Das verlorene Ich von Timothy Stahl / Adrian Doyle
Wer bin ich? Und wer ist dieser Mann neben mir? Wie konnte ich nur ...
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Das verlorene Ich von Timothy Stahl / Adrian Doyle
Wer bin ich? Und wer ist dieser Mann neben mir? Wie konnte ich nur zulassen, daß er mich …? Weil du es wolltest, scheinheilige Närrin! Du warst ganz begierig darauf, ihn in dir zu spüren, um die Welt und das, was sie dir antut, wenigstens für ein paar armselige Minuten zu vergessen! Vergessen? Ich tue nichts anderes als vergessen! widersprach sie der Stimme, die aus ihr selbst kam. Die Stimme schwieg. Bevor ich hierher gekommen bin, dachte die makellos schöne Frau, wußte ich nicht viel mehr als meinen Namen – und sogar dem habe ich mißtraut. Doch nun … Mit einer katzenhaften Bewegung erhob sich Lilith Eden von dem Teppich, auf dem sie und Hector Landers sich geliebt hatten, als gäbe es kein Morgen mehr.
Was bisher geschah Lilith, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wurde von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sandte Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infizierte und von ihnen auf die Vampire und Dienerkreaturen übersprang. Sie starben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen konnten. Lilith erhielt den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten. Als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschob, wurde Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst war sich der Knabe, der rasch heranwuchs, seiner Identität nicht bewußt, doch schließlich erkannte er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wurde. Letztlich scheiterte das Vorhaben – nicht zuletzt durch Lilith Eden, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle gerissen wurde. Die Dimension, die wir Menschen »Hölle« nennen, entstand durch den Fall des Engels Luzifer. Die Engel wurden von Gott in einer Sphäre neben der Erde zurückgelassen. Sie sollten über die Menschen wachen, doch Luzifer sah sich wegen der menschlichen Grausamkeit dazu nicht imstande und reagierte mit Zorn und Herrschsucht. Als er von den anderen Engeln in eine weitere, abgeschlossene Dimension (die Hölle) verbannt werden sollte, gelang es ihm, auch deren Sphäre zu versiegeln. Allein an der Stelle des Übergangs in die Verbannung blieb ein Riß zurück, der von beiden Sphären in die Menschenwelt führte. Der Erzengel Michael, der auf Erden unter dem Namen Salvat auftrat, übernahm es, dieses Tor zu sichern. Trotzdem gelang Luzifer der Weg zu den Menschen, indem er als Inkarnationen auf der Erde wiedergeboren wurde. Diese Inkarnatio-
nen – Gabriel ist eine davon – hatten jedoch nur wenig Macht und dienten dazu, das Böse auf der Welt zu schüren, mit dem Endziel, das Tor wieder aufzustoßen. Bei ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle wurden Liliths und Landrus Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat in einer verzweifelten Aktion durch die Entfesselung magischer Energien den Klosterberg sprengte und das Tor somit versiegelte, konnten die beiden in ein nahes Dorf entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Auch Gabriel überstand die Explosion. Er zog sich mit Hidden Moon, einem indianischen Vampir, der einige Zeit Liliths Begleiter war, zurück. Hidden Moon konnte durch den Kontakt mit seinem Totemtier – einem Adler – das Gute in sich bewahren. Als Lilith den Adler tötete, ging diese Fähigkeit auf sie über. Ohne Lilith verfiel Hidden Moon dem Bösen. Nun ist es nur eine Frage der Zeit, bis entweder Lilith oder Landru von ihrem wahren Wesen erfahren. Überleben wird wahrscheinlich der, dem zuerst die Augen geöffnet werden …
Nachdem sie ein paar Schritte gemacht hatte, straffte sich unversehens ihre Haut, gerade so, als würde sie sich fröstelnd zusammenziehen. Aber der Schauder allein war es nicht, der dieses Gefühl verursachte. Ein gespenstisches Ding steckte dahinter, das jetzt beinahe jeden Quadratzoll von Liliths Körper zurückeroberte und sich wie eine riesige lackschwarze Amöbe um ihn schmiegte! Lilith hatte dieses Pseudotextil, das jedes Kleidungsstück zu imitieren vermochte, von einem Mönch namens Salvat ausgehändigt bekommen, angeblich weil es ihr auch schon gehört hatte, als man sie innerhalb der Klostermauern des Monte Cargano gefunden hatte. Um Liliths Lust nicht im Wege zu stehen, war es vorhin gewichen, ohne sich völlig von ihr zurückzuziehen. Irgendwo hatte es auch während des Liebesspiels auf Liliths Haut ausgeharrt. Lilith hatte versucht, sich des magischen Kleids zu entledigen, es ganz abzustreifen und irgendwo abzulegen, wenigstens zeitweilig … … aber der damit einhergehende Schmerz, dessen Verursacher nur dieses Ding sein konnte, war von Mal zu Mal häßlicher geworden – als würden sich tausend winzige, mit Widerhaken versehene Klauen in ihr Fleisch bohren –, und seit einer Weile versuchte sie sich mit dem unheimlichen Kleid, oder was immer es war, zu arrangieren. Sie ballte die Hände zu Fäusten, als sie vor dem Tisch neben dem offenen Tresor stehen blieb. Wie eine dunkle Welle kehrte nicht nur das hautenge Kleid, sondern auch das Bewußtsein zurück, daß dieses Ding wahrscheinlich deshalb so anhänglich war, weil sie selbst kein normaler Mensch war. Seit sie ohne jede Erinnerung an ihr früheres Ich im Kloster der seltsamen Mönche zu sich gekommen war – lag das wirklich erst ein paar Tage zurück? –, mehrten sich die Anzeichen, daß etwas mit ihr nicht stimmte. So verleugnete sie zum Beispiel jeder Spiegel, vor den sie bisher getreten war, gab sie nur als verschwommenen Schemen wieder! So etwas verbindet, dachte sie sarkastisch und blickte zu ihrem
Liebhaber, der dort lag, von wo sie gerade aufgestanden war: ein Mann Ende vierzig oder Anfang fünfzig, sehnig, mit keinem Gramm Fett zuviel auf den Rippen und einer auffälligen Kreuznarbe auf der linken Wange … Die Narbe erinnerte Lilith an das, was sie an sich selbst entdeckt hatte. Sie hob eine Hand und spreizte die Finger. Ein ausgefallenes Tattoo zierte die Innenfläche ihrer Linken … obwohl »Tattoo« der falsche Begriff dafür zu sein schien, denn die stilisierte Fledermaus war unfühlbar. Als hätte eine Methode, an die sich Lilith so wenig erinnerte wie an alles andere, die Umrisse dauerhaft darauf projiziert. Es handelte sich auch um keine Brandmarkung oder ein Hautmal, das zufällig einer Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen ähnelte. Dieses absonderliche Symbol war gewollt, nur warum es da und ob es mit einem bestimmten Zweck verknüpft war, hatte Lilith noch nicht herausfinden können. Sie ließ die Hand wieder sinken und bekam eines der Bilder zu fassen, die über die Tischplatte verstreut lagen. Schwarzweißfotos, die offenbar – wie alles hier – Hector Landers gehörten. Es waren Aufnahmen von einem alten Haus mit seltsamer Ausstrahlung, aber sie hätten Lilith kaum in diesem Maße interessiert, wenn auf der Rückseite nicht auch einige Bemerkungen gestanden hätten, die sie regelrecht elektrisiert hatten. Und wieder elektrisierten, kaum daß sie das erste Bild umdrehte und las: Haus der Hure! Eine Frau, der Lilith in Rom begegnet war, hatte Lilith als Kind der Hure bezeichnet und damit eine andere Frau, mit der Lilith nicht die leiseste Erinnerung verband, beleidigt. »Mutter …« Sie merkte kaum, daß das Wort ihre Lippen verließ, sacht hin-
austastete in die Trostlosigkeit dieses Raumes, der auch in Landers selbst keine Vertrautheit weckte, und das, obwohl die Indizien, daß er hier einmal ein und aus gegangen war, keinen Raum für Zweifel ließen. In dem Tresor hatten Kreditkarten, Pässe und andere Dokumente auf seinen Namen gelegen. Und diese Bilder. Bilder aus der Fremde, weit, weit entfernt. Lilith ließ das eine Bild fallen und nahm das nächste in die Hand. Es wirkte alt, sogar ein wenig vergilbt, aber das Motiv wiederholte sich auf jedem Foto in wechselnder Perspektive: ein Haus. Ein sehr charismatisches, beinahe ängstigendes zweistöckiges Gebäude, umgeben von einem parkähnlichen Gelände. Es hätte überall auf der Welt stehen können. Aber es stand … … in Australien! Auf der anderen Seite des Globus! Sydney, 333, Paddington Street, war in verschnörkelter Handschrift auf der Rückseite dieses Bildes zu lesen. Nicht einmal, sondern zweimal, und wieviel Zeit zwischen den Niederschriften lag, hätte höchstens ein fachmännisches Gutachten feststellen können. Lilith hatte Hector Landers gebeten, die Adresse noch einmal unter die bestehende Zeile zu schreiben, um sicherzustellen, daß es seine Handschrift war. Sie war es zweifellos, aber wann und warum Landers das Foto so unterzeichnet hatte, wußte er nicht. Denn auch er war ein unbeschriebenes Blatt. Wie sie. Und ebensowenig ein Allerweltstyp. Seit sie zusammen waren, hatte keiner von ihnen das Geringste an Nahrung zu sich genommen – nun das stimmte nicht ganz. Sie hatten gegessen, die Speisen aber nie so lange bei sich behalten können, um sie auch zu verdauen. Aber sie vermißten das Hungergefühl nicht nur; schon der Gedanke zu essen drehte ihnen den Magen um. Und der Durst, den sie
hatten … nun, er ließ sich mit nichts, was sie tranken, wirklich stillen. Sie hatten alles Mögliche probiert, aber der einzige Saft, von dem überhaupt eine Faszination ausging – aber was für eine morbide, beinahe schon perverse –, war … Blut! »Bereust du es?« Die Stimme ließ Lilith erst versteinern, dann sich langsam umdrehen. Landers hatte sich halb aufgerichtet und auf beide Ellbogen gestützt. Im Gegensatz zu ihrem Körper, über den sich wuchernd das Ding gebreitet hatte, war er noch immer nackt. Die Pose ihres Schicksalsgefährten erinnerte Lilith flüchtig an eine altgriechische Statue. Tatsächlich war er beinahe ebenso bleich, die Haut alabasterfarben. Bräune hätte ihm vermutlich viel von seiner Ausstrahlung genommen. Der blasse Teint hatte auch nicht das Geringste mit Schwäche zu tun. Wie vital Landers war, hatte er Lilith gerade bewiesen. Hector Landers … Sie wünschte, sie hätte mehr über die Umstände gewußt, die sie schon einmal ein Paar hatten werden lassen – irgendwann in vergangenen Zeiten. Daß sie es gewesen waren, darauf deutete inzwischen einiges hin. Auch diese Bilder und Notierungen, die sie in Landers’ römischem Domizil gefunden hatten. Neben der Bezeichnung Haus der Hure und der Adresse in Australien tauchten in den handschriftlichen Vermerken auch Namen wie Lilith, Creanna und Sean Lancaster auf. Von ihrem eigenen Namen abgesehen, konnte Lilith mit keinem der Begriffe etwas anfangen. Dennoch keimte, seit sie diesen Fund gemacht hatten, die Hoffnung in ihr, eine Spur gefunden zu haben, die ihr Aufschluß über ihre Identität geben konnte. War das Haus auf den Bildern ihr Zuhause? Ihr eigenes oder das ihrer Eltern? Waren dann dieser Sean Lancaster ihr Vater und Creanna ihre Mutter? Oder standen die beiden in
völlig anderer Verbindung zu ihr? Lilith wußte, daß es nur eine einzige Möglichkeit gab, es herauszufinden: Sie mußte zu dieser Adresse reisen und mit denen, die dort lebten, reden! Vielleicht bedurfte es nur dieses Anstoßes, um die verschüttete Erinnerung zurückkehren zu lassen … »Bereuen? Wie kommst du darauf?« leugnete sie, daß sie sich tatsächlich in irgendeiner nicht näher zu benennenden Weise beschmutzt fühlte. Was war los mit ihr? Sie hatte es gewollt – er hatte nichts getan, um sie zu überreden, und trotzdem … »Ich dachte nur, weil du es nicht neben mir aushältst.« Lilith erzitterte. Eine neue, vielleicht noch kältere, noch dunklere Woge rollte auf sie zu. Um sie zu ertränken, der Qual ein Ende zu bereiten. Jener Qual, die im Kloster begonnen hatte – in dem Moment, als sie die Augen aufgeschlagen und … diesen Abgrund in sich erblickt hatte. Landers hatte ein Wort gewählt, das ihr Dilemma auf den Punkt traf: »aushältst«. Genau das war es, was sie von ihm weg getrieben hatte: Sie hatte ihn nicht mehr ausgehalten, seine Nähe keine Sekunde länger ertragen, nachdem sie sich offenbar zu nahe gekommen waren! Faszination und Abscheu – Lilith verband plötzlich beides mit der Person Hector Landers, und hatte dabei das verwirrende Gefühl, nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn sein zu können … »Unsinn!« Sie kehrte ihm wieder den Rücken zu, mied seinen Blick. »Es scheint, als würden sich unsere Wege trennen«, klangen seine Worte in ihr nach. Auch Landers hatte in den Unterlagen gewühlt und war dabei offenbar auf eine Spur gestoßen, die ihm persönlich wichtiger erschien als die Fährte, die nach Sydney führte. Lilith war sicher, sie hätte ihn nur danach zu fragen brauchen,
worauf er aufmerksam geworden war, und er hätte es ihr gesagt. Aber wollte sie es denn wissen? War sie nicht selbst egoistisch und trachtete vorrangig danach, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen? Er trat hinter sie. Sein Glied preßte sich gegen ihre Pobacken, der Atem, der in ihren Nacken blies, war weder heiß noch kalt, und der Geruch erinnerte an ein Tier. Sein Hände legten sich um ihre Arme. »Du fühlst dich unwohl, ich spüre es. Sag mir die Wahrheit: Was ist mir dir? Hat es mit mir zu tun? Ging es dir zu schnell, daß wir …?« Sie wollte nichts mehr davon hören. Vorbei. Hauptsache, vorbei. »Nein. Was soll das? Es war … schön. Willst du es unbedingt zerreden?« Er ließ sie los und trat statt dessen neben sie. Das Bild, das sie immer noch festhielt, nahm er ihr aus den Fingern. »Wenn du willst, begleite ich dich dorthin.« Sie wollte es nicht! (Warum nicht? Verlierst du jetzt langsam auch den Verstand?) Sie haßte die kleine böse Stimme, die sie selbst war. Sie haßte sie, weil sie sich auf sie verlassen konnte … Kopfschüttelnd sagte sie: »Ich glaube nicht, daß das gut wäre.« »Warum nicht?« »Weil du dasselbe Recht hast, dich zu finden, wie umgekehrt ich. Folge deiner Spur, und ich folge der meinen.« »Aber wir bleiben in Kontakt.« »Wenn du das willst.« »Du nicht?« »Doch.« Wollte sie? »Die Reise nach Australien und der Aufenthalt in Sydney werden einiges an Geld verschlingen«, sagte er. »Ich hoffe, du läßt mich we-
nigstens das für dich regeln?« »Wenn deine Kreditkarten noch gültig sind …« Er zuckte die Schultern. »Das läßt sich herausfinden, oder?« Sie schwieg und versuchte in seinen Augen zu lesen. Fast belauerten sie einander. Freunde, dachte Lilith, sollten das nicht tun. Dachte es und war unsicherer denn je, was sie von dem Mann, der zum gleichen Zeitpunkt wie sie seine Erinnerung verloren hatte, halten sollte …
* Zwei Tage später, Frankreich Es war in einer Nacht wie dieser geschehen. Damals. Ein nicht enden wollendes Gewitter entlud seit dem Abend seine Gewalt über Paris, als sollte die Stadt in dieser Nacht vergehen. Sturm trieb Regen in die Straßenschluchten und Gassen, so dicht und alles Licht schluckend, daß sie schwarz wie mit kochendem Teer ausgegossen dalagen. Nicht länger jedoch als für eine halbe Minute. Spätestens dann zerriß der nächste Blitz das pechschwarze Gewölk und tauchte Paris in überirdische Helligkeit, strahlender als die eines jeden Tages, und doch auch unwirklich wie in einem Traum. »Ein Alptraum«, flüsterte Giordan Vautier gegen die vom Boden bis zur Decke reichende Panoramascheibe. »Mein Alptraum, der in Nächten wie dieser immer wiederkehrt.« Mochte Paris auch finster wie etwas zu Tode Verbranntes tief unter ihm liegen, sein eigenes Spiegelbild, dem er gegenüberstand, schien Giordan Vautier noch düsterer. Fast wollte er nicht glauben, daß das Glas wirklich ihn zeigte. Er konnte diesem Mann nicht gleichsehen, schien er ihm doch wie ein Dämon.
Vautier lächelte, bitter und böse in einem. Vielleicht ließ die Spiegelung ja jenen Dämon zutage treten, der in ihm hauste, seit Jahren schon. Und der in Nächten wie dieser erwachte, um ihn zu quälen – indem er doch nichts anderes tat, als ihn zu erinnern. An jene andere, jahrealte Nacht. Die in seinen Gedanken so jung schien, als wäre sie die gestrige gewesen. Giordan Vautiers wirkliches Gesicht, jenes also, das andere sahen, war schlicht das eines in die Jahre gekommenen Mannes. Keines alten Mannes, und schon gar nicht das eines gebrechlichen. O nein, wenn er es wollte, dann lagen ihm Frauen, so jung, daß sie leicht seine Töchter oder gar Enkelinnen sein könnten, noch immer zu Füßen. Und dazu brauchten sie nicht einmal zu wissen, wer und was er tatsächlich war. Wieder lächelte Vautier freudlos. Er hatte so vieles erreicht im Leben. Reichtümer gesammelt. Wenn das gleißende Licht eines Blitzes Nacht und Sturm vertrieb, als hätte es beides nie gegeben, dann reichte Giordan Vautiers Blick von La Défense, dem modern-architektonischen Auswuchs im Westen der Stadt, bis tief hinein ins Herz von Paris: über den Are de Triomphe, entlang der Champs-Élysées bis hin zum Louvre. Und einiges von dem, was er auf dieser Strecke sah, nannte er sein eigen. Wie auch den Boden, auf dem er stand – sowie die mehr als dreißig darunterliegenden Etagen des Büroturmes aus Glas, Stahl und Beton, in dem Unternehmen aus aller Welt ansässig waren. Und viele von ihnen waren ihm in einer Weise verbunden, die sich im schlichten Mietverhältnis lange nicht erschöpfte. Giordan Vautier durfte sich vielleicht zu den wohlhabendsten Männern seines Landes zählen. Ganz sicher aber zu den einflußreichsten dieser Stadt. Wenn er von Paris als »seiner Stadt« sprach, dann ging diese Bezeichnung weit über bloße Heimatliebe hinaus. Er besaß alles, was er wollte. Und doch hatte er das Wertvollste verloren.
In einer Nacht wie dieser. Donner ließ Paris erzittern, daß Giordan Vautier meinte, der Boden unter ihm würde wanken. Aber der Eindruck mochte auch von seinen Erinnerungen herrühren, die nach all den Jahren noch erschütternd waren. Nächte wie diese waren Giordan Vautier zuwider. Seit damals. Aber er hoffte, daß sich irgendwann in einer solchen Nacht sein sehnlichster Wunsch erfüllen würde. Denn eine Nacht wie diese war zum Sterben geschaffen. Als grandiose Kulisse für den Tod eines Mannes, den er einmal für einen Freund gehalten hatte und den er heute haßte wie nichts und niemanden sonst auf dieser Welt! Ausgenommen vielleicht Nächte wie diese.
* Das Gewitter war mit Hector Landers nach Paris gekommen, als hinge es ihm an wie ein monströser Schatten. Ein Schatten, der seinen eigenen ersetzte. Denn tatsächlich warf er keinen, als ginge alles Licht durch ihn hindurch. Ganz so, als gäbe es Hector Landers nicht. Und bislang war es kaum anders. Hector Landers war nur ein Name. Um herauszufinden, ob es auch wirklich der seine war, deshalb war der Mann nach Paris gekommen. Und auch um zu erfahren, welche Art von Leben dieser Hector Landers führte – oder geführt hatte. Für den Moment genügte ihm die Wahrscheinlichkeit, daß er selbst Hector Landers war. Weil es sich dabei offensichtlich um einen überaus betuchten Mann handelte. In Landers’ römischem Wohn- und Firmensitz hatte er Kreditkarten gefunden, die er seither nutzte – und die ihm den Zugriff auf ein Vermögen erlaubten, das beträchtlich zu sein schien. Zumindest hatte es bislang keinerlei Probleme in dieser Hinsicht gegeben.
In Rom hatte man ihn ebenfalls als Hector Landers identifiziert; wenigstens hatte die Überprüfung seiner Fingerabdrücke ergeben, daß er der Mann dieses Namens sein mußte. Damit hatte die Suche nach seiner Vergangenheit sehr viel eher zu einem ersten Ergebnis geführt, als er es zu hoffen gewagt hatte. Denn als er in jenem Kloster nördlich von Rom erwacht war, war er nackt in jeglicher Hinsicht gewesen: physisch wie auch psychisch. Sein Wissen um die Welt an sich war zwar ungetrübt gewesen, an sein eigenes Leben jedoch, daran, wer er eigentlich war, hatte er sich nicht im mindesten erinnern können! Als hätte er ein Leben zuvor nie geführt.* Ein Dilemma, das er geteilt hatte und noch teilte. Das gleiche Schicksal nämlich war auch einer jungen, ausgesprochen ansehnlichen Frau widerfahren. Ihm gegenüber hatte sie jedoch den Vorteil besessen, daß man ihr noch vor der Zerstörung des mysteriösen Klosters ihren Namen genannt hatte: Lilith Eden. Die Spur nach Sydney, auf die sie in Landers’ römischem Domizil gestoßen waren, hatte zumindest ihren Vornamen bestätigt, und so trennten sich, nach einer leidenschaftlichen Nacht, ihrer beider Wege: Während Lilith ihrer eigenen Fährte nach Australien gefolgt war, hatte Hector Landers sich gen Paris aufgemacht. Die Spur, die er gefunden hatte, führte in die Hauptstadt Frankreichs. Ob es tatsächlich eine in sein eigenes Leben war, würde er herausfinden müssen. Denn es war nicht sehr viel mehr als der Name und die Anschrift eines Mannes, was er gefunden hatte. Beides hatte auf einer Kreditkarte gestanden, die wiederum in einer Brieftasche im Wandsafe gesteckt hatte. Zusammen mit weiteren persönlichen Dingen – einem Ring, einer gravierten goldenen Uhr und ähnlichen Sachen – und verpackt in einem Kunststoffbeutel. Lilith hatte er nichts von seinem Fund erzählt. Er wußte nicht einmal recht, weshalb nicht. Womöglich war ihre Bindung viel weniger *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
eng, als sie bislang angenommen hatten. Vielleicht hatten sie sich nur aneinander gebunden gefühlt, weil ihr Schicksal sie verband … Die erste Nacht in Paris hatte Hector Landers im Abbatial SaintGermain, einem Hotel nahe der Türme Notre-Dames, zugebracht – – schlaflos! Als hätte etwas im Schatten Notre-Dames ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Am Morgen hatte er sein Quartier hier aufgegeben und war umgezogen ins Plaza Athénée in der Avenue Montaigne. Der Zimmerservice hatte ihm unaufgefordert Frühstück in der Suite serviert, das Hector Landers unangetastet ließ. Noch immer schien er keinen Hunger zu kennen. Und den eigenartigen Durst, den er seit Beginn seines erinnerungslosen Daseins immer stärker verspürte, vermochte nichts von dem zu löschen, was vor ihm stand: weder Kaffee noch Tee, nicht frisch gepreßte Säfte noch Mineralwasser oder Milch. Er entsann sich der Ereignisse in Rom. Dort hatte er geglaubt, ohne es konkretisieren zu können, eine Spur dessen gefunden zu haben, was ihm den Durst stillen könnte. Über der weiteren Entwicklung der Dinge jedoch – des Unfalls, in den Lilith und er verwickelt worden waren – hatte diese Ahnung ihn verlassen. Und so war dieses Rätsel nur ein weiterer Punkt auf der Liste von Fragen, auf die er in der Vergangenheit Hector Landers’ Antworten zu finden hoffte. Er zwang sich, diesen Überlegungen nicht länger zu folgen. Denn sie führten ihn nur zu einem Punkt, vor dem ihm graute. Denn alles, was er bislang wußte und an sich selbst hatte beobachten müssen, verriet ihm eines mit quälender Deutlichkeit: Er schien alles andere denn ein normaler Mensch zu sein! Eher schon das, was die Menschen einen Freak nannten! Weder warf sein Körper einen Schatten, noch zeigte er ein Spiegelbild; er war nicht darauf angewiesen, zu essen, und noch nicht einmal Schlaf schien dieser Körper wirklich nötig zu haben. Und dann war da noch dieser ganz besondere Durst, zu dem Hec-
tor Landers wie ohne bewußtes Zutun der Begriff mörderisch einfiel … Schließlich machte er sich auf zu tun, weswegen er nach Paris gekommen war. Vom Kopf bis Fuß in Armani gekleidet – selbst der Zopfhalter, der sein dunkles Haar im Nacken zusammenfaßte, war vom italienischen Meister designed –, verließ Landers das Hotel und nannte einem Taxifahrer die Adresse, die ihm die Spur nach Paris gewiesen hatte. Ein Name hatte noch dabeigestanden: Jerome Vautier. Hector Landers hoffte, von ihm ein paar Antworten zu erhalten. Vielleicht war er ja ein alter Freund …
* Einen Moment lang war Hector Landers versucht, dem Taxifahrer einen Wink zu geben, damit er weiterfuhr. Doch er tat es nicht, und so stoppte der Wagen. Vor einem Haus, das Landers an ein Mausoleum erinnerte. In einer Straße, die der Tod unsichtbar erobert zu haben schien. Dabei waren die Bürgersteige links und rechts der gepflasterten Fahrbahn keineswegs menschenleer. Aber die wenigen Männer und Frauen, die Hector Landers dort sah, schienen allesamt älteren Jahrgangs – doch auf schwer zu erklärende Weise schienen sie es eben nur zu sein. Sie wirkten nicht wirklich alt, sondern eher verbraucht. Müde und blaß tappten sie dahin, und einzelne von ihnen schienen selbst dazu kaum noch genügend Kraft zu haben. Das Haus, dessen Adresse Landers dem Fahrer genannt hatte, unterschied sich durch seine Größe und den weitläufigen Garten von den anderen entlang der Straße. Ansonsten wirkte es ähnlich trist wie sie. Seit Jahren schien keiner der Eigentümer und Anwohner mehr sonderlichen Wert auf ein gepflegtes Aussehen der Gebäude
zu legen. Die Fassaden waren grau vom Schmutz, und nur vereinzelt zeigten sich noch farbige Flecke im Putz wie Pinseltupfer eines Malers. Der Taxifahrer, ein bislang schweigsamer Bursche, fragte: »Sind Sie sicher, daß Sie hier aussteigen wollen?« Dabei wandte er sich nach Landers um und warf einen bezeichnenden Blick auf dessen Kleidung. Daß er seinen Fahrgast im Spiegel nicht zu erkennen vermochte, schien ihn nicht zu irritieren. Nicht mehr jedenfalls, seit Landers eine dahingehende Bemerkung gemacht hatte, daß er sich darüber nicht wundern sollte. Auch diese besondere Überzeugungskraft, die Hector Landers nicht zum ersten Mal erprobte, war ein Punkt auf jener imaginären Liste, deren Länge ihn immer mehr den Normalsterblichen entrückte. Kein beruhigendes Gefühl, ganz und gar nicht. »Ja, sicher«, erwiderte er endlich und sich sichtlich von dem Anblick des alten Hauses losreißend. Er wußte nicht, was er erwartet hatte unter der Adresse vorzufinden. Aber dieses Gebäude schien ihm nicht einmal bewohnt, der einstmals sicher recht prachtvolle Garten machte einen verwahrlosten Eindruck … Wie sollte er hier Antworten auf die Fragen nach seiner Vergangenheit finden? Wer sollte sie ihm geben? Landers beglich den Fahrpreis und stieg aus. Das Taxi war längst um die nächste Ecke verschwunden, als er noch immer vor dem schmiedeeisernen und fast doppelt mannshohen Gittertor stand. Dahinter führte in leichtem Schwung ein unkrautüberwucherter Kiesweg zum Haus hinauf. Eine ganze Weile beobachtete Hector Landers das doppelstöckige Gebäude mit den zahlreichen Giebeln und bröckeligen Verzierungen. Nichts regte sich dort. Erst als er sich abwandte, um die Straße hinabzusehen, weil er einen der Passanten nach diesem Haus befragen wollte, bewegte sich hinter einem der staubblinden Fenster etwas.
