen Bruderschaften, die, von Mongolei und Tibet aus, die Welt für ein neues Zeitalter vorbereiten. Ein entsprechender »warnender« Aufsatz von seiner Feder erschien in russischer Sprache schon 1892 und hatte einen bedeutenden Einfluß.10 237
Sehr wichtig ist für jeden Erforscher des Zeitgeistes unserer unmittelbaren Gegenwart das Werk von Alexander Blök, den die Russen als ihren bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts ansehen: Um seine Dichtung zu deuten, haben sie, von den Mar xisten in der Sowjetunion bis zu den zaristischen Flüchtlingen zwischen Paris und Kalifornien, eine umfangreiche Bibliothek hervorgebracht... Aus einer aus Mecklenburg ausgewanderten, geadelten, mit vielen der gebildetsten Gutsbesitzer-Sippen verwandten Familie stammend, faßte er bis zu seinem Tode während der Revolu tion Lenins (1921) die Stimmungen der unruhigsten Schichten seiner Zeit zusammen: Ob sie sich nun um die Zigeuner-Musi ker in den wilden, sozusagen noch aus Tagen der Tatarenherr schaft stammenden Kaschemmen trafen oder in den Debattierzirkeln der »Intelligenzia«. (In beiden Fällen waren es häufig die gleichen Leute...) Rußland war diesem Dichter einfach der klingende Name für die ewige Auseinandersetzung zwischen den Kulturen durch alle Zeiten und Räume hindurch. Rußland ist ihm der Bereich der ewigen Begegnung der »Veduny« und »Voroscheij« -- also der Magier und Hexen der von ihm seit der Kindheit geliebten Feenmärchen des Volkes. Rußland ist für ihn dort, »wo die Völ ker mit den verschiedenen Antlitzen« durch alle Jahrhunderte »ihre nächtlichen Reigen tanzen, beschienen vom Brand der flammenden Dörfer«.11 Wenn er die Schlacht auf dem Kulikowo-Felde besingt, wo sich die Heere des Fürsten Dimitri mit denen des Khans Mamai trafen, dann erklärt er in einer Anmerkung wörtlich, diese Ge schichte habe für ihn »symbolischen« Wert: »Solchen Ereignis sen ist es gegeben, sich zu wiederholen. Ihre Auflösung ist noch in der Zukunft.«12 Zusätzlich erklärte er noch in seinem für die allgemeinen Stimmungen vor Weltkrieg und Revolution entscheidend wich tigen Vortrag »Das Volk und die Intelligenzia« (1908): »Über den Städten steht ein Dröhnen (gul), das auch das geübte Ge hör nicht zu verstehen vermag. Das gleiche Dröhnen umgab
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Bis ins 19. Jahrhundert zogen die kalmückischen Häupt lingssöhne und Priester aus Rußland zu den für sie lebens wichtigen Einweihungen in den Heiligtümern von Tibet und der Mongolei
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nach der Sage auch das Tatarenlager in der Nacht vor der Kulikowo-Schlacht.« Ähnlich wie in den Schicksalszeiten der Vergangenheit lärmen nach ihm wieder die Enten und Schwäne auf dem Flusse.13 Er dichtete, indem er sich an alte Sagen erinnerte und in ihnen bewußt die Zukunft ankündigte: »Ich höre das Lärmen der Schlacht und den Schrei der Tataren-Hörner. Ich sehe in der Ferne über Rußland den ausgebreiteten und stillen Brand.«14 Verzweifelt über die Schrecken der von ihm geschauten und verkündeten Übergangszeit schrieb er nieder: »Ewiger Kampf, die Ruhe ist nur ein Traum...«: »Unser Weg«, also das ewige Schicksal, da sei »der Pfeil der wilden tatarischen Freiheit, der uns die Brust durchbohrte«. 15
Wahrheitssucher und Fahrendes Volk Kurz vor seinem Tode schrieb Alexander Blok, während der Weltuntergangszeit von Krieg und Revolution, seine wohl be rühmteste Dichtung »Die Skythen«, (1918). Und nochmals kann man seinen Tagebuchaufzeichnungen, genau wie den mündlichen Aussagen seiner Zeitgenossen entnehmen, daß für ihn das »Dröhnen« im Volke, aus dem er Vergangenheit und »Zukunft« heraushören wollte, eine innere Wirklichkeit war — ähnlich wie in den Schilderungen der Schamanen über ihre Gesichte. »Schrecklich ist der Lärm, der in mir und um mich heran wächst«, stellt er fest. Ausdrücklich fügte er bei, es handle sich bei seinen Wahrnehmungen um die gleiche Anlage, die Rudolf Steiner kannte (der Begründer der aus der Theosophie Bla vatsky hervorgegangenen Anthroposophie!). Um diese Bega bung, die offenbar in unserem Jahrhundert wieder auferstehe, verschwinden zu lassen, sind nach ihm auch »die Aufrufe zum geordneten Familienleben und zum rechtgläubigen Kirchen christentum (prawoslawiju) entstanden«.16 Bezeichnenderweise schrieb dazu Blök als Motto über sein
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berühmtes Gedicht, das man allgemein als sein Vermächtnis anschaut, einen Ausspruch des erwähnten Blavatsky-Gegners W. Solowjew: »Pan-Mongolismus! Auc h wenn der Name er schreckend ist, so kost er doch mein Gehör.«17 An die russischen und westeuropäischen Angehörigen der technologischen Zivilisation, die alles für berechenbar halten und die »die stählernen Maschinen« verehren, richtete er seine Worte als Vertreter des ewigen Skythentums: »Was für euch Jahrhunderte sind, das ist für uns eine einzige Stunde.« Alle Grundlagen, die sich dann in der europäischen Ge schichte zu Gegensätzen entwickelten, seien noch im Wesen der Skythen gleichzeitig enthalten, und diesen gehöre darum in der Weltgeschichte das Wort der letzten Entscheidung: »Wir lie ben alles - die Glut in den kalten Zahlen und die Gabe der göttli chen Gesichter. Alles ist für uns begreifbar - die Schärfe der französischen Vernunft und der dunkle Genius der Germa nen...« Alles ist noch im Skythentum vorhanden: »An alles erinnern wir uns - an die Hölle der Gassen von Paris und die labende Kühle von Venedig. An den Duft der Citronenhaine und die ver rauchten Gebäude von Köln...« Es werde eine Zeit kommen, da die Völker von Eurasien nicht mehr ein Schild »zwischen Asien und Europa« sein wollen und sich dann zwischen der Maschinenwelt des Westens und der Welt »der wilden Mongolenhorde« anders entscheiden als letzt mals. Es gebe künftig nur einen Ausweg aus den Schrecken ei nes Zivilisations-Unterganges, wie ihn einst das Zeitalter der Hunnenzüge sah: »Das lichte Fest der Bruderschaft, zu dem die Leier des Barbaren ruft.« Alexander Blök, deutsch-russischer Aristokrat wie Helena von Hahn, war einer der tiefsinnigsten Kenner der europäi schen Kultur, wie z. B. seine vom provenzalischen Minnesang angeregten Dichtungen beweisen. Was er unter der aufsteigen den »Barbarei« des Skythentums verstand, war ganz sicher nicht eine Roheit ohne Bildung: Wie bei den wesensverwandten Stämmen der Völkerwanderung, die vom Schwarzen Meer bis
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nach Nordafrika die Städte der entarteten römisch-griechi schen Zivilisation dem Niedergang weihten, glaubte er bei den noch dem uralten Nomadentum nahestehenden Rassen von der Ukraine bis zur Mongolei das ursprüngliche Empfinden und da mit die entsprechende schöpferische Energie für Kunst und All tag zu entdecken: »So lieben, wie unser Blut uns zu lieben die Fähigkeit gibt, liebt niemand von euch seit langem: Ihr habt vergessen, daß in der Welt die Liebe ist...« Dies schreibt er aus drücklich an die Menschen einer Zivilisation in West und Ost, die nicht mehr den Rausch der Ekstase, sondern nur noch die Be rechnung kennen.17 Die Revolution 1917—1921, während der Blök die künftige Wiedergeburt des Skythen-Bewußtseins besang, offenbarte, wie häufig die Menschen eines verwandten Denkens waren. Ossen dowski, der nach seinen Abenteuern unter Schamanen und Buddhisten unentwirrbar Dichtung und Wahrheit mischte, schilderte auch Lenin als einen neuen Djingis-, Timur-, GaldanKhan. Entsprechend den Sagen, wie sie damals tatsächlich sehr verbreitet waren, ließ er ihn in einem seiner Bucher zu den Ar beitern reden: »Der Vater — ein Kalmücke, aus Astrachan... Von den Kalmücken habe ich... das Unterfangen, eine neue Welt auf den Ruinen und Friedhöfen der alten zu errichten.«18 Und wir haben auch, wiederum aus dem Jahr 1918, als Blök in einem schamanistischen Zustand den Bund der Skythen und Mongolen schaute, die Worte des ebenfalls sehr einflußreichen Dichters Welemir Chlebnikov zur Gründung einer Volksuni versität im gleichen Astrachan: »Man war der Meinung, daß sich an der Wolga-Mündung die großen Weiten Rußlands, Chi nas und Indiens treffen und daß hier der Tempel der Erfor schung der menschlichen Rassen und Erbgesetze gebaut werden würde, um durch Kreuzung der Stamme eine neue Menschen rasse von künftigen Besiedlern zu erschaffen. Die Untersuchung der indischen Geschichte wird daran erinnern, daß Astrachan — das Fenster nach Indien ist.«19 Träume über die mythischen Reiche der Skythen, Chazaren und Tataren wirbelten hier nochmals empor, jedesmal verstan
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Die Kalmücken und die wesensverwandten eurasischen No maden besaßen bis ins 20 Jahrhundert richtige »Tempel-Jur ten« bewegliche Aufbewahrungsorte der Götterbilder, heili gen Bucher, Musikinstrumente
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den als die Sehnsucht nach einer Kultur, die dem Menschen des abendländischen Westens wieder die Verbindung zu den Schätzen von Asien schenkt: Die Niederlage dieses Dichtens und Denkens gegenüber den Ideologien eines materialistischen Massenzeitalters scheint sich als vergänglich zu erweisen. Die Stammesweisheit überlebt in den Herzen der Völker. Schon heute werden die Kerkermauern jedes Totalitarismus von den neuen Träumen und Hoffnungen aufgelöst.
