Jaroslav Dietl • Das Krankenhaus am Rande der Stadt
Jaroslav Dietl
Das Krankenhaus am Rande der Stadt Roman zur glei...
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Jaroslav Dietl • Das Krankenhaus am Rande der Stadt
Jaroslav Dietl
Das Krankenhaus am Rande der Stadt Roman zur gleichnamigen Fernsehserie
NAUMANN &GÖBEL
Sonderausgabe der Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft, Köln © Copyright by Jaroslav Dietl 1983 © Copyright für die deutsche Ausgabe Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Schutzumschlag: Hermann Bischoff Gesamtherstellung: Mainpresse Richterdruck Würzburg Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten
1. KAPITEL Ein Autounfall auf schnurgerader Straße. Vor einer Schlange stehender und langsam fahrender Autos lag ein schlimm zugerichteter Renault 20. Die Verkehrspolizisten waren gerade mit dem Ausmessen von Bremsspuren und dem Vernehmen von Unfallbeteiligten und Zeugen beschäftigt, als ein blauer Lada hinzukam. Darin saßen ein Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen. Der Mann stieg aus, er konnte Mitte 30 sein, und jede seiner Bewegungen verriet selbstverständliche Entschlossenheit. Er wurde sofort von einem Polizisten angehalten: »Sie können hier nicht weiter!« »Haben Sie schon einen Arzt?« fragte der Mann zurück. »Bis jetzt noch nicht, aber der Krankenwagen ist unterwegs.« »Ich werde mir das anschauen. Ich bin Arzt.« Der zertrümmerte Wagen bot ein schreckliches Bild. Der Fahrer, halb liegend, halb sitzend, war hilflos eingekeilt im verbogenen Blech. Er gab keinerlei Lebenszeichen von sich. Einige Übereifrige versuchten, den Fahrer durch die halb geöffnete Tür des Wagens zu befreien. Der Arzt hinderte sie sofort: »Lassen Sie das lieber sein. Damit können Sie den Schaden nur größer machen.« Dann kroch der Arzt in den Wagen hinein, um festzustellen, ob der Fahrer noch lebte. »Es ist noch nicht zu spät für ihn. Aber viel fehlt nicht mehr.« Der Krankenwagen raste durch die Straßen und über den Marktplatz der Kreisstadt, in der die altgewerbliche und pittoreske Vergangenheit mit der modernen Realität der Betonburgen und Fertighäuser brutal konfrontiert wurde. Die Straße, die am Ende wieder aus der Stadt herausführte, stieg leicht, aber weit an. Am Ende dieses langgezogenen Berges tauchte ein breiter Komplex heller, moderner Bauten mit großen, weißen Fenstern auf- das Städtische Krankenhaus. Der Krankenwagen mit dem verletzten Autofahrer fuhr an zahlreichen Parkplätzen und Bus-Bahnsteigen vorbei, direkt an das Gebäude heran, auf eine Rampe, die für andere Fahrzeuge gesperrt war. Ein schlankes, junges Mädchen, das sichtlich erschöpft zwei Koffer und eine Handtasche schleppte, beobachtete die Ankunft des Krankentransports. Sie konstatierte, daß der Fahrer, der Sanitäter und der begleitende Arzt in größter Eile waren. 5
Karel fuhr mit seinem Wagen durch das offene Gartentor in den Garten und hielt hinter einem anderen Auto, das die Zufahrt zur Garage versperrte. Karel, seine Frau Katerina und die fast neunjährige, ein wenig scheue Tochter Hanka stiegen aus. Sie kletterten die kleinen Stufen aus Stein zum Hauseingang hoch. Karels Frau wirkte ruhig und intellektuell, sehr gepflegt und war stets gut angezogen. Sie bildete den Kontrast zu dem oft sehr impulsiven Karel. Ihren Einwand, daß sie wirklich übertrieben zu spät kamen, versuchte Karel souverän wegzuwischen. »Wir haben doch eine passende Ausrede mit dem Unfall.« Damit war Katerina jedoch nicht einverstanden, und sie fügte bereits auf der Treppe hinzu: »Im übrigen meine ich, du solltest über die Konflikte, die du mit deinem Vorgesetzten hast, mit deinem Vater heute nicht sprechen.« »Das kann ich noch nicht versprechen. Ich weiß nicht, ob ich mich zurückhalten kann.« So betraten sie das Haus - eine Villa, mindestens 60 Jahre alt, weiträumig und sehr solide gebaut. Auf einem fahrbaren Krankenbett wurde ein Patient eilig durch den Krankenhausflur geschoben, vorbei an einer Tür mit der Aufschrift »Empfang«. An dem Bett war ein Bügel montiert, an dem Flaschen mit Blutplasma und Kunstnahrung hin- und herschaukelten. Der Körper des Kranken war bis zum Kopf mit einem weißen Bettlaken zugedeckt. Plötzlich kam Bewegung in die diensthabende Schwester, eine kleine, dicke, etwa 40jährige Frau mit echtem Schnurrbart. Aufgeregt rannte sie aus ihrem Zimmer und schrie hinter dem Konvoi her: »Ich muß ihn doch eintragen, hat er überhaupt irgendwelche Papiere bei sich?« Kurzangebunden rief der begleitende Arzt zurück, daß der Patient nichts an Ausweisen oder sonstigen Papieren dabeihatte. Währenddessen hielten sie keinen Augenblick an, so daß die korpulente Schwester schimpfend hinter ihnen herlief, um sie zu verstehen. Dabei brummelte sie giftig, daß bei diesem Menschen wohl wilde Unordnung herrschen müsse, wenn der noch nicht einmal einen Ausweis mitgenommen hatte. Die Eingangshalle des Städtischen Krankenhauses war am Sonntagabend still und leer. Auf der rechten Seite befand sich ein breiträumiger Schalter und hinter diesem eine Wand voller Schlüssel. Hinter dem Pult residierte eine ältere Frau, die mit ihrem biederen Aussehen so gar nicht zu diesem modernen Glanz und Mar6
mor paßte. Alzbeta, die mit den zwei Koffern und der Tasche vollbepackte junge Dame, ging auf die Pförtnerin zu: »Guten Abend! Könnte ich hier bitte meine Koffer einen Augenblick stehenlassen?« Die Frau hinter dem Empfangstresen betrachtete sie mißtrauisch und machte keine Anstalten, sich ohne ausführliches Befragen auf etwas einzulassen: »Sie bringen die Koffer jemandem hier?« »Nein, die gehören mir. Ich soll mich hier irgendwo einquartieren.« »Aha, das dürfte im Wohnheim nebenan sein«, und die resolute Pförtnerin zeigte mit ihrem Finger Richtung Westen. »Aber ich muß zunächst in die Orthopädie. Dort liegt für mich eine Nachricht, wie und was ich tun soll«, versuchte Alzbeta verzweifelt zu erklären. »Sie fangen in der Orthopädie an? Das wird bestimmt die Oberschwester erledigen.« »Ich bin aber keine Schwester«, unternahm Alzbeta einen letzten Erklärungsversuch, bei dem die Pförtnerin die Ankommende bereits äußerst argwöhnisch beäugte. »Und wer sind Sie? Etwa Ärztin?« Das Mädchen nickte ergeben, und auf die fast militärisch klingende Frage nach ihrem Namen antwortete sie leise: »Cenkova, Alzbeta.« Der erste Mensch, auf den Karel und seine Familie in der mit üppigen Grünpflanzen gefüllten Halle trafen, war die alte, kugelrunde Haushälterin Emma. Sie trug gerade eine Schüssel mit Suppe in die Küche und empfing die Ankommenden unwirsch: »Noch mal stelle ich das Ganze nicht warm. Wo bleibt Ihr denn so lange?« Karel lachte nur und sprach seine Gedanken laut aus, wie das nur möglich sein könne, daß diese Emma, die ihn schon als kleinen Jungen so beschimpft hatte, sich heute immer noch so aufregte. Als Emma Karel und seiner Familie noch weitere Vorhaltungen machte und erklärte, daß man zu einer, zumal der eigenen Jahresfeier nicht zu spät kommen dürfte, mischte sich Katerina beruhigend ein. »Wir sind unterwegs in einen Unfall geraten. Karel mußte erste Hilfe leisten.« »Anderthalb Stunden, was? Das erzählt bitte einer anderen«, regte sich die Haushälterin erneut auf, bis sie die kleine Hanka in 7
ihrem neuen, blau-weißen Kleidchen bemerkte. Das besänftigte Emma ein wenig: »Hanka, Schätzchen, das steht dir aber wundervoll.« Das kleine Mädchen lächelte verlegen und sage höflich: »Guten Tag, danke.« Schon setzte Emma wieder ihren vorwurfsvollen Gesichtsausdruck auf und forderte schließlich alle mürrisch auf: »Na, was wartet Ihr? Los geht schon, geht...«, und verschwand in der Küche. Karel grinste breit hinter ihr her. Nein, diese Emma, die konnte einfach keiner mehr ändern. Dann wandten sich alle um und betraten das große, mit alten Möbeln eingerichtete Wohnzimmer. Ursprünglich war es als Bibliothek gedacht, doch jetzt füllte fast den ganzen Raum ein großer Eßtisch aus. An dem Tisch, der liebevoll gedeckt war, waren die drei Plätze für Karel und seine Familie noch frei. Am Hauptende saß Karels Vater - ein Mann, an dem alles, außer seinen Augen, die 60 verrieten. Er sprach nicht laut, versuchte nicht die anderen zu übertönen und beobachtete vor allem seinen ältesten Sohn. Seine Augen, sein intensiver Blick drückten Stolz, Freude oder Kummer immer ehrlich aus. Vater Sova war ein strenger, aber immer gerechter Mann. Karel spürte genau, was sein Vater in diesem Augenblick dachte. Er ging deshalb gleich auf ihn zu, obwohl er zunächst höflichkeitshalber die Gäste hätte begrüßen müssen. Karel und sein Vater küßten sich nicht, auch die Anrede schien keineswegs warm. »Guten Abend, Papa. Sei uns bitte nicht böse, aber vor Bor hat uns ein Unfall aufgehalten«, und unter dem prüfenden Blick des Vaters fügte er wahrheitsgemäß hinzu, daß sie sich selbst auch noch verspätet hatten. »Kam jemand von uns auch dorthin?« fragte der Vater. »Sicher, die waren dort, so schnell wie die Feuerwehr.« »Also seid willkommen. Wie geht es dir in der Klinik?« Karel antwortete ausweichend. Mit zweifelndem Blick betrachtete ihn der alte Sova und lenkte ab, indem er sagte: »Später sprechen wir noch darüber, ja?« Karel nickte ihm zu und begrüßte nun die Gäste. Dort saßen sein Schwiegervater mit der Schwiegermutter, auf den ersten Blick eine seriöse Beamtenfamilie, daneben ein junges Paar, die Schwester von Karels Frau Katerina, Erika, und ihr Ehemann Micha. Karel verneigte sich fast feierlich: »Guten Abend Väterchen und Mütterchen, einen schönen guten Abend werte Schwägerin und Schwager.« 8
Seinen Schwiegereltern reichte er die Hand, Erika riß er in seine Arme und küßte sie stürmisch. Micha drückte er so kräftig seine rechte Hand, daß der vor Schmerz aufschrie. Karel lachte ihn jedoch aus: »Du weißt doch, ein Chirurg muß Hände wie eine Kneifzange haben.« Katerina begrüßte alle mit einem freundlichen Lächeln, war jedoch wie immer reserviert. Ihre Tochter Hanka stand neben ihrem Großvater, dem Chefarzt, und beobachtete still mit ihm zusammen die Szenen am Tisch. Karel hatte die Hände von Micha in die seinen gelegt und versuchte nun ihn aufzuziehen. »Ich wüßte gerne, ob deine Samtpfötchen es schaffen würden, eine gebrochene Rippe abzuzwacken.« Schon kam Michas Frau Erika ihrem Mann zur Hilfe. »Bei dir ist jeder, der keine Rippen brechen kann, kein Arzt. Aber Micha hat sich für die Innere Medizin entschieden.« »Was ist denn das, Innere Medizin?« fragte Karel gespielt erstaunt. »Aus der Familie Sova kamen schon immer Chirurgen. Opa Sova war Chirurg, Vater Sova ist Chirurg«, er schaute zu seinem Vater, »und der Sohn mußte auch Chirurg werden.« Er drehte sich noch einmal nach einer Bestätigung suchend seinem Vater zu: »Hab' ich recht oder nicht?« Der Chefarzt, der die ganze Zeit seinen Sohn mit Augen voll stolzer Genugtuung beobachtet hatte, fühlte sich überrumpelt und suchte schnell nach einer freundlichen Formulierung: »Also, eigentlich ist jedes Fach in der Medizin wichtig, aber die Chirurgie ist für mich, wie soll ich das sagen ...« »Kurz gesagt, die Chirurgie ist die Krönung der gesamten Medizin«, fiel ihm Karel ins Wort, »weißt du, wie man im Flur einen Chirurgen von einem Internisten unterscheiden kann?« »Nein, wie denn?« »Na, ganz einfach: Der Chirurg geht in der Mitte, während sich der Internist an der Wand entlangschleicht.« Das fahrbare Krankenbett wurde in einen weißen Bereich hineingefahren, in dem alle Türen mit erhabenen, weiß angemalten Kreisen versehen waren. Der Pfleger klopfte kräftig und energisch an eine der Türen, die nach einer knappen Minute aufging, dahinter tauchte eine Krankenschwester auf, die über ihrem Dienstkleid noch einen warmen Pullover trug. Man sah ihr an, 9
wie stark sie fror. Sie betrachtete die Gruppe flüchtig und trat ohne ein Wort zur Seite. Das Bett wurde hineingeschoben. Der Arzt erkundigte sich nach dem diensthabenden Arzt. Als der Name Dr. Kralova ausgesprochen wurde, trat die Ärztin auch schon aus der Intensivstation, beide Hände in die Taschen ihres weißen Kittels vergraben. Der Bereitschaftsarzt begrüßte sie kurz und informierte sie, auf den Patienten zeigend: »Es sieht ziemlich schlimm aus. Meiner Meinung nach sind der Oberarm und der Schenkelknochen gebrochen, der Kopf ist schwer verletzt, und er befindet sich unter schwerem Schock. Er hat bereits Dextran bekommen, und wir haben fixiert, was nur ging.« Dr. Kralova nickte und forderte den Pfleger auf, das Bett sofort in die Intensivstation zu fahren. Beide Ärzte folgten dem Krankentransport. Währenddessen informierte der Unfallarzt Dr. Kralova weiter über den starken Blutverlust des Patienten und über die Wahrscheinlichkeit innerer Blutungen. Und zum Abschluß fügte er eilig hinzu: »Ach so, wir haben ihm auch noch Dorsin gegeben.« Die Intensivstation bestand aus einem abgedunkelten, länglichen Raum. Die Betten standen in einer Reihe, und jeder Platz war von dem Nachbarbett durch eine Art spanische Wand abgetrennt, so daß er eine Koje bildete, die nur zum Gang hin offen war. Hinter den Köpfen der Patienten standen Geräte für künstliche Beatmung, für Messungen des Blutdrucks und Elektrokardiogramme. Es war nichts weiter zu hören als leises Zischen und Tropfen der Geräte und mühsames Atmen der Patienten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Tisch für die diensthabende Schwester. Dr. Kralova zeigte auf ein freies Bett, das vierte in der Reihe. Während die Pfleger den Patienten samt Blutplasmaflaschen vom Wagen ins Bett hoben, fragte die Ärztin, ob der Verletzte im Wagen alleine gesessen hatte. Sie war erleichtert über die positive Antwort, legte dem neuen Patienten sorgfältig einen Schlauch für die künstliche Beatmung in den Mund und schloß ihn an das EKG an. Als einer der Pfleger meinte, daß hier nur der liebe Gott helfen könne, nickte Dr. Kralova gleichmütig und arbeitete weiter. Der Unfallarzt konnte nun nichts mehr tun und verließ das Zimmer. Draußen wurde er von einer Schwester angehalten: »Sie werden gerufen, Herr Doktor. Im Vinor ist es passiert - sie wurde mit einem Beil verletzt, er versuchte Selbstmord.« Der Doktor zuckte nicht einmal mit der Augenbraue, sondern gab sofort seine Anweisungen. Auf die Verblüffung einer sehr jun10
gen Schwester hin, rutschte einem der Pfleger dann die Bemerkung heraus: »Das ist typisch Sonntagabend. Wenn zwei Menschen zwei ganze Tage mit sich alleine sind, muß es zwangsläufig so enden.« Und zufrieden schlurfte er an der Schwester mit dem Pullover vorbei, die ganz offensichtlich solche Sprüche nicht mochte. Die Anästhesie-Ärztin Dr. Kralova streckte kurz den Kopf aus der Intensivstation und befahl: »Rufen Sie die Chirurgie und die Innere an - ich brauche sie. Aber dringend!« Auf einem mit braunem Stoff bezogenen Sofa lag ein etwa 50jähriger Mann mit einer kräftig behaarten Brust - man sah es tatsächlich noch durch das unordentlich zugeknöpfte Hemd hindurch und schlief. Sein Gesicht gleicht einer zerklüfteten Mondlandschaft, geschmückt mit einem Felsbrocken - seiner Nase. Pfeifend und gurgelnd entrangen sich seinem halbgeöffneten Mund die Schnarchtöne. Da klopfte es, und mit einem erschreckenden Schnalzgeräusch hörte das Schnarchen auf. Ein Auge öffnete sich mühsam, zwinkerte, und die Stimme klang kehlig und dunkel. »Na, komm doch rein!« Die Tür öffnete sich zögernd einen Spalt breit. Sichtbar wurde eine Krankenschwester, etwa 30 Jahre alt, die aussah wie ein zerzaustes Hühnchen - die Hunkova. »Herr Doktor, ich habe hier angerufen und keiner hat den Hörer abgenommen.« Dr. Strosmajer bemühte sich nicht einmal, vom Sofa aufzustehen. Er versuchte statt dessen sich damit zu entschuldigen, daß er eben mal mußte und deshalb kurz draußen gewesen war. Die Schwester schlug verschämt ihre Augen nieder und fuhr stockend fort: »Herr Doktor, der mit dem angestauchten Halswirbel auf der 9 kann immer noch nicht einschlafen und beschwert sich, daß es ihm im Kopf summt.« »Kein Wunder, daß es dem summt«, bemerkte Dr. Strosmajer, »wenn Ihnen einmal mit 76 Jahren ein verrenkter Halswirbel gerichtet wird, da wird es in Ihrem Kopf auch summen. Haben Sie ihm gegeben, was ich Ihnen aufgetragen habe?« Hastig antwortete sie: »Wir geben nach der Operation immer Dolsin, Herr Doktor.« »Ich habe Ihnen aber gesagt, daß Sie diesmal Noxyron geben sollen.« »Auch das habe ich ihm gegeben.« Das brachte Dr. Strosmajer vollends in Rage: »Ich habe nicht 11
gesagt, auch, sondern diesmal!« Die Schwester wiederholte noch einmal beleidigt, daß sie doch immer Dolsin geben, doch ungehalten unterbrach Dr. Strosmajer sie: »Herrgott Mädchen! Wenn die Dummheit Flügel hätte, so würden Sie wie ein Täubchen herumflattern.« Das hätte er nun doch nicht sagen sollen! Die Hunkova wurde leichenblaß, die Lippen begannen zu zucken, sie drehte sich auf dem Absatz um, und ihre Augen sprühten Blitz und Schwefel. Oho, das würde sie ihm nie verzeihen. Sie rannte durch das winzige Vorzimmer, riß energisch die Tür zum Flur auf - und stieß um ein Haar mit Alzbeta zusammen, die gerade an die Tür klopfen wollte. Alzbeta kam gar nicht dazu, eine Begrüßung oder gar eine Frage über die Lippen zu bringen - da war die giftsprühende Hunkova schon an ihr vorbeigestoben. Statt dessen erschien Dr. Strosmajer, der beim Anblick dieses hübschen Mädchens leuchtend junge Augen bekam. »Sind Sie nicht das versprochene Wunder der Karls-Universität, Fakultät für Allgemeinmedizin?« Und dann lachte er herzlich, daß Alzbeta nichts übrig blieb, als ebenfalls zu lachen - auch wenn sie dazu bisher noch keinen Grund gehabt hatte. Dr. Strosmajer sprudelte geradezu vor Liebenswürdigkeit. »Ich bin ein gewisser Strosmajer, nach dem dieser bekannte Platz in Prag benannt ist - ah, und wenn es nicht stimmen sollte, dann wird er sehr bald benannt werden.« Kräftig drückte er dem belustigten Mädchen die Hand. Alzbeta stellte sich mit einem kurzen »Cenkova, freut mich«, vor, als Dr. Strosmajer sofort abwehrte: »Na, das Cenkova, das hat mich nicht so umgeworfen, aber Sie heißen Alzbeta, und ich habe außer der englischen Königin im Leben keine andere Betty kennengelernt.« Alzbetas Augen funkelten vor Vergnügen. »Und die Königin haben Sie kennengelernt?« »Ja, das ist so, wir kennen uns nur zur Hälfte«, antwortete Dr. Strosmajer. »Ich kenne sie, doch sie kennt mich nicht.« Ein fröhliches Lachen von Alzbeta belohnte seine ausgefallene Philosophie. Er breitete seine Arme aus und wurde fast offiziell: »So, Betulinka, ich begrüße Sie hier herzlich, Sie betreten den Boden der besten Abteilung im ganzen Krankenhaus. Der Chefarzt ist ein alter Pedant, ich wiederum eine Wildsau, der Oberarzt Blazej wird Sie gleich vom ersten Augenblick an verführen wollen, und Cvach ist ein Chirurg, dem ich noch nicht einmal die Beschneidung eines Säuglings anvertrauen würde. Aber zusam12
men sind wir Weltniveau.« Alzbeta wurde es ganz schwach vor Furcht. Würde sie als blutige Anfängerin dem Leistungsniveau gerecht? Aber Dr. Strosmajer ließ gar keine grauen Gedanken aufkommen. »Haben Sie keine Angst, das Niveau werden Sie uns hier auf jeden Fall vermasseln.« Und dann versuchte er sie zu beruhigen. »Aber deswegen bin ich hier, um Sie in die Geheimnisse der härtesten Chirurgie einzuweihen und Ihnen ein paar Tricks beizubringen...« Als Alzbeta nach der Anzahl der Tricks fragte, antwortete Dr. Strosmajer lakonisch: »Ungefähr vier - und an den vierten erinnere ich mich nicht mehr...« Beide schüttelten sich vor Lachen, und Alzbeta fühlte sich gut und frei - so hatte sie sich ihren Auftritt nicht einmal im Traum vorgestellt. Dr. Strosmajer machte sich daran, die gebrauchten Tassen vom Tisch zu räumen. Er schimpfte auf die unordentlichen Kollegen und bot Alzbeta eine Tasse frischen Kaffee an. In dem Moment läutete das Telefon. Der Doktor drückte der jungen Ärztin die Tasse in die Hand und hob den Hörer ab. »Strosmajer... Na, was denn? Ist kein Diensthabender da...? Aha ..., ich komm ja schon ...« Er legte den Hörer auf und seufzte. »Die haben wieder irgendeinen Menschen eingeliefert, der in seine Einzelteile auseinanderfällt. Nun rufen die jeden an, den sie kriegen. Kommen Sie, das ist auch etwas für Sie!« Alzbeta fühlte sich überrumpelt. Was konnte sie dabei tun, ohne Erfahrung? Dr. Strosmajer zog für sie bereits einzelne weiße Kleidungsstücke aus dem Schrank heraus. Alzbeta versuchte schüchtern, ihm verständlich zu machen, daß sie sich eigentlich viel lieber irgendwo einquartieren würde. Doch Dr. Strosmajer ließ nicht locker. »Dafür haben Sie genug Zeit in der Nacht, dalli, dalli, machen Sie schnell.« Übergangslos klang die Stimme des Arztes streng und erlaubte keine Widerrede. Dr. Strosmajer drehte sich mit dem Rücken zu Alzbeta und sie begriff, daß ihr nichts anderes übrigblieb als sich hier und sofort umzuziehen. In die Hose paßte sie zweimal rein, und mit dem Oberteil wäre sie beim Fallschirmspringen gefahrenlos zur Erde zurückgeschwebt. Als sie fertig war, nickte Dr. Strosmajer anerkennend und meinte, daß er sie für eine Sonder-Modenschau vorschlagen würde. Sie traten zusammen auf den Gang hinaus, auf dem ihnen eine schlanke, gutgewachsene Brünette in Schwesterntracht entgegenkam. Sie 13
grüßte Dr. Strosmajer und musterte gleichzeitig Alzbeta mit einem langen Blick. Schwester Ina hatte gerade den Nachtdienst auf der Station übernommen und Dr. Strosmajer unterrichtete sie, daß er bis auf weiteres in der Intensivstation zu erreichen sei. Beim Weitergehen drehte er sich noch einmal um und fragte scheinheilig: »Na, Inachen, verwöhnt Ihr die Hunkova auch schön?« Das Mädchen lächelte sparsam und nickte mit dem Kopf. »Ärgert sie mir nur ja nicht! Ihr wißt, daß sie meine Favoritin ist.« Und damit eilten sie weiter. Dr. Strosmajer grinste Alzbeta von der Seite an. »Haben wir nicht ein Personal wie für Schönheitskonkurrenzen? Aber Vorsicht! Die, die wir gerade gesehen haben, ist bereits ein Jahr hier, und wir merken immer noch nicht, daß sie mit irgendeinem etwas angefangen hätte. Die Dame schnappt sich wahrscheinlich einen von der oberen Kategorie.« Im Hause des Chefarztes Sova brachte Karel gerade mit einem Glas Wein seinen Toast auf die Gäste aus. »Ich danke euch allen im Namen von uns beiden für eure Glückwünsche. Jetzt sollte ich sicher sagen, daß diese zehn Jahre unserer Ehe so vorübergingen, daß wir es nicht einmal merkten. Das würde aber nicht der Wahrheit entsprechen. Vor allem nicht, wenn ich an Katka denke. Für mich waren diese zehn Jahre in erster Linie Lehrjahre in der Chirurgie, Jahre, in denen ich mir verbissen gewünscht habe, alles schnell zu lernen und am Operationstisch etwas zu gelten. Und für Katka? Für Katka ist, wie für jede Ehefrau eines Chirurgen, das Leben wahrhaftig kein Honigschlecken. Es gibt mehr Tage und Nächte, an denen sie alleine zu Hause sitzt, als umgekehrt. Das wußte meine Mutter, und das weiß jede, die den Schritt gewagt und das Standesamt mit einem Chirurgen betreten hat. Aber ich hoffe, nachdem sie es mit mir bereits zehn Jahre ausgehalten hat, daß sie es auch die nächsten vierzig tun wird.« Karel küßte seine Frau auf die Wange, und dann wurden sie von allen anderen beglückwünscht, zuletzt vom Gastgeber selbst. »Katuschka, ich gratuliere dir und danke dir auch.« »Wofür denn, Vater?« »Aber...du weißt genau, wofür.« Während des Umtrunks klingelte das Telefon - Sova junior hob ab. Er machte dem Anrufer klar, daß er nicht der Chefarzt wäre und fügte ironisch hinzu, daß es bei ihm gerade zum Assistenzarzt gereicht hätte. Als der alte Sova den Hörer in die Hand nahm, 14
wußte er sofort, was der Anruf bedeutete. Er ordnete an, daß Dr. Strosmajer in der Zwischenzeit alles Nötige veranlassen solle. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, wandte er sich entschuldigend an die Gäste: »Verzeiht mir, daß ich euch verlassen muß, aber das Krankenhaus ruft.« Die frierende Nachtschwester mit dem Pullover öffnete Dr. Strosmajer und Alzbeta die Tür. Dr. Strosmajer erkundigte sich sofort, ob sie die ersten oder letzten wären. Als er erfuhr, daß sie tatsächlich die ersten waren, wandte er sich befriedigt Alzbeta zu. »Das bin typisch ich. Ich verschlafe zwar fast den ganzen Dienst, aber bei einem Notfall bin ich trotzdem immer der erste.« Sie betraten die Intensivstation, in der sich Dr. Kralova angespannt um den neuen Patienten kümmerte. Er lag dort halbnackt - ein junger, schlanker Körper, schön und wehrlos. Dr. Kralova und Dr. Strosmajer begrüßten sich knapp, dann erkundigte sich Dr. Strosmajer nach dem Zustand des Verletzten. Die Ärztin gab ihr Untersuchungsergebnis bekannt. »Ganz schlimm. Er hat einen schweren Schock, irgendwo sind innere Verletzungen. Wir müßten eigentlich dringend reinschauen.« Dann bemerkte sie Alzbeta. Dr. Strosmajer stellte die beiden vor und fügte hinzu, daß Dr. Cenkova morgen die neue Stelle anträte. Dr. Kralova musterte Alzbeta kurz, aber genau und drückte ihr dann verständnisvoll die Hand. Alzbeta spürte die Sympathie und war dankbar dafür. Währenddessen hatte sich Dr. Strosmajer mit dem Patienten beschäftigt. Er fragte nach den Röntgenaufnahmen, die jedoch noch gar nicht erstellt worden waren. Alle waren sich darüber im klaren, daß eine rasche Entscheidung erforderlich war, was sofort unternommen werden mußte und was eventuell noch warten konnte. Dr. Strosmajers Blick blieb an den merkwürdig verkrümmten Beinen des Verletzten hängen. Das eine war eindeutig gebrochen, doch um es richten zu können, waren Röntgenbilder erforderlich. Viel bewegen konnte man den Patienten auch nicht, denn der Blutdruck sackte sofort ab. Dr. Strosmajer seufzte und wunderte sich wieder einmal, wie extrem ein Körper sich zurichten ließ. In diesem Augenblick betrat ein energischer, ungefähr 60 Jahre alter Herr den Saal, auf den ersten Blick ein liebenswerter, netter Mensch - der Chirurg Vrtiska. »Schneller habe ich es nicht geschafft. Guten Abend.« Dr. Kralova und Dr. Strosmajer grüßten ebenfalls. 15
»Hallo, grüß dich. Wolltest du nicht in dein Wochenendhaus?« »Ja schon. Aber kaum war ich zu Hause, haben die mich zurückgerufen.« »Das ist die Strafe, daß du eine Wohnung in der Nähe des Krankenhauses genommen hast.« Dr. Vrtiska lächelte ein wenig gequält und wandte sich dann an Alzbeta. Er stellte sich kurz vor und bat um Verzeihung, daß er sie nicht früher bemerkt hatte. Dr. Strosmajer konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, daß Dr. Vrtiska zwar Chefarzt wäre, aber trotzdem der einzig anständige Mensch in dem ganzen Chirurgenstall. Nachdem sich Alzbeta mit einem scheuen »Angenehm, Cenkova« vorgestellt hatte, begann noch während der Frozzelei der Ernst der Arbeit. Dr. Vrtiska schaute Dr. Strosmajer streng an und sagte zu Alzbeta: »Glauben Sie ihm nicht, er ist schließlich auch Chirurg.« »Na und? Von mir hat aber bis jetzt noch keiner gesagt, daß ich ein anständiger Mensch bin«, protestierte Dr. Strosmajer grinsend. »Passen Sie auf ihn auf?« Dr. Vrtiska hatte sich an Dr. Kralova gewandt, die zustimmend nickte. Dr. Strosmajer machte sich ohne ein weiteres Wort an die Arbeit und griff zunächst nach dem verdrehten Bein. »Also aufpassen, jetzt werden wir ihm ein wenig weh tun.« Durch die großzügige Empfangshalle eilte mit schnellem, fast jugendlichem Schritt Chefarzt Dr. Sova. Unter dem weißen Arztkittel trug er ein weißes, am Hals aufgeknöpftes Hemd. Dort, wo sich die Gänge kreuzten, prallte er auf einen jungen Polizisten, der sich suchend umsah. Der Polizist entschuldigte sich, fragte aber sofort und dringend nach einem gewissen Rezek. Dr. Sova stoppte seinen Eilschritt nicht einmal, und der junge Mann lief notgedrungen mit. Dr. Sova konnte ihm allerdings sowieso keine Auskunft geben, wer Premysl Rezek wäre. Doch hartnäckig wiederholte der Polizist: »Na, Rezek doch, der Rezek.« Dr. Sova klärte den jungen Mann in liebenswürdigem Ton auf, daß auch durch eine ständige Wiederholung des Namens eine Bekanntschaft ausgeschlossen sei. Nun setzte ihm der Polizist endlich auseinander, daß der Betroffene vor kurzem nach einem Unfall hierher gebracht worden sei. Doch der Name wäre beim Empfang nicht registriert. Verstehend nickte jetzt Dr. Sova und forderte den jungen Mann auf, mitzukommen. Im Sturmschritt bogen sie in den Gang zur Intensivsta16
tion ein. Dort schob ihn Dr. Sova in das Zimmer der Stationsschwester, die ihm weiterhelfen würde. Er selbst verschwand hinter der Tür zur Intensivstation. Dr. Strosmajer bemerkte den Chefarzt als erster und kommentierte gleich sein Kommen: »Ah, die schwere Kavallerie tritt an, unser Alter ist da...«, und wandte sich weiter an Alzbeta: »Jetzt kommt ein in Ihrem Leben historischer Augenblick, fühlen Sie die Spannung?« Man merkte Alzbeta an, daß sie tatsächlich sehr gespannt war. Dr. Sova musterte sie kühl mit einem Blick und sagte nur: »Guten Abend.« Die Anwesenden antworteten im Chor: »Guten Abend, Herr Chefarzt.« Sofort bat Dr. Sova die behandelnde Ärztin, ihm die Situation zu erklären. Doch bevor Dr. Kralova beginnen konnte, wurde sie von Dr. Strosmajer unterbrochen: »Erlauben Sie, daß ich Ihnen unseren Neuzugang vorstelle - Dr. Cenkova in voller Schönheit.« Dr. Sova ließ sich nicht beirren. Er maß Dr. Strosmajer mit ruhigem Blick und wandte sich wortlos wieder Dr. Kralova zu, die schon mit leiser Stimme begonnen hatte, den Fall zu erklären. Alzbeta kämpfte fast mit den Tränen, weil sie die Behandlung persönlich auffaßte. Dr. Vrtiska tröstete sie flüsternd. »Machen Sie sich nichts draus, er ist der korrekteste Mensch unter der Sonne. Und ein Fachmann, um den uns ganz Prag beneidet.« Dr. Strosmajer kommentierte gleich wispernd weiter: »Aber es mit ihm auszuhalten, das schafft nur so ein Heiliger wie ich.« Der junge Polizist hatte seinen Auftrag beendet. Er hatte Papier, Geld und andere persönliche Sachen des Verletzten der Krankenschwester gegeben. Die Schwester hatte die Übernahme bestätigt und den Polizisten gebeten, die Verwandten des Verletzten zu benachrichtigen. Dies stieß auf Schwierigkeiten, denn Rezek war ledig und niemand kannte die Adresse der Eltern. Und trotzdem bat der Polizist die Schwester um Nachricht, falls sich die Eltern im Krankenhaus melden sollten. Die Schwester schaute ihn verblüfft an. »Und warum, bitte sehr, sollten die so mir nichts, dir nichts einen Besuch im Krankenhaus abstatten?« »Da können Sie drauf warten. Der Unfall ist schon Tagesthema in der Stadt. Rezek hat als Eishockeyspieler Tausende von Fans.« Der Polizist salutierte und ging. Die Schwester steckte alle Gegenstände in einen großen Umschlag, knipste die Öffnung mit einem 17
Bürohefter zusammen und malte mit großer Schrift den Namen des Patienten auf den Umschlag. Als sie gerade das Datum notierte, öffnete sich die Tür zum Operationssaal. Dr. Strosmajer rannte fast den kurzen Weg zu ihr. »Der Alte bittet Sie, daß Sie in Prag Dozent Dr. Kuthan, Telefonnummer 53 02 85, anrufen. Dringend! Der Junge hier drinnen ist auf seiner letzten Fahrt. Und die will er auch noch schnell hinter sich bringen. Also dalli!« Dann entzifferte er den Namen auf dem Umschlag. »Das ist Rezek?« »Ja, Rezek.« »Der Bursche auf dem OP-Tisch?« »Ja doch. Irgendein Eishockeyspieler, nicht wahr?« »Irgendeiner?« entrüstete sich der Doktor, »wenn sich das herumspricht, dann kriegen wir hier eine Art Belagerungszustand.« Die Schwester hatte in der Zwischenzeit die Verbindung zwischen dem Krankenhaus in Bor und dem Dozenten Dr. Kuthan hergestellt. Sie hielt Dr. Strosmajer den Hörer hin, der jedoch abwinkte und umgehend Dr. Sova holte. Während der Chefarzt in den Nebenraum eilte, vergewisserte sich Dr. Strosmajer von der Identität des Patienten. Ja, da gab es keinen Zweifel. Er teilte seine Entdeckung den Kollegen mit. Entgeistert schaute Dr. Vrtiska auf Dr. Strosmajer, dann auf den Patienten. »Das kann doch gar nicht wahr sein?! Heute habe ich ihn noch gesehen - am Nachmittag im Fernsehen. Im Spiel gegen die Schweden. Donnerwetter ist der fix.« »Ja, der wollte bei einer schnellstens ankommen - und nun ist er bei uns angekommen.« Alzbeta betrachtete den ohnmächtigen, wehrlosen Körper. Er wirkte, als ob sämtliches Leben aus ihm gewichen wäre. Dr. Strosmajer trat näher an Alzbeta und sagte leise: »Ja, und nun hat er ausgespielt. Ein bißchen zu früh. Nicht mal 26 Jahre ist er.« Er seufzte und wechselte urplötzlich das Thema. »Wie alt sind Sie denn, Alzbetchen?« »Auch noch keine 26.« Die Stimme vom Chefarzt Sova klang eindringlich: »Franz, er ist in schwerer Ohnmacht, die Schädelbasis ist beschädigt, das Gehirngewebe fließt heraus, wir haben das nur provisorisch abgedeckt und nichts revidiert - aber ich glaube, du mußt kommen und eine Konzilia-Untersuchung machen, ob ein Ein18
griff erforderlich ist..., es wäre am besten noch jetzt in der Nacht ..., gut, also morgen früh, bevor du in die Klinik fährst ..., ich bitte dich sehr darum ..., ich weiß, aber der Fall scheint mir außergewöhnlich schwierig zu sein ... ich danke dir, ich werde auf dich warten ..., bis morgen Franz, gute Nacht!« Dr. Sova legte den Hörer auf, drehte sich zu der Nachtschwester um, und bat sie, noch Chefarzt Dr. Zlocha von der Inneren Abteilung sowie Chefarzt Dr. Horvat anzurufen. Doch Dr. Horvat war im Theater und sah sich »Romeo und Julia« an. Dr. Sova befahl, ihn ausrufen zu lassen. Als die Schwester sich erdreistete zu fragen, ob das mitten in der Vorstellung wirklich erforderlich sei, fuhr Dr. Sova sie barsch an: »Wenn ich mich nicht irre, spielt Dr. Horvat nicht den Romeo.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging wieder in den OP. Aus der geöffneten Tür rief er noch zurück: »Und auch Dr. Blazej. Den als ersten.« Die Schwester nickte gehorsam und begann, die Ärzte zusammenzutrommeln. Das Telefon auf dem kleinen Empiretisch klingelte. Eine zierliche, gutaussehende Frau Mitte Dreißig nahm ab. Nach dem kurzen »Blazejova« breitete sich ein ungläubiges Staunen auf ihrem Gesicht aus. Das Krankenhaus wollte ihren Mann sprechen? »Aber Dr. Blazej ist doch im Krankenhaus.« »Ach so, gut, dann finde ich ihn schon, auf Wiederhören.« »Moment!« befahl die Frau des Arztes, »wer will ihn denn sprechen,« »Wieso wer?« Die Schwester schaltete auf stur. »Das Krankenhaus.« »Ich meine, wer im Krankenhaus?« »Die Intensivstation.« »Ihr Name, bitte?« Verärgert brummte die Schwester ihren Namen und trennte die Verbindung. In Luisa Blazejova stieg Zorn auf. Sie fühlte sich gekränkt und gleichzeitig beunruhigt. Sofort wählte sie die Zentrale des Krankenhauses in Bor an, doch an dem gewünschten Nebenanschluß meldete sich niemand. Nervös verlangte Luisa die Orthopädie. Dort ertönte das Besetztzeichen und Luisa ließ sich auf Warteposition stellen. Die Schwester der Intensivstation war in dem Moment in der Leitung. Sie teilte ihrer Kollegin Ina mit, daß man Dr. Blazej dringendst suche. »Hat er denn Nachtdienst?« fragte die Schwester abschließend. Ina zögerte kurz: »Dienst gerade nicht, aber ich werde ihn für Sie finden.« 19
»Per Eilzugtempo, bitte, der Chefarzt braucht ihn sofort.« Beide legten rasch auf. Ina kramte in der Schublade ihres Schreibtisches und fingerte aus einem Haufen von Rezepten und Befunden ein kleines Stück Papier heraus. Darauf stand eine vierstellige Nummer. Im selben Augenblick klingelte das Telefon erneut. Luisa Blazejova nannte ihren Namen und fragte leicht gereizt, mit wem sie jetzt verbunden wäre. Als Ina sachlich mit: »Ina Galuskova, orthopädische Abteilung«, antwortete, besänftigte das Luisa etwas. »Ich suche meinen Mann, können Sie mir vielleicht helfen?« »Ich werde nach ihm sehen.« »Also ist er irgendwo in der Nähe?« staunte Luisa. »Sicher«, lügt Ina tapfer. »Von der Intensivstation riefen sie nämlich bei mir an, daß sie ihn nicht finden könnten.« Nach einer kleinen Pause meisterte das junge Mädchen auch diese Situation. Sie erklärte Luisa, daß der Doktor Frau Dr. Menzlova in der Urologie vertreten mußte, und daß er sie bestimmt gleich zurückrufen würde. »Was ist denn mit Frau Dr. Menzlova passiert?« »Ich weiß es nicht, aber wenn Sie es möchten, kann ich nachforschen.« Dieses liebenswürdige Angebot wollte Luisa nun doch nicht annehmen und verabschiedete sich freundlich: »Nicht nötig, vielen Dank, auf Wiedersehen!« Ina atmete auf, drückte auf die Telefongabel und wählte unverzüglich jene auf dem Papierzettel stehende vierstellige Nummer an. Der blendend aussehende junge Mann knallte in seinem Club resigniert die Karten auf den Tisch. »Das letzte Mal habe ich vor dem Zweiten Weltkrieg eine gute Karte in der Hand gehabt.« Die anderen Spieler lachten vergnügt. »Da waren Sie doch noch gar nicht auf der Welt, Dr. Blazej.« »Na eben«, stimmte der Doktor zu, »soweit ich mich erinnern kann, habe ich überhaupt nie eine gute Karte gehabt.« »Also hören wir auf?« »Macht keinen Ärger«, schrie der Doktor schauspielreif auf, »womit kann ich mich sonst ins Grab bringen?« Prustend vor Lachen wurden die Karten neu ausgeteilt. Doch bevor man das Spiel beginnen konnte, wurde Dr. Blazej ans Telefon gerufen. Geruhsam erhob er sich und ging zur Bartheke, wo ihm der Barmann den Telefonhörer reichte. 20
»Blazej, wer spricht dort?« »Hier ist die Orthopädie, Ina.« Dr. Blazej grinste breit und fragte, woher ihm denn Gefahr drohe. Als er erfuhr, daß ihn der Chefarzt zu einem dringenden Fall auf die Intensivstation rief, sagte er heiter: »Danke Inachen, ich fliege schon.« »Moment!« Ina konnte ihm gerade noch berichten, daß ihn seine Frau gesucht hatte, und daß diese vorher von der Schwester der Intensivstation angerufen worden war. »Aha, und was haben Sie gesagt?« »Daß Sie in der Urologie für Dr. Menzlova einspringen, aber daß Sie zurückrufen werden.« »Ausgezeichnet«, meinte anerkennend Dr. Blazej, »das ist eine perfekte Leistung. Das muß Ihnen Ihre Urmutter Eva geraten haben!« »Eva hat mir nur diese Nummer zugeflüstert.« Dr. Blazej nickte erfreut, legte auf und rieb sich die Hände. Das war noch mal gutgegangen. Als die anderen Spieler erfuhren, daß Dr. Blazej dringend im Krankenhaus gebraucht wurde, versuchten sie, ihn zu überreden: »Kommen Sie, wir spielen das eben noch zu Ende. So wichtig wird das schon nicht sein.« Doch Dr. Blazej ließ sich auf keine Diskussion mehr ein. Nachdem sein Verlust von genau 480 Kronen zusammenaddiert war, seufzte Dr. Blazej und zog das Geld aus der Tasche. »Das nächste Mal krieg' ich es zurück, ihr Räuber. Adios.« Währenddessen ging der Kampf um das Überleben des Patienten weiter. Das Beatmungsgerät pumpte regelmäßig Luft in seine Lunge, die leuchtenden Skalen der Geräte zeigten mit flackernden Lichtbahnen den augenblicklichen Zustand. Plötzlich meldete die Anästhesie-Ärztin, daß der Blutdruck abfiel und die Pulsfrequenz schneller wurde. Dr. Strosmajer sah seine Befürchtungen bestätigt und knurrte. »Jetzt haben wir's. Habt Ihr Astrup? Macht schnell.« »Herr Kollege, ich befürchte...«, seufzte der Chirurg Vrtiska, »... das Dextran sollen wir unter Druck geben?« Chefarzt Sova ließ seine Augen über die Skalen der Geräte schweifen. Dann entschied er knapp und bündig: Neben Dextran auch noch Adrenalin, ebenfalls Betacortison und alles in kurzen regelmäßigen Abständen. Alzbeta beobachtete diesen energischen Mann, der mit jedem Wort und jeder Bewegung mit der natürlichen Autorität seiner 21
Persönlichkeit alles beherrschte. Alle, beginnend mit den drei Ärzten bis hin zu der letzten Schwester, befolgten widerspruchslos und ohne zu zögern seine Anweisungen. Wieder meldete sich Dr. Kralova. Der Blutdruck des Patienten begann sich zu stabilisieren. Dr. Strosmajer bestätigte das: Der Patient fing an, auf den Schmerz zu reagieren. Nachdem die Aktion nur eine Minute gedauert hatte, seufzte Dr. Strosmajer. Es war geschafft. Mal wieder. Gott sei Dank. Dr. Sova war sich dessen noch nicht sicher. Die Situation konnte sich sehr wahrscheinlich wiederholen. Als Dr. Kralova mit der inneren Untersuchung beginnen wollte, lehnte Dr. Sova warnend ab: »Vorläufig fassen Sie ihn nicht an. Solange die vitalen Grundfunktionen nicht überprüft sind, werden wir nichts unternehmen. Was passiert, wenn die Milz gerissen ist? Bestellen Sie weitere Blutkonserven!« Dr. Blazej betrat das Vorzimmer der Intensivstation. Bereits weiß gekleidet, strahlte er wie immer die Schwestern an. Er erkundigte sich nach dem Sachverhalt und konnte sich nicht verkneifen, seine Wichtigkeit herauszustreichen. Als er erfuhr, daß sein Chefarzt die große Besetzung zusammengerufen hatte, beeilte er sich, zu dem Patienten zu kommen. Vorher wandte er sich noch kurz zur Schwester. »Rufen Sie doch bitte meine Frau an, daß ich in einer Operation bin, und, sobald ich kann, mich melden werde.« Dr. Sova nickte dem eintretenden Dr. Blazej zu und bat Dr. Strosmajer, wieder auf seiner Station Posten zu beziehen, denn hier waren nun genug Ärzte. Dr. Strosmajer winkte Alzbeta mitzukommen. Als sie an Dr. Blazej vorbeigingen, grinste der alte Orthopäde: »Da bin ich aber froh, daß sie unseren kleinen Arnost aus dem Bett bekommen haben.« Dr. Blazej flüsterte amüsiert: »Keineswegs aus dem Bett, mein Freund, nicht aus dem Bett...«, und musterte neugierig Alzbeta. Als sie ins Vorzimmer kamen, warnte Dr. Strosmajer Alzbeta knurrend vor diesem Windhund von Dr. Blazej, denn er würde sie auf der Stelle verführen wollen. Alzbeta hörte kaum zu, denn ihr war fast schlecht. Verwundert schaute Dr. Strosmajer sich im hellen Licht des Flurs Alzbeta an. Sie war blaß und schien gleich umzukippen. Dr. Strosmajer schüttelte den Kopf. »Na, na, Sie haben doch so eine Sache während Ihrer Studienpraxis schon gesehen, oder etwa nicht?« »Das schon - mehrmals. Aber nie hatte ich so ein Gefühl der Ohnmacht - ich hätte mir absolut nicht zu helfen gewußt - es schien mir, als ob ich nicht hierher gehöre, daß ich Ihnen allen und insbesondere dem Chefarzt nur im Wege stehe ...« 22
Der Orthopäde pflichtete ihr bei, denn das Gefühl kannte er. Dr. Sova gab das immer sehr deutlich zu erkennen. Vor allem, wenn jemand drohte, ihm unter der Hand wegzusterben. Alzbeta krauste die Stirn. »Aber ich dachte, daß die Gefahr gebannt wäre?« Dr. Strosmajer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« »Sie glauben nicht daran, nicht wahr?« »Nein.« Chefarzt Dr. Sova kehrte nach Hause zurück. Durch den dämmrigen Windfang trat er in die beleuchtete Halle. Aus dem Wohnzimmer klangen Musik und fröhliche Stimmen. Er zog den Mantel aus, als Emma mit einem Tablett schmutzigen Geschirrs die Diele durchqueren wollte. »Guten Abend« »Eher Nacht«, knurrte die Haushälterin mißbilligend. Dr. Sova fragte nach dem Grund dieser lautstarken Heiterkeit, was nur ein verbittertes kurzes »Na, Karel« zur Folge hatte. Und vorwurfsvoll fuhr Emma nach tiefem Luftholen fort: »Vor zehn Jahren, als die gnädige Frau gestorben ist, da hat sie schon gesagt, daß sie sich nur um den Hitzkopf Karel Sorgen macht.« Emma schüttelte resigniert den Kopf und steuerte die Küche an. Dr. Sova hielt ihr galant die Türe auf und bat sie, ihm einen starken Kaffee zu brauen. Scharf guckte ihn Emma an. »Da fahren Sie heute nacht noch mal zurück ins Hospital?« »Ich weiß noch nicht.« »Aber sicher wissen Sie es schon«, belehrte Emma brummend den sanft lächelnden Chefarzt. Dr. Sova widersprach ihr nicht und ging ins Wohnzimmer. Die kleine Hanka hatte man schon zu Bett gebracht, und so konnte sich ihr Vater nach Herzenslust austoben. Denn das Wort bei der lautstarken Unterhaltung führte selbstverständlich Karel. Er beklagte gerade, daß die Welt in Generationen aufgeteilt sei, und daß er als »Mittelalter« bereits von den Jüngeren neidisch verfolgt würde. Dem widersprach Erika heftig. »Aber niemand ist hier neidisch auf dich!« »Aber doch«, beharrte Karel. »Zwischen uns ist ein Graben oder steht ein Wall, und wenn du so alt bist wie ich und ich so alt wie Vater, dann entbrennt sicher zwischen uns ein erbitterter Kampf.« Verwundert mischte sich Dr. Sova ins Gespräch. »Zwischen uns findet eine Schlacht statt?« Karel ließ einen großen Schluck Cognac durch die Kehle rinnen. 23
»Richtig, allerdings schwelt unser Kampf nur. Er würde offen ausbrechen, wenn wir tatsächlich zusammen arbeiten würden.« »Und wogegen würden wir kämpfen, wenn ich fragen darf?« interessierte sich sein Vater. »Wir würden uns wie mißtrauische Hunde ständig beobachten, du würdest mir vorschreiben, wie ich zu operieren hätte, und ich würde mir wünschen, daß du in Rente gingest und mir nicht im Wege stündest.« Ernsthaft wandte sein Vater ein: »Bei uns ist die Situation doch sowieso anders als irgendwo. Wir in diesem Nest sind so wenige, daß wir ab und zu wünschten, uns gegenseitig im Wege stehen zu können.« Karel nahm erneut einen kräftigen Schluck Cognac zu sich und versuchte seinem, wie er sagte, verehrten Vater klarzumachen, daß er den Jüngeren nicht als Arzt und Kollege, sondern als Chefarzt im Wege stünde. Sein Vater hob irritiert eine Augenbraue und fragte fast entschuldigend: »Klingt es sehr gewagt, wenn ich sage, daß ich das bisher noch nicht gemerkt habe?« Karel brach in so stürmisches Gelächter aus, daß ihn seine Frau beunruhigt anschaute. »Daß du es nicht gemerkt hast! Haha! Das heißt doch nicht, daß das nicht so ist. Das heißt nur, daß du an Betriebsblindheit leidest. Die mögen dich, aber du hängst ihnen gleichzeitig zum Halse heraus. Sie verehren dich und zusätzlich denken sie, daß du ein konservativer Greis bist.« Gespannt verfolgte die gesamte Tischrunde dieses Rededuell. Emma, die gerade den Rest des gebrauchten Geschirrs abtragen wollte, nahm schweigend die Flasche Cognac vom Tisch. Als Karel seinen Monolog unbeirrt fortsetzte und auch noch behauptete, daß seine These sowohl bei ihm in der Klinik als auch auf der ganzen Welt zuträfe, wurde es still. Geradeheraus fragte der alte Sova langsam: »Hast du Schwierigkeiten mit deinem Chefarzt?« »Das weißt du doch genau, daß ich sie habe«, brüllte sein Sohn unbeherrscht los. »Ich bin doch genau der Trottel, der ihm immer sagt, was ich denke.« Aufgebracht wollte er zur Flasche greifen, um erneut sein Glas zu füllen. Als er begriff, daß man den Cognac in Sicherheit gebracht hatte, begann er zu fluchen und forderte grimmig die Flasche zurück. Seine Frau Katerina stand schweigend auf und alle anderen einigten sich darauf, schlafen zu gehen. Nach einem Blick auf seine Uhr wollte sich Dr. Sova auf den Weg ins Krankenhaus machen. Als er sich umdrehte, stand Emma mit der Tasse Kaffee in der Hand da und befahl ihm vorwurfsvoll, dies zuerst zu trin24
ken. Dr. Sova gehorchte lächelnd, bedankte sich und wünschte allen eine gute Nacht. Als er in die Halle hinausging, folgte Katerina ihm. »Sei ihm nicht böse, Vater, er hat irgendwelche Probleme mit seiner Arbeit und besitzt nicht einmal die Grundfähigkeit, sich anzupassen oder seine tiefsten Gefühle zurückzudrängen ...« Plötzlich tauchte Karel hinter ihr auf und unterbrach sie gehässig: »Hör dir unsere wissenschaftliche Expertin auf dem Gebiet der Pädagogik, Psychologie und ähnlichen Scharlatanerien an.« Katerina antwortete nicht, sie verabschiedete sich nur mit einem schroffen »Gute Nacht!«. Als sie außer Hörweite war, fragte Dr. Sova seinen Sohn scharf, warum er seine Frau so angegriffen habe. Karel machte eine abwehrende Handbewegung. Das würde eine längere Unterhaltung werden. Er solle jetzt lieber ins Krankenhaus gehen. Sein Vater nickte und versprach Karel gleichzeitig, morgen mit ihm über seine Probleme zu sprechen. Als Dr. Sova schon fast aus dem Haus war, erreichte ihn noch der Satz seines Sohnes: »Ich hoffe, dir ist klar, daß die chirurgische Dynastie der Sovas ausstirbt.« Dr. Strosmajer trug in den Armen eine frischbezogene Steppdecke samt Bettlaken und Kissen und warf alles auf das Sofa. Alzbeta war verblüfft. Sie sollte doch wohl normalerweise im Schwesternwohnheim schlafen, oder? Dr. Strosmajer begann liebevoll das Bett für Alzbeta zu bauen. »Klar sollten Sie. Aber am Sonntagabend weist Sie dort niemand ein. Außerdem werden Sie zuerst in einem Doppelzimmer zusammen mit Dr. Kralova wohnen. Die hat aber - wie Sie selbst gesehen haben - bis morgen Dienst und möchte Sie persönlich einweisen.« Alzbeta runzelte erschreckt die Augenbrauen. Ob das gutging? Ausgerechnet mit Frau Dr. Kralova zusammen? Dr. Strosmajer beruhigte sie sofort. »Dr. Kralova ist ein braves Mädchen. Ein bißchen zu sehr verschlossen, vielleicht hat sie deshalb auch nicht geheiratet, aber sonst in Ordnung.« Jetzt war Alzbeta klar, warum Dr. Kralova sie vorhin so genau gemustert hatte. Der Doktor hatte in der Zwischenzeit sein Werk beendet. Es ähnelte so wenig einem korrekt gemachten Bett wie ein Rhinozeros einem Rennpferd. Mit schwungvoller Geste wies er auf das Federgebirge. »Zwar nicht schön, aber selten. Liebe Betti, ich wünsche Ihnen ein süße erste Nacht hier im Krankenhaus. Träumen Sie etwas Schönes - und morgen fängt ein neuer Abschnitt Ihres Lebens an. 25
Bis heute hat Ihnen sicher Ihre Mutter ein Gute-Nacht-Küßchen gegeben...« Alzbeta lachte herzlich, denn es stimmte tatsächlich. Dr. Strosmajer fuhr fort: »Jetzt müssen Sie jemand anderen dafür finden. Fest steht, daß ich mir alten, verrosteten Gesellen so eine Aufgabe nicht mehr zutraue.« Alzbetas Züge wurden weich. Sie trat auf ihn zu, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn sanft auf eine Wange. Sie würde ihm nie vergessen, daß er sie an diesem ersten Tag so herzlich unter seine Fittiche genommen hatte. Dr. Strosmajer schnappte verlegen nach Luft, räusperte sich und lachte dann: »Da hat sie es doch noch gewagt! Donnerwetter. Aber geheult wird hier nicht.« Väterlich knuffte er sie am Arm und beide sagten gleichzeitig »Gute Nacht«. Als Dr. Strosmajer die Tür fast schon hinter sich geschlossen hätte, hielt ihn Alzbeta noch kurz zurück. Ihre Stimme zitterte bei der Frage, ob der Verletzte auf der Intensivstation sterben müsse. In diesem Augenblick begriff Dr. Strosmajer, daß Alzbeta wirklich noch ein junges Mädchen war. »Betti, das dürfen Sie sich nicht so zu Herzen nehmen ..., das müssen Sie ...«, er brach ab, weil sie das doch nicht verstehen würde und sagte statt dessen: »Vielleicht überlebt er.« Damit zog er leise die Tür hinter sich zu. Dankbar nickte Alzbeta und löschte erleichtert das Licht. Es war früher Morgen. Mit langsamen, müden Schritten schlurfte Dr. Arnost Blazej über den Gang. Kurz vor der Tür des Ärztezimmers entdeckte er Schwester Ina, die von der anderen Gangseite kam. Im Gegensatz zu ihm wirkte sie nach dem Nachtdienst wie immer schön und frisch. Ihr höfliches »Guten Morgen, Herr Doktor«, beantwortete er mit einem lässigen »Tagchen, Inuschka«. Ina fragte Dr. Blazej, ob er heute nacht trotz Wache auf der Intensivstation ein bißchen hätte schlafen können. »Keine einzige Minute«, antwortete Dr. Blazej und stimmte ein soeben erfundenes Lied an: »Das war eine Nacht, Madame, die hat's gebracht, Madame ...« Die Schwester lachte und fragte ihn dann, ob Kaffee ihn wieder ganz munter machen würde. Dieses Angebot nahm Dr. Blazej dankbar an, doch bevor Ina den Weg zur Küche einschlug, fragte sie noch: »Haben Sie Ihre Frau angerufen?« »Nein«, winkte Dr. Blazej ab, »das ist nicht so wichtig.« Und er lachte Ina zu, als ob er ihr etwas anvertrauen wollte. Ina senkte die Augen und lief wortlos in die Kaffeeküche. 26