Oder war es nur eine Täuschung gewesen, hervorgerufen durch die eigene Bewegung? Eine weitere halbe Minute ließ er verstreichen, in der sich nichts rührte. Dann suchte er an den Mauersäulen links und rechts des Tores nach einem Namensschild und einer Klingel, fand aber weder das eine noch das andere. Schließlich drückte er gegen das Tor – und ein Flügel schwang, knarrend und quietschend, nach innen. Betont langsam schritt Hector Landers die sanft ansteigende Zufahrt hinauf. Dabei sah er sich immer wieder nach allen Seiten um, ob er nicht irgend jemanden entdeckte – oder irgend etwas, das an seiner verlorenen Erinnerung rührte. Nichts. Er fühlte sich an diesem Ort so fremd wie an jedem anderen, den er seit seinem Erwachen aufgesucht hatte. Kein noch so geringes Detail kam ihm auch nur vage vertraut vor. Hätte er nicht gewußt, daß es anders war, so würde er behauptet haben, nie zuvor hier gewesen zu sein. Drei Schritte vor der ersten Stufe der Treppe, die zum Eingangsportal hinaufführte, verhielt Landers und hob den Blick. Riesig wuchs die Fassade, deren Putz an vielen Stellen nur noch vom Efeu gehalten wurde, vor ihm empor. Die Fenster starrten blinden Augen gleich auf ihn nieder, als wollten sie ihn mit ihrer düsteren Ausstrahlung vertreiben – keinesfalls jedoch erkennen oder gar willkommen heißen. Seufzend stieg Landers die Stufen hinauf. Auch hier war kein Namensschild zu entdecken, zumindest aber fand er einen grünspanbedeckten Klingelknopf und drückte ihn. Hinter der wuchtigen Tür klang Läuten auf, laut und dumpf wie von Kirchenglocken. Landers erschauerte. Das Läuten kam ihm so hallend vor, als wären die Räume des Hauses allesamt leer. Schließlich verebbten die Echos doch, und wieder geschah eine
Weile lang nichts. Landers wollte gerade ein weiteres Mal läuten, als er innehielt. Schritte! Langsam und müde schlurfend, aber lauter werdend. Hinter der Tür verstummten sie schließlich, und tatsächlich wurde ihm endlich aufgetan. Von einer Mumie! Im allerersten Moment fürchtete Hector Landers, die dürre, lederhäutige Gestalt würde ihm entgegenkippen. Schwankend wie ein verkrüppeltes Bäumchen im Wind stand das Männlein vor ihm. Die Zeit, da ihm seine dunkle Livree gepaßt hatte, mußte lange zurückliegen. Jetzt umschlotterte sie seinen mageren Leib. Die Augen waren vom trüben Glanz alter Münzen. Wie von einem Blinden fühlte Landers sich angestarrt. »Sie wünschen?« fragte der Hausdiener nach einer kleinen Ewigkeit. Hector Landers flüchtete sich in ein verlegenes Räuspern. Er hatte die Gunst des Moments genutzt, um einen Blick an dem Alten vorbeizuwerfen, jedoch kaum etwas erkannt aus flackerndem Glosen und Schatten. »Ich hätte gerne den Herrn des Hauses gesprochen«, sagte er dann. »Den Herrn des Hauses?« echote der andere mit raschelnder Stimme. »Ja«, nickte Landers. »Dies ist doch das Haus Jerome Vautiers?« »Dies war das Haus Monsieur Vautiers.« »War? Ist er fortgezogen?« Landers klang enttäuscht, dann hakte er nach: »Kennen Sie seine neue Adresse?« »Péres-Lachaise.« »Danke«, erwiderte Hector Landers. »Wenn Sie noch die Freundlichkeit hätten, mir den Weg –« Der Alte schüttelte den Kopf, eher ein vorsichtiges Wiegen, als fürchtete er, sein dürrer Hals würde einer heftigeren Bewegung
nicht mehr standhalten. »Nein?« fragte Landers. »Der Weg lohnt nicht.« »Weshalb nicht?« »Ich sehe, Sie sind fremd«, entgegnete der Hausdiener. »PéresLachaise ist ein Friedhof.« Er lächelte häßlich, ohne Absicht. »Sie meinen, Jerome Vautier –?« »– ist tot. Seit annähernd zwanzig Jahren.«
* Der steinalte Mann hielt Hector Landers’ Enttäuschung für Trauer. »Sie wußten nichts vom Tod des Herrn?« Landers schwieg. »Waren Sie befreundet?« fragte der Diener weiter. »Äh … ja, befreundet«, erwiderte Landers geistesabwesend. »Merkwürdig, daß Sie dann von seinem Tod nicht unterrichtet waren.« Der Diener lächelte lauernd. »Wir waren … alte Freunde, wissen Sie?« Landers lächelte verlegen. Der Diener schien es nicht zur Kenntnis zu nehmen, und in Landers wuchs die Überzeugung, daß der andere tatsächlich blind war. »Lebt denn sonst noch jemand hier?« fragte er dann. »Naturellement. Madame.« Landers wagte einen Schuß ins Blaue. »Madame Simone?« Dieser Name war in jene goldene Uhr, die er im Safe vorgefunden hatte, eingraviert: Ewig Dein. Simone … »Oui.« »Dürfte ich denn mit ihr sprechen?« fragte Landers ungeduldig. »Ich fürchte nein.« Die Stimme des Alten klang nicht wirklich bedauernd. »Madame empfängt kaum Besucher.«
»Teilen Sie ihr mit, Hector Landers wolle sie sprechen. Wir werden sehen, was dann geschieht.« Landers Worte waren hörbar keine Bitte. »Sie werden sehen«, murmelte der Alte, wandte sich um und tauchte schlurfend ins Halbdämmer jenseits der Schwelle ein. Seine tastenden Hände streiften haltsuchend umher. Landers folgte ihm unaufgefordert und schloß die Tür. Schlagartig verdichteten sich die Schatten ringsum noch. Landers brauchte ein, zwei Sekunden, dann hatten seine Augen sich an die herrschenden Sichtverhältnisse gewöhnt. Sie nutzten das wenige Licht, das ausnahmslos von Kerzenleuchtern herrührte, die so weit voneinander entfernt standen, daß ihre goldenen Aureolen einander nicht berührten und dunkle Inseln dazwischen blieben. Wenn auch nicht für Hector Landers’ besondere Sichtweise. Er fand sich inmitten einer erstaunlich geräumigen Eingangshalle wieder. Erst von hier aus konnte er feststellen, daß die Fenster nicht, wie er von draußen geglaubt hatte, blind und dunkel vom Schmutz waren, sondern daß jemand sie verhängt hatte – zum Teil mit schweren Samtvorhängen, andere wieder, wie notdürftig, mit bloßen Tüchern. Das Mobiliar der Halle mochte irgendwann einmal beeindruckend gewesen sein; heute jedoch verbarg sein Wert sich unter Staub. Hier und da lagen Scherben eines zerbrochenen Ziergegenstands auf den zerschlissenen Teppichen. Hector Landers widerstand dem Drang, sich umzudrehen und zu verschwinden. In gewisser Weise war er nun doch neugierig auf Madame … Der alte Diener war inzwischen am oberen Ende der Treppe angelangt, die rechterhand an der Wand in die erste Etage führte, und seine schleifenden Schritte verklangen. Minuten verstrichen in beklemmender Stille. Dann, endlich, näherte sich aus einem der oberen Flure jemand, schnelleren Schrittes als der Alte, dennoch aber gemessen.
An der Treppe blieb die schattenhafte Gestalt stehen, ganz abrupt, als sie des Gastes ansichtig wurde. Ihr weites Gewand umwehte sie noch für eine oder zwei Sekunden wie von einem Wind aus dem Nichts bewegt. Hector Landers vermochte die Person dort oben trotz des schummrigen Lichtes auch über die Distanz hinweg zu erkennen. Irgendwann mußte diese Frau einmal sehr hübsch gewesen sein, obgleich sie ihm – wie schon die Menschen draußen – nicht wirklich alt vorkam; eher wie vor ihrer Zeit gealtert. Ihr schmales Gesicht war blaß, die Augen wirkten dadurch dunkler, als sie es tatsächlich sein mochten. Ihr Körper schien ihm welk, ihre einst üppigen Formen indes waren noch immer zu erahnen. Als hielte die Zeit den Atem an, blieb die Frau dort oben stehen. Und dann, von einer Sekunde zur nächsten, stürzte sie förmlich die Treppe herab und auf Hector Landers zu! »Du bist es!« rief sie mit schriller, mißtönender Stimme. »Du bist tatsächlich zurückgekehrt –« Sie warf sich ihm an die Brust, so heftig, wie er es ihrer verbrauchten Statur nie zugetraut hätte. »– Meister!« Sie hob Landers ihr Gesicht entgegen. Drängte ihm ihre trockene, nach Grab und Tod schmeckende Zunge zum gierigen Kuß in den Mund! Und nadelspitze Zähne verletzten seine Lippen.
* Hector Landers stieß die merkwürdige Alte von sich, so heftig, daß ihre Füße sich im Saum ihres Gewandes verfingen und sie stürzte. Er machte keinerlei Anstalten, ihren Fall zu verhindern oder ihr dann aufzuhelfen. Angewidert wischte er sich über die Lippen, versuchte die Spuren seines schwarzen Blutes zu ignorieren (Freak!
schrie es trotzdem in ihm) und spuckte aus, ohne den widerwärtigen Geschmack ihres Kusses damit jedoch loszuwerden. Die Frau (Simone?) lag drei Schritte entfernt auf dem Boden, stützte sich auf Händen halb hoch und sah Landers von unten herauf an. Nicht die Spur wütend, daß er sie hingestoßen hatte, sondern nur verwirrt – und mit einer Ergebenheit, die ihn an die eines Hundes erinnerte. Als erniedrigte sie sich vor ihm. »Meister …?« kam es fast tonlos von ihren spröden Lippen. Ihre Augzähne lugten, winzigen Elfenbeinhauern gleich, unter der oberen Lippe hervor. Landers starrte die Frau schweigend an. War sie – eine Vampirin? Gab es diese Geschöpfe der Nacht, wie sie in Hunderten von Romanen und kaum weniger Filmen eine Rolle spielten, tatsächlich? Nun, vieles von dem, was er seit seinem Erwachen selbst erlebt hatte, deutete darauf hin, daß diese Welt nicht frei von dunklen, unwirklichen Geheimnissen war. Aber trotzdem er hier einen weiteren Beweis für dieses Faktum vor Augen zu haben schien, wollte er nicht recht daran glauben. Weil es den Versuch, seinen eigenen Platz in dieser Welt zu finden, nur noch mehr erschwerte. »Wer sind Sie?« fragte er dann. »Simone?« Sie nickte, zögernd und offensichtlich ohne jedes Verständnis für seine Frage. »Aber Meister –«, begann sie. »Was soll dieses Gerede?« fuhr er sie an. »Hast du denn alles vergessen? Weißt du nicht mehr, was war – mit uns?« Mühsam kam sie erst auf die Knie hoch, dann richtete sie sich stöhnend weiter auf. Im ersten Moment wollte Hector Landers ihre Fragen fast automatisch bejahen. Gerade noch besann er sich eines anderen. Aus irgendeinem Grund schien es ihm plötzlich angeraten, nicht preiszugeben, daß er die Erinnerung verloren hatte. Fürs erste genügte es
ihm, jemanden (was diese Simone auch immer für eine Person sein mochte) gefunden zu haben, der ihn zweifellos kannte. Er würde versuchen, relativ unbemerkt an das Wissen Simones heranzukommen. Etwas wie ein Instinkt diktierte ihm diese Vorgehensweise, und er fügte sich. »Nun«, er bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln, was ihm angesichts der Lokalität und der seltsamen Frau nicht leicht fiel, »vielleicht könnte es nicht schaden, wenn du meiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen würdest?« Sie glitt etwas näher zu ihm her, doch er wich um die gleiche Distanz zurück. Ihre Bewegung, die bei einer jungen Frau lasziv gewirkt hätte, sah bei ihr schlicht erbärmlich aus. Wie zufällig berührte sie ihre Schenkel, raffte dabei ihr Gewand, so daß die blasse, welke Haut sichtbar wurde. »Ich habe mich nach dir gesehnt, Meister«, flüsterte sie heiser. »Nach den Nächten mit dir.« Simones Tonfall und Gestik waren eindeutig. Und Landers war plötzlich fast überzeugt, daß es ein paar Dinge in seiner Vergangenheit gab, derer er sich lieber nicht erinnern würde. »Keiner konnte mir nach dir geben, was ich brauchte. Niemand war je so wie du«, fuhr sie in gleichem, absurd sinnlichem Ton fort. »In den Nächten, die ich in Einsamkeit zubrachte, stellte ich mir vor, du wärest bei mir. Und all die wundervollen Dinge wurden wieder lebendig –« Sie schob den Stoff ihres Kleides nach oben und streichelte ihren Schoß. Landers hatte keine Mühe, sich vorzustellen, wie Simone sich die Nächte, von denen sie sprach, vertrieben hatte. Daß sie ihn dabei kraft ihrer Phantasie zu sich beschworen haben sollte, ekelte ihn beinahe so sehr, als hätte er wirklich das Lager geteilt mit dieser – Schabracke … »Hör auf damit!« herrschte er sie an. »Es widert mich an.« »Aber«, entgegnete sie verstört, »bist du denn nicht zurückgekom-
men, um –« Ihr Kleidersaum fiel, und Landers spürte einen Anflug von Erleichterung. Zugleich hoffte er inständig, daß es für ihn noch einen anderen Grund gab als diesen, nach Paris gekommen zu sein. Wie sollte er weiter vorgehen? Wie konnte er in Erfahrung bringen, was er zu erfahren hoffte, ohne in irgendeiner Weise Verdacht oder Mißtrauen zu wecken? »Es tut mir leid um Jerome«, sagte er dann. Kein sonderlich geistreicher Versuch, die Konversation in die gewünschte Richtung zu lenken, aber zumindest würde er Simone wohl von ihren abstrusen Phantasien ablenken. Hoffte er … Simone sah ihn eine Sekunde lang konsterniert an. Dann lachte sie ihm ins Gesicht, hysterisch schrill und gehässig in einem. »Naturellement!« rief sie dann, noch immer von solcher Heiterkeit gepackt, daß Landers sicher war, das Falsche gesagt zu haben. »Und wie es dir leid tut! Haben wir nicht beide getrauert ohne Ende in der Nacht seines Todes?« »Wovon sprichst du?« fragte er verunsichert, doch sie schien ihn nicht einmal zu hören. »Mir war gewesen, als würde der Teufel selbst mich stoßen, so hast du’s mir besorgt – in der Nacht, in der mein Mann starb. Es war – köstlich!« »Was?« stieß Landers hervor. »Nun tu nicht so«, gab sie neckisch zurück. »Nicht einmal du könntest eine solche Nacht vergessen, Meister. Jerome verreckte, ein Sturm tobte über Paris – und ich habe es getrieben mit …« »… mit mir?« Sie nickte, aber mit einemmal schien sie wie verwandelt. Ihre unverständliche Begeisterung gerann, und Simone stand starr. In der plötzlichen Stille hörte auch Hector Landers das Geräusch. Draußen. Der Motor eines Fahrzeugs. Jetzt wurde er abgestellt. »Vautier!« entfuhr es Simone. »Vautier?« echote Landers. »Ich dachte …«
»Giordan!« zischte sie. »Mein Schwiegervater. Du mußt verschwinden!« »Aber – weshalb?« »Rasch!« trieb sie ihn zur Eile.
* Giordan Vautier schloß, im Fond des Mercedes sitzend, die Augen. Die Tristesse dieser Gegend deprimierte ihn, dessen Welt aus Beton und Stahl, Glas und Marmor bestand. An trüben Herbsttagen wie diesen verstärkte sich der Eindruck von Alter und vor allem Verfall noch. Und die Straße, an der sein Ziel lag, schien gar völlig dem Siechtum anheimgefallen. Wobei das Haus, das Vautier aufsuchen wollte, ihm manches Mal wie der eigentliche Herd dieses Niedergangs schien. Was freilich nur Unsinn sein konnte … Trotzdem hielt sich der Gedanke hartnäckig in Giordan Vautier, mit geradezu gemeiner Ausdauer. Als wäre der Gedanke selbst ein Geschwür, das in ihm wucherte. Vautier kam nicht oft hierher; einmal im Monat, eher seltener. Ab und an hatte er schon überlegt, ob er es überhaupt noch tun sollte. Aber stets hatte er sich dafür entschieden. Im Laufe der Jahre waren seine Besuche hier zu einer Art Ritual geworden, dessen Zweck einzig darin bestand, ihn nicht vergessen zu lassen. Um Simone ging es ihm bei seinen Besuchen eher weniger, auch wenn er vordergründig so tat, als würde er sich um ihr Wohlergehen sorgen. Dabei widerten ihn die Art, wie sie hauste und was aus ihr geworden war, sehr viel mehr an, als daß beides ihn gerührt hätte. Dennoch meinte er in ihrem merkwürdigen Verfall auch ein Zeichen dafür zu sehen, was Jerome ihr wirklich bedeutet hatte –
schlicht alles! Ihr vorzeitiges Altern und das Desinteresse an der einstmals so noblen Residenz mochten ihr ein Ventil sein – für den Schmerz ihres auf ewig gebrochenen Herzens. Zu Jeromes Lebzeiten hatte Giordan Vautier nicht recht geglaubt, daß Simone wirklich etwas an seinem Sohn gelegen hatte. Er hatte den Verdacht gehegt, sie hätte sich in allererster Linie in den Reichtum und die Macht hinter Jerome verliebt. Da sie jedoch auch nach Jahren noch zu trauern schien, hatte er sein Urteil über seine Schwiegertochter revidieren müssen. Und so galten seine Besuche hier, zu einem kleinen Teil wenigstens, doch auch Simone. Sie empfing ihn unter der offenen Eingangstür, hielt sich jedoch im Dämmer jenseits der Schwelle. Sie verließ das Haus kaum mehr; das letzte Mal mußte Jahre zurückliegen. Vautier gab seinem Chauffeur das obligatorische Zeichen, zu warten, dann stieg er aus und betrat das Haus, das er damals seinem Sohn gekauft hatte, auf daß er darin eine Familie gründete, die dereinst sein Erbe hatte antreten sollen. Alles hatte traditionsgemäß in der Familie bleiben sollen – Geld, Macht und Einfluß. Nun aber würde diese Tradition sterben – in dem Moment, da Giordan Vautier selbst starb. Wie immer verzichtete er darauf, Simone zu umarmen. Sie zu berühren flößte ihm, aus einem Grund, den er nie richtig verstanden hatte, ärgstes Unbehagen ein. Kalt wie ein Fisch kam sie ihm vor, und irgend etwas haftete ihr an, das ihn stets an Tod und Vergänglichkeit gemahnte. Auf gewisse Weise sah sie immer noch hinreißend aus. Vielleicht aber, mutmaßte Vautier, lag sein Eindruck auch nur daran, daß er sie in Gedanken noch immer so sah wie damals, als sie Jeromes Frau gewesen war. »Wie geht es dir?« Seine Frage war der rituelle Auftakt ihrer Unterhaltungen. Sie hatten sich nicht wirklich etwas zu sagen. »Gut«, erwiderte sie. »Soweit es mir eben gutgehen kann, nicht
wahr?« Ihr Lächeln bewegte sich wie von eigenem Leben erfüllt, zuckend und – nervös. Vautier stutzte. So kannte er Simone nicht. Sie war ihm stets etwas lethargisch, teilnahmslos und gleichgültig erschienen, und mit jedem Besuch schien dieser Eindruck sich noch verstärkt zu haben. Heute indes – »Was ist mit dir, ma chère?« fragte er, gleichermaßen besorgt wie beunruhigt, fast mißtrauisch. Mißtrauen war eines der Fundamente, auf die er seine Macht aufgebaut hatte. Wäre er nicht allem und jedem, was ihm ungewöhnlich vorkam, seit jeher mißtrauisch begegnet, er wäre nie der Mann geworden, der er heute war. »Nichts.« Ihr Lächeln flatterte stärker. »Was soll sein?« Vautier ließ den Blick schweifen, freilich ohne viel erkennen zu können. Das Innere des Hauses war düster, und das Kerzenlicht verdichtete die Schatten über allem eher, als daß es sie vertrieben hätte. »Du bist sicher, daß du mir nichts verheimlichst?« fragte er dann. »Du weißt, ich helfe dir –« Sie nestelte mit hektischen kleinen Bewegungen an ihrem breiten Halsschmuck. »Du brauchst dich nicht zu sorgen«, sagte sie. »Es ist nichts.« »Nun gut«, erwiderte er, keineswegs beruhigt. Sein Blick tastete weiter durchs Dämmer, während seine Hand unter sein Jackett glitt und mit einem Scheck wieder zum Vorschein kam. Er reichte ihn Simone, die ihn rasch an sich nahm. »Ruf mich an«, sagte Giordan Vautier lahm und wandte sich schon zum Gehen, »wenn irgend etwas – Ungewöhnliches geschieht.« »Naturellement.« Er nickte ihr zum Abschied zu. Trat auf die Tür zu. Und erstarrte, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über ihm ausgegossen. »Monsieur Vautier?« Die Stimme kam aus dem Dunkel der oberen Etage. Vautier drehte sich um.
Simone schrie entsetzt auf. »Meister! Nein!« Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, in der das obere Treppenende wie in schwarzen Nebelschwaden verborgen lag. Vautier war schon fast sicher gewesen, die Stimme erkannt zu haben; nach all den Jahren klang sie ihm noch immer fast täglich in den Ohren. Als wollte er sich ihrer ständig erinnern. Nun, da er die Gestalt des anderen sah, hatte er nicht den geringsten Zweifel mehr. Er war zurückgekehrt! Dieser Narr … Scheinbar unbewaffnet kam er die Stufen herab; ganz so, als sei nie etwas geschehen, das ihre Freundschaft beendet hatte. Vautier hatte sich diesen Augenblick tausende Male ausgemalt, und er hatte sich geschworen, bis zum Gehtnichtmehr hinauszuzögern, was danach geschehen mußte. Jetzt aber, da es soweit war, warf er all diese Gelüste an quälend langer Rache über Bord. Eine ruckartige Bewegung seines rechten Handgelenks. Ein feines Klicken. Dann rutschte die kleine Pistole aus seinem Jackenärmel und in seine Hand. Wie von selbst flog seine Rechte hoch. Eine heller Knall – – und Simone schrie auf! Mit einem Sprung, den niemand ihrer ausgemergelten Gestalt zugetraut hätte, hatte sie sich in die Schußbahn geworfen und die Kugel abbekommen, die für Hector Landers bestimmt gewesen war! Die zweite traf ihn. Landers stürzte zurück, und für Vautier sah es aus, als verschlängen ihn die Schatten dort oben. Eilends wollte er die Treppe hoch, doch ein eisiger Griff am Knöchel hielt ihn zurück, ließ ihn straucheln. Simone hing an seinem Bein, sich wie irrsinnig gebärdend, geifernd und fauchend. Mit dem freien Fuß trat er nach ihr – und traf sie unglücklich. Tödlich.
