KatzenKrimis
DAS KÄTZCHEN DER HEILIGEN MARGRET
DAS KÄTZCHEN DER
Mit Zeichnungen von Isabel Kreitz
KatzenKrimis
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KatzenKrimis
DAS KÄTZCHEN DER HEILIGEN MARGRET
DAS KÄTZCHEN DER
Mit Zeichnungen von Isabel Kreitz
KatzenKrimis
HEILIGEN MARGRET DAS KÄTZCHEN DER HEILIGEN MARGRET Aus dem Amerikanischen von Brigitta Merschmann
Europa Verlag Hamburg ·Wien
OHA! – OAS PROGRAMM DER KLEINEN BÜCHER IM EUROPA VERLAG In gleicher Ausstattung liegen in dieser Reihe ebenfalls vor: Eine Braut per Post gekauft Persephone, Poe und der Flüsterer Molly muss gerettet werden
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. © für die deutsche Ausgabe: Europa Verlag GmbH Hamburg/Wien, September 2001 Wir danken den Autoren für die Rechte. All diese KatzenKrimis wurden uns von ihnen persönlich für die deutsche Originalübersetzung zur Verfügung gestellt. »The Mummy Case« © 1999 by Carole Nelson Douglas »A Roman of No Importance« © 1999 by Elizabeth Foxwell »St. Margaret’s Kitten« © 1999 by Doug Allyn Lektorat: Judith Heisig Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten, Hamburg Innengestaltung: Matrix Typographie & Gestaltung, Christina Modi & Maren Orlowski, Hamburg Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö, Leipzig ISBN 3-203-85031-1 Informationen über unser Programm erhalten Sie beim Europa Verlag, Neuer Wall 10, 20354 Hamburg oder unter www.europaverlag.de
DAS KÄTZCHEN ...
Inhalt
Carole Nelson Douglas DER SARG DER MUMIE
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Elizabeth Foxwell EIN ROMAN OHNE BEDEUTUNG
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Doug Allyn DAS KÄTZCHEN DER HEILIGEN MARGRET
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Carole Nelson Douglas
DER SARG DER MUMIE Ein Abenteuer aus einem früheren Leben von Midnight Louie
»Aus dem Weg, Nichtswürdiger!« Begleitet von diesen einladenden Worten, wirbelt die Sandale des Schreibers Irinefer eine Wolke Wüstenstaub in meine empfindliche Nase. Ich niese, weiche dem Tritt aus, der auf das Füßescharren folgt, und verziehe mich in den nächstbesten Toreingang. Ich mag zwar nichtswürdig sein, dennoch denke ich, dass einem Vertreter der Heiligen Spezies in dieser Nekropolis etwas mehr Respekt entgegengebracht werden sollte. Aber wenn ein Pharao stirbt, ist zweierlei gewiss: Die ewigen Verschönerungsarbeiten am königlichen Grabmal kommen endlich zum Abschluss, und es beginnt das endlose Ränkeschmieden der Grabräuber, die seine letzte Ruhestätte ausplündern wollen. Hier an den Ufern des Nils sind »ewig« und »endlos« recht flexible Begriffe. Mein Glück ist, dass man uns von der Heiligen
Spezies neun Leben zuschreibt. Mit einer solchen Erbschaft gibt es für uns eigentlich keinen Grund, uns bis auf unsere Kas zu entblößen und gemeinsam mit unserem menschlichen Herrn den Fluss des Todes zu überqueren. Denn selbst einem Pharao ist nur ein Ka, also eine stoffliche Seele, gegeben. Man sollte meinen, dass es diese Ein-KaFliegen nicht so eilig hätten, uns von der Heiligen Spezies der Neun Kas vor der Zeit unser irdisches Fell abzuziehen. Doch jenen Unglücklichen, die Nomenophis I. dienten, blieb keine andere Wahl. Die-
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ser nämlich verfügte, dass seine Bediensteten nicht nur als symbolisches Bildwerk in seinem Grabmal zugegen sein sollten. Also folgte das zeremonielle Ausweiden, das klaustrophobische Einwickeln in Leinenbinden, so lang, schmal und gewunden wie der Flusslauf des Nils, und selbst die Hauskatze endete als leere, in ihrer ursprünglichen Form erhaltene Hülle, und ihre Eingeweide landeten in einem Krug, der sich besser für die Aufbewahrung eines starken Lotustranks eignet. So viel zum Leben eines Vertreters der Heiligen Spezies. Und doch halten manche, besonders besagte Menschen, in diesen Zeiten und Breiten Ägypten für den Inbegriff einer zivilisierten Gesellschaft. Vielleicht bin ich ein wenig voreingenommen. Vor kurzem habe ich meine Mutter an die herrschenden Bräuche verloren. Unser jüngst entworfenes Familienwappen zeigt das Auge des Horus, ein Symbol für Diebstahl und Wiedergutmachung. Laut einer jener blutrünstigen Geschichten, für die anscheinend alle Religionen dieser Welt eine Vorliebe haben, wurde das Auge des ägyptischen Gottes Horus von seinem eifersüchtigen Bruder
Seth gestohlen, jedoch auf Befehl eines Göttergerichts wieder zurückgegeben. Vielleicht ist dies ja der Ursprung des Sprichworts: »Auge um Auge«, das ich auf meinen Reisen gehört habe. Oder der Ursprung des Ausdrucks »ägyptische Finsternis«, den ich ebenfalls auf meinen Reisen aufschnappte. Da meine Mutter und ich in diesem Land ganz offensichtlich Fremdlinge waren – im Gegensatz zu dem üblichen verbrannten Zinnoberrot der Menschen und Katzen, die im Niltal zu Hause sind, waren wir so schwarz wie die zeremoniellen Perücken –, nahmen wir hier eine Sonderstellung ein. Die Ägypter gaben uns unaussprechbare mehrsilbige Namen, die wir nach Möglichkeit ignorierten, doch mein Name lässt sich ungefähr mit »Herz der Nacht« übersetzen. Ich nehme an, diese Bezeichnung verdankt sich dem attraktiven Ebenholzschwarz unserer Familie. Meine Mutter war als »Auge der
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Nacht« bekannt, da ihre Aufgabe darin bestand, ein wachsames Auge auf die Personen und Vorgänge rings um den Pharao zu haben und ihn vor allen erdenklichen Unannehmlichkeiten zu warnen, zum Beispiel vor Mordanschlägen. Wie man sich denken kann, lag es in ihrem persönlichen Interesse, unseren Pharao so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Bedauerlicherweise verstarb er an einer Magenverstimmung – eine innere Angelegenheit, die meine Mutter nicht zu verhindern im Stande war. Also fielen auch seine Diener, darunter meine hoch geschätzte Mutter, einem Anfall der Balsamierkunst zum Opfer, der einen bedrohlichen Engpass in der Versorgung Thebens mit Leinen nach sich zog. Da ich nicht dem Hofe des Pharaos angehörte, entging ich dem allgemeinen Weinen und Wickeln und lebte weiter, um das Dahinscheiden meiner Mutter zu betrauern. Zu meinem Leidwesen habe ich nicht nur die Mutter, sondern auch meine einzige Verbindung zum Palast verloren, zu dem ich als Sprössling eines Mitglieds von Pharaos Leibwache freien Zutritt genossen hatte.
Dies bedeutete, dass ich mich in der Stadt der Katzen in der Nähe der Nekropolis durchschlagen musste. Dabei handelt es sich nicht um das sagenhafte Bubastis, das von Bastet, der Mutter aller Katzen, regiert wird, sondern um eine Katzenkolonie, die im Schatten der Pyramiden auf Futtersuche geht. Dort fängt man Ungeziefer, das durch die ständige Bautätigkeit obdachlos geworden ist, und erbettelt Proviant von den Handwerkern und Sklaven, die sich unablässig mit den monumentalen Grabmälern abplagen – der Ausdruck »im Bau befindlich« erhält hier eine völlig neue Dimension. Da man in mir einen Ausländer sieht und ich jetzt zudem Waise bin, bar elterlichen Schutzes, ist das Leben seit Mutters Tod nicht einfach.
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Die Katze, die das Quartier jenseits meines schützenden Toreingangs bewohnt, schlägt mir auf den Allerwertesten. »Raus aus meinem Haus, du Ausländer ohne Anhang. Arbeitsloser Bettler!« Wie der übellaunige Herr, so der Diener, denke ich und weiche angesichts einer Pfote in sphinxfarbenem Fell – ein magerer Abessinier von abstoßender Ähnlichkeit mit den metallenen Katzenstatuen, die überall in der königlichen Stadt stehen. Da sie als heilig angesehen wird, glaubt sich hier zu Lande selbst die gewöhnlichste Katze von Geburt an zu Leinen und Bronze berufen. Ich schleiche mich davon und denke über mein nächstes schmackhaftes Mahl aus Heuschrecken und Kaktussaft nach. Wenn ich nur beweisen könnte, dass ich auch nur annähernd über den gleichen einzigartigen Jagdinstinkt meiner Mutter verfügte, würde ich mir einen Platz im Palast erobern und in einem mit Ebenholz und Elfenbein verzierten Stuhl schlafen, auf einem Kissen aus Zebrafell. Ich würde auf Zebrafell ziemlich gut aussehen. Hinter einer anderen mit Lehm beworfenen Hauswand explodiert ein Fauchen. Ich mache einen Buckel und bin bereit, mich zu verteidigen. Aber dieser Laut ist eher ein Psst, das Aufmerksamkeit heischt, als das gewohnte feindselige Ssst!
Ein betagter Abessinier mit einem Palasthalsband erscheint, er wird begleitet von zwei stämmigen Nekropolis-Katzen – gemeines Fußvolk und gemein groß. »Herz der Nacht, auf ein Wort«, sagt der Alte. »Ihr seid Ampheris, der königliche Schädlingsbekämpfer.« Als »im Außendienst tätige« Katze galt Ampheris nicht als Teil des königlichen Haushalts und war dadurch dem jüngsten Ungemach entkommen: dem Einfangen, Einwickeln und Einmauern. »Richtig. Wie bedauerlich, dass Eure werte Mutter zur Unterwelt hinabgestiegen ist. Sie war eine unvergleichliche Jägerin. Verfügt Ihr über Talente in dieser Richtung?«
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Ich rücke in den Schatten vor, den sie mit Beschlag belegen, als gehörte er ihnen. Ampheris nickt seinen Leibwächtern zu. Sie schieben mir eine flache Schale mit saurer Ziegenmilch zu. Vorsichtig schlecke ich den schaumigen Rand ab und denke nach. Es geht um eine ernste Sache, wenn man mir sogar zu trinken anbietet. Meine Schnurrbarthaare zucken, weniger wegen des Geruchs der ranzigen Milch, sondern weil ich eine Chance wittere. Wir lassen uns auf die Hinterbeine nieder. »Was ist denn los?«, frage ich. Eine der Wachen knurrt, als ob ich einen Witz gemacht hätte. Der Alte antwortet. Ich bezweifle, dass seine Büttel der Sprache mächtig sind. »Was los ist... und umgeht... das ist hier die Frage, Sohn von ›Die neben der Sandale des Pharaos saß‹.« Der königliche Schädlingsbekämpfer ist so alt, dass seine Schnurrbarthaare niemals aufhören zu zittern. »Etwas geht hier um, im Tal der Könige? Oder im Palast in der Stadt?« »Hier«, faucht Ampheris mit heftig zitternden Barthaaren. »Hast du nicht davon gehört?« »Ich bin nicht gerade eine Persona grata in der Nekropolis.« »Ich kann mir denken, warum du ausgeschlossen wirst. Es könnte an den fremdländischen Wörtern liegen, die du benutzt, so wie eben dieses ›Persona grata‹. Welche Sprache ist das? Der Sarg der Mumie
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Manx? Mesopotamisch ?« »Nein, nichts Genießbares. Ich habe es auf meinen Reisen bei den unzivilisierten Stämmen in den Ländern jenseits des Ortes aufgeschnappt, an dem der Nil sich ins Meer ergießt.« »Jenseits des Ortes, wo der Nil sich ins Meer ergießt, gibt es keine feste Substanz. Doch hier in der Nekropolis haust ein zur Hälfte körperliches und zur Hälfte unkörperliches Wesen.« Ich halte den Mund – das beste Mittel, um im Spiel um das Auge des Horus an Informationen zu kommen. Das hat mir meine Mama beigebracht.
»Ich habe es selbst gesehen«, knurrt eine der Wachen beschämt. »In meinen ganzen sieben Leben habe ich nichts so Entsetzliches gesehen. Eine Mumie, die gehen kann.« Ich nicke, um Zeit zu gewinnen. Wie kann eine Mumie gehen? Schließlich sorgen die Einbalsamierer als Erstes dafür, dass jedes einzelne Körperglied von den Binden besser eingeschlossen wird als der Schatz des Pharaos. Nicht einmal kriechen kann eine tote Mumie. Und sie sind alle mausetot. Das sage ich auch diesen heiligen Schwachköpfen. Die Alten nicken. »Und doch wurde die Erscheinung auch von anderen unserer Art gesehen. Sie geht... aufrecht. Sie ... leuchtet wie weißes Leinen im Mondlicht.« »Hat jemand versucht, diese rastlose Mumie zu befragen?« Einer der Leibwächter packt mit seinen krallengespickten Pfoten meine Halskrause. »Hör zu, Fremder, du wärst nicht so vorlaut, wenn du diesem Unhold selbst begegnet wärst. Du würdest zurückschrecken, dich davonschleichen und dich glücklich schätzen, dass du dazu noch in der Lage warst.« Ich schüttele seine Pranken ab. »Mag sein. Oder auch nicht. Besonders wenn für mich etwas herausspringen würde.«
Die drei bernsteingelben Augenpaare tauschen Blicke, dann wenden sie sich meinen grünen Augen zu. »Solltest du diesen ruhelosen Geist bannen«, sagt Ampheris langsam, »würde sich die Heilige Spezies der Nekropolis dazu herablassen, dich trotz deiner Nichtswürdigkeit in ihrer Mitte zu dulden. Wir würden dir gestatten, unter uns zu leben und zu jagen.« »Als ob mir daran etwas läge! Nein, mir schwebt eine geeignetere Belohnung vor: die alte Stellung meiner Mutter im Palast.« »Unmöglich! Die wird nur vom Pharao selbst verliehen.« »Ihr könntet bei Nomenophis II. vorstellig werden und ein gutes Wort für mich einlegen.« »Und aus welchem Grund?«, schnaubt eine der Wachen. Ampheris nickt und erzittert. »Wenn du diese widernatürliche Mumie zur Ruhe bringst, werden wir weitersehen.«
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»Es könnte Nomenophis I. selbst sein – habt Ihr das in Betracht gezogen? Er war der letzte Mensch von Rang, der gestorben ist.« Ampheris zieht seinen bereits runzligen Stirnpelz kraus, bis er den Verwehungen einer Sanddüne ähnelt. »Aber die Mumie, die gesehen wurde, ist nicht menschlich.« »Selbstverständlich nicht, wenn sie mumifiziert ist und doch gehen kann. Es könnte ein Dämon sein oder ein Gott. Das kann man nie wissen.« »Du idiotischer Ausländer!«, höhnt eine der Wachen. »Diese Mumie ist eine von uns.« »Ihr meint, eine mumifizierte Katze sucht die Nekropolis heim?« »Genau«, sagt Ampheris. »Ich fürchte, der Pharao wäre dir nicht sonderlich dankbar, wenn du diesem Wesen Einhalt gebietest, da es sich nicht um sein Interessengebiet handelt. Die größte Belohnung, auf die du hoffen kannst, ist die Duldung durch die Heilige Spezies.« Ich zucke die Achseln. Jede Verbesserung meines Status ist ein Schritt nach oben, und ich entstamme einem alten Geschlecht von Aufsteigern. ALS DAS SCHIFF des Sonnengottes allmählich im Westen unter-
geht, habe ich die meisten der Individuen, deren Namen mir genannt wurden, aufgesucht und befragt. Dabei war das keine leichte Aufgabe. Mir wurde Sand ins Gesicht und auf den Schwanz geschleudert, ich wurde angespuckt und geschlagen. Ich musste sogar rabiat werden und meine Zeugen gegen die nächstbeste Hauswand pressen, bis sie ihre Geschichte ausspuckten wie ein Haarknäuel. Mein letztes Opfer... das heißt, mein letzter Augenzeuge, ist Kemfer, der Gefährte des Goldschmieds. Er ist drahtig, gehört jedoch zu den Feiglingen, die unbedingt von der Straße wegwollen, bevor die Nacht hereinbricht und »es wieder umgeht«. »Wie groß?«, frage ich.
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»Z-zwei Schwanzlängen. Bitte lasst mich doch los. Mein Herr ruft schon zum Abendessen.« Tatsächlich höre ich einen Menschen, der immer wieder »Miez, Miez« ruft, das ägyptische Wort für Katze. »Du sagst, es geht aufrecht auf zwei Beinen wie ein Mensch? Warum hältst du es dann für eine Katze?« »Wegen der spitzen Ohren, du Blödmann! Oh, verzeiht, ich wollte Euer Hochwohlgeboren nicht beleidigen. Bitte, so lasst mich doch gehen! Es wird schon dunkel.« »Aber du hast es nachts gesehen?« »Ja, und ich werde mich nie wieder nachts aus dem Haus wagen!« »Bist du sicher, dass du nicht die Ohren von Anubis gesehen hast?« Jetzt zittert die Kreatur genauso wie der alte Ampheris. »Der schakalköpfige Gott der Einbalsamierung? Sagt, dass es nicht so ist, sonst sind wir alle verloren!« »Na ja, ich könnte Gesellschaft gebrauchen«, erwidere ich verdrießlich. Wenigstens hat dieses jämmerliche Exemplar der Heiligen Spezies ein Dach über dem Kopf, unter das es sich nachts zurückziehen kann. Ich lockere meinen Griff. Die Kreatur heult und wirbelt Carole Nelson
eine Wolke aus Sand auf, als sie schnell wie der Blitz das Weite sucht. Ich schüttele den Kopf, und das nicht nur, um verirrte Sandkörner aus meinen Ohren zu entfernen. Meine verehrte verstorbene Mama, obschon im Ausland geboren, war mindestens zwanzig dieser Nekropolis-Memmen wert. Mir wird klar, dass ich die Erscheinung auf eigene Faust jagen muss. Und da weiße Totenbinden ihr Markenzeichen sind, sollte ich es bei Nacht tun. Zumindest wird sie mich nicht zuerst entdecken. Ich gehe durch die schäbigen Gassen, die sich an Häusern mit erleuchteten Fenstern vorbeischlängeln, hinunter zum verlassenen Tal, wo nur die Toten einander Gesellschaft leisten.
