Peter Lotar
Das Land, das ich dir zeige Roman
R. Brockhaus Taschenbuch Bd. 815 © 1985 Peter Lotar Die gebundene Origi...
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Peter Lotar
Das Land, das ich dir zeige Roman
R. Brockhaus Taschenbuch Bd. 815 © 1985 Peter Lotar Die gebundene Originalausgabe erschien unter dem Titel DAS LAND DAS ICH DIR ZEIGE beim Pendo Verlag AG, Zürich/Schweiz
1. Taschenbuchauflage 1987 Umschlaggestaltung: Garsten Buschke, Leichlingen 2, Umschlagfoto: Masterfile - ZEFA, Düsseldorf Rückseiten-Autorenfoto: Bernhard Moosbrugger Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG ISBN 3-417-20815-7
PETER LOTAR zweisprachig aufgewachsen in Prag. Maturitätsprüfung 1928. Studium der Kulturgeschichte und Absolvierung von Max Reinhardts «Schauspielschule des Deutschen Theaters» in Berlin. Engagements in Berlin und Breslau. 1933 Rückkehr nach Prag, Schauspieler am Prager Nationaltheater und an den tschechischen Städtischen Bühnen. Antifaschistische Aktivitäten. Nach der deutschen Besetzung Prags 1939 Flucht in die Schweiz. Schauspieler und Spielleiter an schweizerischen Bühnen. Ab 1946 Cheflektor am Reiss-Verlag, Basel. Trägt bei zur Entdeckung und Durchsetzung von Hochwälder, Dürrenmatt, Frisch u. a. 1949 Erwerb des Schweizer Bürgerrechts in Solothurn. Ab 1950 ausschließlich freier Schriftsteller. Gestorben 1986 in Ennetbaden/Aargau an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Bühnenwerke: DIE WAHRHEIT SIEGT, Uraufführung London 1943, dann Biel/Solothurn 1945 DAS BILD DES MENSCHEN, Uraufführung an den Berliner Festwochen 1954 DER TOD DES PRÄSIDENTEN, Uraufführung Göttingen und Karlsruhe 1966 Mehr als 30 Hör- und Fernsehspiele.
Kulturgeschichtliche Publikationen: GESCHICHTE DES TSCHECHISCHEN THEATERS, Oxford 1946, Zürich 1970 VOM SINN DES LEBENS,
Gespräche mit Albert Schweitzer, München
1950 FRIEDRICH SCHILLER, Leben
und Werk, Bern 1955 CÄSAR, LINCOLN, KENNEDY, Analyse des politischen Mordes, Karlsruhe 1966 GEIST MACHT GESCHICHTE, Zürich 1968 PRAGER FRÜHLING UND HERBST, Zürich 1970 Romane EINE KRÄHE WAR MIT MIR, Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart 1978 Zürich 1985
DAS LAND, DAS ICH DIR ZEIGE, pendo-verlag,
Auszeichnungen Gerhart Hauptmann-Preis, Berlin, 1954 Dramenpreis der Schweizer Schiller-Stiftung, 1967 Erzählerpreis des Kulturrats Bonn und des Landes Nordrhein-Westfalen, 1974 Kulturpreis des Kantons Solothurn Ehrengabe des Kantons Zürich Jubiläumspreis der Schweiz. Bankgesellschaft, 1978 Ehrengabe der Kulturstiftung Baden, 1984 Eichendorff-Literatur-Preis, Wangen i. A., 1986 Werkpreis des Kantons Solothurn, 1986
Inhalt
I Der Traum Das besondere Kennzeichen Nicht so heiss gegessen Drôle de guerre Anatomie eines Anachronismus Sie haben die Schweiz zu verlassen Die Schlupfwespe Wurstel Der verhinderte Held Raskolnikow Dunants Erben In Tyrannos Ende eines Festes Die Schwester Die vergessene Hölle Hoffnung und Ohnmacht Denk ich an Deutschland in der Nacht Angeklagt Salto mortale Auf hohem Seil Das Land, das ich dir zeige
II Die Besiegten Die Brücke Nepomuk Der Türke Bitter ist meine Seele Vom Teufel geholt Verworfen Svtluschka Durch die Nacht gestürzt Die Wand Total Revolution Die Wahrheit Das Kreuz Ein Zipfel Mut, ein Korn Zweifel Ehrfurcht vor dem Leben Gespenstersonate Die innerste Puppe Unterwegs Traum, Dichtung, Wahrheit
I
Geh aus deinem Lande, verlass deines Vaters Haus und zieh in das Land, das ich dir zeige. 1. Buch Mose, 12. Kap., 1.
Der Traum
Mein Leben vollzieht sich im Wachen, im Schlafen, im Traum. Manchmal weiss ich nicht, ob mein Wachen nicht ein Traum ist, zuweilen bin ich im Schlaf so wach wie nie. Dann träume ich. In fast allen Sprachen ist der Tag männlich, die Nacht weiblich. Der Tag zeugt, die Nacht empfängt. Der Traum ist ihre Schwangerschaft. Taten und Versäumnisse, Freuden und Leiden befruchten sie, und aus ihnen wächst das Neue: neues Tun, Erleben, Erleiden. Die Mutter ahnt erst das Werden des Neuen in sich, wird seiner dann sicherer und gebiert es schliesslich unter Schmerzen. So tragen wir im Traum aus Vergangenem das Kommende aus, bevor es endlich mühsam ans Licht tritt. Ein Traum kam, ging, kehrte wieder, zuweilen Nacht für Nacht. Dann überliess er mich mir selbst, für einige Zeit, um mich dann von neuem zu mahnen. War es ein Angstgespinst, eine Warnung, eine Aufforderung... ? Ich verstand es nicht. Von neuem rührte es mich auf - ein allzu lange unterdrücktes Verlangen. Warum spreche ich nie von Vergangenem?... Der Weg hinter mir wird länger, der vor mir kürzer. Ein Gefühl des Absterbens begann in mir aufzusteigen. Als schnitte ich mich von meinen Wurzeln ab, verurteilte mich zum Verdorren. Mich zu retten, erhob das Verleugnete seine Stimme, klopfte an die Pforte, die den Schlaf vom Wachen trennt. Eines Nachts riss es mich empor, zwang mich aufzuzeichnen, was ich im Traume sah... Kaum aufgeschrieben, versteckte ich es. Aber der Vorgang wiederholte sich. Nach langer Zeit erst fand ich die Blätter. Manche sind wie von einem anderen, als habe er es mir diktiert. Sie sind da, ob ich will oder nicht. Ich beginne die Blätter zu lesen, zu ordnen, in Zusammenhang zu bringen. Ja - sie zwingen mich, das noch Fehlende zu ergänzen, zu gestehen.
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Jetzt stürzt das Vergangene aus mir, unaufhaltsam. Bilder, Töne, Düfte, Gelächter, fernes Schreien... Es überschwemmt mich, ein Strom durch die Wüste. Ich vermag ihm nicht mehr zu wehren.
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Das besondere Kennzeichen
Durch das nächtliche Deutschland, das Meer des Schreckens... Allgegenwärtig die Polypenaugen, die Fangarme der Gestapo, der SS... Wann packen sie mich, Marek Truntschka, nach dem sie fahnden? Mit einem Fetzen Papier will ich ihnen entrinnen, ausgestellt von einem Unbefugten; vielleicht ist er gefälscht, der Durchlassschein... Der Oberbürgermeister hat ihn mir zugesteckt auf dem Prager Rathaus... Ist er Kollaborateur der deutschen Besatzungsmacht, ist er ein Fechter im Dunkel? Führt sein Passepartout nicht in einen Hinterhalt? Bei jeder Kontrolle flatterndes Herz... eine Nacht ohne Ende. Aber der Morgen kommt doch. Unvorstellbare Wirklichkeit: der schweizerische Bundesbahnhof in Basel. Werde ich bleiben dürfen in diesem Land? Es scheint alles gut zu gehen, zu gut. Hier in Basel erwartet man mich. Wo ich denn gewesen sei bis jetzt? In Prag, tschechischer Schauspieler? Ach, daher der komische Name! Ich darf dem Direktor vorsprechen, dann werde ich engagiert. Nicht nur das, ich soll sofort anfangen. Man bereitet Goethes «Prometheus» vor. Aber es fehlt der «Epimetheus». Ich komme wie gerufen. «Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz?» Gerettet! Aber nicht Prometheus, der Titan, bin ich, nur sein armseliger Bruder - wie durfte ich's vergessen.
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Gestern noch die gute Probe, Zustimmung, Ermutigung durch den Regisseur, und heute morgen Der Bühnenportier hat mich ins Büro geschickt. Dort steht der Regisseur mit einem Gesicht, als hätte er Essig getrunken. «Man hat Ihnen in Bern die Arbeitsbewilligung verweigert.» Ich starre ihn an. Er wird zornrot. «Wir müssen irgendeinen Bünzli engagieren, den wir gar nicht kennen. Aber er ist Schweizer, kommt zurück aus Deutschland, sicher ein Nazi. Wie hätt er's sonst dort ausgehalten!» Der Sekretär räuspert sich. «Na ja.» Der Regisseur klopft mir auf die Schulter. «Mach dir nichts draus. Gehst schon nicht unter - » Die Tür fällt zu. «Sie müssen das verstehen», sagt der Sekretär, «wir dürfen einen Ausländer nur engagieren, wenn kein Schweizer zur Verfügung steht.» «Aber der unterzeichnete Vertrag... » «Mit der Klausel ‹vorbehalten die Zustimmung der Eidgenössischen Fremdenpolizei›!» Ich greife nach einem Stuhl. «Was soll ich denn jetzt - » «Sagten Sie nicht, man interessiert sich für Sie auch in Solothurn?» «Dort braucht ein Ausländer keine Bewilligung?» Das ausgediente Gesicht unter den grauen Haaren überzieht ein Lächeln. «Unter uns, einem Schweizer, der was kann, zahlt Direktor Feiel zu wenig.» Der Stuhl scheint mit mir tiefer zu sinken. «Ich hab Direktor Feiel gestern geschrieben, ich bin schon hier engagiert.» «Das spricht ja für Sie. Er kennt solche Fälle. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn an, dass Sie morgen zu ihm kommen.» Wohin... ? Schon in Prag hatte ich im Lexikon nachgeschlagen. «Solothurn, im gleichnamigen Schweizer Kanton. 15 000 Einwohner. Uhren- und Elektroindustrie.» Ich stellte mir's vor: qualmende Schlote über einem grauen, trostlosen Industrienest. Doch was ist das?
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Stufen, Stufen, ein aufwärts stürzender Katarakt ... er trägt mich hinauf zu einer weissen säulen-durchwirkten Fassade... Wo bin ich hingeraten, auf welche Bühne? Welches Stück hebt an in dieser Szenerie? Sie gleicht Rom, der ewigen Stadt. Aber nein. Die Säulen sind kein Pappmache. Ich ertaste harte marmorne Kühle. Und das Portal öffnet sich nicht auf eine kahle Hinterbühne, es führt in die Wirklichkeit einer kuppelgekrönten Kathedrale. Bin ich wach in den tiefen Süden gestürzt? Ich blicke die Treppe hinab. Zu meinen Füssen keine Piazza di Spagna, kein Forum Romanum... Markttreiben auf einem bescheidenen Platz. Zwar gleich links, befremdlich in der dichtgedrängten Häuserfront, nochmals eine überragende barocke Kirchenfassade. Doch dahinter sticht der dürre knochige Finger eines gotischen Uhrturms in nordischen Frühnebel. Zögernd entblössen sich Giebel und Dächer eines alten Städtchens. Zu klein, zu behäbig ist's für die italianitá seines strahlenden duomo. Und doch, es geht davon ein Zauber aus. Mich schwindelt ein wenig... müde... setze mich auf die Stufen, lehne den Kopf an den Stein. Die Kralle der Angst hat sich gelockert doch sie hat mich nicht losgelassen. Lange blicke ich von den Stufen der strahlenden Kathedrale hinab auf die atmende Schönheit der erwachten Stadt. Ich wollte, ich könnte hier bleiben. Das Städtchen, das ganze kleine Land, hat etwas von einer Glucke, gibt Geborgenheit. Aber dann plötzlich entblösst's Sporn und Fänge, vertreibt einen mit wütenden Schnabelhieben Ein hallender Glockenton, die Turmuhr; erst viermal, dann zehn gewaltige Anschläge... Feiel erwartet mich! Ich dränge durch die Menge, frage nach dem Theater. Links, ein sanft abfallendes Gässchen, läuft aus in eine Häuserfront, durch die nur ein niederer, tunnelartiger, vergitterter Durchlass führt. Hier geht's, heisst es, zum Bühneneingang. Man muss sich bücken. Plötzlich stehe ich vor einem Fluss: die Aare.
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Endlich in dem alten Gemäuer am Ufer eine Tür. Ich öffne, blinzle ins Halbdunkel. Da tönt mir eine mächtige Bassstimme entgegen: «Hab schon gewarrtet. Niemand sonst hier... » Es klingt nach der Prosa eines Opernsängers, wie Sarastro, der Tamino den Weg in höhere Bereiche weist. Aber wir treten nur in einen schäbigen kleinen Raum, imprägniert von Zigaretten-Mief: ein «Konversationszimmer». «Ja, ja, Ihr Tellefonn», sagt Sarastro. «Aberr eigentlich kann Sie nicht mehr brrauchen.» Trotz der niederschmetternden Sachlage muss ich das Lachen verbeissen. Diese Sprache... und wo habe ich nur schon eine so riesige Nase gesehen, die Physiognomie erinnert an ein Tier. Aber welches? Feiel teilt mir mit in leidvollem Tremolo, zugleich mit meiner Absage habe er wider Erwarten Nachricht erhalten, sein Charakterspieler wolle doch noch eine Saison bleiben. «Und da Sie in Basel... also hab ich ihm Vertrrag geschickt... » Die lange Nase hängt noch länger herab. Er lässt seine Augen, die in dicken Tränensäcken schwimmen, wehmütig auf mir ruhen, wie Abraham, bevor er Isaak opfert. «Schade. Sollten Liebhaber spielen - » Mit dem Mut der Verzweiflung, ergreife ich den Strohhalm. «Selbstverständlich spiele ich Liebhaber. Darf ich Ihnen etwas vorsprechen?» Wir steigen eine Stiege hinauf, ein Schalter klickt, ein Ungewisses Licht verbreitet sich auf der geräumigen Bühne, die man hier nicht erwartet. Sarastro taucht hinab in die Finsternis, und ich - zum Glück ist's mir noch gegenwärtig - werde zu Romeo an Julias Grab. Dann verwandle ich mich in Hamlet, und ich muss ihn nicht spielen, denn: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage... «Gutt, serr gutt», orgelt aus der Finsternis Sarastros Segen. Der Direktor lädt mich ein zum Mittagessen - meine erste warme Mahlzeit in diesem Land. Ganze zehn Reichsmark durfte ich mitnehmen, und von einem Vorschuss war in Basel keine Rede, trotz Vertrag und Proben. Geld scheint man einem hierzulande nicht unbedingt aufzudrängen. Auch Sarastro nicht. «Mehr kann nicht zahlen als monatlich zweihundert, wo ich doch Sie garr nicht brrauche - », sein Auge sieht mich begehrlich an, « - aber weil mirr gefallen, sagen wir brrutto zwohundertfünfundzwanzig Franken.» 16
Hätte er zwo Franken fünfundzwanzig gesagt, ich wäre auch einverstanden, es bedeutet: bleiben dürfen. Feiel füllt den Vertrag aus und überreicht ihn mit einer Grandezza, als wär's die Nobelpreisurkunde; und ich hätte nicht getauscht. «Unterschreiben.» Als ich aufblicke, begegne ich einem erhobenen Zeigefinger. «Bedeutet noch nichts, solange nicht Herr Doktor Veraguth», er spricht den Namen ehrfurchtsvoll aus, wie den eines regierenden Monarchen, «von Eidgenössische Frremdenpolizei.» (Das - rr - rollte als Trommelwirbel des Schicksals.) «Von ihm alles hängt ab. Am besten fahren nach Berrn selber, gehen zu ihm.» Plötzlich fällt mir ein, «meine Aufenthaltsbewilligung läuft heute ab.» Sarastros Kopf wackelt vorwurfsvoll. «Hätten sollen kommen früher - » Dann erhellt sich seine Miene. «Wissen was? Gehen aufs Rathaus zu Feusi. Ist unserr Frremdenpollizei und Abonnent von mein Ziater. Ich ihm telefoniere. Err kann Sie verlängern.» Aufs Rathaus also, durch verwinkelte Gässchen. Gedrungener, unregelmässiger, durch Jahrhunderte entstandener Bau. Ich steige eine steile Wendeltreppe hinauf. Nirgends ein Halt. Nicht um eine Säule, nein, als freischwebende Schnecke schlängelt sich das Treppenwunder in die Tiefe des Turms, schwindelerregend... wie meine ganze Existenz, denke ich. Feusi gleicht einer indischen Gottheit. Kahler, dicker Rundkopf, ohne Uebergang auf noch dickerem Hals, plattes Näschen zwischen brauenlosen Kugelaugen, die mir freundlich entgegenzwinkern. Er streckt mir die weiche Hand entgegen. «Hab schon gehört.» Er lässt sich den Pass geben, betrachtet kopfschüttelnd den mit «Protektorat Böhmen und Mähren» überklebten Einband. «Wird nicht lang halten.» Es ist zweideutig, und wir verstehen uns. Dann setzt er einen grossen Stempel hinein, verlängert den Aufenthalt um 10 Tage, bis 15. Juni 1939. «Von mir aus könnten Sie gleich hierbleiben, Sie haben ja einen Vertrag. Aber die in Bern - » Feusi zuckt abfällig die Achseln. Irgendwie scheint er auf meiner Seite. «Der Direktor hat Recht. Fahren Sie selbst hin. Schönen Gruss an Kollegen Veraguth.» Ich stehe auf. «Vielen Dank.» Gott Buddha scheint gewogen.
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Veraguth, was für ein Gegensatz zu Feusi. Scharfgeschnittene Züge, elegant. Er steht zur Begrüssung weder auf, noch reicht er die Hand, lässt mich stehen. Er betrachtet mich durchdringend. «Was machen Sie noch hier?» Seltsame Begrüssung. Ich schöpfe Atem. «Direktor Feiel schickt mich. Er hat mich engagiert - » Ich will Veraguth den Vertrag reichen, aber der beachtet es nicht. Statt dessen gibt er, mir ein Blatt aus der vor ihm liegenden Akte. «Kennen Sie das?» Auf dem Blatt steht: «Dem unterzeichneten Truntschka, Marek, 1910, Schauspieler in Prag, wird zwecks Vertragsverhandlungen in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung von längstens 7 (sieben) Tagen gewährt. Er verpflichtet sich hiermit, das Gebiet der Eidgenossenschaft vor Ablauf dieser Frist wieder zu verlassen.» «Ist das Ihre Unterschrift oder nicht?!» «Gewiss... Aber die Dame auf der Gesandtschaft in Prag sagte, wenn ich einen Vertrag erhalte, wird mir hier eine neue Aufenthaltsbewill... » «Soviel ich weiss, läuft die Frist heute ab. Zeigen Sie mir Ihren Pass.» Trotz meiner Angst fallt mir auf, dass Veraguth etwas umständlich danach greift, fast mühsam. Er blättert darin. Dann wird er blass, sagt sehr langsam, als müsse er sich beherrschen: «Sie haben gewagt, sich Ihren Aufenthalt verlängern zu lassen?!» Ich hebe hilflos die Schultern. «In Solothurn - » «Eine Unverschämtheit. Der Kanton ist dazu nicht befugt.» Der Beamte sieht mich an, als hätte er mich eines Verbrechens überführt. Meine Verwirrung wächst. «Verzeihung, aber... das versteh ich nicht. Bei uns ist Polizei Polizei.» Veraguth's Ton wird geschäftsmässig. «Der Vertrag bedeutet noch gar nichts. Erst wird geprüft, ob für die Vakanz kein Schweizer Künstler in Frage kommt. Wenn wider Erwarten kein Einwand bestehen sollte, geht die Sache an die Kantone, in denen das Städtebundtheater spielt. Erst wenn sämtliche Instanzen zustimmen, befassen wir uns damit. Das braucht alles Zeit. Sie erhalten daher den Bescheid nach Prag.» «Prag... ?» Meine Lippen werden trocken. «Aber wenn man aus der Hölle draussen ist, geht man doch nicht zurück... »
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«Nicht zurück... Dann sind Sie ein Emigrant!» In Veraguths Augen sehe ich mich als Ungeheuer. «Dann wollen wir Sie hier nicht haben.» Und plötzlich, wie ein Messer: «Sind Sie etwa Jude?!» Ich erstarre. Wo bin ich hingeraten?... Ist das die Schweiz?! Kein Mensch daheim würde die Frage in den Mund nehmen. Sie ist das Kainsmal der Henkersknechte. «Nein.» Sehr hart kam's und mit fremder Stimme. Die Sache scheint erledigt. Unter Veraguths Blick bin ich nur noch ein Gepäckstück. «Also, Sie reisen zurück nach Prag. Besser heute als morgen.» Gegenüber eine Parkbank. Ein Feuerball rast im Kopf, hin und her. Man hat mich zur Wahrheit erzogen. Als Kind wurde ich getauft, dann konfirmiert. Die Mutter wollte das. Mein Vater war konfessionslos, aus Überzeugung. Er glaubte an den Fortschritt der Vernunft. Religion war ihm ein überwundener Aberglaube, gar die jüdische, uraltes Relikt aus dem Zeitdunkel. Noch entschiedener hätte er nein gesagt... Aber war er nicht noch als Jude geboren? Und hat der Herr Beamte seine Frage nicht so gemeint? Im Zug hatte jemand Deutschland den «Grossen Kanton» genannt. Fühlt man sich hier schon so eins mit ihm, mit der Denkart seiner Herrscher, dass ich hier wider Willen zum Juden gemacht werde? Und soll ich in diesem Spiel auch noch zu Diensten sein? Der Einsatz kostet nur eine Kleinigkeit: mein Leben. Zurück - warum nicht? Ich seh keinen Unterschied. Aber einen Besuch könnte ich noch machen. Hier, meine einzige Empfehlung: Carl und Françoise Moor, Kunstmaler, Junkerngasse 51. «Endlisch... vous étes le bienvenu... wir 'aben Sie längst erwartet... nach allem, was wir 'aben ge'ört... Sie 'aben geredet im Radio de Prague gegen diesen monstre d'Hitler, bis zum letzte Moment! Quel miracle que vous étes échappé!» Der schwere Mann verhielt sich zu seiner graziösen Frau wie ein eichener Kleiderschrank zu einer Rokoko-Causeuse. Er sagte nur «Willkommen». «Das Wort höre ich hier zum erstenmal.» Und dann hielt ich nicht mehr an mich.
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Zwischen Moors Augenbrauenbüschen war ein tiefes Tal entstanden, die ausdrucksvolle Gesichtslandschaft verdüsterte sich, ein Gewitter zog auf. «So etwas gibt es nicht bei uns.» « - mais écoute, monsieur lügt doch nischt... » Moors Stimme grollte. «Glauben Sie mir, das ist nicht die Schweiz, das ist nur eine verknöcherte Bürokratie. Von so einer Lumperei hat unsereins keine Ahnung!» « - aber damit ist unserem Freund nischt ge'olfen, mon cher.» Seine Faust donnerte auf den Tisch. «Da donners Glünggi! Dert will i für Ornig sorge.» «Avec des compliments de tel genre? Oh, die Bärner Stieregrinde! Monsieur le bureau wird dich einwickeln in lauter Paragraphen. Gegen ihn il faut un avocat. Du musst ge'en mit Villiers.» «Du hast recht - wie immer, ma petite.» Moors Himmel begann sich aufzuhellen. «Das ist der Richtige, der weiss zu kutschieren mit den Bürohengsten. Seine Frau war am Theater, und zu allem ist sie Tschechin... Bis morgen müssen Sie abreisen? Da wei mer de no luege!» Er donnerte aus der Wohnung, die Treppen hinab. «Ein ‹rächte Bärner›», lachte Françoise, «que voulez vous. Ces Bernois, sie sind Imperialisten. Isch bin von Delémont, uns im Jura sie 'alten occupiert schon 'undert Jahre - maintenant je m'occupe de lui, das ist meine Rache.» Die kleine Frau liess mich meine Sorgen vergessen. «Von Ihnen liess' ich mich auch okkupieren.» «Oh lá lá, Sie werden schon übermütig. Ich muss Sie abkühlen avec un bon vin vaudois.» Während sie mir den weissen Waadtländer einschenkte, begann Francoise zu erzählen. Sie selbst habe zwar nie mit der Fremdenpolizei zu tun gehabt, aber von Doktor Veraguth sei oft die Rede in Künstlerkreisen. Sie interessierte sich näher für diesen eigenartigen Menschen, und das fiel ihr nicht schwer, denn er hatte eine Schwäche für junge Künstlerinnen. Leider war es immer einseitig, das gehörte zu seinem Unglück. Ältere Kollegen erzählten, Veraguth sei einmal ein ungewöhnlich schöner, geradezu ephebenhafter Jüngling gewesen, allgemein bewundert und verwöhnt, der nur eines wollte und auch konnte: tanzen. Tatsächlich, er war sehr begabt, und sein Lehrer erklärte eines Tages den 20
Eltern, er, der Provinzballettmeister, könne diesem exzeptionellen Schüler nichts mehr beibringen; es sei ihre beneidenswerte Pflicht, den Sohn in Paris oder Berlin zum Tänzer ausbilden zu lassen. Die ehrbare Familie Veraguth, seit Generationen in Bundesdiensten, hatte die Vorliebe des Sohnes bisher nur für eine jugendliche Marotte gehalten; sie war alles andere als entzückt. Das Für und das Wider prallten leidenschaftlich aufeinander; des Vaters Bastion «Erst das JusStudium» war unter dem Ansturm am Einstürzen. Da geschah es. Der angehende Nijinsky erwischte eine Erkältung, so schien's, Schnupfen, Halsweh, Fieber. Die Mutter traktierte ihn mit ihren bewährten Hausmittelchen, das Fieber verschwand, aber dafür kamen Gliederschmerzen und Schlimmeres: er war wie gelähmt. Man rief den Arzt, der sah böse drein und brachte ihn ins Spital. Dort fiel bald ein unheilvolles Wort: Poliomyelitis. Es folgte eine endlos scheinende schwere Zeit. Man behandelte ihn mit allem, was die Medizin damals einzusetzen wusste. Der junge Mann half dabei mit bewundernswerter Willenskraft, im Rollstuhl absolvierte er sein juristisches Studium, zur Promotion schritt er, mühsam zwar, doch nur noch am Stock. Aber die leichtfüssige Muse Terpsichore war durch die Kinderlähmung für immer aus seinem Leben verbannt. Oder nicht ganz? Auf einem Umweg holte er sie in sein Leben zurück. Getreu der Familientradition trat er in den Bundesdienst, bei der Eidgenössischen Polizei-Abteilung, liess sich der Fremdenpolizei zuteilen. Seine Intelligenz, sein Ehrgeiz brachten ihn bald voran. Er war zuständig für die Kantone Bern und Solothurn, den kantonalen Behörden übergeordnet. In diesen beiden Kantonen gab es Theater, die nicht auskommen konnten ohne ausländische Künstler. Und über die Aufenthalts-, die Arbeitsbewilligung entschied letztlich Doktor Veraguth. Nun war er in seinem Element! Keine Premiere im Berner Stadttheater ohne ihn. Jakob Feiels Solothurner Komödiantenschar war, Wilhelm Meister gleich, täglich unterwegs, zwar nicht «nach dem Land, wo die Zitronen blühen», dafür nach den Städten Biel, Langenthal, Burgdorf und sehr viel geringeren Örtlichkeiten. Auch hier registrierte man mit beträchtlicher Aufregung das Erscheinen des mächtigen Mannes. Bald galt Doktor Veraguth in der Bundesverwaltung als der Theaterfachmann, etablierte sich als eine Art eidgenössischer Übertheaterdirektor.
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«Jetzt versteh ich seine eigenartige Steifheit», - ich war nachdenklich geworden -, «aber dass seine Bitterkeit überwunden hätte... » «Das malheur ist, dass du nischt bist une charmante petite danseuse... les jolis garçons, die 'übschen junge 'erren ge'en ihm auf die Nerven, das ist eine Art Jalousie.» Man hörte Stimmen, gleich darauf kam, begleitet von einem distinguierten Herrn, ungestüm Carl Moor herein. «Wir haben was geleistet!» « - den Umständen angemessen», fügte der andere trocken hinzu. Es war Villiers. Aus den temperamentvollen Ausbrüchen Moors, denen Doktor Villiers öfter nüchternere Richtung wies, konnte man ungefähr folgendes heraushören. Doktor Veraguth hatte sie durchaus umgänglich empfangen, und Moor packte den Stier gleich bei den Hörnern. Warum er Herrn Truntschka, für dessen Integrität er bürge, trotz des Anstellungsvertrages aus der Schweiz hinausweise, anstatt ihn die Erledigung des Gesuches hier abwarten zu lassen. Für diese Zeit sei er Gast der Familie Moor. Veraguth lächelte liebenswürdig. «Kollege Villiers wird es bestätigen: alle ausländischen Theaterleute müssen nach Saisonschluss ihren Aufenthalt auf mindestens sechs Wochen unterbrechen. Bühnenkünstler zählen bei uns zur Kategorie der Saisonarbeiter. In einigen Kantonen bedürfen sie eines Hausiererpatentes.» Bevor Moor Ungebührliches aus dem üppigen Arsenal seines Wortschatzes schöpfen konnte, kam ihm Villiers zuvor: « - Dass wir nicht das allermusischste Volk sind, sollte gerade dir als Künstler nicht ganz unbekannt geblieben sein - » « - und vielleicht, verehrter Meister», fiel Veraguth ein, «sollten Sie es auch von einer anderen Seite sehen. Bis vor einigen Jahren galt die Schweiz als Theaterprovinz; wir mussten froh sein um jeden Künstler von Format. Seit Hitlers Machtantritt hat sich das geändert, immer mehr Künstler drängen zu uns. Seit den Pogromen vom letzten Jahr, der Besetzung Österreichs, Prags, ist das zur Lawine geworden. Dabei sind die Künstler nur ein winziger Teil der Emigrantenschwemme! Wie sollen wir uns ihrer erwehren?» «Sollten wir für sie nicht auch Verständnis aufbringen?»
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«Ich habe meine Vorschriften.» Er blätterte in einem Faszikel, reichte es Moor, wies mit dem Finger auf eine Stelle. «Bitte lesen Sie das Kreisschreiben der Polizeiabteilung.» Moor las widerwillig. «Bei tschechoslowakischen Staatsangehörigen ist nach Möglichkeit festzustellen, ob es sich um einen Emigranten handelt. Fast alle Emigranten sind Juden. Trifft das zu, so sind sie zurückzuweisen.» Moor warf die Akte auf den Schreibtisch. «Jude - also darum haben Sie diese empörende Frage gestellt?!» «Mit Emotionen dienen wir nicht der Sache», mahnte Villiers. Veraguth, dessen Hand leicht zitterte, öffnete seine Schublade, zeigte ihnen einen deutschen Pass. Neben dem Namen des Inhabers war ein Kreis gestempelt, darin ein fettes J. «Bei deutschen Pässen ist die Sache für uns klar. Bei ehemals tschechischen, jetzt Protektorats-Pässen, ist das besondere Kennzeichen noch nicht eingetragen. Aber auch dafür haben wir unsere Wegleitung. Die in Frage stehenden Personen sind anzuweisen, den Pass dem deutschen Passamt oder Konsulat zum Eintrag des Kennzeichens vorzulegen! Sie sehen», rechtfertigte sich Veraguth, «ich hätte mich mit der blossen Frage gar nicht begnügen dürfen.» Moor war nicht mehr zu halten. «Muss man als eidgenössischer Beamter teilhaben an der antisemitischen Menschenjagd, an der Schande der Deutschen?» «Kari!» Villiers war entsetzt über Moors undiplomatisches Gehaben. «Sie brauchen sehr starke Worte, Herr Moor.» Der Beamte blieb ruhig. «Aber stellen Sie sich vor, wir liessen den ganzen Emigrantenstrom ungehindert in unser kleines Land - eben dieser Antisemitismus, der bis jetzt nur in den Köpfen einer Minderheit spukt, er würde auch die vernünftigen Bürger ergreifen, es müsste zu einer Explosion führen! Wäre das im Interesse derer, die bei uns bis jetzt Zuflucht gefunden haben? Fragen Sie doch unsere alteingesessenen jüdischen Mitbürger!» «Ich bin sicher», versuchte Villiers die Situation zu retten, «dass Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten ganz gewiss ihr Bestes tun.» «Nicht für ungut.» Moor streckte seine Pranke aus. «In etwas sind wir sicher einig. Wenn wir unsere Äpfel im Keller anfaulen lassen, dann spürt man's im ganzen Haus. Wenn aber unsere Köpfe angesteckt werden von Fäulnis, dann stinkt mit uns das ganze Land.»
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Villiers erhob sich. «Wir wollen Sie nicht länger... was unseren Schützling betrifft - » Veraguth hob die Hand, als wollte er etwas wegwischen. «Es gilt die Frist, die ihm der Kanton Solothurn gesetzt hat.» «Danke. Gewiss werden Sie auch nicht darauf bestehen, dass er dann zurück nach Prag - » « - es interessiert mich nicht, wohin er geht.» Dr. Villiers gab mir genaue Instruktionen. Die Frist von acht Tagen, die mir in der Schweiz noch verbleibe, gelte es zu nützen. Vielleicht, wenn ich mich aufs äusserste einsetzte, mein Gesuch selbst von Instanz zu Instanz beförderte, könnte ich es bis zum schicksalhaften Termin zum positiven Abschluss bringen. Also mache ich mich, wie im Märchen, mit blossen Händen auf zum Kampf mit den Drachen. Sie nennen sich BIGA (Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit), Kanton Bern, Kanton Solothurn. Tatsächlich, das unmöglich Scheinende gelingt, in fünf Tagen habe ich ihnen die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung entwunden. Doch noch ist das letzte und furchtbarste Ungeheuer zu überwältigen. «Eidgenössische Fremdenpolizei» steht über dem Eingang zum Drachennest. Der Gewaltige empfangt mich ironisch. «Keine Angst. Ich fresse niemanden. Ich sitze im Käfig meiner Vorschriften.» Er besieht sich mein von Bewilligungen strotzendes Gesuch. «So, so. Doktor Villiers hat mich gebeten, Ihnen schon eine Rückreisebewilligung auszustellen. Aber das ist Sache unserer Auslandskonsulate. An welches denken Sie?» «An Milano.» «Sie dürfen nicht vor sechs Wochen zurück. Haben Sie für diese Zeit genügend Mittel? Und woher?» Doch ich lasse mich nicht überrumpeln. «Herr und Frau Moor sind mir behilflich.» Der Mann des Schicksals schweigt. Dann sagt er: «Kommen Sie morgen wieder.» Ja, wovon sollte ich die Monate bis Saisonbeginn leben? Von den inzwischen verbrauchten ‹legalen› 10 Mark? Ich hatte meine ganzen Ersparnisse in drei schönen Brillanten angelegt, für einen 24
schamlosen Preis. Ich war nicht der einzige, der in diesen Tagen in Prag Steine kaufte. Aber wie sie herausbringen? Gab's ein Versteck, das die Zöllner nicht längst durchschaut hätten? Stiefelabsätze, Kleidernähte, Parfumflaschen, Brot etc. - alles ‹déjà vu›! Aber nur Schauspieler haben von Berufs wegen Schminke im Gepäck. So ein schöner dicker Schminkstift der renommierten Firma Leichner sitzt in einer Folie. Wie, wenn man den Stift sorgfältig herauszöge, auseinanderschnitte, ein klein wenig aushöhlte, um ihn dann, sorgfältig zusammengefügt, wieder hineinzuschieben? So war es gelungen! Françoise fand jetzt, es wäre gut, die Steine hierzulande schätzen zu lassen. Schwer zu sagen, wen der vornehme Bijoutier in der Berner Marktgasse misstrauischer ansah, die drei Steine oder ihren Besitzer. «Lassen Sie das da, bis morgen abend», knurrte er, als wär' es ausgemachtes Diebsgut. «Für uns kommt's jedenfalls nicht in Frage.» Am nächsten Abend hatte ich meine Steine zurück, mitsamt schriftlicher Schätzung: Franken 500. -, 400. -, 300. -. Nicht einmal ein Drittel dessen, was sie gekostet hatten. Und nun erwies sich Françoise einmal mehr als hilfreicher Engel. «Wir 'aben un protecteur, ein Mäzen, und der 'at une femme, folle des bijoux, tu sais. Also, wir verkoofen ihr swei von unsere Bilder und dassu wir geben swei deine bijoux. Compris?» Ich verstand's zwar nicht ganz, aber ich gab Françoise meine beiden grössten Steine und tags darauf überreichte sie mir 900 Franken. Hinreissendes Gefühl, ein vielfacher Millionär zu sein! Am Morgen des Tages, an dem ich unwiderruflich die Schweiz zu verlassen habe, sitze ich im Korridor der Eidgenössischen Fremdenpolizei und warte, warte. Endlich erscheint die Sekretärin Dr. Veraguths und übergibt mir ein Schreiben an das Schweizerische Konsulat in Milano. Es ist italienisch, aber ich verstehe. Man möge signor Truntschka, sechs Wochen nach seiner im Reisepass vermerkten Ausreise, ein Rückreisevisum in die Schweiz ausstellen. Zwei Stunden später sitze ich im Speisewagen des LötschbergSimplon-Expresses. Mir ist, als hätte ich die ganze Welt gewonnen.
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Nicht so heiss gegessen
Lago Maggiore, Sommer 1939. Die Hotelpaläste von Stresa und Pallanza stehen leer. Wer flieht nicht die Tollwut, die das Land ergriffen hat? «Il nostro Duce e il suo amico germanico - sie wollen doch gar keinen Krieg», sagt man mir hier treuherzig. Wie sich die Menschen doch gerne betrügen lassen! Die Vergewaltigung meiner Heimat, die kaum vollendeten Überfälle des Duce auf Abes-sinien und Albanien alles ein holdes Flattern der Friedenstaube. Auch in der Schweiz begegnete man meiner Überzeugung, dass die Preisgabe auch des kleinsten Volkes schon der Beginn der eigenen Preisgabe sei, mit mitleidigen Blicken. Ich las darin, dass ich mein eigenes Missgeschick doch allzusehr überschätze. «Auch Hitlers Suppen werden nicht so heiss gegessen, wie er sie kocht», sagte man überlegen. Seltsam, dieser Mangel an Vorstellungskraft. Die Menschen anerkennen allein das als heiss, woran sie sich selbst verbrennen. Maccagno Inferiore - schon durch seinen Namen scheint es sich seiner Bedeutungslosigkeit bewusst zu sein, das winzige Örtchen. Aber von hier aus führt eine obskure Strasse in abenteuerlichen Windungen immer höher hinauf in die Bergwildnis, bis sie sich gegen die Schweizer Grenze hin in ein Gewirr von Ziegenpfaden auflöst. Nicht nur bocksbärtige Vierbeiner pflegen sich hier fortzubewegen, sondern noch zottigere Zweibeiner, die gewerbsmässig Zigaretten aus dem Land der Eidgenossen in das der Azzurri schmuggeln. Meine Pläne bewegen sich in der Gegenrichtung. Ich rechne mit dem Ausbruch des Krieges, vielleicht noch vor Ablauf der Wartefrist, die mir für die Rückkehr in die Schweiz gesetzt ist. Für diesen Fall bin ich entschlossen, mich selbst zurückzuschmuggeln. In Maccagnos bescheidenem Gasthof mit dem klangvollen Namen «Albergo della Torre Imperiale» bin ich der einzige Gast; die padrona selbst verwöhnt ihren kostbaren Pensionär. Und auch sonst könnte ich mir's wohl sein lassen. Rings, in den Sommersitzen der nobiltà und der wohlhabenden Mailänder cittadini, wimmelt es von jungen Damen. Ihre Langweile, ihr Hunger nach ein wenig Spass und Männlichkeit tönt vernehmlich aus den Gärten zum stahlblauen Himmel, mit spitzen 26
Schreien, sinnlosem Gekicher. Vor wem behüten sie denn ihre breithüftigen, wie überreife Pfirsiche in der Hitze zerfliessenden mammas? Ihre Verlobten, die erst noch zu erobernden amici, sie stecken alle in Uniform, hinreissend zwar, unwiderstehlich - aber leider sind sie unerreichbar, irgendwo in Afrika oder dem ebenso gottverdammten Albanien. Nur ein einziges männliches Wesen, das diesen Namen verdient, gibt es hier: diesen geheimnisvollen jungen Fremden, den man tagsüber kaum sieht, weil er immer allein in die Berge geht. Ein artista ceco soll's sein, nein, ein geologo tedesco, vielleicht ein angehender Priester, der das Keuschheitsgelübde abgelegt hat, oder gar ein Spion? Tatsächlich, eines Tages, auf all die Gerüchte hin, erscheinen zwei carabinieri im albergo, verhören mich, verlangen meine Papiere. Aber auf meinem Pass steht gross und ehrfurchtheischend «Deutsches Reich». Mit dem kleinen Vermerk «Protektorat Böhmen und Mähren» wissen sie nichts anzufangen. So salutieren sie höflich und verlassen würdevoll den Schauplatz. Dreimal die Woche, am Mittwoch, Samstag, Sonntag, ist abends im albergo ballo. Da kommen sie alle, die Annunziatas, Dirces, Lauras, Fortunatas, Giovannas, vielversprechender noch als ihre klangvollen Namen, und ich entgehe ihnen nicht. Ich tanze mit jeder - warum nicht nur mit mir, denken sie, schliessen die Augen, schmiegen sich an. Ich aber habe die Augen weit offen, so weit, dass die Gesichter alle, die keuschen wie die begehrlichen, in ein einziges vergehen: das des Mädchens, das ich zurückgelassen habe. Eine große Liebe, das war's eigentlich nicht gewesen; wir hatten schon begonnen, unsere eigenen Wege zu gehen. Aber eines war geblieben, eine unverbrüchliche Kameradschaft. Und zum Schluss war das Unauslöschliche geschehen: Pavlitschka war mir bei der Flucht behilflich gewesen, mir, dem antifaschistischen Radiosprecher, und dann wurde sie von der Gestapo festgenommen. Mein kleiner Clown mit dem grossen, ausdrucksvollen Kopf auf dem zierlichen Körper, wo war sie jetzt? Dort konnte sie niemanden zum Lachen bringen. Zum Abschied hatte sie gesagt: «Es wird lange gehen, vielleicht zu lange. Vergiss nicht zu leben.» Wo? Wie? - Die Zeit gedankenloser Küsse ist vorbei. Im Albergo ist ein Radioempfänger; immer häufiger zischt unheimlich ein den lateinischen Zungen unaussprechliches Wort durch den Äther: Danzig. 27
Gestern endlich der eingeschriebene Brief vom Schweizer Konsulat in Milano mit meinem Rückreisevisum. Und heute wird der debarcadero von Maccagno überflutet von den vereinten Tränen der belle ragazze, deren keine eifersüchtig ist, weil ihr «kleiner Mönch» niemandem und daher allen gehört hat. Die feuchten Tüchlein flattern, solange das Schiff sichtbar ist. In Ascona betrete ich den Boden der Schweiz. Ich lehne an einem Ahornstamm, unweit des Bergbauernhauses. Hier haben mich meine Maler-Freunde einquartiert. Man stapft steil hinauf vom Dorf unten am Brienzer See. Dort steht das Moorsche Sommerhaus. Auf den Kuppen und Gipfeln zucken Lichter auf, sie springen über von Berg zu Berg, lohen auf. Erste Nacht des August, Gedenktag erkämpfter Freiheit. In Prag hielten wir nichts von «Patriotismus», in den Kreisen der Künstler, der Intellektuellen; damit disqualifizierte man sich als «bourgeois». Es war nicht à la mode. Wir waren für Schwejk, den Schlaukopf, der durch gespielte Dummheit die Staatsmacht ad absurdum führt. Ein Rezept für das gemütliche alte Österreich, nicht gegen den brutalen Aggressor - da haben wir versagt. Aus dem Dorf hört man Lachen, Freudenrufe. Wo ich herkomme, gibt es das nicht mehr. Selbst die Tränen sind ausgeweint. Da ist nur noch der dumpfe Schmerz, Abstumpfung und, bei den meisten, der Selbsterhaltungstrieb: sich anpassen, um zu überleben. Aber was ist das noch für ein Leben? Vielleicht sollte ich diese Gedanken vertiefen, festhalten. Ich schrieb daran bis tief in die Nacht. Ob ich es Carl Moor zeige? Er will es einer Wochenzeitung senden, ich soll es aber nicht mit meinem Namen zeichnen... Heute eine Überraschung. Jan Ohnelands Bericht steht Wort für Wort auf der Titelseite der «Nation». Moor sagte so nebenbei, man habe «von oben» angefragt, welcher Ausländer den Beitrag geschrieben habe. Ob es der Redaktion nicht bekannt sei, dass Emigranten jegliche öffentliche Äusserung, insbesondere in der Presse, aufs strengste untersagt sei? Natürlich halte der Redaktor dicht, und er selbst, als Berner Dickschädel, werde mit den Schnüfflern noch lange fertig, aber ich müsse aufpassen. 28
«Aber ich hab die Wahrheit berichtet. Und - hier ist doch Pressefreiheit!» Moor begann dröhnend zu lachen. «Hast du noch nicht bemerkt, dass wir Schweizer alles anders aussprechen, als wir's schreiben, nicht nur in der Mundart? Statt (Pressefreiheit) sagen die Herren von der Zensur ‹Leisetreten›, statt ‹Wahrheit› sagen sie ‹Vorsicht› und ‹Anpassung›.» Was tun als ein Geduldeter, dessen Pflicht es ist, zu schweigen, sich stillzuhalten? In der Stube steht ein Tisch. Ich will nachsehen, ob er eine Schublade hat. Dort hineinzuschreiben - das können sie nicht verbieten. Der Tisch hat eine Lade. Ich beginne zu schreiben. Der Titel des Stücks: «Die Wahrheit siegt» - Masaryk, der Philosoph und Staatsgründer hat es in unser Wappen eingeschrieben. Auf der Weltbühne beweisen die Kolosse der Macht das Gegenteil. Da ist nichts von Wahrheit mehr. Die Lüge hat sich an ihr gemästet, sie verschlungen. Unten im Sommerhaus habe ich Moors Schwager kennengelernt, einen jungen Deutschen. Netter Kerl. Er weiss alle Witze über die NaziHäuptlinge und hat mir etwas voraus, der Herr Leutnant: er lehrt mich schiessen. Einige Tage später: andere schiessen sich hinein nach Polen. Oben im Bauernhaus ist kein Radio. Gernot kam es mir sagen. Bei Moors stehen wir fiebernd um den Empfänger. Mir ist's, als ob ich nach endloser, unerträglicher Schwüle durch den Ausbruch des Gewitters wieder Luft bekäme. Für Gernot ist's umgekehrt. Am Nachmittag brachte die Post für ihn einen eingeschriebenen Brief des Deutschen Konsulats: Es ist der Befehl, sofort zu seinem Regiment einzurücken. «Du bleibst bei uns», sagt Moor. « - c'est entendu, mon petit, n'est-ce pas?» Françoise berührt Gernots Hand. «Wenn sie den Krieg gewinnen... oder hierher kommen - erschiessen sie mich.» «Sie gewinnen den Krieg nicht.» Moor ist ganz ruhig. «Und wenn sie kommen, schiessen wir zuerst.»
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«Ich will nicht ehrlos sterben.» Es kommt so leise, dass man ihn kaum versteht. Gernot sieht mich an, als ob nur jemand Junges ihn begreifen könne. «Ich verstehe nicht viel von Ehre», sage ich, sehr langsam, «und ich bin fürs Leben. Aber wenn ich sterben müsste, dann für etwas, zu dem ich stehe.» Gernot ist abgereist.
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Drôle de guerre
Was die skrupellose Einverleibung des benachbarten Österreichs, die Vergewaltigung der Tschechen nicht vermocht hat, das bringt jetzt der Kanonendonner aus dem fernen Polen zuwege. Vogel Strauss zieht erschreckt seinen Kopf aus dem Sand der Neutralität hervor. Bietet sie noch Schutz gegen ein Raubtier, dessen Fresslust durch die Zahl der Opfer nur gesteigert wird? Der Schweizer Bundesrat verfügt die Generalmobilmachung. Auch Carl Moor, an die vierzig, packt seinen «Affen». «Jetzt geht's los. In ein paar Monaten bist du wieder in Prag.» Von Direktor Feiel kommt ein hektographierter Brief. Durch die Kriegswirren sei die Theatersaison in Frage gestellt, der vorgesehene Saisonbeginn am 15. September könne keinesfalls eingehalten werden. Ich schreibe zurück, ich erinnerte mich noch, wie während des letzten Krieges die Menschen in die Theater geströmt seien. Gegen Sorgen und Entbehrung bedarf es der Ablenkung, des geistigen Ausgleichs. Doch was bedeutet schon meine Meinung für einen verängstigten Theaterdirektor? Die Leute im Dorf beginnen sich nach mir umzudrehen, hinter mir herzutuscheln, es ist kaum auszuhalten. Eines morgens, früh, packe ich meinen Rucksack, breche auf in die Berge. Ich steige und steige, so schnell ich kann, als wolle ich das Belastende hinter mir lassen. Aber die Gedanken steigen mit. Ich sehe nicht das grossartige Bild, das der Aufstieg darbietet. Ich sehe nur die Menschen, die ich zu Hause zurückgelassen habe. Mein ganzer Antifaschismus, welch ein Hohn! Hatte irgend etwas irgendwem genützt? Ich war davongekommen, hierher. Aber der Bürgermeister, der mir zur Flucht verholfen hat, ist jetzt verhaftet. Was vom «Volksgericht» der Nazis zu erwarten ist - man weiss es. Die Bergkette gegenüber wird zu einem Schleier, durch den das Antlitz der Freundin Pavlitschka dringt. Ihre grossen, ausdrucksstarken Augen, noch immer lächeln sie, als wollten sie mir Mut zusprechen. Aber im KZ Ravensbrück gibt es kein Lachen. Aus Wolkenfetzen fügt sich eine Gestalt: der hüpfende Schritt ist unverkennbar, so komisch bewegt sich nur mein Bruder Leo fort. Bringt der unerschöpfliche Anekdotenerzähler einen neuen Witz? Sein 31
Gesicht grinst fahl, auf dem Herzen sitzt ein gelber Stern. Der Humor seiner Briefe schmeckt nach tausend Schikanen und Erniedrigungen. Er habe jetzt mit seiner Frau den Vorzug einer neuen Wohnung. Zwar nur ein Kellerloch, ohne Wasser, Kochgelegenheit und stillem Örtchen, aber dafür hätten sie das erhebende Gefühl, die eigene Wohnung mit der schönen Einrichtung einem arischen Befreier lassen zu dürfen. Auch käme ihrer Gesundheit die viele Bewegung zugute, seit die Strassenbahnen die Aufschrift trügen: «Hunden und Juden verboten.» Auch hätten sie alles überflüssige Fett abgeworfen, da die Fleischereien ihnen nur einmal die Woche, für eine Stunde zugänglich seien, wenn die braven Wauwaus die letzten Knochen bekommen hätten. Was waren wir nur für Jammerlappen, als die Nazis über uns kamen. Dass die Franzosen, die Engländer uns verrieten? Auch wir hatten eine Armee. Aber da plärrte man uns was vor von Selbstverleugnung, wir mussten uns «aufopfern für den Frieden der Welt»... Wo ist er nun, der Friede?! Ich reisse den Rucksack über die Schulter, wandere weiter, dem Gipfel zu. Dort bleibt mir der Atem weg. Bisher, im Rückblick, sah ich nur zutiefst den moosfarbenen See, eingefasst von den hellen Grüntönen der Wälder und Weiden, die sanfte Kammlinie darüber. Nun aber: ein Heerzug eisgepanzerter Titanen, erstarrend irgendwo im Unendlichen. Die Dimensionen sind zurechtgerückt. Die menschliche Unvernunft und Bosheit, selbst ihr jetzt entfesseltes Rasen, wird zum Treiben eines Ungeziefers, das den Erdball befallen hat und im Begriff ist, sich selbst zu vernichten. Der Abstieg ist mir leicht, ich bin ganz ruhig. Im Dorf am See empfangen mich finstere Gesichter, Ungläubigkeit, offene Mäuler, als sei ich ein Gespenst. Nur Françoise lacht mir entgegen: «Voilà, le retour de l'enfant prodigue... mais, wo warst du? Sie alle sind absolument sicher, du bist als böser espion verlocht in die prison, die finsterste Kerker!» Und noch etwas erwartet mich - Nachricht von Direktor Feiel, man wolle es doch wagen. Die Saison in Solothurn beginnt am 1. Oktober. Freie Zimmer gibt's genug; ein rechter Mann, der ist beim Militär. Die Hausfrauen machen freundliche Nasenlöcher, wenn ich in der Türe stehe. Aber zum Schluss, wenn man schon einig ist mit dem Preis und allem, da kommt's: «Ja, wo schaffet ihr?» 32
«Ich bin engagiert am Stadttheater», antworte ich, nicht ohne Stolz. Da schliessen sich die vorher so rundlichen Öffnungen, die Nasen werden spitz, und aus schmal gewordenen Lippen entringt sich ein: «Beim Theater? Ne nei, de wei mer ech nid.» Das wiederholte sich noch zweimal; ich schwankte zwischen Empörung und Verachtung. Doch es ist nicht Kulturfeindlichkeit. Seinen Lieblingen, speziell von der Operette, schickt man auf die Bühne, nebst Blumen, auch gewichtige Pakete mit Kuchen, Würsten, Schinken, Leckerbissen jeder Art. «Sie können's brauchen, die armen Teufel.» Doch sonst hält man uns lieber auf Distanz, hier gilt, wie Anno Tobak: «Die Komödianten kommen, hängt die Wäsche ab.» Zuletzt finde ich doch noch ein Zimmer, so klein, dass ich meine Garderobe im Korridor lassen muss. Aber es ist in einer efeuumrankten alten Villa, etwas erhöht über der Stadt. Das Haus regiert eine imponierende Dame, Witwe eines Bundesrichters, also nicht dem klein-, sondern dem grossbürgerlichen Stand zugehörig und daher erhaben über allzu billige Vorurteile. Die Rente scheint bescheiden zu sein, sonst hätte man wohl nicht ausgemietet. Mutter und Tochter besorgen sämtliche Hausarbeiten. Nur mit einem will ich mich nicht abfinden: dass die alte Dame ihren Söhnen täglich die Schuhe putzt. «Die Herren Studenten könnten sich doch dazu selbst herablassen», fährt es mir eines Tages heraus. Da hebt die Frau Bundesrichter zornesrot den Kopf: «Ich habe dreissig Jahre meinem Mann die Schuhe geputzt, und ich bin froh, keinen einzigen Tag versäumt zu haben.» Jedesmal durchdringt mich Freude, wenn ich von der Bergstrasse hinab auf die alte Stadt zugehe. Zeigefinger und Daumen in Glacehandschuhen einer vornehmen alten Dame, so winken mich Turm und Kuppel der weissen St. Ursenkirche herab, bis ich, über das stille, algendurchgrünte Wasser des Schanzengrabens, das wuchtige Tor durchschreitend, von der mütterlichen Umarmung der Mauern aufgenommen bin. Niemals, seltsam genug, haben diese Wälle einem Angriff standhalten müssen. Wie an einer verborgenen, unberührten Felsbucht ist das Meer der Weltgeschichte hier vorbeigerauscht, während es meine Stadt mit Orkangewalt überwältigt hat - durch Verrat, mit Terror, Mord. Wie oft belagert, verteidigt, vergewaltigt, wieder freigekämpft - Prag! Im33
mer wieder geht der Funke des Aufruhrs von dir aus, setzt alles in Brand, in den Hussitenkriegen, den Dreissigjährigen-, Siebenjährigen-, den beiden Weltkriegen. In der kurzen Zeit des Friedens vibrierst du dann vor Leben, Metropole der Kaiser und Könige, der Musik und Dichtung, des Leidens und der überschäumenden Freude. Kein Wunder, dass ich mich jetzt geborgen fühle unter den schützenden Flügeln einer schläfrig die Jahrhunderte ausbrütenden Glucke. Gestern Eröffnungspremiere «Was Ihr wollt»! Ich war sehr massig in der Rolle des «Orsino», um es milde zu sagen. Und ich kann es nicht ändern. Schon als blutjunger Bursche, immer habe ich versagt, wenn ich «Liebhaben» spielen musste. Mein Künstlertum habe ich erst in der Darstellung des Zwielichtigen, Gebrochenen, Dämonischen gefunden. Einer meiner Regisseure liess das Wort fallen, es sei meine Nachtseite, die ich ans Licht bringe. Ich hadere mit meinem Ungenügen, mag es sich auch in den provinziellen Rahmen fügen, denn eine andere Leistung hatte grossstädtischen Rang: Malvolio, der Haushofmeister. Dieser storchenbeinige Melancholiker, der da gravitätisch dem allgemeinen Spott entgegenstakte, widersprach der gewohnten Auffassung. Kein Domestike, der sich Herrentum anmasst, im Gegenteil: ein heimlicher, von niemandem erkannter Aristokrat wurde hier durch eine ordinäre Horde zutiefst entwürdigt. Mir blieb das allgemeine Gelächter in der Kehle stecken. Die Erklärung scheint einfach: der Darsteller, seltsam hierher verschlagen, ist selbst ein Aristokrat, aus einem berühmten Geschlecht. Als ich dem eleganten Fünfziger meine Bewunderung ausdrückte, antwortete er, wie entschuldigend, mit den Worten seiner Rolle: «Die Schwachheit des Alters, die den vernünftigen Mann herunterbringt, macht den Narren immer besser.» «Spielt nicht der Adel des Darstellers Ihrem Malvolio einen Streich, indem er seine Tragödie umkehrt, Herr von Hardenberg?» Der winkt ab: «Hardenberg genügt. Malvolio ist Haushofmeister. Eine plebejische Dienerschaft zu kultivieren, eine zu Hochmut neigende Herrschaft zu vermenschlichen, wäre seine Aufgabe. Malvolio aber muss seine Würde gegen einen Adel behaupten, der zur Plebs herabgekommen ist. Darin liegt die Aktualität des Stückes.» «Aktualität... ?»
