Ian Caldwell & Dustin Thomason
DAS LETZTE GEHEIMNIS
Roman Aus dem Amerikanischen von Rainer...
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Ian Caldwell & Dustin Thomason
DAS LETZTE GEHEIMNIS
Roman Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt
Für unsere Eltern
VORBEMERKUNG Die Hypnerotomachia Poliphili, von der heute weniger Exemplare er‐ halten sind als von der Gutenberg‐Bibel, gehört zu den kostbarsten und am wenigsten verstandenen Werken aus den Anfängen der a‐ bendländischen Buchdruckerkunst. Nach wie vor sind sich die Wis‐ senschaftler uneins über die Person des mysteriösen Verfassers der Hypnerotomachia, Francesco Colonna, und welche Absichten er mit seinem Werk verfolgte. Eine erste vollständige englische Übersetzung erschien im Dezember 1999, fünfhundert Jahre nach der Drucklegung des Originaltextes, und Monate nach den Ereignissen, die in Das letzte Geheimnis dargestellt wurden.
So höre, guter Leser, wie Poliphilo erzählt von seinen Träumen, Von Träumen, die gesandt vom höchsten Himmel. Nicht umsonst sollst du dich mühen, noch soll dein Lauschen dich verdrießen, Denn mannigfaltig sind die Wunder, von denen dieses Werk hier kündet. Bist ernst und trocken von Natur, schätzest nicht Amors liebliche Ge‐ schichten? So wisse doch, dass alles wohl geordnet ist auf diesen Seiten. Dies lehnst du ab? Dann mögen wenigstens der Stil mit seiner neuen Sprache, Weisheit und würdiger Diskurs dein Augenmerk erzwingen. Auch dem bist du nicht zugeneigt? Dann lenk den Blick auf die Geometrie, Auf manches Alte, dargestellt in Zeichenschrift vom Nil... Hier wirst du schaun der Könige vollkommene Paläste. Der Nymphen Andacht, Quellen und Bankette. Die Wächter tanzen, bunt in Narrentracht gekleidet, und das ganze Menschenleben findet Ausdruck hier in dunklen Labyrinthen. Anonyme Elegie an den Leser, Hypnerotomachia Poliphili
PROLOG Wie wohl viele von uns hat mein Vater Zeit seines Lebens versucht, eine Geschichte zusammenzutragen, die er niemals verste‐ hen würde. Diese Geschichte begann fast fünf Jahrhunderte, bevor ich zum College ging, und sie endete lange nach seinem Tod. Eines Nachts im November 1497 ritten zwei Boten aus den Schatten des Vatikans zu einer Kirche namens San Lorenzo, außerhalb der Mauern Roms. Was in dieser Nacht geschah, veränderte ihr Schicksal, und mein Vater glaubte, es könne auch das seine verändern. Ich habe nie viel mit dem anfangen können, woran er glaubte. Söh‐ ne sind ein Versprechen, das die Zeit den Vätern bereithält ‐ die Zusi‐ cherung, dass das, was dem Vater wertvoll ist, eines Tages für töricht gelten wird, und dass der Mensch, den er auf der Welt am meisten liebt, ihn missverstehen wird. Aber mein Vater, ein Renaissance‐ Forscher, sah die Möglichkeit der Wiedergeburt stets mit Zuversicht. Er erzählte die Geschichte der beiden Boten so oft, dass ich sie nie‐ mals vergessen konnte, sosehr ich mich auch bemühte. Er spürte, das weiß ich heute, dass die Geschichte eine Lehre offenbarte, eine Wahr‐ heit, die uns am Ende miteinander verbinden würde. Die Boten waren nach San Lorenzo entsandt worden, um den Brief eines Edelmanns zu überbringen, und man hatte ihnen bei Todesstra‐ fe untersagt, ihn zu öffnen. Der Brief war mit dunklem Wachs vier‐ fach versiegelt und barg ein Geheimnis, auf dessen Enthüllung mein Vater später drei Jahrzehnte verwenden sollte. Aber in jenen Tagen