Zwar glaube ich nicht an auferstandene Geister, ob mumifiziert oder nicht, doch ich habe etliche Zeugen gehört, die bestätigen, dass etwas Übernatürliches das Tal der Könige durchstreift. Ich empfehle mich dem Schutz von Bastet, als ich allein auf die künstliche Bergkette aus Grabmälern zusteuere, die in den letzten Strahlen des dahinscheidenden Sonnengottes in weichem Gold schimmern. Der heiße Sand unter meinen Ballen kühlt bereits ab, und der plötzlich herabfallende Schleier der Nacht verschmilzt mit meinem viel geschmähten schwarzen Fell. Ich bin unsichtbar, aber nicht blind, still, aber nicht stumm, unsicher, aber nicht ängstlich. Als die menschlichen Behausungen hinter mir liegen, erstreckt sich um mich herum nur noch Sand und Stein. Ich halte inne, um den Geräuschen der Nacht zu lauschen: dem Krabbeln des Ungeziefers, dem unheilvollen Zischen schuppiger Reptilien, die über den Sand gleiten, dem fernen Schrei eines Schakals. Plötzlich höre ich Geraschel hinter einem zerbrochenen Pyramidenstein, der sein eigenes Grab in der Wüste markiert. Vermutlich spielt sich dort nur irgendein nächtliches Drama um Jäger und Gejagte ab, ein Käferduell, ein normaler allnächtlicher Vorgang, aber ich eile dennoch hin, springe auf den behauenen Der Sarg der Mumie
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Stein und spähe hinunter. Meine des Nachts geschärften Augen identifizieren aufwirbelnden Sand, mittendrin eine Maus mit rot glühenden Augen und eine steife, vornübergebeugte, gespenstisch weiße Gestalt, die sich taumelnd auf den Nager stürzt. Die Haare auf meinem Rücken und an meinem Schwanz sträuben sich. Denn diese Kreatur geht tatsächlich aufrecht auf zwei Beinen, und doch gleicht ihr Kopf im Profil eindeutig dem einer Katze. Wäre sie größer als zwei Schwanzlängen, würde ich sie für die mumifizierte Gestalt von Bastet halten, »die mit dem menschlichen Körper und dem Kopf einer Katze«. Aber sämtliche Statuen der Bastet, die ich kenne, zeigen sie von
riesenhafter Gestalt, so groß wie drei Menschen. Selbst wenn die Bildhauer übertreiben, so wie Menschen die Götter eben personifizieren, muss Bastet mindestens so groß sein wie ein Mensch. Welche Beschaffenheit oder Identität dieses Ungeheuer auch haben mag, ich muss es stellen oder scheitern. Ich stürze mich kopfüber in das Durcheinander unter mir. Mein Auftauchen befreit die Wüstenmaus, die sich in einen Spalt des Steinblocks flüchtet. Allein stehe ich nun einem wutschnaubenden Ungeheuer gegenüber, einem knurrenden, sich im Kreis drehenden, speienden Derwisch aus zerwühltem Leinen. Grabbinden peitschen um die Gestalt wie Menschenhaar. Ich erhasche eine davon mit der Kralle und ziehe. Vielleicht ist die Erscheinung unter den Binden ja körperlos. Vielleicht befreie ich auch einen eingeschlossenen Geist... Ich werde von einer aus dem Leinen schießenden Staubfontäne getroffen und lande rücklings auf dem Boden. Das Gewicht drückt mich nieder, bis mein Rückgrat sich in den Wüstensand bohrt. Immer wieder hole ich mit den Krallen aus, bleibe an Leinen hängen und ziehe und reiße, bis Stofffetzen mein Gesicht bedecken und mich fast ersticken. Carole Nelson
Ich kämpfe mit den Errungenschaften der Begräbniskunst, schaufele mein eigenes Grab tief in den Sand, nähe mir mein eigenes zerlumptes Totenhemd. Meine Kräfte lassen nach und das Ungeheuer über mir hat trotz des Verlusts an Leinentüchern nicht an Gewicht eingebüßt. Doch es wird ebenfalls müde. Als ich schließlich meine staubverkrusteten Augen öffne, stelle ich fest, dass wir uns gegenseitig in eine Sandfalle gegraben haben – unsere eben noch ringenden Körper liegen starr unter dem Sand, den unser Kampf aufgewirbelt hat. Ich ertaste verfilztes Fell, das wie Grasbüschel zwischen den Bahnen aus zerrissenem Leinen wuchert. Nur das Gesicht des Wesens ist noch verhüllt. Es stößt matte, schaurige und noch immer zornige Klagelaute aus.
Ich stemme mich hoch und lasse Ströme von Sand auf meinen Widersacher herabregnen. Nach heftigem Gestrampel sitze ich aufrecht und mein erschöpfter Gegner ist vom Hals bis zu den Füßen unterm Sand begraben. Ein origineller neuer Sarg für die Mumie. Es ist höchste Zeit, das Geheimnis um die auferstandene Mumie zu lüften. Vorsichtig mache ich mich mit den Pfoten an den Gesichtsbinden zu schaffen, die sich zwar gelockert, aber noch nicht gelöst haben. So allmählich habe ich einen Verdacht, was sich hinter der Mumie verbirgt. Ein paar arg zerknautschte Schnurrbarthaare kommen Der Sarg der Mumie
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unter dem aufgewickelten Leinen zum Vorschein. Es folgt ein Sprühregen aus Sand, als die Mumie hustet. Schließlich enthülle ich ein Auge, das das Mondlicht golden reflektiert, und jetzt weiß ich sicher, wer es ist. Das Auge ist grün.
»Mami!« Ein Fauchen und Zischen ist mein einziger Lohn. Ich wickele das Leinen weiter auf und bringe endlich das übel zugerichtete Fell und das Gesicht meiner angeblich verstorbenen Mutter, Auge der Nacht, zum Vorschein. »Aber du bist doch seit drei Tagen tot!« »Beinahe«, bestätigt sie und richtet sich mühevoll auf. Ihr einst glatter schwarzer Pelz hat sich nach der langen Zeit in der engen Hülle aus Leinen gekräuselt. Ihr armer Schwanz ist an ihrem Körper festgebunden wie ein gebrochener Arm. Ihr Mund ist trocken von Sand. Sie keucht. »Seit drei Tagen hungere ich. Sieh zu, was du für mich besorgen kannst.« Ich wende mich der Spalte des Steinblocks zu. SPÄTER, NACH EINEM Wüstenbüfett weit unter dem Niveau des Speisezettels im Palast, sitzt meine Mutter im Mondlicht, leckt ihr glanzloses Fell und erzählt mir mit rauer, vor Wut bebender Stimme ihre Geschichte. »Zunächst mal«, beginnt sie, »wurde ich daran gehindert, meinen Herrn ins Leben nach dem Tod zu begleiten. Ich werde nicht neben seiner königlichen Sandale sitzen und in alle Ewigkeit Wache
halten. Wer immer dafür verantwortlich ist, wird dafür bezahlen.« »Trotzdem freue ich mich, dass du am Leben bist.« »Ich kann mich meines verlängerten Lebens nicht freuen, solange ich nicht die Person gefunden habe, die an alldem Schuld trägt.« »Dann war jener, der deine Auferstehung zu verantworten hat, ein Mensch ?« »In Wort und Tat. Ich wurde zum Einbalsamierer gebracht, wo man mir ... auf den Kopf schlug. Ich nahm natürlich an, dass der Schlag für meinen irdischen Körper tödlich sein und ich in der Unterwelt am Hofe des Pharaos erwachen würde, an meinem rechtmäßigen Platz als Fußschemel des Pharaos.«
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Ich nicke. »Aber als ich dann erwachte, war ich ... allein. In Leinenbinden gewickelt, das ist wohl wahr, aber mit intakten Eingeweiden. Ich war weder hier noch dort, sondern in einem frevlerischen Zwischenzustand, wie ich sogleich erkannte. Doch obgleich ich das durchschaute, konnte ich nichts sehen – ich war geblendet durch jene Binden, die du entfernt hast.« Sie fuhr mit der Pfote über das Häuflein aus Leinenstreifen. »Warum? Warum war es mir nicht vergönnt, den rituellen Tod und die Auferstehung in der Unterwelt zu erleben? Sollte damit meinem Herrn noch nach seinem Tod Schaden zugefügt werden? Wahrlich ein großes Rätsel.« »Das große Rätsel ist, dass du noch lebst, edle Mutter. In Binden geschlagen, wurdest du in der Einöde zwischen dem Tal der Könige und der Nekropolis ausgesetzt. Du hättest elendiglich verdursten, hungers sterben, an der Hitze eingehen oder zur leichten Beute eines Schakals werden können. Doch du hast gekämpft, um dich von den Binden zu befreien, und dieser Kampf wurde von den Nekropolis-Katzen beobachtet, die einen Dämon in dir vermuteten.« »Ich litt Hunger. Solch quälenden Hunger! Dabei sollte ich
doch tot sein. Zuerst konnte ich mich kaum rühren, aber dann lockerten sich die Binden durch meine heftigen Bewegungen, und ich konnte mich zappelnd fortbewegen, wie ein Fisch, den der Nil ans Ufer gespien hat.« »Zweifellos beklagtest du dein Los.« »Ich schrie zum Gotterbarmen.« »Kein Wunder, dass man dich für ein Ungeheuer hielt.« Ich erhebe mich und beginne im Sand zu graben. »Verzeih mir, mein Junge, aber ich glaube nicht, dass dies der passende Zeitpunkt für eine Toilettenpause ist, schließlich haben wir es mit einer gefährlichen Verschwörung von großer Tragweite für ganz Ägypten zu tun. Der Pharao darf nach dem Tod nicht um seine Bediensteten betrogen werden. Das ist ein Sakrileg.«
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»Mag sein«, sage ich, ohne innezuhalten. »Andererseits steckt meiner Meinung nach etwas dahinter, das in dieser Welt häufiger anzutreffen ist als in der nächsten.« Sie sieht, dass es mir gelungen ist, ihre Leinenbinden unter einem Sandhügel zu vergraben. »Du versteckst die Beweise für diese Schandtat?« »Du musst eine neue Identität annehmen. In der Nekropolis kennt man dich nur dem Namen nach und auf Grund deiner Stellung bei Hofe. Ich kann dich als meine Tante aus ... Sumer ausgeben.« Matt erhebt sie sich und stampft mit einem Bein auf. »Kannst du mich denn nicht verstehen, Herz der Nacht? Meine Pflicht dem Pharao gegenüber ist so lange nicht erfüllt, wie jener noch am Leben ist, der uns auf ewig getrennt hat.« »Oh, das verstehe ich sehr gut, Tantchen ... Jezabel. Und genau das ist der Grund, warum du als tot und begraben gelten musst, bis wir den Täter entlarvt haben.« »Und wie?«, schreit sie in einem Anfall mütterlichen Unwillens. »Zunächst einmal müssen wir dem Was und Warum auf die Spur kommen«, sage ich. »Erst dann kommt das Wer an die Reihe.« MEINE MAMA IST KEIN schüchternes Wüstenpflänzchen, aber so-
gar sie zögert, als ihr klar wird, wie unser nächster Schritt auszuseCarole Nelson
hen hat. »Du willst, dass wir die Toten stören? In das Grabmal einbrechen und die königliche Ruhestätte entweihen?« Ich habe sie zum Fundament der Nekropolis geführt, um einen großen Schluck aus dem Wasserkrug des Töpfers zu trinken, den dieser zum Befeuchten seiner Scheibe braucht. Nichts regt sich, weder Mensch noch Katze. Gewöhnlich streifen die Angehörigen der Heiligen Spezies Tag und Nacht durch die Nekropolis, die Begegnungen mit der Mumie haben jedoch alle in die Häuser getrieben.
»Es ist unumgänglich. Im Grabmal des Pharaos ist etwas, das ich mit eigenen Augen sehen möchte.« »Ich vermute, du meinst den Ort, an dem ich liegen sollte«, sagt sie bedrückt, während sie vergeblich ihren Schnurrbart zu glätten versucht, indem sie ihn mit Wasser tränkt. »Genau. Wenn du mich dorthin bringst, erfüllt sich nur dein vorherbestimmtes Schicksal. Außerdem weiß ich recht wenig über den Bauplan der Grabmäler, und ich kann mir denken, dass du gehört hast, wie die Pläne im Palast erörtert wurden.« »Unendlich oft«, sagt sie scharf und erhebt sich von den Hinterbeinen. »Dann lass uns aufbrechen. Ich muss mir die Beine vertreten.« Ich folge ihr, ohne zu erwähnen, dass ihr Schwanz nach links abgeknickt ist. Meine Mama hat insofern viel mit Bastet gemein, als sie eine großmütige, gottähnliche Kraft sein kann, aber wenn man sie reizt, wird sie zu Hatschepsut dem Dämonenbeschwörer. Erst recht, wenn sie von den Toten erweckt wird. Der Weg ist lang und der Mond hat die Himmelskuppel zur Hälfte durchwandert, als wir im Ehrfurcht gebietenden Schatten der Pyramide stehen bleiben. Dieser von Menschenhand geschaffene Berg, so glatt wie Sandelholz und so präzise gespitzt wie
der Pfeil eines Riesen, scheint wie ein würdiges Monument seines mächtigen Bewohners – des Todes. Meine Mama hat indes aufgehört, ihr gottloses Schicksal zu beklagen, und gibt sich geschäftsmäßig. »Jede Pyramide hat geheime Zugänge. Steine, die schon auf das Gewicht eines Haares reagieren und sich verrücken lassen. Du musst nach einem Luftzug suchen.« Also reibe ich mir die Nase an Steinfugen wund, die so schmal sind, dass das besagte Haar kaum dazwischenpassen würde. Plötzlich streckt meine Mama die Vorderpfoten in die Höhe. Ebenso plötzlich tauchen sie wieder ab, und sie ist verschwunden. Ich stelle fest, dass der Stein weit genug zur Seite gerückt ist, um eine Maus passieren zu lassen. Anscheinend ist meine von Hunger
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geschwächte Mama geradewegs in den Schlund gefallen. Ich hingegen muss mir stöhnend und ächzend meinen Weg bahnen, mit eingezogenem Bauch und zusammengepressten Eingeweiden. Vielleicht wurden ihre ja doch entfernt... »Still!«, warnt sie von innen. Ich spüre einen Luftzug, dem wir über eine lange, steingepflasterte Rampe folgen. »Ich habe die Pläne gesehen«, zischt sie in der Dunkelheit. »Niemand rechnet damit, dass eine Katze, ganz gleich wie heilig, etwas von den menschlichen Wissenschaften versteht. Aber das Leben im Palast hat mich gelehrt, mich mit den labyrinthischen Wegen der Menschen vertraut zu machen.« Wie dem auch sei – ich hoffe nur, dass sie uns aus diesem Gewirr von Gängen herausführen kann. Dann sehe ich das Licht, und meine Mama steht als lichtumflossene Silhouette vor mir. Sie zögert. »Es ist nicht recht, was wir tun, Herz der Nacht. Niemand sollte sich jetzt noch in der Pyramide aufhalten.« »Nicht mal ein Handwerker, der die Arbeit an einem Fries beendet?« »Niemand.« Mama tapst verbissen weiter, und ich folge ihr. Der Durchgang mündet in einen anderen, der wiederum Carole Nelson
schließlich in eine große Kammer, die vom flackernden Schein einer Öllampe erleuchtet wird. Ich schiebe mich an meiner Mutter vorbei, um die Grabkammer zu erkunden. Sie mag ihre Pyramiden kennen, aber ich kenne die Niedertracht der Menschen aus meiner Zeit in der Nekropolis. Doch hier ist kein Mensch, nur die flackernde Lampe, die die Luft mit einem ranzigen Geruch erfüllt. Menschen sind nur in Form einer an die Wände gemalten Prozession zugegen. Mehrere Horusaugen blicken auf mich herab, ebenso eine Reihe insektenund tierköpfiger Götter. Die Göttliche Bastet kann ich nicht entdecken.
Dafür entdecke ich den massiven Steinsarkophag, der die Mitte des Raums einnimmt. Mit einem für ihre derzeitige Verfassung eindrucksvollen Satz springt Mama hinauf. »Er ist noch unversehrt«, stellt sie befriedigt fest. »Ja, von hier oben sehe ich keine Spur von Grabschändung.« »Es muss etwas da sein. Wozu sonst die Lampe?« Ich nutze die trübe Beleuchtung, um die Wandmalereien in Augenschein zu nehmen. Die Figuren, ganz starr in dem zeremoniellen Kopfputz, scheinen sich in dem wabernden Licht zu bewegen. Ich erkenne Nomenophis, wie ihm seine Dienstmädchen aufwarten. Wie er der flügelarmigen Isis ein Opfer darbringt. Ich sehe Opfergänse und Opferstiere. Ich sehe die edle Katze in mehrfacher Ausfertigung, jedes Mal sitzend, jedes Mal im vorgeschriebenen Profil, so wie die Menschen. Wie die Menschen sind auch die Katzen von der rötlich braunen Farbe verbrannten Sandes. Alle bis auf eine. Das Gemälde stellt Nomenophis in seinem Thronsaal dar. Beamte und Götter sind um ihn versammelt. Zu seinen Füßen sitzt, nein, lauert eine Katze. Sie ist schwarz. »Schau, Mama! Du bist auf einem der Gemälde!« »Still, Junge. Natürlich bin ich das. So wie ich in meiner mumifizierten Gestalt hier sein sollte, neben mir der Kanopenkrug
mit meinen inneren Organen. Stattdessen wurde ich beraubt. Meiner Unsterblichkeit beraubt. Das Gemälde ist eine Lüge! Ich bin nicht mehr der Fußschemel des Pharaos!« Ihre erhobene Stimme hallt von den Steinwänden wider. »Still«, befehle ich in Umkehrung unserer Rollen. »Wer immer diese Lampe angezündet hat, kann noch in Hörweite sein.« Ich springe neben ihr auf den Sarkophag und lasse den Raum in all seinem Glanz auf mich wirken. Ich weiß, dass Nomenophis unter diesem Steinsarkophag in einem reich bemalten und verzierten inneren Sarg liegt. Ich weiß, dass seine in Leinen gewickelte Mumie unter dem Sargdeckel einen juwelengeschmückten goldenen Kopf- und Halsschmuck trägt.