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«Soeben wird auf der Deutschland benannten Bühne diese Tragikomödie nachgespielt, auf die plumpste Weise. Selbst Prinzen von Hohenzollern machen sich zu kriechenden Dienern des unappetitlichen Parvenüs, eines Gargantua, der unersättlich Land auf Land herabschlingt, bis er am Ende daran ersticken wird.» «Das wagt man im Augenblick kaum zu hoffen», entgegnete ich. «Aber gibt es nicht auch noch einen anderen Adel in Deutschland? Sie selbst, zum Beispiel - » « - der zum Komödianten herabgekommen ist.» Diese Selbstironie provozierte mich. «Es hat auch einen zum Dichter ‹herabgekommenen› Hardenberg gegeben. Aber für ihn, für Novalis, ist der Dichter ein in die Welt ergossenes Ich und eine ins Innere gezogene Welt. Ist das nicht zugleich die Definition des Schauspielers?» Hardenberg legte mir leicht die Hand auf die Schulter. «Ich freue mich über Ihren Berufsstolz wie über Ihre Vertrautheit mit Novalis. Aber wissen Sie, letztlich waren wir Hardenbergs immer Gescheiterte. Der Dichter endete im Wahnsinn, er rührte an Geheimnisse, die niemand ungestraft schaut... » «Und der große Staatsmann, der Gegner Napoleons?» «Was ist Große? Was er wirklich wünschte, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Der Sieg über den Tyrannen mündete im Triumph der Reaktion. Seine Reformen erstarben an der Selbstsucht des Adels. Seine Ideale waren Aufklärung, Emanzipation, Beamtenehre. Und was wurde daraus? Der preussische Obrigkeitsstaat... » «Darf man das nur dem deutschen Adel anlasten?» «Adel bedeutet die Verantwortung für das Ganze. Wenn wir darin versagt haben, dann sollten wir uns an den Wappenspruch eines alten Geschlechts halten: Servir et disparaître.» Hardenberg ist mir eine Bestätigung des Glaubens an ein «anderes Deutschland». Mag ich mich auch mit der Sache des vergewaltigten tschechischen Volkes solidarisch fühlen, ich bin in zwei Kulturen daheim. Was habe ich vom Vater doch an deutschem geistigem Erbe mitbekommen! Ihm war das Versinken des deutschen Volkes in die jetzige Geisteskrankheit etwas Unerträgliches. Aus diesem Strudel ragt ein Hardenberg wie eine Klippe, an die man sich hält, eine neue Hoffnung knüpft.
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Manchmal könnte man den Mut verlieren. Meine Schwester hat es mit ihrem Freund nach Paris verschlagen. Katja schreibt, man lasse die Emigranten je länger desto unwirscher fühlen, wie unwillkommen sie sind. Eines Tages, so sagt die Stimme des Volkes, müsse man sich doch mit diesen verflixten Boches arrangieren. Die Sowjets hätten klugerweise die Beute mit Hitler geteilt. Wie «Monsieur le Fuhrer» die Polen zerschmettert habe, das sei schon imponierend. Helfen könne man ihnen doch nicht mehr, den «pauvres chiens polonais». Worin besteht denn «la drôle de guerre» - dieser Witz von einem Krieg? Darin, dass man von Zeit zu Zeit eine Schweineherde in die Minenfelder der «Siegfriedlinie» jagt. Schade um die braven Schweine, heisst es, sie wären besser in der Pfanne. Voilà, la «Grande Nation». Das unheimliche Verstummen an den eingefrorenen Fronten den Winter hindurch - ist das nicht die Inkubationszeit neuer Schrecken?
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Anatomie eines Anachronismus
Es geht zu, als lebe man im tiefsten Biedermeier. Im Theater regiert uns Feiel, der Tapir. So nennt ihn seine respektlose Komödiantenbande. Natürlich, das ist das Tier mit dem endlosen Riecher! Ich hab es einmal im Museum gesehen, ausgestopft. Wir haben uns damals als Buben schiefgelacht, aber wir fanden das Viech sehr sympathisch, so gutmütig - und das ist er auch, dieser letzte Prinzipal. Jedes Monatsende steht das ganze Ensemble Schlange, Männlein und Weiblein, im Korridor vor seinem winzigen Büro. Der Direktor lässt es sich niemals nehmen, jedem würdevoll die Gage in die Hand zu drücken und ihm dabei Lob oder, selten genug, einen sanften Tadel zu erteilen. Dann hängt seine Nase traurig herab. «Haben gestern wieder mal extemporiert... doch, doch... haben auf Bühne alle gelacht, an sehr ernster Stelle. Merken: nicht Schauspieler Publikum soll lachen!» Wie der Vater seinen mehr oder weniger geratenen Kindern überreicht er jedem den ihm zustehenden Obolus, abgezählt von seinem ihm so ungleichen Trabanten Washington... Ja, nicht zu glauben: wie der große Freiheitskämpfer, Feldherr und Präsident nennt sich das fahrige Männchen mit dem steilaufstehenden weissen Kruselhaar um den Rundkopf und den stets erstaunten hellblauen Augen. Seit Menschengedenken streitet man im Ensemble über seinen ursprünglichen Namen. Wie auch immer, Washington ist dem Direktor unentbehrlich. Wer es wagt, seine Höhle mit der Aufschrift «Dramaturgie» zu betreten, dem droht zunächst, im Halbdunkel von einem Gebirge seit Jahrzehnten nicht mehr abgestaubter, geschweige denn aufgeräumter Akten, Rollen, Faszikel, Rechnungen, Plakate, Programmhefte, spinnwebverklebter Undefinierbarkeiten verschüttet zu werden. Doch Washington beherrscht sein papiernes Schlacht- und Trümmerfeld wahrhaft als Feldherr. Ununterbrochen schrillt das Telefon. Autobusgaragisten, Druckereien, Theaterkommissionen, Gasthof- und Saalbesitzer aus Biel, Burgdorf, Langenthal, Ölten, Grenchen, Zug, Balsthal, Wangen, Buren läuten an; niemand als er wusste mit Sicherheit, wann man wo, in welcher Metropole, zu spielen habe. Einem solchen Generalstabschef darf man nicht mit kleinlichen Reklamationen kommen, etwa, auf dem Plakat solle es nicht «Gebrüder», sondern nur «Brüder Karamasow» 37
heissen. «Wieso?» guckt Washington erstaunt, «die Herrenkonfektion heisst doch auch ‹Gebrüder Karfiol›.» Die wahre Herrscherin aber im Hause, das ist des Direktors Schwester, die üppige Witwe Beuschel. Ja, schon äusserlich ist sie eine imposant wuchernde Erscheinung. «Mein Gatte selig is sich g'si a berihmter Kunstmaler in die keenigliche Residenzstadt Minchen!» Während ihr Bruder, als altgedienter Opernsänger, lediglich im deutschen Satzbau seine Schwäche hat, aber dafür in Basstiefen vorbildlich vokalisiert, produziert Frau Beuschel ein abenteuerliches Eintopf-Mischmach von bayerisch und jiddisch, in dem als besondere Delikatesse etliche schwyzerdütsche Brocken schwimmen. Aber niemand lässt sich vor ihr etwas anmerken, denn sie ist die allmächtige Regentin der Schneiderei und des umfangreichen Kostüm-Magazins, dieses in langen Jahren angehäuften Schatzes, an dessen Türe in grossen Buchstaben prangt: FONDUS. Nie wagt es jemand, sie daraufhinzuweisen, dass dies eine Walliser Käsespeise sei. Mit wahrhaft matriarchalischer Autorität hüllt sie ihre Lieblinge in den überschwenglichen Prunk ihrer «Kastjume». (Nur die englische Aussprache wird der Erlesenheit ihrer Kostüme gerecht.) Wer aber zu kritisch ist oder gar aufbegehrt, wird um so karger abgefertigt. Der etwas vorlaute Anfänger, der in «Maria Stuart» den Mortimer spielt, erhält von ihr ein in ungezählten Wäschen eingegangenes allzuenges Beintricot. Sein Protest bewirkt bloss ein: «Willst mit deine Zindhelzli schlottern in am Tricot, wo wirft Falten?» Auf der Generalprobe - bis dahin werden die «Kastjume» geschont passiert das Unausbleibliche: beim vorgeschriebenen Kniefall platzt Mortimers Tricot, klaffend an der diskretesten männlichen Stelle. Gewaltiges Hallo, Panik, Kichern der Damen. Mortimer stürzt ausser sich an die Rampe: «Da, schauen Sie nur her, Frau Beuschel!!» Pause. Dann tönt aus dem dunkeln Zuschauerraum ungerührt ihr Bass: «No, zeig her, Buebli - ist das was Unnatirliches?» Frau Beuschels wahre Liebe ist die Operette. Wie könnte es anders sein, angesichts der vollen Häuser, die sich das Schauspiel nicht träumen lässt. In den Aufführungen wird saubere, präzise Arbeit geleistet. Kein Konkurrenzneid, keine Intrigen. Da hat jeder sein genaues, unbestritte38
nes Fach: die «Sängerin», der Tenor, der Komiker, die «komische Alte», Soubrette und Buffo. Der Buffo, Toni Frühling, ist zugleich der Regisseur. Er kommt von einer Grossstadtbühne, hat sich Arbeitsdisziplin und Ehrgeiz bewahrt. Was sich Frühling leider nicht bewahrt hat, ist ein wenig Stimme, und die früher angeblich so blendende Figur hat Fett angesetzt. Aber als Choreograph hat er noch Format, versteht er es meisterhaft, in Tanzduetten seinen kurz gewordenen Atem nicht zu strapazieren, die eigene bescheidene Beweglichkeit durch die um so turbulentere Rasanz der ihn umwirbelnden kleinen Soubrette zu tarnen, bis das Publikum hingerissen beide bejubelt. Aber dieser Erfolg genügt seinem Ehrgeiz nicht. Zur Selbstbestätigung bedarf er auch der Aura des Verführers. Mit der Unersättlichkeit eines Don Giovanni bemächtigt er sich der weiblichen Wesen; je mehr die Fama seiner Unwiderstehlichkeit wächst, um so widerstandsloser fällt ihm eine Schauspielerin, Sängerin, Balletteuse, Choristin nach der anderen zu, sogar die Kassiererin beglückt er. Das Erstaunlichste: dieser Don Juan ist kein schöner Mann, nicht einmal das, was man anziehend nennt. Mochte vielleicht einmal in seiner Jugend das Mongolische seiner Züge interessant gewesen sein, heute sind sie aufgeschwemmt, die aufgeworfenen Lippen des grossen nach Rauch und Bier schmeckenden Mundes verlocken nicht zu Küssen. Aber sie verfallen ihm alle. Alle? Noch lange werden flinke Zungen hinter der Bühne, in den Garderoben, Nähstuben zu tuscheln haben, wird sich Kopfschütteln, Empörung, schadenfrohes Kichern nicht erschöpfen, werden die verlassenen Geliebten ob seiner Schmach triumphieren. Zu allen auswärtigen Gastspielen, Abstecher genannt, fährt der Regisseur voraus, um technisch alles einzurichten - gewöhnlich im Privatwagen des Prinzipals, chauffiert von der fahrkundigen «Frau Direktor». Doch diesmal ist sie krank und Don Giovanni - «früher fuhr ich meinen eigenen Roadster» - setzt sich leichthin ans Volant. Frau Beuschel vertraut seinen legendären Fahrkünsten. «Wann ich überstanden hab' den Weltkrieg und die Kosaken, mei, bringt mich der Frihling a net um.» Es bleibt ein Geheimnis, ob der Frauenverzehrer das missverstand oder seinen Aufführungen für immer die allerschönsten «Kastjume» zu sichern dachte oder, schliesslich, sein männliches Begehren am Unmöglichen erproben wollte - kurz: zwischen Solothurn und Langenthal 39
bog er in ein Waldsträsschen ein, und noch im Fahren umfasste er die üppige Witwe Beuschel, um sie zärtlich an sich zu ziehen. Die Folgen waren fürchterlich. Gleich einer antiken Rachegöttin erhob die Ehrwürdige ihren mächtigen Arm und mit den klassischen Worten: «Du freche Chaib, moanst leicht, ich bin eine von dini Hürli?» versetzte sie ihm eine gewaltige Watschen. Ach, hätte nur er sein lästerliches Unterfangen gebüsst. Aber unter der Wucht der Ohrfeige fuhr er des Prinzipals Gefährt mit solchem Schwung in den Strassengraben, dass es sich überschlug. Unvorstellbarer Anblick: kopfüber, doch ungefährdet, entstieg die beleidigte Unschuld dem havarierten Vehikel und gelangte, nur sie weiss wie, nach Langenthal. Dort alarmierte sie die Feuerwehr, um den verwelkten Frühling samt Wagen wieder aufzurichten. Das Auto hatte wunderbarerweise kaum gelitten. Aber des Unwiderstehlichen Nimbus erholte sich lange nicht davon, dass er die Aufführung erst im letzten Augenblick erreicht hatte - mittels der Feuerwehr. Diese Abstecher! Feiel unterhält ja zwei vollständige Ensembles, das musikalische und das «unmusikalische», die an verschiedenen Orten gleichzeitig beschäftigt werden, «damit mein Ziater rentiert». Bis halb zwei wird geprobt, dann, nach aufgewärmtem Essen und zwei kurzen Stunden Zeit zum Lernen neuer Rollen, besteigt man an vier bis fünf Tagen der Woche schon nachmittags den Theaterautobus. Mit behördlicher Spezialbewilligung rollt der durch Holzgas betriebene Thespiskarren - Benzin ist dem Militär vorbehalten - dank Washingtons strategischem Genie in die hintersten Dörfer. Darin kennt der Prinzipal weder Hemmung noch Mitleid, wenn es gilt, selbst in einem Fliegendreck von Nest ein paar Fränkli zusammenzuscharren. Wir bestehen das mit Humor. Doch an einem Ort droht er mir abhanden zu kommen: in Grenchen. Was Langenthal für den Käse, ist Grenchen für die Uhren. Noch zeugen die mit Türmchen und Erkern prunkenden Villen der Fabrikbesitzer von einer einst blühenden Industrie. Doch nach Jahren der Krise und jetzt, mitten im Krieg, liegen die langgestreckten Fabrikhallen dunkel und apathisch da. In diesem düsteren Orte das Allerdüsterste ist die Kneipe, die sich rätselhafterweise «Zum Bad» nennt. Darum verleiht Hardenberg der deplorablen Stätte den tönenden Namen «Granges les Bains», eine Ironie, die um so beis40
sender ist, als die Beiz, anstelle des verheissenen Bades nur ein überdimensioniertes Pissoir besitzt. Das entspricht dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, bei einem so beträchtlichen Bierkonsum. Unmittelbar vor dieser Lokalität, deren scharfe odeurs alles unwiderstehlich durchdringen, haben sich die Künstler und Künstlerinnen umzukleiden, zu schminken, während die rülpsenden Bierhelden aus der Kneipe unaufhaltsam dem Ort ihrer Erleichterung zustreben. Ich bemühe mich, den aufkommenden Brechreiz zu überwinden, denn endlich einmal lohnt es sich aufzutreten. Hardenberg hat mir in Lessings «Emilia Galotti» die Rolle des Marinelli anvertraut. Ich erspüre darin die bestürzende Aktualität: den Handlanger der Macht, der dem Gewalthaber nicht nur skrupellos dient, sondern ihn mit dämonischer Beflissenheit zum Verbrechen führt. Doch als ich hier die Bühne betrete, verliere ich die Fassung. Wieviele Generationen sind ins Grab gesunken, seitdem sie in diesen schräg hintereinander gestellten, barocken Kulissen auftraten? Die wackligen Dekorationsstücke sind zerschlissen zu undefinierbarer Schäbigkeit. Hier also, als wisse er gar nichts von der schönen Emilia, muss der Kuppler Marinelli heuchlerisch fragen: «Eine Tochter aus diesem... » - aber da umfasst mein Blick die unsagbare Jämmerlichkeit des Schauplatzes, und ich komme nicht weiter. Ich schöpfe Atem, endlich bringe ich's heraus « ... diesem... Hause?!» Die Tränen rinnen mir herab, ich lache, um nicht zu heulen. Der Wirt, in Hemdsärmeln und über den Bierbauch gespannten Hosenträgern, steht am Vorhang. Nur er bringt es fertig, das Museumsstück noch auf- und abzurollen. «Verdammte Komödiantenbande», murmelt er, «sind meine Bühne nicht wert.» Der Vorhang ist polternd gelandet. Hardenberg sieht mich schweigend an, in den Augen funkelnde Ironie. Ich will mich verteidigen. «Früher warfen mir ältere Kollegen vor, mir fehle die harte Schule der Schmiere. Jetzt hol' ich sie nach.» Aber Hardenberg sagt: «Schmiere ist nicht aussen, sie ist innen.»
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Sie haben die Schweiz zu verlassen
Vielleicht ahnt Hardenberg etwas von meiner Konfliktsituation. Ich werde zerrissen von der Diskrepanz zwischen meiner wenig sinnvoll scheinenden Existenz in diesem theatralischen Froschteich und der ungeheueren Realität der Weltbühne. Hier vollzieht sich Schritt für Schritt - eben wieder durch den Überfall der Sowjetunion auf das kleine Finnland - die Exposition zu einem alles zernichtenden Drama. «Das Wesen der Diktatur, entsprungen einem subjektivistischen Idealismus, sich steigernd zu titanischer Gottähnlichkeit, ist dem Menschen unerträglich. Am Ende vergewaltigt er entweder sich selbst oder den Nächsten: Selbstmord oder Mord sind die Konsequenzen dieser Gewaltsamkeit.» Das steht in der «National-Zeitung» Basel. Dort berichtete ein Anonymus über den vergeblichen Kampf der deutschen Besatzungsmacht gegen das ungreifbare geistige Vermächtnis des tschechischen Staatsgründers und Philosophen T. G. Masaryk. Seltsam, wieviel neuerdings über die wahren Verhältnisse im «Protektorat Böhmen und Mähren» erscheint. Exakte Nachrichten, deren Authentizität durch fadenscheinige Dementis der Nazi-Propaganda nicht erschüttert werden. Wo ist die Quelle? Ein Mansardenfenster in der Solothurner Bergstrasse ist oft bis in die Morgenstunden erleuchtet. Am 28. Oktober, dem Gründungstag eines nicht mehr existierenden Staates, war ich nach Genf gefahren. Der Schweizer Bundesrat hat das «Protektorat» anerkannt, die gewaltsame Einverleibung der Tschechoslowakei in den Hitlerstaat. Nur hier in Genf ist ihr diplomatischer Vertreter geduldet, er ist akkreditiert beim de jure noch bestehenden Völkerbund. Dieser Doktor Kopecký hat mich eingeladen, an der abendlichen Feierstunde tschechische Dichtungen zu rezitieren und vorher zu ihm «auf einen gemütlichen Kaffee» zu kommen. Gemütlich ist der ganze joviale Mann mit den rosigen Pausbacken. Seine bauernschlaue gute Laune schien unerschütterlich, auch als ich mich besorgt zeigte, dass mein «Protektorats»-Pass in den nächsten Tagen ablaufen würde. Eine Verlängerung war ausschliesslich beim deutschen Generalkonsulat zu beantragen, und mit dem wollte ich nichts zu tun haben. 42
«Und mit mir wollen's was zu tun haben?» fragte Kopecký verschmitzt. « - Ja? No, haben's das Papierl mit?... Her damit.» Er blätterte in dem Pass. «Keine Sache. Klein's Stemperl, kleine Unterschrift. Hotovo.» «Sie können den Pass verlängern?» «Wozu bin ich Gesandter? Wer mer gleich haben.» Die geöffnete Türe führte in die Küche, der herrlichster Kaffeduft entströmte. «Milostivá, Gnädigste», apostrophierte Kopecký die Hausfrau, «wollen liebenswürdigst geheiligte Handlung Momenterl unterbrechen.» Er reichte ihr meinen Pass. «Wie üblich.» Ohne zu zögern nahm die gut gepolsterte Dame meinen Pass und hielt ihn über den dampfenden Kaffeetopf. Die aufgeklebte Etikette «Protektorat Böhmen und Mähren» löste sich, darunter kam die ursprüngliche Aufschrift wieder zutage: «Republika „eskoslovenská» «Tschechoslowakische Republik.» «Aber ist der Pass jetzt noch gültig?!» «Kommt darauf an, wann, wo, bei wem. Für die Eidgenossen sein'S von jetzt ab schriftenlos. Für unsereinen beginnen'S jetzt erst zu existieren: als Ehrenmann, als Kamerad. Wenn man auf zwei Rössern zugleich reitet, landet man meistens auf dem Mist... Also?» «Mist ist nicht mein bevorzugtes Parfüm», sagte ich. Kopecký klopfte mir auf die Schulter. «Dafür kriegst' ein Kaffitschko mit echt böhmischen Kollatschen.» Von jetzt an duzte er mich. Während der «Jause» sagte der Gesandte vergnügt kauend: «Weisst', dass ich vieles nicht gewusst hab', was in Deinem letzten Geschreibsel steht über Masaryk?» Ich bekam eine leichte Gänsehaut. «Woher wissen Sie, dass ich - » «Mein Lieber, wenn ausgerechnet in der ‹Solothurner Zeitung› jede Weile irgend etwas über unsere Sache steht, und das erst, seit zufällig du dort am Theater bist - bin ich ein Trottel?» Ich biss beruhigt in die Kollatsche, auf der ein Häuferl heimatliches Powidl thronte. Kopecký legte den Kopf schräg und sah mich schlau an. «Meinst' nicht, dass es heutzutag's noch bissl was Aktuelleres gab für die Zeitungen?» «Ich bin halt schon ein halbes Jahr fort von zuhaus' - » «Schweizer Redaktoren wollen exakte, möglichst ofenfrische Neuigkeiten. Die kannst' haben, von mir. Und du wirst sie aufbereiten in deinem verdammt guten, eleganten Deutsch. Einverstanden?» 43
«Ich bin froh, wenn ich nützlich - » «Larifari, keine Phrasen. Aber eins merk dir.» Plötzlich sah der Gesandte gar nicht mehr gemütlich aus. «Hält's Maul. Immer. Auch im Bettchen. Je herziger das Haserl, desto besser pass' auf. Sonst - » Ich weiss, was ich riskiere. Aufforderung, auf der kantonalen Fremdenpolizei vorzusprechen, unter Vorweisung meines Ausländer-Ausweises. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Gott Buddha bot mir Platz an. «Aus Bern erfahren wir, dass Sie der Aufforderung nicht nachgekommen sind, Ihren Reisepass auf dem deutschen Konsulat verlängern zu lassen. Somit besitzen Sie keine gültigen Papiere - » «Verzeihen Sie. Die Gültigkeit meines Passes ist vom tschechoslowakischen Gesandten in Genf verlängert worden.» Ich zog den Pass hervor. Feusis Blick streifte ihn kaum. «Sie wissen doch, dass nicht ist, was nicht sein darf. Bitte Ihren Ausländer-Ausweis.» Das Papier in meiner Hand wog schwer. «Sie müssen ihn mir abnehmen?» « - umtauschen, die Farbe wechseln. C'est tout.» Statt des gelben hielt ich ein rotes Heftchen in der Hand. Als ich es aufschlug, stand auf Seite eins nicht mehr «Aufenthaltsbewilligung», sondern «Toleranzbewilligung». Und auf Seite zwei stand noch etwas. «Sie haben die Schweiz bis 31. März 1940 zu verlassen.» «Keine Panik», sagte Feusi. «Das steht in jedem Ausweis für Emigranten. Als solcher sind Sie laut Beschluss des Bundesrates verpflichtet, jede Möglichkeit zur Auswanderung wahrzunehmen und unverzüglich zu benutzen.» Ich schluckte. «Wann ist man denn Emigrant?» Feusi nahm eine Verlautbarung zur Hand. «Als Emigranten sind alle Ausländer zu betrachten, die unter dem Druck der politischen oder wirtschaftlichen Ereignisse ihren ausländischen Wohnsitz verlassen haben oder verlassen müssen und dorthin nicht mehr zurückkehren wollen oder können.» «Wenn ich also nicht zurückkehre bis zum 31. März... » «Wenn nichts gegen Sie vorliegt, nehme ich an, wird man in Bern vielleicht mit sich reden lassen.» 44
«Also ein Damokles-Schwert.» «Ich hab' schon vergessen, wie war das mit dem Damokles?» «Der Tyrann Dionys in Syrakus hielt sich den Damokles als Ratgeber und Schmeichler. Um ihn sich gefügig zu machen, hing über Damokles' Platz stets an einem Rosshaar ein scharfgeschliffenes Schwert.» «Ich glaube», Buddhas wimpernlose Lider zwinkerten, «das Schwert hängt über uns allen.»
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Die Schlupfwespe
Der Winter ist hereingebrochen, der Umzug nach Biel steht vor der Tür. Wir kennen es längst, man fahrt zwei bis dreimal die Woche hinüber, in die «Burg». Der richtige Name für dieses theatralische Unikum. Im Herzen der Altstadt, in das zyklopische Gemäuer des uralten Bergfrieds ist das Theaterchen eingebaut. Wir erreichen über Wehrgraben und Zugbrücke unsere zellengleichen Garderoben, darüber ist das Polizeigefängnis. Das Rülpsen, Grölen und Toben der aufgelesenen Säufer liefert den Kontrapunkt zu Spiel und Gesang auf der schrägen Bühne. Wenn die kleinen Tänzerinnen gar zu schwungvoll pirouettieren, sind sie in Gefahr, in die Miniaturausgabe von Orchestergraben zu stürzen. Er ist zu eng, selbst für Feiels Ansprüche. Denn des Prinzipals musikalische Gewissenhaftigkeit gebietet ihm, sein Zehnmann-Orchester für Opernaufführungen zur «Grossen Besetzung» zu erweitern. Stets von neuem ist er überwältigt vom Klangrausch seiner achtzehn Philharmoniker in diesem rotsamtenen Spucknapf von Auditorium, eingefügt in die gotischen Gewölbe. Welch' eine Resonanz! Der junge Tenor erweist sich hier als neuer Caruso. Auch das Publikum, im winzigen Parterre, Balkon, der Galerie, sardellenartig aufeinandergepresst, quillt über von südländischem Temperament, vor Begeisterung. Ja, man fühlt sich hier, der Geographie zum Trotz, bloss dreissig Kilometer westlich von Solothurn, in südlicher Atmosphäre. Wenn dort das Städtchen sich fröstelnd bis über die Dächer in seinen weissen Pelz kuschelt, ist hier vom milden Hauch des Sees der Schnee längst weggetaut. Spritzig wie der Seewein sind die Menschen, genau gesagt, ein Teil von ihnen. Denn das tägliche Brot des bedächtigen, urchigen Bärndütsch wird durchsäuert von einer Prise Französisch. Seine gegen das Satzende zierlich steigenden Kadenzen durchzwitschern Strassen, Läden und Bistros. Die «Welschen» geben der Stadt den Charakter. Sie sind der moussierende Geist im schweren alemannischen Blut. Viele finden, hier lässt sich's leichter leben - wenn nur der grausame Umzug nicht wäre! Alle vier Monate, Jahr für Jahr, hat das Personal umzuziehen, aus einer Stadt in die andere, ob ledig, ob verheiratet, ob mit Frau, Kindern und alter Mutter, hin und her, her und hin. Kaum hat man eine Unterkunft, gilt's schon, das nächste möblierte Zimmer zu 46
suchen. Auf eine Wohnung hat ein Ausländer ohne «Niederlassung» kein Anrecht. Es ist gleichgültig, ob man was gefunden hat oder auch nicht. Am letzten Tag des Jahres ist vormittags Generalprobe, abends Silvesterpremiere, dazwischen hat man mit Sack und Pack, Kind und Kegel umzuziehen. Am Neujahrstag, da gibt's nichts zu rütteln, faucht des Tapirs Holzgas-Express schon ab vom neuen Domizil. Ich frage nach dem Sinn des schikanösen Brauchs. Der Prinzipal erwidert streng: «Beide Städte uns geben Subwenzjon. Also auch beide wollen kassieren von uns Steuern. Verstanden?» «Das könnte man doch auch anders regeln. Mutet man das sonst jemandem zu? Manchmal frage ich mich, ob man hier Schauspieler noch zu den Menschen zählt.» Da krächzt Frau Beuschel dazwischen. «Zu die Zigeiner zählt man uns. Sind das vielleicht kane Menschen?» Ich lache nicht mit den anderen. Frau Beuschels närrische Weisheit rückt meine Perspektive zurecht. Was bedeuten kleine Schikanen und Demütigungen im Vergleich dazu, dass ich hier frei atmen, sogar arbeiten darf. Madame Valérie Grandcoeur, Mitglied der Theaterkommission, lädt mich öfter zum Essen ein. Wann fände man in ihrer geschmackvollen Wohnung in der Nidaugasse keine Künstler oder Flüchtlinge vor! Sie gibt uns ihr ganzes Herz. Bei ihr finden wir Zuflucht, ein Zuhause. Sie besitzt den sprichwörtlichen «Bärner Stieregrind», einen jener harten Schädel, von denen behauptet wird, man habe früher mit ihnen Festungsmauern eingerannt. In ganz Biel ist die widerborstige Primarlehrerin berüchtigt wegen ihres respektlosen Schnabels, ihres Witzes und ihrer Unerschrockenheit. Ihr Gatte, der welsche Gymnasiallehrer, starb einen jähen Herztod. Ich schwelge in seiner Bibliothek. Hier trete ich ein in die Welt Prousts, begegne der clarté französischen Denkens von Montaigne über Pascal bis Bergson und Sartre. Valérie ist erst vierzig, hat ein vulkanisches Temperament. Der Einsatz für öffentliche Angelegenheiten ist Frauen hierzulande noch verwehrt; die Hingabe an ihre Schüler und Schülerinnen ist ihr nicht genug. Erst das Drama der Weltgeschichte gibt ihr die Chance, sich ganz zu engagieren: für die Verfolgten, besonders die Künstler.
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In mir findet sie beides, den Künstler und den Flüchtling. So wird mir eine Freundschaft zuteil, die mich fast überwältigt. Nicht jedermann sieht das gern. Die «Hausmeisterin» ist gefürchteter noch als in Wien und Prag. Hier ist es die über Sein oder Nichtsein entscheidende Besitzerin. Sie giftelt hinter Valéries Besuchern her: «S' hört nümmen uf mit dam Gschleipf. Frisst üs alles ewägg, das Pack!» Ich halte an mich, aber sage es Valérie. Die lacht. «Jede Münze hat zwei Seiten. Bei uns ist auf der einen die schöne Helvetia, umstrahlt von den Sternen ihrer humanitären Ideale, auf der anderen das harte Fränkli. Für die da unten in ihrem Laden, zählt nur das ganz allein.» «Du sparst dir für uns das Essen vom Mund. Warum?» Sie lächelt. «Ich denke, du liest jetzt Pascal? ‹Le coeur a des raisons que la raison ne connaît pas.›» Valérie ist keineswegs nur für die Ausländer da. Sie präsidiert auch die Ortsgruppe der Organisation «Für unsere Soldaten», und mancher Schweizer «Dätel» - drüben heisst das «Landser» - schläft und futtert bei ihr seinen Sonntagsurlaub durch. Nur ein einzigesmal hat sie einen vor die Tür gesetzt, um so erstaunlicher als es ein Schauspieler war. Xaver Strub gehört zu den Tausenden von Schweizersoldaten, die in diesen Wochen wieder heimgeschickt worden sind. Es bleiben nur einige Détachements des Grenzschutzes. Was wäre denn noch zu schützen, da der Krieg am Einschlafen ist? Aber Xaver scheint nicht zufrieden, mit sich, unserem Theater, der Welt. Sie gefallen ihm nicht, die Kollegen. Sie haben für sich die guten Rollen gepachtet, natürlich... sie gehören zu denen, die versuchen, sich einzunisten in der Schweiz, weil man sich anderswo ihrer entledigt hat. «Politische Gewandläuse» nennt er sie. Zwei dieser Ausländer nimmt er aus. Da ist dieser Freiherr von Hardenberg. So stellt sich Xaver einen Feldherrn vor. Ein Kopf wie der Moltke, Denkerstirn, wortkarg, elegant... seltsam, dass das ein Schauspieler ist, und warum ist er hier? Er sucht bewundernd Hardenbergs Nähe; doch der hält ihn auf Distanz, zeigt ihm bald unverhohlen die kalte Schulter. Noch einer gefällt ihm: das bin ich. Er setzt sich neben mich im Autobus auf der Heimfahrt, heftet seine Augen auf mich. Sie sind das einzig warme, ausdrucksvolle in dem teigigen Gesicht, mit dem niedri-
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gen Ansatz der strähnig-fetten, dunkeln Haare. «So ein schöner Mensch wie Sie sollte Helden spielen.» Ich bin peinlich berührt. «Dummes Zeug! Ich bin weder schön, noch hab ich die geringste Anlage zum Helden. Was verstehen Sie überhaupt darunter? Ein Geisteskämpfer kann durchaus hässlich sein. Nehmen wir Sokrates.» «Dieser Wasserkopf mit der Knollennase?! Mit Sokrates begann alles Unglück. Das Ideal des Schönen wurde abgelöst durch die Anbetung des Intellekts, durch die Herrschaft der platten Schulmeister.» Xaver sieht mich triumphierend an. «Heute ergeht eine andere Botschaft an uns. Der sich selbst vergiftende Intellektualismus liegt im Sterben. Die Starken wachsen im Glauben und Widerstand. Eine neue Zeit bricht an!» «Sie reden befremdlich für einen Schweizer. Oder sind Sie das nicht?» «I bi ne sänkrächte Schwyzer. Das hab ich von meinem Vater täglich gehört. Aber was ist an ihm senkrecht? Kein Wurm kriecht so wie er vor seinem Chef. Dafür zu Hause! Aus Angst vor ihm hab ich noch mit zwölf das Bett genässt. Dafür gab's dann Ohrfeigen, ‹Damit du ein Mann wirst!› Den Gehörschaden bekam ich gratis dazu. Meine Schwester prügelte er auf den Hintern, dazu zog er ihr die Hosen aus. Meine Mutter durfte nicht mal weinen, dazu flüchtete sie in die Kirche; dort hat sie um noch mehr Demut gebetet... Ich musste mitkommen. Vor der Schule in die Frühmesse, nachmittags mit dem Rosenkranz, jeden Tag! Das war die Tyrannei meiner Mutter. Sie hat mich mit Tränen beherrscht, der Vater mit Prügeln.» Xavers Gesicht leuchtet vor Hass. «Schlimm. Aber nicht spezifisch schweizerisch.» «Nicht?!» Xaver stösst einen Laut der Verachtung aus. «Diese Enge, dieses Eingeklemmtsein in kleinkariertes Spiessertum - Man erstickt! Mittelmässigkeit ist unser Glaubensbekenntnis, Opportunismus die Staatsmaxime. Sehen Sie sich unsere Regierung an, diese kümmerlichen, zum Kompromiss dressierten Bundesräte! Ist darunter eine einzige schöpferische Persönlichkeit, die uns zu begeistern, zu führen, mitzureissen vermag?!» Ich fühle mich immer unbehaglicher. «Haben Sie etwas Besseres zur Stelle?» «Das Gesetz der Natur will, dass der Bedeutendere über den Geringeren herrscht. Auch wir Schweizer müssen endlich unsere nordische 49
Rassenseele wiederentdecken. Sie ist lange genug unterdrückt und verfälscht worden durch Internationalismus und Bolschewismus. Die Zeit ist da, dass die Seele ihren Adel, ihre Ehre erkennt.» Meine Geduld ist an der Grenze. «Merken Sie denn nicht, dass das Phrasen sind, ein alles vernebelnder Mythus?!» «Jedes Zeitalter hat seinen Mythus. Früher war es das Kreuz. Heute wird man geschändet und versklavt unter der roten Fahne. Blut und Ehre, das ist die wahre Weltrevolution.» Xavers Stirn bedecken Schweisströpfchen. Wir haben nicht bemerkt, dass wir angelangt, die Kollegen ausgestiegen sind... Der Chauffeur knurrt: «Schnured deheime wyter.» Als wir auf der dunkeln Strasse stehen, sage ich: «Sie reden von Blut. Es wird bereits vergossen.» «Für uns.» Ich wende ihm den Rücken zu, gehe. Am Morgen im Theatercafé, während der Probenpause, tritt Hardenberg zu mir. «Charmanter Gesprächspartner, gestern. Na... haben Sie unterm Rockaufschlag schon das Hakenkreuz?» «Ich bin von Ihnen bessere Scherze gewohnt.» «Man hängt's hierzulande nicht aus, noch nicht, das ist der Unterschied... » Hardenberg setzt sich zu mir. «Ich bin hier das erstemal so einem begegnet.» Ich halte nachdenklich die Tasse in der Hand. «Ein junger Mensch wie viele. Unglückliche Kindheit, enttäuschter Ehrgeiz, eine entleerte Existenz.» «Die richtige Beute für unseren Rattenfänger.» «Kann man einem Menschen, der von ihm eingefangen worden ist, noch helfen, ihn überzeugen, dass er missbraucht wird?» Hardenberg lächelt nicht mehr. «Beobachten Sie eine Schlupfwespe. Sie versenkt mit dem Stachel ihr Ei in den weichen Leib einer Raupe. Nichts kann mehr verhindern, dass die Larve ihren Wirt leerfrisst, bis er nichts mehr ist als die Hülle des todbringenden Gastes.» Die Glocke des Inspizienten läutet. Wir gehen auf die Bühne. Bin verflucht erkältet, fast totale Heiserkeit. Das gefällt dem Direktor gar nicht. «Kranke Mitglieder kann mir nicht leisten. Richtiger Schauspieler stirbt nur auf Bühne.» 50
Mit meiner Zwerg-Gage kann ich mir keinen Doktor leisten. Aber Xaver sagt: «Wozu haben wir einen Theaterarzt? Der Ruchti behandelt unsereinen gratis. Mein Musterexemplar von Schwester ist bei ihm Praxishilfe. Ich sag der Lena, dem frommen Engel, sie sollen dich gleich dran nehmen.» Die Arztgehilfin hätte ich niemals für Xavers Schwester gehalten. Ihre Herzlichkeit hat nichts von der andressierten, genormten Freundlichkeit der routinierten Krankenschwester. Ihre Wärme ist echt, ihr ganzes Wesen atmet Natürlichkeit, Frische. Keine Spur von Verdrücktheit, von den Ressentiments ihres Bruders. Sie gehört zu den Mädchen, in denen das Mütterliche schon vorgebildet ist. «Proben, Proben, Aufführungen, ich weiss, Theaterleute haben's eilig.» Schon schob sie mich ins Ordinationszimmer. Ebenso schnell war ich im laryngologischen Marterstuhl. «Absitzen! Mund auf! Zunge raus!» «Ich - » «Ah, sagen!» Schon hatte der Doktor mit einem Gazestreifen die Zunge gepackt, ich war in der Hand des Mordskerls. Zu dem mächtigen Körper passte die dröhnende Stimme, der militärische Ton. «Schon rapportiert, der Xaver.» Er spiegelte. «Rachenkatarrh, Halsentzündung, gerötete Stimmbänder. Gurgeln, feuchte Umschläge. Zu Hause bleiben. Bis nächste Woche krankgeschrieben.» Endlich liess er die Zunge los, ich schnappte nach Luft. «Aber ich hab zu spielen. Wenn eine Aufführung ausfallen müsste, würde Direktor Feiel - » « - wird daran nicht zugrundegehen, der Veilchenduft. Verdient genug Geld an unserm Theater, der alte Jud.» Also daher wehte der Wind. Ich kam zu keiner Erwiderung. «Mund auf, hab ich gesagt, tief einatmen, Luft anhalten!» Mit einem Gummiball stäubte er Pulver in den Kehlkopf. «Nicht husten, kein Wort.» Ich war wehrlos seinem Redestrom ausgesetzt. «Die reinste Judenschul' ist unser Theater; setzen sich darin fest wie die Gewandläuse.» Da also hatte es Xaver her! Ruchti war nicht zu halten. «Gehören allesamt ins Lager. Kartoffeln stecken, Moore meliorieren, Strassen bauen. Am besten man hätt' sie gar nicht 'reingelassen.» Das rote narbige Gesicht des Pyknikers war dicht über mich gebeugt. «Eine Erholung, mal einen Blondschopf bei 51
uns zu haben, gute Rasse, hat recht, der Xaver... So, hier, Gurgeltabletten, Kamillen-Extrakt. Warm halten, schleunigst ins Bett, dalli, dalli. Freitag wiederkommen.» Schon war ich draussen. Dieser Ruchti ist Xavers Wespe. Ich tue das Vorgeschriebene, am dritten Tag geht's besser, auch mit der Stimme. Ich werde nochmals zu ihm gehen. Ihm die Meinung sagen. Der Doktor wies mich mit einem hallenden «Na?» zum Untersuchungs-Stuhl. Ich blieb stehen. «Es geht besser.» «Mal sehen.» Ruchti zeigte wieder auf den Stuhl. «Ich möchte vorher etwas sagen, Herr Doktor. Wahrscheinlich werden Sie mich dann nicht mehr behandeln.» «Da bin ich aber neugierig.» Ruchti schob ironisch fragend seine große Hornbrille auf die Stirn hinauf. «Was passt dir denn nicht in deinen kleinen Kramladen. Blondschöpflein?» «Mein Laden mag klein sein, Herr Doktor, aber ich halte ihn sauber. Judenhatz à la Adolf - die Ware führe ich nicht.» «Grossartig.» Ruchti grunzte gutmütig. «Wegen deiner Dummheit sollt' ich dich nicht mehr behandeln? Von dieser verbreitetsten aller Krankheiten leben wir Ärzte. Setz dich.» Ruchti begann zu spiegeln. «Ich bin also ein Antisemit? Richtig. Dazu brauch ich nicht den Adolf. Wir haben diese gesunde Meinung aus ureigenster Anschauung.» Er stäubte wieder Pulver ein. Ich musste ihn weiter anhören. «Bei uns galt's nicht als vornehm, davon zu reden, das war der Unterschied. Aber jetzt weht ein frischer Wind, hier wie dort. Wir lassen uns nicht mehr das Maul verbieten. Ich erst recht nicht, als freier Schweizer.» «Mit der Freiheit ist's bald vorbei, wenn Sie so weitermachen.» «Oho!» Ich liess mich nicht mehr unterbrechen. «Nicht Sie mich, ich sollte Sie heilen!» Ruchtis grosses Gesicht wurde noch breiter, so grinste er. « ... eine phänomenale Frechheit!» «Jetzt können Sie meine Entlassung verlangen!»
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«Im Gegenteil, du gefällst mir. Du hast nämlich Mut, mein Junge, zum Unterschied von all den Judenbüebli.» Ich starrte ihn an. Wenn ich nur sagen könnte... «Weisst du», er wurde immer gemütlicher, «im Irrenhaus, da behaupten die Patienten auch immer, nicht sie, sondern der Arzt sei verrückt. Wir können's einander nicht beweisen.» «Der Tag des Beweises kommt.» «Hoffentlich. Blondschöpfchen. Werden sehen, wer wen heilen wird.» Das Zimmer schütterte von Ruchtis Gelächter. Als ich aus dem Ordinationszimmer trat, sah mich die Praxisschwester an. «Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Der Doktor ist im Grunde... es gibt auch Gold, das nicht glänzt.» «Man sollte die alten Sprichwörter nicht auf den Kopf stellen.» Warum hab ich ihm nicht ins Gesicht geschrien, sein «schöner Blondschopf» gehöre selbst zur verachteten Rasse! Aber der Preis ist zu hoch. Er würde sich rächen, mich bei der Fremdenpolizei denunzieren. Ich hab's noch im Ohr, Veraguths furchtbares «Sind Sie etwa... ?» Der Selbsterhaltungstrieb lässt das Wild sich verbergen vor dem Verfolger. Die Natur zwingt zur Mimikry. Zwischen Gejagtem und Jäger gibts nur ein Gesetz: Leben oder Tod. Aber die Sache hat noch eine andere Dimension, eine doppelte Absurdität. Da ich zum «Parade-Arier» avanciere, erwacht in mir das Bewusstsein des Judentums. Mein Vater hat mich erzogen zum Glauben an die Vernunft. Alles andere sei ein Atavismus längst überwundener Vergangenheit. Aber jetzt hat uns diese Vergangenheit eingeholt, ist zähnefletschende Gegenwart. Sein oder Nichtsein ist mehr als nur das nackte Überleben. Der Mensch fragt, wozu, wer bin ich? Hier sitzt der Wurm. Man darf mit verdeckten Karten spielen, aber sich nicht selber täuschen. Es ist erniedrigend, mit einer Notlüge zu leben, und sei sie auch nur ein Notschweigen.
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Aber vielleicht hat auch das seinen Sinn. Was bedeutet es, was da aufgebrochen ist: dass wir nicht sind, was wir wollen, nicht wollen, was wir sind? Uraltes Schicksal des Juden. Wenn er seinem Gott, sich selbst treu ist, wird er verfolgt, gemartert, zu Tode gebracht - weil er «anders» ist. Versucht er gleich zu werden den anderen, so misslingt auch dies. Nun wird er von beiden verfolgt: von den Seinen als Renegat, von den anderen als Eindringling, Assimilant. Bankrotterklärung des Glaubens an einen Fortschritt der Vernunft! So bleibt dem Juden nur der Glaube, es sei sein grausamer Gott, der ihn durch die Jahrtausende jeglicher Marter preisgibt. «Doch den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen», sagt die Schrift. Warum?! Aus der Tiefe dringt etwas, will Kontur gewinnen, ein bleiches Antlitz, es trägt einen Dornenkranz. In Ihm gerinnt unsere Heimsuchung zur Person, erfüllt sich unseres Schicksals Elend, seine Glorie, sein ganzer Widersinn. Ein Teil seines Volkes hat ihn verleugnet, ein anderer Teil ist ihm nachgefolgt, hat seine Auferstehung hinausgetragen in die Welt. Diese Welt aber, die vorgibt ihn anzubeten, als ihren «Erlöser», sie martert und tötet ihn tausendfach in seinen jüdischen Brüdern. Wo ist da ein Sinn? Doch halt! Könnte es nicht sein, dass ein weltgeschichtlicher Wille zur Vollendung sich der Juden als Werkzeug bedient? Immerwährend leiden sie, wie kein anderes Volk, unter der Übermacht der Unwissenheit, der Vorurteile, des Hasses, werden dadurch geschärft zum Kampf um mehr Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe. Ihre Verfolgung ist der Sporn zu ihrer ungewöhnlichen Leistung. Wären sie zum Volk der Bibel geworden ohne ihre Quälgeister, die Ägypter, Assyrer, Babylonier, Römer? Ihre Marter hat den Glauben an den Erlöser geboren. Ihrem Ausschluss von allen Rechten der menschlichen Gemeinschaft entsprang das Dennoch ihres einzigartigen Ringens um überzeitliche Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Beseelung, Erkenntnis: ein Moses, Jesus, Marx, Freud, Einstein. Das Bewusstsein in mir wächst, dass es wohl eine Last ist, doch kein Makel, Jude zu sein, mag es der Hass noch so blindwütig ausschreien. Ein Auftrag ist es, eine Verantwortung. Kann ich sie tragen, ohne mich dazu zu bekennen? 54
Wurstel
Letzthin, am «Bunten Abend», als ich hinter der Bühne auf meinen Auftritt wartete, riss mich der Pianist aus meinen Gedanken. Es waren die einführenden Takte zu DvoÍáks Slawischem Tanz Nr. 3 in As-Dur, ein Signal der Heimat. Eine junge Tänzerin in buntem Phantasiekostüm. Ihr Aussehen war nicht eigentlich tschechisch, eher orientalisch. Sehr dunkler Pagenkopf, breite, stark profilierte Backenknochen, ein blühender Mund. Beherrscht aber wurde das Antlitz durch ungewöhnlich große, wie bei gewissen Kranken überdimensionierte Augen von intensivem Ausdruck. Im melancholischen Moll, wenn sie sich, langsam schwebend, in den Hüften wiegte, waren die Augen dunkel, unbewegt, die Seele in der Tiefe verloren. Aber wenn die Musik in Dur umschlug, in rasantem Rhythmus die Füsse den Boden stampften, da wurden die Augen hell, brach Lebenslust und Freude hervor. Jeden Morgen begegne ich ihr vor Probenbeginn, wenn sie über die Aare-Brücke kommt. In der winterlichen Feuchte trägt sie einen selbstgeschlungenen Turban, durch die weisslichen Nebelschwaden schwebt ihr milchkaffeefarbenes Köpfchen noch fremdländischer dahin, als hätte es ein Türkenkind in unwirtliche Breiten verschlagen. Sie scheint scheu, nur ein Ciao fliegt hin und her. Wie viele Schauspieler bin ich es gewohnt, «abgehört» zu werden. Pavlitschka hatte in Prag alle Rollen mit mir studiert. Das vermisse ich jetzt. Bei der obligaten morgendlichen Begegnung, für mich selbst überraschend, frage ich das Türkenkind, ob sie mich nachmittags abhören wolle. «Ob ich's kann?» Das erstemal, Zeichen der Verwirrung, das schnelle Flattern ihrer Augenlider. Sehr komisch. «Werd' Dir's schon beibringen.» «Sie können nicht gut zu mir kommen», das Flattern wurde noch stärker, «meine Wirtin - » «Kann mir's denken. Die meine, nehm' ich an, ist nicht so stupid. Also drei Uhr, Bergstrasse, viertes Haus links.» Sie ist gelehrig, voll Eifer. Zuerst muss ich das Lachen verbeissen, da die Lessingsche Sprache in ihrem Mund unverkennbar berlinerisch tönt. «Womit, wenn überhaupt, bist du getauft, Türkenkind?» «Duftes Spreewasser, Schuss Bosporus», gibt sie zurück, nicht aufs Maul gefallen. 55
Die Abhörtechnik beherrscht sie jetzt. Erst jeden Satz laut vorsagen, nachsprechen lassen, zwei-, dreimal, dann nur die Satzanfänge anschlagen, schliesslich ein blosses aufmerksames Mitlesen und hilfreiches Einfallen, sofern es nötig wird. Aber hier kommt die Schwierigkeit: wann braucht der Schauspieler Hilfe und wann ist sein Stocken, sein nach Wortesuchen, lediglich ein Kunstmittel? «Mit diesen Nuancen beginnt die Kunst des Soufilierens, so wie mit Attitüde, Battement, Développé die Kunst des Tanzens», sage ich streng. «Des Balletts, meinen Sie», erwidert sie resolut. «Aber das ist nichts für mich.» Von den strengen Regeln des klassischen Balletts hat sie sich gelöst. Nicht technische Vollendung - Freiheit des Ausdrucks, Expressivität ist der Ruf der Zeit! Das «Türkenkind» pfeift auf die Erwartungen, die sein romantisches Äussere weckt. «Balina Humor», Groteskes, steckt in ihren Armen und Beinen. Als ein Schreckensgespenst von Putzteufel fegt sie auf die Bühne, mit Eimer und Besen kehrt sie alles über den Haufen, die ganze Sentimentalität der Operette auflösend in befreiende Heiterkeit. Am liebsten aber sehe ich sie als Clown. Das kann sie niemand gelehrt haben, es kommt ganz aus ihr selbst: entenhaft watschelt sie daher, im Kampf mit den viel zu weiten Hosen, in denen sie sich hoffnungslos verheddert, glühend vor Eifer, Kunststücke vorzuführen, die stets scheitern an der Tücke des Objektes, Hilfe zu leisten und doch nur Spott zu ernten. Dann ist das kalkweisse Antlitz mit den dunkel ausgelegten riesigen Augen nur noch eins: strahlende Freude oder schmerzliche Enttäuschung. Als Wurstel lässt sie den Reichtum ihrer Möglichkeiten durchblitzen, der im Alltag verborgen bleibt. Da ist sie noch kleines Mädchen, etwas töricht, verpuppt. Eines Tages wird der Falter ausfliegen, die Fülle des Lebens zu kosten. Nicht durch mich. Wenn ich ihr zu nahe komme, ihren Duft atme, es mich überkommt, sie zu spüren, zu küssen, - dann wird sie auf einmal zum Schemen. Durch sie hindurch sehe ich das herbe Gesicht Pavlitschkas, die Gestalt der Frau, die um meinetwillen in das KZ eingeliefert worden ist. Ravensbrück und erotische Freibeuterei, das geht nicht zusammen.
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Gestern nach der Vorstellung finde ich einen Brief vor, aus Prag. «Ich bin zurück. ‹Umerzogen›. Ich will leben. Leb auch Du! Pavlitschka»
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Der verhinderte Held
Ostern. Die Saison ist zu Ende. Nicht so der Krieg. Im Norden zuckt fahles Wetterleuchten, verdichtet sich zu grellen Blitzen. Die so lange an der Kette gehaltene Bestie hat das kleine Dänemark gepackt, bemächtigt sich mit einem Riesensprung der Verschiffung von Eisenerz in Narvik. Die Briten holen sich dort blutige Nasen. Die Hauptsorge im Theater: wie kommen wir durch den Sommer? Unmöglich, von sieben Monaten magerer Gage fünf ganze Monate weiteren Lebensunterhalts zusammenzukratzen, auch wenn man zum Mittagessen auf dem Spirituskocher nur eine Konserve aufwärmt oder höchster Luxus - im Restaurant zu zweit sich ein «Teller-Essen» leistet. Die Serviertochter bestellt es: «Für ds Theater, es sy ja armi Tüüfle.» Überraschender Telefonanruf. Das Zürcher Schauspielhaus bereitet den II. Teil von Goethes «Faust» vor, benötigt dafür zusätzliche Kräfte. «Paraderolle haben wir Ihnen keine zu bieten, aber Sie können beweisen, dass Sie ein Sprecher sind.» Endlich wieder an einer Grossstadtbühne! Die Proben sind in vollem Gange. «Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt... » Ich bin glücklich, mich an den herrlichen Versen versuchen zu dürfen. 9. Mai. Probe bis in den späten Nachmittag. Nachtlager bei einem Landsmann namens Chudoba. Heisst auf tschechisch «Armut». Aber mein Gastgeber gehört zu jenen böhmischen Handwerkern, die seit eh und je überall ob ihrer Tüchtigkeit willkommen sind, seine Schneiderwerkstatt in der Lintheschergasse lässt ihn nicht Hunger leiden. Zu heimatlichem Schweinernem, Kraut und Knödel gibt's dem Gast zu Ehren sogar ein Gläschen Wein. Chudoba hebt das Glas: «Auf die Heimkehr!» Ich stosse mit ihm an, aber ziehe mich bald zurück, meinen Text zu memorieren. Der ungewohnte Wein macht den Kopf schwer. Ich bin darüber eingeschlafen. Etwas weckt mich. Die Armbanduhr zeigt erst sieben, ich will mich auf die andere Seite kehren. Da stösst mich eine Hand an. Vor mir steht der Schneider. Die Tür steht offen, eine Stimme ist unnatürlich laut.