Sein Tritt erwischte sie unter dem Kinn, riß ihr den Kopf in den Nacken. Knack! Als würde ein Stück Holz brechen. Simone erschlaffte. Vautier zerbiß einen Fluch. Das hatte er nicht gewollt. Nicht, weil er Simones Leben aus sentimentalen Gründen hatte schonen wollen. Nein, sie hatte den Tod verdient, wenn sie Jeromes Mörder in ihrem Haus verbarg. Aber er hatte ihr noch ein paar Fragen stellen wollen über die Vorfälle von damals. Denn Vautier ahnte, daß er bislang wohl nur die halbe Wahrheit gekannt hatte – wenn überhaupt … Endlich stürmte er weiter, zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe empor. Aus der Nähe vermochte er nun auch hier Details auszumachen. Eine Pfütze auf der vorletzten Stufe, im Kerzenlicht dunkler, als Blut es tatsächlich war. Eine dünne Tropfenspur, die davon wegführte und nach kaum drei Metern endete. Doch keine Spur von Hector Landers. Vautier durchsuchte das gesamte Stockwerk und schließlich auch Erdgeschoß und Keller. Doch ohne den Mörder seines Sohnes zu finden. Simones Leichnam würdigte er keines Blickes, als er das Haus verließ. Darum sollten sich andere kümmern. Giordan Vautier hatte wichtigeres zu tun. Er mußte die Jagd auf einen Mann eröffnen. Eine Jagd, wie Paris sie noch nicht erlebt haben sollte.
* Sydney, Australien Bei jedem einzelnen Schritt, den Lilith vor den anderen setzte, rechnete sie instinktiv mit einem Zwischenfall, über dessen Beschaffenheit sie im voraus keine noch so verschwommene Vorstellung hatte.
Ihre Vorahnung beschränkte sich einzig auf das Gefühl, etwas könnte, nein müßte passieren. Als sie dem Gedränge des Flughafenterminals entfloh und hinaus in die pralle Mittagssonne trat, wurde es für sie endlich ein wenig leichter, zu glauben, daß sie tatsächlich die Hemisphäre gewechselt hatte. Gespenstisch blieb das, was sie sich vorgenommen hatte, trotzdem. Irgendwie war alles, was sie tat, irreal. Manchmal verlor sie regelrecht den Kontakt zum Boden unter ihren Füßen. Dann trieben Zeit und Raum an ihr vorbei, als wäre sie nicht mehr Bestandteil davon … Benommen bestieg sie in eines der wartenden Taxis, setzte sich neben den Fahrer – nicht in den Fond – und sagte rauh: »Bringen Sie mich zur Paddington Street!« Der Fahrer drehte ihr das Gesicht zu und konfrontierte sie mit ihrem Fluch: In den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille erinnerte die verschwommene Kontur einer häßlichen Schattenchimäre Lilith daran, warum sie auch hier war. In Erfahrung zu bringen, was sie eigentlich war, was für ein eigenartiges Monstrum, schien noch wichtiger als die Antwort auf die Frage, wer sie war … Der Fahrer schwitzte, und der Geruch, der Lilith wie die Witterung eines gehetzten Tieres vorkam, ließ sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschen. »Sie haben kein Gepäck?« Seine Stimme entlockte ihr einen kehligen Laut. Ihre Hände krallten sich in das Polster rechts und links ihrer Hüften. Sie … nein, es war kein Moment des Wiedererkennens einer Situation oder eines Ortes. Es war schlicht und einfach – – GIER! Gier auf einen Fremden? Sie zitterte leicht. Ihre Hände wurden feucht, während die Tro-
ckenheit in ihrem Mund zunahm. »Nein. Kein Gepäck«, sagte sie. Schulterzuckend startete der nicht einmal sonderlich attraktive Fahrer den Motor und lenkte sein Taxi auf die Ausfallstraße, die vom Flughafen Richtung Innenstadt führte. »Sie leben in Sydney?« fragte der Mann. Leben? Liliths Miene hätte ihn erschreckt, wenn, er sie in diesem Moment betrachtet hätte. Leben … »Ich suche keinen Unterhalter – nur jemanden, der mich zur Paddington Street fährt!« fuhr sie den Mann an, der kaum wußte, wie ihm geschah. »Wenn Sie dazu nicht auch stumm in der Lage sind, kann ich …« Er lächelte und nickte verbissen. »Schon gut, Lady, so ein Flug ist stressig. Ich halt’ schon meinen vorlauten Schnabel. Niemand könnte sie verschwiegener ans Ziel Ihrer Wünsche bringen …« Er hielt sein Gelöbnis. Eisern. Dennoch wurde Lilith mit jeder Meile, die das Taxi zurücklegte, nervöser. 333, Paddington Street. Was, bei allen Göttern, würde sie dort erwarten?
* Paris Die Streifschußverletzung an Hector Landers’ Arm war so rasch verheilt, daß er dabei hätte zusehen können. Wenn er nicht einzig damit beschäftigt gewesen wäre, sich zurückzuziehen. Kein Zweifel – Giordan Vautier kannte ihn; aber er schien ganz und gar keinen Narren an ihm gefressen zu haben.
Als Vautiers Wagen draußen vor dem Haus vorgefahren war, hatte Simone ihren Gast fortgezerrt. Hin zu einer unscheinbaren Tür unter der Treppe und hinab in einen feuchten Keller, ebenso düster wie weitverzweigt. Dort wiederum hatte sie ihm eine versteckte Tür gewiesen, durch die er in die Pariser »Unterwelt« entwischen konnte. »Ganz wie damals«, hatte Simone geflüstert. Und einmal mehr hatte Landers nicht gewußt, wovon sie sprach. Auch dann nicht, als sie ihm die Adresse genannt hatte, zu der er gehen sollte und wo sie ihn später treffen wollte. Er bräuchte dazu nur den Markierungen an den Kanalwänden folgen. Die erste davon hatte sie ihm noch gewiesen. Die eingeritzten Wegzeichen waren so unscheinbar, daß sie nur dann auffielen, wenn man von ihrer Existenz wußte. Dann war Simone eilends entschwunden. Und Landers war ihr gefolgt. Die geheimnisvollen Andeutungen, die Simone gemacht hatte, auch über diesen Vautier, mochten zwar vage gewesen sein, aber sie waren Hector Landers doch vielversprechend erschienen. Zumindest im Vergleich zu dem, was er bisher über seine eigene Vergangenheit in Händen hielt – und das war so gut wie nichts. Durch eine weitere Tür war er aus dem Keller gelangt, über eine schmalere Treppe hinauf in die erste Etage. Dort hatte er die kurze Unterhaltung zwischen Simone und ihrem Besucher, einem älteren Herrn von durchaus beeindruckender Erscheinung, verfolgen können. Als Vautier sich schließlich zum Gehen gewandt hatte, war Landers hervorgetreten und hatte ihn zurückgerufen. Er mußte ihm ein paar Fragen stellen, denn er spürte förmlich, daß Vautier Antworten kannte. Und nun befand er sich doch auf der Flucht. Womöglich hätte er es ja geschafft, diesen Vautier zu überwältigen. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß der andere bewaffnet
war, schien es ihm wenig ratsam. Er würde einen anderen Zeitpunkt und einen anderen Weg finden müssen, um sich mit Giordan Vautier zu unterhalten und herauszufinden, welche Verbindung zwischen ihnen bestand und was es mit Simone auf sich hatte. Rasch und lautlos wie ein Schatten war Hector Landers in das Kellergewölbe zurückgekehrt, und nun floh er durch die Kanalisation. Er empfand als unwürdig, was er da tat; neben ihm schäumten stinkende Abwässer durch die Kanäle, die Stege zu beiden Seiten waren kaum breit genug, um darauf zu gehen – zumal er sie mit unzähligen Ratten teilen mußte, die entweder mutig oder blöde genug waren, nicht zur Seite zu weichen, wenn Landers auf sie zukam. Einige folgten ihm fiepend, andere trat er beiseite, wo sie in der erbärmlich stinkenden Brühe versanken, jedoch nur, um ein Stück abwärts wieder aufzutauchen und sich ihm erneut in den Weg zu stellen. Die Wegmarkierungen führten Hector Landers scheint’s kreuz und quer durch das unterirdische Labyrinth. Die Orientierung hatte er schon bald verloren, alles glich sich hier unten in einem Maße, daß er das Gefühl hatte, endlos im Kreis zu laufen. Dann endlich wies eine der Markierungen nach oben. Rostige, schmierige Trittstufen, die in die Wand eingelassen waren, führten hinauf. Winzige Pünktchen hellen Lichtes zeichneten sich weit über Landers im Dunkel ab. Als er ihnen über die Leiter näherkam, sah er, daß sie kreisrund angeordnet waren. Und schließlich verwehrte ihm ein schwerer Metalldeckel den weiteren Weg. Nicht schwer genug jedoch, daß Landers ihn nicht hätte hochwuchten und zur Seite schieben können. Ein Geräusch wie fernes Meeresrauschen drang zu ihm. Vermutlich Verkehrslärm, der nur gedämpft diesen Hinterhof erreichte. Überquellende Mülltonnen und aus rissigem Pflaster sprießendes Unkraut bestimmten das Bild. Ringsum wuchsen die Rückansichten fünf- bis sechsstöckiger Häuser auf. All das registrierte Hector Landers nur nebenbei. Sein Hauptau-
genmerk galt dem verquollenen Gesicht, das sich kaum zwei Handbreiten von ihm entfernt befand und aus dem ihm ein glasiges Augenpaar anstierte – sowie ein Wolke entgegenschlug, die kaum weniger schlimm stank als die Kloake, aus der er gerade gestiegen war. »Mon dieu …!« brabbelte der alterslose Kerl, der unmittelbar neben dem Kanalausstieg gepennt zu haben schien und den das Verschieben des Deckels geweckt haben mochte. »Der Leibhaftige …«, fuhr der Penner fort. »Es ist soweit … Er kommt, um mich zu holen.« Schweigend stieg Landers aus dem Kanalschacht. Für den anderen mochte es tatsächlich aussehen, als hätte die Unterwelt einen ihrer Dämonen entlassen, denn Landers stank wie die Pest, und die schwarze Kleidung unterstrich seine ohnedies schon düstere Erscheinung. Der Gammler kroch zurück, so rasch wie es seine lahmen Reflexe zuließen. Landers stoppte ihn mit einem Tritt. Dann fragte er nach der Adresse, die Simone ihm genannt hatte. Lallend nannte der andere ihm den Weg dorthin. »Merci«, sagte Landers. Seine Hand tauchte in seine Jacke, und der Penner brabbelte um Vergebung und Gnade, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Doch Landers warf ihm nur einen Geldschein hin. In solchem Wert, daß der andere vollends glauben mußte, das Endstadium des Delirium tremens erreicht zu haben … Ohne ein weiteres Wort verließ Landers den Hinterhof und erreichte eine belebte Straße, so daß es ihm vorkam, als hätte er die Welt gewechselt. Im Westen ragte das metallene Skelett des Eiffelturmes über den Dächern auf. Mit säuerlicher Miene registrierte Landers, wie Passanten einen Bogen um ihn schlugen, die Nase rümpfend und ihn mit ärgerlichen Blicken bedenkend. Doch kaum sahen sie ihm ins Gesicht, schienen sie es aus ganz anderem Grund eilig zu haben, von ihm fortzukommen.
Landers orientierte sich kurz, suchte nach den Nummern an den Häuserfassaden – im Vergleich zu der Gegend, die er zuvor aufgesucht hatte, schienen sie ihm geradezu luxuriös – und fand das Haus, von dem Simone gesprochen hatte. Es unterschied sich kaum von den anderen entlang der Straße, machte einen gepflegten Eindruck, und auf der polierten Metalltafel neben dem Eingang waren eine Reihe von Firmen aufgeführt, die hier ihren Sitz hatten oder Filialen unterhielten – Versicherungsunternehmen, eine Werbeagentur, zwei Facharztpraxen und – »– Landers Inc. Im- und Export«, las Hector Landers halblaut. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen. »Sieht aus, als wäre ich weltweit tätig«, meinte er dann zu sich selbst und trat ein. Er war kaum durch das doppelflügelige Glasportal verschwunden, als nicht weit entfernt jemand nach einem Handytelefon griff und rasch eine Nummer wählte, die nur wenige Leute in Paris kannten.
* Patrick Dupond hatte sich auf ein paar ruhige Stunden eingestellt. Auf dem Beifahrersitz türmten sich Papiertüten mit allerlei Gebäck, das er rasch noch besorgt hatte, dazu eine kleine Auswahl verschiedener Getränke. Sehr viel angenehmer ließ Geld sich kaum verdienen. Denn es sah nicht danach aus, als würde er tätig werden müssen. Der Boß selbst hatte gesagt, daß dieser Kerl, nach dem sie suchten, schon ein völliger Idiot sein müßte, wenn er tatsächlich hierher käme. Nun, er war wohl ein völliger Idiot. Denn er war gekommen. Eben hatte Dupond den Mann drüben im Haus verschwinden sehen. Obwohl er ihn nicht kannte und nie ein Bild von ihm gesehen hatte,
konnte er jeden Zweifel ausschließen. Die kreuzförmige Narbe auf der Wange des anderen unterschied ihn von vielleicht jedem anderen Menschen auf der Welt. Giordan Vautier selbst meldete sich am Telefon. »Er ist hier«, sagte Dupond nur. Ein geradezu unheimliches Lachen war die Antwort. Dann: »Folge ihm, Dupond.« »Soll ich ihn gleich –?« fragte er. »Nein«, erwiderte Vautier. »Nur mattsetzen. Den Rest übernehme ich selbst.« »Wie Sie wünschen.« Patrick Dupond unterbrach die Verbindung und stieg aus.
* An der westlichen Peripherie von Paris, im modernen Viertel La Defense, legte Giordan Dupond den Hörer auf. Auf eine Weise lächelnd, die Alain Bruneau, seinen engsten Vertrauten, frösteln ließ. »Sie wollen wirklich, daß Dupond diesem Landers folgt – dort hinein?« vergewisserte er sich zögernd. »Sie haben es gehört, oder?« »Ja, schon«, sagte Bruneau und strich sich nervös über das lackschwarze Haar. »Aber – es bedeutet seinen …« »… sicheren Tod, natürlich«, meinte Giordan Vautier leichthin, als hätte er nichts anderes getan als einen Sonntagsausflug abzusagen. »Aber sein Auftauchen wird Landers vielleicht aus seinem Versteck treiben. Solange er sich darin aufhält, können wir ihn nicht schnappen.« Alain Bruneau räusperte sich, doch den seltsamen Kloß, der ihm plötzlich im Hals saß, wurde er so nicht los. »Der Tod dieses Landers muß Ihnen wirklich sehr viel bedeuten«, sagte er dann heiser.
Vautier nickte. »Mehr als alles andere auf der Welt.« Er wandte den Blick und sah Bruneau starr an. »Es würde mir nicht einmal etwas ausmachen, selbst zu sterben – wenn ich Hector Landers nur in die Hölle mitnehmen könnte.« Bruneaus Gedanken mußten ihm vom Gesicht abzulesen sein. Denn Vautier lächelte, als er erklärte: »Aber keine Sorge, dazu wird es nicht kommen.« Sein Blick fiel auf die Batterien winziger Lämpchen, die an einer der Wände seines Allerheiligsten in der obersten Etage seines Wolkenkratzers blinkten und flackerten und anzeigten, daß die Telefonund Faxleitungen heißliefen; jene Verbindungen, die hinabführten in die Pariser Unterwelt – wenn auch nicht in jene, in der die Abwasser der Stadt verschwanden. Sondern in der sich der Abschaum der Stadt verbarg.
* Das Gebäude unterschied sich grundlegend von jenem, in dem Hector Landers in Rom die Niederlassung seiner undurchschaubaren Firma gefunden hatte. Dort hatten nur Ratten gehaust, und das Gebäude war menschenleer gewesen, wohl seit vielen Jahren schon. Hier dagegen florierten die Geschäfte unterschiedlichster Art, es herrschte ein reges Kommen und Gehen und stetes Treiben auf den lichten Fluren und großzügig angelegten Treppen, und die Liftkabinen waren fortwährend in Bewegung. Die Tür zu seinen Räumen fand Landers im zweiten Stock. Sie war etwas unscheinbarer als alle anderen, und fast schien es, als schotte etwas wie ein unsichtbarer Zaun sie ab. Niemand bewegte sich in unmittelbarer Nähe dieser Tür; unbewußt schien jeder einen Bogen darum zu machen. Und als Landers darauf zuging, spürte er sonderbare Blicke auf sich ruhen, die ihn indes nicht aufhielten. Er besaß keinen Schlüssel zu der Tür, natürlich nicht, und so pro-
bierte er, ob sie womöglich offenstand. Aber sie war verschlossen. Doch kaum hatte seine Hand die Klinke berührt, verspürte er etwas wie das Kribbeln schwacher Elektrizität, das Schloß klickte, und die Tür schwang auf wie von Geisterhand bewegt – oder als wäre dahinter ein Türöffner betätigt worden. Landers hätte sich nicht gewundert, wenn es so gewesen wäre; wenn er ein besetztes Sekretariat vorgefunden hätte. Aber die Räume waren leer. Menschenleer zumindest, denn möbliert waren sie sehr wohl. In ganz ähnlicher Weise wie jene Räumlichkeiten, die er in Rom aufgesucht hatte. Kein überflüssiger Zierat, alles zweckmäßig, aber keineswegs ärmlich oder auch nur billig. Ein Appartement, das zum Teil als Büro genutzt wurde, wie entsprechende Gerätschaften zeigten. Hector Landers wollte sich gerade an eine gründliche Durchforstung der Räume machen, als er irritiert innehielt. Ein Mensch mit weniger scharfen Sinnen hätte das Geräusch wohl nicht einmal gehört. Sein Gehör jedoch erschien Landers – ganz ähnlich wie seine Fähigkeit, in fast völliger Dunkelheit noch sehen zu können – außergewöhnlich ausgeprägt. Und so vernahm er den Laut, mit dem die Eingangstür über den Flor des Teppichs strich, und dann Schritte, vorsichtig und langsam gesetzt. Beinahe meinte er sogar, den Atem eines anderen zu vernehmen. Aber zumindest das mochte der Einbildung entspringen. Ebenso rasch wie lautlos glitt Landers in den toten Winkel hinter der Tür zum Büro, lauschte weiter, angestrengter noch als zuvor. Jemand kam, kein Zweifel. Und schließlich konnte Landers ihn durch den schmalen Spalt zwischen Türblatt und Zarge sehen, oder wenigstens etwas wie seinen Schatten. Wenn der andere genau unter dem Türstock stand, wollte Landers die Tür zuwerfen, um den anderen damit zu treffen. Dann konnte er sich auf ihn werfen, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Doch soweit kam es nicht.
Landers erschrak über das, was passierte, vielleicht mehr als der Fremde. Denn dem blieb kaum Zeit zu begreifen, wie ihm geschah. Während Hector Landers es mitansehen konnte. Mußte! Aus dem Nichts heraus baute sich ein flirrendes Gleißen auf. Grelle Lichtlanzen, wie von unsichtbaren Scheinwerfern herrührend, stachen durch die Luft, vereinigten sich auf dem Körper des Eindringlings – und durchbohrten ihn, als wären sie von echter Substanz! Das Licht spießte den Fremden auf und verbrannte ihn! Der Gestank verschmorten Fleisches wogte durch den Raum, Kleidungsstoff verkohlte zu schwarzer Asche. Und all das geschah binnen weniger Sekunden. So schnell, daß der Fremde kaum zum Schreien kam, weil seine Lungen längst verbrannt waren, ehe er sie mit Luft zum Schreien hätte füllen können. Schließlich lag ein schwarzes, stinkendes Bündel vor Hector Landers am Boden, kaum noch von der Größe eines Kleinkindes. Landers wußte, daß er entsetzt hätte sein müssen, zutiefst erschüttert. Aber was ihn einzig entsetzte, war die Gleichgültigkeit, mit der er auf den Toten – oder das, was von ihm übrig war – hinabstarrte. Der Tod des Mannes dagegen, die unerklärliche Art und Weise dieses Todes rührten ihn nicht. Im Gegenteil, als hätte er selbst ihn umgebracht, unternahm er alles Nötige, um Aufsehen zu vermeiden. Als erstes ging er deshalb zur Eingangstür, um sie zu schließen, bevor jemand einen Blick hereinwarf oder der Gestank des Toten hinauswehen konnte. Trotzdem – zu spät … »Monsieur Landers?« Landers sah überrascht auf. »Ja?« Ein schmalbrüstiger junger Mann stand zwei Schritte entfernt und sah ihn fragend über den Rand einer modischen Brille hinweg an. Landers vermutete in ihm einen Mitarbeiter einer benachbarten Firma hier.
»Alles in Ordnung?« fragte der junge Mann. »Ja, sicher«, gab Landers zurück, bemühte sich um ein Lächeln und fügte hinzu: »Mir ist nur – etwas angebrannt.« »Ärgerlich, nicht?« meinte der andere. »Halb so wild«, winkte Landers ab und wollte die Tür endlich schließen, bevor der andere noch auf die Idee kam, ihm bei der Beseitigung des angeblichen Malheurs behilflich zu sein. »Sie sind doch Monsieur Landers, oder?« fragte der junge Mann weiter. »Ja, höchstpersönlich.« »Freut mich. Mein Name ist Maurice.« Er lächelte freundlich – und irgendwie … seltsam. »Schön«, gab Landers zurück. Irgend etwas beunruhigte ihn. Nur – was? »Ist ein Tick von mir, wissen Sie?« fuhr Maurice fort. »Was?« »Mich vorzustellen, bevor ich –« Seine Hand verschwand so schnell unter seiner Jacke, daß Landers die Bewegung kaum verfolgen konnte. Wie hingezaubert lag der großkalibrige Revolver mit klobigem Schalldämpfer in der Faust des anderen. »– meine Opfer töte«, beendete Maurice lächelnd seinen Erklärung. Dann drückte er auch schon ab. Schrie auf. Und starb.