Im Vorraum des Ärztezimmers stürzte sich Dr. Blazej sofort aufs Waschbecken. Prustend und schnaubend warf er sich das kalte Wasser mit beiden Händen voll ins Gesicht. Er tastete nach dem Handtuch und ging damit ins Zimmer hinein. Auf der Couch lag komplett angezogen und leise schnarchend Dr. Strosmajer. Mit einem wehmütigen Pfeifton brach das Schnarchen ab, ein Augenlid zuckte, das zweite Auge öffnete sich und betrachtete schläfrig, was um ihn herum vorging. »Hast du etwa gebadet?« brummte Strosmajer. »Ich habe mich gewaschen«, klärte Arnost auf. »Unverständlich. Weshalb denn das?« »Ich wasche mich ziemlich oft morgens, du nicht?« frozzelte Dr. Blazej. »Zu Hause schon. Das muß man, damit man die eigene Frau nicht anekelt und den Kindern kein schlechtes Vorbild bietet, aber hier? Sag mal, bist du mal wieder auf Freiersfüßen?« Arnost lachte nur. »Was interessiert dich das, ob ich eine neue Liebe habe?« »Na, weil ich dich beschützen muß, damit du nicht wieder irgendeinen Schlamassel anstiftest.« Es klopfte. Herein trat eine große, rothaarige, etwa 50jährige Frau, ruhig und resolut im Auftreten - Oberschwester Jachymova. Sie grüßte knapp und wandte sich sofort Dr. Strosmajer zu. Sie erzählte ihm vorwurfsvoll, daß sich Schwester Hunkova heute bei ihr beschwert hätte. Dr. Strosmajer habe sie beleidigt. Arnost, der hinter der Oberschwester stand, hatte Mühe, nicht vor Lachen herauszuplatzen. Dr. Strosmajer spielte den Ahnungslosen. Beleidigt? Ja, wie denn dieses und womit? Die Oberschwester blieb ernst. »Sie sollten ihr gesagt haben, daß sie dumm sei. Sie verlangt, daß Sie sich entschuldigen. Anderenfalls wird sie sich beim Chefarzt beschweren.« »Die und beschweren? Das wäre eigentlich mein Recht, weil man so eine blöde Pute auf der Welt lange suchen muß.« Die Oberschwester zählte mit undurchdringlicher Miene ihre Argumente auf. Das durchschlagende Argument war der Mangel an Personal, insbesondere Krankenschwestern. Dr. Strosmajer verteidigte sich entrüstet. »Gerade deshalb, weil ich das weiß, habe ich sie mit Samthandschuhen angefaßt, nur deshalb.« »Sie sollten ihr gesagt haben, daß sie so doof ist, daß sie fliegen könnte.« Dr. Strosmajer konnte jetzt ein Grinsen nicht unterdrücken. »Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, wenn Dummheit Flügel 27
hätte, könnte sie wie ein Täubchen fliegen. Na, geben Sie zu, das war doch noch schmeichelhaft. Ich hätte auch einen ganz anderen Vogel nennen können.« Im Gesicht der Oberschwester zuckte es. Sie drehte sich um. »Wie Sie wollen. Überlegen Sie eine Weile. Dann sagen Sie mir Bescheid.« Sie schloß die Tür hinter sich und Dr. Blazej brach in unterdrücktes Lachen aus. Dr. Strosmajer feixte ihn an, machte eine abwehrende Handbewegung und wechselte das Thema. Er wollte wissen, wie es um Rezek stünde. Arnost zog seinen Rasierapparat aus der Schublade und schloß ihn an der Steckdose an. »Nichts.« »Der Junge ist noch nicht aufgewacht?« »Nein. Er ist unter pausenloser Beobachtung. Noch zweimal wollte er zum anderen Ufer entwischen.« »Und der Alte?« »Der bleibt bei ihm, bis er überm Berg ist. Alle sehen sie wie ausgespuckt aus, doch ihm scheint das alles nichts auszumachen.« Es klopfte erneut. Ina brachte auf einem Tablett eine Tasse heißen Kaffee herein, neben der Tasse ein Stück Zucker und auf einem Teller zwei Stück Kuchen. Ina grüßte höflich und stellte das Tablett auf den Tisch. Dr. Strosmajers Mund öffnete und schloß sich wieder. »Ich danke Ihnen, Inachen«, flötete Arnost gerührt. »Sie sind ein Schatz. Was bin ich Ihnen schuldig?« Ina wehrte ab und sagte, daß sie den Kuchen geschenkt bekommen hätte, und daß sie sich später nur das Geschirr holen würde. Dann schloß sie die Tür hinter sich. Jetzt erst löste sich Dr. Strosmajers Erstarrung. Wie war das nur möglich? 25 Jahre war er nun im Krankenhaus und noch nie hatte eine Schwester sich so für ihn erwärmt, daß sie ihm den Kaffee bis ans Bett gebracht hätte. Und Arnost, erst seit fünf Jahren hier, kriegte sogar noch einen Kuchen dazu. Erkläre ihm einer die Ungerechtigkeit dieser Welt! »Ja, mein Junge«, schmunzelte selbstlos Dr. Blazej, »das nennt man eben den Zauber der Persönlichkeit.« In dem Augenblick trat ein mittelgroßer, lebendiger, etwas rundlicher junger Mann ein, Dr. Cvach. Er wünschte den anderen fröhlich einen guten Morgen und fragte, wie sie das Wochenende verbracht hätten. Während er sich die weiße Dienstkleidung anzog, schwärmte Dr. Blazej von dem »wundervollen, erholsamen« Wochenende. Ohne zuzuhören, mußte Dr. Cvach seine Neuigkeiten sofort loswerden: »Also ich habe den ganzen Sonntag den >Surgery< gelesen. Darin 28
verpaßt Professor Halbhuber der Arztgruppe aus Massachusetts einen gewaltigen Tritt für deren Methode der offenen Indikation bei Venenpolypen. Habt ihr das schon gelesen? Na, bestimmt nicht!« Dr. Strosmajer tauschte mir Arnost nur einen kurzen Blick und verkündete: »Nein, ich hatte keine Zeit. Ich habe den ganzen Sonntag Pinocchio gelesen.« Dr. Blazej verließ rasch das Zimmer, um seine Lachsalven unter Kontrolle zu bringen. Chefarzt Dr. Sova stand am Bett von Premysl Rezek, und Dr. Kralova hatte gerade ihren Rundgang bei den anderen Patienten beendet. Als sie ans Bett trat, fragte Dr. Sova, ob der Patient tatsächlich zu sich käme oder er sich täusche. In dem Moment schlug Rezek die Augen auf, begriff jedoch nichts von alledem, was um ihn herum passierte. Sie beobachteten ihn gespannt. Der Chefarzt schaute dabei auf die Uhr und nickte müde. »Nun dürfte er das Schlimmste überstanden haben. Aber damit fängt erst alles richtig an. Passen sie gut auf ihn auf. Ich gehe in mein Zimmer und warte auf Dozent Kuthan.« Dr. Kralova rief dem Chefarzt ein leises, aber hörbares: »Vielen Dank, Herr Chefarzt«, hinterher. »Wofür? Der Patient gehört Ihnen genauso wie mir.« Zum erstenmal erschien auf Dr. Sovas Gesicht so etwas wie ein anerkennendes Lächeln. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Kaum trat Dr. Sova aus der Intensivstation, stieß er auf die Mutter von Rezek. Sie saß bewegungslos auf einer kleinen Bank und starrte ihm verzweifelt entgegen. Ihr Mann wanderte im Flur auf und ab, und Dr. Sova wäre vorbeigegangen, wenn ihn nicht die flehenden Worte der Mutter zum Stehen gebracht hätten. »Herr Chefarzt? Ich bin Rezkova, die Mutter ...«, und sie zeigte auf ihren Mann, der mit schnellen Schritten dazukam, »... das ist mein Mann.« Der Chefarzt verneigte sich leicht. »Ich ... wir ... warten auf Sie, damit Sie uns sagen, wie es um unseren Sohn steht.« Dr. Sova erklärte ihnen kurz, aber teilnahmsvoll, daß er ihnen nicht viel sagen könnte, weil die Ärzte selbst noch nicht genügend wüßten. Vielleicht würde es sie aber freuen zu hören, daß ihr Sohn vor kurzem sein Bewußtsein wiedererlangt hatte. »Also geht es ihm gut«, klammerte sich die Mutter an diese Nachricht. Eine solche Vortäuschung lehnte Dr. Sova ab. Der Zustand des Patienten wäre weiterhin sehr ernst. Da baten die Eltern um die 29
Erlaubnis, ihren Sohn wenigstens sehen zu können. Das jedoch erlaubte Dr. Sova auf gar keinen Fall. Frau Rezkovas Augen standen voll Tränen, und sie versuchte, ihn umzustimmen. Dr. Sova schüttelte verneinend den Kopf. »Das mache ich Ihretwegen, Frau Rezkova. Glauben Sie mir, daß wir alles menschenmögliche tun, um Ihren Sohn gesund zu machen.« Plötzlich glomm Haß in den Augen der Mutter auf. »Wäre es nicht in jedem Fall besser, wenn wir ihn nach Prag überführen ließen?« Diese Wutausbrüche kannte Dr. Sova zur Genüge, und er antwortete deshalb ungerührt: »Im Augenblick kann ich das nicht verantworten. Wir haben aber schon veranlaßt, daß ein Prager Spezialist hierherkommt. Wenn Ihr Sohn dann außer Gefahr ist, entscheiden Sie, was Sie für richtig halten.« Er verneigte sich erneut und ging weiter. Am Aufzug holten ihn zwei Männer ein, etwa 30 und 50 Jahre alt. Sie baten ihn, einen Augenblick zu warten. Dr. Sova blieb stehen und der 30jährige stellte sich und seinen Begleiter vor. Er hieß Pakosta und war Sekretär des Eishockey-Clubs, sein Begleiter war Vizepräsident und hieß Richter. Beide schienen abgehetzt und unsicher zu sein. »Wir haben es soeben erfahren und sind sofort hierhergerast, um zu wissen, wie das mit ihm aussieht.« »Wie was mit wem aussieht?« Beide Männer wechselten verblüffte Blicke. »Mit dem Rezek natürlich, mit wem sonst? Wir müssen dem Club doch berichten, wann er wieder aufs Eis darf.« Der Chefarzt stellte trocken fest, daß die beiden also nicht so sehr der gegenwärtige Zustand als die Zukunft des Verletzten interessierte. Die Funktionäre zuckten mit den Schultern. Ihnen ging es nur darum, ob Rezek diese Spielzeit noch schaffte oder nicht. Dr. Sova konnte nichts anderes tun, als stumm den Kopf zu schütteln. »Aber das ist doch keine Antwort. Die Öffentlichkeit will wissen, was mit Rezek los ist. Und ich glaube, daß es sogar Prag interessiert«, setzte der jüngere Mann triumphierend hinzu. Der Vizepräsident schloß sich gleich an. »Verstehen Sie, Herr Chefarzt, daß Eishockey und de facto auch Rezek aus diesem unbekannten Städtchen einen allgemein berühmten Platz gemacht haben.« Dr. Sova hörte sich das alles geduldig an. »Ich weiß nicht, meine Herren, was das Eishockey aus dieser Stadt gemacht hat. Aber ich weiß, was es aus den Hüftgelenken und den Wirbelsäulen von jungen Männern macht. Und das gefällt mir überhaupt nicht. Auf 30
Wiedersehen, in drei Tagen wissen wir mehr.« Und er stieg in den Aufzug, der sich gerade vor ihm geöffnet hatte. Doktor Cvach war allein im Ärztezimmer und hackte angestrengt ein Gutachten auf der altersschwachen Schreibmaschine. Da trat Alzbeta ein und grüßte freundlich. Dr. Cvach erwiderte stirnrunzelnd ihren Gruß. Er haßte solche Ablenkungen. Alzbeta ging lächelnd auf ihn zu, gab ihm die Hand, stellte sich kurz vor. Sie erklärte ihm, daß sie ab heute in dieser Abteilung arbeiten solle. Nun endlich hatte Dr. Cvach begriffen. Er strahlte und sprang eilfertig hinter seiner Schreibmaschine auf. »Es freut mich sehr, Cvach, angenehm, wir warten schon auf Sie. Wie war die Reise? Montags früh ist es nie angenehm, weil alle Abteile so überfüllt sind, nicht wahr?« Alzbeta erzählte ihm, daß sie schon seit gestern im Krankenhaus sei und daß Dr. Strosmajer sie im Ärztezimmer der Urologie einquartiert hatte. Den rundlichen Dr. Cvach freute das alles. »Das ist schön, hervorragend. Und mit dem Chefarzt haben Sie auch schon gesprochen?« Alzbeta antwortete zögernd, daß sie ihn zwar gestern gesehen, aber nicht gesprochen hätte. »Also erwartet Sie das noch?« fragte Dr. Cvach genüßlich. Alzbeta versuchte, ihre Unruhe mit einem Scherz zu überspielen. »Meinen Sie, daß es weh tun wird?« »Ein Gespräch mit dem Chefarzt Dr. Sova bedeutet immer eine kleine Operation - und der Patient kriegt nicht einmal Lokalbetäubung. Ich kenne das von mir. Ich bin hier bereits das fünfte Jahr, und es ist immer das gleiche. Stellen Sie sich darauf ein, daß er ihnen immer mit äußerstem Mißtrauen begegnen wird.« »Ich, ich bin auf alles vorbereitet«, stotterte beklommen die junge Ärztin. »Oho, bei ihm ist man nie genug vorbereitet«, unkte Dr. Cvach. Vom Gang her hörte man das Öffnen und Zuschlagen einer Tür, dann Schlüsselgeräusche und erneutes Öffnen und Zuklappen. Der Chefarzt hatte sein Arbeitszimmer betreten. Alzbeta war sofort entschlossen, zu ihm zu gehen. Dr. Cvach wünschte ihr Hals- und Beinbruch, und Alzbeta machte sich energisch auf den Weg. Dr. Sova betrat sein Arbeitszimmer, zog die Vorhänge auseinander, öffnete das Fenster und atmete mehrmals tief durch. Sein Blick fiel auf den gegenüberliegenden Hang, der mit Kiefern und Eichen bewachsen war. Es war ein Labsal für seine Augen. 31
Dr. Sova ließ das Fenster auf und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er blätterte flüchtig durch die gestrige Korrespondenz, als es klopfte. Ohne aufzuschauen, sagte er müde: »Herein.« Die Tür öffnete sich, und Alzbeta blieb wie angewurzelt an der Schwelle stehen. »Guten Tag, Herr Chefarzt. Mein Name ist Alzbeta Cenkova, und ich melde mich... ich melde mich zum Dienst.« Dr. Sova hob den Kopf, schaute Alzbeta ruhig an, stand auf und ging mit einem liebenswürdigen Lächeln auf sie zu. Er betitelte sie mit Frau Kollegin und erinnerte sie daran, daß man sich doch bereits kennengelernt habe. Alzbeta war verblüfft. Sie gestand, daß sie den gestrigen Tag nicht wertete, weil der Chefarzt sie doch gar nicht wahrgenommen hatte. »Entschuldigen Sie meine gestrige Unhöflichkeit«, nickte Dr. Sova lächelnd, »aber wenn ich einen schwierigen Fall vor mir habe, zählt nur der Patient. Ich ignoriere dann alles, was rechts und links von mir passiert.« Er schüttelte ihr die Hand, stellte sich ganz offiziell noch einmal mit Namen vor, bot ihr einen Platz an und hieß Alzbeta in seiner Abteilung herzlichst willkommen. Alzbetas Furcht schmolz durch den Charme des Chefarztes wie Butter an der Sonne. Dr. Sova riet ihr dann, sich in ihrer Abteilung in Ruhe umzusehen und gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß sich alle Kollegen freuen würden, Alzbeta zu helfen. Alzbeta versicherte ihm, daß sie nach Möglichkeit niemanden über Gebühr strapazieren wolle. Die Frage Dr. Sovas, wie lange sie zu bleiben gedenke, verwirrte sie allerdings maßlos. Dr. Sova schmunzelte väterlich. »Ich meine das so, daß Sie zunächst die einzelnen Abteilungen kennenlernen sollten, um erst dann zu entscheiden, welche Fachrichtung für Sie die richtige ist.« Alzbeta schüttelte den Kopf. Sie hatte sich doch schon längst entschieden. »Ich weiß«, antwortete der Chefarzt nachsichtig, »schließlich haben Sie das auch in Ihrer Bewerbung geschrieben. Aber so etwas nehmen wir nie ernst.« Alzbeta traute ihren Ohren kaum. Natürlich hatte sie es ernst gemeint. Die praktische Ausbildung in den verschiedenen Abteilungen hatte sie doch bereits hinter sich und wollte nun für immer in der Orthopädie bleiben. Dr. Sova musterte sie schweigend. Dann bat er sie, sich nicht zu früh festzulegen. Früher oder später würde sie hier sowieso weggehen. Alzbeta fragte beklommen nach dem Grund. 32
»In den mehr als 30 Jahren, die ich hier bin, ist noch jede Frau nach kurzer Zeit gegangen«, antwortete Dr. Sova. »Die Chirurgie ist kein Beruf für Frauen, und Gelenkchirurgie schon überhaupt nicht. Sie schaffen es physisch nicht, zeigen nicht genug Entscheidungskraft - und, wenn ich absolut ehrlich sein soll, so sehe ich nicht den kleinsten Grund, warum sie schmales Geschöpf diesen Beruf meistern sollten.« Alzbeta wich das Blut aus dem Gesicht. »Heißt das, Herr Chefarzt, daß Sie mich nicht nehmen?« »Ich kann Sie, Frau Kollegin, aus diesem Grund gar nicht ablehnen. Ich warne Sie nur«, sagte Dr. Sova milde. Diese Herausforderung nahm Alzbeta an. »Und ich werde die Stelle antreten!« Trotzig funkelte sie ihn an. Dr. Sova erhob sich aus dem Sessel. »Wie Sie wollen. Sie werden aber noch an meine Warnung denken. Ich würde sagen, spätestens in einem Jahr.«
2. KAPITEL In einem riesigen Regal lagen in einzelne Fächer geordnet Stöße von Hemden, kurz- und langärmlige Jacken sowie Operationskappen, alle in einheitlichem Grün. Chefarzt Dr. Sova griff sich eine Operationsmontur heraus und verschwand in der Umkleidekabine. Da betrat Dr. Strosmajer mit Alzbeta zusammen die Kleiderkammer. Ungewollt wurde Dr. Sova in seiner Kabine Zeuge des Gespräches. »Ich schätze, Sie sind eine winzige Zwei, oder vielleicht die letzte Eins«, beurteilte Dr. Strosmajer die Körpergröße von Alzbeta. »Wieviel Größen gibt es denn«, fragte sie. »Vier - und eine fünfte für Elefanten. Ich geb' Ihnen eine Eins, oder?« Alzbeta lachte amüsiert. Der Arzt griff in die zuständigen Fächer und legte Alzbeta ihre Ausstattung über die Arme. Dann bediente er sich selbst und beide gingen in jeweils eine kleine Kabine, um sich umzuziehen. Die Kabinen waren lediglich durch Vorhänge voneinander getrennt, so daß man das gemeinsame Gespräch fortsetzen konnte. »Wie fühlen Sie sich so vor Ihrer ersten Operation?« Während sich Alzbeta die Bluse, die Hose und darüber den grünen Kittel anzog, antwortete sie: 33
»Ganz komisch - und ich weiß nicht einmal, warum.« »Ich mußte damals immer wieder aufs Klo, obwohl in mir nichts mehr drin war, Sie nicht?« »Nein, das nicht.« »Bei jedem wirkt es irgendwie anders«, tröstete Dr. Strosmajer. »Sind Sie schon fertig?« Alzbeta war soweit, bis auf die Kappe. Dr. Strosmajer hinderte sie wortreich daran, sie selbst aufzusetzen. Der Doktor wartete schon auf sie, als Alzbeta ohne Kappe aus der Kabine trat. »Warum wollen Sie mir die unbedingt aufsetzen?« lachte Alzbeta. Dr. Strosmajer nahm ihr die Kappe ab, setzte sie ihr tief in die Stirn und verfrachtete sorgsamst auch die kleinste blonde Locke unter dem grünen Ungetüm. »Weil manche Weiber den Drang haben, wenigstens die Mütze keß aufzusetzen - und darauf fährt unser Alter besonders ab. Er verlangt, daß sich jeder vor dem Erscheinen zur heiligen Messe so häßlich macht, daß er diese Welt vergißt und sich nur auf den chirurgischen Gottesdienst konzentriert.« In diesem Augenblick trat der Chefarzt aus seiner Kabine. Alzbeta war das mehr als peinlich, doch Dr. Strosmajer grinste ihn nur an. Zusammen gingen sie in den Waschraum hinüber, wo bereits die OP-Oberschwester Ludmilla geschäftig hin und her lief. Das Interesse der jungen OP-Schwester Andrea galt hingegen mehr den Ärzten als ihrer aufgetragenen Arbeit. Dr. Strosmajer wünschte jedem einen gesunden guten Morgen und Alzbeta piepste ein schüchternes »Guten Morgen«. Alle grüßten höflich zurück, und die Schwestern unterzogen Alzbeta sofort einer ausführlichen Musterung. Dr. Strosmajer konnte das nicht ohne Kommentar lassen. »Sehr geehrtes OP-Personal. Diejenige, die Sie mit den Augen eines Personalchefs mustern, ist eine Novizin - Dr. Alzbeta Cenkova. Für mich, der sich sofort ihre Gunst erringen konnte, nur Betulinka.« Andrea begann zu lachen, Ludmilla verzog düster ihr Gesicht, und Cvach konzentrierte sich stumm auf sorgfältiges Schrubben seiner Hände mit einer Bürste - Finger für Finger, Nagel für Nagel - nichts konnte wichtiger sein. Alzbeta, die noch immer im Eingang des Waschraumes stand, wurde von der Oberschwester rüde angeraunzt: »Sie stehen im Wege.« Alzbeta sprang erschreckt zur Seite und entschuldigte sich verlegen. Dr. Strosmajer winkte Alzbeta an seine Seite, stellte den Wecker auf zehn Minuten ein und reichte Alzbeta die Seife. Dabei zischelte er: »Eine alte Hexe - gleich muß sie demonstrieren, wer hier der Boß 34
ist. Wenn der Chefarzt an derselben Stelle gestanden hätte, wäre sie wie ein Engelchen an ihm vorbeigeschwebt.« Auf dem OP-Tisch angeschnallt lag bereits eine alte, jedoch noch äußerst lebendige Frau. Sie wehrte sich mit aller Kraft gegen das Ansinnen von Dr. Kralova, ihre falschen Zähne herauszunehmen. »Das trage ich doch auch beim Schlafen«, krächzte die Frau unverdrossen. Dr. Kralova lächelte verständnisvoll und ordnete gleichzeitig mit größter Entschiedenheit an, daß das Gebiß entfernt werden müsse. Der Wecker klingelte und Dr. Strosmajer und Alzbeta beendeten das Händewaschen. Der Arzt warf durch die offene Tür einen kurzen Blick auf die Patientin. Dann schnaubte er unzufrieden durch die Nase. »Sie ist schrecklich fett. Das wird anstrengend werden.« Dann schaute er Alzbeta an und schnaubte noch einmal: »Wie diese grazilen Händchen die Haken festhalten sollen, ist mir noch nicht klar.« Alzbeta versuchte Dr. Strosmajer mit dem Einwand zu beruhigen, daß sie ständig Gymnastik treibe und damit ihre Hände kräftige. Auf ihre Frage, was sie beim Assistieren tun dürfe, bekam sie die lakonische Antwort: »Die Haken und das Maul halten.« Alzbeta bemühte sich um ein Lächeln, was ihr jedoch nicht ganz gelang. Und dann war es soweit. Die Narkose hatte bei der Patientin bereits gewirkt, und der Chefarzt gab ruhig und konzentriert seine Anordnungen. Alzbeta hielt zusammen mit Dr. Cvach die Haken fest und spürte, wie eine immer stärker werdende Schwäche sie überfiel. Plötzlich klirrte wie Eis die scharfe Bemerkung des Chefarztes durch die angestrengte Stille: »Lassen Sie die Haken nicht locker, Frau Kollegin! Wenn Sie einmal alleine operieren werden, dann können Sie sich überzeugen, wie wichtig es ist, die operierte Stelle gut zu sehen.« Alzbeta zog die Haken wieder auseinander, konnte jedoch nicht verhindern, daß eine große Träne ihre Wange herunterlief. Dr. Kralova schickte ihr einen sorgenvollen Blick zu. Doch nicht nur sie, sondern auch Dr. Strosmajer. Ja, sogar Dr. Cvach und die beiden Schwestern, Ludmilla und Andrea. Mühselige Minuten verrannen zu Stunden, doch endlich näherte sich die Operation ihrem Höhepunkt und gleichzeitig der Endphase. Die Konzentration des Geistes, der Augen und nicht zuletzt des Körpers, der die ganze Zeit gekrümmt stehen mußte, waren Schinderei und Kunst zugleich. Mit zufriedener Geste trat der Chefarzt einen Schritt 35
vom Operationstisch zurück und bedankte sich allgemein ohne jemanden besonders anzuschauen. In einer halben Stunde würden sie sich bei der nächsten Operation wiedersehen. Es schien der blassen und total erschöpften Alzbeta, als ob der Chefarzt sie mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte. Doch sie konnte sich auch geirrt haben. Sie hörte Dr. Strosmajer sagen, daß sie die Haken loslassen könne. Sie gehorchte wie in Trance und wollte von der kleinen Stufe, auf der sie die ganze Zeit gestanden hatte, heruntersteigen. In diesem Augenblick gaben ihre Knie unter ihr nach, und sie sackte zusammen. Wenn Andrea sie nicht blitzschnell festgehalten hätte, wäre sie der Länge nach auf dem Fußboden gelandet. So rief Andrea nur fröhlich: »Hallo! Achtung Stufe. Mir scheint, Sie können einen Kaffee vertragen. Kommen Sie. Ich zeig' Ihnen, wo's den gibt.« Damit packte sie Alzbeta wie ein willenloses Kind unter dem Arm und führte sie aus dem OP-Saal. Ein verächtlicher Blick der Operationsschwester begleitete den wenig ruhmvollen Abgang. Der Aufenthaltsraum für das operierende Personal entpuppte sich als ein heller großer Raum mit einer sich über die gesamte Breitseite ziehenden Fensterfront. Der Blick fiel in einen wunderschönen grünen Garten. Hier konnte man sich in der Pause zwischen den Operationen erholen. Im Moment war nichts los und Alzbeta setzte sich erleichtert in einen der vielen kleinen Sessel. Bald darauf erschien Andrea mit einer Tasse Kaffee. Sie fragte Alzbeta fürsorglich, ob sie Zucker hinein wünsche, doch dankbar verneinte Alzbeta. Statt dessen fragte sie sofort, was sie schuldig sei. Andrea machte eine abwehrende Handbewegung. »Hier wird nichts bezahlt, hier bringt man nur ab und zu mal eine Packung Kaffee mit. Aber selbst das tut nicht jeder.« Sie lachte fröhlich und ließ Alzbeta allein. Alzbeta wollte nach der Tasse greifen, doch stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß ihre Finger ihr nicht gehorchten. Sie konnte ihre Hand nicht aus eigener Kraft öffnen. »Krampf?« hörte sie da plötzlich eine leise Stimme. Erschrocken drehte sie sich um und stellte fest, daß in der hintersten Ecke des Raumes ein junger Mann Platz genommen hatte. Über der grünen Operationsmontur trug er noch eine große Gummischürze. Alzbeta nickte wortlos. »Haken?« »Ja.« »Zum ersten Mal?« Kurz und ernst kamen die Fragen und ohne ein weiteres Wort 36
stand er auf, ging zu ihr, nahm ihre rechte Hand und fing an, sie zu massieren. Er versuchte dabei sachte, die Finger geradezubiegen. In diesem Augenblick tauchte am Eingang eine Schwester auf und winkte dem Arzt zu. Er riet Alzbeta die Massage fortzusetzen und fügte hinzu, daß Haken für alle Ärzte am Anfang ein Martyrium seien. Damit verließ er den Raum, ohne sich vorzustellen oder sich zu verabschieden. Alzbeta folgte ihm verblüfft mit den Augen. Dieser Mensch handelte völlig ohne Emotionen. In dem Ausmaß hatte sie das noch nie erlebt. Oberschwester Jachymova betrat zusammen mit der Stationsschwester Hunkova das Zimmer von Chefarzt Dr. Sova. »Herr Chefarzt, unsere Stationsschwester hat mich gebeten, mit ihr zu Ihnen zu gehen, weil Dr. Strosmajer sie beleidigt hat.« Chefarzt Dr. Sova zuckte nicht einmal mit der Augenbraue. Er fragte nur: »Wie beleidigt?« Aufgeregt berichtete die Hunkova über die Untat. »Er sagte, daß ich dumm bin. Das darf er doch nicht.« Die Oberschwester ergänzte: »Schwester Hunkova verlangt, daß er sich bei ihr vor allen entschuldigt.« »Er hat es auch vor allen anderen behauptet?« fragte der Chefarzt. »Nein.« »In diesem Falle ist ein solcher Schritt nicht nötig.« »Aber entschuldigen muß er sich trotzdem«, beharrte die Hunkova. Der Chefarzt entschied nach kurzem Zögern, Dr. Strosmajer zu rufen. Als sich die Oberschwester anschickte, ihn zu holen, wurde sie von Schwester Hunkova vehement gehindert. Sie wollte Dr. Strosmajer auf jeden Fall selbst holen. Das konnte sie sich nicht entgehen lassen, und schon war sie verschwunden. Währenddessen amüsierte Dr. Strosmajer im Ärztezimmer alle Anwesenden. »Etwa eine Woche, nachdem ich dem Knirps alles zusammengedrahtet und genäht hatte, kommt er in meine Sprechstunde und ist total unglücklich. Ich fragte ihn, ob ihm das Knie weh tut. Nein, nein. Das wäre in Ordnung. Er habe andere, ernstere Beschwerden. Früher habe er mit seiner Frau acht- bis zehnmal am Tag geschlafen und jetzt ginge das mit Mühe und Not nur dreimal.« Alle lachten und Dr. Blazej fragte interessiert: »Und was hast du ihm geraten?« 37
»Mir fiel zunächst auch nichts ein, aber dann erinnerte ich mich an die Chefärztin Hofmanova, die wir >die uneinnehmbare Internistin< genannt haben. Ich riet ihm, sich ihr mit allem anzuvertrauen. Und dabei sollte er auch nicht mit Einzelheiten sparen.« Alle johlten vor Vergnügen als plötzlich die Tür aufging. Mit siegessicherem Lächeln im Gesicht bat Schwester Hunkova süßsauer. »Der Chefarzt bittet Herrn Dr. Strosmajer, sofort zu ihm zu kommen.« Alle wurden ernst, denn jeder wußte, daß das immer etwas Unangenehmes bedeutete. Grinsend wandte sich Dr. Strosmajer jedoch nochmals an seine Kollegen: »Wißt ihr, daß die Hofmanova danach furchtbar beleidigt war?« Er stand auf, und die Tür war noch nicht zu, als Dr. Blazej es noch schaffte, ihm schnell einen wertvollen Rat zu geben: »Bestreite nichts, du weißt, daß Geständigsein ein mildernder Umstand ist. Und spare nicht mit Einzelheiten!« Dr. Strosmajer trat in das Zimmer des Chefarztes, erblickte mit düsterem Gesicht die Oberschwester und fragte dann gefaßt, was er denn verbrochen habe. Dr. Sova antwortete unbewegt: »Herr Kollege, es wurde mir eine Beschwerde über Ihr Benehmen zugetragen.« Er bat die Oberschwester, die Sache kurz vorzutragen. »Stationsschwester Hunkova hat sich beschwert, daß Sie ihr vorgeworfen haben, sie sei dumm. Sie verlangt deshalb...« »Pardon - die Formulierung lautete so, daß, wenn Dummheit Flügel hätte, Stationsschwester Hunkova wie ein Täubchen flattern könnte.« Schwester Hunkova mischte sich mit schriller Stimme ein, doch Dr. Strosmajer bewahrte eisern seinen Standpunkt. Da begann die Hunkova zu kreischen: »Und das ist doch dasselbe. Machen Sie aus mir einen nicht noch größeren Trottel.« »Das würde ich mir nie erlauben, daran würde ich gar nicht wagen zu denken.« Chefarzt Dr. Sova unterbrach den Streit und fragte Dr. Strosmajer direkt, ob er einverstanden wäre, seine Behauptung über Schwester Hunkova zu widerrufen. Dr. Strosmajer nickte wohlwollend. »Ich nehme meine Behauptung zurück, daß, wenn die Dummheit Flügel hätte, Stationsschwester Hunkova ein Täubchen wäre. Es stimmt nicht.« Nach dieser Erklärung breitete sich im Raum Stille aus. Als erste meldete sich die Hunkova mit einem Einwand, daß ihr das alles nicht so klar wäre. Dr. Sova zögerte keine Sekunde, die ganze 38
Debatte zu beenden: »Ich habe das wortwörtlich genommen. Damit betrachte ich die ganze Angelegenheit als erledigt und bitte alle Anwesenden, daß sich so etwas nicht mehr wiederholt. Wir haben zuviel Arbeit, als daß wir Zeit für derartige Extravaganzen hätten. Auf Wiedersehen!« Alle gingen hinaus. Dr. Strosmajer äußerst zufrieden, und die Schwester Hunkova und Jachymova ein wenig verlegen. Kaum im Vorzimmer, rief der Chefarzt Dr. Strosmajer wieder zurück. Dr. Strosmajer kehrte um und machte unter dem prüfenden Blick des Chefarztes die Tür hinter sich zu. Dann sagte Dr. Sova mit undurchdringlichem Blick: »Sie haben, glaube ich, noch nicht begriffen, daß man den Vorwurf der Dummheit an jeden richten kann - bis an denjenigen, den er wirklich betrifft!« Dr. Strosmajer lächelte ein wenig verschämt, nickte verstehend und bat den Chefarzt noch einmal um Entschuldigung. Dr. Arnost Blazej trat zusammen mit Alzbeta in den Raum der Kinderambulanz, wo Schwester Jaroslava gerade dabei war, alles für eine Untersuchung vorzubereiten. »Guten Tag, Jarunka. Seien Sie nicht böse, daß wir uns etwas verspätet haben. Ich möchte Ihnen unsere neue Kollegin - Dr. Cenkova - vorstellen.« Jaroslava war ein ruhiges, stilles Mädchen und auf den ersten Blick sympathisch. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, beide Mädchen reichten sich die Hände, und Arnost, regelrecht sprühend vor guter Laune, besorgte alleine das gesamte Gespräch. »Wenn Sie längere Zeit in unserem Hospital sind, Frau Doktor, dann werden Sie merken, daß die bravsten Schwestern sich immer in der Kinderabteilung tummeln. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Dasselbe gilt natürlich für die Ärzte, deshalb bin ich ja auch hier. So, und jetzt gehen wir an die Arbeit.« Die Schwester setzte sich an die Kartei, Dr. Blazej entnahm aus einem Ständer ein Röntgenbild nach dem anderen und hielt jedes einzelne gegen das Fenster. »Die Kerne sind bisher unterentwickelt, klare Pannendysplasie, es soll weiterbehandelt werden wie bisher, Kontrolle in sechs Wochen.« Er zeigte Alzbeta zwei Punkte auf dem Bild, legte es dann zur Seite und griff nach dem nächsten. Erneut hielt er die Aufnahme gegen das Licht und diktierte sofort eine Zustandsbeschreibung: »Kerne herausgebildet, korrigiert, Behandlung abgeschlossen.« 39
Er zeigte wieder auf etwas, was Alzbeta in der Schnelligkeit nicht einmal sehen konnte und legte das Röntgenbild zu den erledigten Fällen. Blick auf ein anderes Bild und eine erneute Entscheidung: »Die Asymmetrie der Kerne dauert an, weiterhin keinen Zwang zum Aufstehen - legen Sie ihn mir auf den Tisch. Sehen Sie, das linke Hüftgelenk, das alles sieht schlecht aus, sehen Sie das?« Alzbeta mußte zugeben, daß sie nicht in der Lage war, irgend etwas zu erkennen oder sich so rasch zu orientieren. »Das ist doch leicht, das werden Sie schnell lernen«, versicherte Dr. Blazej. »Wenn die Sprechstunde vorbei ist, gehen wir ein Bild nach dem anderen noch einmal zusammen durch ...« Alzbeta befürchtete, daß Dr. Blazej für so etwas nie genug Zeit haben würde. Arnost setzte sein strahlendstes Lächeln auf und versicherte Schwester Jaroslava, daß er so unmäßig viel Zeit hätte, daß er fast immer unter Langeweile leiden würde. Anschließend gingen sie in das nebenan liegende Sprechzimmer, in dem Dr. Blazej schon ausgezogene Kinder untersuchte, die Bewegungen ihrer Hüftgelenke prüfte, mit den Müttern sprach und ihnen die Funktionen verschiedener Hilfsgeräte bereitwillig erklärte. Einige fast gesunde Kinder nahm er liebevoll an die Hand und prüfte, ob sie wieder richtig laufen konnten. Die Mütter hörten Dr. Blazej so andächtig zu, daß es Alzbeta vorkam, als ob sie ihn anbeteten. Er konnte tatsächlich sowohl mit den Kindern als auch mit den Müttern hervorragend umgehen. Alzbeta sah plötzlich diesen pausenlosen Charmeur in einem anderen Licht, und ihr Blick ließ Respekt, ja sogar Bewunderung erkennen. Als die Untersuchungen beendet waren und Schwester Jaroslava sich von ihnen verabschiedet hatte, holte Dr. Blazej einen weiteren Stuhl, bot Alzbeta den Platz neben sich an und zog sich den Röntgenständer heran. Alzbeta schaute ihn halb bewundernd, halb erstaunt an. »Sie wollen nach Ihrem Mammut-Pensum mir jetzt wirklich noch die Aufnahmen erklären?« »Na, wann denn sonst?« fragte Dr. Blazej fröhlich zurück und nahm das erste Bild in die Hand. »Schauen Sie, das hier war ein Fall, bei dem die Mutter zu spät kam. So spät, daß das Malheur bereits passiert war. Sehen Sie hier die Winkel des Pfannendachs?« Alzbeta erkannte nichts Genaues, so daß Arnost sich noch einmal bereitwillig wiederholte. Sie hielt die Aufnahme trotzdem für unklar und wenig konkret. Arnost lachte. »So sind sie alle, bessere kriegen Sie nicht. Halten Sie es mal fest.« Keiner von beiden hatte bemerkt, daß durch die offene Tür zum 40
Nachbar-Sprechzimmer lautlos eine Frau eingetreten war. Dr. Blazej erklärte gerade die Orientierung anhand der ShentonLinie des Hüftgelenkes. Die Frau beobachtete die zwei ein paar Sekunden und räusperte sich dann. Alzbeta zuckte zusammen, doch Dr. Blazej drehte sich so geruhsam um, als ob für ihn eine solche Situation üblich wäre. »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Es ist mir wirklich peinlich...«, begann Frau Blazejova, denn das war sie, mit ironischem Unterton. Und fügte zu ihrem Mann gewandt hinzu: »Doch es ist nicht einfach, dich zu erreichen.« Dr. Blazej nickte nur, und auch seine Stimme enthielt eine gehörige Portion Ironie: »Wahrscheinlich deshalb, weil ich entweder nur hier oder zu Hause sein kann.« Währenddessen musterte seine Ehefrau Alzbeta. »Willst du uns nicht vorstellen?« »Dr. Cenkova - meine Frau.« »Freut mich«, sagte Alzbeta vorsichtig, denn sie ahnte, daß da etwas anderes mit im Spiel war. »Sie sind ganz neu hier, nicht wahr?« »Ja.« »Und mein Mann lernt Sie an, besser gesagt, er weiht Sie ein, wenn ich mich nicht irre.« Alzbeta errötete. Dieses spitze Gerede konnte sie nicht länger aushalten. Sie entschuldigte sich, unter dem Vorwand, nicht stören zu wollen und verabschiedete sich. Dr. Blazej antwortete mit einem knappen »Auf Wiedersehen«, und als die Tür hiner Alzbeta zufiel, fragte er seine Frau verächtlich: »Zufrieden?« »Und du?« »Vor dir kann man ja leider nichts verheimlichen. Ich bin geständig. Ich habe mit ihr zusammen drei Kinder, und wir haben uns gerade auf das vierte vorbereitet.« Seine Frau ignorierte seine Übertreibungen und trumpfte auf. »Und doch hast du hier irgendeine, ich würde sagen, Beschützerin, die aufpaßt, daß ich dich telefonisch nicht kontrollieren kann.« Premysl Rezek lag in einem halb verdunkelten Raum auf einer flachen Liege, das rechte Bein an einem Gewicht hochgezogen, die linke Hand mit einer Stütze am Ellbogen fixiert, den Kopf verbunden und die Venen mit Schläuchen an künstliche Ernährung angeschlossen. Aber seine Augen beobachteten die Umgebung genau 41
und verrieten, daß der junge Mann angestrengt nachdachte. Eine junge Lernschwester fragte ihn, ob er etwas brauchen würde. Zuerst verneinte er, dann rief er sie noch mal zurück. »Schwester, ich will wissen, wie es um mich steht.« Die Schwester stutzte. Irgend etwas an dem Jungen gefiel ihr nicht. In diesem Moment betrat Dr. Kralova den Raum, und erleichtert überließ die Schwester ihr den Patienten. Dr. Kralova trat ans Bett des Kranken, und beide begrüßten sich reserviert. Rezek fragte ungeduldig, wo er denn sei. Als ihm Dr. Kralova erklärte, daß er im Krankenhaus von Bor liegen würde, giftete er unwirsch: »So schlau bin ich auch, aber was ist das hier für eine Abteilung?« »Das ist eine Intensivstation, sie gehört zur Anästhesie.« Als der junge Mann mehr über seinen Zustand erfahren wollte, wich ihm Dr. Kralova geschickt aus. »Aha, hierher kommen also die Leute, die zum Sterben verurteilt sind, was?« Dr. Kralova bat ihn sowohl dringend als auch liebenswürdig, nicht so einen himmelschreienden Unsinn zu reden. »Was fehlt mir?« »Das wissen wir noch nicht.« »Wieso?« »Wir müssen Sie schrittweise behandeln.« »Wie lange bin ich schon hier?« »Drei Tage.« Da explodierte Premysl fast. Drei Tage, und keiner wußte, was ihm fehlte. Die Ärztin zog es vor, das Gespräch zu beenden. Sie bat Rezek um Vertrauen und versicherte ihm, daß man schon einiges über seinen Zustand herausgefunden hätte. »Wie lange dauert es, bis ich gesund bin?« »Die Antwort ist schwierig.« »Sie müssen doch dem Club sagen, wann ich wieder aufs Eis kann. Waren die schon hier?« »Dafür haben Sie noch Zeit genug - zur Bestimmung des genauen Termins. Jetzt sind wir zuerst mal froh, daß wir Sie aus dem Schlimmsten herausbekommen haben.« Doch damit gab sich Rezek nicht zufrieden. Er stellte anklagend fest, daß alle hier anscheinend zuviel Zeit hätten. Dr. Kralova reagierte ruhig und sachlich. Sie bat Rezek, einzuschlafen und sich nicht aufzuregen. Er fragte noch barsch nach ihrem Namen und bedankte sich in einem Ton, der schon fast beleidigend klang. Die Ärztin ging hinaus und bemerkte Alzbeta, die offensichtlich von dem Gespräch einiges mitbekommen hatte. Sie schloß die Tür hinter sich und fragte Alzbeta nach ihrer Meinung in diesem Fall. •
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Alzbeta schüttelte entgeistert den Kopf. »Er ist gerade von den Toten auferstanden, und schon denkt er an Eishockey!« »Das ist ganz normal!« »Aber der ist doch nicht dumm, er weiß bestimmt einiges oder ahnt zumindest etwas.« »Dumm ist er nicht, aber von sich höchst überzeugt und erbittert, daß es seiner Ansicht nach nicht weitergeht«, urteilte resolut Dana Kralova. »Da staune ich. So einen eingebildeten Burschen habe ich noch nie erlebt.« »Um so schwieriger wird es für ihn sein, sich mit den Gegebenheiten abfinden zu müssen.« Ein japanischer Sportwagen hielt vor der großzügigen Sporthalle an. Der Fahrer, Dr. Arnost Blazej, knipste das Licht aus, schaltete den Motor ab und sagte zu seiner Mitfahrerin Alzbeta: »Also, hier ist das berühmte gymnastische Paradies, unsere örtliche Turnhalle.« Alzbeta bedankte sich fürs Mitnehmen und für alles andere. Dr. Blazej fragte verwundert, was >alles andere< denn bedeute. Ernst antwortete Alzbeta: »Für alles, was Sie heute für mich getan haben.« »Ich habe heute für Sie etwas getan?« »Vielleicht ist es Ihnen nicht bewußt, aber ich kam mir heute wie auf einem anderen Stern vor. Die Art und Weise, wie Sie mit den Kindern umgegangen sind, würde ich selbst gerne irgendwann einmal nur annähernd so gut hinkriegen.« Erstaunt und gleichzeitig amüsiert hörte der junge Arzt zu. »Sie wissen vielleicht nicht, wie gut Sie auf die Mütter wirken, daß sie beruhigt und getröstet aus der Sprechstunde hinausgehen. Ich war heute auf Sie richtig stolz...« Ihre Stimme war so voll ehrlicher Bewunderung, daß es Arnost Blazej anrührte. Er nahm ihre Hand und küßte sie. Eine solche Liebeserklärung hatte ihm noch niemand gemacht. Flugs wanderte er von der Hand zum Gesicht über und küßte sie auf die Wange. Alzbeta setzte gerade zu einer Erklärung an: »Mißverstehen Sie meine Hochschätzung nicht, es ist nur so...« Weiter kam sie nicht, denn Arnost umarmte sie fest und küßte sie stürmisch auf den Mund. Als sie sich endlich befreien konnte, funkelte sie ihn zugleich enttäuscht als auch wütend an. »Ich bitte Sie, tun Sie das nie wieder. So habe ich das wirklich 43
nicht gemeint.« Arnost lachte vergnügt: »Aber es ist doch schön, oder? Wir sind beide allein, mögen uns und könnten uns gegenseitig eine Menge feiner Sachen bieten.« Alzbeta rückte so weit wie möglich von ihm ab und sagte traurig: »Ich habe mit Ihnen über etwas ganz anderes gesprochen.« »Ich weiß, und das war prima von Ihnen. Aber das, was ich Ihnen anbiete, ist noch viel besser.« Alzbeta machte eine unwillige Handbewegung, die Arnost in seiner Begründung noch eifriger werden ließ. »Was haben Sie um Gottes willen dagegen? Haben Sie jemanden in Prag, jemanden, dem Sie ewige Treue bis ins Grab geschworen haben oder was sonst?« Alzbeta schüttelte verneinend den Kopf, und Arnost fuhr gekränkt fort: »Also dann kann ich es überhaupt nicht begreifen. Es sei denn, Sie wären eine alte Jungfrau. Aber so alt sind Sie doch nicht.« »Und Jungfrau auch nicht. Aber das hier gefällt mir trotzdem nicht.« Dr. Blazej wurde immer unwilliger und lauter. Er wollte es einfach nicht begreifen. Mit leiser Stimme versuchte Alzbeta ihn zu beruhigen. »Ich dachte, daß es auch ohne das Eine geht.« »Selbstverständlich geht das. Warum auch nicht? Aber es ist ewig schade.« Alzbeta öffnete die Wagentür und verabschiedete sich mit einem bedrückten: »Also dann auf Wiedersehen.« Sie spürte, daß sie bald anfangen würde zu weinen. Sie stieg aus dem Auto, und der Doktor schickte ihr noch ein knappes »Gute Nacht« hinterher. Seine Augen jedoch verrieten ehrliche Bewunderung. Er war ein guter Verlierer. Da bemerkte er, daß von der anderen Seite Schwester Ina auf den Eingang der Turnhalle zuging. Er zögerte nicht, ließ den Wagen an und fuhr auf Ina so schnell zu, daß das Mädchen instinktiv zur Seite sprang. Lachend rief ihr Dr. Blazej zu: »Haben Sie etwa vor mir Angst, Inachen?« Erleichtert erkannte sie ihn und grüßte ihn zurückhaltend. Dr. Blazej war bestrebt, seine Chance zu nutzen. »Guten Abend. Wo wollten Sie denn hin, bevor ich Sie fast überfahren hätte?« »Hierher, zur Gymnastik.« Arnost sprang aus dem Wagen und rief theatralisch: »Ich werde noch trübsinnig. Alle Frauen aus ganz Bor rennen 44
heute zur Gymnastik.« »Wer noch?« Der Doktor zögerte einen Moment. »Alle, sogar meine Frau überlegte, ob sie mitmachen soll.« Dann erzählte er ihr, daß seine Frau ihn heute im Krankenhaus besucht habe. »Aber eigentlich wollte sie nicht mich, sondern Sie sehen«, grinste Arnost. »Sie scheinen eine große Gefahr für sie zu bedeuten.« Inas Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Weshalb das? »Das ist doch klar. Weil Sie mir gefährlich werden können«, klärte Dr. Blazej sie augenzwinkernd auf. Darauf gab die junge Krankenschwester keine Antwort mehr. Der Arzt begriff, daß er zurückhaltender agieren mußte, wenn er etwas erreichen wollte. Er bat Ina, doch mit ihm ein Gläschen Wein zu trinken. Doch sie lehnte ab, die Gymnastik sei ihr wichtiger. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie mich einsam und allein in die dunkle Nacht schicken wollen?« Ina lächelte erheitert, schaute ihm ruhig in die Augen und stieg ohne ein weiteres Wort in sein Auto ein. Dr. Sova schaute auf die Uhr und meinte zu dem wartenden Neuro-Chirurgen Dr. Kuthan, daß es höchste Zeit sei. In dem Augenblick klingelte das Telefon und Dr. Sova hob ab. Mit öliger Stimme meldete sich Krankenhaus-Direktor Pekar. Dr. Sova grüßte kurz, ohne sonderliche Wärme. »Soeben hat mich der Bürgermeister angerufen und sich nach dem Gesundheitszustand von Premysl Rezek erkundigt. Hier im Krankenhaus soll man ihm die Antwort verweigert haben. Wer war das?« »Das war ich«, gab der Chefarzt ruhig zu. »Sie kamen gerade, als er aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwachte. In einer solchen Situation geben wir keine Informationen.« Der Direktor versuchte ihm klarzumachen, daß dies doch ein besonderer Fall sei. Doch für Dr. Sova existierte in diesem Zusammenhang der Begriff »besonders« nicht. Beide Männer sprachen ruhig und korrekt miteinander, es war aber nicht zu überhören, daß es beide einige Anstrengungen kostete. »Für den Patienten interessiert sich nicht nur das Publikum, sondern auch die zuständigen Politiker aus Stadt und Kreis wollen Näheres wissen.« Dr. Sova bat den Direktor, seinen Standpunkt den Leuten weiterzugeben. Direktor Pekar beharrte jedoch darauf, daß das Sache des Chefarztes sei, die sofort zu erfolgen habe. Dr. Sova erklärte ihm, daß das im Moment ausgeschlossen sei. Gereizt fuhr ihn der 45
Direktor an: »Die Leute warten sehr ungeduldig.« »Auf uns wartet gerade jener Premysl Rezek und der Kreis-Neurochirurg Dr. Kuthan aus dem Kreiskrankenhaus, damit wir endlich mit der ersten von einer Reihe von Operationen beginnen können.« »Die paar Minuten können doch die Behandlung nicht beeinflussen.« »Das nicht. Aber Sie wissen selbst, daß wir vor jeder Operation grundsätzlich keine Informationen oder Prognosen gewähren.« Die Antwort des Direktors lautete nun gar nicht mehr zuckersüß. »An Ihrer Stelle, Herr Chefarzt, wäre ich nicht so kompromißlos. Sie lehnen es ab, mit denjenigen zu sprechen, die verschiedene Wünsche von Ihnen beeinflussen können.« »Welche Wünsche?« »Glauben Sie, daß jemand, der kurz vor der Pensionierung steht, von keinem mehr abhängig ist? Auf Wiedersehen!« Der Direktor legte befriedigt auf. Dem hatte er es gezeigt. Das wurde auch Dr. Sova bewußt, als er langsam den Hörer auflegte. Als ihn Dr. Kuthan fragte, ob es wieder einmal Schwierigkeiten mit dem Direktor geben würde, nickte Dr. Sova bedrückt. Doch dann straffte er sich, und zusammen verließen sie das Zimmer. Der Patient war wichtiger. Premysl Rezek entging es nicht, daß durch den Hauptgang zwei Krankenpfleger auf ihn zusteuerten. Es war ihm klar, daß er abgeholt würde. Und tatsächlich, sie hielten an seinem Bett an und einer der Pfleger, ein älterer und recht gesprächiger Mann, begrüßte Rezek: »So, junger Mann, jetzt fahren wir Sie ein bißchen spazieren.« »Wohin denn?« »Na, wohin wohl? Zu den >Grünen< in den Operationssaal.« Mißtrauisch sah Rezek zu, wie er sorgfältig von den Geräten und der künstlichen Ernährung abgekoppelt wurde. Der diensthabende Arzt überwachte die ganze Prozedur aufmerksam, und Rezek wurde immer nervöser. »Wäre es nicht angebracht, mir zu erklären, was man mit mir vorhat? Vielleicht bin ich damit nicht einverstanden.« Der Arzt tauschte mit den Pflegern einen unsicheren Blick, doch bevor er etwas sagen konnte, wies der alte Pfleger Premysl zurecht: »Sei froh, mein Freund, daß du überhaupt soweit gekommen bist. Du warst schon mehrmals mit einem Bein im Jenseits. Und jetzt halte die Leute nicht bei der Arbeit auf.« Dann beachtete er 46
Rezek nicht mehr und meldete dem Arzt, daß man soweit sei. Rezek wurde durch einen langen weißen Gang gefahren, und der alte Pfleger pfiff einen fröhlichen Walzer. Rezek schaute auf die Decke, sah die vorbeiziehenden Neonlampen und fühlte sich hoffnungslos verloren. So kamen sie zum grünen Bereich. Die weißgekleideten Pfleger übergaben Premysl den »Grünen«, und gleich der erste »Grüne« - ein sehr junger Pfleger - rief begeistert: »Herr Rezek, herzlich willkommen, doch wie sollen wir in Pilsen gewinnen - ohne Sie?« Für den Patienten gab es allerdings in diesem Augenblick nichts, was ihn weniger interessieren würde. Er wollte nur mit dem Arzt sprechen. Der »Grüne« war einverstanden. »Aber gewiß, na klar, hier ist eine ganze Doktoren-Schar für Sie angetreten. Wer soll eigentlich nun die Mitte spielen?« Sie fuhren in den Vorraum des Operationssaals. Dort wollten sie beginnen, Rezek auf die Operation vorzubereiten. Doch er weigerte sich, irgend etwas mit sich machen zu lassen, bevor er nicht mit dem Arzt gesprochen hatte. Da sprach der alte Pfleger enttäuscht: »Mein Freund, ich dachte, nach dem, was du auf dem Eis veranstaltest und wie du zuschlagen kannst, bist du ...« Trotz seiner Hilflosigkeit brüllte Premysl: »Also los, wird's bald!?!« Das war deutlich genug, und eine der Schwestern lief sofort in den Waschraum, in dem sich die Ärzte schon präparierten. Dr. Sova trat zusammen mit Dozent Dr. Kuthan an Rezeks Bett. »Sie möchten uns sprechen?« Der junge Mann wandte ihnen seinen Blick zu und fragte eindringlich, was man mit ihm vorhabe. Der Chefarzt antwortete ihm ehrlich, daß man eine Impression in der Stirngegend korrigieren muß. Auf die Frage von Rezek, was eine Impression sei, erklärte ihm Sova, daß der Autounfall eine Eindellung an der Innenfläche des Schädels verursacht habe. Premysl war verzweifelt. »Aber warum sagt mir davon keiner was? Ich habe doch allein das Recht, zu entscheiden, ob ich die Operation erlaube oder nicht.« Dr. Kuthan versuchte ihn zu beruhigen. »Mein Junge, was sollten wir da noch fragen? Der Kopf muß doch auf jeden Fall funktionieren, oder?« Rezek beobachtete ihn, als ob er aus seinen Worten etwas Verdächtiges herauslesen könnte. »Auch wenn mir nichts weh tut?« »Das ist nicht wesentlich, reparieren müssen wir das in jedem Fall.« Dr. Sova wurde nun kurz und bündig: »Noch eine Frage? Wir 47
haben nicht so viel Zeit.« Premysl wollte eigentlich noch wissen, ob die Operation gefährlich sei. Doch er unterließ es, weil er sich für diese Frage schämte. Dr. Sova gab dem Personal ein Zeichen, daß es die Vorbereitungsarbeiten fortsetzen solle. Jeder gehorchte stillschweigend, und Rezek blieb für eine Weile allein. Das Gespräch hatte ihn keineswegs befriedigt, und unruhig schweifte sein Blick durch den Raum - bis er auf Alzbeta fiel. Sie stand ungefähr vier Schritte von ihm entfernt und hatte das erfolgte Gespräch mitangehört. Mitleidig betrachtete sie den jungen Mann. Da flüsterte er ganz leise: »Bitte, hören Sie mich?« Alzbeta vergewisserte sich, daß sie gemeint war und trat näher an das Bett heran. »Ich ... ich kenne hier absolut niemanden ... und ich glaube niemandem ...« und dann ging sein Flüstern in ein kaum hörbares Hauchen über: »Glauben Sie, daß ich hier lebend rauskomme?« Alzbeta empfand größtes Mitgefühl mit Premysl Rezek und antwortete ihm so zuversichtlich, wie es nur möglich war: »Ich bin davon fest und absolut überzeugt.« Premysls Blick heftete sich so flehend auf ihr Gesicht, als ob er von dort sein endgültiges Urteil erfahren würde. »Aber mich kennen Sie doch auch nicht und glauben mir sicher ebensowenig«, setzte Alzbeta noch hilflos hinzu. »Ich kenne Sie zwar nicht, aber ...« Der Satz blieb unvollendet, denn Rezek wurde nun in den Operationssaal gefahren. Alzbeta bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln zum Abschied, und Premysl hielt so lang wie möglich an diesem Lächeln fest.