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Schlaftrunken gehe ich ihr entgegen, sie macht mich wach, entsetzlich wach. « ... ist nicht gewillt, tatenlos abzuwarten und den Krieg in deutsches Gebiet hineintragen zu lassen. Die Reichsregierung hat deshalb den deutschen Truppen den Befehl erteilt, die Neutralität dieser Länder mit allen Machtmitteln sicherzustellen... » Ich starre den Schneider an. Chudoba dreht die Lautstärke des Radios zurück. Die Backenknochen im mageren Gesicht treten hervor. «Im Morgengrauen haben sie Rotterdam bombardiert, ohne Warnung. Sie sind in Belgien und Holland eingefallen.» Ich stehe immer noch im Pyjama. «Wie heisst der Ort, wo unser Freiwilligenkorps ausgebildet wird?» «Agde», sagt der Schneider. «Irgendwo in Südfrankreich.» Auf dem Weg zum «Schauspielhaus» kein geruhsames Schlendern, keine Mütter mit ihren Kiemen, wie sonst zu vormittäglicher Stunde. Die Tramwagen in Richtung Hauptbahnhof überfüllt, dahinter abenteuerliche Gefährte mit vorgespannten Pferden oder qualmenden Holzvergasern, schwankend unter der Last von Menschen, Koffern, Körben, Bettzeug, auf einem zuoberst der Käfig mit dem schmetternden Kanarienvogel. Sind sie auf der Flucht? Vor den Häusern Menschenklumpen, nichts von schweizerischer Wortkargheit. «Im Schwarzwald stönd zwanzig Divisione, morn hämmer d'Schwabe da.» Der Regisseur, vor Probenbeginn, deutet auf der Bühne die Dekorationen an. Hier scheint nichts aus dem Gleichgewicht. Ich trete zu ihm. «Ich melde mich in Frankreich.» Der schmale Kopf neigt sich leicht zur Seite, in den Augen schimmert Skepsis. «Sie - und schiessen?» Ich komme nicht hinein in den Zug, stehe im verstopften Korridor, zwischen aufgeregten Menschen, Kofferbergen, weinenden Kindern. Alles will an die französische Grenze, möglichst nahe, Schutz suchen bei der «Grande Nation». Ihre Armee, die unüberwindliche, ist ja kampfbereit. Ich fahre zu Valérie Grandcoeur, meine Wäsche holen, feste Schuhe, was ein Soldat so braucht. Dort will ich mich zum Abschied mit dem Türkenkind treffen. Die zwei Stunden bis Biel geht mir manches durch den Kopf. 59
Die Natur versteht es meisterhaft, zu ihrem Ziel zu kommen, oft auf die listigste Art. Immer nur hatten wir zusammen gearbeitet. Das Türkenkind hörte mich ab, mit nie nachlassender Geduld, dann wurde auf dem Spritkocher Wasser aufgesetzt, Tee getrunken, geplaudert. Kann man monatelang den anmutigen Bewegungen eines jungen reizvollen Geschöpfes zusehen, ohne es in die Arme zu schliessen? Küsse sie, sagte die Natur. Sie liess es zu, war zurückhaltend, unsere Zärtlichkeiten blieben in Grenzen. «Mehr darf nicht geschehen», sagte ich mir. Die Natur wusste es besser. Wir warteten manchmal aufeinander abends, nach der Vorstellung, bis der andere von auswärts zurückkam. Dann sassen wir ein Weilchen beisammen, hie und da gingen wir tanzen, selten genug. Das Türkenkind bestellte im Dancing, aller Missbilligung des Kellners, allem Hohn zum Trotz, ein Glas Milch. Das kam dem schmalen Portemonnaie zugute wie dem klaren Kopf, wenn ich sie dann bis zur Haustüre begleitete. An eben dieser Haustüre, eines Nachts, griff das Türkenkind, wie gewohnt, in die Handtasche nach dem Hausschlüssel. Doch je mehr es fingerte, nervöser, verzweifelter, desto weniger war er da. Zuletzt klapperte es wie ein Käuzchen mit den Lidern über den grossen dunkeln Augen. «Ich hab ihn vergessen, in der Garderobe... » Das Klappern wurde stärker. «Jetzt die Wirtin herausläuten, um viertel drei... » «Ausgeschlossen», sagte ich. «Meine Wirtin hat eine Mansarde. Der Schlüssel hängt im Korridor.» Kein Flattern mehr. Aber die Augen wurden noch grösser. «Komm, Wurstelchen.» Ich nahm sie an der Hand. Es war keine Lüge. Die Mansarde existierte. Aber als Abstellraum. Ich hatte sie nie betreten. Und es war keine Rede mehr von ihr, nachdem wir in meinem Zimmer waren. Ein junger Mann und ein Mädchen. Später sagte sie mir, sie habe mich noch gar nicht geliebt bis dahin. Sie hatte Angst. Aber irgendwann, dachte sie, muss es doch geschehen. Sie begriff nicht ganz, warum, doch jetzt liebt sie. Seitdem wartet sie jeden Abend auf mich. Es scheint, als lebe sie nur auf diese späte Stunde hin. Wohin soll das führen? Jetzt hat das Schicksal entschieden. Es ist das letztemal, sage ich mir, als ich in Biel aussteige. 60
Valérie hat bis jetzt das Türkenkind nie mit eingeladen, mich allein wollte sie bei sich haben. Sie wusste von der Existenz des Mädchens, doch hielt sie es für eine quantité négligeable. Vielleicht eine Art Eifersucht. Aber nun beweist Valérie ihr Format, bricht die weibliche Solidarität durch, in dieser Stunde. Sie nimmt das Mädchen mütterlich auf, zieht sich abends in die Bibliothek zurück, überlässt uns ihr Schlafzimmer. Es ist mehr als ein Abschied, mehr als eine Liebesnacht. Urtümliches bricht durch. Kein kleines scheues Mädchen mehr. Nicht um Lust, um Dauer geht es, um ein Einswerden. «Nimm mich mit», flüstert sie. Ich nehme ihren Kopf in die Hände. «In ein Militärlager? Nahkampf lernen, schiessen, morden?» «Und warum muss man schiessen, morden?» Ich küsse ihr die Tränen weg. «Damit wir einmal leben dürfen ohne Angst.» «Und wenn du stirbst?» In Genf will ich mit Hilfe des tschechischen Gesandten die Ausreiseformalitäten erledigen. Valérie hat für mich telefonisch ein Nachtquartier bei einer Nichte abgesprochen, im Vorort Cologny. Aber was man der energischen Tante nicht abzuschlagen wagte, ist keineswegs willkommen. Das lässt man mich spüren. In der Waschküche hat man mir einen Liegestuhl aufgeschlagen, «das sei am praktischsten». Auch lässt die gastfreundliche Nichte fallen, «la chére tante» habe wohl nicht bedacht, dass ihrem Gatten als Postangestelltem und Staatsbeamtem in solchen Zeiten die Beherbergung unbekannter Ausländer nicht zukomme. Ich wäre gerne sofort umgekehrt, aber die eine Nacht... Genf, Fluchtpunkt der aufgescheuchten Nord- und Ostschweizer; sie machen aus der Stadt einen aufgerührten Ameisenhaufen. ‹Les chers confédérés› sind sonst schon nicht beliebt, um so weniger als Invasoren. Der Staatsrat, so teilt die charmante Gastgeberin gleich mit, berate die notwendigen Massnahmen, wie man die ungebetenen Zuzügler loswerden könne. Ich will ohnedies fort, über die Grenze. Der gemütliche Kopecký empfängt mich höchst aufgeräumt; er gebärdet sich wie auf der Fussballtribüne, wenn nach langweiligem Vorspiel endlich das entscheidende Match beginnt. «Prima, dass du auch antrittst, bist ein guter Junge.» «Vor dem französischen Konsulat steht eine endlose Schlange - » 61
«Pas de problème.» Er nimmt den Hörer, lässt sich verbinden und empfiehlt dem ‹cher collègue préféré› monsieur Truntschka, seinen jungen Freund, der nach Agde wolle, um im tschechischen Korps seinen Beitrag zu leisten zur gemeinsamen Sache. Er hängt ab, steht auf. «Meld dich beim Konsul persönlich.» An der Menschenschlange vorbei, mit einigen nicht gerade zimperlichen Injurien bedacht, gelange ich durch vollgestopfte Stiegen und Korridore bis ins Hauptbüro. Auch hier ein Menschengewühl, doch kaum sage ich meinen Namen, zerteilt ein Mann mit gewaltiger Armbewegung die Flut. «Ah, voici, le patriote tchèque! Endlich einer, der sich freiwillig meldet, während ihr euch alle drücken wollt. Nehmt euch ein Beispiel!» Eh ich mich versehe, habe ich auf beiden Wangen einen Kuss. Dann zieht mich der kleine Konsul in sein Privatbureau. «Ah, Ihr Passeport!» Der von den schweizerischen Behörden so missachtete frei-tschechische Ausweis scheint hier in hohen Ehren. «Monsieur Tr-u-chka», auch der für eine französische Zunge unaussprechliche Name dämpft nicht des Konsuls Begeisterung. «Ein Visum für ein Jahr, entendu? Bis dahin sind Sie mit unserer Armee längst à Berlin, et puis à Prague, une ville merveilleuse, je la connais.» Er hat den grossen Visum-Stempel geniesserisch auf das Farbkissen gedrückt, haucht ihn zärtlich an, um ihn dann schwungvoll in den Pass zu drükken - als er stutzt. Er beginnt zu blättern. «Wo ist denn Ihre Genfer Aufenthaltsbewilligung?» «Die Schweiz anerkennt meinen Pass nicht.» Ich lege den Ausländer-Ausweis vor, mit der Toleranzbewilligung, zuletzt ausgestellt im Kanton Bern. «Berne?!» Der Beamte sieht mich plötzlich an, als sei ich aussätzig. «Da gehören Sie ja gar nicht hierher. Zuständig für Sie ist unser Consulat général à Berne.» «Aber meine Aufenthaltsbewilligung ist dort abgelaufen, ich will hier über die Grenze!» «Je suis désolé, Monsieur. Aber entweder, Sie begeben sich zurück nach Bern - » «Das wäre ja verrückt... » «Sagen wir korrekt.» Der Konsul hebt ironisch die Schultern. «Monsieur le Bureau ist immer korrekt. Oder Sie holen sich hier eine Auf-
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enthaltsbewilligung pour la belle ville de Genève, dann wird es mir ein Vergnügen sein, Ihnen das Visum auszustellen.» Ich gehe in die nächste Telefonkabine, erzähle Kopecký von der «verrückten Situation». Der Tausendsassa sieht keine Schwierigkeit. Auch der Genfer Polizeipräsident sei sein Freund. Ich solle mich nur auf ihn berufen. Auf dem Hauptpolizeiamt ein Chaos. Zum Glück hab' ich noch die für die Franzosen bestimmte Visitenkarte des tschechischen Gesandten, erkämpfe mir nach Stunden durch vielfache Barrieren knapp vor Torschluss Zutritt zum Chef. Der, von Aktenbergen umtürmt, von Telefonen umschrillt, fahrt mich an, was ich jetzt in Genf zu suchen habe? «Nichts. Ich will in unsere Armee nach Frankreich.» «Also. Allez hopp.» «Aber dazu brauche ich Ihre Aufenthaltsbewilligung.» «Um von hier abzureisen, wollen Sie eine Aufenthaltsbewilligung?! Halten Sie mich für einen Kretin?!» «Aber der französische Konsul verlangt das. Sonst ist er nicht zuständig für das Visum.» «Quels imbéciles!» tobt der Polizeigewaltige. «Die werden noch ersticken an ihrer Bürokratie! Bevor die herausbekommen, wann, wo, wie, wer einen Schuss abfeuern darf, haben sie den Krieg längst verloren.» «Es ist ja nur eine Formalität.» Ich schwanke zwischen Lachen und Weinen. «Monsieur Kopecký meint - » «Sagen Sie ihm, ich habe jetzt andere Sorgen!» dröhnt es. Aber dann, vielleicht tue ich ihm leid, lässt er sich seufzend in seinen eleganten Lederstuhl fallen. «Lassen Sie mir Ihre Papiere da, Unglücksmensch, kommen Sie morgen nachmittag wieder.» Ich retiriere, bin zur Marionette geworden in einer Groteske, einem absurden Auftakt zum Totentanz. Jetzt nichts als frische Luft, zu Fuss nach Cologny. In Zürich war die Stadt daran, sich zu entvölkern, hier schwemmt ein Schwall von Menschen herein, als wollten sie, in einer neuen escalade, die Stadt Genf überrumpeln. Es wimmelt von Spionen, heisst es, die fünfte Kolonne niste sich ein, um zuzuschlagen, sobald die Nazis kämen. Be-
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sonders aufpassen müsse man auf Fallschirmspringer, die warten die ganze Nacht auf den Bäumen ab. An der Stadtgrenze stosse ich auf eine Barrikade. Ich will den schmalen Durchgang passieren, als ich aufgehalten werde. «Vos papiers, Monsieur.» Ich greife nach der Brusttasche. Da fallt mir's erst ein. «Meine Papiere sind auf der Polizei.» «Quoi? Pas de légitimation? D'où venez-vous?» «De Bienne», antworte ich artig. Warum werde ich angestarrt wie ein Gespenst? Nach einer Schrecksekunde setzt der Mann mit der Armbinde eine Trillerpfeife an, im Augenblick sind wir von weiteren Armbinden umgeben. «Il vient de Vienne», sagt der erste mit dem Ausdruck des Entsetzens. Schon werde ich gepackt. «Mais non, messieurs», noch ist mir komisch zumute. «De Bienne. Biel im Kanton Bern.» «Das kann jeder sagen.» Jetzt ist ein Polizist da, wiederholt barsch: «Ihre Papiere!» «Ich sagte schon» - ich werde um so höflicher -, «ich habe sie vorhin auf der Polizei abgegeben!» «Abgegeben? Merkwürdig.» Plötzlich klickt es. Handschellen. «Das wollen wir gleich feststellen!» Und schon werde ich, als sei ich wirklich eine Marionette, in ein Auto geschleift. Der Polizist sitzt neben mir, mit gezogener Pistole. Ein anderer, vorne am Volant, setzt Blaulicht und Sirene in Gang, rast mit uns zum Polizeigebäude. Leibesvisitation, nicht gerade zimperlich. Dann stösst man mich in ein Zimmer, wo ein gestrenger Herr in Zivil, wohl ein Untersuchungsrichter, meine Personalien aufnimmt, mich ausführlich verhört. Dazwischen kommt der Polizist herein, flüstert dem Beamten etwas zu. Der nickt befriedigt, sagt dann zu mir. «Alles erfunden. Sicher haben sie falsche Papiere.» Wie in einem Schundroman. «Warum denn, um Himmelswillen, wenn ich die echten Papiere vorhin hier abgegeben habe?!» «Freches Schwein!» schreit der Beamte. «Wir haben eben festgestellt, dass in der Schriftenkontrolle nichts vorhanden ist, gar nichts!!»
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«Natürlich nicht», jetzt schreie auch ich. «Wenn es der Polizeipräsident in seine Schublade getan hat.» «Ah! War's nicht der Bundespräsident, oder der Heilige Vater?! Abführen!» Der Beamte schlägt mit der Faust auf den Tisch. «Bis morgen früh darfst du dir überlegen, ob du mit der Wahrheit rausrückst.» In der Nacht sozusagen gemischte Gesellschaft. Aber selbst hier bin ich nicht willkommen. «Ein Spion, pfuiteufel!» spuckt einer vor mir aus. «Je suis un souteneur honnête, ein ehrlicher Zuhälter.» Am Morgen werde ich wieder ins Polizeiauto gesteckt. Hinaus nach Cologny. In der Waschküche öffnen sie meinen Koffer, leeren alles auf den Boden. Papiere werden in eine große Tasche gestopft. Die Begleitmusik dazu liefert Valéries Nichte, im grellsten Diskant. «Ein Spion im Haus!! Mon pauvre mari. Wir sind ruiniert. Diese verfluchte Tante!!» Auf der Polizei weiss man mit den corpora delicti nicht viel anzufangen, die Briefe sind fast alle in Tschechisch. Wer kann schon so eine exotische Sprache! Ich solle das Zeug übersetzen. Übernächtig und hungrig - das Zeugs im Blechnapf habe ich nicht angerührt - finde ich's dennoch höchst komisch. Ein Spion, der sich selbst überführt! Die Gesichter werden immer länger. Wenn der Spion von wo abgesprungen ist, dann von der verkehrten Seite. Die Briefe kommen aus Paris und London. Schliesslich, nachdem ich darauf beharre, wagt man endlich, beim Chef höchstpersönlich anzuklopfen. Gleich darauf liegt auf dem Tisch mein Pass, ohne Aufenthaltsbewilligung. Der Polizist grinst. «Er soll schleunigst verduften.» Noch immer kann ich's nicht lassen, das Heldentum à la mode de Paris. Ich fahre nach Bern. Auf der Kantonalen Fremdenpolizei schüttelt man den Kopf. Aufenthaltsbewilligung zwecks Ausreise? Sowas gibt es nicht. Für Schriftenlose sei eine neue Regelung in Vorbereitung. Inzwischen, sofern ich nicht in ein Lager eingeliefert werden will, soll ich mich auf Zusehen an einem Ort ganz still verhalten.
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Wohin? In der Abschiedsnacht hatte ich dem Wurstelchen zugeredet, zu Françoise und Carl Moor zu gehen, sie werde bei ihnen Zuflucht finden. Und tatsächlich, wir finden uns am Ufer des Brienzersees. Hier horchen wir die Nachrichten ab, die durch den Äther schwingen. Es sind Hammerschläge. Niederschmetternd. Holland und Belgien strecken die Waffen. Abenteuerliche Flucht der Briten auf ihre von Waffen entblösste Insel. Das Hakenkreuz über Paris. Kapitulation der französischen Armee. Eine Rede des schweizerischen Bundespräsidenten wird angekündigt. Man versammelt sich um das tönende Kästchen, die Botschaft der Standhaftigkeit zu empfangen, den Willen zum Widerstand zu kräftigen. In drei Sprachen wird es den Schweizern eingeprägt, «die Anpassung an die neuen Verhältnisse»; man dürfe «ausgefahrene Wege nicht verwechseln mit der Tradition», sondern müsse «den Blick nun entschlossen nach vorwärts wenden»; der «Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt» sei gekommen, jeder müsse «den alten Menschen ablegen... die Ereignisse marschieren schnell: man muss sich ihrem Rhythmus anpassen.» Mir ist, als hätte ich einen schleimigen Mollusken hinabzuwürgen. Wir gehen. Da hält Moor meine Hand fest. «Es gibt bei uns nicht bloss Anpasser. Ihr dürft das Vertrauen nicht verlieren. Auch hier gibt es Männer.» Moor legt die Hände auf den Rücken. «Du weisst, wann man schweigt.» Er fasst mich ins Auge. «Es gibt eine Aktion nationalen Widerstands. Jeder hat Verbindung bloss mit einem einzigen. Aber eins weiss man: wir sind da, in jeder Division, jedem Stab, jedem Regiment. Wir werden, wenn's soweit ist, die Verräter ausschalten und kämpfen.» Das kommt ganz schlicht, selbstverständlich. Ich trete hinaus in die Nacht, fühle mich erfrischt, gereinigt. Wenige Schritte, da fasst mich etwas am Ärmel. «Wurstelchen!» Sie hat draussen, an der Hecke, auf mich gewartet. «Darf ich?» Wir schlagen den Weg ein gegen mein Bauernhaus. «Merkwürdig», sage ich. «Warum hast du mich eigentlich gern?» 66
«Ganz einfach. Weil du so dumm bist.» Sowas! Stets hatte ich mich als der Überlegene gefühlt, als Beschützer. «Immer willst du ein Held sein, und immer geht's schief. In Prag warst du der Widerstandskämpfer, und geendet hat's im Mauseloch. Jetzt hast du dir eingebildet, in Frankreich warten sie nur auf dich - » «Kann ich dafür, dass - » «Du kannst nie dafür, dass du doch noch aus dem Schlamassel rauskommst.» Wir steigen einen steilen dunkeln Waldpfad hinan. Man muss vorsichtig Schritt für Schritt setzen. Sie fragt: «Was ist eigentlich aus dem tschechischen Ausbildungslager geworden, wo du hinwolltest?» «Ein KZ. Man fürchtet, die Franzosen werden die Freiwilligen den Nazis ausliefern.» Im Bauernhaus, in meiner Stube, sagt sie: «Weisst du, dass ich jeden Tag deinem Schutzheiligen danke?» «So? Wie heisst er denn?» «Sankt Bürokratius.»
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Raskolnikow
Neues Gesicht des Solothurner Theaters. Der stürmische Wind von draussen hat einen Teil der Kollegen fortgeweht, so den mir wenig gewogenen «Charakterspieler». Der fühlte sich plötzlich nicht mehr als Österreicher, sondern aus der Ostmark und ist «heimgekehrt ins Reich». Aber der Prinzipal bewährt seine Spürnase. Es gelingt ihm, aus einem Flüchtlingslager einen bemerkenswerten Künstler herauszuholen. Zum Ausgleich, und darum hat Feiel einen Stein im Brett bei der Fremdenpolizei, engagiert er ein ganzes Rudel in der Schauspielschule eben knusprig gebackener blutjunger Schweizer. Beides bekommt dem Theater. Der neue Mann ist Tscheche, spricht ebenso deutsch wie ich. Doch sonst, welch ein Unterschied! Mir hatte der Vater geraten: «Anstatt sich den Kopf an der Wand einzurennen, sucht man besser die Türe.» Vládja rennt gegen die Wand an, immer, und was dabei in Trümmer geht, ist nicht sein Kopf. Der hat die Härte und Kraft eines Widders, sitzt aber auf dem geschmeidigen Körper einer Katze. Vládja besitzt auch deren Zähigkeit, die Sanftheit, die plötzlich die Krallen zeigt. Ich, wohlerzogener Bürgersohn, und Hardenberg, mein aristokratischer Freund, wir hatten den krähwinkligen Betrieb zwar ironisiert, uns aber doch seufzend gefügt. Vládja aber ist die Revolution, er fegt jeglichen Widerstand hinweg. Die alten Bühnenmeister knurren, aus jahrzehntealtem Trott aufgescheucht, böse über den «Chaiben-Ussländer», aber das verfangt nicht, denn er reisst das Ensemble mit, vor allem die Jungen, und das sind Schweizer. Aus ist's hinter der Bühne mit dem währschaften Jass während der Aufführung. Vládja zaubert auf der Bühne mit dem Licht: es ist ein Bestandteil des Spiels, lässt die Darsteller aufleuchten und verschwinden, begleitet ihre Bewegungen, hat dramatische Funktion. Der Beleuchter kommt nicht zum Verschnaufen, muss einen Assistenten zuziehen. Überhaupt. Wo bleibt die alte Gemütlichkeit? Dieser Bursche verlangt, man müsse auf offener Szene umbauen, in der Finsternis sozusagen, eine Zumutung! Aber der Gipfel seiner Anmassung: was seit jeher an Dekorationen bewährt und geschätzt war, der schöne Salon, die Bauernstube, die «offene Gegend», alles wird ins Magazin verbannt. 68
Statt dessen für jedes Stück neues modernes Zeug, «man weiss gar nicht, was es bedeutet». Asozial ist der Kerl auch, kennt keine Arbeitszeit. Statt mittags pünktlich aufzuhören, werden Szenen zu Ende geprobt, bei Hauptproben kann's auch fünf werden. Und das Verrückte: die Schauspieler machen das mit, begeistert. «Natürlich, wir sind verrückt», erwidert der Fanatiker freundlich, «sonst hätten wir nicht diesen Beruf gewählt. Geht nur ruhig heim, wir kommen schon allein zurecht.» Also überflüssig ist man. Als Antwort dreht der Bühnenmeister den Hauptschalter ab. Und als Vládja im Dunkel hintappt, wieder Licht machen will, kommt's zum Handgemenge. Der gute Feiel, der Friede selbst, sonst bei Streitigkeiten unsichtbar, muss diesmal Stellung nehmen. Der Theatermeister verlangt die Entlassung von dem «Frömde Fötzel», sonst geht er. Noch nie ist des Tapirs Nase so traurig herabgehangen. «Sich schlagen, in mein Ziater!» Aber dann fällt er ein salomonisches Urteil. «Technisches Personal nicht dürfen beanspruchen über Arbeitszeit, sonst ich muss zahlen Überstunden. Aber wenn Künstler wollen weiterschaffen, ist ihre Sache.» Die Belegschaft beginnt zu meutern. Dass der Prinzipal den Mut aufbringt, sich hinter einen Ausländer zu stellen, gegen die Einheimischen, die Grosszügigkeit, diese durch Überstundenhonorare zu versöhnen, das ist eine Sensation. «Kunststück», sagt sein Adlatus, der kleine Washington. «Seit wann hat das Schauspiel so einen Besuch? Selbst die Snobs fahren nicht mehr nach Bern und Zürich ins Theater, die kommen jetzt zu uns. Und am Stehplatz sind's wie die Sardinen, die ganze Jugend.» Ja, das Theater beginnt zu blühen und ich mit ihm. Vládja als Regisseur setzt mich sofort richtig ein. Im Zeichen Dostojewskis. Vládja ist der Mörder Raskolnikow, ich bin der Untersuchungsrichter. Unser Ringen um die Wahrheit lässt alle kriminalistischen Finessen hinter sich. Dem Mörder ist nichts nachzuweisen, er fühlt sich zum Übermenschen berufen, jenseits von Gut und Böse. Aber die Tat beginnt, ihn selbst zu zerstören. Das Geständnis, zu dem ich ihn endlich führe, gewährt ihm die Sühne seiner Schuld. Das Theater bietet seine höchste Möglichkeit: den Vollzug der Menschwerdung.
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Xaver Strub versucht immer mehr, sich mir anzuschliessen. «Den ganzen Tag im Kulissenstaub. Man sollte in frische Luft... » «Man sollte.» «Es gibt eine Schweizer Sportschule. Wir haben hier eine neue Ortsgruppe. Komm mal mit, unverbindlich.» Hardenberg fragt mich barsch: «Wie lange wollen Sie sich noch abgeben mit dieser traurigen Gestalt?» Weder Ton noch Ausdrucksweise bin ich von Hardenberg gewöhnt. Ich sehe ihn befremdet an. «Preist er Ihnen nicht eine Singgilde oder eine Sportschule an? Ich weiss, wie ein Nazi-Agent auf Fliegenfang ausgeht. Sie werden kaum zum Chorälesingen kommen, mein lieber Parsifal, und anstatt Diskus und Speer, werden Sie Wirkungsvolleres zu werfen lernen, nämlich Handgranaten. Zudem haben Sie Gelegenheit, alle Stufen der Subversion und Sabotage einzuüben, bis zur totalen Machtübernahme. Verlockend, nicht?» Leicht hingeworfen, aber an Hardenbergs Ernst ist nicht zu zweifeln. «Woher wissen Sie das?» «Ich gehöre zur nordischen Edelrasse, die berufen ist, die arme Schweiz ihrer höheren Bestimmung zuzuführen. Dafür haben mich bedeutsamere Erscheinungen gewinnen wollen als dieses klägliche Würstchen von einem Mitläufer.» Ich bin betroffen. «Er ist ein Wirrkopf, aber - » « - das Verwirren möglichst vieler Köpfe ist die Voraussetzung für die Errichtung der Diktatur. Wer die Pest hat, den hält man sich vom Leib.» Die Aufführung von «Schuld und Sühne» ist ein Ereignis. Jedermann spürt, eine neue Ära hat begonnen. Nach der Premiere von Vládja zu einem Glas Wein eingeladen. Wir kamen nicht los von Dostojewski. Ich erinnerte an des Dichters Prophezeiung, über Russland werde das Ungeheuer eines menschenverschlingenden Sozialismus kommen... Über Vládjas Gesicht begann sich das sanfte Lächeln auszubreiten, das zugleich Nachsicht ausdrückte wie den Willen, keinen Irrtum zuzulassen. «Dostojewski, im letzten Augenblick der Hinrichtung entronnen, kehrte zurück aus der Todesnacht. Zerrüttet. In der Höhlenfinsternis des 70
Zarismus hat er das Kommen des Lichts erwartet. Aber seiner ungeheuren Wirklichkeit war der zernachtete Geist nicht mehr gewachsen.» «Welcher Wirklichkeit?» «Immer spricht Dostojewski von der Liebe Christi. Aber sie ist von niemandem so verraten und geschändet worden wie von den Christen. Nach Jahrhunderten des Betruges und der Versklavung wartet das russische Volk nicht mehr auf das Reich Gottes. Es hat die Botschaft Jesu im Reich des Menschen verwirklicht.» «Nein, das eben ist der schrecklichste, äusserste Betrug: die Behauptung, der Kommunismus sei im Grunde die Lehre Christi. Die Anwendung von Gewalt bringt niemals Gerechtigkeit, nur die Umkehrung des Unrechts!» Natürlich war keiner von uns imstande, den anderen zu überzeugen. Aber wir fühlten, dass wir einander, trotz allem, mochten. Ich habe dem Türkenkind davon erzählt. «Mich befriedigt, dass man sehr verschiedener Meinung sein, sie vertreten und dennoch Freundschaft schliessen kann.» «Worauf beruht sie dann? Müssen Eure Wege nicht eines Tages doch auseinander führen?» In diesem Köpfchen geht es klarer zu als in dem meinen, dachte ich. Nach einer Weile sagte ich leise: «Merkwürdig, dass ich an Gott glaube.» «Merkwürdig?» In ihren Augen war ein leichter Spott. «Überrascht dich das nicht... ?» «Du meinst, ich merke es nicht, wenn du im Dunkel heimlich betest? Warum schämst du dich dafür?» «Wer erwartet das, von einem Schauspieler, heutzutage... » «Und seit wann - ?» Ich zögerte, voller Hemmungen... «als daheim alles kaputtging... die Deutschen Prag besetzten... die Eltern hatten sich umgebracht... ich war versteckt... kein Ausweg... » «Es musste erst etwas in dir zerbrechen - » « - der Glaube an die menschliche Vernunft, das, was man Fortschritt nennt, meine Einbildung, wir könnten alles allein... » «Man kann auch zusammen beten», sagte sie.
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Dunants Erben
Wir haben die Ferien verdient. Auf altertümlichen, verbrauchten, geborgten Fahrrädern fahren wir über den Gotthard bis in jenen sehnsuchtsfernen helvetischen Erdteil Ticino, in dem die dumpfe nordische Schwere Erlösung von sich selbst sucht und - nicht findet. Wir werden verweht vom Sturmwind, getroffen von der Grelle eines Blitzes, der alles Persönliche verbrennt. Am 22. Juni schmettern es Riesenlettern in die ungläubigen Augen. Ich kann es nur fassen als den uralten Mythos von der menschlichen Hybris, offenbart in unserer Zeit. Der Tyrann, der das ohnmächtige Europa in der Hand hält, er findet immer noch keine Genüge. Er stürzt sich in die russische Unendlichkeit, aus der es kein Entrinnen gibt. Die Gottheit hat ihm den Sinn verwirrt, sie duldet nicht den Menschen, «der sein will wie Gott». Unsere Hoffnung gerinnt zur Gewissheit, dass alle zerstörerische Macht zuletzt sich selbst zerstört. Wie kann man existieren im Windschatten der Katastrophe, im Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit? Fragt die Ameise, die das Fetzchen eines Halmes schleppt, was es bewirken kann in der Ungeheuerlichkeit des Urwaldes? Ich vollende das Stück, das ich vor zwei Jahren begonnen habe, das Drama meines Landes. Am ersten Tag der neuen Saison überreiche ich dem Direktor mein Stück zum Lesen. Er strahlt. «Auch noch Dichter? Brav!» Aber einige Tage später hängt die Nase sehr traurig herab. «Schön, Serr schön. Sogar geweint. Aber - wissen - treten auf leibhaftige Nazis, SS-Mann - was wird sagen Fremdenpolizei und - », jetzt schüttelt er den Kopf, immer wieder, um sich endlich den Namen abzuringen: «Doktor Veraguth!» Er sieht mich beschwörend an, als sei's schon ein Sakrileg, den Namen des Höchsten auszusprechen. «Wird nicht gestatten Aufführung.» «Warum nicht? Freiheit, Demokratie, das sind auch die Anliegen der Schweizer.» «Nein, nein», wehrt der Prinzipal ab. «Das heisst, ja. Aber nicht wollen hören von Emigrant.» Damit gibt er mir mein Stück zurück. Ich gebe nicht auf. Ich hoffe auf die Unterstützung Vládjas.
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Bis Neujahr ist's uns gelungen, in einem Haus ein leeres Stockwerk zu mieten. Vier Zimmer! Das ist weit mehr als ich und das Türkenkind brauchen. So kam's, dass wir nun zusammenhausen mit Vládja und seiner Familie. Zdenka, die Mutter des kleinen Jirka, kenne ich länger als Vládja. Sie gehörte an den Bühnen in Prag zu den profilierten Antifaschisten, wirkte wie ich für die Völkerversöhnung und gegen den Hass. Vergeblich. Die Tschechoslowakei wurde von den braunen Horden überwältigt. Zdenka floh mit Vládja durch das besetzte Österreich, um in die Schweiz zu gelangen. Auf abenteuerlichen vorarlbergischen Schleichwegen wickelten sie das Kind in Tücher, gaben ihm Schlafmittel, damit sein Weinen sie nicht verrate. Es waren die schweizerischen Grenzer, die sie zuletzt zurückjagten. Der zweite Versuch schien erst recht eine Katastrophe, obgleich sie diesmal tiefer in die Schweiz gelangten. Sie wurden aufgegriffen, von einem St. Gallischen Polizeihauptmann verhört und - durchgelassen. Sie waren nicht die einzigen, an denen er Menschlichkeit praktizierte. Für diese Insubordination wurde er zur Rechenschaft gezogen und entlassen. Zdenka war nie eine Schönheit gewesen, bedurfte dessen auch nicht. Nie hatte Prag eine unheimlichere Lady Macbeth gesehen. Jetzt, nach allen Entbehrungen und Abenteuern auf Leben und Tod, ist ihr Gesicht noch knochiger, ihre Hakennase noch prägnanter geworden. Im Profil gleicht sie einem Falken, hat seinen durchdringenden Blick, das tapfere Herz, den scharfen Schnabel. Den Kampf aufgeben? Niemals! Jede verlorene Schlacht ist in ihren Augen die Chance, dem Gegner das Rezept für den Endsieg abzunehmen. Was für eine Kameradin war sie doch! Auf sie freute ich mich am meisten. Doch es zeigte sich, auch ihr inneres Profil ist hagerer, schärfer geworden. In den Prager Jahren hatte man sich gemeinsam in die weltanschaulichen Kämpfe gestürzt, war auf den antifaschistischen Manifestationen nebeneinander gestanden. Da konnte ihr Enthusiasmus sich ausleben, Frucht tragen. Aber jetzt ist ihr all das verwehrt. Zum Unterschied von Vládja hat sie keine Arbeitsbewilligung, sie darf nicht auftreten, geschweige sich politisch äussern. So wandelt sich ihr unterdrückter Impetus oft zu jäher Aggressivität. Sie ist ein altes Mitglied der kommunistischen Partei und stolz darauf. Ich ging nicht diesen Weg. Die unheimlichen Moskauer Prozes73
se der dreissiger Jahre weckten in mir nagenden Zweifel. Dass alle alten Mitkämpfer Lenins, mit alleiniger Ausnahme Stalins, Verräter gewesen sein sollten, des Todes würdig, widersprach jeder Wahrscheinlichkeit und Logik. Dass auch die grossen russischen Künstler und Dichter, die ich bewunderte, Tairoff, Meyerhold, Bulgakow, Majakowski, im Nichts verschwanden, erfüllte mich mit Grauen. Immer noch klammerte man sich an die Hoffnung, die Sowjetunion sei ein Garant der Freiheit. Auch das war zusammengestürzt, als Stalin mit Hitler gemeinsame Sache machte, den verzweifelt kämpfenden Polen in den Rücken fiel, um die Beute mit den Faschisten zu teilen. Doch das bleibt hinter meiner Stirne, stumm. Es gilt, das Gemeinsame zu bewahren, miteinander zu wohnen, zu arbeiten. Ich gebe Vládja und Zdenka mein Theaterstück zu lesen. Hier ist es, was uns verbindet, die Tragödie unseres Landes, der Kampf gegen den Faschismus, die Hoffnung auf die Freiheit. Heute rief mich Vládja. Er blätterte in meinem Manuskript. «Man spürt den Theatermenschen. Lebendige Dialoge, dramatische Architektur, steigende Spannung - » «Warum erst soviel Zückerchen», unterbrach ihn Zdenka. «Sie meint, du hättest den Schluss verfehlt», sagte Vládja begütigend. «Ein tschechisches Mädel - ein deutscher Junge, warum nicht? Romeo und Julia in Prag. Aber das verträgt kein Happy-End.» «Der Junge begeht einen Selbstmordversuch. Kann man je zusammenleben in einer Welt des Hasses?» Jetzt war Zdenka nicht mehr zu halten. «Der Hass hört auf mit der Vereinigung der Proletarier aller Länder. Dann verschwinden Hass und Krieg. In der sozialistischen Gesellschaft gibt es keine rassischen und nationalen Probleme.» Ich schwieg. Sie ist eine gute Kameradin. Und ihr Sohn, der kleine Jirka, ist mein Freund. So einen Jungen wünsche ich mir mal. Bis tief in die Nächte verarbeite ich Nachrichten für die Presse. Heydrich herrscht jetzt in Prag, als Chef der Sicherheitspolizei. Der tschechische Ministerpräsident Elias, der Prager Oberbürgermeister Klapka werden dem Henker überliefert. Mir hatte Klapka zur Flucht verholfen. 74
Tausende werden in die Konzentrationslager verschleppt. Auch mein Bruder, seine Frau, nach Theresienstadt. Ihre vorgedruckte Postkarte: «Es geht uns gut.» Einer im Theater scheint seiner Sorgen ledig. Der früher so mürrische Xaver bewegt sich jetzt federnden Schrittes, seine herausfordernden Blicke suchen vor allem Hardenberg. «Sie haben Ihren Pass der Gesandtschaft zurückgeschickt. Ein Freiherr von Hardenberg - und vaterlandslos. Sie werden das bereuen.» Hardenberg kehrt ihm den Rücken. Am ‹Bunten Abend› rezitiert Xaver das Gedicht eines Autors, den er nicht nennt, lodernd vor Begeisterung. Es endet: «Wir müssen vor den grossen, stolzen Zeiten bestehen können - ist der Weg auch weit. Dafür im eignen Land zu streiten, sind wir mit gleichem Opfermut bereit, auch wir!» Von der Bühne abgegangen, stösst Xaver auf den Prinzipal. «So redet kein Schweizer. Ist keine Neutralität.» «Neutralität ist der Schandfleck der Feiglinge und Profiteure.» Xaver blickt herausfordernd um sich. Der empörte Feiel murmelt hinter ihm her: «Dieser, dieser... » Da tritt Hardenberg lächelnd zu ihm. «Einen Nachtwandler soll man nicht ansprechen. Er stürzt ab - ganz von selbst.» Ich war nie mehr bei Doktor Ruchti, Xavers Mentor. Aber Lena interessierte mich, die Praxishilfe, Xavers so ungleiche Schwester. Der Bruder ist keines eigenen Denkens mehr fähig. Am Mädchen Lena scheinen des Doktors gehässige Tiraden abzugleiten. Politik berührt sie nicht; das sei Männersache, hat ihr die Mutter eingeschärft. Sie ist nicht vom Intellekt her bestimmt, sondern vom Gefühl. Darum hat sie den Beruf der Krankenschwester gewählt. Ruchti sei ein tüchtiger Arzt, sagt sie, das lerne sie bei ihm, alles andere interessiere sie nicht. Ich habe Valérie Grandcoeur gebeten, ob ich Lena mitbringen dürfe. Die Praxishilfe Doktor Ruchtis? Der ist ihr äusserster Gegenpol, menschlich wie politisch. «Wird das Meitschi bei mir nicht herumschnüffeln?»
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Doch Lenas offene Art, die nichts verschwieg, gewann sofort Vertrauen. Ihre kindhafte Naivität war eine Herausforderung für Valéries Mutterinstinkt, der sofort erwachte, wenn es etwas zu beschützen galt. «Behüt' dich Gott vor diesem Ungeheuer», sagte sie. «Natürlich ist mein Chef ein Ungeheuer», lachte Lena. «Aber gibt es im Märchen nicht auch einen braven Drachen?» «Im Märchen... » «Nein, Frau Grandcoeur. Er ist es. Er frisst seine Patienten nicht, er heilt sie.» «Menschenfresser sind lieb, solang sie kein Blut riechen», beharrte Valérie grimmig. «Bis dahin begnügen sie sich mit Schafen.» « ... wie mit mir!» Lena steckte alle mit ihrem Gelächter an. An einem Septemberabend, gegen Praxisende, öffnete Lena einem jungen Arzt des Spitals, den sie kannte und mochte. «Was denn, bist du krank?» «Dein grosser Häuptling hat mich herbestellt.» «Ich soll auch noch bleiben. Warum eigentlich?» Tatsächlich, ein lieber Drache war das heute. Er komplimentierte die beiden in die bequemsten Fauteuils, entkorkte eine Flasche Zuger Kirsch, schenkte ein und hob sein Glas. «Ihr seid Glücksvögel!» Er leerte sein Glas. «Mein hochverehrter einstiger Chef am Kantonsspital Aarau, der heutige Oberstdivisionär, hat uns eine einzigartige Chance gegeben. Ich gratuliere euch!» Er trank wieder hastig. «Es wäre sehr nett zu wissen, worauf wir anstossen sollen», sagte Dr. Bolliger. «In sechs Wochen geht eine Mission schweizerischer Ärzte und Krankenschwestern an die Ostfront - und ihr beide seid mit dabei!» Er sah sie triumphierend an. «Was für eine Ostfront... ?» «Was für eine Ostfront?» äffte Ruchti den jungen Arzt nach. «In den Tiefen Russlands kämpft eine todesmutige Elite für unsere europäische Kultur. Es ist an der Zeit - » «Kultur?» unterbrach ihn Bolliger kühl. «Mir scheint, es geht eher um Ölquellen, Anbauflächen, ideologisch verbrämten Machtgewinn - » « - du hast deinen Beruf verfehlt, Herr Oberlehrer! Kommt daher mit dem erhobenen Zeigefinger, angesichts des Ungeheuren, das wir
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miterleben! Sind wir wirklich nichts als feige Nutzniesser des deutschen Sieges über den asiatischen Bolschewismus?!» «Es soll auch schon heldenhafte Schweizer SS-Leute geben - » Bolliger wurde immer kühler. «Red' keinen Chabis - » Ruchtis Zornader begann zu schwellen, als Lena schnell sagte: «Herr Doktor, ich dumme Gans versteh' nichts von Politik, ich bin nur eine simple Krankenschwester - » «Das sollst du jetzt erweisen! Dunant dreht sich im Grab herum, weil die Herren vom Roten Kreuz in Luxusbüros ihr Fett mästen, während draussen Tausende zerfetzt werden, hilflos verbluten! Die Stunde von Solferino hat geschlagen, für alle, die ihr Leben leidenden Menschen weihen.» Ruchti war in Begeisterung geraten, wieder füllte er sein Glas. «Na, seid ihr immer noch nicht bereit, mit mir anzustossen?» Lena hob gehorsam ihr Glas, Bolliger trank seines höflich aus, ohne anzustossen. Dann sagte er: «Darf man noch fragen, wer hinter dem Unternehmen steht, es finanziert?» «Es steht unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes, falls das dem Herrn Pedanten genehm ist, und wir haben schon über eine halbe Million beisammen, gespendet von guten Schweizern, Industriellen und Banken - » «Industriellen und Banken», wiederholte Bolliger trocken. «Was ist denn das!» Ruchti stand auf, seine Stimme orgelte, ganz Jovialität und Herzlichkeit. «Ich dachte, du bist mein Lieblingsschüler, du würdest bis zur Decke hüpfen. So eine Chance! Also?» «Ich darf s mir überlegen?» «Bis übermorgen, spätestens. Wenn wir uns nicht beeilen, sehen wir nichts mehr vom Krieg, dann kommen wir noch gerade zurecht zur Siegesparade - in Moskau.» Das alles erfuhren wir am nächsten Tag bei Valérie, als Kriegsrat gehalten wurde. Wortwörtlich! In den Krieg oder nicht. Für mich, Vládja und Zdenka war es undiskutabel, schockierend. Aber Lena hatte sich schon entschieden. Das Unternehmen entspreche genau der Verpflichtung, die sie als Krankenschwester auf sich genommen habe: Hilfe zu leisten, wo immer es auch sei, und zwar jedem, ungeachtet seines Standes, seines Glaubens, seiner Herkunft.
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«Auch im Tross des Eroberers», sagte Zdenka, «der ein fremdes Volk mutwillig überfallen hat, es vergewaltigt und ausraubt? Ist es deine Aufgabe, dabei Hilfsdienste zu leisten, dich mitschuldig zu machen?» «Mitschuldig?» Wir erkannten die sanfte Lena nicht wieder, plötzlich stand sie auf den Barrikaden. «Henri Dunant hat bei Solferino Franzosen und Österreicher gepflegt. Beides waren Eindringlinge, Eroberer in einem fremden Land. Hat er sich schuldig gemacht, als er den Sterbenden beistand?» «Lasst sie», sagte jetzt Valérie. «Jeder kommt im Leben an eine Kreuzung. Kein Wegweiser kann sagen, was einem wo widerfahrt. Man muss seine Wege gehen, um es herauszufinden.» 15. Oktober 1941. Einunddreissig schweizerische Ärzte, dreissig Krankenschwestern und Pfleger treten die Fahrt nach Osten an. Lena und Dr. Bolliger sind bei der Hauptgruppe; sie fahren von Bern aus mit dem Zug, in Begleitung des deutschen Militärattaches Oberst von Ilsemann. Ruchti, wie könnte es anders sein, ist bei der Vorhut. Mit seinem Gönner, dem Oberstdivisionär Bircher an der Spitze, führt er eine motorisierte Kolonne, die Jünger Henri Dunants, von Aarau aus, durch das siegestrunkene Dritte Reich nach Osten. Ende Januar. Nach mehr als drei Monaten ist die Expedition zurückgekehrt. Lena hat sich noch nicht gezeigt. Ihre Stimme am Telefon klang belegt. Sie seien in Smolensk bei unvorstellbarer Kälte abgereist, 43/ unter Null, ungeheizte Waggons, sogar der Cognac, ihr Abschiedsgeschenk, sei eingefroren. Jetzt müsse sie wieder auftauen, sich etwas restaurieren. Endlich, eines Nachmittags, war sie bei Valérie, ganz die alte, vielleicht etwas zu aufgeräumt. Sie brachte ein Fotoalbum mit, schlug es sofort auf. Gruppenbilder, erst nur die Teilnehmer der Mission, in graublauen Spezialuniformen, ohne Gradabzeichen, die Schwestern in der Tracht. Dann kamen deutsche Offiziere dazu, schliesslich Verwundete und Rekonvaleszenten, die Posen wurden immer ungezwungener, Schwestern mit Offizieren und Patienten eingehängt, Arme um die Schultern. «Man hat sich sehr gut verstanden, scheint's», bemerkte Zdenka. 78
«Wenn man nicht zusammenhält, in der Kälte, in Dreck und Blut, geht man kaputt. Eine Feldbaracke ist kein Sanatorium.» Auf dem ersten Albumblatt stand in kunstvoller Zierschrift: «Unserer fröhlichen Schwester Lena in ewiger Dankbarkeit die Patienten der Sanitätsstation IV c in Wjasma.» «Das haben sie mir zum Abschied geschenkt, meine Jungs», sagte Lena, «und einen Chor haben sie auch dazu einstudiert: Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus, und du, mein Schatz gehst heim... » Nach den Gruppenbildern kamen die ‹Jungs› einzeln. Zu jedem Foto hatte Lena was zu erzählen, die Verwundung, Heilung oder Nichtheilung, Herkunft oder Schicksal... Was redet sie soviel. Immer schneller, als ob sie nicht will, dass wir etwas sagen. Zu jeder Fotografie gehörte eine Widmung: «Da soll noch einer sagen, dass es keine Engel gibt!» «So wie die Lene jibt's aber keene!» Zdenka war aufgestanden. «Lustig ist das! So lustig, dass ich kotzen möchte!» Sie warf die Türe zu. Auf Lenas schmal gewordenen Wangen sprangen rote Flecken auf. «Als ob man das ganze Elend sonst durchhalten könnte... » «Das ganze Elend», wiederholte Valérie. «Hast du auch Russen gepflegt?» «Das war verboten, wie jeder Kontakt mit der Bevölkerung. Wir durften nur in Gruppen ausgehen. Wohin auch? Überall Dreck, Morast, dann Schnee. Die einzige Zuflucht der Friedhof.» Im Zimmer wurde es still. Die Dämmerung verwischte die Konturen. Lenas Stimme war ohne Ausdruck, als sie schliesslich sagte: « ... Einmal gegen Abend, wir waren zwei Schwestern, standen Posten vor dem Friedhof. ‹Eintritt verboten› und dann scharf: ‹Kehrt um, marsch!› So einen Ton waren wir nicht gewöhnt. ‹Haut ab! Sofort!› brüllte der eine. Wir kehrten um. Uns entgegen kam ein Fuhrwerk. Schwere Rosse, der Wagen, hoch beladen, schwankte unter der Last. Eine unförmige Masse, unter Planen. Zu beiden Seiten je ein Posten. ‹Fort, Ansteckungsgefahr!› schnauzte der eine. ‹Scharlach!› der andere.» «Scharlach?» «Scharlach, sagte der Mann. Sie fuhren weiter, wir starrten ihnen nach. Aussen an der Friedhofsmauer war eine riesige Grube. Vor der 79
hielten sie. Man sah kaum mehr in der Dämmerung. Aber man hörte. Als die ersten Körper unten aufschlugen, begannen wir zu laufen... » Vládja war hiergeblieben. Jetzt sagte er ruhig: «Haben Sie darüber nachgedacht, Lena, wer die Menschen waren, die man da verscharrte? Was für eines Todes sie starben?» Kein Laut. Schon als Kind hatte man ihr eingebleut, sie dürfe niemals weinen. Vládja erhob sich, trat zu ihr. «Ihre Reise hatte einen Sinn: dass Sie der Wahrheit begegnen.» Lena begann es zu schütteln, sie musste sich an ihm festhalten.
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In Tyrannos
Lena kommt nicht mehr los vom Friedhof in Wjasma, von den niegesehenen Körpern, in der Finsternis in eine lehmige Grube gestürzt. «Denn das Heil kommt von den Juden» - hatte der Pfarrer einmal gepredigt, als sie neben der Mutter in der Kirche sass... Warum brachte man sie jetzt zu Tode, die Juden? Sie verstand nichts davon, die Lena, denn alle Politik ist schmutzig, hiess es zu Hause, darüber wurde nicht gesprochen. Um so mehr spricht der Bruder jetzt darüber, der von daheim davongelaufen war, dem Vater «so viel Schande angetan hat», zuletzt Schauspieler geworden ist. Xaver hatte sich gegen den Vater empört, dem er doch in vielem ähnlich ist: in der Härte gegen sich und andere, im Anspruch, die von ihm anerkannte Wahrheit gelte für jedermann. In Lena ist die Mutter mächtig. Auch sie ist auf ihre Weise vor des Vaters Härte geflüchtet: immer tiefer hinein in die Liebe. Die Kirche ist voll davon, in den Gebeten, im Duft des Weihrauchs, dem im Schein der Kerzen zuckenden Antlitz des Erlösers... «Warum hat man ihn gekreuzigt?» hatte die kleine Lena die Mutter gefragt. «Es war der Hass, mein Kind.» Der Bruder, der ist voll davon. Er beneide sie, sagte Xaver, sei stolz auf sie. Sie sei ausgebrochen aus dem dumpfen Maulwurfsloch, hinaus ins Licht, um teilzunehmen am Kampf für eine neue Welt. Er aber sei verurteilt, weiter zu vegetieren in dieser Enge, beherrscht von selbstgerechten Füdlibürgern, gedemütigt durch anmassende, plattfüssige Juden. Das war es. Jetzt musste es heraus. «Das Heil kommt von den Juden.» Unbändiges Gelächter. Das gute, fromme Schwesterlein! Der heimtückische Mist, bestimmt für naive Gemüter, woher stammt er denn? Aus der Bibel, diesem Pass voll Gift, zusammengemischt von den Juden, die Menschheit zu lahmen, sich gefügig zu machen. Was Wunder, dass sie sich darin als Heilsbringer anpreisen! «Wir haben gelernt, das Wort der Bibel sei heilig, von Gott eingegeben.»
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«Von was für einem Gott, heilige Einfalt?! Ein Wüstendämon, der Abraham dazu brachte, seinen Sohn zu schlachten, der den besoffenen Noah die eigenen Töchter schwängern liess, der Städte durch Pech und Schwefel, ganze Länder durch Pestilenz vernichtete. Dieser ‹Gott› soll uns erlösen?» Vor Lachen verschluckte er sich. «Gott ist die Liebe», entgegnete sie fest. «Ja, ja - wer dich auf eine Backe schlägt, dem halte die andere hin... das ist das perfideste Gift! Es wird uns eingegeben vom krummnasigen Jesus, dass wir wehrlos wie die Schäflein - so heisst es doch - uns auf die Schlachtbank begeben... So, jetzt darfst du mich mit Weihwasser besprengen, wie unsere fromme Mutter, oder mir die Pest auf den Hals wünschen, wie unser prügelnder Vater.» Sie sah ihn ruhig an. «Ich hab' den Vater gern, trotz der Prügel. Und ich hör nicht auf, dich gern zu haben, obgleich du dich selber prügelst.» Die überwältigenden deutschen Siege, auch im Osten, ich habe sie nicht erwartet. Dazu die betäubende Propaganda. Um uns herum Unsicherheit, Angst, Defaitismus. Was kann ein kleines Häuflein gerade noch Geduldeter im umzingelten Land anderes tun, als auf den Brettern, die uns nun wahrhaft die Welt bedeuten, die Flagge des Widerstands hissen, ein Zeichen setzen: In Tyrannos. Steinbecks ‹Der Mond ging unter› ist das Drama des besetzten Landes, aber auch das seiner Besetzer. Hardenberg ist der norwegische Bürgermeister, der die Wahrheit über das Leben stellt. Ich versuche, dem Chef der Besatzung gerecht zu werden. Dieser deutsche Oberst will hier nichts anderes erfüllen als seine soldatische Pflicht. Aber diese Verpflichtung auf eine Obrigkeit, aus deren Entartung er keine Konsequenzen zieht, reisst ihn mit ins Verhängnis. Der einheimische Anpasser, in dem man das Urbild des ‹Quisling› erkennt, ist mit Xaver Strub besetzt. Er bemerkte dazu, wer ihn mit dieser Rolle demütigen wolle, werde enttäuscht sein. Endlich könne er ganz legitim seiner Überzeugung Ausdruck verleihen. In der Garderobe tritt Strub zu mir. «Sie spielen den deutschen Offizier sehr anständig, deshalb gebe ich Ihnen eine Chance. Zum letztenmal. Erklären Sie sich damit solidarisch.» Damit legt er mir ein Blatt hin, mit hektografiertem Text. Er lautet:
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«Warum ist unser Theater unschweizerisch? Warum muss es einen echten Schweizer ekeln, wenn er dieses Theater betritt? Weil der Direktor Feiel in Wirklichkeit Veilchenfeld heisst, sich dementsprechend bereichert, sein Stellvertreter ‹Washington› nicht nur einen Wasserkopf hat, sondern auch so heisst, der den Spielplan vergiftende Vládja Grossman ein tschechischer Jude ist... » «Lüge!» rufe ich, «er ist ein Bauernsohn!» « ... der sogenannte Freiherr von Hardenberg ein Renegat ist, den sein Vaterland ausgespien hat... » Ich lese nicht weiter. «Ich erkläre mich solidarisch - mit denen, die auf der schändlichen Liste stehen. Setzen Sie meinen Namen dazu.» Xaver tritt einen Schritt zurück. «Überlegen Sie sich's gut. Ich lasse das heute abend im Publikum verteilen und morgen in der Stadt.» Ich will ihn an den Schultern packen, halte mich mit Mühe zurück. «Wenn Sie wirklich etwas von der Ehre besitzen, die Sie so oft im Munde führen, dann werden Sie heut' abend vor der Aufführung das ganze Ensemble mit... dem da bekanntmachen. Ich lasse eine Vollversammlung einberufen.» Xaver scheint unschlüssig. Es läutet. Der Inspizient ruft: «Herr Strub!» Er steckt das Blatt ein, geht auf die Bühne. Neben mir, auf Xavers Platz, liegt eine prall gefüllte Tasche, daraus hat er das Pamphlet genommen. Ich greife hinein - da, ein zusammengeschnürter Pack. Noch ein Blatt rutscht mit heraus. ‹Landeskarte der Schweiz›, steht darauf, ‹Blatt 1127›. Ich entfalte es. Der mir wohlbekannte Solothurner Jura. Wie oft bin ich hier mit dem Türkenkind gewandert. Aber was bedeuten die mit mehrfarbiger Tusche eingezeichneten Kreuze, Punkte, Ringe, andere Zeichen? Bei den Ein- und Ausgängen der Tunnel sind sie, auf den Passhöhen, hier in der Schlucht - mit einemmal durchfährt es mich heiss. Der Weg war dort eine Zeitlang gesperrt, als die Tanksperre im Bau war, und hier, hier ist doch der neue Bunker! Auf der Karte gekennzeichnet durch ein Kästchen. Und die roten Punkte, sinnlos in die Waldpartien hineingemalt... sinnlos? Genau dort ist es, wo wir uns über die mit einfachen Drahtgittern eingezäunten Baracken amüsiert haben, 83
und über die Tafeln ‹Militärisches Sperrgebiet. Eintritt bei Strafe verboten›. Was denn darin sei, hatte mich das Türkenkind gefragt. «Waffen, Wurstelchen, Waffen für den Ernstfall.» Sie riss die Augen auf. «Und wenn das im Ernstfall die Falschen herausholen?» Ich falte die Karte zusammen, stecke sie in die Brusttasche, öffne die Garderobetür, steige die Treppe hinab - hinter mir zerbröseln die Stimmen von der Bühne. Der Marek genannte Körper, ohne dass der Kopf ihn dazu veranlasst hätte, macht sich sozusagen selbständig, lässt sich, ein Tagwandler, von den Beinen, eins, zwei, eins zwei, die Schaalgasse hinauftragen, überquert die Hauptgasse und tritt ins winklige Quaderlabyrinth des alten Rathauses. Erst als er an eine Tür klopft, es herein ruft, werden Körper und Kopf wieder eins. Ich lege die Landkarte auf Feusis Tisch, sage, woher ich sie habe. Feusi entfaltet das Blatt, seine Finger mit den säuberlich kurzgeschnittenen Nägeln fahren von Punkt zu Punkt, Kreuz zu Kreuz, Kästchen zu Kästchen. Die Hand nimmt den Telefonhörer, stellt die Nummer 031 ein, dann 61 - ich werde sie nie vergessen - und eine kalte Stimme (ist das noch Feusi?) sagt: «Bitte Bundespolizei.» Dann sieht er mich an. «Sie haben uns einen grossen Dienst erwiesen.» Als ich mich zur Türe wende, heisst es noch: «Kein Wort. Zu niemandem.» Keine Viertelstunde, und ich bin zurück im Theater. Die Probe läuft weiter. Nach einer Weile ruft der Inspizient: «Herr Truntschka!» Die Bühne betritt kühl und korrekt, der deutsche Oberst, Chef der Besatzung. Abends um sechs. Gedränge, Stimmengewirr, Spannung, zuoberst im Probensaal, in dem vor zwei Jahrhunderten die Jesuiten ihre Exerzitien hielten. Ohne jede Einleitung beginne ich Xavers Pamphlet vorzulesen. Ansätze von Gelächter der eine Gaudi vermutenden Spassvögel werden von einem Schweigen verschlungen, das etwas Unheimliches hat. Nach einer der schamlosesten Injurien werde ich unterbrochen. «Was soll diese Sauerei?» «Das wird heute abend ans Publikum verteilt.» Jetzt explodiert die Stille. «Von wem? Wo ist das Schwein?!» Die Türe öffnet sich. 84
Es ist der Direktor. Er umfasst missbilligend seine eben noch so lärmende Horde. Dann blickt er kopfschüttelnd in ein kleines Blatt, beginnt seinerseits vorzulesen. «Ärztliches Attest. Ich bestätige hiemit, dass Herr Xaver Strub sich mit heftigen Unterleibsschmerzen bei mir eingestellt hat und arbeitsunfähig ist. Ich habe ihn ins Krankenhaus überwiesen, mit Verdacht auf akute Appendicitis, in Klammer: ti. Blinddarmentzündung. - Dr. Ruchti» Am gleichen Abend noch erscheinen im Spital zwei Herren, deren ungemeine Diskretion sie unmissverständlich als Detektive ausweist. Es stellt sich heraus, dass ein Patient namens Xaver Strub hier weder eingeliefert, noch ambulant untersucht worden ist. Eine Rückfrage bei Doktor Ruchti führt zu keinen neuen Erkenntnissen. Bis auf eine: Die Praxisschwester Lena hat fristlos gekündigt. Die seltsamen Umstände von Strubs Verschwinden geben noch lange Anlass zu erregten Kommentaren, kaum verhüllten Verdächtigungen, phantastischen Mutmassungen. Ein blosses Plätschern im Wasserglas. Darin sind wir, trotz allem, noch geborgen. 7. Dezember 1941. Japanische Bomber und Unterseeboote überfallen ohne Kriegserklärung den USA-Stützpunkt Pearl Harbour auf Hawai. Die Pazifikflotte der Amerikaner geht unter. Rund um den Erdball züngeln jetzt die Flammen. Prag ist im Griff von Heydrich. Er herrscht mit Spitzeln, Gestapo, mit Folter, Strang und Galgen. Bis eines Tages... «Kriminelle Banditen haben in Prag ein hinterhältiges Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich verübt. Die Liquidation der Verbrecherbande ist im Gange.» Das ist die offizielle Verlautbarung aus Berlin. Sie erscheint auch in der schweizerischen Presse. In einem gewissen Zimmer brennt das Licht bis in die Morgenstunden. Die Basler «National-Zeitung», die Zürcher «Weltwoche», die «Nation» in Bern berichten, was kein Propaganda-Ministerium verbreitet. Tschechische Widerstandskämpfer, nachts zuvor aus einem Flugzeug abgesprungen, haben aus nächster Nähe die Bombe in Heydrichs Auto geworfen, konnten in der entstandenen Panik untertauchen.