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Doch das Grab selbst wurde nicht angerührt. Ich spähe umher, bis mein Blick auf etwas fällt, das nicht hier sein sollte. Meine Mutter unterbricht ihre Wehklage, merkt auf und folgt meinem starren Blick. »Meine Mumie! Sie ist hier.« Tatsächlich sitzt eine leinenumwickelte Katzenfigur auf einem kostbaren Thron (übrigens ein angemessener Platz für eine Angehörige der Heiligen Spezies). »Wer hat meinen Platz usurpiert?«, will meine Mama wissen und nimmt die gleiche geduckte Kampfhaltung ein, in der sie so schön an der Wand des Grabmals dargestellt ist. »Ich bin nicht sicher, dass das jemand getan hat.« »Und was soll das wieder heißen?« Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mein besonderes Auge des Horus, das für Diebstahl und Wiedergutmachung steht, durch den Raum schweifen zu lassen. In der Nähe der Öllampe entdecke ich ein Häuflein Leinen auf dem Fußboden. Die göttliche Inspiration Bastets beflügelt mein Denken. »Vergib mir, dass ich dich vorhin gedrängt habe ... äh, den Mund zu halten, Mama. Ich denke, du solltest mit deinem Katzengesang fortfahren, aber vorher ...« Nach wenigen Minuten hallt Mamas schrillstes Gejaule von den Wänden mit den düsteren Gesichtern von Isis und Osiris,
Selkis und Neith wider. Ich schließe mich ihr an, und in der Stille des verlassenen Grabmals liefern wir einen beeindruckenden Chorgesang. Schon bald höre ich das eilige Klatschen von Sandalen auf den Steinen des langen, dunklen Korridors, der zu uns führt. Zugleich vernehme ich das süße Gemurmel von Verwünschungen. Im nächsten Augenblick erscheinen zwei Männer in Röcken in dem Lampenschein. Gerade haben Mama und ich oben auf dem Sarkophag des Nomenophis zu tanzen begonnen.
Carole Nelson
Wir sind keine besonders guten Tänzer, doch es gelingt uns, auf den Hinterbeinen zu tapsen und heftig genug mit den Vorderpfoten herumzufuchteln, um ein kunstvolles Gestöber von Leinenbinden zu erzeugen, die um unsere Beine geschlungen sind. »Der Zorn der Bastet«, heult einer der Männer auf, fällt auf die Knie und presst die Stirn an den kalten Stein. »Wir haben die Göttin beleidigt!«, kreischt der andere und folgt seinem Beispiel. »Ich sagte dir doch, wir sollten uns nicht an der Mumie der Heiligen Spezies vergreifen.« Bei diesen Worten springen zwei Exemplare der Spezies vom Sarkophag auf die verlockend wehrlosen, nackten Rücken der demütigen Jünger der Bastet. Die Krallen schlagen tief und oft zu. Das Geheul der Unglückseligen vermischt sich mit dem unsrigen. Sie richten sich auf, um unserem Angriff von hinten auszuweichen, mit dem Ergebnis, dass ihre Gesichter mit dem heiligen Symbol der Bastet gezeichnet werden: vier längliche, parallele Male in unendlicher Wiederholung. Bald sind wir wieder allein im Grab und horchen auf das schaurige Echo der angstgepeinigten Entwichenen. Ich springe vom königlichen Mauerwerk herunter, um der
Mumie entgegenzutreten, die meine Mama ersetzt hat. »Herz der Nacht«, ruft sie mir nach. »Du hast die Rache der Bastet mit eigenen Augen gesehen. Rühr die Katze nicht an.« »Ich rühre die Katze nicht an ... ich entthrone sie nur.« Mit einem Pfotenhieb stoße ich die Mumie hinunter und beginne die Binden aufzuwickeln. Langsam kriege ich Routine darin. Während meine Mama ihr Entsetzen herausheult (und jeder Klagelaut ein neues Echo im Korridor heraufbeschwört), verwandele ich die angebliche Mumie in einen Haufen Weizenkleie. Und siehe da – die Eingeweide dieser Mumie sind ebenfalls noch an ihrem Platz, allerdings glitzern sie hart und golden im Lampenschein. »Das sind die königlichen Gerätschaften des Pharaos«, erklärt meine Mama verwundert von ihrem Hochsitz.
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Ich nicke. »Genau deshalb wurdest du mit Ersatzbinden umwickelt und in die Wüste geworfen, um dort zu sterben. Dein falsches Bildnis enthielt die Gegenstände, die die Diener während des Begräbnisses beiseite schafften. Sogar während der Pharao in all seinem Reichtum in seinen Sarkophag hinuntergelassen wurde, verpackten diese Schufte unschätzbare Kostbarkeiten zu einer Schatztruhe, die einer Katze nachgebildet war. Kein Wunder, dass sie das Weite gesucht haben, als ob ihnen der Atem von Bastet die Fersen versengte.« »Aber sie sind entkommen.« »Gezeichnet von den Malen der Bastet? Man wird über ihr Aussehen reden, und in ihrem derzeitigen Zustand werden sie kaum schlau genug sein, sich zu verstecken. Außerdem steht der Stein schief, der den Geheimgang öffnet. Bald wird es jemandem auffallen. Wir müssen den Schatz der Mumie bewachen, bis die Wache eintrifft.« »Aber das kann Stunden, sogar Tage dauern.« »Soll ich zuerst rausgehen und jagen, oder willst du?« UND SO WURDE ÜBERLIEFERT, dass, als die Wache des Pharaos zwei Tage später in das Grabmal seines Vaters kam – die Diebe waren mittlerweile gefasst worden und hatten ein Geständnis
abgelegt –, eine wehrhafte schwarze Katze auf der Beute kauerte, die aus den Leinenbinden der mumifizierten Katze herausgefallen war. Die Mumie von Auge der Nacht, der tapferen Katze des toten Pharaos, aber war verschwunden, und es wurde vermutet, dass Bastet höchstpersönlich, deren messerscharfe Male noch immer Rücken und Gesichter der erfolglosen Diebe zeichneten, sie in die Unterwelt aufgenommen hatte. Eine Inschrift an den Wänden des Grabmals von Nomenophis II., der zu seiner Zeit in jene Unterwelt eingehen wird, nach der sich alle Ägypter sehnen, besagt nun, dass die Stellung als Fußschemel des Pharaos wieder besetzt ist – von Herz der Nacht, Sohn
Carole Nelson
von Auge der Nacht, die für zweitausend Jahre im Gedächtnis der Menschen weiterleben wird ... oder vielleicht noch länger, wenn Bastet und die Heilige Spezies bis zum Ende der Zeiten verehrt werden. Das Auge des Horus, das für Diebstahl und Wiedergutmachung steht, schläft niemals. Ihr Bösewichter dieser Welt, seht das Wappen von Herz der Nacht und weint.
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Elizabeth Foxwell
EIN ROMAN OHNE BEDEUTUNG Ich habe einen chronisch Kranken von unschätzbarem Wert erschaffen: Bunbury heißt er und ermöglicht es mir, aufs Land zu fahren, wann immer mir danach ist. Algernon Moncrieff in Ernst und seine tiefere Bedeutung von Oscar Wilde
Ich, der sehr reale Bunbury, dachte gerade an den Nutzen von Daumenschrauben für meinen ganz persönlichen Klotz am Bein alias Algernon Moncrieff, als der Brief kam. Slade, mein unschätzbarer Diener, brachte ihn mir in den Wintergarten, wo ich in meinem Rollstuhl schmorte. Ich riss den Umschlag auf. Slades Braue schnellte in die Höhe. Mit allen Anzeichen des Unwillens ob solcher Unbeherrschtheit klemmte er das Silbertablett unter seinen Arm. Aber sogleich hob sich meine Stimmung. 10. März 1893 Lieber Mr. Bunbury, vielleicht erinnern Sie sich noch an damals, als Sie den MörEin Roman ohne Bedeutung
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der meines Vaters vor Gericht brachten? Dank Ihrer Unterstützung findet in vierzehn Tagen die Premiere meines ersten Theaterstücks, Die Passion der Kleopatra, am Royal Adelphi statt. Könnten Sie mich aufsuchen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden. Herzlichst, Maud Greystone
OH, UND OB ICH mich an Lady Maud Greystone erinnerte. Man
konnte sie schwerlich vergessen. Im Frühstückszimmer der Greystones hatten sie und ich ... Schwacher Rosenduft stieg auf, und ich hielt den Umschlag an meine Nase. Unvergesslich. Der Gegenstand von Miss Mauds Verbundenheit zu sein war äußerst lohnend, wenngleich ein wenig ... erschöpfend. »Gehen wir aus, Sir?« Ich inspizierte mich kurz. Gemusterte Seidenweste und eine Hose in dunklerem Grau – gut. Dem schönen Geschlecht muss man stets würdevoll gegenübertreten. Ich zog meinen Morgenmantel aus, warf ihn Slade zu und er tauschte ihn gegen meinen Gehrock aus. »Ja, Slade. London. Das Theater. Würden Sie mir bitte meinen Überzieher holen?« »Ja, Sir. Ich packe unsere falschen Bärte ein, Sir.« Er verneigte sich und stolzierte hinaus. Der Berufsstand der Schauspieler verletzte Slade in seinem ausgeprägten Sinn für Anstand. Slade war der Überzeugung, die niederen Klassen sollten dem sündigen Adel ein Vorbild sein. Er packte jedoch mit gewohnter Schnelligkeit und Tüchtigkeit unsere Taschen, einschließlich des unschätzbaren Handkoffers, den er hinter meinem Stuhl verstaute, und schob mich nach drau-
ßen zum Wagen. In der Regel sprechen wir nicht über das Gebrechen, das mich derzeit an den Rollstuhl fesselt; das wäre unfein. Ein paar Stunden später stiegen wir vor dem Adelphi aus. Ich rückte hastig meine Krawatte zurecht, als Slade mich in den Korridor zum Parkett schob. Eine Probe war im Gange: Eine Gruppe von Schauspielern in phantastischen Kostümen aus Bettlaken und Brustharnischen deklamierte in einer Landschaft aus Kunstfelsen, Sandstreu und hier und da einer Pyramide. Doch mein Blick wurde von einer schlanken, dunkelhaarigen jungen Frau angezogen, die einen eleganten Brokatrock und eine spitzenbesetzte Bluse trug und mit der Kameebrosche an ihrem Hals spielte. Als sie uns entdeckte, sprang sie ohne Rücksicht auf ihre schönen Kleider in den Orchestergraben und schlang die Arme um mich. Slade räus-
Elizabeth Foxwell
perte sich, aber ich war zu... beschäftigt, um ihn zu beachten. Miss Maud war sehr ... nun ja, freigebig mit ihren Händen. Als sie sich schließlich aufrichtete, sah ich zu meiner Überraschung, dass sie zitterten – und das bei ihr, der Gefasstheit in Person. »Lieber Mr. Bunbury, wie nett, dass Sie gekommen sind«, sagte sie und strich ihre Bluse glatt. »Ihr Diener, Miss Maud«, erwiderte ich korrekt, obwohl meine Arme sich ohne sie einsam fühlten. Ihr Blick ging an mir vorbei und wanderte nach oben. Mein Kammerdiener ist von beachtlicher Statur. »Schön, Sie wiederzusehen, Slade.« Slade wurde weich, weil sie sich so mühelos an seinen Namen erinnert hatte. »Guten Tag, Miss Greystone.« »Kommen Sie, ich stelle Ihnen die Besetzung vor.« »Ich will Ihre Probe nicht stören ...« Als sie das Gesicht verzog, senkte ich die Stimme. »Stimmt irgendetwas nicht?« Sie drückte meine Schulter. »Wenn ich Sie kurz sprechen könnte, später...« »Da Miss Greystone, die Künstlerin, uns bereits bei der Arbeit unterbrochen hat...«, ließ sich eine kleine Gestalt vernehmen, angetan mit Brustharnisch und Uniformmütze. (»Der Schauspieler-Impresario«, erklärte Maud und verdrehte die Augen. »Der passenderweise den Cäsar spielt.«) Ein Roman ohne Bedeutung
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»... denke ich, wir sollten unseren Tee einnehmen.« Sie knickste in gespieltem Gehorsam, und ich lächelte. Trotz ihrer inneren Erregung hatte sich die freimütige Maud keinen Deut verändert. Schnaubend warf Cäsar den Zipfel des Bettlakens über seine Schulter. Der Tee wurde gebracht und im Orchestergraben serviert. Slade machte sich nützlich, indem er Tassen und Kuchen an die Schauspieler ausgab, die zum Bühnenrand geschlendert kamen. Maud beförderte mich zu einem sitzenden Zenturio, der seinen Brustharnisch abschnallte und sein fleischiges Gesicht mit einem Taschentuch betupfte.
»Signor Angelo, dies ist mein guter Freund Mr. Bunbury.« »Signor Bunbury.« Er nahm den Helm ab, ohne die nicht ins Bild passende gelbe Katze aus dem Gleichgewicht zu bringen, die auf seiner Schulter ruhte. Das Tier und ich musterten einander kühl. Dann wandte es mir den Rücken zu und rieb seinen Kopf an Slade – ein unappetitlicher Anblick. »Roma mag Sie, Signor«, verkündete Signor Angelo mit feinem Gespür für das Naheliegende. »Und sie ist sehr wählerisch bei der Verteilung ihrer Zuneigung.« Slade wirkte gequält. An seinem zuvor makellosen schwarzen Ärmel klebte bereits ein Fellknäuel. »Angelo spielt den Generalleutnant des Marcus Antonius«, erklärte Maud. »Und zwar sehr gut.« »Ich war Schauspieler in meinem Heimatland«, klärte er mich auf. »Aus großer Familie. Ich spielte in La Scala. Aber dann kam ich nach England, um meine kleine Schwester zu suchen, und arbeitete für den großen Beerenbaum.« Beerenbaum? Auf der Bühne war keine Vegetation zu entdecken. Ich legte die Stirn in Falten. »Beerbohm Tree«, soufflierte Maud. Herbert Beerbohm Tree, der renommierte Schauspieler-Impresario; das ergab schon mehr Elizabeth Foxwell
Sinn. Allerdings begriff ich nicht, wie ein bescheidener Speerträger über die Mittel verfügen konnte, Italien zu verlassen und für den großen »Beerenbaum« oder auch andere, weniger hochkarätige Setzlinge zu arbeiten. »Und Ihre Schwester?«, fragte ich laut. Das joviale Gesicht zog sich in die Länge. »Ich weiß es nicht. Nach dem Tod unserer Mutter kam sie mit unserer Tante hierher. Pauvra bambina.« Ich holte mein Zigarettenetui heraus und bot es erst Maud und dann Angelo an. Maud akzeptierte, ihre Augen blitzten anerkennend; ich hatte mich an ihren Faible fürs Rauchen erinnert. Angelo lehnte ab. Offenbar billigte die Katze es nicht. Eine etwas reifere Dame in durchsichtigem Kostüm, die Augen
dick mit Kajal umrandet, machte sich an uns heran, auf der Suche nach einer Gratiszigarette. Ich bot ihr das geöffnete Etui an. »Zu freundlich«, sagte sie überschwänglich. Als ich ihr Feuer gab, streifte ihre Hand die meine, Ringe blitzten im Licht. Mauds Gesicht wurde schmal. »Unsere Kleopatra«, sagte sie kühl. »Mrs. Helena de Winton. Mr. Bunbury.« »Angenehm. Welch ein vornehmer Mann, Maud«, fügte sie an ihre Dramatikerin gewandt hinzu. »Ich kann verstehen, warum Sie ihn vor uns versteckt haben.« Sie glitt weiter zu Cäsar und stützte sich kokett auf seinen Arm. Das Kostüm wogte verführerisch. »Sie will in seinem Hamlet mitspielen.« Gereizt stieß Maud den Rauch aus. »Sie lechzt förmlich danach, die Gertrude zu verkörpern. Nebst anderen Rollen. Eine exzellente Schauspielerin, auf der Bühne wie im täglichen Leben.« »Maud, bella.« Kichernd tätschelte Angelo die Katze, die dankbar die Krallen in seine Schulter grub. »Signora de Winton hat eben das, was man Temperament nennt. Alle großen Schauspielerinnen sind so.« Sie wurde rot. Eine liebliche Blondine trat zu uns, ein Bettlaken Ein Roman ohne Bedeutung
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im griechischen Stil um die schlanke Taille gebunden. Zwei junge Männer waren ihr dicht auf den Fersen. Lächelnd tätschelte Maud ihr die Hand. »Marcus Antonius’ Gattin Octavia, Miss Lucia Granville; Marcus Antonius selbst, Mr. Mortimer Deane; und Cäsars General Taurus, Mr. Simon Harbury.« Ich verneigte mich, und Octavia errötete. Die jungen Männer nickten mir kühl zu. »Gibt es hier auch eine Natter?«, erkundigte ich mich und beäugte ein wenig beklommen den Korb, der auf der Bühne stand. »Ich könnte Ihnen aus dem Stand ein halbes Dutzend nennen«, warf eine schleppende Stimme ein. Ich schaute über meine Schulter und erblickte eine imposante Gestalt in einem langen Überzie-
her mit Pelzkragen; das Haar war eine Spur üppiger, als es der derzeitigen Mode entsprach. »Mr. Bunbury, dies ist der Dramatiker, der so freundlich war, Interesse an unserer Produktion zu zeigen«, sagte Maud. »Mr. Oscar Wilde.« »Es passt so ungemein gut zu meinem neuen Quartier im Savoy. Außerdem hat die göttliche Maud den Darstellern Kostüme im griechischen Stil verordnet, und da kann ich gar nicht anders, als mich erkenntlich zu zeigen, Mr. Bunbury.« Er verbeugte sich. »Bunbury. Kommt mir bekannt vor ...« Ich schüttelte mich; Algernon würde mir Rede und Antwort stehen müssen. »Ich kenne Sie, Sir.« »Es gibt wenige, die das nicht tun, Sir.« Ich unterdrückte eine scharfe Erwiderung. Mr. Wilde hatte sich seinen Ruhm durch Exzentrik erworben, darunter die jüngste Veröffentlichung eines Skandalstücks namens Salome, nicht durch noble Taten. »Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen jungen Freund. Mr. Moncrieff.« »So ein lieber Junge, unser Algy. So amüsant. Ein reizender Tenor.« »Und so lenkbar.« Sein träger Blick kreuzte den meinen und mir ging plötzlich auf, dass sich hinter der Fassade ein Mann von sprühendem IntelElizabeth Foxwell
lekt verbarg. Beunruhigend. »Es ist weit angenehmer, sich lenken zu lassen, als selbst zu lenken, Mr. Bunbury. Ein längst nicht so dornenreicher und einsamer Lebensweg.« Er hob die Stimme. »Mein teurer Cäsar, ich muss mit dir noch über deine unausgegorene Vorstellung im zweiten Akt reden.« Sein Mantel flatterte, als er seinen kräftigen Arm um den Schauspieler-Impresario legte, der neben ihm zum Zwerg wurde. Zugleich küsste er der gezierten Kleopatra die Hand. »Ein wenig großspurig, nicht wahr?«, sagte Maud und schob meinen Rollstuhl etwas von den anderen fort. Ich nutzte die Verschnaufpause.