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Vom Mythos zum Massen-Aberglauben In den materialistischen Zivilisationen des 19. Jahrhunderts zerfielen die Reste der großen Mythen zu einem blutigen Aberglauben für die Massen, die selber jede lebendige Über lieferung verloren hatten. Sozusagen bis in das 18. Jahrhundert ist Westeuropa ein Ent wicklungsland, das die köstlichen Gewürze, Kunstwerke, Güter Eurasiens teuer genug bezahlt. Es ermöglicht damit der Oberschicht des Morgenlandes eine unvorstellbare Pracht dessen Landvolk immer noch eine vielbeneidete Wohlhabenheit... Die Häuptlinge der Nomadenkrieger von Krim, Türkei, Mittelasien, Iran, Indien, Mongolei und Mandschurei sind zwar meistens zerstritten, ahnen aber noch häufig ihre große Gemeinschaft in Herkunft und Kultur. Erst nach dem Fall der Krim und dem Vorstoß der Zaren zum Schwarzen Meer, dem Niedergang des innerlich zerstrittenen Mogulischen Kaiserreichs von Indien wendet sich, wie wir sagen, die Lage. Doch seltsam: Je mächtiger der Aufstieg der Macht der industriellen Zivilisation des Abendlandes wird, desto krankhafter wird deren Angst vor einem Gegenstoß Asiens, vor der später so bezeichneten »Gelben Gefahr«. Es scheint, als wäre in diesen Schlagworten viel schlechtes Gewissen der Europäer gegenüber der Kultur der Sippen und Stämme, die sie nicht nur in den anderen Erdteilen, sondern auch in ihrem un mittelbaren Umkreis immer mehr unterdrückten. Eine gewisse bange Furcht vor einem erneuerten Vorstoß der tatarischen Nomadenhorden erfüllt schon in der Aufklärung das Werk von Rousseau.1 Ein den Forschungen nach gefälschtes Testament des Zaren Peter des Großen, also ausgerechnet des Herrschers, der sein Land rücksichtslos »europäisierte«,
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berichtet als Plan, das Abendland mit Nomadenvölkern über 2 schwemmen zu wollen. Dieses »Testament« spielt anscheinend eine gewisse Rolle in der Französischen Revolution und in den Tagen von Napoleon, der bekanntlich versuchte, die europäi schen Staaten unter seiner Oberhoheit gegen die »östlichen Bar baren« zu vereinigen. »Politiker pflegen sich gewöhnlich auf das Testament Peters des I. zu berufen...«, schrieb auch Karl Marx 18533, und so blieb es noch während des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Von russischen Truppen, die 1790 während der Französi schen Revolution in der Gegend von Zürich waren, wurde er zählt, daß sie Fliegenpilze suchten und aßen4 : Es ist umstritten, ob sie tatsächlich noch öffentlich solchen Bräuchen dienten oder nur die Gegenpropaganda sie als Anhänger von dämo nisch-schamanistischen Überlieferungen darzustellen ver suchte. Charles Fourier, der ebenfalls während der Französischen Revolution und Napoleon sein kommunistisches Weltbild ver trat, empfiehlt die Veränderung der Gesellschaft als die einzig mögliche Rettung gegen eine neue Völkerwanderung: »Die In dustrie hat in Europa einige Fortschritte gemacht - verlor sie da für aber nicht in Asien riesige Gebiete?«5 Sogar den Indern werde durch das Ungeschick der Engländer ihr Landbau verlei det: »Sie schließen sich den Mahratten an, deren Horden schon ein mächtiges Zentrum von Tataren im Herzen der Mongolei bilden.« »Die Horden greifen täglich auf die Kultur Asiens über und quellen mehr und mehr über ihre natürlichen Grenzen, die Ge birgskette, die sich von Buchara bis China erstreckt. Selbst vor unsern eigenen Pforten taucht die Horde überall in der Türkei auf... Durch die Vermischung mit den Tataren sinkt die soziale Verantwortung... Sie (die unzufriedenen Stämme vom damals noch >türkischen< Balkan bis vor die Tore von Peking!) lassen weite Gebiete brach liegen und laufen mehr und mehr der Horde zu. Für die Zivilisation ist diese Horde ein Vulkan, der ständig droht, sie zu verschlingen, eine Seuche, die neu ausbricht, kaum
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daß man sie erstickt glaubte, und die neu wieder auftritt, wenn 5 man aufhört, sie zu behandeln.« Alle Probleme der Politik müsse man aus diesem Grund auf ein einziges zurückführen: »Wie finden wir eine neue Sozial ordnung, die allen Arbeitswilligen so viel an Gütern garantiert, daß sie ihre Arbeit ständig und leidenschaftlich dem Zustand der Trägheit und Räuberei vorziehen, dem sie heute zustre 5 ben?« Noch Karl Marx, der sehr viel diesem Sozialmystiker Fourier verdankte, schrieb ähnlich in der ersten Auflage zu sei nem »Kapital« — ohne die sozialistische Umwandlung von Eu ropa drohe »unvermeidlich« der Sieg des >Kalmückenbluts«.. .6 Seit der Französischen Revolution und der Diktatur Napo leons wird die Angst vor den in Wirklichkeit auf immer winzi gere Inseln zusammengeschmolzenen Reichen der Nomaden krieger zur ideologischen Begründung der Staatsbildungen je der Richtung: Totalitäre Tyrannen empfehlen sich grundsätz lich als Retter vor den »Tatarenhorden«.