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Aber nicht die Bombe selbst hat ihn getötet. Die abertausend winzigen Partikel der Kunststoffpolsterung durchdrangen seinen Körper, selbst sein Hirn, liessen ihn langsam, unter Qualen verenden. Rache bis zur Raserei. Das Gerücht, die Attentäter hätten sich dort auf der Flucht verborgen, löscht zwei Dörfer aus. Lidice und Slezáky werden niedergebrannt, dem Erdboden gleichgemacht, alle Männer erschossen, die Frauen fortgeschafft in Frontbordelle, die Kinder verschleppt. Noch immer keine Spur von den Attentätern. Aus schweren Granitsteinen hatte die Dynastie der Familie Petschek, «die böhmischen Rothschilds», ihr Bankhaus am Prager Stadtpark errichtet. Die Gestapo hat das Haus der Juden zu ihrem Hauptquartier gemacht. Aus diesen Kellern dringt kein Stöhnen. Was haben sie ihm angetan, dem Pfarrer der Cyril-und-Method-Kirche, um ihm das Geheimnis der Krypta zu entreissen?! Die dort verborgenen Widerstandskämpfer nehmen sich nach aussichtslosem Kampf das Leben. Ins Lokal tretend, wo wir gemeinsam essen, finde ich meinen Freund Hardenberg in seltsamer Haltung auf dem Stuhl, den Kopf auf der Brust, die Linke herabgefallen, daneben eine Zeitung. Dann, als wär's ein Zentnergewicht, nimmt er die Zeitung auf, deutet auf den Bericht, ahnungslos, wer der Urheber ist. Sein Blick, aus der Tiefe des Entsetzens zurückkehrend, fragt, hast du's gelesen? In das banale Klappern der Teller und Bestecke im Lokal fällt Hardenbergs «Ich schäme mich, Deutscher zu sein». «Es gibt noch andere Deutsche.» Aber er schiebt mich von sich. «Wir haben es zugelassen. Darum werden wir es büssen.» Biel, 16. März 1943. Ein Schreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes. Für einen Flüchtling nichts Gutes. «Am 31. März d. J. endet Ihre Tätigkeit am Städtebundtheater Solothurn-Biel, zugleich die Ihnen hiefür erteilte Arbeitsbewilligung. Da Ihnen als Emigranten mit Toleranzbewilligung gemäss Bundesratsbeschluss vom 17. Oktober 1939 keine andere berufliche Tätigkeit gestattet ist, Sie anderseits der öffentlichen Hand nicht zur Last zu fallen haben, wird hiemit Ihre Einweisung in das Lager Bassecourt, Kt. 86
Bern, verfügt. Sie haben sich dort unter Vorlage dieses Schreibens spätestens bis 3. April d. J. einzufinden. Wir machen Sie aufmerksam, dass - falls Sie der Einweisung in das Lager nicht fristgemäss Folge leisten - gemäss BR-Zusatzbeschluss vom 17. Mai 1940, Sie eine sofortige Ausschaffung aus der Schweiz zu gewärtigen haben.» Ich bin denunziert worden. «Ausschaffung» in die Hände der Gestapo... Es gibt einen Selbsterhaltungsinstinkt. Ich nehme den nächsten Zug von Biel nach Solothurn. Hier ist ein Mensch, mag er auch die Maske Buddhas tragen. Falls man mich des Verbrechens anklagt, öffentlich die Wahrheit zu schreiben, dann ist es dieser eine, der Nichtbürokrat, der imstande wäre, zu verstehen. Buddha sagt: «Ich habe Sie erwartet.» Ich hole tief Atem da beginnt Buddha zu lächeln. «Ich habe eine Kopie des ominösen Ukas erhalten.» «Man droht mir mit Ausschaffung!» In das Lächeln des Gottes mischt sich Verachtung. «Wer mit Paragraphen um sich wirft, sollte sie wenigstens kennen. Der zitierte Bundesratsbeschluss bezieht sich ausschliesslich auf illegal in die Schweiz gelangte Personen. Wie das bei derartigen Improvisationen zu sein pflegt, leidet die neue (Zentralstelle für Arbeitslager) nicht unbedingt an einem Übermass an qualifizierten Kräften.» Meine Last wird leichter. «Und warum gerade ich... ?» «Das wollte ich vom betreffenden Herrn auch wissen. Sie hätten im Theater eine gegen die Schweiz gerichtete Wühlarbeit geleistet, hiess es, unter anderem einen aufrechten Patrioten bei der Polizei verleumdet. ‹Sie meinen, einen in flagranti überführten, derzeit steckbrieflich gesuchten Landesverräten›, war meine Antwort. Ich wollte wissen, von wem der Herr Kollege seine Information habe. Von einem Mitglied der Theaterkommission, mehr dürfe er nicht sagen. ‹Danke, genügt. Es ist uns bekannt, wer ‹aufrechte Patrioten› in ein Spital einweist, in dem sie nie ankommen›!» Der letzte Felsblock stürzt von meiner Brust. «Also muss ich nichts befürchten?» «Eine Frage: Was haben Sie den Sommer hindurch vor?»
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«Ich hab' Direktor Feiel für August Freilichtspiele auf den Schanzen vorgeschlagen. Er ist begeistert, hat mich mit der Vorbereitung betraut.» «Damit ist Ihre Anwesenheit hier unbedingt erforderlich. Sie ziehen unverzüglich von Biel hierher. Damit stehen Sie unter der Jurisdiktion und dem Schutz des Kantons Solothurn.» Auch Vládja hat die ominöse Verfügung erhalten, mit einem vertrackten kleinen Unterschied. Ihm wurde sie von zwei Detektiven überbracht. Sie haben ihn gleich mitgenommen. Erst nach Bern zum Verhör, dann weiter ins Zuchthaus Witzwil. Ich stürze zu Feusi. Aber selbst Buddha kann nicht helfen, erklärt sich für unzuständig. Witzwil sei eine Berner Strafanstalt. Was Vládja denn begangen habe? Er sei gleichfalls denunziert worden, aber leider mit relevanter Begründung. Es sei mehrfach bezeugt, dass seine Frau antideutsche Propaganda kommunistischer Observanz betrieben habe, er selbst habe beim Verhör bestätigt, er sei Mitglied der kommunistischen Partei. «Und das ist ein Verbrechen?!» Ich werde belehrt, die Schweiz könne unter den heutigen Verhältnissen nicht eine Plattform sein, von der aus fremden Flüchtlingen das Recht gegeben werde, gegen irgendeinen Staat oder seine Institutionen aufzutreten. Es sei bereits ein Entgegenkommen, dass man den Kollegen nicht an die Grenze stelle, sondern lediglich interniert habe. «Im Zuchthaus? Mit Kriminellen?» Er werde, wie andere dort untergebrachte Emigranten, einem besonderen Regime unterstellt. Zwar müsse er mit den inhaftierten Insassen zusammen arbeiten und erhalte Anstaltsnahrung, er sei jedoch in der Freizeit und nachts mit den übrigen Internierten unter sich. Ob Herr Feusi nicht doch Jetzt war er Buddha, unnahbar. «Wenn man Risiken auf sich nimmt, muss man auch die Folgen zu tragen wissen. Und was ihres Kollegen Weltanschauung betrifft, so ist mir jegliche Diktatur gleich zuwider, ob schwarz, braun oder rot.» Ein Brief, Poststempel Gordola, Ticino. «Ich bin hierher, ins Arbeitslager ‹befördert› worden. Im Gefängnis bin ich nicht zum erstenmal. Es ist der ehrenhafteste Aufenthalt in 88
einem kapitalistischen Land. Hier betreiben wir das Roden von Hängen und die Entwässerung der Magadino-Sümpfe. Davon verstehe ich als Bauer zumindest soviel wie vom Theaterspielen. Es scheint, dass sie hier beides ohne uns nicht zustande bringen. Sieh zu, dass das Theater, dem wir soviel gegeben haben, nicht wieder zur billigen Amüsier-Bude wird. Vládja» Noch ein Schreiben, aus Stuttgart. Briefkopf ‹Panorama-Heim›. «Judas! Dir danke ich, dass ich um einiges früher hergekommen bin, wohin ich längst gehöre. Der kühnste aller Träume wird Wirklichkeit. Alexander der Große ist auferstanden, führt des Abendlands Vorhut gen Osten. Fanfaren, Adler, Standarten! Die Blüte der Jugend, die Vision einer kühnen revolutionären Welt vor Augen, stürmt vorwärts, den geheiligten Boden Europas von der Seuche des asiatischen Bolschewismus zu reinigen! In der Germanischen Waffen-SS entsteht jetzt ein Sturmbann Schweiz, in ihm werde ich gegen den Erbfeind Europas kämpfen. Wir kommen zurück, um unsere Heimat von allem Ungeziefer zu reinigen. Dann Gnade dir dein Gott, von dem ich nicht einmal weiss, ob du an ihn glaubst. Du bist ja in allem eine halbe Portion. Heil Hitler! Xaver Strub, SS-Sturmmann.»
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Ende eines Festes
Wieder müssen wir eine Bude suchen, mal hier, mal dort, immer getrennt, von tugendhaften Wirtinnen streng bewacht. Die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit ist stark. Sie will gestillt sein, das Türkenkind lässt da keine Möglichkeit aus. Vor einigen Wochen, in Biel, hatte sich ihrem erfinderischen Geist eine solche eröffnet. Sie trat an dem Abend in Grenchen auf, ich in Langenthal, ich musste mit dem heimkehrenden Autocar unweigerlich durch Grenchen kommen. «Ich werde euch abwarten und steig ein, setze mich neben dich!» Sie glühte vor Begeisterung. Ich weniger. «Bis wir durch Grenchen kommen, ist's nach Mitternacht. Du darfst unmöglich so lang auf der Strasse stehen, allein - » Gegen ein Uhr morgens fuhr unser Autobus durch Grenchen. Totale Verdunkelung, seit einem Jahr strengste Vorschrift. Die Häuserfronten im dichten Nebel nur zu erahnen, der Chauffeur bedurfte eines sechsten Sinnes. «Steht dort nicht jemand?» sagte Hardenberg, er sass neben mir. Ich fuhr mit dem Kopf vor, versuchte in dem armseligen bläulichen Schimmer, den die abgeblendeten Scheinwerfer in die milchige Nebelwand träufelten, etwas zu erkennen. Aber da war der Bus schon vorbeigefahren und der Nebel verschluckte die schattenhafte, unbewegliche Gestalt. Unruhig geworden, berichtete ich von Wurstels ‹verrückter Idee›. «Unmöglich», beruhigte mich Hardenberg, «sie hätte doch gewinkt. Aber die Gestalt stand mit dem Rücken zu uns, rührte sich nicht.» Ein Zweifel blieb, trieb mich in Biel unter ihr Fenster. Dort pfiff ich die Anfangstakte des ‹Torero-Marsches›, unser nie versagendes Signal. Dunkel, Stille. «Sie schläft, da kann die Welt untergehen - » Am nächsten Tag fand ich das Theater in Aufruhr. «Wo ist dein Türkenkind?! Die Generalprobe ist blockiert!!» Versäumnis einer Generalprobe - ein theatralisches Kapitalverbrechen. «Sie muss krank sein.» Ich machte kehrt, lief zu Wurstelchens Behausung. Die Wirtin wusste von nichts. Wir klopften an der Zimmertür, öffneten, das Bett war unberührt. 90
Rückblende: Grenchen, ein Uhr nachts. Da steht sie seit zwei Stunden, friert, vertritt sich die Füsse, haucht in die erstarrten Hände, starrt unentwegt in den Nebel, der alles verschlingt. Und doch muss aus dieser Richtung der Autobus kommen, mit mir. So ganz und gar ist ihr Sein um diese Erwartung gesammelt, fühlen alle ihre Sinne wie Tentakel eines Tiefseewesens in die Dunkelheit vor, dass sie das nahende Motorengeräusch in ihrem Rücken gar nicht zur Kenntnis nimmt. Erst als der bläuliche Schein sie einen Augenblick erfasst, das große dunkle Gefährt, ein Fliegender Holländer, gespenstisch vorbeigleitet, ins Nichts verschwindet, durchzuckt es sie. Sie hebt verzweifelt die Arme, ihn zu halten; ihren Ruf erstickt die wallende graue Masse. Zu spät! In der totalen Finsternis hat sie die Richtung verwechselt. Jetzt schlottert sie vor Kälte, Entsetzen, schlechtem Gewissen. Ich hatte es verboten! Aber das hilft alles nichts. Sie weiss keinen anderen Rat, als zurück ins Grenchener ‹Bad› zu tappen, das Wirtshaus, auf dessen Bühne sie heute ihre Künste zeigten, den anrüchigen Ort. Ans Tor klopfend, erbärmlich rufend, holt sie den Wirt aus tiefstem Schlaf. Sein berechtigter Grimm schmilzt vor ihrer Verzweiflung, ja, so gross ist sein Mitleid, dass er ihr das einzige Lager bietet, über welches ‹Granges les Bains› verfügt. Was für eine Nacht im trauten Dunst des mächtigen Ehebetts, eingekeilt in der Grube zwischen der barchent-umhüllten Gemahlin und dem schnarchenden Wirt! Die Tränen rinnen lautlos über ihre Wangen, bis sie im Morgengrauen endlich doch noch einschläft. Als sie erwacht, jetzt allein im Bett, ist's gegen zehn. Die Generalprobe! Sie fährt auf, stürzt zum Bahnhof. Da steht er ja schon auf dem Perron, der Zug. Sie steigt ein, er fährt ab. Nach geraumer Zeit, zwei Haltestellen weiter, kommt der Kondukteur, betrachtet kopfschüttelnd ihr Billet. «Wo weit dr häre?» «Nach Biel», die nächste Station muss es ja sein. «Die nächschti Station isch Soledurn.» Er betrachtet sie mit der Nachsicht eines Irrenwärters. «Dir ist im verchehrte Zug.» Ausser sich springt sie auf. Was hilft ihr die Erklärung, sie habe den Gegenzug genommen in Grenchen, wo alle Fäden sich ihr verwirren, verknoten.
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In Solothurn erfährt sie, der nächste Zug nach Biel gehe erst kurz vor zwölf. Und sie hat kein Geld mehr bei sich. Wieder findet sie Erbarmen. Der Stationsvorstand leiht es ihr. Als sie endlich in Biel ist, im Theater, fällt eben zum letztenmal der Vorhang. Da hilft nichts mehr als den Kopf einziehen unter dem Sturzbach von Empörung, Strafverfügungen, Vorwürfen, die zuletzt enden in einem Meer des Gelächters, als sie stockend, über sich selbst verzweifelnd, die Geschichte ihres absurden Missgeschicks hervorbringt. Ich scheine weder böse, noch lache ich sie aus. Ich schüttle nur leicht den Kopf, streife mit der Hand ihre Wange. Hardenberg hat mich gefragt, wie ich es eigentlich mit diesem Mädchen meine, das sich so ganz an mich verliert. Ob ich sie zu heiraten gedenke. «Unmöglich! Nach Prag mit einer Deutschen zurückkehren, nach all dem Entsetzlichen, was dort jetzt vor sich geht... man würde sie bespukken, niederschlagen... » Hardenberg blieb kühl. «Und die Konsequenzen? Gedenkt der Gentleman auch weiterhin von einer Köstlichkeit zu naschen, die er dann, vor der glorreichen Rückkehr, vornehm abserviert?» «Ja, was soll ich denn?!» «Ein Gentleman, scheint mir, müsste zu einem von beidem stehen, auf das andere verzichten: Mädchen oder Rückkehr.» Nicht mehr zurück? Es ist doch der Sinn meiner Existenz! Aber ihr und mir selbst weh tun, ohne zwingenden Grund? Als ob jede Beziehung auf Ewigkeit gegründet sein müsste! Und die es beschwören, wie oft scheitern sie! Doch der Freund hat an mein Gewissen appelliert. An einem Nachmittag, ich wählte eine möglichst nüchterne Situation, als sie mich abhören wollte, sagte ich es. Es klang abgegriffen, banal. Dass ich sie auf die Dauer nicht missbrauchen dürfe, sie ihre Jugend an mich verschwende, um eines Tages mit leeren Händen zurückzubleiben. «Na und!» Stand nicht Spott in ihren Augen? «Du hast's ja immer gesagt, deutlich genug: du wirst mich nicht heiraten. Du hast eine Verpflichtung, ich weiss. Die Frau, die dir zur Flucht verhalf, wartet auf dich.»
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Pavlitschkas letzte Nachricht kam mir in den Sinn: ich will leben, leb auch du! «Ich weiss nicht, ob sie noch wartet. Ich weiss nur, dass ich zurückkehren werde und dich nicht mitnehmen kann.» «Dann lass mich doch Stellvertreterin sein, Platzhalterin, bis dahin.» «Es soll sowas wie Verantwortung geben.» «Hast du mich satt?» Ich seufzte. «Weibliche Logik.» «Das also ist Verantwortung, einen Fusstritt zu geben, auf Vorrat! Das alles kommt doch gar nicht von dir!» Ich schwieg. «Diese Freunde, diese lieben, guten Freunde, die sich in alles einmischen, alles zertrampeln!» Sie wurde immer wilder. «Sag ihnen, es ist meine Sache, ganz allein. Ich lebe heute, heute, nicht in der Zukunft!» Mit einem Mal hielten wir uns umschlungen und alles wurde fortgeschwemmt: der ehrbare Rat, meine Prinzipien, alles versank. Aneinandergeklammert treiben wir dahin. Wohin, für wie lange kein Schiffbrüchiger weiss das. Doch ich habe versprochen, mir ein Fest auszudenken. Warum nennt Solothurn sich Ambassadoren-Stadt? Man muss sich nur umsehen: die üppige Pracht der Kirchen, das durch die Jahrhunderte sich entfaltende Rathaus, vor allem aber rings um die Stadt die von erlesenstem Geschmack zeugenden Palais und Landsitze - wären sie entstanden ohne die Gnade des Sonnenkönigs, des Golds, das seine Dynastie über den Sitz des Ambassadeurs verstreute? Dass dieses Gold erkauft wurde mit dem Blut von viertausend Landeskindern im französischen Heer? Die Tränen ihrer Mütter sind versickert, die Hellebarden verrostet, gesprungen die Trommeln der Landsknechte. Doch ein Hauch ist noch da von jener Kultur, welcher das Französische so selbstverständlich ist wie seine ins Schwerblütigere eingegangene Lebensart, die Vorliebe für Kunst und Theater. Man muss sie wieder erwecken! Was, wenn seine Exzellenz, der Ambassadeur, ein Sommerfest gäbe, mit Musik, Gesang und Tanz? Da steht ja noch ein Halbkreis der stolzen Schanzen. Nie, zum Glück, hat sie die Kriegsfurie geprüft, keine Kanonen, kein Brand sie verwüstet. Natur und Architektur sind
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hier eins unter alten Ulmen, Buchen und Linden. Hier wird seine Exzellenz die Gäste empfangen. Musiker, Sänger, Tänzerinnen und Tänzer, glücklich in der sonst für sie so öden Sommerzeit, beginnen zu proben: Glucks ‹Maienkönigin› und Mozarts ‹Bastien und Bastienne›. Der Kanzler seiner Exzellenz begrüsst die Gäste, nachdem die ‹Kleine Nachtmusik› in die Augustnacht verweht ist. Gleicht er nicht dem Schauspieler Marek? Er beschwört Solothurns Geschichte, der Strom des Geschehens trägt ihn bis zum Heute. Er dankt für die unverdiente Gnade, die uns noch Frieden gewährt, fordert auf, Blut und Leiden zu stillen. Am nächsten Tag bricht die gewittrige Schwüle aus in Regenfluten, tagelang. Sie schwemmen alles fort: Tänzer, Sänger, Musik und Publikum. Da ist kein Fest mehr. Für niemanden ist es so zu Ende wie für mich.
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Die Schwester
Ein Telegramm. Es ist von Katja. Die Gestalt der Schwester begleitet mich schattenhaft, wo ich auch bin. Vor Jahren schon, längst vor mir, hat sie ihr unstetes Leben begonnen. Aber es ist keine Flucht wie die meine, vielmehr scheint es, als entzöge sie sich ihrem Schicksal. Ich muss zurückkehren bis in die Kindheit, ihrer habhaft zu werden. Hier überkommt mich Wärme. Leo war mir ein rauhbauziger Bruder und Spiessgeselle abenteuerlicher Streiche gewesen. Die Beziehung zur zehn Jahre älteren Schwester war für das Kind voll Geheimnis. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich ihr schmales Gesicht mit der klaren Stirn, dem schlicht zurückgekämmten Haar von derselben Farbe und jenem matten Glanz, den ich den Rosskastanien entlockte, wenn ich sie von der stacheligen Hülle befreit und geduldig poliert hatte. Auch sie hatte eine so wenig versprechende Hülle. Sie war nicht schön, eher unscheinbar, der blasse Mund forderte nicht zum Kuss; nur in den grünen Augen, unter den geraden, schräg stehenden Brauen sprangen manchmal Funken auf, die etwas verrieten von der geheimnisvollen Wirkung, die sie ausübte. Auch ich stand unter ihrem Bann, war ihr bedingungslos ergeben; nichts erfüllte mich mit solcher Befriedigung, als ihr Vertrauter zu sein. Ich machte Botengänge, erledigte insgeheim telefonische Aufträge, wies unwillkommene Anrufer ab. Doch ihre Jugendliebe durfte sie nicht verwirklichen. Die von der Wirtschaftskrise betroffene Familie erzwang eine «Vernunftsehe». Sie erwies sich bald als das Gegenteil, man löste sie wieder auf. Endlich durfte sie sich selbst entscheiden: für einen interessanten Mann, den Mitbesitzer einer angesehenen deutschen Depeschen-Agentur. Doch das Schicksal gehorcht stärkeren Gewalten. Das wuchernde Geschwür hasserfüllten Massenwahns fegte mehr hinweg als eine liberale Depeschenagentur. Ihr Freund flüchtete aus Deutschland, versuchte, anderswo Fuss zu fassen, immer wieder verjagt, mit ihm Katja. Es gab für sie nichts mehr als ihn, auch ohne Heirat. Nach dem Freitod der Eltern leisteten wir Brüder noch einige Zeit monatliche Zahlungen nach Wien, Athen, Beirut, Paris, wie immer Katjas Fluchtpunkte hies-
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sen. Auch das endete mit dem Kriegsausbruch, mit Leos Einlieferung ins Konzentrationslager Theresienstadt. Katja floh aus Paris nach Südfrankreich, ihr Freund übers Meer nach den Vereinigten Staaten. Dazu bedarf es des Zaubermittels ‹Affidavit›, der persönlichen finanziellen Haftung eines amerikanischen Bürgers. Erst einmal drüben, sagte er, würde er versuchen, es auch ihr zu beschaffen. Vorläufig sei sie ja ungefährdet, in der ‹unbesetzten Zone›. Sie schlägt sich durch mit Deutschstunden, welche Ironie: sie lehrt die Sprache der Verfolger. Aber viele Franzosen finden diese nun nützlich, ‹pour se débrouiller - sich herauszuwickeln› - unentbehrliche Finesse gallischer Lebenskunst. Vom Existenzminimum meiner Gage überweise ich ihr jetzt durch einen Mittelsmann monatlich einen Betrag. Es bedrückt mich, dass es nicht mehr ist; aber in Frankreich, auf dem marché noir, zahlte man Höchstpreise für jeden Schweizerfranken. Und heute das Telegramm aus Nizza: «Tout de suite 300 francs pour venir en Suisse.» Eine ganze Monatsgage. Woher Geld nehmen, am Ende des Sommers, da alle Reserven aufgezehrt sind? Mir den Betrag irgendwie beschaffen? Wer leiht einem Flüchtling soviel? Warum will sie mit einem Mal in die Schweiz? In Südfrankreich gibt es keine Deutschen. Das alles stösst mich in eine Wirrnis von Vermutungen, sich widersprechender Gerüchte, die niemand wahrhaben will, über die offiziell nichts verlautbart wird. Bei Valérie Grandcoeur, der Flüchtlingsmutter in Biel, wird darüber gesprochen. «Unsere Polizei», bricht sie aus, «weist Tausende verzweifelnder, todbedrohter Menschen an den Grenzen zurück!» Ich kann, will es nicht glauben. «Aber es gibt doch bei uns Flüchtlingslager. Du selbst, Valérie, betreust eines, in Buren, oder nicht?» «Dort weiss ein jeder von den vielen, die weggewiesen worden sind. Rede du mit Mädchen, deren Verlobte zurückgejagt wurden zu den Henkersknechten; mit Männern, die zusehen mussten, wie Frau und Kind von der SS wie Vieh nach dem Osten transportiert wurden. Greuelpropaganda, wie? Was antwortest du weinenden Kindern, deren Eltern (verlorengegangen) sind!?» Madame Grandcoeur trägt nicht umsonst diesen Namen. Gottlob gibt's solche Menschen in der Schweiz. Aber sie lässt sich hinreissen. Jetzt brauche ich authentische Informationen. Klarheit. Mit einem Mal weiss ich, wer mir das geben kann. 96
Im Solothurner Rathaus steige ich die Schneckentreppe hinauf, langsam, selbst eine Schnecke. Auf mein Klopfen keine Antwort. Noch einmal, dann wage ich einen Spalt zu öffnen. Feusi allein, liest etwas, hebt den Kopf, scheint irritiert. «Excusez.» Ich will mich zurückziehen, aber Feusi weist mir Platz an, vertieft sich wieder in sein Dossier. Er liest schnell, streicht mit dem Rotstift an, blättert mit unwirscher Gebärde. Endlich wirft Feusi die Blätter heftig auf den Schreibtisch. «Also? Tut Ihnen jemand was?» Es ist kein lächelnder Buddha, er scheint gereizt, verärgert. «Nein. Es betrifft jemanden, der - » «Sie sollten sich nicht ständig um andere kümmern. Halten Sie sich besser still, ganz still.... Sie wissen.» Ich schöpfe tief Atem. Dann sage ich: «Es geht um meine Schwester in Nizza. Sie möchte unbedingt in die Schweiz.» «Warum? In Südfrankreich ist man noch sicher.» «Ich weiss nicht. Sie möchte von mir dringend dreihundert Franken.» «Für einen Passeur? Ich warne sie. Menschenschmuggel ist ein schmutziges Gewerbe. Manche nehmen auch Geld von der Geheimpolizei, führen die Flüchtlinge in einen Hinterhalt.» «Aber andere kommen doch durch - » «Und dann?!... Illegaler Grenzübertritt in die Schweiz ist strikt untersagt.» Er öffnet ein Schreibtischfach, entnimmt ihm eine Broschüre. «Kreisschreiben vom 13. August 1942 an die Polizeidirektionen und kantonalen Polizeikommandos... seit diesem Tage sind unsere Grenzen für Flüchtlinge geschlossen... Allerdings gelten gewisse Ausnahmen.» Er blättert. «Nicht zurückzuweisen sind: 1. Deserteure, entwichene Kriegsgefangene und andere Militärpersonen. 2. Politische Flüchtlinge, die sich als solche ausgeben und es glaubhaft machen können. Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge. Sie sind zurückzuweisen.» Stille.
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Mir ist, als verholzten die Gliedmassen, als schreite die Lähmung fort bis ans Herz. Mit Mühe bringe ich heraus: «Aber wenn es jemandem doch gelänge durchzukommen, wenn er sich mit mir in Verbindung setzen könnte oder mit Ihnen - » «Kontaktnahme mit Personen im Landesinneren ist strengstens untersagt.» «Wie ist das möglich?» Ich sehe Feusi fassungslos an. «Die Behörden stehen unter schwerstem Druck einflussreicher Kreise.» Er nimmt das Faszikel, das er vorhin auf den Schreibtisch geworfen hat und reicht es mir. «Diese Schrift des (Schweizerischen Vaterländischen Verbandes) ist allen Bundesräten, Parlamentariern, Kantonsund Gemeindebehörden übergeben worden. Lesen Sie das. Im übrigen: ich habe in dieser Sache nicht zu entscheiden. Wenn Sie an Wunder glauben, fahren Sie nach Bern zur Eidgenössischen Fremdenpolizei. Zuständig ist Doktor Veraguth.» ‹Aufklärung zur Flüchtlingsfrage› steht auf dem Deckblatt. «Die Überschwemmung mit Flüchtlingen ist für die Schweiz eine Landesgefahr... Die Humanität darf nicht vor die Interessen des Landes gestellt werden... Die Überfremdung schliesst, neben den wirtschaftlichen Momenten, besonders schwere politische und kulturelle Gefahren in sich... Tragbarkeit bereits überschritten... bevor aus der Flüchtlingsfrage für unser Vaterland eine Katastrophe entsteht... Der mit Unterstützung von Emigranten vorbereitete Umsturz und die Errichtung einer Sowjetschweiz muss verhindert werden... die Rolle von Schiebern und Wucherern... ihr kultureller Einfluss in der Presse, als Schriftsteller, am Theater, in Cabarets, im Filmwesen, am Radio... Unsere Abwehr besteht darin, dass die Grenzen vollständig gesperrt werden.» Wie soll die Schwester hierher gelangen, sich festkrallen, halten? Katja war niemals in den Bergen, und jetzt, ohne rechtes Schuhwerk und rechte Bekleidung, auf Schmugglersteigen über Eis und Schnee? Der Passeur - was, wenn er sie in eine Falle führt? Und selbst wenn sie über die Grenze gelangt, den Schweizer Grenzwächtern entgeht, gegen jede Wahrscheinlichkeit... einmal greift man sie auf. Und dann: Rückschaffung. Ist nicht mehr Hoffnung zu überdauern, wenn sie in Nizza bleibt? Sich notfalls verbirgt? Einmal wollen, müssen, werden sie doch endlich landen, die Alliierten... !! Hoffnung? Ich bin ihre Hoffnung... 98
Wenn ich an Wunder glaube... soll ich nach Bern... zu Doktor Veraguth... Ich schliesse die Augen, stehe wieder vor einem Schreibtisch, dahinter ein Kopf, zornrot: « ... Emigranten wollen wir nicht... Sind Sie etwa Jude?!» Nein, hab' ich gesagt, ich bin Christ. Wenn ich diesmal ja sage denn er meint es ‹rassisch›, nach Art der Mörder -, dann werd' ich ‹ausgeschafft›, nach Deutschland... Und wenn ich das auf mich nehme - was hilft es Katja?... «Juden gelten nicht als politische Flüchtlinge»... Also wird man auch sie an die Grenze stellen. Dort warten sie, die Häscher. Ich gehe aufs Postamt. Vom Rest meines Geldes sende ich, wie jeden Monat, dreissig Franken an Katjas Deckadresse. Dazu schreibe ich: «Bleib noch, wo du bist.»
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Die vergessene Hölle
«Was ist mit Lena?» frage ich Valérie Grandcoeur. «Sie ist in Gurs», sagt sie unwirsch. Gurs? Für mich kein Begriff. «Ihro Exzellenz hatten sich ja zurückgezogen ins Jahrhundert der allerchristlichsten Majestäten, als es in Frankreich noch nicht die Schmach der Flüchtlingslager gab.» «Was tut sie dort?» « ... Sie ist Krankenschwester, falls dir das nicht bekannt ist. Nicht zuletzt pflegt sie ihr eigenes Gewissen... Ihre ‹Ostfrontmission› treibt sie und ihr sauberer Herr Bruder.» Je grimmiger Valérie wird, desto mehr schätze ich sie. «Übrigens, Lena kommt demnächst zurück, nur kurz. Kannst ja wieder vorbeischauen.» Einige Tage danach. Auf das Läuten öffnet niemand. Dabei scheint mir, ich höre jemanden. Kein Zweifel. Valérie und dann - merkwürdig Kinderstimmen. Ich läute nochmals. Ein Kind weint auf, eine Türe fällt zu. Stille. Nicht das erstemal, dass ich keinen Einlass finde. Im Theater ein Briefchen. «Heute abend.» Ich habe spielfrei. Diesmal sieht jemand durch das Guckloch, die Kette wird abgehängt, die Tür geht auf. Ein seltsamer Geruch kommt mir entgegen, eine Mischung von Scharfem und Muffigem. Es kommt von der Frau, die geöffnet hat. Karbol. Sie schliesst hinter mir ab. Ich starre sie an. «Hab' ich mich so verändert?» Lenas Stimme klingt müde, heiser. Sie geht ins Wohnzimmer. Ist es die Stehlampe, die tiefe Schatten wirft? Ihre Wangen sind eingefallen, die Nase steht knochig vor, die Lippen sind rissig, die Augen scheinen zu gross in dem schmalen Gesicht. «Wie geht's, Marek?» Die Frage beschämt mich. «Dich zu fragen, bin ich gekommen.» Sie wischt es mit der Hand weg. «Ich bin nichts, nur ein Krümel von Gurs.» Schweigen steigt auf zwischen uns. Endlich sagt sie rauh: «Vielleicht muss es doch heraus, sonst frisst's mich auf.» 100
Nicht zusammenhängend, wie ich es dann aufgeschrieben habe, erzählt sie. Es kriecht aus ihr heraus, widerstrebend, mühsam, als wolle es sie nicht freigeben, scheue das Licht. Pissoir de France... so heisst's dort, am Fuss der Pyrenäen. Regen, Regen, Schnee, Nebel, dann Tauwetter, wieder Regen, im Sommer Gewittergüsse, Hagel - alles wird zu Sumpf, zu Schlamm. Zur Schlammhölle. Ein Lager für vierzehntausend vor den Deutschen Geflohene, Gestrandete der Flucht. Ilôts nennen sie die morschen Baracken. Die Nässe durchdringt alles: Wände, Kleider, die verfaulten Strohsäcke. Links die Männer, je tausend zusammengefasst, rechts, mit Stacheldraht von ihnen getrennt, die Frauen und Kinder. Zwischen den Ilôts Bretterstege, gelegt über den Morast. Darüber muss man, seine Rationen holen. Die Alten und Invaliden rutschen aus, fallen in den Dreck, allein kommen sie nicht heraus aus dem Schlamm. Rationen? Wassersuppe aus Kartoffelschalen, Futterrüben, Abfällen. Nasses, stinkendes Brot mit Stroh vermischt. Weisst du, was Hunger ist? Da bleibt nichts von Ethik und Charakter. Die Kinder, das ist das Schlimmste. Wenn sie nur mager wären, aber die aufgeschwollenen Bäuche... da gibt's welche, die haben Beine wie kleine Elefanten. Hunger-Ödeme. So steht's, als wir kommen, vom Schweizer Kinderhilfswerk. Wir erkämpfen uns eine kleine Baracke, als Infirmerie. Hier bekommen sie von uns Pulvermilch. Alle Kinder. Aber sie müssen sie hier trinken, darauf bestehen wir: hier bei uns. Damit man es ihnen nicht wegtrinkt. Das Verlassen der Ilôts ist verboten, schnauzen die Wachen. Wir protestieren bei der Lagerleitung. Also werden die Kinder unter bewaffnetem Geleit zu uns und zurück gebracht. Nein, die Wächter sind nicht Deutsche. Die gibt's hier noch nicht. Wozu auch? Die Gardes mobiles besorgen's besser. Gegen Schmuck und Wertsachen kann man Esswaren und Zigaretten haben. Die Insassen sind bald ausgeraubt. Auch die Ehepaare sind getrennt. Gespräche nur über den Stacheldraht.
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In den Baracken: Verzweiflung, Apathie, Zank, Hass, Krankheit. Wenn man die Kinder nur herausbekäme. Eines Tags kommen Patres. Jesuiten. Sie haben ein Passepartout von der Regierung in Vichy. Die Leitung muss sie einlassen. Alles wollen sie sehen, selbst die Latrinen, diese Hölle in der Hölle. Alte, Hilflose sind schon in die Grube gestürzt, erstickt in der Jauche. Sie schweigen, die hageren Männer in den schwarzen Sutanen; in den Augen brennt Abscheu, Entsetzen. Licht kommt in sie erst bei uns, bei den Kindern. Sie stecken die Köpfe zusammen. Die Bewilligung, sagen sie, die Bewilligung! Und wenn wir zum Marschall mussten nach Vichy. Nicht lange - und wir wissen es. Die Patres überlassen uns ihr Studienhaus im Massif Central. Hundert Kinder, zehn Begleitpersonen dürfen dorthin. Ach... das Haus der Stille, ganz für uns, mir anvertraut, nun hört es Kinderlachen. Hier lernen sie's endlich, aus der Hölle gerettet in den Himmel. Sie wollen abends die Sterne greifen in der klaren Luft. Rings um unsere Lichtung nur das Rauschen des Waldes. Unter uns die Lichter des Dorfes, wo wir Milch bekommen, frische Milch, auf Rechnung der Patres. Die Tage werden kürzer. Ein Pater kommt, Vermont heisst er. Ist er so schnell zu uns heraufgestiegen, dass der Atem kurz geht, der Schweiss ihm auf der Stirn steht? ‹In Gurs sind Transporte in Gang gekommen›, sagt er. ‹Hunderte werden neu eingeliefert, Hunderte in Lastwagen verladen. Dann zur Bahn, hinein in die Viehwagen. Auslese. Alte und Junge, Schwache und Starke. Familien werden auseinandergerissen, Mann und Frau, Eltern und Kinder. Niemand weiss wohin, wozu. Die Angst überschlägt sich.... Ich war in den Kolonien›, sagt der Pater, ‹in Indochina, ich hab' Metzeleien gesehen, Hungersnot, aber nie sah ich etwas so Grauenvolles... › Warum erzählt mir das Pater Vermont, warum so genau... ? Da schaut er mich an, der Pater. ‹Sie wissen von Euch. Sie werden auch hierher kommen. Haltet Wache, Tag und Nacht. Ihr seht hinab ins Dorf, seht sie kommen. Bereit sein zur Flucht. Sie einüben. Die Kinder 102
in Zehnergruppen im Wald verstecken. Wenn sie abgezogen sind, versucht Euch durchzuschlagen, immer nachts, zu uns, nach Lyon.› Sie sind gekommen. Vier Lastwagen, um sechs Uhr morgens, unten ins Dorf. Alarm. Wir schwärmen aus, durch Türen und Fenster. Meine Gruppe versteckt sich in ‹ihrer› Höhle über der Geröllhalde. Unter uns im Wald brechen die Zweige. Es trampelt, droht und flucht. Erst als es dämmert, wird's endlich still. Im Dunkel schleiche ich zurück zum Haus. Finster. Kein Laut. Eine Falle? Nein. Niemand da. Niemand. Den ganzen nächsten Tag warten wir am vereinbarten Sammelplatz. Suchen die Verstecke ab. Hat die Garde mobile sie eingefangen? Ist der Rest schon unterwegs nach Lyon? Nachts machen auch wir uns auf den Weg. Mit zehn Kindern, jedes trägt sein Bündel, im fremden Land, Nacht für Nacht unterwegs! Die erste Nacht gehen wir im Kreis. Dann halten wir uns an die Bahngeleise. Streifen der Bahnpolizei, Gendarmerie. Wir liegen im Graben. Tagsüber in Scheunen, versteckt im Heu. Die Bauern geben uns zu essen, Proviant auf den Weg. Aber es ist zuviel. Die Kleinen können nicht weiter. Aufgelaufene Füsse. Erkälten sich. Fieber. Mehr als eines kann ich nicht tragen. So muss ich eins nach dem anderen zurücklassen bei Bauern. Sie versprechen, sie zu pflegen, später selbst nach Lyon zu bringen, zur ‹Amitié chrétienne›. Nach über zwei Wochen erreichen wir das Kloster. Fünf hab' ich noch bei mir. Nur fünf. Man führt uns zu Pater Vermont. Er strahlt auf. ‹Wo sind die anderen?› Ich berichte von den anderen fünf. ‹Aber die übrigen neunzig?!› ‹Ja, ist denn sonst niemand hierher gekommen? Niemand?› Der alte Mann beginnt zu weinen. Die Patres verstecken meine Kinder. Ich komm' in die Küche. Neue Gefahr. Eine deutsche Offiziersmission wird angekündigt, ein Teil des Klosters requiriert. Jetzt geht es schnell. Die Patres arbeiten zusammen mit der Resistance. Die bringt uns nach Savoyen. Und von dort mit den Kindern in die Schweiz. Wie, will ich fragen, mit einem Passeur? 103
Aber ich komme nicht dazu. Die Entréetüre wird zugeschlagen, schon steht Valérie im Zimmer, heftig atmend. Die grauen Augen sprühen. «Jetzt wollen wir sehen, ob die Fremdenpolizei sie findet, oben auf der Alp! Der Senn hält dicht. Bei Milch und Chäs ist noch niemand verhungert.» «Aber es ist Herbst. Wenn Kälte kommt und Schnee - » « - dann geh ich zum zuständigen Herrn Bundesrat. Ich lass mich nicht abweisen. Und weisst du, was ich ihm sagen werde? Wenn Sie diese fünf Kinder über die Grenze schaffen lassen, Herr von Steiger, dann mich mit ihnen. Ich werde mich an sie anketten und schreien, schreien, dass die ganze Schweiz Ihre Schande hört!» Auf dem Tisch ein Brief. Verdrückt, schmutzig, die Adresse verschmiert, kaum leserlich. Aber die Schrift... Ich öffne. Jetzt weiss ich, wem die Schrift gehört auf dem abgerissenen Zettel, so verzerrt, so rasend hingeworfen. «Adieu. Man bringt mich nach Gurs.» Gurs? Mit dem Begreifen bricht alles zusammen. Mein Zögern, meine Besserwisserei: Ich hab ihr das Geld nicht geschickt für den Passeur! Passeur, Passeur... das dröhnt im Kopf, will ihn zersprengen. Was hat Lena zuletzt noch gesagt... ‹Ich geh zurück nach Gurs.› Die Strasse stürzt mir entgegen, ich renne durch die Menschen, stosse an, eine Frau keift mir nach. Als ich oben ankomme, im dritten Stockwerk, keuchend, vermag ich gerade noch zu läuten, läuten... Valérie macht auf. «Bist du... » sagt sie böse. Sie schaut mich an, ändert den Ton. «Komm weiter.» «Ist Lena... Lena... ?» Die Wohnzimmertüre öffnet sich. Da steht sie. «Meine Schwester... in Gurs», bringe ich nur hervor. «Rette sie.» Lena schüttelt den Kopf, als begreife sie nicht. «Komm herein», sagt jetzt Valérie energisch. «Red vernünftig.» Im Wohnzimmer ziehe ich den Zettel aus der Tasche. «Das ist alles.» Lenas Blick wird dunkel. «Ich arbeite beim Kinderhilfswerk. Hab nichts zu tun mit Erwachsenen.» «Bitte!!» 104
«Ich kenn sie nicht. Wie soll ich sie unter Tausenden finden.» «Ich hab' eine Fotografie!» «Und wenn ich sie fände, es ist unmöglich. Nur ein Passeur - » Da ist's - das Wort, das mich anklagt. «Ich werde das Geld auftreiben», sage ich fieberhaft, «irgendwie - » Sie schüttelt den Kopf. «Morgen früh reise ich.» Valérie geht zu ihrem Sekretär, öffnet, entnimmt einer Mappe Banknoten, hält sie Lena hin. «Vierhundert.» Lena steht unbeweglich, mit hängenden Armen. «Genügt's nicht?» fragt Valérie. Ich starre Lena an. Da streckt Lena die Hand aus, nimmt das Geld.
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Hoffnung und Ohnmacht
Ich erhielt noch eine andere ‹Nachricht›. Von meinem Bruder. Der Brief muss aus Theresienstadt herausgeschmuggelt worden sein. Manches war daraus zu lesen, nur nicht Wehleidigkeit. « ... weisst Du noch, wie man mir vorwarf, ich könne nie allein sein, sogar zum Lernen ginge ich ins Kaffeehaus? Hier in diesem Haus gibt's weder Kaffee, noch bin ich von selbst hineingegangen, und was ich darin lerne, das ist: allein sein unter 18 000 raunzenden, keifenden Jammerbildern ehemaliger Menschen. Ein weiterer Gewinn: man hat mir meinen oft bemängelten Hang zur Weiblichkeit aberzogen. Was, verheiratet willst du sein, Untermensch?! Schon vorbei. Man hat Rosinka mit fünfhundert anderen in Salonviehwagen komplimentiert, und, heidi, nach dem Osten. In Frontbordelle? Pfui doch über die verleumderische Feindpropaganda! Ein echter deutscher Mann treibt keine Rassenschande, er ist getreu seiner keuschen Braut, seinem germanischen Weibe. Nur nachts bin ich nicht allein. Damit meine ich nicht nur das Ballett von reizenden Läusen und Wanzen, das sich an mir verlustiert. Es hat den Vorzug, mir den lästigen Schlaf fernzuhalten. So kann ich, Mund am Ohr, Ohr am Mund, mit meinem Kameraden plaudern. Worüber? Über unsere Weiberln natürlich, wie schön sie's wohl haben, noch schöner als wir... Schick mir keine Packerln mehr. Unsere aufopfernden Pädagogen verderben sich zu sehr den Magen, wenn sie das alles selber fressen, die Armen... » Diese Selbstverhöhnung macht die Siegesfanfaren der Kerkermeister zur Katzenmusik. Alles in mir ist angespannt im Warten auf Lena. Wird es ihr gelingen, mit Katja die doppelte Barriere zu überwinden, die der Häscher und die der Schweizer, denen befohlen ist, Hilfe zu verweigern? Es frisst an den Nerven, wird unerträglich. Ich muss versuchen, die Spannung in der Arbeit auszutragen. Dem Theater den äusserst möglichen Sinn geben! Ist's nicht nur Don Quixoterie? Wie töricht, sich einzubilden, ein Häuflein vom Sturm 106
verwehter Schauspieler, umherziehend in den sich duckenden Städtchen und Fleckchen des Maulwurfhügelchens Schweiz, vermöge etwas gegen die Flammen des Weltenbrandes. Doch besser Don Quixote als Sancho Pansa! Der verfressene, kleinmütige Dickwanst, er überlebt nur dank dem Ritter von der traurigen Gestalt, der dem Geist mehr vertraut als der grobschlächtigen Materie. Er wird das menschliche Bewusstsein noch mitreissen, wenn alle gierigen Fresser und Raffer ins Nichts versunken sind. Ein Vers zündet in meinem Hirn. «Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten, kräftig sich zeigen, nimmer sich beugen, rufet die Arme der Götter herbei!» Dieser Goethe! Schon springt der Funke über. Daraus muss man einen Theaterabend machen. Schwarze Vorhänge, viele Stufen, auf jeder ein Sprecher. Mit dem Stichscheinwerfer hol' ich sie einzeln ans Licht, im Kostüm ihrer Zeit. Rede und Gegenrede, Aufrührer gegen Tyrann, dramatische Zuspitzung. Als Letztes Heines Hymnus... «Wir haben weder Zeit zur Freude, noch zur Trauer. Wieder erklingen die Trompeten, es gilt neuen Kampf. - Ich bin das Schwert, bin die Flamme.» Ich muss meine Begeisterung mit jemandem teilen, gehe zur leicht entflammbaren Valérie. Warum sieht sie mich so seltsam an? «Lena ist in Frankreich verhaftet worden. Man hat sie denunziert.» Ein langsamer Schmerz kriecht den Arm hoch, frisst sich in meine Brust. «Na, na,... » Valérie zwingt sich zu einem Lächeln. «Erst mal einen Cognac.» Sie geht zum Schrank. Ich rühre mich nicht. «Meine Schwester... » Valérie trinkt ihr Glas aus, in einem Zug. «Wohin man sie auch schaffen mag, man wird sie wiederfinden, befreien.» «Wann?» «Die Alliierten sind in Nordafrika. Amerikaner, Engländer, freie Franzosen. Frankreich, das ist ihr nächster Sprung!» «Zu spät - » «Was ist denn das? Bist du ein Defaitist, hast du den Glauben verloren an eine freie Welt?!»
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«An mich hab' ich den Glauben verloren. Warum hab' ich Katja das Geld nicht sofort geschickt? Es ist meine Schuld, wenn sie umkommt.» «Und wenn sie durch dein Zutun an die Schweizer Grenze gelangt wäre und man hätte sie zurückgetrieben in die Arme der Häscher, wie stündest du dann da?» «Es gibt Wunder. Immer wieder kommt doch jemand durch!» «Ich vertraue nur Fakten. Selbstquälerei ist unfruchtbar.» Hinter Valéries Nüchternheit steht eine unerschütterliche Entschlossenheit. «Weiterkämpfen, darauf kommt es an. Niemals aufgeben!» Kämpfen, nicht in einer Scheinwelt, sondern wirklich! Ich habe es bei dem missglückten Versuch, mich der französischen Armee anzuschliessen, nicht bewenden lassen. Seit der Kapitulation Frankreichs bedränge ich den tschechischen Vertreter in Genf, mir ein amerikanisches Visum zu beschaffen. Doch das bedürfe finanzieller Garantien; stets erwuchsen neue Hindernisse. Und jetzt... das letzte Schlupfloch verrammelt! Unten auf der Strasse drängen sich die Menschen um den Zeitungskiosk. Auf der Affiche steht: «Die deutsche Armee besetzt Südfrankreich.» Katja!! Es kommt die Nacht. Ich bin am Packen. Ich sollte längst am Bahnhof sein. Aber je gehetzter ich in den Koffer packe, um so leerer wird er. Aus dem Schrank, den Laden quillt endlos Zeug, vergessener Kram, will dennoch mitgenommen sein. Ein langgezogener Pfiff. Der Zug ist eingefahren. Ich stürze zum Bahnhof. Tausendfältiges Ameisengewühl, unmöglich, sich zurechtzufinden. Wo ist der Schalter? Endlich, endlich finde ich ihn, im hintersten Winkel eines verborgenen Korridors, davor die Schlange der Wartenden. Wie umständlich der Beamte die Fahrscheine ausstellt. Als letzter bin ich an der Reihe. Habe ich das Fahrgeld? Ich suche, wühle, rechne, klaube zusammen - es will und will nicht reichen. Wieder ein Pfiff, die Lokomotive beginnt zu heulen. Ich werfe das Portemonnaie dem Beamten ins Gesicht, reisse das Billet an mich, renne davon. Wo, auf welchem der hundert Perrons steht mein Zug?
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Durch finstere, modrige Unterführungen, über schlüpfrige Stufen hinauf und hinab. Ausser Atem erreiche ich endlich den letzten Bahnsteig. Da steht der Zug, steht noch. Endlos, die Fenster und Türen verrammelt durch Tausende von Körpern. Alles voll, schreien die Köpfe. Und durch das Megaphon brüllt es hallend: ganz vorne einsteigen! Mit dem Koffer, plötzlich zentnerschwer, renne ich, renne, dazu das nicht mehr abreissende Geheul der Lokomotive. Nur noch ein paar Meter, im vordersten Wagen ist die Tür offen. Letzte Kraft der Verzweiflung. Da stösst die Lokomotive eine Rauchwolke aus, Funken sprühen ins Gesicht, brennender Schmerz im Auge, ich sehe nichts mehr, stürze. Über mir das Dröhnen des enteilenden Zuges.
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Denk ich an Deutschland in der Nacht
Der Traum kommt wieder, manchmal in zunächst harmloser, scherzhaft anmutender Gestalt. Eine List, um den Schlafenden um so tiefer in die Falle zu locken. Wie es sich auch maskiert, es sind immer Variationen auf das eine einzige Thema: das Zuspätkommen, das unwiederbringliche Versäumnis an der Schwester. Manchmal endet die Qual, indem mein Mädchen, mit leiser Hand über meine Stirne streichend, den Traum auslöscht. «Gottlob durch meine Fenster bricht französisch heitres Tageslicht, es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, und lächelt fort die deutschen Sorgen.» Doch weder befinde ich mich, wie Heine, der große Wegbereiter des Exils, in Frankreich, noch ist dort oder irgendwo das Tageslicht heiter. Die deutschen Sorgen türmen sich zu zyklopischen Mauern. Dem Gemeinplatz gemäss ‹geht das Leben weiter›, auch im Theater der kleinen Stadt. Alle vierzehn Tage Premiere, sie muss erarbeitet, zum Erfolg geführt werden. Und auch all die kleinen Intrigen, Bosheiten, Lächerlichkeiten des Metiers, müssen bestanden werden. Wo es was zu belachen gibt, lache ich mit. Aber diese Heiterkeit ringt sich durch den Schleier einer fortschreitenden Verdüsterung, und zuweilen scheint mir dieses Theaterleben ein Tagtraum über der nachts aufbrechenden Wirklichkeit. Seltsam meine Freundschaft mit dem Freiherrn aus Deutschland. Von dort ist die Gewalt über uns gekommen. Aber der Deutsche erachtet es als Unglück für uns alle und sich als mitverantwortlich. Aus entgegengesetzten Häfen kommend, finden wir uns im selben schwankenden Boot. Das ferne Ufer, das wir ansteuern wollen, nennen wir mit gleichem Namen: Freiheit. Dass Hardenberg tief und aufrichtig leidet unter der Selbstpreisgabe Deutschlands an die Gewalt, das sichert ihm meinen Respekt. Meine Frontstellung ist selbstverständlich. Nazideutschland hat meine Heimat überfallen. Aber sich gegen sein eigenes Land stellen zu müssen, das ist eine Zerreissprobe des Charakters. 110
Durch Hardenberg festigt sich meine Überzeugung, dass es keine getrennten sittlichen Alternativen gibt, auch kein isoliertes politisches Schicksal. Für Lüge und Gewalt sind Grenzen blosse Herausforderungen, um nach der Vergewaltigung des eigenen Volkes sich des nächsten zu bemächtigen. Die Position des Zuschauers ist eine Illusion, sie wird von der Geschichte ebenso ad absurdum geführt wie die des opportunistischen Nutzniessers. Welch hohen Preis haben England und Frankreich jetzt zu zahlen für die langjährige Duldung und Stützung des Hitler-Regimes! Das aber, erwidert Hardenberg streng, entbinde die Deutschen nicht der Verantwortung für ihre eigene Schuld. Dürfe man so generalisieren? frage ich. Er, Hardenberg, trage doch gewiss keine Schuld an den Verbrechen des Regimes. «Damit belügen sich so viele von uns. Die Untätigkeit, die Angst vor persönlichen Nachteilen, das Zurückweichen vor der sich einnistenden Gewalt, das ist unsere Schuld. Dass es mich angeekelt hat, dass ich damit nichts zu schaffen haben wollte? Schliesslich kam ich mir noch grossartig vor, weil ich meine Stellung aufgab, mich zu einem Engagement in einer ausländischen Kleinstadt herabliess. Das ist der höchst deplacierte Hochmut des Emigranten. Denn in Wahrheit haben wir Deutschland dem Teufel überlassen.» «Was daheim geächtet, zum Schweigen verurteilt ist, das versuchen wir hier zu verwalten: Wort und Wahrheit.» «Schönrederei! Selbstbetrug! Öffnen wir damit eine Gefängnistüre? Machen wir die Folterknechte unschädlich? Ersparen wir damit den Hunderttausenden ihr sinnloses Sterben an den Fronten des Wahnsinns?» «Als ob das heute jemand könnte... » «Man kann.» Durch Hardenberg erfahre ich in sparsamen Andeutungen manches von dem anderen Deutschland, das im Geheimen lebendig ist und wirkt. Nur ausnahmsweise bricht aus der Geistesfinsternis eine Stichflamme des Widerstands durch, sichtbar, bevor die Machthaber sie zertrampeln, ersticken können. In den Geschwistern Sophie und Hans Scholl verkörperte sich das Wagnis der Freiheit. Gemeinsam mit drei Mitstudenten und ihrem Lehrer Huber versuchten sie, die Jugend zum Widerstand zu bewegen.