»Sie waren schon nervös, als ich kam«, bemerkte ich. »Was ist los, Maud?« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Sie werden mich zweifellos für sehr albern halten. Mich quält eine furchtbare Vorahnung drohenden Unheils, Mr. Bunbury.« Ich gab Slade ein Zeichen mit dem Kopf. Er nickte und begab sich hinter die Kulissen. Dort würde er überprüfen, ob es irgendwelche Unregelmäßigkeiten gab. Signor Angelos massiger Schädel sank nach vorn. Er schien Ein Roman ohne Bedeutung
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eingenickt zu sein. Die Katze sprang von seiner Schulter, ging zu Kleopatra hinüber und stupste gebieterisch gegen ihr Bein. Die schob das Tier fluchend von sich, um nur ja keine Silbe von Cäsars göttlichen, gereizt vorgetragenen Lebensweisheiten zu verpassen. Maud entging diese Szene nicht.
»Vorhin hat sie Roma noch mit einem Hering gefüttert«, bemerkte sie. »Von Kopf bis Fuß die huldvolle Königin – vor allem wenn Vorteile winken.« »So wie bei Mr. de Winton?« »Den habe ich nie kennen gelernt. Vielleicht war er so klug, das Land zu verlassen.« Ihre Hände zuckten. »Ach, ich hoffe inständig, dass alles gut geht.« Die Männer schlichen immer noch um die sittsame Octavia herum. Angelo sackte in sich zusammen. »Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen, meine Liebe«, sagte ich laut. »Es ist vermutlich nur ein Anfall von Premierenfieber.« Meine Diagnose war übertrieben optimistisch. Octavia schrie auf und sank ohnmächtig in die bereitgehaltenen Arme des Antonius. Kleopatra und Cäsar sperrten Mund und Nase auf. Ich schoss nach vorn und riss Maud hinter mir mit. Der Kopf des Zenturio hing auf seiner Brust, dann glitt sein fülliger Körper vollends zu Boden. Ich erhaschte einen Blick auf die heraushängende Zunge, die glasigen Augen. Signor Angelo würde nie wieder für den großen »Beerenbaum« arbeiten, sondern allenfalls unter einem Exemplar der Gattung begraben Elizabeth Foxwell
werden. »Wie außergewöhnlich«, kommentierte Wilde und beugte sich wie ein neugieriger Vogel Strauß aus der starken Taille zu Angelo hinunter. »Ein Toter in der Truppe.« Ich packte Mauds Handgelenk. »Gehen Sie und holen Sie Slade. Schnell, meine Liebe.« Das patente Mädchen fiel nicht in Ohnmacht und schrie auch nicht, sie nickte nur, sehr blass um die Nase, und rannte dann hinter die Bühne. Ich untersuchte den Leichnam, während die Schauspieler sich um uns scharten. »Das ist eine Katastrophe«, erklärte Cäsar. »Zweifellos«, murmelte ich. »Wen kann ich so spät noch für den General engagieren?« Seine scharfen Augen hefteten sich so plötzlich auf mich, dass ich zu-
sammenzuckte. »Sie. Sie sind perfekt.« Prompt stülpte er mir den Helm auf den Kopf und drückte mir das Holzschwert in die Hand. Unter einem ledernen Ohrenschützer hervor funkelte ich ihn böse an. »Sie sind wahnsinnig.« »Genial«, stellte Cäsar richtig und schätzte mich ab. »Das Kostüm müsste passen.« Ich war erheblich schlanker als Angelo, aber das war nicht der Punkt. »Ich sitze im Rollstuhl!« »Dann setzen wir eben einen Busch vor Sie auf die Bühne.« »Ich bezweifle stark, dass es im alten Ägypten Büsche gab.« Maud kam mit meinem Kammerdiener zurück, und Slade schob sich geschickt durch das kleine Knäuel aus Schauspielern. Er kniete neben der Leiche nieder, dann blickte er in seiner gewohnt unerschütterlichen Art zu mir auf. »Gift, Sir.« »Wie ich vermutet hatte.« Slade zog die Nase kraus. Er wusste, dass ich nichts dergleichen vermutet hatte, aber eine selbstsichere Haltung inspiriert den Unschuldigen und verwirrt den Schuldigen. »Soll ich die Polizei verständigen, Sir?«, erkundigte er sich. »Die Polizei!«, rief die Truppe im Chor. »Herzversagen«, verfügte Cäsar. »Oder Selbstmord.« »Unsinn«, entgegnete Maud. »Also ein Komparse weniger. Und ein Ausländer obendrein.« Maud zischte wie die Natter der Kleopatra, und ich berührte Ein Roman ohne Bedeutung
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warnend ihr Handgelenk. So sehr ich auch mit ihr fühlte, ich wollte nicht, dass sie die Inszenierung ihres ersten Stücks gefährdete oder in Verdacht geriet. »In der Tat«, sagte Wilde gedehnt. »Man kann nie sicher sein, was ein einzelner Ausländer bewirkt. Die meisten sind wahre Genies.« Da fiel es mir ein – er war Ire. Cäsar fiel es ebenfalls ein; er wurde rot, weil er einen so prominenten Plagegeist beleidigt hatte. Ein negatives Wort von Wilde in
das richtige Ohr, und Cäsar würde bei seinem nächsten Engagement im Empire die Drehorgel spielen. Diese Vorstellung hatte ihren Reiz und ließ mir Mr. Wilde in schmeichelhafterem Licht erscheinen. »Ich hole die Polizei, Bunbury«, erbot sich Wilde. Ich blickte zu Slade und war beruhigt, als der fast unmerklich den Kopf schüttelte. Wilde war – zumindest hier – unschuldig. »Vielen Dank, Mr. Wilde.« Er ging zum rückwärtigen Teil des Hauses, wo das Büro untergebracht war. »Tja, guten Tag und auf Wiedersehen«, bemerkte Kleo. »Könnte ich noch eine Zigarette haben, Mr. Bunbury?« Ich entsprach ihrer Bitte und fragte: »Sie mochten Signor Angelo nicht?« »Eine echte Plage.« Sie inhalierte schwungvoll. Ich wandte mich an Antonius und Taurus. »Waren Sie der gleichen Meinung?« Antonius zuckte die Achseln. »Er war ganz in Ordnung, wenn auch ein wenig aufdringlich und geschwätzig. Nicht ungewöhnlich am Theater.« »Er hat uns immer etwas spendiert«, fügte Taurus hinzu. »Auch ganze Mahlzeiten. Ein großzügiger Knabe.« Elizabeth Foxwell
Mehr als ein simpler Zenturio. Allmählich wurde es interessant. Ich winkte Slade zu mir und flüsterte dicht an seinem Ohr: »Wie wurde das Gift zugeführt? Durch den Tee?« »Das glaube ich nicht, Sir. Ein echtes Rätsel. Wie Sie sich erinnern, habe ich selbst den Tee eingeschenkt, und ich habe niemanden gesehen, der etwas in Mr. Angelos Tasse gegeben hätte. In der Kanne kann es auch nicht gewesen sein, sonst hätten wir jetzt alle starke Schmerzen.« »Ganz recht. Und ich pflege auch kein Gift mit mir zu führen.« »Sie habe ich nicht zum Kreis der Verdächtigen gezählt, Sir.« »Sehr großzügig von Ihnen, Slade. Werfen wir noch einen Blick auf die Leiche.«
Er schob mich näher an den Unglücklichen heran, den ich mit gespitzten Lippen musterte. »Würden Sie bitte seinen Ärmel hochschieben? Aber geben Sie Acht.« Dem unschätzbaren Handkoffer entnahm Slade ein Paar weiße Handschuhe, streifte sie über und machte sich behutsam an dem Ärmel zu schaffen. Die Haut unter Angelos rechter Schulter war entzündet. Ich fing Slades Blick auf. »Ist eine Schlange in dem Korb da, Slade?« »Keine echte, Sir. Ausgestopft.« Er nahm etwas, das in dem Stoff festhing, und hielt es ins Licht. »Aber im übertragenen Sinn scheint es eine zu geben.« »Was machen Sie da?«, donnerte die amtliche Stimme eines Mannes, in dessen Kielwasser zwei Constables und Wilde folgten. Der Arm des Gesetzes war eingetroffen. »Ah, Inspektor«, sagte ich gelassen. »Gut. Mein Name ist Bunbury. Ich denke, ich kann diesen kleinen Zwischenfall für Sie aufklären.« Die Besetzung erstarrte wie in einem Tableau – Die verhängnisvolle Ankündigung. »Oh, bravo, Bunbury«, sagte Wilde und klatschte in die Hände. »Verheimlichen Sie uns nichts. Ich werde mir Notizen machen.« Ich achtete nicht auf ihn, und der Inspektor verschränkte die Ein Roman ohne Bedeutung
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Arme. »Nun, ich lasse mich gern unterhalten. Fahren Sie fort, Mr. Bunbury.« »Vielen Dank.« Ich drehte meinen Stuhl herum und legte in bewährter Sherlock-Holmes-Manier die Fingerkuppen aneinander. »Miss Greystone hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, und sie hatte Recht. Ein Gift spiritueller und materieller Natur. Signor Angelo ist zweifellos an einem tödlichen Mittel gestorben – dem tödlichsten überhaupt.« »Und das wäre?«, fragte der Inspektor. »Cherchez la femme, Inspektor«, sagte ich. »Oder wie auch immer es im Italienischen heißen mag.«
»Cercaré le femmina«, ergänzte der mitteilsame Slade. Ich warf ihm einen Blick zu. »Äh – ja. Mein Diener und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass es nicht der Tee sein konnte, denn davon haben wir alle getrunken, ohne schädliche Nebenwirkungen. Die Zyanidkapsel wurde ihm über die Haut verabreicht, die zuvor von den Krallen einer Katze aufgekratzt wurde.« Ich wandte mich Miss Granville zu. »Ihr Vorname lautet Lucia – eindeutig italienisch.« Marcus Antonius ballte die Fäuste. »Moment mal – was wollen Sie damit sagen, Bunbury?« »Das ist der Name meiner Großmutter...«, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen. »... die in Italien starb«, schloss ich triumphierend. »... die an drei Abenden die Woche im Tivoli auftritt«, ergänzte sie. Wilde hatte einen versonnenen Blick. »Ah, Lucia Beale«, murmelte er. »Nicht die Jersey Lily natürlich, aber nichtsdestotrotz ein charmanter Singvogel.« Ein dickes Lob vom Ästheten und auf peinliche Weise aufschlussreich. Ich wechselte schnell die Taktik und wandte mich Kleo zu. »Es liegt doch auf der Hand«, sagte ich. »Sie sind die Elizabeth Foxwell
Schwester von Signor Angelo.« Kleo lachte. »Denken Sie eigentlich nach, bevor Sie sprechen?« Maud schüttelte ihren dunklen Kopf. »Pardon, aber das kann nicht stimmen. Seine Schwester war jünger als er.« »So viel zu unserem Meisterdetektiv«, prustete Kleo. Slade hüstelte. Er hat nichts übrig für jene, die meine Fähigkeiten in Frage stellen. Ich nahm mir vor, Slade eine weitere Lohnerhöhung zu gewähren. Die Katze rieb sich an Kleos Bein, und Slades Vertrauen erwies sich als gerechtfertigt. »Nein, ich glaube nicht, dass Sie die Schwester sind«, sagte ich und lehnte mich der Wirkung halber in
meinem Stuhl zurück. »Das war nur... ein Trick, um Sie in Sicherheit zu wiegen. Ja, in der Tat. Sie sind selbstverständlich die Tante.« Sie atmete tief ein. Die übrigen Mitglieder der Besetzung starrten sie entgeistert an. »Sie müssen etwas an Ihrer äußeren Erscheinung verändert haben, um Signor Angelo zu täuschen – gefärbtes Haar und so weiter. Schließlich sind Sie eine erstklassige Schauspielerin. Aber die Katze kennt offenbar die Tante, die vor Jahren in Italien zu Besuch war, trotz Ihrer Vorliebe für Zigaretten, die das Tier normalerweise unter allen Umständen meidet. War der Hering eine vorgezogene Belohnung für die gelungene Aktion? Und wie kommt ein Speerträger an eine Schiffsreise nach England und ein festes Engagement bei dem großen Beerbohm Tree? Wie schafft er es, seinen Schauspielerkollegen regelmäßig Drinks und sogar ein Essen zu spendieren? Es muss eine Erbschaft gegeben haben.« Ich senkte die Stimme. »Wo ist das Mädchen?« Sie sprang mir an die Kehle, wobei sie sich trotz ihres eng anliegenden Gewands als erstaunlich erwies. Einen angsterfüllten MoEin Roman ohne Bedeutung
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ment lang dachte ich, dass ich in meinem eigenen Rollstuhl erdrosselt werden sollte. Doch ich hatte nicht mit dem Inhalt des unschätzbaren Handkoffers gerechnet – und mit den blitzschnellen Reflexen meines Kammerdieners. »Treten Sie zurück, Ma’am.« Slade setzte einen handlichen Revolver an Kleopatras Schläfe. »Und bitte halten Sie gut sichtbar die Hände hoch. Ich bin ziemlich nervös im Umgang mit Feuerwaffen.« Er schaute zu mir. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?« Ich keuchte Zustimmung aus meiner halb liegenden Position. Der verflixte Apparat schien zu klemmen. Maud brachte den Stuhl in die Ausgangsstellung zurück, und ich bedankte mich bei ihr, während ich meine misshandelte Krawatte richtete. Die übrigen Schauspieler und die Polizei applaudierten, und ich hob matt und bescheiden die Hand.
Slade schniefte. »In Mrs. de Wintons Garderobe habe ich eine Zeitung gefunden«, sagte er spitz. »Die junge italienische Lady hatte einen bedauerlichen Unfall. Ein bemerkenswerter Zufall.« »Eine ausgezeichnete Vorstellung«, schloss der Inspektor. »Vielen Dank, Mr. Bunbury. Ich denke, Mrs. de Winton sollte jetzt mit uns kommen, um uns bei unseren Ermittlungen zu unterstützen.« Er packte ihren Arm und gab den Constables ein Zeichen, die sich um den bedauernswerten Angelo kümmerten und die Leiche schließlich hinaustrugen. »Spion«, zischte sie mir zu. »Ich brauchte das Geld. Ich bin Schauspielerin, mein Publikum erwartet von mir, dass ich einen bestimmten Lebensstil pflege.« »Ich bezweifle, dass Ihr Publikum von Ihnen erwartet, überall Leichen zu hinterlassen«, erwiderte ich kühl. »Inspektor, ich sollte Nachforschungen zu Mr. de Wintons mysteriösem Verschwinden anstellen. Es könnte sich als ... sehr aufschlussreich herausstellen.« Kleo raffte ihr Kleid und wurde mit Nachdruck hinausgeführt. Octavia legte ihre kleinen Hände um meinen Arm. »Wie klug von Ihnen, Mr. Bunbury«, hauchte sie. Welch einfühlsame Kleine. Elizabeth Foxwell
Maud trommelte mit dem Fuß, aber Antonius kam ihr zuvor und zog die Schauspielerin mit sich fort. »Es ist alles vorbei, meine Liebe.« »Unsinn«, schnaubte Cäsar. »Wir haben viel Arbeit vor uns, jetzt, da Miss Granville unsere neue Kleopatra ist.« Sie schaute ihn aus großen Augen an. »Ich?!« Cäsar bemächtigte sich ihres Arms. »Miss Greystone!« Er rauschte mit Miss Granville davon, dicht gefolgt von Antonius und Taurus. Maud verdrehte die Augen zum Himmel, als erflehte sie göttlichen Beistand. Sie versprach, unverzüglich zurückzukehren, und stürzte ebenfalls davon. Als Slade und ich allein waren, massierte ich meine steifen Glieder.