3. KAPITEL Eines Tages tauchte Karel unangemeldet in Bor auf. Er fuhr direkt zu seinem Vater in die Klinik. Dr. Sova empfing ihn zwar freundlich, war aber nichtsdestotrotz beunruhigt. »Hast du hier in der Gegend zu tun, daß du so überraschend hier reinschneist?« »Nein, ich habe hier nichts zu tun, Vater.« »Du kommst also extra zu mir?« Der Sohn nickte und antwortete zögernd: »Ja und nein.« Sein Vater schaute ihn scharf an. »Hat dein Kommen etwas mit deinem Chefarzt zu tun?« Wieder nickte Karel und platzte dann 48
damit heraus, daß dem, also seinem Chefarzt, bei einer Operation ein Mißgeschick passiert sei. »Er hatte ein Hüftgelenk operiert. In der Nacht darauf ging es dem Patienten immer schlechter. Ich hatte gerade Dienst und entschied mich sofort für eine Reoperation. Und stell dir vor, irgend jemand hat da eine Arterie verletzt, so daß der Patient innen blutete und keiner merkte das. Ich habe das natürlich auf der Stelle in Ordnung gebracht.« »Na und?« fragte der Vater. »Na ja, dann hieß es, wieso ich ihn nicht gerufen hätte. Ich versuchte ihm vergeblich zu erklären, daß ich Angst hatte, der Patient stirbt. Nun fühlt er sich erniedrigt oder verletzt, daß ich seine Autorität angetastet hätte. Du kennst das schon.« Dr. Sova überlegte kurz und fragte dann, ob daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen würden. »Offiziell nein, aber ich glaube ihm nicht einmal seinen Vornamen.« Sein Vater versuchte ihn zu beruhigen. Er hätte doch nur seine Pflicht getan und das sicherlich mit maximal möglicher Sorgfalt. Doch da explodierte Karel schon. »Aber Vater, sei doch nicht naiv. Wenn er will, kann er mir etwas anhängen, wann immer er dazu Lust hat. Beim Zusammennähen einer Wunde rutscht mir vielleicht der Faden aus der Nadel, und das, was bei jedem eine Lappalie ist, wird bei mir zur groben Fahrlässigkeit.« Der alte Sova schüttelte bekümmert den Kopf und konnte es einfach nicht glauben. Doch Karel blieb bei seinem Standpunkt: »Diesem starrsinnigen Greis widerfährt bald noch eine größere Katastrophe. Da bin ich mir sicher.« Daraufhin stutzte Karel und murmelte: »Entschuldigung.« Dr. Sova ignorierte das, denn er spürte, daß sich sein Sohn bereits zu irgend etwas entschieden hatte. Und tatsächlich. Karel machte ihm die Eröffnung, daß er dort nicht länger bliebe. Erschrocken sah ihn sein Vater an. »Aber wohin denn?« »In ein anderes Krankenhaus.« »In einer Klinik wirst du schwer einen Platz finden.« »Ich pfeife auf eine Klinik, ich möchte nur Arbeit.« Dr. Sova erhob sich. Er gab seinem Sohn im Prinzip recht, doch trotzdem fand er die Entwicklung mehr als schade. »Das heißt, daß du jetzt mit 35, in der besten Zeit eines Chirurgen, vielleicht eine Stelle annehmen mußt, die eine Stufe niedriger liegt. Dein Chefarzt weiß doch ganz genau, daß du einer der Besten bist, den er dort hat. Wenn nicht gar der Beste.« 49
»Dem ist das doch völlig egal.« »Ihm vielleicht, aber dir darf es doch nicht egal sein. Du hast die Pflicht, das, was du kannst, zu verteidigen ...« Karel konnte sich nicht mehr zurückhalten und schrie sich alles von der Seele. Er wollte, daß ihn sein Vater verstünde, daß es eine Beleidigung wäre, das zu verteidigen, was man nach bestem Wissen und Gewissen gerettet hat. Er hatte doch keinen Fehler begangen - er doch nicht! Und er sollte sich verteidigen? Dr. Sova versuchte, seinem Sohn noch einmal leise zu erklären, wie er das sähe. Es wäre doch kein Argument, daß man Arbeit negativ nach Alter bemessen würde. Es gäbe Sechzigjährige, die eine ruhigere Hand hätten als ein Dreißigjähriger. Karel zuckte mit den Schultern. »Ich dachte immer, daß ich es dort vielleicht zehn Jahre aushalten würde, aber jetzt ist nicht einmal die nächste Stunde sicher.« Sein Vater schwieg. Die offenen Worte seines Sohnes beraubten ihn der Sprache. Dann bat er Karel, es seinetwegen noch einmal zu versuchen. Dieses Ansinnen brachte Karel jedoch endgültig auf. Karel seufzte resigniert: »Also, das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Was konnte ich Idiot anderes erwarten. Also, mach's gut! Und schönen Gruß an Emma!« »Was soll ich ihr denn ausrichten?« »Lieber nichts... oder sag ihr, daß ich immer noch der kleine Junge bin, der sich mit den edlen und absolut an der Wahrheit vorbeigehenden Worten seines Vaters umdrehen läßt. Tschüs.« Dr. Sova atmete erleichtert auf und versprach, Emma das auszurichten. Die Tür zum Ärztezimmer öffnete sich und im schmalen Spalt tauchte das gutaussehende intelligente Gesicht eines etwa 25jährigen Mannes auf. Er grüßte höflich, entschuldigte sich für die Störung und fragte nach seiner Mutter. Lediglich Alzbeta saß an einer Schreibmaschine und fragte lächelnd, um welche Mutter es denn ginge. »Ach, natürlich, entschuldigen Sie. Das ist Frau Jachymova, die Oberschwester.« In diesem Augenblick kam Dr. Strosmajer vom Flur ins Zimmer herein: »Servus, Roman, dein Mütterchen donnert gerade das ihr unterstellte Personal zusammen. Du könntest sozial tätig sein und die erlösen.« Der junge Mann grinste und verabschiedete sich höflich, besonders von Alzbeta. Dr. Strosmajer machte die Tür hinter Roman zu 50
und verkündete in theatralischem Ton: »Unsere Kantine hat eine Speisenauswahl, daß ich denen am liebsten einen Groschen schenken würde, damit sie den Laden dichtmachen und etwas Nützlicheres schaffen.« Alzbeta interessierte im Moment mehr der junge Mann und fragte Dr. Strosmajer nach ihm aus. Dr. Strosmajer beschrieb ihn bereitwillig als braven Jungen, der sich schon ungefähr hundertmal um einen Platz für ein Medizinstudium vergeblich bemüht hatte. Deshalb führe er heute Krankenwagen. »Aber passen Sie auf!« Dr. Strosmajer erhob seinen Zeigefinger, »hier haben schon einige Ärztinnen Krankenwagenfahrer geheiratet.« »Na und?« »Und nichts. Es klappt bei denen ganz gut. Wenn man über eine Ehe, in die man selbst nicht verwickelt ist, sagen kann, daß sie klappt.« Alzbeta hatte Gefallen an dem Thema. Sie wollte vor allem wissen, ob es vorgekommen sei, daß männliche Kollegen jemanden aus dem ihnen unterstellten Personal geheiratet hätten. Dr. Strosmajer überlegte und war selbst überrascht, daß das noch nicht oft vorgekommen war. »Also, wir Ärztinnen sind demokratischer als ihr Männer«, stellte Alzbeta fest. Der Doktor räkelte sich auf dem Sofa. »Ich bitte Sie, was wollen Sie im Krankenhaus mit Demokratie? Hier ist es wie beim Militär. Sie werden schon sehen, wie demokratisch unser Alter ist, wenn wir bei der Besprechung über die vergangenen Operationen und die gegenwärtigen Pannen diskutieren werden.« Diese Voraussage traf zumindest auf den Tag nicht im geringsten zu. Der Chefarzt begrüßte alle mit einem freundlichen Lächeln und ließ sogar eine bei ihm ungewöhnliche Bemerkung über das schöne Wetter fallen. Alle guckten sich überrascht an, denn über das Wetter hatte der Chefarzt nicht gesprochen, solange sie sich erinnern konnten. Und nicht damit genug. Dr. Sova erzählte, daß in einer Dachrinne des Krankenhauses die Schwalben ihr Nest gebaut hatten. Das provozierte Dr. Arnost Blazej zu der treffenden Bemerkung: »Täubchen fliegen auch hier herum - vor allem beim Kollegen Strosmajer.« Alle außer Schwester Jachymova fingen an zu lachen, merkwürdigerweise auch Dr. Sova. Nur Dr. Strosmajer knurrte ganz leise: »Paß nur auf, daß nicht eines der Täubchen etwas auf deinen Kopf fallen läßt.« 51
Dr. Sova schwenkte nun aufs Sachliche um. Er machte die Anwesenden mit dem Programm der nächsten Operationen bekannt. Als erstes konnte man nach der gründlichen Untersuchung der Internisten mit der endgültigen Behandlung von Premysl Rezek beginnen. Es sollte mit den Ellenbogen losgehen. Dr. Sova griff nach dem Röntgenbild und hielt es gegen das Licht. Er erklärte seinen Kollegen, die eigentlich über den Fall bestens informiert waren, daß es sich um einen abgesplitterten Teil der Elle handelte. Nach verschiedenen Überlegungen war Dr. Sova zu dem Schluß gekommen, daß eine Operation nicht erforderlich wäre. »Wenn wir den gesamten Ellbogen eingipsen, dann müßten wir das gleiche Ergebnis erzielen. Darüber hinaus ersparen wir dem Patienten eine Operation. Es ist erforderlich, daß wir ihn sehr schonend behandeln. Es warten auf ihn noch genug schlimme Sachen.« Dr. Sova blickte prüfend in die Runde, ob jemand etwas dagegen hatte. Dr. Blazej meldete sich, fast so wie in der Schule: »Ich möchte Sie, Herr Chefarzt, darauf aufmerksam machen, daß die ganze Sache schon 23 Tage alt ist, daß sich in dem Ellbogen funktionale Änderungen ergeben konnten und daß ...« Dr. Sova unterbrach ihn mitten im Reden und machte ihm klar, daß der Ellbogen in angezogenem Zustand eingegipst werden muß. Und das hieß Narkose. »Aber wenn schon Narkose, dann ist doch ein direkter Eingriff besser. Und eine Cerclage ist die einzig mögliche Art, wie man die Sache durchführen kann«, meinte Dr. Blazej, nahm das Röntgenbild in die Hand und führte es anschaulich vor. Nur zwei Drähte müßten länglich eingeführt werden - und dann säße die Sache fest. Der Chefarzt ließ ihn zu Ende reden. Er war nicht überrascht, daß Dr. Blazej mit dieser Lösungsalternative kam. Doch Arnost reagierte mehr als schlagfertig: »Und mir war klar, daß Sie mit dem Gips kommen würden.« Es war der übliche Meinungsaustausch, der sicher nicht der erste und sicherlich nicht der letzte zwischen den beiden war. Für den Standpunkt von Dr. Blazej hatte Dr. Sova nach wie vor kein Verständnis. Das Einführen von Drähten und Nägeln könnte er nur dann bejahen, wenn es unumgänglich wäre. Denn nach Dr. Blazejs Methode würden den Patienten zwei Operationen erwarten, eine beim Einlegen der Drähte und eine zweite, wenn diese herausgezogen werden müßten. Doch Dr. Blazejs Antwort erfolgte sofort: »Nach Ihrer Methode sind es ja auch zwei Operationen.« »Wieso zwei?« 52
»Die erste, die Sie nicht Operation nennen, in Wirklichkeit aber eine ist. Und die zweite, wenn sich eine Pseudoarthrose bildet, die wir dann operieren müssen.« Beide redeten immer noch so ruhig, als ob es nicht um einen Menschen, sondern um eine Sache ginge. Allerdings machte es Arnost doch langsam Mühe, den Ton zu halten. »Also Ihre Vermutung mit der Pseudoarthrose scheint mir nicht sicher«, wehrte der Chefarzt ab. »Aber ich bin sicher.« »Eine interessante Meinung. Ich bitte die Herren Kollegen, sich dazu zu äußern - alle.« Er wandte sich an Dr. Strosmajer, der aber zögerte noch. Dafür meldete sich Dr. Cvach: »Ich denke, daß es hier um eine typische Kontroverse zwischen der konservativen und der modernen Auffassung geht, wobei die Beschreibung konservativ und modern irreführend ist. Es ist aus verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen bekannt...« Dr. Strosmajer verdrehte seine Augen und Dr. Blazej murrte, daß Schulungen wirklich ausreichend vorhanden waren. Dr. Cvach schluckte, setzte dann aber unbeirrt fort: »Ich meine also, daß wir die Methode vorziehen sollten, bei der der Patient...« Da schnauzte ihn Dr. Blazej an: »Also Gips oder Draht?« »Gips.« Dr. Blazej schüttelte den Kopf, dann wandten sich alle Augen zu Dr. Strosmajer. »Also, das soll doch derjenige entscheiden, der das machen wird. Jede der Methoden hat ihre Vor- und Nachteile und derjenige, der den Ellbogen operieren wird, sollte das Gefühl haben, daß er die beste Methode anwendet.« »Das heißt, daß Sie im Kampf zwischen den Konservativen und den Modernisten ein Neutraler sind?« versuchte ihn der Chefarzt zu entlarven. Dr. Strosmajer bejahte, doch das gefiel Arnost noch weniger. Was würde hier neutral heißen? Er wollte wissen, wie Dr. Strosmajer operieren würde. Dr. Strosmajer zögerte kurz, dann gab er eine direkte Antwort: »Ich würde die Drähte reinbasteln.« Dr. Blazej schrie siegessicher auf. Das war endlich eine klare, fortschrittliche Antwort. Der Chefarzt blieb weiter ruhig. Es schien, als ob ihm die verschiedenen Meinungen immer mehr Spaß machen würden. Er bat nun die Kollegin Cenkova um ihre Stellungnahme. Alzbeta lief rot an vor Verlegenheit und stotterte, daß es wegen ihrer geringen Fachkenntnisse doch keinen Sinn 53
hatte, in die Diskussion einzugreifen. Dr. Sova korrigierte Alzbeta sanft: »Wir führen hier keine Diskussion, wir führen hier lediglich ein Gespräch. Ein Gespräch ist nämlich viel wertvoller als eine Diskussion, weil es in einer Diskussion nur darum geht, den anderen zu überzeugen, während man in einem Gespräch etwas erfahren möchte. Also sagen Sie etwas.« Also begann Alzbeta verlegen: »Ich ... ich glaube auch, daß man dort eine Cerclage bilden sollte. Vor allem deshalb, weil den Patienten noch weitere Operationen am Bein erwarten, die ziemlich rasch nacheinander erfolgen sollten.« Der Chefarzt wollte wissen, ob also nach Meinung von Alzbeta die Drähte die Heilung beschleunigen könnten. Doch Dr. Blazej dauerte das alles zu lang. Lautstark unterstützte er Alzbetas Aussage. Der Chefarzt schwieg, bis alle anderen ebenfalls still wurden. Dann bedankte sich Dr. Sova höflich für die Beiträge seiner Kollegen und schloß sich der Meinung Dr. Strosmajers an. Verwundert fragte Dr. Blazej: »Sie stimmen mit ihm überein?« »Ja, darin, daß in jedem Fall der Operierende die Entscheidung übernehmen sollte.« »Ja, gut - aber wer wird operieren?« In aller Ruhe machte der Chefarzt deutlich, daß er selbst die Ellbogenoperation auszuführen gedenke. Dr. Strosmajer brachte das zum Lachen, während Dr. Blazej vor Wut kochte. Als ihn Dr. Sova fragte, ob er irgendwelche Einwände hätte, wurde Dr. Blazej barsch: »Ich teile nur Ihre Meinung nicht, daß ein Gespräch wertvoller ist als eine Diskussion, denn in einem solchen Falle ist alles absolut wertlos.« »Das erscheint Ihnen vielleicht jetzt so«, korrigierte ihn der Chefarzt, »aber wenn Sie einmal Chefarzt werden sollten, werden Sie solche Gespräche ebenfalls führen.« »Ich befürchte«, antwortete Dr. Blazej kalt, »daß, bevor es hier zu einem Chefarztwechsel kommt, mir schon alles egal sein wird.« Das klang wie eine bittere Anklage. Man merkte es den Gesichtern aller Anwesenden an, einschließlich Dr. Sova. Obwohl er das noch am besten verbergen konnte. Als Arnost Blazej am selben Abend mit seinem Auto zu Hause in die Garage fahren wollte, hielt hinter ihm eine schwarze Limousine, der ein dickleibiger Mann entstieg. Er trug einen eleganten 54
dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd und einer buntfarbenen Krawatte. Als er Dr. Blazej bemerkte, rief er ihm herzlich zu: »Grüß dich, Schwiegersohn. Wir wohnen zwar im selben Haus, aber sehen tun wir uns alle heiligen Zeiten einmal.« Dr. Blazej mochte ihn sehr, diesen munteren Knaben, der immer nur mit einer vollgepackten Aktentasche zu sehen war. Er grüßte seinen Schwiegervater ebenfalls und meinte nur, daß man sich deshalb so selten begegnen würde, weil jeder so viel zu tun habe. Arnost wollte sich wieder in sein Auto setzen und in die Garage hineinfahren, doch wurde er von seinem Schwiegervater aufgehalten. Er würde ihn in die Garage hineinschieben, da es sich - wie er meinte - nicht mehr lohnte, den Motor noch mal anzulassen. Arnost wollte ihm eigentlich abraten, denn sein Schwiegervater war nicht mehr der Jüngste. Doch widerspruchslos setzte er sich wieder an das Lenkrad und sein Schwiegervater schob ihn keuchend in die Garage. »Na, schon haben wir es geschafft. Du dachtest wohl, daß meine Knochen am Direktoren-Schreibtisch weich geworden sind, was? Hab' keine Angst, der alte Kovanda gibt nicht so leicht auf.« »Auch für Direktoren gelten die biologischen Gesetze«, entgegnete ihm Arnost. »Ja, ja, deine Gesetze kannst du dir an den Hut stecken. Für mich existiert so was nicht!« Er lachte abermals herzlich. »Das ist auch die Ansicht meiner Stellvertreter, die meinen, daß meine Zeit langsam abgelaufen wäre, und ich mich endlich zur Ruhe setzen sollte.« Dr. Blazej fragte, ob er in seinem Büro tatsächlich so tun würde, als ob es keine Naturgesetze gäbe. »Ach, über die im Büro kann ich nur lachen«, entgegnete ihm sein Schwiegervater resolut. Noch im Gespräch betrachten beide das Treppenhaus mit einer nicht besonders schönen Treppe aus hellem Holz. Der Schwiegervater verabschiedete sich von Arnost, indem er ihm kräftig auf die Schulter schlug und ihn aufforderte, irgendwann mal zu einem Gläschen Schnaps runterzukommen. Arnost sagte bereitwillig zu. Dann ging er nach oben, wo in einem weiten Flur alte Truhen, Kommoden, venezianische Spiegel und sonstige Antiquitäten zu bewundern waren. Auch der Telefonapparat war auf antik gemacht. Im selben Augenblick, als Arnost die Etage betrat, bimmelte es. Dr. Blazej hob ab und hörte schweigend zu. Er telefonierte noch, als in der Tür seine Frau erschien. Er nickte ihr zu, und sie antwortete ebenfalls nur mit einer leichten Kopfbewegung. »Nein, das hat keinen Zweck«, rief er jetzt ins Telefon. »Ich habe 55
nichts zu überlegen. Ich schau' zwar immer, ob ich nicht doch mal über ein Paket voller Geld stolpere, aber da mir das bisher noch nie passiert ist, glaube ich nicht... wie du willst... Tschüs!« Er legte den Hörer auf und drückte seiner ihm Angetrauten pflichtgemäß einen Kuß auf die Wange. Neugierig wollte sie wissen, wer da eben angerufen hatte. Irgendein Typ, der ihm einen Honda-Wagen verkaufen wollte, wich Arnost aus. Er ging ins Bad und begann sich auszuziehen. Seine Frau beobachtete ihn eine Weile und bohrte dann weiter: »Ist das etwa der Wagen, in dem du letzte Woche mit einer Frau gesehen wurdest?« Arnost wusch sich bereits und antwortete ruhig: »Ja, das ist das Auto und es war die Frau, die dazugehörte. Aber es ist eine sehr teure Angelegenheit.« »Die Frau?« Arnost trocknete sich langsam und sorgfältig ab. Eigentlich hätte er sich die ganzen Erklärungen sparen können. Seine Frau ging zum Schein auf ein anderes Thema über und fragte ihn, ob er hungrig sei. Arnost bejahte und beide gingen in die Küche, deren Wände mit Zwiebelmuster geschmückt waren. Dr. Blazej öffnete eine Flasche Bier, und sie bereitete das Essen vor. Er fragte höflich nach den gemeinsamen beiden Kindern, die unten bei der Großmutter spielten. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen. »Also, du willst wirklich nicht wissen, was der Honda kosten würde?« »Nein, weil wir nicht einmal ein paar Hunderter in bar haben, geschweige denn einen teuren Wagen kaufen können.« »Vielleicht könnte uns jemand Geld borgen.« »Sag nicht >jemand Alkohol?« Dr. Sova ahnte nicht, auf was der Mann hinauswollte, und antwortete abwehrend: »Wollen Sie etwas Bestimmtes sagen?« »Na und ob! In meinen Ohren klang es nämlich so, als ob unser Doktor ein Saufkopp sei oder so was. Stimmt das?« »Ja, stimmt«, bestätigte Dr. Sova. »Aber das würde mich sehr in Rage versetzen. Ganz einfach aus dem Grund, weil er in den ganzen Monaten, die er hier ist, keinen einzigen Tropfen getrunken hat. Dafür kann ich meine Hand ins Feuer legen.« »Wie können Sie das wissen?« 101
»Mein lieber Herr, ich kutschiere ihn hier in den Bergen herum, und in jedem Haus werden Zwetschgen gebrannt. Wenn man da nicht mal probiert, hat man's bei den Leuten Verschissen. Und alle Ärzte, die ich vorher gekannt habe, die nahmen ruhig einen Schluck. Aber unser Doktor hat eine Abneigung dagegen oder so was Ähnliches.« Der alte Chefarzt seufzte, gab ihm recht und dachte im stillen: »Wenn es nur stimmen würde.« Zu Hause fragte Emma gespannt, wie das Ganze ausgegangen wäre. »Haben sie ihm Hanka weggenommen?« »Ja, sie ist weg.« »Und unser Karli? Trinkt er?« »Nein.« Die Haushälterin traute dem Braten nicht ganz und fragte den Chefarzt noch einmal, ob er das wirklich sicher wüßte. Dr. Sova beruhigte sie, und Emma bohrte weiter: »Und wie stellen Sie sich jetzt das Weitere vor?« Das war die Frage, die Dr. Sova belastete wie keine andere. »Das weiß ich nicht.« »Wieso wissen Sie das nicht?« schimpfte Emma. »Sie, der tagtäglich auf dem Operationstisch wichtigere Dinge entscheiden muß, können sich hier keinen Ruck geben?« Dr. Sova drehte sich zu Emma um und stammelte: »Emma, ich bitte Sie, quälen Sie mich nicht noch mehr als ich das schon selbst tue. Keiner ist mir wichtiger als er, und trotz alledem, was ich in diesem letzten Jahr für ihn tue, bin ich de facto ... handle ich de facto gegen ihn. Der Junge fällt vor meinen Augen immer tiefer in den Abgrund, und ich werde dazu geladen, ständig Zeuge eines weiteren Unheils zu sein. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich ihn da herausziehen kann...« Mit Tränen in den Augen versuchte Emma zu trösten: »Aber Sie haben doch gehört, daß er nicht mehr trinkt.« »Ja, das stimmt. Er ist nicht alkoholkrank, er ist nur von einer alles zerfressenden Skepsis besessen. Er glaubt, daß er am Ende ist, daß er niemandem glauben kann und daß ihm keiner hilft nicht einmal sein eigener Vater. Wie soll ich diese bösartige Geschwulst herausoperieren? Wie?« Der alte Dr. Sova war so verzweifelt wie noch nie in seinem Leben. Noch nie hatte er einen Zweiten in sein Inneres hineinschauen lassen. Emma starrte ihn an und fragte dann leise: warum Dr. Sova nicht mit seinem Sohn einmal so offen und deutlich sprechen könnte wie eben mit ihr. Doch Dr. Sova schüttelte den Kopf. 102
Das war undenkbar. Sie konnten so nicht miteinander umgehen. Eines Morgens wartete der Schwiegervater von Dr. Blazej auf seinen Schwiegersohn und überreichte ihm schweigend ein kleines Päckchen. Arnost verstand zunächst nicht, worum es ging. »Was ist da drin?« »Geld. Ich brauche nicht zu sagen, wieviel.« Arnost wurde blaß und wollte es einfach nicht glauben. »Ich will dir keine Predigt halten«, meinte der Schwiegervater, »das besorgen uns schon die Frauen, aber ein Versprechen möchte ich von dir trotzdem haben.« »Was für ein Versprechen?« »Daß du damit Schluß machst.« »Schon passiert.« Der Schwiegervater schaute Blazej prüfend in die Augen und fragte, ob dem wirklich so sei. Arnost beruhigte ihn, kam sich dabei jedoch wie ein kleiner Junge vor. Dann bedankte er sich überschwenglich: »Aber kein Wort davon zu Alena.« »Darum wollte ich dich auch bitten.« Alzbeta untersuchte gerade die Beinchen eines halbjährigen Mädchens, bewegte sehr aufmerksam die kleinen Hüftgelenke und beruhigte dann die Mutter. Es schien alles in Ordnung zu sein. In diesem Augenblick betrat Dr. Blazej das Zimmer. Alzbeta fragte ihn sofort nach seiner Meinung und zeigte dabei auf das Röntgenbild. Arnost schaute sich die Aufnahme an, blätterte in den früheren Befunden, die auf dem Tisch von Schwester Jaroslava ausgebreitet lagen, und nickte mit dem Kopf: »Ja, hervorragend verwachsen. Nun haben Sie Ruhe.« Erst jetzt atmete die Mutter erleichtert auf. Sie bedankte sich bei dem Arzt, zögerte dann einen Augenblick und dankte dann auch der Alzbeta. Glücklich nahm sie ihr Kind auf den Arm und ging aus dem Sprechzimmer hinaus. Dr. Blazej wartete, bis auch die Schwester weg war, und bat dann Alzbeta mit leiser Stimme um einen Gefallen. Sein Ton ließ sie jedoch aufhorchen. Was konnte er von ihr verlangen? »Könnten Sie dieses Päckchen Schwester Ina übergeben und ihr sagen, ich würde sie bitten, daß sie mir nicht mehr böse ist?« Verständnislos schaute die junge Ärztin ihn an. Warum gab es Dr. Blazej Ina nicht selbst? Sie hatte heute auch Dienst. Doch das wußte Dr. Blazej schon, und Alzbeta verstand nun überhaupt nichts mehr. 103
»Ich mache es gerne für Sie, aber...« Abrupt wurde sie von Dr. Blazej unterbrochen: »Bitte betrachen Sie das als Ausdruck meiner ungewöhnlichen Feigheit. Haben Sie vielen Dank.« Als Ina das Päckchen in Empfang nahm, wurde sie still und blaß. Sie bedankte sich bei Alzbeta, die sie in diesem Augenblick irgendwie erfreuen wollte, aber nicht wußte, wie. Dann bot sie ihr an, heute abend auf einen Sprung zu ihr zu kommen, wenn sie sich einsam fühlen sollte. Doch Ina lehnte sofort freundlich, doch bestimmt ab. Sie würde bestimmt keine Langeweile haben. Im selben Augenblick klopfte jemand an die Tür. Es dauerte einen Augenblick, dann betrat Roman Jachym den Raum. Er grüßte Ina und auch die Ärztin, die sich jedoch sofort verabschiedete. Roman war froh, daß er mit Ina alleine war. »Inachen, am Sonntag sind wir zur Kirmes eingeladen. Wollen Sie nicht mit mir kommen?« »Ich kann nicht. Ich fahre nach Hause.« »Ich werde ein Auto haben. Wir können auch zu Ihnen fahren.« »Ich kann nicht, seien Sie mir nicht böse«, sie stand auf und ging hinaus. Als sie den Raum bereits verlassen hatte, steckte die Hunkova ihren Kopf zum Türspalt des Nebenzimmers hinein: »Nimm doch mich mit, ich würde sofort mitfahren.« Der junge Mann zögerte ein wenig, fand aber sofort eine Ausrede: »Wahrscheinlich werde ich überhaupt nicht fahren.« Bevor er die Tür hinter sich zumachte, hörte er noch einmal die Hunkova: »Bei Ina brauchst du es erst gar nicht versuchen, das ist vergeblich.«
7. KAPITEL Alzbeta und Dr. Rehor betraten eines der zahlreichen Zimmer der Entbindungsstation, in dem vier junge Mütter lagen, eine von ihnen Dr. Dana Kralova. Alzbeta brachte ihr eine Bonbonniere, der Gefäßchirurg Rosen beide hatten ihre weiße Dienstkleidung an. Dr. Kralova wirkte ein wenig überrascht, freute sich aber riesig über den Besuch. »Liebe Dani«, fing Alzbeta feierlich an. »Wir wissen schon alles. 104
Tochter Elisa, Gewicht 3,5 kg, Größe 49 cm, herzliche Glückwünsche unsererseits... und diese Bonbonniere hier, die habe ich nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, von irgendeiner Patientin bekommen. Heute hat ausgerechnet keiner etwas gebracht. Diese Rosen hier, die sind auch nicht geklaut...« und sie wandte sich zu Dr. Rehor, »oder sind sie es etwa?« Dr. Rehor schüttelte leicht verlegen den Kopf und gratulierte ihr noch einmal persönlich. Dann fragte er, wie sie sich nun fühle - als Mutter einer Tochter. Dr. Kralova war sichtlich gerührt. »Ich danke euch, ihr seid so lieb zu mir. Ich, die das letzte Mal mit vierzehn Jahren geheult habe, würde jetzt am liebsten immer in Tränen ausbrechen. Ich weiß nicht, woher das kommt.« Alzbeta umarmte sie, gab ihr einen Kuß, Dr. Rehor dagegen, ein wenig Distanz wahrend, reichte ihr lediglich die Hand. »Wir schicken dir einen Psychologen, damit er dir das erklärt. Aber du hast uns immer noch nicht gesagt, was es für ein Gefühl ist.« »Am Anfang eigentlich unangenehm, und als sie mir Elisa zum erstenmal zeigten, hat mich noch nicht einmal diese urmütterliche Leidenschaft ergriffen. Aber jetzt, wenn die schon die Tür zum Säuglingszimmer aufmachen, glaube ich, daß ich in dem ganzen Wimmern ihre Stimme erkennen kann, und wenn man sie hierher zum Trinken bringt, dann... jetzt aber Schluß mit dem Verhör und gebt mir ein Taschentuch.« Da öffnete sich die Tür, und ein Wagen voll mit winzigen brüllenden Erdenbürgern wurde hineingefahren. Dr. Rehor verabschiedete sich sofort hastig, war aber auch sichtlich froh, daß er Dana in einer so guten Verfassung vorfand. Als er sich dann mit einem »Also auf Wiedersehen im OP-Saal«, verabschieden wollte, schnappte ihn Dr. Kralova am Zipfel seines weißen Kittels und bestand darauf, ihre Tochter zu zeigen. Der Doktor wand sich verlegen. »Ich wäre ungern dabei, wenn du hier in meiner Anwesenheit...« »Ist das die Möglichkeit, daß sich ein Arzt so ziert?« rief Dana empört, als eine ältere Schwester ihr schon ihr Kleines in die Arme drückte. »Das ist das bravste Mädel aus der ganzen Brut...« Alzbeta geriet beim Anblick des Babys ganz außer sich: »Also, das ist die lang ersehnte Elisa. Ist die aber schön!« »... und niedlich...«, schloß sich Dr. Rehor an. Dann gab auch die Krankenschwester eifrig ihren Kommentar dazu: » - und die prächtigen Augen, die hat sie vom Vater, nicht wahr? Frau Doktor?« 105
»Bestimmt«, antwortete Dr. Kralova, ohne mit den Augenbrauen zu zucken. »Sie müssen eine vorzügliche Beobachtungsgabe haben.« »Das geben uns schon die unzähligen Jahre der Praxis, das wissen Sie doch selbst«, bemerkte die Krankenschwester selbstsicher, und verteilte die weiteren Kinder an die Mütter, wobei sie es nicht unterließ, jeder irgend etwas Beschwichtigendes mitzuteilen. Dann fragte Alzbeta leise: »Wie kam sie denn auf den Vater? War schon jemand hier?« »Ich bitte dich, wer denn«, wandte Dana ein. »Das ist so ein Brauch hier, den Müttern immer zu erzählen, daß das Kind dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, das macht immer Freude. Schön, warum soll ich da widersprechen?« Dann entschied Dr. Rehor, nun wirklich gehen zu müssen, und verabschiedete sich von Dana. Sobald er draußen war, fragte Dana Alzbeta, ob es zwischen ihnen Fortschritte gäbe. »Na ja, so lala, eigentlich ganz gute...«, erklärte Alzbeta etwas verlegen, »auch wenn ich dir nicht sagen kann, daß mich, wie du sagen würdest, irgendeine Leidenschaft gepackt hätte.« »In meinem Fall habe ich aber von mütterlicher Leidenschaft gesprochen.« Alzbeta schaute sich noch einmal das Kind an und meinte ein wenig lakonisch: »Also die mütterliche Leidenschaft würde mich wahrscheinlich viel schneller packen.« »Zeit hast du genug - verteile sie.« Dann fragte Alzbeta verschwörerisch, ob sie nicht eine bestimmte Telefonnummer anwählen oder ein Telegramm schicken sollte. Dr. Kralova verstand im ersten Augenblick nicht, was sie meinte, und fragte: »Wem denn?« »Jemandem, der vielleicht ganz gerne seine Tochter sehen würde.« »Du bist verrückt«, regte sich Dana auf. »Ich habe dir schon gesagt, daß sie nur mir gehört und keinem anderen. Und ich habe auch nicht vor, sie mit irgend jemand zu teilen.« Alzbeta mußte sich noch einmal vergewissern. Würde es Dana wirklich nicht bedauern und sich vielleicht allein fühlen? Doch die strahlte nur Selbstsicherheit aus: »Ich und allein? Wir sind doch zu zweit: ich und Elisa.« Dr. Arnost Blazej saß in seinem Honda, ein wenig abseits vom Krankenhauseingang, und beobachtete aufmerksam, wer ein und aus ging. Endlich war es soweit - Ina trat aus dem Tor. Er ließ sie 106
zunächst auf dem Bürgersteig vorbeigehen, und erst, als sie schon einige Meter entfernt war, startete er den Motor, legte den Gang ein und fuhr langsam hinter ihr her. Als er sie erreichte, öffnete er die Beifahrertür und fragte mit bittender Stimme, ob er sie mitnehmen dürfe. Ina reagierte ziemlich erschrocken. Sie schaute sich mehrmals um, ob nicht jemand in der Nähe war, und stieg schnell ein. »Du hast hier auf mich gewartet?« Arnost merkte, daß Ina ihn durchschaut hatte und antwortete ausweichend: »Hier können wir doch nicht stehenbleiben.« Damit beschleunigte er den kleinen Flitzer und blieb erst am Rande des Waldes stehen. Er zog eine Zigarette aus der Packung und bot Ina ebenfalls eine an. »Du rauchst immer noch nicht?« Ina schüttelte schweigend den Kopf. Es war ihr klar, daß es sich in diesem Fall keineswegs um ein Rendezvous handelte. Dr. Blazej nahm einen erneuten Anlauf zum Gespräch und fragte sie, ob das mit dem Geld in Ordnung sei. Sie nickte. Dr. Blazej bedankte sich noch einmal, doch Ina schwieg weiter. Dann holte Arnost tief Atem. »Ich habe eine Bitte an dich. Ich habe erfahren, daß unsere Krankenhausdirektion auf Chefarzt Dr. Sova großen Druck ausübt. Wir sollen nicht in einer Abteilung arbeiten... also wir beide. Bis vor kurzem wollte ich dem nicht zustimmen, aber jetzt denke ich, daß sich die Situation geändert hat. Vor allem für mich.« Dann schaute er Ina prüfend an, doch die schwieg beharrlich weiter. Dr. Blazej fuhr fort: »Und so möchte ich einen Vorschlag machen. Könntest du nicht von dir aus um Versetzung bitten?« Dabei wich er ihrem Blick aus. »Eine Stelle kriegst du überall. Wenn du willst, kann ich das für dich leicht arrangieren. Würdest du das für mich machen?« Dem jungen Mädchen fiel es sichtlich schwer, ruhig zu bleiben. Dann gab sie überraschend schnell ihr Einverständnis. Ja, sie würde seinetwegen gehen. In diesem Augenblick öffnete sie die Autotür und stieg schnell aus. Arnost war völlig verblüfft und rief sie zurück. Doch Ina drehte sich nicht einmal um und eilte mit hastigen Schritten zurück in die Stadt. Dr. Blazej sprang aus dem Wagen und lief ihr nach. »Warum rennst du weg? Ich wollte dich doch nicht beleidigen. Das war doch nur eine Bitte. Im Interesse von uns beiden. Ina, warte, ich bringe dich wenigstens nach Hause.« Doch seine Mühe war vergeblich, es half nichts. Ina lief immer schneller, und Arnost verhielt seinen Schritt. Der Abstand zwischen ihnen wurde 107
unüberbrückbar. Langsam kehrte Dr. Blazej zu seinem Auto zurück. In dieser Abenddämmerung fuhr Roman Jachym gerade mit seinem Krankenwagen zum Krankenhaus zurück. Er sah, wie Ina, offensichtlich in größter Eile, Richtung Krankenhaus lief. Roman kam das merkwürdig vor und wartete, bis sie in seine Nähe kam. Dann fragte er sie nach dem Grund ihres abendlichen Spazierganges. Sie versuchte, ihn abzuwimmeln, doch er merkte, daß ihre Augen rot verweint waren. »Ist etwas passiert?« »Nein. Machen Sie schon Schluß?« »Eben jetzt. Ich habe noch Zwillinge nach Petrovic gebracht.« Urplötzlich entschied Ina sich anders und fragte Roman, ob er mit ihr heute abend ins Kino gehen würde. Roman staunte nicht schlecht: »Ich? Mit Ihnen? Furchtbar gerne. Was wird gespielt?« »Das weiß ich nicht, kann ich mich zu Ihnen setzen?« Roman öffnete schnell die andere Tür des Krankenwagens und mußte sich kneifen, damit er sicher war, daß er nicht träumte. Es war Nacht, und der stellvertretende Chefarzt Dr. Strosmajer lag wie üblich samt Kittel und Sandalen auf dem Sofa und schlief. Plötzlich wurde die Tür stürmisch aufgerissen und seine Tochter Irena trat ein. Vorsichtig tappte sie in das dunkle Zimmer hinein und hustete mehrmals kräftig, um sich bemerkbar zu machen. Dann flüsterte sie leise: »Vati, Vati, wach auf!« Doch das war nicht so einfach. Er pfiff wie eine Lokomotive und schlief tief wie ein Murmeltier. Die junge Dame sah sich entnervt um, und als sie die Tischlampe anknipsen wollte, streifte sie eine auf dem Schreibtisch stehende Tasse, die mit klirrendem Getöse zu Boden fiel. Wie von einer Tarantel gestochen, war Dr. Strosmajer sofort auf den Beinen, griff nach dem Telefon und meldete sich: »Hier Strosmajer... haben Sie jemanden gebracht?« Endlich fand Irena den Lichtschalter und schaltete das Licht an. »Ich bin das, Vati, hallo!« Sie trug ein langes Abendkleid, das eher auffällig als elegant war. In der nüchternen Umgebung des Aufenthaltszimmers fiel diese Garderobe besonders auf. Dr. Strosmajer kam langsam zu sich und fragte nach der Uhrzeit. Es war halb drei. »Was ist denn mit dir passiert, woher kommst du?« 108
»Es ist mir nichts passiert, wir hatten nur eine Show und danach einen kleinen Empfang. Es waren auch einige Leute aus Prag da.« Dr. Strosmajer begriff immer noch nicht, was seine Tochter mitten in der Nacht hier zu suchen hatte. »Aha, fein, fein. Habt ihr es geschafft?« »Ausgezeichnet, Spitze. Bohun meinte sogar, daß wir endlich aus diesem Loch hier verschwinden könnten und als Entertainer und Sänger unabhängig werden.« »Da bin ich aber froh. Du hast schon lange deine Mutter nicht mehr besucht...« Die Tochter versprach eilig, gleich morgen vorbeizuschauen. Dr. Strosmajer war gewarnt. So bereitwillig kannte er seine Tochter nicht. »Bestimmt schaffe ich es auf einen Sprung. Ich bin auch wirklich fürchterlich. Wir hatten zwar pausenlos Proben für unser neues Programm, aber das ist keine Entschuldigung.« Dr. Strosmajer lauschte mit wachsendem Interesse diesem Anfall von Selbstkritik und wartete auf den eigentlichen Grund ihres Besuches. Nach etwa vier Sekunden absoluter Stille rückte Irena damit heraus. »Vati, du mußt mir Geld borgen.« »Wieviel?« »Wieviel hast du bei dir?« »Jetzt?« »Auf mich wartet unten ein Taxi.« Aha, das war's. Sie mußte diesen illustren Empfang auch noch selbst bezahlen! Irena bemühte sich, ihm die Notwendigkeit von mehreren Cognac-Runden zu erklären und zu erzählen, daß dieser Bohun der Meinung sei, daß es die größte Kunst ist, zum richtigen Zeitpunkt zu investieren. Dr. Strosmajer schaute seine Tochter lange und schweigend an und zog dann langsam sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Also zum Glück muß ich das Ganze wohl nicht verstehen. Ich habe fünf, sechs - ja sechshundert Kronen bei mir.« »Dann borg mir einen Fünfhunderter, geht das?« »Ja, hungern tut mir gut.« Die Tochter griff flink den Fünfhundert-Kronen-Schein, erhob sich und wollte wieder gehen. Doch dann entschied sie blitzschnell: »Oder weißt du was? Gib mir sechshundert, für alle Fälle. Ich brauche ja schon allein dreißig Kronen für das Taxi.« Dr. Strosmajer wehrte sich noch kurz, denn nun würde er sich morgen früh nicht einmal eine Mohnstange kaufen können. Das allerdings interessierte Irena nicht im geringsten. Sie küßte ihren 109
Vater lachend auf die Wange: »Brötchen kannst du dir für dein Kleingeld kaufen. Du hast davon bestimmt die Taschen voll. Also tschüß! Und nochmals danke!« Damit war sie samt ihrer Abendrobe hinausgerauscht. Dr. Strosmajer zuckte mit den Schultern, steckte seine ausgeplünderte Geldbörse in die Tasche, schaltete die Tischlampe aus und legte sich hin, um in aller Ruhe weiterzuschlafen. Es war soweit, die nächste und hoffentlich letzte Operation an Premysl Rezek konnte beginnen. Diesmal scherzte er mit den >weißen< Pflegern, die ihn zum Operationssaal brachten. »Also, meine Herren, das ist meine letzte Fahrt, eine große Ehre für Sie!« Der Operationssaal war noch verdunkelt und die auf den Tischen und Schränken liegenden Instrumente spiegelten ihren kühlen Glanz wider. Mehrere Krankenschwestern liefen hin und her und verrichteten alle für die Operation notwendigen Vorbereitungen. Das Untergestell von Rezeks Bett wurde unter einen hydraulischen Apparat geschoben, der eine leichte und freie Manipulation der Liege während der ganzen Operation ermöglichte. Dann nahm sich der Anästhesie-Arzt des Premysl an. Es war diesmal nicht Dr. Kralova, sondern ein unbekannter Mensch, der ihn unpersönlich professionell behandelte. Er fragte Rezek in offiziellem Ton nach seinem Namen, und als dieser meinte, daß ihn hier im Krankenhaus doch jeder von A bis Z kennen würde, reagierte der Doktor unwirsch. Für eine solche Unterhaltung hatte er nichts übrig. Es interessierte ihn nur, daß er laut Vorschrift den Namen des Patienten erfragen mußte. Er wiederholte seine Frage also noch einmal, und Rezek verriet ihm dann - nicht ohne eine gewisse Gereiztheit - wie er hieß. Auch die korrekte Antwort machte auf den Arzt keinerlei Eindruck. Er schaute in die Patientenkarte und nickte lediglich mit dem Kopf. Der Name stimmte, und er fragte weiter nach dem künstlichen Gebiß. »In meinen Jahren?« bemühte sich Rezek zu albern. »Also haben Sie eines oder nicht?« »Nein.« »Also legen wir los.« Der Arzt schickte sich an, Premysl in die Narkose zu versetzen. Doch der stemmte sich plötzlich hoch, als ob er Angst um sein Leben hätte. Er fragte nach Dr. Cenkova, die gerade im Waschraum war und sich sorgfältig die Unterarme und Hände desinfizierte. Er bat den Anästhesiologen, mit Alzbeta sprechen zu dürfen. Dieser zeigte jedoch keine Lust, die Operationsvorbe110
reitungen weiter aufzuhalten. Als ihm Premysl sagte, er möchte mit ihr nur drei Worte wechseln, holte der Doktor endlich mit sichtbarem Widerwillen Alzbeta. »Frau Kollegin, der Patient da möchte mit Ihnen reden.« Alzbeta fühlte sich von allen angestarrt und errötete. »Mit mir?« »Soll ich ihm sagen, daß Sie keine Zeit haben?« »Nein, ich gehe schon.« Und schnell, so als ob sie den auf sie konzentrierten Blicken entkommen wollte, ging sie in den OP-Saal hinein. Als sie Premysl erblickte, versuchte er ulkig zu wirken. »Guten Tag wünscht Ihnen Ihr goldener Ritter ohne Furcht und Tadel.« »Guten Tag. Ist etwas passiert?« »Ich kann mir das selbst nicht erklären, aber auf einmal zittere ich wie ein Zwergpinscher. Ich habe es dringend nötig, daß mir einer sagt, daß alles gutgehen wird.« Alzbeta merkte, daß er tatsächlich sehr erregt war und bemühte sich, ihn mit so souveräner Stimme, wie sie es nur konnte, zu beruhigen. »Warum sollte das nicht gut ausgehen? Wir sind mit der kompletten Besetzung hier, samt dem Chefarzt. In einer Stunde haben Sie alles überstanden.« Der Junge dankte ihr mit den Augen. Alzbeta hatte ihn wirklich beruhigt. Ein warmes Lächeln glitt über Alzbetas Gesicht. »Ich denke, ich sollte jetzt ein kleines Nickerchen machen, was meinen Sie dazu?« »Ich denke, das wird das beste sein. Verschlafen Sie das Stündchen gut!« Alzbeta winkte ihm zum Abschied zu und gab dann dem Anästhesiologen ein Zeichen, daß er seine Arbeit fortsetzen konnte. Sie ging zurück in den Waschraum. Ihre Rückkehr spielte sich allerdings nicht ohne einen Kommentar von Dr. Strosmajer ab. »Betty, leugnen Sie nichts! Zwischen Ihnen und dem jungen Knaben bahnt sich etwas unaussprechbar Schönes an.« »Ich bitte Sie, ihn hatte lediglich ganz normale Angst befallen.« »Das weibliche Herz erobern wir entweder dadurch, daß wir uns als furchtlose Ritter präsentieren oder - und das ist viel raffinierter - als Angsthasen, die bei euch Zuflucht suchen.« Alzbeta wollte ihm noch etwas antworten, aber da verkündete schon Dr. Sova in friedlichem, doch bestimmendem Ton den Beginn der Operation. Eines Abends, ein paar Tage später marschierte Dr. Rehor, im 111
dunklen Anzug und in der Hand einen Blumenstrauß, zur Tür von Dana Kralova. Er klopfte an und wartete. Die Ärztin machte ihm auf, ihren Zeigefinger vor dem Mund, denn das kleine Kind schlief und sollte nicht geweckt werden. Dr. Rehor wünschte einen guten Abend und erkundigte sich nach Alzbeta, die sich an diesem Tag noch nicht hatte blicken lassen. Dr. Kralova bat Dr. Rehor herein, er wollte aber auf keinen Fall stören. »Elisa machen Stimmen nichts aus, sie reagiert nur auf das Öffnen und Schließen von Türen empfindlich, komm herein!« Dr. Rehor trat ein und sah auf die in einem Wäschekorb liegende kleine Elisa. Er fand sie unnachahmlich schön. Dann bemerkte Dana seine festliche Garderobe. »Ich weiß, ganz der Vater. Aber hör mal, du siehst heute aus, als ob du bei jemandem anhalten wolltest.« Zu ihrer großen Überraschung nickte Dr. Rehor. »Heißt die Auserkorene Alzbeta?« »Ja, sie heißt Alzbeta«, wiederholte Dr. Rehor. »Und sie weiß, daß du ihr heute das Angebot ihres Lebens machen willst und erlaubt sich, nicht zu Hause zu sein?« »Sie weiß es nicht.« »Vielleicht ahnt sie es wenigstens.« »Sie ahnt es bestimmt nicht.« Dr. Kralova war verblüfft. Hieß das, daß die beiden nicht einmal verabredet waren? In der Tat, es war wirklich zwischen den beiden nichts ausgemacht. Dr. Rehor war auch nicht der Typ, um so etwas zu verabreden, und Alzbeta hätte nicht einmal im Traum an so etwas gedacht. Dana wollte nun alles genau wissen. »Jetzt wirst du mir noch erzählen, daß ihr nichts miteinander habt - u n d ich fall um.« Der Gefäßchirurg geriet in immer größere Verlegenheit. »Na ja, das ist so eine - wie soll ich das sagen - Freundschaft. Wir hören zusammen Musik, gehen ins Kino und in den Club, aber sonst nichts.« »Ich kann es immer noch nicht begreifen. Ich muß ein bißchen mehr ins Detail gehen. Habt ihr euch schon geküßt?« »Nein.« »Du hast ihr nicht einmal einen Kuß gegeben und schon willst du um ihre Hand anhalten?!?« »Das ist ziemlich komisch, oder?« fragte Dr. Rehor etwas unsicher. »Also einen solchen Fall habe ich noch nie erlebt. Du vielleicht?« »Ich auch nicht«, gab der Chirurg zu. »Aber wir verstehen uns ausgezeichnet. Also habe ich mir gesagt... ich laß dir die Blumen 112
hier...« Auf einmal klopfte jemand an die Tür und Alzbeta stand leibhaftig vor ihnen. Sie schaute zuerst Dana an und erst dann bemerkte sie Dr. Rehor. Eher beiläufig wünschte sie einen guten Abend und fragte nach der kleinen Elisa. »Sie hat auf dich gewartet, doch du kamst nicht, da schlief sie wieder ein.« Das Interesse an der Kleinen nutzte Dr. Kralova aus, und - um die beiden allein zu lassen - sie entschloß sich blitzschnell, ein Medikament aus der Apotheke zu holen. Dabei wartete sie nicht einmal die Reaktion von Alzbeta ab, stand auf und war weg. Sie versuchte noch mit eindeutigen Augenbewegungen Dr. Rehor die richtigen Verhaltenstips zu signalisieren. Mehr anstrengen! Währenddessen kümmerte sich Alzbeta bereits um die kleine Elisa und begann vorsichtig ein Gespräch. »Sie ist doch niedlich, nicht wahr?« Dr. Rehor stimmte ihr - mit nicht zu verbergender Nervosität in der Stimme - zu: »Ja, furchtbar schön - oder besser gesagt sehr schön.« Erst jetzt schaute sich Alzbeta Dr. Rehor genau an. Was hatte er wohl besonderes vor? Er merkte das und wurde noch nervöser. »Ja, ich gehe...«, dann raffte er sich aber auf: »... eigentlich komme ich zu Ihnen.« »Zu mir?« »Alzbeta, ich bitte Sie, es war meine Idee, die führe ich jetzt zu Ende durch, egal was passiert... Ich möchte Sie um Ihre Hand bitten.« Es schien sie nicht übermäßig zu überraschen. »Ich weiß, daß Sie jetzt sagen werden, daß wir uns weder fern noch nah stehen, aber ich bin sicher, daß ich in meinem Leben nie jemanden finden werde, mit dem ich so gerne und ohne Einschränkungen durch das ganze Leben gehen könnte.« Dann sah es aus, als ob er noch etwas hätte sagen wollen, doch er wurde etwas verlegen, stockte und wartete. Nach einer Weile begriff Alzbeta, daß sie jetzt irgend etwas antworten mußte. »Ich danke Ihnen für diese Liebeserklärung. Auch ich glaube, daß wir uns verstehen würden, ja, davon bin ich überzeugt. Aber ich bin auf das Ganze nicht vorbereitet und habe auch nie darüber nachgedacht. Ich würde Sie sehr ungern verlieren, aber gleichzeitig würde ich auch gerne ledig bleiben. Das ist ein Widerspruch, was ich hier sage, nicht wahr?« »Ich verstehe das schon«, versicherte ihr Dr. Rehor. »Sie sind so nett zu mir, Gregor, und gerade deshalb mag ich Sie 113
so.« Dann griff sie mit beiden Händen seinen Kopf, zog ihn an sich und küßte ihn sanft. Dr. Rehor atmete tief aus. Er würde auf sie so lange warten, wie sie nur wollte. Chefarzt Dr. Sova war an diesem Abend allein zu Hause und mußte sich deshalb auch selbst den Kaffee machen. Er deckte den Tisch lediglich mit einer kleinen Serviette, machte es sich in einem Sessel bequem und schlug ein Buch auf. Die bedächtige Stille wurde durch Schlüsselgeräusche im Türschloß gestört - ein untrügliches Zeichen dafür, daß Emma nach Hause kam. Dr. Sova hörte die Schritte in der Halle und begrüßte Emma fröhlich vom Wohnzimmer aus. Doch da ging die Tür auf, und ins Wohnzimmer trat Karel mit einem durchnäßten Regenmantel und einer schlimmen Botschaft. Emma war krank, sehr krank. Dr. Sova hätte an diesem Abend jeden anderen erwartet, nur seinen Sohn nicht. »Wieso krank? Und woher weißt du das?« »Ich habe sie hierher gebracht. Sie war nicht bei ihrer Nichte, sondern bei mir, und dort ist ihr schlecht geworden.« Dr. Sova erhob sich schnell von seinem Sessel und fragte, wo denn Emma jetzt sei. Sie saß unten im Wagen von Karel, der dafür plädierte, sie sofort ins Krankenhaus zu bringen. Der Chefarzt entschied sich in Sekundenschnelle und zog sich eiligst an. Noch auf dem Weg zum Auto begann ihm Karel die Situation aus seiner Sicht zu schildern. »Es sieht nach Bauchfellentzündung aus, aber irgend etwas gefällt mir außerdem noch nicht. In Tyniste fing es wie eine banale Reizung an, aber auf dem Weg hierher wurde es immer schlimmer. Sie sagt zwar ständig, daß es bestimmt nichts ist, will sich aber nicht anfassen lassen, denn auf Berührung reagiert sie sehr empfindlich. ..« »Im ganzen Leben hat sie über keinerlei Beschwerden geklagt. Du kennst doch Emma. Wir kurierten schon ihr Herz, ihre verkalkten Krampfadern, aber den Bauch noch nie...« Karel öffnete die Wagentür, und durch die Innenbeleuchtung konnte sich Dr. Sova einen ersten Eindruck vom Zustand seiner Haushälterin machen. Halb sitzend, halb liegend ruhte sie auf dem Beifahrersitz, im Gesicht weiß wie ein Leintuch. Dr. Sova schüttelte seinen Kopf. »Emma, was machen Sie denn für Geschichten?« Selbst in diesem schmerzhaften Augenblick ließ sich die Haushälterin ihren Humor nicht nehmen. 114
»Ach, da hat Sie nur der Karli wieder verschreckt. Ich bin nur von dieser Schepperkiste durchgerüttelt. Wenn ich mich jetzt ins Bett lege, ist morgen alles wieder gut.« »Das hör' ich gern. Jetzt fahren wir aber zuerst mal ins Krankenhaus«, bestimmte Dr. Sova in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Als sie im Krankenhaus ankamen, fragte der Bereitschaftsarzt Dr. Sova, wo er Emma unterbringen sollte. Der Chefarzt überlegte kurz und verständigte sich mit Karel durch einen schnellen Blick. Sie sollte auf die Chirurgie gelegt werden. Sie waren bereits auf dem Weg, als Dr. Sova noch einen Moment stehenblieb und den Kollegen bat, den Chefarzt Dr. Vrtiska mit einem Auto holen zu lassen. Dr. Sova und Karel eilten hinter der Liege her, auf die Emma gebettet war. Das Ganze ähnelte einer Trauerprozession. Die alte Frau hatte ihre Augen geschlossen. Es war ihr anzumerken, daß sie sehr leiden mußte. Noch bevor sie zur Station kamen, fragte Karel bei seinem Vater, ob Dr. Vrtiska nicht bereits pensioniert wäre. Er würde befürchten, daß sich die anderen durch seine Anwesenheit gekränkt oder blamiert fühlen könnten. Doch Dr. Sova ging es einzig darum, Emma von einem Kollegen seines Vertrauens untersuchen zu lassen. Das fahrbare Bett mit Emma erreichte die chirurgische Ambulanz. Ein junger Doktor bemerkte Dr. Sova und bat ihn herein. Der Chefarzt gab Karel zu erkennen, daß er mitgehen sollte. Doch Karel lehnte ab, er wollte vor der Station warten. Er nahm in dem leeren, dunklen Flur Platz und starrte vor sich hin. Er fühlte sich sehr müde. Dann glitt sein Blick langsam über die Schilder an den einzelnen gegenüberliegenden Türen. Früher war das sein Königreich. Da ging wieder die Tür auf, und der alte Dr. Sova kam mit einem jungen diensthabenden Kollegen heraus. Er stellte beide vor. Der andere hieß Doktor Dias, und Dr. Sova vergaß nicht, seinen Sohn als Fachkollegen vorzustellen. Karel gab dem Bereitschaftsarzt seine Hand und korrigierte kurz und bündig seinen Vater: nicht mehr Chirurg, sondern praktischer Arzt. »Es sieht ziemlich schlecht aus«, sagte Dr. Dias. »Irgend etwas ist im Bauch, was mir überhaupt nicht gefällt. Ich schlage Morphium vor, und wenn das nicht hilft - aufmachen.« Karel nickte ihm zu, und der alte Dr. Sova trug noch einen Wunsch vor: »Ich hätte noch eine Bitte. Bevor wir mit ihr etwas anstellen, wäre es gut, wenn sie Chefarzt Dr. Vrtiska sehen könnte. Ich hatte mit ihm als Diagnostiker stets die besten Erfahrungen.« Ein kaum wahrnehmbarer Schimmer des Unwillens flimmerte über das Gesicht des jungen Chirurgen. 115
»Wenn Sie nichts dagegen haben!« fügte Dr. Sova hinzu. »Überhaupt nichts, ich weiß nur nicht, wo ich ihn so schnell kriegen kann.« »Ich habe schon nach ihm schicken lassen.« In diesem Moment ging die Tür zum Aufzug auf und heraus kam Dr. Vrtiska. Dr. Sova ging ihm entgegen und bedankte sich für sein Kommen. »Für dich tue ich doch alles«, sagte der alte Chirurg, und schüttelte auch den anderen die Hand. Dann eilte er sofort auf die Station. Karel blieb draußen sitzen und fühlte sich total überflüssig. Er wischte seine Stirn mit einem großen Taschentuch ab und wartete. Nach einer endlos erscheinenden Zeit trat Dr. Vrtiska, seinen weißen Kittel über den Straßenanzug gehängt, mit den anderen aus dem Nebenraum heraus, in dem Emma lag. »Irgend etwas fühle ich dort, aber was, wage ich nicht eindeutig zu sagen. Rufen Sie jemanden von der Inneren, mit dem Morphium bin ich einverstanden. Gleichzeitig würde ich aber auch Blut abnehmen, röntgen und für alle Fälle auch den OP-Saal vorbereiten.« Alle hatten ihm gespannt zugehört. Der junge Chirurg erwies sich als Mann der Tat und wollte alles in die Wege leiten. »Seien Sie so nett, Herr Kollege«, dankte ihm Dr. Vrtiska, stützte sich mit seiner Hand auf die Schulter von Dr. Sova und seufzte: »Das sind die einzigen Augenblicke, wenn wir uns als Chirurg begegnen - leider.« Die Operation von Premysl war zu Ende, und er schlief noch tief. Alzbeta trat ins Zimmer, ging an sein Bett, faßte an seine Stirn und nahm dann sein Handgelenk in die Hand, um den Puls zu messen. Alles war zufriedenstellend gelaufen. Als sie, bereits an der Tür stehend, das Licht ausmachen wollte, wurde der junge Mann auf einmal wach. Er fragte mühsam, wer da sei. Als Alzbeta wieder an sein Bett trat und der Eishockeyspieler sah, daß sie in Zivil war, fragte er überrascht: »Sie haben keinen Dienst?« »Nein.« »Also Sie haben keinen Dienst und trotzdem sind Sie zu mir gekommen?« »Das ist nichts Ungewöhnliches. Ich wohne gleich im Haus nebenan.« »Wartet irgendwo jemand auf Sie?« »Nein, warum fragen Sie?« »Setzen Sie sich doch für einen Augenblick zu mir.« 116
Alzbeta wollte ihm diesen Wunsch nicht ausschlagen und setzte sich bereitwillig an seine Bettkante. »Haben Sie keine Angst, ich werde Sie nicht ausfragen, wie die Operation ausgegangen ist.« »Das kann man sowieso in der Orthopädie erst nach einer sehr langen Zeit erkennen.« Die Lippen des jungen Mannes waren rauh vom Fieber, und seine Augen glänzten fiebrig, als ob sie die Anstrengung der letzten Stunden verrieten. Trotzdem bemühte sich Rezek um ein Lächeln. »Sie werden vielleicht über mich denken, daß ich ein dummer Junge bin, aber ich bin ganz sicher, daß alles gut gegangen ist... und ich will Ihnen auch sagen, daß es Ihr Verdienst ist.« »Mein Verdienst?« Alzbeta wehrte das nachdrücklich ab. »Das bestimmt nicht. Ich habe nur die Haut zusammengenäht.« »Darauf kommt es nicht an - wer was gemacht hat. Der, der ein Tor schießt, muß dabei nicht das größte Verdienst haben. Aber Sie haben mich hier zusammengeflickt, sozusagen gemacht.« »Was heißt das, Sie zusammengeflickt, gemacht haben?« »Wissen Sie, das sagt man auch von einem Trainer, der eine Mannschaft gemacht hat, die nachher ein anderes Spiel beherrscht, die einen neuen Eindruck hinterläßt, ganz anders gewinnt und auch anders eine Niederlage verkraftet. Und das haben auch Sie mit mir gemacht. Und das werde ich Ihnen nie vergessen.« Alzbeta hörte sich diese Worte zweifelnd an. Auf der einen Seite freute sie die Sympathie von Rezek, auf der anderen Seite brachte sie sie auch ein wenig in Verlegenheit. Sie bedankte sich bei ihm und forderte ihn sanft auf, weiterzuschlafen. Darauf reagierte der junge Mann unwirsch. »Schicken Sie mich nicht schlafen, wenn ich Ihnen gerade eine Liebeserklärung mache. Aber solche Erklärungen hören Ärztinnen in den Krankenhäusern bestimmt in Massen. Nur betrachten sie das als Ergüsse von ans Bett gefesselten Krüppeln, mit denen man nachsichtig umgehen muß.« Alzbeta beendete das Gespräch, indem sie aufstand und »Gute Nacht« murmelte. Premysl hielt sie zurück. »Seien Sie mir bitte nicht böse. Ich muß wirklich mit Ihnen sprechen.« »Ist schon gut.« Das brachte Rezek wieder in Rage. »Sagen Sie mir nicht immer, daß es schon gut sei, wenn nichts gut ist. Und tun Sie nicht so, als ob ich ein kleiner Junge sei, dem man alles nachsehen muß.« Alzbeta zog es vor zu schweigen, und Premysl fing nach kurzer Zeit 117
wieder ganz friedlich an: »Ich habe in meinem Leben ein Riesenpech gehabt, weil bei mir immer alles klappte. Als ich noch klein war, führte mich meine Mutter als den schönsten Jungen vor, den sie sogar beim Fernsehen engagiert haben. Als die anderen Jungs begannen, die ersten kümmerlichen Kronen zu verdienen, gaben sich bei uns die Agenten gegenseitig die Türklinken in die Hand. Sie wollten mich alle bestechen, zu ihren jeweiligen Clubs überzutreten. Und als die anderen Jungs schüchtern die ersten Mädels erobert haben, konnte ich mich vor Weibern nicht retten, und als die anderen zum erstenmal ins Ausland fuhren, flitzte ich schon zwischen Montreal, Stockholm, Moskau und Davos hin und her. Manchmal schafften wir es gerade, in Prag von einem Flugzeug ins andere umzusteigen. Und dann ist alles auf einmal wie ein Kartenhaus zusammengefallen - auf einer schnurgeraden Straße bei einer Geschwindigkeit von 130 km. Und mit der gleichen Geschwindigkeit sind mir auch die Agenten samt Geld weggeschwommen, und auch die Mädels sind weg, die um die Stadien und Flugzeuge herumstromerten. Es gibt jetzt nicht mehr diesen schönen kleinen Jungen, auch nicht mehr den superschnellen Mittelstürmer, es gibt nur noch einen einfachen Patienten mit gebrochenen Knochen und Brummschädel. Diese ganzen Funktionäre haben mich nie interessiert und auch dieses Herumreisen ging mir auf die Nerven. Die johlenden Menschen auf den Tribünen waren mir genauso piepegal wie die Frauen irgendwie empfand ich sogar eine richtige Abneigung dagegen. Aber als dann alles weg war, kam ich mir auf einmal wie ein Süchtiger vor, dem sie gerade seine Droge weggenommen hatten. Ich ignorierte zuerst das Ganze, doch als ich mehr nachdachte, wurde ich fast verrückt. Von den Dutzenden und Hunderten von Bekanntschaften, von den Tausenden auf den Rängen sind nur Sie übriggeblieben. Eigentlich aber auch nicht, denn Sie existierten in meinem vergangenen Leben ja überhaupt nicht. Ich habe mich an Sie geklammert, ob es Ihnen lieb war oder nicht. Ich habe mir ein Recht auf Sie angemaßt, das ich nicht besitze - aber deshalb seien Sie mir nicht böse, ich werde mich ändern...« Alzbeta konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Er sagte ihr leise auf Wiedersehen und traute plötzlich seinen eigenen Ohren nicht, denn die junge Ärztin sagte leise: »Sie brauchen doch jetzt noch nicht zu schlafen. Ich würde mich gerne mit Ihnen weiter unterhalten.« Die Tür zum Operationssaal öffnete sich, und Dr. Vrtiska kam 118
zusammen mit Dr. Dias heraus. Beide trugen noch die grüne Operationsmontur, die Gesichtsmasken um den Hals geschoben, ihre Schürzen waren mit Blut befleckt. »Geschafft, Karel«, teilte Dr. Vrtiska dem wartenden Dr. Sova mit. »Eine verstopfte Vene, die den Darm versorgt, ziemlich großer Umfang, wir mußten fast 70 Zentimeter wegnehmen, bis jetzt scheint es zu funktionieren. Wir legen sie jetzt auf die Intensivstation und werden sehen, wie es weitergeht.« »Fürchtest du Komplikationen?« »Die kommen in solchen Fällen fast immer. Und ich habe Angst, daß wir uns dann keinen Rat wissen werden.« Emma wurde an ihnen vorbeigefahren, totenblaß und noch in Narkose. Beide traten zur Seite, um den Weg frei zu machen und schauten schweigend der Liege nach, bis sie hinter der Ecke des Flurs verschwand. Dann bedankte sich Dr. Sova herzlich bei Dr. Vrtiska dafür, daß er gekommen war, und reichte seine Hand ebenfalls dankend dem jungen Chirurgen Dr. Dias. Sein Sohn Karel schloß sich dem an. Keiner mußte sprechen, der Fall war klar. Die beiden Sovas verließen dann das Krankenhaus und gingen zum Parkplatz. Alles wirkte öde und verlassen, keine Menschenseele war zu sehen. Da öffnete sich auf einmal der Haupteingang, und Alzbeta lief über den Platz. Sie war überrascht, ihren Chefarzt zu dieser späten Nachtstunde hier anzutreffen, grüßte nur kurz im Vorbeilaufen und eilte nach Hause. Dr. Sova erklärte seinem Sohn, daß das Dr. Cenkova aus seiner Abteilung gewesen wäre. Doch Karel schaute sich nicht einmal nach ihr um. Er schloß das Auto auf und bot seinem Vater an, ihn nach Hause zu fahren. Als sie dort ankamen, versuchte der alte Sova, seinen Sohn zu überreden, bei ihm zu übernachten, um sich eine unangenehme Nachtfahrt zu ersparen. Doch Karel konnte auf dieses Angebot nicht eingehen. Er mußte bereits um 6 Uhr früh in der Ordination sein. Sein Vater bot sich an, in der Poliklinik anzurufen und für Karel eine Vertretung zu besorgen. Doch auch das war unmöglich, denn Karel war dort allein und für zwei Bezirke zuständig. Der Chefarzt schaute ihn verwundert an und verabschiedete sich dann fast liebevoll von ihm, ohne zu vergessen, ihn zur vorsichtigen Fahrt zu ermahnen. Beide gaben sich die Hand, verabschiedeten sich, der alte Dr. Sova stieg langsam die Treppe zum Hauseingang hoch. Er hörte noch, wie das Auto losfuhr und verfolgte nachdenklich die in der Ferne schwindenden roten Schlußleuchten.
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Vor dem Eingang zum Krankenhaus hielt die Kolonne hochzeitlich geschmückter Autos. Als erster stieg der Bräutigam Roman aus, ihm folgte seine Mutter, die Oberschwester Jachymova, dann sah man auch schon den Brautvater Galuska und die Braut Ina. Alle waren festlich angezogen, insbesondere natürlich das Brautpaar. Frau Jachymova hievte aus dem Wagen verschiedene Platten, die mit schneeweißen Geschirrtüchern bedeckt waren. Nacheinander gingen alle in das Krankenhausgebäude hinein. In der oberen Etage verließ die Hochzeitsgesellschaft geschlossen den Aufzug und sie schritten in fröhlicher Stimmung durch den Gang, der ihnen von der alltäglichen Arbeit bestens vertraut war. Der Bräutigam Roman klopfte an der Tür der Ambulanz und riß sie dann weit auf. In den Ambulanzräumen waren alle Schwestern und Ärzte versammelt, die an dem Tag Dienst hatten. Ohne lange zu zögern, ergriff Roman das Wort und verkündete strahlend: »Hochverehrte Herrschaften, wir erlauben uns, Ihnen von unserer Hochzeitsfeier ein bißchen Kuchen mitzubringen, damit Sie dieses Ereignis in guter Erinnerung behalten.« Dann trat Ina in ihrem Brautkleid ein, und das weibliche Personal brach in lautstarke Entzückensrufe aus. Ina war eine bezaubernde Braut. Nun wurde das Brautpaar von allen umarmt und beglückwünscht. Als Dr. Strosmajer an die Reihe kam, rief er vergnügt.: »Also dieses Mädel hätte mir gefährlich werden können. Doch nie war genug Zeit dafür da. Roman, guck mich an, damit du merkst, wie unverfälschter menschlicher Neid aussieht.« Auch Chefarzt Dr. Sova gratulierte Ina und Roman herzlich und wünschte ihnen in ihrer Ehe viel Achtung, Liebe und Toleranz. Das Brautpaar nahm die Glückwünsche erfreut entgegen, und der alte Galuska schenkte Wein aus. Dabei forderte er laut die ganze Abteilung auf, jetzt endlich mit der Arbeit Schluß zu machen und auf das Wohl seiner Tochter zu trinken. Frau Jachymova war mit dem Verteilen der Hochzeitskuchen beschäftigt, die so verführerisch aussahen, daß allen Anwesenden das Wasser im Mund zusammenlief. Als sie bei Dr. Strosmajer anlangte, fragte sie leise: »Die beiden sehen heute prächtig aus, nicht wahr?« »Selbstverständlich sehen sie gut aus«, antwortete der Chirurg, »aber Sie sagen das in einem Ton, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten.« »Ach, wenn es nur halten wird«, seufzte Schwester Jachymova. »Es kam alles so plötzlich, wie aus heiterem Himmel.« Die Gratu120
lationsrunde von Ina und Roman war bei Arnost Blazej angekommen, der sich bewußt war, wie genau er heute beobachtet wurde. Er brachte trotzdem einen Glückwunsch zusammen. »Ina, ich wünsche Ihnen das Allerbeste für Ihr weiteres Leben von ganzem Herzen - keinem wünsche ich es mehr als Ihnen ... und Ihnen auch Roman, das ist selbstverständlich - und bleiben Sie auch weiter glücklich.« Ina antwortete ihm leise, aber nachdrücklich: »Ich danke Ihnen, Herr Doktor, wir bleiben bestimmt glücklich.« Und sie küßte ihren Mann auf die Wange. Alzbeta nahm Ina zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich wünsche dir, Ina, nicht nur einen braven Mann und ein Dutzend Kinder, sondern dazu auch noch alles was du dir selbst wünschst.« Doch der Dank von Ina klang nicht besonders überzeugend. Alzbeta merkte das, und sie fragte Ina deshalb noch einmal, ob es ein schönes Gefühl sei, Hochzeit zu haben und ob sie sich glücklich fühlen würde. Ina antwortete ausweichend: »Es war sehr schön, es kamen eine Menge Leute.« Alzbeta ließ nicht locker: »Aber ich will wissen, ob dich das alles freut und glücklich macht?« Ina schaute sich um und sah, wie Schwester Jachymova die Platten wieder einsammelte. »Wir müssen gehen, man wartet schon auf uns.« Diese Antwort verwirrte Alzbeta noch mehr.