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«Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn die deutsche Jugend nicht endlich aufsteht, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet... » Das letzte Flugblatt der ‹Weissen Rose› in München, bevor sie denunziert und hingerichtet wurden. Wo bleibt der Arm, der imstande wäre, der Freiheit eine Gasse zu brechen? «Seitdem der ‹Führer› eine deutsche Elite-Armee verbrecherisch in die Eishölle von Stalingrad gestürzt hat, in den Raum aller Unbarmherzigkeit, ist das geistige Erwachen unabwendbar», sagt Hardenberg; «jetzt gilt es, alles für die Rettung des Volkes einzusetzen.» «Die Mittel dazu besitzen einzig die deutschen Generale. Sie, die das Massensterben kommandieren, die ihren Soldaten das ewige Strammstehen und blinde Gehorchen einbleuen. Seit Luther ist es euch ans Herz gelegt: Seid Untertan der Obrigkeit, denn sie ist von Gott bestellt.» «Von Gott bestellt, heisst gleichzeitig, Gott unterstellt. Wo die Obrigkeit den göttlichen Auftrag verleugnet, verliert sie ihren Anspruch auf unsere Gehorsamspflicht.» Ich bin betroffen von der im Freunde aufgebrochenen Bestimmtheit und Unbeirrbarkeit. Sie steht im Gegensatz zu der ihm eingeborenen Skepsis, seiner sonst so zurückhaltenden ironischen Art. Er scheint in Erwartung eines Ereignisses, das in Deutschland selbst dem Geschehen eine entscheidende Wendung geben soll. Woher er seine Informationen erhält, bleibt im Dunkel. Sie scheinen enttäuschend, als ob etwas aufgeschoben, ja missraten wäre. Doch auch darüber schweigt er. Nur in seiner Bitterkeit sich selbst gegenüber schimmert es durch. «Wie jämmerlich, sich am Gnadenbrot der Fremde zu mästen - » « - an dieser Mast wirst du kein Fett ansetzen», versuche ich zu scherzen. Aber Hardenberg wischt das zornig fort: « - während in Deutschland andere sich selbst den Schindern zum Frass vorwerfen!» Brief von Vládja aus dem Lager Gordola. Dort seien ausschliesslich politische Flüchtlinge, meist kommunistische Gesinnungsgenossen. Aber allzu glücklich scheint er dabei nicht zu sein, der nach schöpferischer Freiheit dürstende Künstler. « ... fast nicht zu glauben, sie versuchen, mir mit dogmatischer Strenge ein Gesinnungskorsett überzuziehen. Das mag für andere rich112
tig sein. Aber einem alten Kampfbullen wie mir sind die Kleinkinderschuhe einer Parteischule schon zu eng, mir muss man nicht eintrichtern, was wahrer Antifaschismus ist. Fragebogen, Lebenslauf, Referenzen, Zeugenaussagen über meine politische Vergangenheit? Eine Kader-Akte wollen sie über mich anlegen. Zum Lachen, sagte ich; wenn ihr nicht Nase habt für einen alten Genossen, dann ist's nicht weit her mit eurem revolutionären Instinkt. Wie ein Abweichler rede ich, behaupteten sie, verlangten Parteidisziplin, wurden unangenehm. Und das alles unter den Augen der naiven schweizerischen Lagerleitung!» Ich bin mit dem Türkenkind den Sommer über in einem Bauernhaus eingemietet. Hier überdauert man am sparsamsten. Wir leben in der Anspannung eines verzehrenden Wartens. Endlich! Die Streitmacht der Angelsachsen ist gelandet, krallt sich fest an der normannischen Küste. Zu spät? Rennen mit dem Tode. Werden sie noch beizeiten die Konzentrationslager erreichen, das Grauen, jenseits aller Vorstellung? Gibt es noch eine Rettung für Katja? In den slowakischen Karpaten ist ein Aufstand losgebrochen. Der deutsche Nachrichtendienst verschweigt, dass mehrere Divisionen im Kampf stehen gegen die Partisanenverbände. Ich übersetze die Meldungen aus Genf, gebe sie weiter. Doch nachts schreckt mich das Traumgesicht der Schwester. Nun ist mir alles Handeln aus der Hand geschlagen. Das Türkenkind versucht, mich auf seine Weise aufzuheitern. In der Küche bereitet es am Holzfeuerherd die Mahlzeiten, lernt mit den Herdringen hantieren, und die mächtigen Pfannen schwenkend behauptet es, die schwellenden Armmuskeln seien keine Zierde für eine Tänzerin. Sie werde umsatteln müssen zum Zirkus, um dort als Kraftakt aufzutreten. Ihr Gelächter vermischt sich mit der Stimme des Schweizer Nachrichtensprechers aus dem Radioapparat. Ich lege ihr die Hand auf den Mund, halte den Atem an. «In der Wolfsschanze, dem ostpreussischen Hauptquartier der Wehrmacht, ist auf den Führer ein Bombenattentat verübt worden. In Berlin hat eine Gruppe von Generalen die Macht und Verantwortung übernommen.» «Was bedeutet das?» fragt sie. «Darauf hat Hardenberg gewartet, unerschütterlich.» Mein Herz klopft, mit einem Schlag ist die Welt verändert. 113
In die euphorische Erregung fällt der Sand der Abendnachrichten: der Führer lebe, sei nur leicht verletzt, er habe im Hauptquartier, wie vorgesehen, Mussolini empfangen. «Sie vertuschen die Wahrheit, lügen, wie immer!» Die Nacht durchwacht. Ich denke an den Freund. Er ist in Verbindung mit Männern des Widerstands, ihres Erfolgs gewiss. Doch dann höre ich im deutschen Rundfunk Hitlers Stimme, und die Asche des Morgens vom 21. Juli erstickt die letzte Hoffnung. Das Haupt der Verräter, Generaloberst Beck, habe sich in der Bendlerstrasse selbst gerichtet, den Attentäter, einen Grafen Stauffenberg, habe man mit drei Komplizen erschossen. Hardenberg! Wie wird er es überstehen? Der Freund war auf seinem Horchposten geblieben, wie er es nannte. Ich gehe in den Dorfgasthof, um ihn anzurufen. Die Wirtin meldet sich. Sie könne ihn nicht rufen. «Er ist heute früh gestürzt.» Gestürzt? «Ein Schlaganfall. Er ist im Spital.» Wir laden unser Zeug auf die Fahrräder, durchtrampeln zwei Tage die Hochsommerschwüle, den beissenden Staub der Landstrassen. Das Türkenkind heisst auf die Zähne, spult hintendrein. Am Abend noch gehe ich ins Spital. Man lässt mich nicht ins Krankenzimmer. Auf meine dringlichen Fragen heisst es nur, es sei ernst. Am nächsten Tag darf ich zu ihm, nur kurz. Hardenberg liegt ganz still. Die linke Hand ist leicht verbunden, der Arm ruht auf einer Stütze. Freut er sich über mein Kommen? Aber sein Lächeln bleibt verzerrt, es ist ein Grinsen, die linke Gesichtshälfte scheint herabgefallen, wie auf antiken Komödienmasken. «Gust.» Hardenberg blickt mich lange an. Kann er noch sprechen? Jetzt sagt er etwas, mit schiefem Mund. «Vorbei... » Ich lege beruhigend die Hand auf seine Rechte. Aber er spricht mühsam weiter. « ... nicht fähig... bleibt nur... Schande.» «Nein, Gust. Eines Tages werden eure Kinder und Enkel fragen, ob ihr denn alle geschwiegen, euch mitschuldig gemacht habt. Und dann wird einer die Hand ausstrecken und auf die Gräber der Männer zeigen, die man jetzt verscharrt.» Es ist als pralle es ab an der knochigen, blassen Stirn. «Er aber lebt... führt uns ins Nichts.» 114
Ich sage leise Hölderlins ‹Gebet für die Unheilbaren›: «Eil, o zaudernde Zeit... Eile, verderbe sie ganz und fuhr ans furchtbare Nichts sie, anders glauben sie nie, wie verdorben sie sind. Diese Toren bekehren sich nie, wenn ihnen nicht schwindelt. Diese sich nie, wenn sie Verwesung nicht sehen.» Die blassen Lippen wiederholen tonlos «Verwesung». Die Schwester tritt ein, sieht mich an. Ich erhebe mich. Beim nächsten Besuch versuche ich, den Gedanken weiterzuentwikkeln, um den Freund der Verzweiflung zu entreissen. «Man muss das Bild des Menschen in jenen erkennen, die sich geopfert haben.» «Das Bild des Menschen... » - der Kranke atmet schwer - «richte es auf... » Sein Blick hält sich fest an mir. «Mach eine Legende aus ihnen... dass man sie nicht vergisst... » Ich erwidere den Blick, kann ihn nicht lösen. Ob ich will oder nicht, darin liegt ein Versprechen. Die Hoffnung auf Besserung trügt. Der Verfall schreitet fort, die Lähmung ergreift immer weitere Teile des Körpers. Nur die Lippen versagen noch nicht und der Geist, der sich immer mehr vom Körper löst. Ich frage die Ärzte nach der Ursache. Hardenberg sei doch noch in den besten Jahren, so viele erholten sich nach dem ersten Schlaganfall wieder. Die Ärzte antworten ausweichend, unsicher. Als ich mich nicht zufrieden geben will, nimmt mich die weisshaarige Oberschwester am Arm. In ihr Gesicht hat hundertfältiges Mitleiden seine Runen gegraben. «Merken Sie es nicht? Er möchte sterben... » Ich werde still. Sie hat ausgesprochen, was ich nicht wahrhaben wollte. Dass Hardenberg auf geheimnisvolle Weise mit den gescheiterten Freunden verbunden, ja eins war, dass ihr Untergang, ihr Sterben das seine ist. Von nun an versuche ich nicht mehr, ihn zu überzeugen.
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Auf dem Krankentisch liegt ein einziges schmales Bändchen, daraus muss ich dem Freund die Hymnen jenes Hardenberg vorlesen, der sich einst Novalis nannte. «Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft.» Der Patient wird nun künstlich ernährt. Kein Fleisch mehr an seinen Gliedern, immer glasiger die Haut, durchsichtiger die Züge. Er flüstert etwas. Seine Augen weisen zum Tischchen. Ich greife nach den Gedichten. «Zur Hochzeit ruft der Tod erklänge doch die Ferne von deinem Zuge schon... » Während ich weiterlese kommt die alte Schwester herein, tritt zum Bett und fühlt des Patienten Puls. « ... So manche, die sich glühend in bittrer Qual verzehrt... » Die Schwester unterbricht mich mit einem Zeichen. Sie hält dem stillen Mann ein Spiegelchen vor den Mund. Dann legt sie es ab und drückt ihm die Augen zu.
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Angeklagt
Der Freiherr aus Sachsen und der Bauernsohn aus Mähren - dass sie so verschieden waren, hat ihr Zusammenwirken so reich gemacht; dass sie beide entrückt sind, potenziert den Verlust. Mit Vládjas Lagerhaft kann ich mich nicht abfinden. Ein so überragender Künstler! Nun, da die faschistische Bestie in die Ecke getrieben, gestellt ist, werden sie hier vielleicht auch einen radikalen Antifaschisten zu akzeptieren wissen. Der Direktor ist ohnedies dafür, ich muss beim Präsidenten der Theaterkommission intervenieren. Ja, er will sich dafür einsetzen, dass Vládja Grossman aus dem Lager zu uns zurückgeholt wird. Heute ist Sitzung der Kommission. Für morgen hat er mich zu einem Glas Wein eingeladen. «Ich habe also in der Sitzung den Antrag gestellt und begründet.» Der Herr Präsident schenkt mir ein. «Die Stimmung war gut.» Er hebt das Glas, wir stossen an, trinken. Er beginnt zu lächeln, ein bisschen zu sehr. «Zum Wort meldete sich Herr Doktor Ruchti. Seine überschäumende Begeisterung für das teutonische Herrenmenschentum und sein lärmendes Eintreten für die berüchtigte ‹Ostfront-Mission› sind eher zu einem Flecken auf seiner Weste geworden. Um so augenscheinlicher trägt er jetzt das Sonntagskleid des biederen schweizerischen Patrioten. Er erklärte uns, es müsse jeden einigermassen dem Anstand und der Moral verpflichteten Bürger empören, dass ein ausländisches Individuum an unser Theater zurückgeholt werden soll, das - die Spatzen pfeifen es von den Dächern - hier Ehebruch verübt und ein unschuldiges Schweizermädchen entehrt habe... » «Wie kommt er zu dieser Beschuldigung?!» «Das habe ich auch gefragt. Dr. Ruchti warf sich in die Brust, er müsse das wohl am besten wissen, es handle sich nämlich um seine ehemalige Praxisschwester Lena.» Ich kann mich nicht mehr beherrschen. «Infame Verleumdung!» «Leider nein... Grossmans Ehefrau hat es bestätigt.» Der Präsident zuckt die Achseln. «Wir waren ebenso konsterniert wie Sie. Nun hatte Ruchti leichtes Spiel. Man müsse einen solchen Gift ausströmenden Fremdkörper, einen Agenten der roten Pest, endgültig entfernen und 117
schon gar nicht ihn dulden in einem öffentlichen, von Steuergeldern subventionierten Institut!» Der Präsident dreht etwas verlegen sein Glas in der Hand. «So betrüblich es ist, wir müssen uns damit abfinden. Schliesslich hat ihr Kollege es sich selbst zuzuschreiben.» Der Herr Präsident muss sein Glas ohne meine Assistenz leeren. Brief von Vládja aus Gordola. «Dein Einsatz für mich, alter Kumpel, ist nicht ‹aller Ehren wert›. Du bist im Irrtum. Unser Freund Dr. Ruchti hat mich ebensowenig verleumdet wie Zdenka. Erinnerst du dich an Lenas Bericht von der Ostfront, an ihr Erlebnis auf dem Friedhof? Für Zdenka war sie seitdem nichts als ‹die Faschistin›. Aber ich wusste, wie es Lena quälte, wie sie verzweifelt einen Weg suchte. Deshalb habe ich ihr geschrieben. Aus Unwissenheit auf die falsche Seite zu geraten, sei kein Unglück, wenn man seinen Irrtum erkennt. Dann allerdings müsse man daraus die Konsequenzen ziehen... Sie antwortete mir: ‹Ich bin entschlossen, alles gutzumachen, bis zum äussersten. Es gibt für mich jetzt nur eins: Hingabe meiner selbst, vollständige Hingabe.›... Diesen Brief hat Zdenka gefunden und auf ihre Art ‹interpretiert›... Ich versuchte, das Missverständnis aufzuklären, aber vorgefasste Meinungen sind keiner Erklärung zugänglich, noch weniger eine Frau, die eine andere hasst. Seitdem hatte ich daheim die Hölle... Du kennst Zdenkas ‹Unbedingheit›. Sie begann alles zu zerstören, was je zwischen uns bestand. Das Unheimlichste daran ist der Masochismus, mit dem sie sich selbst foltert, mir mit fanatischer Besessenheit ihre Zwangsvorstellung aufoktroyiert, ich hätte mit ihr auch unsere gute Sache verraten, ‹um dieser Faschistenhure willen›... Wenn du mit einer Frau leben musst, die nur noch Härte ist, Hass, Zerstörungswille, und wenn sie dich mit äusserster Kraft einer anderen zutreibt, die, zumindest aus dieser Perspektive, nur Liebe ist, Sanftmut, Hingabe, dann... Als ich nach Gordola musste, ins Lager, war das für mich eine Flucht. Zdenka ist fort mit dem Kind. In ein Frauenlager, freiwillig. Dass Lena nach Gurs ging, auch das war Flucht. Vor sich selbst und vor mir. Aber sie misslang, wie die meine. Zdenka hat ihren Willen durchgesetzt. Allmählich wurde ihre Zwangsvorstellung Wirklichkeit. Lena und ich schrieben einander von 118
Lager zu Lager. Und ich wusste, was sie noch um keinen Preis wahrhaben wollte. Ich hab sie nur einmal noch gesehen, bevor sie zurück nach Gurs ging. Ich fuhr zu Valérie, unangemeldet. Als Lena mich sah, schrie sie: ‹Gehen Sie, Sie gehören zu Ihrer Frau!› ‹Ich hab keine Frau mehr. Sie hat alles zwischen uns zerstört.› ‹Gehen Sie doch, bitte - ›, es klang hilflos. Ich spürte Valéries harten Griff. ‹Lass sie in Ruh!› ‹Sie wird keine Ruhe haben - ohne mich.› Dann ging ich. Das nächste Lebenszeichen kam aus einem französischen Gefängnis. ‹Ja. Deine Lena› stand auf dem Zettel, den jemand durchgeschmuggelt hat. Das ‹Deine› war unterstrichen. Jetzt sind wir beide im Loch. Unter den Auspizien der die Zeit regierenden Herrschaft der uns zukommende Ort. Vládja» Die Froschperspektive, aus der ein Schauspieler in einer kleinen Stadt wie durch ein Fernrohr im Kosmos eine Welttragödie verfolgt, hat auch ihr Gegenstück. Das globale Drama wirkt wie durch ein Brennglas auf jedes der ameisengleich tätigen, kämpfenden, flüchtenden, sich verbergenden und dennoch sterbenden, ‹Mensch› genannten Lebewesen. Ob - je nachdem, wer es meldet - ‹planmässig die Frontlinie verkürzt› oder ‹Frankreich befreit wird›, es kostet Tausende von Leben, sprengt Gefängnismauern, reisst den Stacheldraht nieder. Auch Lena kehrt aus der Haft der französischen Kollaborateure in die Schweiz zurück. In die Freiheit? Mitnichten. Sie wird noch gleichentags wegen ‹Kollusionsgefahr› in Untersuchungshaft genommen, einige Wochen später vor Gericht gestellt. Die Anklage lautet auf Missachtung fremdenpolizeilicher Verfügungen, Anstiftung und Komplizenschaft bei unbefugtem Grenzübertritt, wiederholtem Menschenschmuggel und schliesslich auf Amtsmissbrauch in ihrer Eigenschaft als im Rahmen des Frauenhilfsdienstes tätige Rotkreuzschwester. Gleichfalls angeklagt ist Madame Valérie Grandcoeur wegen Beihilfe. Da der Untersuchungsrichter die Gefahr der Kollusion hier verneint, wird von einer Festnahme abgesehen.
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Zur Frage, ob sie sich schuldig fühle, antwortete Lena, es stimme: sie habe als schweizerische Rotkreuzschwester im französischen Konzentrationslager Gurs versucht, Kinder vor der Deportation in die Vernichtungslager zu bewahren. Beim ersten Versuch habe sie jedoch nur wenige Kinder retten können, während die Mehrzahl gefangen und abtransportiert wurde. Ihre eigene Bewahrung habe sie als Schuld empfunden und zugleich als Verpflichtung. Deshalb sei sie nach Gurs zurückgekehrt und habe bis zu ihrer Verhaftung durch die Vichy-Gendarmen mehrfach Kinder mit Hilfe von Passeuren in die Schweiz gebracht. Wenn dies ein Verbrechen sei, so bekenne sie sich dazu. Weniger glatt verläuft die Einvernahme von Madame Grandcoeur. «Meine Herren Richter - nicht als Angeklagte, als Anklägerin stehe ich hier.» Hier klopft der Vorsitzende erstmals warnend auf den Tisch. «Sie haben hier keine Brandreden zu halten, Madame, für die Sie ja berüchtigt sind. Sie sind gefragt, ob Sie sich schuldig fühlen. Kurz bitte.» «Kurz und bündig. Die Angeklagte, wie Sie sie nennen, bewahrte unschuldige Kinder ebenso unschuldiger Eltern vor der Ermordung durch eine widermenschliche Bande von Verbrechern. Ja, ich bin eine Komplizin der sogenannten Angeklagten. Ich habe ihr eine leider nur beschämend kleine Beihilfe geleistet, indem ich einige der von ihr unter Lebensgefahr in die Schweiz gebrachten Kinder hier versteckte vor der Einsichtslosigkeit unserer Polizei.» Im Zuschauerraum werden Bravorufe laut. Der Gerichtspräsident verbittet sich das und droht mit Räumung des Saales. «Ich bin noch nicht fertig!» übertönt Valérie den Tumult. Es wird still. Nun fahrt sie sehr ruhig fort. «Was diese einfache Rotkreuzschwester fertigbrachte, verleitet mich zu keinen grossen Worten. Sie hat nur ihre Pflicht getan. Das, was von uns so oft zur leeren Phrase erniedrigt wird, das hat sie erfüllt: die humanitäre Mission der Schweiz. Dass ihr dafür der Prozess gemacht wird, stellt den Tatbestand auf den Kopf. Für die überwältigende Mehrheit unserer Mitbürger befindet sich nicht die Rotkreuzschwester Lena auf der Anklagebank, sondern jene, die sich herausnehmen, sie zu richten.» Beifallssturm. Der Saal muss geräumt werden. Lena wird nach dem Gesetz schuldig befunden, bei Anerkennung des mildernden Umstandes ihrer hohen ethischen Gesinnung. Das
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Urteil lautet auf Ausschluss aus der Armee und auf vierzehn Tage Gefängnis mit Bewährungsfrist. Wegen Beleidigung des Hohen Gerichts erhält Valérie Grandcoeur eine Busse von 500 Franken, im Nichteinbringungsfalle von drei Tagen Haft. Sie rechnet es sich zur Ehre an, die Strafe abzusitzen. Ich erwarte Lena vor dem Gerichtsgebäude. Ihr verdrücktes, entfärbtes Kleid schlottert um einen mageren Körper, die Haare sind kurz geschnitten, die Haut spannt sich über vorstehende Backenknochen. Mich schauert's: sie ähnelt ihrem Bruder Xaver. Nur die Augen, grösser noch, sind die ihren. Sie sehen durch mich hindurch, suchen einen anderen. Ich reiche ihr eine langstielige rote Rose. «Von Vládja... » Etwas wie Farbe kommt in ihre Wangen, aber die Augen verdunkeln sich. «Und er... ?»
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Salto mortale
Auf sein Ansuchen hin ist Vládja aus dem ‹Kommunisten-Lager› ins ‹normale› Arbeitslager bei Frauenfeld verlegt worden. «Ich werde beweisen, was ein paar hanakische Bauernfäuste für die Eidgenossen wert sind.» Das bezieht sich auf den Plan des schweizerischen Professors Traugott Wahlen, der die Selbsternährung des vollständig umzingelten, von Importen abgeschnittenen Landes vorsieht. Fortan gedeihen auf dem Areal der Schweizer Schulen nicht nur aufgeweckte Kinderköpfe, sondern auch nahrhafte Kohlköpfe; die für das helvetische Wohlbefinden so unentbehrlichen Rüebli zieren sogar Grossstadtbalkone, und das ‹Bellevue› im Herzen Zürichs verschönt ein Kartoffelacker. An der Verdopplung der gesamten Anbaufläche haben die vielgeschmähten dreizehntausend Flüchtlinge einen wesentlichen Anteil, nicht zuletzt auch Vládja. Seine berserkerhafte Arbeitswut findet höchste Anerkennung. Mit einem feierlichen Schreiben der ‹Zentralleitung der Arbeitslager› wird er zum Gruppenführer ernannt, man erhöht sogar grosszügig seinen Sold um 50 Rappen pro Tag. Das erzählte mir Vládja lachend, als wir uns zwischen zwei Zügen im Zürcher Bahnhofbuffet trafen. «Warst du bei Lena?» fragte ich. «Oh, so eine Verworfenheit weiss man zu verhindern. Jeder Urlaub bedarf eines Gesuchs unter genauester Angabe des Zieles, der zu besuchenden Person und des Zweckes. Das wird genauestens kontrolliert.» Er warf ein Formular auf den Tisch. ‹Urlaub für Grossman, Vladislav, 1905.› Urlaubsantritt 13.11. 44, 7.00 Uhr, Rückkehr gleichentags 19.00 Uhr. Zwischenhalt in Zürich 55 Minuten. Art des Urlaubes: Besuch der Ehefrau.» «Zdenka?» «Sie hat mich bestellt. Nicht in ihr Lager, bewahre. Wir haben unsere süssen Geheimnisse im Dorfwirtshaus ausgetauscht.» Das nervöse Fingerspiel von Vládjas Händen auf dem Tisch kontrastierte mit seinen gezwungenen Scherzen. «Sie ist jetzt einverstanden mit der Scheidung. Ich sei nun mal ein Lump. Nach allem, was ich mir der Partei gegenüber hätte zuschulden 122
kommen lassen, den Disziplinlosigkeiten, den Abweichungen von der Parteilinie, der Distanzierung von den Genossen, kurz, da ich im Begriff sei, die Partei zu verraten, sei es nur logisch, dass ich auch sie verrate. Scher dich zur Faschistin, sagte sie.» Das Gewirr der unzähligen Stimmen, die Bestellungen am Büffet, die gedämpften Bahnhofgeräusche, der Essensdunst, alles senkte sich auf uns als eine schwere Glocke. «Ich verstehe sie.» In Vládjas Stimme war nichts mehr von Ironie. «Mich selbst verstehe ich nicht. Da schlägt man sich so viele Jahre mit einer Frau durch auf Biegen und Brechen, setzt mit ihr ein Kind in die Welt... wenn ich entmutigt war, kämpfte sie weiter, eisern, blieb hart... » «Manchmal dachte ich mir, Zdenka überfordert dich.» « - auch Lena kämpft. Aber bei ihr kann man Mensch sein, nicht nur gepanzerte Kampfmaschine... aber das ist keine Entschuldigung... kann man sich rechtfertigen gegenüber einer Naturkatastrophe?... Ich wollt' es gar nicht... ich bin in Lena hineingestürzt... wie in klares, gutes Wasser.» Ich schwieg. «Zu Lena bekomme ich keinen Urlaub. Sag ihr, es kommt alles gut... Nur den Jungen darf ich nicht mehr sehen. Das ist Zdenkas Preis... » Er warf den Kopf zurück. «Fräulein, einen Schnaps, bitte!... Du musst zahlen, Marek. Ich bin schwarz. Voilà.» Er kramte ein Blatt aus der Brusttasche hervor. Es war eine Empfangsanzeige der Schweizerischen Volksbank in Bern, als ‹Treuhandstelle für die Verwaltung der Vermögenswerte von Flüchtlingen›. Da stand: «Gemäss Art. 8 des Bundesratsbeschlusses vom 12. März 1943 sind die Flüchtlinge verpflichtet, alle Geldmittel und Wertsachen, die sie in der Schweiz besitzen, aus dem Ausland oder in der Schweiz erhalten, bei der Treuhandstelle zu hinterlegen... usw.» «Man nimmt dir dein ehrlich verdientes Geld ab?!» «Pfui doch. Wir sind in einem Rechtsstaat. Man verwaltet es bloss.» «Verwaltet - wozu?!» «Für die Kosten unserer Ausreise, so hat man uns erklärt. Ist einfach fabelhaft, so ein Ei des Kolumbus: durch unsere Arbeit verdienen wir unseren eigenen Rausschmiss... Was mich betrifft, geh' ich schon vorher, und mit Begeisterung.» Er stürzte seinen Schnaps hinunter.
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Je sarkastischer Vládja wurde, um so mehr deprimierte es mich. «Ich schäme mich, dass ich so privilegiert bin.» «Schämen?! Dass du in einem kleinen Nest grosses Theater machst, dass du sie ermutigst, ihre Freiheit zu verteidigen, dass du dich herumschlägst mit Gesinnungslumpen und Landesverrätern?» «Was ist das gegen das eine: ich darf hier überleben.» «Ah, lern doch den Salto mortale, damit du dich noch besser überschlägst vor Dankbarkeit!» «Vládja, du verrennst dich. Niemand mag Fremde im Haus. Jedes Tier in der Natur verteidigt sein Revier... » «Es ist die Bestimmung des Menschen, das Tierische zu überwinden; wir müssen auch ethisch Zweibeiner werden.» Der Zug nach Frauenfeld wurde angesagt. Er sprang auf. «Wenn ich den Zug nicht erreiche, haben sie endlich die Chance, mich einzusperren!» Ich sah ihm nach. Man hatte ihm die Künstlermähne abgeschnitten, jetzt brannte der sonnengegerbte breite Nacken braunrot über dem ausgebleichten Hemd. In mir durchdrangen sich Bewunderung und Traurigkeit. Werden wir in unserem Traum von Gerechtigkeit je zusammenkommen? Die Amerikaner und Briten haben den Rhein überschritten, die Russen Oder und Neisse. Wohnstätten und Menschen verkohlen unter der vom Himmel stürzenden Glut. Die Hauptstadt wird zu einem Brei von Schutt und Asche, während der «Führer», im tiefsten Bunker verkrochen, sein letztes Aufgebot heranröchelt. Die Sechzehn- und Fünfzehnjährigen hetzt er mit Jagdflinten, Schiessprügeln ohne Patronen, gegen die feuerspeiende Stahlwalze. Die verreckende Bestie fürchtet man nicht mehr. Jetzt darf mein Drama auch in der Schweiz aufgeführt werden. «Die Wahrheit siegt». Schon schmeckt es mir schal und billig. Doch eben jetzt wollen sie's hören und sehen. Die Premiere ist ausverkauft. Im Foyer begrüsst der Stadtammann feierlich einen Mann, den ich so lange nur heimlich aufsuchen konnte: den Botschafter der von der Schweiz wieder anerkannten, neuerstehenden Tschechoslowakei. Mit ihm kommt sein jugoslawischer Amtskollege aus dem Lande, das keinen Tag aufgehört hat, den Besetzern die Zähne zu zeigen. Der Regierungsrat erweist seinen Respekt, sogar ein leibhafter Bundesrat. 124
«Eine gerechtere, menschlichere Welt, wird es das geben?» Mit dieser Frage wird das Publikum entlassen. Noch nie habe ich die Fragwürdigkeit des Erfolges so sehr empfunden. Schein und Sein. Nach der Aufführung geben die Behörden im vornehmen Hotel Krone einen Empfang. Der gute Feiel überreicht mir ein gerahmtes Bild, umarmt mich. Ich betrachte lange den Kupferstich des alten Solothurn. Darunter steht: ‹Damit Sie uns nicht vergessen. Ihr dankbarer Direktor.› Ich sehe dem alten Komödianten-Häuptling ins narbige Gesicht, in die listigen, jetzt in Feuchte schwimmenden Äuglein. «Vergessen - ?» Ich schüttle den Kopf, weiss nichts zu sagen als «Ich danke Ihnen». Jemand steht neben mir, gestützt auf einen Stock. Ein Kopf sieht mich an, der mir Entsetzen verursacht. «Sind Sie etwa... », wird er's wieder fragen? Doch Herr Veraguth sagt: «Selten, dass sich jemand bedankt.» Alles verkrampft sich in mir. Nicht bei dir. Ich wende mich ab, gehe auf einen anderen zu, drücke ihm die Hand. «Sie sollten Doktor Veraguth nicht so zurücklassen», sagt Adjunkt Feusi. «Er war einer Zerreissprobe ausgesetzt. Geben Sie ihm die Hand.» Doch aus der Tiefe dringt das Antlitz der Schwester, die ich aus Furcht vor Veraguth im Stich gelassen habe. «Ich kann keinen Salto mortale.» An der Türe, auf den Stufen, die in den Saal hinabfuhren, steht ein Mädchen, noch im Mantel. Sie hat als einzige sich nicht zu mir gedrängt. Was denkt sie? Jetzt wird er bald fortgehen. Ich will zu ihr. Aber das Türkenkind schlüpft zurück ins Vestibül.
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Auf hohem Seil
Unerwarteter Besuch. Lena. Ich dachte, es betreffe Vládja, so ausser sich war sie. Aber sie brachte nur das eine Wort heraus: «Xaver». «Ist er... ?!» Sie schüttelte den Kopf. «Er ist zurück... als Krüppel.» Sie musste sich setzen. Nach und nach suchte sie die Trümmerstücke zusammen im Leben ihres Bruders. In Stuttgart bildet man ihn aus in der Handhabung von Sprengstoffen: einfache Handgranaten basteln, ‹Molotow-Cocktails› fabrizieren (auch vom Feind muss man lernen!), Zeitbomben konstruieren. Dann kommt's: er solle nach Hause zurückkehren, seine neuen Fertigkeiten im geeigneten Augenblick (nutzbringend an schweizerischen militärischen Objekten verwerten). Er begehrt auf, das sei nicht seine Art. Er wolle mitstürmen bei der Eroberung germanischen Lebensraums, der Schaffung des neuen Europas. Er erreicht die Aufnahme in die Waffen-SS, nach einigen Monaten steht er an der Ostfront. Drei Jahre. Nichts bleibt ihm erspart, nichts. Aber durch alle Greuel bleibt er unversehrt. So wird ihm noch die Ehre zuteil, des Generals Rundstedt Offensive der Verzweiflung in den Ardennen durchzustehen. Als sie zusammenbricht, gerät er in Gefangenschaft. Hat er sich ergeben? Niemals! Er kommt zu sich in einem Feldspital der US-Army, schwerverletzt, mit amputiertem Bein. Dann, schon mit Prothese, wird er gegen seinen Protest an die Schweiz ausgeliefert. Anklage wegen Fahnenflucht und Landesverrats. Jetzt weiss ich, warum Lena gekommen ist, mich anstarrt aus bittenden Augen. Man wird mich vorladen, als Kronzeugen der Anklage. Ich sitze im Korridor des weitläufigen grauen Gebäudes. Es riecht säuerlich, atmet Gleichgültigkeit, nur die speckig glänzenden, von
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schweren Schritten ausgetretenen Fliesen verraten, wieviele Schicksale sich hier entscheiden. Das Divisionsgericht tagt. Andere Zeugen sitzen den Wänden entlang. Zwischen jedem von uns ein Soldat. Aus dem Gerichtssaal tritt Lena, sie ist bleich. «Ich hab's gespürt», murmelt sie, «der Schwester glauben sie nicht.» Die Türe öffnet sich wieder: «Zeuge Marek Truntschka!» Ich stehe auf, trete ein. Szenerie wie auf einer Bühne: Podium, ein langer Tisch, grünes Tuch, dahinter weisses Kreuz in rotem Feld, Kruzifix. Die Rollen sind verteilt: Vorsitzender, Beisitzer, Auditor, Verteidiger, alle in Kostüm (Uniform, mehr oder weniger Gold an der Kappe), nur der Angeklagte, wie ich, in Zivil. Die ersten Worte spreche ich nach: « ... die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.» Es ist das Seil, auf das ich jetzt hinausmuss. Ich habe auszusagen über Umstände und Hergang, die zur Auffindung der Landkarten mit den eingezeichneten militärischen Objekten führten und zu ihrer Übergabe an die Polizei. Der Auditor: «War Ihnen bekannt, dass der Angeklagte systematisch inkriminierende Unterlagen sammelte, wie Stadtpläne, Wanderkarten, Hefte mit militärischen Abzeichen, Listen von Munitionsdepots, Sprengobjekten usw... ? Haben Sie Strub schon länger in Verdacht gehabt und darum beobachtet?» «Ganz und gar nicht. Ich hätte niemals die Mappe Strubs geöffnet, wenn ich darin nicht Hetzschriften gegen die Kollegen vermutet hätte.» Auditor: «Der Angeschuldigte hat sich also auch als Kollege unkameradschaftlich und hinterlistig verhalten?» «Nicht gegen mich. Xaver Strub suchte anhaltend meine Nähe und Freundschaft. Ich hatte von ihm den Eindruck eines einsamen, unter Minderwertigkeitsgefühlen leidenden Jungen, der von sich aus nicht schlecht veranlagt ist. Obgleich ich seine Sympathien für das ‹Dritte Reich› und seine Ideologie scharf ablehnte, habe ich persönlich von ihm nichts Böses erfahren.» Auditor: «Es ist doch seltsam, ja unlogisch, dass Sie den Angeschuldigten als gutartigen, Ihnen gegenüber toleranten Charakter darstellen, anderseits seine infame Unkollegialität, ja seinen Landesverrat aufgedeckt haben. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?» 127
«Er war naiv, vor allem, was die Politik betrifft. Er fühlte sich unterdrückt und verkannt, auch im Theater. Für gewisse Leute war es daher nicht schwierig, ihn gegen die scheinbar im Wege stehenden Flüchtlinge aufzuhetzen, auch gegen eine demokratische Ordnung, die seinen Fähigkeiten angeblich nicht gerecht wird.» Verteidiger: «Ihre Aussage wäre aufschlussreicher, wenn sie sich nicht so unbestimmt ausdrückten. Können Sie uns Genaueres über die ‹gewissen Leute› sagen, die meinen Mandanten aufgewiegelt und angestiftet haben?» Ich fühle die Gefahr. «Ich glaube nicht, Herr Verteidiger, dass Sie von mir, einem Ausländer, Auskunft benötigen über die sogenannten Frontisten und ihre Sympathisanten.» «Dass Sie Ausländer sind, spielt hier keine Rolle, Herr Zeuge. Oder haben Sie Angst? Ich frage nochmals, wer hat nach Ihrem Wissen Xaver Strub aufgehetzt?» Auditor: «Ich erhebe Einspruch. Die Frage bewegt sich ausserhalb der Anklage!» Der Vorsitzende lehnt den Einspruch ab. Kein Netz unter mir, das mich auffangt, wenn ich abstürze. Meinen Fuss hält allein das schmale Seil Wahrheit. «Auf dem Korridor habe ich einen Herrn gesehen, der nach mir in den Zeugenstand tritt. Er kann dem Gericht Auskunft geben über den Einfluss, den er auf den Angeklagten ausübte, über die Maximen, die er ihm und auch mir einzuflössen versuchte: Das junge Europa poche an die Türe der Schweiz, eine Neuordnung des Staatswesens sei überfällig. Man solle alle Juden ausschaffen, damit man diese Gewandläuse loswerde... Wenn jemand auf die Anklagebank gehört, dann meines Erachtens Herr Doktor Ruchti.» Der Auditor schlägt auf sein Pult. «Achten Sie auf Ihre Zunge! Das ist Ehrverletzung. Sie reden von einem angesehenen Mann, einem Offizier... » «Ein Offizier trägt erst recht Verantwortung», ruft der Verteidiger. «Doktor Ruchti hat solche Äusserungen auch öffentlich getan, sie sind protokolliert!» Der Vorsitzende schafft sich Ruhe. «Gestatten Sie mir bitte, dem Zeugen eine kleine Rechtsbelehrung zukommen zu lassen... In einem demokratischen Staatswesen herrscht Meinungsfreiheit. Ich persönlich teile keineswegs die erwähnten Auffassungen des Herrn Doktor Ruchti. 128
Aber zwischen ihm und dem Angeklagten besteht ein fundamentaler Unterschied: weder ist er desertiert noch hat er spioniert. Man mag seine Anschauungen für fragwürdig oder anfechtbar erachten, aber sie sind rechtlich nicht erfassbar. Sonst hätten wir eben das, was wir an den Diktaturen so sehr ablehnen, ein Gesinnungsstrafrecht... Noch eine Frage an den Zeugen?... Nein? Dann benötigen wir Sie nicht mehr.» «Darf ich hier bleiben, Herr Vorsitzender?» Eine Handbewegung gegen die Zuschauerbänke. Die Ordonnanz öffnet die Türe, liest von einem Blatt ab: «Herr Hauptmann Dr. Ruchti.» In Uniform, Reitstiefeln, Goldstreifen um die Kappe, wuchtet er elastisch herein, salutiert, der Raum ist voll von ihm, auch hier. Der Vorsitzende fragt, ob der Herr Hauptmann den Angeklagten kenne. «Natürlich.» Der Doktor ist ganz kameradschaftliche Gemütlichkeit. «Ich bin ja auch Theaterarzt. Ich hab nun mal ein faible für junge Menschen, für Künstler im besonderen. Meine Praxishilfe hat mir ihren Bruder als gefährdet geschildert und ans Herz gelegt.» «Und was war ihr Eindruck?» «Junger Dachs, voll Temperament, entzündlich und ohne Zweifel begabt.» Immer jovialer wird der Doktor, er trägt für die Zuhörer das Herz auf der Zunge. «Aber er war aufgebracht über seine Zurücksetzung im Theater, und das mit Recht. Dort beherrschte ausschliesslich eine Clique von Emigranten die Szene. Nun, ich hab' ihm geraten, sich nicht in Verbitterung zu erschöpfen, sondern - Sie kennen mich ja - als Patriot seine Kräfte für die Stärkung vaterländischer Gesinnung und die Verteidigung der Heimat einzusetzen.» Eine Kummerfalte erscheint jetzt über der weinseligen Nase, die Stimme tremoliert eine halbe Oktave tiefer. «Es hat mich sehr erschüttert zu erfahren, dass der Jüngling anstatt dessen krumme, strafbare Wege eingeschlagen haben soll.» Der Auditor ist beeindruckt. Der Herr Hauptmann möge die Frage vergeben: ob er irgendwie über die Umstände von Strubs Flucht unterrichtet gewesen sei? Er habe ihn ja damals krankgeschrieben und ins Spital eingewiesen. Dort sei er aber nie eingetroffen. «Diese Unterstellung lehne ich entschieden ab. Ich war, im Gegenteil, über Strubs Verschwinden konsterniert, mehr noch über den Missbrauch meines Vertrauens.» 129
Verteidiger: «Vermuten Sie nicht, wessen Einwirkung den leicht beeinflussbaren jungen Menschen zur Auflehnung gegen unsere demokratische Ordnung trieb, zu seinem verhängnisvollen Schritt aufgestachelt hat?» Jetzt wird Dr. Ruchti schroff. «Ich habe es schon klar gesagt. Es waren die Umtriebe der Emigranten, die jetzt hoffentlich die Schweiz wieder uns Schweizern überlassen werden.» Ein grossartiger Komödiant. Niemand im Saal wagt einen Widerspruch. Heute die Plädoyers. Man weiss im voraus, wer für, wer gegen wen ist. Der Auditor lehnt in seiner Anklagerede die vom psychiatrischen Experten nahegelegte Schlussfolgerung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit ab, ebenso die Insinuation einer Hörigkeit. Vielmehr habe der Täter aus eigener Initiative delinquiert, was er selbst ausdrücklich betone. «In einer eisernen Zeit», schliesst der Auditor, «in der die Schweiz all ihre militärischen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte aufbieten musste, um ihren Durchhaltewillen zu bekunden und die aufgetürmten Schwierigkeiten zu bewältigen, bilden Fahnenflucht und militärischer Verrat einen Superlativ der Gefährlichkeit und Verworfenheit.» Der Auditor fordert für Strub eine Strafe von 5 Jahren Zuchthaus, Ausschluss aus der Armee und Einstellung in den bürgerlichen Rechten auf 10 Jahre. Nun ist die Reihe am Verteidiger: «Was hat der Angeschuldigte eigentlich getan? Er hat Landkarten weitergegeben, die jedermann, auch ein Ausländer, in unseren Buchhandlungen kaufen kann. Er hat allerdings auch in diese Karten einiges eingezeichnet. Tanksperren, Drahthindernisse, Bunker, Tunneleingänge, Talsperren, Brücken - alles Objekte, die von jedem Spaziergänger eingesehen werden konnten, nicht zuletzt von den Angehörigen der deutschen Kolonie und den deutschen Agenten, die sich frei und ungehindert während des Krieges bei uns bewegen durften. Was für einen Wert konnten also diese Angaben für die deutsche Heeresleitung haben? Praktisch keinen. Es bedurfte schon einer kindlichen Naivität, um derartige banale Auskünfte überhaupt weiterzugeben.
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Nach Artikel 86 des Militärstrafgesetzes ist der Tatbestand militärischen Verrates lediglich erfüllt durch die Verletzung absoluter Geheimnisse, das heisst solcher, die nur einem beschränkten, auserwählten Personenkreis bekannt sind. Das zuvor Erwähnte kann man allenfalls einstufen als Nachrichtendienst. Für Xaver Strub kam Vaterlandsverrat nicht in Frage. Obgleich zum Sprengstoff-Fachmann ausgebildet, lehnte er jegliche Sabotage-Tätigkeit in der Heimat strikte ab. Es bleibt die Tatsache, dass der Angeklagte sich ins Ausland begab und in einer fremden Armee diente - keineswegs gegen seine schweizerische Heimat. Im Gegenteil, er war zutiefst davon überzeugt, durch Teilnahme am Kampf gegen den Bolschewismus auch seine eigene Heimat vor einer Gefahr zu bewahren. Woher hatte er diese Idee, wenn nicht von den zahlreichen Mitbürgern, die dieser Einstellung öffentlich und ungestraft Ausdruck gaben? Der Herr Gerichtspräsident hat festgestellt, dass Gesinnung in unserer Demokratie nicht strafbar ist. Dann müssen wir aber auch Verständnis für jemanden aufbringen, der durch sein Handeln ein Opfer dieser Gesinnung wurde. Xaver Strub ist in diesem Krieg durch alles unvorstellbare Grauen, durch alle Höllen hindurchgegangen, die uns erspart blieben. Er ist als Krüppel zurückgekommen - er hat für seinen Irrtum schon unvergleichlich härtere Busse erlitten, als irgendein Gerichtsurteil ihm auferlegen könnte. In diesem Sinne stelle ich den Antrag, das Hohe Gericht möge den Angeschuldigten zu drei Monaten Gefängnis verurteilen, unter bedingter Strafaussetzung mit einer Bewährungsfrist von 5 Jahren.» Es geht weiter, nach unumstösslichem Ritual. Hat je ein Verteidiger den Staatsanwalt, ein Staatsanwalt den Verteidiger überzeugt? Der Auditor repliziert scharf gegen die Verharmlosung des Verrats an den Kameraden in der Armee, denen der Angeklagte durch sein Handeln in den Rücken gefallen ist. Man vergesse nicht die Worte des Oberkommandierenden der Armee, General Guisans. «Für gewissenlose Verräter... verlangen die Armee und das Volk dringend eine der Tat angemessene Strafe... Es ist die ganze Schärfe des Militärstrafgesetzes zur Anwendung zu bringen.» Das Schlusswort hat der Angeklagte. 131
«Als erstes danke ich dem Zeugen Herrn Doktor Ruchti, der hier verunglimpft wurde. Er war als einziger immer gut zu mir. Und er hat mir die Wahrheit gezeigt. Ich bin völlig normal. Und ich bin kein Vaterlandsverräter. Das wird die Geschichte beweisen. Die gleiche Armee, der ich angehörte und die man jetzt so beschimpft, werden wir einmal auf den Knien anbetteln, das Abendland zu verteidigen gegen das Ungeheuer aus dem Osten.» Das Divisionsgericht fand Xaver Strub schuldig des militärischen Nachrichtendienstes, der Schwächung der Wehrkraft und des fremden Kriegsdienstes. Das Urteil lautete auf zwölf Monate Gefängnis unbedingt, unter Anrechnung der Untersuchungshaft und auf Ausschluss aus der Armee. Etwa anderthalb Jahre später erhalte ich einen Zeitungsausschnitt: «Explosions-Unglück. In den späten Nachtstunden wurden die Bewohner der Neugasse aufgescheucht durch eine heftige Detonation. Aus dem Untergeschoss des Hauses Nr. 37 drangen Flammen und dichte Rauchwolken. Der alarmierten Feuerwehr und der Polizei gelang es erst nach geraumer Zeit den Brand zu löschen und in den teilweise eingestürzten Raum vorzudringen. Hier fand man den Mieter Xaver Strub mit schweren Verletzungen und Brandwunden vor. Er verstarb noch während des Transports ins Krankenhaus. Zeugenaussagen ergaben zunächst: Strub, der sich als ausgebildeter Sprengstoff-Fachmann ausgab, machte seit einiger Zeit Experimente in dem von ihm gemieteten Kellerraum. Einem Bekannten hatte er vertraulich angedeutet, er sei beschäftigt mit der Herstellung spezieller, leicht transportabler Sprengkörper, zwecks Abwehr der bevorstehenden bolschewistischen Infiltration. - Die polizeilichen Erhebungen sind noch im Gange.» Ungefähr um die gleiche Zeit erfahre ich aus einem Brief von Valérie Grandcoeur: « ... Der von uns so überaus geschätzte Doktor Ruchti erweist unserer Stadt nicht mehr die Ehre. Es war ihm wohl auf die Dauer zu mühsam, immer wieder die Hakenkreuze auf seiner Haustüre zu überstreichen. Er hat anstattdessen eine Praxis in seiner Heimatgemeinde eröffnet. Eben lese ich in der Zeitung, dass er dort zum Gemeinde-Ammann gewählt worden ist.» 132
Das Land, das ich dir zeige
Die Notizen über Xaver habe ich vorangestellt. Ich kehre zurück zum 8. Mai 1945. Das letzte Trümmerstück des ‹Tausendjährigen Reiches› stürzt ein. In der kleinen Stadt werden Fahnen ausgehängt, Musikkapellen schmettern, auf den Strassen umarmt, küsst man sich, tanzt. Ich dränge mich durch die tobende, teils schon alkoholisierte Menge, denke: Habt ihr es erkämpft, durchlitten? Das Radio meldet: in Prag fliesst Blut, die Volksmassen haben sich erhoben, kämpfen mit Ziegeln, Pflastersteinen, Benzinkanistern gegen Panzer und Armee des Generals Schörner, der nicht kapituliert. Jemand erkennt mich, trinkt mir aus der Bierflasche zu, hält mir eine zweite hin. «Sä do, Brueder, suuff! Dir heit gwunne!» Ich wende mich brüsk ab, gelange an die weisse Marmortreppe, steige die Stufen hinauf gegen die Kathedrale. Zu beiden Seiten verzückte Heilige, die Arme gegen den Himmel reckend. «Die menschlichere Welt - lebt sie nur in euern Ekstasen?» Doch ich muss hinunter ins Theater, mein Stück zu spielen. Nach Hause! Dazwischen liegt das Trümmerfeld Deutschland. Einund durchgegittert in vier Besatzungszonen; in jeder herrscht eine andere Armee, mit der Rigorosität von Raubtierwächtern vor Tigerkäfigen. Dass die Tiger am Krepieren sind, nimmt ihnen nichts an Gefährlichkeit, heisst es. Also ist Betreten strengstens verboten, von Durchqueren ganz zu schweigen. Und selbst wenn man's dürfte, wie? Nur alliierte Armeefahrzeuge verkehren, Militärzüge; D. P.'s sind von der Beförderung ausgeschlossen. D. P. heisst displaced person. Sie marodieren in der Trümmerwelt, plündern, rächen sich an den niedergeworfenen Sklavenhaltern. Auch ich bin jetzt D. P. Ich bestürme Kopecký; der sitzt jetzt in der schönen Botschaft in Bern, hat doch alle Beziehungen, der alte Zaubermeister. Der klopft mir gemütlich auf die Schulter. «To chce klid - immer mit der Ruhe, hat schon der selige Schwejk gesagt. Geduld, mein Lieber, ich vergess' dich nicht.» Ich habe Zeit, Abschied zu nehmen.
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Der Prinzipal lädt mich zum Essen ein. Auch Frau Beuschel ist dabei, das wortgewaltige Faktotum. «Waren doch meine beste Kraft», orgelt der Chef. «Das haben Sie schon manchem gesagt, lieber Direktor», lache ich. «A guter Direktor angaschiert nur beste Kräfte», trumpft Frau Beuschel auf. «Hab eben eine gute Nase.» Feiel fährt mit der Hand über seinen prächtigen Vorsprung, guckt verschmitzt. «Meinen, ich weiss nicht, dass ihr Bande mich den Tapir nennt?» Nie mehr werde ich auftreten in einem gotischen Burgverlies, ein zweiter Florestan. Wo ist Fidelio, die getreue Retterin? Ich gehe zu Valérie Grandcoeur in Biel. Wen hat sie denn jetzt wieder da? Kindergeschrei, Weinen, ein Durcheinander von Matratzen, Kleidern, Windeln. Es ist eine deutsche Familie, Schauspieler und Schauspielerin, mit zwei kleinen Kindern. Ende April flüchteten sie aus dem todbringenden Chaos abenteuerlich über die Grenze, schlugen sich durch, zu Valérie. «Wieso denn zu dir?» «Preiswerte Unterkunft», sie schaut grimmig drein, «wird wärmstens empfohlen.» «Kannst eben nicht aus deiner Haut.» «Im Gegenteil! Ich fahr' aus der Haut, immer wieder. Der Feiel möchte sie engagieren, alle beide. Aber die Fremdenpolizei will sie abschieben. Mussten beweisen, dass sie nicht Nazis waren. Vorher hat man beweisen müssen, dass man kein Jude ist! Sollen doch diese Rotznasen anschauen: Menschenkinder sind's, Menschen!!» Ich fahre zu Françoise und Carl Moor. Sie waren die ersten Freunde, hier soll der Ausklang sein. «Ah, vraiment, la dernière fois?» empfangt mich Françoise. «Du gehst retour in deine 'eimat? Endlisch, quel bonheur!» Ich fühle Moors Hand auf meiner Schulter. «Zurückkommen ist schwerer als fortgehen. Fass festen Fuss.» «Das halbe Herz bleibt zurück.» «Très bien», spasst Françoise, «das be'alten wir als Pfand.» Aber Moor bleibt ernst. «Mit halbem Herzen kann man nicht leben. Weder dort, noch hier.» 134
Das Türkenkind. In meinen Notizen stammt ein Blatt, ein einziges, von ihr. Weiss nicht, wie es zu mir gelangte. Aber es ist da, geschrieben von ihrer Hand. Ich darf s nicht unterschlagen. «Wenn Prag befreit ist, kehrt er zurück. Das war das erste, was mir Marek gesagt hat. Und noch etwas hat er mir eingeschärft, immer wieder, dass wir nicht zusammenbleiben werden, dass er mich nicht mitnehmen kann. ‹Exilkonkubinchen› nenn ich mich, ‹Stattliegerin› (‹halten› darf ich ihn ja nicht). Nur keine Sentimentalität, ihm nicht auf die Nerven gehen. Aber kann man sechs Jahre nur immer den Clown machen, in der Manege bleiben? Einmal habe ich ihn doch fast festgehalten, keine weibliche List, es brach plötzlich aus mir heraus, unwiderstehlich. Als er zu mir kam, wollte er wie immer sich losreissen, im letzten Augenblick. Da hielt ich ihn fest in wahnwitzigem Trotz. Er brauchte alle Kraft, um doch noch loszukommen. Er war kreidebleich. ‹Wenn ich jetzt geblieben wäre, was dann? Mit einem Kind kann ich dich hier nicht alleinlassen... und... ein Muss tötet die Liebe.› ‹So geh, geh doch endlich›, schrie ich. Er rührte sich nicht. ‹Liebe, sagst du, Liebe... ?!› (Nur nicht weinen, nur das nicht!) Ich begann zu lachen, klang sicher scheusslich, verdrehte dann die Augen, das wirkt immer komisch. ‹Bin doch nur dein Wurstel!› Jetzt nennt er mich nicht mehr so.» Als es mich aus Prag fortriss, ich mich festklammern wollte, liess die Geliebte dort sich mein Kind herausschneiden, damit ich gehe. Jetzt, da es mich zurückreisst, will die Geliebte hier ein Kind von mir damit ich bleibe. Geh aus deinem Lande, verlass deines Vaters Haus und zieh in das Land, das ich dir zeige. Gehorche ich einem höheren Befehl? Die Lebensebbe hat mich fortgezogen, jetzt muss ich zurück mit der Flut. Wieder ist's stärker als ich. Endlich Nachricht vom Botschafter. «Anbei alle nötigen ‹Laisserpasser› durch die alliierten Besatzungs-Zonen für dich und deinen Kollegen Vládja Grossman. Die Firma Sandoz übernimmt die Kosten 135
eines Taxis nach Prag. Mitreisen wird ihr Prokurist, Herr Sarasin. Er will die Vertretung der Firma in Prag reaktivieren. Gute Heimkehr! P. S. Für Grossmans Schweizer Freundin wurden die Dokumente verweigert, da sie weder seine Ehefrau, noch Heimkehrerin ist.» Wir reisen mit dem Zug nach Rorschach, um dort vor dem Grenzübertritt zu übernachten. Man darf im Taxi nur das Allernötigste mitnehmen, der Herr von der Sandoz will es mit pharmazeutischen Artikeln vollpacken. Vládja hat sein grosses Gepäck bei Lena gelassen. Meine Siebensachen soll das Türkenkind nachsenden, sobald ich in Prag eine Bleibe habe. Vládja wettert, dass wieder mal befiehlt, wer zahlt. «Der Kapitalistenhengst hat die Bewilligung erhalten, die einfache Krankenschwester nicht.» Unmittelbar vor der Abreise ein Telegramm aus einem Krankenhaus in der Slowakei: «hab mich aus auschwitz zu fuss durchgeschlagen herz und lunge beim teufel humor intakt leo» Der Bruder. Er lebt! Immer noch der Alte. Und die Schwester? Auch Katja wird, muss wiederkommen! Meine letzte Nacht in der Schweiz. Ich fahre durch die Prager Vorstädte hinaus zum Elternhaus. Ewig geht es. Immer wieder bleibt die Strassenbahn stehen. Warum? Ihre Glocke schrillt. Niemand steigt ein, niemand steigt aus. Den ganzen Horizont entlang, Schulter an Schulter, die aufrechtstehenden Skelette der riesigen Fabriken, Schlot an Schlot. Kein Tag, nur Dämmer entringt sich ihrem Qualm. Ich nähere mich zögernd unserer Fabrik und dem Park mit dem Wohnhaus. Am niedergerissenen Zaun - ist das der Bach, an dem das Kind vom grossen Bruder lernte, wie man flache Kiesel das Wasser entlangflitzen lässt, sich mit der klaren Flut die Hochsommerschwüle vom Leib spritzt? Jetzt umschleicht eine stinkende Brühe den Garten, trüb, phosphoreszierend, giftig. ‹Schlösschen› wurde das stattliche Haus genannt, mit der rosenumwucherten Freitreppe. Sie ist eingestürzt. Wer wohnt jetzt hier? Zerhackte Reste der antiken Möbel, Brandspuren. In den verwitterten Mauern die öden Fenster, teils mit zerbrochenen Bret136
tern verschlagen, teils mit Stacheldraht vermacht, fletschen mich höhnisch an. Ich bin hier allein, ein versprengtes Insekt in einer riesigen Wabe; von ihrem Schwarm verlassen, klafft sie in die Finsternis. Ich steige ins obere Stockwerk hinauf. Durch Zeitungspapier nässend, schimmelnde Essensreste. Gibt es hier noch Leben? Immer schwerer wird mir der bleierne Schritt. Jetzt kommt das Zimmer... da, in Fetzen der japanische Paravent, der früher das Bett der Schwester umgab. Ihr Toilettenspiegel in Scherben, verklebt von Staub und Spinnweben, das Scharnier starrt von Rost. Der Schalter: kein Licht. Alles dunkel, tot. Ich will gehen. Da leuchtet etwas auf aus dem Dunkel. Es ist eine Scherbe. Sie liegt in einer Hand, wirft einen Splitter ins Gesicht einer Frau... Unscheinbar ist's, verblüht, ausgelöscht. Doch etwas zieht mich zu ihr... plötzlich weiss ich... es ist die Schwester. Eine Handbewegung weist mich zurück. «Ich bin nicht mehr. Was war, ist tot.» Ich weiche zurück. Da blitzt es auf in ihrer Hand, reflektiert einen Lichtstrahl, der von nirgendwo kommt. «Nimm.» Ich will nicht. Doch die spiegelnde Scherbe erstrahlt, unerbittlich. «Sieh hinein», sagt sie, «damit du dich erkennst.» Etwas läutet, läutet. Ein furchtbarer Schmerz krampft meine Brust zusammen. Im Erwachen versuche ich mich aus dem Traum zu retten in einen einzigen Gedanken: « ... lass sie mich wiederfinden.» Immer noch schrillt das Telefon neben dem Hotelbett. Ich nehme ab. Eine Stimme sagt: «Das Taxi wartet.» Eine Weile später geht der Schlagbaum hoch. Wir fahren hinaus in die Trümmerwüste.
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II
Das Buch, in dem du dich ohne Erbarmen hinrichtest, wird das sein, das dich erlöst. Bernanos
Die Besiegten
Am Bodensee kommen wir an die österreichische Grenze. Aber die Geographie stimmt nicht: alle Aufschriften sind französisch, unzählige Wegweiser übereinander, zuoberst immer: Troupes Françaises d'occupation RHIN et DANUBE. Ich habe die alliierten Durchlassscheine für Vládja und mich, den Chauffeur und Herrn Sarasin. Deshalb bezahlt die Firma Sandoz das Taxi. «Filez», sagt der Sergeant. Und schon fahren wir weiter. Wir waren darauf vorbereitet. Und doch, meine Handbewegung erstarrt, als ich schweigend auf eingestürzte Strassenzüge weise: brökkelnde Zahnhälse, faulende schwarze Stümpfe im gebrochenen Kiefer der Stadt. Leben hier noch Menschen? Doch da regt es sich im Grau des frühen Morgens, kriecht aus den Trümmern. Ein kahlköpfiger Greis, zerfetzte Jacke, schwankt empor, halb hängt an ihm, halb stützt ihn eine Alte, weisse Strähnen unter zerknittertem Kopftuch. Er hält die Hand vor die Augen. Steinzeitliche Höhlenmenschen unterwegs zum Licht. Ich blicke hinaus gegen den See. Friedrichshafen, drüben, das soll viel schrecklicher sein. Nebelschwaden lassen Wasser und Ufer ins Unbestimmte, Endlose verlaufen; es verschluckt Trümmer und Menschen, ihren Wahn, der Blut und Tränen, Rache und Elend gebiert. Befriedigt es mich nun, dass die Rache hier Gestalt annimmt, dass mir aus den Ruinen die Not der Kreatur, ihre Entwürdigung entgegenbleckt? Der dauernde, der wahre Sieg, das ist die Versöhnung des Feindes. Wir müssen das Gemeinsame wieder finden, das dem Leben seinen Wert gibt. Nur dann, meine ich, hat es sich gelohnt, diese Jahre durchzuhalten. Am frühen Morgen waren wir aufgebrochen, um das Reiseziel unter allen Umständen vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Danach ist jeglicher Verkehr untersagt, Säumige werden festgenommen, über Nacht in Lager oder Gefängnisse eingewiesen. Der Chauffeur tritt aufs Gaspedal.