hatte sich Finsternis über Rom gelegt; sein einstiger Glanz war ver‐ gangen, und die Stadt hatte noch nicht zu neuer Größe gefunden. Die Decke der Sixtinischen Kapelle war noch mit einem Sternenhimmel bemalt, und apokalyptische Regenfälle hatten den Tiber über die Ufer treten lassen, wo, wie alte Witwen behaupteten, ein Ungeheuer mit dem Körper einer Frau und dem Kopf eines Esels erschienen war. Die beiden Reiter, Rodrigo und Donato, schlugen die Warnungen ihres Herrn in den Wind. Sie erwärmten die Wachssiegel mit einer Kerzen‐ flamme und öffneten den Brief, um ihn zu lesen. Ehe sie nach San Lorenzo aufbrachen, verschlossen sie ihn wieder makellos und ko‐ pierten das Siegel des Edelmanns so gewissenhaft, dass ihre Manipu‐ lation für niemanden erkennbar sein konnte. Wäre ihr Herr nicht ein so kluger Mann gewesen, hätten die beiden Kuriere sicher am Leben bleiben können. Denn nicht das Siegel sollte für Rodrigo und Donato den Untergang bedeuten, sondern das schwere schwarze Wachs, in das man das Pet‐ schaft gedrückt hatte. Als sie in San Lorenzo eintrafen, empfing sie ein Maurer, der wusste, was sich in dem Wachs befand: der Extrakt eines giftigen Krauts namens »Tödlicher Nachtschatten«, der, wenn er mit den Augen in Berührung gebracht wird, die Pupillen weitet. Heutzutage wird diese Tinktur medizinisch verwendet, aber in jenen Tagen war sie ein kosmetisches Mittel für die italienischen Frauen, denn weite Pupillen galten als Schönheitsmerkmal; ein Umstand, der dem Kraut zu seinem zweiten Namen verhalf: »Schöne Frau« oder Belladonna. Als Rodrigo und Donato das Wachs der Siegel zum Schmelzen brachten, drang ihnen der Rauch in die Augen. Nach ihrer Ankunft in San Lorenzo führte der Maurer sie zu einem Kandelaber vor dem Altar. Als ihre Pupillen sich nicht zusammenzogen, wusste er, was sie getan hatten. Und während die Männer, geblendet von dem grellen Licht, sich noch mühten, ihn zu erkennen, tat der Mau‐ rer, was man ihm befohlen hatte: Er zog sein Schwert und enthaupte‐
te sie. Ihre Vertrauenswürdigkeit war auf die Probe gestellt worden, hatte sein Herr ihm gesagt, und sie hatten die Prüfung nicht bestan‐ den. Was aus Rodrigo und Donato geworden war, erfuhr mein Vater aus einem Dokument, das er kurz vor seinem Tod entdeckte. Der Maurer verhüllte die Leichen der Männer, schleifte sie aus der Kirche und wischte das Blut mit Lumpen auf. Die Köpfe stopfte er in die beiden Satteltaschen an den Flanken seines Pferdes, die Körper warf er quer über Rodrigos und Donatos eigene Pferde, die er dann an das seine band. Den Brief fand er in Donatos Tasche, und er verbrannte ihn, denn er war eine Fälschung, in Wahrheit gab es keinen Empfänger. Bevor er aufbrach, kniete er reumütig vor der Kirche, voller Entsetzen über die Sünde, die er für seinen Herrn begangen hatte. Die sechs Säulen von San Lorenzo erschienen ihm wie schwarze Zähne im Ra‐ chen des Portals, und der einfache Mann gestand später, dass er zit‐ terte, als er dies sah, denn schon als Kind zu Füßen der Witwe hatte er erfahren, wie der Dichter Dante die Hölle gesehen hatte und wel‐ che Strafe die größten Sünder erwartete: in Ewigkeit zermalmt zu werden zwischen den Kiefern von lo ʹmperador del doloroso regno. Vielleicht blickte der alte heilige Laurentius schließlich aus seinem Grab herauf, sah das Blut an den Händen des armen Mannes und vergab ihm. Vielleicht war auch keine Vergebung zu erlangen, und Laurentius blieb genau wie die Heiligen und Märtyrer unserer Zeit unergründlich und stumm. Noch in derselben Nacht tat der Maurer, was sein Herr ihm befohlen hatte, und brachte die beiden Leichen zu einem Metzger. Welches Schicksal die Körper der Toten dort erwarte‐ te, mag man sich lieber nicht ausmalen; sie wurden zerlegt und auf die Straße geworfen, wo sie, so hoffe ich zumindest, von den Abfall‐ sammlern aufgelesen oder von Hunden gefressen wurden ‐ und nicht etwa zu Pastetenfüllungen verarbeitet. Aber für die Köpfe der beiden Männer fand der Metzger eine ande‐