Urgemeinschaft und kommunistische Utopie Es ist gleichzeitig kaum zu bezweifeln, daß die Gesellschafts theorien, in die sich die Romantiker seit dem 18. Jahrhundert immer mehr »vor der Entartung des ganzen Daseins« flüchten, durch die noch überlebenden Stammeskulturen angeregt wur den. Von der seßhaften Gesellschaft schrieb schon Charles Fou rier, und zwar ausgerechnet in den gleichen Abschnitten, in de nen er auch mit einer Mischung von Angst und Sehnsucht über die tatarischen Nomaden erzählte: »Ja, die Natur verdammt die Arbeit der Zivilisation, denn sie wird von den freien Völkern ver abscheut, die sie unverzüglich annehmen würden, stünde sie im Einklang mit den menschlichen Leidenschaften.«7 Der Anarchist Proudhon soll nach Bercovici, einem begeister ten Darsteller der Zigeuner-Überlieferung, seine Lehre vom Ge meinschafts-Eigentum von den fahrenden Sippen übernommen haben, die sich auch damals in sehr großer Zahl in der Umge
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Die Theosophin Blavatsky (die geborene Deutsch Russin Helena von Hahn) war im 19. Jahrhundert stolz auf die Be deutung der Frau in der Mystik der Tantriker: Ihre umstritte nen Nachrichten über die tibetanischen Überlieferungen ver unsicherten die Gebildeten gegenüber der materialistischen Fortschritts-Ideologie
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bung von Paris aufhielten und stark die Künstlerkreise beein flußten.8 Doch solche Erinnerungen und Erfahrungen, aus de nen diese Idealisten der europäischen Revolutionen ein Allheil mittel gegen die Verwandlung der Völker in entseelte Massen zu entwickeln versuchten, erwiesen sich oft als Ursachen von neuen Katastrophen9 : Die unvorbereitete Übernahme von äu ßeren Lebensgewohnheiten, tatsachlich noch gelebt in Stam meskulturen, führten in der Regel zu Zwang oder Chaos — weil man eben den lebendigen Geist hinter den bewunderten Sitten zu wenig berücksichtigte. Marx und Engels wollten dann aus den kommunistischen, so zialistischen, anarchistischen Träumen der von ihnen reichlich benutzten Fourier, Weitling und Proudhon eine systematische Wissenschaft aufbauen: Aber auch alle von Hegel übernom mene Dialektik und Logik nützte wenig, wenn man als Grundla gen seiner Theorien häufig entstellte östliche Sagen benutzen mußte. In den west- und mitteleuropäischen Zirkeln, die im allge meinen Stadt- und Fabrikelend des 19. Jahrhunderts sich über die Möglichkeit einer »Reformation der Gesellschaft« die Köpfe zerbrachen, wechselten die Erzähler aus den eurasischen Märchenländern einander sozusagen ab. Der russische Edel mann Paul Annenkov erzählt uns z. B. über diese Welt der phantastischen Abenteuer des Geistes: »Als ich im fahre 1846 meine Reise durch Europa antrat, gab mir einer meiner Bekann ten, ein Steppen-Großgrundbesitzer (er meinte den Grafen Gri gor Tolstoi, S. G.), der in seinen Kreisen unter anderem einen Ruf genoß als ausgezeichneter Sänger von Zigeunerliedern, als guter Kartenspieler und erfahrener Jäger, ein Empfehlungs schreiben an den bekannten Karl Marx mit.«10 Annenkov fügt dann aus seinem eigenen Erlebnis über den Besuch beim Vater des späteren Marxismus bei: »Marx befand sich noch unter dem Eindruck seiner Erinnerung an diesen klas sischen Vertreter der >breiten russischen Natun, auf den er ganz zufällig gestoßen war, und sprach von ihm mit großer Teil nahme, indem er in dieser für ihn neuen Erscheinung, wie mir
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schien, ein Zeichen der unverfälschten Kraft des russischen 10 Volkes zu erblicken glaubte.« Aus solchen Eindrücken, wahrscheinlich endlos mehr als aus der Quelle der umstrittenen Bücher der gleichen Zeit, entstand das Bild einer Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die dann nachträglich und sehr vereinfacht in eine neue Dogmatik für die Massen umgemünzt wurde. Marx selber schrieb am 17. Februar 1870 an Kugelmann: »Es ist ferner eine historische Lüge, das Gemeineigentum sei mon golisch. Wie ich verschiedentlich in meinen Schriften angedeu tet, ist es indischer Abkunft und findet sich daher bei allen euro päischen Kulturvölkern im Beginn ihrer Entwicklung.»" Engels ergänzte dazu: »Die alten naturwüchsigen Gemein wesen ... können Jahrtausende bestehen, wie bei Indern und Sla wen noch heute, ehe der Verkehr mit der Außenwelt in ihrem In nern die Vermögensunterschiede erzeugt, infolge derer ihre Auf lösung eintritt.«12 Er fügt sogar bei: »Der orientalische Despo tismus und die wechselnde Herrschaft erobernder Nomadenvöl ker konnten diesen alten Gemeinwesen Jahrtausende hindurch nichts anhaben... Selbst die Bildung einer naturwüchsigen Ari stokratie, wie sie bei Kelten, Germanen und im indischen Fünf stromland auf Grund des gemeinsamen Bodeneigentums er folgt, beruht zunächst keineswegs auf Gewalt, sondern auf Freiwilligkeit und Gewohnheit.«12 Entsprechend dieser Auffassung betrachtete Marx den Kampf Englands gegen die indische Gemeinde als »keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt«, durch den die einheimische Land wirtschaft »ruiniert« worden sei »und die Anzahl und das Aus maß der Hungersnöte« sich verdoppelt hätten...13 Marx versichert, daß seit seiner Pariser Zeit 1843 ihn die rus sischen Aristokraten »auf den Händen trugen«. Er bekämpft aber deren Auffassung, seine Ideen seien (wie es schon Voltaire von der eigenen Aufklärung sagte!) nicht für die Ungebilde ten14 : Unbestritten führten aber dann die Versuche, das sittlich wirtschaftliche Gleichgewicht und den Gemeinschaftsgeist von Sippenkulturen und Bauerngemeinden auf der Ebene von mo
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dernen Massenstaaten durchzuführen, zu einem »Fortschritt« der Hungersnöte und Konzentrationslager. Weder das »marxistische« Großreich Stalins noch das Maos fanden in vollen Ausmaßen zu einer religiösen Überlieferung, die den einstigen Stammesgemeinschaften jene Beständigkeit durch die Jahrtausende gab, die an ihnen auch Marx und Engels bewundert hatten.
Rassen-Ideologie J. G. Bennett, ein Schüler des »modernen Magiers« Gurdjieff und ein wichtiger Anreger der Gegenwart, lehrte über die scha manistische Schau des Djingis-Khan, den er im übrigen nach asiatischen Quellen »für einen feinfühligen Menschen mit le bendigem Sinn für Humor« hielt: »Er hatte die schöpferische Vision einer Welt, in der die Freiheit des Nomadenlebens da durch erhalten und bereichert würde, daß man den Wohlstand der seßhaften Bevölkerungsgruppen in Anspruch nähme. Er betrachtete den Nomaden als ein höheres Wesen, fähig, in den gewaltigen Räumen des Nordens mit dem Großen Geist Tengri in Verbindung zu stehen.«15 Gerade in Skandinavien scheint die mittelalterliche Überliefe rung von der Herkunft der eigenen Häuptlingsgeschlechter von den »aus dem Skythenlande eingewanderten Goten« sehr leben dig gewesen zu sein: Die Lehre von der Verwandtschaft mit al ten eurasischen Kulturvölkern wird zu einer Ursache des er staunlichen Machtanstiegs des schwedischen Königreichs wäh rend den Reformationskriegen: Bei Olaf Rudbeck finden wir schon die auf der Mythologie der alten Schamanenzeit um den sagenhaften Gott Odin aufgebaute Lehre, der Norden sei der Erbe und der Schöpfer jeder menschlichen Kultur.16 Der französische Aufklärer Bailly übernahm teilweise die skandinavischen Ideen und fügte ihnen allerlei Vermutungen bei, die sich während der Aufklärung einer rasch wachsenden Beliebtheit erfreuten: Er sprach z. B. von den »Pilgerfahrten«
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Die Nomadenkrieger (im Bild ein Nogai Tatar) bildeten noch im 18. Jahrhundert die gefürchtetsten Hilfstruppen der Zarenarmee
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der weisen Inder seiner Zeit nach Tibet und Sibirien. Diese mühsamen, gefährlichen und endlosen Reisen seien wahr scheinlich ein Zeichen der Anerkennung, »welche die indische Religion dem Lande, in dem sie geboren ist, darbringt«.17 In Aufklärung und Romantik werden die alten Stammessa gen sozusagen »vermaßt«. Jedes Volk versucht, sich in seiner Ge samtheit als möglichst unmittelbaren Nachkommen des »Urvol kes« - und damit seinen »Rassenadel« - nachzuweisen: Samuel Schmied wandte sich gegen »alles fabelhafte Wesen«, das man über den Ursprung erzählte, sah aber vor allem überall Kelten als Ahnen, die nach ihm freilich ebenfalls »von den Skythen kommen«.18 Friedrich von der Hagen war begeistert, in der ger manischen Gotik und deren künstlerischen Vorstufen einen Rückgriff zu der gleichen Kultur zu erkennen, die er auch in in dischen Tempeln und in indischen Mythen vorfand.19 Der schon erwähnte Fahre d'Olivet besitzt zweifellos in den Kreisen der Wahrheitssucher des 18. Jahrhunderts wesensver wandte geistige Ahnen mit seinem Zeitgenossen, dem »utopi schen Kommunisten« Fourier.20 Der Tarotforscher Court de Gebelin ist wohl sein wichtigster Anreger zum Verständnis der alten Symbole und Sprachen: Er übersetzt z. B. »Tatarei« als »Vaterland«, und sieht, wahrscheinlich um seine Landsleute stolz auf ihre Vergangenheit werden zu lassen, als Helden der großen vorchristlichen Rassenkampfe bereits die Kelten und Germanen.21 Rama, in indischen Mythen der Begründer eines ersten gewal tigen Reiches des geeinigten »Skythien«, wird hier zum Schöpfer einer gewaltigen Rassenkultur, die auf deren heutige Erben ver pflichtend wirken soll. Der Elsässer Schure, ein Freund des Mystikers Rudolf Stei ner, gewinnt mit seinem — Fahre d'Olivet noch ausschmücken den Werk ungeheuren Einfluß auf die französische und deutsche Jugend. Rama ist bei ihm ganz und gar der Seher einer Weltherr schaft der weißen und nordischen Rasse. Seine Gattin Sita er scheint ihm und wird auch entsprechend geschildert: »Ihr rot blondes Haar hatte die Farbe des Goldes, ihre Haut die Weiße
