Ulla und Detlev Göbel
Buddhismus Heute °Edition Marpa Das Leben Marpas
Naropas Worte zum Abschied von Marpa: »Obwohl ...
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Ulla und Detlev Göbel
Buddhismus Heute °Edition Marpa Das Leben Marpas
Naropas Worte zum Abschied von Marpa: »Obwohl deine Familienlinie in diesem Leben unterbrochen wird, so wird deine Dharmalinie wie ein weiter Fluß fließen, solange Buddhas Lehren bestehen bleiben. In den Augen einiger unreiner Leute wird es so aussehen, als würdest du dich in diesem Leben den Sinnesfreuden hingeben. Deine Begierden werden unveränderlich erscheinen, wie aus Stein gemeißelt, solide und groß. Andererseits aber ist, da du die wahre Natur der Dinge erkannt hast, Samsara selbstbefreiend, wie eine sich selbst entknotende Schlange. Die zukünftigen Schüler der Linie werden wie Kinder von Löwen und Garudas sein, und jede Generation wird besser sein als die vorhergehende.«
Sonderauflage des 3-teiligen Artikel „Das Leben Marpas“, erschienen in der Buddhismus-Heute No. 25, 26 und 27. Marpa-Kurs, Freiburg. Textredaktio: Ulla und Detlev Göbel Cover: Uwe Bermeitiger Satz: MÄC Thangka-Abb: mit freundlicher Genehmigung des Windpferd-Verlags Informationen: www.diamantweg.de, www.diamondway-buddhism.org
Scanned 2004 by David Lehmann
Inhalt Das Leben Marpas ...................................................................- 3 Marpas Jugend.........................................................................- 5 Marpas erste Reise nach Indien ...............................................- 7 Kukkuripa..................................................................................- 9 Maitripa...................................................................................- 12 Rückkehr nach Tibet...............................................................- 14 Zweite Reise nach Indien .......................................................- 16 Dritte Reise nach Indien .........................................................- 19 Rückkehr nach der dritten Reise ............................................- 27 Das besondere Phowa ...........................................................- 29 Dharma Dodes Tod ................................................................- 31 Tiphupa ..................................................................................- 34 Praxis mit den Schülern..........................................................- 36 Marpas Tod ............................................................................- 38 Übersicht ................................................................................- 40 -
Das Leben Marpas
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Das Leben Marpas
Marpa
Lotsaw - »Marpa, der Übersetzer« - war der erste tibetische Linienhalter der Kagyü-Schule. Sein Lebensbeispiel ist zusammen mit denen von Milarepa und Gampopa unter anderen deswegen besonders interessant, da diese die drei buddhistischen Lebensweisen repräsentieren. Marpa zeigt in seiner äußeren Lebensweise das Beispiel des Haushälters, des Laienbuddhisten, der sich neben seiner Praxis beziehungsweise. sogar als Teil der Praxis - um Hof, Geschäft und Familie kümmert. Milarepa, der berühmteste aller tibetischen Yogis, ist das Beispiel par excellence für den Weg des Yogi, der alle äußeren und gesellschaftlichen Bindungen ablegt und sich nur noch einsgerichtet der Praxis widmet. Gampopa schließlich war der erste Mönch in der Kagyü-Linie, etablierte das erste Kloster und dient als Beispiel für diesen Lebensstil. Diese Einteilung betrifft jedoch nur den äußeren Lebensstil, denn auf der Ebene der Sicht hielten alle drei die mit dem Diamantweg verbundene Sicht des Yogi von der ursprünglichen Reinheit aller Phänomene.
Gerade das Beispiel Marpas ist heute sehr bemerkenswert, da der Laienbuddhismus im Westen die wichtigste buddhistische Lebensweise darstellt; der Lebensstil des Yogi war schon immer auf relativ wenige Menschen beschränkt und ein funktionierendes Klosterwesen kann es ohne die Unterstützung durch die Laien und die durch sie gegebene starke gesellschaftliche Verwurzelung des Buddhismus nicht geben. Ein weiterer, wenn nicht der wichtigste Grund ist, daß der Laienbuddhismus für die meisten Menschen, die sich heutzutage in westlichen Gesellschaften für den Buddhismus interessieren, die einzige für sie relevante Praxisform ist. Das Lebensbeispiel Marpas zeigt, daß dieser buddhistische Lebensstil keineswegs, wie es manchmal von einigen Vertretern des monastischen Buddhismus dargestellt wird, weniger wert ist und eigentlich nur die Aufgabe hat, die Klöster zu unterstützen. An seinem Lebensbeispiel wird -3-
deutlich, daß es letztlich nur auf Dinge wie Vertrauen zum Lehrer, eine gute Motivation und den Einsatz in der Praxis ankommt.
In dem Sutra-Text »Mutter der Siegreichen« (tib.: Gyalwe Yum Gyäpa) heißt es: »Einige Bodhisattvas brauchen [für ihr Wirken] einen Vater und eine Mutter, jedoch keine Frau. Einige Bodhisattvas brauchen Vater, Mutter und eine Frau, aber keine Söhne und Töchter. Einige Bodhisattvas brauchen Vater, Mutter, eine Frau, Söhne, Töchter, Bedienstete und alle möglichen angenehmen Dinge.« Marpa gehörte zu der dritten Sorte von Bodhisattvas.
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Marpas Jugend
Lhodrag liegt ganz im Süden Tibets, an der Grenze zu Bhutan. Im Trowo-Tal, dieser an Wäldern und fruchtbarem Boden reichen Gegend, lebte zur Zeit der Jahrtausendwende eine wohlhabende Familie von Landbesitzern. Im Jahre 1012 wurde in dieser Familie als der dritte Sohn ein Kind geboren, das eine der wichtigsten Persönlichkeiten des tibetischen Buddhismus werden sollte.
Zunächst
jedoch war wenig davon vorauszusehen: Dharma Wangchuk - wie der später als »Marpa« berühmt gewordene Junge von den Eltern genannt wurde - war äußerst aggressiv und dickköpfig. Den Eltern war klar, daß diese Kraft auf einen guten Weg gelenkt werden mußte, sonst würde Dharma Wangchuk sich und anderen großen Schaden zufügen. So wurde er schon im Alter von zwölf Jahren einem Lama anvertraut, der ihm den Dharma-Namen Tschökji Lodrö gab. In kürzester Zeit lernte der Junge perfekt lesen und schreiben, was sich jedoch in keiner Weise beruhigend auf seinen Charakter auswirkte. Die Eltern sollen gesagt haben: »Er könnte großen Schaden anrichten, indem er sich oder uns tötet, oder er könnte geringeren Schaden anrichten, indem er unseren Besitz, unsere Felder und Häuser zerstört.« Da alle in dieser Weise über ihn dachten und redeten, beschloß die Familie, ihn weit weg zu schicken.
So kam Marpa nach Westtibet in ein Kloster im Nyugu-Tal, wo er drei Jahre lang bei dem Lama Drogmi Sanskrit lernte. Marpa bat Drogmi mehrfach vergeblich um Ermächtigung und DiamantwegsUnterweisungen, und es wurde für ihn deutlich, daß er zu diesem Guru keine besonders starke karmische Verbindung hatte. Die Dakini »Diamantsau« (tib.: Dorje Phagmo) inspirierte ihn schließlich dazu, die aus früheren Leben bestehende gute karmische Beziehung zu in Indien lebenden Meistern wieder zu erwecken. So machte Marpa Drogmi viele Dankes-Opferungen und verließ ihn dann, um sich auf den Weg nach Indien zu machen, wo der Dharma zu jener Zeit noch blühte. -5-
Nach
der ersten Verbreitungswelle des Dharma mit Guru Rinpoche hatte ein dem vorbuddhistischen Schamanismus anhängender König namens Lang-dharma den Buddhismus in Tibet so gründlich ausgerottet, daß es etwa 200 Jahre lang kaum noch möglich war, tiefgründige Dharma-Belehrungen zu bekommen, zu studieren und zu praktizieren. So gingen in dieser Zeit viele Tibeter nach Indien, um an den großen Universitäten oder bei den berühmten Mahasiddhas jener Zeit den Dharma zu erlernen. Erst Mitte des 11. Jahrhunderts wurde mit dem indischen Meister Atisha und mit Marpa der Dharma in Tibet wieder breit eingeführt.
Marpa
suchte zunächst seine Eltern auf, erzählte von seinen Reiseplänen und bat, daß ihm sein Erbteil ausgezahlt werden solle; zu jener Zeit war es als Prüfung der Ernsthaftigkeit der Schüler üblich, daß sie den indischen Meistern große Mengen Gold opfern mußten, um Dharma-Belehrungen zu bekommen. Alle Einwände und Widerstände der Eltern gegen das gefährliche Unternehmen konnten Marpa nicht umstimmen. Auch nicht die Tatsache, daß zwei Freunde, die ihn zuerst begleiten wollten, in letzter Minute den Mut verloren und er deshalb allein gehen mußte. Als er sein Erbe in Gold gewechselt hatte, machte er sich via Kungthang und Kyitrong auf den Weg nach Nepal. Da Marpa nicht alleine reisen mochte, tat er sich unterwegs mit einem anderen Tibeter namens Njö zusammen, der auch in Indien Dharma studieren wollte.