re Verwendung. Ein Bäcker in der Stadt, ein Mann mit einer teufli‐ schen Ader, kaufte ihm die Köpfe ab und legte sie in seinen Ofen, ehe er die Backstube am Abend verließ. Es war damals Brauch, dass die Witwen des Viertels den Backofen nach Einbruch der Dunkelheit benutzen durften, solange die Glut des Tages noch heiß, war. Als die Frauen die Köpfe entdeckten, begannen sie zu schreien und wären beinahe in Ohnmacht gefallen. Auf den ersten Blick hält man es vielleicht für ein erbärmliches Schicksal, den Hunden zum Fraß vorgeworfen oder dazu benutzt zu werden, alten Weibern einen Streich zu spielen. Aber ich glaube, durch die Art ihres Todes gelangten Rodrigo und Donato zu sehr viel größerem Ruhm, als sie ihn jemals hätten erwarten können, wären sie am Leben geblieben. Denn in jeder Gesellschaft sind die Witwen die Bewahrerinnen der Erinnerung, und die, die im Ofen des Bäckers die abgeschlagenen Köpfe fanden, haben dies gewiss nie vergessen. Selbst als der Bäcker gestand, was er getan hatte, müssen die Witwen die Geschichte ihrer Entdeckung weiterhin den römischen Kindern erzählt haben, und diese erinnerten sich eine Generation lang ebenso lebhaft an die wundersamen Schädel wie an das Monstrum, das die Fluten des Tiber ausgespien hatten. Und obwohl die Geschichte der beiden Boten irgendwann in Ver‐ gessenheit geraten sollte, bleibt eines zweifellos bestehen. Der Maurer machte seine Sache gut. Was immer das Geheimnis seines Herrn war, es verließ San Lorenzo niemals. Am Morgen nachdem Rodrigo und Donato ermordet worden waren und die Müllkutscher Kot und Ge‐ därm in ihre Fässer schaufelten, nahm kaum einer Notiz von ihrem Tod. Der langsame Kreislauf von Schönheit zu Verfall und wiederum zu Schönheit setzte sich fort, und wie einst die Schlangenzähne, die Kadmos säte, tränkte nun das Blut des Bösen die römische Erde und ermöglichte die Wiedergeburt. Fünfhundert Jahre sollten vergehen, ehe jemand die Wahrheit ans Licht brachte. Als diese fünfhundert
Jahre vorüber waren und der Tod zwei neue Boten fand, beendete ich eben mein letztes Jahr am College in Princeton.
EINS Ein seltsames Ding, die Zeit. Sie lastet am meisten auf denen, die am wenigsten davon haben. Jung zu sein und die Welt auf den Schultern zu tragen ‐ nichts ist leichter, und das Gefühl der Möglichkeiten ist so verführerisch, dass du sicher bist, es muss Wichtigeres zu tun geben, als für dein Examen zu büffeln. In meiner Erinnerung sehe ich mich selbst, an dem Abend, als alles begann. Ich liege auf dem alten roten Sofa in unserem Wohnheim‐ zimmer, kämpfe mit Pawlow und seinen Hunden in meiner »Einfüh‐ rung in die Psychologie« und frage mich, warum ich meine nötigen Scheine in Naturwissenschaften nicht gleich als Freshman im ersten Semester gemacht habe wie jeder andere auch. Zwei Briefe liegen auf dem Couchtisch vor mir, und jeder enthält eine Vision dessen, was ich nächstes Jahr tun könnte. Es ist Karfreitag Abend in einem kalten April in Princeton, New Jersey, ich habe noch einen Monat auf dem College vor mir, und es geht mir nicht anders als allen in der Klasse von 1999: Nur mit Mühe kann ich meine Gedanken von der Zukunft losreißen. Charlie sitzt auf dem Boden vor dem Kühlschrank und spielt mit dem Magnetic Shakespeare, den letzte Woche jemand bei uns hat liegen lassen. Der Fitzgerald‐Roman, den er für seine Abschlussarbeit in Englisch lesen müsste, liegt aufgeklappt und mit gebrochenem Rücken auf dem Boden wie ein zertretener Schmetterling, und Char‐ lie bildet immer neue Sätze mit den Shakespeare‐Wörtern auf den Magneten. Wenn man ihn fragt, warum er seinen Fitzgerald nicht liest, grunzt er und sagt, es hat keinen Sinn. Seiner Meinung nach ist Literatur nichts weiter als ein Hütchenspiel für Gebildete, ein Karten‐