8. KAPITEL In das Krankenzimmer von Premysl Rezek wurde ein weiteres Bett geschoben. An den Schmalseiten war eine Art Galgen angebracht, dazwischen spannte sich ein Tuch wie eine Hängematte. Darin lag der Patient. »Also, Kamerad, in diesem Nest wirst du jetzt sechs Wochen hängen. Schau, daß du dich daran gewöhnst«, brachte ihm einer der beiden Pfleger ohne besonderes Mitgefühl bei. »Das nennen Sie Nest?« fragte der junge Patient und setzte grinsend hinzu, »eigentlich ganz passend.« »Wieso?« »Weil ich Wenzel Fink heiße und nun mein eigenes Nest habe. Aber warum muß das so sein?« »Du bist unter eine herabstürzende Mauer gekommen. Die hat 121
dir dein Becken so zugerichtet, daß es nur auf diese Art zusammenwachsen kann.« Der Junge lachte und meinte, wenn ihm sein Hinterteil nicht weher als im Moment tun würde, wäre es auszuhalten. Nun betrat Premysl Rezek das Zimmer. Erstaunt betrachtete er die Veränderung, humpelte auf Krücken gestützt zu dem Neuankömmling und reichte ihm die Hand. Er hieß ihn herzlich willkommen und stellte sich kurz vor. Wenzel Fink strahlte: »Premysl Rezek? Die beste Stocktechnik und der beste Schuß aus der Hinterhand!« »Das war einmal.« »Was heißt war? Wer kann, der kann. In ein paar Tagen schmeißen Sie diese zwei Stöckchen weg, und die gegnerischen Verteidiger können wieder zittern.« Er schüttelte Rezek die Hand und stellte sich mit: »Wenzel Fink derzeit wohnhaft im Nest«, vor. Premysl war der heitere Bauernjunge sofort sympathisch. Er fragte ihn, was ihm denn passiert sei. »Ach, in unserer Fabrik sind Sauerstoffflaschen explodiert. Alles fing an zu brennen, und ich Dussel kroch da noch einmal hinein, um mein Kofferradio zu holen, und dann fiel mir die Decke auf den Kopf. Also nicht die ganze, nur ein Stückchen von dem Beton.« Rezek hatte sich noch nicht ganz von der Schreckensbeschreibung erholt, da fegte bereits Schwester Hunkova in das Zimmer, wichtigtuerisch und feldwebelhaft wie immer. Sie begrüßte die beiden mit einem knappen »Guten Tag« und stellte Wenzel Fink die tiefsinnige Frage, ob er der neue Patient sei. Die Hunkova stutzte kurz und argwöhnte, ob dieser Mensch sie nicht auf die Schippe nehmen wollte. Dann fuhr sie streng fort: »Kein Besuch außerhalb der erlaubten Zeiten, kein Rauchen, kein Alkohol, Fernseher wird nur... ach so, das trifft Sie sowieso nicht...« »Sind irgendwelche Kleidungsstücke von mir übriggeblieben?« unterbrach Wenzel Fink die Aufzählungen der Hunkova. »Etwas ist noch da, aber total zerrissen.« »Werfen Sie das ruhig weg. Aber war nicht ein Kofferradio dabei? Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich es, als die Decke herunterkam, in der Hand hielt oder nicht.« »Ein Radio ist schon dabei - aber auf den Zimmern wird nicht gespielt.« Verständnislos fragte Wenzel: »Warum denn kein Radio? Das könnte doch alles viel lustiger machen.« Doch die Hunkova blieb hart. Es würde die anderen Patienten 122
stören und außerdem würde sowieso bei der Krankengymnastik Musik gespielt. Rezek verzog das Gesicht und meinte lakonisch: »Und was für eine Musik! Aus dem Jahre Anno Domini!« Die Hunkova schaute den neuen Patienten kriegerisch an. Ob der wohl noch ein Widerwort wagte? Doch Wenzel Fink stellte mit schmeichelnder, warmer Stimme fest: »Ich weiß, Schwesterchen, wenn Sie es nur irgendwie könnten, würden Sie mir das Radio bringen.« Das verschlug der Hunkova den Atem. »Wie bitte? Ach so. Na, wir werden sehen.« Und damit räumte sie schnell das Feld. »Der haben Sie's aber gegeben, so geschickt wie keiner vor Ihnen«, lobte Rezek. Doch Wenzel meinte versonnen: »Sie ist im Grunde ein prima Mädchen.« Premysl staunte nur noch. Wie bitte? Die Hunkova, dieses rothaarige Biest, wie sie hier genannt wurde, die sollte prima sein? Sie hatte doch den schlimmsten Ruf des ganzen Krankenhauspersonals! Der Bauernjunge blieb bei seiner Einschätzung. So etwas merkte er auf den ersten Blick. Dr. Sova trat nah an das Bett seiner Haushälterin Emma heran. Sie wurde von den verschiedensten Apparaten überwacht und künstlich ernährt. Er grüßte sie fröhlich und war erleichtert, daß sie schon viel besser aussah, auch wenn man ihr anmerken konnte, daß der Eingriff kompliziert gewesen war. »Guten Morgen. Wie schaffen Sie das nur, Sie Armer, mit dem Haushalt?« Dr. Sova mußte lachen. »Ach was, der Haushalt! Hauptsache Sie - wie fühlen Sie sich?« »Schon wieder gut. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es nichts Besonderes war. Lediglich einen halben Meter weg vom Darm was ist das schon? Wie bekommen Sie nun Ihr Essen? Und was ist mit dem Aufräumen? Hat Ihnen die Wäsche gereicht? Doch bestimmt nicht!« »Unsere Nachbarin sorgt für mich ein paar Tage.« »Die Studnickova?« »Ja, sie war so nett ...« Die Haushälterin war durch diese Nachricht alles andere als beruhigt. »Na ja, da kann ich mir vorstellen, was die für ein Durcheinander hinterläßt. Ich bin sicher, daß man im ganzen Haus angebrannte Milch und verschmortes Fett riechen kann.« »Aber überhaupt nicht, zumindest ich rieche noch nichts. Und Ihnen geht es wirklich gut?« 123
»Na ja - nach der Operation habe ich mich für eine Weile wie Wakkelpudding gefühlt. Außerdem regen mich die Apparate furchtbar auf. Übrigens hoffe ich, daß nicht Sie mich operiert haben.« »Nein, ich nicht.« »Sehr gut. Und auch kein mir bekannter Doktor, der öfters zu uns kommt?« »Chefarzt Dr. Vrtiska war dabei.« Unwillig schnaufte die Haushälterin. »Das hätten Sie nicht zulassen sollen. Jetzt laden Sie ihn besser gar nicht mehr zu uns ein.« Dr. Sova beschwichtigte sie: »Ich bin so froh, daß Sie schon wieder schimpfen können. Sie müssen allerdings noch eine Weile den anderen hier gehorchen. Auf Wiedersehen!« »Wieso schon auf Wiedersehen - was ist mit Karli?« »Der ist noch in derselben Nacht zurückgefahren.« »Sie haben nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten?« »Er sagte, daß er am nächsten Morgen um sechs Uhr Dienst hätte und daß er zwei Bezirke betreuen muß.« »Der Junge schuftet sich dort noch zu Tode.« »Warum haben Sie mir eigentlich nicht gesagt, daß Sie ihn besuchen?« »Sie brauchen doch nicht alles zu wissen. Ich habe mich dort völlig umsonst aufgeregt.« Dr. Sova horchte auf: »Aufgeregt, weshalb aufgeregt?« »Weil er stur wie ein Bock ist. Noch sturer als sein Vater. Mit dem kann man wenigstens manchmal vernünftig reden.« In Gedanken versunken hörte Dr. Sova zu. Bei seinem Sohn würde wahrscheinlich zureden und überzeugen nichts mehr nutzen. Er seufzte schwer. Wenn er nur wüßte, wie er ihm helfen könnte! Die Ärztemannschaft kam gerade aus dem Waschraum. Alle steckten in den grünen Monturen, schmutzig, vom Blut befleckt und total geschafft. Dr. Strosmajer sprach eindringlich auf Alzbeta ein. »Betty, so intensiv dürfen Sie sich nicht immer in eine Sache hineinsteigern. Das nimmt viel zuviel Kraft.« »Ich muß aber immer mein Bestes geben.« »Ja, sicher. Aber nicht bis zur letzten Kraftreserve. Das wäre genauso, als wenn Sie jede Liebelei hundertprozentig erleben würden. Für eine reichen fünfzig, für eine andere fünfundsiebzig Prozent - und erst wenn der Richtige kommt, der Er mit dem großen E, dann pulvern Sie Ihre vollen hundert Prozent rein.« Die meisten gingen in die Kabinen, um sich umzuziehen, doch Dr. 124
Strosmajer setzte die Debatte fort. »Denken Sie über meine Worte nach, Alzbeta?« »Ich denke nach, aber bei mir gibt es nur hundert Prozent oder nichts.« »Na, Servus. Da werden Sie mit dreißig ein altes, verbrauchtes Weib sein. Schauen Sie mich dagegen an, mit fünfzig knackig frisch und munter.« Als Alzbeta umgezogen war und auf den Flur trat, erblickte sie Premysl. »Wo schreiten Sie so würdig hin, mein Herr?« »Ich habe heute einen historischen Tag, Madame«, antwortete der Eishokkeyspieler galant mit tiefer Verbeugung. »Und welche geschichtliche Bedeutung trägt sich zu?« »Ich gehe heute zum erstenmal allein spazieren!« »Nanu? In den Garten etwa?« »Ja, wollen Sie mich begleiten?« »Wissen Sie, mit dem größten Vergnügen - wenn ich dürfte. Aber ich muß zu der angesetzten Besprechung. Und das leider sofort.« »Das ist jammerschade.« »Ja, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben!« Beiden tat es offensichtlich leid, und beide waren sich dessen bewußt. Sie verabschiedeten sich und Premysl marschierte allein auf seinen Krücken weiter Richtung Garten. Die Sonne schien an diesem Tag herrlich. Es ging langsam auf den Sommer zu, und die Blüten standen schon in voller Pracht. Premysl schaute sich den strahlend blauen Himmel an und atmete tief durch. Es war ihm, als ob er so etwas Wunderbares, ja Berauschendes noch nie bewußt erlebt hatte. Behutsam humpelte er den mit Sand bestreuten Weg entlang. Und tatsächlich - ohne unsicher zu werden, konnte er einen Schritt vor den anderen setzen. Als er den Waldrand erreicht hatte, merkte er, daß ihn die ungewohnte Dauerbewegung doch erschöpft hatte, und er sah sich suchend nach einer Bank um. Die fand er auch gleich hinter der ersten Kurve, die der Waldweg nach einigen Metern machte. Die Bank war jedoch besetzt. Auf ihr saß eine lachende Alzbeta. Rezek dachte zunächst, daß die Anstrengung doch zu groß für ihn gewesen war und er einer Vision erläge. Doch als er das fröhliche Lachen hörte, war er sicher, keinen Traum zu erleben. »Guten Tag, mein Herr, wie geht es Ihnen, mein Herr?« alberte Alzbeta. »Was machen Sie hier, Madame?« »Ich laufe Ihnen nach.« Sie blinzelte ihn verschmitzt an. »Ich sah aus dem Fenster, wohin Sie gehen - und weil die Besprechung durch Mangel an Anwesenden und Überfluß an Sonne 125
abgesagt wurde, lief ich durch den zweiten Ausgang hierher und nun bin ich hier...« Und mit gespielter Strenge setzte sie hinzu: »Es geht allerdings nicht an, eine Dame so lange warten zu lassen.« »Verzeihen Sie mir bitte, daß ich zu unserer Verabredung zu spät komme. Ich gelobe Besserung.« Dann ließ sich Rezek neben sie auf die Bank fallen und beide lachten wie Schulkinder über einen gelungenen Streich. An der Bank spazierten etliche Patienten vorbei, die sich das junge Paar neugierig anschauten. »Es ist schön hier«, fing Alzbeta ein bißchen verlegen das Gespräch wieder an. »Unbeschreiblich schön.« »Man könnte meinen, es wäre ein ganz normaler Park - ohne Krankenhaus.« Der junge Mann betrachtete Alzbeta von der Seite. Sie war wirklich schön, wirkte fröhlich, jung und strahlend. Und trotzdem: Das Krankenhaus war für ihn allgegenwärtig. Nach einer Weile antwortete Premysl: »Für mich ist dieser Park und die Situation anders.« »Inwiefern? Als großer Hockeystar haben Sie Mädchen doch wohl auch nicht viel anders kennengelernt?« Premysl fing fast an zu jammern: »Ach, warum haben wir uns nicht irgendwo anders kennengelernt? Zum Beispiel... vielleicht irgendwo im Zug.« Alzbeta mußte über diese Wehklage herzlich lachen. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich im Zug nur selten Männer behandele. Das war kein gutes Beispiel.« »Ich meine halt, daß ich aus dem Krankenhaus raus muß und irgendwo draußen auf Sie warte, so als ob ich nie hiergewesen wäre. Hier kann ich Sie...«, und er schaute ihr ins Gesicht. »Hier kann ich noch nicht einmal Ihre Hand halten!« Alzbeta wischte die Ernsthaftigkeit, mit der er das sagte, mit einem Lachen weg. »Es sei denn, ich werde so tun, als ob ich Ihren Puls messe.« Und sie ergriff zum Spaß seine Hand. Da schob Premysl seine Hand unter die ihre und zog sie langsam an seine Lippen. Dana Kralovas Erstaunen war nicht zu überhören: »Du bist verrückt geworden.« Alzbeta nickte. »Du hast sicher recht.« »Den nettesten Doktor, den ich je kennengelernt habe, dazu noch einen, zu dem du ausgesprochene Sympathie empfunden hast, 126
schiebst du einfach weg, weil so ein Jüngling im Park mit dir Händchen gehalten hat?« »Das war nicht nur Händchenhalten.« »Sag nur noch, daß ihr dort eine Orgie veranstaltet habt.« »Das nicht. In diesem Sinne war es wirklich nur Händchenhalten, aber sonst...« »Was sonst?« »Sonst alles.« »Also, ihr werdet heiraten?« »Nein, das nun nicht gleich. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird, muß er sich irgendeinen Job suchen - zwar denkt er, daß er noch Eishockey spielen kann...« »Daran kannst du seine geistige Reife messen. Er kommt nicht einmal auf den Gedanken, daß er dazu nicht mehr in der Lage sein wird und er etwas Neues lernen muß.« »Er denkt, wenn er anständig spielt, daß das genauso ein ehrliches Handwerk ist, wie irgendein anderes.« »Lobgepriesene sind meistens geistesarm. Und diese seine Beflissenheit, etwas auf dem Eis darzustellen, würde mir schleunigst auf den Wecker gehen. Ich habe eine Bitte an dich. Das heißt, es ist eher ein Rat. Sag um keinen Preis Dr. Rehor etwas davon. Solche Beziehungen flammen schnell auf, aber danach bleibt nicht einmal Asche übrig. Und du wirfst die größte Chance deines Lebens zum Fenster hinaus.« Alzbeta war jedoch entschlossen, Dr. Rehor nicht im Unklaren zu lassen. Das brachte die sonst so besonnene Dana auf Hochtouren. Wenn Alzbeta das wirklich tun wolle, würde sie sie am liebsten für unmündig erklären lassen. Doch Alzbeta war nicht umzustimmen. Da riß Dana der Geduldsfaden. Sie schrie ihre Freundin an: »Ich verlange doch nichts von dir auf Lebenszeit. Ich will nur nicht, daß du alles um dich herum zerstörst. Glaube nicht, daß darin, daß du alleine bist, die größte Kraft steckt. Denn das momentane Gefühl wird dich schnell verlassen und dann bleibst du mit allen Zweifeln allein auf der Strecke.« Alzbeta sah sie erstaunt an. Dieser Ton war ungewöhnlich für Dana. Als Alzbeta nachhaken wollte, weigerte Dana sich, darüber weiter zu sprechen. Sie wechselte das Thema und fragte, wo denn Dr. Rehor wohl mit ihrer kleinen Tochter so lange bliebe. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und Dr. Rehor kam mit der kleinen Elisa herein, die auf einem Gefährt saß, das eher einer Schubkarre als einem Kinderwagen ähnelte. Dr. Kralova schnallte sorgfältig ihr Baby davon los und zog ihm das Jäckchen aus. Dr. Rehor verkündete stolz, daß er bei seinem Rundgang an 127
mindestens hundertfünfzig Krankenschwestern vorbeigelaufen sei, die alle sehen wollten, wen er da spazierenfahren würde. Dana erklärte die ganze Sache etwas nüchterner: »Diese hundertfünfzig Krankenschwestern waren eher darauf neugierig, wie das Kind einer ledigen Ärztin aussieht.« Alzbeta und Dr. Rehor ließen Dana mit ihrer Tochter allein und beide ergriff eine gewisse Beklommenheit, als sie an seiner Tür ankamen. »Heute hast du wahrscheinlich wieder keine Zeit für mich, oder?« Zu seinem Erstaunen hatte Alzbeta Zeit, und das sofort. Beide betraten sein Zimmer, und der Chirurg begann ein paar Sachen, die nicht aufgeräumt waren, hastig einzusammeln. Er bat Alzbeta, sich zu setzen, entschuldigte sich, da er nicht ahnen konnte, daß sie ihn heute besuchen würde und bot ihr etwas zu trinken an. Doch sie lehnte ab. Er schlug ihr vor, Musik zu hören. Dagegen hatte Alzbeta nichts einzuwenden, wollte sich aber während der Musik mit ihm unterhalten. Dr. Rehor legte eine neue Platte mit Präludien von Bach auf und stellte die Lautstärke so ein, daß ein Gespräch möglich war. Je mehr Aufmerksamkeit er Alzbeta widmete, desto unglücklicher wurde sie. Die Orgeltöne, die das kleine Zimmer erfüllten, beruhigten sie allerdings bald. Die Musik gab ihr die Kraft, endlich zum Kernpunkt ihres Hierseins zu kommen. »Ich will dir sagen, ich muß dir sagen, daß jemand in mein Leben getreten ist. Und damit eigentlich auch in deines. Nichts ist zwischen uns passiert, aber ich denke an ihn und nicht mehr an dich. Und ich möchte es dir sagen, weil ich gerne von dir noch über Jahre hinweg als gute Freundin angesehen werden will. Wenn es dir noch möglich ist.« Dr. Rehor hörte sich ihr Geständnis mit gesenktem Kopf an und nickte nur stumm. Alzbeta wünschte sich so sehr, daß er etwas sagen würde, doch sie fühlte, daß er den Tränen nahe war. Sie flüsterte kaum hörbar: »Ich danke dir.« Das Krankenzimmer von Wenzel Fink und Premysl Rezek bot einen ungewöhnlichen Anblick. Statt schonender Ruhe herrschte ausgelassene Heiterkeit. Diese wurde durch ungefähr zwanzig Arbeitskollegen von Wenzel Fink verursacht, der strahlend in seiner Tuchkonstruktion hing. »Jungs, ihr habt mir eine solche Freude gemacht. Nur solltet ihr aufpassen, daß bei dem Andrang die Wände nicht nachgeben. So ein überraschender Betonklotz auf dem Hintern macht einen ganz schön platt.« Der Boß der ganzen Meute, ein stämmiger und dichtbehaarter 128
Typ, hielt Wenzel draufhin einen Vortrag: »Lieber Wenzel, dieses Gedränge hast du unserer Entscheidungsschwäche zu verdanken. Wir haben uns so lange gestritten, wer zu dir ins Krankenhaus fährt, bis wir alle kamen.« »Das ist eine Bombenidee. Da bin ich auch informiert, wen es erwischt hat und wie stark.« In der Tat sahen manche von ihnen reichlich lädiert aus. Viele trugen dicke Pflaster und einige hatten sogar eingegipste Hände, Arme und Beine. »Eigentlich ist es noch glimpflich ausgegangen«, meinte der Anführer, »da du uns wie Karnickel rausgezogen hast, haben wir eigentlich nur längere Ohren bekommen.« Das war wiederum Grund für johlendes Gelächter. »Auch waren wir uns nicht einig, was wir dir für ein Geschenk machen könnten. Als erstes haben wir an eine Uhr gedacht, doch den Gedanken wieder verworfen. Dann kamen andere Vorschläge, so etwa an die dreißig - und zum Schluß haben wir doch die Uhr gekauft.« Brüllendes Lachen quittierte die Geschichte. Er zog aus der Tasche eine kleine blaue Schachtel und öffnete sie. Darin glänzte eine Digitaluhr neusten Modells, eine wahre Freude, sie nur anzusehen. Wenzel wußte gar nicht, wo er hinschauen sollte, so verlegen war er. Gleichzeitig freute ihn das so, daß er eine Dankesrede stottern wollte. Doch der Boß beendete seine Verlegenheit kurz und bündig: »Also darüber werden wir mit dir nicht debattieren...« Eine Stunde später erklärte er Chefarzt Dr. Sova: »Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Chefarzt, daß unser Wenzel Fink nach der Explosion elf Leute von unserem Trupp aus dem Schutt herausgezogen hat, immer wieder ist er durch die wackeligen Mauerreste gekrochen - bis es ihn dann erwischt hat. Deshalb ist uns auch mehr als bei jedem anderen an seiner Genesung so gelegen.« Dr. Sova wunderte sich sehr, denn Wenzel Fink hatte ihm nie davon erzählt. Er war immer bei seiner Version mit dem Kofferradio geblieben. »Das mit dem Kofferradio stimmt. Aber das habe ich in meiner Tasche gehabt. Als die Decke herunterfiel, stürzte sich Wenzel auf mich, um mich zu schützen. Haben Sie eigentlich schon eine Vorstellung, was genau mit ihm los ist?« »Außer einigen Prellungen, Abschürfungen und kleinen Verbrennungen hat er eine Beckenfraktur. Konkret gesagt, beide Schambeine sind gebrochen. Da das Becken eines der bestdurchbluteten Körperteile ist, hat er auch verhältnismäßig viel Blut verloren. Dadurch erlitt er einen Schock. Auf unserer Unfallintensivstation mußte man ihm fast zwei Liter Blut geben. Zum Glück gab es 129
keine ernsthaften inneren Verletzungen.« »Also wird er nach einer Weile wieder völlig in Ordnung sein?« Dr. Sova überlegte kurz, inwieweit er sich festlegen konnte, doch dann versicherte er, daß er fest an eine vollständige Genesung glauben würde. Der Mannschaftsleiter reichte ihm die Hand: »Wenn etwas wäre, hinterlasse ich hier unsere Adresse - der Junge kommt aus einem Waisenhaus, ist also ohne Familie, seine Familie sind praktisch wir.« In der Kinderabteilung fand gerade die Morgenvisite statt. Eines der kleinen Mädchen hatte hohes Fieber und glühte wie ein Heizofen. Auch Dr. Sova, der sich über das Bett beugte, glühte, das aber vor Wut. Ohne Rücksicht darauf, ob ihn jemand hören konnte, zischte er Dr. Cvach an: »Sie hatten heute Nachtdienst, Herr Kollege?« »Ja, Herr Chefarzt.« »Und wie erklären Sie sich die Morgentemperatur von vierzig Grad?« Dr. Cvach reagierte kühl. »Eine Virusinfektion.« »In Verbindung mit Schmerzen im Hüftgelenk?« »Das Röntgenbild deutete auf nichts dergleichen hin.« »Und das hat Ihnen gereicht?« Dr. Cvach schwieg beleidigt. »Warum haben Sie an der Hüfte keine Probepunktion gemacht? Warum haben Sie keine Antibiotika eingesetzt?« Dr. Cvach schwieg weiter. Dr. Blazej mischte sich plötzlich leise ein: »Ich bringe das schon in Ordnung, ja?« Dr. Sova nickte, und Arnost nahm die kleine Klara in seine Arme und trug sie hinaus. Nach der Visite bat Dr. Sova die Oberschwester, Dr. Cvach zu holen. Der wartete schon vor der Tür und wurde hereingebeten. Dr. Cvach schloß leise die Tür hinter sich. Er verneigte sich leicht, und Dr. Sova bat ihn, Platz zu nehmen. Artig bedankte sich Dr. Cvach und setzte sich dem Chefarzt gegenüber. Dr. Sova überlegte eine Sekunde, als Dr. Cvach ihm schon das Wort abnahm. »Ich wollte Ihnen sagen, Herr Chefarzt, daß ich den Fehler und den Irrtum voll einsehe, den ich gemacht habe. Ich weiß, daß so etwas einem Arzt nicht passieren darf.« Dr. Sova gab ihm mit einer leichten Kopfbewegung recht, und eifrig redete Dr. Cvach weiter. »Ich will in keinem Fall nach irgendeiner Ausrede suchen, ich wäre Ihnen auch nicht böse, wenn Sie nach den Vorschriften verfahren werden.« »Es geht mir nicht um irgendwelche Vorschriften, Herr Kollege, 130
die kennen wir beide - und sie können jeweils nur den einen oder anderen Einzelfall lösen.« »Aber bei mir ist doch sonst nie etwas vorgekommen, Herr Chefarzt.« »Ja und nein. Sie wissen, daß ich bereits vor einigen Jahren zögerte, die Zustimmung zu Ihrer Facharztbestallung zu geben. Sie haben mich zum Schluß überzeugt, und ich gab sie Ihnen. Aber ich denke, das war nicht richtig. Haben Sie nicht auch dieses Gefühl?« »Das verstehe ich nicht, Herr Chefarzt.« »Ich versuche es Ihnen anders beizubringen. Macht es Ihnen nichts aus, Herr Kollege, daß die anderen Kollegen aus der Abteilung Sie für eine Art Outsider halten? Das muß für Sie doch unangenehm sein.« Der Doktor antwortete ausweichend: »Ich führe das lediglich auf die traditionell rauhe Umgangsart aller Chirurgen zurück.« »Und es macht Ihnen nicht einmal etwas aus, daß bereits jüngere Kollegen anspruchsvollere Aufgaben bekommen als Sie?« »Das macht mir selbstverständlich etwas aus. Doch ich warte auf meine Chance, Herr Chefarzt, ich kann warten.« »Und wäre es nicht vernünftiger, wenn Sie den wirklichen Sachverhalt einsehen und einen anderen Arbeitsplatz wählen würden, wo man Ihre Kenntnisse und gewisse, sagen wir mal organisatorische Fähigkeiten, besser nutzen könnte?« »Wollen Sie damit sagen, daß ich mir freiwillig eine andere Stelle suchen soll?« Dr. Sova nickte: »Genau das meine ich.« Im Raum herrschte Grabesstille. In dem Augenblick, als Dr. Cvach zu einer Antwort ansetzen wollte, flog die Tür auf und Schwester Jachymova schrie mit sich überschlagender Stimme: »Herr Chefarzt - schnell - Ihre Frau Emma!« Dr. Sova stellte nicht einmal eine Frage, sprang von seinem Stuhl auf und rannte hinaus. Dr. Cvach blieb weiter sitzen. Und als ihn die Oberschwester fragte, ob er hier auf den Chefarzt warten wollte, antwortete Dr. Cvach lakonisch: »Nein, das ist nicht mehr notwendig.« Dr. Sova stürzte in die chirurgische Abteilung. An Emmas Krankenbett stand bereits Dr. Dias. Emma hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Dr. Sova mußte nicht fragen, ein Blick auf Emmas graue Gesichtsfarbe sagte ihm genug. »Es sieht gar nicht gut aus. Infarkt. Verschluß einer Koronararterie an der linken Herzwand.« »Was geben Sie ihr?« »Nur noch Dolsin.« 131
Für Dr. Sova stand fest - sie hatten sie aufgegeben. Er nahm die Hand der sterbenden Frau, und als ob sie darauf gewartet hätte, schlug sie die Augen auf: »Sie hier?« »Emma!« »Sie müssen mir versprechen...« Mühsam kamen die Worte. Dr. Sova drängte: »Ja?« »Daß Sie zu Karli...« Er spürte, wie der Druck ihrer Hand nachließ und das Wörtchen »gut« verhauchte. Ihre Augen brachen. Emma war tot. Dr. Sova drückte ihr sanft die Augen zu, verhielt noch einen Augenblick und verließ dann mit gesenktem Kopf und schleppendem Schritt den Raum. Schwester Hunkova legte an diesem Tag besonderen Wert auf ihre Frisur und zupfte sich die Löckchen unter der weißen Haube kokett hervor. Mit der gleichen Sorgfalt richtete sie den Kragen ihrer hellblauen Bluse gerade. Zum Schluß gefiel sie sich aber doch nicht, und begann die Bluse wieder auszuziehen und suchte nach einer neuen. Eine Kollegin beobachtete sie dabei und fragte staunend: »Warum ziehst du dich denn um? Du hast dich doch heute früh erst frisch eingekleidet.« »Ja, und jetzt ist zwei Uhr nachmittags.« Dann nahm die Hunkova aus dem Schrank ein kleines Radio und ging hinaus. Sie war nervös und drehte sich nach jedem Türknarren um. Sie war schon fast am Ziel ihrer Reise, als plötzlich die gegenüberliegende Tür aufflog und Oberschwester Jachymova herauskam. In gewohnt befehlsmäßigem Ton fragte sie: »Schwester, gehen Sie auf die Zwei?« Das brachte die Hunkova vollends durcheinander: »Ja, äh eigentlich nein, äh vielleicht, brauchen Sie etwas?« »Messen Sie bitte bei der Beckenknochen-Fraktur die Temperatur.« »Ja, gewiß, deshalb gehe ich auch hin.« Und fröhlich schwebte Schwester Hunkova weiter. »Was machen Sie denn da?« stoppte sie jedoch jäh die Stimme von Schwester Jachymova. »Auf die Zwei gehen - Sie sagten doch...« »Haben Sie ein Thermometer?« »Nein.« Mehr fragte die Oberschwester nicht, sie drehte nur schwer seuf132
zend ihre Augen zur Decke. Wenzel Finks Temperatur wurde gemessen, und er freute sich riesig über das Radio: »Es lebt und atmet also.« Dann schaltete er das Gerät ein und spielte begeistert alle Sendestationen durch. »Darf ich?« »Wenn ich es Ihnen schon gebracht habe...« »Sie sind so nett, ich werde Sie gegen alle hier verteidigen.« Die Hunkova fürchtete um ihre Autorität und reagierte so, wie sie es gewohnt w a r - scharf, böse, feindlich, mißtrauisch. »Hat wieder jemand gegen mich gehetzt?« Der kranke Wenzel war jedoch die Ruhe selbst: »Ach wo. Setzen Sie sich zu mir, sonst könnte ich heute nicht einschlafen.« »Es ist uns verboten, während des Dienstes in den Patientenräumen zu hocken.« »Ach, wir haben auch schon viele Dinge verboten bekommen...« »Na ja, nur, wenn jetzt die Oberschwester hier hineinplatzt, dann ist Feuer auf dem Dach. Ohnehin ist sie es, die hier über mich so tratscht, oder?« »Die Oberschwester?« fragte Wenzel, »die ist schwer in Ordnung.« »Ha! Die kennen Sie nicht. Die hetzt uns von morgens bis abends.« »Wenn Sie hier einmal das Kommando kriegen, wird man noch mehr herumflitzen und der Boden wird so sauber sein, daß man davon essen könnte, oder täusche ich mich?« Die Hunkova staunte: »Wie kommen Sie darauf, daß ich hier mal Oberschwester werden könnte?« »Das war mir von Anfang an klar. Sie schauen auf den ersten Blick so finster, aber im Grund wollen Sie nur das Beste. Und das ist an Ihnen genau das Richtige, das Waschechte.« Hunkova mußte sich setzen. »Aber mich würde man hier doch nie zur Oberschwester machen.« »Wieso nicht? Wenn ich das richtig registriert habe, müssen das auch die anderen merken.« Da schluckte die Schwester und sagte verschämt: »Alle anderen glauben, daß ich dumm bin.« »Sind Sie es nicht?« fragte der Bursche unschuldig. Die Hunkova richtete sich steil auf - solche Fragen waren für sie wie Öl ins Feuer. »Wie meinen Sie das?« »Wann hat man Ihnen zum letzten Mal angedeutet, daß sie etwas, höflich gesagt, nicht zu Ende gedacht haben?« Schwester Hunkova antwortete, um Wahrheit bemüht: 133
»Jetzt gerade, vor der Tür, die Oberschwester.« »Und warum?« »Weil ich zu Ihnen gehen sollte, um Temperatur zu messen und kein Thermometer hatte.« »Und - haben Sie's gehabt?« »Nein.« »Na sehen Sie, sie hat recht gehabt.« »Das hatte sie nicht, weil ich Ihnen das Radio bringen und nicht Temperatur messen wollte.« »Und außerdem hatten Sie sich die Haare gekämmt und eine neue Bluse angezogen. Daß Sie eine Tarnung in Form des Thermometers brauchten - daran haben Sie gar nicht gedacht.« Hunkova starrte diesen gräßlich aufrichtigen Jüngling an und begann zu kochen: »Was haben Sie gedacht? Daß ich Ihretwegen meine Haare... und eine neue Bluse - ha!« Sie sprang auf und wollte rausrennen, doch Wenzel hielt sie an der Tür mit einem einzigen Satz fest: »Ich habe mir Ihretwegen auch einen Kamm und einen Spiegel ausgeliehen, damit der Scheitel richtig sitzt.« Die Schwester blieb stehen und wußte nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Wenzel setzte leise hinzu: »Ich wäre froh, wenn Sie das bei mir auch gemerkt hätten und nicht sauer sind, daß ich es bei Ihnen gemerkt habe.« Der nächste Satz der Krankenschwester Hunkova kam einem jubilierenden Tremolo gleich: »Ich bin nicht nur froh, ich mache Saltos vor Freude.« Dr. Cvach lief mit einem Stück Papier in der Hand herum und verkündete: »Die Kaffeefondverwaltung teilt Ihnen mit, daß für den vergangenen Monat auf jeden achtunddreißig Kronen und sechzig Heller Schulden entfallen.« Gleichzeitig ließ er jeden seine Notizen und Berechnungen sehen. Arnost Blazej zog aus einem Geldscheinbündel, das er gerade von der Lohnstelle ausgezahlt bekommen hatte, einen FünfzigKronen-Schein, Alzbeta zahlte mit Kleingeld, nur Dr. Strosmajer jammerte: »Achtunddreißig Kronen sechzig, das ruiniert mich - daß ich mich diesem Verein angeschlossen habe, dabei mag ich im Grunde keinen Kaffee.« Er öffnete seinen Schrank, griff nach seiner Geldtasche, zog aus ihr zwei Zwanzig-Kronen-Scheine und legte sie wieder zurück. Als er die Schranktür fast schon wieder zugeklappt hatte, kamen 134
ihm plötzlich Zweifel. Er nahm die Geldbörse noch einmal heraus und zählte das Geld nach. Dann sagte er, sichtlich überrascht: »Sie werden lachen, aber mir hat jemand siebenhundert Kronen von meiner Apanage weggenommen.« Darüber konnte keiner der Anwesenden lachen - alle schauten erschreckt Dr. Strosmajer an. Dann sagte Arnost: »Wer sollte dir siebenhundert Kronen klauen? Hier ist doch nie etwas weggekommen.« »Das wüßte ich auch gerne.« »Hast du sie nicht vielleicht woanders versteckt?« »Das ist nicht möglich. Warum sollte ich mir von meinem Gehalt siebenhundert abzwacken und irgendwo anders hinlegen?!« Das klang glaubwürdig, und dagegen konnte auch keiner etwas einwenden. Es herrschte betretene Stille. Dann fragte Dr. Blazej seine Kollegen, ob sie jemanden zu Besuch gehabt oder sie etwa einen Patienten allein im Raum gelassen hätten. Alle schüttelten den Kopf. Für Dr. Strosmajer war das Ganze mehr als unangenehm, und er war bemüht, der Sache ein Ende zu bereiten. »Eigentlich geschieht's mir ganz recht. Das nächste Mal werde ich besser aufpassen.« Sehr überzeugend klang das aber nicht. Dann klopfte es an die Tür und Oberschwester Jachymova steckte ihren Kopf hinein. Sie fragte Alzbeta nach dem Krankheitsbefund irgendeines Schienbeines. Alzbeta hatte ihn bereits geschrieben, bat aber Schwester Jachymova um einen Augenblick Geduld. Während sie die Unterlagen zusammensuchte, fragte Arnost Schwester Jachymova: »Haben Sie zufällig jemand Fremden in dieses Zimmer hineingehen sehen, ich meine in den vergangenen zwei Stunden?« »Nein - nur Ihre Tochter - aber mit der haben Sie bestimmt gesprochen, oder?« Diese Worte, die an Dr. Strosmajer gerichtet waren, wirkten wie eine Holzhammernarkose. »Was denn? Irena? A h a . . . ja, sicher.« Alzbeta reichte Schwester Jachymova die Unterlagen und als sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, schauten alle ein wenig unentschlossen Dr. Strosmajer an. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, und er stotterte: »Ich muß mich bei euch allen entschuldigen, ich habe verflixt nochmal vergessen, daß sie das Geld genommen hatte... eigentlich, ich, äh, hab' das Geld ja der Irena gegeben. Also nochmals, verzeiht mir.« Allen war jedoch der wahre Zusammenhang klar, und leise Zustimmung murmelnd machte sich jeder wieder an die Arbeit. 135
Die Blasmusik spielte einen Trauermarsch und auf Emmas Sarg fielen die ersten Erdschollen. Am Grab standen außer den wenigen Verwandten der alte Dr. Sova mit Dr. Strosmajer, Alzbeta, Dr. Cvach, Oberschwester Jachymova und Ina. Das Lied war zu Ende, als der Chefarzt den Wagen von Karel erblickte, der gerade vor dem Friedhofstor hielt. Karel stieg hastig aus und eilte auf die Trauergemeinde zu. Die Zeremonie war zu Ende, und die Anwesenden sprachen den Verwandten ihr Beileid aus. Karel erklärte seinem Vater den Grund der Verspätung. Er hatte eine werdende Mutter ins Krankenhaus bringen müssen, doch das Kind war schneller, so daß er sich auch noch unterwegs als Geburtshelfer betätigen mußte. Sein Vater fragte fast automatisch, ob alles in Ordnung sei, und Karel nickte nur. Dann kondolierten sie noch Emmas Schwester, die sich schluchzend abwandte. Karel stand vor dem offenen Grab und fragte: »Wie ist es passiert?« »Infarkt.« »Hat sie gelitten?« »Nein, es ging ganz schnell.« Karel merkte, daß sich die anderen bereits anschickten, den Friedhof zu verlassen. Er bat seinen Vater vorzugehen, weil er noch für einen Augenblick allein sein wollte, versprach jedoch, nachher nach Hause zu kommen. Die Menschen gingen auseinander, ein Auto nach dem anderen fuhr weg. Dr. Strosmajer verabschiedete sich von Dr. Sova: »Herr Chefarzt, wir möchten uns von Ihnen verabschieden...« Doch Dr. Sova unterbrach ihn: »Dürfte ich Sie bitten, mit mir zu kommen?« »Aber das ist doch eine rein familiäre Angelegenheit...« Dr. Sova warf noch einmal einen Blick zurück zu seinem Sohn Karel, der regungslos am Grab stand. Eine einsame hohe Gestalt zwischen den niedrigen Grabsteinen und Sträuchern. »Ich kenne aus Emmas Familie doch auch niemanden.« »Aber Sie waren immerhin...« »Ich würde mit Ihnen gerne etwas besprechen.« Und Dr. Sova sagte das so, daß sein Stellvertreter nicht mehr den Mut hatte, weiter zu widersprechen. Die Familie von Emma hatte sich an dem reich gedeckten Tisch versammelt und sowohl Dr. Sova als auch Dr. Strosmajer kamen sich unter diesen robusten, ländlichen Menschen etwas fehl am Platze vor. Halblaut versuchte Dr. Sova seinem Kollegen etwas zu erklären. 136
»Man sagt, daß ein Mensch einen anderen Menschen erst dann schätzen lernt, wenn er ihn verliert. Im Gegensatz zu vielen anderen Redensarten stimmt dieser Spruch. Emma war der gute Geist dieses Hauses. Mir wird vor allem ihre Quengelei, die meine sämtlichen Taten begleiteten, fehlen.« »Sämtliche bestimmt nicht.« »Na ja, fast alle. Nach ihrem Tod ist dieses Haus stumm geworden und hat aufgehört zu leben. Es besteht nur noch aus ein paar Wänden und einigen Möbelstücken.« Er stockte kurz. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie damit belästige, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich mich entschlossen habe, mich zum erstmöglichen Termin pensionieren zu lassen.« Dr. Strosmajer glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte?« »Sagen wir mal zum nächsten Quartal.« »Haben Sie das schon irgend jemandem gesagt?« »Nein, ich dachte, daß Sie das als erster erfahren sollten.« »Also, das brauchen Sie auch gar nicht weiterzuerzählen. Meiner Meinung nach ist das reinster Unsinn.« Dr. Sova blieb absolut ruhig. Für ihn war dieses Problem bereits abgeschlossen. »Sie werden jetzt vielleicht beleidigt sein, Herr Kollege, aber ich habe es Ihnen nicht deshalb gesagt, um Ihre Meinung zu hören, sondern deshalb, damit Sie mit der Tatsache rechnen können.« Dr. Strosmajer wirkte wie benommen. Da betrat Karel den Raum und Dr. Sova flüsterte Dr. Strosmajer noch zu: »Eine kleine Bitte noch, vor meinem Sohn kein Wort!«
9. KAPITEL Dr. Strosmajer ratterte auf der Schreibmaschine einen Befund herunter. Er tippte im Zwei-Finger-System, seine Zigarettenspitze samt qualmender Zigarette im Mund, die Augen halb zugekniffen, denn der Rauch ließ seine Augen tränen. Die Tür ging auf, Alzbeta grüßte, ließ sich aufs Sofa fallen und starrte zunächst einmal gegen die Decke. »Wie geht es ihm?« fragte der Chirurg. »Merkt man mir so deutlich an, woher ich komme?« fragte Alzbeta verwundert zurück. »Auf der ganzen Welt werden nur wenige Dinge vertuscht, und in 137
so einem Kreishospital schon überhaupt nichts. Damit meine ich sowohl eine ergreifende Liebesgeschichte zwischen einer Ärztin und einem Patienten, als auch die Tatsache, daß einem Orthopäden seine eigene Tochter Geld klaut.« »Man munkelt ziemlich viel darüber.« »Über das Geld? Ja, schlimm.« »Nein, über mich und Premysl.« »Seien Sie beruhigt, sowohl als auch.« »Und man hält es, gelinde gesagt, für unangebracht.« Der Doktor brachte die Maschine wieder auf Trab. »Ich werde das Schreibmaschinenschreiben in meinem Leben nicht mehr lernen. Dadurch ist die Welt allerdings um einen Hemingway ärmer.« »Weichen Sie etwa meiner Frage aus?« »Na, ich wollte es mal probieren, aber es klappt halt nie.« Er stand auf und warf seine Zigarettenkippe weg. »Sie, Elisabethchen, fragen, ob man das in ärztlichen Kreisen für ungebührlich hält. Und ich frage Sie anstelle der Antwort: Auch wenn man das so sehen würde, würden Sie sich beeinflussen lassen?« »Nein.« »Na, sehen Sie, dann stellen Sie auch keine unnötigen Fragen, machen Sie sich lieber nützlich und erlösen Sie mich von diesem Folterinstrument. Ich werde Ihnen zu Ende diktieren.« Alzbeta erfüllte bereitwillig und lachend seine individuell vorgetragene Bitte. Da läutete das Telefon, und Alzbeta meldete sich mit: »Orthopädie.« Am anderen Ende war Irena zu hören. »Ich suche Doktor Strosmajer.« Strosmajer griff nach dem Hörer: »Ja, bitte.« »Hier Irena. Servus Vati. Könntest du am Donnerstag zum Abendessen kommen?« »Was passiert am Donnerstag Bedeutendes? Habt Ihr irgendein Jubiläum?« »So was Ähnliches«, kicherte die Tochter. »Na gut, ich komme gemeinsam mit deiner Mutter«, meisterte der Orthopäde schnell die Situation. »Nee, nee, die laß man ruhig zu Hause«, befahl Irena. »Das klingt aber sehr merkwürdig, meinst du nicht?« »Kannst du mir nicht wenigstens einmal im Jahr einen Gefallen tun?« Mit solchen Fragen hatte sie ihren Vater stets entwaffnet. »Na... also gut.« »Also vergiß nicht, am Donnerstag um halb sieben. Tschüs!« Dr. 138
Strosmajer legte auf und konstatierte trocken: »Am Donnerstag ist für mein Abendessen gesorgt.« Wenzel Fink begrüßte Premysl Rezek, der gerade aus dem NachOperationszimmer gebracht wurde. »Sei gegrüßt, Fürst Premysl, von deiner letzten Schlacht. Wie war's?« »Danke der Nachfrage, es war schön, aber auch genug.« Er wurde auf sein Bett gelegt und die Pfleger fuhren mit der anderen Liege wieder weg. »Also hast du jetzt beide Beine gleich lang?« »Hoffentlich.« »Hat man nicht einmal mit einem Zollstock nachgemessen?« »Ich denke schon, nur habe ich das Ganze verschlafen.« »Das bist typisch du. Ich hätte bei so einer tollen Operation doch kein Auge zugemacht. Ich bin von anderem Schrot und Korn. Mir fällt ein Haus auf den Kopf und die sparen sich die Narkose.« Im selben Augenblick tanzte die Hunkova ins Zimmer und fragte Wenzel mit liebevoller Stimme, ob er sich nicht einen tragbaren Fernseher wünschen würde. Erst dann bemerkte sie Premysl und blieb wie angewurzelt stehen. Verlegen sagte sie: »Guten Tag!« Fink lachte, daß das ganze Bett wackelte. »Jetzt hast du den entscheidenden Durchstoß geschafft, und ich bin neugierig, wie du dich da wieder herauswinden willst.« Die Schwester versuchte nun die Situation mit dem Fernseher zu retten. »Also, da besitzt ein Patient so einen Apparat, und er kann ihn nicht mehr brauchen, weil er etwas mit seinen Augen hat.« »Schau mal, wie sie ausweicht! Nur damit sie nicht sagen muß, daß wir heiraten werden...« »Wie bitte?« rief Rezek verblüfft. »Da staunst du, was? So ein kleiner Monteur mit angeschlagenem Hintern kann ganz schön pfiffig sein.« »Ihr wollt wirklich heiraten?« Die Hunkova wand sich vor Verlegenheit. »Ach, der Wenzel macht doch nur ein bißchen Spaß.« Das forderte Wenzel zu der ernsten Frage heraus: »Du hältst das für einen Spaß?« Die Hunkova korrigierte sich schnell: »Nein, nein. Ich nicht.« »Ich auch nicht. Und so was will ich auch nie wieder hören.« »Das ist aber schön!« Premysl konnte es immer noch nicht fassen. »Wie lange kennt ihr euch denn schon?« »Wenn du damit sagen willst, daß es zu kurz ist, werde ich sauer.« »Das würde ich mir nie erlauben.« 139
»Na bitte. Zugegeben, wir haben uns im Eiltempo entschieden, aber halt nur deshalb, weil wir uns so spät kennengelernt und dadurch sehr viele Jahre verloren haben. Und weil wir jetzt alles nachholen müssen, Hauptsache das mit den Kindern.« Schwester Hunkova fiel von einer Verlegenheit in die andere. Sie löste das Problem durch schnelle Verabschiedung. »Also ich lasse den Fernseher hier und schaue dann irgendwann mal wieder vorbei. Tschüs!« Als die Tür hinter ihr zugefallen war, brach Premysl noch einmal in lautstarkes Staunen aus: »Ich finde dafür keine Worte. Ich dachte, Gott weiß, welche aufregenden Sachen ich hier noch erleben werde. Aber mit so was habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Bist du selbst nicht auch manchmal total aus dem Häuschen?« »Aber sicher, und ob ich das bin! Nur bei ihr darf ich es mir nicht anmerken lassen.« »Warum nicht?« Wenzel antwortete sehr ehrlich. »Weil sie schon fast dreißig und nicht besonders schön ist. Und ich mir vorstellen kann, was sie schon alles in dieser Hinsicht erleben mußte.« Premysl war ein bißchen beschämt von dieser ungewöhnlichen Feinfühligkeit, die dieser einfache Bauernjunge in sich trug. Das Mädchen konnte sich glücklich schätzen, daß Wenzel die Betondecke abgekriegt hatte. Eines Abends drückte jemand stürmisch auf die Hausklingel des Chefarztes Dr. Sova. Dr. Sova schaute ins Dunkle hinaus und fragte, wer da sei. Ohne irgend jemanden zu erkennen, schallte ihm die entrüstete Stimme von Dr. Strosmajer entgegen: »Wer schon? - Natürlich ich.« Dr. Sova ging hinaus, um aufzuschließen, und fragte, was denn passiert sei. »Sie tun so, als ob Sie es wirklich nicht wissen. Heute nachmittag hat ein gewisser Dr. Sova seine Demission eingereicht, Herr Chefarzt.« Währenddessen schloß Dr. Sova das Tor auf und führte Dr. Strosmajer ins Haus hinein. »Aber das ist doch für Sie nichts Neues.« »Wieso das nicht? Für mich ist das völlig neu.« »Ich verstehe nicht, weshalb?« wunderte sich Dr. Sova, und geleitete seinen Besucher ins Wohnzimmer. »Es liegt daran, daß ich Trottel mir das Ganze anders erklärt habe. Und selbstverständlich falsch. Ich dachte, daß Sie zwar formal das Amt niederlegen und ich es formal übernehme, daß aber de facto die Arbeit nach dem alten Muster weitergehen wird. Und 140
auf einmal - o je - ist mir zugetragen worden, daß Sie endgültig weggehen, daß die Stelle neu ausgeschrieben wird und daß sich, wie immer, zwei Leute bewerben werden. Das heißt ich und noch einer, damit die Rechnung stimmt. Und weil einem hier weit und breit kein anständiger Orthopäde über den Weg läuft, werde ich wohl Chefarzt werden müssen. Auf einmal diese riesige Verantwortung: für die Patienten, für die Ärzte, für die Pflegerinnen, für die Handtücher und Bettlaken, für Arnost, damit er den Mädels nicht nachläuft, und für den Cvach, damit er mit der Spritze die Ader richtig trifft.« Dr. Sova mußte lachen: »Von alledem, was Sie genannt haben, halte ich lediglich den Kollegen Cvach für meine einzige Sünde. Diesen Fall habe ich nicht zu Ende gebracht und würde das wahrscheinlich auch nicht schaffen. Möchten Sie einen Kaffee?« »Kaffee nicht, aber einen Schnaps, und den doppelt.« Dr. Sova stellte ihm ein Glas mit Cognac hin und Dr. Strosmajer kippte ihn mit einem Schluck runter. Dann atmete er tief durch und sprach weiter. »Dr. Cvach - das ist eine saure Sardine auf der Schlagsahne einer Torte. Schmeckt überhaupt nicht, aber aufessen muß man sie und das dazu noch alleine. Aber ich hätte nicht hierher kommen brauchen, damit Sie sich anhören, was auf mich wartet und was mir nicht erspart bleibt. Ich komme hierher, um nur eines zu kapieren: »Warum? Warum nehmen Sie auf einmal die Zange und zwacken das Ganze wie einen lästigen Blinddarm ab-warum? Es muß doch irgend etwas Bedeutendes dahinterstecken. Und sagen Sie mir nicht, daß Ihnen plötzlich bei der Operation die Hände zittern. Das weiß ich selbst, daß das nicht stimmt.« »Nein, die Hände zittern bei mir in der Tat noch nicht.« »Und sagen Sie mir auch nicht, daß ein Mensch wie Sie, der mit so einer... mit so einer Vehemenz operiert, und das fünfunddreißig Jahre, alles auf einmal hinter sich läßt und überhaupt keine Sehnsucht danach mehr hat. Sie könnten doch ohne die Orthopädie vor Kummer sterben.« Dr. Sova schenkte ihm das nächste Glas Cognac ein. »Sterben? Sterben werde ich davon sicher nicht, aber es wird mir schon manchmal schwerfallen - und das nicht wenig.« »Also weshalb? Und jetzt ohne Ausreden.« »Ich meine, daß, solange ich noch ein bißchen Kraft habe, ich etwas Wichtiges ausführen muß. Oder ich rede es mir zumindest ein.« »Und was ist das Wichtige? Wichtiger als den Menschen hier die Knochen geradezubiegen?« 141
»Ich will meinem Sohn helfen.« »Wollen Sie zu ihm fahren?« »Ja.« »Sie wollen das hier alles zurücklassen und in dieses einsame Provinznest ziehen?« Dr. Sova nickte. »Und wie oder womit helfen Sie ihm? Werden Sie etwa die Hausfrau spielen?« Nach kurzem Zögern enthüllte Dr. Sova ihm seinen Entschluß, einen Bezirk von Karel zu übernehmen. Dr. Strosmajer war wie vom Blitz getroffen. Dr. Sova - der fähigste Chefarzt weit und breit - sollte auf seine alten Tage den praktischen Arzt auf dem Lande spielen? Doch Dr. Sova schwieg und nahm statt einer Antwort langsam und mit einem kleinen zufriedenen Lächeln einen Schluck Kaffee. »Ich habe über meinen Sohn nachgedacht und über mein eigenes Unvermögen, ihm zu helfen. Es waren lange Tage und Nächte. Alles oder fast alles zwischen uns beiden war zerrissen.« »Aber von wem zerrissen, von wem?« »Nach einer gewissen Zeit kommt es nicht mehr darauf an, wer das versucht hat. Nach allen Überlegungen kam ich zu dem Entschluß, daß wir beide, er und ich, nur durch die Arbeit zusammenkommen können, durch Medizin. Wenn nicht dadurch, womit sonst?« Dr. Strosmajer schlug sich an die Stirn: »Jesus Maria, ich fürchte, Sie haben recht. Wann treten Sie an?« »Am Ersten.« Dr. Strosmajer drehte gedankenverloren das Cognacglas in den Händen und sagte dann mit heiserer Stimme: »Also werde ich jetzt Chefarzt und Sie praktischer Arzt. Gott weiß, wer von uns beiden es schwieriger haben wird.« Es war wieder der übliche Besuchstag. Die Oberschwester lief hastig durch die Gänge und schaute in die einzelnen Krankenzimmer. Dr. Cvach richtete seine Krawatte peinlich korrekt, strich seine Frisur zurecht und marschierte ebenfalls auf den Flur. Dr. Strosmajer entkam rechtzeitig wieder in die leeren Duschräume. Er hatte gerade seine Zeitschrift aufgeschlagen, als jemand an die Tür klopfte. Er rief herein und zu seiner Überraschung war es kein Fremder, sondern Schwester Hunkova. Sie schien sehr verlegen und ziemlich erregt: »Guten Tag, Herr Doktor, ich komme zu Ihnen.« Dr. Strosmajer unterdrückte die Bemerkung, daß er das 142
unschwer erkennen könne, und sagte statt dessen: »Aber Dienst hat doch heute...« »Ich weiß, aber ich komme zu Ihnen...« Dem Arzt kam das Ganze merkwürdig vor: »Bitte?« Die Schwester stotterte immer noch verlegen. »Ich habe gründlich darüber nachgedacht, zu wem von Ihnen ich gehen soll, aber dann habe ich mich doch für Sie entschieden, weil ich mir sagte, daß Sie mich am besten verstehen werden.« Dr. Strosmajer guckte sie gespannt an: »Ich?« »Ich weiß, Sie denken immer noch an das Täubchen...« »Aber überhaupt nicht...« »Na ja, ich denke, Sie hatten damals vollkommen recht. Ich war wirklich sehr doof...« In diesem Augenblick glaubte Dr. Strosmajer bereits an eine Sinnestäuschung. »Damals? Ach, Entschuldigung...« »Vielleicht heute auch noch. Aber ich muß Sie trotzdem etwas fragen.« »Was denn?« »Wissen Sie, es ist so eine komplizierte und auch intime Sache. Sind Sie mir auch nicht böse?« »Das kann ich Ihnen ganz konkret sagen, wenn ich weiß, um was es geht!« »Also, zu uns, auf unsere Abteilung kam, also wurde gebracht, äh, ein Patient.« »Welcher? Und weshalb ist er hier?« »Er hat eine Beckenfraktur.« »Ach so, diese Beckengeschichte auf der Zwei.« »Ja. Und es ist so eine ulkige Sache passiert, ahm, der Patient möchte mich nämlich unbedingt heiraten.« Dr. Strosmajer glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Na, da sind Sie doch bestimmt - da kann ich Ihnen ja nur gratulieren äh, allerdings, nur wenn Sie seine Gefühle erwidern.« »Ja, ich danke Ihnen... Ich h a b ' . . . Ich bin glücklich. Und gerade deshalb komme ich zu Ihnen. Wenzel, Wenzel heißt er, hat eine ziemlich schwere Verletzung.« »Das hatte er, aber es geht doch ganz gut voran.« »Ja, aber die Verletzung ist an einer solchen, wie soll ich mich ausdrücken, an einer etwas heiklen Stelle.« »In welchem Sinne heikel?« »Herr Doktor, wir wollen heiraten!« Da begriff der Doktor endlich, doch von diesem Augenblick an hatte er die größte Mühe, ernst zu bleiben. »Ach, in diesem Sinne, ja ja.« 143
»Ich würde von Ihnen gerne wissen, ob außer dem Becken nicht auch noch etwas anderes verletzt wurde.« »Sie meinen, ob nicht die Funktion von etwas für die Ehe Wichtigem gestört ist.« »Ja.« In dem stillen Raum war das Fallen eines Wassertropfens aus dem Hahn zu hören. »Ich bin zwar kein Urologe, sondern Orthopäde...« »Warten Sie. Bevor Sie zu Ende reden, möchte ich noch sagen, daß, egal was Sie mir sagen, ich ihn trotzdem heiraten werde.« Strosmajer konnte sich erneut nur noch wundern. »Aber damit würden Sie sich selbst zu lebenslanger Enthaltung verurteilen.« »Ich habe ihn aber gerne.« Strosmajer schaute sie mit prüfendem Blick an: »So viel?« Die Schwester nickte. »In diesem Falle verstehe ich aber nicht, warum Sie zu mir kommen.« »Ich bitte Sie, wenn alles schiefgehen sollte, ihm nichts zu sagen.« »Damit er keine Hemmungen hat, Sie zu heiraten?« »Ja.« »Ich bezweifle, daß es notwendig sein wird, weil bisher alles für eine gute Entwicklung der Dinge spricht. Aber trotzdem werde ich mir Ihre Direktive merken.« Und fügte hinzu, immer noch voller Verblüffung: »Ich glaube, sogar bis zu meinem Tode.« Es war früh am Morgen. Chefarzt Dr. Sova schritt zu den Operationssälen, wie immer schnell, gerade Haltung, fester Schritt. Er sah sich nicht nach links und rechts um und betrat so den Umkleideraum. Dort nahm er eine grüne Operationsmontur und schloß sich in einer Kabine ein. Dabei bemerkte er nicht, daß um die Ecke hervor die junge Saalschwester Andrea ihn beobachtet hatte und irgend jemandem hinter ihr mit der Hand ein Zeichen gab. Kaum machte Dr. Sova die Tür zum Waschraum auf, sah er sich einer Reihe des OP-Saal-Personals gegenüber, beginnend mit Oberschwester Ludmilla bis zum letzten »grünen« Helfer am Schluß. Andrea ging einen Schritt nach vorne, zog einen Rosenstrauß hinter ihrem Rücken hervor und hielt eine kleine Ansprache. Hinter dem Personal standen die Ärzte und schauten sich das Ganze interessiert an. »Sehr geehrter Herr Chefarzt! Erlauben Sie uns anläßlich Ihrer letzten Operation hier Ihnen dafür zu danken, daß Sie zu uns in den vergangenen fünfunddreißig Jahren so nett waren...« 144
Dr. Strosmajer konnte sich den Zwischenruf nicht verkneifen: »Woran sie sich mit ihrem greisen Alter bestimmt gut erinnern kann...« Unbeirrt fuhr Andrea fort. »... daß Sie uns sehr viel beigebracht haben, daß Sie so geduldig waren...« Dr. Strosmajer sah, daß Dr. Sova diese Feierlichkeit sehr unangenehm war. »... und wir wünschen Ihnen, daß Sie es jetzt noch schöner haben werden und das gesamte Saalpersonal nur in guter Erinnerung behalten.« Dann machte sie einen kleinen Knicks und überreichte Dr. Sova unter dem Beifall der anderen den Strauß. Dr. Sova sah sich gezwungen, nun zu antworten. Mit recht gequältem Gesichtsausdruck begann er. »Sehr verehrtes und liebes Saalpersonal. Ich weiß nicht, welche Spionagezentrale Ihnen mitgeteilt hat, daß die heutige Operation meine letzte ist, aber leider Gottes ist es wahr, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bei Ihnen für Ihre Worte und auch für die Rosen zu bedanken und Ihnen zu sagen, daß die Zusammenarbeit mit Ihnen immer gut war. Und auch wenn ich es gelegentlich nicht zu erkennen gab ... dann habe ich das wenigstens gedacht. Und wenn ich das manchmal nicht gedacht habe...« »... dann legte ich es deutlich an den Tag«, fügte Dr. Strosmajer grinsend hinzu. »Ich will mich bei Ihnen noch einmal herzlich bedanken. Sie sind unsere treuen Helfer, und wir Ärzte verlassen uns voll auf Sie. Heute haben wir zum Beispiel das Auswechseln eines Hüftgelenkes auf dem Programm. Mit anderen Worten eine Endprothese, und ich glaube, daß diese schwierige Operation ohne die geringsten Komplikationen verlaufen wird. Ich möchte nur bitten, daß alles gut vorbereitet ist, einschließlich der Instrumente, die wir nur mit kleinster Wahrscheinlichkeit brauchen werden. Weiterhin verlange ich, damit die Sicherung des Operationsfeldes etwas sorgfältiger wird, daß nicht umsonst gesprochen wird und daß wir auch genug Blutplasma zur Hand haben, daß die Instrumentenschwester immer die Wunde im Auge behält und konzentriert ist, damit...« Alle fühlten sich wie auf einem Lehrgang, und Dr. Strosmajer rettete die Situation mit einem leisen, aber unüberhörbaren »Amen«. Dr. Sova schaute ihn verdutzt an, merkte, daß er etwas überzogen hatte, und mit einem entschuldigenden Lächeln wiederholte er: »Amen!« Am Abschiedsabend war im örtlichen Hotel die gesamte Orthopädie vom Chirurgen bis hin zum Pfleger versammelt. Roman 145
Jachym erzählte gerade Ina und den anderen Schwestern irgendeine spannende Geschichte aus der Welt der Autos, als ihn eine Kellnerin laut ans Telefon rief. Roman seufzte und sagte leise zu Ina: »Ach je, das riecht wieder nach einer eiligen Krankenfahrt.« Er ging in die ihm gezeigte Richtung, ohne wahrzunehmen, wie sorgfältig er von Dr. Blazej beobachtet wurde. Arnost saß einsam vor seinem Glas. Offensichtlich war er auch an keiner Gesellschaft interessiert. Nur ab und zu verirrte sich sein Blick zu Ina - doch ohne sichtbare Resonanz wanderte er sofort weiter. Roman kehrte nach einer Weile zurück und berichtete seiner jungen Frau, daß seine Ahnung ihn nicht getrogen hatte. Er mußte einen Kranken in einem kleinen Dorf abholen. Es würde sicher eine Stunde dauern. Aber er hoffte, sie alle noch im Hotel vorzufinden. »Wir sind bestimmt noch hier«, nickte Ina. »Komm, ich begleite dich nach draußen.« »Das ist nett von dir.« Beide gingen hinaus. Ihnen nach schlenderte unauffällig Dr. Arnost Blazej. Doch so unbemerkt nun auch wieder nicht. Diejenige, die mit einem wachsamen Auge das junge Paar verfolgt hatte, und der auch das Verschwinden von Arnost nicht entgangen war, war die Mutter, Schwiegermutter und Oberschwester Jachymova. Ina ging mit Roman durch den vorderen Speisesaal durch, und Dr. Blazej immer hinterher. An der Bar blieb er einen Augenblick stehen, angeblich, um sich ein Streichholz zu holen. Durch das Fenster konnte er zwei Silhouetten im Halbdunkeln sehen, die an dem Rettungswagen stehenblieben, etwa drei Worte austauschten und sich küßten. Erst als der Krankenwagen weggefahren war, verließ der Doktor das Gebäude. Beide trafen an der Tür aufeinander. Ina wollte hinein, Dr. Blazej nach draußen. Er rief ihr ein leises »Ina« zu. Sie blieb stehen und wußte nicht, was sie sagen sollte. »Wollen Sie weg?« »Nein, ich will zu dir.« Darauf gab das Mädchen keine Antwort. »Ich würde gerne mit dir sprechen. Ich kann nicht von dir lassen, ständig muß ich an dich denken.« »Ich muß aber jetzt rein«, wehrte Ina ab. Dr. Blazej versperrte ihr den Weg. »Wir können niemals im Leben auseinandergehen. Wir können zwar beide verheiratet sein, können auch Tage und Jahre voneinander entfernt leben - aber sobald wir zusammen sind, gehören 146
wir uns und sehen niemanden anders: nur ich dich und du mich. Keiner von uns beiden wird einen anderen lieben.« Dr. Blazej sprach sehr leise, aber so hastig, daß er sich an einzelnen Wörtern fast verschluckte. Die Sätze brachen aus ihm heraus. Weg war seine Souveränität, das Selbstbewußtsein eines Chirurgen, der die Körper der anderen flickte und ihnen damit das Leben rettete. Jetzt hatte er selbst Hilfe bitter nötig. »Ich gehöre dir, und du gehörst mir, auch wenn du jetzt wegläufst. Du wirst schon wieder zu mir kommen und ich zu dir, und wir werden uns stets gegenseitig wie ein Magnet anziehen. Es macht mir überhaupt nichts aus, daß du geheiratet hast, daß du ihn jede Nacht liebst, daß ihr euch vor mir küßt. Das bedeutet für mich nichts, weil ich weiß, daß du nur mir und keinem anderen gehörst - und ich nur dir und keiner anderen.« Ina unternahm keinen einzigen Versuch, sich dieser Stimme zu entziehen oder Arnost etwa zur Seite zu schieben und zu den anderen zu gehen. »Ina!« »Ich höre.« »Was sagst du dazu?« In diesem Moment bemerkte die junge Frau ihre Schwiegermutter, Oberschwester Jachymova. Sie ging mit suchendem Blick gerade an der Bar vorbei und steuerte auf die Ausgangstür zu. Keine zwei Meter von den beiden entfernt trat sie aus dem Hotel. Zum Glück war es schon dunkel und eine Gruppe junger Männer lief zum selben Augenblick in das Hotel. Das verdeckte Frau Jachymova den Anblick der beiden. Ina drehte sich wie ein Blitz um und rannte entlang der Vorderfront zum anderen Eingang. Der zurückgelassene Arnost ging langsam auf den Haupteingang zu. Dort traf er auf Frau Jachymova. Sie schaute ihn mit solch prüfendem Blick an, daß er um eine Erklärung nicht herumkam: »Ich warte hier auf Dr. Cvach. Wir wechseln uns im Dienst ab.« »Sie?« wunderte sich die Oberschwester. »Die Cenkova soll ihn doch ablösen.« Arnost knurrte schlagfertig: »Mir wurde gesagt, daß ich dran bin. Warum wird auch immer wieder geändert?« Damit ging er hinein. Frau Jachymova, die vorher Verdacht geschöpft hatte, wirkte nunmehr sehr verunsichert. Als sie in den Festsaal zurückkam, saß Ina bereits auf ihrem Platz. Die Schwiegermutter guckte sie streng an und sagte dann merklich unzufrieden: »Roman ist schon weggefahren?« »Schon lange.« 147
Dann nahm auch Arnost wieder Platz. Er setzte sich so hin, daß er Ina stets im Blickfeld behielt. Inzwischen spielte eine Kapelle, und insbesondere die Jugend fing an zu tanzen. Einer der jungen Männer forderte Ina zum Tanz auf. Sie erhob sich schweigend und folgte ihm auf die Tanzfläche. Dabei erwiderte sie die Blicke von Arnost. Dann starrten sich die zwei ununterbrochen an. So lange und so unerträglich, bis Ina ihren Tanzpartner um Verzeihung bat. Sie erklärte ihm nichts, entschuldigte sich auch nicht einmal, sondern lief wie gehetzt hinaus. Arnost Blazej verließ den Saal ebenfalls. Die Musik machte Pause, das Parkett leerte sich, doch Frau Jachymova konnte nirgendwo ihre Schwiegertochter entdecken. Arnost rannte mit Ina zu seinem Wagen hinüber, schloß bebend die Türen auf, beide stiegen hastig ein, und der Wagen schoß auf die leere Straße. Er blieb nur für einen Augenblick stehen, als er einem Wartburg Vorfahrt geben mußte, der gerade auf den Parkplatz vor dem Motel einfuhr. Aus dem Wartburg stieg Dr. Cvach und schaute neugierig hinter dem Paar her. Sobald Alzbeta Dr. Cvach bemerkte, stand sie auf, wandte sich Dr. Sova zu und reichte ihm die Hand: »Herr Chefarzt, ich muß mich von Ihnen verabschieden, weil ich ins Krankenhaus muß.« Dr. Sova erhob sich ebenfalls. »Ich danke Ihnen für alles, besuchen Sie uns einmal.« »Bestimmt werde ich kommen, leben Sie wohl. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.« »Ihnen auch.« Alzbeta hatte bereits Platz im Krankenhausdienstwagen genommen, als in der Eingangstür des Hotels Dr. Sova erschien und ihr zuwinkte, noch einen Augenblick zu warten. Sie machte sich zwar keinen Reim daraus, stieg jedoch noch einmal aus und ging ihm entgegen. Der alte Herr war sichtlich verlegen. »Ich wollte Ihnen noch etwas sagen, und es scheint mir, daß ich es sagen muß, bevor wir auseinandergehen. Nämlich, daß ich mich getäuscht habe.« »Was meinen Sie damit?« »In Ihnen.« Alzbeta verstand das nicht, und so mußte Dr. Sova weitersprechen. »Vom Anbeginn Ihrer Arbeit bei uns bin ich Ihnen mit Mißtrauen und Geringschätzung begegnet. Jetzt möchte ich Ihnen aber sagen, daß ich überzeugt bin, daß Sie das Zeug zum richtigen Orthopäden haben. Ich bin froh, daß ich gezwungen bin, mich bei Ihnen zu entschuldigen.« Alzbeta war durch diese Eröffnung so überrascht und ergriffen, 148