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Marpas erste Reise nach Indien
In
Nepal trafen Marpa und Njö zwei Schüler des indischen Mahasiddhas Naropa, und als Marpa nur den Namen »Naropa« hörte, erwachte seine karmische Verbindung aus früheren Leben zu diesem Meister. Marpa fühlte ein starkes Verlangen, Naropa zu treffen. Zunächst jedoch lebte er drei Jahre lang bei der Swayambhunath-Stupa in Kathmandu, um sich an das ungewohnt heiße Klima zu gewöhnen; für die Tibeter war die Reise aus dem Bergklima in die schlimme Hitze Indiens mit großen gesundheitlichen Risiken verbunden. In diesen drei Jahren lernte Marpa den Dharma von zwei Schülern Naropas, den Lamas Chitherpa und Paindapa, die sich seiner mit großer Güte annahmen und ihm halfen, Verbindung zu Naropa zu bekommen.
Als Marpa und Njö nach Indien weiterreisten, trennten sich ihre Wege fürs erste, weil Njö kein Vertrauen zu Naropa hatte und diesen nicht aufsuchen wollte; er hatte gehört, daß Naropa einst ein großer Universitätsgelehrter gewesen war und dann seine Stellung für ein Leben als Yogi aufgegeben hatte. Njö teilte die Ansicht des gesellschaftlichen Establishments, das auf so jemanden herabsah.
Bei Marpas erster Begegnung mit Naropa im Kloster Phullahari wurde durch Naropas Worte bereits die Bedeutung ihres Treffens deutlich. Er sagte: »In Übereinstimmung mit der Prophezeiung des Gurus [Tilopa] heiße ich meinen Sohn, das würdige Gefäß Marpa Lodrö aus dem nördlichen Schneeland, willkommen, die Regentschaft anzunehmen.« Marpa erhielt von Naropa zuerst die Ermächtigung und die Unterweisungen zum Hevajra, einem Mutter-Tantra. Hevajra wurde Marpas persönliche Meditationsform. Nachdem er dies ein Jahr lang studiert hatte, traf er Njö wieder, der in dieser Zeit bei anderen Gurus gelernt hatte. Sie beschlossen, ihre Kenntnisse zu vergleichen, und es stellte sich -7-
heraus, daß Marpa über Hevajra besser Bescheid wußte als Njö. Njö sagte jedoch, daß das Hevajra-Tantra in Tibet bereits allgemein bekannt sei. Daher sei es besser, das Vater-Tantra Guhyasamaya zu studieren, worüber Marpa nichts wußte. Als er zurück zu Naropa kam, erzählte Marpa von dem Vorfall und bat Naropa um die Guhyasamaya-Lehren. Naropa lehrte Marpa dieses Tantra nicht selbst, sondern schickte ihn dafür zu dem Meister Jnanagarbha, wo Marpa die Ermächtigung und Unterweisungen erhielt.
Schon
auf dem Rückweg nach Phullahari zu Naropa traf er wieder Njö, und aufs neue verglichen die beiden ihre Studien. Diesmal war Marpa auch in der Kenntnis über das GuhyasamayaTantra überlegen. Njö sagte jedoch, daß das Guhyasamaya in Tibet mittlerweile so bekannt sei, daß es nicht viel Nutzen bringen würde, es zu studieren - viel wichtiger sei das Mutter-Tantra Mahamaya. Als Njö darüber zu reden begann, konnte Marpa nichts dazu sagen, und so bat er Naropa bei seiner Rückkehr, ihm auch dieses Tantra zu lehren.
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Kukkuripa
Naropa erwiderte, daß er ihm das Guhyasamaya auch selbst hätte lehren können, daß es jedoch nicht die passende Zeit dafür gewesen sei. Deswegen hätte er ihn zu Jnanagarbha geschickt. In derselben Weise könne er ihm zwar das Mahamaya lehren, aber Marpa solle dafür lieber zu dem Guru Kukkuripa, auch Santibhadra genannt, gehen. Dieser lebe auf einer Insel in einem See aus giftigem Wasser. Drei Yogis, die Naropa herbeigerufen hatte, versprachen, Marpa auf dem Weg vor giftigen Schlangen, Raubtieren und Geistern zu schützen. Außer zwei Vögeln, die ihn einen ganzen Tag lang begleiteten, sah Marpa auf der ganzen Reise nicht ein einziges Tier und nach zwei Wochen fand er den von Naropa beschriebenen giftigen See vor. Dank Naropas Hinweisen konnte Marpa die Insel erreichen. Marpa war von Naropa bereits vorbereitet worden auf das was ihn hier erwartete: Er fand ein Wesen vor, das über und über behaart war, und eher wie ein Affe als wie ein Mensch aussah. Als ein Guru war es zumindest in keiner Weise zu erkennen. Einige Quellen erzählen auch, daß Kukkuripa tagsüber von bissigen Hündinnen umgeben war, die sich aber nachts in Dakinis verwandelten. Dies sei die Folge davon, daß er früher einmal abfällig über Frauen geredet habe. Das Wesen gab Marpa gegenüber vor, keinen Kukkuripa zu kennen.
Erst
als Marpa erzählte, daß er von Naropa geschickt worden war, gab es sich als Kukkuripa zu erkennen und ging auf seine Bitten ein - nicht jedoch, ohne zuerst noch im Scherz einige abfällige Bemerkungen über Naropa gemacht zu haben. Marpa erhielt zusammen mit anderen Yogis und Yoginis die Ermächtigung und Erklärungen zum Mahamaya-Tantra.
Marpa hatte auch von dem großen Meister Maitripa gehört und fühlte großes Vertrauen zu ihm. In der Nacht vor seiner Abreise von Kukkuripa träumte er von einem schönen Mädchen, das sich -9-
als Botin Maitripas vorstellte und ihm eine Vase auf den Kopf hielt. Als er aufwachte, erfuhr er einen Zustand riesiger Freude und der Wunsch, Maitripa zu treffen, war noch stärker geworden. Bei der Abschiedsfeier erzählte Kukkuripa, daß er von Marpas Kommen im voraus gewußt und ihm zwei Schützer entgegengeschickt habe, die Marpa als die zwei Vögel wahrgenommen hatte.
Zunächst jedoch kehrte er zu Naropa zurück und bewältigte die Strecke, die normalerweise zwei Wochen in Anspruch nahm, in drei Tagen. Marpa berichtete Naropa von seinen Erlebnissen mit Kukkuripa. Naropa scherzte erst über das ungewöhnliche Auftreten Kukkuripas und sagte, er müsse mit Hündinnen als Gefährtinnen vorlieb nehmen, da er wegen seines Affengesichtes keine menschliche Frau finden könne. Dann jedoch erzählte er Marpa, daß Kukkuripa die besonderen Errungenschaften der Mahamaya-Praxis erlangt, und daß er selbst diese Praxis von Kukkuripa bekommen habe. Im Gegenzug hätte er ihm das Hevajra gelehrt.
Anschließend gab er Marpa die ganze Mahamaya-Übertragung, die sich in nichts von der Weise unterschied, wie Marpa es von Kukkuripa erhalten hatte. Marpa fragte sich, warum er die Strapazen einer gefährlichen Reise auf sich nehmen mußte, wo er die Übertragung doch auch gleich von Naropa hätte bekommen können. Naropa erklärte ihm, daß es besser gewesen sei, das Mahamaya direkt von Kukkuripa, der reinen Quelle, zu bekommen.
Auf
einer weiteren Reise traf Marpa wieder seinen alten Weggefährten Njö, und sie diskutierten miteinander über das Mahamaya, wobei diesmal Marpa der Überlegene war. Njö war neugierig zu erfahren, wer Marpa darin unterrichtet habe, aber Marpa hatte das Gefühl, daß es besser sei, den Lehrer zu verheimlichen und machte deswegen nur Andeutungen. Njö fand dann zwar später heraus, daß es sich um Kukkuripa handeln - 10 -
müsse, war jedoch nicht in der Lage, den giftigen See zu überqueren, um ihn zu treffen. Naropa wies Marpa jedoch darauf hin, daß es nicht nötig war, den Lehrer geheim zu halten, da man ihn sowieso nur treffen könne, wenn man Verdienst und eine karmische Verbindung zu ihm habe.
