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“gescanned by Waldschrat“ “bearbeitet von Tecko“ Band 13 Das Milliarden-Heer Dienstag, 7. Februar 2012, Morgen würde die Welt untergehen. Und heute spielte sie verrückt Genau genommen tat sie das schon seit einigen Monaten. Seit bekannt geworden war, dass ein Komet auf die Erde zu raste. Eine Kanonenkugel aus dem All sozusagen, die Verheerungen anrichten würde, über die man bislang nur Vermutungen an stellen konnte. Weil ein solcher Fall in den paar Jahr tausenden die von der menschlichen Geschichtsschreibung abgedeckt wurden, noch nicht vorgekommen war. Der letzteEinschlag dieser Größe lag etwa fünfundsechzig Millionen Jahre zzurück. Er hatte nicht nur die
Herrschaft der Saurier beendet,sondern gut
neunzig Prozent allen Lebens auf Erden
ausgelöscht...
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Die Menschen hatten unterschiedlichste Wege gefunden, um mit der drohenden Katastrophe fertig zu werden. Vor allem in den großen Städten der Welt hatten Chaos und Anarchie Einzug gehalten. Plünderungen waren an der Tagesordnung, und die Gesetzeshüter standen dieser Entwicklung machtlos gegenüber, vielleicht auch gleichgültig. Sekten, die Erlösung versprachen und alles Mögliche und Unmögliche in den Kometen hinein interpretierten, erlebten irrsinnigen Zulauf. Und, und, und... Carl Ranseier ging auf ganz eigene Weise mit dem Ende der Welt um: Er ließ die leere Bierflasche links von seinem Sessel zu Boden klirren, rülpste, griff sich mit der Rechten ein frisches Bitburger - und zugleich gab er sich alle Mühe, diese unheimlichen Blicke aus dem Nichts, die wie auf dünnen Beinen über seine Haut kribbelten und trippelten, zu ignorieren. Aber das unangenehme Gefühl blieb hartnäckig. Ein Gefühl, als habe sich winziges Ungeziefer unter seiner Kleidung eingenistet. Paranoia, übte sich Ranseier in Selbstdiagnose. Kein Wunder, so wie die Dinge lagen. Denn die Dinge lagen, mit Verlaub, beschissen... Nichtsdestotrotz glaubte sich Carl Ranseier gerüstet, mochte da kommen, was wollte. Gerüstet jedenfalls so gut es ging. Er hatte Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs gebunkert, vor Wochen schon, noch ehe die Regale sämtlicher Supermärkte leer geräumt waren. Danach hatte sich Ranseier in seinem schmalbrüstigen Häuschen in der Aachener Altstadt buchstäblich verbarrikadiert. Und seitdem wartete er. Darauf, dass die Welt, wie er sie kannte, zur Hölle ging. Was ihm sehr viel schwerer fiel, als er es sich anfangs vorgestellt hatte. Weil es ihm einfach nicht gelang, seine Gedanken abzuschalten, während er mehr oder minder tatenlos da saß und des Kometen harrte, der nach seinen Entdeckern Marc Christopher und Archer Floyd benannt worden war und angeblich mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern pro Sekunde auf die Erde zu raste. Zum einen war da dieses boshafte Stimmchen, das direkt in Ranseiers Kopf zu
wispern schien und ihm unentwegt vorhielt, wie ereignislos sein Leben doch gewesen war, mehr noch, in welchem Maße er es verschwendet hatte. Welche Chancen sich ihm geboten hatten, die er samt und sonders nicht genutzt, mitunter nicht einmal erkannt hatte! Und dass es dem Rest der Menschheit vollkommen egal sein würde, wenn er den Löffel abgab. Niemand würde ihn vermissen. Niemand würde ihm einen schönen Spruch in den Grabstein gravieren. Andererseits - Ranseier zuckte die Schultern und nahm einen Schluck - würden wohl weder er noch sonst jemand überhaupt einen Grabstein erhalten; ja nicht einmal ein anständiges Begräbnis würde drin sein. Denn sollten die Eierköpfe Recht behalten, dann mochte sich die Welt morgen Nachmittag in ein einziges gigantisches Massengrab verwandeln! Die Fernsehsender wurden nicht müde, einander im Ausmalen dieser Schreckensvision zu übertrumpfen. Und die verdammte Flimmerkiste war der andere Grund, aus dem Carl Ranseier nicht die ersehnte Ruhe und Gelassenheit fand. Er brachte es nicht fertig, das Gerät abzuschalten. Es lief seit Tagen, und über die Bild-im-Bild-Funktion verfolgte Ranseier die Sendungen mehrerer Stationen parallel zueinander. Wenn sie sich auch nicht allzu sehr voneinander unterschieden. Allesamt predigten sie den Weltuntergang zerrten so genannte Experten vor die Kameras, zeigten wieder und wieder geradezu abartig detaillierte Computersimulationen dessen, was der Komet anrichten konnte, und den größten Spaß hatte man scheint's daran, den Zeitpunkt des Einschlags auf die Sekunde genau vorher zu berechnen. Und am Bezeichnendsten für die Dekadenz dieser Welt war dabei die Tatsache, dass es immer noch Unternehmen gab, die Werbespots schalteten. Immerhin; Einschaltquoten wie in diesen Tagen hatte man in der ganzen Geschichte des Fernsehens noch nicht eingefahren! Ranseier köpfte das nächste Bier. Der Kronkorken sprang davon und klickte gegen die Mattscheibe, gegen das Gesicht von Bruce Willis, der in "Armageddon" die Welt vor einem Schicksal zu retten versuchte, das jetzt
Wirklichkeit geworden war. Tatsächlich zeigte einer der Pay-per-View-Channels seit einer geschlagenen Woche rund um die Uhr nichts Anderes als Katastrophenfilme, angefangen bei den ollen Schwarzweiß-Kamellen aus den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis hin zu den Streifen, die Ende der Neunziger im Trend gelegen und sich die unterschwellige Angst der Menschheit vor der Jahrtausendwende zu Nutze gemacht hatten. Ranseier lachte glucksend, ein Geräusch fast wie das Schwappen des Biers in der Flasche. Seinerzeit, vor über zehn Jahren, hatten sich alle möglichen Leutchen mit obskuren Prophezeiungen überboten, was der Welt alles drohen könnte im Angesicht des neuen Jahrtausends. Nichts davon hatte sich als wahr erwiesen, nicht einmal dieser beknackte Millennium-Bug hatte zugebissen - aber wer hätte ahnen können, dass das wirkliche Ende der Welt in allernächster Zukunft lauerte? Warum gab es im wirklichen Leben keine Helden vom Schlage eines Bruce Willis? fragte sich Ranseier. Wieso versuchte man jetzt nicht genau das, was in diesem Film vorpraktiziert worden war: ein Shuttle zu diesem Brocken im Weltall hoch schicken und eine Bombe rein pflanzen, um das Scheißding zu sprengen? Oh, klar, über die theoretische Möglichkeit hatten Wissenschaftler, Militärs und die anderen Mächtigen dieser Welt in den vergangenen Wochen ausführlich palavert. Für und Wider abgewägt. Erfolgschancen ausgerechnet. Nur praktisch unternommen hatten sie nichts, diese elenden Sesselfurzer! Wäre es nicht so tragisch und traurig gewesen, hätte man darüber lachen können. Gerade in den vergangenen Jahren hatte man Projekte gestartet, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren als reinste Utopie gegolten hatten: Europäer und Amis hatten angefangen, eine Forschungsstation auf der Mondoberfläche zu bauen, und man hatte eine bemannte Mission zum Mars losgeschickt, die aber in die Hose gegangen war - das nahm man jedenfalls an, denn der Kontakt zum Raumschiff war abgerissen, ehe es sein Ziel erreicht hatte. Warum also in drei Teufels Namen schaffte man es nicht, einen acht Kilometer durchmessenden Brocken aus Ruß und Eis vom
Himmel zu holen, bevor er Schaden anrichten konnte? Die Fachidioten im Fernsehen fanden ungefähr hundertfünfzig Umschreibungen für die Antwort, von denen keine einzige Carl Ranseier wirklich zufrieden stellte... "Arschlöcher", grunzte Ranseier und kratzte sich so ungeniert wie ausgiebig im Schritt seiner ausgebeulten Trainingshose in den Farben der Alemannia Aachen: Gelb und Schwarz. Es hörte nicht auf zu jucken da unten, und Ranseier überlegte, ob er nicht noch eine Dusche nehmen sollte, seine letzte und ganz feierlich. Denn nach dem Kometeneinschlag würde dazu wohl keine Gelegenheit mehr sein. Dann würden die Flüsse nämlich verdampft sein und das Grundwasser verseucht; auch darüber ließ man sich im Fernsehen beinahe genüsslich aus... Ein Bierchen noch, beschloss Ranseier, dann würde er tatsächlich noch mal unter die Dusche steigen. Er grinste verunglückt. Und sei es nur, um morgen als Toter nicht gleich von Anfang an zu stinken... Irgendwie verfing sein Galgenhumor nicht. Der Sarkasmus hinterließ nur einen gallbitteren Geschmack, und er vermochte nichts auszurichten gegen die Angst, die Ranseier wie ein Eisklumpen in der Brust saß, schwer und kalt und so spürbar, dass es regelrecht weh tat. Er hatte ernsthaft geglaubt, diese Angst mit Alkohol bekämpfen zu können, doch obwohl er in den vergangenen Tagen so viel gesoffen hatte wie nie zuvor in seinem Leben, fühlte er sich nicht einmal wirklich betrunken. Im Gegenteil schienen seine Sinne mit nie gekannter Präzision zu funktionieren - mehr noch, sie arbeiteten in einem Maße und auf eine Weise, die seine Furcht nur noch schürten. Er glaubte Geräusche zu hören, die es nicht geben konnte. Ein Knistern und Rascheln um ihn her, als bewegten sich dort unsichtbare Dinge. Und er fühlte sich nach wie vor beobachtet, förmlich angestarrt von gleichfalls unsichtbaren Augen. Vielleicht - und Carl Ranseier betrachtete den Gedanken ganz ernsthaft als Versuch sich selbst zu beruhigen - fing er ja an verrückt zu werden. Womöglich hatte er seinen letzten Rest
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Verstand zuschanden gesoffen. Und vielleicht war es gut so. Weil ihm dann erspart blieb, das Ende der Welt bewusst mitzuerleben. Im nächsten Augenblick jedoch, und noch ehe er den Gedankengang wirklich zu Ende geführt hatte, fühlte sich Ranseier ernüchtert, von einer Sekunde zur nächsten. Und er glaubte nicht einen Moment lang an eine Halluzination - als er das dunkle Ding über den Bildschirm des Fernsehers krabbeln sah! Er wusste sogar, was es war. Nicht irgendein unbestimmbares Ding, o nein! Sondern ein halbfingerlanger Kakerlake! Ein erstickter Schrei, der in ein Husten und Würgen überging. Ein Splittern. Carl Ranseier hatte sich an seinem Bier verschluckt, die Hälfte wieder ausgespuckt und im nächsten Moment die Flasche in Richtung. des Fernsehapparates geschleudert. Wie durch ein Wunder ging der Bildschirm nicht zu Bruch, doch die Flasche zersprang in Dutzende von Scherben, die geschossartig nach allen Seiten davonflogen. Bier lief in dünnen Rinnsalen über das Glas. Und mittendrin, wie hingeklebt, saß immer noch der Kakerlak - der mit einemmal Gesellschaft bekam! Auf den ersten Blick hatte Ranseier den Eindruck, die Tiere würden aus dem Nichts auf die Mattscheibe projiziert. Dann sah er, dass sie von allen Seiten über den Bildschirm krabbelten, so flink, wie man es ihren winzigen dürren Beinen kaum zugetraut hätte. Er glaubte sogar das feine Ticken ihrer Chitinfüße auf dem Glas zu hören. Das über den Fernseher rinnende Bier schien die kleinen Biester anzulocken. Und es wurden mehr und immer mehr. Binnen zwei oder drei Sekunden hatte sich weit über ein Dutzend des Getiers auf dem Bildschirm eingefunden. Fast wie gegen seinen Willen wandte Ranseier den Blick, um herauszufinden, woher die Schaben kamen. Die Antwort war so einfach wie erschreckend - sie kamen buchstäblich von überall! Sie krochen aus Regalen, hinter den Möbeln und unter dem Teppich hervor. Sie tauchten in den Ritzen des Fachwerkgebälks der Wände auf, fielen wie
schwarzer Hagel von der Decke und fanden ihren Weg durch Spalten im Dielenboden. Sie vollführten bizarre Wettläufe, stießen mit leisem Knistern und Kratzen gegeneinander, krabbelten über- und untereinander hinweg. Wo Ranseier auch hinschaute, wimmelte und bewegte sich glitzerndes und matt schimmerndes Schwarz, und das Zimmer war erfüllt von einem Geräusch, das ihn wie unverständliches, aber boshaftes Wispern umwehte. Er sprang auf, so hastig, dass der Sessel nach hinten wegkippte, und unternahm zwei oder drei Versuche, ein paar der Schaben unter seinen Schuhen zu zermalmen. Dann blieb er stehen, wie in der Bewegung eingefroren, in grotesker Storchenhaltung- weil das Jucken in seiner Hose plötzlich unerträglich wurde, und weil er wusste, woher es rührte! Carl Ranseier schrie auf, schrill und weibisch. Der bloße Gedanke genügte, ihn in schiere Panik zu stürzen. Dann erst sah er die seltsam fließende Bewegung unter dem Stoff seiner ausgebeulten Trainingshose. "Oooo - mein - Gooott!", brüllte Ranseier, schlug mit flachen Händen gegen Beine und Schritt, führte dabei einen irren Veitstanz auf und versuchte gleichzeitig das unmögliche Kunststück, die Hose auszuziehen. Der Versuch endete darin, dass Ranseier lang und schwer hinschlug. Die Biester reagierten vermutlich auf den Bierdunst, der ihm aus jeder Pore drang. Ranseier konnte sie unter seinem T-Shirt spüren, auf der nackten Haut, und er sah sie auf seinen bloßen Beinen und unter dem dünnen Stoff seiner Boxershorts. Keuchend und sinnlose Laute ausstoßend kroch er bäuchlings in Richtung der Tür, gab sich der vagen Hoffnung hin, dass die Schaben nur dieses Zimmer erobert hatten. Wenn es ihm gelang, durch die Tür zu kommen... Ein ersticktes Lachen kam ihm aus dem Hals. Grundgütiger, er stellte sich an, als würden ihn die Viecher bei lebendigem Leibe auffressen! Aber es waren doch nur blöde Käfer! Sie konnten ihm nichts tun, nicht wirklich!
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Aber irgendwie verfing die Stimme der Vernunft, die Carl Ranseier herauf beschwor, nicht recht. Panik regierte sein Tun und Denken mit eiserner Faust. Es lag wohl an der Verfassung, in der er sich schon seit Tagen befand: Er war übernächtigt, müde, hatte zu viel getrunken, und die Angst vor dem endgültigen Aus für diese Welt hatte an seinen Nerven genagt wie eine ausgehungerte Ratte. Kein Wunder also, dass es in dieser Situation nur irgendeines Anstoßes bedurft hatte, um ihn vollkommen ausrasten zu lassen. Und eine Kakerlaken-Invasion war nun weiß Gott ein guter Grund! Auf dem Weg zur Tür riss Ranseier noch eine ohnehin wacklige Anrichte um. Allerlei Nippes, der seit fast hundert Jahren in Familienbesitz gewesen war, ging dabei zu Bruch. Endlich hatte er sich mit ungeschickten Bewegungen über die Schwelle hinaus in den schmalen Flur gekämpft. Ebenso linkisch zog er sich an der Wand jenseits der Tür in die Senkrechte, tat einen Schritt, vergaß, dass ihm immer noch die Hose um die Knöchel hing, stolperte und stürzte abermals. Hart schlug er mit der Stirn am Boden auf, und für zwei, drei Sekunden sah er nichts außer bunten Sternen vor tiefschwarzem Hintergrund. Die Farben vergingen, die Schwärze blieb. Sie bewegte sich in Keilform auf ihn zu. Wenn man genug Fantasie besaß - oder einfach nur verrückt genug war -, konnte man glauben, die Schaben hätten sich wie eine Armee zu einer Angriffsformation zusammengefunden. Ranseier hatte sich nie für sonderlich fantasiebegabt gehalten, aber offenbar war er im Augenblick zumindest verrückt genug, um dieser Illusion zu verfallen. Carl Ranseier begann zu schreien, den Kopf hochrot vor Anstrengung. Doch dann verebbte sein Schrei so abrupt, als sei ihm unversehens die Kehle zugeschnürt worden. "Aber Herr Ranseier, was tun Sie denn da?", fragte jemand wie aus dem Nichts. "Sind Sie von Sinnen?!" Von Sinnen...? Das wagte ausgerechnet dieser Mann ihn zu fragen?!
Carl Ranseier lachte auf, ein heller, wimmernder Laut, der ihm in der Kehle wie auch in den Ohren wehtat. Wenn hier jemand von Sinnen war, dann ja wohl dieser Mann selbst! In der ganzen Stadt wusste man das - oder wenigstens in der gesamten Nachbarschaft. Niemand hier war gut auf Professor Hallstein zu sprechen. Jeder nannte ihn den "Spinnenmann", den "Fliegen-Freak" und so weiter. Und Carl Ranseier zweifelte keine Sekunde lang daran, dass er dem verrückten Professor diese Invasion der Scheußlichkeiten zu verdanken hatte! Es war ebenso ein Wunder wie auch ein Skandal, dass Gunnar Hallstein seinen Insektenzoo in seinem Hause halten durfte. Die Anwohner hatten in den letzten Jahren immer wieder Beschwerden bei der Stadtverwaltung eingereicht. Geschehen indes war nichts. Vermutlich hatte der Professor gute Freunde an verantwortlicher Stelle. Carl Ranseier war drauf und dran, vor Wut kurzerhand überzuschäumen! Angst und Ekel vergingen unter diesem Zorn, und hätte er nicht mit herabgelassener Hose am Boden gelegen, wäre er Professor Hallstein in diesem Augenblick wohl mit bloßen Händen an die Kehle gegangen. So aber schnaubte er nur, immer noch schwer atmend und mit hochrotem Kopf: "Sie Irrer! Was fällt Ihnen ein, diese Viecher auf mich zu hetzen?" Hallstein - groß, kräftig, mit Glatze, Vollbart und Brille - hob die rechte Hand und reckte belehrend den Zeigefinger. "Viecher?" Er schüttelte mit geradezu bedauernder Miene den Kopf. "Periplaneta americana", fuhr er dann fort, in jenem dozierenden Tonfall, den er nicht verlernt hatte, obwohl er schon seit etlichen Jahren nicht mehr an Universitäten lehrte, "oder amerikanische Großschabe, wenn Ihnen dieser Begriff lieber ist." Nein, er war Ranseier nicht lieber. Es war ihm völlig egal, wie diese Biester genannt wurden. Er wollte nur eines - dass sie aus seinem Haus verschwanden und dieser Verrückte mit ihnen!
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"Sie zählen zu den flinksten Vertretern ihrer Art", fuhr Hallstein ungerührt fort. "In einer Sekunde kann die amerikanische Großschabe bis zu vierundsiebzig Zentimeter zurücklegen." Er beugte sich ein klein wenig vor, und Ranseier sah ein begeistertes Funkeln in den Augen des Professors. "Ist das nicht ganz und gar erstaunlich?" Ranseier ertappte sich dabei, dass er zustimmend nickte. Was seine Wut nur noch mehr anstachelte! Doch ehe er seinen uneingeladenen Besucher von neuem anblaffen konnte, sprach dieser auch schon weiter. "Aber gerade deswegen war es wohl nicht die klügste Entscheidung meinerseits, das Experiment gerade an dieser Spezies durchzuführen. Wie gesagt, die Periplaneta americana ist schnell, ein bisschen zu schnell wohl, und deshalb haben sich die Tiere weiter von meinem Hause entfernt, als es für den Versuch erforderlich gewesen wäre." Gunnar Hallstein räusperte sich und lächelte Verzeihung heischend. "Ich hoffe, Ihnen sind nicht zu viele Unannehmlichkeiten ent standen, Herr Ranseier." "Hauen Sie ab! ", fauchte Carl Ranseier, mühsam beherrscht. "Und nehmen Sie dieses...dieses Kroppzeug mit! " Hallstein überging den schroffen Ton wahrscheinlich nahm er ihn nicht einmal wirklich wahr - und nickte beflissen. "Natürlich, natürlich, das werde ich tun. Deshalb bin ich ja hier." Abermals lächelte er entschuldigend. "Ich habe überall nach meinen kleinen Freunde gesucht. Ich hätte mir denken können, dass sie sich gerade zu Ihnen hingezogen fühlen." Seine Stimme war frei von jeglichem Spott, im Gegenteil klang der Professor ganz sachlich. "Sehen Sie, mein Lieber, es ist sehr umstritten, ob und inwiefern Schaben auf Gerüche ansprechen. Man hat diesen Aspekt seitens der Fachwelt bislang eher stiefmütterlich behandelt. Ich allerdings", und tatsächlich schwoll Hallstein die Brust ein wenig vor Stolz, "habe mich dieser Sache nunmehr angenommen. Und Sie, mein Bester, werden Zeuge dieses in wissenschaftlicher Hinsicht historischen Momentes sein! Ist das nicht ganz und gar aufregend?"
Der Professor blickte auf Ranseier herab, strahlte ihn geradezu an, Feuer und Flamme ob seiner eigenen Worte und dessen, was da noch kommen sollte. Ranseiers Zorn legte sich, ein wenig zumindest. Die Angst kehrte zurück. Angst allerdings, die nicht länger dem herumkriechenden Getier galt, sondern Gunnar Hallstein selbst. Dieser Mann lehrte ihn das Fürchten, sicher ohne es zu wollen oder zu wissen. Carl Ranseier kam sich mit einemmal vor, als befände er sich in den Händen eines wahnsinnigen Wissenschaftlers, festgeschnallt und wehrlos auf einem Untersuchungstisch wie ein Versuchskaninchen. Als Hallstein ihm jetzt die linke Hand hinhielt, zuckte er erschrocken zusammen. "Hier, sehen Sie?", fragte der Professor. Ranseier nickte stumm und fixierte den gläsernen Flakon in Hallsteins Hand. Die Öffnung war mit etwas verschlossen, das einem Parfümzerstäuber gleichsah. Hinter der Glaswandung schwappte eine Flüssigkeit, träge und ölig. "Ich habe in den vergangenen Wochen eine Reihe von Kleinversuchen angestellt und..." Hallstein hielt inne, winkte dann ab und sagte: "Nun, die Details würden wohl zu weit führen und Sie vermutlich langweilen. Um es einfach auszudrücken: Ich konnte etliche Substanzen katalogisieren, auf die die Periplaneta americaea anspricht, und hier drin", er wedelte mit dem Flakon wie mit einem Glöckchen, "befindet sich nun ein Konglomerat aus all diesen Stoffen. Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, müssten die Schaben darauf reagieren wie..." Er suchte nach einem geeigneten Vergleich, fand aber keinen und flüchtete sich erneut in ein bedauerndes Lächeln. "Nun, jedenfalls müsste diese Mischung die Tiere in ganz und gar erstaunlicher Weise stimulieren. Passen Sie gut auf, mein Freund..." Ranseier hatte eine geradezu erschreckend genaue Vorstellung davon, was der Professor tun würde. Er befürchtete, nun tatsächlich als Versuchskaninchen herhalten zu müssen. Mit angststarrem Blick stierte er den Flakon an doch der Kelch ging an ihm vorüber. Hallstein richtete die winzige Öffnung des Zerstäuberaufsatzes gegen sich selbst, dann
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begann er zu pumpen. Feiner, kaum sichtbarer Nebel strömte aus der Düse, legte sich auf Hallsteiners Kleidung, seinen Hals, sein Gesicht... und augenblicklich gerieten die Kakerlaken in blanke Raserei! Plötzlich schwoll das Rascheln und Knistern in der Luft an, als Chitinpanzer hektisch aneinander rieben, unzählige winzige Beine über die Dielenbretter rasten, und für drei, vier Sekunden wurde Carl Ranseier förmlich überrollt von einem Teppich aus Insektenleibern. Er schrie auf, vergrub das Gesicht in den Armen, krümmte sich zusammen. Und dann war es vorbei. Die Biester hatten von ihm abgelassen. Nicht eines kroch ihm mehr über die Haut. Allesamt hatten sie sich auf Gunnar Hallstein gestürzt! Und der stand da, mit ausgebreiteten Armen, als wollte er die Welt umarmen, und - lachte! Ein ganz und bar bizarrer und vor allem erschreckender Anblick Denn der Professor glich einer Statue, die einzig aus Insekten gemacht war. Sie bedeckten jeden Quadratzentimeter seines Körpers. Krochen wie ziellos umher. Und immer noch lag dieses Knistern und Klicken in der Luft. Doch Hallstein schien sich daran nicht zu stören; im Gegenteil. "Heureka! ", rief er, doch seine Stimme klang dumpf durch diesen Panzer aus Chitin, der ihn wie eine zweite Haut aus lebendem Getier einhüllte. Dann wandte er sich um, vorsichtig und langsam, und ging den Flur hinab in Richtung der Haustür. Bei jeder Bewegung löste sich eine ganze Anzahl von Schaben und fiel zu Boden, doch die Tiere krabbelten mit rasender Geschwindigkeit wieder an seiner Gestalt hinauf. Steifbeinig und behäbig wie ein Ritter, der von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Kettengewand gekleidet ist, erreichte der Professor schließlich die Tür und ging hinaus, jedoch nicht ohne sich noch einmal umzuwenden und Ranseier zuzuwinken. Wieder rieselten Schaben herab wie schwarzer Schnee, doch bevor Hallstein die Tür hinter sich geschlossen hatte, war ihm auch die letzte
Periplaneta americana nachgeschlüpft und verschwunden. Carl Ranseier brauchte eine ganze Weile, bis er sich so weit gesammelt hatte dass er aufstehen konnte. Dann brachte er einige Zeit damit zu, jeden noch so winzigen Winkel seines Hauses nach Kakerlaken abzusuchen. Als er nichts fand und die entstandene Unordnung beseitigt hatte, ließ er sich schließlich wieder vor dem Fernseher nieder. Dort war immer noch alles beim alten. Die Sender kannten nur ein Thema und gewannen ihm alle möglichen und unmöglichen Aspekte ab. Ein ermüdender TV-Marathon, dem Carl Ranseier schlussendlich Tribut zollte. Er nickte ein. Und wurde erst von einem urgewaltigen Dröhnen wieder geweckt, das die Erde zum Zittern brachte...