»Geht es Ihnen gut, Sir?« »Hören Sie auf, mich zu bemuttern, Slade«, erwiderte ich gereizt und stemmte mich hoch, sodass ich aufrecht stand, ohne im Geringsten zu schwanken. »Verflixt, von diesem Stuhl kann man ja Krämpfe kriegen.« Plötzlich ertönte beifälliges Klatschen. Wilde trat aus dem Halbdunkel der Kulissen. Ich stand da wie erstarrt. »Oh, gut gemacht, Mr. Bunbury«, säuselte er. »Dieser überraschende dritte Akt ist zwar eine Spur zu dick aufgetragen, aber wahrhaft genial. Sie präsentieren mir da ein faszinierendes... Szenario. Überaus faszinierend, Sir. Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde es so aufbereiten, dass Sie jederzeit öffentlich gegen die Launen des Dramatikers wettern und tun – oder nicht tun – können, was Sie wünschen.« Augenzwinkernd verschwand er mit einem Wirbeln seines Mantels. Ich fiel auf meinen Stuhl zurück – diesmal war es nicht geheuchelt. »Sir?« Slade fächelte mir mit seinem Taschentuch Luft zu, als wäre ich eine Matrone und der Ohnmacht nahe. »Soll ich das Riechsalz holen, Sir?« »Sarkasmus steht Ihnen nicht, Slade.« »Nein, Sir. Meinen Sie, er wird Wort halten, Sir?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, nahm sein Taschentuch und Ein Roman ohne Bedeutung
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wischte mir die feuchte Stirn. »Die Vorsehung ist ein wetterwendisches Geschöpf.« Endlich kam Maud wieder und ich stellte schnell wieder die Füße aufs Trittbrett. »Ich habe Cäsar überlassen, was des Cäsars ist – vorläufig.« Ich betrachtete das Bühnenbild. »›Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.‹« Maud legte sanft ihre Hand in die meine. ›»Sie treten auf und gehen wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.‹ Heißt das, Sie sind bereit, den General zu spielen?« »Wenn ich auf diese Weise Angelos Andenken ehren und Ihr
Stück retten kann – ja. Obgleich ich nicht weiß, wie Cäsar den Stuhl verbergen will.« »Unterschätzen Sie nicht den kaiserlichen Willen oder seine abgöttische Liebe zur Theaterkasse.« Mein Blick glitt zu Slade, der vor der Katze zurückwich. Sie rieb sich liebevoll an seinem Knöchel. »Slade, kümmern Sie sich um das Tier.« Sein Gesicht erstarrte. »Sir?« »Nun ja, Roma hat uns das entscheidende Indiz geliefert. Waschen Sie ihre Krallen ... äh ... und füttern Sie sie, oder spielen Sie mit ihr, tun Sie, was immer Katzen sich wünschen.« Er warf mir einen Blick zu, der Vergeltung bei passender Gelegenheit verhieß, nahm jedoch die Katze hoch und hielt sie in Armeslänge von sich. Ihr Schwanz pendelte hin und her. »Sehr wohl, Sir.« Er stolzierte hinaus, begleitet von dem wehleidigen Maunzen des Tieres. Maud und ich waren endlich allein. Ihre Finger schlossen sich fest um die meinen. »Die Show wird weitergehen, und ich stehe erneut in Ihrer Schuld.«
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»Stets zu Diensten.« Ich tätschelte ihre Finger. Ich hatte viel Erfahrung mit der Rolle des lieben Onkels. »Gehen Sie mit mir essen? Ins Café Royal?« »Wie nett.« Ihre Augen funkelten wie Champagner, als sie sich zu mir beugte und mit ihren weichen Fingerspitzen über meinen Nacken fuhr. Manchmal geriet die Rolle des Onkels ein wenig dünn. Sogar sehr dünn. »Aber wollen Sie nicht lieber erst heute Abend ausgehen?« Ich war ... überredet.
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das kätzcHEN oer HEILIGEN MarGrET Ich ging unter, ohne recht zu wissen, warum. Ich hatte eine belebte Ecke auf dem Marktplatz des schottischen Grenzdorfs ausgewählt und verwickelte die Passanten in ein Gespräch, während ich meine Laute auspackte und stimmte. Seit fünf Könige in Schottland um die Vorherrschaft stritten und Löwenherz weit weg im Ausland kämpfte, waren fahrende Sänger in den Landen nördlich des Tweed ein seltener Anblick. Bald hatte ich eine kleine, aber mir wohlgesinnte Schar Schaulustiger angelockt. Ich begann mit dem Rolandslied, einer Ballade aus der Zeit Karls des Großen über einen Helden, der sein Leben um der Ehre willen dahingibt. Ich singe es recht gut, und die Dörfler quittierten es mit kräftigem Beifall und aufmunternden Zurufen. Natürlich gaben sie mir kein Geld. Im Grenzland sind die Pennys knapp und selbst mit gezücktem Schwert nur schwer zu erwerDas Kätzchen der Heiligen Margret
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ben, von einem schlichten Lied ganz zu schweigen. Macht nichts. In dem fahrenden Gewerbe, das ich ausübe, ist man für eine gute Mahlzeit ebenso dankbar wie für ein paar Kupfermünzen. Wenn ich Glück hatte, würde man mich einladen, bei einer Familie aus dem Dorf zu Abend zu essen, oder mich vielleicht sogar beim Vorsteher der hiesigen Festung einführen. Es war ein schöner Tag für Ende Oktober, von strahlendem Glanz wie ein sarazenischer Gong. Nach dem Rolandslied stimmte ich eine leise Liebesballade an, die sich beim Adel von London und York großer Beliebtheit erfreute. Als ein paar der Frauen
feuchte Augen bekamen, wusste ich, dass ich mein Publikum erobert hatte. Augenblicke wie dieser, wenn man in einer neuen Stadt für ein aufmerksames Publikum singt, sind der wahre Lohn eines Troubadours, eine gerechte Bezahlung für das wechselvolle Leben auf der Straße und die Einsamkeit. Ich genoss es in vollen Zügen, fühlte mich so glücklich wie ein Bär beim Hochzeitsschmaus einer Honigbiene. Und dann plötzlich begann mein Ungemach. Ich wählte eine Ballade, die ich selbst verfasst hatte, »Die Schlacht von Aln Ford«. Es ist die dramatische Geschichte des verzweifelten Kampfes der Engländer gegen eine Horde norwegischer Plünderer. Der Kampf hatte in jüngster Zeit nur wenige Wegstunden nordöstlich von hier stattgefunden, deshalb dachte ich mir, dass das Lied den Dörflern gefallen würde. Aber statt mir das erhoffte anerkennende Lächeln und Zunicken einzubringen, hatte es die entgegengesetzte Wirkung. Nach wenigen Strophen spürte ich, dass mein Publikum unruhig wurde. Ich schaute umher, um einen Grund auszumachen, herannahende Soldaten vielleicht oder einen Raufbold, der auf Streit aus war, aber es schien an dem Lied selbst zu liegen. Je
länger ich sang, desto öfter wurden beklommene Blicke gewechselt, und allmählich begannen sich meine Zuhörer zu entfernen. Gerade noch hatte ich den einmaligen Nachmittag und meine gelungene Darbietung genossen, jetzt ging ich unter und erlebte den Albtraum eines jeden Künstlers, als mein Publikum dahinschmolz wie frischer Schnee im Sonnenlicht. Der kalte Schweiß der Niederlage trat auf meine Stirn. Ich versuchte das Lied abzukürzen, ließ die vorletzte Strophe ganz aus. Zu spät. Als ich den letzten Vers ausklingen ließ, war ich fast allein auf dem Platz. Ich hätte sie nicht schneller verscheuchen können, wäre meine Laute die Glocke eines Aussätzigen gewesen. Nur zwei waren geblieben, ein kleines Mädchen, das um meine Knie herumstrich, seit ich mit meinem Vortrag begonnen hatte,
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und ein Jüngling, der mich aus dem Schatten des Dorfbrunnens beobachtete. Das Kind starrte mich mit tränenfeuchtem Blick und zitternden Lippen an. Die Kleine war zwar barfuß und in grobes Leinen gehüllt, doch ihr Gesicht war sauber und sie sah aus, als bekäme sie genug zu essen. Also nicht der Spross von Leibeigenen, sondern vielleicht die Tochter eines hiesigen Handwerkers. Eines Müllers oder Schmieds. Sie hielt einen kleinen Sack in der Hand. Essen? Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Ich hatte seit zwei Tagen nichts zu mir genommen. »Warum weinst du, Kleine?«, fragte ich und kniete vor ihr nieder. »Hat dir die Geschichte über die Schlacht Angst gemacht?« »Nein, Sir«, sagte sie und schluckte. »Es war das Lied davor, das mit der sterbenden Prinzessin. Es war so traurig.« »Dennoch war es nur ein Lied. Kopf hoch, es ist ein zu schöner Tag, um sich das Herz schwer zu machen. Was... was hast du denn da in deinem Beutel?« »Mein Kätzchen, seht Ihr?« Sie öffnete ihr Säckchen und hob ein winziges schneeweißes Kätzchen am Genick heraus. Es schien etwa einen Monat alt, schon entwöhnt, aber kaum älter. Das
Kätzchen fauchte und krallte sich an sie. »Ich habe es Maggie genannt, nach der Heiligen«, sagte sie und bot es mir dar. »Euer Gesang hat ihr so sehr gefallen. Das habe ich gleich gemerkt. Ihr könnt sie halten.« »Danke«, sagte ich und nahm das Kätzchen, das sogleich seine nadelspitzen Krallen in mein Gewand grub. »Sie scheint ein liebes ...« Aber das Mädchen hatte sich bereits umgedreht und eilte davon. »Warte, kleine Miss, dein Kätzchen ...« »Ihr könnt sie behalten«, rief sie über ihre Schulter. »Meine Ma hat mir aufgetragen, sie zu ertränken.« Wie zum Beweis hielt sie den leeren Sack in die Höhe, dann rannte sie los und verschwand zwischen zwei Hütten. »Seid dankbar für das Kätzchen, das Euch nichts kostet«, sagte der Junge und trat aus dem Schatten des Brunnens. »Hätte eine
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von Milords Wachen jenes letzte Lied gehört, dann hättet Ihr stattdessen unter Umständen Prügel bezogen.« »Prügel? So schlecht habe ich wohl nicht gesungen!« Ich maß ihn von Kopf bis Fuß. Etwa sechzehn Jahre, sommersprossiges Gesicht, ein widerspenstiger kastanienbrauner Haarschopf. Er steckte in einer kurzen grünen Tunika, die mit dem Pelz eines Eichhörnchens besetzt und an der Taille gegürtet war. Ein Edelmann? Nein, ihm fehlte die vornehme Haltung und er trug auch keinen Dolch. »Der Fehler war nicht Eure Stimme, Sänger, sondern der Text. Die Schlacht an der Furt ist hier zu Lande wohl bekannt. Sir Denis de Picard, der Held von Aln Ford, ist hier in Wansfeth der Herr. Dort an der Flussbiegung steht seine Festung.« Ich folgte seinem Blick. Die Burg erhob sich auf einem Hügel aus aufgeschütteter Erde am östlichen Rand der Stadt. Die gedrungene Steinfestung, fünfzig Fuß hoch und an drei Seiten von Wasser umschlossen, war mit ihren Ecktürmen für Bogenschützen im frühen normannischen Stil erbaut und umgeben von einem primitiven Wall aus Erde, Stein und hochkant gestellten Holzblöcken. Im Süden, in England, hätte sie keinen großen Eindruck hinterlassen, aber hier im Hinterland wirkte sie gewaltig. »Wie, sagtet Ihr, lautet der Name des Lords?« »Sir Denis de Picard. Es war sein Lied, das Ihr gesungen Doug Allyn
habt, und recht gut, wie ich hinzufügen möchte, obwohl Ihr die Geschichte falsch wiedergebt. Es war Sir Denis, der den Angriff leitete und den Widerstand der Wikinger an der Furt brach, nicht sein Vetter Ranaulf.« Er sang eine Strophe der Ballade für mich, doch ganz anders als die Fassung, die ich vor Jahren geschrieben hatte. Seine Stimme war klar und kräftig, seine Intonation korrekt. Ein viel versprechendes Talent, wenn auch noch ein wenig ungeschliffen. »Diese Version habe ich noch nie gehört«, sagte ich vorsichtig. »Aber manchmal verändern sich Lieder im Laufe der Zeit oder von
Ort zu Ort. Ihr habt eine schöne Stimme, Sir. Seid Ihr ein Sänger?« »Ich hoffe es eines Tages zu sein. Ich singe ganz annehmbar, aber an der Laute bin ich ein Neuling. Meine Finger sind wie Würste. Darf ich mir Euer Instrument aus der Nähe ansehen? Mir ist noch nie eine Laute mit einem so runden Schallkörper untergekommen.« »Der wird Schildkrötenrücken genannt«, sagte ich und reichte sie ihm. »Eine Variante des italienischen Stils.« Er hielt sie so ehrfürchtig, als wäre sie ein Splitter des Heiligen Kreuzes. Flüchtig erinnerte ich mich an einen Sänger, der mir vor vielen Jahren in York ein ähnliches Instrument gereicht hatte. War ich jemals so jung gewesen ? »Sie ist herrlich gestaltet«, sagte er sehnsüchtig. »Habt Ihr sie eigenhändig geschnitzt?« »Oh, nein, ich habe sie gegen ein abgenutztes Schwert eingetauscht. Bevor ich als Sänger durch die Lande zog, war ich jahrelang Soldat. Manche sagen, ich hätte mit meiner Stimme mehr Menschen verwundet als damals mit meiner Klinge. Mein Name ist Tallifer von Shrewsbury und York.« »Elwood Chisolm von Wansfeth«, sagte er und erwiderte meiDas Kätzchen der Heiligen Margret
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nen Handschlag. »Ich bin das Mündel von Milord de Picard. Meine Eltern starben, als ich noch ein kleiner Knirps war, nicht viel größer als Euer Kätzchen. Ohne mündigen Erben fiel unser Land rechtmäßig an Sir Denis zurück, aber er kümmerte sich um mich und nahm mich in sein Haus auf.« »Er hatte immer schon eine Schwäche für Streuner – ob Hunde, Katzen oder Kinder.« »Ihr kennt ihn?« »Früher einmal kannte ich ihn, vor vielen Jahren, falls es sich um ein und denselben Mann handelt. Picard ist auf beiden Seiten der Grenze kein ungewöhnlicher Name. Aber wenn er an der Furt gekämpft hat und der Vetter von Ranaulf de Picard ist, dann kannte ich ihn in der Tat. Ob diese Bekanntschaft noch besteht, ist eine
andere Frage. Menschen können sich ebenso leicht verändern wie Lieder.« »Nicht Milord«, sagte der Junge zuversichtlich. »Er ist so beständig wie die Hügel dort drüben. Kommt, ich führe Euch zu ihm. Er freut sich immer über Besucher aus dem Süden.« Nachdem ich Maggie das Kätzchen sicher in meiner Tunika untergebracht hatte, sodass nur noch sein Kopf zu sehen war, folgte ich Elwood quer durch das Dorf zur Burg. Wansfeth wirkte recht wohlhabend für ein Grenznest. Es hatte seine eigene Mühle, eine Schmiede und eine Kapelle aus gehauenem Stein. Die Hütten bestanden zwar überwiegend aus Flechtwerk und Lehm, wirkten jedoch stabil und gepflegt. Die Burg bot ein anderes Bild. Sie war groß, hatte jedoch etwas Primitives, Unfertiges, als hätten die normannischen Handwerker, die sie vor hundert Jahren erbaut hatten, ihre Arbeit erst vor wenigen Wochen beendet. Einen Wassergraben gab es nicht, aber die lange Treppe zum Haupttor wurde von zwei mit Piken bewaffneten Soldaten in Kettenhemden bewacht. Elwood winkte den Wachtposten zu, und sie ließen uns ohne Anruf passieren. Im Innenhof wimmelte es von Besuchern. Ein Dutzend Pferde, noch staubig von der Straße, waren draußen vor dem
überfüllten Stall an einen Zaun gebunden. Stallknechte und Diener nahmen den Reittieren das Gepäck ab und striegelten sie. »Was hat all das zu bedeuten?«, fragte ich. »Bis Weihnachten sind es noch fast zwei Monate.« »Es findet ein Fest statt«, sagte Elwood. »Zu Ehren der Heiligen Margret.« »Margret? Die Kleine sagte, ihr Kätzchen heiße Maggie nach St. Margret, aber ich habe noch nie von dieser Heiligen gehört.« »St. Margret Canmore von Dunfermline, die Witwe des alten Königs Malcom«, erklärte er. »Bis jetzt hat Mutter Kirche sie noch nicht offiziell heilig gesprochen, aber die Leute hier betrachten sie gleichwohl als ihre Schutzpatronin und beten zu ihr. Sie starb vor
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zehn Jahren im November. Jetzt, da die Ernte eingebracht ist und der Winter nicht mehr lange auf sich warten lässt, ist ein guter Zeitpunkt für ein Fest. Kommt, hier entlang.« Elwood führte mich in die große Halle, die für Feste und Feierlichkeiten, Gerichtstage und Kriegsgeräte benutzt wurde. Dort ging es zu wie im Tollhaus. An den niedrigen Tischen ringsum wurden die frisch eingetroffenen Gäste bewirtet. Der Lord, der auf einem Podest an der Ehrentafel residierte, beschwerte sich bei seinem Küchenmeister über die Verpflegung. Sir Denis de Picard? Ohne Frage. Sein blonder Bart war zwar inzwischen von Grau durchzogen und er hatte einen Bauch angesetzt, aber sonst war er so ziemlich der Alte, ein hoch gewachsener Mann, der zeitlos jung wirkte. Seine Tunika war aus gefärbter Wolle, sein Mantel jedoch aus Seide und so blau wie die Augen eines Engels. Als wir näher kamen, nickte er kurz, dann stutzte er. Mit gerunzelter Stirn nahm er mich genauer in Augenschein. Die Sängerschaft ist nicht durch Brauch an eine bestimmte Kleiderordnung gebunden, doch die meisten von uns haben eine Vorliebe für mehrfarbige Gewänder, die uns von den Gemeinen abheben. Mein Aufzug wies mich als Musiker aus, und vielleicht Das Kätzchen der Heiligen Margret
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war es dies, was ihn verwirrte. Aber nicht lange. »Ich kenne Euch doch«, sagte er, stand auf und verscheuchte seinen Dienstmann. »Tallifer? Seid Ihr das?« »Milord«, sagte ich und beugte das Knie, um keinen Zweifel an der Rangordnung aufkommen zu lassen. »Bei unserer letzten Begegnung waren wir beide Soldaten.« »Mein Gott, Ihr alter Schwerenöter, ich dachte, Ihr lägt längst tot irgendwo in einem Straßengraben, in einem namenlosen Feldzug erschlagen oder von einem eifersüchtigen Ehemann aufgeschlitzt.« Grinsend zog er mich an den Schultern hoch und forschte in meinem Gesicht. »Wie lange ist es her? Fünfzehn Jahre?« »Und noch ein paar mehr. Scheint, als hättet Ihr seit unserer letzten Begegnung Euer Glück gemacht.«
»Wohl kaum. Ich bin der Herr über einen heruntergekommenen Außenposten, den zu halten Prinz John von mir erwartet – mit nicht viel mehr ausgerüstet als meinem bisschen Grips. Als der vierte Sohn meines Vaters pflegte ich früher um ein eigenes Stück Land zu beten. Hütet Euch vor Gebeten. Manchmal erhört Gott uns und antwortet. Und dann lacht er.« »Dennoch gab es in den alten Zeiten Tage, da war ein Gebet alles, was wir hatten«, sagte ich. »Aye, so war’s«, erwiderte er und trat zurück, eine Spur Misstrauen im Blick. »Und was führt Euch ausgerechnet in diese Gegend? Sucht Ihr einen Posten als Soldat?« »Nein, die Straße ist jetzt meine Wohnstatt, Milord. Nicht lange nach unserem letzten gemeinsamen Feldzug gegen die Wikinger habe ich dem Soldatenleben den Rücken gekehrt. Jetzt bin ich ein fahrender Troubadour.« »Und ein guter obendrein«, warf Elwood ein. »Ich habe ihn im Dorf singen hören.« »Bah, es wird Euch nichts einbringen, diesen Schwachköpfen aus dem Norden aufzuspielen«, brummte Denis. »Die würden nicht mal einen Penny hergeben, um Christus vom Kreuz loszukaufen. Aber ich kann Euch eine Beschäftigung anbieDoug Allyn
ten. Meine Gäste müssen zerstreut werden, und später können wir vielleicht über die alten Zeiten plaudern. Es ist schwer, mit den hiesigen Edelleuten ein zivilisiertes Gespräch zu führen. Alles, wofür diese Schotten sich interessieren, sind Schafzucht, Kinder und Blutfehden. Ihr könnt mir glauben, an manchen Tagen wünschte ich, dass ich wieder ohne Land und in London wäre.« »Aber nie wieder am Aln, vermute ich, wo die Wikinger am Ufer des Flusses nach unserem Blut schrien.« »Nein, dort nie wieder.« Er schätzte mich kurz ab. »Mein Leben hier mag ja ein Fluch sein, aber wenigstens brauche ich mich nicht dauernd am Ohr zu kratzen, um sicher zu sein, dass mein Kopf noch fest auf den Schultern sitzt. Denkt Ihr etwa gern an jene Zeit
zurück, Tallifer?« Die Frage schien harmlos, und doch schwang eine Drohung in seinen Worten. »Ich erinnere mich so selten wie möglich daran«, sagte ich vorsichtig, »und auch nicht allzu genau, Milord. Es ist lange her und ich habe festgestellt, dass meine Erinnerung an früher immer... unzuverlässiger wird.« »Wohl gesprochen.« Er nickte befriedigt. »Wie ich sehe, verfügt Ihr noch über die alte Schlagfertigkeit. Gut. Für einen klugen Mann habe ich immer Verwendung. Elwood, nimm das Gepäck des Sängers. Er kann bei dir in der Kaserne sein Lager aufschlagen. Kommt Ihr mit mir, Tallifer.« Sein Ton duldete keinen Widerspruch, er war hier der Herr. Ich warf mein armseliges Bündel Elwood zu, der sich verneigte und davonging. Denis legte die Hand auf meine Schulter und führte mich aus dem Saal in den Korridor. »Vielleicht ist Euer Kommen ein Omen, Tallifer. Ich befinde mich in einer ... schwierigen Situation.« »Inwiefern?« »Meine Gattin ist vor drei Jahren gestorben ...« »Das bedaure ich.« »Nicht nötig. Ich nicht. Sie war zehn Jahre älter als ich und hatte obendrein ein Pferdegesicht. Ich habe sie geheiratet, um dieses Le-
hen zu bekommen, und ich habe mir jeden einzelnen verflixten Morgen sauer verdient. Ich bedaure nur, dass sie unfruchtbar aus dem Leben schied. Sie hat mir weder einen Erben hinterlassen noch die Erinnerung an auch nur eine einzige vergnügliche Nacht.« »Ihr könntet wieder heiraten, Milord. Wenn ich mich recht entsinne, verstandet Ihr es, mit den Frauen umzugehen. Ist es denn ein so schweres Kreuz, auf Brautschau zu gehen?« »Auf Brautschau gehen?«, schnaubte er. »Hier im Grenzland werden Männer und Frauen zusammengetan wie Zuchtvieh. Aber andere Länder, andere Sitten ...« Er lächelte zerstreut, wie immer, wenn er erregt war – eine Angewohnheit, an die ich mich noch gut von früher erinnerte.