Marpa mit Buddha Diamanthalter
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Maitripa
Marpa machte sich auf den Weg, um Maitripa aufzusuchen. Er fand ihn beim Kloster »Lodernder Feuerberg«, erhielt von ihm die Mahamudra-Belehrungen und durch die Praxis derselben vorzügliche Erfahrungen und Erkenntnisse. Von Maitripa bekam Marpa auch die Übertragung für die Doha-Tradition. Dohas sind spontane Lieder der Erkenntnis, die von den Diamantwegspraktizierenden bei besonderen Anlässen gesungen wurden und oft sehr tiefgründige Belehrungen enthielten. Einige der in der Kagyü-Linie berühmtesten dieser Lieder sind in Englisch in der Sammlung »Rain of Wisdom« erschienen. Diese »Vajra-Lieder« wurden nicht in gewöhnlicher Weise verfasst, sondern entstanden spontan aus der Erkenntnis des Lehrers. So hatten sie die Kraft, beim Zuhörer außergewöhnliche Erfahrungen und Erkenntnisse entstehen zu lassen. Sie wurden später insbesondere durch die sogenannten »Hundertausend Gesänge Milarepas« berühmt. Als
Marpa zu Naropa zurückkehrte, schickte dieser ihn für weitere Übertragungen in den Süden, zu der Leichenstätte Sosadvipa, um von der Dakini Niguma das Cathupitha-Tantra zu erbitten. Marpa erhielt diese Belehrungen und auch viele andere von den vielen Yogis, die um Sosadvipa meditierten.
Als
Marpa zurück zu Naropa kam, erhielt der die Übertragung von »Höchste Freude« (tib.: Khorlo Demchog) und übte sich anschließend intensiv in der Praxis der Übungen, die später als die »Sechs Praktiken Naropas« bekannt wurden. Diese sechs sind sehr effektive Übungen, um mit dem Energie-Aspekt des Geistes zu arbeiten. Durch Meditation auf das innere Energiesystem des Körpers, körperliche Übungen, Atemtechniken usw. kann hier eine schnelle Umwandlung des gewöhnlichen in ein erleuchtetes Erleben herbeigeführt werden. Auch das Phowa (wenn auch nicht die heute so oft gelehrte und bei uns so bekannte Form) gehört beispielsweise dazu. Marpa hatte - 12 -
hervorragende Meditations-Ergebnisse, insbesondere bei der Praxis der »Inneren Hitze« (tib.: Tummo).
Marpa war nun mittlerweile zwölf Jahre fort aus Tibet, und sein mitgebrachtes Gold neigte sich dem Ende zu. So beschloß er, für einige Zeit nach Tibet zurückzukehren, um dort einerseits mehr Gold aufzutreiben, andererseits auch mit dem Verbreiten des Dharma zu beginnen. Er legte vor Naropa das Gelübde ab, zu ihm zurückzukehren und machte sich dann auf den Weg. Da auch Njös Vorräte zu Ende gegangen waren, trafen sich die beiden, um die Reise wieder zusammen zu unternehmen.
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Rückkehr nach Tibet
Njö merkte bald, daß Marpa mehr gelernt hatte als er und wurde eifersüchtig. Bei der Überquerung des Ganges auf einer Fähre sorgte er dafür, daß Marpas Bücher ins Wasser geworfen wurden, es aber wie ein Unfall aussah. Im ersten Moment war Marpa so verzweifelt über den Verlust, daß er ernsthaft darüber nachdachte, sich selbst ins Wasser zu stürzen. Er beruhigte sich jedoch schnell wieder und stellte Njö, den er durchschaut hatte, zur Rede. Njö stritt alles ab, aber der Mann, den Njö für diese Tat bezahlt hatte, gestand später alles gegenüber Marpa. Njö bot Marpa schließlich seine eigenen Bücher zum Kopieren an. Da jedoch ihre Lehrer und ihre mündlichen Unterweisungen so unterschiedlich waren, lehnte Marpa dieses Angebot als nutzlos ab. Später ging er doch darauf ein und Njö bat ihn, niemanden in Tibet von diesem Vorfall zu erzählen. Als sie in Nepal ankamen, trennte sich Marpa von Njö, und Njö reiste allein nach Tibet weiter. Marpa besuchte in Nepal wieder den Guru Chitherpa und dieser lobte ihn dafür, daß er, als Resultat seiner Meditationspraxis, so völlig ohne Zorn auf den Vorfall reagiert hatte.
An der Grenze zu Tibet wurde Marpa von Zöllnern in der Stadt Lisokara gegen seinen Willen mehrere Tage aufgehalten. In einer dieser Nächte hatte er eine überwältigende Traum-Vision des großen Mahasiddha Saraha, über die er einige Zeit später in einem seiner berühmtesten Vajra-Lieder berichtete. Marpa erzählte auch, daß er nach dieser Vision das Gefühl hatte, daß er, selbst wenn ihm alle Buddhas der drei Zeiten erscheinen würden, er sie nichts mehr zu fragen hätte.
Auf seinem Weg in seine alte Heimat Lhodrag besuchte Marpa Njö, um auf dessen Versprechen zurückzukommen, ihm seine Bücher zum Kopieren auszuleihen. Njö redete sich jedoch heraus. Er schlug vor, daß Marpa das Mutter-Tantra und Njö das Vater- 14 -
Tantra in Tibet lehren könnten und verweigerte Marpa die Bücher, woraufhin Marpa abreiste. Das Wissen war jedoch nicht verloren, da Marpa einen großen Teil der Texte auswendig kannte und er Unklarheiten bei seinen späteren Reisen nach Indien klären konnte. Zudem stellte Marpa bei seiner nun beginnenden Lehrtätigkeit in Tiber fest, daß er die Lehren in hohem Maße schon verinnerlicht hatte.
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Zweite Reise nach Indien
Als bekannt wurde, daß Marpa tatsächlich Anstalten machte, zu einer zweiten Reise nach Indien aufzubrechen, baten viele Schüler darum, ihn begleiten zu dürfen, was er jedoch ablehnte. Stattdessen machte er sich mit einer großen Menge Gold allein auf den Weg. Wie schon beim ersten Mal führte ihn seine Reise über Nepal, wo er die beiden Lamas Chitherpa und Paindapa wiedertraf. Zusammen mit einigen weiteren Weggefährten erreichte er einige Zeit später ohne größere Schwierigkeiten Indien. Marpa
vertiefte seine Studien bei seinen Hauplehrern Naropa und Maitripa und lernte auf Naropas Geheiß hin auch bei anderen großen Meistern wie Sri Bhadra, Kukkuripa, der Dakini Niguma, Jnanagarbha, Simhadvipa und anderen.
Einmal war Akarasiddhi, ein großer buddhistischer Gelehrter aus Kashmir, bei Naropa zu Besuch. Er erbat zwar von Naropa Ermächtigungen und Erklärungen zum Guhyasamaya, wurde ansonsten aber von diesem als seinesgleichen begrüßt. Er erzählte Marpa, daß er vorhabe, nach China zu reisen. In diesem Moment ging Marpa durch den Kopf, daß ihn selbst später in Tibet weniger Menschen um die Guhyasamaya-Belehrungen bitten werden, wenn dieser große Gelehrte zuvor dort auf der Durchreise gelehrt habe. Da Akarasiddhi übernatürliche Fähigkeiten hatte, erkannte er Marpas Gedanken, sagte jedoch nichts und reiste nach Tibet ab. Dort wurde ihm bewußt, daß er nicht die karmische Verbindung zu den Tibetern hatte, um ihnen im großen Umfang nutzen zu können. Akarasiddhi erkannte, daß Marpa eine Ausstrahlung des Mahasiddhas Dombi Heruka war, und daß die Tibeter mit Vertrauen in den Diamantweg nur zu ihm eine tiefe karmische Verbindung hatten. Er reiste nach Indien zurück und sprach mit Marpa über dessen Gedanken und wie sich alles entwickelt hatte.
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Bevor Marpa nach sechs Jahren die Rückreise nach Tibet antrat, trug ihm Naropa auf, unbedingt noch einmal zu ihm zurückzukommen, da er noch weitere Belehrungen habe, die er ihm übertragen wolle. Auf seiner Reise durch Tsang in Zentraltibet lernte Marpa Metön kennen, der ein weiterer seiner späteren Hauptschüler werden sollte. Zusammen mit seiner Familie und vielen Schülern lebte er daraufhin viele Jahre in Lhodrag. In dieser Zeit kam auch der wichtigste seiner Schüler, sein Hauptlinienhalter Milarepa, zu ihm. Milarepa sollte der berühmteste der großen Yogis Tibet werden, weit über den kulturellen Rahmen Tibets und über den Buddhismus hinaus.
Zu jener Zeit war davon für einen normalen Menschen noch nicht soviel erkennbar. Milarepa hatte gerade aus Rache für schlimme Ungerechtigkeiten, die seiner Mutter und Schwester sowie ihm selbst angetan worden waren, mit schwarzer Magie 35 Menschen ermordet. Danach wurde er von furchtbaren Gewissensbissen geplagt und beschloß aus Angst vor den karmischen Folgen seiner Taten den Dharma zu praktizieren. Marpa gab ihm jedoch lange Zeit keine Erklärungen, sondern ließ ihn wie einen Sklaven Häuser bauen, wieder einreißen und neue bauen und so fort. Unter Marpas Söhnen war es insbesondere einer namens Darma Dode, von dem Marpa hoffte, daß dieser einmal sein Linienhalter werden würde. Für ihn baute Milarepa schließlich auf Marpas Anordnung eigenhändig ein neunstöckiges Haus.