Gegenwart; in ferner Zukunft Aruula kauerte auf dem feuchten Waldboden, vornüber gebeugt, den Kopf zwischen den Knien und vollkommen reglos, seit einigen Minuten schon. Sie lauschte. Und Commander Matthew Drax fürchtete, dass er bald mit eigenen Ohren hören würde, was seine Gefährtin auf telepathischem Wege in Erfahrung bringen wollte, wenn sie nicht endlich einen Zahn zulegte! Ihre Verfolger konnten nicht so weit entfernt sein, dass sie beide es sich leisten konnten, auch nur ein paar Minuten zu verschwenden. Wenn Matt das unangenehme Gefühl richtig interpretierte, das ihm wie mit Spinnenbeinen aus Eis auf der Haut umher kroch, dann wurden sie bereits beobachtet. Als lägen ihre Verfolger im zunehmenden Dunkel ringsum auf der Lauer... Aber er beherrschte sich und schwieg. Es wäre unfair gewesen, Aruula einen Vorwurf zu machen. Sie versuchte ihr Bestes. Und Matt konnte die Anstrengung, die eine solche Konzentration erforderte, allenfalls erahnen. Richtig verstehen aber konnte er das, was Aruula Lauschen nannte, noch immer nicht.
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Auch wenn er jetzt bereits seit über sechs Monaten mit der jungen Kriegerin durch diese unwirtliche Welt zog. Eine Welt, die ohne jeden Zweifel seine eigene war; darüber war sich Matt Drax mittlerweile längst im Klaren. Allerdings hatte die gute alte Mutter Erde ein ganz gravierendes Facelifting erfahren. Nichts war mehr so, wie Matt es sein Leben lang gekannt hatte. "Christopher-Floyd", der Komet, der den Globus wie eine Bowlingkugel der Götter getroffen hatte, hatte ganze Arbeit geleistet. Wäre Matt inzwischen nicht auf eine Vielzahl von Hinweisen gestoßen, dass er sich noch auf der Erde befand, hätte er womöglich vermutet, dass die Druckwelle des Kometen ihn auf einen erdähnlichen, aber dennoch bizarr-fremden Planeten versetzt hatte - damals, am 8. Februar des Jahres 2012. Druckwelle? Matt schüttelte unbewusst den Kopf. Wie konnte eine simple Druckwelle die Grenzen der Zeit niederreißen? Physikalisch war das nicht zu erklären. Es war schlicht unmöglich. Darauf beharrte zumindest jener kleine Teil seines Verstandes, der ihm früher schon so manches fantastische Action-Spektakel im Kino vermiest hatte, weil es beharrlich nach der Logik und dem tatsächlich Möglichen noch im kleinsten Detail gefragt hatte. Nach allem, was die Menschheit an Wissen zusammengetragen hatte, konnte es schlicht und ergreifend nicht sein, dass es ihn samt seines Jets in die Zukunft verschlagen hatte, ganz egal ob nur einige Tage oder Hunderte von Jahren! Doch andererseits all diese Gesetzmäßigkeiten, Regeln und was auch immer waren letztlich nur von Menschen aufgestellt und festgehalten worden, von Wesen also, die sich zwar für die Krone der Schöpfung hielten, aber eben doch nur einen kleinen Teil ihrer Hirnkapazität zu nutzen imstande waren. Was ihm widerfahren war, mochte womöglich nur mit dem brachliegenden Teil des menschlichen Hirns zu erfassen sein. Und daraus wiederum ließ sich schlussfolgern, dass er es wohl nie begreifen würde. Vielleicht aber konnten es jene Menschen, die geschützt in Bunkern die letzten fünfhundertvier Jahre Evolution hinter sich
gebracht hatten, ohne zu verdummen wie die Bevölkerung der Oberfläche - auch dies ein bislang ungelöstes Rätsel. Von diesen "Technos" erhoffte sich Matthew Antworten, und deshalb hieß sein nächstes Ziel London, wo er eine sogenannte "Community" dieser Bunkermenschen wusste. Einer Sache allerdings konnte er sich ganz sicher sein: Ein Traum war es nicht, den er hier durchlebte. Das verriet ihm sein Körper mit buchstäblich schmerzhaftem Nachdruck, denn im Laufe der Zeit hatte er doch etliche Blessuren davongetragen, die noch nicht alle wieder abgeklungen waren. Als habe der Teufel seine Hand im Spiel, gerieten er und Aruula nämlich mit geradezu erstaunlicher Regelmäßigkeit in außergewöhnlichste Gefahrensituationen, und wenn diese postapokalyptische Welt auch anderweitig vieles vermissen ließ, an Bedrohlichkeiten zumindest mangelte es ihr nicht. Matt Drax hätte mittlerweile ganze Nächte als Gaststar an Pfadfinderlagerfeuern bestreiten können, so viele Horrorstorys hatte er in petto. Und die aktuellste in dieser Sammlung war noch nicht vorbei! Aruula und er steckten noch mittendrin. Auf ihrer Wanderung hatten sie vor kurzem die Stadt erreicht, die in Matt Drax' Welt und Zeit Köln geheißen hatte. Dort hatte ein obskurer Verein regiert, der sich "Sekte des Lichts" nannte, und mit eben diesen Irren, die die missratenen Klone der angeblichen Heiligen Drei Könige verehrten, waren Matt und Aruula aneinander geraten. (siehe MADDRAX 12: "Die Sekte des Lichts") Zu guter Letzt hatten Widerstandskämpfer unter der Führung des geheimnisvollen Albinos Rulfan zwar den Sieg errungen, doch der harte Kern der Sektierer hatte sich rachsüchtig an die Fersen von Matt und Aruula gehängt. Und diese Verfolgungsjagd dauerte seit nunmehr drei Tagen an. Matt und Aruula waren auf einem Frekkeuscher unterwegs, einem der gebräuchlichen Reittiere dieser Ära Heuschrecken, die zur Größe von Kamelen mutiert und von den Menschen domestiziert worden waren. Die Tiere konnten Sprünge von
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dreißig bis vierzig Metern vollführen und waren darüber hinaus auch des Fliegens über kurze Strecken mächtig. Mittlerweile kam Matt mit diesem "Transportmittel" einigermaßen zurecht, trotzdem hatte er die Zügel des Tieres inzwischen Aruula überlassen. Sie hatte doch mehr Erfahrung im Umgang mit Frekkeuschern, und eine Weile lang schien es, als habe sich eben dieses Wissen ausgezahlt. Aruula hatte die Riesenheuschrecke kreuz und quer durch die Gegend getrieben, und sie hatten geglaubt, ihre Häscher getäuscht und abgehängt zu haben. Bis Aruula etwas gespürt hatte. Etwas, über dessen Natur und Ursprung sie Maddrax - wie sie ihren Gefährten nannte - im Unklaren gelassen hatte. Er hatte nur gesehen, dass sich plötzliches Erschrecken tief in ihr schönes Gesicht gegraben hatte. Dann hatte Aruula den Frekkeuscher zum Stehen gebracht, war aus dem Sattel gesprungen, und seither kniete sie in dieser devot anmutenden Haltung am Boden. Sie sprach kein Wort. Matt hörte nur gedämpft ihren Atem, weil ihr Gesicht beinah den Boden berührte, und sah, wie sich ihr nackter Rücken hob und senkte. Er selbst versuchte derweil die zunehmende Dunkelheit um sie her mit Blicken zu durchforsten, auf dass sie keine unliebsame Überraschung erlebten. Schatten hingen wie schwarze Tücher zwischen den Bäumen, aber zumindest so weit Matts Auge reichte, rührte sich nichts. Der Eindruck jedoch, beobachtet zu werden, blieb. Er nahm eher noch zu. Das Gefühl, etwas bewege sich trippelnd über seine Haut, wurde so stark, dass er sich an den Armen zu kratzen begann - und etwas unter seinen Fingern spürte. Etwas wie feine harte Krümel, die "Angst! " Matt schrak auf, als Aruula endlich etwas sagte. Sie kniete immer, noch am Boden, hatte sich aber aufgerichtet und sah Matt aus großen Augen an. "W-was?", setzte er verwirrt an. "Wovon redest du?" "Sie haben Angst", erwiderte Aruula. "Große Angst." "Wer?" "Unsere Verfolger. Sie haben aufgegeben."
Matt lachte humorlos. "Aufgegeben? Aus Angst? Vor uns?" "Nein." Aruula schüttelte entschieden den Kopf. "Ich weiß nicht genau, wovor sie sich fürchten. Aber es muss etwas Schreckliches sein. Etwas sehr Altes", sie sah sich voller Unbehagen um, "das in dieser Gegend haust. Die Männer, die uns jagen, wissen von seiner Existenz." Matt fand es immer wieder erstaunlich, wie gut Aruula mittlerweile Englisch sprach; nahezu fließend. Und das, obwohl er ihr einziger Lehrer gewesen war. Seine eigenen Fortschritte im Idiom dieser Welt - das sich aus Versatzstücken mehrerer alter und heute "ausgestorbener" Sprachen rekrutierte - nahmen sich im Vergleich zu Aruulas Englischkenntnissen eher spärlich aus, wenn er sich auch durchaus verständlich machen konnte und kaum noch auf Aruulas Hilfe als Übersetzerin angewiesen war. Ihre telepathische Fähigkeit war gewiss hilfreich im Erlernen des Englischen gewesen sein. So hatte sie seinen Wortschatz irgendwie "anzapfen" können. Dazu kam vielleicht noch eine natürliche Begabung für Fremdsprachen. "Irgendetwas also, das ihnen so große Angst einjagt, dass sie uns deswegen laufen lassen?", hakte er nach und sah Aruula an. Erst jetzt fiel ihm auf, wie erschöpft sie wirkte; blass und müde, dunkle Ringe unter den Augen wie Halbkreise aus Ruß. Das Lauschen hatte an ihren Kräften gezehrt. Sicher kein sehr angenehmes Gefühl, zumindest das konnte sich Matt vorstellen, auch wenn ihm die Details von Aruulas telepathischer Gabe noch immer unverständlich waren - und bisweilen auch ein klein wenig unheimlich. Sekundenlang schwiegen sie, sahen sich nur um. Hielten Ausschau nach dem, was ihre Jäger in die Flucht geschlagen hatte. "Erinnert mich ein bisschen an alte Horrorgeschichten", murmelte Matt nach einer Weile. "Fehlt nur noch das Schloss im Nebel, in dem ein Vampirgraf wohnt, von Werwölfen bewacht und im ganzen Umland gefürchtet..." Er spürte Aruulas fragenden Blick und winkte lächelnd ab. "Schon gut."
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"Du glaubst, die Angst der Männer hat keinen echten Grund", stellte sie fest. Matt wollte spontan nicken, zögerte dann allerdings und hob nur die Schultern. Zunächst hatte er sich von Aruulas Worten anstecken lassen, dann jedoch hatte er sich der abergläubischen Natur der Menschen dieser Zeit besonnen. Es mochte also gut sein, dass sie sich vor irgendeinem Hirngespinst fürchteten, vor einem Ungeheuer, das noch niemand mit eigenen Augen gesehen hatte. Andererseits - Matt patte schon mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen, dass diese Welt an wirklichen Ungeheuern keinen Mangel litt; ganz im Gegenteil... Er verscheuchte den Gedanken. Was auch immer die Verfolger bewegt hatte, den Rückzug anzutreten, es konnte ihm und Aruula zunächst nur recht sein. Und wenn irgendwo dort draußen tatsächlich eine Gefahr lauerte, taten sie gut daran, nicht einfach hier herumzustehen wie auf dem Präsentierteller, sondern schleunigst zu verschwinden. Matt wandte sich Aruula zu, um ihr genau das zu sagen, aber die Worte erstickten ihm im Halse. Nur ein entsetztes Keuchen kam über seine Lippen. Hinter Aruula bewegte sich...etwas!
So brachte Ranseier es beispielsweise nicht fertig, sich von dem zu ernähren, was die Natur hergab: Insekten beziehungsweise deren Larven. Sehr nahrhaft, sehr eiweißhaltig und vor allem - in Hülle und Fülle vorhanden! Aber Carl Ranseier konnte das alte Ekelgefühl vor Insekten einfach nicht abstreifen, und die Vorstellung, sie zu seiner Hauptspeise zu machen, war ihm immer noch zutiefst zuwider. Kein Wunder, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Blass und knochig war er geworden in den Jahren, sein Immunsystem so löchrig wie die Kleidung, die sie am Leibe trugen. Fortwährend war der Ärmste erkältet und wurde von allen nur denkbaren Zipperlein geplagt. Kein Vergleich mehr zu jenem Carl Ranseier, der früher nebenan gewohnt hatte. Früher... Vor dem Einschlag des Kometen. Bevor diese Welt vollkommen umgekrempelt, fast buchstäblich schon auf den Kopf gestellt worden war. Professor Hallstein fand es nach wie vor ganz und gar erstaunlich, was seinerzeit geschehen war. Doch er spürte kein Bedauern ob des Schicksals, das die Welt ereilt hatte, kein Mitleid mit jenen, denen es zum Verhängnis geworden war. Denn die Menschen, die allermeisten jedenfalls, hatten ihn schlecht behandelt. Oder schlicht nicht zu schätzen gewusst, was er tat. Vielleicht hatten sie es auch nur nicht verstanden... Heute jedoch würden sie es verstehen, würden sie mit, eigenen Augen sehen, dass jede jener ach so gewagten und hanebüchenen Thesen, die Hallstein aufgestellt hatte, der Wahrheit entsprach - wären die Zweifler und Spötter von damals noch am Leben... Aber sie waren tot. Gestorben mit ihrer Welt. Hallsteins kleines Reich indes war nicht untergegangen. O nein, seine Welt war regelrecht aufgeblüht! Alles was seinerzeit bestenfalls in simulierten Szenarien und Kleinversuchen unzureichend zu erproben gewesen war, hatte sich mittlerweile in dieser neuen Realität bestätigt.
Aachen, im Sommer 2018 "Unser Holzvorrat geht zur Neige, Herr...Professor." Carl Ranseier stand da, vollführte mit den Händen unbewusste kleine Bewegungen und hatte den Kopf gesenkt, in beinah schon devoter Haltung. Es mochte aber auch sein, dass er einfach nicht mehr mitansehen wollte, wie Professor Gunnar Hallstein sich Larven in den Mund warf, so wie man früher Erdnüsse gegessen hatte... Armer Ranseier, dachte Hallstein halb amüsiert, halb mitleidig. Nach all der langen Zeit hat er sich noch immer nicht in diese neue Welt eingefunden...
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Professor Gunnar Hallsteins Haupttheorie entsprach den Tatsachen: Die wahren Herrscher der Erde, die dominierende Rasse war keineswegs die Menschheit - nein, dieser Rang gebührte einzig und allein den Insekten! Sie hatten diesen Planeten schon vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren bevölkert, und sie würden es auch dann noch tun, wenn der letzte Mensch gestorben war. Alle Zweifel an letzterer Behauptung waren mittlerweile von der Wirklichkeit ausgeräumt worden, und Hallstein verfolgte alle Anzeichen dafür mit ungebrochener Faszination. Mehr noch, er war sogar ein wenig stolz darauf! Denn immerhin durfte er sich mit Fug und Recht als "Vater" dieser Entwicklung betrachten, im kleinen, lokalen Rahmen jedenfalls. Schließlich waren seine Tiere, diese Sammlung unzähliger Insekten aus buchstäblich aller Herren Länder, die er in seinem Haus beherbergt und studiert hatte, sozusagen der Grundstein gewesen "Herr Professor?" Ranseiers Stimme drang wie von weither in Hallsteins Gedanken. Wie aus tiefem Schlaf gerissen schaute er auf, grummelte etwas Unverständliches und sah Ranseier abwartend an. "Das Holz", erinnerte Ranseier, "wir brauchen mehr..." Hallstein nickte. "Ja, natürlich. Ich komme mit." Er erhob sich und folgte ihm durchs Haus bis zur Tür. Ranseier schien es, wie immer, kaum erwarten zu können, hinauszukommen. Obwohl draußen nur Dunkelheit und beißende Kälte lauerten. Aber das Haus, das von Insekten jeglicher Art gleichsam besetzt war und in dem er und Hallstein im Grunde nur als Gäste geduldet wurden, war ihm nach wie vor im allerhöchsten Maße unheimlich. Manchmal suchte er sich sogar anderswo einen Unterschlupf zum Schlafen und kam tagelang nicht heim. Draußen in der Gasse schnitt ihnen der Wind wie mit Rasierklingen aus Eis in die Haut. Doch weder Ranseier noch Hallstein schienen es wirklich wahrzunehmen. Im Laufe der Jahre hatten sie sich an die stets gegenwärtige Kälte gewöhnt, die Teil dessen war, was die Experten einen "postapokalyptischen Winter" nannten. Auch was die anderen Symptome der vergewaltigten Natur anging, hatte sich die
Wissenschaft nicht geirrt. Tageslicht gab es nicht mehr, zumindest war es nicht mehr von nennenswerter Stärke; der Globus trug einen dicken Mantel aus Staub und Asche, aufgewirbelt in Folge des Kometeneinschlags, und mithin war der Unterschied zwischen Tag und Nacht nur noch minimal. Die Druckwelle und die Beben, die um den Erdball gerast waren, nachdem "Christopher-Floyd" aufgeschlagen war, hatten auch Aachen nicht verschont. Wenn auch die Tatsache, dass sich die Stadt in einen weiten Talkessel schmiegte, das Allerschlimmste verhindert haben mochte. Professor Hallstein und Carl Ranseier erinnerten sich noch gut an das donnernde Geräusch, das so schnell lauter geworden war, als rase ein Unwetter nie gekannten Ausmaßes mit Schall geschwindigkeit auf Aachen zu. Binnen weniger Sekunden war es zu ohrenbetäubendem Volumen angeschwollen. Dann hatten sich andere Laute hinein gemischt; Laute wie aus einem Steinbruch, in dem Riesen mit gewaltigen Hämmern schufteten. Hallsteins Haus hatte zu zittern begonnen, als bestünde es aus Karton und Sperrholz. Das Glas der Kästen, in denen er seine Insekten hielt, war zersprungen, die Tiere waren wie von Sinnen umher gekrochen. Hallsteins letzte Erinnerung war grell orangenes Licht, das über der Stadt zusammen geschlagen war wie eine Woge. Und dann Dunkelheit. Hallstein wusste nicht, wie lange er damals ohnmächtig gewesen war. Ein paar Tage, nahm er an. Obwohl er nach seinem Erwachen weder besonders starken Hunger noch Durst verspürt hatte. Es war ihm vorgekommen, als sei er während der Bewusstlosigkeit künstlich ernährt worden. Was allerdings unmöglich sein konnte, zumindest nicht im landläufigen Sinne. Aber der Professor hatte eine Ahnung, was tatsächlich geschehen war: Es hatte wohl wirklich jemanden gegeben, der sich um ihn gekümmert, der ihn mit Wasser und Nahrung versorgt hatte. Doch diese Theorie schien selbst ihm zu gewagt, als dass er sie hinterher offen ausgesprochen hätte. Zumal es im Grunde ohnehin nur Ranseier gab, dem er sie hätte
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eröffnen können. Und Ranseier war...nun, ganz gewiss nicht der geeignete Mann für solcherlei Unterhaltungen. Genau genommen war es kaum noch möglich, mit Ranseier überhaupt ein richtiges Gespräch zu führen, das über den Augenblick und die praktischen Dinge dieses Lebens hinausging. Was allerdings nichts damit zu tun hatte, dass Hallstein und sein Nachbar bereits vor "Christopher-Floyd" nicht auf einer Wellenlänge gelegen hatten. Nein, der Professor glaubte zu beobachten, dass... ja, dass Ranseiers Intellekt gewissermaßen verkümmerte. Und er hatte das Gefühl, als liege das nicht allein an dem primitiven, entbehrungsreichen Dasein, das zu führen sie gezwungen waren. Dieses Gefühl wiederum rührte daher, dass Hallstein eine ähnliche Entwicklung an sich selbst festzustellen meinte; nicht in dem Maße zwar wie bei Ranseier, aber der Professor ertappte sich doch dabei, wie er manche Dinge allmählich vergaß, als würden sie nach und nach von einer Tafel gewischt. Er versuchte dem entgegenzuwirken, indem er sich Konzentrationsübungen auferlegte, ganz bewusst über Vergangenes nachdachte, viel las und schrieb. Und immerhin schien es, als ließe sich der geistige Verfall damit verlangsamen. Ranseier indes tat nichts dergleichen, und sein Verstand verabschiedete sich beinah zusehends. Was allerdings nicht hieß, dass Carl Ranseier völlig verdummt wäre, und er hatte auch nicht alles vergessen, was einmal gewesen war. So wusste er beispielsweise immer noch, wo er früher einmal gewohnt hatte. Und wie jedes Mal, wenn sie auf ihren Streifzügen daran vorbei kamen, blieb Ranseier auch jetzt vor dem Trümmerberg stehen, der einmal sein Haus gewesen war und aus dem Hallstein ihn damals nach der Katastrophe gerettet hatte. Mit Wehmut im Blick betrachtete Ranseier den Haufen aus Bruchsteinen und Dachziegeln, den sie schon vor langer Zeit mit vereinten Kräften umgegraben hatten, um alles Holz daraus zu bergen. Holz war zu einem ihrer wertvollsten Güter geworden. Weil Wärme im Haus ungemein wichtig war, wie auch Luftfeuchtigkeit,
Damit sie sich wohl fühlten. Und gediehen. Auf diese, wie Hallstein es nannte, "ganz und gar wundersame Weise". "Kommen Sie." Hallstein trat neben Ranseier, ergriff ihn am Ellbogen und wollte ihn mit sich ziehen. "Wir brauchen Holz, das haben Sie doch selbst gesagt. Und Sie wissen, dass ich die Tiere ungern lange allein lasse." Ranseier streifte Hallsteins Hand ab. "Vielleicht hätten Sie mich damals besser da drin gelassen", sagte er ohne den Blick von den Resten seines Hauses zu wenden. "Was reden Sie denn da für einen Unsinn?", erwiderte Hallstein unwirsch. "Dann hätt' ich's jetzt schon hinter mir." "Dann wären Sie jetzt tot!" Ranseier nickte. "Ja, das mein ich doch. Dann müsste ich jetzt nicht...", er sah sich ziellos um und beschrieb eine fahrige Geste, "...nicht so leben." "Blödsinn!" Hallstein winkte ab. "Jede Art zu leben ist besser als der Tod." "Aber mancher Tod ist schlimmer als der andere", entgegnete Ranseier orakelhaft und erntete einen fragenden Blick des Professors. "Wie...was wollen Sie damit sagen?", hakte Hallstein nach. Mochte sein, dass Ranseier nur Nonsens redete, aber irgendwie hatte der Professor ein seltsames Gefühl. Ein sehr ungutes Gefühl. So unangenehm, dass er fast fröstelte. "Ich habe ihn gesehen", sagte Ranseier nur. "Wen haben Sie gesehen? Ich verstehe nicht..." "Den Tod", behauptete Carl Ranseier. "Er geht um in der Stadt. Und er sieht genau so aus, wie's die Leute früher gesagt haben." Er hatte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt und sah sich aus den Augenwinkeln um, als fürchte er, sie könnten belauscht und bespitzelt werden. "Ach ja?", machte Hallstein betont desinteressiert und herablassend. "Wie sieht er denn aus, dieser...Tod?" "Wie der...", Ranseier schwang mit beiden Händen etwas Imaginäres durch die Luft und machte ein pfeifendes Geräusch, "...Schnitter!" "Der Schnitter?", echote der Professor verständnislos. "Der Sensenmann!"
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irgendwo da draußen in der postapokalyptischen Wüstenei zu hungern und zu frieren. Trotzdem stand der Professor mit seiner Meinung offenbar recht allein auf weiter Flur. Denn es kamen fast täglich Wanderer durch die Stadt, von irgendwoher, unterwegs nach irgendwohin. Einige waren allein, andere zogen in Trecks umher, doch alle waren sie auf der Suche nach dem Gegenstück zum gelobten Land aus biblischer Zeit. Die Geschichte der Menschheit schien sich zu wiederholen, in einigen Kapiteln zumindest... Hallstein selbst hatte nie mit dem Gedanken gespielt, die Stadt zu verlassen. Im Grunde seines Herzens fühlte er sich heute hier fast wohler als früher. Aus zweierlei Gründen. Zum einen gab es die Spötter nicht mehr, die ihn damals nicht nur verlacht, sondern seine Profession gekostet hatten. Seiner ausgeprägten Leidenschaft für Kerbtiere wegen hatte er seinen Lehrstuhl an der Universität verloren und war schließlich ob seiner gewagten These zu einer Art "Erich von Däniken der Entomologie" geworden, wenn ihm auch wegen der vergleichsweise unpopulären Thematik dessen finanzieller Erfolg versagt geblieben war. (Entomologie (griech.): Lehre von den Insekten) Und zum anderen hatte sich die Welt nach Hallsteins Blickwinkel in ein Paradies verwandelt, in dem tatsächlich Wunder geschahen. Anders konnte und wollte er die Reaktion der Insekten auf die veränderten Umweltbedingungen nicht nennen. Sie passten sich dieser Welt auf fantastische Weise an. Sie machten Entwicklungen durch, die einfach nur als atemberaubend zu bezeichnen waren; verkürzten die Generationsdauer, um die Anpassung zu beschleunigen. Evolution im Zeitraffer. Kein Tag, an dem Professor Hallstein sich nicht mit neuen Überraschungen konfrontiert sah. Und er war gespannt, wo dieser Prozess noch hinführen und ob er je enden würde. Hallstein hatte diesbezüglich seine ganz eigene Theorie, die er nun in zunehmendem Maße bestätigt sah...