trick für Collegejungs: Was du siehst, ist nie das, was du bekommst. Für einen naturwissenschaftlich denkenden Typen wie Charlie ist das der Gipfel der Perversion. Er wird im Herbst ein Medizinstudium beginnen, aber wir anderen müssen uns immer noch anhören, dass er in der Halbzeitklausur im März ein Befriedigend in Englisch bekom‐ men hat. Gil wirft uns einen Blick zu und lächelt. Er tut die ganze Zeit so, als lerne er für das Wirtschaftskundeexamen, aber im Fernsehen läuft Frühstück bei Tiffany, und Gil hat es mit alten Filmen, vor allem, wenn Audrey Hepburn mitspielt. Sein Rat an Charlie war einfach: Wenn du das Buch nicht lesen willst, leih dir den Film aus. Die werdenʹs nie merken. Wahrscheinlich hat er Recht, aber Charlie sieht darin eine gewisse Unehrlichkeit, und außerdem könnte er dann nicht mehr darüber meckern, was für ein Beschiss die Literatur ist. Statt uns Dai‐ sy Buchanan zu widmen, sehen wir also zum x‐ten Mal Holly Go‐ lightly. Ich greife hinüber und verschiebe ein paar von Charlies Wör‐ tern, bis der Satz auf dem Kühlschrank lautet: SCHEITERN ODER NICHT SCHEITERN: DAS IST HIER DIE FRAGE. Charlie hebt den Kopf und sieht mich missbilligend an. Er sitzt auf dem Boden und ist doch fast so groß wie ich auf der Couch. Wenn wir nebeneinander stehen, sieht er aus wie Othello auf Anabolika, ein Schwarzer von zweihundertfünf‐ zehn Pfund, der mit seinen einsfünfundneunzig fast an die Decke stößt. Im Gegensatz dazu bin ich einssiebenundsechzig mit Absätzen. Charlie nennt uns gern Roter Riese und Weißer Zwerg, denn ein Ro‐ ter Riese ist ein ungewöhnlich großer Stern und sehr helle, und ein Weißer Zwerg ist klein und schwach und keine große Leuchte. Ich muss ihn daran erinnern, dass Napoleon sogar nur einsfünfundfün‐ zig war, auch wenn Paul zu Recht darauf hinweist, dass der Kaiser, wenn man französische in englische Längenmaße umrechnet, tatsäch‐ lich ein bisschen größer war. Paul ist der Einzige von uns, der jetzt nicht im Zimmer ist. Er ist ir‐
gendwann im Lauf des Tages verschwunden und seitdem nicht wie‐ der aufgetaucht. Unser Verhältnis war im letzten Monat ein bisschen angespannt, und angesichts des Examensdrucks in letzter Zeit hat er es vorgezogen, die meiste Zeit im »Ivy« zu lernen, in dem Mensaclub, dem er und Gil angehören. Er sitzt an seiner Abschlussarbeit, die für alle Princeton‐Schüler die Voraussetzung zum Examen ist. Charlie, Gil und mir erginge es nicht anders, hätten wir nicht bereits abgege‐ ben. Charlie hat eine neue Protein‐Interaktion in bestimmten neuro‐ nalen Signalbahnen identifiziert, und Gil hat irgendetwas über die Auswirkungen einer Pauschalsteuer zustande gebracht. Ich habe meine Arbeit in letzter Minute zwischen Bewerbungen und Vorstel‐ lungsgesprächen zusammengeschustert; die Frankenstein‐Methode in der Wissenschaft wird sich wohl niemals ändern. Die Abschlussarbeit ist eine Einrichtung, die jeder verabscheut. Die Ehemaligen reden mit Wehmut darüber, als könnten sie sich nicht erinnern, dass ihnen irgendetwas mehr Spaß gemacht hat als das Ver‐ fassen eines hundertseitigen Forschungsberichts zwischen Seminaren und Entscheidungen zur beruflichen Zukunft. In Wirklichkeit ist eine Abschlussarbeit eine elende und zermürbende Plackerei. Es sei die Einführung ins Erwachsenenleben, wie ein Soziologieprofessor Char‐ lie und mir mal auf diese nervige Art erklärt hat, wie Professoren dozieren, wenn die Vorlesung bereits zu Ende ist. Es gehe darum, sich etwas so Großes aufzuladen, dass man darunter nicht mehr ent‐ kommen kann. Man nennt es Verantwortung, sagte er. Versucht es mal damit. Das Einzige, womit er es versuchte, war eine hübsche Kandida‐ tin namens Kim Silverman, aber egal. Es ging nur um Verantwor‐ tung. Ich musste Charlie zustimmen, als er sagte: Wenn Kim Silver‐ man zu den Dingen gehört, denen Erwachsene nicht entkommen können, dann bin ich dabei. Wenn nicht, bleib ich lieber noch ein bisschen jung. Paul wird als Letzter seine Arbeit abgeben, und es steht außer Fra‐