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»Nachdem ich die hiesige Auswahl begutachtet habe, bin ich zu dem Entschluss gelangt, dass die einzig vernünftige Kandidatin Muriel ist, die Tochter des Eoin von Mangerton. Sie ist so gewöhnlich wie ein Erbsengericht, aber kräftig genug, um starke Söhne zur Welt zu bringen. Zudem verfügt sie über eine ansehnliche Mitgift.« »Dann wäre Euer Problem also gelöst?« »Wohl kaum. Kein Problem in diesem gottverlassenen Grenzland lässt sich so schnell aus der Welt schaffen, Tallifer. Mein nördlicher Nachbar, Tormod the Mackinnon, hat eine jüngere Schwester, Fiona. Sie ist ein äußerst reizvolles Geschöpf, wenn auch ein wenig eigensinnig. Leider hat das Mädchen es ebenfalls auf eine Verbindung mit mir abgesehen.« »Eine Gemahlin in Aussicht und von einer Schönheit umworben? So mancher Mann würde Gott auf den Knien danken für Schwierigkeiten wie die Eurigen.« »Da gibt es nichts zu lachen, Sänger. Diese Schotten sind bereit, einander über Generationen hinweg wegen eines entlaufenen Schweins zu erschlagen, ganz zu schweigen von einer beleidigten Dame. Ich sage Euch, es ist eine höllisch vertrackte Lage. Diese Fiona hat bereits einen ernsthaften Bewerber, einen jungen HeißDoug Allyn
sporn aus den Bewcastle Wastes namens Lindsay.« »Damit klärt sich doch alles. Wenn Ihr an dem Mädchen nicht interessiert seid ...« »Es ist nicht so, dass ich sie nicht anziehend finde. Sie ist so lieblich wie ein Maienmorgen und schlau wie ein Fuchs. Ich muss zugeben, als ich sie das erste Mal sah, war ich so verzaubert von ihr wie ein junger Schwachkopf. Aber ich bin eben weder jung noch ein Schwachkopf. Fiona ist eine Schönheit, wohl wahr, aber einen Grenzkrieg um sie zu führen – das ist sie nicht wert.« »Das verstehe ich nicht. Ein Krieg – gegen wen denn?« »Ihr Freier, Lindsay, ist völlig vernarrt in sie und bereit, für sie in den Kampf zu ziehen. The Mackinnon wäre nichts willkommener, als dass ich den Burschen in einem Duell erschlüge. Er würde
Lindsays Land an sich reißen und vielleicht sogar noch nach dem meinen die Hand ausstrecken, während ich damit beschäftigt wäre, mich Lindsays Verwandtschaft zu erwehren.« »Trotzdem, wenn das Mädchen so schön ist, wie Ihr sagt...« »Ich bin kein solcher Narr, dass ich mich eines hübschen Gesichts wegen in einen Feldzug verwickeln lasse! Ich habe nicht die Schmach meiner ersten Ehe über mich ergehen lassen, um alles, was ich dadurch gewonnen habe, für ein Mädchen wegzuwerfen.« »Ich verstehe«, sagte ich langsam, und das stimmte sogar. Die Schlacht an der Furt lag zwar schon mehr als fünfzehn Jahre zuDas Kätzchen der Heiligen Margret
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rück, aber Denis hatte sich nicht sehr verändert. Er war immer noch ein wenig ... übervorsichtig, um es milde auszudrücken. »Und was soll ich für Euch tun?« »Das Mädchen ablenken. Singt ihr Balladen über die Freuden junger Liebe. Führt ihr vor Augen, dass Lindsay für sie die bessere Wahl wäre, ganz gleich, was für Versprechungen ich ihr angeblich früher gemacht habe. Welcher Mann hat in der Glut der Leiden-
schaft nicht schon Dinge gesagt, an die er sich später kaum erinnern kann, wenn Ihr versteht, was ich meine ...« »Aber wenn das Mädchen sich zu Euch hingezogen fühlt, Milord, wärt Ihr da nicht viel eher in der Lage, die Angelegenheit zu klären?« »Oh, nein. Sollte ich etwas Falsches sagen und das Mädchen beleidigen, müsste ich es am Ende mit Lindsay und ihrem Bruder aufnehmen. Ihr hattet schon immer eine flinke Zunge, Tallifer. Ja, bei Gott, Ihr wart von jeher ein Dichter. Erweist mir diesen Dienst. Um der alten Zeiten willen. Es soll Euer Schaden nicht sein.« »Wie Ihr wünscht, Milord«, sagte ich und unterdrückte zugleich ein Stöhnen. In der Regel missfällt es mir, Privatgesellschaften zu unterhalten. Gebt mir frische Luft und eine lärmende Menge, vorzugsweise Betrunkene. Dennoch muss ich zugeben, dass ich neugierig war. Eine Frau, deren Liebreiz ein Duell oder gar einen Grenzkrieg auslösen konnte? Von der Ilias bis in unsere Zeit waren tausend Lieder über solche Schönheiten geschrieben worden; ich hatte selbst eine ganze Reihe davon zum Besten gegeben. Andererseits kannte ich auch ein Dutzend Balladen über Einhörner, und doch war ich nie einem begegnet. Doug Allyn
Bis zu diesem Tag. Als Denis mich in eine lichte Kammer führte, in der sich eine junge Lady und ihre Zofe aufhielten, traf mich die Schönheit des Mädchens wie ein Schlag. Ihre Augen glitzerten wie Saphire und ihr Lächeln konnte mitten im kältesten Februar eine Schneewehe zum Schmelzen bringen. Ihr wollenes Gewand war in einem strahlenden Grün gefärbt, das ihre Augen und das Feuer ihres rotbraunen Haars betonte. Denis stellte mich vor und lobte eingehend meine Fähigkeiten. Ich bezweifle, dass ich in diesem Augenblick mehr als sinnloses Gestammel zu Stande gebracht hätte. Aber nachdem er sich entschuldigt hatte und hinausgegangen war, verblühte das Lächeln des Mädchens, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.
»Kommt Ihr aus dem Süden, aus England, Sänger?«, fragte sie, ohne ihren Ärger zu verhehlen. »Ja, Lady, ich komme ursprünglich aus Shrewsbury und York.« Ich packte meine Laute aus und begann sie hastig zu stimmen. »Milord sagte, Ihr habt auch in London gelebt?« »Aye, ich habe einige Zeit dort verbracht. Vielleicht hättet Ihr Lust, eine Ballade zu hören ...« »Erspart mir Euren Gesang, Sänger. Im Grunde fehlt mir jeder Sinn für Musik. Ich könnte Eure Stimme nicht von dem Maunzen des Kätzchens unterscheiden, das da aus Eurer Jacke späht. Lasst es mich aus der Nähe betrachten.« Ich zögerte. »Seid Ihr taub? Ich sagte, gebt es mir.« »Sie ist leider noch nicht zahm, Lady. Sie könnte Euch kratzen.« »Höchstens einmal«, sagte sie und nahm Maggie aus meinen Armen entgegen. Das Kätzchen schmiegte sich ohne viel Federlesens an ihre Brust. Ich beneidete es. »Seht Ihr? Katzen und ich verstehen einander. Was mehr ist, als ich von Eurem Herrn behaupten kann. Er sagte, er kennt Euch seit vielen Jahren. War er immer schon so... unbeständig?« »Ich weiß nicht, ob ich Euch recht verstehe«, sagte ich vorsich-
tig. »Oh, doch, ich glaube schon. Vor einem Monat, in der Festung meines Bruders, hat Lord Denis mich geradezu angefleht, seine Braut zu werden. Und jetzt, unter seinem eigenen Dach, gibt er vor, ich hätte ihn missverstanden.« »Vielleicht entspricht es ja der Wahrheit. Ihr seid sehr jung, Milady. Und nicht sehr erfahren im Umgang mit Männern, fürchte ich.« Sie starrte mich an wie Ungeziefer, das sie in ihrem Essen gefunden hatte. »Haltet Ihr mich für dumm, Sänger? Weil ich eine Frau bin? Und jung?« »Nein, Lady«, sagte ich und schluckte. Mein Mund war plötzlich trocken. Liebreizend oder nicht, dieses Mädchen war kein
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Kind. Sie war die Schwester eines Grenzlords. Stahl blitzte in ihren Augen. »Schaut Euch diese Kammer an«, sagte sie und wies auf die Wandteppiche und den kunstvoll geschnitzten Schrank. »Milord de Picard hat sich dafür entschuldigt. Er sagte, sein Onkel hätte viel prächtigere Kammern auf seinem Landgut außerhalb von London. Ist das wahr?« »Ich ... habe die dortigen Besitztümer seines Onkels nie gesehen, aber seine Familie verfügt über großen Wohlstand, und viele Adelshäuser in London sind so prächtig wie dieses oder noch prächtiger ausgestattet.« »Das habe ich mir gedacht. Meine Familie ist nicht arm und unser Blut ist so blau wie das der besten Häuser, aber im Vergleich hierzu ist die Wohnstatt meines Bruders ein Schweinestall.« Sie brach ab, als Geräusche aus dem Korridor zu hören waren. Auf ihr Kopfnicken hin eilte die Dienerin zur Tür und spähte hinaus. »Es ist Neil Lindsay, Milady«, sagte sie. »Er bittet um Erlaubnis, Euch besuchen zu dürfen.« Fiona überlegte kurz, dann nickte sie, hexenhaft lächelnd. »Führe ihn herein. Welch ein Jammer, dass er keine ungehörige Szene stört. Spielt ein romantisches Lied, Sänger. Es könnte meinen Gast aufheitern.« Sie nahm in der Nähe des schmalen Fensters Platz, und in Doug Allyn
dem goldenen Lichtschein, mit dem Kätzchen im Arm, war sie eine himmlische Vision – ein strahlender Engel. Ich stand am Kamin, schlug sanft die Laute, um ihren Klang zu prüfen, dann begann ich eine melancholische keltische Weise zu spielen, die ich vor Jahren in Strathclyde gelernt hatte. Fionas Zofe führte einen jungen Mann herein, der höchstens ein oder zwei Jahre älter als Elwood und dennoch ein erwachsener Mann war. Er hatte breite Schultern, eine niedrige Stirn und ein kantiges, männlich anziehendes Gesicht. An seinem Kinn und am linken Handgelenk waren tiefe Narben zu sehen – offenbar das Ergebnis von Schwerthieben.