daß sie nach ihrem Taschentuch suchen mußte, um sich die Tränen abzutupfen und sich die Nase zu putzen. »Ich danke Ihnen, Sie haben mir eine solch große Freude bereitet, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht gespürt habe.« Sie gab ihm die Hand, und Dr. Sova küßte sie galant. Er wartete am Eingang so lange, bis der Wagen mit dem Mädchen verschwunden war. Als in derselben Nacht Alzbeta vom Aufzug zur Station lief, fand sie vor dem Ärztezimmer eine auf dem Boden sitzende Gestalt vor. Erst kurz davor erkannte sie Premysl. Sie kniete sich zu ihm hinunter und fragte ihn, was er denn dort suchen würde. Er hatte die ganze Zeit auf sie gewartet. »Und warum schläfst du nicht?« »Ich kann nicht. Ich muß wissen, wo du bist. Bist du mir böse?« Das Mädchen war jedoch so glücklich, daß sie heute niemandem böse sein konnte. Der junge Mann begriff den Grund ihrer strahlenden Laune allerdings nicht ganz. »Erst heute habe ich es eigentlich zum Orthopäden gebracht. Medizinae orthopädiae Doctor.« Und sie küßte ihren Lieblingspatienten auf seine nichts begreifenden Augen. Mit Hilfe von Oberschwester Jachymova schleppte Dr. Strosmajer seine persönliche Habe und seinen Bürobedarf in den leeren Chefarzt-Raum hinein. »Hier haben Sie zwei Kleiderhaken, werden die reichen?« »Bestimmt, ich weiß nicht einmal, wozu ich den zweiten brauche.« »Hier sind die Schlüssel vom Schreibtisch. Die Sachen darin werden Sie bestimmt selbst aussortieren wollen, nicht wahr?« »Sicher. Ob der Schreibtisch nicht ein bißchen zu groß für mich ist?« »Wollen Sie Blumen haben?« »Was für welche?« fragte Dr. Strosmajer. »Na, eigentlich nicht. Ich würde bestimmt vergessen, sie zu gießen.« Die Oberschwester gab ihm die Hand und wurde auf einmal verlegen. »Also ich wünsche Ihnen, Herr Chefarzt, daß Sie sich hier wohl fühlen - und daß unsere Zusammenarbeit gut klappt.« Auch Dr. Strosmajer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Ich danke Ihnen, das wünsche ich Ihnen auch...« Und um das Ganze ein wenig unkonventioneller zu gestalten, fügte er freundschaftlich hinzu: »... Marthachen.« Damit jagte er Schwester Jachymova einen Heidenschreck ein. Sie verabschiedete sich hastig und verließ schnell das Zimmer. Dr. 149
Strosmajer machte es sich im Sessel am Schreibtisch bequem, lehnte sich mit seinem Rücken voll hinein und versuchte die Hände locker auf den Tisch zu legen. Doch keine der Positionen behagte ihm, in keiner Stellung fühlte er sich wohl. Er probierte eine Verrenkung nach der anderen, als plötzlich neben ihm das Telefon läutete. Das unerwartete Klingeln erschreckte ihn zutiefst. Das Telefon bimmelte noch einmal, und erst jetzt hob er den Hörer ab. »Ja bitte?« Es meldete sich seine Tochter Irena. »Bist du es?« »Ja, Servus!« »Ich hörte, daß sie dich zum Chefarzt gemacht haben.« »Die Ernennung ist noch nicht amtlich.« »Da wird man doch auch wohl dein Gehalt erhöhen, oder?« »Enorm. Wieviel brauchst du?« »Du wirst dich wundern, aber deswegen rufe ich heute nicht an.« »Na so was«, staunte Dr. Strosmajer. »Das beunruhigt mich aber sehr.« »Ich möchte, daß du heute zum Abendessen kommst.« »Zu diesem verschobenen Abendessen?« »Ja, kommst du?« »Ich muß schauen, ob ich frei habe.« »Vati, ich brauche dich hier ganz dringend.« »Was ist denn passiert?« »Das wirst du schon noch sehen«, blockte Irena ab. »Ich erwarte dich um sieben.« Zum Abendessen erschien Dr. Strosmajer frisch rasiert, mit dunkler Hose, weißem Hemd und dezenter Krawatte. Er klingelte. Und Irenas Freund Bohun Bauer öffnete ihm. Dr. Strosmajer versuchte, ein möglichst freundliches Gesicht aufzusetzen: »Ich wünsche einen wunderschönen guten Abend.« Herr Bauer trug ebenfalls eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. »Guten Abend. Das ist aber eine Überraschung. Kommen Sie rein.« Es wurde deutlich, daß er von Dr. Strosmajers Besuch keine Ahnung hatte. Das erschien dem Doktor höchst merkwürdig. »Hat Ihnen Irena nicht erzählt, daß sie mich eingeladen hat?« »Nein, nicht das Geringste.« Aber da erschien Irena bereits und hieß ihren Vater liebenswürdig willkommen. »Servus! Du bist pünktlich wie eine Kirchenuhr. Bis zum Essen kannst du noch ein Schlückchen trinken.« Damit lief sie wieder in die Küche. Herr Bauer musterte Dr. Strosmajer mit 150
verkniffenem Lächeln, was den künftigen Chefarzt nervös machte. »Wann hat Irena Sie zu diesem Abendessen eingeladen?« »Heute, warum?« »Nur so. Kommen Sie, ich schenke Ihnen ein.« Diese Einladung war wieder von dem unangenehmen Lächeln begleitet. Gleich nach dem Abendessen schaute Bauer auf seine Uhr und meinte: »... die Pflicht ruft, ich muß gehen.« Darauf antwortete Irena mit Spannung in der Stimme: »Welche Pflicht?« »Wir haben doch Generalprobe.« Irena war offensichtlich auf dieses Duell gut vorbereitet: »Heute gibt es keine.« »Also eigentlich zuerst Probe und nachher eine Generalprobe«, korrigierte sich Herr Bauer. »Davon müßte ich doch auch etwas wissen.« »Du bestimmt nicht.« »Im Falle einer Probe würde ich doch davon verständigt, oder?« »Heute probieren wir etwas anderes.« »Aha, vielleicht auch mit anderen Moderatorinnen?« Diesem Vorwurf begegnete Herr Bauer gelassen. »Willst du vielleicht die zänkische Geliebte spielen?« Dr. Strosmajer empfand diesen Wortwechsel mehr als peinlich. Und das Unvermeidliche trat ein - Irena wandte sich direkt an ihn. »Vati, sag du ihm, daß er mich mitnehmen soll.« »Ich? Das ist doch eure Sache.« »Damit du klar siehst. Am Horizont tauchte eine gewisse Zorka Marakova auf - und das ist es, was unseren kleinen Bohun zu Proben zieht.« »Ich bin ganz begeistert von dieser Zorka«, reagierte Herr Bauer eindeutig. »Ihr Vater ist ja auch Geschäftsführer im Hotel Grand - das verlangt schließlich eine nähere Betrachtung.« »Auf diesem Niveau werde ich mich mit dir nicht unterhalten.« Als er im Begriff war aufzustehen, schrie Irena ihren Vater an: »Du läßt ihn gehen? Ich habe ihn ernährt, ich habe ihm Klamotten gekauft, ich habe seinetwegen Geld gestohlen, nicht für mich, sondern für ihn...« Dr. Strosmajer war wie gelähmt, und mühsam brachte er heraus: »Na gut, aber du kannst ihn doch nicht daran hindern. Wenn er gehen will, dann soll er...« »Und ob ich ihn hindern werde! Wenn du mir nicht hilfst, werde ich mir selbst helfen.« Sie stob an ihrem Freund Bohun vorbei in 151
den Flur, und gleich darauf hörten beide Männer das Abschließen der Haustür. Dann knallte die Tür zur Küche zu, und auch dort drehte sich der Schlüssel laut im Schloß. »Jetzt hat sie sich in die Küche eingeschlossen«, bemerkte Herr Bauer mit stoischer Ruhe. »Sagen Sie doch selbst, kann es ein vernünftiger Mensch mit ihr überhaupt aushalten?« Der Arzt fragte leise: »Spielt sich hier so etwas öfter ab?« »Jetzt fast täglich.« »Also Sie wollen sie wirklich verlassen?« »Na, wundert Sie das?« Der Doktor wollte eine passende Bemerkung machen, fragte aber: »Könnte ich irgendwie helfen?« »Bestimmt, das könnten Sie.« »Wie?« Herr Bauer stand auf und umkreiste Dr. Strosmajer. »Sie sind doch jetzt Chefarzt, wenn ich mich nicht irre?« Dr. Strosmajer nickte. »Mir geht es nicht um eine Zorka oder um jemand anderen. Da ist eine wie die andere. Ich bleibe ganz gerne bei Irena. Aber für Sie hätte ich einen Vorschlag.« »Was für einen?« »Sie als Chefarzt werden doch nun ziemlich viel Kohle verdienen. Jeder wird verlangen, daß ihn der Chefarzt persönlich operiert, und so kommt eine erträgliche Summe zusammen. Wir könnten ein Geschäft machen: Sie werden mir eine kleine Monatsapanage zahlen, sagen wir mal fünfzehnhundert, und ich bleibe bei Irena.« Dr. Strosmajer glaubte, sich verhört zu haben. »Ich soll Sie dafür bezahlen, daß Sie bei ihr bleiben?« »Richtig, die Hälfte geht sowieso für Alimente drauf.« In Sekundenschnelle packten ihn die kräftigen Hände des Chirurgen und schüttelten ihn, daß ihm Hören und Sehen verging. Herr Bauer schrie wie aufgespießt. »Sind Sie verrückt geworden? Sie tun so, als ob Sie nicht wüßten, daß sie ein ganz gewöhnliches Flittchen wird, wenn ich sie verlasse.« Dr. Strosmajer stieß ihn von sich weg, so daß Herr Bauer auf den Tisch stürzte, das Geschirr runterfegte und samt den Trümmern mit einem umfallenden Stuhl unsanft auf dem Boden landete. Dann lief der Chirurg zur Haustür, die jedoch verschlossen war, drehte sich um, rannte in die Küche, die seine total verstörte Tochter in der Zwischenzeit geöffnet hatte und brüllte: »Schlüssel!« Mit ängstlicher Bewegung gab ihm Irena den Schlüsselbund. Dr. Strosmajer schloß die Haustür auf und donnerte sie hinter sich zu. 152
Am nächsten Morgen rannte Oberschwester Jachymova in die Ambulanz und rief Dr. Strosmajer laut zu: »Herr Chefarzt, Ihre Tochter wurde auf die Intensivstation gebracht!« »Irena?« Der Orthopäde wollte seinen Ohren nicht trauen. »Womit?« »Gas und Tabletten.« Mehr fragte Dr. Strosmajer nicht. »Entschuldigung«, und rannte zur Intensivstation. »Welches Gas, welche Tabletten?« fragte er den diensthabenden Arzt. »Dormogen und etliche Beruhigungs-Tabletten, sie hat sich ganz gemütlich am Küchenherd schlafen gelegt.« »Wie sieht es aus?« »Ich hatte zunächst Bedenken, aber sie hat sich gut erholt. Sie ist jung, das Herz hält es aus.« Dr. Strosmajer wandte sich an Dr. Kralova, die daneben stand. »Bei Bewußtsein?« Dana nickte: »Sie wacht gerade auf.« Sie wies auf die ersten Reaktionszeichen. Der Doktor nickte bedrückt. »Ist das Hirnzentrum betroffen?« Dana schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht.« »Warum hat sie das getan?« fragte Alzbeta Dr. Strosmajer später erschüttert. »Das ahne ich nur zur Hälfte«, antwortete Dr. Strosmajer. »Wahrscheinlich spiele sogar ich eine Rolle dabei.« »Aber es wird doch gut ausgehen?« »Ich glaube ja. Vielleicht bringt das Ganze auch etwas Positives mit sich. Es hilft ihr eventuell nachzudenken. Obwohl - wer weiß?« Das Telefon klingelte, und Dr. Strosmajer hob ab. Der Direktor des Krankenhauses meldete sich mit kühler Stimme. »Mir liegt eine Meldung vor, die ich nicht verstehe. Auf der Polizei ist ein gewisser Bohumil Bauer erschienen und hinterlegte dort ein ärztliches Attest. Sein Schlüsselbein sei angebrochen, und Sie sollen es gewesen sein, der das verursacht hat. Was ist das für ein Unsinn?« »Kein Unsinn, vermutlich stimmt das«, brummte Dr. Strosmajer. »Wissen Sie, was das bedeutet? Jetzt, wo Sie in die neue Funktion berufen werden sollten?« Dr. Strosmajer zuckte nicht einmal mit seiner Augenbraue. Er wußte, daß seine Berufung nicht genehmigt würde. Es schien sogar, als ob seine Lippen ein Lächeln umspielte. 153
10. KAPITEL
An jenem Tage schaute Dr. Arnost Blazej die Röntgenbilder durch und diktierte Kinderschwester Jarka seine Befunde: »Die Kerne bis jetzt unterentwickelt, die Behandlung fortsetzen, Termin in einem Monat. Nächste Aufnahme: Die Behandlung beendet, die Bügel sind nicht mehr erforderlich. Nächste Aufnahme: Alles abgeschlossen.« Plötzlich war ein leichtes Klopfen an der Tür zu vernehmen, und Ina schaute hinein. »Herr Doktor, könnte ich Sie einen Augenblick stören?« Arnost nickte und seine Stimme klang großmütig: »Kommen Sie nur herein, Ina.« Ina blieb im Türrahmen stehen und schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen gerne... ich habe etwas mitgebracht... könnten Sie für einen Augenblick rauskommen?« Dr. Blazej begriff, daß es sich wirklich um etwas Dringendes handeln mußte. Er legte deshalb das gerade begutachtete Bild zur Seite und bat Schwester Jarka um einen Moment Geduld. Im Flur schaute sich Dr. Blazej prüfend um, doch sie waren allein. »Hier wartet doch niemand?« »Nein, das >etwas< ist für dich eine riesige Neuigkeit.« Dr. Blazej dämpfte seine Stimme: »Du hast heute abend Zeit?« »Das nicht, aber du wirst zum Chefarzt ernannt.« Arnost wurde blaß: »Wie bitte?« »Es ist bereits entschieden.« »Was ist das für ein Quatsch?« »Dr. Strosmajer hatte Schwierigkeiten. Er prügelte sich mit jemandem und brach ihm das Schlüsselbein.« »Das weiß ich.« »Der Kerl meldete das der Polizei, und es kommt zu einem Gerichtsverfahren. Dr. Strosmajer wurde in seiner Funktion als Chefarzt nicht bestätigt.« Arnost merkte, daß die ganze Geschichte realistisch klang. Trotzdem fragte er weiter: »Von wem weißt du das alles?« »Die Sekretärin des Direktors hat es auf der Betriebsratsitzung meiner Schwiegermutter gesagt.« »Tatsächlich?« »Die haben es dort bereits durchgesprochen.« 154
Arnosts Gesichtsfarbe wechselte von blaß zu rot und er fragte heiser: »Stimmt das?« »Ich bin glücklich, daß ich die erste bin, die es dir mitteilen kann.« Dr. Blazej umarmte sie stürmisch und rief außer sich vor Freude: »Ina, das werde ich dir niemals in meinem Leben vergessen.« Ina lachte glücklich: »Und vielleicht, vielleicht habe ich morgen über Mittag ein Stündchen Zeit. Wo kann ich Dich finden?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Dr. Blazej immer noch ganz aufgeregt. »Ich glaube, daß ich mich nicht aus dem Krankenhaus entfernen kann. Was, wenn sie mich rufen?« Arnost merkte, daß er Ina verletzt hatte und versuchte sie zu trösten: »Aber ich werde mich auf jeden Fall melden.« Er schaute sich vorsichtig um und küßte sie dann auf die Wange. »Du bist ein ganz großes Mädchen, mein größtes.« Noch am selben Tag machte Doktor Cvach seine Aufwartung beim Krankenhausdirektor. Ohne lange Vorreden platzte er gleich mit seinem Anliegen heraus. »Sie, Herr Direktor, wissen vermutlich, worum es mir geht.« »Keine Ahnung«, sagte der Direktor wahrheitsgemäß. »Ich habe erfahren, also alle haben das erfahren, daß wir einen neuen Chefarzt bekommen sollen.« »Die krankenhauseigene Buschtrommel funktioniert ja mal wieder hervorragend.« »Aber ich wollte meinen Ohren nicht trauen, daß es der Kollege also Herr Blazej werden soll.« »Warum wollen Sie das nicht glauben?« »Weil ich angenommen habe, daß ein Chefarzt für diese Funktion gewisse, ich würde sagen, grundsätzliche Voraussetzungen mitbringen muß.« »Und die hat Dr. Blazej nicht?« »Also es tut mir leid, aber die hat er nicht.« »Ist er also Ihrer Meinung nach kein guter Orthopäde?« grinste der Direktor amüsiert. »Im praktischen Bereich vielleicht, aber in der Theorie schon weniger. Das ist nicht gerade seine Stärke, nicht wahr?« »Nun, ich weiß, daß ihn die Leute schätzen - auch Chefarzt Dr. Sova hielt ihn für ...« »Ich sage, daß es mir nicht um seine fachliche Qualität... « »Also worum? Irgendein politischer Fleck?« Der Direktor wurde aufmerksam. »Nicht gerade politisch.« Dr. Cvach bemühte sich, seine Antwort sorgfältigst abzuwägen: »Aber gesellschaftlich auf jeden Fall.« 155
»Also raus damit!« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine so wichtige Abteilung wie die Orthopädie von einem Menschen geleitet wird, der ein Verhältnis mit einer Person in eben dieser selben Abteilung hat.« »Sie meinen diese... die... wie heißt sie?« »Ina, früher Galuskova.« »Aber das ist doch schon alles passé. Er hat eine Verwarnung bekommen, und sie hat sich sogar verheiratet. Damit...« Dr. Cvach nutzte die Atempause des Vorgesetzten und vollendete den Satz: »... ging alles wieder von vorne los.« »Was?« »Wieder.« »Das wissen Sie bestimmt?« »Ganz genau.« Für einen Augenblick verschlug es dem Direktor die Sprache. »Dann muß ich eben noch einmal mit ihm ein Hühnchen rupfen.« »Und wieder wird sich nichts ändern.« Dem Direktor ging das ganze Gespräch sichtlich auf die Nerven. »Mensch, Herr Kollege, die ganze Sache ist nicht so einfach. Chefärzte sind Mangelware - und wir können es uns nicht leisten, wegen eines Seitensprungs einen solch fähigen Mann zur Seite zu schieben. Wir kriegen nämlich nirgendwoher einen anderen.« »Ich denke, so schwer wäre das gar nicht.« Der Direktor hielt verwundert inne. »Wissen Sie vielleicht einen?« Das Gesicht von Doktor Cvach spiegelte seine sämtlichen Empfindungen wider: Empörung, Ungeduld, aber auch zähe Vorsicht. »Es geht in erster Linie um einen Menschen, der außer der Grundausbildung und der Praxis auch über gewisse organisatorische Fähigkeiten verfügt, weil Teamarbeit immer mehr zu einer Frage der perfekten Organisation wird, nicht wahr? In der Zeitschrift >Chirurgie< wurde von mir darüber eine kurze Abhandlung veröffentlicht. Ich habe mich mit dieser Frage sehr intensiv beschäftigt.« Gespannt wartete er nun und hoffte, daß der Direktor sich selbst den Rest zu Ende reimen konnte. Doch der schien begriffsstutzig. »Na, das ist zwar fein, aber das löst immer noch nicht unser Problem.« »Wieso nicht?« Ein scharfer Blick traf Dr. Cvach. Der Direktor hatte erkannt, daß vor ihm ein neuer Anwärter auf die Stelle des Chefarztes saß. »Sie meinen also, daß Sie selbst dieses schwere Amt auf Ihre 156
Schultern nehmen würden, wenn ich das richtig verstehe.« »Genauso.« Der Direktor konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Es hat mich allerdings etliche Mühe gekostet, nicht wahr?« Dr. Cvach lächelte ebenfalls. Er hielt die Reaktion des Direktors für Zustimmung. Um so unvermuteter ließ ihn die eisige Stimme zusammenzucken. »Schauen Sie, Herr Doktor. Wir Verwaltungsleute sind dazu da, um dieses Hospital zu leiten und unsere Mannschaft vor allen möglichen und unmöglichen Sachen zu schützen. Doch in erster Linie sind wir dazu da, Menschen bei ihrer Heilung zu unterstützen. Ich könnte in keinem Fall die Verantwortung dafür übernehmen, daß ich die Leitung einer so wichtigen Abteilung jemandem übertrage, der kein erstklassiger Orthopäde ist. Und der, seien Sie mir nicht böse, sind Sie nicht. Sie dürfen nicht glauben, daß Ihr Direktor so uninformiert ist und nicht weiß, was in seinem Krankenhaus vorgeht.« Dr. Cvach war immer blasser geworden und vergaß fast zu atmen. »Aber Sie geben doch bestimmt zu, daß sich ein Mensch ändern und entwickeln kann.« »Das ja«, räumte der Direktor ein. »Aber wenn ich meinen Vorgesetzten einen Chefarzt mit der Einschränkung vorschlage, daß er sich noch entwickeln müsse, würden sie mich mit gutem Recht rausschmeißen. Aber wenn Sie darauf bestehen, können wir's versuchen.« Nach diesen Worten befand sich Doktor Cvach auf dem psychischen und physischen Tiefpunkt. »Danke, das ist nicht nötig - ich denke, das wird nicht mehr erforderlich sein.« Karel betrat den mit Patienten überfüllten Warteraum und verkündete: »Es tut mir leid, aber ich muß zu einem dringenden Fall nach Pribyslavic fahren. Ich rechne, daß ich etwa in einer Stunde zurück bin. Wer warten kann, soll warten, wer nicht, soll mit der Schwester einen anderen Sprechstundentermin ausmachen. Bis dann.« Er wartete nicht einmal auf die Resonanz, sondern verschwand gleich wieder in seinem Sprechzimmer. Dadurch verfehlte er seinen Vater, der gerade das Wartezimmer betreten hatte. Die Patienten scharten sich um die alte, wohlbeleibte Schwester Klapetkova, um neue Termine auszuhandeln. Dr. Sova drängelte sich entschuldigend vor. »Guten Tag!« »Guten Tag«, antwortete ihm mürrisch die Krankenschwester. 157
»Was fehlt Ihnen?« Dr. Sova lächelte: »Mir überhaupt nichts. Ich dache nur, ich könnte mich hier der Sache annehmen, bevor Karel zurückkommt.« Erstaunt musterte ihn die Schwester: »Sie sind Chefarzt Dr. Sova?« »Nur Dr. Sova. Und Sie sind bestimmt Schwester Klapetkova. Im Kreiskrankenhaus wurde mir viel von Ihnen erzählt.« Sie schüttelten sich die Hände und dann fragte Dr. Sova aufmunternd: »Also was meinen Sie, packen wir's an?« Schwester Klapetkova war höchst verunsichert. »Ich weiß nicht, Sie haben damit hier doch keine Erfahrung.« »Aber was denn, wie denn!« Dr. Sova rieb sich die Hände. »Jeder menschliche Körper ist anders, aber überall gleich - ich habe über Sie soviel Lob gehört, wenn Sie mich unterweisen, können wir doch nichts verderben, was meinen Sie?« Schwester Klapetkova lief vor Stolz rot an. »So ... so ... na bitte. Sehr gerne.« Als Karel nach zwei Stunden wieder zurückkam, stürmte er in die Ordination und rief: »Ich habe mich furchtbar aufgehalten! Bei dem Unikum was auszurichten - das war Schwerstarbeit.« Die Schwester entgegnete, ohne eine Miene zu verziehen, mit der verblüffenden Feststellung: »Wir sind gleich fertig.« Karel stutze und hörte dann aus dem Nebenraum die ihm vertraute Stimme seines Vaters: »Und wenn ich hier drauf drücke, Omi, tut es weh, ja?« »O ja, dort am meisten.« »Aber nun hört es auf, oder?« »Jetzt schon. Aber nachts mache ich kein Auge zu.« Karel betrat den Behandlungsraum, erblickte die alte Frau, die auf der schmalen Liege lag und wurde von seinem Vater mit einem fröhlichen »Servus, Karel« begrüßt. Karel grüßte zurückhaltend. Sein Vater ignorierte den Mißmut in der Stimme und spannte ihn gleich ein: »Komm her und faß an, mir sieht es nach einer Bauchfellentzündung aus.« Sein Sohn wich verlegen aus: »Ich glaube, ich muß zu meinen Patienten hinausfahren.« Schwester Klapetkova schaute ihn verwundert an und Karel fügte in etwas freundlicherem Ton hinzu: »Ihr werdet das hier schon irgendwie meistern.« Und weg war er. Dr. Sova quittierte seine Flucht mit Genugtuung. Dieser Junge mußte so beschäftigt gewesen sein, daß er nicht gewußt haben konnte, woher er die Zeit nehmen sollte. 158
Am selben Abend entschloß sich Karel, doch noch seinen Vater im Gästezimmer zu besuchen. Dr. Sova legte das Buch zur Seite, das er gerade las, und begrüßte Karel mit aufrichtiger Freude: »Sei gegrüßt, ich wollte gerade schauen, ob du schon zu Hause bist.« Er reichte Karel die Hand, klopfte ihm auf die Schulter, lebhaft, frisch und fröhlich, was in sichtbarem Gegensatz zum betrübten Blick in Karels Augen stand. Er bat Karel, sich zu setzen, bot ihm Kaffee an und auch ein bißchen Kuchen. Karel nahm lediglich eine Tasse Kaffee und setzte sich müde auf die Couch. Dr. Sova tat, als ob alles in Ordnung sei. »Hör mal, Karli, die Ausstattung der Ordination ist gar nicht so schlecht, aber die Reparaturen müssen durchgeführt werden. Schwester Klapetkova sagte mir, daß es ziemlich lange dauert, bis ein Elektroinstallateur kommt.« Der Sohn unterbrach ihn. »Vater, warum bist du gekommen?« »Wieso, warum, braucht ihr hier etwa nicht noch einen Arzt?« »Brauchen wir schon, aber warum willst du das machen?« »Ich? Ich habe meine Chefarztlaufbahn beendet und fühle, daß ich mich noch irgendwo nützlich machen kann.« »Da hättest du gleich im Krankenhaus bleiben können.« »Das hätte ich, aber hier werde ich wahrscheinlich mehr gebraucht. Bist du mir böse, daß ich ohne dein Einverständnis deine Sprechstunde übernommen habe und anfing, deine Patienten zu behandeln?« »Du weißt, daß mir das von alledem das wenigste ausmacht.« »Also, dann begreife ich nicht, was du wirklich an meinem Kommen auszusetzen hast?« »Weil du nur deshalb gekommen bist, um mich umzukrempeln.« »Wieso umkrempeln?« Sein Sohn sprang auf und begann durch das Zimmer hin und her zu laufen. »Also anders ausgedrückt, um mich umzuerziehen. Du kannst das nennen, wie du willst. Aber ich brauche keine Umerziehung, ich bin hier ziemlich zufrieden, ich sehne mich nach nichts anderem, höchstens danach, daß mich die Leute in Ruhe lassen.« »Die Leute, das bin ich?« fragte der Vater. »Das sollte jeder selbst wissen.« Der Vater überlegte eine Weile und nickte dann. »Gut, ich werde also versuchen, mich zurechtzufinden, so gut es geht. Und ich akzeptiere auch für den Anfang deine These, daß ich nur deshalb hierher gekommen bin, um dich zu ändern. Ich werde dich also umkrempeln, und du wirst dich dagegen wehren. Mal sehen, wer das länger aushält.« Er trank zufrieden einen Schluck Kaffee und 159
sprach weiter: »Und jetzt teile mir bitte einen Bezirk, die Sprechstunden sowie eine Krankenschwester zu.« »Warum, wieso ich?« rief Karel. »Weil einer von uns beiden hier der Chef sein muß - und das bist du«, antwortete Dr. Sova, seinen Sohn listig über den Tassenrand beobachtend. Der Krankenhausdirektor führte Dr. Blazej in das Chefarztzimmer und wünschte ihm für seine neue Laufbahn viel Erfolg sowie Hals- und Beinbruch. Dr. Blazej konnte seine innere Befriedigung kaum verbergen: »Keine Angst, hier werden schon alle parieren.« »Ich habe keine Angst«, meinte der Direktor. »Sehen Sie sich nur vor dem Gerede vor.« »Welches Gerede?« Arnost schaute ihn wachsam an. »Ein Kollege von Ihnen war bei mir, ich will seinen Namen nicht nennen, und der sagte mir, daß Sie Ihre Affäre mit der Schwester noch nicht beendet haben. Ja, er behauptete sogar das Gegenteil.« Arnost wurde blaß: »Das... das sagte er?« »Es ist nicht wichtig, ob er das sagte, sondern ob es stimmt.« Arnost stotterte: »In diesem Augenblick ist es nicht mehr wahr.« »Das höre ich gerne. Dem Doktor ging es auch eher darum, auf diesem Chefarztsessel selbst zu sitzen... « Mit dieser Beschreibung wurde es Arnost klar, um wen es ging. »... und ich sähe es ungerne, wenn Sie in ein unnötiges Malheur schliddern.« »Glauben Sie, daß es gut wäre, wenn die Schwester in eine andere Abteilung versetzt würde?« »Vielleicht wäre es das beste.« »Ich sorge dafür.« Der Direktor sah ihn prüfend an. Dieser Eifer schien ihm ein wenig übertrieben. »Na, wie Sie meinen. Also noch einmal, viel Erfolg!« Kaum war der Direktor draußen und die Tür wieder zu, da eilte Dr. Blazej ans Telefon. Er suchte Dr. Cvach. Doch die Oberschwester konnte ihm keine Auskunft geben. Dr. Cvach war nicht aufzufinden, und so bat Dr. Blazej die Oberschwester, ihn sofort zu ihm zu schicken, wenn er zurückkäme. Danach verlangte er Schwester Ina, zögerte jedoch wieder und bat statt dessen die Oberschwester zu sich. Dann hing er auf, setzte sich an seinen gro160
ßen Schreibtisch und wartete. Schwester Jachymova wirkte überrascht und sehr gespannt. »Hier bin ich, Herr Dokt... Herr Chefarzt.« »Nehmen Sie Platz!« Dr. Blazej wies auf einen Stuhl. Er begann mit einer, wie er sagte, organisatorischen Bemerkung: Es würde reichen, wenn er mit Dr. Cvach erst in den nächsten Tagen sprechen würde, diese Angelegenheit hätte sich für sie erledigt: Die Oberschwester nickte. Dr. Blazej fuhr mit strengem Ton fort: »Weiterhin wurde mir zugetragen, daß im Krankenhaus Gerüchte zirkulieren über meine Beziehung zu Ina. Ich meine, gegenwärtige Beziehungen. Weil es sich dabei um ganz gefährliche Erfindungen handelt, meine ich, daß es angebracht wäre, wenn Ihre Schwiegertochter in eine andere Abteilung wechselt, ganz nach ihrer eigenen Wahl.« Arnost wartete auf die Reaktion von Schwester Jachymova. Doch sie saß so stumm da, als ob sie die Sprache verloren hätte. »Außerdem ist es auch aus Gründen des Verwandtschaftsverhältnisses erforderlich.« »Na... ja«, preßte die Oberschwester mühsam heraus. »Soll ich sie zu Ihnen schicken?« »Das ist nicht nötig«, entschied Dr. Blazej kühl. »Ich werde jetzt sowieso keine Zeit haben. Das können Sie doch selbst erledigen, oder?« »Ich denke schon.« Arnost machte ein fast staatsmännisch besorgtes Gesicht: »Und richten Sie ihr aus, daß ich ihr bei ihrer weiteren Arbeit alles Gute wünsche.« Premysl Rezek saß auf einem kleinen Hocker und war bereits fix und fertig angezogen. Er hielt zwar in einer Hand seine beiden Stützkrücken und war im Gesicht auch noch sehr blaß, doch er wirkte schon nicht mehr wie ein Patient. Alzbeta, die gerade aus dem Krankensaal kam, erschrak und fragte, was er denn hier machen würde. Darauf hatte Premsyl schon lange gewartet, und er lächelte sie an: »Ich warte auf dich. Ich fahre zur Kur.« »Darauf bin ich gar nicht vorbereitet. Wann fährst du?« Der junge Mann blickte auf seine Uhr. »In nicht ganz vier Stunden.« Alzbeta verstand aber immer noch nicht, warum er schon jetzt in den Startlöchern saß. »Weil ich diese vier Stunden für mich alleine haben möchte - raus aus diesem Krankenhaus.« Alzbeta verstand, doch sie würde erst in einer halben Stunde Dienstschluß haben. 161
»Gut, also dreieinhalb Stunden.« »Dreieinhalb. Wo wirst du auf mich warten?« Er sah sie mit einem prüfenden Blick an: »Ich dachte, daß du mir deinen Schlüssel leihst.« Alzbeta fragte schockiert: »Von meinem Zimmer?« Premysl wiederholte leise: »Das habe ich wirklich ernst gemeint.« Alzbeta flüsterte verlegen: »Draußen regnet's, nicht wahr?« »Nein, das tut es nicht.« Sie bemühte sich noch einmal, ihn von seinem Vorhaben abzubringen: »Aber du darfst noch nicht lange deine Beine belasten.« Premysl verwarf ihren Einwand: »Hier stehen überall Bänke.« Er blieb hartnäckig, und sie mußte im stillen beschämt ihre Feigheit eingestehen. Sie griff in die Tasche und reichte ihm den Schlüssel: »Nummer dreihundertsieben.« Premysl Rezek lächelte dankend und verschwand langsam den Gang hinunter. Im dritten Stock des Wohngebäudes angekommen, suchte er nach der richtigen Türnummer. Hinter ihm tauchte im Treppenhaus plötzlich der Gefäßchirurg Dr. Rehor auf. Er betrachtete den suchenden Mann genau und grüßte ihn leise: »Guten Tag!« »Guten Tag!« Premysl fand die Tür mit der Nummer dreihundertsieben, schloß auf und ging hinein. In der Zwischenzeit saß Dr. Rehor im Zimmer von Dana Kralova und schaute sie voller Spannung an. »Ich wollte dich etwas fragen.« »Nur zu.« »Ob du mich heiraten willst.« Dana hatte jedoch nichts verstanden, denn während seines Nuschelns zischte gerade überkochende Milch auf den Herd. »Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.« »Ich fragte dich, ob du mich heiraten willst.« Sie drehte sich mit dem Topf in der Hand zu ihm um und starrte ihn an. »Was sagst du da?« »Du hast mich auch jetzt nicht gehört?« »Jetzt habe ich dich gehört - aber nicht verstanden. Warum fragst du mich das?« »Ich denke darüber bereits seit einigen Tagen - und Nächten nach.« Dana setzte sich zu ihm, er tat ihr wirklich leid. »Aber über solche Dinge denkt man nicht nach, die weiß man.« »Macht es denn etwas aus, daß ich mir nicht sofort darüber klar war?« 162
»Das macht schon etwas. Du machst das aus allen möglichen Gründen, nur nicht deshalb, weil du ohne mich nicht leben könntest.« Die Worte des Chirurgen klangen verzweifelt. »Ich mache es deshalb, weil ich mich alleine fühle. So wie nie zuvor. Und nachdem ich über jeden hier nachgedacht habe, zu dem ich in meiner Einsamkeit gehen könnte, bliebst nur noch du übrig.« »Außer Alzbeta.« »Stimmt. Aber du konntest doch auch nicht immer denjenigen kriegen, den du haben wolltest.« Dr. Kralova mußte ihm leider recht geben: »Nicht immer, sondern niemals.« »Und du hast nie das Gefühl gehabt, daß du so einsam bist, daß du unbedingt jemanden brauchst, niemals?« »Du weißt, daß ich das schon seit geraumer Zeit empfinde. Warum fragst du mich also danach? Aber unter dieser Bedingung kann man doch nicht heiraten.« Dr. Rehor legte den Kopf in die Hände und verdeckte damit sein Gesicht. Alzbeta und Premsyl küßten sich heiß und innig zum Abschied. »Denk an mich, und bleib mir treu.« »Ich gehöre dir. Niemals habe ich irgend jemandem so gehört wie dir.« »Und ich dir.« Dann kam der letzte Kuß. Premysl humpelte langsam zur Treppe und die Treppe hinunter. Dana blickte zufällig aus dem Fenster, als er das Haus verließ und berichtete leise: »Da kommt er gerade heraus - und geht zum Krankenwagen.« Dr. Rehor saß immer noch auf seinem Platz. Er hob seinen Kopf und schaute sie mit geröteten Augen an. »Dana, wirst du über mein Angebot wenigstens nachdenken?« Seine Stimme klang eindringlich. »Über solche Dinge denkt man... Ich werde darüber nachdenken.« Dr. Cvach riß die Tür zum Zimmer des neuen Chefarztes auf und strahlte, wie gelöst er sein könnte, wenn er auf diesem Sessel säße. Dr. Blazej notierte schweigend etwas in seinem Block und zeigte ihm lediglich mit einer Handbewegung, daß er sich setzen sollte. Dr. Cvach nahm Platz, und in dem still gewordenen Raum konnte man nur das energische Kritzeln eines Füllfederhalters auf dem Papier vernehmen. Dr. Cvach begann leise eine Melodie zu 163
pfeifen. Ein Blick von Dr. Blazej ließ ihn verstummen. Endlich legte der Chefarzt die Feder zur Seite und schaute ihn nachdenklich an. »Ich lade die einzelnen Mitarbeiter der Abteilung zu mir, um sie zu fragen, was ihnen an unserer Arbeit gefällt, was sie verbessern möchten, was sie selbst lieber machen würden und selbstverständlich auch, ob sie nicht irgendwo anders hingehen wollen...« Hier machte er eine kleine Pause, und Dr. Cvach verstand es als einen Hinweis zur Antwort. Er zögerte nicht und legte ohne Bedenken los: »So. Ich würde mir wünschen, daß wir bei Operationen die Möglichkeit haben, alle Varianten auszuprobieren...« Weiter kam er nicht. Dr. Blazej würgte ihn frostig mitten im Satz ab: »Ich war noch nicht zu Ende, wenn Sie erlauben...« »Entschuldige.« Er überhörte dabei absichtlich, daß Arnost das frühere Duzen längst in das offizielle Sie verwandelt hatte. »Ich wollte sagen, auch die Leitung beabsichtigt, sich zu jedem zu äußern, der hier arbeitet. Ob man mit ihm da oder dort rechnet oder überhaupt nicht rechnet. Sie können sich bestimmt ausrechnen, Herr Kollege, daß auf Sie der letztere Fall zutrifft.« Dr. Cvach wurde blaß. Auf eine solche Attacke war er nicht vorbereitet. »Welcher letzterer, Arnost?« Darauf fragte Dr. Blazej in drohendem Ton: »Wie bitte?« Dr. Cvach korrigierte sich schleunigst: »Herr Chefarzt!« Jetzt versetzte Dr. Blazej ihm den letzten Schlag: »Derjenige, der hier nicht bleiben kann.« Dr. Cvach schluckte. »Wieso kann ich hier nicht bleiben?« »Das wissen Sie doch selbst.« »Ich weiß nichts davon.« »Wollen Sie, daß ich Ihnen Tag für Tag Ihre Halbheiten und unqualifizierten Eingriffe aufzähle, wollen Sie das wirklich?« Bis zu diesem Zeitpunkt war Dr. Cvach noch bereit, sich dem neuen Chefarzt zu fügen. Jetzt begriff er jedoch, daß das verlorene Liebesmüh war und streckte die Krallen aus. »Ich glaube, daß Sie so etwas nicht machen.« »Wenn Sie freiwillig gehen, dann nicht.« »Sie werden es auch dann nicht wagen, wenn ich nicht weggehe.« »Wie bitte, wie wollen Sie das denn anstellen?« Dr. Cvach spuckte nun Gift und Galle. »Ich rate Ihnen ein letztes Mal sehr ernstlich von diesen Drohungen ab.« »Und ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden zum Überlegen.« »Setzen Sie sich gefälligst selbst Ihre achtundvierzig Stunden.« 164
Damit erhob sich Dr. Cvach, verneigte sich spöttisch und verließ grinsend den Raum. 11. KAPITEL Alzbeta stürmte in das Ärztezimmer wie eine Windböe: »Unten wurde mir gesagt, daß hier ein Brief auf mich wartet.« Dr. Strosmajer war damit beschäftigt, einen Bericht mit der Schreibmaschine zu tippen. »Aber selbstverständlich, spüren Sie nicht im ganzen Raum die glühende Wärme? Dieses Schreiben muß infrarote Strahlen abgeben oder so etwas...« Das Mädchen griff nach dem Brief und riß lachend den Umschlag auf. »Bitte ohne Kommentar!« »Aber das erlaubt mir doch mein graues Haar!« Alzbeta las den Brief in einem Atemzug zu Ende. Dr. Strosmajer konnte es kaum aushalten, so lange zu warten. Dann fing er an: »Betrachten Sie es, Betti, nicht als Einmischung in Ihre inneren Angelegenheiten. Aber haben Sie nicht auch das Gefühl, daß das schönste an alledem das Aufreißen des Umschlages ist? Danach ist es natürlich auch hübsch, aber die Hast und Eile und die pulsierende Hoffnung... Das ist genau das gleiche, wenn man die Knöpfe an einer Bluse nicht schnell genug aufkriegt. Nicht, daß man darunter etwas Neues entdecken würde, etwas anderes als vorher, aber trotzdem überwältigt es einen immer wieder.« »Mich überwältigt überhaupt nichts.« »Jetzt sprechen Sie vom Umschlag oder etwa von den Knöpfchen?« »Weder von dem einen noch vom anderen.« »Das ist allerdings nicht zum Spaßen«, meinte besorgt Dr. Strosmajer. »Waren Sie schon zur Untersuchung?« »Keine Sorge, Herr Ex-Chefarzt, alle Untersuchungen sind positiv ausgefallen.« Sie steckte den Brief in ihre Kitteltasche und verließ den Raum. An der Tür stieß sie auf den gerade eintretenden Dr. Cvach. Dr. Strosmajer war bereits wieder mit der Schreibmaschine beschäftigt, doch es war ihm nicht vergönnt, seinen Bericht fertig zu tippen. Dr. Cvach baute sich vor ihm auf und fragte mit hoher Stimme: »Herr Kollege, kann ich Sie um einen Rat bitten?« Verblüfft hielt der stellvertretende Chefarzt mit seinen Tippübungen inne. 165
»Was denn für einen?« »Ich werde die Dinge beim Namen nennen. Der Chefarzt will mich aus der Abteilung rausdrängen. Glauben Sie, daß irgendeine Hoffnung auf Verbleib besteht?« Der Altdoktor kratzte sich ausgiebig hinter seinem Ohr: »Auch ich will es vesuchen.« »Was?« »Die Dinge beim Namen zu nennen. An Ihrer Stelle würde ich die Orthopädie hier verlassen - und ich würde es tun, bevor es zu spät ist.« Dr. Cvach wurde es unheimlich. »Aber warum?« »Weil Sie und die Orthopädie sich nicht mögen. Sie streben eifrig nach ihr, ich würde fast sagen, daß Sie es auch manchmal versuchen, sie zu vergewaltigen. Aber sie ist eine unnachgiebige Stute und wirft einen schlechten Reiter oft aus dem Sattel.« »Sind Sie sich dessen so sicher?« »Schauen Sie, Herr Kollege. Die wertvollste menschliche Eigenschaft ist, auf dem Teppich bleiben zu können. Von sich selbst nicht weniger denken, als es die anderen tun, aber auch nicht mehr. Und beides ist furchtbar schwierig. Zum Glück teilt es die Chirurgie schnell mit. Man erfährt es zuverlässig in zwei, drei Jahren. Sie haben das allerdings im Eiltempo geschafft. Also, was hält Sie hier, zum Teufel?« Dr. Cvach schluckte schwer. »Ich habe doch keine Chance bekommen.« »Aber hier geht es doch nicht um Chancen«, rief Dr. Strosmajer erbost, »hier geht es um Hände, um Beine, ums Leben. Diesen Kampf können Sie nie bestehen, und er ist für Sie vergeblich!« Dr. Cvach überlegte lange, aber er ließ sich durch den andern nicht umstimmen. »Ich denke, im Gegensatz zu Ihnen, daß unser neuer Chefarzt mich doch nicht raussetzen wird.« Dr. Strosmajer blickte entnervt auf diesen begriffsstutzigen Menschen: »Aber um Gottes willen, daran kann doch ein Chefarzt nichts ändern, ob einer die Gabe hat oder nicht. Das ist keine Sache des Chefarztes, sondern Ihre, allein Ihre!« Darauf antwortete Dr. Cvach betrübt, doch immer noch fest: »Ich sehe, Sie haben sich entschlossen, die neue Leitung hier zu unterstützen. Ich nehme es Ihnen nicht übel - aber es wird mich auch nicht im geringsten an etwas hindern.« Dr. Strosmajer schüttelte den Kopf. Dieser Mensch hatte den Sinn für jegliche Urteilsfähigkeit verloren. »Diese Debatte war absolut unsinnig. Vergessen Sie, daß Sie mich etwas gefragt haben und daß ich Ihnen darauf geantwortet habe.« 166
Dr. Cvach ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Dr. Strosmajer war so aufgebracht, daß er gegen den Papierhalter der Schreibmaschine stieß und das Papier zerknitterte. Er riß den Bogen samt Kopien heraus und brüllte herzhaft: »Himmel, Arsch und Zwirn!« Dr. Arnost Blazej war gerade mit dem Zeichnen einer Gelenkschnittskizze beschäftigt und bereitete ein Schema für den operativen Eingriff vor. Von draußen hörte er leises Klopfen. »Herein!« Dr. Cvach steckte seinen rundlichen Kopf durch den Spalt und fragte, ob eine Besprechung stattfinden würde, oder ob er sich geirrt habe. »Nein, das ist schon richtig. Kommen Sie herein.« Dr. Cvach betrat das Chefarztzimmer, und der Chefarzt gab ihm ein Zeichen, Platz zu nehmen. Beiläufig fragte er nach einer Weile: »Haben Sie sich's schon überlegt?« »Was?« »Das Weggehen.« Dr. Cvach bemühte sich, genauso locker wie Dr. Blazej zu sein, doch es gelang ihm nicht. »Nein... eigentlich ja.« »Und zu welchem Datum wird es sein?« »Ich... Datum... das wird kein Datum... ich habe mich entschlossen, doch hier zu bleiben.« Dabei beobachtete er aufmerksam seinen Widersacher, der aber nicht einmal zuckte, sondern ruhig den Telefonhörer in die Hand nahm und eine Nummer wählte. »Schwester, bitte, kommen Sie auch. Es wird nötig sein, daß Sie sich Notizen machen.« Dann legte er auf, schrieb etwas und sagte in unbeteiligtem Ton: »Wenn Sie unbedingt bleiben wollen, dann bleiben Sie halt.« Kein Wort mehr. Dr. Cvach glaubte allerdings, sich verhört zu haben. Nach kurzer Weile kamen auch alle anderen dazu, und die Arbeitsbesprechung konnte beginnen. »Verehrteste!« redete Dr. Blazej sie an. »Zunächst einmal teilen wir uns die Arbeit für morgen im OPSaal ein. Wir haben da eine Schenkelhalsfraktur, operieren wird Dr. Strosmajer, ich werde assistieren, Doktor Cenkova und Doktor Cvach sind die zweite und dritte Assistenz.« Das klang noch ganz normal. »Dann haben wir hier eine Exstirpation der Bursa, übernehmen wird Doktor Cenkova, Assistent Doktor Strosmajer.« Wieder nichts Besonderes, alles wie üblich. »Diesen ganzen ope167
rativen Marathonlauf beginnen wir jedoch mit einer totalen Hüftendoprothese. Operieren wird Dr. Cvach, erster Assistent Doktor Cenkova, oben hält Doktor Strosmajer und ich. Das wäre das Programm für morgen.« Wenn irgend jemand eine Bombe hätte explodieren lassen, hätte das nicht diese Erschütterung zur Folge gehabt, wie die eben gefallenen Wörter. »Gibt es Fragen dazu? - Ich sehe, keine. Also wir können...« er blieb mitten im Satz stecken, als ob er erst jetzt den ums Wort bittenden Dr. Cvach bemerkt hätte: »... Sie haben noch eine Anmerkung, Herr Kollege?« »Ich habe Sie sicher nicht richtig verstanden«, sagte Dr. Cvach mit heiserer Stimme, »diese totale Endoprothese, da haben Sie sich wahrscheinlich geirrt...« »Was sagte ich denn?« »Daß ich sie operieren soll.« »Sie sollen sie operieren?« Er blickte noch einmal in die Papiere, als ob er das nicht auswendig wüßte und kommentierte: »Ja, das ist richtig. Sie sollen operieren. Wir müssen uns doch abwechseln und dürfen Sie hier nicht vernachlässigen. Sie haben ja selbst darum nachgesucht - und das mit Recht.« Darauf verschlug es Dr. Cvach endgültig die Sprache. Am nächsten Tag tauchten im Waschraum nacheinander Dr. Blazej, Dr. Strosmajer, Alzbeta und zum Schluß Dr. Cvach auf. Sie stellten wie immer die kleinen Wecker auf zehn Minuten ein und begannen mit der Waschprozedur. Über die Waschbecken gebückt, warfen sie verstohlene Blicke auf Dr. Cvach und zwinkerten sich gegenseitig zu. Es herrschte eine nie dagewesene Stille, der sich auch das übrige Personal fügte. Dieser Raum, sonst stets erfüllt mit Gesprächen, Witzeleien und unanständigen Bemerkungen, war an diesem Tag so ruhig, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann kleidete die Saalschwester Dr. Cvach in den Operationskittel, setzte ihm die Kappe auf, streifte ihm die Handschuhe über und zum Schluß den Mundschutz. Er empfand alles als unerträgliche Bürde. Er fühlte die Blicke der Kollegen und des Personals auf sich und hörte, wie Dr. Blazej leise ein Liedchen pfiff. Er sah, daß der Patient bereits in den Saal gebracht worden war, daß ihn Dr. Kralova auf die Operation vorbereitete und ihm schließlich die Narkose verabreichte. Es war Zeit, hineinzugehen, den ersten Schritt zu machen und mit der Operation zu beginnen. Dr. Arnost Blazej hielt Alzbeta und Dr. Strosmajer kurz an, nicht als erste hineinzugehen und damit 168
eine Art Spalier zu bilden, durch das der Hauptoperateur Dr. Cvach wie ein Gladiator den Saal betreten mußte. Er betrat also den OP, und die anderen folgten ihm. Langsam näherte er sich dem OP-Tisch, auf dem der Patient lag. Dr. Blazej und Dr. Strosmajer kletterten auf eine kleine Stufe auf der gegenüberliegenden Seite hoch, Alzbeta stellte sich zu seiner Rechten. Die OP-Schwester reichte Dr. Cvach das erste Instrument, der Chefarzt gab ein Zeichen mit der Hand, und die einzelnen Leuchtröhren der riesigen Lampe überfluteten das Geschehen mit gleißendem Licht. Es schien wie die Bühne eines Theaters. In diesem Augenblick fiel Dr. Cvach das Skalpell aus der Hand, er riß sich die Gesichtsmaske herunter und sagte mit tonloser Stimme: »Ich denke, daß ich die Operation nicht realisieren kann.« Im selben Augenblick schnitt die Stimme Dr. Blazejs durch den Saal: »Ich denke dasselbe, Herr Kollege!« Der Chefarzt sprang von der Stufe, lief um den Tisch herum und forderte Dr. Cvach auf, seinen Platz auf der >Galerie< einzunehmen. Dr. Cvach, in aller Öffentlichkeit erniedrigt, senkte den Kopf und gehorchte. Alzbeta wollte ebenfalls den Platz räumen, doch Arnost grinste: »Für Sie gilt das nicht, Frau Kollegin. Sie werden die erste Assistenz schon ausprobieren müssen.« Dr. Arnost Blazej riß sich die mit Blut befleckten Gummihandschuhe von den Händen und sagte sichtlich zufrieden zu Dr. Strosmajer: »Na, wer sagt es denn? Das lief doch ausgezeichnet.« Sie gingen beide in das Ärzteaufenthaltszimmer, um zwischen zwei Operationen eine Zigarette zu rauchen. Dr. Strosmajer sah Arnost von der Seite an. »Ich hätte an dich eine Frage.« Dr. Blazej lachte schon im voraus. »Was ich wohl gemacht hätte, wenn es unser Kollege Cvach nicht aufgegeben hätte?« »Genau das.« »Dann hätte ich das Ganze gestoppt. Ich gebe zu, daß ich nahe daran war, es zu tun.« »Ich kann nicht sagen, daß mich diese Art des Verhaltens begeistern würde.« Doch das berührte Arnost nicht. »Jetzt habe ich ihn im Griff. Ihr habt es in den ganzen langen Jahren nicht geschafft, ihn loszuwerden, und ich kriege es in ein paar Tagen hin.« Auf dem Tisch des Ärztezimmers bimmelte das Telefon. Alzbeta meldete sich: »Hier Orthopädie.« 169
Die Antwort kam prompt: »Und hier Sparta Prag. Wir suchen Doktor Cenkova.« Alzbeta erkannte in diesem Moment die Stimme noch nicht. »Am Telefon.« »Frau Doktor, wir müssen Ihnen mitteilen, daß ein Ihnen ziemlich nahestehender Spieler soeben in unseren Club übergetreten ist und Sie bittet, diesen Wechsel zu billigen.« Jetzt begriff sie endlich, wer mit ihr sprach. »Premek, von wo aus rufst du an?« »Aus Prag - und ich schicke dir einen Riesenkuß.« »Ich dir auch. Was machst du in Prag?« »Es passieren große Dinge, Liebling. Während unsere Bürokraten mich bereits abgeschrieben haben, besuchten mich Leute von Sparta während meiner Kur. Sie glauben fest an mich, daß ich genauso gut wie früher werde und bieten mir den Wechsel an. Ich habe unterschrieben. Ist das nicht schön?« Alzbeta fühlte sich überfordert. »Na vielleicht... Ich weiß es nicht, aber was heißt das im Klartext?« »Das heißt, das ich hier bereits die Kurbehandlung zu Ende führe und schon mit dem Training beginne, jede Woche erhöhe ich die Anstrengungen...« »Heißt das auch, daß du gar nicht mehr hierher kommst?« »Im Moment ist daran nicht zu denken«, rief Premysl fröhlich ins Telefon. »Wenn ich die kommende Saison noch packen will, muß ich ständig trainieren. Stell dir vor, sie haben bei mir fast die gleiche Startgeschwindigkeit gemessen wie früher.« »Und wann wirst du für mich ein bißchen Zeit finden?« »Ruf mich an, wenn du hier irgendwann mal zu tun hast. Du weißt, ich habe noch nicht genügend Kraft und Ausdauer, aber das kommt alles wieder. Vielleicht nehmen sie mich bereits zum ersten Match nach Finnland mit - von so etwas habe ich noch zu träumen gewagt.« Alzbeta hörte auf einmal aus seiner Stimme einen völlig anderen Ton heraus, als den, den sie gewöhnt war. Darin verborgen waren Eile und Hast, Welteroberungssucht und kein Gespür dafür, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Der alte Dr. Sova aß gerade zu Abend. Die knusprigen Kartoffelpuffer schienen ihm ausgezeichnet zu schmecken. Unter dem Tisch krabbelten ein paar kleine Kinder. Sein Sohn Karel kam dazu, zusammen mit der jungen Schwester Veronika und dem Verwalter; alle kehrten gerade von dem Besuchsrundgang bei verschiedenen Patienten zurück. Der alte Doktor hieß sie fröhlich 170
willkommen: »Kommt schnell, es gibt Kartoffelpuffer. Wer zögert, kriegt nichts mehr.« »Ich habe unterwegs im Krankenhaus einen ehemaligen Kommilitonen getroffen, und der führte uns ein wenig herum«, erklärte Karel die Verspätung. »Und dabei prahlte er fürchterlich«, ergänzte Schwester Veronika. »Er hatte auch Grund dazu. Die haben jetzt einen neuen Pavillon fertig gebaut, eine interessante Lösung. Das werde ich dir später ausführlich erzählen.« In der Zwischenzeit deckte Schwester Veronika, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, den Tisch. Während es Karel gar nicht bewußt wurde, verfolgte der alte Dr. Sova das Ganze sehr aufmerksam. Nach dem Essen machte es sich der ehemalige Chefarzt in seinem Zimmer bequem, trank eine Tasse Kaffee und las ein Buch. Da klopfte es, und Karel trat ein. Dr. Sova sah ihn erstaunt über den Rand seiner Brille an. Er hatte gedacht, daß Karel mit den anderen vor dem Fernseher hocken würde. »Ach, die geben einen fürchterlich langweiligen Film. Ich weiß schon alles im voraus und soll trotzdem gespannt sein. Zu blöd.« »Also noch nicht einmal Veronika hat dich fesseln können?« Der Sohn schaute den Vater an und nickte dann. »Ich weiß, woran du denkst. Nur, dazu habe ich keine Lust.« »So was ist doch keine Frage der Laune oder Unlust.« »Ich weiß«, gab Karel zu. »Aber, Vater, ich habe heute in Königgrätz etwas gesehen; zwar nur durch eine Glasscheibe - aber eine Operation! In mir stieg diese alte unfaßbare Sehnsucht auf, wieder dabeizusein und ein ordentliches Stück Arbeit zu leisten.« »Und das hier ist keine ordentliche Arbeit?« »Sicher ist sie das. Ich weiß, sie ist sogar in gewisser Hinsicht viel anstrengender und komplizierter als die ganze Chirurgie. Aber ich bin irgendwie infiziert, ja geradezu süchtig. Ich muß an einem OP-Tisch arbeiten, mit Gesichtsmaske und einem Messer in der Hand. Manchmal fahre ich Veronika nach Hause. Wir sitzen nebeneinander, und ich weiß, daß ich wenigstens bei ihr einen Versuch unternehmen sollte. Aber dann schiebt sich der hellbeleuchtete OP-Tisch vor mein inneres Auge, und die Wunde, die geheilt werden muß - und ich bin wie hypnotisiert und kann an nichts anderes denken.« Dr. Sova sah und fühlte diese Verzweiflung, sah und spürte dieses 171
Verlangen, doch wußte er nicht, wie er ihm helfen konnte. »Vielleicht wirst du jetzt denken, daß ich dich mit leeren Worten trösten will, aber ich bin sicher, daß du es irgendwann wieder schaffen wirst, Karel, ganz bestimmt.« »Aber wann, wann? Mir fließen die besten Jahre im Leben eines Chirurgen weg... hoffnungslos, Jahr für Jahr...« Darauf schwieg der alte Dr. Sova. Nach einer Weile sagte Karel leise: »Ich weiß, daß ich mir sehr viel selbst eingebrockt habe, aber die Strafe erscheint mir trotzdem grausam.« Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter, stand auf und ging hinaus: »Gute Nacht!« Nein, hier half auch kein Trost mehr. Zwei Tage darauf machte sich Dr. Sova senior auf den Weg nach Bor. Er fuhr direkt zum Krankenhaus, stieg aus und marschierte durch die Halle, von der Pförterin herzlich begrüßt. Als er durch den Gang seiner Orthopädie schritt, hatte er ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Die Schwestern und Pfleger grüßten höflich, und die Dauer-Patienten schauten aus den Türen ihrer Zimmer heraus und gaben die sensationelle Nachricht weiter. Dr. Sova erwiderte die Grüße zurückhaltend, lächelte und kämpfte gegen die Ergriffenheit an, die sich seiner bemächtigt hatte. Plötzlich kam aus ihrem Zimmer, wie immer ernst und besorgt, Oberschwester Jachymova und stieß fast mit Dr. Sova zusammen. Er wünschte ihr einen »Guten Tag«, und sie blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen: »Herr Chefarzt! Daß Sie uns besuchen!« Aus dem Ärztezimmer kamen zufällig Dr. Strosmajer und Alzbeta. Dr. Strosmajer rief erfreut: »Aha! Der Täter kehrt zum Tatort zurück.« »Herr Chefarzt, herzlich willkommen!« schloß sich Alzbeta höflich an. Beide schüttelten ihm kräftig die Hand. »Dankeschön«, lächelte Dr. Sova. »Haben Sie vielleicht Heimweh nach uns?« »Selbstverständlich habe ich Sehnsucht, manchmal ungeheuerliche.« Dann stieß Schwester Hunkova dazu, die ihn ebenso erfreut begrüßte, und noch eine Schwester und ein »grüner« und »weißer« Pfleger. Nach kurzer Zeit bildete sich eine richtige Menschentraube um Dr. Sova. Kein Wunder, daß Chefarzt Dr. Blazej, der gerade aus seinem Arbeitszimmer herauskam und die ungewöhnliche Menschenversammlung sah - stehenblieb und streng den Anwesenden zurief: 172
»Der Gang muß freigehalten werden, ich bitte darum.« Alle drehten sich zu ihm, traten ein paar Schritte auseinander und schon standen sich Dr. Blazej und Dr. Sova gegenüber. Beide brachte diese Situation offensichtlich in Verlegenheit. »Guten Tag!« versuchte Dr. Sova die peinlich werdende Stille zu überbrücken, »das war wahrscheinlich meine Schuld.« »Guten Tag! Herzlich willkommen in unserer Orthopädie!« Beide reichten sich die Hände. »Schade, daß Sie uns nicht benachrichtigt haben, wir hätten unser Programm ein wenig danach richten können.« »Ich bin nur auf einen Sprung hier«, antwortete Dr. Sova, »und ich komme eigentlich nur zu Ihnen - ich würde Sie gerne etwas fragen, aber ich warte, wenn es sein muß.« Arnost fühlte sich geschmeichelt, daß Dr. Sova so mit ihm sprach. »Kommen Sie herein, für Sie habe ich selbstverständlich Zeit.« Er machte Dr. Sova den Weg frei und öffnete die Tür zu seinem Büro. Dr. Sova drehte sich noch schnell zu den anderen um und winkte ihnen grüßend zu. In den Augen aller war die Frage geschrieben: Worüber will er mit Dr. Blazej sprechen? Arnost spielte gekonnt den großmütigen Hausherrn. »Setzen Sie sich, Herr Kollege. Was darf ich Ihnen anbieten? Einen kleine Cognac?« Dr. Sova schaute sich zunächst in dem Raum um, in dem er so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte - und lehnte dann ab: »Danke, ich muß noch fahren. Ich muß gleich wieder nach Tyniste zurück.« »Also wenigstens einen Kaffee?« »Nein, auch nicht.« Doch das konnte Arnost nicht einsehen. Er griff zum Telefon, drückte auf einen Knopf und gab kurz und bündig die Order durch: »Schwester, zwei Kaffee, bitte.« Dann konnte er seine Neugier nicht länger zurückhalten. »Also, nun sagen Sie mir endlich, weshalb Sie diesen langen Weg auf sich genommen haben?« »Die Sache ist einfach, Herr Chefarzt. Und ich verheimliche nicht, daß sie für mich von großer Bedeutung ist. Der Tag ist gekommen, an dem mein Sohn wieder die Stelle eines Chirurgen einnehmen sollte. Und weil ich weiß, daß hier ein Platz frei ist und weil ich hoffe, daß man mir hier glauben wird, daß ich niemanden empfehlen würde, der später versagt - möchte ich für ihn ein gutes Wort einlegen.« Das allerdings hatte Arnost nicht erwartet und wußte auch nicht 173
recht, wie er reagieren sollte. Deshalb klangen seine ersten Worte zurückhaltend: »Haben Sie darüber schon mit dem Direktor gesprochen?« »Nein. Ich wollte es nicht tun, bevor ich Ihr Einverständnis habe.« »Er wurde aus der Klinik entlassen?« »Er ging allein, aber de facto haben sie ihn rausgeschmissen.« »Grund?« »Alkohol.« Arnost runzelte die Stirn. »Und dann ging er ins Kreiskrankenhaus?« »Ja«, antwortete Dr. Sova, »aber ich dachte, daß Sie die Geschichte kennen.« »Etwas wurde mir zugetragen, nicht alles. Wie sieht es mit ihm jetzt aus?« »In welcher Hinsicht?« »Ich meine das Trinken.« Diese Frage klang fast wie eine Beleidigung. »Ich würde doch nicht hierherkommen, wenn das nicht völlig aufgehört hätte.« »Na, gut«, sagte Dr. Blazej zweifelnd. Und auf den fragenden Blick des alten Dr. Sova fügte er hinzu: »Ich dachte... Angenommen, er würde vor Ihnen nichts verheimlichen. Warum ist er nicht selbst gekommen?« »Er hat dazu nicht genug Kraft oder besser gesagt, Optimismus.« »Er weiß nicht, daß Sie hier sind?« »Nein.« »Vielleicht ist es ihm egal?« »Das Gegenteil ist wahr.« »Wissen Sie das sicher?« »Ich bin jetzt mit ihm Tag und Nacht zusammen.« Dr. Blazej überlegte lange und sagte dann: »Ich werde mich nach einer Stelle für ihn umschauen.« Dr. Sova schaute ihn verständnislos an: »Wieso umschauen?« »Ich werde mich bei den anderen Chefärzten in der Umgebung umhören.« »Aber mir geht es nicht darum, woanders anfragen zu lassen, mir geht es darum, daß er hier arbeiten kann.« »Weshalb gerade hier? Wenn er in Ordnung ist, dann kann er überall arbeiten.« »Aber es gibt viele gute Gründe, daß er gerade hierher kommt. Ich weiß, daß es hier einige Kollegen gibt, die ihm helfen würden. Weiterhin ist es kein unwesentlicher Faktor, daß hier seine Geburtsstadt ist und daß hier ein Haus steht, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Das alles würde ihm helfen, seine Einsamkeit 174
zu überwinden... Herr Chefarzt, glauben Sie mir, ich habe sehr lange darüber nachgedacht.« Dr. Blazej verstummte erneut und redete dann unbeirrt weiter: »Ich nehme Ihnen das alles ab, aber hier kann er nicht arbeiten.« Dr. Sova sah ihn überrascht an. Diese offene Weigerung hatte er nun doch nicht erwartet. »Aber warum nicht?« »Auch ich habe dafür eine Menge Gründe, Herr Doktor.« »Können Sie mir wenigstens einen verraten?« »Zum Beispiel den, daß wir zu wenige sind, und daß wir keine Zeit haben, auf irgend jemanden aufzupassen.« Dagegen verwahrte sich Sova entschieden: »Aber Sie brauchen doch nicht auf ihn aufzupassen!« »Das sagen Sie! Die Probezeit, in der ein Alkoholiker beweisen muß, daß er von seiner Sucht los ist, hat er noch nicht hinter sich, oder?« »Aber ich sage Ihnen doch, daß er in Ordnung ist.« »Das behaupten Sie«, vertrat Arnost hart seinen Standpunkt. Resigniert stellte der frühere Chefarzt die nächste Frage: »Darf ich fragen, ob Sie noch andere Gründe haben?« »Sicher. Ich mag es, wenn wir uns unsere Ärzte hier aussuchen und erziehen. Jeder Chirurg bringt von seinem früheren Arbeitsplatz bestimmte Angewohnheiten mit - und es wäre mir nicht recht, wenn uns jemand in unserer Klinik fremde Ansichten darüber einschleppt, wie man was machen soll. Das könnten die anderen für Überheblichkeit halten und würde darüber hinaus sicherlich nicht gerade zum guten Klima am Arbeitsplatz beitragen.« Dr. Sova hörte ihm aufmerksam zu und begann zu begreifen: Dr. Blazej hatte Angst, daß seine Autorität untergraben würde. Der setzte seine Ausführungen in der Zwischenzeit weiter fort: »Es ist ebenfalls nicht ideal, wenn ein Sohn dort arbeitet, wo vorher jahrelang sein Vater Chef war. Die Kunst der Orthopädie ist keine Erbeigenschaft, aber viele einfache Menschen werden Ihren legendären Ruf automatisch mit Ihrem Sohn in Verbindung bringen - und das täte schon überhaupt nicht gut. Jeder soll sich seinen eigenen Ruf selbst erkämpfen.« Dr. Sova nickte. »Das hat mein Sohn bereits getan. Im Positiven wie auch im Negativen.« »Warum geht er nicht zurück in seine frühere Klinik?« »Sie wissen, daß die ihn nicht mehr nehmen würden.« »Während Sie von uns erwarten, daß wir ihn mit offenen Armen empfangen.« 175
Dr. Sova erhob sich schwer von seinem Stuhl. »Mit offenen Armen nicht, aber eine hilfsbereite Hand hätte er verdient. Auf Wiedersehen, Herr Chefarzt!« In der Tür stieß Dr. Sova fast mit Schwester Jachymova zusammen. Sie brachte gerade auf einem Tablett den Kaffee und wollte ihn servieren. »Entschuldigen Sie, daß ich es nicht mehr schaffe, den Kaffee zu trinken - aber unser Gespräch nahm eine zu schnelle Wendung!« Ohne rechts und links zu sehen, lief er hinaus. Sein Weggang glich einer Flucht.