* Hector Landers hatte sich reflexhaft zu Boden geworfen, noch bevor Maurice geschossen hatte. Die Kugel hätte ihn ohnedies verfehlt. Denn in dem Moment, da er abdrückte, bäumte der junge Bursche
sich auf und verriß die Waffe. Sterbend vollführte Maurice einen irrsinnigen Tanz. Hin und her wurde sein Körper gerissen unter den Einschlägen unzähliger Schüsse, deren Lärm durch das Gebäude hämmerte. Blut sprenkelte die Wände ringsum mit abstrakten Mustern, Menschen schrien. Aber die Schüsse verklangen erst, als Maurice endlich, längst tot, wie eine Masse rohen Fleisches zu Boden fiel. Landers war währenddessen zurückgekrochen, wollte sich in Deckung bringen. Er verstand zwar nicht, was hier geschah, aber er ahnte die Gefahr, die ihm drohte. Aber er war zu langsam, und er wäre wohl auch dann nicht entwischt, wenn er schneller gewesen wäre. Ein Schatten fiel über ihn, und im gleichen Moment berührte etwas Glühendheißes seinen Nacken. Fast ohne sein bewußtes Zutun sah er aus seiner liegenden Haltung heraus auf. Die Gestalt, die vor ihm aufragte, schien ihm riesengroß. Und hätte er nicht gewußt, was sie eben mit diesem Maurice veranstaltet hatte, hätte sie in ihm gewiß Dinge ausgelöst, die in krassem Gegensatz zu Respekt und Bedrohlichkeit gestanden hätten. Denn vor ihm stand eine Frau. Langes kupferfarbenes Haar floß in Wellen fast bis zu ihren Hüften hin, und ihre Figur war schlicht atemberaubend. Wäre da nicht die eisige Kälte in ihren blauen Augen gewesen, und diese starre Ausdruckslosigkeit, die jeder Gefühlsregung überlegen sein mußte. »Aufstehen und mitkommen«, fuhr sie ihn an. »Schnell!« »Was –?« »Quatsch nicht! Los!« Der Druck der heißgeschossenen Mündung ihrer Maschinenpistole in seinem Nacken verstärkte sich. Gleichzeitig beugte sie sich zu Hector Landers hinunter, packte ihn und zerrte ihn mit unerwarteter Kraft auf die Beine. Dann trieb sie ihn vor sich her, die inzwi-
schen verlassene Treppe hinab und in die Eingangshalle. In einem verglasten Raum neben dem Portal telefonierte ein uniformierter älterer Mann aufgeregt. Als er der Rothaarigen und vor allem ihrer Waffe ansichtig wurde, fiel ihm der Hörer aus der Hand. Im nächsten Moment stürzte er zu Boden, als seine Pförtnersloge um ihn her in Scherben ging. Wieder füllte stakkatoartiges Hämmern das Gebäude. »Weiter!« trieb die Rothaarige ihren Gefangenen an. »Was soll das werden?« wagte Landers zu fragen. Ein derber Stoß war Teil der Antwort. Doch die Rothaarige ließ sich auch zu einer gesprochenen hinreißen. »Wenn dein Kopf jemandem zwei Millionen Francs wert ist, dann frage ich mich, was er zu zahlen bereit ist, wenn er dich am Stück geliefert bekommt!«
* Der unauffällige Renault parkte unmittelbar vor dem Eingang. Die Rothaarige bugsierte Landers auf den Beifahrersitz, setzte sich selbst hinter das Steuer, die Waffe in den Spalt zwischen Fahrertür und Sitz klemmend. »Keine Dummheiten«, warnte sie. »Zur Not begnüge ich mich nämlich auch mit zwei Millionen für deinen Kopf.« Sie lächelte knapp, und irgendwie schien Landers diese Regung ein bißchen weniger hart wie noch ihr vorheriges Verhalten. »Keine Sorge«, gab er zurück. »Immerhin könnte ich mir keine hübschere Chauffeuse vorstellen.« »Ich vergaß«, sagte die Rothaarige, während sie den Wagen die Straße hinabjagte: »Schnauze halten!« Landers wollte trotzdem etwas erwidern, als er sich unvermittelt in den Sitz gepreßt fühlte. Fluchend gab die Rothaarige Gas. »Merde!«
»Was ist?« fragte Landers. »Wir haben Begleitung!« Landers warf einen Blick nach hinten und entdeckte unschwer die beiden dunklen Fahrzeuge, die ihnen folgten – und in geradezu halsbrecherischem Tempo aufholten. »Polizei?« fragte Landers leicht amüsiert. Irgendwie spürte er einfach keine Angst. Was ihn fast beunruhigte. »Nein«, knirschte die rothaarige Schönheit, »wohl eher ein paar Kollegen, die sich zwei Millionen Francs verdienen wollen.« »Wer hat das Kopfgeld denn ausgesetzt?« wollte Landers wissen, obgleich er die Antwort längst ahnte. »Vautier?« ergänzte er deshalb, als die Frau ihm nicht antwortete. Wohl nicht einmal, weil sie es nicht wollte, sondern weil ihre ganze Konzentration dem Steuern des Wagens und dem Verkehr ringsum galt, durch den sie schier hindurchbrachen. Das Konzert aus quietschenden Reifen und schrillem Hupen in allen Tonlagen war längst ohrenbetäubend. Landers wurde in seinem Sitz hin- und hergeworfen. »Du weißt Bescheid«, stellte die Frau fest. Na, eher ein Mädchen noch, revidierte Landers. Er schätzte sie auf allenfalls dreißig Jahre. Eher ein ganzes Stück darunter. »Wenn ich nur wüßte, weshalb er so hinter mir her ist«, sann Landers. »Wenn er sich den Spaß zwei Millionen kosten läßt und ganz Paris auf dich ansetzt«, erwiderte die Rothaarige, »dann mußt du eine ganze Menge mehr getan haben, als ihm nur auf die Zehen zu treten.« »Hältst du es für klug, ins Zentrum zu fahren?« wechselte Landers das Thema. Der Eiffelturm war mittlerweile deutlich nähergerückt, die Verkehrsdichte nahm immer mehr zu. Ihr Wagen pflügte förmlich hindurch. »Natürlich«, war die Antwort. »Glaubst du, wir könnten die Kerle auf freier Straße eher abhängen?«
»Auch wieder wahr«, gestand Landers ein. Zwischenzeitlich hatte die Rothaarige mehr als eine Karambolage verursacht, war selbst jedoch jedem Zusammenstoß wie durch ein Wunder entgangen. Wie lange dieses Glück noch anhielt, war absehbar. Über die Seine ging die Verfolgungsjagd schließlich weiter über die Avenue Marceau. In der Ferne tauchte der Arc de Triomphe auf, dahinter der Place Charles de Gaulle mit seinem mahlstromartigen Kreisverkehr, aus dem es schon für Einheimische nur schwer ein Entkommen gab. Fremde, die sich mit dem Auto hineinwagten oder verirrten, waren fast verloren. Und die Rothaarige hielt geradewegs darauf zu. Nicht, um sich einzuordnen. Sondern um quer hindurchzubrechen! In den Lärm um sie her mengte sich erstes Sirenengeheul. Landers sah nach hinten. Ihre Verfolger hingen noch immer am Heck des Renault. Schon etwas lädiert zwar, aber eisern, regelrecht verbissen. »Wahnsinn!« keuchte Landers, als die Rothaarige den Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit in den Kreisverkehr schießen ließ. Augenblicklich steigerte sich das lärmende Chaos um sie her in Höhen, daß es in den Ohren nicht mehr nur dröhnte, sondern wehtat. Einzig die Wucht, mit der das Fahrzeug andere rammte, verhinderte das abrupte Ende der Fahrt. Getroffene Wagen wurden regelrecht aus dem Weg gewirbelt, prallten gegen weitere. Blech kreischte, und über dem Place Charles de Gaulle gingen Regenströme aus splitterndem Glas nieder. Hart hielt die Rothaarige das Lenkrad umklammert, Landers sah das Spiel ihrer Armmuskeln. Die Anstrengung, den Wagen auf Kurs zu halten, mußte immens sein. Doch sie wichen nicht von der schnurgeraden Linie ab, während um sie her und hinter ihnen der Verkehr zum Erliegen kam.
Die letzten Meter schafften sie fast ungehindert, weil die anderen Fahrer sich auf den Wahnsinn dieser Selbstmörderin einstellten. Und dann waren sie draußen – – und ihre Verfolger los! Der Renault tauchte in eine schmale Straße ein, dann in die nächste und schließlich in ein Gewirr enger Einbahnstraßen. In einer Hofeinfahrt hielt die Rothaarige schließlich an, trieb Landers mit der Waffe aus dem Wagen und durch Hinterhöfe und Hausdurchgänge vor sich her. Mindestens zwei Blocks weiter knackte sie das Schloß eines abgestellten Peugeot, schloß die Zündung mit blinder Fingerfertigkeit kurz und fuhr los, dem anderen Ende der Stadt zu. »Darf ich fragen, wie dein Name ist?« erkundigte Landers sich nach einer Weile. »Natalja«, antwortete sie. »Aber man kennt mich eher als ›Engel des Todes‹.« Landers grinste verunglückt und seufzte. »Warum bin ich da nicht von selbst draufgekommen?«
* Sydney »Da wären wir.« Es war die erste Wortmeldung des Taxichauffeurs überhaupt, seit Lilith ihn zurechtgestutzt hatte. »Das – kann nicht stimmen. Ich sagte dreihundert-« »-dreiunddreißig«, vollendete der Fahrer hörbar gereizt. Nachdem er das vorherige Lamento seiner Kundin noch akzeptiert hatte, schien er nun nicht länger gewillt zu sein, mit seiner Laune hinter dem Berg zu halten. »Auf meinem Mist ist die Adresse, die Sie mir gaben, nicht gewachsen. Ich wüßte hübschere Schandflecke in dieser Stadt …« Vielleicht war es nicht direkt ein Schandfleck, aber auf jeden Fall
auch nicht das, was Lilith vorzufinden erwartet hatte. Das Haus von den Bildern … existierte hier nicht! Alles, was sie sehen konnte, war ein völlig verwildertes Grundstück, auf dem ein paar hartnäckige Sträucher der dörrenden Hitze trotzten. Aber es gab nicht einmal Anzeichen dafür, daß hier überhaupt jemals ein Haus gestanden hatte. Das Ticken des Taxameters verstummte, als der Fahrer einen Hebel niederdrückte. »Zweiundzwanzig Dollar fünfzig«, sagte er und streckte Lilith die offene Hand entgegen. »Brauchen Sie eine Quittung?« Ich brauche einen Strick, dachte sie fatalistisch und rundete die Summe auf 25 Aussie-Dollar auf. »Stimmt so, danke …« Ihre Verwirrung schien den Taxifahrer dazu zu bewegen, doch über den barschen Anpfiff von vorhin hinwegzusehen. Er verstaute das Geld in einem kleinen Lederbeutel, den er zurück auf die Konsole legte. Dann fragte er: »Was wirft Sie so aus der Bahn? Wohin wollten Sie denn?« »Ich – hatte nur die Adresse.« »Nur die Adresse?« Er zog beide Augenbrauen gleichzeitig nach oben. »Sie landen – von wo auch immer – hier in Sydney und lassen sich zu einer Adresse fahren, von der sie nicht wissen, was Sie dort vorfinden …?« Sie schluckte. »Hier müßte … ein Haus stehen.« Seine Augen waren hinter der Brille nicht zu sehen. Dennoch wußte Lilith, daß sie gerade etwas schmäler geworden waren und ihr nun verkniffener entgegenblickten. »Hier stand einmal ein Haus«, sagte er. »Ein ziemlich altes, aber …« »Das hier?« Sie griff in die zu ihrem »Kleid« gehörige Tasche, in der sie auch das von Hector Landers erhaltene Geld aufbewahrte, und zog das Bild heraus, das die Reise mitgemacht hatte. Sie hatte es aus dem Stapel ausgewählt, weil es nicht nur das Haus am deut-
lichsten zeigte, sondern außerdem einen Teil der unmittelbaren Nachbarschaft. Sie hielt die Aufnahme so, daß sowohl der Fahrer des Cabbys als auch sie selbst einen ausführlichen Blick darauf werfen konnte. Kein Zweifel, dachte sie, die Umgebung stimmt. Nur das Haus wurde abgerissen. Und der Garten ist völlig verwahrlost. »Tut mir leid«, sagte der Chauffeur. »Ich habe das Haus nie selbst gesehen, obwohl ich häufig hier vorbeikam, als es noch stand. Die Bäume hatten es verdeckt. Hier war alles zugewuchert. Kein Vergleich zu heute …« »Woher wollen Sie dann wissen, daß es ein Haus gab?« Von jenseits der Spiegelgläser, die Lilith verhöhnten, haftete immer noch der Blick an ihr. Ein Blick voller Mißtrauen. Sie fühlte ihn wie zwei Egel, die sich an ihren Augen festsaugten. »Wegen all der Vorkommnisse, die Schlagzeilen machten.« »Vorkommnisse?« »Es ist schon ein, zwei Jahre her.« »Was denn?« Einen Moment sah es so aus, als wollte er sich abwenden und sie zum Aussteigen auffordern. Doch als sie ein zweites Mal sehr eindringlich bat, ihr alles zu sagen, was er darüber wußte, meinte er: »Man weiß ja, was die Medien aus so etwas machen: Hauptsache, sie haben ihre Story und können damit ihre Einschaltquoten oder die Zeitungsauflage für ein paar Tage puschen … Na ja, Sie scheinen wirklich nicht von hier zu sein, sonst müßten sie nicht fragen. Das Ganze schlug damals ganz schöne Wellen, auch wenn es nie eine offizielle Stellungnahme dazu gab. Dafür um so mehr Gerüchte – und Typen, die sich, vermute ich mal, wichtig machen wollten. Solche Leute gibt es immer …« »Und was ist nun passiert?« fragte Lilith ungeduldig. Er schürzte die Lippen. »Wie gesagt: Das meiste, was ich sagen kann, fußt auf Gerüchten. Sicher ist nur: Eine ganze Zeitlang war
dieser Bereich der Straße großräumig gesperrt. Mit allem Brimbamborium, Armee, Polizei, was weiß ich noch alles. Als die Sperre endlich aufgehoben wurde, sah es hier, bei der dreihundertdreiunddreißig, ähnlich aus wie heute, vielleicht noch eine Spur schlimmer: als hätten Bagger und Planierraupen den schönen wilden Garten umgemäht und untergepflügt! Das stach jedem, der die Straße kennt, sofort ins Auge, und deshalb war es nicht schwer zu schlußfolgern, daß die lange Sperre mit etwas zusammengehangen hatte, was hier geschehen war … Aber fragen Sie mich nicht, was. Natürlich gab es auch dazu haarsträubende Gerüchte: Es soll ein paar Cops das Leben gekostet haben, auch Zivilisten, Leute, die im Umkreis wohnten oder vor Ort Untersuchungen anstellten. Das Verrückteste, was in diesem Zusammenhang die Runde machte, waren Berichte von Menschen, die hinter den Absperrungen um Jahre – um viele Jahre – gealtert sein sollen. Da ging mit einigen gehörig die Phantasie durch … Na ja, danach wurde es wieder ruhig, bis eines Tages die Bauarbeiten begannen.« »Bauarbeiten?« Er nickte und tippte sich gleichzeitig an die Stirn. »Die zuständige Behörde muß einen Sprung in der Schüssel gehabt haben, sonst hätte sie nicht genehmigen können, daß jemand in einem Viertel, wo sonst nur hübsche alte Villen mit viel Grün stehen, ein Hochhaus errichtet. Zwölf Stockwerke wurden hier hochgezogen! So schnell hab’ ich noch keinen Bau wachsen sehen! Da hat jemand tüchtig mit dem Geldmuskel gespielt. Ich schätze mal, hinter den Kulissen wurde auch gut geschmiert, sonst hätte das Gebäude nicht innerhalb einiger Monaten bezugsfertig da gestanden!« Ein Hochhaus? Zwölfstöckig? Kopfschüttelnd blickte Lilith auf das schon etwas verblaßte Schwarzweißbild in ihrer Hand. Es war eine Luftaufnahme, die sowohl das Haus als auch den parkartigen Garten zeigte, von dem der Chauffeur gesprochen hatte. »Haben Sie den Neubau selbst gesehen?« fragte sie.
Der etwa vierzigjährige Fahrer des Cabbys nickte. »Ich hatte Glück – oder wie immer man es nennen mag.« »Was meinen Sie damit?« Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Grundstücks. »Sehen Sie doch hin, dann wissen Sie es: Der architektonische Schandfleck hielt nicht lange. Eines schönen Tages – ich fuhr die Straße entlang und begriff im ersten Moment wohl gar nicht, was ich vermißte – war er weg. Einfach verschwunden …!« »Ein Hochhaus verschwindet doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts!« Lilith schob das Bild brüsk in die Tasche zurück und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. »Ich weiß nicht, warum Sie mir ein solches Ammenmärchen auftischen, jedenfalls reicht es mir!« Sie stieg aus. Der Mann im Taxi machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Bevor sie die Tür zuwarf, hörte sie ihn nur noch murmeln: »So hübsch und so viele Haare auf den Zähnen … schade eigentlich …« Dann fuhr das gelbe Taxi mit einem Kavalierstart an und brauste die Fortsetzung der langen Straße hinunter. Lilith stand ungefähr eine Minute auf dem Bürgersteig, der zwischen der asphaltierten Fahrbahn und dem völlig brachliegenden, unkrautüberwucherten Grundstück verlief. Auf 333, Paddington Street erhob sich nicht einmal ein einziges Bäumchen – nur niedriges, anspruchsloses Gestrüpp, das vielfach aussah, als hätte die Sonne es durch den löchrigen Ozonschutz dieser Hemisphäre hindurch mit hautkrebsartigen Flecken übersät. Endlich setzte sich Lilith in Bewegung, um den Ort zu betreten, an den sie sich auch jetzt noch nicht erinnerte. Aber der Ort hatte sie nicht vergessen.
* Paris
Alain Bruneau wußte, wann es besser, ja sicherer war, Giordan Vautier nicht anzusprechen, sondern abzuwarten, bis er von selbst das Wort ergriff. Dies war ein solcher Moment. Vautier stand reglos wie ein Denkmal seiner selbst da und starrte unverwandt auf das Telefon hinab, dessen Hörer er vor mehr als einer Minute aufgelegt hatte – nicht ungehalten, sondern vorsichtig, fast sanft; gefährlich sanft. Über Lautsprecher hatte Bruneau mithören können, was der Anrufer mitgeteilt hatte. Er war einer von denen gewesen, die Vautiers Aufruf zur Jagd nach Hector Landers als erste vernommen hatten, mit dem Hinweis, wo das Opfer sich derzeit voraussichtlich befand. Nun, Landers war tatsächlich dort gewesen – und mit ihm offenbar eine ganze Reihe von Jägern. Doch nur einer dieser Jäger war erfolgreich gewesen. Ungünstigerweise hatte dieser Jäger die Beute allerdings nicht erlegt, sondern nur dem Zugriff anderer entzogen. Die Absicht dahinter war klar – »Sie wird sich melden«, sagte Vautier leise, und Bruneau fühlte sich fast erleichtert, daß er das Schweigen endlich brach. Schwer wie ein tatsächliches Gewicht hatte es ihm zunehmend das Atmen erschwert. »Natürlich«, stimmte Bruneau zu. »Sie wird ihre Forderungen stellen.« »Wir werden sie erfüllen, egal was sie verlangt«, erklärte Vautier zum Erstaunen seines Vertrauten. Bruneau sah sich denn auch bemüßigt, einen Einwand vorzubringen. »Das entspricht nicht Ihren sonstigen Gepflogenheiten. Man wird es als Schwäche auslegen und meinen, Sie würden die Zügel lockerer …« Eine knappe Handbewegung Vautiers ließ ihn verstummen.
»Sie wird bekommen, was sie will«, beharrte Giordan Vautier. »Dann allerdings –«, er lächelte hart, »– werden wir dafür Sorge tragen, daß der Engel des Todes seinem Namen buchstäblich gerecht wird.« »Ich gebe zu bedenken, daß diese Natalja ein harter Brocken ist, selbst für uns«, wandte Alain Bruneau ein. »Sie gehört zu den wenigen, die wir nicht in der Hand haben. Wir wissen noch nicht einmal, wo sie sich versteckt.« »Besondere Ziele verlangen nach besonderen Wegen und Mitteln«, sagte Vautier nur. »Folgen Sie mir.« Er winkte ihm kurz zu und ging zum Privatlift, der bis hierher führte, ins Zentrum der Macht gewissermaßen. Eine Ahnung keimte in Bruneau. Eine Ahnung, die Entsetzen schürte. »Sie haben doch nicht etwa vor –?« begann er, als er neben Vautier in der holz- und spiegelvertäfelten Liftkabine stand. Der alte Mann nickte. »Ich sagte doch – besondere Mittel.« Dann gab er auf einem Zahlenfeld einen Code ein, der ihnen den Weg hinab ins wahre Zentrum der Macht öffnete. Dorthin, wo Vergangenes verborgen lag. Dinge, die fast schon vergessen waren. Weil sie Giordan Vautier mit Hector Landers verbanden. Und während der Lift nach unten fuhr, glitten auch Vautiers Gedanken in die Tiefe …
* … seiner Erinnerung Die erste Begegnung zwischen Giordan Vautier und Hector Landers lag annähernd fünfzehn Jahre zurück. Und Vautier hatte Landers
damals einzig empfangen, weil er dessen Dreistigkeit fast bewunderte. Er hatte um ein Treffen gebeten, als handele es sich um das Selbstverständlichste der Welt. Und er hatte hinzugefügt, daß Vautier es bereuen würde, wenn er dem Treffen nicht zustimmte. Nein, Landers hatte ihm nicht mit dem Tod oder ähnlichem Unsinn gedroht; daran waren schon andere gescheitert. Landers hatte nur erklärt, daß er sein Geschäft dann mit einem anderen abschließen würde. Ein Geschäft, das seinem Partner Vorteile bringen und Wege zur Macht eröffnen würde, die mit keinem Reichtum dieser Welt zu erkaufen wären. Als Giordan Vautier jenem Hector Landers dann zum ersten Mal gegenübersaß, hatte er es fast bereut, diesem Treffen zugestimmt zu haben. Nicht weil er annahm, Landers hätte leere Versprechungen gemacht. Ganz im Gegenteil – etwas an der bloßen Präsenz dieses Mannes (über den er im Vorfeld nichts hatte in Erfahrung bringen können, was seine Neugier auf ihn zusätzlich geweckt hatte) verriet mit solcher Deutlichkeit, als wäre es ihm auf die Stirn geschrieben, daß er Macht besaß. Eine Art von Macht, die ganz anders war als Vautiers eigene – eine Macht, von der er plötzlich nicht mehr sicher war, ob sie ihn interessieren durfte … Hector Landers war ohne Umschweife auf den Punkt gekommen. »Ich weiß, wer sie sind«, hatte er Vautier auf den Kopf zugesagt. »So, wer denn?« »In anderen Ländern würde man sie vielleicht einen Paten nennen.« »Zuviel der Ehre«, hatte Vautier, leicht verunsichert, entgegnet. »Ich bin jemand, dem das Wohl seiner Stadt am Herzen liegt und der bereit ist, vieles zu tun, um dieses Wohl noch zu steigern.« »Eine interessante Ansicht.« Landers hatte gelächelt. »Wenn Sie mir im Gegenzug erklären würden, mit wem ich das Vergnügen habe?« hatte Vautier gebeten.
»Jemand, dem das Wohl seines Volkes am Herzen liegt«, hatte Landers ungerührt lächelnd erwidert. »Seines Volkes?« hatte Vautier gefragt. »Dürfte ich erfahren, welcher Nationalität Sie sind?« »Ich bin ein Kosmopolit«, hatte Hector Landers geantwortet. »Im tiefsten Sinne der Bedeutung dieses Begriffs.« Und damit hatte er das Thema beendet. »Wie Sie wissen, bin ich gekommen, um Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen«, war Landers auf den Punkt zurückgekommen. »An guten Geschäften bin ich stets interessiert«, hatte Giordan Vautier gesagt. »Ich biete Ihnen das beste aller Geschäfte.« »Und das wäre?« »Ich weiß, womit man sich in den Kellern dieses Hauses befaßt.« Landers hatte mit dem Finger zum Boden des Raums gedeutet und meinte damit die unzugänglichen Bereiche tief unterhalb des damals erst kürzlich fertiggestellten Gebäudes. Vautier hatte Mühe gehabt, seine Überraschung zu verbergen. Daß es ihm nicht gelang, hatte ihm Landers flüchtiges Lächeln bewiesen. »So, meinen Sie? Wenn Sie so freundlich wären, mich darüber aufzuklären, was in meinem Haus geschieht?« Landers’ Lächeln war hart geworden. »Vautier, ich bitte Sie – ersparen Sie uns diese erbärmlichen Spielchen. Ich weiß Bescheid, nehmen Sie das einfach hin, ja?« »Nun gut, nehmen wir an, ich wüßte, wovon Sie sprechen, Monsieur Landers«, hatte er gesagt. »Was hätte das mit unserem möglichen Geschäft zu tun?« »Ich könnte Ihrer Forschung dort unten –«, wieder wies Landers abwärts, »– nicht nur auf die Sprünge helfen, sondern ihr ganz neue Wege ebnen.« »Ach ja? Womit denn?« Landers griff unter sein Jackett, und Vautiers Hand zuckte vor, be-
rührte einen verborgenen Knopf in der Lehne seines Sessels, dessen Aktivierung ein halbes Heer von Sicherheitsleuten alarmiert hätte. »Nicht so nervös, mein Bester«, hatte Landers ihn beruhigt und die Hand wieder hervorgezogen, um Vautier etwas zuzuwerfen. Wie im Reflex hatte der danach gegriffen und das kleine, unscheinbare Fläschchen betrachtet. Es enthielt eine dunkle, etwas zähe Flüssigkeit, doch keine Aufschrift verriet, worum es sich dabei handelte. »Schön«, sagte er deshalb nur. »Und was soll ich damit?« »Lassen Sie es von Ihren Laborratten dort unten untersuchen. Sie werden nicht feststellen können, was es ist, aber sie dürften es für so interessant halten, daß sie damit experimentieren wollen«, hatte Landers angekündigt. »Und glauben Sie mir – Sie wären der einzige Mensch auf der Welt, der seinen Nutzen daraus ziehen dürfte.« »Was für ein Nutzen sollte das sein?« »Macht – wie Sie sie sich nicht vorstellen können.« »Nun, wenn Sie angeblich so gut über mich Bescheid wissen, dann müßten Sie auch wissen, daß ich mir sehr viel Macht vorstellen kann.« Vautiers Worte hatten gleichgültig klingen sollen. Aber von dem Fläschchen – oder vielmehr seinem Inhalt – schien etwas auszugehen, daß ihn mehr als nur nervös machte. Seine Stimme zitterte leicht. »Eben.« Vautier hatte die kleine Flasche auf dem Schreibtisch abgestellt, und augenblicklich fühlte er sich etwas ruhiger. »Nehmen wir an, ich ließe mich darauf ein«, fuhr er fort. »Was würden Sie als Gegenleistung verlangen, Monsieur Landers?« »Ihre Hilfe.« »Wobei?« »Ich würde verlangen, daß Sie Ihre Macht und Ihre weltweiten Verbindungen einsetzen, um mir bei einer Suche zu helfen.« »Eine Suche – nach was?« hatte Vautier gefragt.
»Nach einem Gefäß«, hatte Landers geantwortet, und seine Betonung war so eigenartig gewesen, als stünde dieses Wort für viel mehr als nur für einen nützlichen Gegenstand. »Man nennt es den Lilienkelch.« Giordan Vautier hatte aufgelacht. Zum allerletzten Mal in Hector Landers’ Gegenwart. Danach hatte er es nie mehr gewagt. »Lilienkelch?« hatte er spöttisch gefragt. »Sie verlangen ernsthaft, daß ich Ihnen helfe bei der Suche nach einer – Blumenvase? Sie müssen vollkommen ir-« Weiter war Vautier nicht gekommen. Der Rest seiner Worte erstickte ihm in der Kehle. Weil Landers’ Hand ihm den Atem abpreßte. Die Geschwindigkeit, mit der er sich auf ihn gestürzt hatte, war kaum zu verfolgen gewesen. »Eine weitere Bemerkung dieser Art«, hatte Landers ihn angefletscht, »und es war Ihre letzte.« Und Vautier hatte ihm geglaubt … Den Schmerz in der Kehle, den ihm Landers’ Griff verursacht hatte, meinte er noch heute spüren zu können. Wie auch jetzt wieder. Als die Liftkabine zum Stillstand kam, die Türen auseinanderglitten und den Blick freigaben – – auf etwas, das noch heute davon zeugte, daß Hector Landers damals nicht übertrieben hatte, als er von unvorstellbarer Macht sprach. Denn unvorstellbar war all dies noch heute für Giordan Vautier. Und er wußte, daß es besser nie Wirklichkeit geworden wäre. Trotzdem war er jetzt fest entschlossen, es zu nutzen.