Marpa
behandelte Milarepa die ganze Zeit über ausgesucht schlecht: Er schrie ihn an, prügelte ihn, betrank sich und gab dann widersprüchliche Anweisungen usw. Erst nach langer Zeit, nachdem Milarepa in seiner Verzweiflung ernsthaft an Selbstmord gedacht hatte, und Marpas Schüler und seine Frau Dagmema ihn massiv bedrängten, gab er Milarepa Ermächtigungen und Erklärungen. Nun endlich erklärte er auch sein ungewöhnliches Verhalten: Das große negative Karma Milarepas hätte nur durch diese »Sonderbehandlung« schnell entfernt werden können, was wiederum nur möglich war, weil Milarepa ein so bedingungsloses - 17 -
Vertrauen zu Marpa hatte. Später sagte ihm Marpa, daß kein Schüler in der Zukunft mehr so behandelt werden könne. In den darauffolgenden Jahren lebte Milarepa bei Marpa und lernte und meditierte, bis er später einige Jahre ganz allein in der Bergwildnis praktizierte und volle Erleuchtung erlangte.
Marpa erscheint Milarepa in einer Vision
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Dritte Reise nach Indien
Marpa
schickte sich an, eine weitere Reise nach Indien anzutreten, denn schließlich hatte er dies seinem Lehrer versprochen. Er reiste umher, gab Dharmakurse und sammelte Opferungen, um sie gegen Gold einzutauschen. Als er einmal gerade dabei war, die abschliessenden Verse eines Ermächtigungsrituales zu rezitieren, gaben ihm drei Dakinis in einer Vision die Erklärungen zu einem mystischen Lehrgesang Naropas, den er bisher nicht verstanden hatte. Auch Milarepa, der gerade eine Zurückziehung machte, hatte eine Vision, in der eine Dakini ihm sagte, er solle Marpa nach der Belehrung zur »Bewußtseinsübertragung« fragen. Milarepa verließ seine Zurückziehung, ging zu Marpa und bat um die Belehrungen. Marpa erkannte die Vision als ein Zeichen der Dakinis und erinnerte sich, daß Naropa zwei Belehrungen erwähnt hatte, die er noch bekommen sollte: Die »Bewußtseinsübertragung« und die »Geflüsterten Dakini-Lehren«. Um sicherzugehen, schauten Marpa und Milarepa noch einmal die Texte durch, die Marpa aus Indien mitgebracht hatte. Sie konnten aber diese Belehrungen nicht finden. Für Marpa waren diese Visionen Zeichen, daß die Zeit für eine neue Reise nach Indien gekommen war.
Seine Schüler und seine Familie sahen das jedoch anders und versuchten ihn mit all ihren Überredungskünsten und Tricks davon abzuhalten. Sie führten ihm sein Alter und die Gefahren der Reise vor Augen und schlugen vor, daß er seinen Sohn Darma Dode schicken solle. Marpa erklärte jedoch, daß er Naropa versprochen habe, selbst zu kommen, sich außerdem dort gut auskenne und sein Sohn auch noch so jung sei, daß sich alle um ihn sorgen würden. Marpa sagte immer wieder, daß er auf jeden Fall gehen werde, auch wenn ihn die Reise das Leben kosten würde.
Als
in dieser Weise alle Überredungsversuche nichts genutzt hatten, versteckten sie schließlich Marpas Gold und seine Reisevorräte. Daraufhin lief Marpa nachts aus dem Haus davon, - 19 -
um ohne alles nach Indien zu reisen. Milarepa fand ihn am nächsten Tag und die Schüler überredeten ihn, wenigstens für eine gewisse Zeit zurückzukehren. Ohne auf die Bitten der Schüler einzugehen, daß ihn jemand begleiten solle, reiste er einige Zeit später mit einer großen Schale Goldstaub ab.
Auf dem Weg traf Marpa den großen indischen Gelehrten Atisha, der kurz zuvor nach Tibet gekommen war. Er war neben Marpa die zweite wichtige Persönlichkeit bei der Erneuerung des tibetischen Buddhismus in dieser Zeit. Ein ehemaliger König aus Westtibet, der die Macht an seinen Bruder übergeben hatte und Mönch geworden war, hatte ihn eingeladen. Infolge der langen Zeit ohne authentische Belehrungen, nach der Herrschaft des dem Buddhismus feindlich gesonnenen König Langdharma, gab es das Bedürfnis, durch buddhistische Meister aus Indien klären zu lassen, welche Teile des tibetischen Buddhismus noch authentisch waren und welche nicht. Atisha lehrte in Tibet insbesondere die monastischen Aspekte des MahayanaBuddhismus. Sein Wissen und seine Erfahrung über den Diamantweg konnte er leider kaum weitergeben, da zu dieser Zeit - so ein Zitat von Milarepa - »das Herz des tibetischen Volkes von einem Dämon besessen war«. Die Aufgabe, in grossem Umfang die tantrischen Übertragungen nach Tibet zu bringen fiel Marpa zu. So sagt man auch: Atisha brachte das »Gefäß«, also die Wiederbelebung äußerer, monastischer Formen, sowie die Mahayana-Grundlage, und Marpa brachte den »Inhalt«, also die Diamantwegsmethoden und das Mahamudra. Atisha betonte insbesondere so unaufhörlich die Bedeutung der Zuflucht, daß er sogar den Namen »der Zufluchtslama« bekam.
Atisha hatte an einer großen buddhistischen Universität in Indien zur gleichen Zeit eine leitende Stellung innegehabt, als auch Marpas Hauptlehrer Naropa und Maitripa dort wirkten. Er hatte viele Belehrungen von Naropa erhalten, Maitripas Fähigkeiten jedoch zuerst nicht erkannt: Da dieser insgeheim Diamantwegspraktiken geübt hatte, die den äusseren Verhaltensregeln des Klosters zuwiderliefen, aber dabei - 20 -
»erwischt» worden war, hatte Atisha ihn des Klosters verweisen lassen. Bei seinem Weggang zeigte Maitripa jedoch so überzeugende Wunder, daß allen klar wurde, daß sie soeben einen hochverwirklichten Meister davongeschickt hatten. In einer Vision forderte »Befreierin« (Tara) Atisha auf, in Tibet zu lehren, unter anderem um diesen »Fehler« wiedergutzumachen.
Marpa
empfing von Atisha eine Ermächtigung und fragte ihn nach Naropa. Atisha sagte ihm, daß es nicht mehr möglich sei, Naropa in menschlicher Form zu treffen, da dieser »ins Handeln eingetreten« sei. Dieser Diamantwegs-Ausdruck bezeichnet eine hohe Phase der Praxis, wo der Praktizierende alle Konzepte von Meditation und Nichtmeditation aufgegeben hat und in einer Weise lebt, die völlig jenseits der Vorstellungswelt normaler Menschen ist. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, wo ein solches Wesen anzutreffen ist und wie man ihm in gewöhnlicher Weise begegnen kann. Nur Schülern mit sehr viel Vertrauen und Hingabe ist das überhaupt möglich, aber selbst in ihrem Fall ist es nicht sicher. Atisha schlug vor, daß Marpa lieber als sein Übersetzer mit ihm in Tibet reisen solle. Marpa konnte sich jedoch nicht vorstellen, daß er seinem Lehrer nicht mehr begegnen könnte und reiste weiter. Die Nachricht wurde jedoch auch von den beiden Lamas in Nepal bestätigt.
In Indien traf Marpa Prajnasimha, dem Naropa das Kommen von Marpa angekündigt und Sachen für ihn hinterlassen hatte, unter anderem ein Bild von Hevajra. Prajnasimha riet ihm, zuerst zu Maitripa zu gehen, um dort intensiv auf Naropa zu meditieren. Über acht Monate lang suchte Marpa nach Naropa. Zuerst besuchte er seine früheren Lehrer, praktizierte bei ihnen und rief Naropa an. Dann wanderte er von Stadt zu Stadt, manchmal allein, manchmal mit Gefährten, und fragte überall nach Naropa. Zwischendurch wurde ihm von einem bösen König, der es auf sein Gold abgesehen hatte, erst eine Priesterstellung angeboten, dann jedoch kam er für einige Tage ins Gefängnis. Manchmal bekam er Hinweise von Leuten, die ihm wieder Vertrauen gaben, immer wieder hörte er auch Naropas Stimme zu ihm sprechen - 21 -
und ihm kurze Belehrungen geben. Für kurze Momente sah er manchmal Naropa und hatte dann wieder starke Visionen von Begegnungen mit ihm.