Die Häuserreihen links und rechts der Gasse erinnerten an das lückenhafte Gebiss eines alten Riesen. Einige der Fachwerkhäuser waren bereits damals infolge der Beben eingestürzt, andere so in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie im Laufe der Jahre stückchenweise verfallen waren. Ansonsten hatte zumindest die Innenstadt die Katastrophe bemerkenswert gut überstanden. In der Umgegend jedoch war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Ein Bruchstück "Christopher-Floyds", das ganz in der Nähe ein geschlagen war, hatte Aachen quasi auf den historischen Stadtkern reduziert, gerade so, als sei die Stadt um Jahrhunderte in der Zeit zurückgeschleudert worden. Sie mochte jetzt wieder jenem Bild gleichsehen, das sie im Mittelalter geboten hatte. Wenn man davon absah, dass die Stadt heute nahezu verlassen und zur Geisterstadt verkommen war. Nun, das stimmte nicht ganz, korrigierte sich Professor Hallstein, während er an Carl Ranseiers Seite im Dämmerlicht die Gasse hinab ging. Sie waren nicht die einzigen Menschen in der Stadt; wenn auch wahrscheinlich die Letzten der ursprünglichen Bevölkerung. Wer damals nicht ums Leben gekommen war, hatte Aachen im Laufe der Folgezeit verlassen, in der Hoffnung, anderswo bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Eine trügerische Hoffnung, fand Gunnar Hallstein, die sich vermutlich für niemanden erfüllt hatte. Hallstein selbst war aus ganz logischen Erwägungen der Ansicht, dass es sich in den Städten, mochten sie auch schwer beschädigt sein, besser leben ließ als sonst wo. Weil sie immer noch ein Dach über dem Kopf boten und weil sich nach wie vor Lebensmittel in den Häusern fanden, Konserven und was immer die Zeit sonst noch überdauert hatte. Sicher, dieser "Vorrat" schwand allmählich, aber es war immer noch besser, wenig zu essen als
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Ein keuchender Laut störte seine Gedanken. Fast verärgert wandte sich der Professor um. Ranseier stand drei, vier Schritte hinter ihm, wie in der Bewegung erstarrt, und sein Blick irrte gehetzt durch die dichter gewordenen Schatten um sie her. Sie hatten den Katschhof erreicht, standen am Rande des großen Platzes, den man früher als einen der schönsten Europas bezeichnet hatte. Heute mochte er einer der wenigen noch verbliebenen sein... Links und rechts des Hofes erhoben sich gewaltige kompakte Schattengebilde im Dunkel, so hoch, dass es schien, als stützten sie den mittlerweile schwarz gewordenen Himmel über der Stadt. Das gotische Rathaus und der Aachener Dom. Beide Bauwerke hatten die Katastrophe überstanden. Sie waren dereinst fast im wörtlichen Sinne für die Ewigkeit erbaut worden - auch wenn sich ihre Baumeister eine solche Erprobung ihrer Kunst wohl nicht hatten träumen lassen. "Was ist?", fragte Hallstein ungeduldig. "Nun kommen Sie schon, Ranseier." Er ging einen Schritt weiter, doch Ranseier machte keine Anstalten ihm zu folgen. Als habe er im Pflaster Wurzeln geschlagen. Noch immer versuchte sein Blick die Dunkelheit zu durchdringen, und. der Professor konnte sich lebhaft vorstellen, was der arme Tropf darin zu sehen glaubte. Immerhin hörte er die Geräusche ebenfalls, und er sah auch die huschenden, kaum auszumachenden Bewegungen. Nein, Aachen war nicht verlassen. Noch etwas hatte den Kometeneinschlag bemerkenswert gut überstanden. Ratten! Und sie legten eine ähnlich erstaunliche Anpassungsfähigkeit an den Tag wie die Kerbtiere. Genau genommen kamen sie sogar noch besser zurecht, weil sie einerseits eine geradezu erschreckende Aggressivität entwickelt hatten und - nun, Hallstein hatte schon mit eigenen Augen Exemplare von der Größe einer (sehr großen) Hauskatze gesehen. Wenigstens schmeckten sie nicht übel "Das sind nur Ratten", wollte er Ranseier beruhigen. "Und wie Sie wissen, tun sie uns nichts, wenn wir in Bewegung bleiben. Zudem haben die Biester
davor Respekt." Er wedelte mit dem Ausstoßrohr des Flammenwerfers, dessen Tank er auf den Rücken geschnallt trug. Die Zündflamme, die vorn am Rohr flackerte, spendete nur wenig Licht. Er hatte die noch intakte Apparatur ironischerweise in einer Feuerwache entdeckt. Es war eine effektive Waffe in dieser veränderten Welt; leider wurde es immer schwieriger, ausreichend Benzin dafür zu finden. Ranseier schüttelte den Kopf. "Nein, das sind nicht nur Ratten..." Der Professor lachte auf, doch der Laut klang nicht annähernd so spöttisch, wie er es beabsichtigt hatte. "Sondern?", fragte er. "Etwa Ihr ominöser...Sensenmann?" Er vollführte mit dem Ausstoßrohr eine Bewegung wie jene, die Ranseier zuvor gemacht hatte, als er Hallstein von seiner angeblichen Beobachtung erzählte. Die Flamme beschrieb einen rot glosenden Halbkreis. Der Professor war nicht weiter auf die Erwähnung dieses "Sensenmannes" ein gegangen. Er hatte Ranseier kurzerhand stehen lassen und war weiter gegangen. Er hatte ja nicht einmal wirklich daran gezweifelt, dass Ranseier irgendetwas gesehen hatte, und es mochte sein, dass es Grund genug zur Beunruhigung bot; schließlich waren sie nicht die einzigen Menschen auf der Welt und nicht alle Durchreisenden kamen in friedlicher Absicht in die Stadt. Aber Hallstein hatte keine Lust verspürt, sich auf Ranseiers Hirngespinste vom gestaltgewordenen Tod einzulassen. Zum einen, um den bedauernswerten Kerl in seinen Spinnereien nicht auch noch zu bestärken - und zum anderen, um nicht Gefahr zu laufen, davon angesteckt zu werden. Schließlich gestand sich der Professor durchaus ein, dass es auch um seine geistige Unversehrtheit nicht mehr zum Allerbesten bestellt war, und er wollte dieser Entwicklung nicht auch noch Vorschub leisten, indem er sich freiwillig auf Ranseiers Niveau herab ließ. "Wer weiß?", murmelte Ranseier mit einiger Verspätung auf Hallsteins nur halb ernst gemeinte Frage. Er hatte eine Fackel, von denen er stets mindestens drei bei sich trug, entzündet
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und rührte sich jetzt endlich wieder. Er drehte sich ganz langsam im Kreis, und das kraftlose Licht der blakenden Fackel drängte die Schatten zumindest ein wenig nach hinten. An der Grenze zwischen Hell und Dunkel war Bewegung, vage, als gerate die Ballung von Schatten selbst in wogende Aufruhr. Etwas, das den Lichtschein fürchtete, wich mit dem Dunkel zurück, hielt sich dahinter verborgen wie hinter einer schwarzen Mauer, ohne jedoch vollends zu verschwinden. Krallen kratzten über Pflasterstein, Dutzende davon, wenn man aus der Lautstärke auf ihre Zahl schloss; entweder Dutzende - oder sehr große, sehr lange Krallen und Klauen... "Weiter!", ordnete Hallstein an, ein bisschen zu hastig und erregt, um sich selbst darüber hinweg zu täuschen, dass ihm nun doch etwas mulmig wurde. "Kommen Sie endlich! " Er tat einen weiteren Schritt auf den Katschhof hinaus - und prallte dann unvermittelt und mit einem keuchenden Aufschrei zurück! Etwas flog aus dem Dunkeln auf ihn zu, etwas Formloses, das gegen seine Schulter prallte und dann mit einem dumpfen, feuchten Laut zu Boden fiel. Im Reflex drückte Hallstein ab. Die meterlange Lohe des Flammenwerfers fraß sich in die Nacht und erhellte für Sekunden die Finsternis, bevor sie wieder in sich zusammen fiel. Hallstein senkte das Ausstoßrohr und erkannte, worum es sich handelte. Wieder entfuhr ihm ein leiser Ausruf, der in ein Würgen überging. Mühsam unterdrückte der Professor den Brechreiz, der ihm in der Kehle aufstieg. Zu seinen Füßen lag der blutige Kadaver einer Ratte - oder vielmehr die Hälfte davon. Irgendetwas hatte den borstigen Leib in zwei Teile getrennt, so sauber, als habe sich das Tier im denkbar ungünstigsten Moment unter eine Guillotine verirrt. Oder unter ein...Sensenblatt. Gunnar Hallstein und Carl Ranseier fuhren in der gleichen Bewegung herum und rannten los...
Gegenwart, 2516 Irgendetwas war da hinter Aruula, doch es war Matt Drax unmöglich zu sagen, worum es sich bei diesem Etwas handelte. Weil es keine beschreibbare Form besaß. Es war reine Bewegung, als sei die Nacht selbst zum Leben erwacht. Glitzernde körnige Schwärze, die wie eine Woge näher kam, heranwuchs und am ehesten noch einer gewaltigen fingerlosen Hand gleichsah, die nach der jungen Frau greifen wollte. Aruula erkannte das Erschrecken in Matts Zügen, und sie musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, was ihm diesen Schrecken einjagte. Sie bezog das Bild unmittelbar aus seinem Kopf; diesmal spürte Matt, wie Aruula nach seinem Geist griff, ein unangenehmes, wenn auch nicht schmerzhaftes Zupfen erst, dann ein dumpfer Druck, als sei plötzlich etwas in seinem Schädel, für das er nicht groß genug war. Dann war es auch schon wieder vorbei. Und Aruula reagierte. Aus der Hocke sprang sie nach vorn, an Matt vorbei, rollte über die Schulter ab und kam auf die Füße. Noch in der Bewegung zog sie ihr Schwert und wirbelte herum, um sich der Gefahr zu stellen. Aber...da war nichts. Nichts jedenfalls, dem sie mit einem Schwert hätte zu Leibe rücken können. Auch Matt stand da, auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als traue er seinen Augen nicht. Die Mündung seiner Pistole, die er reflexhaft gezogen hatte, wies ins Leere. So schien es jedenfalls. Doch dem war nicht so. Zwar hatte sich das unbeschreibliche Ding aufgelöst, aber es war nicht verschwunden. Nur zerfallen. In seine Einzelteile. Und deren Zahl wiederum musste in die Zigtausende gehen. Im ersten Augenblick sah es aus, als sei Tinte auf den Boden gegossen worden, aus dem Nichts, in riesiger Menge. Schwärze floss nach allen Seiten, ein riesiger Fleck, der größer und immer größer wurde. Im letzten Dämmerlicht erkannten Matt und Aruula gleichzeitig, was da auf sie zukam nein, wovon sie bereits umzingelt waren! Das dunkle Etwas zu ihren Füßen war in unablässiger Bewegung. Kroch und krabbelte
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auf unzähligen winzigen Beinen. Raschelte und rasselte, knisterte und knackte und klickte. Matt erinnerte sich des unangenehmen Juckreizes von vorhin. Dieses Gefühl kehrte jetzt wieder - nur ungleich stärker! Und diesmal sah er, woher es rührte.. Tatsächlich krochen kleine Tiere über seine Arme! Tiere, wie sie nach allen Seiten hin auch den Boden um sie herum bedeckten, einem lebenden Teppich aus Chitin gleich. So weit der Blick reichte, wimmelte die Dunkelheit, formte groteske Gebilde wie aus heißem Teer, die so schnell vergingen, wie sie entstanden, um von anderen abstrakten Formen und purer Bewegung abgelöst zu werden. Zigtausende? Nein, es mussten Millionen von Insekten sein, Milliarden vielleicht. Mochte der Teufel wissen, wo die Viecher hergekommen waren. Aber darauf kam es im Moment ohnehin nicht an. Wesentlich drängender war die Frage, was die Biester vorhatten. Schmerz wie von Nadelstichen beantwortete Matts Frage. Auf seinen Armen kroch mindestens ein Dutzend dieser Dinger umher, die nicht einmal so groß waren wie ein Fingerglied und die er auf den ersten Blick keiner ihm bekannten Insektenart zurechnen konnte; am ehesten erinnerten sie noch an eine Kreuzung aus einer Ameise und einem Käfer, dem die Flügel ausgerissen worden waren. Aber was sie auch sein mochten, eines zumindest war klar: Die kleinen Monster waren scharf auf Blut oder Fleisch! Dort, wo Matt ihre Bisse gespürt hatte, sah er Blutstropfen auf seinen Armen, die ihm über die Haut rannen, als hätten sie sich selbst in Kriechgetier verwandelt, und rote Spuren hinterließen. Deren Verlauf wiederum folgten die Insekten wie eigens für sie geschaffenen Pfaden. Sie bissen abermals zu, und endlich überwand, Matt seine Verblüffung und sein Entsetzen so weit, dass er die Biester von seinen Armen schlagen konnte. Aber die Nachhut war längst schon angerückt. Zu Dutzenden krochen die Viecher an seinen Hosenbeinen hoch. Mit flachen Händen streifte er sie ab und führte dabei einen irren Veitstanz auf, um zu verhindern, dass sie umgehend einen zweiten Versuch starteten.
Seit dem Angriff auf Aruula waren kaum mehr als drei oder vier, allerhöchstens fünf Sekunden vergangen. Dennoch hatte die kurze Zeit diesem chitingepanzerten Heer genügt, das Terrain ringsum vollkommen für sich einzunehmen. "Wir müssen weg! " Aruula keuchte die Worte, derweil sie ähnlich herum hüpfte wie Matt, damit die kleinen Biester nicht an ihr hochklettern konnten. "Was du nicht sagst! ", gab Matt ungewollt bissig zurück. Er deutete in die Richtung, wo sie den Frekkeuscher angeleint hatten, vielleicht zehn Meter entfernt. In komisch anmutenden, weit ausgreifenden Sätzen hetzten sie auf die Riesenheuschrecke zu. Und Matt musste feststellen, dass er sich zuvor keineswegs getäuscht hatte - die Insekten waren überall! Sie bedeckten jeden Fußbreit Boden. Es war ein Gefühl, als liefe er über eine Schicht aus Popcorn oder Erbsen. Er konnte spüren und hören, wie die Tiere unter seinen Sohlen zerplatzten. Und wie mit einem Extrasinn registrierte er, dass sich jedes Loch, das er in diesen lebenden Teppich trat, sofort wieder flüsternd und raschelnd schloss, kaum dass sein Fuß sich wieder gehoben hatte. Der Frekkeuscher stand noch an der Stelle, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Das Getier ringsum beunruhigte die Riesenheuschrecke zwar, aber es wurde offenbar nicht angegriffen, zumindest nicht in dem Maße wie Matt und Aruula. Die Viecher schienen es vornehmlich auf menschliche Beute abgesehen zu haben. Aruula sprang aus vollem Lauf und landete mit einem geradezu artistischen Satz auf dem Rücken des Frekkeuschers. Matt folgte ihr weniger elegant und nahm hinter ihr Platz. Die Kriegerin schwang ihr Schwert und durchtrennte die Leine, mit der sie das Tier angebunden hatten. Dann trieb sie den Frekkeuscher an und ließ ihn einen Sprung vollführen, der sie gut fünfzehn Meter weit trug. Matt wollte aufatmen, aber es blieb beim Wollen. Weil es noch nicht vorbei war. Er hatte ihre winzigen Angreifer unterschätzt.
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Unter ihnen bäumte sich der Boden förmlich auf. Verwandelte sich in einen schwarzen Ozean, der brodelte wie von einem imaginären Sturm gepeitscht. Wogen aus zäher Finsternis stiegen auf, meterhoch, verwandelten sich in monströse Tentakel aus wimmelndem Chitin, die sich nach ihren Opfern reckten und streckten. Es konnte kein Entkommen geben. Nicht vor einem Gegner, dessen Übermacht sich nicht in Zahlen fassen ließ. Und dessen Möglichkeiten die Grenzen alles Vorstellbaren sprengten.
beinah zu seiner eigenen Überraschung, ziemlich gut. Ja, es war eine Ratte gewesen, die über eine andere hergefallen war. Sie musste schlicht und ergreifend größer und stärker gewesen sein als das getötete Tier. Ein ganz normaler Vorgang im Grunde genommen, völlig natürlich - denn zumindest die Natur und ihre Gesetze galten noch etwas in dieser Zeit und Welt. Und genau darauf besann sich Gunnar Hallstein. Es bestand kein Grund mehr zur Angst. Die Ratten würden ihnen nichts tun. Mochten sich die Nager auch peu a peu zu einer Plage nie gekannten Ausmaßes entwickeln, so waren sie doch noch weit davon entfernt, eine ernsthafte Bedrohung für Menschen darzustellen. Und erst recht würden sie sich nicht in die Reichweite des Flammenwerfers begeben; so viel Intelligenz gestand Hallstein den Tieren durchaus zu... Der Dom hatte nichts verloren von jener erhabenen Atmosphäre, die jedem Bauwerk dieser Art und Größe eigen war, gerade so, als sei sie Teil der Bausubstanz, unsichtbar eingewoben ins Mauerwerk und jeden Fußbreit Boden. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass es in weiten Teilen der Anlage aussah, als hätten Vandalen gewütet. Ein nicht geringer Teil dieser Verwüstungen ging auf Hallsteins und Ranseiers Konto. Was im Inneren des Domes aus Holz bestand, war für sie von Interesse, und einen großen Teil davon hatten sie im Laufe der Jahre geholt und zu Hause verfeuert. Trotzdem war noch genug übrig, dass es für ein paar weitere Jahre reichen würde, zumal sie nicht nur hierher kamen, um ihre heimischen Holzvorräte aufzustocken. Um sich den Transport zu ersparen, hatten sie Werkzeug und einen alten Handkarren im Dom versteckt. Während Ranseier ging, um die Sachen zu holen, sah Hallstein sich um und steckte vier, fünf weitere Fackeln an, die sie vor langem schon an den Wänden befestigt hatten. Der Professor stand wie auf einer Insel aus dunkelrotem Licht inmitten eines Ozeans aus Finsternis. Die Decke hoch über ihm konnte er
Aachen, 2018 Der dumpfe Laut, mit dem das große Bronzeportal zufiel, hallte im Inneren des Domes wieder, rollte wie Donner durch das altehrwürdige Gemäuer, und Professor Hallstein fühlte sich fast an jenes Geräusch erinnert, mit dem seinerzeit nach dem Kometeneinschlag die Druckwelle auf Aachen zugerast war. Carl Ranseier indes lehnte sich mit dem Rücken und gespreizten Armen gegen die so genannte Wolfstüre, durch die sie den Westbau des Domes betreten hatten, als gelte es, das Tor zuzuhalten. Damit ihnen nicht folgen konnte, was immer sich dort draußen im Dunkeln herum trieb. Aber was es auch gewesen war, das die Ratte in zwei Hälften zerrissen hatte, es versuchte nicht ihnen nachzukommen. Es schlug nicht gegen das Portal, kratzte nicht mit Krallen daran. Natürlich nicht! ermahnte sich Hallstein in Gedanken. Weil es nur...eine andere Ratte gewesen war, die ihrem Artgenossen den Garaus gemacht hatte. Er verdrängte die Schreckensbilder, die ihm draußen noch in den Sinn gekommen waren. Er widersetzte sich der Furcht, die Ranseiers Spinnereien von einem unheimlichen Sensenmann in ihn gesät hatten. Er besann sich der Macht der Vernunft, und es gelang ihm,
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nicht einmal erahnen, ebenso wenig die tatsächliche Weite des Domes. Aber er spürte sie, und er fühlte sich geborgen und sicher an diesem Ort. Mochte die Welt draußen auch eine vollkommen andere geworden sein, fremd und mitunter feindselig, dies war immer noch ein Haus Gottes, und es atmete immer noch diese Ruhe aller Kirchen, war erfüllt von geradezu andächtiger Stille, in der einzig Ranseiers Rumoren in einiger Entfernung zu vernehmen war. Hallstein hielt unvermittelt inne, in seinen Gedanken wie auch in der Bewegung. Nein, korrigierte er sich, Ranseier war nicht mehr zu hören. Weder hantierte er, um das Werkzeug aus dem Versteck zu holen, noch hörte Hallstein ihn zurückkommen. Er lauschte angestrengt, vernahm zwei, drei Sekunden lang nichts, und dann - Atmen. Keuchendes Atmen, das lauter wurde und in dem ein Ton aufstieg, der sich zu einem Schrei steigerte. Ranseier schrie, irgendetwas Sinnloses, bis er schließlich nach Hallstein rief; nein, er brüllte den Namen des Professors förmlich in die dunkle Weite des Domes. Die unsichtbaren Wände und Decken flüsterten ihn zurück. Hallstein, Hallstein, Hallstein... Das Echo verzerrte sich, verkürzte und verstümmelte den Namen, und schließlich klang es wie ein gehässiges Lachen. Ha...ha...ha... Der Professor lief los in die Richtung, in der er Ranseier vermutete. Zuerst sah er das glosende Licht von Ranseiers Fackel, die am Boden lag. Dann fand er Ranseier selbst, unweit des marmornen Throns Karls des Großen. Es sah beinahe aus, als habe sich Ranseier dem einstigen Kaiser zu Füßen geworfen. Mit ausgebreiteten Armen lag er vor den Stufen, die zum Thron hoch führten. Aber dem war nicht so, natürlich nicht, denn Carl Ranseier war tot.
498 Jahre später, nicht weit entfernt Matthew Drax musste an einen Zirkusbesuch denken; ein in dieser Situation höchst eigenwilliger, aber doch irgendwie passender Gedanke. Denn wie Artisten bei einer Zirkusvorstellung hatten sich die Insekten zu einer lebenden Pyramide aufgestapelt. Nur in einer völlig anderen Größenordnung, ungleich effektiver und...kunstfertiger, auch wenn Matt im Moment der Sinn ganz und gar nicht nach Bewunderung solcher Kunst stand. Es waren Abermillionen von Insekten, die auf- und übereinander kletterten und sich ineinander verhakten, doch sie bildeten keine Pyramiden, sondern absonderlichste Formen. Es war, als würden sie miteinander verschmelzen zu etwas Großem und völlig Neuem, das ganz eigenständig funktionierte und handelte, gesteuert vielleicht von einer Art multiplem Bewusstsein. Unter Matt und Aruula lag noch immer ein Meer wie aus kochendem Morast, aus dem sich ihnen mittlerweile ein wahrer Wald plump geformter Tentakel entgegen reckte. Rasselnd wie ein Nest Hunderter Klapperschlangen rieben Chitinpanzer aneinander. Und die absonderliche Intelligenz, die diesen Tieren innewohnte, begriff ganz offensichtlich, dass ihre Beute unter Umständen doch würde fliehen können. Weil der Frekkeuscher die beiden Menschen mit Riesensprüngen davontrug. So gewaltig die Zahl dieser Insekten auch sein mochte, sie war nicht unendlich. Früher oder später mussten Matt und Aruula außerhalb ihrer "Reichweite" sein. Die Tiere reagierten entsprechend. Sie gingen nicht mehr die beiden Reiter an, sondern deren Reittier. Wenn sie den Frekkeuscher verletzten oder töteten, war den menschlichen Opfern ihr Fluchtmittel genommen. Eine Klaue aus Chitin stieß nach dem Tier. "Dein Schwert! ", verlangte Matt. Aruula reichte ihm die Waffe nach hinten und konzentrierte sich selbst darauf, den Frekkeuscher mit den Zügeln sowie dem Druck ihrer Schenkel zu lenken. Aufmerksam spähte sie nach Stellen, wo das Insektenschwarz weniger dicht schien, wo die Bäume weit genug
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auseinander standen, und dorthin trieb sie das Tier. Matt schwang das Schwert und hieb nach der Klaue, die sich in die Seite des Frekkeuschers gekrallt hatte. Mit dem ersten Schlag trennte er die Verbindung der "Hand" zum Rest des "Körpers", dann zerstörte er den verbliebenen Verbund der winzigen Leiber. Wie schwarzer Schnee zerstob die Klaue aus Insektenkörpern. "Yippie-ah-hey!", knurrte Matt unlustig und drosch mit dem Schwert nach einem weiteren Gebilde, das dem Frekkeuscher gefährlich nahe kam. Doch die Insekten ließen nicht von ihrer Absicht ab. Sie reagierten auf Matts Angriff und verfielen auf eine andere Taktik. Nach wie vor "griffen" sie nach dem Frekkeuscher, doch diesmal verteilten sie sich über die Unterseite des Tieres, blitzschnell und wimmelnd. Der Frekkeuscher brüllte auf, so hoch und schrill, dass Matt meinte, ihm müssten die Trommelfelle platzen. Die Insekten fraßen den Frekkeuscher bei lebendigem Leibe. Als sei das arme Tier in ein Piranha-Becken geworfen worden. Als Matt sich zur Seite beugte, konnte er sehen, wie sich der Bauch des Frekkeuschers auflöste. Blut floss und verschwand wie im Zeitraffer. "Da vorne! ", schrie Aruula. "Unsere einzige Chance!" Gleichzeitig bemühte sie sich, den angeschlagenen Frekkeuscher zu einem weiteren Sprung anzutreiben. Matts Blick folgte dem ausgestreckten Arm seiner Gefährtin. Sie hatten den Wald inzwischen hinter sich gelassen. Vor ihnen lag eine leicht hügelige Fläche, karg bewachsen, und zwischen den Erhebungen schlängelte sich ein Band, das in der Nacht silbern schimmerte. Ein Fluss, eigentlich nur ein Bach, kaum breiter als zwei Mannslängen. Matt verstand, was Aruula meinte. Wenn sie es schafften, das Wasser zu erreichen, konnten ihnen die Insekten nicht folgen. Schwimmen konnten sie sicher nicht! Hoffentlich nicht... Allerdings schien es, als würden sie den Wasserlauf ohnedies nicht erreichen.
Der Frekkeuscher drohte unter ihnen zusammen zu brechen. Es hatte kaum noch Kraft, sich auf den Beinen zu halten, vollführte nur mehr unbeholfene Bewegungen. Matt tat, was er tun musste, obwohl es ihm zutiefst zuwider war. Er holte mit dem Schwert aus und schlug zu. Die Klinge drang dem Frekkeuscher in die Hinterflanke. Das Brüllen des Tieres schraubte sich in ohrenbetäubende Höhen. Und der Schmerz zwang es reflexhaft zu einem allerletzten Sprung, auf das Bachufer zu. Aruula ließ sich zur Seite fallen, tauchte ins Wasser ein und schoss wie Pfeil dicht unter Oberfläche in Strömungsrichtung davon. Matt wollte ihrem Beispiel folgen. Und hatte Pech. Er landete in Ufernähe, und in, dem Moment, da das Wasser über ihm zusammenschlug, erinnerte er sich schmerzhaft an eine Weisheit seiner Kindheit: nicht kopfüber in unbekannte Gewässer zu springen. Ein kluger Rat. Und Matts letzter Gedanke. Hart war er mit dem Schädel gegen ein Stein im Bachbett geprallt. Er merkte noch, wie ihm kaltes, erstaunlich klar schmeckendes Wasser zwischen die Lippen drang. Und dann nichts mehr.