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des Schnees und ihre Augen den tiefen Glanz des Himmelblaus nach dem Sturm.«22 Sie erklärt auch ihrem geliebten Gatten: »Ist es nicht für mich, daß du die Ströme durchwandert, die Völker bezaubert und die Könige in den Staub geworfen hast?« Und sie sagt, da mit den künftigen Jahrtausenden ein kosmisches Gesetz ge bend: »Ich bin die weiße Rasse!« 22 In der »Ariosophie«, einer Gemeinschaft, die ebenso von den französischen Okkulisten und ihrer »boräischen (also nordi schen!) Rasse« Anregungen erhielt, wie von der oft mißverstan denen buddhistisch-tibetanischen Vorgeschichte der Frau Bla vatsky von Hahn, erscheinen schon um die Zeit des Ersten Welt krieges die Ahnen »der Weißen« wörtlich als Abkommen der himmlischen Götter: »Mit Flammenschriften ist die Geschichte der Götter, der Guten, der Goten auf den Himmel gezeichnet.«23 Die nordisch-arische Rasse sei »eine göttliche Engels- und Geisterrasse« gewesen, die auf die Erde »aus den Welten der Fix sterne der Tierkreiszeichen« — »auf unseren Planeten kamen«.23 Freundlicherweise werden dafür die ändern, die dunklen Ras sen als Nachkommen von Tierarten dargestellt, mit denen die Weißen ihr Blut vermischten und dadurch ihre kosmischen Fä higkeiten zum Teil verloren. Aufgabe der »nordischen Rassenre ligion« wäre, sich von den niedrigen Anlagen reinzuzüchten und gereinigt die Weltherrschaft der Weißen zu begründen. Es wurde nachgewiesen, daß Adolf Hitler, 1933—1945 Be herrscher von ganz Europa, zumindest zeitweise in Beziehung zu den »Ariosophen« stand und deren Überlieferungen einseitig genug für die Schlagworte seines Staatssystems verwendete. 24 Wie im Fall der Mythen um die mongolisch-tatarischen und indogermanischen Stammesgemeinschaften und deren Einfluß auf den Marxismus, wurden auch hier die verdunkelten Überlie ferungen der eurasischen Hochkulturen zur Möglichkeit, für die Massen der totalitären Staaten der jüngsten Vergangenheit Ideologien zu basteln. Während auf den Hochebenen um den Himalaja Tengri oder Deva ein Ehrenname von rassisch kaum je einheitlichen Geschlechtern war, die ihren ganzen Lebensstil
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»als Spiegelung der himmlischen Gesetze« zu verstehen ver suchten, wurde nun das kosmische Weltbild sozusagen nationa lisiert oder sozialisiert. Ganze Nationen sollten, z. B. bloß weil man sie zur weißen Rasse rechnete, vom »Uradel der Erde« abstammen und da durch auch das Recht besitzen, alle »dunklen Rassen« zu koloni sieren und auszubeuten: In den materialistischen Zivilisationen des 19. Jahrhunderts zerfielen damit die Reste der großen My then zu einem blutigen Aberglauben für Massen, die selber jede lebendige Überlieferung verloren hatten.
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Totaler Staat oder Bund von Stammeskulturen Viele Geschichten, die man über das Geschehen des gegen wärtigen Jahrhunderts erzählt, erinnern fast wörtlich an den Inhalt zeitloser Sagen. Der Zusammenbruch der Zarenmacht (1917), schwach gewor den durch die geistige Krise des »Rasputintums« und den ent sprechend unglücklich geführten Weltkrieg, ließ die seit Peter dem Großen errichtete »europäische Ordnung« im ganzen Rie senreich zusammenbrechen. Die Organisation des Beamten staates und die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert maßlos vorangetriebene Industrialisierung scheiterten, da die Bezie hung der zahllosen Völker des Reichs zum Oberhaupt nun ein mal nicht die von »Untertanen« zu ihrem »nationalen Vater land« war. Trotz allen Versuchen der Verwaltung von Petersburg, zu mindest die Oberschichten der unzähligen Stämme einheit lich »zu Staatsbürgern« gleichzuschalten, sahen sie sich doch mehrheitlich »nur durch den Willen des weißen Zaren zusam mengehalten«. Zuletzt wurde dieser beleidigt, ohne sich dage gen richtig zu wehren, in den Zeitungen auf jede Art verhöhnt und gar zu seinem Rücktritt gezwungen, dann verhaftet und mit seiner ganzen Familie erschossen: Dadurch verschwand nach der Überzeugung unzähliger Menschen des Imperiums das aus schamanistischer Urzeit stammende mystisch-magische Band, das die einzelnen Landschaften zusammenhielt. Von den Grenzen Finnlands bis in Mongolei und Mandschu rei hinein versuchten nun abenteuerliche Männer Einfluß über ihre Umwelt zu gewinnen, und zum Entsetzen oder zur Scha denfreude der übrigen Welt schien Rußland 1917—1921 erst einmal in seine unzähligen Bestandteile zu zerfallen.1
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Die Zeugenberichte stimmen entsprechend bis in Einzelhei ten überein: »In jenen Tagen trieben sich auf den Bahnhöfen und auf den Zwischenstationen, in den kleinen Städten und in den Dörfern zahlreiche Banden umher, die weder zur Roten Armee noch zu den Weißen gehörten. Verschiedene kleine und große Truppenabteilungen, alle möglichen >lokalen Formationen^ dunkle Elemente, die ohne Sinn und Ziel von einem Ende des riesigen Rußlands zum ändern zogen. Und diese Menschen er nährten sich auf Kosten der Bevölkerung. Sie bezahlten nichts, machten viel Lärm und traten selbstherrlich auf.«2 Es wird auch für das übrige eurasische Gebiet nichts übrig bleiben, als die Geschichte dieser Banden als eines Wiedererwa chens des ekstatischen Kriegertums niederzuschreiben. Eins ist sicher und wurde auch von ihren sachlicheren Gegnern festge halten: Ihren Kampf gaben sie unbesiegt auf, nachdem sie oft fast ein volles Jahrzehnt ganze Landesteile, fast so groß wie west oder mitteleuropäische Staaten, beherrscht hatten. Die »Seß haften« gaben ihnen, zumindest nach zahlreichen mündlichen Zeugnissen, den für ihren Lebensunterhalt notwendigen »Tri but«, oft freiwillig und sogar gern — weil sie in ihnen Beschützer vor einer fernen und damit unverständlichen Zentralmacht sa hen. Auch dies eröffnet uns ein Fenster zum Verständnis von mittelalterlichen Hunnen-, Tataren-, Mongolen-, Türkenzeiten, die jedesmal aufstiegen, wenn Teile des einheimischen Volkes die Nomaden zumindest als das geringere Übel gegenüber der ei genen Zivilisation und deren Nutznießer ansahen. »Wir geben lieber unseren Banditen, was sie brauchen«, sagten die großrussischen und ukrainischen Bauern, wie mir noch ver schiedene Verwandte und ihre Freunde erzählten. »Man weiß zumindest, wozu sie das Essen und Trinken verwenden — näm lich um in ihren Wäldern und Sümpfen, in ihren Felsenhorsten gut zu leben! Gibt es bei uns kein Räuberreich (zarstwo razbo ininitscho), dann kommen die Steuereintreiber der fernen Ver waltung und man kann ziemlich alles für den Bau irgendwelcher Fabriken und Staumauern abgeben, von denen man nicht weiß, ob sie von den korrupten Beamten wirklich errichtet werden.«
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Der berühmte Sowjetschriftsteller Tretjakow, der noch in den zwanziger Jahren die Tatsachen über dieses berittene »Banditentum« zu sammeln versuchte, bezeugt sachlich: »Die Banden zerschellten nicht am Rotarmisten-Säbel. Sie schmolzen und zerfielen ohne sein Zutun. Die Banditen lenkten den Schritt heim zu den Gehöften ihrer Väter. Und hier 3 wurden sie dingfest gemacht.« Tretjakow erzählt recht versöhnlich über den Versuch der Lenin-Politik, das im Chaos der Stammeskriege versinkende Land einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu bringen: »Manche (unter den heimgekehrten und dingfest gemachten Bandenkriegern) entwickelten sich mit der Zeit zu tüchtigen Funktionären und hier und da sogar zu Direktoren von Kolcholsen. Die ganze Willens- und Tatkraft, die sie ehedem an das Freischär lertum verschwendet hatten, kam jetzt dem Werk der Kollektivierung zugute, und dieses Werk wurde ihr Leben.«3 Das Chaos, die Auflösung des Zarenreiches nach dem Sturze des Oberherrn, begann sich damit wieder zu ordnen. Menschen von Willens- und Tatkraft - in allen Schilderungen ähnlich den »selbstherrlichen« Stammeskriegern, den Herrschergeschlechtern der mittelalterlichen Landschaften unterwarfen sich Lenin. So wie sich ihre Ahnen dem Zaren von Moskau oder die Ahnen ihrer Ahnen dem Khan der Goldenen Horde »unterworfen« hatten. Viele der Geschichten, die man heute über dieses Geschehen unseres Jahrhunderts erzählt, erinnern fast wörtlich an den Inhalt zeitloser Sagen.