12. KAPITEL Alzbeta Cenkova stand unschlüssig am Moldauufer in Prag vor einem alten Patrizierhaus. Dann drückte sie auf die Klingel des Ing. P. Rezek. Frau Rezek öffnete die Tür und musterte Alzbeta mit dem Röntgenblick einer Mutter. Nervös stotterte Alzbeta: »Guten Tag, seien Sie mir nicht böse, ich bitte um Verzeihung, aber...« Die Mutter von Premysl unterbrach sie liebenswürdig: »Sie haben doch keinen Grund für Entschuldigungen, Frau Doktor. Premek ist zwar noch nicht zu Haus, aber ich erwarte ihn jeden Augenblick. Kommen Sie doch herein!« Alzbeta legte im Vorzimmer ihren Mantel ab und betrat das im altenglischen Chippendalestil eingerichtete Wohnzimmer. Frau Rezek fragte Alzbeta, ob sie ihr ein Gläschen Likör anbieten dürfe. Alzbeta nahm dankend an und fragte im selben Augenblick, wie es denn Premysl ginge. »Er ist ungeheuer glücklich, daß er zu Hause ist.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber was macht das Bein?« Frau Rezek goß den Likör in zwei Gläser und berichtete stolz: »Wir haben für ihn den besten Fachmann für Rehabilitation besorgt, den Dozenten Semerad. Sie kennen ihn bestimmt.« »Nur dem Namen nach.« »Er hat sich mit größter Anerkennung über Ihre Arbeit in Bor geäußert.« Alzbeta nickte dankend, während Frau Rezek neugierig nachhakte: »Sie waren doch zum Schluß seine behandelnde Ärztin?« »Ich? Nein. Chefarzt Dr. Sova hat ihn betreut. Ich bin praktisch dort erst in der Ausbildung.« 176
Die Mutter reichte ihr den Likör und erzählte Alzbeta, wie sehr Premysl von ihr geschwärmt hätte. Alzbeta nippte an dem Glas und überlegte, wie sie dieses Thema elegant auffangen könnte. »Na ja, vielleicht deshalb, weil wir uns vom Alter her recht nahe sind und wir oft miteinander gesprochen haben.« »Dafür muß ich Ihnen sehr dankbar sein. Sie waren für ihn eine große Stütze. Der Arme war völlig deprimiert. Er hat sich Ihnen damit bestimmt anvertraut, nicht wahr?« Erneut glitt dieser mütterlich-neugierige Blick über Alzbeta. Die wich geschickt mit einer Gegenfrage aus: »Glaubt er denn immer noch nicht an sich selbst?« »Aber ja«, jubelte die Mutter. »Jetzt ist er ein vollkommen anderer Mensch. Sie wissen doch, damals hatte ihm die ganze Welt den Rücken zugekehrt - und jetzt steigt das Interesse wieder an ihm.« »Das verstehe ich.« Frau Rezek strich sich den Rock glatt und fragte wie nebenbei: »Haben Sie sich fest hier mit ihm verabredet?« Alzbeta antwortete so unverfänglich wie sie nur konnte: »Wir haben nur locker ausgemacht, daß wir uns sehen, wenn unsere Wege sich zufällig kreuzen.« Mehr konnte sie nun nicht mehr aushalten und stand auf: »Aber jetzt ist es Zeit für mich. Ich muß gehen.« »Wollen Sie denn nicht auf ihn warten?« »Grüßen Sie ihn schön und richten Sie ihm aus, daß ich irgendwann wieder mal vorbeikomme.« In diesem Moment läutete das Telefon. Frau Rezek hob den Hörer ab und strahlte. »Na endlich, Premek. Hier wartet Besuch auf dich. Wer? Du wirst dich wundern. Warte, ich übergebe sie dir.« Alzbeta übernahm verlegen den Hörer. Wie sollte sie sich hier verhalten? »Servus, Premek!« Erstaunt klang es zurück: »Servus!« »Hier ist Alzbeta.« Erst jetzt erkannte er sie. »Ja, Servus! Was machst du denn hier in Prag?« »Wir haben einen Patienten nach Prag gefahren, und ich hatte kurz Zeit.« Premysls Freude hielt sich in Grenzen. »Aber warum hast du dich nicht früher gemeldet?« »Das hat sich ganz plötzlich ergeben. Kommst du jetzt nach Hause?« »Ich würde furchtbar gerne, aber ich muß mit der Mannschaft 177
nach Brünn fahren.« »Das ist schade.« Rezek versuchte Alzbeta zu trösten: »Du hast doch sowieso wenig Zeit. Da brauchen wir uns wenigstens nicht zu ärgern.« Doch Alzbeta reagierte wie ein kleines Mädchen: »Aber ich könnte dem Fahrer sagen, daß er ohne mich abfährt.« »Beim nächsten Mal, Ali, dieses Brünn ist für mich ungeheuer wichtig.« »Ich verstehe das, entschuldige...« Dann wurde ihr plötzlich bewußt, was er gesagt hatte. »Spielst du etwa schon?« »Natürlich nicht, aber ich will mit den Jungs auf der Bank sitzen, die Trainer passen ganz genau auf, wie jemand die Probleme und Sorgen der Mannschaft durchlebt...« Alzbeta schaute während des Gesprächs zur Mutter, die zwar in der Küche stand, aber durch die halb offene Tür alles mithören konnte. »Also... viel Spaß in Brünn.« »Ja, danke, nächste Woche wird's noch spannender. Da fliegen wir nach Finnland. Das wird ein Spaß. Ich schicke dir eine Karte von dort.« »Das würde mich freuen... also tschüs! Willst du noch mit deiner Mutter sprechen?« »Nein, richte ihr nur aus, daß mir die Jungs eine Zahnbürste borgen, und daß ich erst morgen nacht zurückkomme.« »Wird erst morgen gespielt?« Premysl mußte über diese Naivität lachen. »Heute könnte man das nicht mehr schaffen, schau doch auf die Uhr.« »Ja, richtig. Das wäre wirklich nicht zu schaffen.« »Also adieu. Sie reißen mir den Hörer hier schon aus der Hand.« Alzbeta legte auf und sagte zu Frau Rezek: »Ich soll Ihnen ausrichten, die Zahnbürste kriegt er von den anderen Jungs, und er käme erst morgen nacht wieder.« »Das ist das übliche. Jetzt sehen Sie, wie das Leben mit einem Eishockeyspieler aussieht.« Alzbetas Antwort klang resigniert. »Ja, jetzt sehe ich's.« Als Roman Jachym aus seinem Wagen vor dem Krankenhaus stieg, bemerkte er Doktor Cvach, der mit riesigen Koffern, einer Handtasche und einem Paket auf irgend jemand wartete. Er grüßte höflich, doch Dr. Cvach war zu Höflichkeiten nicht aufgelegt. »Roman, ich bitte Sie, treiben Sie Ihren Fahrdienstleiter ein bißchen an. Er hatte mir einen Wagen versprochen, mit dem ich nach Roudnic umziehen kann. Ich habe meine Klapperkiste vor einem 178
Monat verkauft und stehe jetzt ganz verlassen da.« »Ich sag's ihm, Herr Doktor.« Doch der Fahrdienstleiter wand sich wie ein Aal auf dem Trockenen: »Vielleicht hat ihm das tatsächlich einer versprochen, aber jetzt will es natürlich keiner gewesen sein. Der Direktor ist nicht hier, und ich nehme das auf gar keinen Fall auf meine Kappe.« Roman grinste. »Der zerspringt aber jeden Augenblick vor Wut.« Dann ging er wieder zu Dr. Cvach, um ihm diese Hiobsbotschaft zu übermitteln. Dr. Cvach spuckte wie ein Vulkan: »Diese Halunken, Banditen, das ist typisch für ihre schlechten Manieren.« »Herr Doktor«, antwortete Roman gutmütig, »ich kann Ihnen zwar wenig helfen, aber wenn Sie wollen, würde ich Sie mit dem Gepäck zumindest zum Bahnhof bringen...« Dr. Cvach sah trotz seiner Wut ein, daß das besser war als gar nichts und so blieb ihm nichts anderes übrig, als Romans Angebot anzunehmen. Roman lenkte den Wagen ruhig gen Bahnhof, und Dr. Cvach jammerte giftig weiter. »Hier opfert man die besten Jahre seines Lebens, und zum Schluß wird man wie ein Hund behandelt. Mit welchen Idealen habe ich hier begonnen, wieviel Literatur habe ich mir besorgt! Ich lernte sogar fremde Sprachen, um alle wichtigen Informationen aus der ganzen Welt verarbeiten zu können. Jeder Metzger wird hier einen gebildeten Menschen vorgezogen. Schneiden, hacken, bohren, sägen, das ist alles, was man hier von einem verlangt, auf alles andere wird gepfiffen.« Alles, was in den folgenden Minuten passierte, war offensichtlich nur auf Romans gute Laune abgezielt. Für ihn war die Welt in Ordnung, sein Wagen schnurrte wie eine Nähmaschine, und er pfiff leise ein Lied vor sich hin. Der Doktor auf dem Nebensitz konnte seiner Fröhlichkeit keinen Abbruch tun. Vielleicht war aber auch der plötzlich vor ihnen auftauchende Honda des Dr. Arnost Blazej der eigentliche Grund. Dr. Cvach spie Gift und Galle: »Der da, das ist der größte und zynischste Gauner von allen. Ein absolut kaltblütiger Halsabschneider.« Roman setzte gerade zum Refrain an, und Dr. Cvach mußte einsehen, daß er ihm noch nicht mal zuhörte. Diesem Grünschnabel würde er noch eine letzte Lektion erteilen. Dr. Cvachs Intriganten-Hirn begann zu arbeiten: »Ich an Ihrer Stelle würde dem Herrn Chefarzt nicht so seelenruhig hinterherfahren.« »Warum denn nicht?« Roman schaute ihn verblüfft an. 179
»Nun, ich dachte, daß Ihnen an Ihrer Frau gelegen ist.« Roman machte eine abwehrende Handbewegung. »Aber das sind alles alte Märchen.« »So alt nun doch nicht«, stichelte Dr. Cvach weiter. »Wie lange ist es her, daß Chefarzt Dr. Sova seine Abschiedsfeier gegeben hat?« Roman runzelte die Augenbrauen. »Dort war ich doch auch.« »Ja? Die ganze Zeit?« In diesem Moment trat Roman voll auf die Bremse, der Wagen hielt quietschend an und der junge Jachym schrie Dr. Cvach an: »Was haben Sie eben gesagt?« Dr. Cvach merkte, daß er den Bogen überspannt hatte und bekam es mit der Angst zu tun. »Ich sage doch nur, was alle anderen auch gesehen haben.« »Alle?« brüllte Roman. »Was haben alle gesehen?« Nach diesen Worten sprang er aus dem Auto, riß die Beifahrertür auf, zerrte Dr. Cvach aus dem Auto, warf das Gepäck hinterher auf den Bürgersteig, stieg wieder ein, drehte den Wagen in die Gegenrichtung und raste zum Krankenhaus zurück. Dr. Cvach, obwohl so unsanft verabschiedet, lächelte zufrieden. Das hatte doch hervorragend geklappt. Unterdessen erreichte Roman das Krankenhaus und rannte hinein. Er blieb nicht stehen, wenn ihn jemand grüßte oder ihm etwas zurief. Er drängelte sich mit finsterem Gesicht durch die Gänge, ohne rechts und links zu schauen. In dieser Verfassung gelangte er in das Vorzimmer der Unfallintensivstation. Die Schwester, die ihm etwas sagen wollte, übersah er und stürmte direkt in den Saal hinein. Ina war gerade damit beschäftigt, zusammen mit Dr. Kralova einer schwer atmenden alten Dame zu helfen. Ohne Rücksicht darauf herrschte Roman seine Frau an: »Kannst du mir sagen, was du an dem Abschiedsfest von Dr. Sova gemacht hast, als ich wegfahren mußte?« Ina schaute ihn ruhig mit ihren großen Augen an, und bevor sie etwas antworten konnte, sagte Dr. Kralova ungnädig: »Roman, sehen Sie nicht, daß wir hier Dringenderes zu tun haben?« Roman beachtete sie jedoch überhaupt nicht und konzentrierte sich nur auf seine Frau. »Wo warst du in der Zwischenzeit, bevor ich zurückkam? Kannst du mir das sagen?« Die Anästhesistin reagierte schärfer: »Haben Sie mich nicht gehört, Roman?« »Es sollen alle gesehen haben.« Dr. Kralova wies ihm unmißverständlich die Tür: »Gehen Sie sofort oder ich rufe Ihren Chef.« 180
Roman zog sich langsam zurück, die Augen fest auf seine Frau geheftet. »Du sagst es mir also nicht?« Die Antwort wartete er nicht mehr ab und verschwand. Erst dann fragte Dr. Kralova Ina leise: »Oder wollten Sie mit ihm sprechen?« Ina schüttelte traurig den Kopf. Roman hetzte an seinem Chef vorbei, der ihn vergebens durch lautes Rufen aufzuhalten versuchte: »Roman, komm her, ich habe Arbeit für dich. Roman, wo rennst du hin?« Doch eine Antwort erhielt er nicht - der junge Jachym war taub und blind für seine Umwelt. Er lief zu seinem Wagen, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen los. Er fuhr und wußte zuerst noch nicht, wohin. Er raste über die Ausfallstraße, bis er in der Ferne das Hotel sah. Es durchzuckte ihn die Idee, daß Dr. Blazej vielleicht in seinem Club sei. Und tatsächlich - auf dem Parkplatz stand der kleine stahlfarbene Honda. Roman sprang aus seinem Wagen, tigerte um den Honda zweimal herum und eilte dann ins Gebäude. Arnost Blazej saß mit seinen Freunden an einem runden Tisch und hielt in der Hand ein Kartenblatt. Roman wurde es fast unheimlich, daß er ihn so leicht gefunden hatte. Und daß dieser Dr. Blazej so seelenruhig spielte. Von hinten trat er an den Chefarzt heran. Der erfreute sich gerade an seinem phänomenalen Spielerfolg. »Ist es möglich, daß ich mal endlich die heißersehnte und so lange erwartete Karte bekommen habe?« Freudestrahlend beendete er das Spiel und kassierte seinen Gewinn ab. »Glück im Spiel, Unglück in der Liebe«, bemerkte irgend jemand von den Zuschauern. »Ich befürchte, daß Sie recht haben, mein Freund.« Die ausgelassene Stimmung wurde von Roman mit heiserer Stimme unterbrochen. »Herr Doktor, ich muß mit Ihnen sprechen.« Doch Dr. Blazej hörte überhaupt nicht zu und gab neue Karten aus. Der junge Mann wiederholte sein Anliegen noch deutlicher. Irgend jemand korrigierte ihn laut: »Herr Chefarzt, wenn Sie schon hier einfallen!« Erst jetzt blickte Arnost nach oben und registrierte Roman. Er lächelte ihn freundlich an. »Servus, Roman!« »Ich habe mit Ihnen zu sprechen!« »Irgendwas mit dem Krankenhaus?« »Nein, ich muß allein mit Ihnen sprechen.« Dr. Blazej ahnte bereits, worum es ging. »Das kann doch warten, oder?« »Nein, kann es nicht«, wiederholte Roman mit Nachdruck sein 181
Verlangen. »Ich breche doch nur wegen eines Gespräches nicht meine Glückssträhne ab! Das würde der Kartengott mir nie verzeihen.« Roman konnte sich kaum mehr beherrschen und preßte zwischen seinen Zähnen durch: »Aber ich will mit Ihnen sprechen!« Einige Kartenspieler protestierten unwillig: »Nicht stören! Ruhe!« Am liebsten hätte Roman diesen ignoranten Menschen am Kragen hochgezogen. Doch statt dessen drehte er sich um und ging. Er konnte noch Dr. Blazejs Stimme hören: »Also, meine Herren, auf mich mit Gebrüll! Sie werden staunen, was der Kartengott für Sie alles parat hält!« Die Abenddämmerung war bereits eingebrochen, als Dr. Blazej endlich den Club verließ. Er verabschiedete sich von einigen Spielern, die ihn hinausbegleitet hatten, und ging dann zu seinem Wagen. Dort stellte er fest, daß er durch einen gelben Lada blokkiert war. Arnost brummte in sich rein: »Welcher Trottel kann denn so dusselig parken?« Er schaute in den Wagen hinein, und dort lag auf dem Rücksitz Roman Jachym. Arnost klopfte an das Türfenster, und Roman wachte auf. Der Chefarzt öffnete die Hintertür und fragte gereizt: »Was soll denn dieses Theater?« »Ich habe schon gesagt, daß ich Sie etwas fragen muß.« Dr. Blazej drehte ihm abrupt den Rücken zu und ging ohne ein weiteres Wort zu seinem Wagen. Roman kletterte aus seinem Auto und eilte ihm nach. »Können Sie mir sagen, was Sie auf dem Abschiedsabend von Chefarzt Dr. Sova in der Zwischenzeit gemacht haben, wie ich nicht da war?« Dr. Blazej schloß ungerührt sein Auto auf und fragte: »Soll das ein Verhör sein?« »Genau das.« Dr. Blazej setzte sich hinter sein Lenkrad. »Zu einem Verhör benötigen Sie zwei: einen, der verhört und einen, der bereit ist zu antworten.« »Wir sind zu zweit.« »Nur bin ich nicht bereit zu antworten.« »Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis Sie antworten!« Dr. Blazej lachte spöttisch. »Da werden Sie eine ziemlich einsame Nacht verbringen müssen. Schauen Sie, daß Sie sich nicht erkälten!« Nach diesen Worten 182
ließ er den Wagen anspringen, legte den Gang ein und fuhr über die Bordsteinkante, den Bürgersteig, die Blumenbeete und den Rasen, die den Parkplatz von der Straße trennten, hinweg. Roman, der ihn von der anderen Seite eingesperrt hatte, beobachtete zornig das Manöver. Mit zwei Sprüngen war er an seinem Wagen, schoß aus dem Parkplatz heraus und verfolgte Dr. Blazej. Die Geschwindigkeit beider Autos war ungefähr gleich. Nur Roman war um etliches aufgebrachter als Arnost und riskierte Kopf und Kragen, um den Wagen einzuholen. Als er Dr. Blazej immer näher rückte und ihn mit der Lichthupe zum Anhalten zwingen wollte, entschloß sich Arnost, scharf nach links in eine Seitenstraße abzubiegen. Er hatte sein Steuer noch nicht ganz rumgekurbelt, als Roman mit seinem Lada angeschossen kam. Er konnte die Wendetaktik nicht mehr nachvollziehen und bohrte sich mit voller Wucht in den Honda hinein. Beide Autos verkeilten sich, flogen auseinander und stießen dann erneut zusammen. Beide Wagen blieben total demoliert am Rande des Straßengrabens stehen, der Honda rutschte noch halb hinein. Es breitete sich vollkommene Stille aus. Ein Autofahrer, der gemächlich des Weges kam, hielt an, schaute in die Autos hinein und stammelte: »Mein Gott!« Danach alarmierte er eilends das Krankenhaus. Dana Kralova war entsetzt. »Arnost! Wie konnte das passieren?« An seiner Stelle antwortete der Pfleger: »Ein Autounfall. Roman Jachym ist auch ganz schön zugerichtet.« Ina kam herein und hörte totenblaß zu. »Aber Roman geht es besser als dem Doktor. Wahrscheinlich nur eine gebrochene Rippe und ein paar Schrammen.« Der Chefarzt stöhnte und schlug die Augen auf. »Die Hand!« Kaum berührte ihn Dana Kralova, stöhnte er schon vor Schmerz: »Die Hand ist ja völlig kaputt. Wie soll ich je wieder operieren?« »Und wie fühlst du dich im Kopf und Bauch?« fragte die Anästhesistin. »Ich glaube, das ist alles in Ordnung. Ich habe nur einen teuflischen Durst.« »Zu trinken kann ich dir im Moment nichts geben. Vielleicht mußt du gleich auf den OP-Tisch. Was ist mit dem Brustkorb?« »Da ist alles okay, das habe ich alles abgetastet. Aber die Hand, das ist das Fürchterliche.« Dr. Kralova drehte sich zu Ina und verlangte Dolsin. Dann gab sie ihm eine Spritze. Dr. Blazej bat darum, Dr. Strosmajer zu rufen, was Ina umgehend ausführte. 183
»Wir müssen dir den Mantel und das Hemd ausziehen.« »Warte damit noch einen Moment, bis das Mittel wirkt, sonst werd' ich vor Schmerz noch verrückt.« Dr. Strosmajer, der zur Unfallstation eilte, fragte den Fahrdienstleiter, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, was denn eigentlich mit Dr. Blazej passiert sei. »Genau weiß es keiner. Wir haben die beiden hier angeliefert bekommen.« »Wieso beide?« »Na, ihn und Roman Jachym.« Dr. Strosmajer stieß einen langen Pfiff aus. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Auf der Unfallstation hatte er bereits seinen gewohnten jovialen Ton wiedergefunden. »Ist es denn zu fassen, daß du ausgerechnet jetzt einen Unfall baust, wo wir so unterbesetzt sind?« Arnost sah man an, daß die Schmerzen nachgelassen hatten. »Servus! Ich verspreche dir, so was tue ich nie mehr wieder.« Dr. Strosmajer faßte vorsichtig seine Hand an. »Wie hast du das nur fertiggebracht?« Arnost wich einer Antwort aus. Wahrscheinlich mußt du die wieder in den Urzustand versetzen und dann eingegipst in die Schlinge hängen.« Dr. Strosmajer nickte nur. »Klar muß ich das. Aber wie ist das überhaupt passiert?« »Ein ganz banaler Zusammenstoß.« »Und mit wem, wenn ich fragen darf?« »Mit Roman.« »Was du nicht sagst! Und beide so ausgezeichnete Chauffeure!« Dr. Blazej guckte Ina an und murmelte: »Ein unglücklicher Zufall.« Strosmajer wechselte nur einen Blick mit Dr. Kralova. Sie hielten die ersten Röntgenbilder in der Hand. »Ich halte das für eine zweifache Fraktur der Elle und eine Radiusfraktur. Stimmt's?« Dr. Blazej betrachtete sich die Aufnahmen konzentriert. Betrübt meinte er dann: »Ich fürchte, du hast recht.« Dr. Strosmajer fühlte, wie schlecht es Arnost ging und faßte sich kurz und sachlich: »Mit anderen Worten, alles spricht klar für eine Operation. Bis dahin könnten wir die Hand unter Narkose einrichten und gipsen, und morgen früh operieren wir dann.« Dr. Blazej war einverstanden. »Glaubst du nicht, daß Komplikationen auftauchen könnten?« »Welche?« 184
»Das weiß ich nicht.« Dr. Strosmajer merkte, daß Arnost schlichte Angst hatte und fragte rundheraus: »Hast du etwa Bedenken?« »Wenn sich ein Chirurg die Hand für immer verschandelt, kräht kein Hahn mehr nach ihm.« Dr. Strosmajer versuchte, ihn zu beruhigen. »Wir haben doch schon mehr als eine solche Fraktur ins Lot gebracht, oder?« Dr. Blazej nickte, doch zögernd kam er endlich zum Kernpunkt. »Ich habe eine Bitte an dich!« »Und die wäre?« »Ich möchte, daß mir Dr. Sova die Hand operiert.« Dr. Strosmajer stutzte. Arnost beobachtete ihn konzentriert und fragte dann entschuldigend: »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Nichts war mehr vom selbstsicheren Chefarzt Dr. Blazej übrig. Ihn beherrschte nur noch die Angst um seine Hand. »Wenn du gerne von Dr. Sova operiert werden möchtest, kann ich dagegen nichts einwenden. Aber ich staune, daß gerade du das von ihm verlangst.« Die Antwort kam prompt: »Ich brauche die absolute Gewißheit, daß die Hand wieder in Ordnung kommen wird, verstehst du? Ich muß auf Nummer Sicher gehen.« Ein Pfleger bettete Roman vorsichtig in ein Bett des Zimmers Zwei und wurde sofort von Oberschwester Jachymova abgelöst. Emsig kümmerte sie sich um ihren Sohn, der apathisch alles mit sich geschehen ließ. Kurz darauf betrat Ina das Zimmer, um ihren Mann zu besuchen. Sie hatte den Raum jedoch noch nicht betreten, als ihr die Oberschwester den Weg versperrte. »Was willst du hier?« »Ich will zu Roman.« Ihre Schwiegermutter bedachte sie mit einem giftigen Blick: »Hier hast du nichts zu suchen. Das ist sowieso alles deine Schuld. Wie kannst du es überhaupt wagen, hierherzukommen?« Ina drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Raum. Am nächsten Morgen rappelte sich Dr. Strosmajer mühsam von seiner Couch hoch. »Diese Nacht hatte ich mir ursprünglich ganz anders vorgestellt. Na, trotzdem guten Morgen.« Im Zimmer standen bereits Dr. Sova und Alzbeta, die ihn aufgeweckt hatten. »Also was sagen Sie zu der Geschichte? Kommt uns allen ganz schön ungelegen, was?« »Wann ist es passiert?« »Gestern abend, so gegen zehn.« 185
»Kann ich die Aufnahmen sehen?« fragte Dr. Sova. »Hier sind sie.« Dr. Strosmajer reichte ihm die Röntgenbilder und Dr. Sova betrachtete eins nach dem anderen. »Eingerichtet haben Sie sie schon, oder?« »Sicher«, antwortete Dr. Strosmajer. »Sollen wir vor der Operation noch einmal röntgen?« »Das ist nicht nötig. Aber ich möchte mit dem Patienten sprechen.« Arnost Blazej war bereits wach. Er lag in seinem eigenen Ärztezimmer, das ihm als Gesunder viel besser gefiel. Die Tür öffnete sich und Dr. Strosmajer kam herein. »Servus! Du bist schon wach?« »Viel habe ich nicht geschlafen.« »Dr. Sova ist hier.« Arnost erschrak fast. »Schon?« »Ja. Er will mit dir sprechen.« »Worüber?« »Das weiß ich nicht.« »Stellt er irgendwelche Bedingungen?« fragte der Chefarzt sichtlich unruhig geworden. »Ich sage dir, ich weiß es nicht.« Arnost Blazej überlegte fieberhaft. »Hat er dir etwas von seinem Sohn gesagt?« Dr. Strosmajer war die Fragen leid. »Ich schicke ihn dir jetzt rein.« Und er ging hinaus, ohne weiter auf Arnost zu achten. Arnost stützte sich mit der rechten Hand am Seitenteil des Bettes hoch. Dann trat Dr. Sova ein. Beide wünschten sich einen guten Morgen, und Dr. Sova gab Dr. Strosmajer mit der Hand ein Zeichen, daß er dableiben sollte. Verwundert kam Dr. Strosmajer der Bitte nach. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Doktor«, sagte Dr. Blazej fast schüchtern. »Bevor ich Sie operiere, Herr Chefarzt, möchte ich Sie etwas fragen.« Arnost versuchte vergeblich, seine innere Spannung zu verbergen. »Worum geht es, bitte?« »Wie jeder Operateur habe ich die Pflicht, nicht nur die ganze Aktion durchzuführen, sondern auch nach der Operation die weitere Behandlung zu überwachen und für Sie zu sorgen. Das kann ich jedoch nicht, weil ich andere Pflichten habe, die aus meiner 186
Tätigkeit als praktischer Arzt entstanden sind. Ich kann also nur unter der Bedingung operieren, daß die weitere Behandlung hier für mich ein Kollege übernimmt, den ich bestimme, weil ich zu ihm Vertrauen habe.« Es schien soweit. Arnost schluckte schwer. »Das verstehe ich - aber wer soll das sein, dieser Arzt?« »Dr. Strosmajer.« Arnost war sprachlos. Selbst Dr. Strosmajer war so überrascht, daß es ihm die gewohnte Flapsigkeit verschlug. »Aber natürlich bin ich damit einverstanden.« »Doktor Strosmajer auch?« versicherte sich Dr. Sova. »Was denn? Ja, selbstverständlich.« »In diesem Falle können wir an die Arbeit gehen«, entschied Dr. Sova kurz und bündig. Dr. Blazej konnte es noch nicht fassen und stotterte: »Und... das... sind... alle Ihre Bedingungen?« »Ja.« Arnost bohrte nochmal nach: »Sie haben wirklich keine weiteren?« Dr. Sova fragte nun verwundert: »Nein. An welche weiteren haben Sie denn gedacht?« Der Chefarzt wehrte ab. »Nein, nein, keine, das ist schon in Ordnung.« Bereits eine Stunde später verabschiedete sich Dr. Sova am Ausgang von Dr. Strosmajer. Der Orthopäde bedankte sich sowohl für die Operation als auch für die Lektion, die Dr. Sova Arnost erteilt hatte. Doch Dr. Sova wollte nichts davon wissen. Dr. Strosmajer beharrte jedoch darauf und setzte hinzu: »Einmal werde ich Ihnen alles erzählen. Bis dahin - auf Wiedersehen!« Als Dr. Strosmajer wieder in Arnosts Zimmer eilen wollte, begegnete er an der Tür zu dem Zimmer, in dem Roman Jachym lag, Ina, die blaß und abgekämpft wirkte. »Wie sieht es aus, Ina?« fragte Dr. Strosmajer mitfühlend. »Ganz gut«, antwortete sie ausweichend. »Aber ich frage nicht nach seinem Gesundheitszustand, ich erkundige mich nach euch beiden.« »Ich habe auch für uns beide geantwortet«, seufzte Ina leise und lief ohne ein weiteres Wort an Dr. Strosmajer vorbei. Arnost war in der Zwischenzeit wieder in sein Zimmer geschoben worden, und als Dr. Strosmajer sich nach seinem Befinden erkundigte, sagte der Chefarzt: »Ich möchte dich bitten, daß du mich für eine gewisse Zeit in der Funktion des Chefarztes vertrittst.« Dr. Strosmajer unterbrach ihn ernst. 187
»Tue es nicht, Arnost, ich warne dich.« »Wovor?« »Wenn ich das annehme, gehe ich als erstes ans Telefon und hole die Sovas hierher - beide Sovas.« Darauf gab ihm Arnost eine Antwort, die Dr. Strosmajer fast umwarf. »Gerade deshalb tue ich es.« Und aus diesem Satz klang soviel Einsicht, daß Dr. Strosmajer kaum zu atmen wagte.
13. KAPITEL Dr. Strosmajer stürzte in sein Zimmer und griff sich hastig den Telefonhörer. »Hallo, ist dort Tyniste? Hier Bor, Krankenhaus, am Telefon Strosmajer.« Karel war am anderen Ende und dachte, daß Dr. Strosmajer seinen Vater sprechen wollte. »Nein, will ich gar nicht, Karel. Ich weiß, daß er noch nicht da sein kann. Ich will Ihnen nur die freudige Mitteilung machen, also natürlich in Vertretung unseres Chefarztes, daß Sie bei uns in der Orthopädie anfangen sollen.« Verblüfft fragte Karel zurück: »Sie wollen damit sagen, daß ich das meinem Vater ausrichten soll?« »Na klar, sollen Sie. Aber verstehen Sie mich recht, gedacht ist es für Sie beide.« Karel blieb für einen Augenblick stumm. »Sind Sie noch da?« rief Dr. Strosmajer in den Hörer. »Ja, ich bin noch da.« »Ich dachte schon, daß Sie vielleicht vor Freude verblichen sind.« »Hat Vater das ausgehandelt?« fragte der junge Dr. Sova mißtrauisch. »Er hat das Thema nicht einmal angerührt, aber dadurch hat er es wahrscheinlich geschafft - wenn Sie mich richtig verstehen.« »Das meinen Sie ernst?« »Todernst. Wir kennen uns nicht so gut, Karel. Aber im Grunde bin ich ein seriöser Mensch.« Über Karels Gesicht zog ein leichtes Lächeln, und er schnaufte vergnügt in den Hörer. Alzbeta, die neben Dr. Strosmajer stand, schmunzelte ebenfalls. Dr. Strosmajer gab Karel nur noch ein 188
paar sachliche Hinweise. Er sollte mit seinem Vater, sobald es ihre Zeit erlaubte, nach Bor kommen und mit Dr. Strosmajer alle organisatorischen Dinge besprechen. Und schon könnte es losgehen. Karel war die ganze Geschichte immer noch nicht ganz geheuer. »Und mein Vater weiß davon wirklich nichts?« »Nein, ganz sicher nicht. Es wurde entschieden, kurz nachdem er weg war.« »Also soll ich ihm das wirklich ausrichten?« »Ja, nun glauben Sie's mal, Karel!« »Das tu ich jetzt. Ich danke Ihnen.« »Nicht der Rede wert. Machen Sie nur ein bißchen Dampf dahinter. Die Arbeit überrollt uns hier. Bis dann, auf Wiedersehen!« Dr. Strosmajer legte auf und griff befriedigt nach einer Zigarette. Alzbeta schaute ihn mit schiefem Kopf an: »Das haben Sie doch alles erfunden, oder?« »Ach wo, das würde ich nie wagen. Das ist wirklich Arnosts Wille!« »Wie haben Sie ihn nur dazu gebracht?« staunte Alzbeta. »Zwingen mußte ich ihn nicht.« »Das glaube ich nicht.« »Na, Sie wohnten dem Wunder doch fast bei«, antwortete Dr. Strosmajer feierlich, »es ist wahr! Auch ein Chirurg kann fähig sein, zum wahren Glauben überzutreten. Allerdings - man muß ihm etwas brechen. In diesem Falle reichte ein einfacher Ellenbogen.« Alzbeta klopfte an die Tür von Dr. Rehors Junggesellenzimmer. Sie wirkte etwas unsicher, denn sie wollte in Dr. Rehor auf keinen Fall irgendwelche neuen Hoffnungen wecken. Der Gefäßchirurg bat sie freundlich herein. Alzbeta bemerkte sofort, wie wunderschön er aufgeräumt hatte. Auf einem kleinen Tisch standen zwei große Weinbecher und sogar ein Kerzenleuchter. Dr. Rehor wies Alzbeta einen der beiden Sessel zu und schob ihn näher an den Tisch. Dann bot er ihr Wein an. »Aber ich kam doch nicht wegen einem Glas Wein, sondern um Bach zu hören«, wunderte sich Alzbeta. »Rot oder weiß?« Alzbeta lachte: »Hast du etwa zwei Sorten?« Verlegen trat der Chirurg von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, was du mehr magst, deshalb habe ich zwei Sorten gekauft.« »Und welche magst du?« »Welche du?« 189
»Also, Rotwein.« »Ich auch.« Dr. Rehor entkorkte die Flasche und schenkte beiden ein. Alzbeta erhob ihr Glas: »Pröstchen!« »Und auf unser Wiedersehen!« Sie stießen an und tranken einen Schluck. Dann wurde es mäuschenstill. Alzbeta konnte es nicht mehr aushalten und ergriff das Wort: »Also leg etwas auf.« »Entschuldige, ich bin schon dabei.« Dr. Rehor wählte eine Platte aus, legte sie auf die Scheibe seines Grammophons, und die ersten Töne schallten durch den Raum. Alzbeta rückte ein Stückchen weiter ab und lehnte ihren Kopf an die Rückenlehne des Sessels. Sie fühlte sich sehr wohl und gab sich ganz dem Genießen der Musik hin. Plötzlich klopfte es. Dr. Rehor stand leise auf und ging zur Tür. Mit einem müden »Servus« betrat Dana Kralova das Wohnzimmer. »Ich bin total kaputt, und da hörte ich durch die Tür diese Musik und dachte, daß ich mir die zu Ende anhören könnte. »Ihr Blick wanderte über den Tisch mit den beiden halbvollen Weingläsern und der brennenden Kerze, und wurde vollends verblüfft, als sie Alzbeta sah. Dr. Rehor schaltete den Plattenspieler ab, und es folgten einige Sekunden absoluter Stille. Alzbeta merkte, daß die Situation falsch verstanden wurde und lachte. »Servus, Dana, komm setz dich zu mir.« Dr. Kralova ordnete noch einmal ihre Gedanken: Dr. Rehor, den Wein, die Kerze und Alzbeta! »Servus! Daß du hier bist?« »Ich habe Alzbeta zu Bach eingeladen«, erklärte der Chirurg. »Besser gesagt, ich hörte ein Bachstück im Club und habe mich selbst eingeladen«, korrigierte ihn Alzbeta. »Kann ich dir ein bißchen Wein eingießen?« Dr. Kralova staunte erneut. »Du trinkst Rotwein? Du hast doch bisher immer auf Weißwein geschworen.« Dr. Rehor wand sich vor Verlegenheit. »Ich... ich habe immer solche Perioden, halt mal Weißwein und mal wieder Rotwein.« »Und jetzt steigst du gerade vom einen Zeitalter ins andere, nicht wahr?« Der Antwort wich Dr. Rehor mit einer Gegenfrage aus: »Kann ich dir eingießen?« »Klar kannst du.« Er füllte das Glas und reichte es Dr. Kralova, die sogleich zu einem Trinkspruch ansetzte: »Also es leben die Kinder unserer 190
Eltern!« Sie wartete nicht einmal, bis die anderen ihre Gläser hochgehoben hatten, sondern kippte ihr Glas auf einmal hinunter. Sie merkte, wie die Blicke von Dr. Rehor und Alzbeta auf ihr lagen und donnerte ihn an: »Also leg endlich das Präludium auf, warum schweigt die Kiste?« »Von Anfang an?« »Das versteht sich doch von selbst«, meinte Dr. Kralova mit entschlossener Stimme, »alles muß doch schön von Anfang an laufen.« Danach griff sie selbst zur Flasche und schenkte sich zum zweiten Male ein. Dr. Rehor setzte die Grammophonnadel auf den äußersten Rand, und die Musik erklang erneut. Dana Kralova machte es sich bequem, und Dr. Rehor nahm ebenfalls Platz, wagte aber nicht einmal, Alzbeta anzuschauen. Die ließ fast die ganze Zeit ihre Augen nicht von ihrer Freundin. Dr. Kralova hörte dagegen zu, als ob sie nichts anderes wahrnehmen würde. Doch nicht lange. Die mächtigen Töne einer Fuge ließen Dana ihre Nerven verlieren. Sie stand auf, entschuldigte sich und ging hinaus, bevor sie irgend jemand daran hindern konnte. Als die Tür hinter ihr zufiel, schaltete Dr. Rehor verstört den Plattenspieler ab. Er schaute Alzbeta an, die sich sofort entschloß, Dana nachzulaufen. »Sollte ich nicht mit dir gehen?« »Auf keinen Fall.« Darauf schwieg er. Erst als Alzbeta schon fast draußen war, stellte er die schüchterne Frage: »Du kommst doch zurück?« Seine Stimme rührte sie: »Keine Angst, ich komme zurück.« Im Gang wurde ihr Schritt immer schneller, im Treppenhaus nahm sie drei Stufen auf einmal. Bei Dr. Kralova atemlos angekommen, klopfte sie ungeduldig. Dana bat sie herein und machte einen überraschend ruhigen Eindruck. Sie war gerade dabei, die Babywäsche aufeinanderzustapeln. »Dana, was ist passiert?« »Nichts, was soll schon passiert sein?« »Warum bist du dann weggelaufen?« »Auch so war ich dort schon zu lange.« »Was, glaubst du, hat sich dort abgespielt?« »Ich bitte dich, wir werden uns doch nicht wie zwei Rivalinnen aus dem neunzehnten Jahrhundert raufen. Mir ist klar, daß ich für ihn immer nur eine Art Ersatz- oder Notlösung war. Und ich habe ihm gegenüber auch nicht immer die besten Manieren an den Tag gelegt. Also, was soll's?« Alzbeta schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Aber er hat dir doch 191
etwas bedeutet, während er für mich nicht mehr als ein Freund ist.« »Wenn du ihn dafür hältst, ist das deine Sache. Daß er aber in dir mehr als eine Freundin von vielen sieht, ist absolute Tatsache.« »Und du?« »Was, ich?« »Dir ist das doch nicht egal! Das habe ich deutlich gemerkt, als du reinkamst.« »Du denkst, ich mußte nach Luft schnappen? Also ich war schon baff - aber nicht mehr.« »Nicht mehr?« zweifelte Alzbeta die Aufrichtigkeit dieser Antwort an. »Nicht mehr«, wiederholte Dr. Kralova. »Wenn zwischen uns beiden mehr gewesen wäre, dann hätte ich schon längst geheiratet, und dich hätte ich am Haarschopf rausgezerrt.« Sie lachte dabei und Alzbeta lächelte sie ebenfalls an. Es klang wirklich überzeugend. »Ich habe ihm versprochen, daß ich noch mal zurückkomme«, beendete Alzbeta das Thema. »Dann geh doch!« »Und was soll ich ihm sagen?« Dana beendete das Gespräch mit einer Frozzelei: »Daß ich euch viel Glück, Gesundheit und ein Dutzend Kinder wünsche.« »Da bin ich mir nicht sicher, ob ich das wortwörtlich ausrichten sollte.« »Tschüs!« Danas Großzügigkeit hatte Alzbeta total entwaffnet. Sie war sehr froh, daß sie solch eine Freundin hatte. Sie beeilte sich, damit Dr. Rehor nicht so lange warten mußte. Bereits auf dem Korridor lief Alzbeta noch ein paar Schritte, blieb dann auf einmal stehen, drehte um und lief wieder zurück. Sie platzte, ohne anzuklopfen, ins Zimmer herein und rief fröhlich: »Wieso sollte ich alleine gehen? Wir beglücken ihn natürlich beide...« Der Satz blieb ihr jedoch im Halse stecken. Mit Staunen sah sie sich dem tränenüberströmten Gesicht von Dana gegenüber. Der alte Dr. Sova stellte seinen Wagen vor dem Krankenhaus ab und stieg zusammen mit Karel aus. Dr. Sova senior beäugte das Portal, sein Sohn stand neben ihm. »Niemals im Leben wollte ich unter der Aufsicht meines Vaters arbeiten. Und jetzt - entsagtes Brot schmeckt am besten.« Der Alte gab ihm keine Antwort. Er sah, daß Karel bestens 192
gelaunt war und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Dr. Strosmajer entledigte sich gerade mit Hilfe von Schwester Andrea seiner Operationskluft und rief überrascht: »Ja, wer gibt denn hier unserer Knochenfabrik die Ehre? Ich grüße Sie, verlorene Söhne unserer alles umarmenden Mutter Orthopädie.« Es war unschwer zu erraten, daß seine Worte den beiden Sovas galten, die - schon in grüner Montur angezogen die Station betraten. »Guten Tag, wenn Sie nichts dagegen haben, will sich mein Sohn mal das Krankenhaus anschauen.« Alle Schwestern und das ganze Personal grüßten Dr. Sova mit hohem Respekt. Kaum waren sie allein in der Garderobe, meinte Dr. Sova etwas verlegen zu Dr. Strosmajer: »Herr Kollege, ich will nur gleich am Anfang klarstellen, daß bei Ihnen nicht zwei Sovas antreten, sondern nur einer.« »Wieso?« Dr. Strosmajer wirkte erstaunt. »Kann Karel nicht.« »Karel kann schon, aber ich kann nicht.« »Warum Sie nicht? Wer hat sich diesen Unsinn wieder ausgedacht?« Dr. Sova antwortete ruhig: »Ich.« Dr. Strosmajer sprach beschwörend auf Dr. Sova ein. »Ihr ganzes Leben warten Sie darauf, daß Sie einmal zusammen mit Ihrem Sohn Chirurgie machen werden - besser gesagt, daß er hier von Ihnen das Zepter übernimmt. Dann bricht Ihnen das Ganze zusammen, und es sieht ziemlich hoffnungslos aus. Sie katapultieren sich aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus und jetzt, wo Sie dicht an der Schwelle Ihres Erfolges stehen, wagen Sie den letzten Schritt nicht. Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sich nicht danach sehnen, mit ihm wenigstens einige Jahre zusammenzuarbeiten oder wenigstens ein paar Monate. Daß Sie nicht sehen wollen, wie es ihm geht, daß Sie ihm nicht alles geben wollen, was Sie selbst in den vierzig Jahren an Erfahrung gesammelt, begriffen, vermasselt und erreicht haben... Aber das läßt sich nur dann machen, wenn Sie nebeneinander Schulter an Schulter stehen, in dieselbe Wunde eindringen und dasselbe Gelenk bearbeiten. Was kann es für einen Grund geben, daß Sie das, Himmelherrgott, nicht tun wollen?« Dr. Sova seufzte schwerer. »Der Grund heißt Tyniste.« »Jetzt kommen Sie mit irgendeiner Klinik in der Provinz an? Die hat doch mit Ihnen nichts zu tun!« »Herr Kollege, Sie wissen genausogut wie ich, daß ein guter Arzt niemals seine Patienten verläßt, wenn er nicht die Gewißheit hat, daß ein anderer da ist, der seine Arbeit und seine Behandlung 193
fortsetzen kann. Und ich kann und darf nicht aus Tyniste weg, bevor wir nicht einen Ersatz finden.« »Aber man wird doch in jedem Falle eine Vertretung dort hinschicken.« »Und diesem Jemanden werde ich so lange zur Seite stehen, bis ich sicher bin, daß ich weggehen kann. Ich bin überzeugt, daß auch Sie so handeln würden.« »Versuchen Sie nicht einen Heiligen aus mir zu machen. Hier erwartet Sie fast nur Arbeit höchster Qualität, hier sind Sie eine Kapazität auf dem richtigen Platz, hier retten Sie mit jeder Operation menschliches Leben und Gesundheit - und was machen Sie dort? Aspirin und irgendwelche Salben gegen Schrammen verschreiben.« Dr. Sova ließ ihn ausreden und erzählte lächelnd: »Ich habe dort einen pensionierten Metzger, dem ich das Laufen mit einer Hüftendoprothese beibringen muß. Dann muß ich auf einen Schizophrenen aufpassen, daß er sich wenigstens ein bißchen in der Familie nützlich macht, und für die Oma Matejickova muß ich einen Platz im Altersheim besorgen...« »Aber das kann doch jeder andere auch machen...« »Das kann er, gewiß. Aber diese drei Menschen, und vielleicht noch ein paar andere, warten auf mich.« »Das reden Sie sich doch nur ein. Die sind doch für jeden, der im weißen Kittel herumläuft, dankbar.« »Das mag sein...«, räumte Dr. Sova ein. Dr. Strosmajer atmete erleichert auf. »Na, endlich sind wir klar. Also Sie bleiben hier...« »Auf keinen Fall, Herr Kollege. Morgen fahre ich zurück.« Diese Feststellung verbot jeden Widerspruch. An diesem Abend hatte Alzbeta Nachtdienst und hackte einen Bericht im üblichen Zwei-Finger-System auf der Schreibmaschine. Nach kurzem Anklopfen trat Dr. Karel Sova ein und fragte nach Doktor Strosmajer und seinem Vater. Die beiden waren noch irgendwo auf der Station, und so wollte Dr. Sova weiter Ausschau halten. »Ist es nicht besser, hier auf sie zu warten?« meinte Alzbeta und zeigte einladend auf einen Sessel. »Nein, vielen Dank, lassen Sie sich nicht stören«, doch Karel blieb im Raum stehen. Alzbeta vertiefte sich erneut in ihre Schreibarbeit - hielt es dann aber nicht aus und fragte: »Haben Sie sich schon unsere Säle angeguckt?« 194
»Ja, alle.« Alzbetas Neugier war nun erwacht. »Was hindert Sie daran zuzugeben, daß Sie in so modernen Operationssälen noch nie gearbeitet haben?« Karel lachte: »Na, das wissen Sie doch. Wir Dorfleute ausTyniste sind nichts Gutes gewöhnt.« »AusTyniste und aus Prag.« »Ich sehe, daß sich hier die Sünden meiner ruhmlosen Vergangenheit bereits herumgesprochen haben...« »Und freuen Sie sich?« »Auf was?« »Daß Sie jetzt hier bei uns sind. Ich meine jetzt nicht uns als Kollegen, sondern hier bei uns in der Orthopädie.« Karel registrierte erstaunt, daß ihn das Mädchen Dinge fragte, die er bei einem anderen Menschen für unverschämt gehalten hätte. Er verstand, wie sie das meinte und freute sich ungeheuerlich. Alzbeta wiederum hatte das Gefühl, daß sie mit diesem unbekannten Menschen so frei wie mit kaum einem anderen sprechen konnte. »Ist es schlimm, wenn man vom... vom OP-Tisch weggestoßen wird?« »Ganz schlimm. Auf diese Erfahrung sollten Sie verzichten! Und wissen Sie, was das Schlimmste daran ist?« »Nein.« »Wie die Zeit vergeht. Ihre eigene Zeit. Keinem läuft die Zeit so rasend weg, wie jemandem, der nicht das tun darf, was er gerne tun möchte. So was will ich in meinem Leben niemals mehr erleben.« Im Hotel vor Bor war heute einiges los. Es näherte sich eine lange Schlange von mit Myrthenzweigen geschmückten Autos. Auch das kunstvoll gemalte Schild »Geschlossene Gesellschaft«, das am Türgriff des Haupteinganges angebracht war, verriet auf den ersten Blick das Ereignis: Das Hotel gehörte heute Martha Hunkova und Wenzel Fink. Der Nebenraum, der aus langen Tischen in T-Form angeordnet war, war bereits von einer buntgemischten Gesellschaft besetzt, die sich zum Teil aus dem Krankenhauspersonal und zum anderen Teil aus Installateuren und Handwerkern zusammensetzte. Wenzel Fink versuchte, sich in diesem fröhlichen Lärm Gehör zu verschaffen: »Verehrte und liebe Gäste, wir, also meine liebe Martha und ich, wollten Sie so plazieren, wie wir das für am besten hielten. Es ste195
hen auch überall Platzkarten - aber wenn Sie sich woanders hinsetzen wollen, ist es auch gut.« Die Gäste suchten ihre Namensschildchen, und manche tauschten diskret ihre Plätze gegen andere aus. Fast alle waren schon da. Dr. Sova und Sohn mit Dr. Strosmajer, Alzbeta und Dana Kralova, dazu Ina und alle anderen Krankenschwestern, und natürlich auch all die Monteure und Installateure aus Wenzel Finks Betrieb samt ihrem Gruppenführer. Die Tafel war liebevoll gedeckt und mit Blumen geschmückt. Die Serviererinnen boten gerade die Aperitifs an, doch keiner wagte es, als erster zu trinken. Karel war es gar nicht recht, daß er nicht neben Alzbeta sitzen konnte, denn gerade neben ihr war noch ein Platz frei. Drängelnd wollte er wissen, wer denn der Glückliche wäre. Alzbeta las den Zettel, um ihm dann zuzuraunen: »Der Platz war für Chefarzt Dr. Arnost Blazej reserviert.« Und in amüsiertem Einverständnis vertauschten sie heimlich die Karten. Dann hörte man das Klingen eines Glases. Der am Hauptende des Tisches sitzende Wenzel Fink stand auf und richtete an die verstummende Versammlung eine kleine Ansprache: »Ich weiß, es paßt nicht ganz, daß der Bräutigam auf seiner eigenen Hochzeit den Conferencier spielt, und ich werde es auch nie wieder tun. Aber wir Installateure sind Jungs für jedes Wetter, gewohnt überall einzuspringen, wo es nötig ist. Und ich habe auch deshalb das Wort ergriffen, weil weder ich noch Marthachen irgendwelche Verwandte haben - alle sagen, daß das allein schon die Garantie für eine glückliche Ehe ist...« Seine Braut saß neben ihm in einer Flut von weißen Spitzen und Schleiern, glückstrahlend, und es war kaum zu fassen, richtig schön. »Kurz und gut, summa summarum bin ich es, der jetzt alle aufrufen wird, die etwas sagen können, das heißt, einen Trinkspruch ausbringen werden. Und als ersten bitte ich den stellvertretenden Chefarzt Doktor Josef Strosmajer.« Dr. Strosmajer, der eben noch dabei war, die jungen Damen um sich herum mit wohlwollenden Blicken zu betrachten, blieb einen Moment stumm. »Ich? Wieso gerade ich? In welcher Eigenschaft?« »Sie vertreten hier die eine Partei, nämlich die der Braut«, antwortete der Bräutigam. Alle taten mit tosendem Beifall ihre Zustimmung kund und Dr. Strosmajer blieb nichts anderes übrig, als das Wort zu ergreifen. Dazu erhob er sich, das Weinglas in der Hand haltend. »Verehrte Braut und lieber Bräutigam, verehrte Gäste! Das ein196
zige, was mir einfällt, wenn ich Sie hier so Hand in Hand sitzen sehe, das Glück, die Liebe und den Glauben an die Gefühle des anderen ausstrahlend, ist, wie die Welt sich unglaublich ändert und wie wir, die menschlichen Diener, uns in dieser Welt am meisten ändern. Ich zum Beispiel, hatte vor einiger Zeit mit der hier anwesenden Braut Martha Hunkova...« »Jetzt Finkova...«, unterbrach ihn der Installateur. »... Pardon, Finkova«, korrigierte sich Dr. Strosmajer, »einen Konflikt. Sie war mir wegen ihrer Schusseligkeit durch und durch unsympathisch. Und wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß ich auf ihrer Hochzeit für sie eine Rede halten werde, dann hätte ich ihn, gelinde gesagt, für einen Trottel gehalten. Und siehe da, ein paar Monate sind vergangen, und diese ekelhafte Schwester hat sich in eine reizende, intelligente Person verwandelt, und wir alle mögen sie. Wie ist das denn passiert? Da kam einer und sagte ihr etwas, hat sie von etwas überzeugt, hat sie für etwas gewonnen, wozu sie fähig war, zuzuhören, es aufzunehmen. Sie feilte an ihren Unzulänglichkeiten und erkannte ihre Fehler - zu ihrem und unserem Wohl. Alles durch die Macht der Liebe. Ein anderer Mensch wiederum brachte seinen Sohn auf den richtigen, auf den eigenen Weg - und wieder ein anderer gab einem dritten Mitmenschen die entscheidende Stütze. Ich selbst kann über diesen Wandel der Zeit nur staunen und bin ganz hingerissen. Selbstverständlich warte auch ich immer ungeduldiger, wann endlich jemand zu mir kommt und diesen alternden Doktor in schmuddeliger Kleidung und mit rauhen Sitten in ein angenehmes, charmantes und stets glattrasiertes Glanzstück verwandelt, das überall, wo es auftaucht, wie ein Juwel wirkt. Also jetzt trinke ich auf diejenigen, die kommen werden, um unsereiner zum Besseren zu bekehren. Zum Wohl!« Alle waren begeistert. Die Ansprache von Dr. Strosmajer war ein voller Erfolg. Martha stürmte um den Tisch und drückte ihm einen lautstarken Kuß auf die Wange, was wiederum erneuten Beifall auslöste. Dr. Strosmajer beugte sich zum alten Dr. Sova. »Ich werde schon alt. Ich erzähle immer längere Trinksprüche, und sie gefallen mir immer mehr.« »Mir hat er auch gefallen, nur mit einer Einschränkung«, entgegnete ihm Dr. Sova. »Seit wann haben praktische Ärzte das Recht, uns Spezialisten zu widersprechen?« funkelte ihn Dr. Strosmajer an. Dr. Sova grinste: »Oh, entschuldigen Sie!« In diesem Moment betrat sein Nachfolger Dr. Arnost Blazej den 197
Raum. Auch wenn er sich ganz unauffällig benahm, wurde er trotzdem sofort der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Er fand seinen, von Karel vertauschten Platz und setzte sich. Sein gebrochener Arm hing in einem Tuch. Die erste, mit der er Augenkontakt hatte, war Ina. Sein Blick umwölkte sich, er wirkte fast unglücklich. Ina wich seinen Augen gleich wieder aus, konnte jedoch nicht verhindern, ab und zu ihren Blick zu ihm zu lenken. Nach mehreren Ansprachen und dem Hochleben des Brautpaares wurde noch gegessen, getrunken und fröhliche Unterhaltungen geführt. Karel verstand es geschickt, immer in der Nähe von Alzbeta zu bleiben. Dr. Arnost Blazej arbeitete sich während der allgemeinen Gratulationen und Gesprächen mit Dr. Strosmajer und Dr. Sova zielsicher an Ina heran, so als ob ihn ihre schönen dunklen Augen wie ein Magnet anzogen. Dr. Strosmajer wandte sich dem alten Dr. Sova zu. »Sie wollen schon weg?« »Sieht man es mir an?« »Nach Tyniste?« »Jetzt halten Sie mich aber bitte nicht mehr davon ab, ja?« »Ich habe heute nacht über Sie nachgedacht.« »Und zu welchem Ergebnis kamen Sie?« »Zum Glück bin ich eingeschlafen, sonst hätte ich Angst, daß ich Ihnen auch in dieser Angelegenheit recht geben müßte.« »Ich danke Ihnen«, lächelte Dr. Sova. »Ich ahnte schon, daß Sie mir doch noch Ihren Segen geben würden.« »Das habe ich nicht gesagt. Aber halten Sie auf jeden Fall in diesem Tyniste den Platz für einen Orthopäden grober Manieren frei.« »Bevor Sie pensioniert werden, werde ich schon tot sein«, seufzte Dr. Sova. »Sie?« rief Dr. Strosmajer. »Sie werden dort noch bis zu Ihrem hundertsten Lebensjahr hocken. Man wird Sie in die Häuser der Patienten hineinbringen und die jeweilige Brust an Ihr Ohr legen müssen. Wenn Sie sich dann über die Kranken beugen müßten, würden Sie sofort umfallen und einschlafen.« Dr. Sova fing an, so herzlich zu lachen, daß selbst Alzbeta und Karel dies registrierten. »Ich habe Ihren Vater noch nie so lachen hören.« »Wissen Sie, daß ich das auch nicht habe? Obwohl, in Tyniste hat er damit schon manchmal angefangen.« Karel stand auf und ging auf seinen Vater zu. »Worüber hast du gelacht?« »Doktor Strosmajer zeichnete mir meinen Lebensabend in den buntesten Farben vor. Aber jetzt würde ich mich gerne unauffällig 198
verziehen. Kannst du mich zu uns fahren?« Karel tauschte mit Alzbeta einen Blick und bat dann seinen Vater: »Ich würde gerne noch ein bißchen bleiben. Könnte ich zu dir etwas später kommen?« »Natürlich. Ich muß zu Hause sowieso noch einiges einpacken.« Er verneigte sich vor Alzbeta und ging hinaus. Beide schauten hinter ihm her, und Karel fragte: »Wissen Sie, warum ich ihn vorausgeschickt habe?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Weil ich Sie bitten möchte, mich durch diese unbekannte Stadt zu führen.« Sie schaute ihn gespielt streng an. Sein Wunsch war mehr als durchsichtig. »Durch diese Stadt, in der ich kaum zwanzig Monate zu Hause bin und Sie mindestens zwanzig Jahre.« Als sie an Dr. Strosmajer vorbei wollten, hielt er Alzbeta mit einem listigen Lächeln an: »Wohin so schnell, Betti?« »Ich glaube, ich brauche dringend ein wenig frische Luft.« Dr. Strosmajers Blick streifte Karel. »Das glaube ich auch.« Dann beobachteten beide Ina. Arnost saß bereits neben ihr. »Wissen Sie, was Schicksalsliebe ist, Elisabethchen?« »Das weiß ich nicht.« »Also die zwei dort - das ist Schicksalsliebe. Er kommt noch mindestens zehnmal zu ihr und zehnmal schiebt er sie wieder zur Seite, und sie wird ihn wieder an sich binden und dann wieder zurückweichen. Zum Schluß wird jeder einen anderen heiraten, aber er wird immer ihre einzige Liebe bleiben und sie die seinige. Verstehen Sie das?« »Ich versuche es. Und Sie?« »Ich verstehe das schon, aber für mich wäre das sehr erschöpfend - da gucke ich lieber nur zu.« Alzbeta und Karel näherten sich der alten Villa der Sovas. Der Sohn öffnete das Gartentor, und sie trat nach kurzem Zögern mit hinein. Als sie an der Haustür ankamen, machte Dr. Sova senior von der anderen Seite auf. Die Anwesenheit von Alzbeta schien ihm nicht im geringsten zu wundern. Er verneigte sich leicht und sagte fast feierlich: »Ich begrüße Sie in unserem Hause, Frau Kollegin.« »Ich danke Ihnen.« Karel packte sich die Koffer und zusammengebündelten Bücher, um sie ins Auto zu tragen. Dr. Sova kommentierte das nachdenklich: 199
»Wenn ich etwas für Symbolik übrig hätte, würde ich sagen, daß Sie eben Zeugin des Wachwechsels auf der Sova-Burg sind.« Alle drei gingen zum Wagen, verstauten das Gepäck, und Dr. Sova drehte sich noch einmal zu Alzbeta: »Ungern, aber ich muß fahren. Eine Ärztin aus Bystritz sprang für mich ein, aber ich darf sie nicht zu lange allein lassen.« »Für uns hält zähneknirschend die Chirurgie die Stellung. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.« Alzbeta trat einige Schritte zurück, damit sich Dr. Sova von Karel in aller Ruhe verabschieden konnte. »Aus dem, was wir alles eingeladen haben, entnehme ich klar, daß du vorhast, länger zu bleiben.« »Hast du was anderes erwartet?« fragte sein Vater leise. »Im ersten Moment ja.« »Aber nur kurz.« »Vater, ich will dir sagen, ich wollte mich bedanken, wollte dir erklären, daß ich weiß, was du alles für mich getan hast.« »Was du für mich getan hast, das weißt du hoffentlich auch?« »Ich für dich?« Karel schaute ihn verständnislos an. »Na siehst du - und das weiß wiederum nur ich. Du hast mir alles das zurückgegeben, was ich dachte, bereits verloren zu haben. Verstehst du, wie ich das meine?« Er wartete jedoch Karels Antwort nicht ab und sprach weiter: »Und jetzt lauf schon zu ihr. Es ist unhöflich, eine Dame allein warten zu lassen.« »Hab keine Angst, ich lasse sie nicht allein.« Sie reichten sich die Hände, und Dr. Sova streichelte seinem Sohn flüchtig und scheu das Gesicht. Dann stieg er schnell in den Wagen. Und ebenso schnell ließ er den Motor an und fuhr los. Karel und Alzbeta blieben auf der Straße stehen und schauten hinter ihm her. Der Wagen entschwand in der Ferne und wurde kleiner und kleiner.