Aachen, im Frühling 2024 Carl Ranseier war ihr erstes Opfer gewesen. Das erste jedenfalls, das Gunnar Hallstein zu Gesicht bekommen hatte, und der erste Mensch, den sie sich geholt hatten. Obgleich Hallstein in den nächsten Jahren noch viele, noch sehr viele ihrer Opfer gesehen hatte, von denen die allermeisten sogar übler zugerichtet gewesen waren als Ranseier damals, erschien ihm dessen Anblick immer noch als der schlimmste von allen. Weil er es gewusst hatte. Weil ihm in dem Augenblick, da er Carl Ranseier tot aufgefunden hatte, klar gewesen war, wer oder was den armen Kerl umgebracht hatte. So klar, als hätte er es mit eigenen Augen gesehen.
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Was de facto jedoch bis heute nicht vorgekommen war. In den sechs Jahren, die seither vergangen waren, hatte Professor-Hallstein nie selbst gesehen, wie sie einen Menschen getötet hatten. Er fand nur die Toten. Oder das eben, was sie von ihren Opfern übrig ließen. Oft nicht genug, dass der Aufwand eines Begräbnisses noch lohnte. Trotzdem hatte Hallstein noch jeden Leichnam und alle Überreste bestattet "verscharrt" mochte der treffendere Ausdruck sein; seine Kräfte genügten längst nicht mehr, um richtige Gräber auszuheben. Er fand, dass er den Opfer diesen letzten Dienst irgendwie schuldig war. Denn er fühlte er sich mitschuldig an dem, was geschehen war und noch immer geschah und vielleicht nie enden würde. Auf seine ganz eigene Weise sah Gunnar Hallstein sich selbst letztlich auch nur als Opfer der Umstände und Entwicklungen. Mit dem Unterschied, dass er es lange Zeit nicht gemerkt hatte und dass es ihn nicht das Leben kostete. Was wiederum ein schlimmeres Los sein mochte als ein zwar grausamer, aber nichtsdestotrotz schneller Tod. Doch sie verschonten Gunnar Hallstein. Das war es zumindest, was er anfangs und etliche Jahre lang gedacht hatte. Inzwischen hatte er umgedacht - sie verschonten ihn nicht, sie verschmähten ihn. Vielleicht lag es daran, dass der Professor keine Angst hatte, sein Haus zu verlassen und durch die Stadt zu gehen. Wann immer er es tat, konnte er zwar ihre Nähe spüren, und manchmal sah er auch, wie sie in den Schatten umher huschten. Vor allem aber hörte er sie, ihre harten Krallen und Klauen aus Chitin, die über das Pflaster klickten und kratzten, und eine Art zischelnden Chor, als unterhielten sie in einer eigenen Sprache. Aber sie kamen dem Professor nie so nahe, dass er sie wirklich erkannt hätte. An der Furcht vor dem Flammenwerfer konnte es nicht liegen; vor zwei Jahren schon hatte Hallstein den letzten Benzinvorrat verbraucht, den die Stadt hergab. In all den Jahren hatte er sich kein echtes Bild von seinen chitingepanzerten Freunden
machen können. Wenngleich es ihn - und da flackerte eben doch noch der alte Forschergeist in ihm - brennend interessiert hätte! Was hatte Mutter Natur mit ihrer größten Brut getan, um sie resistent zu machen für diese "neue" Welt? Natürlich, einige Erkenntnisse hatte Hallstein gewinnen können, ohne "Studien am lebenden Objekt" vornehmen zu müssen. Immerhin hinterließen sie neben ihren Opfern auch andere Spuren, aus denen ein kundiges Auge Schlüsse ziehen konnte. Und unter anderem hatte der Professor sogar einen aufgegebenen "Nistplatz" ausfindig machen und untersuchen können. Das Bild, das sich aus all diesen Hinweisen ergab, war, gelinde ausgedrückt, erschreckend. Und Gunnar Hallstein hielt es akribisch fest, zeichnete jedes Detail mit Worten nach. Mittlerweile umfasste seine Dokumentation ihrer Entwicklung mehrere hundert Seiten, die er sorgsam imprägnierte und verwahrte für...wen auch immer. Vielleicht wurden seine Aufzeichnungen ja irgendwann einmal von jemandem gefunden, der sie zu lesen und Nutzen daraus zu ziehen verstand. Und wenn nicht, dann hatte die Schreiberei zumindest den Zweck erfüllt, Hallstein die Zeit zu vertreiben und den schleichenden Prozess des Verrücktwerdens aufzuhalten. Den größten Teil seiner Zeit brachte Professor Hallstein am Schreibtisch zu, vor der altertümlichen mechanischen Schreibmaschine, die schon vor dem Einschlag des Kometen eine Antiquität gewesen war. Papier und einen kleinen Vorrat an Farbbändern hatte Hallstein auf einem seiner Streifzüge im Lager der einstigen Schreibwarenhandlung Uchtmann & Maresch an der Pontstraße gefunden, darüber hinaus noch Mittel, mit denen er die beschriebenen Blätter behandeln konnte, um sie vor späterem Zerfall zu bewahren. Schreibtisch und Schreibmaschine befanden sich in einer Dachkammer von Hallsteins Haus. Durch das Erkerfenster fiel der Blick hinüber zum Dom, auch wenn er des steten Dämmerlichts wegen, das sich nur mit dem Dunkel der Nacht abwechselte, nie richtig deutlich zu sehen war. Das gewaltige und
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immer noch beeindruckende Bauwerk blieb bei Tage ein kompakter Schatten ohne Tiefe, der nachts mit der Dunkelheit verschmolz und anderntags wieder auftauchte wie ein Bild, das dort drüben aus dem Nichts hinprojiziert wurde. Und manchmal fühlte sich Gunnar Hallstein beobachtet aus der Richtung des Domes. Als versteckten sie sich in diesem kantigen Schattengebilde, um ihn aus Milliarden von Augen anzustarren - oder zu studieren; gerade so wie die Menschen es dereinst mit ihnen getan hatten, durch das Okular eines Mikroskops. Zwei Augen sahen Hallstein aus dem Glas des Fensters entgegen. Zwei unendlich müde Augen; diesen Eindruck konnte nicht einmal sein durchscheinendes Spiegelbild verschleiern. Wenn er sich selbst gegenüber nur ehrlich genug war, musste sich Hallstein eingestehen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes todmüde war. Gerade in den letzten Tagen fand er kaum noch die Kraft, auch nur von diesem Stuhl aufzustehen. Der Rest des Gesichts im Fensterglas, eingerahmt von faserig langem und schlohweiß gewordenen Haar, zeugte gleichfalls von dieser umfassenden Erschöpfung. Die Wangen waren eingefallen, die Nase schien lang, schmal und spitz, jede Linie tief wie mit einem Messer in eine Maske aus Wachs geritzt. Eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln aufzufangen glaubte, lenkte Hallstein ab. Aber da war nichts. Nichts Sichtbares jedenfalls. Dafür hörte er ihre Geräusche, draußen auf der Treppe, die zu der Dachkammer herauf führte. Er hörte ihre Bewegungen, ein Knacken wie von steifen Gelenken und ein Zischeln, als tuschelten sie vor der Tür, wie unschlüssig, ob sie einfach eintreten sollten oder nicht. Hallstein erstarrte. Waren sie schließlich doch gekommen, um ihn zu holen? Verschmähten sie ihn nicht länger? Oder wollten sie ihn nun endlich aus der Nähe studieren? Er wandte sich seiner Schreibmaschine zu. Hinter ihm schwang die Tür auf. Er drehte sich nicht um. Seine Finger bewegten sich, Spinnenbeinen gleich, über die
Tasten und brachten die Gedanken zu Papier, die ihm eben in den Sinn gekommen waren. Etwas legte sich ihm auf die Schulter, schwer und hart, wie ein Stück Eisen. Aus den Augenwinkeln gewahrte Hallstein etwas, das ihn beim ersten flüchtigen Hinsehen an eine Zange erinnerte. Und damit endeten die Aufzeichnungen von Professor Gunnar Hallstein.
Allmählich verfluchte Aruula die Last auf ihren Schultern. Auch wenn es sich dabei um den Mann handelte, den sie liebte und dessentwegen sie die Sippe verlassen hatte. Aber jetzt, in diesem Moment wünschte sie ihn sonst wohin! Nur nicht auf ihre Schultern. Natürlich hätte Aruula ihren Gefährten nicht tragen müssen. Sie hätten stattdessen irgendwo in dieser Gegend lagern können, bis Maddrax aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Etwas Ruhe hätte ihnen beiden gut getan nach der dreitägigen Verfolgungsjagd, die hinter ihnen lag. Doch Aruula hatte dem Frieden nicht getraut. Mochte das Insektenheer die Jagd auf ihre Menschenbeute auch dem Anschein nach aufgegeben haben, die kleinen Biester nicht mehr zu sehen musste noch lange nicht bedeuten, dass sie sich wirklich zurückgezogen hatten oder dass nicht andere ganz in der Nähe lauerten. Deshalb trachtete Aruula danach, in Bewegung zu bleiben. Und da Maddrax nicht aufwachen wollte, musste sie ihn notgedrungen tragen. So lange sie sich im Wasser befunden hatten, war das kein Problem gewesen. Aruula hatte den reglosen Gefährten nur stützen müssen, damit er nicht absoff. Den Transport hatte die erstaunlich starke Strömung übernommen. Dann aber mündete der Bach in eine sumpfige Landschaft, in der eine Vielzahl solcher Wasseradern versickerte. Es hatte die
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Barbarin einige Mühe gekostet, aus diesem Morast heraus zu kommen, zumal sie Maddrax' Gewicht buchstäblich am Hals hatte. Das Gelände stieg sacht, aber stetig an, und Aruula konnte nicht umhin, ab und zu wenigstens eine kurze Rast einzulegen. Sie mochte stark sein - in Sorbans Sippe war sie die kräftigste Frau gewesen -, aber einen bewusstlosen Mann stundenlang mit sich herumzuschleppen stellte selbst ihre Kondition auf eine harte Belastungsprobe. Die Wunde dicht über Maddrax' Stirn sah übel aus. Zwar hatte sie aufgehört zu bluten, aber in seiner Kopfhaut klaffte ein gut fingerbreiter Schnitt. Wären sie noch beim Stamm gewesen, hätte die Wunde genäht werden können. Aber hier draußen in der Wildnis fehlten der Barbarin Nähkralle und Darmfaden. Nun, Maddrax würde an der Verletzung nicht sterben. Und wenn sie Glück hatten, erreichten sie bald eine Ansiedlung, wo man ihn behandeln konnte. Das Gefühl, aus unzähligen winzigen Augen angestarrt zu werden, folgte Aruula beharrlich und war so spürbar wie der stete Wind, der ihr den dumpfen Modergeruch des hinter ihr liegenden Sumpflandes nachblies wie feuchten Atem. Trotzdem fiel es Aruula nicht allzu schwer, dieses Gefühl als Streich ihrer überreizten Sinne zu betrachten. Wie auch den Eindruck, dass sich im Dunkeln um sie herum etwas bewegte... Der höchste Punkt des flachen Hanges, den Aruula hochstieg, zeichnete sich ein Stück weiter als dunkler Wall gegen den nur unwesentlich helleren Nachthimmel ab. Als sie den Kamm fast erreicht hatte, begann sich Maddrax, den sie immer noch geschultert trug, stöhnend zu regen. Sie setzte ihn behutsam ab, sah, wie seine Lider flatterten. Es dauerte eine gute Minute, bis er die Augen endgültig aufschlug, und eine weitere verging damit, dass Aruula ihm beachtete, was passiert war. Ihre Worte genügten, Matts eigene Erinnerung an die Geschehnisse schlagartig wachzurufen. Er richtete sich hastig in eine sitzende Position auf, verzog schmerzhaft das
Gesicht ob der heftigen Bewegung, schaute sich aber trotzdem gehetzt nach allen Seiten um. Aruula legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. "Keine Sorge, sie sind uns nicht gefolgt", sagte sie und fügte nach kurzem Innehalten hinzu: "Glaube ich jedenfalls." Matt schenkte ihr einen zweifelnden Blick, sah noch einmal um sich und schien dann zumindest einigermaßen beruhigt. Erst jetzt schien ihm seine Verletzung bewusst zu werden. Vorsichtig wollte er nach der Wunde tasten, doch Aruula hielt seine Hand zurück. "Nicht anfassen", warnte sie ihn. "So schlimm?", fragte Matt mit schiefem Grinsen. "Nein, aber die Wunde könnte wieder aufbrechen." "Okay." Matt stand umständlich auf. "Wo sind wir eigent...?", begann er, stockte aber und fragte stattdessen: "Wie komme ich hierher? Hast du mich etwa den ganzen Weg...?" Das Mädchen nickte, sagte radebrechend: "Aruula staaark!", setzte eine Reihe gutturaler Laute hinterher und trommelte mit den Fäusten gegen ihre Rippenbögen wie ein Gorilla, der Eindruck schinden wollte. Dann lachte sie, als sie Matts verdutztes Gesicht sah, und er fiel mit ein. Das taten sie viel zu selten, fand Aruula: gemeinsam lachen oder schlicht nur Freude empfinden. Und sie musste nicht in Maddrax' Kopf lauschen, um zu wissen, dass er in diesem Moment dasselbe dachte. Nur, sie hatten eben auch wenig Grund zum Lachen. Meistens konnten sie abends einfach nur aufatmen, weil sie den Tag überlebt hatten und hoffen, dass sie den nächsten Morgen erlebten. Matt ging die paar Schritte zum Hügelkamm hinauf. Sein Blick fiel auf der anderen Seite des Hanges in eine weite Senke. Tiefe Nacht lag über dem Tal, schmiegte sich wie schwarzes Tuch um eine weitläufige Formation kantiger Konturen, aus deren Mitte etwas aufragte wie eine Nadel, die für Titanenhände geschaffen war. Matthew glaubte zu wissen, wo sie sich befanden. Er war zwar noch nie hier gewesen, aber er hatte sich als Pilot einer US-Militärbasis
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in der Nähe von Berlin über die Geografie Deutschlands eingehend informieren müssen. "Aachen", sagte er. "Das muss Aachen sein. Gott sei Dank; dort finden wir bestimmt ein neues Transportmittel. Komm, wir..." Er verstummte, als Aruula neben ihn trat, und wandte ihr alarmiert den Blick zu. Sie zitterte am ganzen Leib, und der Dunkelheit zum Trotz konnte er sehen, wie bleich sie geworden war. Aus großen Augen blickte sie in Richtung der Stadt, im Gesicht einen Ausdruck, als sähe sie etwas ganz anderes als er - etwas Schreckliches... "Was ist mit dir?", fragte er besorgt. Ihre Stimme klang leise, fast tonlos. "Dort unten ist etwas...zwischen den Häusern", wisperte sie. "Etwas unglaublich Machtvolles..."
war, um diesen Körper zu steuern, befand sich in ihm. Es hatte nur noch keinen Zugriff darauf, nicht auf das komplette Wissen. Aber die Menge dessen, was sich ihm offenbarte, mehrte sich mit jeder Bewegung. Mit jedem...Schritt? Das Wesen machte einen weiteren. Und noch einen. Es...überwand Distanz. Bewegte sich fort. Und war fasziniert von dieser neuen Fähigkeit. Fühlen und Sehen waren die nächsten Lektionen. Dunkel. Das Wesen musste sich nicht drehen, um zu sehen, dass es ringsum dunkel war. Nein. Nicht wirklich dunkel. Nur...düster. Etwas, verbreitete...Licht, schwach nur und grünlich. Seine Quelle? Kleine Punkte. Ihre Form kaum erkennbar, nicht einmal für diese Augen. Sie glommen überall um das Wesen her. Hätte es je einen nächtlichen Himmel gesehen, würde es die schimmernden Punkte mit Sternen verglichen haben. Es war feucht und warm. Wie dort, wo sich das Wesen im Moment seiner Bewusstwerdung befunden hatte. Wo lag dieser Ort? Nicht weit entfernt. Das Wesen ging die exakte Zahl von Schritten zurück, die es getan hatte, und Langte dort an, wo es erwacht war. Am Boden, der feucht und nachgiebig war, lag...ein Hülle. Vielmehr die Reste einer Hülle. Sie war zerbrochen. Das Wesen erinnerte sich. Das Bild löste sich aus jenem Chaos, das dem Erwachen unmittelbar gefolgt war. Es hatte die Hülle selbst geöffnet mit seinen... Es betrachtete die Gliedmaßen, mit denen es den Kokon aufgebrochen hatte. Dann berührte es mit eben diesen Gliedern die Trümmer der Hülle. Hart. Dünn. Die Innenseite feucht. Und jedes einzelne Teil immer noch mit dem Boden verbunden, über dünne Stränge. Fasern. Fäden. Wie verwachsen. Filzig. Wo? stellte sich das Wesen eine weitere Frage. Wo lag dieser Ort, an dem es erwacht war? Was befand sich in weiterem Umkreis? Hüllen.
Es erwachte. Und das Leben, die Welt selbst stürzte auf das Wesen ein, mit solcher Macht, dass es sich wie unter Schmerzen wand und im Reflex versuchte, all seine Sinne abzuschalten, um diesem Chaos nicht länger ausgeliefert zu sein. Es gelang ihm nicht. Weil es seine Sinne nie zuvor benutzt hatte und nicht wusste, wie sie zu kontrollieren waren. Irgendwann ließ der Sturm der Eindrücke nach. Einzelne Bilder kristallisierten sich aus dem Wirbel heraus, und schließlich hörte die Welt auf, sich in wahnsinnigem Tempo zu drehen. Ruhe kehrte ein. Eine Stille, aus der das Wesen Laute heraus zu filtern lernte. Auf diese Weise erfuhr es den Unterschied zwischen nah und fern. Es hörte laute und leise Geräusche, deutlich und weniger klar. Und die lautesten verursachte es selbst. Mit seinem Körper und dessen Gliedern. Jede Bewegung verursachte ein Geräusch und löste eine neue Empfindung aus. Wieder verging Zeit, in der das Wesen seine Körperfunktionen kennen lernte - und noch eine Feststellung machte: All das Wissen, das nötig
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Hüllen wie jene, aus denen es selbst gekommen war. Sie waren unversehrt. Und überall. Bedeckten den Boden so weit, bis der Blick des Wesens sich im Dunkeln verlor. Der Gedanke, dass es in solch einem Gebilde gesteckt hatte, weckte in dem Wesen widersprüchliche Empfindungen. Einerseits entsann es sich der Wärme und Geborgenheit, andererseits der drangvollen Enge. War es...gut, dass es erwacht war und sich seiner Hülle entledigt hatte? Es war zumindest...richtig, Es war...reif gewesen. Dieser Gedanke war der erste, den das Wesen als solchen begriff, und es begann bewusst zu denken. Verstand, dass es Handeln und Denken verbinden konnte und ..; Ein Geräusch. Laut. Sehr laut! Und es kam näher. Mischte sich mit anderen, die sich ebenfalls rasend schnell näherten. Obwohl seine Augen ihm ein Sichtfeld von annähernd 360 Grad erschlossen, drehte sich das Wesen herum; Unbe- wusst, instinktiv. Vor...Erschrecken. Eine neue Empfindung. Eine, die ihm nicht gefiel. Bewegung raste heran. Kreaturen stürmten auf ihn zu. Wesen wie es selbst eines war? Unmöglich zu beantworten. Es wusste nicht, von welcher Art es war. Hatte kein vollständiges Bild seines Selbst, kannte nur Teile seines Körpers. Es hörte die Schritte der anderen und Töne, nein, Tonfolgen. "Ch'zzarak! " Immer wieder diesen Laut. Jede der Kreaturen stieß ihn aus. "Ch'zzarak! Ch'zzarak! Ch'zzarak!" Eine Begrüßung? Ein Willkommenswort? Vielleicht sein...Name? Reglose schwarzglänzende Gesichter, unfähig einen wie auch immer gearteten Ausdruck zu formen. Aus starren Masken blickten dem Wesen glitzernde Augen entgegen. Es breitete seine Greifgliedmaßen aus, instinktiv wissend, dass es sich dabei um eine friedvolle Geste handelte. Den anderen ging dieses Wissen offenbar ab. Sie schlugen nach dem Wesen.
Mit ihren langen Gliedern und...Dingen, die Schmerzen verursachten. Das Wesen spürte, wie etwas in ihm erwachte. Etwas wie ein anderer, bisher ungenutzter Teil seines Denkens. Düster und so mächtig, dass es die Kontrolle des Körpers augenblicklich übernehmen konnte und ihn benutzte und nach eigenem Gutdünken handeln ließ. Die anderen wussten nicht, wie ihnen geschah. Es ging so schnell, wie das Wesen vorher gebraucht hatte, um zwei Schritte zu tun. Furchtbarer Lärm brandete in dieser kurzen Zeit auf. Dann verstummte er abrupt, wich vollkommener Stille, in der das Wesen wiederum nur die Geräusche vernahm, die es selbst verursachte. Die anderen existierten nicht mehr. Nicht mehr in den Einheiten wie zuvor. Ihre Körper waren zerstört, ihre Teile im weiten Umkreis verstreut. Die klebrige Substanz, die aus ihren zerrissenen Leibern gespritzt war, klebte dem Wesen am eigenen Körper und vor allem an seinen Gliedern. Diese Glieder waren...scharf. So scharf, dass das Wesen sich davor fürchtete. Ein neues Gefühl, und das erste, welches das Wesen wirklich bewusst erfuhr und empfand und benennen konnte: Angst. Und diese Angst war steigerungsfähig. Zur Panik. Panik, die das Wesen kennen lernte, als mehr und immer mehr der anderen auftauchten. Panik, die das Handeln des Wesens diktierte. Die es zur Flucht trieb. Und was immer ihm im Wege stand, als es durch scheinbar endlose, verwirrend gekrümmte Gänge und Tunnel hetzte, lernte die Schärfe deiner Glieder kennen. Tote pflasterten den Weg des Wesens. Aber die Zahl seiner Jäger schien dennoch nicht abzunehmen. Zunächst. Bis es ihnen, endlich, entkommen war. Vorerst. Es war am Ende jener Kräfte, die es doch eben erst gewonnen hatte. Jeder Schritt, jede noch so geringe Bewegung zehrten spürbar am kläglichen Rest dieser Kraft, als das Wesen jene Welt verließ, in der es geboren worden war, und
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hinaus trat in eine andere, entsetzlich große und weite. Und die Angst folgte ihm in diese neue Welt, war sogar zu sehen. Hing ihm an als dunkles Abbild seiner Selbst. So nannte das Wesen seinen Schatten Und sich selbst Ch'zzarak.
Erst schien es, als deute sie ins Nichts, denn zunächst sah Matt nur das Grau des Nebels. Dann, als er die Augen schmälte, entdeckte er den kleinen See, über dem Dampf wogte wie über einem gewaltigen Hexenkessel. Sie gingen näher heran. Der schweflige Geruch, den Matt schon in der Nacht vage wahrgenommen hatte, wurde stärker. Am Ufer des Sees ließ sich Aruula in die Hocke nieder und tauchte die Hand ins Wasser, nur um sie mit einem leisen Aufschrei gleich wieder zurückzuziehen. "Heiß?", fragte Matt amüsiert. Aruula nickte. "Woher weißt du...?" "Aachen war bekannt für seine Thermalquellen", antwortete er, während er den Blick über das Wasser schweifen ließ. Der See war von fast kreisrunder Form. "Ich nehme an, dass hier ein Bruchstück des Kometen niedergegangen ist. Sieht jedenfalls nach einem Kraterloch aus. Und irgendwie entstand wohl eine Verbindung zu den unterirdischen Quellen." "Riecht, als säße Orguudoos Brut da unten mit furchtbaren Blähungen", meinte Aruula naserümpfend. "Das Wässer soll aber sehr gesund sein", entgegnete Matt. "Das wussten schon die alten Römer." "Die Menschen deiner Zeit müssen ein sehr sonderbares Volk gewesen sein, Maddrax", konstatierte Aruula mit immer noch hochgezogener Nase. Matt lächelte versonnen. "Ja, das waren sie wohl." Er ließ den Blick schweifen. Viel war nicht zu sehen. Aber immerhin konnte er feststellen, dass im Umkreis des Sees kaum ein Stein auf dem anderen geblieben war. Was seine Vermutung, dass hier etwas mit Brachialgewalt eingeschlagen war, noch unterstrich. Sie gingen weiter in die Richtung, wo hinter dem Nebelgrau zumindest dunkle Schemen auszumachen waren, die sich beim Näherkommen tatsächlich als Häuser erwiesen. Häuser, die zu Matts Zeit schon als alt gegolten hatten. Es musste sich um die einstige Altstadt handeln, den historischen Kern Aachens. Matt fühlte sich wie ins Mittelalter versetzt. Und zugleich wie in einer Geisterstadt.
Sie hatten bis zum Morgengrauen gewartet, bevor sie sich auf den Weg in die Stadt hinunter gemacht hatten. In der Nacht wäre es zu gefährlich gewesen. Aruula hatte versucht, Matt zu erklären, was sie beim ersten Anblick der Stadt empfunden hatte. Aber es war ihr kaum möglich gewesen, ihre Eindrücke in Worte zu fassen. Weil sie zu fremdartig gewesen waren, vollkommen anders als alles, was menschliche Sinne wahrnehmen konnten. Als hätte sie den Gedanken von Geistern gelauscht. Doch was immer Aruula empfangen hatte, es hatte sie erschöpft. Ausgelaugt. Sie war in tiefen Schlaf gefallen. So hatte Matt sie schlafen lassen und selbst ein waches Auge auf ihre Umgebung gehabt. Erst als der neue Tag anbrach und das Schwarz des Himmels einem bleiernen Grau zu weichen begann, hatte er Aruula geweckt. Jetzt bewegten sie sich auf die Stadt zu, in der nach Aruulas Meinung Geister umgingen. Nebel war aufgestiegen und trieb in bizarr geformten Schwaden zwischen den Ruinen und Bauten einher. Die Sicht war kaum besser als in der Nacht. Trotzdem hatte Matt nicht darauf verzichten wollen, der Stadt - oder dem, was davon übrig war - einen Besuch abzustatten. Wenn sie nicht den Rest der Strecke bis zur Kanalküste zu Fuß zurücklegen wollten, mussten sie sich nach einem Gefährt umsehen, das er in Gang setzen konnte. "Schau!", sagte Aruula und streckte den Arm aus.