* Sydney Es kam über Lilith, als sie das Pflaster des Gehsteigs verließ und ih-
ren Fuß in das Distelgestrüpp des von keinem Zaun geschützten Grundstücks setzte: Was will ich hier? dachte sie, wollte sich umdrehen und wieder fortgehen. Fortgehen und vergessen, daß sie je auch nur das geringste Interesse für diesen Flecken Erde gezeigt hatte! Aber dann ließ sie den Fuß stehen und setzte auch den zweiten über die unsichtbare Grenze. Grenze? Welche Grenze? Sie sah sich um. Etwas war anders geworden, aber was? Das Licht! Sie hob den Blick zum Himmel. Von einem Augenblick zum anderen schien sich eine Wolke vor die Sonne geschoben zu haben. Ein dunkler Schatten fiel über das Gelände … Schatten? Am Himmel war keine Wolke. Trotzdem wurde die Kraft der Sonne von etwas gemindert. Es ging erst auf den frühen Nachmittag zu, aber das Licht entsprach dem eines sterbenden Tages. Dämmerung. Und Windstille. Lilith fand keine Erklärung dafür, trat nun doch, wie ein erster Impuls es von ihr verlangt hatte, auf den Gehweg zurück – und tauchte wieder ein in die gewohnte Helligkeit und sachte Meeresbrise. Ein Schritt vor … Dämmerung umfing sie. Absurd. Wie der Untergang des Klosters in den Bergen des Monte Cargano, dachte sie. Wie die Tatsache, daß eine erwachsene Frau wochenlang ohne Nahrung auszukommen vermag, ohne ein Gramm abzunehmen … HÖR AUF DAMIT! Sie hörte auf. Sie atmete den Duft der Dämmerung, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl einer wenn auch vagen Vertrautheit. War sie hier schon einmal gewesen? Wann? Als das Haus noch ge-
standen hatte, jenes alte Haus? Oder zu Zeiten, als sich das vom Taxifahrer geschilderte Hochhaus in den Himmel geschraubt hatte? Habe ich hier gelebt? Mit wem? Namen rückten in ihr Bewußtsein. Namen, die sie auf den Rückseiten der Bilder gefunden hatte. Die dazugehörigen Menschen hätten vielleicht dabei helfen können, die Lücken in ihrem Gedächtnis mit Erinnerungen zu füllen. Aber es hatte keine Personenfotos bei dem Stapel gelegen. Und selbst wenn sie hier gelebt hatten, spätestens mit dem Abbruch der Häuser würden auch sie fortgezogen sein. Wohin auch immer … Fast mechanisch ging Lilith weiter. Ihre Füße, von demselben amorphen Material geschützt, das auch die übrige Kleidung bildete, wateten durch das kniehohe Gras wie durch seichtes Wasser. Stärker noch als die innerhalb des Grundstücks reduzierte Helligkeit irritierte es sie, daß sie plötzlich einen Grabstein fand. Sie ging darauf zu, und plötzlich hatte sie das Gefühl, bei jedem Schritt könnte sich der Boden unter ihr auf tun, um sie zu verschlingen! Sie unterdrückte ihre Angst. Sie las den Namen auf dem sehr alten, verwitterten Stein. Las ihn und zuckte zusammen: Creanna … Noch bevor Lilith den Stein ganz erreicht hatte, geriet die Erde vor dem Grab in Bewegung, in regelrechten Aufruhr! Etwas, so hatte es den Anschein, versuchte von dort unten zur Oberfläche vorzudringen. Etwas … Gewaltiges …!
* Paris
»Vielleicht sollte ich dich doch gleich umlegen. Zwei Millionen Francs sind ja auch kein Pappenstiel, nicht?« Natalja sah Hector Landers aus eisigen Augen an. Die Kälte aus dem schwarzen Mündungsloch ihrer Mpi schien jedoch noch sehr viel ärger zu sein. Es glotzte Landers entgegen wie eine leere Augenhöhle. »Das solltest du nicht«, meinte Landers, ohne dem Blick des »Todesengels« auszuweichen. »Nein, natürlich nicht.« Die rothaarige Schöne ließ die Waffe sinken. Landers lächelte. Nach wie vor wußte er kaum etwas über sich selbst. Und die wenigen Dinge, die er ahnte, beunruhigten ihn, je länger er darüber nachsann. Daneben schien er allerdings durchaus ein paar Eigenschaften zu besitzen, die ihm gefielen. Seine geradezu überwältigende Überzeugungskraft gehörte dazu. »Leg das häßliche Ding doch beiseite, ja?« bat er und wies auf die brünierte Waffe in Nataljas Hand. »Ja, natürlich«, sagte sie, ein bißchen schläfrig. »Na, siehst du. So gefällst du mir schon besser.« Landers trat vor sie, berührte mit den Fingern sanft ihre Wangen und sah, wie Natalja erschauerte. Lächelnd wandte er sich ab und trat an die Tür zum Balkon, ohne jedoch hinauszugehen. Der Unterschlupf des »Todesengels« lag in unmittelbarer Nähe zum Péres-Lachaise. Von hier oben aus sah der weitläufige Friedhof aus wie eine eigene, dichtbebaute Stadt mit erstarrten Wächtern. Viele der Grabmäler trugen kleine Dächer, mit Moos und Flechten überzogen, und auf manchen standen aus Stein gehauene Engelsund Heiligenfiguren, als könnten sie den ewigen Schlaf derer, die zu ihren Füßen ruhten, behüten. Die Wohnung lag im Dachgeschoß eines unscheinbaren Hauses mit grauer Fassade, an einer Straße, wie es sie zu Hunderten in Paris gab. Nichts Besonderes – weder besonders schäbig noch besonders
ausgefallen. Vielleicht lag es daran, daß niemand aus der hiesigen Unterwelt wußte, wo Nataljas Versteck lag, wie sie Landers erzählt hatte. Ihre besondere Vorsicht mochte natürlich ebenso ihren Teil dazu beitragen, daß bislang alle Nachstellungen der Konkurrenz ergebnislos geblieben waren. Natalja betrat dieses Haus nie durch den Vordereingang, sondern schlich stets durch Hinterhöfe und die Keller der Nebengebäude hierher, um entweder durch die Hintertür oder eben den Keller in dieses Haus zu gelangen. Ein Auto benutzte sie nie zweimal, weil sie davon ausging, daß man sie damit beobachtet haben konnte und das Fahrzeug dann entsprechend präpariert hatte. Der KGB mochte Natalja zwar eine gute Ausbildung gegeben haben, zumindest eine, die in ihrem mörderischen Geschäft einer Lebensversicherung gleichkam – aber zugleich hatte man aus dem Mädchen eine wohl unheilbare Paranoide gemacht. »Warum hast du deine Heimat verlassen?« fragte Hector Landers, als er spürte, daß das Mädchen hinter ihn getreten war. Etwas wie ihre Aura berührte ihn einem kühlen Hauch gleich. Sie zuckte die Schultern. »Ich wollte auf eigene Rechnung arbeiten.« »Und das hat man so zugelassen?« »Als die Sowjetunion in die Brüche ging, war man mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, als daß man sich um Aussteiger hätte kümmern können.« »Und heute? Sucht man denn nicht nach Aussteigern, um sie zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen?« »Ich muß eben aufpassen«, meinte Natalja, als wäre es das Normalste der Welt, stets im Schatten des eigenen Todes zu leben. Es mußte ein furchtbares Leben sein, fand Landers. Und doch ahnte er in diesem Moment, daß er womöglich ein ganz ähnliches führte – oder eben geführt hatte. Die Tatsache, daß ein Mann namens Gior-
dan Vautier alle Hebel ihn Bewegung setzte, um seiner habhaft zu werden, war ein Zeichen, das in diese Richtung deutete. Vielleicht gab es auf der Welt noch mehr Menschen vom Schlage Vautiers; Menschen, die aus irgendeinem Grund ein Interesse daran hatten, Hector Landers zu beseitigen. Was, überlegte Hector Landers, kann ich nur getan haben, um solchen Haß zu wecken? Zumindest im Falle Giordan Vautiers mußte es etwas wirklich Furchtbares gewesen sein; er mußte diesen Mann in nicht wieder gutzumachender Weise verletzt, vielleicht gedemütigt haben. Landers spürte, daß die Antwort nahe lag. Im wörtlichen Sinne fast. Sein Blick fiel hinüber auf den Péres-Lachaise. Er hatte den Namen des Friedhofs schon einmal gehört, vor wenigen Stunden erst. Im Hause Jerome Vautiers. Der alte Hausdiener hatte ihn genannt. Denn dort sollte sein einstiger Herr begraben liegen … Gedanken wollten sich hinter Hector Landers’ Stirn verknüpfen, um ihm ein Ganzes zu zeigen, um Sinn zu ergeben. Er ahnte diesen Sinn, spürte ihn wie etwas Eisigkaltes in sich aufsteigen – und verbat sich, weiter darüber nachzudenken. Er leugnete das Offensichtliche, schloß die Augen und wandte sich mit einem Ruck um. Natalja zuckte ein klein wenig zurück ob seiner heftigen Bewegung. Er lächelte hart. »Keine Angst«, sagte er nur. »Ich kenne keine Angst«, erwiderte sie. »Du bist schön«, meinte Landers dann, und wieder strichen seine Finger über ihre Wangen, »zu schön zum Töten.« »Es gibt Dinge, die ich ebensogut beherrsche wie das Töten«, flüsterte sie heiser, von neuem schaudernd unter Landers’ sanfter Berührung.
»Zeige sie mir, diese Dinge«, verlangte er. Natalja würde ihm die Ablenkung verschaffen, die er brauchte, um diese drohenden Gedanken zu vergessen. Für eine Weile würde er nicht mehr daran denken müssen, wer er womöglich war, was er getan hatte. Als ahnte Natalja, was in ihm vorging, schloß sie die Tür zum Balkon und zog den Vorhang zu. Damit Landers den Friedhof draußen nicht mehr sehen mußte … Nur Sekunden später konnte Landers feststellen, daß sie nicht nur ein Engel des Todes war. Sie war darüber hinaus auch schön wie ein Engel in ihrer Nacktheit. Und wie ein Engel nahm sie ihn unter ihre Fittiche …
* Die Labors tief unter der Oberfläche von Paris waren seit langem verlassen. Die Arbeiten hier hatten vor Jahren einen Punkt erreicht, über den selbst Giordan Vautier sich nicht hinausgewagt hatte. Weil er gespürt hatte, daß er an den Grundfesten des Seins rühren würde, wenn er es tat. Zwar liebte er die Macht, aber er war nur bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen. Ohnedies hatte er schon einen höheren bezahlt, als er es gewollt hatte. Man hatte ihm diesen Preis abgezwungen. Nein, dachte er, während er mit Alain Bruneau durch den verlassenen Laborkomplex ging, nicht man – Hector Landers hat es getan, der elende Bastard …! Trotzdem lächelte Giordan Vautier. Denn heute würde sich zeigen, daß Landers mit allem, was er damals getan hatte, letztlich nur eines erreicht hatte – sich sein eigenes Grab zu schaufeln! Die Labors – in schattenloses Neonlicht getaucht und nach all den Jahren so aufgeräumt, daß es aussah, als müßten die Forscher jeden Moment hereinkommen, um die Arbeit wieder aufzunehmen –
mochten verlassen sein, doch irgend etwas schwebte in den Räumen. Unsichtbar, aber deutlich zu spüren. Wie ein Echo dessen, was hier einmal geschehen war. Der Hauch des Schreckens. Sie durchquerten den Komplex zur Gänze, gingen durch ein Labyrinth aus Glaswänden, bis sie eine massive Stahltür ohne Klinke erreichten. Vautier aktivierte das Codeschloß seitlich davon. »Monsieur Vautier«, machte Bruneau einen letzten Versuch, seinen Chef umzustimmen, »ich hoffe, Sie sind sich im klaren darüber, was Sie tun. Es …« »Bruneau«, erwiderte Vautier hart, »wenn Sie sich in die Hosen scheißen wollen, dann tun Sie das draußen, ja?« »Nein, das ist es nicht«, wandte Bruneau rasch ein. Strähnen seines schwarzen Haars hingen ihm schweißnaß in die Stirn. »Ich möchte Sie nur daran erinnern, was Sie hier heraufbeschwören. Schon einmal haben Sie –« »Ich weiß, was schon einmal passiert ist!« unterbrach ihn Vautier. Er erinnerte sich nur zu gut. Hector Landers hatte nicht gelogen, damals. Er hatte ihm tatsächlich den Schlüssel zu unvorstellbarer Macht in die Hand gegeben. Und er – Narr, der er gewesen war! – hatte ihn benutzt …
* … damals Vautiers Wissenschaftler – Kapazitäten aus aller Welt, die nicht allesamt ganz und gar freiwillig in seinen Diensten standen, sich jedoch durch die großzügige Bezahlung und die Zusicherung, völlig freie Hand zu haben, hatten überzeugen lassen – brachten Tage und Nächte mit der Analyse der schwarzen Substanz zu, die Hector Landers ihnen überlassen hatte. Doch sie waren nur zu einem Ergebnis gekommen: daß sie etwas
auch nur Ähnliches nie zuvor gesehen hatten. Am ehesten, wenn auch nur ganz entfernt, mochte die Flüssigkeit noch an Blut erinnern. Aber keiner von ihnen konnte sich ein Lebewesen vorstellen, in dessen Adern solches Blut hätte fließen können. Landers selbst hatte ihnen dann zumindest einen Tip gegeben, was sich damit anfangen ließe. Freilich erst, nachdem Giordan Vautier ihm bewiesen hatte, daß er seinen Teil des Handels einzuhalten bereit war und die Suche nach dem ominösen Lilienkelch beginnen ließ. Mitunter fieberhafte Aktivitäten brachen daraufhin weltweit aus. In den entlegensten Gegenden des Globus wurden Ausgrabungen gestartet; Einbrüche in Privatmuseen und geheime Kunstsammlungen waren an der Tagesordnung. Derweil nahmen auch in den Vautier-Laboratorien zunächst noch sonderbare und schließlich erschreckende Dinge ihren Lauf. Während die Fachwelt noch visionierte, was die Gen- und Klontechnik anging, wartete man hier, in dem Komplex unterhalb von Paris, schon mit Ergebnissen auf. Ergebnisse, von denen Giordan Vautier sich von Anfang an eine Mehrung seiner Macht in ganz neue Bereiche hinein versprochen hatte. Nun machten diese Forschungen quasi über Nacht einen gewaltigen Quantensprung. In Bereiche allerdings, die jenseits alles Vorstellbaren lagen. Eine Ratte war das erste Versuchsobjekt. Und sie tötete einen der Forscher, bevor andere ihm zu Hilfe kommen und das mutierte Tier hatten vernichten können. Das kleine Monster war dem Mann buchstäblich an die Kehle gegangen. Wie ein – Vampir … Fortan waren die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. Was dazu geführt hatte, daß man sich an größere Risiken herangewagt hatte. Ein ganzes Heer von Ratten wurde schließlich unter Verwendung der schwarzen Substanz herangezüchtet, das sich nur von ei-
nem ernährte – Blut. Trotzdem hatten die Biester nicht lange überlebt. Ihre Blutlust war schließlich ausgeufert, und sie waren übereinander hergefallen. Die Forschungen waren fortgeführt worden. Mit anderen Objekten. Größeren. Und irgendwann hatte es nur noch eines gegeben, das man noch nicht versucht hatte … Giordan Vautier hatte ein entsprechendes »Versuchsobjekt« besorgen lassen. Niemandem war das Verschwinden des Clochards je aufgefallen … Während all der Zeit lieferte Landers auf Anfrage Nachschub der geheimnisvollen schwarzen Substanz. Obwohl er zunehmend ungehaltener wurde. Denn die Suche nach seinem Objekt der Begierde, jenem Lilienkelch, blieb ergebnislos. Alle möglichen Artefakte, auf die seine Beschreibung teils nur mit sehr viel Phantasie zutraf, wurden nach Paris gebracht. Der wahre Kelch jedoch war nicht darunter. Und es war Landers allmählich anzumerken, daß er meinte, mit dem Handel einen Fehler begangen zu haben. »Keine Sorge, Hector«, hatte Vautier ihn zu beruhigen versucht. Ihr Verhältnis war im Laufe der Zeit vertrauter geworden. »Wenn meine Verbindungen Ihnen diesen Kelch nicht wiederbringen, dann vermag Ihnen niemand zu helfen. Ich setze sozusagen Himmel und Hölle in Bewegung –« »Das genügt nicht, glauben Sie mir«, hatte Landers geantwortet, auf ganz eigenartige Weise, wie Vautier sich entsann. Als hätte er genau das selbst längst schon getan – buchstäblich … Das Experiment mit dem entführten Clochard geriet indes zum Fiasko. Der kleinen Monstren, die sie bislang erschaffen hatten, waren die Wissenschaftler stets Herr geworden. Gegen die Kraft dieses Mutanten jedoch waren sie hilflos. Fast ein Dutzend von ihnen verloren unter seinem Wüten das Leben, nachdem er sich befreit gehabt hatte. Nur mit Müh und Not
war es den verbliebenen gelungen, das Wesen nicht aus dem Laborkomplex entkommen zu lassen. Vautier hatte eine kleine Armee hinunterschicken müssen, um den Amokläufer schließlich vollends zu stoppen. Die Experimente waren trotzdem fortgesetzt worden. Bis zu dem Tag, da Giordan Vautier in gewisser Hinsicht ein anderer Mensch geworden war. Zwei Ereignisse hatten diesen Tag geprägt. Hector Landers war verschwunden. Und Jerome Vautier gestorben. Alles wies darauf hin, daß beides in Zusammenhang stand. Und als hätte er eine Vision gehabt, so war Giordan Vautier plötzlich überzeugt davon, daß er mit einem Teufel paktiert hatte. Vielleicht sogar mit etwas Schlimmerem … Vautier ließ die Arbeiten in den Labors einfrieren. Im wörtlichen Sinne … Alain Bruneau trat zurück, als ihnen eisiger Nebel entgegenwogte. Das Stahlschott war aufgeglitten, die Beleuchtung dahinter hatte sich automatisch eingeschaltet, nachdem Vautier den Code ins Zahlenschloß eingegeben hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Nebel sich soweit gelichtet hatten, daß sie in die Kammer hineinsehen und Details erkennen konnten. Nach Bruneaus Geschmack konnte es gar nicht lange genug dauern … Blinkende Leuchtanzeigen zeigten die Funktionstüchtigkeit der zahllosen elektronischen Gerätschaften an. Keine Störung, seit dieses Schott vor Jahren verschlossen worden war. Bruneau hatte gehofft, es wäre für immer gewesen. Er war damals dabei gewesen, als sie das amoklaufende Monster gestoppt hatten. Und er war weiß Gott nicht auf eine Wiederholung scharf. Die Wissenschaftler hatten seinerzeit bei der Fortsetzung ihrer Arbeit zwar versichert, daß das »Nachfolgemodell« kontrollierbar wäre, den Beweis dafür hatten sie jedoch nie erbringen können.
Wenn auch nur mangels Gelegenheit. Zuvor waren die Experimente über Nacht beendet, das »Objekt« buchstäblich auf Eis gelegt worden. Und da lag es heute noch. In einer Art durchsichtigem Sarg, in den eine Anzahl von Kabeln und Schläuchen führte, die wiederum mit lebenserhaltenden Systemen verbunden waren. Bruneau rührte keinen Finger, um Vautier zu helfen, als der damit begann, die Apparaturen neu zu justieren, um den wie schlafend in dem Behältnis liegenden Nackten »aufzuwecken«. Aber er unternahm auch nichts dagegen. Und schließlich taten sie beide doch eines gemeinsam. Warten.
* Sydney Feuchte schwarze Erde wölbte sich zu einem Hügel, dessen Kuppe etwa in Liliths Nabelhöhe endete. In dem frisch aufgeschütteten Grund wimmelte es vor Leben. Überall krabbelten Käfer, schlängelten sich Würmer oder war graues, komplexes Myzelgeflecht zu erkennen, das entfernt an ein offenliegendes Gehirn erinnerte. Aber das waren annähernd natürliche Anblicke, auch wenn der ein oder andere Käfer, der ein oder andere Wurm so monströs wirkte, daß es Lilith schwerfiel zu akzeptieren, daß er überhaupt auf diesem Planeten beheimatet war. Letztlich aber verblaßte dies alles gegen die Grimasse. Jene Fratze, die aus nichts anderem als dieser teerschwarzen Erde zu bestehen schien und die sich vor Lilith aus dem Hügel herausbildete, als würde dort aus dem Innern heraus ein wirkliches, vielleicht sogar menschliches Gesicht mit genau dosierter Kraft dagegen-
drücken. Und dann begannen sich auch noch die »Lippen« dieser Sinnestäuschung – was anderes sollte es sein? – zu bewegen, Worte zu formen, die dem Klang nach ebensogut aus einem brodelnden Vulkan hätten kommen können, gemäßigt nur durch den Filter, der auch der Sonne ihr Licht stahl! »ENDDDLICH …« Lilith hörte kaum hin. Schon seit der Boden in Bewegung geraten war, hatte sie versucht, vor dem unheimlichen Phänomen zu fliehen. Es gelang ihr nicht. Der Boden hielt sie fest! Das harmlos scheinende Gras hatte sich in unzerreißbare Fesseln verwandelt, die sich auch von dem Stoff des Mimikrykleids nicht beeindrucken ließen und sich um Liliths Beine geflochten hatten. Jeder Versuch, sich loszureißen, scheiterte. Lilith hatte sich blutende Wunden zugefügt, als sie im Affekt versuchte, mit bloßen Händen an den Grasschlingen zu ziehen. Ihr Blut, so hatte es den gespenstischen Anschein gehabt, war von den Pflanzenfäden förmlich aufgesogen worden! Lilith scheute sich nicht, um Hilfe zu schreien. Von der Stelle aus, wo der Alptraum nach ihr griff, konnte sie die Straße wie durch einen lichtschluckenden Vorhang hindurch sehen. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Die Scheinwerfer brannten nicht, weil es dort draußen nach wie vor früher Nachmittag war. Und hier? Konnten, nur einen Steinwurf voneinander getrennt, zwei unterschiedliche Zeitzonen existieren? Unsinn! »ICH WUSSSTE, DASSS DU ZURRRÜCKKOMMMSST …« Der Mund aus Erde sprach unbeeindruckt von Liliths Gefühlschaos weiter. Sie richtete sich auf. Das Kleid hatte sich – wenn auch verspätet –
über die Hände ausgedehnt, aber selbst mit diesem Schutz gelang es ihr nicht, sich vom Zugriff der Gräser zu befreien. Außerdem hatte sie ein ganz seltsames Gefühl, dort, wo der Stoff die blutigen Wunden bedeckte. So, als würde er sie nicht nur verschließen, sondern darüber lecken … Lilith schob den Gedanken weit von sich. (Zungen? Wie sollten Zungen an meine Hände gelangen …?) »WO WARSST DU SO LANGE? ICH VERRSTEHE DIE WELT NICHT –« »Hör auf!« schrie sie. »Wer immer dahintersteckt … hör auf damit! Wenn du mich zu Tode erschrecken wolltest, es ist dir gelungen, aber nun –« »WASS IST LOS MIT DIRRR? ÖFFNE DEINE GEDANKEN! WARUM VERBIRGST DU SIE VOR MIR? WAS HAST DU IN URUK ERREICHT? WO IST DER LILIENKELCH?« Lilith starrte auf das Erdgesicht, dessen Lider geschlossen waren, und sie begriff, daß sie den Moment fürchtete, da sie sich öffnen würden. Schnell blickte sie zur Seite, dorthin, wo der Grabstein stand, und aus einer Eingebung heraus fragte sie: »Kann ich Sean sprechen? – Bist du Sean?« »SEAN?« »Sean Lancaster!« Sie verdrängte, wie wahnsinnig sie bereit sein mußte, wenn sie mit einem Erdhaufen sprach. Wenn sie auch nur glaubte, einen sprechenden Erdhaufen zu sehen … »Ich habe nur diese Adresse und hoffte …« Sie verstummte. Und dann schrie sie. Weil sie noch nie etwas Entsetzlicheres gesehen hatte als das, was hinter den Lidern aus schwarzem Grund lauerte – Lider, die sich in diesem Moment hoben. Zeitlupenhaft langsam. Und wenn sie eben noch geglaubt hatte, selbst wahnsinnig zu sein, so wußte sie in dem Moment, als sie den Wahnsinn, das unbe-
schreiblich irre Funkeln in den glosenden Pupillen dort sah, daß sie sich geirrt hatte. In ihr fraß nicht einmal ein schwacher Abglanz dessen, was zu ihr herüberglotzte. Durch die Dämmerung hindurch. Durch die erstarrte Luft. Blicke, die sie wie Röntgenstrahlen durchleuchteten und wie Klingen sezierten, um ihr Innerstes bloßzulegen, sich die Antworten selbst zu holen, die Lilith ihnen verweigerte …! »Neeeiiinnn!« Plötzlich war außer dem maskenhaft abscheulichen Gesicht noch etwas anderes in dem Hügel. Arme! Arme, die sich ausstreckten und öffneten, als erwarteten sie, daß Lilith sich von ihnen umschlingen und kosen lassen würde wie eine verloren geglaubte, heimgekehrte Toch»Neeeiiinnn!« Sie wußte nicht, woher sie die Kraft nahm, aber die Entschlossenheit, mit der sie sich gegen ihre Fesseln stemmte, reichte nun doch, sie zu sprengen. Die Schlingen fielen von ihr ab! Taumelnd rang Lilith um ihr Gleichgewicht, vermied einen Sturz und begann zu rennen. Weg von dem Grab – weg von dem Hügel, dem Gesicht und den tumben Armen … »Helft mir!« schrie sie. »Hört mich denn keiner? Du da! Anhalten …!« Winkend stolperte sie auf einen maroden Lastwagen zu, der beinahe im Schrittempo fuhr und dessen offene Ladefläche heillos mit Schrott und sonstigem Gerümpel überladen war. Hinter der Scheibe des Führerhauses erkannte Lilith zwei Personen, Männer, deren Gesichter dreckverschmiert waren und vor Schweiß troffen. Der Beifahrer schaute einige Male in Liliths Richtung, zeigte aber keinerlei Regung, obwohl ihre offensichtliche Panik und Verzweiflung eigentlich keinen Menschen hätte völlig kalt lassen dürfen.