14. KAPITEL Es verging nicht einmal ein Jahr, da feierte man in der Orthopädie die nächste Hochzeit. Dr. Sova junior trat mit Dr. Alzbeta Cenkova in den heiligen Stand der Ehe. Und wieder war es ein rauschendes Fest für alle. Aus Tyniste kam Dr. Sova senior, um die Braut persönlich auf das Standesamt ins Rathaus zu führen. Und genau wie bei Martha Hunkova und Wenzel Fink verließ als erster 200
der alte Dr. Sova die Feier, um zurück in die Verbannung zu fahren - wie Dr. Strosmajer seine Praxis in Tyniste zu bezeichnen pflegte. Diesmal war es ein sonniger Herbsttag. Die Blätter verfärbten sich langsam, und es war nicht mehr so warm. Das betagte Gefährt des alten Dr. Sova rumpelte langsam bergab in das Tal, in dem sich die nicht allzu große Kreisstadt Bor wie auf einem Teller ausbreitete. Dr. Sova kurvte durch die engen Gassen des Städtchens durch, bis er auf dem niedlichen mit Arkaden umgebenen Platz ankam. Er wollte ihn gerade überqueren, als er an der Bushaltestelle eine einsame Frau entdeckte, die umgeben von zwei großen Koffern und mit einer im Mund brennenden Zigarette auf den Bus wartete. Höflich wünschte er »Guten Tag« und erkundigte sich, ob er sie ein Stückchen mitnehmen könnte. Die Frau ging unbestreitbar auf die Fünfzig zu, und man sah ihr an, daß sie der Typ einer emanzipierten Frau war. Zögernd trat sie an den Wagen heran und fragte mit dunkler, heiserer Stimme: »Das ist nett von Ihnen, aber ich fürchte, das wird nicht klappen.« Dr. Sova lächelte, als ob er ahnen würde, um was es ginge. »Warum nicht?« »Weil ich in eine nicht zivilisierte Gegend fahren muß.« »Und wohin wollen Sie?« »In irgendein... ein...«, sie zog aus der Tasche ein total zerknittertes Zettelchen und las den ungewohnten Namen langsam vor, um sich nicht zu versprechen: »Tyniste.« Für Dr. Sova war die Sache sogleich vollkommen klar. Er sprang aus dem Auto und griff sich die großen Koffer der Unbekannten. »Sehen Sie, dorthin will ich auch.« Die Frau war so überrascht, daß er eine weitere Erklärung dazu setzte: »Ich heiße Sova, und Sie sind bestimmt Doktor Fastova, wenn ich mich nicht irre.« Dr. Fastova drückte die brennende Zigarette am Schutzgitter der Autobushaltestelle aus und reichte ihm dann die Hand. »Das bin ich. Und Sie sind tatsächlich Dr. Sova?« »Was ist daran so Komisches?« Ihre Antwort war verdammt direkt: »Weil Sie auf mich nicht den Eindruck eines Gestrandeten machen.« Dr. Sova amüsierte das Gespräch: »Und warum müßte ich so wirken?« »Wenn Sie auf Ihre alten Tage noch in diesem komischen Tyniste praktizieren, das - mit Verlaub gesagt - am Arsch der Welt liegt, so kann man eigentlich nichts anderes denken.« Das Vokabular von Frau Dr. Fastova klang für den feinfühligen 201
T
Dr. Sova ein wenig grob, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, sagte sie trotzig: »Zumindest ich habe Schiffbruch erlitten.« Dr. Sova stapelte das Gepäck sorgfältig in den Kofferraum seines Wagens, schloß dann die Beifahrertür auf und meinte vorsichtig: »So schlimm kann es doch gar nicht sein. Steigen Sie bitte ein.« Beide fuhren los. Dr. Fastova griff sofort nach der nächsten Zigarette, zögerte jedoch kurz: »Darf man hier rauchen?« Das brachte Dr. Sova zwar in Verlegenheit, aber gutmütig sagte er: »Eigentlich nein, aber rauchen Sie ruhig eine.« »Mit anderen Worten, Sie stimmen nur zähneknirschend zu«, deutete die Ärztin sehr richtig seine Reaktion. »In einer solchen Situation schmeckt mir die Zigarette immer am besten.« Ohne weiteren Kommentar zündete sie sich eine an, sog einen kräftigen Zug in ihre Lungen und pustete den Rauch so stark wieder aus, daß das Wageninnere im Nu total vernebelt war. Doch Dr. Sova hielt tapfer durch. »Können Sie mir verraten, was Sie hierher verschlagen hat?« fragte ihn seine neue Bekannte. »Das ist eine lange Geschichte.« »Oder irgendeine Scheiße in der Familie, so wie bei mir. Der eigene Mann lacht sich ein Miezekätzchen an - doof, aber mit tollem Busen. Ich sage ihm, er soll gehen, wohin er will - und er, er geht nicht weg und bleibt, bleibt mit ihr sogar in unserer Wohnung. Ich habe mit den Kindern überlegt, wie man ihn raustreiben könnte, doch denen machte es nichts aus. Warum sollte es auch, wenn der Sohn von ihm eine saftige Apanage kriegt und die Tochter bei sich Jungs übernachten lassen darf? Und so bin ich gegangen. Eine gelungene Geschichte, nicht wahr?« Dr. Sova wußte nicht, wie er reagieren sollte. »Haben Sie sich scheiden lassen?« fragte er schließlich. »Weshalb?« Dr. Fastova verstand anscheinend die Frage nicht. »Nun, ich frage das nur, um zu wissen, ob Tyniste für Sie eine Durchgangsstation wird oder ein Dauerzustand.« Dr. Fastova lachte rauh. »Dauerzustand. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen aussieht, aber bei mir hab' ich das Gefühl, in diesem gottverdammten Tyniste wahrscheinlich auch noch unter die Erde zu kommen.« Chefarzt Dr. Blazej schritt mitten durch den Korridor- die Hände wie immer in die Taschen seines Kittels gebohrt. Er starrte inten202
siv die Fliesen auf dem Boden vor sich an und schien niemanden wahrzunehmen. Hinter der Verbindungstür zwischen zwei Gängen kam ihm Martha Finkova entgegen. Es war kein Zufall, denn sie hatte ihm dort aufgelauert. Mit einem verlegenen »Guten Tag, Herr Chefarzt« fing sie an. Doch Dr. Blazej blieb weder stehen noch verlangsamte er seinen Schritt. Er nickte nur beiläufig, und die Finkova hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Wie mir zugetragen wurde - eigentlich mitgeteilt wurde, soll in der nächsten Zeit die Ernennung zur Oberschwester durchgeführt werden... also meine Ernennung zur Oberschwester, nicht wahr?« »Ja.« Damit Martha Schritt mit ihm halten konnte, hüpfte sie wie bei einem Walzer. »Ja, also ja... aber ich muß doch wissen wann, damit ich mich sozusagen vorbereiten kann...« »Worauf?« »Worauf... na, belegte Brote, Wein und dergleichen, wenn der Herr Direktor kommt.« Dr. Blazej knurrte sie an. »Der Direktor kommt nicht.« »Aber warum nicht?« »Weshalb denn?« Martha fing an zu stottern: »Na... doch wegen... und auch um... der Direktor kommt doch immer.« »Unsinn. Bei solch unerheblichen Anlässen ist es überflüssig.« Marthas Rücken straffte sich. Das war eine Beleidigung, die sie nicht einfach hinnehmen konnte. Spitz fragte sie: »Können Sie mir gütigerweise vielleicht mitteilen, wann diese unerhebliche Aktion vonstatten gehen soll?« »Irgendwann nächste Woche. »Besten Dank!« Dr. Blazej verschwand hinter der Tür seines Arbeitszimmers und gab dabei noch schnell eine Anordnung: »Rufen Sie alle zusammen zur Chefarztvisite.« »Ja. Soll ich mitkommen?« »Nein. Ich sagte doch nächste Woche.« Damit war die Tür geschlossen. Martha Finkova hätte ihr am liebsten einen Tritt versetzt. Wenig später versammelten sich Ärzte und Schwestern: Dr. Blazej an der Spitze, dann Dr. Strosmajer, Karel und Alzbeta im zweiten Glied und Frau Jachymova sowie die Stationsschwester 203
als Schlußlicht. Die Zimmer waren ordentlich aufgeräumt und die Patienten gespannt - es war immer ein wirkungsvolles Theater, diese Chefarztvisiten. Am ersten Krankenbett erstattete Karel den Bericht. Dort lag eine Frau mittleren Alters, die ihnen ängstlich entgegensah. »Die Patientin ist fünfzehn Tage nach der Operation subjektiv und objektiv ohne Beschwerden.« Blazej hörte sich das Was und Wie an und fragte die Patientin nur kurz: »Haben Sie Schmerzen?« »Eigentlich nicht, Herr Chefarzt.« Der Chefarzt nickte, und ohne ein weiteres Wort schritt er zum nächsten Bett. Dort lag ein junges Mädchen, Karel gab erneut den Zustandsbericht: »Zehn Tage nach einer Meniskusoperation - ein kleines Exsudat, jetzt nach der Punktion deutliche Besserung.« Dr. Blazej lauschte aufmerksam, doch bevor er selbst etwas fragen konnte, flehte ihn die junge Frau an: »Herr Chefarzt, können Sie mir sagen, wann ich nach Hause gehen kann?« Blazej wandte sich an Karel: »Haben Sie der Patientin ihren Zustand erklärt?« »Ja.« »Also dann wissen Sie's.« »Das schon«, rechtfertigte sich das Mädchen, »ich wollte nur fragen, ob es nicht irgendwie früher ginge.« »Es geht nicht«, antwortete streng der junge Chefarzt und ging auf den nächsten Patienten zu. Die anderen folgten ihm. Alles lief schnell und exakt ab. Man konnte sich trotzdem des Eindrucks nicht erwehren, daß eine gewisse Spannung vorhanden war. Jeder erwartete etwas, was er nicht beschreiben konnte. Dr. Strosmajer sagte während der ganzen Visite kein einziges Wort, doch seine Augen registrierten jede noch so kleine Regung mit der Genauigkeit eines Seismographen. In dem dritten Krankenbett lag eine ältere Frau. Karel erstattete wiederum einen kurzen Bericht: »Die Patientin hat immer noch Beschwerden und Schmerzen beim Bewegen...« Die alte Frau unterbrach ihn stöhnend: »Mir tut es so weh, Herr Chefarzt.« »Was tut Ihnen weh?« fragte Dr. Blazej aufmerksam. »Hier drin - das ganze Gelenk brennt wie Feuer.« »Wann war die Operation?« wandte sich der Chefarzt an Karel. »Vor acht Wochen.« 204
»Zeigen Sie mir die Aufnahme.« Dr. Blazej wurde das gewünschte Röntgenbild gereicht. Er hob es gegen das Licht. Karel beeilte sich, die Situation zu erklären: »Die ganze Sache entwickelte sich, wie man sehen kann, eigentlich zufriedenstellend - die Prothese ist gut verankert, die Lage befriedigend.« Dr. Blazej sagte darauf kein Wort, gab das Röntgenbild zurück und beruhigte die Patientin: »Wir gucken uns das noch mal genau an.« Dann ging er weiter. Als sie das Zimmer verließen, meinte Dr. Blazej zu Karel: »Ich bin mir nicht sicher, daß die Operation in Ordnung ist.« »Aber die Aufnahme ist doch...« »Das Bild zeigt klar, daß der Knochen bereits porös ist und der Gelenkkopf zu tief sitzt.« Bevor Karel irgend etwas einwenden konnte, entschied Dr. Blazej: »Erstellen Sie ein neues Röntgenbild!« Und machte sich auf den Weg zum nächsten Zimmer. Alzbeta fragte wütend: »Was soll das Theater?« Dr. Strosmajer versuchte, sie zu beruhigen. »Liebe Betti, gegen jemanden zu opponieren, der im Grunde recht hat, ist sehr schwierig. Das ist genau das gleiche, wie sich gegen jemanden aufzulehnen, der Macht hat. Und hier kommt nun leider beides zusammen.« »Ach, ich glaube«, wandte Alzbeta ein, »daß er diese Schikane nur gestartet hat, weil er erfahren mußte, daß sich Karel auf eine wissenschaftliche Arbeit vorbereitet.« »Daran gibt es keinen Zweifel«, meinte Dr. Strosmajer, »das mögen Chefs mit Ambitionen nie...« Die beiden beschleunigten die Schritte, um die Prozession wieder einzuholen. Martha Finkova war eben dabei, sich sorgfältig zu schminken. Peinlich achtete sie auf jede Kleinigkeit. Als sie sich gerade mit ihren Augenbrauen beschäftigte, klopfte es an der Tür, und Ina trat rein. »Servus, Martha!« »Servus! Weißt du, warum ich mich so schön mache?« Ina setzte sich auf die Couch und lachte: »Du sollst zur Oberschwester ernannt werden.« »Das weißt du schon?« wunderte sich die Finkova. »Na ja, eigentlich kein Wunder, wenn die eigene Schwiegermutter abdankt. Auf diesen Tag habe ich mich gefreut. Jahrelang! Und ich habe mir ausgemalt, was ich ihr alles husten werde und wie. Und weißt du. 205
wie ich jetzt darüber denke? Ich werde einfach alles vergessen und werde nett zu ihr sein. Freundlich und großzügig, wie eine Königin. Da staunst du, was?« Ina war anzumerken, daß der Grund ihres Kommens offensichtlich ein anderer war. Und schon platzte sie heraus: »Nimmst du mich hierher zurück?« »Was? Wohin? Hierher?« staunte die Oberschwester in spe. »Also nimmst du mich?« »Aber du mußtest doch Dr. Blazej wegen gehen, oder?« »Und meiner Schwiegermutter wegen.« »Dr. Blazej wird doch schon aus Angst vor seiner Frau niemals sein Einverständnis geben.« An diese Möglichkeit hatte Ina nicht gedacht. »Ach, laß mich wenigstens beim Nachtdienst einspringen.« Die Tür öffnete sich, und die Stationsschwester schaute hinein. »Martha, wir sind schon alle versammelt. Du kannst dich jetzt aufplustern.« »Ich komme ja schon.« Die Stationsschwester schloß die Tür wieder, und Martha wandte sich noch mal an Ina. »Was sagt Roman dazu? Der wird doch ganz schön toben, wenn er das erfährt.« »Der wird nichts sagen, wenn er weiß, daß ich ein Kind erwarte.« »Ah, sakra!« staunte Martha. »Also kriegst du doch ein Kind?« »Noch nicht«, antwortete Ina und stellte erneut dieselbe Frage: »Wann kann ich also antreten - nächste Woche?« An der allmorgendlichen Besprechnung nahmen wie immer Dr. Blazej, Dr. Strosmajer, Karel, Alzbeta und diesmal auch Martha Finkova teil. Alzbeta berichtete vom Geschehen der vergangenen Nacht: »Aufgenommen wurde eine Unterschenkelfraktur. Die haben wir nur gegipst und wieder nach Hause geschickt. Dann wurden drei kleine Rißwunden versorgt, der junge Cap blutete aus der Operationswunde, Oma Hejkova hatte etwas Fieber, ansonsten Ruhe.« Dr. Blazej nickte und wandte sich dann an alle: »Hat sonst noch jemand eine Frage?« Niemand rührte sich. »Danke. Schwester, zeigen Sie dem Kollegen diese Aufnahme.« Die Finkova reichte Karel das Bild, der es gegen das Licht hielt. Dr. Blazej schwieg und wartete ab. Karel betrachtete sorgfältig das Bild und würgte dann mühsam die Worte heraus: »Es scheint... daß der Knochen wirklich ziemlich porös ist und 206
daß auch der Gelenkkopf zu tief sitzt... jetzt noch tiefer.« »Es scheint...«, wiederholte der Chefarzt ohne jegliche Regung in der Stimme, was aber um so drohender wirkte. »Was meinen Sie dazu, Herr Kollege?« Karel überlegte lange: »Ich würde mit einer Kardinallösung noch warten. Das Bein würde ich auf eine Extension hängen - und würde auch mit einer Rekalzifkationstherapie beginnen.« »Sie schlagen schon eine Lösung vor, aber ich denke, daß wir zunächst einmal über die Ursache des Zustandes nachdenken sollten.« Karel fuhr mit seiner Erklärung fort: »Wir hatten im Grunde drei Möglichkeiten: eine Rekonstruktion zu versuchen und den gebrochenen Schenkelhals zu nageln - aber dabei ist klar, daß die nachopererative Behandlung sehr langwierig wäre und daß bei dem Gewicht der Patientin...« »Das wissen wir alles...«, unterbrach ihn Dr. Blazej. Unbeirrt sprach Karel weiter: »Oder wir hätten die totale Hüftendoprothese wählen können. Aber bei der Kompliziertheit dieses Eingriffs bin ich mir über die Folgen nicht sicher. Und zum Schluß erwies sich eine Single-Prothese als...« Alzbeta kamen diese Aufzählungen zu schuldbewußt vor und sie unterbrach ihren Mann. »Warte mal. Das klingt so, als ob Arnost dächte, die ganze Operation sei falsch durchgeführt worden, habe ich recht?« Dr. Blazejs Erwiderung war eindeutig: »Nicht falsch, sie sollte überhaupt nicht durchgeführt werden.« »Was hätten wir also tun sollen?« »Totale Endoprothese. Extension oder Rekalzifikation konnte hier nicht mehr helfen.« Alzbeta warf einen Blick auf Dr. Strosmajer, der jedoch schwieg. Dann schaute sie noch einmal ihren Mann an, der zögernd wieder begann: »Totale Endoprothese hatten wir als die letzte Lösung überlegt.« »So überlegen Sie sich das jetzt als die primäre Lösung«, forderte Dr. Blazej spitz und wandte sich an Dr. Strosmajer: »Herr Kollege, setzen Sie die Operation zum nächstmöglichen Termin an.« Dr. Strosmajer nickte, und als er in das verstörte Gesicht Alzbetas blickte, sagte er aufmunternd: »Ohne diesen wunderschönen Methodenstreit könnte ein Orthopäde vermutlich gar nicht existieren.« Dr. Blazej schnitt ihm unwillig seine Rede ab: 207
»Ein perfekter Orthopäde merkt den Fehler rechtzeitig und wägt nichts ab, sondern reagiert.« Es bestand nicht der leiseste Zweifel, wem der Vorwurf galt. Es war Nachmittag, und Dr. Kralova verließ das Krankenhaus. Plötzlich hielt ein kleiner Renault neben ihr, und aus dem heruntergekurbelten Fenster strahlte ihr das Gesicht des Gefäßchirurgen Dr. Rehor entgegen. »Guten Nachmittag.« »Servus. Was machst du denn hier?« fragte Dana überrascht. »Ich warte auf dich.« Danas Blick verdüsterte sich, doch Dr. Rehor redete beharrlich weiter: »Wir holen doch jetzt Elisa im Kindergarten ab, oder?« »Ich schon - aber du?« Dr. Rehor lachte: »Du hast mir doch erlaubt, ich könnte sie nach so langer Zeit wieder einmal sehen.« Dana fand wirklich keinen Grund, irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Also stieg sie ein, und Dr. Rehor fuhr los. Kaum hatte die kleine Elisa Dr. Rehor bemerkt, lief sie auf ihn zu und sprang ihm direkt in die Arme. Der Chirurg hielt Elisa freudestrahlend. »Elli. Ich habe dich sehr vermißt.« »Ich dich auch. Hast du einen neuen Zahn aus Blech«, fragte das Kind neugierig. »Weißt du, das kommt daher, weil mir der alte rausgefallen ist und kein neuer mehr anwachsen will. Elli, wo gehen wir jetzt hin?« »Na, zu mir nach Haus«, entschied die Kleine, ohne lange zu überlegen. »Ich zeig' dir meine neuen Spielsachen.« Dr. Kralova betrachtete die Sympathien, die ihre Tochter zweifelsohne für Dr. Rehor empfand, mit gemischten Gefühlen. Dr. Rehor entging das nicht, und er drehte sich zu ihr um, die kleine Elisa immer noch in den Armen haltend: »Nimm es so, daß ich über die Tochter die Mutter erobern will.« Dr. Kralova antwortete ironisch: »Jetzt? Nach der Saison?« Das traf Dr. Rehor frontal. Gekränkt stellte er das Kind auf den Boden und sagte kurz: »Die Spielsachen schauen wir uns ein anderes Mal an, Elli, jetzt habe ich keine Zeit.« Das gefiel der Kleinen nun aber überhaupt nicht: »Warum hast du denn keine Zeit? Wir haben doch Zeit, nicht wahr, Mami?« 208
Doch Dr. Rehor blieb fest. »Ich habe es jetzt eilig, und deine Mutter hat niemals Zeit, vielleicht einigen wir uns einmal und haben dann beide Zeit.« »Papi! Papi!« rief die Kleine. Er küßte sie auf beide Wangen, drückte ihr eine Puppe in die Hand und verabschiedete sich von Dana: »Tschüs, Dana, mach's gut.« Dr. Kralova schaute ihm betreten hinterher. Nachdem Alzbeta das Abendbrot auf den Tisch gestellt hatte, fragte sie Karel, ob er mit Dr. Blazej gesprochen habe. Karel stellte sich uninteressiert. »Na, du mußt doch wissen, weshalb er den Operationsplan von Dr. Strosmajer geändert hat und sich bei dir als Assistent eintragen ließ. Das ist doch eine klare Mißtrauenserklärung.« »Aber das ist sein gutes Recht.« »Entschuldige«, rief Alzbeta erbost, »aber das muß ich als Feigheit von deiner Seite betrachten.« Karel war bestrebt, das Gespräch friedlich zu führen: »Vielleicht ist es ein Nachgeben. So was kann man doch ertragen.« »Aber wie merkt man, was eine vertretbare Konzession ist, und wann man es nicht mehr akzeptieren darf?« »Wir haben nun einmal einen Fehler gemacht, dafür müssen wir auch geradestehen.« »Welchen Fehler?« fragte Alzbeta verständnislos. »Daß wir meine Habilitationsarbeit öffentlich angekündigt haben.« Alzbeta hielt den Atem an. »Moment! Moment! Das mußt du noch einmal wiederholen.« »Wir lassen es lieber, ja?« Aber die junge Frau war nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Sind wir schon so schlecht dran, daß man nicht einmal mehr öffentlich sagen darf, daß man wissenschaftlich arbeiten will und sich um einen höheren akademischen Grad bemüht? Es bringt doch allen einen Nutzen: dem Krankenhaus, der Gesellschaft, dem Patienten und nicht zuletzt auch Arnost. Warum sollten wir das also still, heimlich und illegal tun?« »Übertreib nicht. Er hätte das so oder so erfahren müssen, weil ich die Arbeit nur mit Zustimmung meines Chefs schreiben kann. Aber wir haben es ihm einfach zu früh gesagt.« »Er muß es persönlich unterschreiben?« 209
»Ohne ihn kann ich leider nicht einmal den Antrag dazu stellen.« Schweigend gingen Alzbeta und Karel in den OP-Saal. In den Kabinen zogen sie sich die Operationsmonturen an, und als sie fertig waren, verließ gleichzeitig mit ihnen Chefarzt Dr. Blazej die Koje. Zur Begrüßung verneigten sich alle drei leicht und gingen in den Waschraum. Dana Kralova sorgte bereits für das anrückende Team, tauschte auch einen Blick mit Alzbeta aus, die nur mit den Achseln zuckte. Dann fragte Karel alle Anwesenden, ob man beginnen könne. Sie nickten, als letzter gab Dr. Blazej seine Einwilligung. Als sie das Bein geöffnet hatten, zeigte Dr. Blazej in die Wunde: »Gucken Sie sich das mal an! Der Knochen ist fast in das Becken eingedrungen. Wirklich gut, daß wir sie aufgemacht haben.« Karel warf nur kurz einen Blick auf seine Frau und arbeitete weiter. Die alte Prothese mußte herausgeschlagen werden, was harte Arbeit bedeutete. Karel wandte solch ungeheuere Anstrengung dabei an, daß sich auf seiner Stirn immer wieder Schweißperlen bildeten. Arnost assistierte so geschickt, daß es aussah, als ob die beiden ein perfekt eingespieltes Team wären. Endlich war die Prothese gelöst, und es wurde gefräst. Dann wurde das neue Gelenk eingesetzt. Als sie fertig waren, wirkte Karel total erschöpft, und sie verließen gemeinsam den Saal. Draußen warf Dr. Blazej die Handschuhe weg, riß die Kappe herunter und gab Schwester Andrea lautstark die Order, das weitere Programm abzublasen. Diese Operation habe anstelle der vorgesehenen einen Stunde drei gedauert. Das müsse berücksichtigt werden. Als Dr. Blazej aus dem Waschraum lief, stieß er beinahe mit Dr. Strosmajer zusammen, der alles mitangehört hatte. Karel und Alzbeta machten einen total deprimierten Eindruck. Dr. Strosmajer erklärte ihnen leise den Grund seines Kommens. »Ich konnte es dort oben nicht mehr aushalten vor lauter Kummer und mußte einfach vorbeischauen. Aber so genau wollte ich das nun auch wieder nicht mitkriegen.« Karel nahm seine Kappe ab und rieb sich mit ihr die Stirn ab, den Kopf und das Genick. Alzbeta war erregt und sprach mit fast erstickter Stimme: »Das ist die einzige Anerkennung für solch eine Arbeit. Verstehen Sie das?« In einer der Umkleidekabinen kämmte sich Arnost Blazej, der bereits umgezogen war. Er hörte sich das Gespräch an, stockte kurz, widmete sich dann jedoch weiter seiner Frisur. Gemeinsam mit Dr. Strosmajer liefen dann alle zusammen den Gang durch zur Orthopädie. Als sich ihre Wege trennten und jeder sein Zim210
mer ansteuerte, sagte Dr. Strosmajer: »Lieber Arnost, ich halte zwar nicht allzuviel von Sprichwörtern, aber in dieser Situation liegt mir eins auf der Zunge.« »Und zwar?« »Wer den Hund prügeln will, findet selbst in der Wüste einen Stekken.« Die Antwort des Chefarztes war frostig: »Du kommst dir wohl sehr witzig vor?« Damit verschwand er hinter seiner Tür. Dr. Strosmajer betrat sein Zimmer. Die Verwunderung über die Antwort Dr. Blazejs war ihm noch im Gesicht abzulesen. Alzbeta und Karel hatten es sich bereits bequem gemacht. »Was ist denn passiert?« fragte Alzbeta. »Ach, eigentlich nichts. Ich habe nur höflich darum gebeten, daß man mir übers Maul fährt, und dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen.« In derselben Sekunde ging die Tür auf, der Chefarzt stand im Raum. Ruhig wandte er sich an Alzbeta und Karel: »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß wir noch die Frage Ihres Verbleibens in unserer Abteilung klären müssen.« Beide wurden kreidebleich. »Wie meinen Sie das?« fragte Alzbeta erschreckt. »Bekanntlich dürfen Familienangehörige nicht auf demselben Arbeitsplatz tätig sein. Also muß in absehbarer Zeit einer von Ihnen beiden die Stelle wechseln. Lassen Sie mich rechtzeitig wissen, wie Sie sich entschieden haben.« Leise schloß er die Tür hinter sich zu. Alle schwiegen, nur Dr. Strosmajer konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Also bleiben uns nur noch Pest oder Pocken erspart.« An der Tür hörte man hastiges Klopfen, und Stationsschwester Susanne meldete: »Der kleine Hansi Lebeda hat Ausschlag am Körper, hoffentlich sind das keine Windpocken.« »Na, da haben wir's!« rief Dr. Strosmajer und begann sich in der Achselhöhle zu kratzen. »Ein Unglück kommt selten allein, und erspart wird uns gar nichts.« Martha Finkova war mit großem Eifer dabei, die Namen ihrer Untergebenen mit roten, grünen und blauen Kringeln zu versehen. In dieser wichtigen Arbeit wurde sie jedoch von Ina gestört. Das fehlte mir noch, dachte die Finkova, begrüßte Ina jedoch freundlich: »Servus, Inka. Schau mal, was ich hier ausgearbeitet habe. Jedes Mädel bekommt ihren Ring, und zwar in der entsprechenden Farbe. Ich werfe dann nur einen Blick drauf und weiß sofort, wie 211
der ganze Dienst eingeteilt ist, wie es samstags und sonntags aussieht und wie beim Nachtdienst... Gut, was?« Ina interessierte das nicht allzusehr, sondern sie kam sofort zum Grunde ihres Besuchs: »Wann setzt du mich wieder bei der Nachtwache ein?« Wieder die alte Frage! Martha Finkova schluckte und versuchte, Ina zur Vernunft zu bringen. »Schau mal, Ina, ich sag's dir ehrlich. Es geht nicht ewig so weiter. Die Leute könnten was merken, und ich trage hier jetzt eine ziemlich große Verantwortung. Das verstehst du doch?« Ina unterbrach sie: »Zwischen mir und Arnost spielt sich nichts mehr ab.« Finkova beäugte sie mißtrauisch. »Wirklich nichts?« »Nein, nichts.« »Ihr... geht... e h . . . nicht mehr... miteinander?« »Nein.« »Habt Ihr auch nichts abgesprochen?« »Nein.« »Also da bin ich...«, murmelte die Finkova, »da bin ich ... eh, h m . . . das ist in Ordnung.« »Also krieg' ich den Nachtdienst?« Oberschwester Finkova brachte dieses Gespräch etwas aus der Fassung. »Also... also meinetwegen...« »Übermorgen?« »Gut, dann übermorgen.« Sie öffnete die Mappe, führte ihren Finger in der Spalte des genannten Datums entlang und las einen Namen - Doktor Blazej. Sie quietschte auf, als ob ihr ein Gespenst begegnet wäre. Dr. Strosmajer betrat an diesem Abend mit einer gewissen Skepsis den kleinen Ausschank einer uralten Kneipe. Hinter dem Zapfenpult stand ein rundlicher Wirt und spülte mit einer Bürste die Gläser aus. Ein paar Stammgäste saßen oder lehnten um die Theke. Dr. Strosmajer dachte schon, daß er sich geirrt haben mußte, aber da richtete sich in einer Ecke der ehemalige Chefarzt Vrtiska auf und rief strahlend: »Herr Kollege, herzlich willkommen. Ich dachte schon, daß Sie nicht mehr kommen würden.« »Ich glaubte meinen eigenen Augen nicht zu trauen, daß ich wirklich am richtigen Platz sein sollte.« »Hier spielen wir schon achtunddreißig Jahre, zumindest ich. Es 212
sind aber auch manche dabei, die bald goldene Hochzeit mit der Schachdame feiern werden.« Dann zogen sie in einen genauso altertümlich wirkenden Nebenraum um, dessen Wände mit Plaketten, Fähnchen, Fotografien von Turnieren und mit Vitrinen samt allen möglichen Pokalen gefüllt waren - an zwei davon saßen bereits Spieler mit aufgestellten Figuren. Drumherum standen noch zwei oder drei andere Schachfans. In einer Ecke saß ein älterer Herr, zu dem Dr. Vrtiska Dr. Strosmajer gleich führte. »Herr Ingenieur, hier bringe ich Ihnen ein neues Mitglied. Seit einem Vierteljahrhundert versuche ich, ihn zu diesem Schritt zu bewegen.« »Und fast genauso lange habe ich auch nicht mehr Schach gespielt.« Der Vorsitzende freute sich: »Herzlich willkommen bei uns, Herr Doktor. Ich habe von Ihnen viel, sehr viel gehört.« »Vielleicht im Zusammenhang mit irgendeiner Fraktur, aber bestimmt nicht in Verbindung mit Schach.« »Ich habe nur einmal mit ihm gespielt, und das hat mir gereicht«, lobte Dr. Vrtiska Dr. Strosmajer. Mitten in diesem Gespräch betrat ein kleines Mädchen den Clubraum. Es war cirka elf Jahre, hatte Sommersprossen im Gesicht, zwei Zöpfe, Brille und wirkte im großen ganzen nicht besonders attraktiv. Der Vorsitzende sah sie und schlug vor: »Möchten Sie nicht für den Anfang hier mit unserer kleinen Ulrike spielen?« Dr. Strosmajer drehte sich um, sah dieses rothaarige Küken und sagte halblaut: »Da schätzen Sie mich schon nicht allzu hoch ein, wenn ich mich mit so einem vorpubertären Jahrgang messen soll.« Dr. Vrtiska lächelte wie immer: »Wissen Sie, bei uns spielen Alterskategorien keine Rolle, und Ulrike spielt äußerst interessant.« Das kleine Mädchen zog ihren Anorak aus. Darunter kam ein Pullover mit einer blind machenden Farbkombination zum Vorschein. Sie setzte sich zu ihm. Dr. Vrtiska stellte sie gegenseitig vor: »Das ist Herr Doktor Strosmajer - und er würde gerne gegen dich spielen.« Ulrike zeigte weder Begeisterung noch Freude. Sie sah Dr. Strosmajer prüfend an und fragte: »Auf welchem Platz der Rangliste spielen Sie?« 213
»Welcher Rangliste?« »Hier wird nach jeder Saison eine Rangliste zusammengestellt. ..« »Ulrikchen, Herr Doktor spielt hier heute zum erstenmal.« »Also sind Sie totaler Amateur?« »Wieso kommst du darauf?« Dr. Strosmajer fühlte sich nun in seiner Schachehre gekränkt. »Wenn Sie die ganze Zeit regelmäßig Schach gespielt hätten, hätte ich über Sie schon etwas lesen müssen.« Mit jedem Wort wurde Dr. Strosmajer diese aufgeblasene Göre widerlicher. Er knurrte zurück: »Ich habe eben jahrelang unter einem Pseudonym gespielt.« »Unter welchem?« »Casablanka oder so ähnlich.« Er ahnte schon, daß das nicht gerade der beste Witz war. Ulrike verstand ihn ohnehin nicht und seufzte verächtlich: »Warum muß ausgerechnet ich immer gegen solche Anfänger spielen?« Ina flößte gerade einem schmerzgeplagten, ungefähr siebzehnjährigen Jungen etwas Tee ein. Sie richtete ihm dann die Kissen und wischte ihm die heiße Stirn ab. Er nahm dankbar ihre Hand, und Ina wehrte sich nicht einmal. Da tauchte plötzlich Dr. Arnost Blazej auf. Er überblickte den Zustand des Jungen und ordnete sofort das Nötigste an. Er bekam eine Sprizte, schlief langsam ein und löste sich von Inas Hand, die ihm noch sachte seine Schläfen abtupfte. Arnost ließ sie nicht aus den Augen, ging dann aber als erster. Etwas später stand Ina von der Bettkante auf und wollte auf ihr Zimmer gehen. Der Flur war menschenleer, und mit jedem ihrer Schritte stieg die Spannung in ihr. Ina griff nach der Türklinke des Schwesternzimmers und öffnete. Dort wurde sie von einer leisen Frage empfangen: »Du kommst meinetwegen hierher?« Sie hob den Kopf und bemerkte Dr. Arnost Blazej, der dort auf einem Stuhl in der Ecke saß. Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann einfach: »Ja.« Er stand auf. »Begreifst du denn nicht, daß es keinen Sinn mehr hat, daß ein für allemal Schluß ist und daß sich nichts wiederholen läßt. Es ist aus.« Sie schwieg. Dr. Blazej spürte ihre erregende Nähe, was ihn noch unwilliger machte. 214
»Begreifst du es oder nicht?« »Ja, doch.« »Und was suchst du dann hier? Warum bist du hier?« »Deinetwegen.« »Aber das hat doch keine Logik, auch keine Zukunft.« Aber da hielt er schon ihr Gesicht in seinen beiden Händen, und diese Hände glitten langsam an ihrem Hals entlang, über ihre Schultern, an ihrem Busen herab. Dann drückte er Ina schweigend an sich. Die Frau von Dr. Blazej wählte die Dienstnummer ihres Mannes, doch das Telefon von Dr. Blazej gab keine Antwort. Frau Blazejova versuchte es wieder und wieder, doch ohne Erfolg. Dann klingelte das Telefon auch im Schwesternzimmer. Ina wollte abheben, doch Arnost zog ihre Hand zurück. Frau Blazejova ließ von weiteren Versuchen ab und gab die Suche nach ihrem Mann auf. Zu Ina, die neben ihm auf dem Bett lag, sagte Arnost leise: »Ich bitte dich, mach bei uns nie wieder Nachtdienst in der Abteilung.« »Ich tue es nie wieder.« Dr. Strosmajer nahm den gegnerischen Springer in die Hand, doch sofort darauf verlor er den Turm. Plötzlich faßte er sich an seine Rippen und murmelte: »Deutlicher Schmerz unterhalb des Brustbeins. Entweder heißt es, daß ich todkrank bin, oder es hat mich so geschafft, daß ich den Turm opfern mußte. Kinder, Kinder, die Partie beginnt schon jetzt mir zu mißfallen - und sie fängt gerade erst an.«
15. KAPITEL Alzbeta war wieder einmal mit einem Schriftstück beschäftigt. Nach kurzem Anklopfen und ohne abzuwarten platzte ein etwa fünfundzwanzigjähriger und gutaussehender junger Mann herein. Während es ihm Freude zu bereiten schien, die hübsche Ärztin zu verunsichern, war Alzbeta von dem ungebetenen Besuch überhaupt nicht angetan. Beide sagten fast zusammen: »Guten Tag!« »Wenn dies das Ärztezimmer ist, dann bin ich hierher verbannt worden, damit ich bei der komplizierten Verhandlung nebenan 215
nicht störe. Mein Name ist Peterka, mein Beruf - Novize.« »Sovova - nehmen Sie Platz!« Peterka setzte sich hin und erzählte mit selbstsicherem Grinsen: »Ich sollte mich beim Chefarzt vorstellen, aber dort sitzt ein todernster Mann. Der arme Kerl schwitzt wie auf dem elektrischen Stuhl.« Alzbeta unterbrach ihn und bat ihn zu schweigen. Dieses elende, schwitzende Wesen sei nämlich ihr Mann. Peterka schnappte nach der Luft, als er das hörte. Das Gespräch dort drüben klang in der Tat nicht friedlich, obwohl Dr. Arnost Blazej seine Worte gegenüber Karel sorgsam auswählte. »Sie dürfen mir bitte nicht böse sein, Herr Kollege, daß ich so lange zögerte. Ich dachte nur über Ihr Ersuchen nach...« »Ich bin Ihnen nicht böse.« »Die Situation ist für mich nicht einfach, weil ich so eine Sache noch nie beurteilt habe. Ich suchte sogar deshalb meinen früheren Professor in Prag auf. Chalaba, kennen Sie ihn?« »Nur dem Namen nach.« »Er hat mir jedoch die Aufgabe keineswegs leichter gemacht.« »Inwieweit?« »Weil er mir nicht klar sagen konnte, ob es in Ihrem Fall erforderlich ist, ein, zwei oder drei Jahre zu warten. Er ist jemand, bei dem fünf Jahre nicht als lange Zeit zählen. Seiner Meinung nach verschafft sich ein Orthopäde in fünf Jahren höchstens den Grundüberblick über sein Fach.« Karels Kehle war trocken, er konnte kaum schlucken. »Aber er weiß doch nichts über mich - und er kennt auch nicht meine Arbeit.« »Na, eben deshalb. Deshalb kann ich auch nicht alle seine Beurteilungen ernst nehmen.« Im Chefarztzimmer breitete sich eine bedächtige Stille aus. Eine lange und unangenehme. Karel fragte mit brüchiger Stimme direkt: »Sie haben sich also schon entschieden?« »Ich schon.« Karel wartete. Fast liebenswürdig sprach Arnost weiter: »Ich denke, so zwei bis drei Jahre müßten reichen.« Überraschenderweise atmete Karel zunächst kurz auf. Der Chefarzt bemerkte das und fügte gleich hinzu: »In zwei oder drei Jahren werden wir es bestimmt zuverlässig beurteilen können, ob Sie sich um die Habilitation bewerben sollen oder nicht.« Erst jetzt kam der Schlag gezielt und grausam. Doch Karel sagte 216
keinen Ton. Er stand auf, verneigte sich und ging hinaus. Dr. Blazej hielt ihn noch für einen Moment zurück. »Sie haben Ihren Antrag vergessen.« Karel kehrte noch einmal um, holte das Papier vom Schreibtisch und entschuldigte sich. Kaum betrat er das Ärztezimmer, sprang Alzbeta aufgeregt vom Stuhl. »Na, was ist?« »Zwei bis drei Jahre warten. Und erst dann wird man sehen.« »Das ist doch nicht dein Ernst«, entrüstete sich Alzbeta. »Wie hast du darauf reagiert?« Karel bemerkte erst jetzt den jungen Doktor Peterka im Raum und gab ihm die Hand. »Ich heiße Sova.« »Peterka, angenehm. Ich sehe, daß ich in eine äußerst unangenehme Situation geplatzt bin.« Das sagte er so flapsig, daß Karel indigniert eine Augenbraue hob. »Habe ich das richtig verstanden, Herr Kollege«, eröffnete Arnost wenig später das Gespräch mit Peterka trocken, »daß Sie außer Ihrem Studium im Grunde über keine Praxis verfügen oder nur minimal...« »Nur zwischen ... zwischen den einzelnen Semestern diente ich jeweils über die ganze Ferienzeit hindurch in der Orthopädie ...«, versuchte Peterka lachend seine bisherigen Tätigkeiten zu beschreiben. »Ich sag's ja - Erfahrung minimal. Also müssen wir bei Punkt Null beginnen, damit Sie sich an das Regime und die Methoden unseres Krankenhauses gewöhnen.« »Das wird mir bestimmt keine Schwierigkeiten machen.« »Das werden wir sehen«, entgegnete Dr. Blazej streng. »Wie lange wollen Sie hierbleiben?« Der junge Mann seufzte. »Grob geschätzt zehn Monate, dann ein Jahr Militär - und dann auf Lebenszeit.« Arnost schaute ihn noch einmal ernst an. Er hielt es für erforderlich, ihm ein bißchen die Flügel zu stutzen: »Nur wenn beiderseitiges Interesse besteht.« Es war ein ungewöhnlicher Anblick: Der alte Dr. Sova deckte die Rosen zu, Doktor Fastova lief mit einer Schubkarre hin und her, brachte ihm Erde und herabgefallenes Laub. Das alles spielte sich in einem alten, früher wunderschönen, heute aber verkommenen Garten hinter der Poliklinik ab. »Lassen wir es für heute?« fragte plötzlich die Ärztin. »Ich würde jetzt gerne eine rauchen. Es ist zum Heulen.« 217
Dr. Sova ließ sich jedoch von seiner Arbeit nicht abbringen. »Dieses Stückchen hier mache ich noch fertig, was meinen Sie?« »Vor lauter Hummeln im Hintern wissen Sie nicht, was Sie noch alles für Ihre Gesundheit tun sollten.« Dann blickte sie über den Zaun und sagte: »Ein Glück, daß jemand zu uns kommt.« Dr. Sova schaute nicht einmal hoch und fragte: »Wer?« »Woher soll ich es wissen? Mir reicht nur, daß es nicht mein Alter ist.« Dieser »Jemand« waren Karel und Alzbeta. Kaum saßen sie auf der Bank, enthüllten sie den eigentlichen Zweck ihrer Reise: das abgelehnte Gesuch von Karel um eine wissenschaftliche Habilitation. »Nannte Dr. Blazej wenigstens einen konkreten Grund, warum er das Gesuch nicht genehmigen will?« fragte Dr. Sova. Alzbeta übernahm die Antwort für Karel: »Eigentlich keinen. Nur daß er Karel erzählt hat, daß er sich sogar mit Chalaba darüber beraten hätte.« Dr. Sova bemühte sich Dr. Fastova aufzuklären: »Chalaba ist ein Professor an der Universitätsklinik ...« Nur beiläufig ließ Dr. Fastova die Bemerkung fallen: »Den kenne ich.« »Und er hat keinen anderen Grund?« »Daß ich die Orthopädie noch nicht lange genug mache«, referierte Karel weiter. »Er würde es schlicht nicht überleben«, ergänzte Alzbeta, »daß jemand in seiner Abteilung habilitiert, während er selbst keine Habilitationsarbeit hat.« »In diesem Fall ist das einfach«, mischte sich Dr. Fastova ein. »Sie müssen ihn einfach mit einem Lasso schnappen.« »Mit was für einem Lasso?« Dr. Sova schaute sie verblüfft an. »Besorgen Sie auch für ihn ein Habilitationsthema.« »Für Dr. Blazej?« »Sicher.« Dr. Sova lächelte. »Die Kollegin Fastova denkt sehr pragmatisch.« Der nachte Überraschungseffekt von Dr. Fastova folgte jedoch auf dem Fuße. »Wenn Sie wollen, kann ich es für Sie bei Professor Chalaba besorgen.« »Das würde er für Sie tun?« fragte Alzbeta ungläubig. Doch Dr. Fastova war die Ruhe selbst: »Also, können tät er schon, da ich mit ihm jahrelang ein Verhält218
nis hatte.« Dr. Sova unternahm sofort den Versuch, sich schnell aus dieser für ihn schockierenden Situation herauszumanövrieren: »Frau Doktor macht natürlich Spaß.« »Meinen Sie das mit dem Verhältnis?« »Das stimmt vielleicht... dazu kann ich nichts sagen ... aber die Protektion würde ich entschieden zurückweisen. In der Medizin muß sich die Qualität selbst durchsetzen.« Dr. Fastova lachte: »Mit anderen Worten: abgemacht!« Doktor Strosmajer warf das letzte Instrument zur Seite und beendete den kleinen Eingriff. Dr. Peterka sollte die Wunde zunähen. Dann ging er durch den Waschraum, setzte sich im Ruheraum auf einen kleinen Stuhl und griff nach einer Tasse Kaffee. Kaum nahm er den ersten Schluck zu sich, stöhnte er auf - die Zahnwurzel tat weh. Aus dem Hintergrund meldete sich Dana Kralova: »Ich habe für Sie schon einen Termin ausgemacht. Sie können sofort antreten, wenn Sie keine Angst haben.« Tief blickte ihr Dr. Strosmajer ins Auge. »Frau Kollegin. Mit der Angst können Sie jeden anderen provozieren, nur mich nicht.« »Weil Sie überhaupt nicht wissen, was Angst ist?« »Im Gegenteil«, rief Dr. Strosmajer, »ich habe immer schreckliche Angst - und je länger ich bei dem Handwerk bin, um so schlimmer wird es.« »Sie mußten mir versprechen, daß man mit Ihnen besonders rücksichtsvoll umgehen wird.« »Das kenne ich. Das versprechen wir auch immer.« »Man wird Sie lokal betäuben, und Sie werden nichts fühlen.« »Haha?!« knurrte Strosmajer. »Wissen Sie, wie schmerzlich so eine Lokalbetäubung ist? Ich kenne das nur vom Hörensagen, es soll die wahre Hölle sein.« Dr. Kralova grinste: »Also muß ich Sie wohl narkotisieren lassen, wenn es nicht anders geht.« Dr. Strosmajer erschien dieses Angebot eventuell annehmbar. »Ich werde mein Inneres befragen, und dann lasse ich Ihnen meine Antwort ausrichten.« »Fragen Sie lieber Ihren Zahn.« Mitten in diese interessante Diskussion stürmte Saalschwester Andrea herein: »Herr Doktor, kommen Sie, schauen Sie sich Herrn Doktor Peterka an und helfen Sie ihm, er kommt mit dem Nähen nicht 219
zurecht.« Vojtech Peterka kämpfte in der Tat mit der Wunde so verbissen, daß Dr. Strosmajer nur lakonisch meinte: »Herr Kollege, ich sagte nähen und nicht flicken.« Darauf flüstert Andrea der Instrumentenschwester ins Ohr: »Da haben wir einen Cvach Nummer zwei erwischt.« Dr. Arnost Blazej stieg die Treppe in seinem Haus hoch und als er auf die letzte Stufe trat, ging die Tür zu seiner Wohnung auf und seine Frau, samt den beiden Sprößlingen, grüßten ihn so, wie man es sich in ordentlichen Familien vorstellt. Er küßte seine Frau, seine Kinder - das ganze sah wie eine Zermonie aus. »Wart ihr denn brav?« Die Kinder riefen: »Immer, Vati, immer ...« Die Mutter räumte ein: »Bis auf ein paar Kleinigkeiten ging's.« Die Kinder liefen in ihr Zimmer, und Arnost fragte seine Frau, ob es Neuigkeiten gäbe. »Chalaba aus der Klinik schrieb dir einen Brief.« Diese Nachricht erschreckte Dr. Blazej. Was wollte gerade er von ihm? Ungeduldig riß er den Umschlag auseinander und las gierig Wort für Wort, Satz für Satz. Seine Frau beobachtete ihn aufmerksam. Als er fertig war, ließ er den Brief auf den Tisch fallen. Offensichtlich verstand er den Inhalt überhaupt nicht. Dann hob er das Schreiben erneut auf und gab es seiner Frau zu lesen. Ihr reichte nur ein flüchtiges Überfliegen der Zeilen. Sie lächelte: »Was verstehst du nicht daran?« »Daß er mich auffordert, eine wissenschaftliche Arbeit für eine Habilitation in Angriff zu nehmen, das würde ich noch verstehen - aber warum steht drin ...« Er nahm das Papier in die Hand und las: »>... daß es äußerst wünschenswert wäre, mit einem Ihrer talentierten Fachkollegen zusammenzuarbeiten, die genauso viele Erfahrungen haben wie Sie.. .< - was hat das damit zu tun?« »Vielleicht wurde der Brief nur wegen dieser einen Bemerkung geschrieben.« »Wie meinst du das?« »Einer der Sovas ging einfach zum Chalaba, damit du Karel dein Einverständnis gibst.« »Das werde ich allerdings nicht so schnell tun.« Seine Frau zuckte mit den Schultern: »Wie du meinst. Hast du einen bestimmten Grund dafür?« »Natürlich. In der Orthopädie muß er noch eine Menge lernen.« »Ich meine, ob du selbst irgendeinen Grund hast, die HabilitaDr. 220
tionsarbeit nicht zu schreiben.« Arnost fragte erstaunt: »Wieso das denn?« »Weil du sicher sein kannst, daß man in einem solchen Falle von dir eine großzügige Hilfe erwartet.« »Das fällt mir nicht im Traum ein«, reagierte Arnost entschieden. »In der Medizin muß jeder selbst in der Lage sein, seine Suppe allein zu kochen.« »In diesem Falle wird bestimmt jemand von Chalabas Seite versuchen, dir die Suppe zu versalzen, das kann ich dir garantieren.« Dana Kralova begrüßte stürmisch den alten pensionierten Chefarzt Dr. Vrtiska: »Das sind aber mal Gäste! Kommen Sie herein!« »Guten Tag - ich komme nicht rein«, wehrte der alte Herr ab, »ich brauche von Ihnen nur so eine... so eine Art Hilfe.« »Welche Hilfe?« »Wissen Sie, ich habe einen Freund, und wenn ich ihn so beobachte, würde ich jede Wette darauf abschließen, daß mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist. Und ich hätte gerne, daß Sie ein EKG machen und ihn untersuchen. Von Ihnen würde er sich das vielleicht gefallen lassen.« »Aber sicher, das tue ich gerne. Um wen handelt es sich?« »Um Doktor Strosmajer.« Dana Kralova war wie vom Blitz getroffen. »Wie bitte?« »Wissen Sie, ich spiele mit ihm ab und zu mal Schach - aber diese Schweratmigkeit, und manchmal dieser Schmerz unter dem Brustbein - ich wäre froh, wenn ich mich täuschen würde.« »Aber er hat nie über irgendwelche Schmerzen geklagt.« »Das würde er auch nie tun. Nur, ihn zum EKG zu überreden, das wird eine große Schinderei.« »Na, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen.« »Deshalb komme ich auch zu Ihnen. Er darf von meinem Besuch hier nichts erfahren.« »Sie können sich auf mich verlassen.« »Wissen Sie, er würde dann nie mehr zum Schachspiel erscheinen. Und was sollten wir dann tun?« »Ist er denn so ein guter Spieler?« »Ach wo. Aber er bringt in diese Figuren Poesie, Philosophie und auch Politik hinein ...« Dr. Kralova fragte mißtrauisch: »Das paßt alles rein?« »Bei ihm schon.« 221
Dr. Blazej eilte durch den Gang seiner Abteilung und öffnete fast jede Tür. Mißgelaunt kam er am Schwesternzimmer an. Dort saß Martha Finkova, um sich herum die anderen Schwestern versammelt. Zweifelsohne hielt sie ihnen eine Predigt oder führte zumindest eine Schulung durch. Als sie das Klopfen an der Tür hörte, rief sie in kommißmäßigem Ton: »Nicht stören!« Als sie ihren Chef erblickte, korrigierte sie sich sofort: »Suchen Sie jemanden, Herr Chefarzt?« »Sie.« Sie folgte ihm auf den Flur und Dr. Blazej schlug die Tür hinter ihr zu. Jetzt, mit der Finkova von Angesicht zu Angesicht, plagten ihn auf einmal Zweifel. »Es handelt sich eigentlich um eine Kleinigkeit: Wie ist der augenblickliche Personalstand bei uns?« »Oh, unser Personal? Gut.« »Alle Stellen sind also besetzt?« »Alle.« Je positiver die Meldungen waren, um so düsterer wurde das Gesicht von Arnost. »Auch samstags und sonntags?« »Die auch.« »Auch die Nachtwachen? Es geht mir nur darum, anzubieten ... Na gut. Dann steht es ja bestens. Wir brauchen keine Aushilfen ...?« Endlich kapierte die Oberschwester. »Ja, das würde ich ja gerne. Nur sie will jetzt nicht mehr.« »Warum nicht?« »Ich dachte, daß Sie wissen.« »Was?« Martha wurde klar, daß sie das nicht hätte verraten sollen. »Daß... daß ...« Dr. Blazej begriff sofort: »Das sie schwanger ist?« Die Oberschwester schwieg. Arnost Blazej bemühte sich, mit aller Kraft ruhig, ja gleichgültig weiterzusprechen: »Auch ich habe so etwas gehört.« Dann verabschiedete er sich kurz: »In diesem Fall können Sie sie nicht beanspruchen.« Arnost stürmte so vehement in die Kinderambulanz, daß beide Schwestern - Jarka und Ina - ihre Arbeit unterbrachen und aufschauten. Der Chefarzt grüßte wie stets energisch mit einem »Guten Tag« und schickte Jarka mit einer Aufgabe aus dem Zimmer. 222
»Heute warten ziemlich viel. Machen Sie mit den Müttern im Wartezimmer eine Reihenfolge aus.« Als sie draußen war, schloß er sicherheitshalber noch einmal die Tür hinter ihr zu und preßte einen einzigen Satz heraus: »Das Kind hast du mir absichtlich angehängt, um mich zu vernichten, was?« Ina bereitete gerade die Röntgenbilder vor, und nichts verriet ihr seelisches Befinden, außer den zitternden Händen. Nachdrücklich fügte Dr. Blazej hinzu: »Na dann - vielen Dank.« Er öffnete die Tür wieder und rief ungeduldig in den Warteraum: »Wie lange soll ich noch auf den ersten Patienten warten?« An der Haltestelle mit dem Namensschild »Krankenhaus« stieg Martha Finkova aus dem Bus. Fröhlich rief sie noch einem jungen Mann zu: »Melden Sie sich, ich trage Sie in meine Warteliste ein.« Dann erblickte sie Ina, die auf etwas wartete. »Servus, Inka!« »Servus! Kann ich ein Stück mit dir gehen?« Die Oberschwester schöpfte sofort Verdacht: »Aber ich gehe doch nur ins Krankenhaus.« Sie zeigte auf das Gebäude einige Dutzend Meter vor ihnen. »Das wird reichen.« Einige Schritte gingen sie schweigend. Dann stellte Ina die erste Frage: »Hast du mit Arnost gesprochen?« »Mit dem spreche ich täglich.« »Auch darüber, daß ich ein Kind erwarte?« Martha wußte nicht, was sie sagen sollte: »Das weiß ich nicht - wahrscheinlich nicht...?« »Aber du wußtest als einzige Bescheid.« »Na ich ... äh ...«, wand sich die Finkova, »etwas hat sich ... er kam selbst drauf... er fragte mich ziemlich direkt.« Doch Ina hatte nicht vor, Martha Vorwürfe zu machen. »Das ist egal. Er hätte es sowieso erfahren.« Die Oberschwester war erleichtert. »Na ja ... na klar ... warum so etwas verbergen?« »Nur, er kam darauf, daß es sein Kind ist.« Die Finkova wurde blaß wie eine Leiche: »Jesus Maria - das hätte nicht einmal ich zu denken gewagt. Also gewagt schon, aber ...« »Er sagte, ich will ihn dadurch vernichten.« 223
»Was? Dieser Lump.« Sie näherten sich gerade der Eingangstür zum Krankenhaus, als von der anderen Seite Dr. Arnost Blazej dazu kam. Er hielt den beiden die Tür auf, schwieg und grüßte nur mit einem flüchtigen Kopfnicken. Auf Anhieb wandelte sich der Gesichtsausdruck der Finkova um einige Grade. Nicht, daß sie in Freundlichkeit zerflossen wäre, aber sie war wieder dieser kleine strebsame Besen, der unter allen Umständen gut kehren wollte. »Guten Morgen, Herr Chefarzt.« Kaum war er weg, sagte Ina leise, doch entschieden: »Martha, ich will das Kind nicht.« Dr. Strosmajer schlummerte auf seinem Sofa, wie immer angezogen. In der Ecke seines Zimmers leuchtete eine kleine Lampe. Im Unterbewußtsein hörte er, daß jemand anklopfte. Er schlug seine Augen einen Spalt auf, und auf sein donnerndes »Herein« trat Dr. Kralova ins Zimmer. »Guten Abend!« »Es schien mir«, sagte Dr. Strosmajer, »daß jemand an die Tür klopfte und meinen Traum störte - aber jetzt sehe ich, daß das nicht wahr ist, daß mein Traum weitergeht.« Dr. Kralova lächelte. »Sie lügen unverschämt. Von mir haben Sie ganz sicher nicht geträumt.« Dr. Strosmajer lachte. »Die Formen und Gesichter waren - zugegeben - ein wenig vernebelt, aber die Absicht, in der die Dame zu mir im Traum kam, war absolut die gleiche.« »Kam sie auch Ihres Zahnes wegen?« Dr. Strosmajer faßte sich an den Unterkiefer: »Jetzt haben Sie mich aber verdammt brutal wachgerüttelt.« »Tut der Zahn immer noch weh?« »Immer noch.« »Ich teile Ihnen die gute Nachricht mit, daß man es am Donnerstag in Ordnung bringen könnte.« »Resektion?« »Man wird sehen.« »Sie werden es am Donnerstag sehen, aber ich male mir das schon die ganze Woche aus. Haben Sie bei den Leuten dort schon die Lokalbetäubung angeordnet?« »Ja. Mit der Narkose waren sie einverstanden. Morgen mache ich Ihnen ein EKG, und übermorgen ist dann alles vorbei.« Dr. Strosmajer witterte Unrat: 224
»Das EKG muß doch nicht ein Doktor machen?« »Ohne EKG darf ich Ihnen aber keine Narkose geben.« Dr. Strosmajer stutzte kurz, ließ dann aber mit sich reden: »Machen Sie mir nichts vor. Sie wollen mich doch nur nackt sehen.« Dr. Kralova spielte dieses Spiel dankbar mit. »Wenn Sie mich schon durchschaut haben, brauchen Sie es mir trotzdem nicht auf die Nase zu binden.« Wenzel Fink führte stolz seiner Frau Martha das Ergebnis seiner wochenlangen Feierabendtätigkeit vor. Es entpuppte sich als ein uralter, doch perfekt hergerichteter Praga Picolo. Der Oldtimer stand im Garten vor der Garage ihres Mietshauses, und der Motor schnurrte regelmäßig. Fink freute sich lautstark über sein Werk: »Das ist kein Auto, das ist ein Uhrwerk! Das ist ein Meisterwerk!« Martha war anzumerken, daß sie an ganz andere Dinge dachte und keineswegs Anlaß zu solcher Freude hatte. »Wenzel, ich muß Ina helfen.« »Ihrer Schwiegermutter den Hals umdrehen, ja?« »Sie sitzt in der Patsche.« Ihr Mann begriff nun, daß das Thema keineswegs komisch war. »Wieso denn?« »Eigentlich bin ich da nun nicht ganz unschuldig, Ina ist schwanger.« »Aber doch nicht von dir.« »Mach nicht solche Witze! Von Dr. Blazej.« Vor Überraschung ließ Fink einen langen Pfiff hören. Seine Frau erzählte weiter. »Und sie will das Kind auf keinen Fall behalten. Deshalb muß sie jetzt vor die Abtreibungskommission.« »O weia!« Ihr Mann schüttelte sich. »Und den Chefarzt am Händchen dorthin führen?« »Das stimmt nicht.« »Na ja - aber wen dann?« Mit Mühe kam es über Marthas Lippen: »Dich, Wenzel.« Wenzel mußte sich zurückhalten, um die Motorhaube nicht aus der Verankerung zu reißen. Umständlich stellte er sein Uhrwerk ab. »Was sagst du da?« »Wenzel, du mußt es für sie tun.« »Ich soll vor die Kommission gehen und sagen, daß wir das Kind 225