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Gespenstische Stille herrschte um sie her. Die Dunstschwaden dämpften selbst die Geräusche, die Matt und Aruula selbst verursachten. Es war unmöglich zu sagen, ob sich irgendwo in der näheren Umgebung tatsächlich etwas rührte. Auch wenn der Nebel überall in den Gassen Bewegung vorgaukelte. Aruula schauderte. "Spürst du etwas?", fragte Matt, während er weiterhin versuchte, alles ringsum im Auge zu behalten. Die junge Frau hob die Schultern, als sei ihr kalt. Was freilich nicht sein konnte. Die Dämpfe der Thermalquellen verbreiteten eine schwüle Wärme, die sich zwischen den Häusern staute. "Etwas ist hier", nickte Aruula. "Aber ich kann nicht sagen, was es ist. Sehr fremd, ganz anders..." "Kannst du die Gegenwart von Menschen wahrnehmen?" Wieder zuckte Aruula die Achseln. "Auch. Schwach nur. Und ich spüre...Angst. Wie Gift in der Luft." Sorge schlich sich in Matts Miene. Er öffnete den Klettverschluss einer Hosentasche, holte die Beretta 98 G hervor und entsicherte sie. Wenigstens verfügte er, seit er in Berlin das Notpaket in Jennifer Jensens Jet gefunden hatte, wieder über zwei volle Magazine - vierzig Patronen abzüglich der zwei, die er in Köln verschossen hatte. Den olivgrünen Container mit dem Rest der Notausrüstung trug er wie immer auf den Rücken geschnallt. Er hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er ihn kaum noch spürte. Sie sahen sich aufmerksam um, während sie Schritt um Schritt weiter gingen. Grob in die Richtung, in der ab und zu ein hochaufragender dunkler Schemen auftauchte, wenn der Wind den Dunst für einen Moment auseinander trieb. Matt war ziemlich sicher, dass es sich bei diesem massigen Schatten um den Aachener Dom handelte. Nur wenige der Häuser links und rechts der Gassen waren wirklich unversehrt. Aber an etlichen davon waren Reparaturarbeiten durchgeführt worden, mit einfachen Mitteln zwar, doch unübersehbar von halbwegs kundigen Händen.
Und was Matt vor allem auffiel: Die Fenster und Türen der Häuser waren regelrecht verbarrikadiert worden, einige der Öffnungen sogar zugemauert, alle aber zumindest mit Brettern vernagelt. Wenn sich in diesen Häusern Men schen aufhielten, dann lebten sie nicht einfach dort, nein, sie hatten sich regelrecht verschanzt! Aus Angst vor...ja, vor wem oder was? Noch vorsichtiger setzen Matt und Aruula ihre Schritte, als fürchteten sie, der Boden könnte sich unter ihren Füßen auftun. Diese Befürchtung indes war unbegründet. Denn die Gefahr drohte von anderer Seite. Sie kam von oben. Fiel, so schien es, direkt vom Himmel!
Die Welt verwandelte sich. Sie verlor das Dunkel und gewann an Helligkeit. Woher das Licht rührte, vermochte das Wesen nicht eindeutig festzustellen. Über ihm spannte sich Grau, so weit sein Blick reichte. Und was immer dieses Zwielicht verursachte, musste jenseits davon liegen, darüber, dahinter, wo auch immer. Ch'zzarak fühlte sich wohler in diesem Licht als im Dunkeln. Was vielleicht auch daran lag, dass er in der Zeit, da er sich versteckt gehalten hatte, wieder zu Kräften gekommen war. Er fühlte sich stark genug, sein Versteck zu verlassen, um diese andere Welt, in die er geraten war, zu erkunden. Was sich als Fehler erwies. Denn die Verfolger hatten die Jagd keineswegs aufgegeben. Sie hatten lediglich die Spur ihrer Beute verloren gehabt - und neue Häscher entsandt, die jetzt, da sich das Wesen im Licht des Tages zeigte, überall waren! Ch'zzarak war umringt von Jägern, die bislang starr auf den Dächern ringsum gehockt hatten. Nun, da sie seine Bewegung registrierten, bewegten sie sich auch selbst. Und sie taten es mit rasender Geschwindigkeit auf dünnen Gliedmaßen, die nicht nur zum Gehen
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dienten, sondern ebenso zum Klettern und zum Überbrücken von Klüften. Das Wesen ergriff die Flucht - und musste feststellen, dass es der Fortbewegung und dem Tempo seiner Jäger keineswegs unterlegen war. Sprünge von der mehrfachen Länge seines eigenen Körpers stellten für Ch'zzarak kein Problem dar, und ebenso leicht fiel es ihm, an kleinsten und schmalen Vorsprüngen Halt zu finden. Ein neues Gefühl ergriff ihn: Freude, die sich zur Euphorie auswuchs. Weil er sich den Verfolgern überlegen glaubte. Ungemein zielsicher fand er ein ums andere Mal Halt, wenn er von einem Dachfirst zum nächsten sprang und tiefe Schluchten, die zwischen den Bauten klafften, überwand. Und dabei machte er sich ganz instinktiv ein Bild seiner Umgebung, speichert sie gleichsam in seiner noch brach liegenden Erinnerung ab. Doch das beflügelnde Gefühl währte nur Sekunden. Dann trat kaltes Erschrecken an seine Stelle, als Ch'zzarak plötzlich ins Stolpern geriet und strauchelte. Die Kreaturen beschränkten sich nicht länger nur auf die Verfolgung. Sie...schossen! Schossen Fäden in Richtung ihrer Beute! Dabei zielten sie nicht auf den Flüchtling selbst, sondern lenkten ihre Fäden punktgenau zwischen seinen Beinen hindurch oder exakt dorthin, wo die nächsten beiden Schritte ihn hinführen würden. Binnen weniger Augenblicke spannte sich ein weitmaschiges Netz von Stolperstricken über die bizarr zerklüftete Berg- und Tallandschaft der Dächer. Ch'zzarak rutschte mit rudernden Gliedmaßen eine Dachschräge hinab und fing sich, ehe er vollends hinunter stürzte. Sofort setzte er seine Flucht fort. Und tatsächlich konnte es einigen Fäden mit so grotesken wie gewagten Sprüngen ausweichen. Bis er von einem getroffen wurde. Der klebrige Strang wickelte sich ihm wie eine Schlinge ums Bein, ein kurzer Ruck brachte ihn zu Fall. Und diesmal fand er nirgendwo Halt. Weitere der Fäden, die seine Jäger aus ihren Körpern pressten, schossen auf ihn herab. Und die Bewegungen, mit denen er um sich griff,
sorgten nur dafür, dass er sich in dem Gespinst verstrickte. Wie eine Marionette an viel zu vielen Fäden sah das Wesen aus, als es über die Dachkante in die Tiefe kippte. Der Boden schien ihm förmlich entgegen zu springen. Und immer noch wurde es von neuen Fäden getroffen. Noch bevor er unten aufkam, war Ch'zzarak eingesponnen in einen klebrigen Kokon.
"Ich hasse Spinnen", knirschte Matt Drax inbrünstig. Das war nicht immer so gewesen. In seiner Zeit hatte Matt die Arachniden sogar als recht nützlich betrachtet. Aber hier und heute, wo einem Spinnen von der Größe eines Terriers über den Weg laufen konnten, hatte sich das geändert. Spätestens nachdem Matt in Bologna mit den Siragippen aneinander geraten war. (siehe MADDRAX 2 "Die verfluchte Stadt”) Und jetzt schien eine neuerliche Kon frontation unausweichlich. Die Biester hockten über ihnen auf den Giebelspitzen der Häuser, die entlang beider Seiten der Gassen schroffe Zickzacklinien bildeten. Sie sahen aus wie bizarr geformte, kindsgroße Gargoyles mit zu langen und zu vielen Armen und Beinen. Und ihre Zahl...über ein Dutzend, auf den ersten Blick. Beim zweiten Hinsehen musste Matt seine Schätzung bereits deutlich nach oben korrigieren, und es wurden mehr und immer mehr. "Er lebt!" Aruula stürmte mit gezogenem Schwert an ihm vorbei. "Kümmere du dich um die Spinnen!", rief sie und schwang schon die Klinge. Sirrend rissen die ersten Fäden, die das längliche Gebilde hielten, das vor ihnen über dem Gassenpflaster hing. Eine Gestalt war zuvor von einem der Dächer gestürzt, doch bevor sie unten aufgeschlagen war, hatten die Spinnenkreaturen sie in dieses klebrige Gespinst gehüllt.
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Wer immer auch darin steckte, er hatte Glück gehabt. Der Kokon, der ihn aussehen ließ wie eine schlecht gewickelte Mumie, hatte den Aufprall gedämpft, und die Fäden, an denen er hing, hatten dem Sturz die ärgste Wucht genommen. Aruula hatte Recht - das Opfer dieser Spinnenmutationen lebte. Noch! Matt sah, wie sich in der länglichen Hülle etwas bewegte. Mit wuchtigen Hieben durchtrennte die Kriegerin die zähen Spinnfäden. Der Kokon sackte tiefer, schwang hin und her. Natürlich wollten sich die MonsterArachniden nicht gefallen lassen, dass ihnen die schon sicher geglaubte Beute wieder entrissen wurde. Sie kamen! Einige schossen neue Fäden aus ihren Spinndrüsen und ließen sich daran herab, andere kletterten an den Fach werkfassaden herunter. Klickende und kratzende Geräusche erfüllten die Gasse. "Tu was!" Aruulas Ruf riss Matt aus seiner Erstarrung. Der Anblick der Mutationen hatte ihn auf die Stelle gebannt. Jetzt brach dieser Bann. Und Matt zog den Stecher seiner Beretta durch. Die erste Kugel zertrümmerte den Kopfteil einer der Monstrositäten. Brockiger Schleim schwappte mit dumpfem Geräusch gegen die Hauswand. Das Ungeheuer erstarrte, kippte um, klapperte mit knöchernem Geräusch aufs Pflaster. Matt feuerte den zweiten Schuss ab, einen dritten. Die synchrone Bewegung der Arachniden geriet ins Stocken. Fast hatte Matt den Eindruck, sie würden über ihr weiteres Vorgehen beraten, in irgendeiner für ihn unhörbaren Sprache. "Hinter dir!" Wieder war es Aruulas Stimme, die ihn alarmierte. Reflexhaft ließ sich Matt zur Seite fallen. Keine Sekunde zu früh! Ein Spinnenglied, das wie ein Speer aus Chitin nach seinem Hinterkopf gezielt war, verfehlte ihn haarscharf. Matt verlängerte seine Bewegung in eine Rolle, stieß die Beretta hoch und feuerte. Für einen Sekundenbruchteil verschwand der kupfern schimmernde Chitinleib des
Angreifers hinter einer orangeroten Feuerblume. Dann sprühte etwas Zähes,. Feuchtes auf Matt nieder, und er meinte einen Laut zu hören, den die mutierte Spinne im Sterben ausstieß, einen heiseren, krächzenden Ton, der wie abgeschnitten verstummte, als das Biest tot umfiel. Kampfgeräusche lenkten seine Aufmerksamkeit wieder dorthin, wo Aruula sich um das Opfer der Arachniden bemüht hatte. Sie griffen seine Gefährtin an, stießen und hieben mit ihren Gliedmaßen nach ihr! Letztlich widerstanden sie der Klinge ihrer Waffe zwar nicht, aber es war ihre ungeheure Zahl, die ihnen einen Vorteil verschaffte. Die Barbarin war eine Meisterin im Schwertkampf und unglaublich schnell, aber doch nicht schnell genug, um Attacken abzuwehren, die buchstäblich von jeder Seite gleichzeitig geführt wurden. Zwei der Kreaturen versuchten derweil den Kokon zu packen, um sich damit aus dem Staub zu machen. Vielleicht war das ihr Plan gewesen (und Matt wunderte sich, dass er ihnen solche Intelligenz zugestand) Das Gros der Spinnenmutationen sollte Aruula ablenken, während diese beiden Kreaturen sich das Opfer zurückholten. Wenn es ein Plan gewesen war, dann vereitelte ihn Matt Drax mit zwei gezielten Schüssen. Dann richtete er die Pistolenmündung auf den Pulk aus Chitin und wirbelnden Spinnengliedern, in dessen Mitte er Aruula wusste. Aber er konnte es nicht wagen zu schießen. Zu groß war die Gefahr, dass er die Barbarin traf. Also näher ran! Aus unmittelbarer Nähe erledigte er drei weitere der Kreaturen und verschaffte sich und Aruula etwas Luft. Bevor, er ein viertes Mal anlegen konnte, ging ein sichtbarer Ruck durch die überlebenden Spinnen - und sie wandten sich zum Rückzug! In Sekundenschnelle verschwanden sie in engen Gassen und über Dachkanten. Schwer atmend blieb Matt in CombatStellung stehen, die Pistole vorgestreckt.
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Doch es gab kein Ziel mehr, auf das er sie hätte richten können. "Sie sind weg", keuchte Aruula neben ihm. "Scheint so, als hätten sie genug." Matthew nickte. War das nun reiner Instinkt gewesen - oder ein weiteres Anzeichen für Intelligenz? Müßig, darüber nachzudenken. Sie sollten handeln, bevor die Spinnen es sich anders überlegten und zurück kamen. Matt zog sein Army-Messer und begann das zähe Gewebe, in das der Körper des Opfers eingeschlossen war, zu bearbeiten. Das Zeug begann bereits auszutrocknen und wurde entsprechend hart, beinahe wie Gips. Bröckchenweise löste Matt die Masse ab. Er war noch lange nicht fertig, als Aruula neben ihn trat. Sie hielt noch ihr Schwert in der Hand. An der Klinge klebte kristalliner Brei. "Ich habe ein ungutes Gefühl", meinte sie. "Wir sollten verschwinden, bevor diese Ungeheuer mit Verstärkung zurück kommen. Wir brauchen ein Versteck, das sich verteidigen lässt." Während sie sprach, sah sie sich unentwegt und aufmerksam nach allen Seiten um. Noch rührte sich nichts außer dem wogenden Nebel, der nach wie vor die Gasse zu beiden Seiten hin verschluckte. Aber sie hatten gesehen, wie unglaublich flink diese Spinnenmonster waren. Matt nickte. "Du hast Recht. Aber wo können wir unterschlüpfen?" Er sah nach links und rechts, wo sich die Reihen verbarrikadierter Häuser hinzogen. Aruula trat schweigend an eine der mit Brettern vernagelten Türen heran und machte Anstalten, ihr Schwert als Brechstange einzusetzen. Matt ließ die Zeit nicht ungenutzt und schnitt weitere Stücke aus der Gespinsthülle heraus. Dann geschah zweierlei zugleich. Matt schnitt dort ein Loch in den Kokon, wo sich das Gesicht des Opfers befand, um zu verhindern, dass es erstickte. Doch kaum hatte er dies getan, fuhr er mit einem entsetzten "O mein Gott!" zurück, während ein Stück entfernt, aus dem Nebel, jemand leise auf sich aufmerksam machte.
"Pst! " Und dann, ungeduldiger und etwas lauter: "He, ihr da! Hierher, schnell! "
Die Haltbarkeit von Fäkalgeruch erstaunte Matt Drax. Die Kanalisation von Aachen war seit Jahrhunderten nicht mehr in Gebrauch, und trotzdem stank es in den Tunneln unter der Stadt immer noch wie die Pest. Ein Hauch davon hatte sich in seinen Kleidern festgesetzt und hüllte ihn ein, als habe er sich mit "Eau de Clochard" parfümiert. Was auch für Aruula galt. Dennoch liefen sie deswegen nicht Gefahr, ihren Gastgebern unangenehm aufzufallen. Die beiden rochen nämlich um keinen Deut besser; im Gegenteil, ihnen schien der faulige Dunst aus jeder einzelnen Pore zu strömen. Und abgesehen davon roch es im ganzen Haus danach. Ihre Gastgeber - Staan und Solde. Wäre er den beiden unter normalen Umständen begegnet, hätte Matt das Paar auf annähernd hundert Lenze geschätzt. Ausgemergelte Gestalten mit müden, ungesund grauen Gesichtern, in die Jahre und Not dunkle Faltenmuster gezeichnet hatten. Wodurch der Mann und die Frau einander so sehr ähnelten, dass man sie für Geschwister halten konnte. Was sie nicht waren, denn Staan hatte ihnen Solde als sein Weib vorgestellt, nachdem er Matt und Aruula durch die unterirdischen Tunnel der einstigen Kanalisation in dieses Haus gelotst hatte. Ein Haus mit kleinen, spartanisch möblierten Zimmern, deren Fenster samt und sonders verrammelt waren. Licht spendeten einzig ein paar selbst gezogene, stark rußende Kerzen. Und ein Feuer, das in diesem Raum, der offensichtlich als Wohnstube und Küche diente, hinter einem offenen Herdloch flackerte. Als Matt und Aruula eintraten, saß Staan an dem grob gezimmerten Tisch in der Zimmermitte, derweil Solde hölzerne Schalen darauf abstellte, in denen sich irgendetwas
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Dampfendes befand. "Setzt euch und esst", sagte Staan und wies auf die schlichten Bänke, die um den Tisch standen. Mit einein dankenden Nicken nahmen sie Platz und zogen sich je eine der Schalen heran. Heißer Brei befand sich darin. Matt hatte sich längst abgewöhnt, jedes Mal herausfinden zu wollen, was er da eigentlich aß; andernfalls wäre er in dieser Welt längst verhungert... Was immer Solde serviert hatte, es schmeckte. Matt merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Während ihrer Flucht vor den Sektenmitgliedern hatten sie kaum etwas gegessen, schon gar keine warme Mahlzeiten. "Wie gehts eurem Freund?", fragte die Frau mit Blick auf die fünfte Schale, die unberührt auf dem Tisch stand. "Unserem Freu...?", begann Matt verständnislos, doch der Tritt, den ihm Aruula von den anderen unbemerkt unter dem Tisch versetzte, ließ ihn rasch nicken. "Oh, ja, unserem Freund! Dem gehts schon besser. Braucht wohl nur etwas Ruhe." Er versuchte ein Lächeln und hoffte, dass man ihm sein Unbehagen nicht ansah. Denn was immer sie da in dieses Haus geschleppt hatten, eingehüllt in einen Kokon, es war eines ganz sicher nicht: ihr Freund. Es war...fremd. Unheimlich fremd. Und Matt konnte nur hoffen, dass es sich nicht als Kuckucksei entpuppte... Als er draußen in der Gasse in das Gesicht dieses...Wesens im Kokon geblickt hatte, war sein aller erster Impuls gewesen, eine Kugel hinein zu jagen! Was er natürlich nicht getan hatte. So weit war er schließlich noch nicht heruntergekommen, dass er auf alles, was einfach nur anders war, geschossen hätte. Allerdings hätte er die Hülle mitsamt ihres Inhaltes gern dort liegen lassen, als Staan nach ihnen gerufen und ihnen Unterschlupf in seinem Haus angeboten hatte. Doch damit war Aruula nicht einverstanden gewesen. Auch sie war zwar im ersten Moment erschrocken. Dann aber, fast noch in derselben Sekunde, war irgendetwas geschehen.
Matt wusste nicht genau, was es gewesen war; irgendeine Art von Verständigung zwischen Aruula und dem fremdartigen Wesen. Jedenfalls etwas, das Aruula veranlasst hatte, alle Feindseligkeit und sogar Vorsicht fahren zu lassen. "Wir können ihn nicht hier liegen lassen! ", hatte sie protestiert, und noch ehe Matt auch nur den Versuch eines Einwandes machen konnte, hatte Aruula den Kopfteil des mittlerweile vollends gehärteten Kokon angehoben und gefordert: "Los, hilf mir! " Skeptisch hatte Matt mit angepackt. Keuchend unter der Last waren sie Staan durch die Kanalisation bis zu jenem Schlupfloch gefolgt, das im Keller dieses Hauses lag. Hier hatte er ihnen ein Zimmer zur Verfügung gestellt, kaum größer als eine geräumige Besenkammer. Als Schlaflager dienten Plastiksäcke, die mit Kunststoffflocken gefüllt waren, wie man sie früher zur Polsterung von Paketinhalten verwendet hatte. Matt und Aruula hatten ihren "Freund", der bis dahin weder einen Laut von sich gegeben noch sonst eine Regung gezeigt hatte, auf ein solches Lager gebettet, ohne ihn aus dem Kokon zu befreien. Matt hatte ein sehr ungutes Gefühl dabei, das fremde Wesen einfach in der Kammer zurückzulassen, doch Aruula hatte ihm versichert, dass keine Gefahr drohe. "Er ist nicht böse", hatte sie gesagt. Und Matt hatte darauf geantwortet: "Na, hoffentlich weiß er das auch..." Wohler oder gar erleichtert hatte sich Matt nach Aruulas Worten nicht gefühlt. Trotzdem war er seiner Gefährtin in die Küche des Hauses gefolgt. Nicht nur, weil ihn sein leerer Magen mehr oder minder dazu gezwungen hatte; Matt erhoffte sich außer einer warmen Mahlzeit noch etwas anderes: Informationen über das, was in dieser Stadt vorging. Und nachdem seine erste Hoffnung in Erfüllung gegangen war, widmete er sich jetzt der zweiten. Er bemühte sich um einen möglichst unverfänglichen Ton, als er noch während des Essens fragte: "Habt ihr oft Ärger mit diesen...Tieren?"
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Staans Reaktion überraschte ihn. So sehr, dass er den Löffel sinken ließ und den Alten konsterniert ansah. Staan lachte. Matt brauchte einen Moment, um heraus zu hören, dass es sich keineswegs um ein amüsiertes Lachen handelte. Es klang rau und bitter. Dann, geradezu gemächlich, legte der alte Mann den Löffel beiseite und schob seine Schale ein Stück zurück. Als sei ihm plötzlich der Appetit vergangen. "Nein", sagte er schließlich, "sie machen uns keinen Ärger, Maddrax." Auch diese Antwort erstaunte Matt, und einen Augenblick dachte er, den Mann womöglich nicht richtig verstanden zu haben; ein Blick zu Aruula bewies ihm jedoch, dass er sich wohl kaum verhört hatte. Auch seine Gefährtin schien verwirrt über Staans Antwort. "Nicht?", fragte er deshalb lahm. Staan schüttelte den Kopf. "Nein. Zumindest würde ich es nicht als Ärger bezeichnen." "Sondern?" Staans Miene verhärtete sich. Die Linien in seinem Gesicht schienen plötzlich tiefer. "Wir sind ihre Gefangenen. Und so gesehen müssen wir froh und dankbar sein, dass sie uns am Leben lassen." Ein gepresstes Schluchzen ließ Matt und Aruula synchron in Soldes Richtung sehen. "Ich wünschte, sie würden uns nicht länger verschonen...", sagte sie leise, mit fast erstickter Stimme. "Schweig! ", fiel ihr Staan barsch ins Wort. "Du weißt ja nicht, was du redest!" Doch Solde ließ sich nicht den Mund verbieten. Sie sah ihren Mann an, und in ihren müden Augen flackerte etwas, das Matt für Zorn hielt. Zorn, den sie vielleicht zu lange unterdrückt hatte. "O doch, das weiß ich!", behauptete sie. "Und es ist mein voller Ernst, wenn ich sage, dass ich lieber tot wäre als so zu leben!" Sie wies um sich. "Auf ewig eingesperrt, immerfort von Angst geplagt und der Willkür dieser...dieser Ungeheuer ausgeliefert!" Staan hielt Soldes Blick schweigend stand, aber nicht sehr lange. Schließlich senkte er den Kopf, eine Bewegung, die Nieder
geschlagenheit und Eingeständnis in einem ausdrückte. Ohne wieder aufzuschauen sagte er: "Du hast ja Recht, auf eine Art jedenfalls. Trotzdem sind Reden, wie du sie führst...", Staan zögerte und hob hilflos die Schultern. "Nun, ich habe Angst, dass sie von solchen Worten angelockt werden könnten." Matt konnte sich nicht länger zurückhalten. "Das klingt, als wären diese Tiere intelligent. Als wüssten sie genau, was sie tun. Als könnten sie denken und planen." Jetzt hob Staan den Kopf. Sein Blick traf Matt, und der fühlte sich von der Kälte darin so unangenehm berührt, dass er beinahe fröstelte. "Das sind sie, das wissen sie und das können sie", sagte der Alte dann. "Sie sind keine Tiere!" "Sondern?" "Sie sind...", Staan schluckte hart, ehe er weitersprach, "...uns überlegen. In jeder Hinsicht." "Aber warum flieht ihr nicht?", fragte Matt. Damit meinte er nicht nur den alten Mann und die Frau; er ging davon aus, dass sich auch in anderen Häusern Menschen vor diesen insektoiden Monstern verschanzt hatten. "Ich habe keine Mauern gesehen, die euch darin hindern könnten." Staan schnaubte und winkte ab. "Die Herren Aarachnes brauchen keine Mauern, um uns hier fest zu halten." Aarachne? Es dauerte einen Moment, bis Matt hinter dem Begriff den Namen der Stadt Aachen erkannte. Bizarr, dachte er. Sie haben das Wort mit dem für "Spinnen" kombiniert. "Wir können nicht entkommen", fuhr Staan indes fort. "Daran hindert uns die Schwarze Hand." "Die Schwarze Hand?" Mit diesem Begriff wusste Matt nichts anzufangen, im ersten Moment jedenfalls. Dann jedoch dämmerte eine Ahnung in ihm, und Staan bestätigte sie mit seinen nächsten Worten. "Du willst mir doch nicht weismachen, dass ihr die Schwarze Hand nicht kennen gelernt hättet? Ich spreche von den kleinen Biestern, die in weitem Umkreis um die Stadt lauern."