Aber er behandelte sie wie Luft, als sähe er einfach durch sie hindurch … Das tut er auch! Lilith wußte nicht, woher die plötzliche Gewißheit kam. Sie gab das Winken und Schreien, das ohnehin niemand hörte, auf und konzentrierte sich nur noch auf ihr Rennen. Als sie über die Schulter blickte, hatte sie sich weit von dem Grabstein entfernt, und trotzdem … kam die Straße nicht näher! Verdammt, wach auf! Du mußt eingeschlafen sein! Das träumst du bloß …! Unmittelbar vor ihr brach die Erde auf. Ein Hügel. Ein Gesicht. Und eine fast schon beleidigt klingende, brodelnde Stimme, die kategorisch erklärte: »GENUG! KOMM JETZT ZU MIRRR!« Arme, vor denen es kein Entrinnen gab, griffen nach Lilith, packten sie mit kalter, unbeugsamer Härte und zogen sie dann mit sich dorthin, woher sie gekommen waren. In die Tiefe. Das letzte, was Lilith Eden fühlte, war Erde in ihrem Mund, in ihrer Nase und ihren Augen. Dann …
* Paris »Mein Gott!« Hector Landers verzog unwillig das Gesicht, als Natalja unter ihm diese Worte stöhnend ausstieß. »Wirst du denn nie müde?« fragte sie, lächelnd allerdings, nicht
vorwurfsvoll. Und Landers wertete das als Aufforderung, sie davon zu überzeugen, daß sie recht hatte. Draußen begann sich die Nacht über Paris zu senken, während er sich ein weiteres Mal in Natalja »vertiefte«. Er wußte nicht mehr, zum wievielten Male in den vergangenen Stunden. Mit ihr zu schlafen war kein Vergleich zu dem, was er mit Lilith Eden getan hatte. Im nachhinein schien es Landers, als hätte etwas Liliths Leidenschaft gebremst. Natalja indes vergalt ihm alles, was er ihr angedeihen ließ, doppelt und dreifach. Als er seine Bewegungen nun etwas langsamer werden ließ, schlang sie ihm blitzschnell die Beine um den Oberkörper und drehte ihn mit einem fast schmerzhaften Ruck aufs Kreuz, um schon in der nächsten Sekunde rittlings auf ihm zu sitzen. »Wozu so eine Nahkampf-Ausbildung doch gut sein kann«, grinste sie spitzbübisch. Diesmal gab sie das Tempo vor, ein geradezu atemberaubendes, und Landers meinte, ihr Schrei müßte die Toten drüben auf dem Friedhof aus ihrer Ruhe schrecken. »Durst?« fragte sie keuchend, nachdem sie neben ihn geglitten war. Ihre Hand verschwand neben dem Bett und kam mit einer geöffneten Flasche Krimsekt wieder zum Vorschein, die sie ihm hinhielt. »Nein«, wehrte er ab, »darauf nicht.« Sie setzte die Flasche an den Mund. Schäumend perlte ihr der Sekt über Lippen und Kinn, rann weiter über ihren Hals bis hin zu ihren Brüsten. Landers’ Finger verrieben das Naß auf ihren Brustwarzen, die sich unter der Kühle und den Berührungen verhärteten. »Nicht schon wieder«, ächzte sie lächelnd, entwand sich ihm und lief hinaus auf den Balkon, nackt wie sie war. Er folgte ihr. Der Anblick ihrer Kehrseite, die sie ihm provozierend entgegenhielt, während sie sich auf das schmiedeeiserne Gelände stützte, ließ Landers’ Glied sich von neuem aufrichten. Er trat hinter
sie, drang in sie ein, rührte sich aber weiter nicht. Gemeinsam blickten sie hinüber zu den Gräbern des Péres-Lachaise. Schweigend, eine ganze Weile lang. »Möchtest du mich noch immer an Vautier ausliefern?« fragte Hector Landers schließlich. Natürlich kannte er ihre Antwort. »Nein«, sagte sie denn auch, »sicher nicht.« »Und wenn ich dich darum bitten würde?« »Warum solltest du das tun?« »Vielleicht, weil ich mich mit Vautier unterhalten möchte«, sagte Landers. »Und wo?« Hector Landers starrte hinab auf den Péres-Lachaise …
* Stunden waren vergangen. Stunden, in denen Alain Bruneaus Unbehagen sich stetig gesteigert hatte, bis an die Grenze des Unerträglichen und schließlich darüber hinaus. Obgleich nichts geschehen war, das dieses Unbehagen gerechtfertigt hätte. Es lag allein an seiner Gegenwart. Als hinge ihm noch immer ein spürbarer Hauch jener Kälte an, in der er Jahre zugebracht hatte. Sah man jedoch davon ab, daß er unnatürlich bleich war – ganz so eben, wie jemand aussehen mußte, der seit langer Zeit von keinem Sonnenstrahl berührt worden war –, wirkte er wie ein Mensch. Er …? Es! Bruneau war dem Anschein zum Trotz nicht bereit, diese Kreatur auch nur in Gedanken als Menschen zu bezeichnen. Es war ein Wesen, das seine Menschlichkeit eingebüßt hatte und zu etwas anderem geworden war. Zu einem Geschöpf, nichts weiter. »Sehen Sie, Ihre Befürchtungen waren unbegründet«, meinte Giordan Vautier lächelnd. Seit einer halben Stunde saß er nun schon hin-
ter seinem riesigen Schreibtisch und tat kaum etwas anderes, als die Kreatur anzustarren, die sie erweckt hatten. Das Wesen schien seinen Blick zu erwidern, tatsächlich jedoch mochte es so sein, daß der Blick dieser eisfarbenen Augen durch alles hindurchging. Gesprochen hatte das Wesen auch noch kein Wort. Was seine Unheimlichkeit, jedenfalls für Alain Bruneau, nur noch verstärkte. »Vielleicht ist es ja noch nicht ganz aufgetaut«, versuchte er sich mit einem müden Scherz, den Vautier mit einer flüchtigen Bewegung seiner Lippen quittierte, weit entfernt von einem Lächeln. »Es – wie das klingt«, meinte er dann. »Er hat sich doch sehr zu seinem Vorteil verändert. Sehen Sie ihn sich an.« Bruneau erinnerte sich natürlich daran, daß sie auch diesen Mann – oder vielmehr den Mann, der dieses Wesen einmal gewesen war – am Ufer der Seine aufgelesen hatten: stinkend und schmutzig, in Lumpen gekleidet. Insofern hatte Vautier nicht einmal so unrecht; der Anzug, den das Geschöpf jetzt trug, saß zwar nicht ganz wie maßgeschneidert, aber er trug sein Teil dazu bei, über das wahre Wesen der Kreatur hinwegzutäuschen. Nur um das ihm unangenehme Thema zu wechseln, deutete Bruneau zum Telefon hin. »Was, wenn sie sich nicht meldet? Vielleicht ist Landers ihr entkommen und …« Vautier schüttelte sacht den Kopf. »Der Engel wird sich melden. Ich bin ganz sicher. Ich spüre, daß dies die Nacht ist, auf die ich lange gewartet habe.« Dumpfes Donnergrollen, durch die Spezialglasscheiben gedämpft, untermalte seine Worte dramatisch. Und als hätte es nur eines Stichwortes bedurft, schlug das Telefon an. Vautier meldete sich mit einem knappen »Ja«, hörte dann nur zu und legte mit einem »Oui« auf. »Und?« fragte Bruneau.
»Sie war es«, nickte Vautier. Sein Gesicht schien sich zu verdüstern, als verändere sich das Licht im Raum. »Was hat sie gesagt?« »Sie will sich mit uns treffen.« »Wo?« Giordan Vautier atmete tief, fast gequält ein. »Auf dem PéresLachaise.« Er setzte eine kurze Pause, als bereite es ihm Schmerzen, weiterzusprechen. »An Jeromes Grab«, ergänzte er schließlich.
* »Ich muß verrückt sein!« Die 17jährige Myriam preßte die Worte hervor, nicht halb so locker, wie sie es sich gewünscht hätte. Ihre Unbedarftheit ließ sich längst als das entlarven, was sie tatsächlich war – aufgesetzte Maskerade, die über ihre Angst hinwegtäuschen sollte. Es gehörte nun einmal nicht zu den Dingen, die sie nicht rührten, bei Nacht über einen Friedhof zu schleichen. Und schon gar nicht bei einem aufziehenden Gewitter … Ein Blitz zerriß den Mantel der Nacht und tauchte sekundenlang die Grabmäler des Péres-Lachaise in Helligkeit, grellweiß und schattenlos, blendend. Automatisch schloß Myriam die Augen. Ihre Finger schlossen sich so fest um Victors Hand, daß der Junge, ein Jahr älter als sie, aufstöhnte. »Nun hab dich nicht so«, flüsterte er halblaut und etwas ungehalten. »Hier kann uns nichts passieren. Im Gegenteil – das ist einer der sichersten Orte in ganz Paris.« Myriam blinzelte heftig, weil das Licht des Blitzes sie so sehr geblendet hatte, daß sich schattenhafte Konturen in ihre Netzhäute gebrannt hatten und ihren Blick trübten. »Haha«, machte sie dann. »Man hört eine ganze Menge über Grä-
berschänder und ähnliches.« »Das hat nachgelassen, seit die Friedhöfe nachts bewacht werden«, versuchte Victor die Sache herunterzuspielen. »Ach ja? Wir sind doch auch reingekommen, oder?« Darauf blieb Victor ihr die Antwort schuldig. Trotzdem dachte sie nicht im entferntesten daran, einen Rückzieher zu machen. Dazu lag ihr viel zuviel an Victor. Es gab kein Mädchen der Oberstufe, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Sie hatte es beim letzten Schulfest schließlich geschafft, seine Aufmerksamkeit in ausreichendem Maße zu erregen, daß er sich für sie interessiert hatte. Ihn zu bitten, ihr beim Aufhängen der Lichterkette behilflich zu sein, war der richtige Trick gewesen. So hatte sie ihm, auf einer Leiter stehend, einen Blick unter ihr Kleid erlauben können – wobei er sich davon hatte überzeugen können, wie wenig Wert sie auf Unterwäsche legte. Noch am selben Abend hatten sie miteinander geschlafen. Für beide war es nicht das erste Mal gewesen, aber ohne Zweifel das beste! Das lag jetzt einige Wochen zurück, und inzwischen hatten sie beide eine Art Spiel entwickelt: Sie trieben es an außergewöhnlichen Orten. Heute abend hatte Victor Péres-Lachaise vorgeschlagen. »Am besten auf dem Grab von Jim Morrison«, hatte er gemeint. »Vielleicht singt er uns ja aus dem Jenseits etwas vor. ›Riders in the Storm‹ oder so …« Darauf konnte Myriam denn doch verzichten … Das Grab des 1971 in Paris unter bislang ungeklärten Umständen verstorbenen »Doors«-Sängers bei Dunkelheit zu finden, erwies sich jedoch als nahezu unlösbare Aufgabe. Trotz ihrer mitunter bizarren Gestalten ähnelten sich die einzelnen Grabmäler im Dunkeln so sehr, daß eine Orientierung kaum möglich war. Als dann auch noch Regen einzusetzen begann, schlug Victor vor, doch das nächstbeste Grab zu nehmen. Myriam nickte nur und ließ sich auf einer Abdeckung nieder.
Schnell raffte sie ihren Rock. Feuchtes Moos berührte kühl ihren Hintern. »Komm, mach schon«, verlangte sie mit bebender Stimme. Das Ganze reizte sie doch mehr, als sie es sich je hätte träumen lassen. Victor knöpfte seine Jeans auf und ließ die Hose bis zu den Knien hinab. Daß ihn die Aktion nicht weniger erregte als Myriam, war deutlich zu sehen. Wieder blitzte es. Donner rumorte, als protestiere die Natur gegen das Treiben des jungen Pärchens. Dann zuckte Victor plötzlich zurück! »Was ist?« fragte Myriam verwirrt. »Hast du das nicht gehört?« fragte er. Sie lachte auf. »Hey, haben wir die Rollen getauscht? Spielst du jetzt den Angsthasen? Komm her!« Sie zog in zu sich heran. »Au! Bist du verrückt?« stöhnte Victor auf. Er entwand sich ihrem Griff. »Nun hab dich nicht so!« äffte Myriam ihn nach. »Das waren deine Worte, oder?« Mit einer Handbewegung gebot er ihr zu schweigen. Den Kopf hielt er schief, lauschte ins Dunkel. Myriam tat es ihm nach, hörte aber nur das feine Rauschen des Regens. Bis – »Was ist das?« fragte sie erschrocken. Ein kratzendes Geräusch. Als riebe Stein über Stein. »Ich weiß es nicht«, flüsterte Victor atemlos. Das Geräusch wiederholte sich, lauter und länger diesmal. »Mein Gott!« entfuhr es Myriam. »Das klingt, als ob –« Victor wußte, was sie sagen wollte, weil er ihren Verdacht teilte. Aber es konnte nicht sein. Unmöglich! »Unsinn«, meinte er deshalb, aber er klang kaum überzeugend. »Laß uns verschwinden!« keuchte Myriam. Victor nickte nur, zog seine Hose hoch, langte nach Myriams Hand
und lief los. Der Regen nahm zu, erschwerte die Sicht so sehr, daß sie kaum noch sahen, wo sie hinliefen. In das Platschen des Regens auf Stein und Erde mengten sich andere Geräusche – Schritte? Sie rannten schneller, blind und taumelnd. Myriam stolperte, schrie auf und stürzte. Ihre Finger glitten aus Victors Hand. Hastig wandte er sich um. »Myriam?« rief er erschrocken. Das Mädchen – war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt! »Wo bist du?« schrie er in die Dunkelheit. Ein erstickter Laut antwortete ihm, ganz in der Nähe. Victor trat um einen fast doppelt mannshohen Grabstein herum. Ein Blitz flammte auf – und beleuchtete ein grauenhaftes Szenario! Mit weit aufgerissenen Augen hing Myriam in den Armen eines Fremden. Als er Victors gewahr wurde, schlug er das Mädchen so heftig gegen den Stein, daß der Junge das Brechen ihres Genicks selbst über dem Grollen des Donners hören konnte. Victors Gehirn brüllte einen Fluchtbefehl. Doch seine Beine waren taub. Völlig reglos, gelähmt vor Entsetzen und Todesangst, ließ er den Unheimlichen gewähren. Wenig später kam er neben Myriam zu liegen. Längst tot.
* Sydney Lilith erwachte aus ihrer Ohnmacht, weigerte sich aber, die Augen zu öffnen. Sie hatte Angst vor der Umgebung, vor der Szenerie, mit der ihre Blicke sie konfrontieren würden. Ihre Zunge wühlte hinter verschlossenen Lippen, suchte nach Resten feuchter Erde, nach Ma-
den und Käfern … Aber da war nichts. Liliths Gaumen war trocken wie üblich, ihre Kehle auch. Hatte sie den Besuch der Sydneyer Adresse tatsächlich nur geträumt? Ihre Eindrücke nach dem Erwachen sprachen dafür: Sie lag nicht, sie saß. Polster und Lehnen fühlten sich zwar anders an, als sie es von ihrem Platz im Flugzeug in Erinnerung hatte, aber das mochten Irritationen ihrer Sinne sein. Stell dich der Wahrheit! Diese verdammte, besserwisserische Stimme, die sie selbst war … »Wie fühlst du dich?« Ihr Magen krampfte sich zusammen – wenn sie überhaupt einen hatte. Die brüchige Stimme wiederholte: »Wie fühlst du dich? Sag endlich! Es macht sich Sorgen um dich … und ich auch.« Sie konnte nicht anders: Sie hob die Lider (wie die Fratze aus schwarzer Erde es getan hatte …). Sie war in einem ihr unbekannten, karg möblierten Zimmer. Ein Bett, ein Sessel, Tisch und Schrank – an den Wänden hingen ein paar vereinzelte Bilder … rahmen. Leere Rahmen, wie es den Anschein hatte, obwohl darin nicht die dahinterliegende Wandfarbe zu sehen war, sondern nur merkwürdig blinde Flächen, die Lilith auf Anhieb Furcht einflößten, so als könnten auch dies nur bizarre Lider sein, die sich irgendwann – jetzt! – öffnen würden. Die Person aber, die mit matter, femininer Stimme zu ihr gesprochen hatte, sah Lilith nirgends. »Wer … ist da?« »Deine Mutter!« Die Stimme kam aus dem Nichts, aus den Wänden oder sonstwoher. »Meine Mutter?«
»Du dachtest, ich wäre tot. Aber an diesem Ort stirbt und verlöscht nichts. Die Kelchmagie hält alles fest, bewahrt es …« »Kelchmagie? Wo bin ich?« »Du weißt nicht, wo du bist?« »Würde ich sonst fragen?« »Darüber sind wir uns noch nicht klar.« »Wir?« »Das Haus und ich.« »Welches Haus?« »Das, in dem ich dich zur Welt brachte …« »… und das abgerissen wurde?« Lilith stand vor dem Sessel und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Der Traum, der sie wie ein Alp quälte, war immer noch nicht zu Ende. »Nichts geht verloren – auch wenn es der Wahrnehmung der Menschen entrückt. Was hier war, wird ewig sein, eingebettet in Kräfte, die auch dich durchdringen, die auch bei deiner Zeugung beteiligt waren.« »Wenn du wirklich bist, wer du zu sein vorgibst, zeig dich mir!« »Du siehst mich. Ich bin Teil dieser Räume, dieses Hauses … Sag endlich, was passiert ist. Vorher wirst du das Geschenk nicht erhalten.« »Was für ein Geschenk?« Irgendwo in den Wänden, im Boden, in der Decke schien sich ein Grollen zu sammeln – als müßte eine Kreatur erst genügend Atem schöpfen, um ihren Zorn zu entladen. »Was ist passiert?« fragte die Stimme. »Gib Antwort! Du bist zu Gehorsam verpflichtet! Du hast eine Aufgabe, der du dich nicht einfach entziehen kannst! Warst du in Uruk? Und was ist dort geschehen? Irgend etwas ist passiert. Wir wissen es – aber nicht genug. Die Befragten kannten selbst nur Gerüchte …« »Uruk? Ich wünschte, ich wüßte selbst, wo ich war, bevor ich …
zu mir kam – aber ich suche selbst Antworten! Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin! Und du kannst es mir auch nicht sagen! Das hier ist nur ein hartnäckiger Traum, dem ich aber entfliehen werde. Ich muß nur Geduld haben … etwas Geduld …« Die Stimme lachte häßlich. »Es war geduldig. Mit dir! Aber das ist nun vorbei. Wenn du die Schranken um dein Gedächtnis nicht freiwillig öffnest, wird Es sie niederreißen!« »Gern.« Lilith schwankte immer noch zwischen der Überzeugung, daß diese Geschehnisse hier nur einer wüsten Phantasie – ihrer Phantasie! – entspringen konnten, nicht der Realität, aber es gab auch leise Zweifel, die zaghaft anfragten, was sie tun wollte, wenn es doch Realität war … »Du weißt tatsächlich nichts mehr?« Die Stimmlage hatte sich verändert, klang jetzt beinahe besorgt, aber immer noch hart wie Stein. »Ich verstelle mich nicht – ich weiß nicht, wer ich bin!« entgegnete Lilith. »Ich habe es vergessen! Mein Gedächtnis mag blockiert sein, aber nicht durch meine Schuld! Vielleicht war es ein Unfall, vielleicht ist es eine Krankheit, oder jemand quält mich gewollt mit völligem Vergessen … Ganz egal, was davon zutrifft, wenn ›Es‹ in der Lage ist, mir die Erinnerung zurückzubringen, dann bin ich damit einverstanden!« Die Stimme antwortete nicht mehr. Dafür verschwand alles um Lilith herum. Es war, als tauchte sie in flüssige Finsternis, in der sie dennoch weiteratmen konnte. Jedenfalls bis … … Es bei ihr war.
* Paris
Auf eigene Faust wäre es unmöglich gewesen, Jerome Vautiers Grab auf dem Péres-Lachaise zu finden – schon gar nicht in dieser Gewitternacht. Aber Hector Landers und Natalja hatten einen Führer, der ihnen den Weg wies. Einen uniformierten Wächter, der ihnen den Weg verstellt hatte, kaum daß sie durch eines der Tore das Areal betreten wollten. »Die Besuchszeit ist zu Ende. Der Friedhof ist geschlossen«, hatte er erklärt, ganz im Tonfall eines Mannes, der eine absurde Freude aus dem Tragen einer Uniform zog, mochte ihr Zweck auch noch so nichtig sein. »Aber für uns nicht«, hatte Landers gemeint und den Mann kalt angelächelt. »Nein, für Sie natürlich nicht.« »Na also.« Landers hatte zufrieden genickt. »Wo finden wir das Grab von Jerome Vautier?« hatte er dann gefragt. Das hatte der Uniformierte nicht auf Anhieb zu sagen gewußt. Nur die etwaige Richtung hatte er gekannt, sich aber bereiterklärt, sie hinzubringen und ihnen dort bei der Suche behilflich zu sein. Nachdem Landers ihn höflich, aber auch nachdrücklich darum gebeten hatte. Nun schritten sie durch die Gräberstadt. Tausende von Toten mußten hier bestattet sein, und es mochte schon bei Tage ein Leichtes sein, sich auf dem weitläufigen Areal zu verlaufen. Bei Nacht war es fast unausweichlich. »Hier irgendwo muß es sein«, murmelte der Wächter, nachdem sie annähernd eine halbe Stunde unterwegs waren. Steinerne Figuren starrten von allen Seiten auf sie herab, und im gelegentlich aufflackernden Licht eines Blitzes schien es tatsächlich, als würden die Gestalten auf ihren Sockeln sich bewegen, die Köpfe drehen, um jeden Schritt der Eindringlinge zu beobachten. Landers fühlte ein merkwürdiges Unwohlsein beim Anblick der
christlichen Symbole, die in die Grabsteine eingemeißelt waren. Fast so, als würden ihm die Kreuze darauf leichte Kopfschmerzen bereiten … »Vielleicht sollten wir uns trennen«, meinte Natalja. »Dann würden wir schneller fündig.« »Nein«, lehnte Landers ab. »Wir sind zwar vor der vereinbarten Zeit hier, aber ich möchte vermeiden, daß wir Vautier und seinen Leuten, die er sicher mitbringen wird, getrennt in die Arme laufen.« »Also, ich fürchte mich nicht«, lächelte Natalja und strich über das matt schimmernde Metall ihrer Waffe, die sie am Gurt um die Schulter trug. »Ich auch nicht«, grinste Landers, und die Art, in der er dabei die Zähne fletschte, schien für den Moment bedrohlicher als Nataljas Mpi. »Trotzdem bleiben wir zusammen.« So schritten sie also gemeinsam die Reihen der Grabmäler ab, wobei der Wächter hin und wieder die Richtung korrigierte und im Licht seiner Taschenlampe die Namen der Grabinschriften las, um sich zu orientieren. »Was ist denn das?« fragte Natalja plötzlich. Ein Blitz zuckte auf und tauchte den Friedhof in gleißendes Licht. Ehe es erlosch, sah Landers gerade noch, was der »Todesengel« gemeint hatte. Die schwere Marmorplatte über einem der Gräber war verrückt worden, gerade so weit, daß ein Erwachsener durch die Lücke passen mochte. »Ein geöffnetes Grab?« fragte er lauernd. Im Licht der Lampe des Wächters konnten sie in die marmorumrahmte Grube hinabsehen, auf einen Sarg – der offenstand. Und der leer war! »Leuchten Sie!« verlangte Landers und wies auf die verrutschte Deckplatte. Der Wächter richtete den Lichtkegel auf die Inschrift. Du mögest in Frieden ruhen Denn Dein Tod wird nicht ungesühnt bleiben
JEROME VAUTIER 1953-1979 »Hier ist es ja«, meinte der Friedhofswächter lächelnd.