Ich bezweifle, dass er auch nur einen Tag älter war als achtzehn, aber im Grenzland findet die Kindheit ein frühes Ende. Dieser Bursche war bereits kampferprobt, ich kannte die Haltung nur zu gut. Seine Kleidung, weiche Beinkleider aus Rehleder und ein Wams mit einem vornehmen Kragen aus Fuchspelz, kündete von Wohlstand. Aber ein Kettenhemd hätte ihm besser zu Gesicht gestanden. Er war ein Grenzwolf im Gewand eines Gentlemans. »Neil«, sagte Fiona liebenswürdig, »wie schön, Euch zu sehen. Ihr kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Meine Zofe und ich hören gerade ein wenig Musik. Dies ist Tallifer von York, ein Musiker, den Milord Denis eigens von London hat kommen lassen, um mich zu zerstreuen. Er hat für die vornehmsten Familien Englands gespielt.« »Ich habe nichts übrig für Musik, ausgenommen den Dudelsack«, brummte Lindsay und warf mir einen finsteren Blick zu. »Aber wenn Ihr Gefallen an seinen Liedern findet, lasst ihn nur weiterspielen. Genießt es, so lange Ihr könnt.« »Wie meint Ihr das?« »Mir ist ein seltsames Gerücht zu Ohren gekommen, Milady. Man sagt, unser Gastgeber wird morgen seine Verlobung bekannt geben. Mit Muriel, der Tochter von Eoin MacDonald von ManDas Kätzchen der Heiligen Margret
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gerton.« »Das ist eine abscheuliche Lüge!«, sagte sie errötend. »Er würde niemals aus freien Stücken diese – Zuchtkuh heiraten!« »Schon möglich.« Neil nickte. »Gerüchte entsprechen nicht immer der Wahrheit. Andererseits habe ich verbreiten lassen, dass ich ihn herausfordere, sollte er um Eure Hand anhalten, und wenn ich mich nicht sehr täusche, scheint Milord de Picard Euch in letzter Zeit weniger ... zugetan als früher.« »Er hat keine Angst vor Euch, Neil, weder vor Euch noch vor einem anderen Mann. Nur ein Narr würde sich das einreden. Er ist ein großer Kriegsherr. Man singt sogar Lieder über ihn. Singt man auch über Euch?« »Noch nicht«, gab er zu, »und ich würde auch keinen Mann
ohne triftigen Grund einen Feigling nennen. Doch seit der Schlacht, von der die Sänger berichten, ist so viel Zeit vergangen – Ihr wart damals gerade erst geboren. Und jeder Mann, der Euch lieber aufgibt, als um Euch zu kämpfen, nun ja ... Hier im Grenzland haben wir einen Namen für solch einen Mann. Und der lautet nicht Milord. Hört mich an, Fiona. Ich weiß, Ihr seid sehr angetan von all diesen Verzierungen, Wandteppichen, Sängern und dergleichen, und ich weiß, meine Burgen sind nicht so weitläufig wie diese...« »Wie diese?«, unterbrach Fiona gereizt. »Neil, Euer Lehen ist halb so groß wie das meines Bruders, und unsere Ländereien sind halb so groß wie die von Milord de Picard.« »Trotzdem zählen auch noch andere Dinge als Wohlstand«, beharrte Lindsay. »Was ist mit Liebe, Fiona? Milord de Picard ist ein alter Mann. Er kann Euch niemals so gut beschützen wie ich, und er kann Euer Bett nicht mit der Glut wärmen, die ich für Euch hege.« »Männer«, sagte Fiona und schüttelte den Kopf. »Stets so besorgt, ob wir Damen es auch warm im Bett haben. Wenn mein Bett kalt ist, Neil, brauche ich keinen Mann, um es zu wärmen. Ein Kätzchen kann diesen Zweck ebenso gut erfüllen. Und seht Ihr?« Sie hielt Maggie hoch, die Lindsay prompt anfauchte. »Ich habe bereits eines, das mich wärmen kann.«
»Ihr werdet die Katze brauchen, Lady«, sagte Lindsay grimmig. »Ich schwöre bei meiner Familie, dass ich de Picard eher ins Grab befördern werde, als dass er sein Lager mit Euch teilt. Und ebenso werde ich verfahren, sollte er vernünftig sein und Euch mir aushändigen. Ich begnüge mich nur ungern mit der abgelegten Geliebten eines anderen Mannes. Schließlich habe ich meinen Stolz.« »Dann lasst Eure Bettstatt in langen Winternächten doch von Eurem Stolz wärmen. Sollte er das nicht können, dann erinnert Euch daran, wie niedrig Ihr heute zu mir gesprochen habt. Aber lasst Euch davon nicht um Euren Schlaf bringen. Es liegt mir nicht, meinen Zorn zu nähren. Solltet Ihr irgendwann einmal je-
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manden brauchen, der Eure Decke wärmt oder den Ihr des Nachts im Arm halten könnt, Neil, wendet Euch an mich. Ich bin gern bereit, Euch ... mein Kätzchen zu leihen.« Sie erhellte die Kammer mit dem gleichen Lächeln, mit dem sie vorhin mich und Milord de Picard empfangen hatte, und er war ebenso hilflos wie wir. »Ihr seid die durchtriebenste Frau, der ich jemals begegnet bin, Lady«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf. »Aber Ihr seid auch die Einzige, für die es sich zu töten lohnt. Oder zu sterben.« »Töten oder sterben – Ihr habt eine so romantische Art, Euch auszudrücken, Neil. Ich will Euch nicht beleidigen, Sir, aber ich denke, ich würde es jetzt vorziehen, die Lieder des Sängers zu hören. Und da Ihr nichts übrig habt für Musik, außer für den Dudelsack, seid Ihr entlassen. Vielleicht sehen wir Euch ja heute Abend beim Essen.« »Und ob, Lady. Kennt Ihr auch Klagelieder, Sänger?«, fragte er. »Eines oder zwei.« »Gut. Ihr werdet sie vielleicht brauchen, ehe die Woche um ist.« Er fuhr herum und stolzierte hinaus. Mit ihm verschwand auch Fionas Lächeln. Sie wandte sich an mich. »Diese gemeine Lüge, die Lindsay erwähnt hat, dass de Picard Muriel heiraten wird, die Mangerton-Kuh – habt Ihr davon geDas Kätzchen der Heiligen Margret
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hört, Sänger?« »Ich – leider bin ich erst vor wenigen Stunden hier eingetroffen, Milady.« Sie betrachtete mich nachdenklich und streichelte dabei Maggies winzigen Kopf. Es war ein verstörender Anblick. Fiona war ein schönes Mädchen und Maggie nur ein Kätzchen, doch der Ausdruck in ihren Augen ähnelte sich auf geradezu gespenstische Weise – unverhohlene Neugierde, ohne jedes Mitgefühl oder menschliches Empfinden. Sie waren nicht Herrin und Schoßtier. Sie waren Schwestern. »Merkwürdig«, sagte sie endlich, »ich hätte gedacht, ein Geschichtenerzähler wäre ein besserer Lügner, Sir. Ihr habt meine
Frage nicht beantwortet. Oder vielleicht habt Ihr es ja doch getan? Genug. Nehmt Euer dummes Tier und geht. Hinter mir liegt ein anstrengender Tag.« »Wie Ihr wünscht, Milady«, sagte ich und nahm das Kätzchen an mich. Bevor ich hinausging, beehrte ich sie mit meiner schwungvollsten Verbeugung, doch ich bezweifle, dass sie Notiz davon nahm. In der Halle fragte ich einen Diener nach dem Weg und fand schließlich die Kaserne; ein spartanisches Steingelass mit Binsen auf dem Fußboden und beinahe zwei Dutzend Pritschen in drangvoller Enge. Auf einer saß Elwood, tief in Gedanken versunken. Als ich eintrat, hob er den Kopf. »Ah, Ihr seid wieder da, Tallifer. Hier, ich habe Euch ein Bett freigehalten und Euch etwas zu essen und Wein besorgt.« Er warf mir ein Messer zu, außerdem einen harten Kanten in Rinderfett getränkten Weizenbrots, und ich fiel darüber her wie ein Wolf. »Ihr braucht Euch nicht bei mir zu bedanken«, sagte er ironisch. »Schließlich seid Ihr ein Gast von Milord. Aber ich habe mich gefragt, ob Ihr mir wohl einen Gefallen tut.« »Was für einen Gefallen?«, murmelte ich mit vollem Mund. »Eine harmlose Frage beantworten. Ich habe über die Ballade nachgedacht, die Ihr heute im Dorf gesungen habt, über die Doug Allyn
Schlacht bei Aln Ford.« »Was ist damit?« »Ziemlich am Ende kommt ein Vers mit den Worten ›Dieses Lied schrieb ein Mann, der viele Tote zu seinen Freunden zählt und um ein Haar einen Arm verloren hätte.‹ Dieser Mann wart Ihr, nicht wahr? Milord sagte, er hätte Euch seit jenem Feldzug nicht gesehen, und Euer Unterarm ist von Narben übersät.« »Viele Männer haben Narben. Die Welt ist ein gefährlicher Ort.« Ich schluckte den letzten Bissen Brot hinunter und spülte mit dem Wein nach, den Elwood mir reichte. »Bitte behandelt mich nicht wie ein Kind, Tallifer, ich bin kei-
nes mehr. Seid Ihr der Mann, der das Lied geschrieben hat, oder nicht?« Ich nickte, zu müde, um es zu leugnen. »Dann habe ich noch eine zweite Frage. Warum ist die Version, die Ihr geschrieben habt, so verschieden von dem Lied, das Milord de Picard mich gelehrt hat?« »Es ist lange her und Schlachten sind das reine Chaos. Die Erinnerung der Menschen an bestimmte Ereignisse unterscheidet sich oft und klafft mit den Jahren sogar noch weiter auseinander. Geschichten, erzählt und wieder erzählt, verändern sich.« »Ich sehe ja ein, dass manche Einzelheiten verblassen können, aber nicht die entscheidenden Tatsachen. Also frage ich Euch, welche Version ist die richtige? Hat Milord den Angriff gegen die Wikinger angeführt? Oder war es sein Vetter Ranaulf?« »Ihr setzt mir hart zu, Junge. Wie alt seid Ihr?« »Sechzehn«, gestand er. »Warum fragt Ihr?« »Dann seid Ihr alt genug, um zu begreifen, wie unhöflich es ist, ungehörige Fragen zu stellen. Welche Version ist wahr? Die Wahrheit ist, Ranaulf ist vor vielen Jahren seinen Verletzungen erlegen und ich bin Gast in Lord de Picards Haus.« »Das ist keine Antwort.« »Das ist die einzige Antwort, die Ihr bekommen werdet, Das Kätzchen der Heiligen Margret
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mein Junge, und viel mehr, als Euch zusteht. Und jetzt, wenn es Euch nichts ausmacht, schwingt Euer junges Hinterteil von meiner Pritsche, damit ich ausruhen kann. Heute Abend muss ich für meine Mahlzeit singen, und ich rechne mit stürmischem Wetter.« Ich hatte nie wahrer gesprochen. DIE GROSSE HALLE war voll besetzt, überwiegend mit den Gefolgsleuten von Milord de Picards edlen Gästen: den Mackinnons und der Familie des Eoin von Mangerton. De Picard hatte keine Kosten gescheut. Alle Tische waren mit Musselintüchern bedeckt; über die Ehrentafel war sogar Leinen gebreitet, bestickt mit Sir Denis’ Wappen. Das Festmahl war ebenfalls vom Besten, Hase
und Reh, am Spieß serviert, mit Rosinen oder Marzipan gefülltes Gebäck und Met und Wein im Überfluss. Normalerweise ist es ein Vergnügen, Schotten bei einem Festmahl zu unterhalten, solange man nur nicht gegen den Hauptgang antreten muss. Während des Essens hören sie zwar kaum hin, aber später, mit vollem Bauch und gefülltem Kelch, sind sie eine fröhlich lärmende Gesellschaft und ziehen einander auf, ohne beleidigen zu wollen oder sich gekränkt zu fühlen. Aber an diesem Abend gemahnte die Atmosphäre in der Halle eher an den Vorabend einer Schlacht; die Luft knisterte vor Spannung. Milord Denis hatte die Mackinnons und Mangertons klugerweise getrennt und an den entgegengesetzten Enden der Haupttafel untergebracht; er selbst war der Puffer. Die Mühe hätte er sich allerdings sparen können. Seine beiden Zukünftigen ignorierten einander völlig. Wenn Fiona und Muriel um de Picard buhlten, so merkte man es ihrem Verhalten keineswegs an. Muriel von Mangerton schien ein angenehmes, träges Geschöpf zu sein, gekleidet in ein etwas protziges azurblaues Gewand aus Naturseide mit einem Spitzenbesatz, der ihre mollige Figur betonte. Im Gegensatz dazu hätte Fiona Mackinnons schlichtes MusseDoug Allyn
linkleid sogar in eine Kirche gepasst. Ihr einziger Schmuck war ein Saphirkamm in ihrem glänzenden Haar. Und doch zog sie die Blicke der Männer an wie ein Magnet. Ihr Bruder Tormod saß neben Neil Lindsay. Mackinnon war ein wildhaariger Schotte mit Augen so schwarz wie Pech und einem dazu passenden Wesen. Er und Neil hatten einander wenig zu sagen, waren aber beide sichtlich nervös. In der Regel tragen Gäste beim Essen keine Waffen, mir fiel jedoch auf, dass der Dolch des Mackinnon-Clans beinahe die Größe eines alten römischen Schwerts hatte. Sollte de Picard den heutigen Abend wählen, um seine Verlobung mit Mangertons Tochter bekannt zu geben, würde ein Handgemenge im Saal losbrechen, noch ehe er ausgesprochen hätte.
Aber auch wenn Milord Denis nicht der tapferste Soldat sein mochte, der mir begegnet war, ein Narr war er auch nicht. Er gab den vollendeten Gastgeber, verteilte seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zwischen seinen Gästen und achtete darauf, niemanden zu kränken. Als es Zeit für meine Darbietung war, begab ich mich in die Mitte der Halle und kam mir dabei vor wie ein Wild, eingekeilt auf einer Lichtung zwischen einer Meute von Jagdhunden und einem tiefen blauen See. Zwar waren zuvor bereits zwei Gaukler gnädig aufgenommen worden, doch das Publikum wurde allmählich unruhig. Es endete beinahe in einer Katastrophe. Als ich einen voll tönenden Akkord auf meiner Laute schlug, um mich vorzustellen, erhob sich Fiona Mackinnon und verlangte die Ballade von Aln Ford. Ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört, und sang »Viehraub in Cooley«, eine irische Ballade über Diebstahl und Kampfesmut. Das Lied schien der Gesellschaft zu gefallen, doch während ich sang, suchte ich verzweifelt nach einem Ausweg aus meinem Dilemma. Da Fiona es auf Streit abgesehen hatte, würde sie bestimmt erneut nach dem Aln-Ford-Lied verlangen. Zu meinem Das Kätzchen der Heiligen Margret
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Unglück kannte ich nur die Originalversion, die zu Recht Ranaulf pries und Denis de Picard kaum erwähnte, doch wenn ich diese zum Besten gab, besonders heute Abend, würde ich vermutlich Prügel beziehen. Vorausgesetzt, ich wurde nicht erschlagen. Doch als ich mein Lied beendete, rettete Maggie das Kätzchen mir das Leben. Aus Furcht, dass sie sich aus der Kaserne stehlen und verlaufen würde, hatte ich sie im Korridor zurückgelassen, versteckt in meinem Lautenkoffer aus Schafsleder. Aber offenbar nahm sie ihre Stellung als Katze eines Sängers sehr ernst. Mitten im Lied kam sie zögernd in die Halle getapst und schaute sich mit staunenden, neugierigen Augen um. Beklommenes Gemurmel erhob sich unter den Gästen, da einige von Picards Jagdhunden auf der Suche nach Leckerbissen frei im Saal herumliefen. Ich hatte keine Wahl. Innerlich fluchend nahm ich Maggie und
packte sie in mein Wams. Gelächter brach los, als sie wütend fauchte und mit den Krallen nach meinem Gesicht schlug. Dies war der erste entspannte Moment des Abends und ich nutzte ihn. Ich holte Maggie heraus, hielt sie hoch und schalt sie wie ein Kind, dann drückte ich sie an meine Wange und sang ihr ein Schlaflied, gefolgt von einer Liebesballade. Mit jedem Lied ließ die Spannung im Saal merklich nach. Milords Gäste schauten tiefer in ihre Kelche und vergaßen ihre Waffen. Gott sei’s gedankt. Oder eher St. Margret. Ich schloss meine Darbietung mit einer lustigen Weise über ein Zauberreich, in dem alles Harmonie und Licht ist. Maggie ließ sich nicht lumpen und stimmte in den letzten Refrain mit ein. Sie maunzte ungeduldig, um hinuntergelassen zu werden. Mein Abgang war von herzlichem Gelächter und Beifall begleitet. Erfreut über die Reaktion des Publikums und unsäglich dankbar, dass ich noch am Leben war, begab ich mich in die Kaserne und gelobte, bei erstbester Gelegenheit der neuen schottischen Heiligen einen Obolus zu entrichten. Die Tafel musste kurz nach meinem Auftritt aufgehoben worden sein, denn noch ehe ich eingeschlafen war, kehrten die in der Kaserne untergebrachten Gäste dorthin zurück. Neil Lindsay Doug Allyn
war auch darunter. Nachdem er sein Wams auf seine Pritsche geworfen hatte, erblickte er mich und zwängte sich zwischen den dicht gedrängten Schlafstellen hindurch, bis er vor meinem Bett stand. »Ihr habt heute Abend gut vorgetragen, Sänger«, sagte er wohlwollend. »Sehr amüsant, besonders die Einlage mit dem Kätzchen. Ich persönlich bevorzuge ja den Dudelsack, aber den Leuten schien Eure Stimme recht gut zu gefallen. Vielleicht kommt Ihr irgendwann einmal in die Gegend meiner Ländereien in Bewcastle. Dort ist es nicht so vornehm wie hier, aber das Land ist grün und die Leute sind freundlich. Ihr seid herzlich eingeladen.« »Ich werde Euch an Euer Angebot erinnern, sollte mich der Wind in diese Richtung führen, Sir.«
»So sieht also Euer Leben aus? Ihr lasst Euch vom Wind treiben?« »Zu anderen Zeiten habe ich auch andere Dinge getan. Aber im Augenblick gefällt es mir eben, mit dem Wind zu ziehen.« »Aber habt Ihr denn kein Heim? Keine Familie?« »Als ich das letzte Mal dort war, hatte ich noch beides. Aber ich bin der sechste Sohn und die Ländereien meines Vaters sind eher bescheiden. Es ist für alle das Beste, wenn ich mein Auskommen draußen in der Welt suche.« Er nickte zerstreut. Ich spürte, dass er mich etwas fragen wollte, vielleicht was Fiona über ihn gesagt hatte, nachdem er gegangen war. Aber wenn es so war, dann überlegte er es sich anders. Er wünschte mir freundlich eine gute Nacht und kehrte zu seiner Pritsche nahe der Tür zurück. Ich lag eine Zeit lang da, starrte zu den grob gezimmerten Deckenbalken hoch und ließ die Ereignisse des Tages an mir vorbeiziehen. Maggie tapste vom Fußende der Pritsche zu mir, schmiegte sich an meinen Hals und schlief sogleich ein. Und nach zwei Schlägen ihres kleinen Herzens folgte ich ihr ins Land der Katzenträume. Irgendwann in der Nacht spürte ich, wie Maggie sich regte und Das Kätzchen der Heiligen Margret
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dann erstarrte. Alarmiert schlug ich die Augen auf. Im trüben Licht der Öllampe sah ich, wie Neil Lindsay sich aufrichtete. Zu viel Wein vielleicht. Er zog sein Wams an und ging hinaus, wohl um den Abtritt zu suchen. Ansonsten verlief die Nacht friedlich. Es war die letzte friedliche Zeit, die ich an diesem Ort erleben sollte. Verführt von dem Luxus eines weichen Bettes und einer anschmiegsamen – wenngleich nicht romantischen – Gefährtin, wollte ich am Morgen etwas länger in meine Decken eingehüllt liegen bleiben. Dieses Glück war mir nicht beschieden. Im ersten Morgengrauen hörte ich einen seltsamen Aufruhr in der Burg; Füße stampften durch Korridore, ferne Stimmen riefen Alarm. Da stimmte etwas nicht.
Ich riss mich hoch und schlüpfte in meine Beinkleider und Stiefel, als Elwood in die Baracke gestürzt kam. Er bahnte sich seinen Weg durch die anderen Pritschen zu mir. Seine Augen leuchteten vor Erregung. »Was ist geschehen?« »Ein Duell! Ein Kampf auf Leben und Tod. Neil Lindsay wurde vor der Schlafkammer von Fiona Mackinnon getötet. Er wollte dort eindringen und sie entführen. Milord Denis hörte das Durcheinander, stellte ihn und befahl ihm zu verschwinden. Als Lindsay sich weigerte, kam es zum Kampf, der jedoch im Nu vorbei war. Lindsay war Sir Denis hoffnungslos unterlegen.« »Ach, wirklich?«, sagte ich skeptisch, während ich an Lindsays kräftiges, von Narben bedecktes Handgelenk dachte. Und an die Einladung, die er ausgesprochen hatte, als ich ihn das letzte Mal sah. Nein, nicht das letzte Mal. Dank Maggies Rastlosigkeit hatte ich gesehen, wie Lindsay in der Nacht die Kaserne verließ ... um den Abtritt zu suchen. So hatte ich jedenfalls gedacht. »Wo ist er jetzt?« »Sir Denis ist in der großen Halle bei seinen Gästen.« »Nein, ich meinte Lindsay. Wohin hat man seinen Leichnam gebracht?« Doug Allyn
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, man hat ihn in der Kapelle aufgebahrt. Warum fragt Ihr?« »Reine Neugierde. Ihr seid ja außer Euch vor Aufregung, Junge. Geht in die große Halle zurück. Sir Denis braucht Euch vielleicht. Danke, dass Ihr mir die Neuigkeiten gebracht habt.« »Das habe ich gern getan.« Er machte kehrt und ging davon, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um. »Tallifer? Meint Ihr, wir könnten eine Ballade darüber schreiben? Zusammen, meine ich. Es wäre ein großartiges Geschenk für Milord Denis.« »Schon möglich«, sagte ich. »Wir sprechen später darüber. Nun geht aber.« Elwood eilte hinaus und ließ mich mit dem Kätzchen und meinen Gedanken allein. Aber nicht einmal Maggies Liebreiz konnte
mich von dem düsteren Bild ablenken, das vor meinen Augen entstand. Ich kleidete mich an und ging langsam hinaus, in der Hoffnung, die drängenden Fragen, die mich quälten, abschütteln zu können. Die Kapelle war klein. Dem Lord und seiner Familie vorbehalten, war sie mit reich bestickten Wandbehängen, geschnitzten Betstühlen und sogar einem goldenen Kreuz geschmückt. Dem gemeinen Volk stand eine zwar größere, jedoch einfach ausgestattete Pfarrkirche im Dorf zur Verfügung. Bis auf einen einsam Trauernden, der im Schatten des Kirchenschiffs betete, war der stille Raum verlassen. Ich war nicht überrascht. Ein Mann, der bei einem Entführungsversuch erschlagen worden war, hatte nur noch wenige Freunde. Besonders in der Burg jenes Lords, der ihn getötet hatte. Neil Lindsays Leichnam lag, in ein breites Leinentuch gewickelt, am Fuße des Altars auf dem Steinboden. Ich bekreuzigte mich und beugte das Knie, dann ging ich langsam zu dem Leichnam hinüber und kniete neben ihm nieder. Lindsays Gesicht war nicht bedeckt. Es wirkte seltsam friedlich und jung. Auf dem Laken zeigte sich nur ein roter Fleck über seinem Herzen. Ein sauberer Stoß. Die Handschrift eines meisterhaften Schwertkämpfers. Wie die des Helden von Aln Ford. Neugierig geworden, zog ich das Tuch ein wenig beiseite. Das Kätzchen der Heiligen Margret
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Lindsays Hände waren über der Brust gefaltet, doch nur die alten Narben waren darauf zu sehen. Die tödliche Wunde war schmal, kaum mehr als ein Kratzer ... »Was macht Ihr da? Habt Ihr denn gar keinen Respekt?« Die Stimme aus dem Schatten war leise, heiser und jagte mir einen Schrecken ein. Ihr Besitzer trat in den Lichtkreis der Altarkerzen. Tormod, der Mackinnon. Seine Augen waren so wild wie sein dunkler Haarschopf, er war bewaffnet mit Schwert und Dolch. Die Waffen steckten zwar noch in der Scheide, doch ich war dem Tod selten so nahe wie in diesem Moment. Er war voll Mordlust, konnte seine Kampfeslust kaum bezähmen.