Im achten Monat schließlich, als Marpa tief deprimiert über seine erfolglose Suche war, erschien ihm in einem Wald zuerst das Mandala des Buddha-Aspektes Hevajra, der Marpas persönlicher Yidam war. Er verstand sofort, daß dies ein Ausdruck von Naropas Geist war und rief nach Naropa, der ihm nun endlich erschien. Überwältigt vor Freude, mit Tränen in den Augen, umarmte er ihn ungestüm und fiel vor Freude gar in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, machte er sich daran, Naropa den mitgebrachten Goldstaub zu opfern. Obwohl Naropa sagte, daß er ihn nicht wolle, bedrängte Marpa ihn immer weiter, das Opfer anzunehmen, bis Naropa den Goldstaub schließlich nahm und einfach in die Büsche warf. Bei all seiner Freude ging Marpa nun doch durch den Kopf, wieviel Mühe es ihn gekostet hatte, dieses Gold zu sammeln, aber da sagte Naropa schon: »Wenn du Verlustgefühle empfindest: Hier hast du es zurück. Ich brauche kein Gold. Wenn ich es bräuchte, so wäre sowieso alles Gold für mich.« Mit dieser Bemerkung berührte er mit seinem Fuß den Boden und der Erdboden verwandelte sich in Gold.
Bei
diesem dritten Aufenthalt bei seinem Lehrer hatte Marpa schwere Hindernisse zu überwinden und Reinigungen durchzustehen. Schon auf dem Weg nach Phullahari wurde er von unerleuchteten Dakinis und Geistern angegriffen, die ihn trotz all seiner bereits erlangten Fähigkeiten und der Gegenwart seines Lehrers in blanke Angst versetzten. Im Bestreben seinem Lehrer nahe zu bleiben, lief Marpa durch einen soliden Felsen wie durch eine Wolke. Obwohl Naropa selbst ihn auch hätte schützen können, rief Naropa seinen Lehrer Tilopa an, der in Form von unzähligen zornvollen Buddhaaspekten erschien, die die Geister vertrieben.
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In
Phullahari erbat Marpa von Naropa die besonderen Belehrungen, die er bekommen sollte. Naropa fragte ihn, wie es zu der Bitte um die »Bewußtseinsübertragung« gekommen sei. Als Marpa von Milarepas Vision erzählte, beugte Naropa seinen Kopf in Richtung Tibet und sagte: »Wie wundervoll! Im dunklen Land Tibet gibt es ein Wesen, das wie die Sonne über dem Schnee aufgeht.« Es heißt, daß sich in diesem Moment alle Berge und Bäume Indiens in die gleiche Richtung neigten, und daß man diese Neigung noch heute in der Nähe von Phullahari sehen kann.
Marpa erhielt nun von Naropa die »Geflüsterten Dakini-Lehren« und die Belehrungen zur »Bewußtseinsübertragung«. Der Ausdruck »geflüstert« bezieht sich darauf, daß solche Lehren immer nur direkt und mündlich vom Lehrer an den Schüler gegeben werden. »Dakini-Lehren« rührt daher, daß sie Naropas Lehrer Tilopa direkt von »Diamantsau« (Dorje Phagmo) - der Hauptdakini im Kraftkreis des Buddha »Höchste Freude« (tib.: Demchog) - erhielt. So beziehen sich diese Lehren auch auf ganz essentielle Aspekte der Praxis auf die Buddhaaspekte Demchog und Dorje Phagmo. Naropa erklärte Marpa, daß diese Lehren die Essenz seien von allem, was er bisher gelernt habe. Er trug ihm auf dafür zu sorgen, daß diese Belehrungen dreizehn Generationen lang immer nur von einer einzigen Person gehalten und erst danach weiter verbreitet werden. So wurden sie denn auch über Milarepa, Gampopa, den ersten Karmapa usw. immer nur vom jeweiligen Linienhalter bewahrt und erst in der Zeit nach dem fünften Karmapa an mehrere Schüler gelehrt.
Marpa dachte sich, daß die Lehren, die er erhalten hatte, sich vor allem in der Tiefgründigkeit und der Wirksamkeit von den zuvor Erhaltenen unterschieden. Er fragte sich, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, gleich mit diesen starken Mitteln zu arbeiten. Als er mit Naropa darüber sprach, antwortete ihm dieser, daß Marpa ohne all die Entbehrungen und Anstrengungen, die er für das Erhalten des Dharma auf sich genommen hatte, keinen - 23 -
Nutzen von diesen hohen Praktiken gehabt hätte. Er führte sich selbst als Beispiel an und erzählte von den Prüfungen, die er auf sich genommen hatte, um von seinem Lehrer Tilopa die Lehren zu bekommen. Später sang Marpa einmal in einem Vajra-Lied: »Wenn ihr nicht die Übertragung der Kagyü-Linie bekommen habt, so hofft nicht durch die wortklauberischen Klügeleien der Gelehrtenlinien in einem Leben Erleuchtung zu erlangen. Wenn ihr aber vorhabt, mit ganzem Herzen den Dharma zu praktizieren, dann haltet euch an die Linie von Naropa und Maitripa.«
Die andere große Belehrung, die Marpa von Naropa erhielt, die »Bewußtseinsübertragung« (tib.: Phowa Tronjug), sollte bei Marpas späterer Aktivität in Tibet noch eine große Rolle spielen. Bei dieser Variante des Phowa geht es nicht darum, den Geist beim Sterben in ein Reines Land zu schicken, sondern ihn vor dem eigenen Tod in den Körper eines kurz zuvor Verstorbenen zu übertragen. Vorausgesetzt dieser Körper ist weitgehend intakt, ermöglicht diese Praxis, die lange Unterbrechung durch Geburt, Kindheit usw. zu umgehen und das Leben in einem anderen Körper fortzuführen. Was uns heutzutage vielleicht recht befremdlich und sogar etwas makaber erscheinen mag, war tatsächlich gedacht als ein Mittel für einen großen Praktizierenden, die eigene Praxis und Dharmaaktivität zum Wohle der Schüler möglichst ununterbrochen fortzuführen.
Eines
Tages beschloß Naropa nachzuprüfen, welche glückverheißenden Umstände es im Zusammenhang mit Marpas Fähigkeit zum Halten der Linie gäbe. Am nächsten Morgen, als Marpa noch schlief, manifestierte Naropa die riesige Licht- und Energieform des Buddha-Aspektes Hevajra am Himmel. Dann weckte er Marpa und sagte: »Schau, dein Yidam ist erschienen. Vor wem verbeugst du dich nun, vor ihm oder vor mir?«
An diesem Punkt in seiner Entwicklung hätte Marpa es eigentlich besser wissen müssen. Aber aufgrund eines karmischen Schleiers verbeugte er sich vor dem Yidam statt vor seinem - 24 -
Lehrer. Naropa löste daraufhin die Form von Hevajra in Licht auf und das Licht strahlte in sein Herz. Dann sagte er zu Marpa: »Bevor es einen Guru gab, war nicht einmal der Name Buddhas zu hören. All die Buddhas der 1000 Weltzeitalter entstehen nur durch einen Guru.«
Naropa
erklärte Marpa dann die tiefere Bedeutung dieses Ereignisses: Marpas Dharmalinie würde sich nicht in seiner Familie fortpflanzen. Marpa hatte immer den Wunsch gehabt, daß sein Sohn Darma Dode einmal sein Linienhalter werden würde. Dazu werde es nicht kommen, sagte ihm Naropa, jedoch werde die Kagyü-Linie an sich solange existieren wie die Lehren Buddhas selbst.
Das
Ereignis stand für Marpa zu Beginn einer schweren Reinigung; er wurde in sehr kurzer Zeit sehr viel negatives Karma los. Marpa war längere Zeit schwer krank, kam 13 mal dem Tod nahe, fiel dreimal ins Koma, litt unter Depressionen und Alpträumen. Seine Dharmabrüder und -Schwestern kümmerten sich in dieser Zeit um ihn; sie praktizierten an seiner Seite, bauten Schutzkreise um ihn auf und diskutierten medizinische Behandlungen und heilende Rituale. Marpa lehnte aber jede besondere Hilfe ab und sagte ihnen, daß seine Genesung allein davon abhänge, ob die Tibeter genug gutes Karma hätten, um von ihm später den Dharma gelehrt zu bekommen. Anderenfalls sei sowieso jede Mühe vergeblich. In der Tat erholte er sich im Laufe der Zeit und behielt nur noch eine tiefe Traurigkeit zurück. Anläßlich seiner Genesung gab Naropa ein Fest und sang ein Vajra-Lied, in dem er tiefgründige Praxisanweisungen gab. Dieser Eindruck auf Marpa war so stark, daß sich seine Depressionen endgültig auflösten.
Als er kurz danach zusammen mit Naropa ein Bad nahm, stahl eine Krähe den Schützer, den Marpa sonst immer um den Hals trug. Mit einer Kraftgeste paralysierte Naropa den Vogel, der vom - 25 -
Himmel fiel, gab Marpa den Schützer wieder und sagte ihm, daß er von nun an keine Hindernisse mehr haben würde.