* Hector Landers stieß den Uniformierten beiseite. »Verschwinden Sie«, fuhr er ihn barsch an. Schweigend gehorchte der andere und trottete von dannen. Bald hatte die Nacht ihn verschlungen, und der Regen schluckte seine Schritte. Stille kehrte ein, fast andächtig, als trauere zumindest Hector Landers am offenen Grab eines Mannes, den er einmal gut gekannt haben mußte – – und den er vor fast zwanzig Jahren getötet hatte? Alles deutete darauf hin, aber Landers wollte es nicht glauben. Auch wenn er nicht wußte, wer und was er einmal gewesen war – er konnte doch unmöglich ein Mörder gewesen sein! Oder doch? Es mußte sich um einen Irrtum handeln. Vielleicht hatte Giordan Vautier gar keine Beweise dafür, daß er, Landers, seinen Sohn umgebracht hatte. Vielleicht verdächtigte er ihn nur. Aber wie, um alles in der Welt, sollte Landers ihn vom Gegenteil überzeugen? Er wußte nichts, gar nichts – weder über seine Schuld noch über seine Unschuld! »Merkwürdig«, meinte Natalja nach einer Weile. »Hm?« »Na, das hier.« Sie wies mit dem Lauf ihrer Waffe hinunter in die Schwärze des leeren Grabes unter der verschobenen Marmorplatte. »Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, murmelte Landers. »Ich wünschte, ich wüßte es – ich gäbe alles dafür.« »Wir sollten verschwinden«, meinte die Ex-KGB-Agentin. Natalja widmete der Umgebung ein klein wenig mehr Aufmerk-
samkeit, als Landers es tat. Er wirkte fast erschüttert, wie er da vor dem offenen, leeren Grab stand. Trotzdem genügte auch ihre Umsicht nicht. Urplötzlich tauchte das Licht etlicher Lampen den unmittelbaren Umkreis von Jerome Vautiers vermeintlich letzter Ruhestätte in Helligkeit. Die Schritte mehrerer Personen näherten sich. Dann ein Schrei. »Mein Gott! Was hast du getan?« Eine Gestalt stürmte heran, stieß Natalja beiseite und fiel vor dem Grab auf die Knie, starrte hinab in die Tiefe, die vom Streulicht der Lampen etwas erhellt wurde und ihre Leere offenbarte. »Du hast mir meinen Sohn zum zweiten Mal genommen, Landers!« brüllte Vautier voller Zorn und Trauer. »Nein, so war es nicht«, sagte Landers hastig. »Wir haben das Grab so vorgefunden. Es …« »Lüg mir nicht ins Gesicht, du Bastard!« »Nun mal halblang«, mischte sich Natalja ein. Die Mündung ihrer Waffe »küßte« Vautiers Wange. Der alte Mann lachte auf, und es klang wie das Lachen eines Wahnsinnigen. »Erschieß mich ruhig«, sagte er. »Mein Tod kümmert mich nicht. Ich bin am Ziel.« »Dein Wunsch ist mir Befehl.« Nataljas Stimme troff vor Zynismus. Schüsse zerrissen die Nacht. Und Kugeln zerrissen den Engel des Todes!
* Sydney Vielleicht war Es … der Tod. Vielleicht der Dämon des Sterbens, der
Dämon der Qual, der sich am Leid eines jeden Wesens auf Erden weidete – die Marter des Alterns und der Schmerzen, die in spröden Knochen nisteten und in engen Herzen, deren Adern von Fettgerinnseln verklebt wurden … Lilith wünschte, nie nach Sydney aufgebrochen zu sein. Die vermeintliche Spur war eine Sackgasse, in der sie elend zugrunde gehen würde. Elend und so allein, wie sie gekommen war! Ein Weg ohne Wiederkehr und ohne Antworten … Wie grotesk, daß andere Auskünfte von ihr erwarteten – ausgerechnet von ihr! Die tote Kraft, die sie gefangen hielt, sank wie gefrierender Regen in Liliths Geist und hielt darin Umschau, grauenhafte Abdrücke hinterlassend. Lilith glaubte nicht länger, alles könnte nur Traum sein. Sie war in Sydney angekommen. Und in der Paddington Street. Sie hatte mit einem Gesicht aus schwarzer Erde gesprochen. Und war von Erde verschlungen worden. Aber dann … Wer hatte zu ihr gesprochen? Wirklich die Frau, deren Grabstein sie gesehen hatte und die behauptete, ihre Mutter zu sein? Eine Tote …? Es war Wahnsinn – aber damit fügte es sich nahtlos an das, was Liliths Leben seit dem ersten Augenblinzeln im Monte Cargano bestimmte. Ich bin kein Mensch, dachte sie. Aber warum sagt mir nicht endlich jemand, was ich bin? DU WEISST ES WIRKLICH NICHT … Es waren nicht ihre Gedanken – und es war keine Stimme: Es war … Es. Das, was in ihr war. In ihr Dämme niederreißen wollte … … und keine Dämme fand. DU BIST WENIGER ALS DU WARST, ALS DU ZUM ERSTEN
MAL VON HIER GEFLOHEN BIST – ZU FRÜH, UM DEINER BESTIMMUNG SO GERECHT ZU WERDEN, WIE SIE ES WOLLTE. Sie? Wer war sie? Lilith erhielt keine Antwort aber sie spürte das Staunen der Kraft, die auf ihre Grenzen gestoßen war. Die nicht anzapfen konnte, was nicht existierte. Was … erloschen war. Erinnerungen. SELTSAM. DEIN GEDÄCHTNIS IST INTAKT – DAS WISSEN, DAS DIR TRÄUME ÜBER JAHRZEHNTE SCHENKTEN, EXISTIERT IMMER NOCH. DU BEHERRSCHST JEDE SPRACHE, JEDE MATHEMATIK UND … MAGIE. ABER DU WEISST NICHT EINMAL MEHR, WAS IN LLANDRINWYTH, IN MAURETANIEN, DEM HIMALAJA ODER JAPAN GESCHAH, OBWOHL DIES DEINE WICHTIGSTEN WEGMARKEN WAREN. ICH KANN NICHT SEHEN, OB DU JE IN URUK WARST. OB DU DIE AGRIPPA FANDEST UND DEN KORRIDOR DER ZEIT. ABER DIE, DIE ICH DIR ZUM GESCHENK MACHEN WOLLTE, WUSSTEN VON EINEM STERBEN, DAS DIE ALTE RASSE HEIMSUCHT … VIELLEICHT SCHON AUSGEROTTET HAT. WARST DU DAS? BIST DU SO LEER, WEIL DU ERFOLG HATTEST …? Ich verstehe kein Wort, dachte Lilith benommen. Wen wolltest du mir »zum Geschenk« machen? In der Kälte, unter der ihr Verstand klirrte, öffnete sich ein Fenster. Sie sah einen Raum. Wenn es ein Raum war. Darin kauerten mehrere Gestalten, Männer und Frauen, uralt … SIE SIND NOCH VIEL ÄLTER, ALS DU DENKST – ABER SEHEN KANNST DU ES NUR, WEIL IHNEN IHR LEBENSELIXIER FEHLT. Lebenselixier? BLUT. ES SIND VAMPIRE. DIE LETZTEN VAMPIRE VON SYDNEY UND IHRE KREATUREN. EINIGE BEWACHTEN DIESEN
ORT HIER AN DER PADDINGTON STREET, NACHDEM IHR HOCHHAUS IN SICH ZUSAMMENGESTÜRZT WAR UND ETWAS, DAS SIE NICHT VERSTANDEN, SEINEN PLATZ EINGENOMMEN HATTE. ICH FING SIE EIN. EINEN NACH DEM ANDEREN. ICH HOLTE SIE ZU MIR, UM SIE DIR ZUM GESCHENK ZU MACHEN. ICH HOFFTE, DU WÜRDEST EINES TAGES WIEDERKOMMEN … Hör auf, ich will nichts mehr hören! Was tust du den armen Menschen an …? MENSCHEN? Das Fenster schloß sich wie die Irisblende einer Kamera – aber langsam genug, um Lilith noch sehen zu lassen, wie die Eingepferchten plötzlich ohne eine erkennbare Ursache anfingen zu brennen und mit aufgerissenen Mündern – aber unhörbar – brüllten, durcheinanderliefen, stürzten, sich wieder aufrappelten, bis … Du … hast sie getötet! schrien Liliths Gedanken. Übelkeit drängte ihre Kehle hinauf. Du Monstrum hast sie umgebracht! Für Sekunden schwieg das Haus. Dann, als die körperlose Stimme erneut in Liliths Kopf aufklang, war sie wieder so hart und kalt wie zuvor. ALLES, WAS EINST LILITH EDEN AUSGEMACHT HAT, IST ERLOSCHEN! GEH! GEH FORT VON HIER UND KOMM NIE WIEDER! GEH, SOLANGE MICH DIE ERINNERUNG NOCH SANFTMÜTIG STIMMT. Lilith krümmte sich. Fremde Haut zog sich auf ihrer eigenen zusammen. Das Kleid … sie hatte es fast vergessen … ES IST WIE DU, empfing sie ein letztes Mal die tonlose Stimme. VERKRÜPPELT. EIN ABGLANZ VON EINST … Die Dunkelheit, das Nichts, oder was immer es war, begann zu brodeln. Eine eruptierende Kraft trug Lilith nach oben. Und spie sie aus. In
eine Nacht, die ihre Augen blendete. Eine Nacht, die hinter einer unsichtbaren Grenze wartete, weil ihr der Zutritt zu diesem Ort verwehrt war. Für alle Zeit. »O Gott …!« brach es aus Lilith hervor. Dann begann sie, verzweifelter als in Rom, verzweifelter als in jedem anderen Moment seit ihrem Erwachen im Kloster, in Richtung der Straße zu wanken.
* Paris Hector Landers kniete in Blut. Der davon aufsteigende Geruch umnebelte und berauschte ihn. Hätte nicht Entsetzen ihn gelähmt, vielleicht würde er endlich erkannt haben, welch besonderer Saft Blut doch war – zumal für ihn … So aber hockte er starr da und stierte auf Natalja hinab. Auf ihren Leib, der ihm vor so kurzer Zeit noch unbeschreibliche Freuden beschert hatte. Und der nun zerfetzt war, blutig. Tot. Einzig ihr Gesicht war unversehrt. Wie in grausamer Ironie des Schicksals erinnerte es Landers an die wundervollen Momente, die sie geteilt hatten. »Warum?« fragte er schließlich, tonlos, kaum hörbar. Niemand antwortete ihm. Nur Schritte näherten sich. Ohne aufzusehen wußte Landers, daß sie einen Kreis um ihn schlossen. »Warum?« Jetzt sah er doch auf, und wie zufällig traf sein Blick genau den Vautiers. Der alte Mann schaute auf ihn herab, lächelnd, aber es war ihm anzumerken, daß er nicht den Triumph verspürte, den er sich von diesem Augenblick erhofft haben mochte. »Du fragst, warum?« erwiderte er.
»Warum das alles?« fragte Landers noch einmal. »Was habe ich dir getan?« »Allein für diese Frage sollte ich dich töten. Jetzt und hier.« Vautiers Blick ging kurz zum Grabmal seines Sohnes, als wollte er damit andeuten, daß dies der beste Ort für Landers’ Tod wäre. »Versuch’s meinetwegen«, gab Landers ungerührt zurück. »Aber beantworte erst meine Frage.« Vautier grinste häßlich. »Fast sollte ich dich ja bewundern«, meinte er, »dafür, daß du deinen Hochmut bis zuletzt nicht verlierst.« »Wie du meinst«, erwiderte Landers. Und sprang auf! Wie von einer Stahlfeder getrieben schnellte er in die Höhe, bekam in der Bewegung den alten Mann zu packen. Mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst überraschte, hievte er Vautier hoch und schleuderte ihn, als wäre er nicht schwerer als eine Puppe, gegen den Grabstein seines Sohnes. Metallenes Klicken in der Dunkelheit ringsum. »Nicht schießen!« keuchte Vautier. »Ich will ihn selbst töten!« Landers wollte dem Alten nachstürzen, der seitlich neben dem Grab zu Boden gesunken war, nachdem ihn die schiefliegende Steinplatte davor bewahrt hatte, in die Grube zu stürzen. Doch da wuchs ein Schatten vor ihm auf, dunkel und groß – und scheinbar aus Stein, wie er feststellen mußte, nachdem er mit der Faust danach geschlagen hatte. Die Gestalt rührte sich durch den Schlag um keinen Deut, reagierte aber ihrerseits. Stählerne Fäuste packten Landers und warfen ihn mühelos gegen das nächststehende Grabmal. Zu seinem Erstaunen spürte Landers keinen echten Schmerz. Allein die Wucht des Aufpralls trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn haltlos taumeln und schließlich stürzen. Sofort wollte er wieder in die Höhe kommen, doch da war der andere schon heran. Im Licht der Lampen, mit denen Vautiers Begleiter nach wie vor
die Szenerie ausleuchteten, sah Landers das Gesicht seines Gegners. Es war von geradezu klassischer Schönheit, aber auch kalt und bleich, wie aus Marmor gemeißelt. Und kaum weniger widerstandsfähig. Zumindest seine Stirn hielt dem Vergleich statt. Landers bekam es zu spüren, als der andere seinen Kopf mit einem heftigen Ruck nach vorne bewegte. Betonhart war der Treffer. Und er genügte, um auch für Hector Landers alle Lichter auszulöschen.
* Es kann keinen Zweifel geben! ER ist es! Der Meister – nach all den langen Jahren ist er zurückgekehrt. Endlich. Aber er scheint mir verändert. Es hätte ihm doch ein Leichtes sein müssen, sich dieser Gegner zu erwehren. Schließlich sind sie nur – Menschen … Hat er am Ende seine Kräfte verloren? Aber was müßte dies für ein Schlag sein, so mächtig, daß er gegen die Macht des Meisters ankäme? Aber wie auch immer – er ist der Meister. Mein Meister und Herr. Und ich bin ihm verpflichtet, was ihm auch geschehen sein mag. Ich darf nicht zulassen, daß ihm Leid geschieht. Für den Moment ist es zu spät, ihm zur Hilfe zu eilen. Mir bleibt nur ei nes zu tun: Ich darf meinen Herrn nicht diesen Menschen überlassen, mit denen mich nichts verbindet – nichts mehr! Mögen sie mir irgendwann auch nahe gestanden haben. Es war in einem anderen Leben … Dieses Leben widme ich einzig meinem Meister. Ich darf ihn nicht verlassen. Muß ihm folgen … Und er tat es. Ein Schatten in der Nacht, die sein Refugium geworden war. Vor vielen Jahren, die doch nichts waren im Vergleich zur
Zahl jener, die noch vor ihm lagen. Denn sein Leben, dieses neue Leben, das ihm geschenkt worden war, konnte ewig währen. Dem Meister sei Dank!
* Sydney Erst fuhr der Wagen langsam, dann hielt er. Motor und Scheinwerfer erstarben. Der Mann am Steuer hustete. Er hatte Schmerzen in der Brust, und er wußte, woher sie rührten. Immer noch hierher zu kommen, dachte er. Was bin ich doch für ein alter sentimentaler Narr … Es war so lange her. Aber er vermißte sie. Wie sehr, das hatte er erst gemerkt, nachdem sie fort war. Beth … Sang- und klanglos war sie verschwunden, und danach hatte der Job aufgehört, Spaß zu machen. Also hatte er ihn an den Nagel gehängt. Ich hätte besser mich aufhängen sollen, dachte er. Sein Blick schweifte über das dunkle Grundstück. Irgend etwas Unglaubliches, etwas Beängstigendes war hier passiert, aber es schien, als würde das außer ihm niemanden mehr interessieren. Die Welt wurde jeden Tag schnellebiger. Und grauer. Ein Strick, dachte der Mann, wäre nicht so bequem. Besser wären Tabletten … und ein guter Brandy zum Nachspülen … Der Schmerz stach wie eine glühende Nadel in seine rechte Brustseite. Der Mann keuchte. Dann beugte er sich unbeholfen vor und ertastete den Schlüssel. Der Motor kam wummernd. Vielleicht drehe ich später noch eine Runde, dachte der Mann. Wenn ich wieder nicht einschlafen kann.
Er wollte Gas geben. Aber in diesem Augenblick … Die Bewegung fand in seinen Augenwinkeln statt. Ganz am äußersten Rand seines Gesichtsfeldes. Er glaubte an ein Tier oder einen Vogel und drehte den Kopf. Und sah gerade noch, wie die wankende Gestalt zusammenbrach.
* Paris Jene, die für gewöhnlich im Schatten der Brücken und hochaufragenden Mauern beiderseits der Seine ihr Dasein fristeten, hatten sich stillschweigend zurückgezogen, als die anderen aufgetaucht waren, und ihnen das Feld überlassen. Wie so oft, wenn diese anderen kamen, um den Fluß zu füttern. Um den Gestank der Seine zu mehren. Das träge Glucksen der Wasser weckte Hector Landers schließlich. Sein Blick klärte sich rasch, und er verspürte weder Schmerz noch Schwäche. Augenblicklich wußte er auch, was geschehen war. Nur wie er hierher gekommen war, daran fehlte ihm freilich jede Erinnerung. Nach wie vor lag die Gewitterfront über Paris. So, als hätte sie beschlossen, erst dann weiterzuziehen, wenn alles vorüber war. Was für ein seltsamer Gedanke, durchfuhr es Hector Landers. Jetzt erst hob er den Blick und sah sich um. Er war nicht allein, natürlich nicht. Doch jetzt konnte er die anderen – im Vergleich zu vorhin – besser erkennen. Das Streulicht der Straßenlampen, die meterweit über ihren Köpfen brannten, war zwar mäßig, aber es genügte seinen ungewöhnlich scharfen Augen. Die Zahl der Männer war geringer, als er zuvor angenommen hatte. Sechs zählte er, Vautier eingeschlossen. Zwei von ihnen beschäftigten sich mit einem wannenartigen Behältnis, rührten darin und
nickten Vautier in diesem Moment zu. Der gab ein Zeichen mit der Hand, woraufhin sich jener seltsam alterslos wirkende Kerl, mit dem Landers vorhin schon unliebsame Bekanntschaft geschlossen hatte, in Bewegung setzte. Er packte Landers, hob ihn hoch – – und stellte ihn kurzerhand in jene Wanne. Landers’ Füße tauchten bis über die Knöchel in einen zähen, kalten Brei ein. Wie im Reflex wollte er den linken Fuß anheben, um sich von dem Zeug zu lösen, aber es hielt ihn fest, als stecke er in einem Sumpfloch! »Verdammt, was soll das, Vautier?« fuhr Landers auf. »Wie sieht es denn aus?« »Albern.« »Dann lach doch, Landers. Solange du noch kannst«, erwiderte Vautier. »Ich warte immer noch auf eine Antwort«, erinnerte ihn Landers. »Vielleicht findest du sie da drin.« Vautier wies mit einem Kopfnicken zum Fluß hin. »Verstehst du denn nicht, Vautier?« unternahm Hector Landers einen weiteren Versuch, Informationen zu bekommen, während er spürte, wie der Brei um seine Füße zunehmend härter wurde. »Ich weiß nicht, was ich dir getan habe! Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, daß wir uns je begegnet sind.« Vautier zuckte lächelnd die Schultern. »Dann bist du mir gegenüber im Vorteil. Ich wünschte, ich könnte vergessen, dich je gekannt zu haben. Bruneau, wie sieht’s aus?« Seine Frage galt einem schwarzhaarigen Mann, der sich daraufhin niederkniete und vorsichtig die Masse in der kleinen Wanne berührte. »Hart.« »Dann zum Ufer mit ihm!« befahl Vautier. Die Worte galten wiederum dem kräftigen Burschen. Der packte Landers erneut, und auch dessen zusätzliches Gewicht schien ihm keinerlei Mühe zu bereiten. Unmittelbar am Rand des gepflasterten Uferstreifens stellte
er seine Last ab und trat einen Schritt zurück, so daß Landers’ Fäuste ihn nicht erreichen konnten. »Weißt du, daß ich manchmal nicht mehr geglaubt habe, diesen Moment je zu erleben?« Giordan Vautiers Stimme hatte einen fast wehmütigen Klang, als er näher herantrat. »Das wirst du noch bereuen«, stieß Landers keuchend hervor. »Du erlaubst, daß ich daran zweifle?« spottete Vautier – und versetzte Landers einen Stoß. Er wankte wie ein Halm im Wind. Ein zusätzlicher Tritt traf die Wanne, in der er einzementiert stand. Das Behältnis rutschte knirschend nach vorne, kippte, unendlich langsam. Eine halbe Sekunde lang schien es in der Schräglage bleiben zu wollen. »Verflucht seist du!« brüllte Hector Landers. »Ich –« Der Rest seiner Worte ging unter. Buchstäblich. Die schwarzen Wasser der Seine schlugen über ihm zusammen.
* Ein Geschmack wie von verfaultem Fleisch drängte in Landers’ Mund – und tausend andere folgten ihm. Wie ein Stein sank er in lichtlose Tiefen. Automatisch vollführte er Schwimmbewegungen mit den Armen, die seinen Abwärtstrieb indes kaum bremsten. Dann war sein seltsam schwebender Sturz zu Ende. Mit einem dumpfen Laut versank die betongefüllte Wanne an seinen Füßen im Flußgrund. Schlamm wölkte auf und hüllte ihn ein, verstärkte den gräßlichen Geschmack in Landers’ Mund noch. Seine Lungen begannen zu brennen. Der Drang zu atmen wuchs. Doch noch widerstand er ihm. Wie lange noch? Minuten vergingen. Und Hector Landers wunderte sich. Müßte er nicht längst erstickt, ertrunken sein? Wie lange konnte
ein Mensch die Luft anhalten – oder unter Wasser überleben? Sechs Minuten? Acht? Keinesfalls länger, glaubte er. Etwas berührte ihn. Treibgut? Nein! Denn das Etwas hielt sich an ihm fest. Packte ihn. Zog und zerrte an ihm! Die Finsternis um ihn her war absolut. Nicht einmal seine Augen vermochten hier auch nur das Allergeringste zu sehen. Wie von selbst bewegten sich seine Arme, wie die Flügel eines unbeholfenen Vogels, während die Hände aus dem Nichts seinen Aufwärtsdrang unterstützten. Trotzdem dauerte es noch quälend lange, bis sein Kopf endlich durch die Flußoberfläche stieß.
* Daß er noch lebte, war eines der Dinge, die Hector Landers nicht verstand. Weshalb und wie ihm jener alte Mann zu Hilfe gekommen war, ein anderes. Er wirkte auf ganz ähnliche Weise verbraucht und verlebt wie jene Simone, deren kurze Bekanntschaft er gemacht hatte. Und doch mußte eine Kraft in diesem totenbleichen Körper stecken, die über die eines jungen, gesunden Menschen weit hinausging. Noch hatte Landers keine Gelegenheit gefunden, um Fragen zu stellen. Kaum hatte der Fremde ihn aus dem Fluß gezerrt, war er auch schon verschwunden. Landers hatte gesehen, wie der andere auf ein verlassenes Boot, das in der Nähe am Ufer dümpelte, gestiegen war. Wenig später war er mit allerlei Werkzeug beladen zurückgekommen. Und damit machte er sich nun an dem Beton zu schaffen, in dem Landers immer noch steckte. »Wer bist du?« fragte er den Alten auf den Kopf zu. Der sah erstaunt auf. »Was soll die Frage? Kennst du mich denn
nicht mehr – Meister?« Er schien ehrlich verwirrt. »Wie ist dein Name?« fragte Landers. »Jerome.« Landers zuckte zusammen. »Jerome Vautier?« fragte er dann nach. Das konnte doch nicht sein! Er selbst hatte das Grab dieses Jerome Vautiers gesehen – wenn auch offen und verlassen … »Herr, ich verstehe deine Fragen nicht. Was ist mit dir geschehen?« erkundigte Vautier sich, ernsthaft besorgt. »Verrate du es mir«, verlangte Landers. »Wie ist mein Name?« »Hector Landers, Herr.« »Warum nennst du mich Herr?« »Weil du es bist«, erwiderte der andere demütig. »Der Herr, der mir dieses Leben geschenkt hat.« »Wann und wie?« »Damals«, antwortete Jerome Vautier und sah zum gewitterdunklen Himmel auf, »in einer Nacht wie dieser …« Und er begann zu erzählen. Immer weiter ausholend, je mehr Fragen Hector Landers stellte. Jerome berichtete von den Experimenten, die sein Vater vornehmen ließ, und davon, daß Landers ein Geschäft mit ihm abgeschlossen hatte. Ein weiterer Begriff tauchte in diesem Zusammenhang auf, mit dem Hector Landers nichts anzufangen wußte – der Lilienkelch … »Weiter!« verlangte er. Und Jerome kam auf jene Nacht zu sprechen. Er hatte Landers aufgesucht, der geheimnisvollen Substanz wegen, die er für die Forschungen zur Verfügung gestellt hatte. Und Jerome hatte gesehen, woher diese Substanz stammte. »Aus meinen Adern?« fragte Landers verwundert. »Du meinst, es war – mein Blut?« Jerome nickte. »Ja, Herr. Und daraufhin hast du mich dein wahres Wesen schauen lassen. Zuerst war es natürlich schrecklich. Bis du
mich umbrachtest …« »Das kann nicht sein!« fuhr Landers auf. Stumm wies Jerome auf das Mal, das er seither am Halse trug. Die Schlußfolgerung, die sich daraus ergab, schien Landers so unmöglich, daß er sie nicht akzeptieren konnte. Nicht durfte! Und nicht wollte! Er war doch kein … Vampir! »Was geschah dann?« fragte er lahm. »Soweit ich weiß, hast du meinen Leichnam vor dem Hause meines Vaters abgelegt.« Und vorher seine Taschen leergeräumt, vermutete Landers im stillen. Er entsann sich der Dinge, die ihm die Spur nach Paris gewiesen hatten. »Und dann?« »Hat man meinen toten Leib bestattet«, erklärte Jerome. »Aber es dauerte nicht lange, bis mich deine Macht zu neuem Leben erweckt hat, Herr. Es war ein hartes Stück Arbeit, aus diesem Sarg herauszukommen. Von da an habe ich mein Grab fast jede Nacht verlassen und mein neues Leben erhalten – um deine Rückkehr zu erwarten, Herr.« Während seines Berichtes hatte Jerome Vautier nicht aufgehört, den Beton um Landers’ Füße mit Hammer und Meißel zu bearbeiten. Inzwischen war er brüchig, und in einer gemeinsamen Anstrengung schafften sie es schließlich, Landers vollends davon zu befreien. Er erhob sich, und Vautier kniete vor ihm, als würde er ihn anbeten. Wenn wohl auch nur unbeabsichtigt. Landers verstand nichts von dem, was er erfahren hatte, wirklich. Aber es ergaben sich Dinge daraus, über die er nachdenken mußte. Später. Denn zunächst galt es, ein Versprechen einzulösen. »Du weißt, wo dein Vater zu finden ist?« Seine Frage war eher eine Feststellung.