Die konservative Revolution Eine oberflächliche Geschichtsschreibung mußte in den wilden zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts die siegreiche, zuerst von Leo Trotzky »geführte« Rote Armee in den Himmel heben oder »als auferstandene Höllen-Horde des Djingis-Khan« verteufeln. Ob aber die Propaganda-Literatur den einen oder den
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ändern Auftrag auszuführen versuchte, sah sie in ihr durch den ganzen Bürgerkrieg hindurch eine »stählerne« Einheit: Wie man heute aus den sachlichen schriftlichen Urkunden, genau wie aus den mündlichen Berichten der Augenzeugen weiß, war sie es so wenig wie das Heer ihrer Gegenspieler, die in einem fünfjährigen Krieg niedergezwungene »Weiße Armee«. Wie wir sahen, gab es nach dem Sturz des »weißen Zaren« erst einmal keinen Bürgerkrieg, sondern eine endlose Fülle von ver schiedenen Kriegen. Stämme und Volksschichten, die unter den Kaisern aus dem Geschlecht der Romanow einigermaßen als bevorzugt galten, kamen in mehr oder weniger blutige Ausein andersetzungen mit Stämmen und Volksschichten, die wieder nach mehr Macht und Besitz strebten. Die »roten« und »weißen« Regierungen bewegten sich oft herzlich hilflos in diesem Durch einander der zahllosen Kriegsherren und versuchten sie durch Überredungskünste und Waffenlieferungen in zwei Armeen zu verwandeln: Abwechslungsweise waren oft die einzelnen, be stimmte Landschaften »kontrollierenden« Kämpferscharen bald für die »Roten« dann wieder für die »Weißen« — »heroische Ordnungskräfte« oder auch »haltlose Banditen«. Ihre Haupt leute, die sich gern nach der Art der alten Kosakenheere Atama nen (Atamany) nannten, verhandelten oft mit beiden Regierun gen und wechselten ihre Bündnisse, wie es den Zukunftsplä nen ihrer Gefolgschaften gerade günstiger schien. Aus zeitgenössischen Romanen und Dokumentationsversu chen, die von der Sowjetregierung und auch von den unterlege nen »Weißen« herausgegeben wurden, können genug seltsame Einzelheiten über den großen eurasischen Krieg 1917-1921 nachgelesen werden: »Unter diesen Heldenregimentern zeich nete sich das Muselmanische Regiment besonders aus, das aus Angehörigen vierzehn verschiedener Nationalitäten bestand, vorwiegend aus Kirgisen, die bis dahin erbarmungslos von den reichen schmarotzenden Kosaken ausgebeutet worden waren und gegen diese tödlichen Haß empfanden. Diese Freiwilligenre gimenter vollführten wahrhaft heroische Taten... Ihre Diszip lin war schwach, ihre Auffassung von >Freiheit< sehr eigenar
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tig. Sie führten einen langen Kampf (gegen die Oberleitung der >Roten ArmeeDie Zeitungen schreiben wir ja selbst... Das ganze Zeug wird doch nur erfunden, damit es mehr Spaß macht, Krieg zu führen.Epos der Steppen< kann gestellt werden.«10 S. I. Rudenko wollte aufgrund von Ausgrabungen in den To-tcnhügeln die unglaubliche künstlerische Kulturhöhe der Skythen von den Karpaten bis Altai und Pamir nachweisen: Die Turkmenen, Kasachen, Kirgisen, Jakuten wären die Erben dieser Glanzzeit, was dem Gelehrten freilich den Vorwurf der Förderung des »pan-türkischen Nationalismus« eintrug... Ebenso dem Forscher Baskakov, der bei den Altaistämmen eine enge Beziehung zu Iran, Indien, Tibet und China nachzuweisen versuchte. 11 Als furchtbare Ketzerei wurde gar die Ansicht von Mamet erklärt, der eine gemeinschaftliche Wirtschaft der gleichen Altaivölker »nicht als Ergebnis der hartnäckigen und systematischen Arbeit der kommunistischen Partei unter den Werktätigen des Altaigebiets erklärt, sondern dadurch, daß sie schon vor der Revolution in Sippengesellschaft lebten und darum an gemeinschaftliche Tätigkeit und Sitte gewohnt waren«. Man war entsetzt, daß diese »Ansicht von Nationalisten« verbreitet wurde, »die in den Apparat von Sowjetverwaltung und Partei eindringen konnten.«11 Stalin selber wandte sich übrigens noch kurz vor seinem Tod gegen die Lehren des einige Zeit an den Hochschulen des Vielvölkerstaats siegreichen Georgiers Marr, nach dem die gewaltigen Völkerverbände, die unter skythischen, hunnischen, türkischen, mongolischen Nomadenkriegern geeinigt worden waren, »mächtig und von hoher Kultur waren«: Sonst erscheine schließlich der »Nomadenadel« (kotschewaja aristokratija) als eine zeitlose schöpferische Kraft und jeder moderne Fortschritt gegenüber den Stämmen Sibiriens recht fragwürdig...11 Doch dieser hart und eifersüchtig geführte Kampf wider die Leistungen des »Steppenadels« in den fünfziger Jahren stieß schon bald nach dem Tode von Stalin auf eine sich ändernde politische Wirklichkeit: Das Riesenreich China entdeckte beim
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Modernes politisches mongolisch russisches Plakat. Während den letzten eurasischen Umwälzungen (1917-1921) erwarteten viele östliche Stämme von Revolutionären wie Lenin oder dem Mongolen Suche-Bator eine Zeit der vollständigen Erneuerung
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1964 feierlich begangenen 800. Geburtstag Djingis -Khans die Zeit unter ihm und seinen Nachfolgern als die eines »fortschrittlichen« Blühens für das ganze Land und ein Jahrhundert der glücklichen Ausstrahlung der chinesischen Wissenschaften und Künste bis nach Europa und Nordafrika hinein. Der russische Akademiker Tichwinskij kam nach der Zusam menfassung der verschiedensten »Forschungsarbeiten« zum be zeichnenden Schluß: »Das wahre Ziel der Auseinandersetzung, entfesselt von den chinesischen Geschichtsforschern um die Ge stalt Djingis-Khans, besteht im Versuch der wissenschaftli chen< Begründung der Landforderungen der chinesischen Chauvinisten gegenüber der Mongolischen Volksrepublik, den mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion und ändern Ge bieten, sofern sie irgendwann unter die Herrschaft der mongo lisch-tatarischen Eroberer-Feudalherren gerieten.«12 Das schamanistische Wesen der Überlieferung der Hirtenno maden wird damit seit den siebziger Jahren immer mehr zum In halt der widersprüchlichsten Behauptungen. Der Umkreis ihrer einstigen Reiche ist jetzt das Herz von militärisch-wirtschaftli chen Weltkrisen. Sie selber, noch immer freiheitsliebend und kriegerisch, gehören nun zu den umworbensten und umschmei cheltsten Menschen zwischen den Großmächten - und damit vielleicht zu den Mitentscheidern der Zukunft.