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Matt nickte. "Ja, wir sind auf diese...Schwarze Hand getroffen. Und ihr entkommen." Die Bezeichnung "Schwarze Hand" fand er plötzlich sehr passend; immerhin hatte er dieses Milliarden-Heer da draußen in Gedanken selbst mit einer Hand verglichen. "Unsinn! ", raunzte Staan. "Ihr seid der Schwarzen Hand nicht entkommen, Maddrax. Sie hat euch hierher getrieben, wie es ihre Aufgabe ist." Matt schwieg betroffen. So konnte man es natürlich auch sehen... "Und wie sie jeden Menschen, der sich in die Nähe Aarachnes wagt, entweder hierher führen oder töten, lassen sie auch niemanden hinaus. So einfach ist das." Staans Tonfall klang geradezu erschreckend nüchtern. Er hatte sich mit dem Los, hier gefangen zu sein, wohl tatsächlich abgefunden. Matt aber wollte sich ganz sicher nicht in dieses Schicksal fügen. "Es muss einen Weg geben", behauptete er, und seine Überzeugung war nicht gespielt. "Es gibt immer Wege, und das Unausweichliche ist immer nur scheinbar unausweichlich! " "Glaubst du, es hätte noch niemand versucht, einen solchen Weg zu finden?", fragte Staan beinahe sanft, gerade so, als spreche er zu einem störrischen Kind. Dann lachte er kurz und humorlos auf. "Ich habe viele gesehen, die es probieren wollten. Und ich habe sie allesamt wieder gesehen." "Sie wurden zurückgebracht?", hakte Matt nach. "Das und mehr", erwiderte Staan orakelhaft. Er erhob sich und bedeutete Matt und Aruula, ihm zu folgen."Kommt mit, dann seht ihr es mit eigenen Augen." Er nahm eine alte Axt auf, die neben dem Herd an der Wand lehnte, und verließ das Zimmer.
Obergeschoss hinauf. Die Stufen knarrten geradezu beängstigend unter ihrem vereinten Gewicht, aber sie hatten Hunderte von Jahren gehalten und sie brachen nicht ausgerechnet jetzt ein. Sie betraten eine Kammer, die direkt unter dem Dach lag. In der Schräge befand sich ein Giebelfenster, ebenfalls mit Brettern verbarrikadiert, die Staan jetzt mit Hilfe der Axt zu lösen begann. Matt und Aruula sahen sich in dem kleinen Raum um. "Was ist das?", fragte die junge Kriegerin. Sie wies auf einen kastenförmigen Gegenstand, der auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kammer stand. Matt konnte es kaum glauben. "Eine Schreibmaschine!", sagte er auf Englisch, weil es in der Sprache dieser Zeit keine Entsprechung dafür gab. Aruulas Blick drückte blankes Unverständnis aus. Die Schreibmaschine war uralt und rostig, und das Blatt, das jemand vor Jahrhunderten eingespannt hatte, war längst zu Staub zerfallen, der die Walze wie grauer Puder bedeckte. Als Matt eine der Tasten niederdrückte, löste sich der Typenhebel erst knirschend aus seinem Bett und dann in Wohlgefallen auf. "Upps." Aruula beäugte das Gerät interessiert. "Wozu wurde es verwendet in deiner Zeit?", fragte sie. Dass Matt aus der Vergangenheit stammte, hatte Aruula mittlerweile akzeptiert, auch wenn sie es nicht wirklich verstand. Aber das tat er ja selbst nicht... "Zum...Schreiben", erklärte Matt unbeholfen. Wieder wurde Aruulas Gesicht zum Fragezeichen. Matt lächelte hilflos. "Mit diesem Gerät konnte man Worte...zeichnen, damit andere sie lesen konnten." Es war schwer, etwas erklären zu wollen, für das in der anderen Sprache die Basis fehlte. Aber Aruula schien trotzdem zu begreifen, was er meinte. Vielleicht bediente sie sich auch wieder einmal heimlich seines Denkens, um ihn besser zu verstehen. Neben der Schreibmaschine befanden sich weitere Utensilien auf dem Tisch, allesamt
Der Pilot und die Kriegerin schlossen sich ihm an, derweil Solde zurückblieb und den Tisch abräumte. Staan führte sie die hölzerne und mehrfach ausgebesserte Treppe ins
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staubverkrustet, seit Generationen unberührt. Und Matt sah einen Umriss in der Staubdecke des Tisches. Etwas Rechteckiges hatte dort gelegen und war nach langer, langer Zeit weggenommen worden. Vielleicht. Doch Matt kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen. Staan hatte die Bretter entfernt und bedeutete ihnen, herzukommen und zum Fenster hinauszusehen. "Aarachnodom", sagte er nur. Matt Drax schauderte unwillkürlich. Er hatte sich also nicht geirrt. Der hochaufragende Schatten, den er auf dem Weg durch die Stadt im Nebel und über den Dächern gesehen hatte, war tatsächlich Teil des Aachener Doms, die Turmspitze - und der einzige Teil, der noch an das altehrwürdige Bauwerk erinnerte! Denn der Rest war...verschwunden. Unter einem Gebilde, das so bizarr und gewaltig war, dass sein Anblick Matt und auch Aruula den Atem verschlug. Und obwohl Matt so etwas noch nie gesehen hatte, jedenfalls nicht in dieser Größe, wusste er doch fast augenblicklich, worum es sich handelte. Es war ein Bauwerk, genau wie der Dom, aber seine Formen fußten auf einer vollkommen anderen Architektur. Der bloße Anblick verursachte Matt ein Schwindelgefühl, und die Vorstellung, wie es entstanden sein musste, tat ein Übriges dazu. Zweifelsohne ein Insektenbau, eine Art Termitenhügel von immensen Ausmaßen! So riesig, dass der Aachener Dom und alles, was sich im näheren Umkreis befand, darunter begraben worden war. Die Turmspitze, die aus dem monströsen Haufen ragte, kam Matt vor wie ein Mahnmal, ein Zeichen dafür, dass die insektoiden Herrscher dieser Stadt den Menschen über waren. Und Mahnmale waren auch die Toten. Ihretwegen hatte Staan seine beiden Gäste hier herauf geführt. Matt zählte mehr als zwei Dutzend menschlicher Leichen, die morbiden Stuckaturen gleich in die verwinkelte und vielfach gefaltete Flanke dieser architektonischen Monstrosität eingelassen
waren. Wie gekreuzigt hingen sie da, die Arme seitlich ausgestreckt. Ein paar der Toten waren bereits vollständig skelettiert, andere beinahe, und drei oder vier konnten erst seit ein paar Tagen oder Wochen zur letzten Ruhe gebettet worden sein. Selbst über die Entfernung glaubte Matt das Entsetzen in ihren verzerrten Gesichtern erkennen zu können. Aruula hatte sich bereits abgewandt, Matt wollte es ihr gleichtun, doch Staan schüttelte den Kopf. "Nein, schau hin! ", verlangte er. Er streckte den Finger aus und zeigte leicht nach rechts. "Siehst du den Jungen dort?" Matt nickte, die blutleeren Lippen fest aufeinander gepresst. Staan meinte eine der halb verwesten Leichen; nur mit Fantasie war noch erkennbar, dass es sich um einen jungen Menschen gehandelt hatte. "Sein Name war Ranold." Matt wandte nun doch den Kopf und sah den alten Mann an. Der hielt seinem Blick zwei, drei Sekunden lang schweigend stand, dann sah er wieder hinaus. Tränen traten ihm in die Augen und schienen die ohnehin schon seltsamen farblosen Pupillen noch mehr auszuwaschen. "Ranold", sagte der Alte rau, "war unser Sohn. Er war jung, fühlte sich so stark, glaubte es mit den Herren aufnehmen zu können," Ein bitteres Lachen, das in einem Schluchzen erstickte, kam aus Staans Mund. "Er war nicht einmal einen halben Tag fort, als sie ihn zurückbrachten. Aber es vergingen drei weitere Tage und Nächte, bis sie ihn dort drüben an die Wand hängten. Nur die Götter wissen, was sie dem Jungen angetan haben..." "Das...tut mir sehr Leid, Staan." Die Worte hinterließen einen schalen Geschmack auf Matts Zunge. "Verstehst du nun, wa...", begann der Alte, doch er sprach den Satz nie zu Ende. Ein Schrei, so schrill, dass er durch Mark und Bein ging, gellte durchs Haus! "Solde! " Staan brüllte den Namen seiner Frau. Und schon stürmte er los. Zur Kammer hinaus, die Treppe hinunter, das Beil schon jetzt zum Schlag erhoben, da er noch nicht einmal wusste, was Solde zu diesem furchtbaren Schrei veranlasst hatte.
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Matthew Drax hingegen hatte eine ganz bestimmte und verdammt ungute Ahnung, während er und Aruula dem alten Mann hinterher rannten.
Der alte Mann sackte in sich zusammen, stürzte zu Boden und blieb in gekrümmter Haltung liegen. Das Insektenwesen wandte sich ruckartig Aruula zu, abwehrbereit, aber ohne anzugreifen. Aruulas Faust öffnete sich. Ihr Schwert polterte zu Boden. Sie spreizte die Arme ab, zeigte ihrem Gegenüber die leeren Hände - und die Kreatur ahmte die Geste zögernd oder einfach nur unbeholfen nach. Sekundenlang geschah nichts, was für Matt zu sehen oder zu hören gewesen wäre. Trotzdem spürte er, dass etwas vorging, am ehesten zu vergleichen mit dem Gefühl schwacher elektrischer Spannung; die in der Luft lag und Matt ein feines Kribbeln auf der Haut verursachte. Er zweifelte nicht daran, dass Aruula mit diesem Hybridwesen kommunizierte oder es zumindest versuchte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er trat neben Aruula, widerstand allerdings dem Impuls, vorsichtshalber die Pistole zu ziehen. Die Kreatur wandte ihm abrupt ihr Chitingesicht zu und musterte ihn aus starren Facettenaugen. Sie sahen aus, als bestünden sie aus unzähligen Smaragdsplittern, glitzerten grün und kalt - und interessiert. "Freund", sagte Aruula zu dem Wesen und wies auf Matt. "Maddrax ist mein Freund. Und dein Freund." Sie sprach betont und langsam und unterstrich jedes Wort mit einer entsprechenden Geste. "Hey, nun mal langsam und keine falschen Versprechungen!", protestierte Matt. "Sei still", raunte Aruula. "Er ist weder böse noch gefährlich. Es ist...ein Kind." "Muss ein ziemlicher Schock für die Eltern gewesen sein..." "Er hat Angst", behauptete Aruula. "Und er ist anders als die anderen Wesen." "Ach, sagt er das?" "Ich kann seine Angst spüren. Und..." Aruula schüttelte vage den Kopf, ohne die Kreatur aus den Augen zu lassen. "Ich kann es nicht erklären. Er weiß kaum, wer und was er ist. Was er tut, entspringt reiner Neugier und dem Wunsch zu leben...Er...erwachte, vor
Staan konnte nur zu einem Schluss kommen: Eine jener Kreaturen, die diese Stadt mit animalischer Grausamkeit regierten, musste sich Zutritt in sein Haus verschafft haben! Matt Drax wusste, dass dem nicht so war. Nein, er und Aruula hatten ihrem Gastgeber dieses Ding ins Haus geschleppt! Das Wesen war auf den ersten Blick von humanoider Gestalt, sah man davon ab, dass es von Kopf bis Fuß chitingepanzert war. Spätestens beim zweiten Hinsehen allerdings fielen die vier Armpaare der Kreatur auf, der im Verhältnis zum Rest des Körpers zu kleine Schädel...und mindestens zwei Dutzend "Kleinigkeiten" mehr. Solde kauerte in einer Ecke des Zimmers, die Arme über dem Kopf verschränkt, unverständliche Worte wimmernd. Staan reagierte ganz instinktiv. Mit immer noch erhobener Axt stürzte er sich auf das bizarre Geschöpf, das - zumindest im Augenblick - kein Interesse an Solde zu haben schien, sondern sich neugierig im Zimmer umsah, Dinge berührte und ungeschickt von den Regalen stieß. In dem Moment jedoch, da Staan das Wesen anging, drehte es sich blitzschnell um, als habe es unsichtbare Augen am Hinterkopf, stieß einen fauchenden Laut aus und stieß das untere Armpaar in Richtung des alten Mannes. Die Klauen an den Enden dieser Glieder waren sichtlich scharf and spitz. Sie würden Staan aufspießen und zerteilen in einem Aruula rettete dem Alten das Leben. So schnell, dass Matt ihre Bewegung kaum verfolgen konnte, sprang die Barbarin hinter Staan her und rammte ihm den Griff ihres Schwertes in den Nacken.
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kurzem erst. Wurde angegriffen. Vernichtete die Angreifer. Wurde verfolgt ..-." Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. "Er ist uns dankbar, weil wir ihn gerettet haben." "Vielleicht lügt er dir was vor", gab Matt zu bedenken. Aruula schüttelte entschieden den Kopf. "Er kann nicht lügen. Das spüre ich ganz deutlich." Staan war mittlerweile wieder zu sich gekommen. Seine Hand kroch wie eine fünfbeinige knochenbleiche Spinne auf das Beil zu, das er fallen gelassen hatte. Matt registrierte es aus den Augenwinkeln und stellte seinen Fuß auf den Stiel der Axt. Keuchend vor Empörung, Zorn und wohl auch Angst richtete sich der alte Mann auf. "Ihr seid verrückt!", zischte er. "Wenn ihr glaubt, dass von diesem Ungeheuer keine Gefahr ausgeht, dann seid ihr Narren! Habt ihr nicht gesehen, was sie mit uns machen?" Er wies zur Decke empor und meinte damit die entsetzliche Aussicht, die man vom Dachfenster aus hatte. "Dieses Wesen", entgegnete Aruula betont, "gehört nicht zu den Herren Aarachnes. Nicht direkt jedenfalls..." Sie seufzte. "Ich verstehe es selbst nicht ganz." Ihr Wissen beschränkte sich auf das ihres Gegenübers. Was diese Kreatur nicht wusste, konnte auch Aruula nicht in Erfahrung bringen. Dazu kam noch, dass dieses Wesen in anderen Bahnen und Bildern dachte als ein Mensch; Aruula musste sie gewissermaßen übersetzen oder zumindest interpretieren. "Aber wenn er uns feindlich gesonnen wäre, würden wir schon nicht mehr leben", fuhr Aruula fort. "Hat er auch einen Namen?", fragte Matt. Das Wesen wandte sich wieder Matt zu. "Ch'zzarak." Matthew lächelte schief. "Angenehm, Kzz..." Erfolglos gab er den Versuch auf, das Geräusch, das die Kreatur ausgestoßen hatte, wiederholen zu wollen. Staan lachte unfreundlich. "Verdammt, ihr seid dümmer als ich dachte! Das ist kein Name; diese Biester haben keine Namen! Ch'zzarak - das heisere Geräusch kam ihm mühelos aus der Kehle - "ist ihr
Begriff für Alarm, Gefahr - oder irgendwas in dieser Art! " Das Wesen, das sich Ch'zzarak nannte, gab einen Ton von sich, der eindeutig enttäuscht klang. "Es war das Erste, was er hörte, nachdem er erwacht war", las Aruula in Ch'zzaraks Erinnerung. "Deshalb dachte er, das sei sein Name." Das Wesen legte den Schädel schräg, als lausche es auf etwas, das menschliche Ohren nicht hören konnten. Dann öffnete es sein Maul, aus dem zwei halbmondförmige Hauer ragten. Ein Speicheltropfen löste sich von einer der Spitzen und troff zu Boden. Zischend brannte sich der Tropfen ins Holz. "Mann, das ist ja widerlich." Matt verzog das Gesicht. Aruula streckte die Hand aus und berührte Ch'zzarak an der linken Schulter seines oberen Armpaars. "Was ist?", fragte Matt beunruhigt. "Er hört...", setzte Aruula an. Doch noch ehe sie es ausgesprochen hatte, hörten sie es alle. Ein dumpfes Röhren, lang und unstet. Das Geräusch schien durchs ganze Haus zu dröhnen. Natt glaubte den Ursprung im Keller zu lokalisieren, wo es in die alten Abwasserkanäle ging. Staan hatte sich inzwischen Solde gewidmet und ihr beim Aufstehen geholfen. Die beiden schienen von dem gespenstischen Geräusch fast unbeeindruckt, in jedem Falle aber nicht beunruhigt. Der Alte bemerkte den Blick, den Matt ihm zuwarf, und sagte:. "Keine Sorge. Das Signal bedeutet nur, dass die Brüder von eurem hässlichen Freund da", er warf einen verächtlichen Blick in Ch'zzaraks Richtung, "wieder auf der Jagd sind. Es ist eine Warnung unserer Späher, in den Häusern zu bleiben." "Auf der Jagd?", echote Matt. "Nach...ihm?" Mit dem Kinn wies er auf Ch'zzarak. Staan lauschte auf das Heulen, das immer noch aus der Kanalisation zu ihnen herauf drang. Setzt konnte auch Matt hören, dass es
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eine Wiederholung bestimmter Tonfolgen war; eine Art Code, vermutete er. Schließlich schüttelte der Alte den Kopf. "Nein. Offenbar wurden wieder ein paar Fremde in die Stadt getrieben - und sie scheinen weniger Glück zu haben als ihr." Draußen, jenseits der beiden bretterverschlagenen Fenster, wurde es laut! Schreie klangen auf. Hastige Schritte. Und Geräusche, die nur von einem Kampf herrühren konnten. Matt stürzte an eins der Fenster. Zwischen den Brettern klafften Ritzen, durch die er hinaus sehen konnte. "O mein Gott!", stöhnte er. "Das gibts nicht...Das glaub ich einfach nicht! " Er wirbelte herum, riss die Axt vom Boden hoch, stürzte zurück zu den Fenstern und wollte auf die Bretter einschlagen. Staan fiel ihm mit erstaunlicher Kraft in den Arm. "Nur über meine Leiche! ", schnaufte der Alte. "Bring mich nicht auf dumme Gedanken!", drohte Matt und befreite sich aus Staans Griff. "Du kannst nichts tun, um diesen Leuten zu helfen! Du wirst nur mit ihnen sterben! Wir alle werden umkommen, wenn du dich in diese Jagd einmischst! ", ereiferte sich Staan. "Ich muss! " "Bei allen Göttern, warum denn nur? Bist du denn wirklich so verrückt?! " Matt schluckte hart. Dann sagte er düster und mit belegter Stimme: "Weil ich einen der Männer da draußen kenne! "
sehr viel effektiver, mit zerstörerischer Brachialgewalt! Die Bretter vor dem Fenster zersplitterten unter den Hieben des Insektoiden. Trümmer flogen nach allen Seiten weg. Und dann waren Sicht und Weg nach draußen zur Gasse auch schon frei. "Was ist denn in den gefahren?", keuchte Matt erschrocken. Aruula war neben ihn getreten. "Er will helfen. Er mag nicht wirklich verstanden haben, worum es geht, aber er weiß, was da draußen passiert. Und er will diese Leute retten - so wie er es von uns gelernt hat." Matt stieß einen schrillen Laut aus. "Ich fass es nicht...! " Ch'zzarak schnellte sich mit einem Satz durchs Fenster hinaus. "Wir können ihn nicht allein lassen", sagte Aruula und kletterte dem Wesen nach, das Schwert wieder in der Hand. Matt folgte ihr. Nicht in erster Linie, um der merkwürdigen Kreatur beizustehen, sondern weil er tatsächlich unter den Männern, die dort draußen um ihr Leben kämpften, einen alten Bekannten entdeckt zu haben glaubte. Einen sehr alten Bekannten; jemanden, den er - legte man zu Grunde, wo und vor allem wann sie waren - seit ein paar hundert Jahren kannte: Hank Williams, der letzte seiner vermissten Kameraden! Es waren fünf oder sechs Männer, die von Ungeheuern angegriffen wurden im hektischen Getümmel, das in der engen Gasse herrschte, war ihre genaue Zahl nicht zu bestimmen. Bei den Angreifern handelte es sich nicht um die Spinnenwesen, die zuvor Jagd auf Ch'zzarak gemacht hatten, sondern um eine andere Spezies - eine, die noch monströser wirkte und vor allem sehr viel gefährlicher! Matt kannte sich in der konventionellen Insektenwelt nicht sonderlich aus, und so hatte er keine Ahnung, welche ursprüngliche Art zu dieser Ungeheuerlichkeit mutiert war; irgendeine Käfersorte, vermutete er. In ihrer jetzigen Form jedenfalls erinnerten diese Biester am ehesten noch an viel zu groß geratene Krabben mit gewaltigen Scheren und Kieferzangen.
Zwei, drei Sekunden lang herrschte Stille, betroffenes Schweigen. Dann schlug die Situation um, binnen eines Sekundenbruchteils - oder vielmehr innerhalb eines einzigen Gedankens! Ch'zzarak sprang wie von einer Stahlfeder geschnellt zwischen Matt und Staan hindurch, auf eines der beiden Fenster zu. Seine unteren Arme wirbelten plötzlich wie Dreschflegel - nur
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Und was sie damit anzurichten imstande waren, hatten sie bereits bewiesen. Einer der Männer, die attackiert wurden, war tot. Sein Rumpf kippte in dem Moment um, als Matt aus der Fensteröffnung kletterte. Der Kopf des Mannes rollte ihm vor die Füße und kam so zur Ruhe, dass sich Matt von den fast kreisrund auf gerissenen Augen angestarrt fühlte. Das Monster, das den jungen Burschen getötet hatte, bezahlte augenblicklich für seine Tat, mit gleicher Münze. Die Kugel aus Matts Beretta riss ihm den hässlichen Schädel ab. Ch'zzarak erweckte indes den Eindruck, als habe er nie etwas anderes getan, als gegen seinesgleichen zu kämpfen. Er wirbelte durch den Pulk der Monsterkäfer, ließ seine tödlichen Glieder hierhin und dorthin stoßen, und keiner seiner Hiebe ging fehl. Dennoch, der Nachschub dieser Armee war unerschöpflich. Für jede Kreatur, die fiel, schienen mindestens zwei andere nachzurücken. Aruulas Schwert beschrieb flirrende Blitze und Kreise. Sie zielte mit ihrer Klinge stets nach den Gelenken der Gegner und den Einkerbungen ihrer Chitinleiber. Dort traf die Waffe auf den geringsten Widerstand, und ein Hieb genügte in der Regel, um durchschlagenden Erfolg zu erzielen. Die Männer, die ursprünglich attackiert worden waren, hielten sich wacker, zogen sich allerdings Stück um Stück zurück, sodass Matt, Aruula und Ch'zzarak zwischen sie und die Angreifer gerieten - bis die Ungeheuer auch auf der anderen Seite der Gasse auf tauchten! Ein weiterer der Fremden starb einen schrecklichen Tod. Matt schämte sich fast dafür, Erleichterung zu empfinden, als er sah, dass es sich bei dem Toten nicht um Hank handelte. Der jedoch geriet in diesem Augenblick in ärgste Bedrängnis! Auf den Dächern der umliegenden Häuser waren die Spinnenkreaturen aufgetaucht. Sie griffen nicht direkt ins Geschehen ein, sondern operierten von ihrer erhöhten Warte aus; Schossen ihre klebrigen Fäden herab in die Gasse. Und aus irgendeinem Grund hatten sie
sich den bärtigen Mann in der Fliegeruniform zum Opfer erkoren! Vier, fünf der Fäden trafen ihn. Hank Williams versuchte sich davon zu befreien, verhedderte sich durch seine Bewegungen allerdings nur in dem klebrigen Gespinst. Und schon zogen ihn die Spinnenmonster kopfüber zu sich hinauf. Matt stürmte vor, sprang, streckte sich. Seine Hand bekam den Stoff der Jacke zu fassen. Für eine Sekunde blickte er dem Freund direkt in die Augen - und wurde schlagartig ernüchtert. Denn es waren nicht Hank Williams' Augen. Und aus der Nähe betrachtet war es auch nicht sein von einem Vollbart überwuchertes Gesicht. Der Mann war ein Fremder, der Hanks Uniform trug! Einen Moment lang fühlte sich Matt selbst mit in die Höhe gezerrt. Dann ein reißendes Geräusch - und er stürzte hinab aufs Pflaster der Gasse, ein Stück Stoff in der Faust. Als er wieder auf die Füße kam, schleiften die Spinnenkreaturen ihre Beute gerade über die Dachkante und aus Matts Blickfeld. Im nächsten Augenblick spritzte ihm etwas Warmes, Klebriges ins Gesicht! Käferblut! Ch'zzarak hatte ihm das Leben gerettet und einen der Riesenkäfer erledigt, der Matts Unaufmerksamkeit hatte ausnutzen wollen. "Danke...Freund", brachte Matt hervor. Noch immer war er wie betäubt. Ch'zzarak keckerte etwas, dann warf er sich mit grotesk anmutenden Sprüngen wieder der Meute entgegen. Aruula mähte die Angreifer reihenweise mit dem Schwert nieder. Aber die Tatsache, dass sie letztlich gegen diese Übermacht bestanden und sie sogar zurück drängten und schlussendlich auch noch in die Flucht schlugen, war in allererster Linie Ch'zzarak zu verdanken. Wenn es einer Feuerprobe bedurft hatte, dann hatte dieses sonderbarste aller Wesen, denen Matt je begegnet war, sie gerade bravourös bestanden. Diesen Eindruck hatte wohl auch Staan, denn er besann sich seiner Hilfsbereitschaft und bedeutete den wackeren Kämpfern, schleunigst ins Haus zu kommen.