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Wieder eine Grenze der auf den Kopf gestellten Welt. Hier beginnt Amerika. Die erste Begegnung mit den Siegern, denen wir unser Überleben verdanken. Das will ich nie vergessen. Als ich in die Armeebaracke treten will, fühle ich mich am Kragen gepackt und durch die Luft zurückspediert. Der riesenhafte schwarze G. I. weist mit dem Daumen auf einen gelben Streifen vor dem Büro. «Off Limits» ist dort hingepinselt. Wir werden es noch oft sehen, überall, vor jeder Tankstelle, Snackbar, jedem Club, wo sich die Sieger die Besiegten vom Leib halten. «Wenn du wollen no Trabbel, du müssen deine Rekords tschecken.» Ich sehe den «Ami» hilflos an, bevor ich begreife, dass wir die vierseitigen Formulare mit den vierzig Rubriken ausfüllen müssen. Ueber eine Stunde der kostbaren Zeit vergeht, dann heisst es: «Now go to hell!» Die Sprache zwischen «conquerors» und «population». Ich frage mich: ist Demütigung der Weg, um Menschen von den Vorzügen der Demokratie zu überzeugen? Wir kommen langsam voran auf den zerstörten Strassen, zwischen Bombentrichtern und Schlaglöchern. Dann wieder Bahnschranken. Da gibt es zweierlei Arten von Zügen. Die elegant daherrauschenden Erstklasswaggons der Besatzungsmacht und die vorbeischleichenden Güterzüge. Güter? Die einzigen, die es gibt, die wertlosesten: Menschen. In den offenen Loren, anstelle der Kohle, wie in aufgebrochenen Spargelbüchsen, senkrecht Leib an Leib gepresst, unbeweglich. Hunderte von Kilometern durch Tag und Nacht. Immer noch besser als in den ausgebrannten, mit Brettern verschlagenen Waggons, ohne Licht, ohne Wasser. Sie quellen über aus den eingeschlagenen Fensterlöchern, über Plattformen, Puffern, Trittbrettern, liegen angeklammert auf den Dächern. Was ist in ihren Rucksäkken, Pappschachteln? Tauschartikel für die Bauern, oder schon kostbare Kartoffeln, Rüben, ein Stück Speck, für wertloses Geld nicht erhältlich? Wie halten sie die Fahrt durch über geflickte Schienen, Notbrücken, durch die Tunnels voll beissendem Rauch? Vor den Häusern, die noch bewohnbar sind, gibt es Mülltonnen. «Abfälle sind gechlort und ungeniessbar» steht darauf. Aber sie stürzen sie um, in dem Unrat wühlen Kinder. Wenn sich das Auto nähert, verstecken sie sich. Am Nachmittag, spät genug, erreichen wir München. Ein wenig die Beine vertreten. Es war einmal die kunstliebendste, lebenslustigste 140
Stadt Deutschlands. Wir stapfen über eine ungeheuere Einöde von Geröll, eine Wüste Gobi. Am Horizont, über durchsichtigen Fassadenresten ragen zwei Türme. An ihren verschrumpelten Hauben erkennen wir die Frauenkirche. Schrottgebirge, Trümmerschluchten. Ketten von Frauen von Hand zu Hand gehen verbeulte Eimer, gefüllt mit Schutt. Es gilt weiterzuleben. Vládja stösst mich an. Zwischen zwei Eisentraversen, rundum alles eingestürzt, eine Hängematte. Darin räkelt sich ein Mädchen, liest geniesserisch einen Schmöker. Endlich was Heiteres. Wir kommen zum zerklüfteten Ungeheuer aus eingestürztem Gestein, zerborstenem Glas, roststarrendem Metallgestänge. Das war mal der Hauptbahnhof. Davor gebückte Gestalten, sie sammeln etwas. Wenn man näher kommt, wird man unwirsch angesehen. Winzige Kohlenstücke klauben sie zusammen, wischen den Staub in Säcke. Doch was ist das? Knapp über das Pflaster bewegen sich zwei Oberkörper in Feldgrau. Die Oberschenkel, mehr haben sie nicht, sind festgeschnallt auf einem Brett, kaum fusshoch auf primitiven Rädern. Mit den Händen stossen sie sich vorwärts, wenn sie halten, sammeln auch sie etwas Kostbares: Zigarettenstummel. Chlorgestank. Bei jedem Schritt stolpert man über Bündel, Säcke, wartende, hockende, liegende Menschen, wird angeflucht. Im Korridor eine angelehnte Türe, Aufschrift «Frauen». Sie öffnet sich. Zwei halbwüchsige Mädchen, dreizehn oder vierzehn. Die eine reisst ihre Bluse auf. «Habt ihr ‹Lucky› oder ‹Kämel›?» Auch die andere zeigt ihre armseligen Brüste. Endlich sind wir draussen. «Der Hunger», sage ich, «Kinder als Huren... » Da packt mich Vládja an, sehr fest. «Ich muss mit dir nach Dachau, damit dir die Sentimentalität vergeht. Vielleicht sind dort noch ein paar Häftlingskadaver.» «Sind die hier schuld, diese Kinder?» «Die Kinder von Mördern.» An der tschechischen Grenze. «Ahoj!», ein paar deftige Witze im vertrauten Idiom, zwei Päckchen Zigaretten, und den Formalitäten ist Genüge getan. Vládja ist niedergekniet, küsst die Heimaterde. Warum stehe ich steif daneben, ich Snob?
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Die amerikanische Zone endet erst 30 Kilometer vor Prag. Wir fahren bis Pilsen, trotz einbrechender Dunkelheit. Im Lande Schwejks haben Verordnungen einen tieferen Sinn. Sie dienen dem Beweis, dass es ohne sie noch besser geht. In Pilsen wirken meine «To whom it may concern» Wunder. Wir dürfen im amerikanischen Offiziersklub übernachten. Am Morgen wird uns das Frühstück serviert. Kannen voll herrlichstem Kaffee, Orangensaft, knusprig frische Brötchen, Marmelade, Honig, Cornflakes mit Rahm, Käse, Eier und Speck. In einem kriegsversehrten, ausgehungerten Land.
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Die Brücke
Schon einen Monat in Prag. Vládja ist jetzt Ministerialrat, Sektionschef im Ministerium für Volksbildung. Er hat alle Theater unter sich. Ich ging zu ihm, in eines der alten fürstlichen Palais auf der Kleinseite. Er empfing mich strahlend. «Du staunst - wie?» «Ja. Kann ein Künstler, ein Schicksalsdeuter und Menschenverwandler, Genüge finden im Aktenstaub, beim Unterzeichnen von Dekreten?» Er entblösste seine schönen starken Zähne. «Den Staub habe ich schon gründlich aufgewirbelt. Hier erst kann ich Menschen wirklich verwandeln, Schicksale nicht nur deuten, sondern verwirklichen. Vom Schein zum Sein. Welches Theater willst du leiten, alter Kumpel?» Ich ging darauf nicht ein. «Stimmt's, dass ihr alle Deutschen deportieren wollt, drei Millionen Mitbürger?» «Heim ins Reich! Sie haben es lang genug gebrüllt, haben unser Land deshalb in Stücke zerrissen. Jetzt sollen sie ihren Willen haben: Alle!» «Die deutschen Antifaschisten haben mit uns gekämpft, gelitten.» «Nicht bei uns, drüben haben die deutschen Genossen jetzt ihre Aufgabe: die faschistische Infektion auszurotten, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.» «Dass wir sie ins Elend treiben, legitimiert das den Sozialismus als die humanere Gesellschaft?» «Wir müssen sie erst schaffen. Ich habe mich für die Revolution entschieden, weil ich glücklich sein will, glücklich mit Gleichgesinnten. Willst du's mit denen halten, die versuchen, mehr zu erraffen, als ein einzelnes Leben je verbrauchen kann? Für mich ist der Sinn des Lebens einfach: Gerechtigkeit und Solidarität.» « ... Mein Vater zählte sich zu den Deutschen, meine Mutter zu den Tschechen. Als Hitler kam, gingen sie gemeinsam in den Tod.» «Nicht nach rückwärts, nach vorwärts musst du leben!» Ich fragte nach Lena. «Sie ist längst hier. Auch das hat die Revolution ermöglicht. Komm zu uns. Du wirst staunen, sie redet nur noch tschechisch.» 143
«Und Jirka?» «Mein Sohn ist bei den Jungen Pionieren. Damit er ein guter Kommunist wird.» Ich bin nicht hingegangen. Zuletzt bin ich über die Brücke, die in mir gelebt hatte, so wie ich in ihr. Warum erst jetzt? Die Wochen in Prag waren dahingeströmt, durch mich hindurch wie durch die Brückenbögen. Erst freudiger Willkomm, das Wiedersehen! Doch dann schwemmte Treibholz heran, sperrig, faulend. Die Flut trübte sich, begann zu steigen. Eisschollen türmen sich auf, lassen die Pfeiler meiner Hoffnungen, Pläne, Illusionen wanken. Das Hochwasser kommt über mich wie einst über die Brücke. Oft ist sie eingestürzt. Aber ebenso oft haben wir Prager sie wieder aufgerichtet. Denn sie ist ein Stück von uns. Was wären wir Bürger am rechten Moldau-Ufer ohne die Lebensader hinüber zur Burg der Könige, die unsere Stadt gegründet hatten, regierten und schützten. Ihre Sternstunde war die unsere. Als Karl den Vierten erhoben die Kurfürsten den böhmischen König zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, und Prag wurde seine Hauptstadt. Nun erbaute er seine Brükke, unser König und Kaiser; sie schwang ihre wuchtigen Bögen vom Sitz der Macht hinüber zur Stätte der Erkenntnis. 1348 hatte er in der Altstadt sein Karolinum errichtet, die erste Hohe Schule nördlich der Alpen. Universitas! Alles menschliche Wissen, verantwortet vor göttlichem Gebot, sollte hier seine Heimstatt haben, allen Völkerschaften zu eigen, vom Rhein bis zur Weichsel, von der Nordsee bis Sizilien, in seinem Friedensreich. Harmonia mundi! Wir haben sein Vermächtnis verraten, wir alle, immer wieder. Sein Welttraum von der Einheit des Wissens, des Glaubens, des Reiches erstickte in nationalem und religiösem Hader. Blut, Krieg, Fremdherrschaft. Im Brückenturm stecken die Kanonenkugeln, die ihn zerschmettern wollten: habsburgische, schwedische, französische, preussische. In meinem Stückchen Leben, diesem Hobelspan der Zeit, ging es zu Ende mit den Kaisern; über die Brücke zogen auf den Hradschin zwei
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Präsidenten. Der eine hiess Masaryk, er war ein Philosoph, sein Credo: Jesus, nicht Caesar. Kaum war er dahingegangen, da wurde sein Wort zum Gespött. Auf dem gleichen Hradschin verhöhnte ihn der Usurpator. Doch über die Brücke wagte er sich nicht, angesichts des Volkes. Von hinten brach Hitler ein in die Burg, verschwand in Blut und Trümmern. Und jetzt? Wieder ein Präsident. Er bringt die Freiheit zurück, sagt er. Für wen? Für wie lange? Fremde Panzer brachten ihn hierher. Sichel und Hammer anstelle des Hakenkreuzes. Auch sie fahren nicht über die Brücke. Unter ihnen bräche sie zusammen. Es treibt mich weiter. Unversehens durchschreite ich die Torwölbung, befinde mich auf der Brücke. Diese Brücke ist wesenhaft, sie liebt, hasst und leidet mit uns, sie lebt und wirkt. In kühnem Wurf und leichter Windung schwingt sie sich von Ufer zu Ufer, atmet mit dem Strom, in dessen Grund sie ihre Füsse setzt, sie bricht auch auf nach oben. Dreissig Bildwerke, ganze Gruppen wildbewegter Leiber entwachsen ihr, erzählen ihre Geschichte: leidenschaftliche Anklage, ekstatische Lobpreisung, Gerichtete und Richter. Sie mahnen, beschwören, ziehen uns in sich, verwandeln sich in uns. Von Kindheit an bestaunte ich diese Gestalten, ward von ihnen gefangen, bewegt. Die einen habe ich geliebt, andere gescheut, manche gefürchtet. Sie geleiteten mich auf der Flucht, in der Fremde. Jetzt endlich will ich sie wiederfinden. Zwiesprache halten, Rechenschaft ablegen und fordern.
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Nepomuk
Da bist du, das Birett auf dem Kopf, so korrekt in Soutane und Rochett, als kämest du soeben aus deiner Sakristei. Die Hand hält den Palmzweig, das Zeichen des Friedens. Den haben sie dir nicht gelassen. Rache war die Losung, ihr Credo die Gewalt. Dein zurückgeworfenes, von Schmerz durchfurchtes Antlitz zeugt von tödlicher Prüfung, das kleine Kreuz, an die Brust gepresst, von der Kraft, aus der du sie bestanden hast. In alle Welt haben sie dich gerufen, bis über den Ozean ist dein Standbild gewandert als Beschützer aller, die über reissende Lebensströme von einem Ufer zum anderen müssen. Doch wer hat dich beschützt? Jedermann kennt dich. Kennen wir dich? Haben wir ein Recht auf dich, wir alle, die wir dich für uns beanspruchen? Zwei keineswegs identische Männer aus Nepomuk - nein, Pomuk! habe es gegeben, in verschiedenen Jahren und aus banalem Grunde zu Tode gebracht, behaupten sie; ja, du seist eine schiere Erfindung! Den Deutschen bist du ein deutscher Johann, Sohn des Stadtrichters Wölflin. Wie deine Mutter nennen dich zärtlich die Tschechen Janym, Johanku, Jení…ku. Den Katholischen bist du ein Heiliger, der getreue Generalvikar des Erzbischofs von Jenstein, der mit asketischer Strenge die alte heilige Kirche reinigen wollte von allem Unrat, wieder aufrichten aus tiefem Verfall. Ihm entgegen wirkte der ungezügelte, trunkene König Wenzel, als Protektor der Ketzer. Die Kurfürsten setzten ihn ab als Kaiser, weil er «selbst mit eigener Hand fromme Geistliche und auch viel andere ehrbare Leute ermordet, ertränkt, verbrannt hat mit Fackeln, und sie jämmerlich und unmenschlich wider Recht getötet». Den Protestanten aber giltst du als verfälscht, missbraucht als postumes Werkzeug der Gegenreformation. Auf Betreiben der Jesuiten habe man dich heiliggesprochen, damit Hus, der Reformator und Märtyrer, ein Gegenbild erhält. 146
Die marxistische Wissenschaft, geschult am dialektischen Materialismus, will es ganz exakt wissen: Johann aus Pomuk war nichts anderes als ein kleiner Joker im Pokerspiel zwischen Kapitalismus und Feudalismus um die Rechte der geknechteten, aufbrechenden Massen. Dieser neureiche Pfaffe, doppelter Hausbesitzer in Prag, korrumpiert durch die klerikale Habsucht, war der willfährige Komplize des Grosskapitalisten Jenstein, der seinen Besitz mit Klauen und Zähnen vergrösserte und gegen den noch habsüchtigeren König verteidigte. In diesem Übeln Spiel war sein Generalvikar Johann der Trumpf, der nicht stach. Das Volk, die einfachen Menschen aller Sprachen und Rassen, sie wissen es besser. Ist es so töricht, was die Legende uns berichtet? Du hast dem rasenden König auch unter der Folter das Beichtgeheimnis der Königin nicht preisgegeben, wurdest darum von ihm gefesselt in die Flut gestürzt. Sie ist allgegenwärtig, die Folter. Mitsamt den Knochen will sie zugleich Wahrheit, Gewissen, Mut und Hoffnung in uns brechen. Doch sie zerbricht selbst an der einzigen Waffe der Wehrlosen: am Schweigen. Was auch immer über dich behauptet und gelästert wird, Johannes aus Pomuk, eines steht fest: du hast geschwiegen. Wer verrät, den kann die Tyrannei brauchen. Wer sie durch Schweigen ad absurdum führt, dessen will sie sich entledigen. Vergeblich. Das Schweigen überdauert die Lüge, seine Wahrheit ist wortlos, darum nicht zu widerlegen. Im Tod wird der Schweiger unbesiegbar. In dir überlebt unsere Hoffnung, unser Mut, unser Glaube.
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Der Türke
Nichts hat mich als Kind so sehr angezogen wie du. Immer gingen mir die Erwachsenen zu langsam, die älteren Geschwister, Vater oder Mutter. Ich tapste voraus, zu dir, fast bis ans Ende der Brücke - obgleich ich Angst vor dir hatte, wie vor der Hexe, dem Wolf im Märchen. Aber die Neugier war noch stärker und der Schauer, der mir vor dir durch die Glieder rann, war eine seltsame Befriedigung. Darum war ich froh, eine feste gute Hand zu spüren, und fragte: Was ist das, ein Türke, und was macht er da? Die Türken oder Muselmänner, hiess es, hatten damals, als der Künstler dies Bildwerk schuf, Krieg geführt gegen die Christen, bis vor Wien waren sie gezogen. Sie waren grausam, und wer ihnen nicht zuwillen war, der wurde umgebracht oder zumindest eingesperrt wie hier dies Liebespaar. Der kleine Junge starrte auf den dicken Mann in Turban und Pluderhosen, der das Kinn auf die Hand stützt, als sei er müde vom ewigen Wache stehen. Aber in der Hand schwingt er etwas Schreckenerregendes... eine Geissel nennt man das. Wie muss ihn das Liebespaar fürchten da unten im Dunkel, hinter dem Kerkergitter! Aber sie blicken nicht auf ihn, nur sich in die Augen. Vor wievielen Jahrzehnten stand ich hier als Kind? Drei Worte sind mir von damals geblieben: Grausam. Kerker. Liebe. Das Kostüm hat sich seitdem verändert. Die Kerker sind zu klein geworden für die Massen der Eingesperrten. Stacheldraht ist zweckmässiger, endlos ausgerolltes Grauen. Die Türken von heute wachen auf gestelzten Türmen, vor der Grelle ihrer elektrischen Greifarme besteht kein barmherziges Dunkel. Ich hab' sie noch ankommen sehen, die Übriggebliebenen aus den Konzentrationslagern. Sie wankten heraus aus den Autobussen, in den gestreiften Fetzen, die nicht die ihre, sondern die Schande der Bewacher hinausschreien in die Welt. Wer nicht auf Bahren weggetragen wurde, nicht in die Arme fiel von Weinenden, stand da, blicklos, seltsam verloren. Kein Fidelio, keine Jubelchöre. In ihren Augen war der Glaube erloschen, dass es noch möglich sei, als Mensch zu leben unter Menschen.
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Pavlitschka war lange zuvor zurückgekehrt, aus dem KZ Ravensbrück. Dort wurde sie ‹umerzogen›, weil sie mir, ihrem Freund, zur Flucht verholfen hatte. «Ich will leben, lebe auch du!» Seitdem keine Zeile mehr. Nicht ratsam, einem Emigranten zu schreiben. Sie war immer realistischer, tapferer, kompromissloser gewesen. Nach dem deutschen Einmarsch hatte sie sich, ohne mich zu fragen, das Kind nehmen lassen, das sie trug, unser Kind. Damit mich keine Rücksicht, nichts hier zurückhalte. Das ist Mord! begehrte ich auf, in meiner Ohnmacht. Aber wer hatte sie dazu gebracht? Was für eine Zeit, da Leben vernichtet wird, um Leben zu erhalten. Auch sie wollte leben. Mit mir? Wie oft hatte ich versucht, mir das Wiedersehen vorzustellen. Ob immer noch auf einem so zarten Körper der große Kopf sitzt, die Augen so zu kullern wissen, dass ich im ernstesten Augenblick lachen muss? Ich habe sie nicht wiedergesehen. «Na, na... », hätte mir Pavlitschka gesagt, «was ist schon dabei? Da hat's eines Abends spät bei mir geläutet ganz kurz. Der Doktor Lí…ka, du weisst doch, unser Doktor. Er trug ein Köfferchen, wie immer. ‹Na so was›, sagte ich, ‹mir fehlt ja gar nichts.› ‹Aber mir›, antwortete er. Jetzt erst merkte ich, er war ausser Atem, grau im Gesicht. ‹Darf ich über Nacht hierbleiben, nur heute?!› In seinen Augen war eine entsetzliche Angst. ‹Ein Mann ist zu mir gekommen, blutend, mit einer Schusswunde. Ich musste die Kugel extrahieren, ihn verbinden. Auch wenn die Kugel von einem SS-Mann stammte. Mein Patient hat nämlich die Bombe geworfen ins Auto des Herrn Stellvertretenden Reichsprotektors Heydrich. Hätt' ich ihn deshalb nicht behandeln dürfen... ?› Bei Morgengrauen war er fort, der Doktor. Vielleicht hab' ich das Ganze geträumt, sagte ich mir. Aber ein paar Tage später hat's wieder geläutet bei Morgengrauen. Es hat gar nicht aufgehört, bis ich aufmachte. Zwei SS-Männer. Die waren wirklich. Na ja, mach doch kein solches Gesicht... Kann ich was dafür?» Vielleicht hätte Pavlitschka mir's so ähnlich erzählt, wenn sie nicht in die Gaskammer gekommen wäre, in Mauthausen. Ich sehe auf den Türken. Es muss ein Ende haben mit dem Kreislauf des Hasses und der Gewalt.
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Ich habe Ziska gesucht. Als Hitlers Truppen Prag besetzten, mir Verhaftung drohte, hatte Sie, die Deutsche, mich bei sich versteckt. Wo sind jetzt unsere deutschen Mitbürger? Seit siebenhundert Jahren haben sie mit uns gelebt, mitgewirkt an den Herrlichkeiten dieser Stadt. Noch hat man sie nicht fortgeschafft. Wo sind sie? «Im KZ», sagt man mir. «Sie haben das ja erfunden. Für uns. Jetzt sind sie an der Reihe. Reg dich nicht auf. Nichts von Gaskammern. Im Gegenteil. Auf den Sportplätzen sind sie, unter freiem Himmel, in Sonne und Regen, bei Tag und Nacht. Die reinste Sommerfrische. Nein, kein Zutritt. Ausgeschlossen. Dafür sorgt die Revolutionsgarde. Immer noch besser, als dem Pöbel ausgeliefert. Frag nicht, was vorher geschah.» «Haben wir dafür gekämpft, für das Gesetz der Rache?» «Nicht wir», ist die Antwort, «haben den Felsblock in Bewegung gesetzt, der jetzt zu Tal stürzt. Wir müssen warten, bis der Staub sich verzieht.» Ich kann nicht warten. Ich muss Ziska finden. Die Wohnungsnachbarin zieht mich zu sich herein, sieht sich ängstlich um. «In der Quergasse», flüstert sie, «in der zerbombten Schule. Dort sind Deutsche eingesperrt. Streng bewacht, versuchen Sie's nicht erst.» Ich gehe zum Roten Kreuz. Da ist ein Mann, der mich anhört. «Sie herausholen? Unmöglich. Aber vielleicht sprechen. Versuchen wir's.» «Haben Sie gute Nerven?» sagt mein Begleiter. «Am schlimmsten ist's mit den Kindern. Keine Milch. Die Säuglinge sterben.» «Und Sie können nichts dagegen... ?» «Ich war beim Präsidenten der Republik. Bat ihn um Zuteilung von Milch. ‹Das steht nicht in meiner Macht›. Er sah an mir vorbei. ‹Das kann nur der Innenminister›.» «Und?!» «Der Innenminister ist von der Partei.» «Rotes Kreuz? Schert euch zum Teufel!» Doch dann zeigt mein Begleiter dem Gardisten seinen Ausweis. Vom Revolutionsrat. Wär ich nur nicht hier herein. Der Gestank! Die Masse von Menschen, gepfercht in Trümmer-Räume. Nicht mal Stroh. Kein Platz sich hinzulegen. Menschen? Diese zu Haut und Knochen geronnene Angst? «Was willst du hier... ?» 150
Ihre Stimme. Nur die Stimme... Ich starre sie an. «Was hat man mit dir... ?» «Das Übliche.» Nicht mal bitter klingt es. Wie warm war diese Stimme einmal. Jetzt ist sie ohne Ausdruck, erstarrt. «Ich will versuchen, dich herauszuholen, Ziska. Ich - » «Nein.» Jetzt klingt es hart. «Heraus, ja. Aber nur mit diesen. Ich gehöre dazu.» «Du warst doch immer mit uns.» «Für Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie? Es gibt kein ‹uns› mehr.» «Aber Ziska, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen - » «Ich warte auf den Abtransport.» Sie kehrte mir den Rücken. «Du», sagte ich leise. Sie sah mich nochmals an. «Und du?» Immer noch stehe ich vor dem Türken, der die Eingekerkerten bewacht. Er bleibt.
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Bitter ist meine Seele
Ich kehre über die Brücke zurück. Links nähert sich das gewaltige Kruzifix. Der Gekreuzigte zwischen seiner Mutter und Johannes. Doch da ist etwas Befremdliches: zuoberst, quer über dem Kreuz, in grossen Goldbuchstaben eine hebräische Schrift. Der flüchtige Betrachter mag denken, es sei das übliche INRI, auf hebräisch. Dem ist nicht so. Auf deutsch heisst das: ‹Heiliger, heiliger, heiliger Gott.› Was auf dem Sockel steht, ist schwer zu entziffern, aber als Knaben hat man es mir erklärt. Vor mehr als zwei Jahrhunderten soll ein frecher Jude hier den Gekreuzigten verhöhnt haben. Er wurde öffentlich gestäupt, die Judengemeinde musste als Busse diese Inschrift in purem Golde anbringen. Seitdem entsetzte mich dieses Kreuz, hatte ich Angst vor dem Gekreuzigten. Um seinetwillen verfolgte man sein eigenes Volk. Wie, ein Angehöriger der Prager Judengemeinde, seit tausend Jahren in dieser Stadt daheim, seit tausend Jahren immer in Furcht vor Raub, Brand und Mord durch die Christen, auferzogen in steter Erniedrigung vor den Herren seines Geschicks, sollte sie verhöhnt, in schierer Tollheit gegen sich aufgereizt haben?! Es sind die Juden, die man aufs widersinnigste verhöhnt. Das beginnt mit den Kreuzfahrern aus dem Frankenland. Sie kamen hierher auf ihrem Zug ins Heilige Land. Es zu befreien vom Joch Mohammeds hatten sie gelobt. Doch Jerusalem war weit, und die Krummschwerter der Muslime blitzten vor Schärfe. Gab's nicht auch hier in der Stadt Ungläubige? Es hiess, sie hätten Geld, Kostbarkeiten, nicht zuletzt schöne Töchter und Weiber. Und das Beste, sie waren ohne Waffen. Was konnte die tapferen Ritter hindern, an ihnen ihren Durst zu stillen nach Gold, Blut und jungem Fleisch? Doch dafür bedurfte es eines Vorwands. Man hat ihn gefunden, immer, und sei es auch Irrsinn: von den Juden käme die Pest. Die Kaiserin Maria Theresia, welch große Herrscherin! Doch sie führte viele Kriege. Das kostete Geld und noch mehr Geld. Das meiste gaben die Juden. Aber noch nicht genug, nicht alles, was sie besassen. Der Preusse Friedrich, der Erzfeind, eroberte Prag. Man flüsterte, durch Verrat. Wer könnte der Verräter sein?
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Judas! Judas! brüllte und tobte der Pöbel, der nach Abzug der Preussen einbrach ins Ghetto. Und wieder Raub, Brand, Mord. Erst die Kaiserin machte dem ein Ende. Sie verfügte: Bis zum 31. Januar 1745 haben alle Juden die Stadt, dann das Land zu verlassen. Entsetzen. Alle Gesuche, jedwelche Fürsprache bewirkten einzig einen Monat Aufschub. Warum sehe ich, Marek Truntschka, zweihundert Jahre später, über die Brücke die Verzweifelten ihre Karren schleppen, darauf die Säuglinge, Schwangeren, Kranken, Greise und Greisinnen, in Schnee und Frost hinauswanken ins eisige Elend? Ihr Beten und Weinen, ihre erstarrten Gesichter - ich kann sie nicht unterscheiden von den Geschändeten im KZ, von der ermordeten Pavlicka, nicht von den Deutschen vorhin in der Schule. Kreislauf des Hasses. Drei Jahre später hob die Kaiserin das Dekret auf. Man holte die Verjagten zurück, soweit sie nicht umgekommen waren. Seltsam. Braucht man die Juden doch, noch als Ausgeplünderte? Erkennt man ihren zähen Fleiss, ihre uralte durch das Leiden geprägte Weisheit? Zu tief sitzt das Vorurteil, der Hass. Die Masse hasst, weil sie arm und machtlos ist. Gegen wen soll sich ihre Empörung richten? Gegen die Herrschenden? Man braucht jemanden, an dem die Wut der Elenden sich sättigt. Dazu kehrten sie zurück. Wo sind sie heute? Wo ist Katja, meine Schwester? Ihretwegen bin ich da, auf sie warte ich. Ob sie kommt oder nicht, das ist mein Schicksal. Wo ist sie? Zuerst zum Roten Kreuz. Nach wenigen Sätzen werde ich unterbrochen. Aus Frankreich deportiert? Darüber haben wir keine Belege. Der einzige Ort, wo man etwas wissen könnte, ist das jüdische Rathaus. Das Jüdische Rathaus. Mit ihm sind sechs ehrwürdige Synagogen und der uralte Friedhof stehengeblieben von der Judenstadt. Wie Dolmen und Menhire der Vorzeit stehen sie einsam in der Öde der Zinshäuser. Der fortschrittliche Kaiser Joseph hat das Ghetto liquidiert; er ahnte nicht, dass der Fortschritt fortschreiten würde zur Liquidation der Bewohner. 153
Neunundzwanzig Jahre habe ich in Prag gelebt, jeden Winkel meinte ich zu kennen, aber dieses Haus mit der hebräischen Uhr auf dem zierlichen Turm habe ich nie betreten. Wie sollte ich? Meines Vaters Glaube war ja eben dieser Fortschritt, von keiner anderen Religion wollte er etwas wissen, zu allerletzt von der jüdischen. Die Mutter aber liess mich taufen. «Gott ist in allem», sagte sie. Wir feierten Weihnachten, sangen «Stille Nacht, heilige Nacht» und «O du fröhliche... » Der Beamte der Kultusgemeinde - dieser Handvoll der Ausgesparten - ist ein alter Mann. Er nickt nur. Meine Frage ist sein tägliches Brot. Er notiert: Geburtsdatum... Name... Vorname... Er steht auf. Geht nebenan. Nach wenigen Minuten kommt er wieder, ein Blatt in der Hand. Er sagt: «Truntschka, Katharina, geboren in Prag am 3. Dezember 1899. Der Geburtsschein... vielleicht können wir etwas feststellen... es sind Tausende. Kommen Sie in einer Woche wieder.» Eine Woche, ein siebenfacher Granitblock. Einer nach dem anderen wälzt sich auf mich, aus dem Steinbruch der Vergangenheit. Gurs. Dorthin führte Katjas letzte Spur. Eine Hölle, hiess es. Aber es war nur eine Vorhölle. Sie wären gerne dorthin zurückgekehrt, wenn sie gekonnt hätten. Sie konnten nicht. Deportation. Viehwaggons plombiert. Hineingepferchte Menschenklumpen, ohne Licht, Luft, am Verhungern, Verdursten, verendend im Kot. Wer überdauert, wird ausgeladen in Das Wort entzieht sich der Sprache. Millionenfacher Mord... das zersprengt das Mass des Menschlichen, selbst des Unmenschlichen, es ist das Menetekel der Apokalypse, der Zernichtung allen Seins. Aber einige wenige wurden gerettet, im letzten Augenblick. Vielleicht auch Katja! Daran klammere ich mich. An dieses Wunder will ich glauben. Warum nicht früher - damals, als sie mich um das Geld anflehte, um sich in die Schweiz zu retten? Dass der Passeur sie in eine Falle fuhren könnte... die Schweizer Grenzwächter sie abfangen, die Fremdenpolizei sie zurückschicken würde... Wie dürftig sind jetzt diese Argumente - Notdurft des Gewissens. 154
Als ich Lena endlich mit dem Geld nach Gurs schickte - war es zu spät. Zu spät - diesem Felsblock entrinne ich nicht. Wieder im Rathaus. Der Beamte steht auf. «Kommen Sie bitte.» Ich starre ihn an. Er steht schon an der Türe. «Ich gehe voran.» Da flammt in mir eine Hoffnung auf. Ist sie wahnwitzig? Er steigt die Treppe hinab, geht zum Ausgang, auf die Strasse. Ich ihm nach. Er hält an vor einem langgestreckten, verwahrlosten Gebäude. Im ersten Stock eine Reihe edler Doppelbögen, Renaissance-Fenster. «Die Pinkas-Synagoge, falls Sie es nicht wissen.» Mit einem alten Schlüssel öffnet er das schwere Tor. Es kreischt in den Angeln. Modergeruch. Dann ahne ich einen grossen hohen Raum. Die Augen durchdringen so mühsam die Dämmerung wie das Licht, das sich durch blinde Scheiben quält. Ich stolpere über einen Stein. «Die romanische Pflasterung. Darunter haben wir eine noch ältere Substruktion entdeckt», sagt er. «Und das, was hier vom Schutt befreit wird, ist der uralte Almemor, die Kanzel. Es fehlt noch das kunstvolle Gitter, ein Geschenk der Zigeuner.» Warum erzählt er mir das? Ich bin kein Tourist. Ich suche meine Schwester. Er wirft den Kopf in den Nacken. « ... Die wunderbaren gotischen Bögen. Es ist eine ehrwürdige Stätte... » Mit einem Mal bin ich geblendet. Er hat das elektrische Licht angeknipst. Nackte Glühbirnen hängen herab. «Wenn die Renovation vollendet ist... » Er unterbricht sich, schweigt. Ich stehe vor einer Wand, grauer, bröckelnder Mörtel; sie nimmt kein Ende. Alles leer, rechts und links, sie steigt hinauf in den Bogendämmer, verliert sich im Ungewissen. Der alte Mann neben mir ist jetzt ein Teil der Synagoge, er hebt die Arme, beginnt psalmodierend im Singsang. «Diese sind von unserem Volke, die geführt wurden in die Gefangenschaft nach Babylon an die Ufer des Euphrat... und sind nicht zurückgekehrt ins Land der Väter neunundvierzigtausend sechshundertsiebenundneunzig.» 155
Der Alte senkt die Arme und fährt fort, still und nüchtern. «Aus Auschwitz sind nach Böhmen und Mähren nicht zurückgekehrt siebenundsiebzigtausend zweihundert neunundachtzig... » Die nächsten Worte höre ich, bevor er sie noch ausspricht: «Auf dieser Wand wird auch der Name Ihrer Schwester stehen.» Unweit ist das Gräberfeld, wo die Steine der Toten sich in die Tiefe türmen, tausend Jahre tief. Der meiner Schwester ist nicht dabei. Sie ist als Rauch vergangen... Ich lege meinen Stein auf ein fremdes Grabmal. Es steht darauf geschrieben: «Bitter ist meine Seele aus meinem Auge rinnt die Träne in meine Fenster stieg der Tod die bitterste Bitternis ist mir begegnet... » Die Väter haben mich heimgeholt. Aus Feigheit und Todesangst. Als der Polizeibeamte in der Schweiz mich fragte: «Sind Sie etwa... », antwortete ich nein. Darum habe ich dein Kommen gefürchtet, Schwester. Die Wahrheit ist am Tage. Wie lange ist das her? Zwischen gestern und heute kann ein Abgrund liegen. Immer noch stehe ich auf der Brücke. Vor dem Kreuz mit der goldenen Aufschrift, dem Kreuz der Unbarmherzigkeit. Das haben sie aus dir gemacht. Doch auf der Brücke ist noch ein Kreuz. Es ist ganz anders. Zu seinen Füssen reckt sich eine Frau empor. Aus ihrem schmerzverzerrten Leib schreit alle Erniedrigung und Verzweiflung der Kreatur, sie bäumt sich auf aus einem Meer von Qual, die Arme umfassen des Gekreuzigten Knie mit dem Ausdruck letzter, äusserster Hoffnung. Er aber löst sich vom Kreuz, neigt sich herab, zieht die Gemarterte zu sich empor. Wo ist Er heute?
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Kann Er die Unbarmherzigkeit der Menschen aufheben? Vermag Er Hass in Liebe, Rache in Versöhnung zu wandeln? Ich kann an ihn nicht glauben.
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Vom Teufel geholt
Einer ist doch zurückgekehrt: mein Bruder. Schon zuvor, in den zwei Zeilen des Telegramms, gab es Körnchen von Galgenhumor. Galgen? Ein überholter Begriff für industriellen Massenmord. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Leo noch imstande sei zu lachen. Noch vergingen Wochen, bevor man ihn aus einem slowakischen in ein Prager Krankenhaus verbringen konnte. Typhus, Tuberkulose, Hungerödem, Brustfellentzündung, diese Souvenirs aus dem KZ hatte der Patient teils hinter sich, teils noch zu bewältigen. Anstelle des einst so gemütlichen, rundlichen, im Schmalz seiner Spässe ruhenden Sancho Pansa fand ich einen knochenhageren, hohläugigen Don Quixote vor. Sein Humor war um einiges schwärzer geworden. «Bestellt und nicht abgeholt.» Er wies mit dem Kopf auf den Infusions-Schlauch und die anderen geheimnisträchtigen Leitungen, die seinen Körper mit allerlei Apparaturen verbanden. «Damit wollen sie das einmal ‹Mensch› genannte Paket zusammenflicken. Aber die Adresse bleibt: es geht zum Teufel.» «Unsinn. In drei bis vier Wochen, sagt der Doktor, schicken sie dich nach Haus.» «Was für ein Haus? Ob es Teufel mit schwarzem oder rotem Fell sind, ob sie das Hakenkreuz oder Sichel und Hammer schwingen und ob des Teufels Grossmutter in Berlin sitzt oder in Moskau - Hölle bleibt Hölle.» Seine weissen Augäpfel mit der kindlich blauen Iris rollten grotesk in den tiefen Höhlen. «Du machst bu-bu-bu, wie Kasperle auf dem Jahrmarkt.» Ich versuchte auf ihn einzugehen. «Aber ich glaub nicht mehr an den Teufel.» «Das ist dein Fehler. Pst.» Er legte den Finger an den Mund. «Ich war in der Hölle. Ich hab den Teufel kennengelernt, ganz persönlich, mitsamt seiner Brut. Und ich weiss eines: Wo man ihn erst mal einlässt, dort ist und bleibt er.» «Die Braunen und die Schwarzen sind wir losgeworden. Warum nicht auch die Roten?»
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Er begann zu kichern wie ein Kobold. «Wenn ihr erst mal in einem hübschen Lagerchen hinter Stacheldraht sitzt, dann werdet ihr merken, wer wen losgeworden ist.» Sein Lachen ging über in einen krampfartigen Husten. Er warf sich herum, so dass der Infusionsschlauch abriss. Die Krankenschwester trat ein. «Was machen wir da für Sachen?» Als sie den Schaden bemerkte, wurde sie böse. «Das geht wirklich nicht. Genug für heute!» Während sie die Leitung in Ordnung brachte, wandte ich mich zum Gehen. Leo hob die Hand und sagte mühsam: «Noch drei Minuten, Schwester. Bitte.» «Drei Minuten.» Sie ging hinaus. «Fahr weg von hier.» Sein Atem ging rasselnd. «Tu's für mich. Damit ich nachkommen kann.» Er begann wieder zu husten. «Bevor's zu spät ist.» Der Husten schüttelte ihn. Die Schwester öffnete die Tür. In einem Möbelwagen kehre ich zurück. Auf der Schweizer Gesandtschaft, im Schwarzenberg-Palais auf dem Hradschin, gab man mir die Chance: mitzufahren mit dem Übersiedlungsgut des Herrn Legationsrates. Ich liege auf einem Sofa im Kastenwagen. Es ist finster und muffig wie in einer Gruft? Das passt gut. Zum zweitenmal begrabe ich meine Heimat. Ich fühle: mein Bruder hat recht. Als Siegesdenkmal haben sie einen gewaltigen Sowjet-Tank aufgestellt, ein vorweltliches Ungeheuer. Ist das die Zukunft? Gefressen werden, wenn man unbotmässig ist, das ist die eine Möglichkeit. Die andere, an seinem Schweigen zu ersticken. Nein, ich gehe dorthin, wo man sagen darf, was man denkt. Was lasse ich zurück? Meinen Bruder versprach ich herauszuholen. Meine Schwester wird eingemeisselt in eine Wand mit siebenundsiebzigtausend anderen.
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Verworfen
Der Tapir, mein guter alter Direktor, strahlte. «Serr gutt, serr gutt. Kann sie brauchen. Neuer Regisseur nicht selber will spielen. Moderne Kapriziösen. Werd ihm zeigen. Sie sind Franz in ‹Räuber›.» Früher hätte mich das amüsiert. Ist mir der Sinn für Humor abhanden gekommen? Was ich einst komisch fand - weil es eine blosse Schicksalsepisode schien -, das ist für mich nun, da ich hierher zurückgeworfen wurde, banal, ja absurd. Das Ensemble des Schauspiels ist auseinandergeweht, die Kameraden der Kriegsjahre sind zurück nach Wien und Prag. Freund Hardenberg denkt nicht mehr «an Deutschland in der Nacht». Er ist in die Nacht eingegangen. Nur ich bin noch da. Der neue Regisseur, ein arroganter Herr von Sowieso aus dem hungernden Trümmerland, hat geruht, ein Engagement «in der kleinen Provinz» anzunehmen, er war natürlich «nie ein Nazi». Was hat das alles noch für einen Sinn? Am Abend glaubte ich es zu wissen: als ich zum Türkenkind kam ich muss einen anderen Namen für sie finden. Meinen Koffer musste ich nicht öffnen, den sie mir nachsenden sollte. Im Schrank hingen meine Anzüge, in den Fächern lag die Wäsche, geglättet und duftend. «Du hast gewusst, dass ich zurückkomme?» «Für mich warst du nie fort.» Nur etwas aus meinem Koffer war nicht im Schrank. Auf dem Bett lag schon ausgebreitet mein Schlafanzug. Doch nicht von einem glühenden sich Wiederfinden habe ich zu berichten. Mir wurde übel, sterbensübel. Die ganze Nacht musste ich mich erbrechen. Merkwürdig, erst dachte ich, es sei bloss die Folge der fragwürdigen Ernährung in Prag. Aber immer noch wurde mir übel, schon die zweite Woche, was ich auch essen mochte: krampfartige Schmerzen im Unterleib, und all das Scheussliche danach. Schliesslich ging ich zum Arzt. Er untersuchte mich, palpierte, beim Druck auf eine bestimmte Stelle schmerzte es. «Die Gallenblase», sagte er. «Auch die Leber ist geschwollen.» Er verschrieb mir Garbo medicinalis, Tabletten und strengste Diät. Schwierig, wenn man auf Wirtshäuser angewiesen ist. 160
Eigenartig, auch meine Beziehung zum Theaterspielen hat sich verändert. Diesen Franz Moor, eine Rolle, ebenbürtig einem Macbeth, einem Richard III., hatte ich mir seit jeher gewünscht. Hinabsteigen in diese Seele, die Wurzeln ihrer verbrecherischen Neigungen extrahieren, sie aus dem Unbewussten ans Licht bringen. Aber wo bleibt meine Distanzierung, meine Souveränität? Dieser Franz kriecht immer mehr in meine Haut, ergreift Besitz von mir, wie die Larve der Hungerwespe frisst er mich, sein Wirtstier, auf. Ich bin er und er ist ich! «Verraten, verraten! Geister ausgespien aus Gräbern - Losgerüttelt das Totenreich aus dem ewigen Schlaf brüllt wider mich: Mörder! Mörder!» Jetzt ist er wieder da, der Anfall, gleich muss ich mich erbrechen, schleppe mich von der Bühne gerade noch auf die Toilette. Unerträglich die Mienen der Kollegen, ihr Achselzucken, Mitleid, die Ratschläge: Du solltest, du müsstest, du gehörst ins Spital... Unerträglicher noch bin ich mir selbst. Wie peinlich, diese Symbiose zwischen Rollentext und meiner eigenen Sache... Bin ich wirklich ein Mörder und will es mir nicht eingestehen? Da hilft kein Spital. Die Generalprobe. Nur keine Wehleidigkeit. Niemand darf etwas merken. Überwinden, durchstehen... Endlos, endlos kann so eine Probe sein. Gottlob, der letzte Akt. Ich halte mich kaum mehr auf den Beinen. Nur noch die Schlussszene, der große Monolog... « ... da erscholl's wie aus ehernen Posaunen: Erde, gib deine Toten; gib deine Toten, Meer! und das nackte Gefild begonn zu kreissen und aufzuwerfen Schädel und Rippen» - weiss ich noch, was ich rede? Nur weiter, weiter - «da war mir's, als hört' ich meinen Namen zuerst genannt aus den Wettern des Berges, und mein innerstes Mark gefror» da ist er wieder, der Krampf, der Schmerz in der Galle, der unerträgliche - «Da hört' ich eine Stimme schallen aus dem Rauche des Felsen: Gnade, Gnade jedem Sünder der Erde und des Abgrunds! du allein bist verworfen!» In einem fremden Bett kam ich zu mir. Über mich beugte sich ein Mann im weissen Mantel. Ich fuhr auf. «Die Premiere... »
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Der Arzt drückte mich zurück aufs Kissen. «Für eine Premiere müssen wir erst mal gesund werden.» Er hielt ein grosses Filmblatt gegen das Licht. Ich folgte seinem Finger auf eine weissliche Fläche mit dunkeln Schatten und helleren Einsprengseln. «Das ist keine Gallenblase mehr, sondern ein veritabler Steinbruch.» Er strahlte, als verkünde er eine Freudenbotschaft. «Diesen Störenfried werden wir aus ihrem werten Körper herausexpedieren! Je eher, desto besser.» Tags darauf fuhr man mich in den Operationssaal. «Cholezystektomie wie aus dem Bilderbuch, elegant, wie?» sagte der Chirurg seinen Assistenten, als er ihnen bei der Visite meine kleine Narbe zeigte. «In drei Tagen stehen wir auf.» Zum unwiderstehlichen Elan seiner Therapie gehörte die frische Luft. Das Fenster des Krankenzimmers musste stets geöffnet sein. Auch nachts, wenn der Novembernebel hereinkam, in dicken gräulichen Schwaden. Beim Atmen war mir, als würgte ich einen Teppich herunter. Am dritten Tag begann ich zu husten und zu fiebern. Ich bekam eine Medizin und das Fenster wurde geschlossen. Doch das Fieber stieg auf 39.8 Grad. Der Arzt horchte mich ab. «So, so. Pneumonie. Aber eine Lungenentzündung ist heute nur eine Kleinigkeit. Sie dürfen stolz sein. Sie werden unser erster Penicillin-Patient.» Alle vier Stunden erhielt ich eine intravenöse Injektion, tags und nachts. Das Fieber stieg trotzdem, hielt sich auf über vierzig. Allmählich wurde es schwierig, an den Armvenen eine intakte Stelle zu finden. Aber ich spürte es nicht. Ich war wo anders. Das Oberbett, das sich vor meinen Augen ausbreitet, hat sich in ein weisses Tischtuch verwandelt. Ich sitze an der Schmalseite eines langen Tisches. Die Männer um mich herum scheinen mir bekannt. Dem einen, zumitten der Längsseite, wenden sich aller Augen zu. Eine eigenartige Heiterkeit durchstrahlt den Ernst dieses Menschen, dem das Haar fast bis auf die Schultern fällt. Doch das nimmt ihm nichts von seiner Männlichkeit, seiner rätselvollen Autorität. Von ihm aus durchdringt den ganzen Raum eine Atmosphäre von Frieden und Harmonie. Noch nie habe ich mich so geborgen gefühlt wie in dieser Gesellschaft. Der Tisch ist gedeckt, Teller, Becher und ein Krug mit Wein. Vor dem 162
Chef, das muss er wohl sein, liegt ein grosser Laib schönen Brotes. Da ist kein Messer, und so bricht er das Brot, das dabei einen intensiven, köstlichen Duft verströmt. Er beginnt die Stücke zu verteilen, ich freue mich auf das meine. Da sagt der Chef: «Einer von euch wird mich verraten.» Er spricht ganz ruhig, und doch ist es ein Donnerschlag. Vorbei der Friede, Empörung durchwogt den Raum. «Wer ist's, wer?!» «Der ist's, dem ich diesen Bissen eintauche und gebe.» Dabei richtet er seinen grossen, ruhigen Blick auf mich, tunkt das Brot in Wein und reicht es mir. Wie ein Gelähmter, dem etwas Unwiderstehliches die Hand führt, bin ich gezwungen, den Bissen zu ergreifen und zu mir zu nehmen. In diesem Augenblick durchzuckt mich ein wilder Schmerz, eine spitze Flamme frisst sich vom Mund aus hinab durch den ganzen Körper, versetzt ihn in Brand. Plötzlich erkenne ich sie alle: den Mann, der das Letzte Abendmahl hält, und seine Jünger. Auch mich selbst erkenne ich: Judas. «Was du tust, das tue bald», befiehlt jetzt der Meister. Und ich weiss, warum. Er braucht jemanden, der ihn verrät, damit er ins Leiden und in den Tod eingehe. Das aber will er. Denn darum, er hat es dreimal gesagt, ist er gekommen: um sein Leben zu geben für viele. Aber warum muss ich es sein, gerade ich... Ich stöhne auf und - von der Stirne her begann es mich zu kühlen. «Fast einundvierzig», sagte die Schwester und wechselte den Umschlag. Jetzt erinnerte ich mich: zu Ostern, vor Jahren, hatten wir ein Passionsspiel aufgeführt, und mir war die Rolle des Judas zugefallen. Schon damals hatte es mich umgetrieben. Mehr als das, es löste in mir einen Aufruhr aus. Jesus war für mich aus dem papierenen Schemen eines Taufscheins, an dem ich keinen bewussten Anteil gehabt hatte, zum erstenmal leibhaft geworden. Nur auf der Bühne, durch den geborgten Körper eines Schauspielers? So wie ich den meinen Judas lieh? Als die Welt meiner Jugend zusammenbrach, mit ihr alle vermeintlichen Sicherheiten, das Vertrauen in die menschliche Vernunft und Würde, als ich durch die Flucht in die Fremde hinausgeschleudert wurde in ein existenzielles Nichts, da versuchte ich zu beten.
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War auch das nur eine Flucht ins Unwirkliche, da die Wirklichkeit die Fratze zeigte des Fressens oder des Gefressenwerdens? Was soll das Beten zu der Chimäre eines Gottes, der, sofern er nicht einer blossen Einbildung entspringt, weder gerecht, noch barmherzig, geschweige denn allmächtig ist! Alles, was in den Jahren des erdumspannenden Mordens sich entfesselte, was jetzt in der Düsternis der Rache wiederum ausgebrütet wird an neuer Ungerechtigkeit und Tyrannei - es ist eine Verneinung alles Göttlichen. Und wenn es diesen Gott dennoch gäbe? Wieder durchdröhnen meinen fiebernden Kopf die Worte: «Gnade, Gnade jedem Sünder... du allein bist verworfen!»
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Svtluschka
Das Fieber war gesunken, die Pneumonie vorbei, und mein Bett wurde benötigt. Doch noch immer eiterte die Wunde. Das sei normal, würde von selbst verschwinden, lächelte der Chefarzt ermutigend, auch bei häuslicher Pflege. Ich habe kein Zuhause. Ich solle doch in ein gutes Hotel gehen, am besten ins Engadin. Reine Luft und Höhensonne, das sei jetzt das Richtige. Und das Geld dafür? Mir fiel ein: ein Theaterverlag hatte mich gebeten, zu lektorieren. Wenn das ginge Ins Engadin! Was für ein strahlender Sommer war das doch mal gewesen mit dem Wurstelchen. Schnee, das ist das einzige, was ich jetzt hier finde, in mannshohen Mauern auf den Strassen, rieselnd aus endloser Nebelwelt, in der es kein oben und unten, weder rechts noch links gibt. Zuchtmeister Winter peitscht das Land mit seiner Eisrute. Er wirft mich gegen die Hauswände, da ich mich taumelnd zur Apotheke durchkämpfen will. Ich brauche mehr Watte und Gaze. Nicht weniger, immer mehr eitert die Wunde, seit ich hier bin; die ganze Wäsche ist davon durchtränkt. Schwindel überkommt mich - oder ist es das Eis, dass ich ausgleite, falle, aufschlage mit dem Kopf?... Der Mann, der sich jetzt über mich beugt, ist weder elegant, noch lächelt er. «Keine Rede wert, das bisschen Gehirnerschütterung», knurrt er, «aber das da ist eine Schweinerei.» Er starrt böse auf meinen blossen Bauch. «Sie bleiben gleich hier.» «Wo denn?» Ich versuche mich umzusehen. «In unserem bescheidenen Kreisspital, mit Verlaub. Hat der Herr Kollege in der Stadt Sie für eine Nackttänzerin gehalten? Sonst hätte er Sie doch nicht mit dieser Miniatur von Narbe beglückt. Meine Extraktionswunde wäre dreimal so gross, aber dafür hätten Sie jetzt keine Bauchfellvereiterung. Na, wir werden's schon schaffen.» «Verzeihung, aber was kostet das pro Tag?» «Erster Klasse fünfzig, zweiter fünfundzwanzig. Zahlt doch Ihre Kasse.»
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«Ich bin Ausländer und in keiner Kasse. Es ist ausgeschlossen.» Der Schmerz zersprengt meinen Kopf. «Aber sieben Franken fünfzig in der Allgemeinen, das werden Sie doch aufbringen.» Es klingt wie aus weiter Ferne. «Nur, wenn ich... in Ruhe arbeiten kann, als Lektor... » Jetzt liege ich in einem grossen Zimmer mit sechs Betten. Aber fünf davon sind leer. Und sie bleiben es die ganze Zeit. Der grimmige Doktor scheint ein ganz ungrimmiges Herz zu haben, auch wenn er mich als Schreiberling anschnauft, der das Bett gefälligst nicht mit Tinte beklecksen möge. Schreiben? Auf dem Operationstisch? Gegeninzision, knurrt der Doktor, bevor er mir die Aethermaske aufsetzt. Und er hält Wort. Die neue Wunde ist dreimal so gross, und auch an der alten kühlt er sein Mütchen. Jeden Morgen werde ich zum Operationssaal gefahren, und der Assistenzarzt zieht mit Gazestreifen von einer Wunde zur anderen unter der Bauchdecke den Eiter heraus. «Accomplir son devoir, chasse la peur»... Daran halte ich mich und lese, lese, vom Anfangergestammel bis zur seltenen trouvaille. Damit verdiene ich mir mein Krankenbett. Aber die klammen Finger! Ich hab Skisocken an, Wolljacke und Wintermantel über dem Spitalhemd, darüber das Federbett. Draussen zeigt das Thermometer dreissig Grad unter Null und wir haben kein Heizmaterial. Dieser Nachkriegswinter sei der strengste seit Menschengedenken. Weder Deutschland noch Frankreich liefern Kohle. «Chasse la peur... ?» Wenn's nur so wäre. Wie soll es mit mir weitergehen, was und wo bin ich noch imstande zu arbeiten? In mir wird es dunkler, je heller es draussen ist. In dem strengen Frost strahlen die Berge herein, in äusserster Schärfe aus dem Azur geschnitten. Ihr Weiss reflektiert fast unerträglich die triumphierende Sonne. Ich schliesse die Augen. Sie wird eine schöne Fahrt haben, morgen, und wenn der Zug aus dem Tunnel kommt, einbiegt ins Engadin, wird ihr geliebter Berg sie begrüssen, der königliche Piz Palü. Aber sie hat keine Augen für die Herrlichkeit draussen, nur für mich, das Häufchen Elend. Nichts da von Sentimentalität. Mit ihrem Kleinmädchenschnabel hüpft sie darüber munter hinweg. «Der Tapir hat mir freigegeben, stell dir vor, über Weihnachten, wenn wir vier Vorstellungen haben.» Sie hat es fertiggebracht, den Direktor in ihm umzurennen, denke ich. 166
«Das hätte er für niemanden getan», sagt sie, «nur für dich. Ich hab' den ganzen Koffer voller Geschenke, vom Direktor, von den Kollegen, den Abonnenten... » Zuoberst im Koffer sind Kerzen. Die klammert sie an ein Tännchen. «Das ist von mir.» Die Berge draussen verblassen, verschmelzen mit dem Himmel, die Nacht fällt ins Zimmer. Sie entzündet die Lichter, beginnt die Geschenke auf meinem Bett aufzubauen. Mir ist nicht weihnachtlich zumute. «Die Nachwelt flicht dem Mimen Kränze» - wider Willen kommt das bitter heraus. «Nachwelt?» In ihren Augen springen fröhliche Fünkchen auf. «Für einen Toten bist du relativ lebendig.» «Als Schauspieler bin ich tot. Ich kann nie mehr Theater spielen.» «Vielleicht willst du's nicht mehr. Weil du was Besseres vorhast, was Wichtigeres. Du weisst es nur noch nicht.» Ich sage: «Lösch bitte die Kerzen.» «Es ist doch Weihnachten.» Als es ganz dunkel ist, sage ich: «Svtluschka.» Stille. «Das ist dein neuer Name.» Schweigen der Erwartung. «Das heisst Lichtchen. Darum brauche ich keine Kerzen.»