ge, dass es von uns vieren die beste sein wird. Vielleicht sogar die beste des ganzen Jahrgangs, nicht nur im Fachbereich Geschichte. Der Zauber seiner Intelligenz liegt darin, dass er mehr Geduld hat als irgendjemand, den ich kenne, und damit zermahlt er einfach jedes Problem. Hundert Millionen Sterne zu zählen, einen pro Sekunde, hat er mir mal erklärt, das hört sich an wie eine Aufgabe, die niemand im Lauf eines Menschenlebens bewältigen kann. In Wirklichkeit würde es aber bloß drei Jahre dauern. Konzentration ist das Entscheidende, der Wille, sich nicht ablenken zu lassen. Und darin besteht Pauls Ta‐ lent: Er weiß intuitiv, wie viel man langsam und geduldig bewältigen kann. Vielleicht haben deswegen alle so hohe Erwartungen an seine Ab‐ schlussarbeit ‐ sie wissen, wie viele Sterne er in drei Jahren zählen könnte, aber er schreibt jetzt seit fast vier Jahren daran. Während der durchschnittliche Student sich im Herbst des letzten Studienjahres ein Forschungsthema einfallen lässt und im darauf folgenden Früh‐ ling fertig ist, plagt Paul sich seit dem ersten Jahr. Das erste Herbst‐ semester lief gerade erst ein paar Monate, als er beschloss, an einem seltenen Renaissance‐Text mit dem labyrinthischen Titel Hypneroto‐ machia Poliphili zu arbeiten, den ich nur aussprechen kann, weil mein Vater den größten Teil seines Berufslebens als Renaissance‐Historiker damit verbracht hat, dieses Buch zu studieren. Dreieinhalb Jahre spä‐ ter und weniger als vierundzwanzig Stunden vor seinem Abgabe‐ termin hat Paul genügend Material, um noch dem wählerischsten Graduiertenprogramm das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen. Das Problem ist, dass Paul meint, ich sollte das Tamtam auch genie‐ ßen. Wir haben im Winter ein paar Monate zusammen an dem Buch gearbeitet und sind als Team gut vorangekommen. Aber erst da habe ich etwas verstanden, was meine Mutter immer sagte: dass die Män‐ ner in unserer Familie dazu neigten, auf gewisse Bücher genauso hef‐
tig hereinzufallen wie auf gewisse Frauen. Die Hypnerotomachia hatte äußerlich vielleicht nie besonders großen Charme, aber sie hat die Verschlagenheit einer hässlichen Frau, den langsam süchtig machen‐ den Sog eines innewohnenden Geheimnisses. Als ich merkte, dass ich ebenso wie mein Vater immer tiefer darin versank, gelang es mir, mich loszureißen und das Handtuch zu werfen, ehe ich die Bezie‐ hung zu einer Freundin ruinierte, die Besseres verdient hatte. Seit‐ dem ist das Verhältnis zwischen mir und Paul nicht mehr wie früher. Ein examinierter Student, den er kennt, Bill Stein, hilft ihm nun bei seinen Recherchen. Jetzt, da sein Abgabetermin naht, ist Paul seltsam zurückhaltend. Er spricht sonst sehr viel offener über seine Arbeit, aber im Lauf der letzten Woche hat er sich nicht nur von mir, sondern auch von Charlie und Gil zurückgezogen und spricht mit niemandem mehr ein Wort über seine Forschung. »Und wozu neigst du, Tom?«, fragt Gil. Charlie blickt vom Kühlschrank auf. »Ja«, sagt er. »Spann uns nicht so auf die Folter.« Bevor ich antworten kann, kommt ein Rascheln aus dem Schlaf‐ zimmer, das ich mit Paul teile. Und plötzlich steht er vor uns in der Tür, nur mit Boxershorts und T‐Shirt bekleidet. »Wir dachten, du bist im >Ivy»Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger. Es ist alles ganz eitel.IvyPrinceRenaissance Quarterly