Jerome nickte. »Natürlich.« »Dann laß ihn uns besuchen.« »Wie du willst, Herr.«
* Sydney Lilith erwachte und meinte im ersten Moment, immer noch lebendig begraben unter schwerer Erde zu liegen. Sie hatte Mühe zu atmen. Ihre Lungen brannten und wehrten sich gegen die stinkenden Dämpfe, die in sie strömten … Dämpfe? Sie öffnete die Augen. Draußen herrschte jenes lichte Dunkel, das Lilith gewohnt war. Der Mann am Steuer neben ihr und das Auto, von dessen zurückgeklapptem Beifahrersitz sie sich aufrichtete, erschienen ihr greifbarer und wirklicher als alles, was sie in den zurückliegenden Stunden erlebt hatte. »Wer … sind Sie?« Der Mann war alt und korpulent. Offenbar machte ihm sein Gewicht zu schaffen. Sein Atem rasselte. Trotzdem paffte er gierig an einer Zigarre, die das Fahrzeuginnere verpestete. Als er Lilith das Gesicht zudrehte, bewegte ein Lächeln die fleischigen Züge. »Wach?« »Nein!« gab Lilith ungnädig zurück. »Was tun Sie? Wohin fahren wir?« »Ins nächste Krankenhaus, wenn’s genehm ist – checken, was mit Ihnen los ist. Sie haben sich einfach langgelegt. Die Beule an ihrer Stirn stammt nicht von mir.« Lilith tastete ihren Kopf ab. »Da ist keine Beule.« Der Mann schnaubte. »Auf jeden Fall war eine da.« Er stemmte
den Bauch gegen das Lenkrad, als er mit den Achseln zuckte. »Halten Sie an!« »Den Teufel werd’ ich tun. Sie kommen ins Krankenhaus, und danach …« »Danach?« »… reden wir zwei Hübschen Tacheles!« Lilith stutzte. »Kennen wir uns etwa?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Schauer der Erregung durchrieselte sie. »Sie reden, als würden –« »Ist aber gar nicht nett, einen alten Mann verscheißern zu wollen … Nun, einem schlechten Gedächtnis kann man auf die Sprünge helfen, meine Hübsche, und das werde ich, verlaß dich drauf! Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis du’s mir gesagt hast – und danach kannst du gern wieder die Kurve kratzen wie das letzte Mal!« Lilith schluckte so hart, daß ihr Kehlkopf schmerzte. »Das letzte Mal? Wir kennen uns also wirklich …?« Der dicke Mann trat auf die Bremse. Lilith war ebensowenig angegurtet wie er selbst. Beide wurden aus den Sitzen gehoben, und Lilith stieß mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, wo sie sich doch noch ihre Beule holte. Der biologische »Airbag« des Fahrers verhinderte hingegen Schlimmeres. Sein Kopf kam gar nicht erst bis zur Windschutzscheibe. »Das reicht!« grollte er und streckte die Hand nach oben, um die Innenbeleuchtung anzuschalten. Dann blaffte er, Lilith scharf ins Auge fassend: »Du interessierst mich nicht im Geringsten – ich will nur wissen, wo Beth steckt! Sag’s mir! Sofort! Warum, zur Hölle, ist sie ohne ein Sterbenswörtchen abgehauen, einfach so …?« Sein Gesicht rötete sich, und die glimmende Spitze der Zigarre zielte auf Liliths Gesicht, als wollte er jeden Moment damit zustoßen. »Beth?« wiederholte sie.
»Ich bin nicht eitel. Möglich, daß du dich wirklich nicht mehr an mich erinnern kannst, aber an deine beste Freundin …?« Meine beste Freundin, dachte Lilith. Ihre Gesichtszüge verkrampften sich. Übergangslos brach sie in Tränen aus. Der Mann mit der Zigarre verschwamm vor ihren Augen. »Glaub nur nicht, daß du mich damit beeindrucken kannst«, hörte sie ihn sagen. Doch dann fühlte sie seine Hand auf ihrer Schulter, und er fügte, schon ein wenig versöhnlicher, hinzu: »Hör auf, mir Märchen zu erzählen, und ich will vergessen, wie ihr mit mir umgesprungen seid!« Lilith wischte sich über die Augen. »Wo haben Sie mich gefunden?« »Dort, wo ich seit Monaten nach Feierabend vorbeifahre, weil Beth sich vor ihrem Verschwinden auffällig für die Straße interessierte. Ich hatte nicht wirklich Hoffnung, sie dort zu finden. Aber dafür fand ich dich. Du kamst wie von Furien gehetzt von diesem Grundstück gerannt, auf dem es nicht geheuer ist …« »Wie heißen Sie?« fragte Lilith. »Moskowitz. Fotograf beim Sydney Morning Herald.« »Und Sie kennen mich?« »Kennen ist zuviel gesagt … ich kannte Beth, und sie war ja dauernd mit dir zusammen. He, du willst mir doch nicht wirklich weismachen, daß du nicht mehr weißt, wer Elisabeth MacKinsey ist?« »Aber ich erinnere mich tatsächlich nicht! Ich bin nach Sydney gekommen, weil ich diese Adresse fand, die mit meinem Namen zusammenzuhängen schien … Aber dort lebt niemand mehr. Dort …« Sie biß sich auf die Lippe. Moskowitz drehte sich von ihr weg, griff nach dem Zündschlüssel und startete den Wagen wieder, den er zuvor abgewürgt hatte. »Was jetzt?« fragte Lilith und spürte, wie die Zukunftsangst sich wie eine Schlinge um ihren Hals legte – eine Schlinge, die langsam zugezogen wurde.
»Wir fahren zu mir – fürs erste jedenfalls. Dort reden wir weiter!« »Über Beth?« »Über alles.« Lilith korrigierte die Rückenlehne und setzte sich zurecht. Sie fror, obwohl es nicht kalt war. Das Kleid, das sie trug, wärmte nicht. Tote Dinge – selbst wenn sie vorgaukelten zu leben – schenkten keine Wärme. Lilith seufzte. Der Alptraum, den sie auf – oder unter – dem Anwesen 333, Paddington Street erlebt hatte, schwang wie eine düstere Melodie in ihr nach. Eine Melodie, die darauf wartete, verstanden zu werden …
* Paris La Defense schien wie ein Stück einer anderen Welt. Der moderne Hochhausbezirk klebte an der westlichen Peripherie von Paris und überragte dessen Häusermeer wie ein unförmiger Koloß aus Stahl, Beton und Licht. Die Gewitterwolken schienen, von hier unten aus besehen, die höchsten Etagen der Türme zu berühren und zu umhüllen. Trotz der frühen Stunde war Vautiers Gebäude nicht ganz verlassen. Und so fielen Hector Landers und Jerome Vautier natürlich auf, als sie die riesige Eingangshalle betraten – vor allem ihrer Kleider wegen, denen noch immer die Feuchtigkeit und der Gestank der Seine anhingen. Aber niemand vermochte sie ernsthaft aufzuhalten. Wer es versuchte, hatte unter Landers’ eisigem Blick schon im nächsten Moment vergessen, daß er ihnen begegnet war. Jerome führte seinen Herrn zu einem Lift, dessen Tür etwas kleiner war als die anderen. Auf Knopfdruck kam die Kabine von ganz
oben herab. Sie betraten den Aufzug, und Jerome gab eine Zahlenkombination ein, die er auch als Dienerkreatur in all den Jahren nicht vergessen hatte. Landers lächelte grimmig. Er brachte Giordan Vautier den verlorenen Sohn zurück. Wie würde er sich doch freuen …
* Das Gewitter hatte Paris aus seinen Klauen gelassen. Nach Osten hin hatten sich die schwarzen Wolken verzogen. Einem dunklen Gebirge gleich zeichneten sie sich dort am Horizont ab und verbargen das erste zarte Licht des neuen Tages vor Giordan Vautiers Augen. Aber der alte Mann wußte, daß ihm der Anblick ohnedies nichts bedeutet hätte. Wohl hätte er sich gewünscht, daß ihm das Heraufdämmern dieses neuen Tages etwas wie Hoffnung bedeuten würde; Hoffnung darauf, daß ein neues, wenn auch gewiß das letzte Kapitel seines Lebens begänne. Doch diese Hoffnung hätte sich nicht erfüllt. Denn alles war anders, als Giordan Vautier es sich in all den Jahren vorgestellt hatte. Der Tod Hector Landers’ bescherte ihm nicht jenes Hochgefühl, das er erwartet hatte. Wohl empfand er etwas wie Triumph ob des endlich Vollbrachten, aber er verspürte nicht den Hauch jener tiefen Zufriedenheit, die ihm sein Tod hätte bedeuten müssen. Viel eher fühlte er sich leerer denn je zuvor. Ganz so, als hätte man seinem Leben und Streben den letzten Sinn genommen. Nun endlich hatte Giordan Vautier sein Ziel erreicht. Und jetzt gab es nichts mehr, was seiner noch harrte. Fast fühlte Vautier sich schlimmer als in jener Nacht, da Jerome ihm genommen worden war. Seither hatte sein ganzes Trachten der Rache am Mörder seines Sohnes gegolten. Nun, da Jeromes Tod gesühnt war, waren Giordan Vautier nur Erinnerungen geblieben.
Erinnerungen, aus denen er vertraute Bitternis zog, die ihm in den Jahren zum steten Begleiter und zum Motor seines Handelns geworden war. Vielleicht auch nur deshalb, weil er sich damit über seine eigene Schuld hatte hinwegtäuschen wollen. Denn letztlich war er selbst es gewesen, der Jerome in den Tod geschickt hatte – als er ihm aufgetragen hatte, Hector Landers aufzusuchen … Was sich dort im einzelnen zugetragen hatte, das hatte Giordan Vautier nie erfahren. Möglicherweise, so meinte Vautier, hatte Jerome unbeabsichtigt etwas über Hector Landers in Erfahrung gebracht, vielleicht hatte er ihn bei irgendeinem geheimen Tun überrascht, woraufhin dieser ihn zum Schweigen brachte. Jeromes Leichnam hatte Landers dann kurzerhand irgendwo abgelegt, und die Umstände hatte er so arrangiert, daß es nach einem Raubmord aussah – wenn auch mit höchst ungewöhnlicher Todesursache: Das Opfer war verblutet, und doch hatte man nirgends auch nur einen Tropfen seines Blutes gefunden … Giordan Vautier entsann sich auch noch genau der polizeilichen Ermittlungen in diesem Fall. Vor allem daran, daß sie unter höchst merkwürdigen Umständen eingestellt wurden. Bisweilen hatte sich ihm der Gedanke aufgedrängt, daß die Polizei sehr wohl etwas über diese ungewöhnliche Todesursache gewußt hatte, aber von wem auch immer angehalten worden war, der Sache nicht auf den Grund zu gehen. Und dagegen hatte nicht einmal Giordan Vautier mit all seiner Macht etwas unternehmen können. Statt dessen hatte er eigene Nachforschungen angestellt. In aller Welt hatte er nach Hector Landers fahnden lassen – und dabei feststellen müssen, daß dieser Mann ein Phantom zu sein schien. Denn jede Spur, der seine Leute nachgegangen waren, hatte ins Nichts geführt; irgendwo waren die Jäger stets an einem Punkt angelangt, der nur eines verriet: daß es einen Mann namens Hector Landers schlicht nicht gab! Und jene Leute, die nicht mit Mißerfolgsmeldungen von der Jagd nach Landers zurückgekehrt waren – sie waren überhaupt nicht mehr zurückgekommen und auch anderswo nicht
mehr aufgetaucht. Vautier war sicher, daß Landers sie hatte verschwinden lassen – so spurlos, daß es ihm fast schon Respekt abgenötigt hatte … Ein Geräusch riß den alten Mann zurück ins Hier und Jetzt. »Was …?« Giordan Vautier ruckte herum, als er das akustische Signal vernahm, welches ihm verriet, daß sein Privataufzug benutzt wurde. Die Kabine wurde nach unten gerufen, dann kam sie wieder herauf. Vielleicht Bruneau, dachte er. Wer auch sonst? Niemand außer ihm und Bruneau kannte die Codierung. Nun – Jerome hatte sie gekannt … Vautier lächelte bitter, während sein Blick wieder aus dem Fenster fiel, durch die Nacht irrte, auf der Suche nach dem gewundenen, schwarzglitzernden Band der Seine. Ein Traum war dort in Erfüllung gegangen. Ob damit auch sein Alptraum endete, bezweifelte Giordan Vautier seit dem Augenblick, da Hector Landers vor seinen Augen im Fluß versunken war. Mit leisem Zischen öffnete sich hinter ihm die Lifttür. »Bruneau, was gibt es noch? Ich dachte, Sie wären froh, endlich Ihre Ruhe zu ha-« Er verstummte mitten im Satz. »Vater.« Lahm wie ein uralter Greis drehte Giordan Vautier sich um. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war ein Fremder. Dem ersten Anschein nach. Erst als Vautiers Blick hinter die Maske drang, die die Jahre dem anderen aufgesetzt hatten, erkannte er ihn – das Unmögliche! »Jerome?« stöhnte er entsetzt auf. Und dann traf ihn der zweite Schlag; kein wirklicher Hieb, aber etwas, das ihn ums Haar von den Füßen gerissen hätte. Eine zweite Gestalt trat aus dem Fahrstuhl. »Landers?« Der nickte. »Ich sagte doch, du wirst es bereuen. Ich stehe zu mei-
nem Wort.« »Aber … was … wie …«, stammelte Giordan Vautier und dann wirre Worte, die erst verstummten, als ihn die totenkalte Hand seines Sohnes berührte.
* Hector Landers sah sich um, während Jerome Vautier auf seinen völlig verstörten Vater zuging. Die Situation gefiel ihm. Sie ließ ihn sich seiner eigenen Macht bewußt werden. Vautiers Büro war riesig in seinen Ausmaßen, die Einrichtung sichtlich erlesen. In einem Regal reihten sich allerlei ungewöhnliche Kelche aneinander … Landers erinnerte sich eines Begriffs, den Jerome ihm genannt hatte. Ob dieser »Lilienkelch« darunter war? Landers kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Er registrierte die Bewegung in den Schatten, die in den entfernteren Ecken des Raumes nisteten, im gleichen Moment, da ihn Jeromes Warnung erreichte. »Herr!« Landers wirbelte herum. Und sah den seltsamen Kerl, der ihm schon zweimal zum Verhängnis geworden war. Ein drittes Mal wollte und würde er es nicht zulassen. Zwar erinnerte er sich nach wie vor an nichts aus seinem früheren Leben, aber was Jerome ihm berichtet hatte, sorgte doch zumindest dafür, daß er seine eigene, ungewöhnliche Kraft akzeptierte. Und nutzen konnte! Trotzdem erstaunte es Hector Landers, wozu er fähig war … Die Attacken des anderen kamen hart und ansatzlos, waren nicht zu erahnen. Dennoch schaffte Landers es, den Hieben auszuweichen, mit der Geschwindigkeit eines Irrwischs.
Die Fäuste des Gegners droschen Löcher in die Luft, und Landers machte es sich zum Spaß, den anderen so zu dirigieren, daß er schließlich das wertvolle Mobiliar zertrümmerte. Bis er das Spielchen leid war. Und selbst aktiv wurde. Rein von der Kraft her mochte er dem anderen nicht unbedingt überlegen sein. Aber es gelang Landers durch gezielte Finten, den Hünen zu Manövern zu zwingen, die er für sich nutzen konnte. Als der andere wie ein angriffswütiger Bulle auf ihn zustürmte, wich er zur Seite aus, packte ihn mit schier übermenschlicher Gewalt und gab ihm noch mehr Schwung. Der Hüne geriet ins Stolpern – geradewegs auf die Fensterfront zu! Klirrend und knirschend ging das Sicherheitsglas unter dem Aufprall zu Bruch. Ein Scherbenregen ergoß sich nach draußen in die Nacht. Und inmitten des glitzernden Wirbels stürzte der hünenhafte Vasall Vautiers in die Tiefe. Stumm. Um ein Haar wäre ihm Landers gefolgt, vom eigenen Schwung getragen. Hastig streckte er einen Arm aus, bekam eine Stahlverstrebung zu fassen. Trotzdem hing er für einen Moment beinahe wie schwebend über dem Nichts, dreißig Stockwerke hoch. Der Blick nach unten ängstigte ihn nicht im mindesten … Jerome Vautier hatte seinen Vater inzwischen in eine Ecke gedrängt. Landers trat zu ihnen. Lächelnd. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Blick saugte sich förmlich am faltigen Hals des alten Vautier fest, gierig und lauernd in einem. »Erweise mir einen letzten Dienst, alter Freund«, knurrte er kehlig. Giordan Vautier stierte ihn flackernden Blickes an. »Was willst du? Was hat das alles zu bedeuten?« Landers grinste. »Du glaubst doch nicht, daß ich dir Fragen beantworten würde, oder? Hast du mir denn die meinen beantwortet? Aber vielleicht wirst du es jetzt ja tun. Du wirst mir verraten, wer ich bin – ob du willst oder nicht.« Landers verspürte einen ziehenden Schmerz in den Kiefern. Na-
delartige Spitzen berührten seine Lippen. Von innen! Verblüfft stellte er fest, daß seine Augzähne wuchsen … Dann nahm er Giordan Vautier, was er ihm vor Jahren großzügig gelassen hatte.
* Noch immer wußte Hector Landers nicht wirklich, wer er war. Wohl aber, was er war. Sein mußte. Die Erkenntnis seines Wesens ließ ihn seltsam kalt. Daß sein Durst fürs erste gestillt war, mochte dazu beitragen, daß er das Wissen als solches hinnahm. Was sich weiter daraus ergab, würde sich weisen müssen. Heute Nacht jedoch würde er nicht darüber nachdenken. Sondern schlicht handeln. Denn der Durst in ihm erwachte bereits von neuem. Sein Arm legte sich um Jerome Vautiers Schulter. Seite an Seite standen sie an dem zerstörten Fenster. Paris lag ihnen zu Füßen. Hector Landers, der noch nicht wußte, daß er in Wahrheit Landru hieß und einer der mächtigsten Vampire der Erde war, wies hinaus. »Zeige mir die Schönheiten deiner Stadt!« Epilog Stille. Der Garten der Dämmerung war wieder, so hatte es den Anschein, in Stasis versunken. Ein geheimer, verlassener und von den Bewohnern der Stadt vergessener Ort, in dem die Kraft des Lilienkelchs schlummerte. Das, was der dunkle Gral der Vampire vor hundert Jahren hier gepflanzt hatte. Eine Saat, die nie so aufgegangen war, wie sie sollte – nie zur vollen düsteren Schönheit erblüht war. Und nun war die Blume, die Lilith Eden hieß, sogar am Verwelken
– war geworden wie der Kelch, mit dem alles begonnen hatte: entweiht, geleert und nutzlos. Lilith Eden, die Lilith, die einst Creannas Schoß entsprungen war, um den Untergang der Alten Rasse herbeizuführen, gab es nicht mehr. Wahrscheinlich würde es sie nie mehr geben. Lilith Eden war tot. Das, was nun dort draußen durch die Nacht irren mochte und nach Antworten ebenso hungerte wie nach schwarzem Blut, war eine Fremde, die ihre Heimat verloren hatte, in diesem Garten nicht mehr geduldet wurde. Nie mehr. Eine Jägerin war zur Gejagten geworden. Einsam, vogelfrei und heimatlos. An jedem Punkt der Erde … ENDE
Das Erwachen Leserstory von Frank Wick Kennen Sie das Gefühl, nach einer durchzechten Nacht aufzuwachen und nicht zu wissen, wie Sie ins Bett gekommen sind? So erging es mir an jenem Morgen, als die glühenden Nadeln der durch das Fenster scheinenden Sonne direkt ins Innere meines pochenden Schädels einzudringen versuchten, um ihn vollends zum Bersten zu bringen. Meine Kehle modulierte einen erstickten Laut, der sich durch die Fäulnis meines Mundes und über eine ausgetrocknete aber dennoch zu doppelter Größe mutierte Zunge Bahn brach. Ob der gleißenden und unerträglichen Helle schlossen sich gleichzeitig reflexartig meine Lider. Und da dies nur unzureichenden Schutz bot, legte ich noch meinen rechten Arm über die Augen. Das sengende Feuer in meinem Magen, das sich langsam aber stetig meine Speiseröhre hinaufkämpfte, loderte bedrohlich auf, als ich aus dem Bett stieg und zum Fenster taumelte, um das Rollo herabzuziehen. Der sich sofort ausbreitende Mantel der Dunkelheit umschloß mich wie ein heilender Verband. Langsam erfaßte mein Geist die Räumlichkeit … und stufte sie als unbekannt ein. Wo war ich? Wie kam ich hierher? Was war passiert? Fragen stürzten über mich herein wie noch vor wenigen Minuten das Sonnenlicht. Doch die einsetzende hastige Suche durch die verstaubten Gänge der Erinnerung brachte keine Antwort hervor. Und je versessener mein Verstand zu arbeiten begann, desto mehr Fragen türmten sich wie ein unüberschaubares Gebilde vor mir auf. Ich spürte kalten Schweiß mein Gesicht benetzen und zwischen
meinen Schulterblättern herabrinnen, als mir das bedrohliche Ausmaß meiner Amnesie in der unaufhaltsam heranziehenden Frage bewußt wurde: Wer bin ich? Das mich von innen aufzehrende Feuer verdrängte die Flut meiner Gedanken, als es sich in einen gewaltigen Hunger verwandelte. BLUT! Das Wort prangte wie aus dem Nichts und alle anderen Gefühlsregungen überlagernd in großen roten Lettern vor meinem geistigen Auge. Und plötzlich wußte ich, was zu tun war. »Oh, Frank, du siehst wirklich zum Kotzen aus. Warum mußtet ihr denn auch unbedingt noch diesen schäbigen Weinkeller aufsuchen?« Die dunkelhaarige Frau, die sich spärlich bekleidet in der Küche an einer Kaffeetasse festhielt, sah mitleidig zu mir auf. Mehr nebenbei erfaßte ich, daß sie mich zu kennen schien. Ich konnte das von ihr nicht behaupten. Die vollen Lippen gespitzt, streckte sie sich mir erwartungsvoll entgegen, als ich mich wortlos zu ihr hinabbeugte. Ihr Kichern – ausgelöst durch meinen Atem an ihrem weißen Hals – wich einem kurzen, erstaunten Schrei, als mein Biß ihre pochende Halsschlagader traf …
* Noch bevor der tote Körper die kalten Bodenfliesen erreichte – er schien im Zeitlupentempo meiner Umklammerung zu entgleiten –, kam die Erinnerung wie eine tosende Sturmflut über mich. Ich war in meiner Wohnung und hatte meine Frau getötet! Die Erkenntnis brachte meinen Verstand an die Schwelle des Wahnsinns – und noch einen Schritt weiter, als ich bemerkte, daß es sich bei den zurückgekehrten Erinnerungen nicht um meine eigenen handelte!
Die in meinem Kopf karussellfahrenden Gedanken waren die meiner toten Frau! Und sie brachen mit einem jähen »Warum?« ab. Aber neben dem unbeschreiblichen Schrecken dieser Situation spürte ich auch ein bizarres Hochgefühl in mir aufsteigen. Eine nie gekannte Energie durchflutete meinen Körper und vertrieb all die Schmerzen, die mich noch vor wenigen Augenblicken malträtiert hatten. In den folgenden Nächten zog ich durch die Stadt, um meinen Blutdurst zu stillen und dadurch die nachlassende Energie in mir wieder aufzufrischen. Doch die damit verbundene Aufnahme fremden Gedankenguts in Form ganzer Lebensgeschichten vermochte ich nicht lange zu ertragen. Deshalb ging ich bald dazu über, mich mit kleinen Portionen zu begnügen und meine Opfer leben zu lassen. Sie merken kaum, was mit ihnen geschieht, wundern sich höchstens über eine unbedeutende Gedächtnislücke. Übrigens: Kennen Sie das Gefühl, nach einer durchzechten Nacht aufzuwachen und nicht zu wissen, wie Sie ins Bett gekommen sind? Vielleicht sind wir uns ja schon einmal begegnet … © Frank Wick, Rankestr. 21, 42.289 Wuppertal
Die Wölfin von Adrian Doyle Sie ist eine Frau mit einem tödlichen Geheimnis. Sie trägt einen Fluch in sich: Zu jedem vollen Mond wandelt sich die Schöne in eine von Raubtierinstinkten beseelte Bestie! Und sie sucht eine andere Bestie. Ihren Geliebten. Landru. Nona ahnt, daß sie sterben wird, falls sie ihm jemals wieder gegenübersteht. Denn einst trank sie sein Blut aus dem Lilienkelch. Die Seuche, die Landru nun in sich trägt – befällt sie nicht nur Vampire? Vernichtet sie alle Kinder des Kelchs? Für Lilith ist Nona eine ebenso tödliche Gefahr. Denn Lilith und Landru haben ihre Persönlichkeit verloren, erinnern sich nicht an ihr früheres Leben. Was wird geschehen, wenn Nona ihrem Todfeind die Erinnerung zurückbringt?