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Durch die Nacht gestürzt
Damals, im Spital, kam mir zum erstenmal der Gedanke, sie zu heiraten. Fast hätte ich es ausgesprochen, aber ein Heimatloser, Kranker sollte dieses junge, blühende Geschöpf an sich binden? Ich schwieg. Später sagte ich es doch. Langsam begann ich ein wenig Fuss zu fassen, so schien es. Der Verlag, für den ich Stücke gelesen hatte, bot mir die Position eines Cheflektors in Basel an. Der Verleger war eine Rarität. Nicht durch die Autoren - für die Autoren wollte er Geschäfte machen: Geburtshilfe war seine Leidenschaft. Zu allem leistete er sich den Luxus eines Charakters. Während des «Dritten Reiches» hatte er die in alle Welt zersprengten emigrierten Autoren vertreten, teilte mit ihnen die Brosamen der dreizehn mageren Jahre. Wie hätten wir uns nicht verstehen sollen! Ich hisste alle Segel, ging auf neuen Kurs. Ob ich Prag und Budapest ansteuerte, Wien, München, Hamburg - überall dürstete man nach den zwangsweise vorenthaltenen Stücken der Exilautoren, der westlichen Dramatiker. Aber ich wollte mehr - Neuem, Jungem ans Licht helfen. Da war ein koboldhafter Wiener Emigrant, vom Frondienst im Arbeitslager erlöst, jetzt in einer hitzedurchglühten, von nasser Wäsche und Kindergeschrei umflatterten Niederdorf-Mansarde. Hier gebar er Stücke, prall von Saft und Dramatik. Sein erstes hatte ich schon in Biel uraufgeführt. Aber wo bleiben die jungen Schweizer? Der Dramaturg des Basler Theaters hielt wenig vom Nachwuchs. «Da bringt so eine Spätgeburt von Jüngling einen hundertseitigen Wälzer, einen historischen Schinken in Versen, heutzutage einfach grotesk!» Er warf das Manuskript so heftig auf den Tisch, dass es aufging. Ich sah hinein. «Ich hüpfe mit dem Bäuchlein und wackle mit dem Aerschlein und schlenk're mit den Armen.» Das amüsierte mich. «Darf ich's mitnehmen?» «Na, viel Vergnügen. Es quillt über von pubertären Obszönitäten - »
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Das corpus delicti unter dem Arm, erreichte ich um die Mittagszeit den verkehrsdurchtobten Strassenschnittpunkt beim Bankverein. Plötzlich kreischten Bremsen, Autolenker fluchten, der Polizist wedelte verzweifelt mit den weissen Flossen. Dies alles nichtachtend, jeder Verkehrsregel zum Hohn, überquerte die Kreuzung eine seltsame Erscheinung: ein junger Mann mit gemütlichem Embonpoint, aus hervorquellend grossen Augen, durch die Hornbrille entrückt, in unbestimmte Fernen starrend, liess er sich nachtwandlerisch von einem um so zielstrebigeren weissen Spitz an der Leine dahinziehen. Der wusste wohin. Mir fielen die fröhlichen Verse ein, die ich eben gelesen hatte. «Ich hüpfe mit dem Bäuchlein... » Im Verlag las ich und las, hatte einzig Augen für das verworfene Opus eines obskuren Anfängers. Es war der Ausbruch eines Vulkans. Was er hervorschleuderte waren es Verse, diese gewalttätigen Sprachbrocken von barocker Üppigkeit und messerscharfem Witz? War es Prosa, die poetische Kraft sogleich zur Dichtung machte? Ein entlegenes Thema. Aufstieg und Ende der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert, doch nicht nach modischem Rezept aktuell aufbereitet. Überzeitliches überfiel einen in Sprache und Sinngehalt. Der Mann im Theater war mit Blindheit geschlagen! Gewiss, die frechen geistigen Bocksprünge schockierten, eine uferlose Ausdehnung bedurfte der Selbstzucht. Doch was für ein Autor! Ich musste ihn ausfindig machen! Da - zuhinterst mit Bleistift eine Adresse: St. Albanvorstadt 30. Also hier in Basel, fünf Minuten von meinem Verlag. Es war ein trüber Spätnachmittag im Dezember. Am verbrauchten Portal eines riesigen düsteren Gebäudes mit der Nummer 30 entzifferte ich mühsam eine Tafel «Städtisches Greisenasyl» und darunter eine Affiche «Aus sanitären Gründen geschlossen». Aber das Tor gab nach. Ein riesiges Stiegenhaus, alles finster. Ich tappte die Treppe hinauf; im ersten Stock schimmerte durch einen Türspalt Licht. Ich klopfte, öffnete, schon fuhr mir ein kläffendes weisses Etwas an die Beine, eine Stimme rief: «Chumm da häre!» und der Spitz trollte sich knurrend zurück - zu dem Tagwandler in den mittäglichen Strassenklüften. 169
Ich stand sprachlos vor dem bizarren Anblick: ein leerer, sinistrer Saal, in dem einmal zwanzig Betten gestanden haben mochten, und inmitten aller Öde, durch eine einsame Lampe aus der Finsternis geschnitten: ein altes Ehebett, ein karger Tisch mit Stühlen und eine Kiste, darin - ein Säugling. Bethlehem im Greisenasyl. Die junge Frau blickte auf, rief: « ... aber das ist ja... », und auch ich erkannte sie. Wir hatten zusammen am Bieler Theater gespielt. Schon brach das Eis. Ich zog sein Manuskript hervor und sagte, was ich davon hielt. «Ich weiss nicht, wann und wo, aber es wird aufgeführt - sofern Sie nochmals Hand an Ihr Stück legen.» Er nahm die Brille ab. Mit erstaunten Augen im grossen Rundkopf, fast ohne Übergang auf den mächtigen Körper gesetzt, betrachtete er mich wie ein Seelöwe, der von einem Taschenkrebs belästigt wird. Aber er frass mich nicht auf. Ich kam öfter gegen Abend, brachte mir mein Picknick mit. Meist reichte es für alle, manchmal drohte es mir an den Kopf zu fliegen. Wie ein junges Genie davon überzeugen, dass selbst Vulkanausbrüche ermüden, wenn sie kein Ende nehmen, dass auch die üppigste Erotik sich verbraucht... ? Wenn der Seelöwe zornig wurde, zeigte sich's, dass er nicht vom Ufer des Pazifiks stammte, sondern von einem Zufluss der Emme: er knurrte, schnaufte, brüllte auf bärndütsch. Meine Kenntnis emmentalerischer Urworte wuchs proportional mit jeder Verknappung des Textes, die ich vorzuschlagen wagte. Doch ich fühlte, die Kraftwörter waren nur ein Schutz für seine Verletzlichkeit. Ende Januar war es soweit. Das Stück war jetzt in seiner Substanz und Sprengkraft komprimiert. Als ich es daheim nochmals durchging, fiel mir ein Satz auf: «Ich werde als leuchtender Meteor durch eure Nächte stürzen.» Ich rief den uns befreundeten Basler Direktor an, einen Mann von Format. Der Autor habe an dem Stück noch Entscheidendes geleistet. Ob er es jetzt nicht lesen wolle. Er sei über das Stück orientiert, es käme leider nicht in Frage. Aber wenn der junge Mann wirklich so begabt sei, dann solle er die Hoffnungen im nächsten Stück erfüllen. «Wenn dieses Stück nicht aufgeführt wird», sagte ich, «kann er kein nächstes mehr schreiben. So ist seine Lage.» Aber der Direktor bedauerte. 170
Am folgenden Tage fuhr ich nach Zürich zum Dramaturgen des Schauspielhauses. Er war der kritische Kopf des Theaters, auf seine Urteilsfähigkeit setzte ich. «Das ist von einem jungen Schweizer. Und auf die Gefahr hin, dass Sie mich für kindisch halten: es ist von einem Genie.» Er kannte meine Begeisterungsfähigkeit und kniff skeptisch ein Auge zu. «Haben Sie auch Stücke, die nicht von einem Genie sind?» Am nächsten Morgen rief er mich an, noch von daheim. Er habe die halbe Nacht gelesen. Wenn die zweite Hälfte des Stückes so stark sei wie die erste, so komme es in Frage. Am späten Nachmittag ein zweiter Anruf: «Wir machen das Stück. Noch diese Saison.» Ich stürzte ins «Greisen-Asyl», mit der Nachricht aller Nachrichten. Der Autor verbarg nicht seine Freude. Er wühlte in seinen Papieren, zog ein handgeschriebenes Manuskript hervor, schrieb was darunter, drückte es mir in die Hand. Steil aufstrebend, wuchtige Schrift, jeder Buchstabe eigenständig. Die Widmung datiert vom 28.1.1947. Wie vorgesehen, wurde in der Presse die Uraufführung angekündigt. Unvorhergesehen war ein Anruf des Basler Direktors. Es sei höchst ungehörig, dass ich ein mir vom Basler Theater anvertrautes Stück dem Schauspielhaus Zürich übergeben hätte. «Aber wir haben das Stück vom Autor vertraglich erworben», sagte ich, «und Sie haben es ausdrücklich abgelehnt. Es ist unsere Pflicht, uns dafür einzusetzen.» «Aber nicht hinter meinem Rücken.» Wo war nur seine gewohnte Liebenswürdigkeit? Noch nie hatte er mit mir so gesprochen. «Das wird seine Konsequenzen haben.» Ein Zerwürfnis mit dem Basler Theater? Ich ging mit hängendem Kopf zu meinem Chef. Der erfahrene Diplomat wiegte den Kopf. «Prestige-Sache.» Er lächelte, nahm den Telefonhörer, rief Zürich an, dann Basel. Tags darauf war es perfekt. Der Basler Direktor übernahm in Zürich die Inszenierung der Uraufführung. Als ich an dem Abend mit meinem Chef ins Schauspielhaus ging, konnte niemand aufgeregter sein. «Passen Sie auf», sagte ich, «es wird ein theaterhistorisches Ereignis.»
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Aber es sah ganz und gar nicht danach aus. Das Ensemble, ein Teil noch der grossen alten Garde, war mit Lust und Verve dabei. Aber das Publikum, unvorbereitet auf des unbekannten Autors gewagte Provokationen, seinen Sturmlauf gegen alles Herkömmliche, wurde immer unruhiger. Höhnische Zwischenrufe kamen auf, Pfiffe. Der Verleger stiess mich an: «Historisches Ereignis?» Er war blass. Mir wurde immer banger. Die gefährlichste Klippe kam erst: die kühne, surreale Vision, da in der belagerten, ausgehungerten Stadt die Anführer der Täufer auf einem Dachfirst ihren Totentanz vollführen - in einem, von der Regie her, bedenklichen Realismus. Man stelle sich vor: ein Darsteller, den das Publikum als Inbegriff des Teil, des Landammanns Stauffacher verehrte, in nichts als einem allzukurzen, zerschlissenen Hemdchen, sein beträchtliches Embonpoint, seine haarigen Beine über einen Pappfirst werfend. Bei seinen Worten «Mond, Mond! Du erblickst meinen Nabel wie eine späte Sonne durch die Ritzen und Schlitze meines Hemdes! Sieh, wie sich mein Leib drängt an den deinen. Ich bin brünstig nach Dir Wie der buntscheckige Stier!» brach der Tumult aus. Wütende Proteste: «Geschmacklosigkeit! Aufhören!» Dagegen: «Bravo! Füdlibürger! Weiter spielen!» Ein Teil der Zuschauer drängte lärmend hinaus, es kam sogar zu Handgreiflichkeiten - unerhört in einem wohlgesitteten Zürcher Theater. Doch die Schauspieler hielten durch, mitreissend, selbst mitgerissen durch die dem Neuen begeistert aufgeschlossene Jugend. Zuletzt fachten die wenigen Missfallensäusserungen nur noch einen Beifallssturm an, der kein Ende nahm. Verschwitzt und heiser wankten wir an die frische Luft. Der Meteor war leuchtend durch die Nacht gestürzt. Im Café Terrasse am Zürcher Limmatquai. Eingestaubte Lorbeerund Buchsbäumchen in Kübeln spielen, zwischen Tramgeklingel und Auspuffgasen, schüchtern Pariser Boulevardcafé. Nur die Möwen sind so frech wie an der Seine, sie stibitzen unsere Gipfeli, wenn ich zu intensiv ins Gespräch gerate mit dem jungen Architekten. Er ist Planer von Schwimmbädern und Gebäuden strenger Zweckmässigkeit, baut 172
auch Theaterstücke, deren exakte, kühn berechnete Architektur durchweht ist von Phantasie, belebt vom Geist der Auflehnung gegen kleinbürgerliche Enge, gegen Vorurteil und Anmassung. In ihm begegne ich einer mir neuen Art des Schweizers. Manche meiner Freunde empören sich auch gegen das Unrecht, gegen behördliche Sturheit - in ihren Augen ist das «unschweizerisch». Er aber stellt dieses «Schweizerische» an sich in Frage. Ihm ist es eine Chimäre, eine selbstgefällig errichtete Kulisse, vor der das penetrante Schauspiel von Fleiss und Charakterfestigkeit dargestellt wird, während dahinter um so ungestörter Geschäftsgeist und Raffsucht sich die Taschen füllen. «Und wer inszeniert dieses Schauspiel?» «Jeder von uns. Jeder teilt anderen eine Rolle zu, auch sich selbst, um seiner Identität nicht gewahr zu werden.» Des Freundes Zeitbegriff eröffnet eine erhellende Perspektive. Nur unser dem Augenblick verhaftetes Bewusstsein zerlege das Leben in ein Nacheinander, Traum und Dichtung sammeln es wieder in ein Ganzes. Es ist der Ausgangspunkt zu seinem neuen Stück: einem kühnen Maskenspiel, in dem das Leben der Menschheit ein Überzeitliches ist. Da sind Romeo und Julia, die ewig um ihre Liebe Betrogenen; die Lemuren der Tyrannei: der chinesische Grosskaiser, Philip II., Napoleon, und ihre stummgemachten Opfer; der Zeuge der Wahrheit wird zum Narren erklärt. Und kein Widerstand, frage ich, keine Revolution? Sie findet statt. Ihr Sieg ist nur die Fortsetzung des Unrechtes unter anderen Vorzeichen. Es treibt mich um, mehr als es der Autor ahnt. Noch während in Zürich die Proben im Gange sind, lasse ich das Stück ins Tschechische übersetzen. Es muss in Prag aufgeführt werden! Wir fahren gemeinsam in die Stadt meiner Jugend. Kein Befreiungstaumel mehr wie vor zwei Jahren. Atmosphäre der Agonie. Man starrt auf die Sowjets wie die Maus auf die Schlange. Der Vorsitz der Regierung, Innen- und Informationsministerium, Polizei und Armee, alles schon in kommunistischen Händen. Die freiheitsliebende Mehrheit? Sie vertraut einem schwächlichen Präsidenten, dem Schemen einer missachteten demokratischen Verfassung. Premiere auf «meiner» altvertrauten Bühne im Prager Stadttheater.
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Vor meiner Flucht in die Schweiz war mir als Künstler hier Erfüllung gewährt. Alles scheint mir grauer, schäbiger; aber auf der Bühne sprüht die junge Generation urkomödiantische Begabung, mit präzisestem Einsatz realisiert sie des Dichters Vision: des Menschen immerwährende Verlockung und Bedrohung durch den Missbrauch der Macht. Was man in Zürich geniesserisch applaudiert hatte als virtuose Konstruktion eines Phantasiegebäudes, das wird hier zur Provokation, zum Menetekel einer Tyrannis, die sich wieder anschickt, alles zu überwältigen. Während der Aufführung starren, stossen sich die Zuschauer an, spontane Ausrufe der Zustimmung, zynischen Widerspruchs, sich am Ende entladend in einem Chaos von Ablehnung und Begeisterung. Diskussion! Diskussion! wird gerufen. Sie entfesselt sich. Wenn lange nach Mitternacht im Zuschauerraum die Lichter ausgehen, geht es in der Schauspielergarderobe weiter. Ich habe den Autor ins Tschechische zu übersetzen, die anderen für ihn ins Deutsche. Dolmetscher zwischen zwei Welten. In einem scheint man sich einig: die Gesellschaft bedarf steter Veränderung. Erstarrung bedeutet Betonierung von Privilegien und Unterdrückung. Doch wie Veränderung bewirken? Hier klafft ein Abgrund. Der Wortführer der Gegenseite, literarischer Ideologe der «Partei», scharfe Brillengläser, kühl und ironisch: Ob der Gast aus der Schweiz die Erfahrung mitbringe, dass Kapitalisten sich freiwillig ihrer Macht begeben? Nein? Dann muss man sie dazu zwingen. Der Autor: Durch Gewalt? Verantwortung und Würde des Menschen erwachsen aus der Freiheit der Wahl. Der Ideologe: Auch die Freiheit, den anderen zu unterdrücken? Es gibt nur eine Wahl: Ausbeutung der Werktätigen oder eine Gesellschaftsordnung, die das unmöglich macht. Autor: Wollen wir einen Staat, der dem Denken keine Wahl mehr lässt, der uns selbst den Zweifel verbietet? Ideologe: Die Revolution kennt keinen Zweifel. Autor: Doch sie kennt die Gewalt. Wie könnten wir noch an etwas glauben, was allein Gewalt erzwingt und aufrecht erhält! Ideologe: Was Sie Gewalt nennen, ist höchstens ein Übergang.
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Autor: Gibt es ein Beispiel für einen solchen Übergang, für eine Tyrannei, die sich freiwillig in ihr Gegenteil verwandelt? Zwischenruf: Darüber reden wir in hundert Jahren! Befreiendes Gelächter. Mir ist nicht danach.
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Die Wand
Arbeitsmilizen haben in Prag gewaltsam die Macht an sich gerissen, den «realen Sozialismus» aufgerichtet. Keinerlei Gegenwehr. Überfüllte Gefängnisse. Für die Opposition sind Lager da, die Urangruben, zur «Umerziehung». Tausende flüchten. Auch mein Bruder, der prophetische Jahrmarktsclown. Drei Monate darf er bei mir in der Schweiz bleiben. Dann, trotz meiner Bittgänge, weist ihn der Erzengel der Fremdenpolizei aus dem Paradies. Meine Ersparnisse reichen gerade für seine Überfahrt nach Australien. Ob wir uns wiedersehen? Die Euphorie meiner verlegerischen Erfolge hat nicht lange angehalten; sie führte sich selbst ad absurdum. Dass unsere Stücke mir im ausgehungerten Trümmer-Deutschland, in seinen östlichen Nachbarstaaten aus den Händen gerissen wurden, aberhunderte von Aufführungen erzielten, eben das erwies sich kaufmännisch als verhängnisvolle Fehlkalkulation. Die Währungen der verelendeten Länder waren nicht in die Schweiz transferierbar, unsere üppigen Einnahmen gefroren zu sterilen Zahlenkolonnen auf unzugänglichen Sperrkonten. Die Stücke aber hatten hartes Geld gekostet, grosszügige Vorschüsse, die ich bei der Verlagsleitung für die Autoren erkämpfte, mit der Behauptung, sie würden vervielfacht zurückkommen, wir mussten nur durchhalten. Wir hielten durch, bis zu jenem denkwürdigen Tag, der Westdeutschland eine neue, wertbeständige Währung bescherte. Unsere Guthaben waren nur noch ein Zehntel wert, blieben unkonvertierbar. Es war unser Ende. Nicht ganz. Gesundschrumpfung! verfügten die empörten Geldgeber. Als erstem gekündigt wurde dem Hauptschuldigen - mir. Svtluschka ist jetzt in Bern, als Solotänzerin am Stadttheater. Jeden Samstagmittag fahre ich zu ihr. «Wann ist denn Hochzeit?» zwinkert die Vermieterin. Ja, wann? Das hängt an einem kleinen Haken. Er nennt sich Ehefähigkeits-Zeugnis. Nur eine blosse Formalität, heisst's, eine Bestätigung der Heimatgemeinde, dass wir noch ledig sind, nicht Bigamie begehen. 176
Bewahre, sage ich, wende mich, mit vorschriftsmässig ausgefüllten, beglaubigten Formularen an meine Heimatgemeinde, unser Mütterchen Praha. Nach langen Monaten kommt der Bescheid aus der Goldenen Stadt. «Die Heirat zwischen Bürgern tschechoslowakischer Nationalität einerseits und deutscher Nationalität andererseits ist unzulässig. Demzufolge wird die vom Gesuchsteller beantragte Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses abgelehnt.» Als Fussnote eine «Erläuterung»: «Das erwähnte Gesetz wurde erlassen, damit die ordnungsgemässe Aussiedlung der deutschen Bevölkerung nicht durch manipulierte Scheinheiraten hintertrieben werde. Der vom Gesuchsteller angeführte Umstand, dass seine Braut Emigrantin und Antifaschistin sei, ist in den Ausführungsbestimmungen des Gesetzes nicht vorgesehen und kann demnach nicht berücksichtigt werden.» Ich lese es ihr vor und lache, etwas zu laut. «Wir sind durchschaut: mit einer manipulierten Scheinheirat wollen wir unser ordnungsgemässes Konkubinat hintertreiben!» Svtluschka ist nicht erschüttert. «Der Brontosaurus wird sich freuen.» «Wer?» «Der nachgemachte, ganz hinten im Naturhistorischen Museum. Wo wir immer hingehen, um uns ungesehen zu küssen.» Wie lange sollen wir diesen Schikanen und Erniedrigungen noch ausgesetzt sein?! Ich habe mich zu einem anderen Gesuch entschlossen, um Einbürgerung in der Schweiz. Aber das ist hierzulande ein schleichendes Hindernisrennen durch einen Wald von Nadelöhren: bei der Polizei, in Kommissionen und Gremien der Gemeinde, des Kantons, der Eidgenossenschaft. Und wehe, wenn sich ein Haar in meiner Suppe findet... Das Fatalste: die Zweifel, die das in mir selbst weckt - der Gedanke, ob all diese vertrackten Fallgruben und Niederlagen nicht ein Wink des Schicksals sind, ob es nicht widersinnig ist, mit dem Kopf die Wand zu durchbrechen. Haben die Schwierigkeiten mit der Heirat nicht einen tieferen Sinn? Svtluschka ist Tänzerin, allzu zart, schon jetzt gesundheitlich überfordert. Sonst hat sie nichts gelernt. Wovon sollten wir leben? Ich 177
krank, ohne Papiere, ein Gescheiterter - soll ich sie zu einem Teil meines Debakels machen!? Was quäle ich mich, was hat all das für einen Sinn... ich bin es müde. In der Zeitung las ich einige Male von einem Ort in den Bergen, wo Menschen zusammenkommen aller Völker, Rassen, Klassen, um zueinanderzufinden, gemeinsam zu wirken für eine neue Welt. Das wäre vielleicht noch der Mühe wert. Total revolution - Totale Revolution nennt sich die Bewegung. Ich habe hingeschrieben, wollte Genaueres wissen. Come and see - war die Antwort.
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Total Revolution
In sanften Windungen zieht der Zug durch üppige Spaliere reifender Trauben, dann durch helle Buchenwälder, immer höher. Endlich hält unser Gefährt, ich stolpere hinaus, geblendet durch eine das Licht zurückwerfende Wasserfläche tief unter uns: die strahlende Weite des südlichen Sees. Doch da nimmt mir jemand den Koffer aus der Hand: «Mr. Truntschka?» Ich will meinen Koffer wieder an mich nehmen: ich sei nicht gewohnt, dass man ihn mir trägt. Doch die beiden schwedischen Studenten - sie haben sich vorgestellt - lachen: als Gast müsse ich hier noch Schlimmeres über mich ergehen lassen. Nur wenige Schritte und wir sind im weitläufigen Gebäude des ‹Berghauses›. Der eine Student stellt meinen Koffer in die Garderobe, der andere legt den Finger auf den Mund. «The Conference is just going on», und schon sitze ich in einer grossen Halle, dicht gefüllt mit Menschen. Preziöse Architektur, verspielte Deckenmalerei, verschwenderisch verzweigte, mit Bronze und Kristall prunkende Kronleuchter. Ein ehemaliges Palacehotel. Hier hat einmal die ‹Haute volée› ihre ‹Belle époque› zelebriert. Aber jetzt zieht mich eine rauhe Stimme an. «Ich bin Französin», sagt die Frau auf dem Podium. «Mein Sohn wurde von SS-Männern gefoltert, damit er seine Freunde von der résistance verrate. Im geöffneten Massengrab habe ich die von der Folter verunstalteten Leichen meiner Kameraden vom Widerstand gesehen. Seitdem konnte ich nicht mehr weinen, bloss hassen, so wie man nur Mörder hasst.» Wie Steine fällt es in die Totenstille des Saales. Auch ihr Gesicht wäre starr, fiele nicht eine graue Strähne in die Stirn. «Mit unserer Besatzung bin ich dann nach Deutschland gegangen. Um uns Trümmer, Ruinen von Häusern, Menschen, Schicksalen. Ich bin eine alte Sozialistin; wie oft hab' ich Brüderlichkeit in den Mund genommen. Aber diese Trümmer, ich hatte sie herbeigesehnt, sie gaben mir Befriedigung, mit einem scharfen Nachgeschmack... bis ich nach Berlin kam. Endlose Kolonnen von Frauen, grau vor Erschöpfung, räumten taumelnd den Schutt weg. Waren nicht auch sie Witwen, Mütter, Grossmütter? Die Bitterkeit und der ätzende Hass auf alles Deutsche brachen in mir zusammen.»
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Warum entblösst sich die Frau hier öffentlich? Das junge Mädchen, das bis jetzt, neben der Frau stehend, ihre Worte ins Deutsche übersetzt hat, verstummt, als sie selbst auf deutsch fortfährt, sehr still. «Ich will euch Deutsche 'ier bitten um Vergebung für diesen 'ass. Warum? Weil wir die Trümmer müssen räumen weg auch in unsere Geist.» Einzelne im Saal erheben sich. Sind es Deutsche? Als dränge es sie, ebenfalls etwas zu gestehen. Aber da erheben sich auch die anderen, alle, nehmen die Inseln der geächteten Deutschen auf wie in einen Kontinent des guten Willens. Wo bin ich hingeraten? Einmal verirrte ich mich in eine ‹Erweckungs-Versammlung›. Da verloren die Menschen auch ihre Scham, «bekannten ihre Sünden». Fort! Aber da sind wieder meine Schweden. Essenszeit. Am Rande des riesigen runden Speiseraums ein Gewühl von Menschen aller Hautfarben, Sprachen, jeglichen Alters. Sie verteilen sich an die vielen ungedeckten Tische, es bildet sich eine Schlange an der Theke, Atmosphäre einer grossen Kantine. Schon fuhren mich meine Studenten hinein in das Sprachenbabel. An dem Tisch, dem wir zusteuern, sitzt ein Mann; ich sehe sein scharfes Profil, Hakennase, hohe, zurücklaufende Stirn, kein Hinterkopf. Ich verspüre Abscheu. Wer ist das nur? Einer der Schweden sagt, wir dachten, vielleicht kennen sie sich von Prag. Plötzlich weiss ich, wer das ist, genau, obgleich wir uns keineswegs «kennen», nein! Vor der fatalen Konferenz von München, als noch die Illusion des Widerstands gegen die deutsche Bedrohung uns über die trostlose Realität der Lage hinwegtäuschte, da zeigte man mir ihn in einer Loge des Theaters - den Botschafter Hitlers. Wider Willen prägte sich mir seine kühle Haltung ein, sein überlegenes Lächeln. «Ich hole mir mein Essen», nur weg, denke ich. «Das darf ich gewiss für Sie tun»; der eine Schwede retiriert bereits, während der andere mir Platz anbietet, mich vorstellt: «Das ist Herr Truntschka.» Seine Exzellenz wendet sich mir zu, seine sehr blauen Augen halten mich fest. «Ah, ein echter tschechischer Name. Da fühle ich mich wieder in der Goldenen Stadt.»
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Ich möchte gehen. Aber ich darf mein Hiersein nicht mit einem Skandal beginnen. Immer noch stehe ich. Mein naiver Protektor will die Vorstellung vollenden. «Dies ist... » Doch der Blauäugige unterbricht ihn. «Vielleicht setzt sich Herr Truntschka nicht, weil er schon weiss, wer ich bin... Ich kann ihn verstehen.» Während der gute Junge uns hilflos ansieht - setze ich mich plötzlich, zu meiner eigenen Überraschung. «Danke», sagt mein Gegenüber. Vor uns stehen jetzt die vollen Suppenteller. Ich rühre mich nicht. Auch mein Gegenüber legt den Löffel nieder. «Sie erwarten jetzt, dass ich sage, ich sei nie Nazi gewesen, oder aber, dass ich mich dazu bekenne. Aber es kommt schlimmer. Ich bin aus einer alten preussischen Diplomatenfamilie. Unser Credo war Treue, Ehre, Pflichterfüllung. Das Gesindel rund um den Anstreicher verachteten wir. Dennoch haben wir ihm gedient. Das war ärger als ein Verbrechen, es war eine Geschmacklosigkeit.» Dem kleinen Schweden, der begonnen hat, seine Suppe zu essen, bleibt der Löffel in der Luft stehen. «Pflichterfüllung», der Gesandte wirft das Wort verächtlich fort, «ob wir diesen Begriff pervertiert haben oder mit was für Verkehrtheiten wir es auch zu bemänteln suchten... », er zuckte die Achseln... «Diese gute Madame vorhin war bewundernswert. Mir ist das nicht gegeben, coram publico ein Vergebungsballett zu tanzen.» Er sieht mich voll an. «Tun Sie sich keinen Zwang an. Es gibt rundum noch freie Plätze.» Auch ich sehe ihn an, beginne mit der Suppe. Abends im Theatersaal. Der Vorhang fält. Ende. Draussen, im Gedränge der Halle stosse ich an ein Glas Orangensaft, etwas davon schwappt über. «Pardon.» «Pas de quoi. Das Glas in der Hand ist die déformation professionnelle der Diplomaten.» Mein Tischnachbar von vorhin. «Na, was sagt der Fachmann?» Ein Vogelkopf, fällt mir ein. Wie der Reichsadler auf Briefmarken. Der Gesandte stelzt in einen Nebenraum, um seine Hagerkeit flattert der Abendanzug, stammt sichtlich aus wohlbeleibteren Zeiten. Aus Höflichkeit muss ich ihm nach. 181
«Dilettantisch, wie?» Da sitzt er in einer Ecke. Die Hand weist auf den Nebenstuhl. Wieder bleibe ich instinktiv stehen. «Zum Unterschied von uns Schauspielern identifizieren sich die Leute mit ihren Rollen. Und was sie zeigen, scheint mir richtig: Materialismus und Egoismus als hasserzeugende, zerstörerische Kräfte. Notwendigkeit einer grösseren Dimension.» «Bravo!... Wollen Sie sich nicht setzen? Ich beisse nicht mehr.» Hier trägt man niemandem etwas nach. Also setze ich mich. «Sie sind hier richtig», sagt er geniesserisch. «Hatten Sie schon Ihre Seelenmassage? War's schön?» Etwas warnt mich. «Ich bin erst nachmittags angekommen. Und für eine Sekte bin ich nicht der Richtige.» «Sekte?!» Es kommt etwas zu entrüstet. «Machen Sie doch die Augen auf im Park. So eine prächtige neuromanische Kapelle. Die erste Messe schon morgens um sechs. Gegenüber das noch prächtigere neugotische Gehäuse für die Protestanten. Pfarrer à la carte: lutherisch, anglikanisch, reformiert. Wenn Sie vor dem Frühstück durch die Korridore wandern, auf den Fussspitzen bitte, so hören Sie Moslems ihre Suren, Hindus ihre Gebete murmeln. Und wenn Sie gar nichts hören, dann sind's meditierende Buddhisten. Sekten sind Absplitterungen einer Religion. Hier aber sind alle Religionen nur Splitter von etwas noch Grösserem: von Total Revolution. Fabelhaft, nicht?» «Klingt ironisch.» «Man hat hier den Stein der Weisen gefunden, das allen Religionen Gemeinsame: absolute Ehrlichkeit, absolute Reinheit, absolute Selbstlosigkeit, absolute Liebe.» «Absolut? Warum wiederholen Sie das immer?» «Weil es darauf ankommt. Nicht halb, nicht ein wenig, sondern absolut. Nur das ist Gottes Wille.» Sein Blick wird provozierend. Ich gehe nicht in die Falle. «Sie sind ein ausgezeichneter Schauspieler, Exzellenz. Aber warum sprechen Sie nicht eigenen Text, sagen, was Sie denken?» «Dazu möchte ich Sie bringen: zum Nachdenken.» «Ich bin dabei.» «Und?» «Ich frage mich: wozu sind Sie hier?»
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Er entblösst seine Goldzähne. «Vielleicht bin ich hier, um zu verhindern, dass ein paar Narren alle anderen zum Narren machen. Zum Beispiel Sie. Das bin ich Ihnen schuldig.» «Mir?» «Was wir Deutsche euch angetan haben, war nur die Folge unserer Ansteckung von der Manie eines gigantischen Narren.» «Eines Verbrechers, meinen Sie. Aber hier, diese Idealisten - » « - jeder Idealist hält sich für einen Welt-Erlöser. Hitler, Lenin, Stalin, Rasse oder Klasse, jeder Anspruch auf Alleinbesitz der Wahrheit, auf Absolutheit beinhaltet Intoleranz, führt zu Unmenschlichkeit, zum Verbrechen. Auch die Religion.» «Aber - » «Haben Sie in der Schule gefehlt? Ich empfehle Ihnen Nachhilfestunden in Massenmord im Namen Jehovas oder Allahs oder der alleinseligmachenden Kirche.» Jetzt, da die Maske gefallen ist, hat der Gesandte etwas Faszinierendes. Ich finde keine Antwort. «So wie hier fängt es an. Absolut. Das ist der Wurm im Apfel der Erkenntnis. Der Mensch ist weder absolut gut noch absolut böse. Er ist von der Natur in seinen Trieben vielfältig und nur scheinbar widersprüchlich angelegt. Im Effekt ergänzt eines das andere und hat nur ein Ziel: die Erhaltung der Art. Über die Tierheit erhebt uns die mehr oder leider auch minder entwickelte Intelligenz. Das alles darf man nicht verkrüppeln, vergewaltigen.» «Will man nicht hier unsere Entfaltung zu einer höheren, vollkommeneren Menschlichkeit?» «Total Revolution». Jetzt ist's blanker Hohn. «Wenn wir absolut rein sind, alle heilige Mönche und Nonnen werden, dann müssen wir aussterben. Absolute Ehrlichkeit? Nichts kann brutaler sein. Absolute Selbstlosigkeit und Liebe? Die hier so strapazierte Bibel gibt darauf eine realistische Antwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst... Machen Sie kein so unglückliches Gesicht, Parzifal. Zum Glück ist das alles so töricht, dass es zusammenfallen wird wie ein Ballon, angestochen von der Wirklichkeit.» Er ist aufgestanden, winkt mir leutselig zu, stakt davon. Sein Gang erinnert mich an etwas, ja... an den hinkenden Teufel. Als ich den Mephisto spielte, bereitete mir nichts grössere Lust, als Doktor Fausts Gewand überzuwerfen, mit der Miene des Pädagogen einem ahnungs183
losen Schüler den Geist der Verneinung einzuflössen. Aber jetzt bin ich der Schüler, und das Gift wirkt. Ich fühle mich elend. Am Morgen flutet durch die hohen Fenster das Licht. Ein fernes Eisfeld wirft die Sonne gleissend in mein Zimmer. Im Essaal duftet es, alles geniesst schon das Frühstück. Mein schwedischer Protektor erspäht mich. «Dort ist noch Platz für Sie, am Tisch von John. Er ist der Autor des gestrigen Stücks.» Der erste Eindruck: ein Sportsman, Gentleman-Reiter oder Tennischampion. «Ich höre, Sie sind am Theater», sagt er, «da kann ich was lernen.» Er steht auf. «Let's go.» Noch bevor er sich erhoben hatte zu seiner vollen Große, hat er die Runde ganz selbstverständlich dominiert. Er scheint ein Brennpunkt der Gemeinschaft. «You get your coffee somewhere else», sagt er, bahnt sich den Weg durch das Frühstücksgewühl. Ich ihm nach. Wir treten in den kleinen Bahnhof, mit seinem freundlichen Restaurant en miniature. Schon stehen vor uns Tassen voll Kaffee und appetitliche Croissants, aber wieder komme ich nicht zum Essen. «Was willst du hier?» Ich zögere. Sein Blick fordert Aufrichtigkeit. «Ich hoffte... aber man sagte mir gestern... ihr seid verrückt.» Aus der umschatteten Tiefe seiner Augen bricht eine über das ganze Gesicht sich verbreitende Heiterkeit. «Aber natürlich sind wir verrückt!» Darauf war ich nicht gefasst. «So verrückt wie das Volk, das sich vierzig Jahre lang unter unmenschlichen Entbehrungen durch die glühende Wüste schleppen liess von einem gewissen Moses, der ihm im Auftrag eines angeblichen Gottes ein fernes gelobtes Land in Aussicht stellte... so närrisch, wie tausend Jahre später das Häuflein Fischer, die sich vom See Genezareth durch einen obskuren Wanderprediger zum todbringenden Abenteuer der Menschenfischerei verlocken liessen. ‹Er ist von Sinnen›, warnten sie die Intellektuellen und Geistlichen.» «Das ist sehr lange her.» «Aber es geht weiter, wird nie aufhören. Noch ein Jahrtausend und der Ruf ‹Un pazzo! Un pazzo!› gellt um Franziskus von Assisi. Die 184
Druckerschwärze ist noch nass, die von dem halbnackten Kahlkopf berichtet, den wir Engländer als gefährlichen Narren eingesperrt haben; seine Leute prügelten wir nieder, wenn sie uns wehrlos entgegentraten. Und doch hat er mit der Waffe des Geistes gegen eine von Kanonen und Bombern starrende Grossmacht Indien die Freiheit gegeben. Wo ist die Narrheit, wo die Vernunft?» «Wenn man Sie hört... » «Auf Gott zu hören, darauf kommt's an.» «Ist das nicht ein Hirngespinst?» «Dieser Meinung war auch Xanthippe, als sie ihrem Mann deshalb einen Eimer Wasser über den Kopf schüttete. Aber es nützte nichts. Er entdeckte nämlich einen grösseren Kontinent als Columbus: die Seele.» «Hören Sie auf mit den erhabenen Beispielen. Ich bin eine Null, renne mir an meinem Versagen den Kopf ein.» «Der ist für Zweckmässigeres da: zum Bessermachen.» «Wie?» «Ein junger Mann namens Marek könnte morgens sich mal hinsetzen und was Einfaches tun: still sein und in sich hineinhorchen. Vielleicht wäre er dann imstande, auf einem gewöhnlichen Blatt Papier etwas Ungewöhnliches zu erfahren.» «Sowas wie meditieren, wie? Mach ich während des Morgenspaziergangs. Wozu das Papier?» «Deine Seele soll spazieren, weiter als es die Füsse vermögen... und Tinte hält länger als das Gedächtnis.» Für den nächsten Tag sind wir wieder am selben Ort verabredet. «Na?» John schiebt mir aufmunternd den Kaffee zu. Ich rühre die Tasse nicht an. «Ich hab' mir ein Heft gekauft, bin lange oben auf der Bank gesessen, ich hielt die Füllfeder in der Hand. Aber es kam nichts.» «Auch Geduld will gelernt sein.» «Der Mann, mit dem ich gestern am Tisch sass, sprach von Scharlatanerie, kindischem Selbstbetrug... Was will dieser Mensch hier eigentlich?» «Beziehungen möchte er anknüpfen, dein abgehalfterter Herr Gesandter. Am Ecktisch sitzt ein unscheinbarer Mann, zurzeit ist er Chef am Quai d'Orsay in Paris. Und morgen erwarten wir einen alten Herrn aus Bonn. Die beiden möchten sich hier nicht als ehemalige Feinde, 185
nicht als Staatsmänner, sondern von Mensch zu Mensch begegnen. Dein gesprächiger Freund erhofft sich ein paar Brosamen von ihrem Tisch, um daraus eine neue Karriere zu kneten.» «Und das lasst ihr zu? Warum werft ihr ihn nicht hinaus?» «Faule Früchte fallen von selbst vom Baum.» «So wie ich.» Ich leere den Inhalt der Tasse hinunter und schüttle mich. «Mir scheint, du hängst noch recht fest. Und ein Anfang von Fäulnis ist zu bekämpfen, allerdings nicht mit kaltem Kaffee.» Seiner Ironie ist eine eigenartige Wärme beigemischt. «Es gibt eine bessere Medizin. Die, welche dein advocatus diaboli so hasst: Ehrlichkeit. Aber nicht nur daran nippen, nimm einen ganzen, gehörigen Schluck.» Diesen Morgen bleibe ich in meinem Zimmer. Ich setze mich, lege die Hände in den Schoss, bleibe lange so. Es ist, als hätte ich mich losgelassen und ein unbekanntes Ich steige in mir auf, mit grossen verlangenden Augen. Mir unbewusst habe ich Papier und Feder ergriffen, schreibe auf: Ehrlichkeit. Etwas in mir beginnt zu brennen. Dann schreibt die Hand: «Seit Jahren lebst du eine Lüge. Warum bekennst du nicht, dass du Jude bist?» «Ich bin getauft, wollte nie Jude sein!» «Und bist es doch.» Ich starre auf das Papier, werde dessen gewahr, dass es einen Dialog festhält. Ich werfe das Papier von mir, stürze aus dem Zimmer, aus dem Haus. Diesmal bin ich zu früh am Bahnhof. Ich gehe neben den Gleisen auf und ab, zerwühlt von den widerstreitendsten Gedanken, Gefühlen. Eine Schleuse hat sich aufgetan, hochaufgestaute Fluten sind in mich eingebrochen, und ich stemme mich dagegen. Vergeblich. Ich bin im Begriff, mit Verrückten verrückt zu sein! Endlich kommt John, geht an den gewohnten Tisch, bestellt seinen Kaffee. Erregt berichte ich, was mir widerfahren ist. «Gut», sagt er nur. «Gut?!»
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«Warum solltest du es nicht sagen? Jesus war Jude, wie seine Mutter, seine Jünger, die Evangelisten. Die ganze Bibel ist jüdisch von Alpha bis Omega, das kostbarste Geschenk an die Menschheit. Du solltest stolz darauf sein.» «Stolz darauf, dass man uns verachtet, bespuckt, in Massen ermordet?! Du hast es nie erlebt. Auch dieses Land kennst du nur von hier oben, als Ansichtskarte, nicht unten die Menschen, ihre dumpfen, unausrottbaren Vorurteile. Eben läuft mein Gesuch um Einbürgerung. Zehn Jahre warte ich darauf, wieder als Mensch unter Menschen zu gelten. Soll ich es ihnen jetzt unter die Nase reiben, gerade jetzt? Dann ist alles aus!» Je mehr ich die Fassung verliere, um so ruhiger ist er. Seine dunkeln Augen strahlen Zuversicht aus. «Was soll ich tun?» frage ich leise. «Horchen und gehorchen.» Ich gehe zurück auf mein Zimmer. Da liegt das fortgeworfene Schreibheft. Ich sitze lange da. Dann legt die linke Hand das offene Heft auf meinen Schoss, und die rechte schreibt: «Du fahrst jetzt heim, gehst zur Behörde und sagst es.» Ich stehe auf, packe meine Sachen zusammen, gehe zum Bahnhof, fahre ab.
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Die Wahrheit
Die Behörde - das ist der Kantonspolizist. Auf dem ersten Wortteil liegt schwergewichtig seine ehrfurchtheischende Bedeutung. Denn mein Wohnort, obgleich blosse zehn Bahnminuten von Basel, ist eine Enklave des fernen Kantons Solothurn hinter den vier Juraketten. Verliesse ich das Gebiet des Kantons, aus welch zwingenden Gründen immer, ich ginge der zehn Jahre Wartezeit verlustig, jener Bewährungsund Durchleuchtungsfrist, die ich getreulich erdauert habe, um des Schweizerbürgertums teilhaft zu werden. Auch einen Gemeindepolizisten gibt es; er befasst sich mit den niederen Obliegenheiten wie der Schriftenkontrolle, der Verkehrsregelung, den Bussen bei Verletzung der Polizeistunde und öffentlichen Ordnung. Dem Kantonspolizisten dagegen sind, schon das lässt erschauern, die Abgründe des Verbrechens Untertan. In der Gemeinde heisst es hinter vorgehaltener Hand, Herr Bölsterli habe sich bei den «Fronten-Frühling» genannten Umtrieben nazifreundlicher Eidgenossen hervorgetan und sich während des Krieges beim Geheimdienst durch zwielichtige Manöver die Finger verbrannt. Deshalb sei er jetzt quasi strafweise hier, hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen. Ein solcher Zwerg bin ich. Denn Herr Bölsterli erforscht auch in hochnotpeinlicher Befragung die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Existenz jener frevlen Fremdlinge - Fremdsein ist ihm an sich schon Frevel -, die wagen, die Hand auszustrecken nach dem Kleinod des Schweizerbürgertums. Er hatte mich schon vor Monaten ausgefragt in schwerem, mühsam artikuliertem Schriftdeutsch. Mein sonst vielgelobtes, den angehenden Mitbürger empfehlendes Schwyzerdütsch ignorierte er völlig. Für ihn ist nicht, was er nicht will. Gute zwei Stunden durchwühlte er die Eingeweide meiner Vergangenheit, von der Geburt zurück zu Vater, Mutter und Grosseltern, dann meine Erziehung und Fortbildung, bis zum obskuren Beruf des Schauspielers, ihm um so verdächtiger, als ja mein Vater, der Lackfabrikant, ein «ehrliches Gewerbe» ausgeübt habe. Das äusserste an Anrüchigkeit erschnupperte seine Spürnase in meiner aktenkundigen Existenz als Emigrant. Warum ich denn meine angeblich so geliebte Heimat verlassen hätte? Dass der Überfall durch 188
die Schergen Hitlers und ihr Terror für mich unerträglich und bedrohlich geworden sei, quittierte er mit der lapidaren Feststellung: «Wenn jeder von uns, dem hier was nicht passt, davonlaufen würde, dann wäre die Schweiz ausgestorben.» Ob ich eine «Bekanntschaft» hätte, wollte er noch wissen. Natürlich, warum nicht? Ob ich ‹die Fräulein› nicht heiraten wolle. Es kam so wohlwollend, als läge es ihm am Herzen, Trauzeuge zu werden. Aber ich war gewarnt, durch den Regierungsrat, Chef des Erziehungs- und Kulturdepartements, der mich zu dem Gesuch ermutigt hatte. Das dürfe ich nicht mit ja beantworten; wenn noch eine Ausländerin ins Spiel käme, würde mein Ansuchen aussichtslos. Aber ganz Solothurn wisse von unserer Beziehung, wandte ich ein, das könne ich doch nicht verleugnen. Aber wäre es nicht naheliegend auszusagen, in meiner gegenwärtigen Lage könne ich an eine Heirat nicht denken? Das entsprach den Tatsachen. Und genau das antworte ich Herrn Bölsterli. Nach zwei Stunden Verhör eine lange Pause. Ob er noch ein Auskunft wünsche? «Haben Sie mir nichts zu sagen?» Sein Blick wurde stechend. «Nein.» Jetzt war's mir zu dumm. Ich erhob mich, man erwarte mich im Verlag. Da kam's blitzschnell wie ein Schlangenbiss. «Wie war's denn mit den Brillanten?!» Ich starrte ihn an, verständnislos. Er wiederholte die Frage, noch schärfer, sie frass sich in mich ein. Die Erinnerung begann zehn Jahre zurückzuschnellen. «Brillanten?... Ich brachte welche mit in die Schweiz, damals, damit ich hier - » «Haben Sie sie verzollt?» Sein Ton war drohend. «Aber ich war ja völlig ohne Mittel. Mit den Steinen musste ich mein Leben fristen, solange bis ich - » «Sie haben sie nicht verzollt», triumphierte er. «Also ein Schmuggler. Andere werden dafür eingesperrt! Sie haben Ihr Gastland hintergangen, sich einer Straftat schuldig gemacht!» Er stand auf, ich war entlassen. Es war aus. Ich fuhr sofort nach Solothurn, um mein Gesuch zurückzuziehen. 189
Nachdem ich derart diskriminiert sei, sagte ich ‹meinem› Regierungsrat, könne er meine Einbürgerung unmöglich unterstützen. «Einen Augenblick», er werde sich bei seinem Kollegen von der Justiz informieren. Als er zurückkam, lachte er. Erstens sei mein «Vergehen» nach zehn Jahren verjährt, und zweitens gereiche es mir nur zur Ehre, dass ich in einer so prekären Lage niemandem zur Last gefallen sei, sondern mich selbst durchgebracht habe. Ich war nochmals davongekommen. Aber jetzt - jetzt werfe ich mich dem Ungeheuer geradewegs in den Rachen. Ist das nicht ein selbstzerstörerischer Wahnwitz? Ich muss es dennoch tun. Anders kann ich es nicht ergründen, ob die Stimme in mir wirklich inspiriert ist, nüchtern gesagt, ein kategorischer Imperativ oder ein Selbstbetrug. Vom Bahnhof aus unmittelbar zur Polizeistelle. Sie ist geschlossen. Ich läute. Nichts rührt sich. Noch einmal, länger. Da öffnet sich über mir ein Fenster. «Mii Maa isch geschtert i-t-Ferie. Chunt erseht i drü Wuchen ume.» Das Fenster wird zugeschlagen. Ein Felsgebirge fällt von mir ab. Nach Bern, zu Svtluschka! Seit Tagen wartet sie auf mich. Aus dem «Berghaus» hat sie ein paar hingeworfene Zeilen erhalten: mein Leben sei total verändert, ich wisse nicht, was noch geschehen werde. Jetzt machen wir Ferien! Aber auch jetzt steht mir Schweres bevor. Nur nichts aufschieben, ich muss es hinter mich bringen: Kaum sind wir aus dem Zug gestiegen, die Rucksäcke auf dem Buckel, frage ich: «Als mein Wisch ankam, dachtest du nicht, ich bin verrückt geworden?» «Bist es immer gewesen. Sonst wärst' nicht auf mich verfallen.» Ich seh sie im Marschieren von der Seite an. Komische Mischung, die freche Stupsnase und die sanft gerundete Wange; wusste gar nicht, dass sie so geschwungene Wimpern hat. Aber das macht die Sache nicht leichter. «Vielleicht wirst du darauf bald keinen Wert mehr legen.» Und nun gestehe ich ihr mein Geheimnis. Nicht um ein Jota vermindert sie Schritt und Tempo. «Hab ich längst gewusst... Bist im Kleinen so wankelmütig, im Grossen beharrlich, voll Angst und doch mutig. Warum bist du traurig, wenn wir
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lachen, heiter in der Trauer, kindisch und weise? Weil du so alt bist wie die Welt, aus dem Volk Israel.» Noch fester schreitet sie aus. Aber ich kann die Ferien nicht recht geniessen. «Gott ist ein verzehrend Feuer» - er lässt mich nicht in Ruhe, so billig komme ich nicht davon. Wenn ich in der Lüge verharre - wie soll ich erfahren, dass die Wahrheit frei macht? Ich muss nach den Ferien nochmals zu Herrn Bölsterli. Der Gedanke an die Erniedrigung schüttelt mich. Da bringt mir Svtluschka einen Brief. «Amtlich», sagt sie würdevoll. Absender «Kanton Solothurn, Departement des Inneren». Der Herr Regierungsrat wünscht mich persönlich kennenzulernen, im Zusammenhang mit meinem Ansuchen um Einbürgerung. Dieser Regierungsrat ist k. k., katholisch-konservativ, ein politischer Gegner seines (freisinnigen) Kollegen, der meine Sache fördert. Deshalb, so wurde mir erklärt, hatte er mein Gesuch bis jetzt nicht weitergeleitet. «Das ist der Moment. Ihm werd' ich es sagen!» Svtluschka legt den Kopf schräg, klappert unschuldsvoll mit den Wimpern. «Total Revolution - total verrückt.» Tief ziehe ich die säuerliche Luft des alten Rathauses ein, steige die von Jahrhunderten ausgetretene Wendeltreppe hinauf. Der Herr Regierungsrat, in Amt und Würden ergraut, verbirgt seine Müdigkeit hinter unwirschem Wesen. Zuviel lastet auf ihm, auch ich bin eine lästige Pflicht. Was er mich fragt, steht längst in den Akten, er hört auch kaum hin. «Man kennt Sie ja hier in der Stadt.» Danke, heisst es schliesslich, seine Handbewegung entlässt mich. Ich bleibe sitzen. «Darf ich noch etwas sagen, Herr Regierungsrat?» Eine gleichgültige Geste: von mir aus. «Ich möchte eine Aussage ergänzen. Meine Freundin und ich haben beschlossen, nach meiner Einbürgerung zu heiraten.» Er blättert in den Akten. «Ist sie Ausländerin?» «Ja.» «Das ist für Ihre Sache nicht günstig.» «Ich weiss. Und noch etwas. Meine Familie ist jüdischen Ursprungs.» 191
Jetzt sieht er mich das erstemal an, erstaunt, befremdet. «Warum sagen Sie mir denn das?» «Sie wollten mich kennenlernen.» Und als er mich immer noch anstarrt: «Es liegt mir an der Wahrheit - der ganzen Wahrheit.» Er sagt nichts, kein Wort.
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Das Kreuz
Wieder im ‹Berghaus›. Mit leichtem Herzen bin ich diesmal gekommen. Das riesige Haus ist noch voll, überfüllt sogar mit Gästen. Aber ihre Betreuer sind ausgelaugt nach langen Hochsommerwochen voller Hingabe, Mühsal, wohl auch Enttäuschungen. Von früh bis spät Konferenzen, Theater-Aufführungen, Diskussionen; es schmeckt nach Wiederholung, die Spontaneität weicht der Routine, alles scheint staubbedeckt, wie draussen die Landstrassen. Ich hoffte, John zu berichten, dass ich Ordnung geschafft habe in meinem Leben, dass ich nun voll und ganz der Bewegung zur Verfügung stehe. Aber ich finde ihn nicht. Es heisst, er sei überlastet, ich müsse beginnen, auf eigenen Füssen zu stehen, könne meine Erfahrungen mit anderen austauschen. Kein Zimmer für mich verfügbar; ich logiere mit sieben anderen in einem Raum. Sie diskutieren noch die halbe Nacht. Und nachher sägen zwei Schnarcher jeglichen Versuch eines Schlafes entzwei. Endlich tropft das Grau des Morgens durch die Jalousien. Ich stehle mich hinaus, in der Tasche das Heft, das zu meinem inneren Tagebuch geworden ist. Der Nebel liegt schwer auf dem Berg, durchwoben von herabstürzenden Wasserfäden, eine lastende Decke. Die Hallen und Salons sind noch menschenleer, voll der Trostlosigkeit, die dem Erwachen vorangeht. Bin ich wach? Mit einem Mal scheint mir meine Anwesenheit unwirklich. Was will ich hier? Ich öffne das Heft, versuche mich zu sammeln, so müde ich auch bin. Mein Kopf sinkt herab... still sein, nicht einschlafen. Was rechtfertigt mein Hiersein? Dass ich eine Unwahrheit losgeworden bin? Die Wahrhaftigkeit, mit der ich mich eingelassen habe, ist kein Rezept für billiges Glück. Da sind noch andere Kriterien, die der Durchleuchtung bedürfen. Selbstlosigkeit - plötzlich bin ich wach, wacher als mir lieb ist. Jeder Schritt den ich weitergehe, führt an einen neuen Abgrund. Katja! Da gilt keine Ausrede mehr, keine Beschönigung. Selbsterhaltungstrieb? In diesem Lande war ich nicht vom Tod bedroht wie sie, die sich 193
hierher zu retten suchte. Warum habe ich ihr dazu nicht die Hand gereicht? Weil es für sie ein gefährliches Unternehmen gewesen wäre? Weil nur ein Wunder es hätte gelingen lassen? Einem solchen Wunder verdanke ich selbst meine Rettung. Wage es doch, dich dem Grauen ihres Sterbens zu stellen, in der Masse des Todesmarsches, dennoch allein in unvorstellbarer Erniedrigung, jeglicher Hilfe bar, von Gott verlassen... in Wahrheit habe ich sie verlassen, ich, ihr leiblicher Bruder. Die Feder ist zu Boden gefallen, lächerliche Tinte quillt hervor, nicht das Blut, das über mich kommt... Ich renne hinaus in den Regen... er vermag es nicht abzuwaschen. Wie lange ich getaumelt bin in Nebel und Nässe, weiss ich nicht. In meinem Kopf dröhnte ein einziges Wort: Schuld. Ich glitt aus, fiel, nicht in einen Abgrund, wie ich's gewünscht hätte. Nur über einen Grashang rutschte ich, in den Schlamm, klein, jämmerlich. Alles klebte an mir, als ich wieder am Berghaus anlangte. Ich zog mich um. Aber innerlich fror ich noch, sehnte mich nach menschlicher Nähe - nein, nur nach einem einzigen Menschen: John. Ich musste ihn finden. Schon Mittag; im Speisesaal ging die Mahlzeit zu Ende. Ich durchkreuzte den Essensdunst. Vergeblich. Dort - er stieg die Treppe hinauf, sah müde aus. Er holte seinen Koffer. Ich wagte es, leise seine Hand zu berühren. Sein Kopf wandte sich mir zu, in seinen Augen kehrte etwas aus grosser Ferne zurück, nahm den Ausdruck des Erkennens an. Dann nickte er, ging weiter, zur Tür hinaus, ich neben ihm. Draussen sagte er: «Ich fahre heim. Und du, wie geht es dir?» Ich antwortete nicht. Wir erreichten den Bahnhof, gingen in den kleinen Warteraum. John sah mich aufmerksam an. «Was ist mit dir?» Mühsam, brockenweise kroch es hervor. Wie ich den Hilferuf meiner Schwester verhallen liess, unter allerlei Argumenten, mit denen ich mich selbst betrog, während zutiefst die Angst sass, ihr Erscheinen könnte mein Versteckspiel aufdecken. Als ich dann endlich jemanden mit dem Geld zu ihr sandte, war es zu spät. Für immer... Dafür gibt es keine Vergebung.