Wiedergeburt im mongolischen Grenzraum Stalins Versuch des »Divide et impera«, das »Teile und herr 13 sche«, scheint in seinem Reich »praktisch« gescheitert. Wie man weiß, lautete unter dem Diktator die Nationalhymne, die ganz sicher Hunderte von Minderheiten nicht gerade begei sterte: »Den unzerstörbaren Bund der freien Republiken hat auf ewig Groß-Rußland fest gemacht«. Alte Kulturgebilde wurden im Sinn einer solchen »stalinistischen« Politik aufgesplittert, ihre sprachlichen, kulturellen, politischen Beziehungen hinun tergespielt. Von den Sowjetstaaten Usbekistan, Kasachstan,
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Turkmenistan, Kirgisien und Tadschikistan kann man aber jetzt vernehmen: »Über die künstlichen Grenzen hinweg bilde sich dort vielmehr eine mächtige Einheit heraus. Es wird die Ausstrahlungskraft dieses Gebildes auf das verwandte und benachbarte Chinesisch-Turkestan (Sinkiang) hingewiesen.«13 Neben den neuen sowjetischen Dokumentationen über die Unterdrückung der Stämme in der chinesischen Mongolei, Tibet und Turkestan kommen jetzt vermehrt umstrittene Berichte über die fast zu Restbeständen zusammengeschmolzenen Völker: »Vollends einen Zerrspiegel bietet Louis' Darstellung des Mandschu-Volkes, das von dem Sowjetischen Pamphletisten zur Realität wiederbelebt wird.«13 Aber auch in China, das unter Mao die Mandschurei völlig in das Reich eingliederte und dann das noch bis ins 19. Jahrhundert teilweise offen schamanistische Volk völlig am Ende glaubte, wird dieses jetzt nach Zei tungsberichten wieder auf 2—5 Millionen geschätzt... Der gleiche, als Rußlandkenner in Nordamerika geschätzte Louis versucht auch eine »Sibiria First«-Lobby in der Sowjetunion festzustellen, die an eine schrittweise Verlagerung des Herzgebiets von Eurasien glaubt: Auch diese Darstellung »erinnert auffällig an die Probleme, die der Selbstherrscher aller Russen in St. Petersburg (also die >auf Europa setzenden< Zaren von Peter bis zum 1917 gestürzten Nilolaus! S. G.) zuweilen mit seinem fernen sibirischen Vizekönig hatte. Nun soll man glauben, daß sich solche Autonomiebestrebungen an der russischen Pazifikküste, die auf japanische Wirtschaftshilfe hoffen, unter dem roten Stern noch stärker ausprägen können.«13 Sogar der Dalai Lama und andere höhere Geistliche des tibetanischen Buddhismus besuchten die roten Metropolen Moskau und Ulan Bator. Einheimische buddhistische Geistliche aus der Mongolei und den Sowjetgebieten der Kalmücken, Burjäten und des Tuwa-Volkes spielen wieder eine Rolle und stellen untereinander Beziehungen her. Zahlreiche Veröffentlichungen über die Volkskultur der Nomaden erscheinen in russischer Sprache und in den Sprachen der Minderheiten: Sie »schmeicheln den Mongolen«, weil sie gegenüber ihren einstigen 272
Leistungen bereits viel sachlicher sind als diejenigen, die 14 heute im nach-maoistischen China gedruckt werden. Gegen die einstige Beurteilung der nomadischen Großreiche, verheerend genug seit den Ideologien des 18. Jahrhunderts, fördern die Entwicklungen des Zeitgeists eine vielseitige Schau: »Zugleich aber war das mongolische Zeitalter Eurasiens die einzige Phase sicheren Verkehrs und Austausches in der Vergangenheit. Nur da standen Europa, Vorderasien, Indien und China in ständigem Austausch und Verbindung«. 15 Russische Kunst, Ballett, Musik, Oper, Tanz haben darum heute bei den östlichen Völkern eine sehr starke Wirkung, weil diese in ihnen Auswirkungen einer Hochkultur zu erkennen glauben, bei deren Bildung ihre eigenen Ahnen einen entscheidenden Beitrag leisten: »Die Mongolen wissen das.«16 Für diese Entwicklung kann man etwa den Film »Sturm über Asien« nehmen, der in den zwanziger fahren auf der ganzen Welt als ein gutes Beispiel der »revolutionären russischen Kunst« galt — und ihn etwa mit dem modernen Filmwerk »Sibiriada« vergleichen, der soeben (1981) in den westeuropäischen Kinos gezeigt wird und die Jugend begeistert: Im ersten, der für einen Bund der türkischen, mongolischen, tibetanischen Stämme mit der Partei Lenins warb, sehen wir zuerst einen armen Nomaden, den die entmenschten Technokraten, denen es nur um die Bodenschätze Asiens geht, teuflisch verhöhnen. Als sie aber an seinem Hals ein Amulett entdecken, das ihn als Nach kommen von Djingis-Khan ausweist, beschließen sie, ihn für ihre Zwecke der Ausbeutung der ursprünglichen Natur zu mißbrauchen. Sie lassen ihn durch käufliche Lamas zum Groß-Khan er klären und dann, ohne daß er eigentlich versteht, was ihm ge schieht, maßlose Verträge unterschreiben, die ihnen »die Rechte« zum Gewinn aller Bodenschätze geben. Doch gegen Ende erwacht im Staatsmann wider Willen, der von den fremden Technokraten als willenlose Puppe herumgeschoben wird, der schlafende Geist seiner Ahnen. Er erkennt die Leiden, die die Ausbeuter in seinem Namen den Menschen, Tieren und der gan 273
Die eigentlichen Russen (im Bild links) wurden in Tracht und
Brauch zu allen Zeilen von den Nomadenstammen beeinflußt
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ganzen Welt seiner Heimat bereiten! Er springt auf sein Pferd, und auf den letzten Bildern des Films sehen wir ihn, einen neuen Djingis-Khan, an der Spitze der Nomadenkrieger das gewinngierige Gezücht aus den Hochländern der Ahnen vertreiben.17 Im neuen Großfilm »Sibiriada« wird ein ewiges sibirisches Dorf an einem breiten Fluß und in endlosen Wäldern gezeigt. In der Gegenwart ist es nur aus einem Grunde umstritten - in der weltenfernen Hauptstadt Moskau kämpfen die dem Leben ent fremdeten Technokraten untereinander, ob es mit vielen ändern Dörfern zur Energiegewinnung in einem gewaltigen Stausee ver schwinden soll, oder ob man sein Gebiet einigermaßen für die Gewinnung von Erdöl verwenden kann. Ein Mann aus dem verurteilten Dorfe, in der Hauptstadt Mos kau zu einer Schlüsselgestalt in der Regierung aufgestiegen, wagt schrittweise immer mehr sich und ändern zu erklären, daß im einheimischen Volk und der Natur noch ganz andere Werte verborgen sind als die für das Wachstum der Industrie notwen digen Bodenschätze: »Der ewige Großvater«, der Vertreter der Überlieferung und offenbar geradezu märchenhaft alt, mahnt ihn zu solchem Mut. Ebenso die Ahnen und die toten Verwand ten, die aus ihren Gräbern in dem urtümlichen Friedhof stei gen, der aufgrund einer Explosion des Bohrturms lichterloh brennt... Wie diese beiden Filme — zwischen denen mehr als ein halbes Jahrhundert liegt — zeigen, hat der Glaube an die unsterbliche Macht der Vorfahren und ihre im Lebensstil der Nachkommen Gestalt gewinnende Seelenhaltung keineswegs abgenommen: Es ist darum anzunehmen, daß von ihm aus in Sibirien, Turke stan, Mongolei wichtige Entscheidungen ausgelöst werden kön nen. Die Sprichwörter aus den mongolischen Märchen, heute im Mund jedes Kindes, verkünden wieder den Willen zur Freiheit im Kreis des Daseins aus der ureigenen Überlieferung: »Gut ist die Behausung (Jurte) des Herrschers, doch die Jurte der Eltern ist besser. Gut ist der Wohlstand, doch die Unabhängigkeit ist besser.«18
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Morgenröte für Stämme? Die neuen Jugendbewegungen des Abendlandes sind ebenso von den großen geistigen Strömungen von Eurasien abhän gig wie alle ihre Vorgänger während den Völkerwanderun gen des Mittelalters. Für die Welt der eurasischen Heldensagen, die durch eine junge und volksverbundene Wissenschaft überall wieder in den Mit telpunkt der Beachtung rückt, bildet sich immer eine Kultur um den Einzelnen: Dieser ist nicht etwa ein einsames Individuum im Sinn irgendwelcher Ideologien von gestern, sondern ein Mensch, der die Ausstrahlungskraft besitzt, um sich einen Kreis von ihn liebenden Sippengenossen, »für die er großzügig zu sor gen versteht«, zu vereinigen. Mit ihnen zusammen erkennt er, in dauernder Begegnung mit »Weisen«, »Sängern der Überliefe rungen der Vorzeit« und mit diesen wesensverwandten »Wahr sagern« - den Willen des Himmels. Dies macht ihn zu dessen Deuter, also zum Seher und Erken ner der göttlichen Ordnung der Welt, und seine Sippe wird da durch zu einer Anregerin für alle Sippen in deren Umgebung und ein Stamm beginnt sich um sie zu bilden. Oder, wie etwa die Kirgisen noch immer von einem Ahnenhelden zu singen pfle gen: »Wenn der große Manas stirbt — dann wird sich unser Volk von neuem auflösen.«1 Ein »Staat« im Sinn der entsprechenden Mythen, wir können auch die des Westens - etwa der Germanen um Etzel-Attila oder Dietrich von Bern — nehmen, ist sozusagen die höhere Stufe ei nes solchen Vorganges: Die einzelnen Vertreter, Häuptlinge der in ihrem Grundwesen und dem Lebensstil unabhängigen Sippenverbände (Stämme) verbinden sich in einer lockeren Tafelrunde. Der Beste unter ihnen, in der Gemeinschaft der ei genwilligen Gleichen, wird der Erste. Er gilt als Groß-König, als Khan.