Für Marpa nahte die Zeit, nach Tibet zurückzukehren. Ihm und Naropa war klar, daß sie sich in diesem Leben nicht mehr wiedersehen würden. Marpas Reisen hatten 21 Jahre gedauert und er hatte 16 Jahre und sieben Monate davon bei seinem Lehrer Naropa verbracht. Er hatte bei 13 der größten Gurus jener Zeit gelernt und die höchsten Vajrayana-Lehren erhalten und praktiziert. Marpa war sich voller Freude bewußt, daß er seine Zeit gut genutzt hatte. Zugleich war er traurig, seine Lehrer und seine Dharmageschwister zu verlassen.
Bei
einer großen Abschiedsfeier sprach Naropa die später berühmt gewordenen Worte: »Obwohl deine Familienlinie in diesem Leben unterbrochen wird, so wird deine Dharmalinie wie ein weiter Fluß fließen, solange Buddhas Lehren bestehen bleiben. In den Augen einiger unreiner Leute wird es so aussehen, als würdest du dich in diesem Leben den Sinnesfreuden hingeben. Deine Begierden werden unveränderlich erscheinen, wie aus Stein gemeißelt, solide und groß. Andererseits aber ist, da du die wahre Natur der Dinge erkannt hast, Samsara selbstbefreiend, wie eine sich selbst entknotende Schlange. Die zukünftigen Schüler der Linie werden wie Kinder von Löwen und Garudas sein, und jede Generation wird besser sein als die vorhergehende.« Zum Schluß ernannte ihn Naropa zu seinem Linienhalter, schickte ihn zurück nach Tibet und versprach, daß sie sich nach diesem Leben in den Reinen Ländern wiedertreffen würden.
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Rückkehr nach der dritten Reise
Auf der Rückreise von Indien nach Tibet, bei der Überquerung des Ganges, versuchten Räuber Marpas Boot zu kapern. Sie stürzten sich todesmutig in den Fluß und kamen bedrohlich auf ihn zugeschwommen. Es gab aber sowieso nichts, was Marpa in dieser Situation hätte tun können und so meditierte er einfach darauf, daß Naropa über seinem Kopf sei. In diesem Moment schauten die Räuber zu ihm herüber, schauten noch einmal und machten kehrt. Sie müssen irgendetwas gesehen haben, das ihnen die Idee das Boot zu überfallen wieder austrieb. Marpa
ging zuerst nach Nepal zu den Meistern Chitherpa und Paindapa, die im Kathmandu-Tal im heutigen Parping lebten. Chitherpa war kurz zuvor verstorben und viele Dharmageschwister waren zugegen. Marpa wurde hier - wie später auch an anderen Stellen in Nepal - gebeten, von seinen Erlebnissen zu berichten und Dharmaerklärungen zu geben. Bei einer solchen Gelegenheit war Marpa zu einem DiamantwegRitual eingeladen, das nachts auf einer Leichenverbrennungsstelle stattfand. Man hörte das Heulen von Schakalen und andere unheimliche Geräusche und die Versammelten wurden nervös und wollten das Ritual schnell beenden. Marpa wurde wieder einmal die Größe seiner Lehrer und ihre absolute Furchtlosigkeit bewußt. Er bedauerte, daß er Indien verlassen hatte, brach in Tränen aus und beschloß dorthin zurückzukehren. In dieser Nacht erschien ihm jedoch eine Dakini und forderte ihn auf, seine Reise fortzusetzen, da er in Tibet den Wesen mehr würde nutzen können.
Mittlerweile
waren drei Jahre seit seiner Abreise aus Tibet vergangen. Marpas Schüler und seine Familie warteten besorgt auf eine Nachricht über sein Verbleiben, und sein Schüler Marpa Golek machte sich auf den Weg nach Nepal. Er hoffte, dort etwas über Marpa in Erfahrung zu bringen und traf ihn tatsächlich schon auf dem Weg dorthin. Auf der Rückreise nach Lhodrag machten sie Rast im Kloster von Marpas Schüler Metön, wo Marpa - 27 -
Ermächtigungen und Erklärungen gab. Er wurde zwar nach den besonderen Belehrungen gefragt, die er diesmal von Naropa erhalten hatte, erzählte jedoch - so wie Naropa es ihm aufgetragen hatte - nichts davon. Marpa Golek ritt nach Lhodrag voraus und bereitete eine große Willkommensfeier vor, auf der Marpa von seinen Erlebnissen berichtete. Es heißt, daß all diese Umstände so starke Hingabe in Marpa Golek hervorgerufen hatten, daß er von da an nicht einmal mehr für einen einzigen Tag von Marpas Seite wich und ihm bis an sein Lebensende diente.
Marpa bei seinem Lehrer Naropa
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Das besondere Phowa
Einmal beschloß Marpa, seinen Schülern eine Kostprobe der besonderen Form der Bewußtseinsübertragung, die er gelernt hatte, zu geben: Eine kleine Taube war gerade an Erschöpfung gestorben, und er übertrug sein Bewußtsein in ihren Körper. Marpas eigener Körper saß da wie tot, und die kleine Taube war wieder munter wie zuvor. Die Schüler erschraken und flehten Marpa an, zurückzukehren. Erst als sich einer mit dieser Bitte vor der Taube verneigte, fiel diese leblos um und Marpa stand wieder auf. Vielen Leuten gab dies Vertrauen in Marpas Fähigkeiten. Aber wie Naropa vorausgesagt hatte - es gab auch Leute, die schlecht über ihn redeten. Chowo, Marpas älterer Bruder, gewann erst Vertrauen, als er persönlich eine ähnliche Vorführung der Bewußtseinsübertragung erlebte, diesmal mit einem Lamm. Auch ein anderer Verwandter namens Cha-se redete ausführlich und beharrlich schlecht über Marpa, bis er eines Tages persönlich Zeuge wurde, wie Marpa ein kurz zuvor ertrunkenes Reh wieder aufstehen und umherlaufen ließ.
Cha-se fragte anschließend, was es mit einer Belehrung Marpas auf sich habe, wo dieser gesagt habe, man solle Fleisch, Alkohol und Sex geniessen, sonst täte man sich keinen Gefallen. Marpa hatte hier über eine zentrale Belehrung des Diamantwegs gesprochen, daß es nämlich nicht darum geht, Störgefühle wie zum Beispiel Anhaftung einfach nur abzuschneiden, sondern sie in den Weg zu einzubringen. Cha-se sagte, er könne nicht sehen, wo da der Unterschied zu dem Verhalten gewöhnlicher Menschen sei. Marpa antwortete ihm, daß er nichts verstanden hätte. Ihm würden wahrscheinlich auch Bilder von Buddhas in Vereinigung als Darstellung gewöhnlichen Sexes erscheinen. Der Unterschied sei, daß er - Marpa - von all diesen Dingen nicht mehr gebunden sei. Dies ist die Grundlage dafür, daß man Sinnesfreuden auf dem Diamantweg voll nutzen kann. - 29 -
Die Naropa es angeordnet hatte, begaben sich Marpa und seine Schüler in eine dreijährige Meditations-Zurückziehung in Marpas Haus. In dieser Zeit sollten die Schüler und insbesondere Darma Dode von Marpa alle Übertragungen bekommen. Schon nach einem Jahr kam es jedoch zu dem schlimmen Ereignis, das Naropa anscheinend vorausgesehen hatte: Darma Dode starb bei einem Unfall.
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Dharma Dodes Tod
In
der Nähe von Marpas Haus sollte ein alljährliches Fest stattfinden. Da Marpas Familie einflußreiche Leute in der Gegend waren, kam ein Bote zu Marpas Haus und bestand im Namen der Bevölkerung darauf, daß entweder Marpa selbst oder Darma Dode bei dem Fest den Vorsitz führen sollte. Dagmema erklärte zwar, daß dies nicht möglich sei, da beide in einer strengen Zurückziehung seien, aber Darma Dode hatte die Unterhaltung unter dem Fenster seines Zurückziehungszimmers mitangehört. Die Idee, daß er an diesem Fest als Vertreter der Familie teilnehmen müsse, setzte sich in seinem Kopf fest. Ihm war klar, daß die Eltern dies nicht zulassen würden, und so beschloß er, sich aus dem Haus zu schleichen. Zwischendurch ahnte er zwar noch, daß es sich um ein Hindernis handeln müsse. Ein Spruch ging ihm durch den Kopf: »Je höher der Berg, umso tiefer der Abgrund. Je größer der Gewinn, umso größer das Risiko. Je tiefgründiger der Dharma, umso stärker die Hindernisse.« Aber dann hörte er drei alte Frauen - Manifestationen von Mara, der Personifikation der Unwissenheit - vor dem Haus, die darüber sprachen, daß sie auf das Fest gehen würden. Es traf ihn, daß sogar alte Frauen auf das Fest gehen können und er nicht. Dies gab für ihn den Ausschlag, daß er beschloß, auch zu gehen.
Als er sich gerade heimlich aus dem Haus stehlen wollte, lief er jedoch seiner Mutter Dagmema in die Arme. Sie schaffte es zwar nicht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, gab ihm aber vier Begleiter, unter anderem Milarepa und Marpa Golek, mit auf den Weg.