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Matt kletterte als Letzter durch die Fensteröffnung zurück. Er blieb noch einen Augenblick stehen und sah hinauf zu den Dachgiebeln und jener Stelle, wo das Opfer der Spinnenmonster verschwunden war. Dann senkte er den Blick und betrachtete den dunklen Stofffetzen in seiner Hand. Er stammte aus dem Brustteil der Kombination. Matt glättete das aufgenähte Schild, auf dem Dienstrang und Name standen. LT. HANK WILLIAMS
"Das haben wir dir doch schon gesagt Morgel begegnete uns drei Tagesreisen südlich dieser Stadt." Athos und Aramis - wie Matt mittlerweile wusste, hatten sie tatsächlich einen weiteren, jüngeren Bruder namens Porthos gehabt, der allerdings im Kampf mit den Ungeheuern droben in der Gasse ums Leben gekommen war - waren reisende Sammler und Händler. Sie zogen umher, klaubten alles Mögliche auf und trieben anderswo Handel damit. Nach Aarachne waren sie gekommen, weil die Chitinpanzer der Insektenmutationen in Kriegerkreisen begehrte Tauschobjekte waren. Drunten im Süden, so hatten die beiden erzählt, seien sie nur auf einzelne Exemplare dieser Wesen getroffen. Dann hätten sie von dieser Stadt erfahren und sich auf den Weg hierher gemacht. Was sich als fataler Fehler erwiesen hatte. Ihr jüngerer Bruder und ein weiterer Gefährte waren tot und Morgels Schicksal ungewiss. Doch Athos und Aramis waren fest entschlossen, ihren jungen Freund nicht den Spinnenmonstren zu überlassen! Nein, sie wollten ihn befreien - und tatsächlich schien es ihnen völlig gleichgültig zu sein, dass ihre Erfolgschancen minimal waren. Vielleicht, dachte Matt - und er war nicht sicher, ob er diesen Gedanken wirklich ernst meinte -, schlagen in ihrer Brust ja zwei Herzen und potenzieren den Mut, den sie einzeln aufbringen... Wie auch immer, sein eigener Entschluss stand bereits fest: Er würde Athos und Aramis begleiten! Schließlich lag auch ihm daran, Morgel zu retten - wenn auch aus anderen Beweggründen, wie er sich eingestehen musste. Schließlich wollte er in erster Linie in Erfahrung zu bringen, wie der Bursche an Hanks Uniform gekommen war. "Wie stellt ihr euch das vor?" Staan bemühte sich hörbar um einen halbwegs ruhigen Ton; es gelang ihm nur leidlich. Die bloße Vorstellung dessen, was Maddrax und dieser...Doppelkopf vorhatten, kostete ihn fast den Verstand. Andererseits - sollte er eigentlich nicht froh sein, diese Bande wieder loszuwerden? Immerhin hatten ihm dieser
Matt streckte die Hand mit dem Stofffetzen vor, die Finger zur Faust geballt. "Noch mal", knurrte er. Seine Geduld war lange aufgebraucht. "Woher hatte euer Freund dieses Kleidungsstück?" Es fiel ihm immer noch schwer, die Gestalt vor sich in der Mehrzahl anzusprechen; genau genommen fiel es ihm sogar schwer, sie auch nur anzusehen. Ein Körper mit zwei Köpfen. Siamesische Zwillinge. Die beiden Köpfe saßen auf einem hünenhaften, aber selbst unter der weiten kuttenartigen Kleidung deformiert wirkenden Leib. Matt war nicht wild darauf zu sehen, wie die beiden Brüder genau miteinander verwachsen waren. "Ich weiß es nicht", antwortete ihm der linke Kopf zum wiederholten Male. Das Gesicht wandte sich dem anderen zu, so weit es die Verwachsung zuließ. "Du?" Der andere Zwilling, der sich als Aramis vorgestellt hatte, schüttelte seinen Kopf. "Nein. Morgel hat nie ein Wort darüber verloren. Er besaß diese Kleidung schon als er sich uns anschloss." "Wann und wo war das?" Matt gab nicht nach. Athos, der linke Zwilling, seufzte.
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Maddrax und seine Gefährtin nichts als Ärger eingebracht, seit er ihnen Unterschlupf gewährt hatte! Ihretwegen hatten er und Solde sogar ihr bislang so sicheres Haus aufgeben müssen und hockten nun in den feuchten stinkenden Tunneln unter der Stadt. "Sagtest du nicht selbst, dass sie ihre Beute nicht gleich verspeisen?", erinnerte Matt den Alten daran, worüber sie auf dem Weg in die Kanalisation gesprochen hatten. "Sie lagern ihre Opfer, bevor sie sie töten und auffressen. Also haben wir durchaus eine Chance, Morgel das Leben zu retten." "Unsinn! ", fuhr Staan auf. "Ihr werdet nur sein Schicksal teilen, das ist alles! Ihr könnt nicht einfach in den Aarachnodom eindringen, euren Kumpan befreien und wieder raus spazieren! Ihr habt doch gesehen, wie viele dieser Ungeheuer es gibt. Und glaubt mir, was ihr gesehen habt, war nur ein kleiner Teil ihrer wirklichen Zahl!" Matt nickte. Natürlich hatte Staan Recht. Es wäre Wahnsinn, diese "Festung", die die Insektoiden um den alten Dom errichtet hatten, blindlings zu stürmen. Sie würden diesen Kreaturen zum Opfer fallen, noch bevor sie auch nur in die Nähe des Ortes kamen, wo sie ihre Opfer "lagerten". Es sei denn... Matt schaute sich um. Der Abwassertunnel, in dem sie sich aufhielten, wurde von ein paar Fackeln in schwaches Licht getaucht, das nicht weiter reichte als ein paar Meter. Trotzdem waren zu beiden Seiten Abzweigungen aus diesem Tunnel zu erkennen. Und diese anderen Stollen verzweigten sich weiter und immer weiter. Das Labyrinth zog sich zweifelsohne unter der gesamten Stadt dahin. Die Frage war nur... "Gibt es Tunnel, die bis unter die Festung führen?" "Niemand ist sie je gegangen", behauptete Staan. "Warum sollte sich jemand freiwillig auch nur in die Nähe dieses schrecklichen Ortes wagen?" "Das stimmt nicht. Ich war schon dort." Die Stimme war von leisem, aber festen Ton. Solde hatte bislang so wenig gesprochen, dass Matt eine Sekunde brauchte, um zu
realisieren, dass Staans Frau das Wort ergriffen hatte. "Du warst...?", keuchte der Alte. In seinem Tonfall mischten sich Erschrecken und Empörung. Solde trat aus dem Halbdunkel am Rande der Insel aus Fackelschein hervor. Jetzt, da sie im Licht stand, konnte Matt sehen, dass die Frau etwas hielt, das sie mit beiden Armen vor ihre magere Brust presste. Sie nickte. "Ja, ich bin den Weg durch die Tunnel gegangen bis unter den Aarachnodom. Damals, als diese Ungeheuer unseren Sohn geholt hatten. Du hast geschlafen, Staan, aber ich wollte Ranold finden. Natürlich, das war eine unsinnige Idee, und es gelang mir auch nicht, sie zu verwirklichen. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass es Gänge gibt, die bis unter den Aarachnodom führen." Matt hatte eine unbestimmte Ahnung, dass es da noch etwas gab, das Solde nicht aussprach. Er vermutete, dass sie den Weg, von dem sie sprach, in selbstmörderischer Absicht gegangen war. Aus irgendeinem Grund aber war es ihr offensichtlich nicht gelungen, ihr Leben einfach wegzuwerfen. Vielleicht hatte ihr doch das letzte und entscheidende Quäntchen Entschlossenheit gefehlt; von "Mut" wollte Matt in diesem Zusammenhang nicht einmal in Gedanken sprechen. "Das heißt also, es gibt mehrere Tunnel, die unter diesem Aarachnodom verlaufen?", wandte er sich an Solde. Solde nickte abermals. "Ja. Und es gibt auch mehr als einen Ausstieg. Nur weiß ich nicht, wohin genau sie führen." Matt überlegte einen Moment lang, dann sagte er: "Es wäre gut zu wissen, wo in ihrer Festung diese Biester ihre Gefangenen fest halten, damit wir den kürzesten Weg dorthin nehmen könnten, um unser Risiko möglichst gering zu halten." Er seufzte und grinste schief. "Aber es wird ja wohl kaum einen Plan dieses Aarachnodoms oder etwas in der Art geben." "Vielleicht doch." Matt wandte sich nach Aruula um. Sie stand neben Ch'zzarak, und das Hybridwesen sah die Barbarin mit schräg gehaltenem Kopf an, als erwarte es eine Antwort auf eine stumm gestellte Frage. Doch Aruula sprach zunächst zu Matt.
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"Mir fiel schon bei unserer Ankunft in der Stadt etwas auf, erinnerst du dich? Es war, als würde ich ein Flüstern hören, das in der Luft lag. Bei unserem Kampf vorhin hatte ich diesen Eindruck wieder. Ich konnte nicht wirkliche Worte verstehen. Es handelt sich eher um bildhafte Eindrücke, die zwischen diesen Wesen hin und her wechseln. Als...", sie suchte einen Moment lang nach einer Erklärung für etwas, das sie sich selbst kaum erklären konnte, "...als würden diese Kreaturen jeden ihrer Gedanken teilen, verstehst du?" Matt nickte zögerlich. Er glaubte einen Begriff für das zu kennen, was Aruula zu beschreiben versuchte: kollektives Bewusstsein. Konnte es sein, dass die insektoiden Herrscher dieser Stadt eine Art gedankliche Vernetzung entwickelt hatten? Es gab wohl kaum einen Grund, daran zu zweifeln zumal Ch'zzarak Aruulas Ausführungen bestätigte. Das Wesen nickte; des relativ starren Halses wegen bewegte sich dabei sein ganzer Oberkörper auf und nieder, als würde es sich verbeugen. "Na schön", meinte Matt, "nehmen wir an, dem ist so. Welchen Nutzen bringt uns das?" Aruula lächelte und legte Ch'zzarak die Hand auf die Schulter. "Unser Freund", erwiderte sie, "glaubt sich in diese Gedanken einhaken zu können. Und dabei teilt er jeden seiner Gedanken mit mir." Matt verstand. Was nicht bedeutete, dass er es gut fand. Die Vorstellung dessen, auf was Aruula sich da einlassen wollte, ließ ihn schaudern. Dennoch unternahm er nicht den Versuch, es ihr auszureden. Zu viel stand auf dem Spiel. Und wenn sie es gewinnen wollten, mussten sie jede Chance nutzen.
Aruula kauerte auf dem schmutzigen Tunnelboden, vornüber gebeugt, den Kopf zwischen den Knien, wie immer, wenn sie konzentriert lauschte. Ch'zzarak hatte sich in die Hocke niedergelassen, wie zum Sprung bereit, und rührte sich um keinen Deut. Aruula bewegte sich zumindest ein wenig, weil sie atmete. Ch'zzarak hingegen war in vollkommene Starre verfallen. Viel spektakulärer war, was Matt' in Händen hielt. Ein Stapel Papier. Maschinenbeschriebene, spröde gewordene Blätter. Einige hundert. Solde hatte ihm das in Plastik eingeschlagene Päckchen gegeben, mit den Worten: "Ich weiß nicht, wer du bist, Maddrax, und woher du kommst. Aber du bist zweifelsohne ein außergewöhnlicher Mann. Vielleicht kannst du damit etwas anfangen." Matt wusste, woher Solde das Manuskript hatte. Es hatte bis vor einigen Jahren neben der Schreibmaschine in der Dachkammer gelegen. Und die alte Frau hatte Recht. Er konnte etwas damit anfangen. Er konnte lesen, und er verstand sich auf die deutsche Sprache, in der die Aufzeichnungen abgefasst waren. DAS WERDEN EINER NEUEN RASSE Beobachtet und festgehalten von Professor Gunnar Hallstein Matt hatte sich regelrecht vertieft in den Text. Manches von dem, was er da las, verstand er nicht. Fachchinesisch eines Mannes, dessen ganzes Interesse der Insektenwelt gegolten hatte. Anderes wiederum machte schlicht keinen Sinn, als hätte den Verfasser zwischendurch der gesunde Menschenverstand verlassen. Vor allem zum Ende der tagebuchähnlichen Niederschrift mehrten sich diese Passagen. Aber was Matt verstand, zeichnete ein durchaus stimmiges Bild der Ursprünge dessen, womit sie sich heute konfrontiert sahen. Dieser Professor Gunnar Hallstein hatte sein Leben der Insektenforschung gewidmet. In seinem Haus musste er Tausende exotischer Kerbtiere und Arachniden gehalten haben, die nach dem Einschlag des Kometen offensichtlich
Was immer Aruula und Ch'zzarak taten und wie sie es auch anstellten - es mitanzusehen erwies als reichlich unspektakulär.
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entartet waren - und zwar in einer Weise, die selbst für Hallstein unvorstellbar gewesen sein musste. Entsprechende Begeisterung sprach aus seinen Zeilen. Der Professor führte die Mutationen, zumindest teilweise, auf das strahlenverseuchte Wasser der Thermalquellen Aachens zurück. Nachdem ihnen pflanzliche Nahrung in den Folgejahren ausgegangen war, hatten sie sich samt und sonders zu Fleischfressern entwickelt. Die wiederum frönten zunächst dem Kannibalismus, bis sie sich auf menschliche Beute verlegt hatten. Hallstein leitete davon ab, dass die Tiere die nächste Stufe der Evolution erreicht hatten. Er zog eine Parallele zur Menschheitsgeschichte, in deren Verlauf es mancherorts auch gang und gäbe gewesen war, seinesgleichen zu essen, bis diese "Tischsitte" als barbarisch abgestempelt worden und quasi ausgestorben war. Gunnar Hallstein prophezeite, dass die Insekten über kurz oder lang den Platz der Menschen als Herren des Planeten Erde einnehmen würden, weil sie mit den neuen Gegebenheiten sehr viel besser zurecht kämen und sich auf Grund beschleunigter Entwicklung rascher darauf einstellen könnten. Hallstein bedauerte einzig, dass es ihm wohl nicht vergönnt sein werde, den weiteren Fortgang und Höhepunkt dieser Entwicklung mitzuerleben. Er schrieb, dass seine Kräfte zusehends schwanden und die Stunde seines Todes nicht mehr allzu fern sein könnte. Die ersten Einträge hatte Hallstein noch datiert, später hatte er das aufgegeben. Matt konnte also nur schätzen, wie lange der Professor dieses Tagebuch geführt hatte; dreißig bis vierzig Jahre, nahm er an. Der Bericht endete praktisch mitten im Satz. Matt erinnerte sich des Blatts Papier, das in der Schreibmaschine zu Staub zerfallen war. Auf jener Seite mussten Gunnar Hallsteins allerletzte Worte gestanden haben. Und dann? War er am Schreibtisch sitzend an Altersschwäche gestorben? Oder hatten seine Studienobjekte sich seiner angenommen? Matt
glaubte nicht, dass er auf diese Frage je eine Antwort finden würde. Er irrte sich. * Stunden später Einen Moment lang hatte Matt Drax befürchtet, ihre Mission sei gescheitert, noch ehe sie recht begonnen hatte. Er hatte versucht, den Kanaldeckel in der Decke aufzustemmen, und war gescheitert. Offenbar hatten die Insektoiden diesen wie jeden anderen Ausstieg, der unter ihrer Festung lag, gesichert und versiegelt. Matts Kraft hatte nicht ausgereicht, dieses Siegel zu brechen. Doch Ch'zzarak gelang es mit gerade- zu spielerischer Leichtigkeit. Der sonderbare Bursche mit dem kaum aussprechlichen Namen musste über unglaubliche Kraft verfügen. Was immer er auch darstellen mochte, er war scheint's immer noch Insekt genug, um das Mehrfache seines eigenen Gewichts tragen zu können. Ein Gedanke, der Matt keineswegs beruhigte; diese Erkenntnis machte ihm Ch'zzarak nur noch ein bisschen unheimlicher. Auch wenn es ansonsten keinen Anlass gab, der Hybridkreatur nicht über den Weg zu trauen. Im Gegenteil, was Ch'zzarak getan hatte und noch tat, ließ nur den Schluss zu, dass er ganz und gar auf ihrer Seite stand. Schließlich wären sie ohne seine Unterstützung nicht einmal bis hierher gekommen. Denn Aruulas Idee hatte funktioniert. Sie hatte sich mit Ch'zzaraks Hilfe quasi in das Kollektivbewusstsein der Herrscher Aarachnes "eingeloggt". Und sie hatte nicht nur eine Art Lageplan dieses Aarachnodoms in Erfahrung bringen können, sondern darüber hinaus noch etliche weitere Informationen, von denen zumindest einige in jenes Bild gepasst hatten, das Matt Drax aus den Aufzeichnungen Professor Hallsteins gewonnen hatte. Andere Erkenntnisse, die Aruula zu Tage gefördert hatte, schienen indes so utopisch, dass
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wohl nicht einmal ein Mann wie Hallstein davon zu träumen gewagt hatte... Eine dieser Erkenntnisse betraf Ch'zzarak selbst: Er war nicht der Einzige seiner Art! Er war nur der Erste gewesen, der erwacht war. Doch in einer gewaltigen Brutkammer innerhalb dieser Festung schliefen noch andere wie er Hunderte! Sie stellten das dar, was Professor Hallstein als "neue Rasse" bezeichnet hatte, freilich ohne zu wissen, wie diese Rasse im Detail aussehen würde - dass sie dem Menschen ähnlicher sein würde als jedes mutierte Insekt. Dass sie die Schwelle zwischen Tier und Mensch überwunden haben würde! Ch'zzaraks Erwachen schien Aruulas "Schuld" gewesen zu sein. Aus irgendeinem Grund war dieses Wesen weiter entwickelt gewesen als seine Artgenossen, und Aruulas unbewusstes und zielloses telepathisches Tasten musste Ch'zzarak aus dem Reifeschlaf gerissen haben. Matt verscheuchte die Gedanken, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Aber ein weiterer machte diesen Versuch zunichte; der Gedanke an etwas, das im Grunde noch fantastischer war als die Existenz Ch'zzaraks und seiner "Brüder". Das Wissen darum, was hinter diesem ganzen Apparat steckte. Dass es sich bei dem Insektoidenstaat letztlich "nur" um eine gewaltige organische Maschinerie handelte, die... "Worauf wartest du?" Aruula hatte die uralten Sprossen, die zum Ausstieg in der gewölbten Tunneldecke hinauf führten, schon zur Hälfte erklommen. Ch'zzarak sowie Athos und Aramis waren ihr bereits voraus geklettert. "Ich komme", sagte Matt und machte sich umgehend an den Aufstieg. Die Zeit für Überlegungen war vorüber. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. Und jede Minute konnte entscheiden! "Gefällt mir nicht", unkte Aramis. Sein Bruder Athos äugte gleichermaßen misstrauisch umher und schüttelte seinen Kopf. "Nein, mir auch nicht. Überhaupt nicht."
Matt Drax sagte nichts. Aber er teilte das ungute Gefühl des siamesischen Zwillingspaares. Obwohl es im Grunde nichts gab, das sie beunruhigen musste. Ganz im Gegenteil schien ihnen keinerlei Gefahr zu drohen, als sie durch einen der Gänge des Aarachnodoms streiften. Um sie her regte sich nichts, blieb alles still. Aber genau das war es, was ihnen unterschwellig Sorgen machte - es war zu still. Sie blieben unbehelligt von den Herren dieser Festung... Matt hegte natürlich einen Verdacht, warum dem so sein mochte. Doch dieser Gedanke beruhigte ihn keineswegs. Wahrscheinlich sah man in ihrer Gruppe - die lediglich aus Matt und den Zwillingen bestand - die kleinere Gefahr. Aruula und Ch'zzarak, die anderswo und unabhängig voneinander zuschlagen wollten, schätzten die Insektoiden wohl als größere Bedrohungen ein. Womit sie keineswegs falsch lagen. Schließlich wollten Matt und die Brüder lediglich ein Opfer befreien - so es ihnen noch möglich war. Matt hatte Mühe, sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren, während sie ihrem Ziel zu eilten. Die bizarre Umgebung faszinierte ihn, lenkte sein Denken in ganz andere Bahnen. Immerhin, er befand sich inmitten eines Insektenbaus, vergleichbar einem Termiten oder Ameisenhügel, nur ungleich größer als in freier Natur. Gigantisch war ganz sicher das Wort, das hier am ehesten zutraf. Das Labyrinth der verschachtelten Kammern und ineinander verschlungenen Gänge war unüberschaubar. Seine Konstruktion folgte keinem menschlichen Verständnis von Form und Struktur. Der Versuch, es sich in seiner Gesamtheit vorstellen zu wollen, bereitete Matt Kopfschmerzen. Und wenn er seinen Blick zu weit vorauseilen ließ, wurde ihm schwindlig ob des Tunnels, der in seiner Form am ehesten noch an eine Spirale erinnerte, die sich tiefer in die Festung hinein schraubte. Von allen Seiten mündeten in unregelmäßigen Abständen Seitengänge in diesen Korridor. Ohne die provisorische Karte, die Aruula mit einem rußgeschwärzten Korkstück auf eines der Blätter aus Professor Hallsteins Manuskript gezeichnet hatte, wären sie schon jetzt
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hoffnungslos verloren gewesen. So aber war es ihnen möglich, die grobe Richtung beizubehalten, in der die "Vorratskammer" des Aarachnodoms lag. Matts Befürchtung, sie würden durch Dunkelheit tappen müssen, hatte sich als unbegründet erwiesen. In den Gängen des Aarachnodoms herrschte ein diffuses Licht, hell genug, dass sie sich orientieren konnten. Woher dieses Licht rührte, war kaum festzustellen. Es lag in der Luft, vielleicht sickerte es aus den Wänden; die Farbe jedenfalls erinnerte Matt Drax an das Leuchten von Glühwürmchen. Die Wände selbst waren das vielleicht größte Faszinosum. Denn sie lebten. Diesen Anschein hatte es zumindest, wenn man den Blick darüber schweifen ließ. Sah man jedoch genauer hin, dann entdeckte man das eifrig hin und her wuselnde Kriechgetier, das ganz offensichtlich nur eine Aufgabe verfolgte: Es baute und restaurierte in einem fort die Wände dieser Festung, hielt die Bausubstanz des ganzen Aarachnodoms stabil; mit irgendwelchen Kleinstteilen und eigenen Stoffwechselprodukten, die gewissermaßen als Mörtel dienten. Eine Beobachtung, die sich wiederum exakt in das Bild einfügte, das sich Matt von den Herren Aarachnes gemacht hatte. Jede UnterSpezies diente einem genau definierten Zweck. Absolut vergleichbar einer riesigen Maschinerie, in der jedes Rädchen seinen ganz eigenen Sinn hatte und deren Effektivität sich doch nur in der Gesamtheit und Größe des Apparates ausdrückte. Wenn man also eines dieser Teile beschädigte oder entfernte, stand die Chance nicht schlecht, dass die komplette Maschine lahm gelegt oder zumindest nachhaltig gestört wurde. Matt wünschte Aruula im stillen viel Glück, Sie würde es brauchen, ohne jeden Zweifel. "Es kann nicht mehr weit sein, oder?", fragte Athos. Oder Aramis? Matt hatte immer noch Mühe, die beiden zu unterscheiden. Er verneinte nach einem Blick auf den mit groben Strichen gezeichneten Plan. Darauf war nicht jeder der kleinen Gänge festgehalten, die von diesem Haupttunnel abführten. Aber die
stilisierten Details genügten, um die zurückgelegte Entfernung einigermaßen abschätzen zu können. Matt war gespannt, wie das Vorratslager der Insektoiden aussehen würde. Und zugleich fürchtete er den Anblick, den ihm seine zügellose Fantasie schon in grässlichsten Farben ausmalte. Die Wirklichkeit übertraf diese Vorstellungen noch. Zunächst bemerkten Matt und die Zwillinge den Geruch - süßlich, penetrant, Ekel erregend. Verwesungsgestank. Er schlug ihnen aus der Richtung entgegen, in die sie liefen. Nach ein paar weiteren Schritten entdeckten sie dann, woher der Gestank kam. Er stieg aus einem Gang auf, der vom Haupttunnel aus schräg in die Tiefe führte. Am Rand dieser Bodenöffnung blieben die Männer stehen und versuchten zu erkennen, was darunter lag. Doch außer der Tatsache, dass auch dort unten dieses Leuchtkäfer-Licht herrschte, konnten sie kaum etwas sehen. Die Schräge der Zugangsröhre beschränkte ihr Blickfeld. "Es geht abwärts", meinte Matt lapidar, ließ sich nieder und schob die Beine über den Rand, um sich dann vorsichtig der Schräge anzuvertrauen. Boden und Wände waren glatt, zu glatt, als dass Matthew Drax ausreichend Halt gefunden hätte. Er glitt ab und glitt zunehmend schneller, wie auf einer Rutsche, in die Ungewissheit der Tiefe! Vergebens schlug er mit den Armen um sich, versuchte sein Tempo mit gespreizten Beinen zu drosseln. Der Verwesungsgeruch wurde stärker, so stark schließlich, dass er Matt fast den Atem raubte. Und endlich sah er auch, was unter der schrägen Tunnelröhre lag - eine Art See, dessen Ufer sich in der Düsternis verloren. Ein morastiger Pfuhl unter diffusem Nebellicht. Spinnfäden verliefen in groteskem Wirrwarr von der Oberfläche dieses stinkenden Sumpfes zur Decke - wie Angelschnüre, nur dass sich an ihren Enden keine Würmer befanden, sondern Menschen! Die Opfer der Insektoiden, die hier sozusagen "eingelegt" wurden. Und der Gestank
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ließ keinen Zweifel daran, zu welchem Zwecke dies geschah. Was immer sich in diesem Pfuhl befand, es musste wirken wie Magensäure. Die Opfer wurden darin quasi vorverdaut. Die gesamte Substanz musste den Herren Aarachnes als Nahrungsbrei dienen. Und in ein paar Sekunden würde Commander Matthew Drax Teil davon sein!
wie viel schrecklicher musste es da erst sein, ihm leibhaftig gegenüber zu treten? Aruula straffte sich und ging weiter, das Schwert in der Faust. Und sie fand ihr Ziel schneller als erwartet. Irgendwo vor ihr verdichtete sich das allgegenwärtige Zwielicht zu einem grünen Leuchten. Darauf hielt Aruula zu, darauf bedacht, ihre unmittelbare Umgebung so gut es ging im Auge zu behalten. Was nicht einfach war, denn im gleichen Maße wie das Leuchten vor ihr zunahm, verlor es im weiteren Umkreis an Kraft, sodass es dort nahezu finster war. Eine Beobachtung, die Aruula beunruhigte. Für eine kleine Weile zumindest, bis sie einen triftigeren Grund zur Sorge fand - ihr Ziel. Den Herrn der Herren Aarachnes. Ihren...König? Er saß auf einem Thron aus Marmor, von dem Aruula freilich nicht wissen konnte, dass es sich um den Kaiserthron Karls des Großen handelte. Und er sah aus wie ein archaischer Gott, der vor Urzeiten aus der Tiefe heraufgestiegen war. Das Wesen trug eine Art Rüstung, die aus ungleichen Teilen zusammengesetzt war. Auf den Schultern saß ein glanzloser Helm, hinter dessen Visier sich das grüne Glosen regelrecht ballte. Das grauenhafte Ding lehnte in dem Thron, als würde es schlafen, und es machte auf unbestimmte Art den Eindruck, als hätte es sich seit langer Zeit nicht mehr bewegt. Ein Eindruck, der sich mit jedem Schritt verstärkte, den Aruula auf den Thron zu ging. Denn je näher sie kam, desto mehr gewann sie die Überzeugung, dass es sich nicht wirklich um ein Wesen handelte, das da vor ihr saß; nicht einmal um eine tote Kreatur, sondern um etwas ganz anderes. Dort auf dem Thron saß...ein Gespenst. Dieser Begriff kam Aruula wie von selbst in den Sinn, obwohl sie wusste, dass er nicht ganz zutraf. Denn das Wesen lebte. Wenn auch auf eine Weise, die Aruula nicht begreifen konnte. Sie empfing seine Gedanken und Gefühle. Und beides war Aruula nicht so fremd, wie sie es erwartet hatte. Im Gegenteil lag etwas fast Vertrautes darin, wenn auch tief unter der Oberfläche und nur vage wahrnehmbar.