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John schwieg lange, bevor er sehr einfach sagte: «Wenn dein Herz dich anklagt, wird Gott sich grösser erweisen als dein Herz.» «Gott fordert von mir das Leben meiner Schwester», sagte ich hart, «und ich kann es ihm nicht wiedergeben!» John wandte sich mir voll zu. «Es ist Zeit, dass du das Kreuz entdeckst... als deine ganz persönliche Erfahrung.» «Jetzt kommt's» - ich schrie fast - «dass Jesus ans Kreuz genagelt wurde, um die Schuld jedes Scheusals auf sich zu nehmen! Wie bequem und schamlos, die eigenen Verbrechen auf ihn abzuwälzen. Das macht die Christen so unglaubwürdig: diese Heuchelei, dieser Ausverkauf der Verantwortung!» John war aufgestanden, sagte nüchtern: «Die Antwort darauf ist nicht meine Sache.» An diesem Tage verliessen wir beide den Berg. In meiner kleinen Dachwohnung finde ich zwei Briefe vor, beide aus Australien. Der eine Umschlag mit meines Bruders unverkennbarer Schrift, verschnörkelt, ausschweifend wie er selbst. Der andere, zwei Tage später abgestempelt, von jemand anderem. Merkwürdig, ich kenne sonst niemanden dort. Der erste Brief: «Alter! Wirst gleich sehen, warum Du das bist. In Theresienstadt, dem Wallfahrtsort zum Hl. Krepierl, hatte ich einen guten Kumpel. Unsere Flohparadiese, vulgo Strohsäcke, lagen nebeneinander, und wir teilten alles, sogar unsere nichtvorhandenen Frauen. Die wurden von unseren heldischen Betreuern für ihre hehren Zwecke gebraucht, in der Rüstungsindustrie, sagten sie, von weniger Hehrem grinsten sie bloss. Wir aber, nachts, flüsterten uns zu, wie brav, tüchtig, hübsch unsere Weiberln gewesen waren und wieder sein würden, mit uns. Wir betrogen uns selbst. Aber davon lebten wir. Nicht lange. Mein Kumpel kam in den Transport nach Niewiederkomm. Auch meine Rosinka ist nie zurückgekehrt. Aber jetzt stell Dir vor: hier in Melbourne, diesem Rendezvous der Trostlosigkeit, begegne ich seiner Anka! Und sie ist noch braver, tüchtiger, hübscher, als mein Freund behauptet hat. Ergo: morgen heiraten wir! Dein total verjüngter Leo. P. S. Wann verjüngst Du Dich mit deiner Svtluschka?» 195
Der zweite Brief: «Lieber Marek - darf ich so sagen, nachdem ich einen Tag Deine Schwägerin war? Gestern war unsere Hochzeit. Wir feierten sie nur mit den Trauzeugen. Leo ass und trank ‹für alle, die nicht da sind›. Als er das Glas hob, um anzustossen auf Dich und Deine Svtluschka, entfiel es ihm, und er sank vornüber. Herzschlag, sagte der Arzt, er konnte nicht mehr helfen. Leo war einen Tag glücklich. Das ist viel in unserer Zeit. Anka» Hochzeit mit dem Tod... Wie steht's mit Svtluschka und mir? Verurteilt zu ewigem Konkubinat. Nichts da mit der Ehe für Emigrantengesindel. Den Schweizerbürger hab ich mit irrwitzigen ‹Geständnissen› auf den Kehricht gefegt. ‹Absolute Ehrlichkeit›. Der Gesandte hatte mich gewarnt. Wohin hat sie mich geführt, die ‹Totale Revolution›? Zur Erkenntnis, dass ich ein Helfershelfer von Mördern bin. Das blasse Antlitz meiner Schwester sieht mich an, meine stille, beharrliche Gefährtin. Sie war ein Geschöpf Gottes. Ihn hab ich in ihr verraten. Sie wurde zu Tode gemartert - wie Er. Das kann nicht rückgängig gemacht, nie vergeben werden. Auch Judas ward nicht vergeben. Nichts blieb ihm, als sich selbst zu richten. Die Sache ist klar. Es gibt nur eine Sühne: mein Leben für das ihre. Meine Eltern haben die Last von sich geworfen, die sie nicht tragen konnten. Meinem Vater diente dazu ein Revolver. Doch da ist ein Unterschied. Er hat sich von seinen Verfolgern befreit, ich befreie mich von mir selbst. Nicht schwierig, sich solch ein kleines Ding zu beschaffen. Eisig fasst es sich an, das Metall. Es durchkältet mich. Ein früher Herbst, wie damals, als ich das letztemal über die Brücke ging, meine Brücke. Ich lege das Kalte an mein Ohr. Es beginnt zu rauschen... wie eine Muschel. Unter der Brücke damals rauschte die Moldau. Die Brücke jetzt führt über den Lebensstrom ins Dunkle, man sieht nicht wohin. 196
Doch ich muss weiter, hinüber, Schritt für Schritt, von Figur zu Figur. Diesmal sind es keine Heiligen. Meine Ängste sind's, die Versäumnisse und das Versagen, der Unglaube und die Feigheit. Warum hab' ich noch nicht abgedrückt, dann wird mir nicht mehr kalt sein. Ich muss noch weiter. Ich gehe, gehe. Was schwankt dort empor aus der Finsternis? Betrüg dich nicht, es ist das Kreuz. Ich sehe Ihn, dem ich den Judaskuss gab, und sie, die sich an seine Füsse schmiegt, sie, die ich verraten habe. Für mich steigt Er nicht vom Kreuz. Es geht ins Gericht. Ich muss nur abdrücken Da - ich fühle mich umschlungen... ein Unsagbares berührt meine Lippen... Er gibt mir den Kuss zurück.
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Ein Zipfel Mut, ein Korn Zweifel
Svtluschka ist über mich geneigt. Ich hebe die Hand, betaste meine Schläfe, mein Ohr. Wo ist der Revolver? Hat sie ihn beiseite geschlagen? Ihr Blick hat etwas Verschwörerisches. «Dein Nepomuk hat ihn.» Sie macht sich lustig?! «Unten im Dorf steht er doch auf der kleinen Brücke. Er gibt nie ein Geheimnis preis, hast du gesagt. Also hab ich's ihm ins Wasser geschmissen.» Dieses Mädchen! Ich schliesse die Augen. Irgend etwas musste doch mit mir geschehen sein, etwas Ungeheueres. «Dafür hab ich etwas anderes mitgebracht», sagt sie, «aus dem Briefkasten. Interessiert's dich nicht? Staatskanzlei Solothurn.» «Schmeiss es dem anderen nach.» «Es ist nicht an den Nepomuk, es ist an dich.» Es lohnt sich nicht, aufzusehen. «Das Gesuch ist bachab, weg damit.» Ich höre sie den Umschlag aufreissen und laut lesen. «Der Regierungsrat des Kantons Solothurn beurkundet hiermit, dass der Kantonsrat von Solothurn, gestützt auf Art. 31 Ziff. 9" - sie sagt wirklich Art und Ziff, Abrakadabra einer Geheimsprache, murmelt ehrfurchtsvoll die weiteren Zahlen und Paragraphen bis ihre Stimme anschwillt «Herrn Marek Truntschka, von Praha, Tschechoslowakei, welcher von den zuständigen eidgenössischen Behörden die im Bundesgesetz vom... » - im Singsang einer Litanei begleitet sie den nicht endenden Bandwurmsatz eines entfesselten Amtsdeutsch « ... gegen Entrichtung der gesetzlichen Gebühren... » - sie steigert sich «das solothurnische Kantonsbürgerrecht erteilt hat, mit welchem Aufnahmebeschluss der Bewerber... » - nun ist es ein Triumphgesang «in das Schweizerbürgerrecht und das Bürgerrecht der genannten Gemeinde, sowie in sämtliche mit dem Schweizer Kantons- und Gemeindebürgerrecht verbundenen Rechte und Pflichten eingetreten ist.» 198
Den Schluss des Satzungeheuers spuckt sie mit letzter Kraft atemlos aus. Da steht sie, schnaufend, mit O-Beinen, himmelwärts verdrehten Augen, die Arme mit der Urkunde in die Höhe gereckt - der dumme August als Siegesgöttin! Wir beginnen zu lachen, lachen... bis wir uns in die Arme fallen. Nachträglich entdecken wir im Umschlag noch eine Karte vom Herrn Regierungsrat, dem ich die ‹ungünstigen Eröffnungen› gemacht hatte. «Ich freue mich über den neuen Mitbürger. Sie haben meinen ganzen Respekt... » Wunder über Wunder... es ist mir unheimlich. Die Vernunft sagt nüchtern: du willst gar zu billig davonkommen. Hast du mit Jesus jetzt eine wohlfeile Versicherung auf stetes Wohlergehen abgeschlossen? War dein religiöses Erlebnis nicht ein Produkt der Todesangst, ein blosses Wahngebilde? Die Angefochtenheit des Menschen nimmt kein Ende... Ich denke an John. Er sagte mir, unter dem Kreuz hörten Angst und Zweifel auf. Wir alle stolpern und fallen unterwegs. Aber Gott hilft uns aufzustehen... Er will mehr, als dass wir nur die materiellen Bedingungen der Gesellschaft ändern - der Mensch selbst muss sich ändern. Auf einer Südamerika-Reise, in erschöpfendem Einsatz bei Dockarbeitern wie Werftinhabern, bei rechtlosen Indios wie bei Grossgrundbesitzern, ist John an einer Virus-Infektion erkrankt und gestorben. Im Theater in Solothurn ist endgültig ein Vorhang gefallen: über Feiel. Ich habe bei der Trauerfeier für die Künstler zu sprechen. «Unser Direktor, den wir so vorwitzig den Tapir nannten, hat uns in der Zeit menschenverschlingender Barbarei eine Heimstatt gewährt, auch geistig. Das gab diesen Jahren Inhalt und Sinn. Seine komischen Seiten schienen mir die liebenswertesten. Immer, jedes Jahr, rieb er begeistert seine Nase, als ob dort wirklich sein ‹Riecher› für Talente sässe, und sagte mit tiefster Überzeugung: «Noch nie hab gehabt ein so wundervolles Ansambl!» Für ihn war das logisch, ganz und gar wahr. Denn er war der letzte Patriarch des Theaters. Ein Vater aber liebt nicht nur alle seine Kinder, er liebt das jeweils jüngste am meisten. Das war das Geheimnis, warum wir unter seiner sparsamen Hand so gediehen.»
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Nach der Bestattung tritt der Präsident der Theaterkommission auf mich zu. «Wir hätten Sie gerne als neuen Direktor.» Das ist mehr als eine Überraschung, es stürzt mich in Verwirrung. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Theaterdirektor! Ist das nicht mein Wunschtraum gewesen? Eine Bühne leiten als Stätte des Geistes, nicht ideologisch ausgedörrt, nein, sprühend vor Lust am Spiel, funkelnd in immer neuen Farben der Verwandlung. Das Talent der Künstler über das Komödiantische hinaus zur Entfaltung bringen, zu sich selbst, als Gleichnis alles Menschlichen! Der Rausch dieser Vorstellung übertönt die leise Stimme in mir, die mich mahnt, das alles liege hinter mir, ich sei unterwegs anderswohin. Für und wider spricht aus dicht beschriebenen Blättern; ich bin hinund hergerissen, bis ich Svtluschka bitte, mit mir «still zu sein». Das hat sie, mir zuliebe, schon manchmal getan, ich kaufte ihr dafür ein schönes Heft, in Schweinsleder gebunden. Doch jetzt wirft sie ihren Bleistift fort - er ist nicht so pedantisch gespitzt wie der meine, und das Ende ist angeknabbert. «Ah, Hochwürden will wieder ins Spital!» Sie ist die Herausforderung in Person. «Jawohl, dort wirst du enden, weil ich dann nicht mehr nachkomme mit Umschlägen, Kamillentee und Händchen halten.» «Unsinn. Mir geht's doch viel besser.» «Weil du dich nicht mehr mit Intrigen rumschlägst, dein empfindliches Seelchen nicht jeden Abend an der Rampe aushängen musst. Wart nur, was dir als Direktor blüht! Denk an die ewig unzufriedenen Komödianten, ihr Gestichel, dass der Direktor sich auf ihre Kosten bereichere! Die Stadtväter, die seufzen, man werfe ihr Geld zum Fenster hinaus! Und erst die Kritiker!» «Aber Svtluschka, seit wann bist du eine Pessimistin?» «Seit hinter der heiligen Fassade ein eitler Teufel seinen Ehrgeiz hätschelt!» Sie hat den Kopf so weit zurückgeworfen, dass mich ihre Nasenlöcher frech anstarren. Vielleicht ist mir das Blut zu Kopf gestiegen, denn sie dreht die kalte Dusche noch weiter auf. «So, jetzt hau mal was in Stücke oder reiss den Armleuchter aus der Wand, dann gefällst du mir gleich besser.» «Ist das dein ganzes Rezept?»
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«Wer hat denn herausgefunden, seine Aufgabe sei's, anstatt nur fremde Texte nachzureden, endlich selbst was zu schreiben?» «Und davon, meinst du, sollen wir leben? Ein freier Schriftsteller muss in diesem Land verhungern!» «Mach doch endlich Ernst mit dem ‹Horchen und gehorchen›. Los, riskier's, dass wir verhungern! Dann fressen wir unsere frommen Hefte auf. Schweinsleder ist sehr nahrhaft.»
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Ehrfurcht vor dem Leben
In der Auslage eines Antiquariats in Bern sah ich ein schmales blaues Buch. Es kostete einen Franken, und ich kaufte es, weil mein Onkel es geschrieben hatte, der Philosophie-Professor in Prag. Bei ihm war ich als Vierzehnjähriger dem Mann begegnet, von dem das Buch handelte. Er wohnte bei meinem Onkel, wenn er in Prag Vorträge hielt und Orgel spielte, um Geld zu verdienen für sein Spital im Urwald. Orgeln interessierten mich noch wenig, um so mehr der Urwald. Manche Leute spöttelten über ihn, er sei früher ein berühmter Gelehrter gewesen und ein noch berühmterer Musiker. Das alles habe er fortgeworfen, um Medizin zu studieren und die Neger im Urwald zu verdoktern; er sei leider verrückt geworden. Also fragte ich ihn, obgleich sein gewaltiger Schnauzbart mir etwas Angst machte, ob er wirklich verrückt sei. Er wurde sehr vergnügt. «Das musst du selbst entscheiden.» Und dann erzählte er: «In deinem Alter, auf dem Schulweg, kam ich täglich am Denkmal eines grossen Admirals vorbei. Zu Füssen des Eroberers hat man Priester gesehen mit geschwungenem Kreuz, Soldaten mit der Flinte, behäbige Kaufleute und einen Schwarzen, geduckt, aus dessen Blick ein grosser Schmerz sprach. Dieser Blick traf und verfolgte mich. Mit der Zeit begriff ich, dass wir Weisse den Eingeborenen in fernen Ländern das Christentum bringen und zugleich den Schnaps, unsere Krankheiten, grausame Zwangsarbeit und ein Elend, das ganze Völker aussterben liess. Damals sagte ich mir: für jeden, der Leid verbreitet, muss einer von uns hinausgehen, der Hilfe bringt. Und als ich genug gelernt hatte, tat ich es. Was meinst du: bin ich verrückt?» Damals war ich vierzehn; als ich das Buch kaufte, vierzig. Jetzt las ich alles, was der Urwald-Doktor selbst geschrieben hatte. Ehrfurcht vor dem Leben. Das war die Weltanschauung, die mein Denken mit meinem Glauben und Fühlen in Einklang gebracht hat. Ein einfacher Satz gab mir Klarheit. «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Der blosse Intellekt mag das Töten der Mitmenschen, die Ausrottung von Tieren, die Zerstörung der Natur verurteilen, doch Egoismus, Macht- und Profitgier sind stärker. Der wahrhaft denkende und 202
fühlende Mensch aber erlebt das andere Leben in dem seinen und dadurch den Begriff von Gut und Böse. Erst die Ehrfurcht vor der uns anvertrauten Schöpfung befähigt uns, sie zu erhalten, zu fördern, auf ihren höchsten Stand zu bringen. Das ist die Botschaft, sagte ich mir, die eine von Massenmord, Zerstörung und Elend überwältigte Welt braucht, am meisten eine Jugend, die in der Anbetung der Gewalt aufgewachsen ist. Kaum sind ihre Götzen gestürzt, da preist man ihr wieder eine, nur andersfarbene Gewaltherrschaft an. Ich berichtete über Leben, Denken und die Tat dieses Mannes und sandte das Manuskript dem Rundfunk. Nicht nur auf deutsch, in viele Sprachen übersetzt, wurde nun verbreitet, was lange Jahre unterdrückt und unbekannt geblieben war. Auch der Mann im Urwald hörte es. Er bat mich um den Text; er käme bald zur Erholung nach Europa und wolle mich kennenlernen. Ich fuhr durch elsässische Wiesentäler zum heimatlichen Haus des Doktors. Ernüchterung. Ein Gewirr von Menschen aller Sprachen. Bewunderer, Snobs, Sensationsjäger hingen in Trauben an ihm. Der ‹Grand docteur› war in Mode gekommen. Beim Mittagessen sass ich neben einer Amerikanerin. Sie sammelte Berühmtheiten, bot mir andere an aus ihrer Kollektion. Mir grauste. Jeder, der hier weniger ist, bedeutet für ihn einen Gewinn. Gleich nach der Mahlzeit stahl ich mich hinaus. Eben berührte ich die Klinke der Haustür, da sagte eine hohe Stimme wie von gesprungenem Glas - sie passte nicht zu dem mächtigen Körper - «Wohin?» Und eine vom Alter knochige Hand führte mich zurück in ein kleines Zimmer. Alles quoll über von Büchern, Papieren, Briefschaften, auch von der Decke hingen sie in Säcken herab. Er zog mich neben sich auf ein abgewetztes Wachstuch-Sofa. Als jemand die Tür öffnete, sagte er: «Eine Stunde niemand». Dann zu mir: «Wir wollen zusammen ein Buch herausgeben, auf Grund deines Manuskripts. Einiges muss noch hinein, von mir und von dir.» Erstaunt sah ich auf. Der Schnauz war noch immer gewaltig, nur weiss geworden, wie der wilde Haarschopf. Das wuchtige Haupt sass jetzt auf einem langen, von Alter und Anstrengung entfleischten Hals, er ragte mager und sehnig aus zu weit gewordenem Kragen. Das lederne, durchfurchte Antlitz war das Relief seines Lebens, eine Gebirgs203
landschaft mit vom Mitleiden gegrabenen Tälern und Höhen der Tat. Unter dem Gebüsch der Brauen aber loderte die alte Energie. «Hältst du mich noch immer für verrückt?» Unglaublich. Er erinnert sich! «Ich habe Anlass, mich auch zu den Verrückten zu zählen.» «Ah! Da möchte ich mehr davon wissen.» «Es gibt in meinem Leben etwas - » Unter der Wärme seines Blikkes, seiner väterlichen Zuwendung, vermochte ich meine Scham zu überwinden, mit wenigen Worten die Geschichte meiner Schuld anzudeuten. Ich endete mit dem, was mir geschehen war, als ich mich selbst richten wollte, dem mir Unbegreiflichen Der alte Mann sass lange still da, er hatte die Augen geschlossen. Endlich sagte er: «Nicht jedem geschieht so Wunderbares.» «War es wirklich ein Wunder, eine Vision?» «Warum nicht?» «Vielleicht ist nur mein verdrängter, nie bewältigter Schuldkomplex aus dem Unbewussten aufgebrochen zu einem religiösen Fluchtversuch und hat in einer existenziellen Grenzsituation die Gestalt einer Halluzination angenommen.» «Du hast eingekauft im psychologischen Warenhaus. Wirf sie fort, die aufgetakelten Fremdwörter. Mit diesen wohlfeilen Mäntelchen verhängen wir nur unsere Unwissenheit.» «Sie sind doch Wissenschafter: Theologe, Philosoph, Arzt. Und wissenschaftlich anerkannt wird eine Erkenntnis allein durch den experimentell geführten Beweis. Wie vermag ich zu beweisen, dass wirklich Jesus in mein Leben eingegriffen hat?» «Es gibt einen einzigen Beweis Gottes: dass er sich in uns ereignet. Er hat an dir vollbracht, was kein Psychotherapeut vermag. Er hat deine Schuld an sich genommen, deine Sache zu der seinen gemacht.» Nochmals lehnte sich mein intellektueller Hochmut auf. «Mir scheint das ein Selbstbetrug: einem anderen die eigene Schuld aufbürden, sich freisprechen lassen von einer Phantasie-Instanz!» Je mehr ich mich erregte, umso ruhiger, nüchterner wurde der Doktor. «Du irrst. Dein Prozess ist erst eröffnet. Er dauert ein Leben lang.» «Ja! Ich hab gestanden. Aber der Stachel bleibt. Eine Schuld wie die meine hört nie auf.» «Und doch hast du etwas gewonnen: einen Anwalt, dem du ganz vertrauen darfst.» «Was habe ich durch ihn gewonnen?» 204
«Das spürst du doch. Den Weg der Selbstwerdung, die Freiheit, in der Wahrhaftigkeit zu leben und zu bezeugen, dass sich nur ein solches Leben lohnt.» «Ich soll, was ich getan und zu tun verabsäumt habe, anderen bekennen? Ich werde verachtet, verhöhnt und - verlacht werden.» «Gewiss. Das werde auch ich. Dennoch müssen wir es tun. Ein Glaube hat erst dann Bestand, wenn man dafür alles wagt.» «Etwas zerfrisst mich gegen meinen Willen, ein alles durchdringendes Salz: der Zweifel.» «Aber, mein Lieber», der Doktor fasste mich an den Händen, «schon der Apostel Thomas war in der gleichen Not. Weisst du nicht, wie Gott ihm geholfen hat?» Jetzt gab es keine Ausflucht mehr. «Er hat ihm Jesus vor Augen gestellt.» Der alte Mann wurde ganz jung, so durchstrahlte es ihn. «Wenn du die ganze göttliche Welt da erkennst, wo sie dir greifbar entgegentritt, in Jesus, dann hast du sie und hältst du sie und hast in ihr alles, auch das, was unser Begreifen übersteigt. Es kommt nur darauf an, ob du sagen kannst: ich glaube.» Es wurde still. «Ich glaube.» So leise es aus mir sprach, so sicher war ich jetzt. «Dann folge ihm nach», sagte der Doktor ganz schlicht mit seiner brüchigen alten Stimme. Die Selbstverständlichkeit des ungeheueren Anspruches entsetzte mich. «Ich, ein Versager?!» «Meinst du, ich habe nie versagt? Siehst du nicht, dass ich alt und verbraucht bin? Aber Gott hat für jeden seine Aufgabe. In allem, was du sagst und schreibst, denk an die Menschen, für die du's tust. Gib acht, dass der Mensch nicht zugrunde geht. Geh ihm nach und finde ihn, wo die anderen ihn nicht mehr finden - und steh zu ihm... » Es klopfte an die Türe. Der Doktor stand auf. «Komm wieder. Aber vorher geh in ein kleines burgundisches Dorf, nach Vézelay.» Ich bin hinaufgestiegen auf die Höhe über dem Dorf. Ich stehe im ungeheueren gratgewölbten Langhaus der Abteikirche Ste Madeleine vor den romanischen Figuren-Kapitellen. Schritt für Schritt taste ich mich durch das Leben und Leiden Jesu. Da ist auch mein anderes Ich:
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Judas - mit dem Beutel - am Abendmahl-Tisch - zuletzt, furchtbar, als Gehängter. Zuletzt? Da ist noch ein Bildwerk. Es lässt mich nicht mehr los - da ist Judas, abgenommen, und der gute Hirte hat ihn auf seine Schultern gelegt. Heimgekehrt, schlage ich nach. «Ein Mensch, der auch nur ein einziges Schaf verliert, lässt die neunundneunzig anderen zurück, bis er das verlorene findet. Und wenn er es gefunden hat, legt er es voll Freude auf seine Schultern.» Dem Menschen nachgehen, ihn finden. Ich denke an Hardenberg. Er starb am gewalttätigen, verachteten Deutschland. Er hat mir ein Versprechen abgenommen: das Bild des Menschen wieder aufzurichten, des verborgenen Deutschen. Er hat geschwiegen über seine Freunde, aber ihr Sterben war das seine. Diesen Toten muss ich nachgehen. Ich habe sie gefunden in ihren Briefen, dem, was sie bezeugten in der Todeszelle. In einem der Briefe fand ich die Worte, die auch Hardenberg gebraucht hatte: «Ihr müsst aus mir eine Legende machen... » Aber ist es meine Sache, diese Legende zu schreiben? Ich bin von Deutschen gejagt worden, meine Nächsten wurden ihre Opfer. Gerade mir ist es auferlegt, mir, der einen Prozess fü hrt im eigenen Herzen, der angeklagt ist der Angst und Schwäche und dadurch schuldig wurde. Es gab Deutsche, die haben Widerstand geleistet, bis in den Tod. War er vergeblich? Ich beginne zu schreiben. Ich erwähne kein Land, keinen Namen. Denn obgleich von allen verlassen, rangen, litten und starben diese Menschen für uns alle. Mein Drama wurde in Deutschland aufgeführt. Es hat auf vielen Bühnen die Geister und Herzen bewegt. Für wie lange? Alles ist von Vergessen bedroht. Lässt es uns immer von neuem aufrichten, das Bild des Menschen.
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Wir wurden getraut, in einer alten kleinen Kirche, hoch in den Bergen. Es war ein langer Weg bis zu diesem Tag. In dieser Mühsal sind wir zueinander gereift. Das seiner selbst unbewusste Türkenkind, der naive kleine Clown, wurde zur Svtluschka, der Lichtbringerin. Ihre Heiterkeit ist unverlierbar geworden durch das Schwere, das sie mit sich trägt. Am Ende erst des langen Weges beginne ich zu ahnen, wie der unfassbare, unbeweisbare, so widersinnige Gott - der schöpft und zerstört, durch Vernichtung Leben schafft - sich offenbart. Wenn Gott die Liebe ist, dann ist im Liebenden ein Teil dieses Göttlichen. Durch die Liebe wird er Schöpfer von Leben. In unserem Sohn entdecke ich staunend immer mehr von meinem verlorenen Bruder, seiner urwüchsigen, tolpatschigen Kraft, seiner überbordenden, alles Widerwärtige fortschwemmenden Heiterkeit. Nach ihm kam ein Mädchen. Sie heisst Katharina.
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Gespenstersonate
Durch den von den Machthabern gezogenen Vorhang aus Stacheldraht, Wachttürmen und Minenfeldern drangen Nachrichten, deren Widersinn und Phantastik etwas Gespenstisches hatten. Und doch war es nur eine Variation jener Moskauer Prozesse, die mich schon als ganz jungen Menschen entsetzt und gelähmt hatten. Diesmal waren es Prager Prozesse. Hochgestellte Männer hätten das Regime verraten und verkauft - so sagte die Anklage. - Mir war einer bekannt und vertraut: Vládja. In der Zwischenzeit zum Stellvertretenden Minister für Volksbildung aufgerückt, war er mit vierzehn anderen Ministern und hohen Funktionären vom Staatssicherheitsdienst verhaftet worden. «Der Angeklagte hat sich als trotzkistisch-titoistischer Verräter und Feind des tschechoslowakischen Volkes und der volksdemokratischen Ordnung im Solde des amerikanischen Geheimdienstes und westlicher Spionage einem staatsfeindlichen zionistischen Verschwörerzentrum angeschlossen. Er hat insbesondere die Aufgabe durchgeführt, durch Verbreitung bourgeois-nationalistischer Propaganda, dekadenter westlicher Ideen und durch Unterdrückung der sozialistischen Kultur die Einheit des Volkes und der Volksdemokratie zu untergraben, mit dem Ziel, die Republik von der Freundschaft und dem Bündnis mit der Sowjetunion loszureissen, den Kapitalismus zu erneuern, die Republik ins Lager des Imperialismus zu verschleppen und ihre Selbständigkeit zu vernichten. Der Angeklagte hat sich in allen Punkten für schuldig erklärt.» Vládja, der lautere Mensch, unbeirrbar und unbedingt seinem sozialistischen Ideal ergeben, soll diese monströse Anhäufung von jeder Vernunft spottenden, sich selbst ad absurdum führenden (Verbrechen) begangen und gestanden haben?! Das Urteil für Vládja und elf andere Angeklagte lautete auf Tod durch den Strang. Es wurde am Galgen vollstreckt. Lena! Wird sie das überstehen, und wie? Ein Brief von mir hätte sie belastet. Aber Valérie hatte den Kontakt aufrechterhalten, vielleicht wusste sie etwas.
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Nein, nicht mehr als ich. Aber wie eh und je war sie auf den Barrikaden. Sie habe Lena geschrieben, sie wolle sie heimholen, von wo und gegen wen auch immer. Wochen darauf gab mir Valérie einen Brief weiter. Er war auf Umwegen in die Schweiz gelangt. «Ich danke dir, ich hab das von dir erwartet. Aber was soll ich in dem Land, das mich bestraft hat, weil ich Kinder rettete, das mir mein Bürgerrecht als Schweizerin nahm, weil ich einen ‹chaiben Ussländer› geheiratet habe. Hier hält mich etwas. Nicht Vládja hat die Partei verraten, sondern die Partei ihn. Bevor sie das nicht gestehen, kriegt mich niemand von hier lebend fort. Und noch etwas. Zdenka, die Kronzeugin der Anklage, hat es fertiggebracht, dass Jirka, er ist jetzt achtzehn, in einem Brief an das Gericht den Tod seines Vaters verlangt hat, ‹dieses widerwärtigen Renegaten›. Es könnte sein, dass Jirka mich eines Tages nötig hat. Immer deine Lena» Sie sollte recht behalten. In der alten Heimat regt sich's, sie erwacht aus der Starre. Längst hat der ‹Große Bruder› im Osten aufgedeckt, Stalin habe selbst die Verbrechen verübt, deren er andere bezichtigen liess. Doch Jahre noch lagen in Prag die Hingerichteten in der unzugänglichen Gruft der Verleumdung, wurden wachsende Zweifel, bohrende Fragen unterdrückt, bis der Drang nach Wahrheit als Erdbeben endlich alles ans Licht sprengte. Die Toten stehen auf, erheben Anklage. Das Unmöglichste scheint möglich in diesem betäubenden Frühling; er macht Sklaven wie Sklavenhalter taumelig, Freiheit wird zur Fatamorgana der Hoffnung, Angst und Resignation zerbröckeln, längst begrabene Hoffnungen schiessen auf. Aus Brünn, der zweitgrössten Stadt des Landes, erhalte ich eine Einladung zu den Proben und der tschechischen Erstaufführung meines letzten Stücks. Es ist ein Gleichnis für den Widersinn des politischen Mordes. Die Schweizer Behörden warnen mich vor der Reise. Die Verhältnisse dort seien fragwürdig und undurchsichtig, man könne meine Sicherheit nicht gewährleisten. Kann ich die Reise verantworten? Ich 209
habe eine Familie, Kinder, die mich brauchen. Aber Svtluschka sagt: «Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du's dir nie verzeihen. Ich weiss, dass du wiederkommst.» Die Stadt, auf deren Flugfeld ich lande, habe ich nie zuvor betreten. Am Fusse der Gangway erwartet mich eine junge Frau mit einem Strauss Rosen, meine Hauptdarstellerin, mit ihr der Regisseur. Sie bringen mich ins Direktionszimmer des Theaters. Immer mehr Menschen drängen herein, trinken mir zu, heissen mich willkommen, bestürmen mich mit Fragen, lachen, umarmen mich. Der kleine Raum ist überfüllt, überhitzt, Rauchschwaden anstelle der Luft, aber mir ist, als sei es nicht ein Mangel, sondern ein Übermass an Sauerstoff, was mich schwindlig macht. Clov…ina nennt man's hier und es ist unübersetzbar: Menschlich-Allzumenschliches, Spontaneität, Kumpelmief - von allem etwas und alles zusammen. Einmal war es mir selbstverständlich, jetzt muss erst ein Vierteljahrhundert der Verkrustung durch Konvention und steife Zurückhaltung sich in mir lösen. Ein Übermass an allem. Die Arbeit im Theater ist so leidenschaftlich wie der Ausbruch von Emotionen in aller Öffentlichkeit. Nichts da von Gleichschaltung, Kadavergehorsam, Friedhofstille. Was sich in langen Jahren des Zwangs zutiefst aufgestaut hat, bricht nun hervor, unaufhaltsam. Die Spruchbänder mit den bis zum Ekel wiedergekäuten Parteiparolen liegen zerrissen auf den Strassen. Staatspräsident und Generalsekretär sind abgesetzt. ‹Dub…ek› steht überall mit Kreide, Kohle, Farbe auf Häusermauern, Bretterverschlägen, dem Asphalt - der Name, der ungeheuere Erwartung in sich schliesst. Wahl des neuen Präsidenten. Massen ziehen durch die Strassen, füllen die Plätze, sie rufen «Svoboda, Svoboda!» - So heisst ihr Kandidat und zugleich heisst es Freiheit. Sie rufen noch anderes: «Nicht Ost, nicht West - der Nase nach! Nicht links, nicht rechts - vorwärts!» Keine Spur von Gehässigkeit, sie strahlen unbekümmerte Zuversicht aus, eine alles durchdringende kindliche Fröhlichkeit. Mich befällt Bangigkeit. Abends die Premiere meines Stückes.
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Als am Ende der Aufführung sich Beifall regt - wie unsinnig ist doch dieses stereotype Aufeinanderklatschen von Händen - trete ich auf die Bühne, schaffe Ruhe. «Heute wurde in den Vereinigten Staaten Martin Luther King ermordet. Wenn wir uns jetzt erheben» - es geschieht -, «so wollen wir etwas bedenken. Man kann den Leib eines Mannes töten, nicht seinen Geist - wenn er in uns weiterlebt.» Noch nie habe ich inmitten von Menschen solche Stille erfahren. Mein Freund, der Schriftsteller - er hat meiner Übersetzung des Stücks den brillanten letzten Schliff gegeben - nimmt mich in seinem Wagen mit nach Prag. Wir fahren durch Mähren, überall aus der schwarzen Erde sticht zartes Grün; bald wird es ein üppiges Kornmeer sein. Gegen Böhmen zu die Dörfer und Städtchen mit Burg, Schloss, Kirche wie eh und je. Wegkreuze, Kapellen, Marien- und Heiligenfiguren mit frischen Blumen geschmückt. «Kunstdenkmäler», sagt der überzeugte Kommunist unbefangen. «Meinst du, wir sind Barbaren geworden?» Er gehört zu den unbekümmert vorwärtsstürmenden Reformern, verbreitet das überall gegenwärtige Wort ‹Sozialismus mit menschlichem Gesicht›, und die ‹Literarischen Blätter›, die er mit seinen Kameraden redigiert, reisst man sich aus den Händen. «Du musst ganz hier leben, damit du endlich wieder lachen lernst.» Er lässt das Lenkrad nicht los, während er mich mit dem Ellbogen in die Rippen stösst. Das Auto macht einen fröhlichen Schwenker. «Hier gibt's keine Gespenster.» «Und doch beschwört ihr sie.» Da ist das Verhör mit dem ehemaligen Hausverwalter im Aussenministerium. Mit Millionen anderer habe ich es atemlos auf dem Fernsehschirm verfolgt. Der Beamte wurde vom Untersuchungsrichter befragt, was er über den angeblichen Selbstmord des Ministers Jan Masaryk wisse, des letzten Garanten der Demokratie in der Regierung. Gemäss offizieller Version hatte er sich aus dem Fenster seiner Amtswohnung gestürzt. Unter den bohrenden Fragen sagte der alte Verwalter schliesslich mit zitternder Stimme, den Tränen nahe, russische Bewaffnete seien damals nachts ins Gebäude eingedrungen; ihn selbst hätten sie in seinem Zimmer eingeschlossen, die Fensterläden verrammelt. Als es ihm dann am Morgen gelungen sei, durch einen Nebenausgang hinauszukommen, habe er den Minister tot auf dem Pflaster des Hofes gefunden. 211
«Nicht nur die Sache selbst macht mich schaudern. Ist es klug, eine solche Befragung öffentlich durchzuführen, als unerträgliche Herausforderung des ‹Grossen Bruders›?» «Die Wahrheit kann gar nicht öffentlich genug sein, nur dann lässt es sich wieder atmen. Mit dem ‹Grossen Bruder› haben wir einen Vertrag über gegenseitige Souveränität und Nichteinmischung.» «Auch andere hatten diesen Vertrag, auch die Ungarn... » Mein Freund ist ganz Nachsicht. «Man merkt, du gehörst zur alten Generation. Ihr zittert immer vor den Wiederholungen der Geschichte; dadurch versäumt ihr alles. Denn die Geschichte wiederholt sich nicht, wenn man sie selbst schöpferisch gestaltet.»
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Die innerste Puppe
In Prag steht mir ein Wiedersehen bevor. Lena - nach mehr als zwanzig Jahren! Ein Abgrund, in den sie das Schicksal gestürzt hat, während ich oben blieb, gegen alle Gerechtigkeit. Mit jedem Schritt, den ich in der vorstädtischen Mietskaserne höher steige - aus den Türen dringt Küchendunst, Kindergeheul, Weibergeschrill - werden meine Füsse schwerer. Auf mein Läuten öffnet eine dickliche Frau in ausgedehntem, zu klein gewordenem Strickkleid unbestimmter Farbe, die nackten Füsse in ausgefransten grünen Pantoffeln. «Grüezi», sage ich unsicher. «Nur herein, Herr Schwyzer.» Und auf tschechisch fährt sie fort. «Ein Kafitschko?» Und während sie das Wasser auf den Gasherd stellt: «Immer noch beim Theater? Aber ich bin keine charmante ‹Lustige Witwe›. Musst dich abfinden mit einem böhmischen Kraut- und Knödelweib.» Ich erkenne nur ihre Augen, bemühe mich, Lenas einstige zarte Sensibilität wiederzufinden, in all der Schwammigkeit. Doch sie ist nicht mollig, sondern aufgedunsen, und als mein Blick auf die Hände fallt, die den Kaffee aufgiessen, vergeht jeder Anflug von Gemütlichkeit. Sie sind verkrümmt und verschwollen wie im letzten Stadium der Arthritis. «Nicht sehr ästhetisch, der noble Herr wollen verzeihen, vier Jahre Straflager, Schweinezucht-Kollektiv, bei minus zwanzig Grad keine Handschuhe. Aber keine Panik. Jetzt bin ich schon lange in der Fabrik. Magazinerin. Zum Fliessband taugen die Flossen nicht mehr.» «Ich höre, man hat die Prozesse wieder aufgerollt.» Sie geht an eine Schublade, sucht ein Papier heraus, reicht es mir. Es ist eine amtliche Verlautbarung. «Auf Empfehlung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Tschechoslowakischen Republik und auf Grund der Feststellung von Verletzungen der Parteigrundsätze und sozialistischen Gesetzmässigkeit in der Zeit des Persönlichkeitskultes haben die Generalprokuratur und der Oberste Gerichtshof eine Revision der politischen Prozesse aus den Jahren 1949-1954 durchgeführt.» 213
Ich überfliege die seitenlange Behandlung der einzelnen Fälle und stosse auf einen rotangestrichenen Absatz. «Zusammenfassend wird festgestellt, dass ein sogenanntes staatsfeindliches Verschwörerzentrum nicht existiert hat. Es wurde künstlich auf Grund der Aussagen der verhafteten Personen konstruiert, von Sicherheitsorganen, welche diese Aussagen mit ungesetzlichen Methoden erzwangen. Unter psychischem und physischem Druck wurden die Angeklagten dazu gebracht, alles zu gestehen, was die Untersuchungsorgane von ihnen verlangten. Die entsprechenden Protokolle waren im voraus abgefasst worden, die Angeschuldigten mussten sie nicht nur unterschreiben, sondern auch ihrem Wortlaut gemäss vor Gericht aussagen.» «Die nachfolgenden Angeschuldigten werden von der Anklage 1.) des Hochverrats 2.) der Spionage 3.) der Sabotage freigesprochen:» Es folgt eine lange Namensliste, beginnend mit Rudolf Slánský, ehemals Generalsekretär der KP„, und schliesslich, unter vielen anderen, Vladimír Grossman. Ich blicke sie nur an, die Frau, die einmal Lena war. «Damit habe ich, was ich wollte, meinst du. Aber ich schrieb euch doch, dass mich noch etwas anderes hier hält.» Sie macht eine Kopfbewegung gegen die dem Eingang gegenüberliegende Türe. «Allein hat man kein Anrecht auf zwei Räume. Er wohnt jetzt bei mir.» Sie geht zur Türe, klopft. «Jirko, der alte Freund deines Vaters ist da.» Die sich öffnende Türe reisst mich vom Stuhl empor. So hat Vládja ausgesehen vor einem Vierteljahrhundert: die gleiche grazile, sehnige Gestalt, das dunkle Haar, in die breite Stirne des bäurischen Schädels fallend, der Ausdruck der Entschlossenheit, Unbedingtheit in den Augen... aber darin brennt noch etwas mehr... Fanatismus. Das sind Zdenkas Augen! Ich nehme mich zusammen, strecke die Hand aus. «Ahoj, Jirko.» Er ergreift sie nicht. «Sie reichen die Hand einem Mörder», und als ich sie nicht zurückziehe, «einem Vatermörder.» Wie lange werden wir noch so dastehen? 214
Endlich sagt Lena gequält: «Du übertreibst immer mehr, steigerst dich hinein. Deine Mutter hat dich als unreifen Jungen dazu missbraucht, den schrecklichen Brief zu schreiben, in ihrem Hass gegen den Vater.» «Und du hasst sie. Meine Mutter hatte ihre Gründe. Ein Mann, der fähig ist, seine Frau zu verraten, sei zu allem fähig. Schon in der Schweiz sei er ein Rechtsabweichler gewesen, befreundet mit einem preussischen Junker, auch mit Ihnen, einem Bourgeois. Euer Taxi nach Prag wurde von Kapitalisten bezahlt, stimmt's? Was lag näher, als ihn für einen Agenten der CIA zu halten?» Jetzt stemmt sich Lena mit ihren verkrüppelten Händen am Tisch hoch. «Ja, das hat sie vor Gericht ausgesagt. Sie hat ihn ermordet!» Lena hält das Revisionsurteil hoch, es flattert vor Jirkas Gesicht. «Hier! Da hast du's, schwarz auf weiss, vom Obersten Gerichtshof. Alles erfunden und erlogen! Genügt dir das nicht?!» Jirka bleibt völlig kalt, das ist das Schreckliche. «Ich will's genau wissen: Wer hat mich zum Mörder gemacht?» Er ist so sachlich, als diskutiere er einen fremden Kriminalfall. «Du weisst es doch», sagt Lena. «In deinen Augen hat mich meine Mutter zum Fanatiker erzogen. Aber wer hat sie dazu gemacht? Alle sitzen sie noch da, die Urheber und Vollstrecker der Todesurteile. Sie trösten sich mit fetten Pensionen oder neuen Pöstchen. Der Henker ist heute Direktor der Staatlichen Begräbnisanstalt.» «Willst du dich rächen? Das macht nichts rückgängig.» «Wenn eine Seuche ausgebrochen ist, muss man den Bazillus finden, der sie verursacht, das ist das eine. Das andere ist das Gegenmittel: es heisst Wahrheit... Ich will wissen, was mein Vater ausgesagt hat, bevor man ihn folterte. In der Verhandlung hat er alles widerrufen, heisst es, den Richtern die Wahrheit ins Gesicht geschrien. Diese seine Wahrheit muss ich erfahren.» «Von wem?» frage ich. «Der Richter ist noch da, der das Todesurteil gefällt hat. Sie haben sich was ausgedacht, damit man nicht zu ihm kann. Er ist im Irrenhaus. Besuche nicht gestattet.» Der Sohn meines Freundes. Er ist mir nahe, wie sein Vater es war. Dieses verzweifelte Suchen nach Wahrheit... noch näher ist er mir, so nahe, dass die Grenzen zwischen uns sich verwischen. Die Schuld, die 215
furchtbare, für die man Urheber sucht, weil man sie allein nicht tragen kann. «Bitte sagen Sie mir den Namen des Richters und die Klinik, wo er interniert ist. Vielleicht finde ich einen Weg.» Alles ist möglich, in dieser Zeit. Meinen Freund, den Schriftsteller, fasziniert, was ich ihm erzähle. Und sein Freund ist der neue Parteisekretär. Der Chefarzt empfängt uns. «Der Patient leidet an dementia praecox, in Verbindung mit einer manisch-depressiven Komponente. Ich will Sie nicht mit Fachsimpelei langweilen. Wichtig ist für Sie, dass er in der manischen Phase sehr zugänglich und überaus redselig ist, aber das kann schnell umschlagen. In der Depression ist er unberechenbar. Ich habe Sie bei ihm angekündigt, ein überraschender Besuch wäre nicht opportun. Wenn Sie gestatten, gehe ich voran.» Der Arzt führt uns durch Korridore, öffnet und schliesst mit seinem Schlüssel Türen, er redet lauter, seine Stimme beginnt sich zu vermischen mit unartikuliertem Lallen, mit schauerlichen Schreien, doch der Chefarzt scheint das nicht mehr zu hören. «Die Arbeitstherapie hat sich beim Patienten bewährt. Im Basteln und Drechseln ist er erstaunlich, trotz seiner Behinderung. (Was für eine Behinderung?) Seine Produkte sind gut verkäuflich, allerdings nur für den Export. (Warum lacht er?) Sie bleiben in der Nähe», sagt er zu einem Pfleger. Dann öffnet er uns eine Tür. Eine kleine Werkstatt mit einer Holzdrehbank, allerlei Werkzeug, Holz, Abfällen, dahinter ein Mann im Schurz, mit flinken Händen; aber was er macht, ist kaum zu erkennen im Halbdunkel. Miserables Licht für so eine Arbeit... Jetzt hält er inne. «Ah, mein Besuch.» Er tastet sich den Werktisch entlang, streckt beide Hände waagrecht aus, geht mit kleinen Schritten auf den unwillkürlich zurückweichenden Jirka zu. «Justitia mit der Binde über den Augen»... ein glucksendes Lachen... «mir muss man sie nicht mehr verbinden.» Jetzt... sehe ich aus der Nähe seine weit geöffneten, ausdruckslosen, wie mit Schimmel überzogenen Augäpfel... er ist blind!! Jirka steht an der Wand, kann nicht weiter zurück. Er lässt es geschehen, dass der Blinde ihn abtastet, erst Arme und Brust, dann Hals, 216
Wangen, Stirne, Haare, sogar die geschlossenen Augen. Später sagt mir Jirka, es sei gewesen wie Schmetterlingsfühler. Dabei ist der Richter ein kräftiger Mann. Jetzt hält er inne, sagt mit fast kindlicher Stimme sie passt gar nicht zu ihm -: «Aber das ist... Vládja... du bist zu mir gekommen!» Wir rühren uns nicht. «Ich hab's mir gedacht, immer gewusst, dich können sie nicht umbringen.» Er lächelt entzückt. «Weisst du noch, weisst du's, wie wir zusammen für die Verhandlung alles auswendig lernten? Du deine Aussagen, ich meine Fragen, du wieder die Antworten. Warst so brav.» Er streichelt ihn. «Und ich so dumm, so furchtbar dumm... Ich hab's geglaubt, dass die Protokolle in Ordnung sind... Ich hab' ja die Untersuchung nicht geführt. Und ihr habt alle gestanden, euch gegenseitig bezichtigt... freiwillig, sagten die Kollegen von der Untersuchung... » Jetzt befühlt der Richter Jirkas Körper, der steht gelähmt. «Kein Anzeichen von Folter, nichts... Anklage und Untersuchung unter strengster Kontrolle des Politbüros. Abhörvorrichtungen! Wehe, wenn etwas nicht gestimmt hätte... Es musste ja stimmen, wenn die Partei es sagt, die Regierung, selbst der Präsident... er war doch dein Freund gewesen, er musste dich besser kennen als ich... » Der Richter tastet sich zurück zur Drehbank. «Aber dann, dann hast du mich enttäuscht, furchtbar.» Der Mann hinter dem Tisch krümmt sich, er scheint einzuschrumpfen. «Alles war doch so gut gegangen, wie wir es geprobt hatten. Warum hast du bei der Verhandlung plötzlich nicht mehr mitgespielt, begannst zu schreien, man habe dich erpresst, gefoltert, und dann, dann sagtest du... » Der Blinde schlägt sich mit der Hand auf den Mund. «Das darf niemand wissen.» Er fällt auf seinen Schemel. «Das Urteil hab' ich trotzdem fällen müssen. Tod. Es war mir vorgeschrieben. Aber ich glaubte nichts mehr, nichts. Ich ging der Sache nach, kam auf Manipulationen, sie wiesen hin auf Folter. Ich verlangte eine unabhängige Untersuchung... Statt dessen haben sie mich verhaftet, Verrat von Staatsgeheimnissen. Ohne Prozess in die Urangruben! Dort bin ich blind geworden, zum Glück»... er beginnt zu kichern... «da konnten sie mich nicht mehr brauchen.» Jetzt endlich rührt sich Jirka. «Was hat der Angeklagte vor Gericht gesagt?»
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Der Alte kratzt sich hinter den Ohren; er hat plötzlich etwas Schlaues. «Du meinst, jetzt dürft' ich's sagen, jetzt, weil man mich für verrückt hält?... Aber du weisst ja selbst, was du damals gesagt hast, Vládjo... Ihr habt geglaubt, ihr spielt Theater, und wenn der Vorhang fällt, bleibt der Kopf oben... aber der Vorhang ist nicht gefallen und die Köpfchen... » Er macht die groteske Gebärde des Halsabschneidens. «Wir alle haben uns geirrt. Nicht auf dem Theater wird Wirklichkeit gespielt, sondern die Wirklichkeit spielt Theater, und die Requisiten sind so echt wie die Mörder.» Jirka tritt auf ihn zu: «Ich bitte Sie um alles, was hat er Ihnen ins Gesicht geschrien?» Der Blinde hält den Finger vor den Mund. «Pst! Hast du's denn vergessen, Vládjo, unser Geheimnis?» Er beginnt auf dem Tisch zu fingern, ergreift einen Gegenstand. «Sie weiss es.» Er drückt Jirka etwas in die Hand. «Sie wird dir's sagen.» Jirka blickt auf den Gegenstand, den ich nicht erkennen kann, schüttelt den Kopf. Dann packt er den Richter verzweifelt an den Schultern. «Ich bin nicht Vládja, ich bin sein Sohn... ich muss die Wahrheit wissen!!» «Nicht Vládja... ?» Der Blinde stösst ihn von sich. «Dann darf ich's nicht sagen.» Er krallt sich an die Bank mit dem Ausdruck des Entsetzens. «Sonst holen sie mich hier heraus, und ich muss wieder Richter sein.» Er beginnt zu schreien: «Gehen Sie weg! Fort! Hilfe!» Der Wärter tritt ein. Er hält uns die Türe auf. Wir gehen. Wir fahren von der Klinik, mit dem Bus zurück, schweigend. Wir gehen durch die Stadt, setzen uns schliesslich auf eine Bank bei den Altstädter Mühlen. Die Räder stehen schon lange still, aber das große Wehr, ein Schutz für die alte Karlsbrücke, braust, sonst hört man nur die Möwen. Jirka hält in der Hand noch immer die Holzpuppe, die ihm der Blinde gegeben hat. Jetzt will er sie ins Wasser werfen. Ich falle ihm in den Arm, nehme sie an mich. Schön ist sie nicht. Geformt wie eine Mumie, die obere Hälfte rundlich, die untere, grössere elliptisch. Es ist eine Matrijoschka, wie sie die Kinder in Russland lieben. Jirka spuckt aus. «Wart», sage ich. «Als Kind hab' ich geglaubt, dass darin ein Geheimnis ist... » 218
Jirka wippt verächtlich mit der Fussspitze. «Wir wurden alle belogen. Einer schiebt's auf den anderen, alles vernebeln sie. Aber mich werden sie nicht los: wer ist der Schuldige?» Ich betrachte die rohe unbemalte Puppe. «Vielleicht Väterchen Stalin. Er hat die große Säuberung befohlen, die Prozesse angeordnet. Auch bei uns... » Die Puppe lässt sich öffnen, eine etwas kleinere kommt zum Vorschein. «Voilà, unser Präsident Gottwald. Er hat damals geweint, sagt man, dass er treue Genossen und Freunde opfern soll. Aber er hat den Befehl weitergegeben... » - wieder eine neue Puppe - « ... an den Generalprokurator. Der war gehorsam, alle gehorchten, Untersuchungsrichter, die Folterer, Richter, der Henker... », jedesmal hole ich eine kleinere Puppe hervor. Zwischen uns auf der Bank liegen lauter geöffnete Puppen. Auf eine sehr kleine legt jetzt Jirka die Hand. «Meine Mutter. Sie hat mich den Brief schreiben lassen, in dem ich Vaters Tod verlangte.» «Auch diese Puppe lässt sich noch öffnen.» Ich ziehe ein winziges Figürchen hervor. «Die da nicht mehr.» Ich gebe sie Jirka. Er sieht mich spöttisch an. «Ich weiss schon lange, worauf Sie hinauswollen: Ich selbst bin die innerste Puppe.» «Jeder von uns ist es.» «Macht das meinen Vater wieder lebendig?!» Er wirft das Püppchen wild übers Geländer. Der Möwenschwarm schrillt auf, rasender Flügelschlag, eine schnappt es. Dann lässt sie es fallen, in die Flut. Mit einem Mal stürzt Jirkas ganze mühsam aufgerichtete Fassade aus Verachtung, Zynismus, Hass ein, sein Kopf schlägt auf die Banklehne. Die Möwen stossen auf uns nieder und kreischen. Sie wollen Futter.
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Unterwegs
Am Morgen des einundzwanzigsten August reisst mich in der Schweiz ein Dröhnen aus dem Schlaf. Es kommt aus dem Radioapparat, Svtluschka hat ihn aufgedreht. Sie nimmt mich in die Arme, hält mich ganz fest. Was wir dröhnen hören, sind die sowjetischen Tanks in den Strassen Prags. Am Abend sehen wir es auf dem Bildschirm. Junge Menschen werfen sich ihnen entgegen mit blossen Händen. Die Menge ist ein Wald geballter Fäuste. Nichts hält sie auf, die Ungeheuer, aus dem roten Stern auf ihren Hökkern zucken Blitze. Kommt alles zurück, will die Vergangenheit uns verschlingen? Einmal stand ich selbst am Wenzelsplatz. Unsere Welt stürzte zusammen unter stählernen Monstern, sie spien das Feuer aus Hakenkreuzen. Das Vergangene wiederholt sich nicht, hat mein Freund gesagt. Jetzt stehe ich auf dem Münsterplatz in Zürich. Mit Fackeln sind wir durch die Strassen gezogen. Schweizer mit geflüchteten Tschechen und Slowaken. Morgen, übermorgen werden andere flüchten. Es hört nie auf. Die Fackeln unter mir flackern im Rauch. Die Glocken schweigen. Man hat mich gebeten, etwas zu sagen. Schwer, sehr schwer fallt mir das - Worte, blosse Worte - was vermögen sie? Aber Hunderte warten darauf. «Am Ort unserer Geburt können wir fremd werden, und dort, wo wir nie zuvor waren, kann man zu sich finden... Unser wahres Zuhause ist die Querfront der Menschlichkeit. Sie erstreckt sich durch alle Länder, Völker und Rassen.» Mit Svtluschka tauchen wir unter in der auseinanderströmenden Menge. Da sagt hinter mir eine Stimme - ich erkenne sie -: «Einmal kehren wir zurück!» «Nicht als die, die fortgegangen sind, Jirko, und nicht in das Kartenhaus unserer Wünsche.» «Ich will nicht ewig im Kreis gehen, während Gewalt und Verzweiflung auf unseren Köpfen tanzen!» Ich frage nach Lena. 220
«Ein Hund bleibt, wo sein Herr verscharrt ist», hat sie gesagt. Lebt Vládja fort in seinem Sohn, frage ich mich, der ewige Aufrührer, der nie aufgibt? Svétluschka nimmt Jirka ganz selbstverständlich an der Hand, wir gehen zu dritt durch die alten schmalen Gassen. «Vielleicht ist das Suchen unser Auftrag», sage ich leise. «Sind unsere Irrtümer der Umweg, auf dem wir zur Erkenntnis gelangen.» Jirka schüttelt heftig den Kopf, sein Haarschopf überschwemmt die Stirne. «Das alles ist sinnlos, wenn man das Ziel nicht erreicht.» «Man ist nie am Ziel. Unterwegs sein - das ist Leben.» Die Gasse steigt stark, geht in eine Treppe über. Wir erreichen den grossen stillen Platz hoch über der Limmat. Die Kronen der alten Bäume verschlingen sich so dicht, dass wir keinen Stern sehen. Svtluschka hat Jirka nicht losgelassen. «Auf dem Wenzelsplatz, sagt man, haben sie die Linden umgehauen. Hier stehen sie fest.» «Es ist nicht meine Stadt, es sind nicht unsere Linden.» Ich ahne Jirka nur im Dunkel, aber seine Unbeirrbarkeit, sein Trotz sind mir schmerzlich nah. «Ich habe gelernt, mich zu bescheiden. Das ist die wahre Freiheit, niemand kann sie mir nehmen.» Svtluschka, die spontane, umarmt Jirka. «Du kommst jetzt zu uns, gelt?» Einen Augenblick steht er still. «Ich bin jung, ich will mich nicht bescheiden.» Er löst sich und wendet sich ins Dunkel. Seine Schritte verhallen unten. Schweigend blicken wir hinab auf den Fluss, auf seinem Spiegel zittern die Lichter. Sie ziehen, die Wasser, sie ziehen - ins Meer, in dem alles zusammenströmt, auch Limmat und Moldau.
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Traum, Dichtung, Wahrheit
Post scriptum Auf einer der vorhergehenden Seiten war zu lesen: nur unser dem Augenblick verhaftetes Bewusstsein zerlege das Leben in ein Nacheinander, Traum und Dichtung sammeln es wieder in ein Ganzes. Auch in diesem Buch haben Träume mehr als episodische Bedeutung. Sind sie ein Widerschein, eine ahnungsvolle Vorausnahme des Seins, oder ist umgekehrt unser Sein ein Hauch göttlichen Träumens das Geheimnis gibt sich nie ganz preis. Wie der Traum überschreitet Dichtung die Grenzen von Zeit, Raum, Individuum, sie umfasst die Totalität des Seins. Ihr geht es um das Wesen des Menschen, nicht um Namen, sie bedient sich ihrer allenfalls als eines stellvertretenden Signums. Mag sein, dass wir hier jemanden «erkennen», dass ein anderer, Bekannter, uns fremd erscheint. Traum und Dichtung vermögen ein Schicksal zu vervielfachen oder mehrere Schicksale in eine Gestalt zu vereinen, um der umfassenderen Wahrheit willen. Alles hier Berichtete ist geschehen, unbewusst wird es empfangen, ausgetragen und neugeboren. Der Träumende wird zum Dichter. Jegliches Geschöpf, das durch Dichtung zum Leben erweckt wird sofern es echt ist und wahr - erwacht zu eigenem Willen, gehorcht fortan eigenem Gesetz. Mir war nur anvertraut, es aufzuzeichnen.
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