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Gewisse Staatsphilosophien des 18./19. Jahrhunderts mit ihren unseligen Auswirkungen bis in die totalitären, alles »so zialisierenden« Staaten unserer Gegenwart, glaubten die Über lieferungen dieser Art »durch den Fortschritt überwunden« zu haben. Der Staat wurde nun als ein Zusammenschluß der Masse von einsamen »Bürgern« aufgefaßt, winzigen Kleinfamilien ohne jede eigene Überlieferung. Die Eltern übergeben, da sie fast regelmäßig einen Großteil ihrer Zeit ganz verschiedenen Beschäftigungen nachgehen, sogar die Kindererziehung immer mehr der Staatsbürokratie und deren »Sozialfürsorge«... Erst die größten Auseinandersetzungen der Gegenwart, die Ketten der Kriege und Krisen, brachten ein Erkennen dieser Art des »Fortschritts« als die des Fortschreitens in eine Sackgasse. Im Ringen Osteuropas um die Möglichkeit einer Erneuerung zwischen den verschiedenen Spielarten von Sozialismus, Kom munismus und Anarchie, mehr »internationalistischen« Trotzki sten oder mehr »nationalistischen« Stalinisten, zeigte sich nach und nach eine seltsame Gesetzmäßigkeit: Schon Maxim Gorki hatte an vielen Stellen seiner volkskundlichen Romane die Zu verlässigkeit und Treue der »Tataren« gegenüber den Men schen aus den Gegenden der vermaßten Stadtzivilisation geprie sen. Völker, noch einigermaßen verwurzelt in ihren Stammes kulturen und in ihren überlieferten Tätigkeiten, erwiesen sich jetzt auch während der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhun derts als die eigentliche »Ordnungsmacht«. Der rotspanische General El Campesino, der nach verlorenem Krieg zu seinem Verbündeten, dem Georgier Stalin floh, dort aber in ein Konzentrationslager wanderte, schimpft darum sehr rassistisch über die Kasachen als die treuesten Gefolgsleute des Diktators, des eigentlichen Besiegers seiner Rivalen im Chaos der Revolution: »Es ist der brutalste Menschenschlag, den es in Rußland gibt, als Henkersknechte aber auch der disziplinierte ste... Ihre Züge verrieten die mongolische Abstammung, ihre Augen Hinterlist und Bauernschlauheit.«2 Doch eine sachlichere Forschung der zeitgemäßen politi schen Ethnographie, die sich auf die Augenzeugen aus den ver
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schiedenen Parteien zu stützen versucht, erkennt den Sachver halt hinter diesen Vorgängen: Menschen aus den großen Stämmen, lange genug von den verschiedenen Kolonialisten in ihrer Eigenart bedrängt, »dienten« hier einem Herrscher, weil sie sich dadurch eine gewisse Entfaltungsmöglichkeit einer eini germaßen unabhängigen Kultur in ihrem Heimatraum erkaufen konnten. Menschen dieser Art halfen auch mit Mut und Selbstbewußt sein denjenigen, die einen Sinn gegenüber ihrem eigenen Wesen zeigten! Von einem ursprünglich der vorherrschenden athei stisch-materialistischen Ideologie nahestehenden Flüchtling aus einem stalinistischen Konzentrationslager lesen wir etwa: »Zweimal lief er Kasachen in die Hände..., da kamen ihm die wenigen erlernten kasachischen Brocken zugute: >Ich sprach ihre religiösen Gefühle an, und sie ließen mich laufen.Gelehr tenChristus ist auferstanden!< (Christos woskressje). Die Gläubigen antworteten darauf nach dem alten Brauch >Wahrhaftig er ist auferstanden!< (Woistinu woskressje) Doch viele glaubten hier zu hören, daß auch die mumifizierten Heiligen aus ihren Höhlen und Gängen in diese Antwort einstimmten und damit das ganze Land segneten.« Die Dame, die dies erzählte, verband damit keinerlei Spott und Hohn für die Religion - wie es wohl noch kürzlich die Aufgabe ihrer Vorgängerinnen gewesen war. Voll Achtung für die Volksweisheit sah sie hier eine Ahnung 299
In der traditionellen Ikonenmalkunst aus dem Dorf Palech verwandeln sich die urzeitlichen Helden der Steppe in die kühnen »Sternenfahrer«, die Astronauten der Zukunft
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Wie in der Legende des Propheten Elias fahrt der moderne
Kosmonaut I. A. Gagarin auf einem Feuerwagen zu den Sternen
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für das Bestehen der helfenden Kräfte »in uns und in der Natur«, wie sie jetzt auch die befreite Wissenschaft zu bestätigen beginne.6 Als ich neben den unterirdischen Zellen mit den »schlafen den« Einsiedlern vorbeiging, sah ich vor mir einen Arbeiter mit einem Hut auf dem Kopfe. Hinter ihm ging ein etwa vierzehn jähriger Knabe, offensichtlich ein Mitglied der »Kommunisti schen Jugend« (Komsomol). Sehr höflich berührte er die Schul tern des Mannes und sagte dazu: »Könnten Sie nicht bitte dem Nachlaß (nasledstwo) des Volkes die Achtung zeigen, er sollte für uns alle heilig sein.« Der Arbeiter entschuldigte sich und entblößte sein Haupt. Soeben vernehme ich, daß die Sowjetregierung das Höhlen heiligtum von Kiew, nach ungefähr 70 Jahren der religions feindlichen Verwaltung, wieder der Kirche zurückgab.