Vor allem aber nahm sie ihm sieben Gelübde ab: Er mußte versprechen, daß er auf dem Fest nicht den Vorsitz führen, keine Geschenke als Ehrengast annehmen, nicht die Begrüßungsrede halten, keine Dharmabelehrung geben, kein Bier trinken, kein Pferd reiten und noch vor der Mittagszeit heimkehren würde. - 31 -
Auf
dem Fest entwickelten sich die Umstände aber so unglücklich, daß alle sieben Gelübde schließlich gebrochen waren. Den Ehrenvorsitz konnte Darma Dode zuerst noch ablehnen; er und seine Begleiter setzten sich zwischen die Lamas und die Laienschaft. Als er jedoch erkannt wurde, wollten die Lamas nicht höher als Marpas Sohn sitzen und räumten ihre Sitzkissen so schnell um, daß Darma Dode auf einmal den höchsten Platz und damit den Vorsitz hatte. So konnte er sich nicht mehr dagegen erwehren, Geschenke anzunehmen, eine Rede zu halten, Dharmafragen zu beantworten usw. bis all diese Gelübde schließlich gebrochen waren. Milarepa hatte vergeblich versucht einzuschreiten, aber am Ende blieb ihm nichts mehr übrig, als zum Aufbruch zu drängen. Auf dem Heimweg scheute Darma Dodes Pferd, er stürzte, blieb im Steigbügel hängen und schlug sich den Kopf in acht Teile auf.
Als
Milarepa, der vorausgeeilt war, Marpa die schlechte Nachricht überbrachte, hatte dieser schon einige schlechte Omen gehabt und ahnte, daß sein Sohn nicht mehr zu retten sei. Darma Dode hatte sich auf das Pferd binden lassen und schaffte noch den Heimweg. Marpa sah den Zustand seiner Wunde und ihm war sofort klar, daß er nicht mehr lange leben würde. Während Darma Dode im Koma lag, rezitierte Marpa für ihn die Belehrungen zum Phowa. Er rief ihm in Erinnerung, daß sein Vater zugleich auch sein Guru und ein Mandala von Buddhas war und forderte ihn auf, sein Bewußtsein in Marpas Herzzentrum zu schicken. Da Darma Dode jedoch nicht zu sich kam und dem Rat Marpas auch nicht gefolgt war, versuchte Dagmema das gleiche und forderte ihn auf, sein Bewußtsein in ihr Herzzentrum zu überführen. Als eine ihrer Tränen in sein Ohr fiel, kam er zu sich und war sogar noch einmal in der Lage aufzustehen.
Man machte sich auf die Suche nach dem intakten Körper eines soeben Verstorbenen, damit Darma Dode sein Bewußtsein da hinein überführen könne, aber außer einer sehr alten Frau und einer Taube war in der ganzen Gegend keiner zu finden. Beide - 32 -
Möglichkeiten lehnte Darma Dode als sinnlos ab. Als die anderen Schüler jedoch anfingen, Zweifel an der Wirksamkeit der Bewußtseinsübertragung zu bekommen und es ja auch keine Alternative mehr gab, überführte Darma Dode seinen Geist schließlich doch in die Taube. Alle Anwesenden sahen bei dieser Gelegenheit den Buddha Hevajra mit seinem Gefolge erscheinen. Bei der anschließenden Verbrennung des Körpers von Darma Dode war er selbst im Körper der Taube anwesend und umschritt die Verbrennungsstelle.
Einige
Zeit zuvor war der einzige Sohn eines alten Ehepaares gestorben und Marpa hatte die beiden zu trösten versucht. Er hatte ihnen den Rat gegeben, alles als Traum und Illusion anzusehen und nicht zu verzweifeln. Als nun Dagmema in Tränen ausbrach und auch Marpa Zeichen tiefer Trauer zeigte, erinnerten ihn die alten Leute an seine Belehrungen und sagten, auch er solle es nun alles als einen Traum ansehen. Marpa antwortete ihnen ziemlich unverblümt, daß es einige Unterschiede gäbe: Er würde nicht aus Anhaftung an etwas scheinbar Realem leiden, sondern darunter, daß Darma Dode nun den Wesen nicht so nutzen könne, wie es möglich gewesen wäre. Ihr Sohn hätte nichts Gutes sondern nur Leid in die Welt gebracht, Darma Dode hingegen hätte ohne diesen Unfall unzähligen Wesen großen Nutzen gebracht. Unter all den Träumen wäre sein Leben ein ganz besonderer Traum gewesen.
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Tiphupa
Marpa
sah aufgrund seiner Hellsicht, daß für Darma Dode in Indien die Möglichkeit bestand, sein Wirken fortzusetzen und gab der Taube entsprechende Anweisungen. Er beschrieb ihr den Weg zu einer Stelle in Indien, wo es gerade einen geeigneten Körper in Form eines 13-jährigen Brahmanen-Jungen gäbe. Bei seinem ersten Aufbruch verflog sich die Taube jedoch und kam abends erschöpft zurück. Am nächsten Tag flog Darma Dode in der Taube, diesmal mit ausführlicheren Wegbeschreibungen von Marpa ausgestattet, noch einmal los. Diesmal fand er den Weg und trat in den Körper des verstorbenen indischen Jungen ein, gerade als die Feierlichkeiten für die Verbrennung stattfinden sollten. Zum Entsetzen der Anwesenden erhob sich der Leichnam wieder und erklärte ihnen, daß er nicht wirklich tot gewesen sei. Darma Dode hatte von Marpa einiges der indischen Sprache gelernt.
Überwältigt vor Freude nahmen die Eltern ihn wieder mit nach Hause. Im Laufe der Zeit stellten sie bei ihm aber eine ganze Reihe guter Eigenschaften und Interesse für den Dharma fest, die sie zuvor bei ihm nicht bemerkt hatten. So erzählte ihnen Darma Dode schließlich die ganze Geschichte. Da Tiphu das Wort für Taube in diesem Teil Indiens war, wurde der Junge Tiphupa genannt und die Eltern sahen ihn nicht mehr als Sohn, sondern als ihren Guru. Tiphupa studierte und meditierte und wurde - wie Marpa es vorausgesehen hatte - ein großer Meister, der vielen Menschen nutzen konnte. Rechungpa, der neben Gampopa Milarepas Hauptschüler war, traf Tiphupa später bei einer Reise nach Indien und so wurde der Fortgang der Geschichte in Tibet bekannt.
Durch Tiphupa und Rechungpa kam auch eine wichtige Belehrung wieder nach Tibet: Tilopa hatte von den Dakinis die sogenannten »Formlosen Dakini-Lehren« erhalten, die aus neun Belehrungen bestanden. Er hatte sie an Naropa gelehrt und dieser an Marpa, aber mit sehr strengen Auflagen über ihre - 34 -
Weitergabe. Marpa hatte die ersten vier Lehren an Milarepa gegeben und hatte prophezeit, daß Milarepa oder ein anderer Linienhalter später aus Indien die restlichen fünf holen würde. Mit Rechungpa erfüllte sich diese Prophezeiung. Er erhielt die Lehren von Tiphupa, der sie, genau wie sein Vater Marpa, direkt von Naropa bekommen hatte.
Bei der Gedenkfeier für Darma Dode wurde Marpa von seinen Schülern nach der Zukunft der Kagyü-Linie gefragt und er forderte sie auf, in der nächsten Zeit auf ihre Träume zu achten. Milarepa hatte als einziger einen prophetischen Traum von einem großen Schneeberg mit Sonne und Mond darüber. Auf den Seiten des Berges standen vier hohe Säulen und auf diesen standen ein Löwe, ein Tiger, ein Garuda (ein mystischer Vogel) und ein Geier. Der Geier, der bei den Tibetern als sehr besonders gilt, da er keine Tiere tötet, gebar viele Junge, die mit der Zeit den ganzen Himmel füllten. Marpa interpretierte den Traum ausführlich. Entsprechend der besonderen Qualitäten, die den verschiedenen Tieren zugeschrieben werden, stehen diese für seine vier Hauptschüler Tsurtön Wangnge, Ngoktön Chödor, Metön Tsönpo und Milarepa. Der Berg selbst sei Marpa und die vier die Säulen für die Zukunft der Linie, wobei der Geier für Milarepa stehe.