»Verzeiht«, sagte ich und stand auf. »Das Tuch war verrutscht.« »Nein, war es nicht. Ich kenne Euch, Ihr habt gestern Abend beim Essen gesungen. Mit dem kleinen Kätzchen. Wonach habt Ihr da Ausschau gehalten?« »Wie ich schon sagte, das Tuch ...« »Macht mir nichts vor, Sänger, der da liegt, ist mein Freund. Die Reise in die Hölle ist einsam. Vielleicht hätte Neil gern einen Gefährten, der auf dem Weg nach unten für ihn singt.« »Ich schwöre, ich wollte Euch nicht beleidigen. Lindsay und ich haben noch gestern Abend miteinander geredet...« »Worüber?« »Er lud mich ein, seine Ländereien in Bewcastle aufzusuchen. Er sagte, dass er selbst zwar den Dudelsack vorziehe, mein Gesang aber seiner Familie gefallen könne.« »Und das war alles, was er sagte? Sonst nichts? Nichts über meine Schwester oder ... über sonst irgendetwas?« »Sonst nichts, seid versichert. Wir haben uns nur kurz unterhalten. Er schien guter Stimmung und war sehr höflich zu mir. Ich mochte ihn. Sein Tod betrübt mich.« »Ach ja? Ich vermute, dass die Angelegenheit Euch Gewinn einbringen wird, Sänger. Zweifellos wird Sir Denis gut bezahlen für
eine neue Ballade über seinen großen Sieg.« »Mag sein, aber nicht mich. Ich sehe hier nichts, worüber man singen könnte, es sei denn eine Klage. Soll ich eine Klage singen?« »Nein, nicht für Neil. Wie Ihr selbst sagt, zog er die Musik der Dudelsäcke vor. Geht jetzt. Lasst uns in Ruhe.« »Wie Ihr wünscht.« Ich wich vorsichtig zurück, hatte jedoch keinen Grund, ihm zu misstrauen. Als ich das Knie beugte, hatte er sich schon wieder in den Schatten zurückgezogen und betete kniend für die Seele seines Freundes. Elwood wartete im Korridor auf mich. »Milord de Picard schickt mich. Er will Euch sofort sehen.« Wir fanden Sir Denis in der großen Halle inmitten des größten Durcheinanders. Die Diener flogen praktisch, Söldner liefen um-
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her – irgendetwas war im Busch. Lord Denis selbst glühte förmlich, selbstgefällig wie eine Gans am Tag nach Weihnachten. Unter einem Umhang, auf dem sein Wappen abgebildet war, trug er ein fein geschmiedetes Kettenhemd. Gekleidet für die Schlacht oder vielmehr für eine Feier. Ein siegreicher Held. Wieder einmal. »Ah, Tallifer, alter Freund«, sagte er und ergriff meinen Arm, bevor ich das Knie beugen konnte. »Kommt mit mir. Ich muss kurz mit Euch reden.« Er führte mich in eine Ecke des Saals, fort von den anderen. »Ihr habt gehört, was geschehen ist?« »Alle wissen es, Milord.« »Aber was wissen sie? Was sagt man?« »Dass es einen Kampf gab. Und dass der junge Lindsay es nicht mit Euch aufnehmen konnte.« »Ja, ja, genauso war es. Ich war völlig im Recht, aber Ihr wisst ja, wie diese verflixten Grenzschotten sind. Lindsays Verwandte könnten Rache üben wollen. Ich fürchte sie natürlich nicht, aber meine Dame ist in Sorge um mich.« »Eure Dame?« »Lady Fiona Mackinnon. Wir werden heiraten. In London, zu Weihnachten. Wir reisen noch heute in den Süden, nach England. Ich will, dass Ihr mit uns kommt.« Das Kätzchen der Heiligen Margret
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»Ich, Milord?« »Ganz recht. Als ein Mitglied meines Hofes. Verdammt, Tallifer, ich brauche jemanden in meiner Nähe, dem ich trauen kann. Ihr werdet ein ansehnliches Entgelt erhalten und natürlich freie Unterkunft. Was sagt Ihr dazu?« »Ich ... Ihr seid überaus großzügig, Milord. Aber warum ich? Es steht bereits ein guter Sänger in Euren Diensten.« »Ihr meint Elwood? Er ist doch noch ein Kind. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, Ihr und ich. Die alten Zeiten.« »Für mich liegt diese Zeit sehr, sehr weit zurück, Milord. Zu weit vielleicht. Verzeiht, aber ich fürchte, ich kann Euch nicht begleiten. Ich stehe schon anderswo im Wort.«
Er musterte mich kurz, dann zuckte er die Achseln. »In diesem Fall geht und fahrt zur Hölle. Je eher, desto besser.« »Wie Ihr wünscht, Milord. Aber bevor ich gehe, lasst mich Euch zu Eurem ... Sieg beglückwünschen und ebenso zu Eurer Verlobung. Mögt Ihr und Eure Dame das Glück finden, das Ihr beide verdient.« Sein Gesicht verdüsterte sich und ich dachte schon, ich wäre zu weit gegangen. Er setzte zu einer Erwiderung an, dann änderte er seine Meinung und stolzierte davon. Ich verließ die große Halle, blieb an der Tür jedoch stehen und schaute ein letztes Mal zurück. Sir Denis widmete sich wieder den Vorbereitungen für seine überstürzte Abreise. Er war ein wohlhabender, mächtiger Mann, umgeben von Vasallen, und würde sich in Kürze mit der begehrenswertesten Frau vermählen, die ich je gesehen hatte. Und doch beneidete ich ihn nicht. Nicht einen Deut. Elwood fand mich in der Baracke, wo ich meine spärlichen Habseligkeiten in ein Bündel packte. »Milord bat mich, Euch dies hier zu geben«, sagte er und warf mir eine kleine Börse zu. »Für Eure Vorstellung gestern Abend während des Banketts.« »Sagt ihm in meinem Namen Dank. Er hatte immer schon Doug Allyn
ein großes Herz. Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten, Elwood. Ich fürchte, Maggie das Kätzchen ist noch zu klein, um ein Leben auf der Straße zu überstehen. Darf ich sie Eurer Obhut überlassen?« »Natürlich, aber dürfte ich Euch im Gegenzug auch um einen Gefallen bitten? Ich weiß, Milord hat Euch eine Stellung angeboten. Warum kommt Ihr nicht mit uns?« Behutsam steckte ich meine Laute in ihre Schafslederhülle und überlegte, wie viel ich ihm erzählen sollte. Die Wahrheit ist von unschätzbarem Wert, zumal sie in diesem Leben so selten ist. Dennoch – er war mein Freund und würde gut für Maggie sorgen ... »Eine billige Forderung«, sagte ich und wandte mich ihm zu.
»Eine Hand wäscht die andere, die Wahrheit ist, das Kätzchen ist schuld.« »Das Kätzchen?« »Es wachte in der Nacht auf und ich sah Neil Lindsay hinausgehen, zum Abtritt.« »So habt Ihr zumindest angenommen. In Wahrheit muss er zu der Lady gegangen sein ...« »Ihr hört nicht zu«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Ich vermutete, dass er hinausging, um sich zu erleichtern, weil er sein Wams überzog, um sich vor der Kälte zu schützen, aber sonst nichts mitnahm. Er legte seine Waffen nicht an, Elwood. Ich bin ein alter Soldat. Glaubt mir, hätte er ein Schwert oder auch nur seinen Dolch umgeschnallt, wäre es mir aufgefallen.« »Was sagt Ihr da? Dass Milord Denis einen unbewaffneten Mann getötet hat?« »Nein. Das war mein erster Gedanke, daher habe ich mir die Leiche angesehen. Lindsay starb an einem einzigen Stoß ins Herz. Er war ein erprobter Kämpfer, und doch wies er keine anderen Wunden auf, keine Schnitte an den Händen oder Armen, wie sie unvermeidlich gewesen wären, wenn er sich verteidigt hätte. Er wurde sauber durchstochen. Und nun sagt mir, Elwood, wenn Euch ein Feind unbewaffnet überraschte, würdet Ihr ihm kampflos Eure Brust darbieten? Niemals. Ihr würdet um Euer Leben Das Kätzchen der Heiligen Margret
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laufen oder darum kämpfen, genau wie Lindsay es getan hätte. Aber hätte er es getan, dann wäre er nicht gestorben, ohne sichtbare Spuren dieses Kampfes davonzutragen.« »Ich begreife nicht. Ihr behauptet, Lindsay war unbewaffnet und lief doch nicht davon? Oder kämpfte er?« »Es gab keinen Kampf. Weil es keine Entführung gab. Ich bin überzeugt, Lindsay ging zu Lady Fionas Kammer, weil sie ihn eingeladen hatte. Und dort starb er. Liebe macht blind, so sagt man. Für Lindsay endete sie tödlich.« »Ihr meint, Fiona ...«
»War in einer verzweifelten Lage. Sie ist eine Frau von großer Schönheit und noch größerem Stolz. Milord de Picard war offensichtlich vernarrt in sie, und doch hatte er die Absicht, ihr aus Furcht vor dem jungen Lindsay den Laufpass zu geben. Statt einen edlen Gemahl einzufangen, würde sie ohne Mann heimkehren, und das ließ ihr Stolz nicht zu. Deshalb bestellte sie Lindsay in ihr Gemach ...« »Um ihn niederzustrecken? Dieses schwache Mädchen?« »Die tödliche Wunde war schmal, von der Art, wie sie der Dolch einer Lady hinterlässt. Und wem sonst hätte Lindsay sein Herz dargeboten? Lasst Euch von ihrem Gebaren nicht täuschen. Sie ist die Schwester eines Grenzkönigs und eine Wölfin ist genauso wild wie ein Wolf. Nach vollbrachter Tat schickte sie zweifellos ihre Zofe zu Sir Denis, ließ ihn holen und unterbreitete ihm ein unwiderstehliches Angebot: sich selbst als seine schöne junge Gattin samt der Gelegenheit, noch einmal den strahlenden Helden zu verkörpern.« »Einen falschen Helden, meint Ihr«, sagte er bitter. »Wie damals bei Aln Ford.« Ich hielt überrascht inne. »Gebt es zu, wäre er an jenem Tag der Held gewesen, hättet Doug Allyn
Ihr es auf meine Frage hin einfach bestätigt, statt solches Zeug zu reden, dass Schlachten das Chaos sind und die menschliche Erinnerung verblasst. Milord war nicht der Held der Furt, nicht wahr?« »Nein«, gab ich zu. »Sein Cousin Ranaulf ließ ihn bei der Nachhut, weil er Angst um ihn hatte. Milord Denis war nie ein großer Schwertkämpfer.« »Und seitdem hat er Lügen verbreitet«, sagte Elwood nachdenklich. »Ich hätte es wissen müssen. Ich habe Milord Denis nie mit einer Klinge gesehen, allenfalls um an St. Stefan einen Vogel zu schnitzen. Er ist ein Betrüger, nicht wahr? Und war es schon immer. Großer Gott.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Warum kommt Ihr nicht mit mir, Elwood?«, fragte ich unver-
mittelt. »Das Wanderleben wird Euch gefallen. Ihr habt bereits eine schöne Stimme, und ich kann Euch das Lautespielen lehren. Es gibt viel zu sehen in der Welt, viel zu lernen.« »Da bin ich sicher«, sagte er und lächelte matt. »Aber nein, ich kann Euch nicht begleiten, Tallifer. Betrüger oder nicht, Milord Denis ist immer noch der Mann, der mich aufnahm wie einen Verwandten, obwohl er mir nichts schuldig war. Ich kann ihn jetzt nicht verlassen. Er hält sich für den strahlenden Sieger, aber ich fürchte, dass sich seine Schwierigkeiten nach seiner Vermählung mit der Lady so schnell vermehren werden wie die Ratten in der Speisekammer. Außerdem, wenn ich mit Euch gehe, wer wird dann für das Kätzchen von St. Margret sorgen?« Ich musterte ihn kurz, dann nickte ich langsam. »Merkwürdig. Als ich Euch zum ersten Mal begegnete, hielt ich Euch für einen unreifen Jungen. Jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Passt auf Euch auf, junger Sir. Und auch auf mein Kätzchen.« »Das werde ich tun. Aber wie soll ich ihm jetzt noch ins Gesicht sehen, Tallifer? Wie soll ich Lieder singen, die ihn feiern, jetzt, da ich die Wahrheit über ihn kenne?« »Welche Wahrheit? Wahr ist, dass Lieder nicht von Menschen handeln, wie sie sind, sondern davon, wie sie einst waren, manchDas Kätzchen der Heiligen Margret
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mal nur für einen Augenblick. Alles im Leben wandelt sich. Helden scheitern und Feiglinge entwickeln großen Mut. Dieses reizende Kätzchen, dass Ihr da im Arm haltet, wird scharfe Zähne bekommen, etliche Mäuse töten und schließlich alt werden. Aber wenn Ihr Maggies Lied singen wolltet, würdet Ihr sie dann nicht besingen, wie sie jetzt ist, in diesem Moment, wunderschön, jungfräulich und rein?« Er nickte stumm. »Nun denn, als Ihr ein Junge wart, nahm Sir Denis Euch freundlich bei sich auf. Wenn Ihr demnach seine Lieder singt, singt nicht über den Mann, den Ihr jetzt vor Euch seht. Singt über den Mann in Eurer Erinnerung.«
Er begleitete mich bis zum Stadttor und weiter ein Stück die Landstraße hinunter. Wir trennten uns auf einem Hügel. Ich wandte mich nach Nordosten, zum Ödland auf dem Weg nach Bewcastle. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn noch dort stehen. Maggie das Kätzchen schmiegte sich in seine Arme und die langen Schatten von Wansfeth Castle streckten die Finger nach ihm aus, als die Sonne hinter den Burgtürmen unterging. Und so sehe ich ihn noch. Ich ging weiter in die Dämmerung hinein. Die Blätter des Waldes verfärbten sich bereits bernsteingelb, rostrot und golden und schienen den Pfad mit ihrem sterbenden Glanz zu erhellen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit gelangte ich zu einer Zedernschonung und bereitete mir unter den Bäumen, geschützt vor dem Wind, ein Lager aus Zweigen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Vielleicht war ich zu lange von Steinmauern umschlossen gewesen. Es spielte keine Rolle. Von meinem Mantel gewärmt, an der frischen Luft, die vom Duft der Zedern durchtränkt war, umweht vom Nachtwind, der in den Ästen über mir flüsterte, ging ich noch einmal die Ereignisse der vergangenen Tage durch, deren Bilder in meinem GeDoug Allyn
dächtnis aufblitzten. Elwood, der mir sagte, dass meine Ballade fehlerhaft sei. Lord Denis, hohl und von Angst erfüllt in seiner eigenen Burg. Der junge Neil Lindsay, mit achtzehn Jahren schon kampferprobt, voll Vertrauen in die eigene Kraft und Geschicklichkeit und doch so unerfahren in der Welt. Von der Liebe vernichtet. Und später Tormod, der in der Kapelle für die Seele seines gefallenen Freundes betete. Und für seine Schwester, denn ich bin sicher, dass er ebenso wie ich die Wahrheit erkannt hatte. Und schließlich und endlich die Lady selbst. Fiona. Ihr Bild war in mein Gedächtnis eingebrannt, umflossen von dem goldenen Licht ihres Fensters mit dem Kätzchen der Heiligen Margret an ihrer Brust. Ich hatte tausend Balladen gesungen über Schönheiten, für die es sich zu sterben lohnte, aber bis zu jenem heutigen Tage
war ich keiner begegnet. Ein Mädchen von der erlesenen Grazie eines Kätzchens und dennoch nicht menschlicher als eine marmorne Venus. Auf ihre Art war sie vollkommen und eine eigene Melodie wert. Ich saß fast die ganze Nacht mit der Laute an den Zedernstamm gelehnt, träumte halb und komponierte ihr Lied. Visionen erschienen in der Dunkelheit, gespenstergleiche Gestalten, die schon lange vor Lindsay gestorben waren, Narren, die der Liebe wegen getötet hatten und gefallen waren, bleiche Könige und Prinzen... Das Englische schien zu rau für das Lied einer solch gnadenlosen Schönheit, in Französisch hingegen flossen die Worte dahin wie eine Liebkosung: »La belle dame sans merci...«
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