Schamanismus und neue Wissenschaft Die Wiederentdeckung der Seelenkräfte durch die mutigen Ge lehrten und Dichter der sowjetischen Völker erweckte den Zorn dogmatischer »Marxisten«. Im Jahr 1975 beschuldigte schon die führende theoretische Zeitschrift des Peking-Regimes die Rus sen der gefährlichen Ketzerei: Sie hätten zuerst zwar die Reli gion abgeschafft, seien aber heute daran, sie durch eine Hinter türe wieder ins Volk zu bringen. »Die »Hung Tschi« (Rote Fahne) versicherte, die den Dogmen von Marx untreu gewordene Forschung der Sowjetunion habe jetzt voll Tücke »die Psyche aus der Kirche ins wissenschaftliche Laboratorium verpflanzt«.7 Dafür bringen die entsetzten Chi nesen folgende Beispiele: »Wissenschaftler im Sold der sowjeti schen Revisionisten haben mit anmaßendem Ernst behauptet, sie hätten die folgenden Ergebnisse erzielt: Zwei Menschen vermochten miteinander in Kommunikation zu treten, obgleich sie Tausende von Kilometern voneinander entfernt waren, und das ohne die Verwendung von fernmeldetechnischen Appara
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ten... Ein Arzt kann einem Patienten die Diagnose stellen und ihn behandeln, ohne mit ihm in Verbindung zu treten... Ein Lehrer kann seine Schüler vermittels averbaler Telepathie un terrichten. Ein Spion kann die militärischen Anlagen anderer Länder, ohne daß er sie besuchte, kennenlernen, indem er sie mit dem inneren Auge schaut.«7 Für den chinesischen Marxisten ist die Bestätigung des Volksglaubens durch die sowjetrussische Forschung das begin nende Ende der materialistischen Ideologie. Dies ist für ihn si cher schon darum eine Gefahr, weil auch in Ostasien der sich selber vergötzende Mao von Josef Stalin die blutigen Verfolgun gen der Religionen übernahm: Jede neue Anerkennung des Ur glaubens und der Erfahrungen der Völker zwischen Tibet und Korea würde schließlich ihr Selbstbewußtsein stärken. Wir können hier selbstverständlich nicht beurteilen, ob nicht der chinesische Kritiker die Ergebnisse der russischen For schungen stark übertreibt. Immerhin verweisen wir nur noch auf eine gewisse Lebenspraxis, die von hier aus entstand und eine Haupttriebfeder von freiheitlichen Strömungen zu sein scheint - die zur Zeit, dank der Regierung von Gorbatschow, die Welt zu beeinflussen beginnen. Zu den wichtigsten »Moden«, die heute auf den europäi schen Westen einwirken, gehören zweifellos die Geburtsverfah ren des russischen Arztes Igor Tjarkovskij. Er entdeckte wieder die »Wassergeburt«, wozu er ebenso von sibirisch-mongoli schen Heilern die Anregungen bekam wie aus den neusten See lenforschungen seiner Heimat. Auch er versichert, daß wir den sogenannten »Aberglauben« als eine unerschöpfliche Fund grube von tiefen Naturerkenntnissen der Jahrtausende schät zen müssen: Dazu gehört nach ihm z. B., daß wir die für das Volk und die Kirche heiligen Orte - tatsächlich als Ausstrah lungsfelder günstiger Einflüsse wieder entdecken.8 Kinder, dank der Verbindung von urtümlichem Brauch und einer vorurteilslosen Wissenschaft geboren, besitzen weniger ihre Entwicklung schädigende Hemmungen. Sie lassen sich von keinen Bonzen und Bürokraten als Sklaven behandeln und
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suchen nach Wegen zu einer freien Entwicklung. Wenn sie her anwachsen, entfalten sie nach Tjarkovskij ihre schöpferischen Fähigkeiten: Seelenkräfte, die es nach dogmatisch-materiali stischen Marxisten gar nicht geben darf, sind für sie eine Selbst verständlichkeit.9 Sie werden zu lebensfrohen und mutigen Vorkämpfern einer neuen Zeit. Sie werden zu den Eltern von Menschen der nahen Zukunft, die sich ihre inneren Gaben nicht mehr von irgendwelchen neuen Auflagen der Inquisitoren und Hexenverfolger verbieten lassen. Igor Tjarkovskijs Jünger fassen zusammen: »In Rußland scheint das traditionelle Volkswissen in diesem Bereich in viel größerem Maße überlebt zu haben als im Westen...« Als einen Hauptgrund nennt auch er das viel freundlichere und liebevol lere Eingehen der Priester der orthodoxen Kirche auf Vor gänge, die wir verstandesgemäß noch nicht voll zu begreifen vermögen! »Die Tatsache, daß viele von diesen Dingen nach 1917 in den Untergrund gehen mußten, heißt nicht unbedingt, daß sie dadurch schwächer wurden...«10 Ähnlich erklärte mir 1949 Frau Prof. Dr. Anna Kamensky, die Leiterin der russischen Theosophen, die nach Genf fliehen mußte: »In Kriegen, Hun gersnöten, Konzentrationslagern des Stalinismus, Religionsver folgungen suchten die Völker nach inneren Inseln des Friedens, nach der Entwicklung ihrer seelischen Kräfte.«
Entdeckung der Heiligen Orte In den Siebzigern, Achtzigern verbreitete sich die Praxis der Ar beit mit der lange durch die materialistische Wissenschaft abge leugneten »Lebenskraft« (Bioenergie, Bioelektrizität, Biofeld) durch die östlichen Länder. Die sowjetische Heilerin Georgis kan Djuna Davitaschwili, die aus der assyrischen Volksminder heit stammt, machte in der Sowjetunion und in westlichen Län dern Schlagzeilen. Sogar der Staatschef Breschnew soll in seeli schen und leiblichen Krisen nicht ohne ihre Hilfe ausgekommen sein.
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Im Umkreis des erwähnten Tjarkowskij wird uns versichert: »In einer Reihe sowjetischer Hospitäler arbeiten Sensitive als Heiler, Seite an Seite mit Ärzten, unter wissenschaftlicher Kon trolle und Auswertung. Ihre Arbeit geht von dem theoretischen Standpunkt aus, daß Krankheit vor allem durch Strömungen im Energiefluß entsteht. Der physische Körper ist dann ge schwächt und empfänglicher für Bakterien und Viren und an dere destruktive Prozesse. Sensitive können ihre eigene Energie auf den Patienten übertragen, das Biofeld von störenden Ener gien reinigen...«10 Djuna behauptet: »In Zukunft, wenn wir mehr über die Bio energie und ihre Eigenschaften wissen, werden wir auch vorbeu gend arbeiten können, so daß Krankheiten gar nicht erst zu ent stehen brauchen.«10 Uralte Heilstätten, berühmt schon aus der Volkssage und der schamanistischen Medizin, gewinnen eine neue Bedeutung. Auch hier verbreitet sich die Auffassung, die man lange als »schamanistischen Aberglauben« bekämpfte: Entscheidend für die Gesamtleistung und die Grundlagen der menschlichen Gesundheit ist unsere »Bioenergie«. Sie kommt in ein Gleichge wicht und steigert ihre heilende Wirkung, wenn wir in unserem Dasein einen ewigen Sinn erkennen und mit dem Wesen unserer ganzen Umgebung »nach den Gesetzen des Himmelsfriedens« leben. In der Sowjetunion und unter östlichen Flüchtlingen im euro päisch-amerikanischen Westen verbreitete sich die »Sage« von der mongolischen Heilquelle Chalun Arschan. Die westlichen Russen und die ändern »Zivilisierten«, die den von ihr gespei sten Bergsee benutzen, lachen und scherzen, wenn sie das ein zigartige Heilbad aufsuchen. Sie erleben gewisse Besserungen ihrer Leiden — aber eben nur das! Die wirklich wunderbaren Heilungen, die hier offensichtlich stattfinden, bleiben nach dem Arzt P. M. Kurennow nur den kranken Angehörigen der mongo lischen Stämme vorbehalten!" Sie besuchen eben die Quelle mit einer ganz anderen Grund haltung. Der See mit dem Lebenswasser gilt ihnen, schon von
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den Zeiten ihrer verehrten Vorfahren her, als heilig und göttlich. Sie lassen sich, bevor sie in die hilfreichen Quellen steigen, von ihren Priestern (Lamas) dazu geistig vorbereiten: Bei diesen An hängern des tibetanisch-mongolischen Buddhismus, der auch viele uralte schamanistische Traditionen in sich aufnahm, ist die ganze Medizin noch immer sehr eng mit ihrer Religion und Phi losophie verbunden. Der kranke Mongole betrachtet also seinen Besuch der Quelle als eine Art Gottesdienst. Er setzt sich in dessen Verlauf bewußt mit der ewigen Schöpferkraft des Weltalls und den örtlichen Heiligen und Naturgeistern in unmittelbare Beziehung. Er betet dabei unablässig und zählt unermüdlich die frommen Worte seiner verehrten Ahnen auf. Dies tut er unabhängig, ob er sich anschickt, ins Wasser zu steigen, ob er darin mit viel Geduld sitzt oder es verläßt. Der überlieferte Glaube, vom Menschen in jedem Geschlecht wiedergefunden, erweist sich als der wahre Zauberarzt: Er öffnet den gesamten Menschen zur besseren, ge steigerten Aufnahme der Kräfte seiner Umwelt.11 Im Sinn dieser Tradition verstehen wir, wie jetzt sogar in der Dichtung um den ersten russischen Kosmonauten Gagarin die ser als Verkörperung der uralten Völkerkräfte erscheint: »Aus Großem wird das Große geboren!« Aus den Volksmärchen habe er seine Flügel erhalten, die ihm seine Tat ermöglichten. »Die Alten gehen, doch ihre Erzählungen vergehen nicht, ewig bleiben sie magisch.«12 Aus dem Märchen vom Feuervogel des Glücks habe Gagarin den ersten Glauben an eine Tat gefunden, die die Grenzen des Möglichen sprengen sollte. Alle Gegenwart und Zukunft ist nach der gleichen Preisdich tung bereits enthalten in den Sagen um die Ritter (bogatyri) um Kiew, die in den Stürmen der Völkerwanderungen ihre Heimat bewachten. »Es ist ein Wunder! Gab es sie oder nicht? Diese Helden stehen immer neben jedem Kinderbettchen, als würden sie die friedliche Ruhe bewachen, als würden sie bestätigen: >Wir sind hier!Dzyan