Ch'zzarak entschwand Aruulas Blick. In Gedanken wünschte sie ihm viel Glück. Und sie wusste, dass er sie hörte. Ihr in jeder Hinsicht bemerkenswerter neuer Freund hatte den Tunnel, in dem sich Aruula befand, in einigen Schritten Entfernung blockiert, indem er Decke und Wände kurzerhand einriss. Ähnliche Barrikaden hatte er an anderen Stellen des Festungslabyrinths errichtet. Damit waren Aruulas Verfolger zwar nicht auf Dauer aufzuhalten, aber hoffentlich lange genug. Denn Ch'zzarak war ein anderer Weg vorgegeben. Aruula befand sich jetzt in jenem Teil der Festung, die Maddrax als "Aachener Dom" bezeichnet hatte. Er unterschied sich gravierend vom Rest der Anlage. Die Insektoiden hatten hier nur wenig verändert und vieles im ursprünglichen Zustand belassen. Nichtsdestotrotz präsentierte sich Aruula ein bizarres und unheimliches Bild. Inmitten dieses gewaltigen Domes, dessen Decke irgendwo über ihr unsichtbar im Dunkeln lag, kam sie sich einsam und verloren vor, und die schiere Größe dieses Bauwerks und der spürbar uralte Odem darin wollten sie überwältigen. Sie bekämpfte dieses Gefühl, indem sie sich auf den Grund ihres Hierseins besann. Sie war gekommen, um das...Ding, das dieses Heer von Kreaturen befehligte und lenkte, zu finden und zu töten! Obgleich sie sich davor fürchtete. Es nur in Gedanken zu spüren, hatte Aruula schon bis auf den Grund ihrer Seele frieren lassen. Um
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Etwas...Menschliches? Wie konnte das sein? Aruula schauderte. Zum Weitergehen musste sie sich förmlich zwingen. Doch dann, endlich, hatte sie die Stufen, die zum Thron hinaufführten, erreicht. Sie setzte den Fuß auf die Erste, erklomm die Nächste, ein Unterfangen so mühsam, als ersteige sie einen Berg. Schließlich stand sie unmittelbar vor dem Thron und dem Ding, das nie ein Körper gewesen war, sondern aus Dutzenden ineinander verwachsener Insektenwesen bestand und sich nur den Anschein menschlicher Gestalt gab. Aruula hatte das Gefühl, als strecke sich eine unsichtbare Hand nach ihr aus. Etwas sehr Altes und Müdes, dem ihre Präsenz jedoch noch einmal Kraft verlieh. Was immer es war, es rüttelte - im übertragenen Sinne - an den Fesseln, die es hielten, um mit Aruula Kontakt aufzunehmen. Sie empfand dieses Bemühen wie einen stummen Hilferuf. Was immer es war, das sich da an die Oberfläche kämpfen wollte, es setzte Hoffnung auf Aruula - darauf, dass sie ihm erfüllte, wozu es selbst nicht imstande war. Es war seines Daseins müde. Aber es war nicht in der Lage, die Konsequenz zu ziehen. Weil es selbst nur ein Rädchen in dieser monströsen Maschinerie war, wenn auch nicht das kleinste, o nein...! Aruula streckte die Hand mit dem Schwert nach dem Helm aus. Mit der Waffenspitze versuchte sie das Visier zu lüften. Es blieb beim Versuch. Denn urplötzlich erwachte die Dunkelheit ringsum zu raschelndem Leben. Der Finsternis schienen Glieder zu wachsen, binnen eines Lidschlages, und dann stürzte sie sich einer Woge gleich auf Aruula. Die persönliche Leibgarde dessen, was auf dem Thron saß, reagierte und tat, was ihre Aufgabe war: Sie schützte ihren "König", bedingungslos und mit aller Gewalt! Eine Gewalt, gegen die Aruula nicht den Hauch einer Chance hatte. Das Schwert wurde ihr aus den Fingern gerissen. Die Waffe wirbelte davon und klirrte irgendwo gegen Stein.
Und dann wurde Aruula begraben unter einem Berg schwarz gepanzerter Leiber... * Sein Army-Messer rettete Matt Drax das Leben. Irgendwie hatte er es geschafft, die Klinge zu ziehen, als er auf die untere Öffnung der Röhre zu rutschte, und sie mit aller Kraft so tief in die Wandung des schrägen Tunnels zu stoßen, dass er Halt am Griff des Messers fand. Im letzten Moment! Seine Füße ragten bereits über die untere Kante hinaus... Matt gönnte sich zwei, drei Sekunden Ruhe, in denen sein Herz aufhörte, wie irr gegen die Rippen zu trommeln. Dann, das Messer weiterhin als Sicherung verwendend, bewegte er sich vorsichtig so weit hinunter, dass er den Blick über den stinkenden Morastpfuhl schweifen lassen konnte. Es gab ein paar trockene Stellen in diesem widerlichen See aus Verdauungssekret. Eine dieser "Inseln" befand sich schräg unter der Deckenöffnung, aus der Matt hervor lugte. Mit etwas Glück konnte er es schaffen... Bevor er den Versuch wagte, rief er über die Schulter zurück nach den siamesischen Zwillingen. "Kommt mir nicht nach! Ich werde jetzt runter gehen!", rief er ihnen zu. "Sucht inzwischen ein Seil oder etwas in der Art, um mich wieder herauf zu ziehen! " Was sie ihm antworteten, verstand Matt schon nicht mehr. Er war bereits über die Kante geklettert, hielt sich nur noch mit den Fingern fest, versuchte seinem Körper etwas Schwung zu geben, damit er auf dem Inselchen dort drunten landete, doch bevor er wirklich sicher sein konnte, dass es klappen würde, rutschten seine Fingerspitzen ab. Matt Drax fiel. Fast vier Meter in die Tiefe. Sein Gewicht würde genügen, ihn bis über den Kopf in diesem Sumpf versinken zu lassen! Er schloss die Augen. Und stöhnte auf, als sein Körper zusammen gestaucht wurde. Ungeschickt versuchte Matt den Aufprall in eine Rollbewegung umzusetzen, was sich um ein Haar als fataler Fehler erwies, denn er kam dem Rand
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der kaum zwei Meter durchmessenden trockenstelle gefährlich nahe. Ätzender Gestank biss wie mit unsichtbaren Zähnen nach ihm. Matt sah sich um. Und fror trotz der schwülen, stickigen und stinkenden Wärme. Was sich um ihn her erstreckte, war im Grunde nichts anderes als ein monströser Friedhof. Die meisten Opfer der Insektoiden waren zweifellos tot. Matt wollte gar nicht wissen, was diese körnige Masse, in der sie allesamt bis zum Kinn steckten, mit ihren Körpern anstellte. Aber seine Fantasie genügte auch in diesem Fall. Trotzdem waren die Toten sicher besser dran als die noch Lebenden. Denn sie starben einen quälend langen Tod. Matt fühlte sich sterbenselend, nicht nur, weil seine Hoffnung schwand, den Kameraden der siamesischen Zwillinge noch lebend zu finden. Dennoch rief er dessen Namen über den Sumpf. "Morgel! " Seine eigene Stimme kam Matt seltsam gedämpft vor. Als würde irgendetwas hier unten ihr alle Kraft aussaugen. Umso erstaunter war er, als er eine Reaktion erhielt. Ein Stück entfernt, unweit einer der nächstgelegenen Trockenstellen, rührte sich etwas; eine ringförmige träge Wellenbewegung in diesem abartigen See. Matt schmälte die Augen, sah genauer hin und erkannte im Zwielicht ein bärtiges Gesicht, das sich ihm zuwandte, unendlich langsam, als übersteige schon diese Bewegung die Kraft, die dem Mann noch verblieben war. Zwei gewagte Sprünge brachten Matt auf jenes Inselchen hinüber, in dessen Nähe Morgel im Sumpf steckte. "Kannst du mich verstehen?", fragte Matt, nachdem er sieh auf Hände und Knie niedergelassen hatte. Morgel antwortete nicht. Aber in seinen Augen las Matt Verstehen. Er konzentrierte sich allein auf Morgels Augen. Denn die Qual, die sich in seine Züge gefressen hatte, war ihm unerträglich. Wie entsetzlich dieses Leiden für Morgel selbst sein musste, daran durfte er einfach nicht denken... "Ich hol dich da raus", versicherte Matt und sah sich nach einer Möglichkeit um, den Jungen
- er konnte kaum Mitte zwanzig sein - aus dem Sumpf zu hieven. Doch Morgel schüttelte, erstaunlich energisch, den Kopf. "Nein..." Seine Stimme war kaum zu verstehen - ein heiseres Krächzen, mit pfeifendem Atem durchsetzt, wie bei einem Todkranken. Morgel hustete und spie Schleim aus. "Ich bin schon...so gut wie...tot", fuhr er fort. "Spüre... meinen Körper...nicht mehr." Matt widerstand dem Impuls, sich zu übergeben, und bemühte sich, das Bild eines Kopfes, der auf einem fast skelettierten Leib saß, von seinem geistigen Auge zu vertreiben... Er holte den Jackenfetzen aus einer Tasche seiner Montur und hielt ihn Morgel hin. "Woher hast du das?", wollte er wissen und kam sich dabei unsagbar schäbig vor. Dieser Junge krepierte vor seinen Augen, und er hatte nichts Besseres im Sinn, als ihn nach der Herkunft einer verdammten Uniform zu fragen! Seine Hand zitterte. Morgels Augen hefteten sich auf das Stück Stoff. Sekunden vergingen. Über den Sumpf wehte das geisterhafte Stöhnen Sterbender heran. Als Matt schon fürchtete, Morgel könne nicht mehr antworten, bewegte er endlich doch die Lippen. Matt musste sich weit vorbeugen und sein Ohr so nahe wie möglich an Morgels Kopf bringen, um zu verstehen, was er fast tonlos flüsterte. "Händler...in Parii", hauchte er. Dann, etwas lauter: "Erlöse...mich." Der flehende Blick des Jungen bohrte sich Matt wie eine Klinge aus Eis in Herz und Seele. Vielleicht wäre es eine Gnade gewesen, ihn zu erschießen. Doch das brachte Matt nicht fertig. Obwohl er während seiner Ausbildung auf eine solche Situation (wenn auch in gänzlich anderem Szenario) vorbereitet worden war. Einmal mehr musste Matt den gewaltigen Unterschied zwischen Theorie und Praxis realisieren. Er konnte es nicht. Er konnte nicht auf diesen armen Kerl anlegen und ihm eine Kugel in die Stirn jagen.
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Alles was er fertig brachte, war, die Fäden, die Morgels Kopf über der Oberfläche dieses ätzenden Sumpfes hielten, mit dem Messer zu durchtrennen. Obwohl es fast über seine Kräfte ging, blieb Matt bei Morgel, bis der Junge nicht mehr zu sehen war. Dann kehrte er zu der Röhre zurück, durch die er gekommen war. Als er nach Aramis und Athos rief, ertönte ein schleifendes Geräusch aus der glatten Wandung, und eine Sekunde später fiel ihm das Ende eines behelfsmäßigen Seils vor die Füße, das aus Kleidungsstreifen gefertigt war. Matt konnte nur hoffen, dass die erfindungsreichen Zwillinge noch etwas Stoff am Körper zurück behalten hatten...
Der stumme Hilferuf, der ihn ereilte, lenkte ihn ab, und Ch'zzarak empfand darüber absurde Erleichterung. Obwohl der Ruf in höchster Not, in Todesangst ausgestoßen worden war, verspürte Ch'zzarak Dankbarkeit, weil er ihm das Gefühl von Schuld nahm. Helfen! Er konnte wieder seinen Freunden helfen! Waren sie das - Freunde? Er verfolgte die Überlegung nicht weiter und machte sie eilends auf den Weg. * Aruula hielt die Augen geschlossen und wähnte 'sich schon tot, als der lebende Berg, unter dem sie begraben lag, plötzlich erstarrte. Sein bloßes Gewicht genügte immer noch, ihr das Atmen fast unmöglich zu machen, aber die Attacken an sich waren verebbt. Eine Stimme erhob sich in ihrem Geist über das Summen des Gedankenwirrwarrs um sie her. Eine Stimme, die jedes Quäntchen Kraft in den Befehl legte, den Angriff einzustellen. Die Stimme des Insektenherrschers! Und die Kreaturen gehorchten. Trotzdem, Aruula wusste, dass ihr das Schicksal nur einen Aufschub gewährt hatte. Die Kräfte des "Königs" genügten nicht mehr, um die Ungeheuer auf Dauer und vollends im Zaum zu halten. Ihr Herrscher hatte sich nur nach einmal aufgebäumt, alle Macht zusammengerafft und in einer Sekunde verschwen det. Der geistige Griff, in dem er seine Wächter hielt, würde sich lockern und schließlich brechen. Und dann kam alles ganz anders! Die Stimme des Dings verging. In einem erschrockenen Laut, der sich zu einem erleichterten Seufzen wandelte. Die chitinschwarze Finsternis über Aruula löste sich auf. Das bleierne Gewicht, das auf ihr lastete, schwand. Mühsam richtete sie sich auf und sah sich um. Die Kreaturen krochen wie blind umher. Das Ding auf dem Thron war verschwunden. Und neben dem Thron stand - Ch'zzarak! In triumphierender Pose, zwei seiner Armglieder in die Höhe gereckt. In der einen Klaue hielt er
* Die Brutkammer des Aarachnodoms glich einem Schlachtfeld. Überall lagen die Trümmer zerstörter Hüllen und zerrissene Leiber. Die Flüssigkeit, in denen die anderen gereift waren, bedeckte den Boden wie ein flacher See. Ch'zzarak wusste, dass er ganze Arbeit geleistet hatte, und er wollte Befriedigung empfinden, aber das Gefühl stellte sich nicht ein. Stattdessen war in ihm nur eine sonderbare Leere, die ihn fast ängstigte. Dennoch zweifelte er nicht daran, das Richtige getan zu haben. Sein Handeln bewahrte die Menschen vor einer Zukunft, die noch schrecklicher gewesen wäre als die Vergangenheit. Und den Menschen fühlte er sich mehr zugetan als jenen, die ihn erschaffen und dann gnadenlos gehetzt hatten. Doch das änderte nichts daran, dass Ch'zzarak sich...allein fühlte. Entsetzlich allein, verlassen und verloren. Weil er der Einzige eines Volkes war, das es nie wirklich gegeben hatte - seinetwegen; weil er es ausgelöscht hatte, bevor es werden konnte. Ch'zzarak spürte ein Gewicht auf sich lasten, sah sich suchend um, fand aber nichts, das auf ihn niederdrückte. Es dauerte eine Weile, bis er herausfand, dass dieses Gewicht in ihm war. Und dass es Schuld hieß...
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den Helm des Herrschers, an der Spitze des anderen Armes hing etwas schmutzig Graues, Feuchtes... Aruula hatte im Laufe ihres Lebens mehr als einen Schädel mit ihrer Klinge gespalten. Sie wusste, wie ein Gehirn aussah... Ch'zzarak hatte ihre stumme Verzweiflung aufgefangen und war ihr zu Hilfe geeilt. Er hatte das Ding unter dem Helm aufgespießt und getötet - nein, berichtigte sich Aruula im stillen, nicht getötet, sondern erlöst. Denn das für Ohren unhörbare Seufzen hallte noch wider in ihrem Geist... Doch als es dann vorüber war, währte die andächtige Stille im alten Dom nur für eine Sekunde. Ein Geräusch wie ferner Donner löste sie ab und wurde lauter. Der Aarachnodom selbst schien aufzustöhnen wie ein sterbendes Wesen! Jene Insekten, die für die Instandhaltung des Baus zuständig waren, mussten nach dem Tod ihres Herrn so ziellos umher kriechen wie diese Wächterkreaturen, die unvermittelt von Aruula abgelassen hatten und jetzt anfingen, übereinander herzufallen. Das enorme Eigengewicht brachte die Stabilität der Festung offenbar ins Wanken und zum Einsturz. Aruula griff sich ihr Schwert und rannte los.
Auch wenn es ihm immer noch schwer fiel, den einzigen Schluss zu akzeptieren oder gar zu glauben, der sich unter Einbeziehung all ihrer gesammelten Erkenntnisse ziehen ließ. Dieses Ding, von dem Aruula gesprochen und das Ch'zzarak vernichtet hatte - konnte es denn wirklich das gewesen sein, was Matt dahinter vermutete? War es möglich, dass diese Kreaturen das Gehirn von Professor Gunnar Hallstein gewissermaßen konserviert und mehr noch als Keimzelle ihres "Staates" genutzt hatten? Sozusagen als Steuerungseinheit ihres gemeinsamen Bewusstseins, als Motor dieser monströsen Maschinerie? Vielleicht war es besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Immerhin war es vorbei und ausgestanden. Trotzdem kam ihm eine alte Redensart in den Sinn, der zu Folge es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als die Schulweisheit sich träumen lässt. Matt lächelte unfroh. Vermutlich war diese Weisheit nie und nirgendwo zutreffender gewesen als unter diesem Himmel und auf dieser Erde... "Ch'zzarak?", fragte er an Aruula gewandt. "Ist er...?" Die junge Frau an seiner Seite sah scheinbar ins Nichts, lauschte auf etwas, das nur sie hören konnte, dann schüttelte sie den Kopf und lächelte. "Er lebt. Aber er hat es vorgezogen, sich uns nicht anzuschließen. Wahrscheinlich spürte er die Gefahr." Matt nickte. Das Hybridwesen war klug genug gewesen, sich abzusetzen. Denn für die Menschen hier war die Sache noch nicht abgeschlossen. Unter Staan und Soldes Führung hatten sämtliche Bewohner die Stadt verlassen, während Matt und seine Begleiter in den Aarachnodom vorgedrungen waren. Ihre Zahl war geringer, als Matt angenommen hatte etwa drei, höchstens vier Dutzend Menschen hatten sich hier oben zusammengefunden. Und in jedem einzelnen Gesicht las er zwar Genugtuung, aber viel mehr noch Zorn und Hass. Sie hatten Feuer gelegt, um die Stadt abzuriegeln. Die einstigen Herren Aarachnes konnten nicht entkommen. Aber das genügte den Leuten nicht. Sie würden sich Athos und
Irgendwie hatten sie es geschafft. Sie waren aus dem einstürzenden Aarachnodom entkommen, und jetzt standen sie auf dem Hügelkamm am Rande der Stadt und blickten hinab ins Tal. Die Festung war nur mehr ein grotesk geformter Trümmerhaufen, immer noch gewaltig, aber wie durch ein Wunder hatte sie den alten Dom im Zusammenfallen freigegeben. Und die Herren Aarachnes krochen in den Straßen und Gassen umher, wirkten hilflos, fast wie Maschinen, deren Programmierung durcheinander geraten war.. Ein Vergleich, der vermutlich nicht zu weit hergeholt war, fand Matt Drax.
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Aramis anschließen, die noch nicht daran dachten, abzurücken. Schließlich stellte die Stadt zu ihren Füßen jetzt jene Schatzkammer dar, die sie von Anfang an zu finden gehofft hatten. Sie mussten nur irgendwie das Kunststück fertig bringen, an all die Chitinpanzer dort unten zu gelangen und dann noch mit dem Leben davonzukommen. Matt und Aruula hatten nicht vor, ihnen bei dieser Aktion zu helfen. Und das nicht nur, weil ein anderes Ziel sie rief und ein weiter Weg vor ihnen lag. Sie warteten lediglich auf die Rückkehr des Kundschafters, der herausfinden sollte, was aus der Schwarzen Hand geworden war. Es gab sie nicht mehr. Das Milliarden-Heer dort draußen hatte sich aufgelöst, berichtete der Junge, der ausgeschickt worden war, bei seiner Rückkehr. Matt und Aruula verabschiedeten sich und zogen los. "Wohin gehen wir?", fragte das Mädchen. Matt sah im Geiste noch einmal in die Augen des todgeweihten Jungen, der ihm verraten hatte, wo er an Hank Williams' Uniform gekommen war. Er brauchte ein paar Sekunden, um den Anblick wieder in seiner Erinnerung zu versenken. "Villaga amuur", radebrechte er dann im Idiom dieser Zeit und versuchte ein Lächeln. "Stadt der Liebe?"; wiederholte Aruula in Matts Muttersprache und zog die Stirn kraus. Er nickte. "Ja, so nannte man Parii damals Paris, Stadt der Liebe. War eine der schönsten Städte der Welt." Matthew schluckte und fügte leiser hinzu: "Irgendwann einmal, vor langer, langer Zeit..."
Kleine "Insektenkunde" von Timothy Stahl Im Band 13 "Das Milliarden-Heer" steht den Hauptpersonen eine wahre Unzahl von "Co-Stars" zur Seite: Insekten. Von einer Art, wie wir sie heute (glücklicherweise) nicht kennen – mordlustige Mutanten, wahrhaft ungeheure Ungeheuer. Nun bin ich zwar der Meinung, dass man in einem Unterhaltungsroman (noch dazu in dieser Serie) den Rahmen des Möglichen und Wahrscheinlichen durchaus nicht nur ausschlachten, sondern auch ein gutes Stück überschreiten darf, doch als Autor sollte man zumindest im Hinterkopf ein paar Fakten haben, auf die man die Fiktion aufbaut. Da ich aber weder Biologe bin noch sonstwie firm in Entomologie (Insektenkunde) war, habe ich sozusagen den "kleinen KerbtierCrashkurs" (Internet macht's möglich) belegt und mich ein bisschen schlau gemacht, was die Natur der Insekten angeht. Aller Forschung zum Trotz darf man die Insekten (Kerbtiere) wohl als die unbekannteste Spezies unseres Planeten bezeichnen. Zwar werden in einschlägigen Werken mindestens eine Million verschiedener Arten erfasst, Schätzungen jedoch gehen davon aus, dass es auf der Erde noch weitere 15 bis 30 (!) Millionen Insektenarten gibt. Die Gesamtzahl aller Insekten auf Erden wird auf etwa eine Trillion geschätzt (das ist eine Eins mit achtzehn Nullen!). Demzufolge hätten wir in der Relation zur Weltbevölkerung eine "Pro-Kopf-Insektenzahl" von 150 Millionen. Und das Gesamtgewicht aller Insekten schätzt man auf 2,5 Milliarden Tonnen.
ENDE
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Den größten Teil unter den Insekten machen die Käfer aus. Die Angaben über die Zahl verschiedener Käferarten schwanken zwischen 350.000 und 400.000. In dieser "Rangliste" folgen die Schmetterlinge mit rund 150.000 bekannten Arten, den dritten Platz belegen die so genannten Hautflüger (z.B. Fliegen, Mücken und Wespen), von denen es ca. 120.000 Arten gibt. Dem Menschen sind Insekten in mehrerer Hinsicht über: Zum einen gab es sie schon lange bevor unsere Rasse diesen Planeten zu verwüsten begann; die ersten Insekten tauchten bereits vor etwa 400 Millionen Jahren auf (die ersten flugfähigen übrigens rund 100 Millionen Jahre später), und Entomologen sind sich einig darüber, dass die Insekten auch das Zeug dazu haben, die Menschheit im Falle eines (Katastrophen-)Falles zu überleben, u.a. weil Insektenlarven bis zu -70 Grad (Celsius) wegstecken können; erwachsene Tiere ver kraften immerhin noch bis zu 25 Minusgrade. Dazu passt außerdem, dass in den USA heute schon über 150 Insektenarten gegen herkömmliche Gifte immun sind. Die Folge: Die Hersteller von Pestiziden und Insektiziden entwickeln immer stärkere Stoffe, um Schadinsekten zu Leibe zu rücken. Bleibt abzuwarten, wann der Punkt erreicht ist, an dem diese Gifte nur noch auf Menschen wirken... Erstaunliches gibt's auch zum und rund ums Thema "Insekten-Sex" zu vermelden. So gilt ein gar possierliches Tierchen mit dem profanen Namen Kohl-Blattlaus als fruchtbarstes dieser Welt. Würden alle Nachkommen eines einzigen Elternpaares überleben, nähme der Erdball binnen eines Jahres um etwa 800 Millionen Tonnen an Gewicht zu. Viele Insekten entwickeln sich zwar im Eilzugtempo, bei einigen Arten jedoch dauerts ein ganzes Weilchen, bis aus dem Ei ein Vollinsekt wird – bis zu 17 Jahre nämlich, z.B. bei der (nomen est omen) 17-Jahr-Zikade. Facetten- oder Netzauge, den Begriff hat man schon einmal gehört. Der Fachmann spricht hier auch von einem Insekten-
Komplexauge, das sich (man lese und staune) aus bis zu 30.000 Einzelaugen zusammensetzt. Die Fühler eines Insekts kennt freilich auch jeder; was man vielleicht nicht weiß: Dabei handelt es sich um hoch entwickelte Ge ruchssensoren, die 1000-mal empfindlicher sind als chemische Detektoren, die von Men schenhand gebaut wurden. Der langen Rede kurzer Sinn: Vielleicht ist das in diesem Roman beschriebene Szenario doch nicht so fiktiv, wie wir gerne glauben würden. Warten wir also den 8. Februar 2012 ab und lassen uns (unangenehm) überraschen.
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Der Tod in Paris Matt und Aruula kommen auf der Suche nach Hank Williams in Paris an. Hier tobt ein Krieg: die unterirdisch lebenden Me'ros gegen die oberirdischen Parii, welche die Me'ros bis vor kurzem noch unterdrückten, nun aber unter den Angriffen des Echsenvogels Avtar zittern, den ihr Feind unter Kontrolle hat. In den Metro-Katakomben trifft Matt auf seinen Kameraden - als er und Aruula in Gefangenschaft geraten. Matt wird von den Parii befreit und tötet den Avtar, bevor man Aruula der Bestie opfern kann. Doch die Me'ros haben noch einen Jungvogel, dem Hank zum Opfer fällt, bevor Matt auch ihn unschädlich macht. EXTRA: Leserstory
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