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Praxis mit den Schülern
Die traurigen Ereignisse um Darma Dode bewirkten, daß allen die Vergänglichkeit wieder sehr bewußt geworden war, und alle spürten einen starken Drang zu praktizieren. Marpa gab intensiv Belehrungen; es heißt, daß er tagsüber lehrte und seine Schüler nachts praktizieren ließ. Einige Zeit später beschloß Marpa auf glückverheißende Zeichen zu achten, um zu sehen, welcher Schüler welche Teile der Übertragung halten solle. So schaute Marpa eines morgens, was seine Hauptschüler gerade praktizierten. Tsurtön Wangnge praktizierte Phowa, Ngoktön Chödor studierte Kommentare zum Hevajra-Tantra, Metön Tsönpo praktizierte das »Klare Licht« (tib.: Ösal) und Milarepa schließlich die Praxis der »Inneren Hitze« (tib.: Tummo). Entsprechend dieses prophetischen Momentes gab Marpa diesen vier die entsprechenden ausführlichen Übertragungen, zusammen mit Reliquien von Naropa. Die besonderen »Geflüsterten DakiniLehren« des Buddha »Höchste Freude« gab Marpa, wie Naropa es angeordnet hatte, nur an Milarepa. Die besondere Form des Phowa, die »Bewußtseinsübertragung« hatte Marpa nur an Darma Dode gelehrt, an keinen anderen mehr, und so ist diese Praxis in Tibet nicht erhalten geblieben. Immer
öfter zeigte Marpa alle Sorten von Wundern. Manche seiner Schüler sahen ihn als Buddha-Aspekt wie Hevajra, Demchog, Guhyasamaya oder Dorje Phagmo. Sie fragten Marpa, wie es dazu komme und er antwortete nur: »So ist das eben.« Erst als sie nicht locker ließen erklärte er, daß es infolge eines Zusammenkommens seiner Kraft Buddha-Aspekte zu vergegenwärtigen und der Reinen Sicht der Schüler geschehe.
Andere
sahen ihn in Form von den Elementen, als Feuer, Wasser, Regenbogen usw. und er erklärte dies als das Zusammenkommen ihrer Reinen Sicht mit der Tatsache, daß die Elemente in seinem inneren Energiesystem völlig gereinigt seien. Bei einer dieser Gelegenheiten erzählte er, daß er sich erinnere, in einem früheren Leben auf einem Tiger durch den Dschungel - 36 -
geritten zu sein - vielleicht ein Hinweis darauf, daß Marpa als Ausstrahlung des Mahasiddhas Dombhi Heruka gilt, der auf einem Tiger reitend dargestellt wird. Marpa erklärte, daß es für ihn durch seine Fähigkeit der Bewußtseinsübertragung keinen Tod mehr gäbe, daß er aber trotzdem in die Reinen Länder gehen werde, denn Naropa hätte ihm das aufgetragen. Zu dieser Zeit ging Marpa in seinem Haus auch einfach nur noch durch die Wände statt die Türen zu benutzen. Seine Söhne machten Späße darüber, daß diese Fähigkeit für einen Dieb sehr praktisch wäre.
Milarepas Abschied von Marpa: Marpa zeigt Wunder
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Marpas Tod
Im Alter von 88 Jahren starb Marpa im Beisein einiger Schüler. Seine Frau Dagmema und seine anderen Frauen lösten sich in Licht auf und strahlten in sein Herzzentrum hinein. Er und Dagmema werden als Ausdruck der Hauptaspekte im Mandala ihres Yidams Hevajra gesehen, die anderen als weitere Aspekte im Kraftkreis von »Oh Diamant« (tib. Kye Dorje, skt. Hevajra). Marpas Körper wurde nicht verbrannt, sondern konserviert und in Seide gehüllt aufbewahrt. Viele Leute kamen und boten Opferungen, um einen Teil von Marpas Körper als Reliquie zu bekommen. Marpas Sohn Pal Ö und andere waren recht freizügig darin, diese zu verteilen. Als bekannt wurde, daß sogar seine Gesichtshaut an ein Kloster gegeben worden war, hielt Ngokpa es nicht mehr aus. Er bot den Söhnen eine große Opferung an, um den ganzen restlichen Körper zu bekommen und ihn intakt aufzubewahren. Die Söhne verlangten von ihm vor allem die Rubin-Mala Naropas, die Marpa Ngokpa geschenkt hatte. Gegen die Mala und ein ganzes Vermögen bekam Ngokpa den Körper, brachte ihn in die Gegend Shung und baute eine Stupa drumherum.
Die
Lehren, die Marpa aus Indien mitgebracht hatte, sind bis heute in reiner Form erhalten geblieben. Über Milarepa, Gampopa, die Karmapas, Shamar Rinpoches und die anderen Linienhalter wurden sie und die mit ihnen zusammenhängende Erfahrung in unsere Zeit übertragen. Im letzten Jahrhundert wurden die Übertragungen zu den 29 wichtigsten Buddhaaspekten von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye zu dem sogenannten »Kagyü Ngagdzö« gesammelt, dem »Schatz der Kagyü-Mantras«, der auch einige der Übertragungen Rechungpas enthält. Diese Übertragungen werden hier und da als Ermächtigungsserie gegeben, in Europa erst einmal im Jahre 1989 in Dänemark mit ca. 500 Teilnehmern aus der ganzen Welt, von dem 1992 verstorbenen Jamgön Kongtrul Rinpoche. Dank der Tatsache, daß die Kagyü-Linie seit Marpas Zeit von einer ungebrochenen Kette realisierter Meister - vor allem den nunmehr - 38 -
17 Wiedergeburten des Buddha Karmapa - gehalten wurde, haben diese Diamantwegsmethoden noch die gleiche Kraft, in sehr kurzer Zeit Befreiung und Erleuchtung zu ermöglichen. Es liegt an einem selbst, diese Gelegenheit zu nutzen.
Man
denkt vielleicht, daß es für uns heute sehr leicht ist, den Dharma zu bekommen - verglichen mit der Situation Marpas. Bei näherer Betrachtung sieht man aber auch, daß wir zur Zeit zwar in einer sehr glücklichen Lage sind, daß es sie aber nicht immer geben wird, wenn wir sie jetzt nicht aufgreifen. Nur wenige Menschen haben diese Möglichkeit, noch weniger nutzen sie. Wie Marpa in einem seiner überlieferten Lehrgesänge sagte: »Denkt daran, wie schwer es ist, den Dharma zu bekommen und seid nicht faul, sondern praktiziert.«
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Übersicht Einige der wichtigsten Tantras, die Marpa in Indien erhalten hatte Die aufgezählten Tantras gehören alle zur höchsten der vier Diamantwegsstufen, dem so genannten Anuttara-Tantra, dessen Buddha-Aspekte immer in Vereinigung erscheinen. Die AnuttaraTantraklasse wird unterteilt in Vater-, Mutter- und Nichtduale Tantras, je nachdem, welches der drei .Hauptstörgefühle das jeweilige Tantra schwerpunktmäßig angeht: Zorn, Anhaftung oder Unwissenheit.
Sanskrit: Hevajra Tibetisch: Kye Dorje Deutsch: Oh Diamant
Marpas persönliche Meditationsform, als dessen Verkörperung er auch gesehen wird. Hevajra gehört zu den Mutter-Tantras. Das Hevajra-Tantra gilt in der Kagyü-Linie als eines der wichtigsten Texte zum Verständnis der Diamantwegspraxis, in der Sakya-Schule ist er der HauptYidam. Hevajra gibt es in verschiedenen Formen: Mit zwei, vier, sechs, zwölf oder mit 16 Armen, immer in tanzender Vereinigung mit seiner Gefährtin Dagmema (skr.: Nairatmya, deutsch: Kein Ich).
Sanskrit: Guhyasamaya Tibetisch: Sangwa Düpa Deutsch: Geheimer Nektar
Guhyasamaya gehört zu den VaterTantras. Er wird gewöhnlich in sitzender Vereinigung mit sechs Armen und vier Gesichtern dargestellt.
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Sanskrit: Mahamaya Tibetisch: Gyuma Chenmo Deutsch: Große Illusion
Mahamaya gehört zu den MutterTantras und wird meist blau, vierarmig und in sitzender Vereinigung mit der Buddhadakini dargestellt.
Sanskrit: Vajra Cathupitha Tibetisch: Dorje Den Shi Deutsch: Vier Sitze
Cathupitha gehört zu den MutterTantras, und wird meist blau mit drei Gesichtern und in sitzender Vereinigung mit seiner Gefährtin Yeshe Wangchukma dargestellt.
Sanskrit: Chakrasamvara Tibetisch: Khorlo Demchog Deutsch: Höchste Freude
Chakrasamvara zählt zu den MutterTantras. Die Meditationen auf Demchog und seine Gefährtin Dorje Phagmo sind die zentralen YidamFraktiken in der Kagyü-Linie.
Sowohl von Naropa als auch von Maitripa erhielt Marpa das Mahamudra (tib.: Tschag Tschen; deutsch: Großes Siegel oder Großes Zeichen), meist wird jedoch Maitripa hierfür als sein Hauptlehrer erwähnt. Beide Übertragungen gingen von Buddha Dorje Chang aus und wurden dann über unterschiedliche Meister im alten Indien weitergegeben, bis die beiden Übertragungslinien in Marpa wieder zusammenliefen. Die sogennante »kurze« Linie ging über Tilopa und Naropa, die »lange« über Lodrö Rinchen, Saraha, Nagarjuna, Shavaripa und Maitripa.
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»Zukünftige Schüler der Kagyü-Linie Werden wie Kinder von Löwen und Garudas sein.« Marpa
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