zusammen gebastelt haben und daß ich das bedauere und daß ich das nie wieder tun werde? Sollte ich nicht lieber direkt zu Dr. Blazej anstatt vor die Kommission gehen?« »Dadurch würdest du ihr nicht viel helfen und mir auch nicht.« Der einfache Handwerker dachte einen Moment nach und sagte dann seufzend: »Mein Gott - kein Mädchen wollte mich früher haben - und jetzt soll ich als Verführer des schönsten Kätzchens der ganzen Umgebung auftreten? Das werden sie mir doch gar nicht abnehmen.« Seine Frau schwieg und umarmte ihn. »Wenzel, dir werden sie es bestimmt glauben.« Und sie zog ihn so fest an sich, daß über ihre Absichten nicht die geringsten Zweifel bestehen konnten. Karel bereitete sich auf eine Operation vor und schrubbte sorgfältig Hände und Arme. Chefarzt Dr. Blazej kam dazu, drehte ebenfalls den Wecker auf und stellte sich neben ihn. Schweigend desinfizierten die beiden ihre Hände, zuerst das Handinnere und dann den Handrücken und später einen Finger nach dem anderen, jeden einzeln. Endlich klingelte Karels Wecker - ein Zeichen für ihn, sich die Hände abzuspülen. Dr. Blazej, als ob er auf dieses Signal gewartet hätte, sprach Karel an: »Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Kollege.« »Gerne.« »Ich wollte Sie bitten, ob Sie morgen an meiner Stelle den Schenkelhals operieren könnten. In Prag findet ein Seminar über Traumatologie statt.« »Gut.« Dann setzte Arnost wie unbeabsichtigt hinzu: »Es könnte für Ihre Habilitationsarbeit ganz nützlich sein, nicht wahr?« Karel erstarrte. »Soviel ich mich entsinnen kann, hatte Ihre Arbeit ein ähnliches Thema, oder?« fuhr Dr. Blazej fort. »Ja, die Bedingungen für eine schnelle Bruchstellenheilung bei Frakturen des Schenkelknochenhalses.« »Wie weit sind Sie damit?« »Etwa in einem halben Jahr könnte ich fertig sein.« Karel vergaß, sich weiter die Hände abzuspülen und fragte: »Aber ich habe doch keine Erlaubnis von Ihnen bekommen.« »Nur vorläufig. Mit dem damaligen Personalstand in der Abteilung wäre es ziemlich riskant gewesen, Sie die Habilitationsarbeit schreiben zu lassen. Jetzt, nach dem Antritt von Doktor Peterka, 226
ist die Situation merklich anders.« Dr. Blazej drehte sich vom Waschbecken ab und sah plötzlich, daß Andrea an der Tür stand. Ihre Miene machte mehr als deutlich, daß sie einen wesentlichen Teil des Gespräches mitgehört hatte. Sie wirkte erstaunt. Dr. Blazej setzte sofort ein strenges Gesicht auf: »Beim Beginn der Operation möchte ich um mehr Pünktlichkeit bitten.« Am selben Abend ruhte sich der alte Dr. Sova in seinem Sessel aus und las. Das laute Klingeln des Telefons zerschnitt die Stille. Der ehemalige Chefarzt meldete sich. »Ja, bitte?« »Hier spricht Alzbeta. Guten Abend! Dr. Blazej hat Karel die Prüfung genehmigt!« »Wirklich?« »Professor Chalaba hat eine perfekte Leistung erbracht.« »Wie kommst du darauf?« »Na, das ist doch ganz klar. Frau Doktor Fastova erfüllte ihr Versprechen.« »Ich denke, da irrst du dich bestimmt.« »Aber es wäre mir trotzdem lieb, wenn du dich bei ihr im Namen von uns beiden bedanken könntest, Vater. Sie war für uns ein Geschenk des Himmels!« Noch am selben Abend sprach der alte Dr. Sova Frau Dr. Fastova direkt auf die Neuigkeit an: »Stellen Sie sich vor, meine Schwiegertochter denkt tatsächlich, daß Sie bei Professor Chalaba interveniert hätten.« Die Frau wies einladend auf den zweiten Sessel. »Na, wie man's nimmt. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, er hat ihn unterschrieben und an Chefarzt Dr. Blazej weitergeschickt.« »Und warum haben Sie das getan? Sie wußten doch, daß ich dagegen war.« Dr. Fastova wischte das Thema ohne Skrupel vom Tisch: »Wenn ich nur das machen sollte, was Männer wollen, wo käme ich da hin?« »Und den Brief haben Sie wirklich allein geschrieben?« »Was denken Sie sonst? Daß sich Herr Professor diese Mühe macht? Der hat sich nur angestrengt, wenn er mich ins Bett kriegen wollte - und selbst dann nicht besonders.« In Dr. Sova erweckte dieser Ton Abneigung. Die Ärztin merkte das und versuchte die Situation zu retten. »Entschuldigen Sie, Sie hören es nicht gern, wenn man über Sex 227
spricht.« »Was lesen Sie da Schönes?« fragte Dr. Sova, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. »Ich habe mal wieder den alten Thomas Wolf >Schau heimwärts, Engel< ausgekramt. Er schildert hier so schön ein Freßgelage bei seinem Vater, daß ich selbst richtig Hunger bekommen habe. Ich brate mir ein Stück Fleisch. Das hat mir jemand vom SchwarzSchlachter mitgebracht. Sie essen doch mit mir, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, so spät sollte ich es nicht tun.« »Aber ich bitte Sie! Wenn uns das Bumsen nicht mehr Spaß macht, dann schlagen wir uns wenigstens den Bauch voll.« Dr. Strosmajer lag nur mit seiner Unterhose bekleidet im EKGRaum, und Dr. Kralova legte ihm zusammen mit einer Schwester die Kabel von allen möglichen Apparaten an. Beide taten dies mit besonderer Aufmerksamkeit. Dr. Strosmajer war ungewöhnlich still. Er ließ alles über sich ergehen und sah der Prozedur finster zu. Als die Untersuchung vorbei war, bedankte sich Dana bei ihm und lud ihn zu einer Tasse Kaffee ein. Sie ging sofort auf ihr Ziel los: »Das EKG ist nicht normal: Sie hatten einen Infarkt!« Dr. Strosmajer verzog keine Miene. »Aber es ist schon lange her.« Beide schwiegen eine Weile, bis Dr. Kralova wieder anfing. »Aber etwas müssen Sie doch selbst festgestellt haben.« »Nichts dergleichen.« »Nicht einmal Atemnot oder Schmerz unterhalb des Brustbeins?« »Nein.« Dana merkte, daß Dr. Strosmajer derart getroffen war, daß er nicht fähig war, sich mit ihr zu unterhalten und auf ihre Fragen einzugehen. »Also muß ich Ihnen außer Medikamenten auch ein paar Ratschläge erteilen - auch wenn ich sie Ihnen eigentlich nicht geben müßte, weil Sie das alles sowieso selbst am besten wissen. Also vor allem: mit dem Rauchen aufhören, jegliche physische Belastung vermeiden, wie Hochheben von schweren Lasten, Treppensteigen. Wenn Sie etwas aufheben wollen, dann sollten Sie sich nicht bücken, sondern eine Kniebeuge machen. Weiterhin dürfen Sie sich auf keinen Fall aufregen. Sie müssen regelmäßig und viel schlafen, spazieren gehen und schließlich keine tierischen Fette essen und an Gewicht abnehmen. Das gleiche gilt für Frauengeschichten. Keine Aufregungen!« »Sollen das Ratschläge oder Befehle sein?« fragte Dr. Strosmajer 228
lakonisch. »Natürlich Befehle. Werden Sie sich daran halten?« Dr. Strosmajer überlegte lange, was er darauf antworten sollte. »Wenn ich es richtig verstanden habe, dann lebe ich in diesem Jammertal sozusagen auf Bewährung.« »So kann man's auch sagen.« »Herzlichen Dank für Ihre Aufrichtigkeit. Jetzt bin ich dran, Ihnen ein paar Ratschläge zu erteilen.« »Ratschläge oder Befehle?« »Natürlich Befehle! Erstens: Über meinen Gesundheitszustand werden Sie mit niemandem sprechen. Kein einziges Wort. Zum zweiten: Das gilt sowohl für das Krankenhaus als auch für mein Privatleben. Drittens werde ich alle Medikamente nur über Sie bekommen. Viertens: Weder bei der alltäglichen Arbeit noch im OP oder sonstwo geben Sie mir auch nicht durch die geringsten Anspielungen zu verstehen, daß ich mich schonen soll. Und schließlich, fünftens, können Sie dem Chefarzt Dr. Vrtiska bestellen, daß ich kerngesund bin und daß er sich getäuscht haben muß.« »Warum denn Vrtiska, was hat er damit zu tun?« »Weil ich Idiot erst jetzt begriffen habe, daß er hinter der ganzen Sache steckt. Geben Sie mir Ihr Wort?« Dr. Kralova war total verwirrt. Sie fühlte sich von Dr. Strosmajer ertappt und suchte nach passenden Worten. »Warum soll ich Ihnen so was versprechen?« »Weil ich es einfach nicht aushalten könnte, wenn mich dauernd jemand bemitleiden oder schonen würde.« »Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie mit Ihrem kranken Herzen ganz allein bleiben werden?« »Das bin ich doch schon immer gewesen. Sie nicht?« Bevor sie etwas sagen konnte, stand er von der Liege auf und gab ihr einen Handkuß. Er setzte sein typisches Grinsen auf, das jedoch diesmal sehr skeptisch, ja fast traurig ausfiel. Dann sagte er sarkastisch: »Entschuldigen Sie, daß ich jetzt noch nicht die verordnete Kniebeuge mache ... statt der lebensgefährlichen Verbeugung zu Ihrer Hand.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und drehte sich nicht einmal um. Dana war plötzlich so traurig, daß sie wie ein kleines Mädchen zu heulen anfing. Sie wußte nicht, wem sie sich anvertrauen sollte. Sie sah dann das Telefon, nahm den Hörer in die Hand und wählte einige Nummern. Am anderen Ende meldete sich Dr. Rehor. Dana fragte ihn, was er gerade machen würde. »Bist du es, Dana?« 229
»Ja, hörst du gerade Musik?« »Jetzt gerade nicht. Was machst du?« »Ich? Ich habe Dienst.« »Du weinst?« Jetzt fühlte Dana bereits, daß es Unsinn war, ihn anzurufen. »Nein, nein. Ich melde mich irgendwann mal mit Elisa. Gute Nacht!« Sie legte den Hörer wieder auf und legte sich angezogen auf die Couch. Sie rollte sich wie ein Knäuel zusammen, schloß die Augen und wollte nichts sehen und nichts hören, niemanden und nichts. Dr. Strosmajer ging durch das Vorzimmer hinaus, und an der Tür traf er auf eine junge Krankenschwester. Sofort gab er ihr höflich Vortritt. »Oh, bitte, edle Dame!« Die Anrede verblüffte das junge Wesen zutiefst. »Oh - ich danke Ihnen. Sie sind wieder mal bei bester Laune, nur ich hab' so einen schrecklichen Tag erwischt.« »Nicht verzweifeln! Jeder Tag kann sich zum Abend hin wieder auflockern.« Die Schwester lachte und eilte weiter. Für sich selbst setzte Dr. Strosmajer hinzu: »Oder umgekehrt.«
16. KAPITEL Das erste, was Wenzel Fink auffiel, als er zusammen mit Ina vor die Abtreibungskommission trat, war ein langer Tisch, hinter dem vier Männer und eine Frau saßen. Die männlichen Kommissionsmitglieder waren alle etwas um die fünfzig, die Frau durfte jedoch wesentlich jünger sein. Der Vorsitzende gab den beiden ein Zeichen, daß sie Platz nehmen sollten. Dann blickte er flüchtig in ein vor ihm liegendes Papier, sein Nachbar zur Linken, der sichtbar von der Schönheit Inas angetan war, schaute ihm über die Schulter. Dann begann der Vorsitzende: »Uns liegt Ihr Antrag auf Abbruch der Schwangerschaft vor, und ich sage Ihnen gleich, daß wir so etwas ungern bewilligen, vor allem im Hinblick darauf, daß Sie das ideale Alter haben, ein Kind zu bekommen.« Ina schwieg. »Außerdem liegt bei Ihnen keine soziale Indikation vor. Warum wollen Sie das Kind nicht behalten?« 230
»Ich will's schon, aber später.« »Ihr Mann weiß, daß Sie ein Kind erwarten?« »Er weiß nichts davon.« »Muß er wirklich erfahren, daß es nicht sein Kind ist?« »Das kann ich ihm unmöglich sagen.« »Warum nicht?« »Er war zu dieser Zeit nicht da.« »Wie lange war er abwesend?« »Drei Monate.« Der Mann fragte nicht weiter. Das Wort ergriff die junge, doch anscheinend strenge Frau. Sie nahm sich Wenzel ins Verhör. »Wo haben Sie Frau Jachymova kennengelernt?« »Ich? Auf einer Party.« »Bei dieser Party waren Sie mit Ihrer Frau zusammen?« Wenzel Finks Antworten klangen bei weitem nicht ruhig. Seine Rolle hatte er zwar perfekt gelernt, aber nervös war er wie selten zuvor. »Ja, das heißt nein, sie mußte dann später zum Dienst.« »In welchen Dienst?« »Meine Frau ist Schwester im Krankenhaus, also Oberschwester.« »Arbeitet sie dort mit Frau Jachymova zusammen?« »Ja.« »Und kommen die beiden gut miteinander aus?« Wenzel dachte intensiv nach, welche Antwort ihm wohl nutzen und welche schaden könnte. »Ja, ich denke schon.« »Könnte man sagen, daß die beiden sogar befreundet sind?« »Ja, sie sind gute Freundinnen.« »Und schämen Sie sich nicht zu warten, bis Ihre Frau ihren schweren Nachtdienst antritt, um dann mit ihrer besten Freundin solche Dinge zu treiben?« »Das schon.« »Was schon?« »Ich schäme mich.« »Wie oft?« fragte die strenge Beisitzerin weiter. »... wie oft ich mich schäme?« fragte Wenzel Fink verblüfft. Ein strenger Blick traf ihn. »Wie oft Sie auf diese Weise zusammenkamen.« »Einmal, nur einmal.« »Das können wir Ihnen natürlich glauben oder auch nicht...« Mit diesen Worten gab sie dem Vorsitzenden das Papier zurück und wollte damit deutlich machen, daß sie nichts mehr zu fragen 231
hatte. Der Vorsitzende schaute erneut die anderen Beisitzenden an, doch keiner sagte etwas. So fragte er, eher aus Pflichtgefühl, ob sich Ina nicht doch alles noch einmal überlegen wollte. Doch die schüttelte den Kopf, sie hatte sich endgültig entschieden. Eine ungefähr fünfzigjährige, rundliche Frau eilte hastig durch den Gang. Der Stationsschwester, die gerade einen Wagen an ihr vorbeischob, entbot sie einen höflichen Gruß, entschuldigte sich, daß sie stören mußte, und fragte nach dem Chefarzt. Dabei zeigte sie auf eine Tür, um sicherzugehen, ob das die richtige sei. Die Stationsschwester nickte und ging weiter. Die fremde Frau klopfte schüchtern an. Als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die Tür und trat ein. Dr. Arnost Blazej telefonierte gerade. Es ging um einen Röntgenverstärker mit Bildschirm, der schon längst beantragt und bestellt war, dessen Antrag Dr. Blazej jedoch noch einmal begründen sollte. Die Verzögerung regte ihn lautstark auf. Die Frau blieb ungeduldig an der Tür stehen. Der Chefarzt war sichtlich über den ungebetenen Besuch verärgert. Am Telefon mußte er immer neue Fragen beantworten, dem Partner am anderen Ende klarmachen, daß er eigentlich Wichtigeres zu tun hätte, doch das Gespräch nahm kein Ende. Die Besucherin hielt es nicht mehr aus und fiel Dr. Blazej nervös ins Wort: »Könnten Sie das, Herr Chefarzt, bitte, für einen Augenblick unterbrechen?« Blazej musterte die Frau mit einem kühlen Blick und schüttelte den Kopf. Im Moment konnte er das Gespräch nicht abbrechen. Er hatte Schwierigkeiten, die Bedeutung des von ihm gewünschten Gerätes zu erklären, da am anderen Ende anscheinend ein blutiger Laie saß. Das hielt die Besucherin nicht mehr länger aus, und mit flehender Stimme rief sie: »Herr Chefarzt, hier geht es um ein Menschenleben.« Dr. Blazej zuckte zusammen und entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner. Er wollte später noch einmal zurückrufen. Dann legte er auf und wandte sich der ungeduldigen Dame zu: »Was ist denn passiert?« Die Frau sprudelte sofort ihr Leid raus: »Ich bin Frau Dobiasova, Herr Chefarzt. Vielleicht kennen Sie mich - der Obst- und Gemüseladen auf dem Marktplatz.« »Ich weiß ...« »... und gerade heute am frühen Morgen passierte meinem Mann dieser schreckliche Unfall, als er von dem Lastwagen fiel. Wir bekamen gerade Mandarinen angeliefert, und da ist er auf einer ausgerutscht und mit seinem ganzen Gewicht aufs Bein gefal232
len...« Das alles kannte Arnost bereits und verstand nicht, worum es der Frau ging. »Ja. Ein offener Luxationsbruch des Sprunggelenks. Gleich soll er operiert werden...« »Deshalb bin ich auch hier.« »Weshalb?« »Wer wird ihn operieren?« »Doktor Sova.« »Und warum nicht Sie, Herr Doktor?« »Weil Doktor Sova heute mit dem Operieren dran ist - ich habe etwas anderes zu tun.« Die Augen der Frau wurden langsam feucht. »Und könnte man das, Herr Chefarzt, nicht ändern?« »Warum sollte ich das ändern?« »Weil... Sie werden mich sicher verstehen, ich möchte nicht, daß irgendein Anfänger an ihm herumbastelt.« Bei dem letzten Satz legte sie wortlos einen Umschlag auf den Tisch. Arnost warf einen flüchtigen Blick darauf, rührte den Umschlag nicht an und antwortete der Frau kühl: »Doktor Sova ist kein Anfänger - und die Arbeit wird er bestimmt perfekt durchführen.« Jetzt sprühte die Frau Gift und Galle. »Ist Ihnen bewußt, Herr Chefarzt, welche Verantwortung dieser Mensch auf sich nimmt?« Dr. Blazejs Antwort fiel schroff aus. »Daran brauchen Sie uns nicht zu erinnern, Frau Dobiasova. Der Verantwortung waren wir uns bereits vor dem Unfall Ihres Herrn Gemahls bewußt. Ich darf mich empfehlen.« Dann schob er den Umschlag beiseite. Die Gemüseverkäuferin fühlte sich durch dieses Verhalten tödlich beleidigt. Das konnte sie nicht so hinnehmen. »In diesem Falle muß die Operation verlegt werden.« »Eine offene Fraktur verträgt keinen Aufschub.« Dr. Blazej räumte seinen Tisch auf, um ihr zu zeigen, daß er beabsichtigte fortzugehen. »Dann gebe ich zu dieser Operation keine Einwilligung.« »Aber Ihr Mann hat uns sein Einverständnis gegeben.« »Aber er ist... er läßt sich alles gefallen.« »Ist er etwa bewußtlos oder unmündig?« »Das nicht, um Gottes willen! Vielleicht können wir Herrn Doktor Sova fragen. Vielleicht läßt er von sich aus von der Operation ab.« 233
Jetzt platzte Dr. Blazej der Kragen. »In keinem Falle werde ich ihn vor der Operation nervös machen.« Die Frau schien besessen, Dr. Blazejs Unzugänglichkeit zu brechen. »So bleiben Sie, äh so...« Dr. Blazej lief zur Tür, entschuldigte sich und machte Anstalten, sie abzuschließen. Nun mußte Frau Dobiasova gezwungenermaßen den Raum verlassen. Eine giftige Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen: »Das werden Sie irgendwann mal bedauern!« Auf dem Tisch von Dana Kralova klingelte das Telefon. Dr. Rehor rief wieder einmal an. Aus seiner Stimme klang erregte Freude. Dr. Kralova paßte sich diesem Ton an und führte das Gespräch entsprechend locker. »Servus, Gregor. In deiner Stimme ist ein verdächtiger Jubelklang.« »Eben habe ich eine phantastische Neuigkeit erhalten. Du bist die erste, die sie erfährt.« »Na, da bin ich aber gespannt.« »Man hat mir geschrieben, daß ich für ein Jahr nach Algier gehen soll. Ich habe damit nicht mehr gerechnet.« Dana war wie betäubt. Das hatte sie auch nicht erwartet. Dr. Rehor bemühte sich, ihr - fast entschuldigend - seine Freude zu erklären. Schon als kleiner Junge hatte er immer wieder von Afrika geträumt. Dana mußte sich überwinden, um ruhig bleiben zu können. »Das ist schön, daß sich dein Traum endlich erfüllt. Und wann geht das Ganze los?« »Spätestens in einem Monat. Jemand ist krank geworden, und ich mußte einspringen.« Dana fragte, ob er bis zu diesem Zeitpunkt alles schaffen könnte. »Das werde ich. Ich guck' mich dort auch gleich um und suche für dich eine passende Stelle. Vielleicht könnten wir dort ein oder zwei Jahre zusammen bleiben? Zwischendurch würden wir natürlich heiraten.« Dana machte das Gespräch sehr traurig, wollte aber Dr. Rehor seine Freude nicht verderben. »Ich weiß, wir haben ausgemacht«, lachte Dr. Rehor, »daß die Hochzeit eigentlich schon im Frühjahr sein sollte, aber die paar Monate spielen doch keine Rolle, oder?« »Bestimmt nicht.« 234
»Also, Dana, ich muß mich beeilen - ich wollte nur mit dir gemeinsam diese Freude teilen. Wir müssen später noch alles genau besprechen. Ich laß mich, wie üblich, blicken. Adieu!« Mit leiser Stimme verabschiedete sich Dana und legte auf. Dann starrte sie an die Wand gegenüber. Dort hing an einer Stecknadel eine Hochzeitsmyrthe mit einem weißen Bändchen; jene, die sie von Alzbetas Hochzeit mitgebracht hatte. Sie stand auf, nahm das Souvenir von der Wand und ließ es langsam in den Papierkorb fallen. Noch am selben Abend machte Dr. Rehor sein Versprechen wahr und kam vorbei, eine Flasche spanischen Rotweins unter dem Arm. Verwundert fragte ihn Dana, ob er vorhätte, etwas zu feiern. Dr. Rehor ging darauf nicht ein, öffnete die Flasche, schenkte ein, nahm beide Gläser in die Hand, reichte eines davon Dana und stieß mit ihr an. »Auf die große Reise, auf den schwarzen Kontinent.« Den Becher leerte er auf einmal, Dana nippte daran. Dr. Rehor fiel das nun endlich auf und wollte wissen, warum. »Ich habe keinen Grund zum Feiern.« Bitter hatte sie diesen Satz herausgestoßen. Sie setzte sich in einen separaten Sessel und nicht auf das gemeinsame Sofa wie üblich. Dr. Rehor nahm ihr gegenüber Platz. »Hast du Angst, hier zu warten?« »Nicht nur das.« »Vielleicht, weil wir die Hochzeit verschieben?« »Nicht nur...« »Also warum?« Der Chirurg verstand die Welt nicht mehr. »Ich dachte, wir haben uns entschlossen, von nun an ein gemeinsames Leben zu führen.« »Aber sicher doch.« »Ja? Du teilst mir schlicht mit, daß du für ein Jahr verschwindest, und ich soll das einfach zur Kenntnis nehmen. Damit basta. So habe ich mir unser gemeinsames Leben nicht vorgestellt.« Dr. Rehor machte einen beklommenen Eindruck. Solch eine Entwicklung hatte er nicht vorausgesehen. Wußte sie nicht, wie lange er auf diese Gelegenheit gewartet hatte? Doch er spürte auch, daß sie beide über zwei völlig verschiedene Dinge miteinander sprachen. Dr. Rehor versuchte verzweifelt, zu retten, was noch zu retten war, und entschuldigte sich. Doch für Dana war nichts mehr zu entschuldigen. Er tat in ihren Augen nur selbstsüchtig das, was für ihn am besten war. Sie sprach leise und ruhig, doch der Inhalt ihrer Worte wog um so schwerer. »Ich möchte dir das sagen, mein lieber Gregory, du mußt dich ent235
scheiden: entweder ich oder Algier.« Erst jetzt begriff Dr. Rehor, wie hart sein Vorhaben Dana getroffen haben mußte. »Ist das wirklich dein Ernst?« »Ja, das meine ich absolut ernst.« Da lehnte sich Dr. Rehor gegen Danas Sturheit auf: »Also du oder Algier!« Dana war nicht gewillt, ihr Ultimatum zu wiederholen. Sie nickte nur stumm. »In diesem Falle muß ich deine Bedingung für unfair halten, für einen Schlag unter die Gürtellinie.« »Diesen Schlag soll ich dir versetzt haben?« Nach diesen Worten erhob sie sich und ging aus dem Zimmer. Dr. Rehor blieb sitzen und wußte nicht, was er tun sollte. Dann schaute er sich um, nahm die Armbanduhr, die er auf dem Tisch abgelegt hatte, legte sie um sein Handgelenk und stand ebenfalls auf. Nach kurzem Zögern trat er auf den Flur, blieb noch eine Weile stehen und verließ dann endgültig Danas Wohnung. Sie hörte nur noch das Zuschlagen der Tür und schüttelte den Kopf. Das hatte sie nicht nur erwartet, sondern auch gewußt. Das Ganze kam ihr wie vom Schicksal vorbestimmt vor. Heute war Inas Termin für den Schwangerschaftsabbruch. Sie kam zur normalen Zeit ins Krankenhaus und ging durch die Orthopädie. Wie hätte es anders sein können - in der Luft lagen mal wieder Anzeichen von Hektik und Nervosität, man spürte irgendein Malheur. Durch den Spalt der nicht ganz verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers bemerkte Ina Dr. Arnost Blazej. Gleich darauf hörte sie seine erboste Stimme. »Herrgott noch mal! Jetzt haben wir's.« Am anderen Flurende erschien Frau Dobiasova. In der Hand einen Blumenstrauß und dazu eine Vielzahl kleiner Pakete - man konnte nicht übersehen, daß sie ihren genesenden Gatten besuchen wollte. Währenddessen ließ Dr. Blazej eine Salve von Fragen auf Karel los. »Haben Sie einen Abstrich gemacht?« »Ja.« »Und wurde er zur bakteriologischen Untersuchung geschickt?« »Sicher.« »Wann bekommen Sie das Ergebnis?« »Morgen früh.« »Kriegt er etwas gegen Fieber?« »Natürlich. Doch wir konnten die Temperatur noch nicht herun236
terdrücken.« »Therapieren Sie ihn vorläufig mit Ampicilyn, morgen sehen wir dann weiter. Wir müssen aber seine Frau benachrichtigen.« »Sollten wir damit nicht noch einen Moment warten?« fragte Karel. »Nein«, entschied Dr. Blazej. »Sie müssen ihr einfach alles erklären - da kann man nichts machen.« Die Stationsschwester fragte dazwischen: »Sollen wir ihn auf die Isolierstation bringen?« »Selbstverständlich. Sofort!« bellte Dr. Blazej. Frau Dobiasova war noch nicht ganz am Zimmer Nummer zwei angekommen, als seine bislang halboffene Tür weit aufging und die Stationsschwester dem einen Wagen vorbeischiebenden Pfleger zurief: »Rudi, komm her! Du mußt den Knaben in die Quarantäne bringen.« Gehorsam, wie es ihm gesagt wurde, fuhr der Pfleger in das Krankenzimmer hinein. Ina hielt ihm die Tür auf. Die rauhe Anweisung der Schwester machte zwar Frau Dobiasova stutzig, doch sie setzte ihren Anmarsch fort. Erst als sie das Zimmer betreten wollte, schob der genannte Rudi ihren Mann aus dem Zimmer heraus. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. Dann erblickte sie Dr. Blazej und Karel, die beide mit bedrückten Gesichtern ebenfalls aus dem Zimmer herauskamen. Frau Dobiasova starrte entsetzt auf ihren kranken und schweratmenden Mann, dessen Gesicht total verschwitzt war. Sie begann hysterisch zu schreien: »Was soll das heißen? Lassen Sie ihn jetzt etwa sterben?!« Dr. Blazej ging auf sie zu und versuchte sie zu beruhigen: »Frau Dobiasova, im Krankenhaus schreit man nicht. Das alles tun wir zur Rettung Ihres Gatten.« »Das sehe ich.« »Wie Sie selbst feststellen können, ist der Zustand Ihres Mannes nicht gut. Wir wollten Sie gerade darüber informieren.« Dabei merkte Dr. Blazej nicht einmal, daß ihm auch Ina zuhörte. »Das glaube ich Ihnen nicht...«, schrie die Dobiasova weiter. Der Chefarzt hätte sie in diesem Augenblick am liebsten erwürgt. »Das tun wir immer und hätten es auch in diesem Fall getan.« »Was hat er?« »Das wissen wir noch nicht, jedenfalls befindet sich ein Eiterherd in der Wunde.« »Und wie ist er, um Gottes willen, dahingekommen? Können Sie mir sagen, wie das dahingekommen ist?« Jetzt spuckte sie ihre Worte Karel direkt ins Gesicht. 237
»Frau Dobiasova, bei einer offenen Fraktur ist das nicht ungewöhnlich, während des Unfalls kommt häufig Schmutz in die Wunde.« »Sie haben sich aber sehr schnell eine Ausrede zurechtgelegt Und dafür bringen Sie ihn gleich auf die Isolierstation?« »Bei der Quarantäne handelt es sich um einen septischen Raum, in den alle Patienten mit eitrigen Entzündungen gebracht werden müssen«, versuchte Dr. Blazej Karel zur Seite zu springen. »Und dort lassen Sie ihn dann krepieren.« Sie schrie dabei so, daß Dr. Blazej viel Mühe hatte, sie zu übertönen. Er war aber auch nicht mehr bereit, sich mit ihr auf diesem Niveau weiter auseinanderzusetzen. Auch ihr reichte die Unterhaltung vollkommen. »Ich werde schon die geeignete Ebene für mich zu finden wissen! Seien Sie unbesorgt!« Frau Dobiasova ging zur Tür, dort drehte sie sich noch einmal um und zischte Karel und Dr. Blazej an: »Ich hatte Sie gewarnt und darum gebeten, diese Operation nicht einem Anfänger zu überlassen! Die Folgen müssen Sie sich selbst zuschreiben und keinem anderen.« Sie knallte die Tür hinter sich so kräftig zu, daß man es bis nach draußen hätte hören müssen. Karel guckte Dr. Blazej verunsichert an. Dann schlug er vor, den Direktor anzurufen, damit er zuerst aus ihrer eigenen Sicht informiert wird. Arnost schüttelte seinen Kopf. Er schickte Karel in das Krankenzimmer, damit er nach dem Patienten schauen und das Fieber wenigstens senken konnte. Karel wiederholte jedoch erneut seine Befürchtung: »Wenn diese Frau dem Direktor als erste davon berichtet, dann...« Dr. Blazej unterbrach ihn: »Kümmern Sie sich nicht darum, das lassen Sie meine Sorge sein.« Dann drehte er sich um, und erst in diesem Augenblick bemerkte er die in der Nähe stehende Ina. Er verharrte einen Augenblick, dann nickte er schweigend und ging weiter. Martha Finkova, die jetzt dazukam, nahm Ina am Arm und wollte sie zur Gynäkologie bringen. Ina veränderte jedoch blitzschnell ihre Entscheidung: »Ich danke dir, es ist aber nicht mehr nötig.« Die Oberschwester schaute sie konsterniert an. »Wieso nicht mehr?« Die Antwort war nicht zu überhören: »Ich will das Kind behalten.« Als am selben Abend Wenzel Fink das von seiner Frau erzählt bekam, sprang er vom Sofa hoch, als ob man ihn mit einer langen 238
Nadel gestochen hätte. »Wie bitte? - Jetzt will sie das Kind austragen? - Hat sie denn mein Martyrium vergessen?« Seine Frau versuchte ihn zu trösten. »Ich weiß, daß du jetzt auf mich sauer bist. Trotzdem muß ich dir etwas sagen.« »Und was?« »Ich habe sie in dem Augenblick völlig verstanden, ich habe ihr auch nicht widersprochen. Und mir ist noch etwas eingefallen. Mir ist nämlich jetzt völlig gleichgültig, ob ich Oberschwester bin oder nicht. Ich möchte auch ein Baby haben.« Wenzels Augen wurden kugelrund. Das vereinbarte sich doch nicht mit ihrem Ehrgeiz! Sie setzte sich neben ihn: »Das stimmt schon, aber nichts kann für uns beide wichtiger sein als ein Kind.« Wenzel ließ einen langen Seufzer ertönen. »Aber versprich mir, daß wir hinterher nicht einen Freund suchen müssen, der mit dir zu dieser Kommission geht.« Der Krankenhausdirektor schrieb gerade noch etwas zu Ende, begrüßte aber Dr. Blazej währenddessen. »Allerdings muß ich Ihnen gestehen, daß ich Sie lieber in einer anderen Angelegenheit hier gesehen hätte.« »Frau Dobiasova, nicht wahr?« »Das haben Sie also erwartet? Können Sie mir sagen, wie es Herrn Dobias heute geht?« »Noch nicht so gut«, antwortete Dr. Blazej, ohne etwas zu vertuschen. »Die Temperatur ist zwar etwas gefallen, aber er hat immer noch Fieber. Aufgrund der bakteriologischen Untersuchung haben wir ihm Antibiotika gegeben. Seine Schmerzen haben etwas nachgelassen, aber von einer tatsächlichen Besserung kann noch nicht die Rede sein. Doktor Sova wird daher wahrscheinlich eine Reoperation vornehmen müssen.« Als der Direktor den Namen Sova hörte, machte er ein Gesicht, als ob er gerade auf ein Minenfeld getreten wäre. »Wieso denn Doktor Sova? Hat Ihnen das erstemal noch nicht genügt?« »Was?« »Was er bei der ersten Operation angestellt hatte.« Dr. Arnost Blazej gehörte jedoch nicht zu denen, die gewohnt und bereit waren, voreilig zurückzuweichen. Er war fest über239
zeugt, daß der junge Sova sich bei der Operation nichts zuschulden hatte kommen lassen. »Na bitte, das ist Ansichtssache«, fuhr der Direktor fort, »verstehen Sie mich aber - es ist unmöglich, wenn wir nach diesen Schwierigkeiten sagen: Es ist nichts geschehen, wir werden ihn weiterkurieren wie zuvor, es gibt keinen Grund zur Unruhe.« »Wenn ich Doktor Sova jetzt von diesem Fall zurückziehe, gebe ich damit gleichzeitig zu, daß wirklich ein Kunstfehler vorliegt, daß er den Eingriff also nicht hätte durchführen dürfen. Das würde aber heißen, daß wir wirklich etwas verschuldet haben und das ist einfach nicht wahr.« Ironisch ergänzte der Direktor: »Es würde darüber hinaus ein schlechtes Licht auf die gesamte Orthopädie werfen, stimmt das?« Arnost merkte, daß der Direktor mit dieser Bemerkung die gesamte Angelegenheit zu einer Prestigefrage erhoben hatte. Das brachte ihn in Rage. Zunächst sollte ihm mal einer sagen, welchen Fehler sie angeblich gemacht hatten, dann wäre er bereit, Doktor Sova zurückzuziehen. Um aus dieser verfahrenen Situation herauszufinden, schlug der Direktor einen besorgten Ton an. »Ist es vernünftig, es soweit kommen zu lassen, daß man uns Leute aus Prag hierher schickt, die untersuchen werden, was wir hier falsch gemacht haben und was nicht? Ich kann Ihnen versichern, daß diese Frau Dobiasova es soweit kommen lassen wird. Das müßte man doch auch Doktor Sova erklären können.« Dr. Blazejs Antwort war jedoch eindeutig: »Ihm vielleicht, aber mir nicht.« Dr. Blazejs Frau hörte sich am Abend die ganze Geschichte an und stachelte dann ihren Mann auf: »Hältst du es für richtig, dich schützend vor den Sova zu stellen?« Arnost saß in einem Sessel unter der Stehlampe und las. Ihre Frage war ihm unverständlich. Ursprünglich hatte sie doch gewollt, daß er mit ihm bei der Habilitationsarbeit hätte zusammenarbeiten sollen. »Das will ich immer noch, aber ein kleiner Dämpfer wegen dieser Panne, das würde ihm doch nichts schaden - und dann kannst du ihm wieder aus der Patsche helfen. Ich bin mir nicht sicher, ob jemand deinen tapferen Kampf, den du für ihn führst, zu würdigen weiß.« »Wer soll dieser jemand sein?« »Zum Beispiel Doktor Sova.« »Das ist mir egal - ich lasse mir aber meine Abteilung nicht mies240
machen.« »Hoffentlich stellen sich die anderen später auch mal so hinter dich, wie du sie heute verteidigst.« Dann griff sie in den Kühlschrank, um eine Flasche Weißwein herauszuholen. Sie schenkte ihnen beiden ein. Dr. Blazej hörte auf zu lesen: »Gute Arbeit, die der Sova leistet.« Seine Frau verkorkte die Flasche wieder: »Na siehst du!« Der Gefäßchirurg Dr. Rehor schleppte zwei Koffer zum Bahnhof und dazu noch eine Handtasche. Er stellte gerade alles auf dem offenen Bahnsteig ab, als er plötzlich Dana Kralova bemerkte. Ihre Beklommenheit war nicht zu übersehen. »Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Mach's gut dort, und versuch mein Ultimatum zu vergessen.« Dr. Rehor umarmte sie und drückte sie fest an sich. Dann gab er ihr einen Kuß: »Ich werde nur an dich denken.« »Ich an dich auch.« »Wirst du auf mich warten?« »Bestimmt.« Zahlreiche junge Menschen, bewaffnet mit Büchern und Taschen, drängten sich zusammen. Unter ihnen befand sich auch Dr. Blazej. Etwas unsicher klopfte er an einer Tür, und weil ihn keiner zum Eintreten aufforderte, öffnete er und ging einfach hinein. Der Raum war leer, und er wußte nicht, was er tun sollte. Im nächsten Moment kam eine junge Sekretärin zur Tür herein. »Guten Tag«, grüßte Arnost höflich, »ich bin Doktor Blazej aus Bor. Wie wir beim letzten Mal mit Professor Chalaba ausgemacht haben, bringe ich die Habilitationsarbeit von mir und Doktor Sova mit.« Er zog aus seiner Aktentasche mehrere Kopien von den gebundenen Arbeiten, doch die Sekretärin wollte sie nicht annehmen. »Geben Sie sie bitte nicht bei mir ab, sondern direkt bei dem Assistenten, Doktor Cvach, der sich um solche Angelegenheiten kümmert.« Dr. Blazej glaubte, sich verhört zu haben. »Wem, bitte?« »Doktor Cvach.« In der Tür zum Nebenraum erschien die rundliche, wohlbekannte Gestalt des Doktor Cvachs, jetzt seines Zeichens Universitäts241
assistent. Mit ernstem Gesicht hieß er Arnost willkommen. »Guten Tag, Herr Chefarzt.« 17. KAPITEL Dr. Arnost Blazej saß hinter seinem Chefarzttisch und erklärte in Anwesenheit von Karel der ruhig, aber abgespannt vor ihm sitzenden und tief gekränkten Gemüsefrau Dobiasova, wie es um ihren Mann steht. »Frau Dobiasova, ich muß Ihnen mitteilen, daß wir nach gründlicher Erwägung aller Fakten es für unumgänglich halten, das Sprunggelenk Ihres Gatten noch einmal zu operieren. Im Knochen hat sich eine Entzündung eingenistet, gegen die selbst Antibiotika nichts ausrichten. Wir werden die Wunde aufmachen, das nekrotische Gewebe entfernen und dann eine Spül-Drainage einführen, durch die wir Antibiotika unmittelbar in die kritische Stelle einführen können.« Dr. Blazej sprach langsam, die Gemüsehändlerin hörte ihm still zu, nur der Blick aus ihren fast versteckten kleinen Augen huschte umher, mal hin zum Chefarzt, mal hin zu Karel. Sie bemühte sich mit allen Kräften, sich auf das Gespräch zu konzentrieren und vor allem irgendeine Lücke, einen logischen Bruch und natürlich auch Betrug im Fall ihres Mannes herauszufinden. »Diese Details teilen wir Ihnen in aller Ausführlichkeit mit, weil uns unser Direktor über Ihre Beschwerde informiert hat. Er glaubt, Sie würden bezweifeln, daß wir uns alle Mühe geben, für Ihren Mann alles Notwendige und Richtige zu tun.« Auch dabei hörte Frau Dobiasova ruhig zu. Sie empfand es nicht einmal als Ironie oder Stachelei, im Gegenteil, es schien, als ob ihr alles egal wäre. Arnost war am Ende seiner Ausführung angekommen, und es entstand eine längere Pause. Erst nach langer Stille ergriff die Gemüsehändlerin das Wort. »Ich habe mich beschwert, das stimmt - der Direktor hat versucht, mir eine Antwort zu geben, das ist auch wahr. Aber diese Antwort ist mir viel zu verblümt gewesen. Wahrscheinlich stecken Sie alle unter einer Decke.« Auf diese Unterstellung reagierte Arnost ungewöhnlich scharf: »Es wird besser sein, wenn wir uns, statt gegenseitige Vorwürfe und Beleidigungen von uns zu geben, mit der Ursache Ihrer Beschwerde befassen. Haben Sie überhaupt einen Grund, sich zu beschweren?« 242
»Grund?« wunderte sich Frau Dobiasova. »Halten Sie es für keinen hinreichenden Grund zur Beschwerde, wenn jemand nach einem harmlosen Unfall wochen- und jetzt fast schon monatelang im Krankenhaus liegen muß und nicht gesund wird? Wenn es irgendein Bonze wäre, dann hätten Sie ihn gleich wieder auf die Beine gestellt. Aber da mein Mann nur Gemüsehändler ist...« »Ihr Mann bekommt hier die gleiche Pflege wie jeder andere.« Frau Dobiasova wurde immer wütender und schrie Dr. Blazej an: »Warum eitert denn die Wunde immer noch? Können Sie mir das sagen?« »Das ist überhaupt nichts Ungewöhnliches, wenn eine solche Entzündung auf die konservative Behandlung nicht reagiert und wir neu operieren müssen... und oft nicht nur einmal.« »Also wird man nach der zweiten Operation keine Gewißheit haben?« Karel bemühte sich, Frau Dobiasova zu beruhigen: »Wir hoffen, daß alles bald wieder in Ordnung sein wird.« Nun gab es für Frau Dobiasova kein Halten mehr, sie kreischte: »Also Sie hoffen nur? Sie haben nur eine Hoffnung? Sie wissen das nicht sicher...« »Mit Sicherheit kann Ihnen keiner auf der Welt etwas sagen.« »Dafür kann ich Ihnen schon jetzt mit Sicherheit sagen, wenn Sie das wieder verpatzen, werde ich mich an allerhöchste Stellen wenden! Täuschen Sie sich nicht, eine einfache Gemüsefrau ist durchaus in der Lage, die Stelle zu finden, die Ihnen mal richtig einheizen wird.« Bei diesen Worten stand Dr. Blazej auf, ging zur Tür und öffnete sie weit. Frau Dobiasova und Karel schauten ihn verwundert an. »Was soll denn das?« fragte die Gemüsehändlerin. »Meine Zeit reicht nur für ein vernünftiges Gespräch, aber nicht für Drohungen. Bitte schön.« »Mein Lieber, ich habe Ihnen noch gar nicht gedroht.« »Ich habe weder Zeit noch Geduld«, wiederholte Arnost. »Auf Wiedersehen.« Frau Dobiasova war jedoch nicht so schnell loszuwerden. Wenn Dr. Blazej glauben sollte, sie einfach rausschmeißen zu dürfen, dann sei er auf dem Holzweg. Doch den letzten Teil des Satzes hörte Dr. Blazej nicht mehr, denn der Chefarzt hatte ohne ein weiteres Wort sein Zimmer verlassen. An diesem Morgen hörte man aus dem Radio fröhliche Musik zur frühen Stunde. Die Tür von Dr. Fastovas Zimmer öffnete sich, und sie eilte hastig auf den Gang, knöpfte dabei noch ihren wei243
ßen Kittel zu, rannte die Treppe herab zu den Sprechzimmern und rieb sich die frostigen Hände. Im Sprechzimmer fand sie die alte Schwester Klapetkova, die die Zeitung las. Als die Ärztin hereinstürmte, bemühte sich die alte Frau nicht einmal, ihre Lektüre wegzulegen. Sie wünschte Dr. Fastova lediglich einen »Guten Morgen«. »Tagchen - ist Ihnen auch so kalt?« Die alte Sprechstundenhilfe reagierte giftig: »Kein Wunder, wenn dieser Kabicek noch nicht heizt.« »Wieso?« »Haben Sie es nicht gemerkt?« Dr. Fastova ging zum Fenster und faßte an die Heizungskörper. Sie waren tatsächlich kalt. »Warum wird um Gottes willen die Heizung nicht angestellt?« »Weil er faul ist«, konstatierte die Klapetkova. »Haben Sie das noch nicht bemerkt?« »Das habe ich zwar bemerkt«, antwortete die Ärztin mit saurer Miene, »aber ich ahnte nicht, daß er die Frechheit hat, uns und die Patienten hier erfrieren zu lassen.« »Der Kabicek? Seelenruhig.« »Mit mir nicht. Dem wird schon die Seelenruhe vergehen!« Dr. Fastova lief aus dem Zimmer in Richtung Heizungsraum. Dort war Kabicek eben dabei, im Ofen der Zentralheizung einen kleinen Haufen von Zeitungspapier und Glimmholz anzuzünden. Das Feuer breitete sich nur langsam aus. Dr. Fastova erstürmte den Kesselraum wie ein General das feindliche Gelände. »Können Sie mir sagen, warum Sie erst jetzt heizen?« Kabicek schaute sie aus funkelnden Schlitzaugen an und murmelte etwas von einer Reparatur. »Welche Reparatur?« »Das würden Sie sowieso nicht verstehen.« »Versuchen Sie es mir zu erklären - vielleicht werden Sie damit bei mir Erfolg haben.« »Was hätten Sie davon? Gehen Sie lieber in Ihr Sprechzimmer, hier machen Sie sich noch Ihren weißen Kittel schmutzig.« »Mein weißer Kittel geht Sie einen feuchten Dreck an. Ich ziehe mir gerne einen frischen an, wenn Sie mir sagen, was Sie hier angeblich repariert haben.« Kabicek richtete sich auf. »Wissen Sie, mein liebes Frauchen, ich bin nicht verpflichtet, Ihnen irgend etwas zu erklären.« »Dafür bin ich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß Sie eine faule Sau sind.« 244
Damit rauschte sie hinaus. Kabicek tobte wie ein wildgewordener Stier. »Das... das ist eine Beleidigung, für die Sie sich bei mir noch entschuldigen werden. Und zwar vor allen!« Das war für Dr. Fastova die richtige Reaktion: »Dann entschuldige ich mich lieber bei der Sau.« Danach drehte sie sich wieder um und verließ endgültig den Heizungsraum. Vor Wurt schmiß Kabicek den Schürhaken, den er in der Hand hielt, in die Ecke. Er hatte es nicht nötig, sich so etwas von einer alten, zeternden Hexe bieten zu lassen. Er nicht. Dann griff er noch einmal nach dem Schürhaken und begann, das bereits kräftig entbrannte Holz wieder aus dem Heizungsofen zu kehren, bis in dem Kessel kein einziger Funke mehr glimmte. Etwa eine halbe Stunde später weckte Schwester Klapetkova den alten Dr. Sova auf. »Herr Chefarzt, stehen Sie auf, es ist ein Malheur passiert.« Dr. Sova erwachte und rieb sich die Augen. »Es tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, wenn Sie keinen Dienst haben - aber Sie müssen mit Kabicek ein Wörtchen reden.« »Warum mit Kabicek?« fragte Dr. Sova und faßte sich vor Kälte zitternd an die Schulter. »Und warum ist es hier so kalt?« »Weil er streikt.« Der Aufstand von Kabicek sah so aus, daß er auf seinem Kanapee lag, eine Zigarette qualmte und dazu Kaffee trank. Er ließ die Dinge auf sich zukommen. Dr. Sova klopfte an die halboffene Tür, trat hinein und grüßte ein wenig verlegen. Kabicek tat so, als ob alles wie normal wäre. »Man sagte mir, daß Sie sich weigern zu heizen, Herr Kabicek. Das können Sie doch nicht.« »Sie nannte mich faule Sau.« »Das ist bestimmt nicht richtig, und ich werde das überprüfen, aber in erster Linie sollte hier gearbeitet werden. Und um arbeiten zu können, müssen alle Sprechzimmer geheizt sein.« »Das verstehe ich, Herr Doktor. Aber wenn sie die Sau nicht zurücknimmt, werde ich nicht heizen.« Dr. Sova wollte zwar etwas einwenden, aber im selben Moment mischte sich Frau Kabickova ein: »Und zu mir sagte sie, ich sei ein Schmuddelkind. So was brauche ich mir doch nicht bieten zu lassen.« »Aber...« Jetzt konnte sich auch die alte Klapetkova nicht mehr zurückhalten. Für alle überraschend rief sie eifrig dazwischen: 245
»Das habe ich auch gehört. Und mir hat sie gesagt, ich würde die Leute ansehen, als wollte ich Hühner zählen.« Dr. Sova suchte nach passenden Erklärungen, doch ihm fiel nichts Rechtesein. »Ich verstehe, daß manche Ausdrücke von Frau Doktor nicht gerade besonders ausgesucht sind, aber sie meint es bestimmt...« Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich in der Tür auch Schwester Veronika und gab ebenfalls ihren Senf dazu: »Wir sind hier solche Ausdrücke nicht gewohnt und müssen sie uns auch nicht bieten lassen, nicht wahr?« Das klang schon fast nach einem Aufstand. Kabicek war sich voll seiner moralischen Überlegenheit bewußt und wollte die Situation auskosten: »Ich denke, Sie sollten zur Frau Doktor gehen und von ihr fordern, daß sie sich bei uns entschuldigt, bei jedem einzelnen von uns!« Dr. Fastova hörte sich den Bericht des alten Dr. Sova an und blieb absolut ruhig. »Also darum beneide ich Sie nicht.« Dr. Sova stand vor ihr wie ein Schulbub. »Da sehen Sie's!« »Wie wollen Sie mich dazu zwingen, daß ich mich bei diesen Leuten entschuldige? Da bin ich wirklich gespannt.« »Könnten Sie ihnen nicht wenigstens ein paar freundliche Worte sagen?« »Kann ich nicht.« »Könnten wir uns nicht alle zusammensetzen und dann in Ruhe miteinander reden?« »Davor kann ich Sie schon jetzt warnen«, lehnte Dr. Fastova kategorisch ab. »Veranstalten Sie nur keine Meetings. Bei solchen Anlässen verliere ich regelmäßig die Nerven und verunglimpfe dann alle!« Der alte Herr schaute sie bittend an: »Und mir zuliebe würden Sie das auch nicht tun?« Die Ärtzin schaute ihn lange und konzentriert an und sagte dann leise: »Gerade Ihnen zuliebe würde ich es nicht machen, und zwar auf gar keinen Fall.« Dr. Sova verstand die Welt nicht mehr, und Dr. Fastova war nicht bereit, ihm irgend etwas zu erklären. Dr. Sova war für einen Augenblick vollkommen sprachlos. »Das tut mir aber leid«, drückte er dann sein Bedauern aus. »Und mir tun Sie leid.« 246
Das Gespräch wurde unangenehm. Der alte Doktor erhob sich, verneigte sich knapp und ging. Als die Tür hinter ihm zufiel, schmiß Dr. Fastova ihren Kugelschreiber so kräftig auf den Tisch, daß der Stift in tausend Stücke zerbrach. Dann murmelte sie ruhig vor sich hin: »Na - das war's also!« Unterdessen stand Dr. Sova vor dem Personal. Die ungewohnte Lügerei hatte sein Gesicht blaß gefärbt, und er würgte an jedem Wort. »Frau Doktor läßt Ihnen ausrichten, daß sie sich bei Ihnen allen entschuldigt. Sie selbst hat jetzt keine Zeit und kann nicht kommen, aber wir finden bestimmt die geeignete Form, die Sache aus der Welt zu räumen.« Alle schauten ihn äußerst mißtrauisch an. »Und jetzt bitte ich Sie, an Ihre Arbeitsplätze zurückzugehen und dort - wie bisher - nach bestem Wissen und Gewissen Ihre Arbeit zu erledigen.« Nach diesen Worten drehte er sich um und verließ hastig das Zimmer. Dr. Strosmajer betrat den OP-Saal. Es war verdächtig, wie mühsam er Luft holen mußte. Im gleichen Augenblick bemerkte er, daß er von Dana Kralova beobachtet wurde, die am OP-Tisch stand. Sie bereitete die Patientin auf die Operation vor. Dr. Strosmajer nahm seine übliche lockere Haltung ein und sagte heiter: »Dana, meine weiße Blume, seien Sie gegrüßt, einzigste Anmut!« Sie musterte ihn jedoch mit einem besorgten Blick und fragte leise: »Wie geht's Ihnen? Schonen Sie sich?« Er antwortete so lapidar, wie er nur konnte: »Ach, um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, mir geht es ausgezeichnet, aber was schreibt Ihr Gregory? Beherrschen die Gefäßchirurgen überhaupt Rechtschreibung? Schreibt er nicht Liebe mit y?« »Keine Bange, er schreibt mir regelmäßig und beherrscht nicht nur die Rechtschreibung. Im übrigen, ich hoffe, daß Sie nicht mehr rauchen.« Dr. Strosmajer bemühte sich hartnäckig, dieses Thema nicht anzuschneiden. »Wollen Sie etwa sagen, daß er seine Gefühle ebenfalls beherrscht? Dort gibt es doch sicher diese gefährlichen Harems. Oder haben die etwa keine?« »Ich glaube nicht.« Die Anästhesistin blieb bei ihrem Thema. »Ich hoffe vor allen Dingen, daß Sie nicht mehr die Nächte durch247
zechen und regelmäßig schlafen.« »Das wäre aber äußerst schade, wenn Dr. Rehor keinen Vergleich mit den Schönheiten des Landes zu den unsrigen ziehen könnte. Ich bin fest davon überzeugt, daß eine einheimische Ärztin in dieser Disziplin die ausländische Konkurrenz nicht fürchten müßte.« »Ich fürchte eher um Sie.« Dana ließ nicht locker. »Also grüßen Sie mir Dr. Rehor schön und schreiben Sie ihm, daß ich hier auf Sie schon aufpasse.« »Und wer paßt auf Sie auf?« Dr. Strosmajer winkte lässig ab. Er wäre nicht wichtig, aber er habe den Eindruck, daß es mit Dana als Frau rasant bergab ginge. Über ihre Einsamkeit habe er sich ursprünglich ganz andere und vielversprechendere Vorstellungen gemacht. Dr. Karel Sova und Dr. Arnost Blazej schritten durch den menschenleeren, riesigen Flur des Universitätsklinikums. Sie blieben an einer großen zweiteiligen Tür mit dem Schild »Institut für Orthopädie und Traumatologie« stehen. Dr. Blazej klopfte ein wenig zaghaft an, aber niemand rührte sich. Dann klopfte er noch einmal. Nun öffnete sich die Tür, und dahinter erschien das rundliche Gesicht des Dr. Cvach. Er entschuldigte sich freundlich für das Warten, begrüßte beide und bat um einen Augenblick Geduld. Mit den Worten, gleich sei er soweit, schloß er die Tür wieder vor ihren Nasen. Obwohl eigentlich nichts Außergewöhnliches passiert war, spürten die beiden jungen Ärzte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Insbesondere Dr. Blazej wurde unruhig. Karel fragte ihn: »War das Doktor Cvach?« »Ja. Kennen Sie ihn nicht?« »Nur vom Erzählen her.« »Ich aus eigener Erfahrung.« Die breite Tür öffnete sich erneut, und Dr. Cvach bat sie herein. Die beiden blieben unschlüssig stehen, weil sie nicht wußten, auf wen sich diese Aufforderung bezog. »Wer soll denn als erster reinkommen?« »Sie können gemeinsam eintreten. Wir haben hier keine Geheimnisse.« In der Mitte des großen Seminarraums stand ein riesiger runder Tisch. An ihm saßen zehn Personen, davon zwei Frauen. Dr. Cvach stellte mit lauter Stimme Doktor Karel Sova und Chefarzt Doktor Arnost Blazej vor. Der Institutsleiter, Professor Chalaba, war ein weißhaariger Mann, der allerdings nicht alt wirkte. Seine Augen strahlten Leben und jede seiner Bewegungen volle Ener248
gie aus. Die beiden nahmen Platz, und Prof. Chalaba wandte sich - dem Alphabet nach - zuerst an Dr. Blazej und bat ihn um eine kurze Einführung in das Thema. Als ihm Dr. Blazej den Titel seiner Habilitationsarbeit vortrug - »Die Beziehung von Methode und Lebensalter bei operativer Behandlung von kongenitaler Hüftgelenksluxation« - zeigte sich der Professor sehr interessiert und forderte Arnost auf, mit dem Vortrag zu beginnen. Arnosts Ausführungen wirkten zu Beginn etwas nervös, doch bald wurde er sicherer, seine Sprache bekam Klarheit, und er erweckte das Interesse der Kommission. Dr. Cvach beobachtete das Ganze sehr aufmerksam. Nachdem Dr. Blazej geendet hatte, verständigte er sich durch einen Blick mit Professor Chalaba und bekam das Wort erteilt. Die zahlreichen Aufzeichnungen und Notizen in dem vor ihm liegenden Block zeigten, daß er auf seinen Beitrag äußerst sorgfältig vorbereitet war. Mit derselben Sorgfalt bereitete er auch die abschließenden Worte seiner Beurteilung vor. »... ich bin der Meinung, daß wir es hier mit wertvollem Material zu tun haben, das unsere Kenntnisse und Erfahrungen über das untersuchte Problem erweitert. Als Nachteil der Arbeit wirkt sich jedoch die Tatsache aus, daß sich die Beobachtungen nur über einen Zeitraum von drei Jahren erstrecken. Hier kann man zu Recht einwenden, daß man für definitive und qualifizierte Schlußfolgerungen mindestens fünf Jahre benötigt. Zugleich ist zu beachten, daß von den verschiedenen Krankheitsmerkmalen nicht hinreichend viele Fälle erfaßt wurden, damit das Resultat auch statistisch stichhaltig untermauert werden könnte. Zusammenfassend vertrete ich die Ansicht, daß es eigentlich schade wäre, diese wichtige Arbeit schon in diesem Zustand abzuschließen.« Dr. Cvach war zu Ende, steckte seinen Kugelschreiber ein und wartete. Prof. Chalaba schaute sich nach den anderen um, um aus ihren Gesichtern zu erfragen, ob sie dazu noch irgendwelche Anmerkungen hätten. Daraufhin meldete sich die sehr streng aussehende Dozentin Sipova. »Ich stimme mit Doktor Cvach überein. Es handelt sich wirklich um eine sehr brauchbare Arbeit, aber sie muß auf jeden Fall ergänzt und zu Ende geführt werden.« Die anderen nickten nur mit den Köpfen. Der Institutsleiter fragte dann den blaß gewordenen Dr. Blazej, was er dazu meinen würde. Doch der war nicht mehr in der Lage, irgend etwas dazu von sich zu geben. »Heißt das, daß Sie die Einwände akzeptieren?« Die Antwort Dr. Blazejs fiel recht barsch aus: »Doktor Cvach weiß ganz genau, daß ich diese Fälle seit dreizehn 249
Jahren behandle. Wenn ich in der Arbeit nur die Ergebnisse von drei Jahren zusammengefaßt habe, so habe ich mich auf die Zeit meiner Stellung als Chefarzt beschränkt. Natürlich reichen meine Erfahrungen viel weiter zurück. Dr. Cvach lächelte leicht, als wollte er Verständnisbereitschaft demonstrieren. »In diesem Fall verstehe ich nicht, warum Sie diese Erfahrungen in Ihrer Arbeit nicht berücksichtigt haben.« Arnost war drauf und dran, Dr. Cvach in der Luft zu zerreißen. »Ich konnte nicht ahnen, daß das für Sie so wichtig ist, wie Sie es hier vorgeben...« Den sich anbahnenden Streit versuchte Prof. Chalaba sofort im Keim zu ersticken. »Ich sehe überhaupt keinen Anlaß zur Konfrontation. Das läßt sich doch alles ohne große Schwierigkeiten nachholen, und in einem Jahr kann uns dann hier eine beachtenswerte Arbeit vorgelegt werden.« Alle schwiegen, sie waren damit einverstanden. »Also wir merken uns ein Jahr als Abgabefrist für eine überarbeitete Fassung Ihrer Arbeit vor«, beendete Prof. Chalaba den Auftritt von Dr. Blazej. Er wandte sich an Karel Sova und erteilte diesem das Wort. Im selben Augenblick erhob sich Arnost und wollte gehen. Prof. Chalaba wies ihn liebenswürdig darauf hin, daß er den Raum nicht verlassen müsse. Mit heiserer Stimme bat Dr. Blazej: »Entschuldigen Sie, aber ich würde mich gerne verabschieden.« Der Professor ließ ihn gehen, und Arnost, begleitet vom verblüfften Staunen aller Anwesenden, verließ den Seminarraum, ohne links und rechts zu gucken. Dem aufmerksamen Beobachter entging nicht, daß allein Dr. Cvach nicht überrascht wirkte. Prof. Chalaba forderte nun Karel auf, sein Thema vorzutragen. Kaum eine Stunde später verließ Karel das Gebäude der Universitätsklinik und sah, daß Dr. Blazej in seinem Honda auf ihn wartete. Er ging zu dem Wagen und nahm schweigend auf dem Beifahrersitz Platz. Dr. Blazej bemühte sich, ein Gespräch anzuknüpfen. »Alles in Ordnung?« »Ja.« »Gratuliere.« Als Dr. Blazej seinen Wagen vor dem Haus der Sovas anhielt, bedankte sich Karel bei ihm fürs Mitnehmen. Bevor er jedoch ausstieg, hielt ihn Dr. Blazej noch einmal zurück. »Ich hätte eine 250
Bitte an Sie. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie über meine ganze Angelegenheit Schweigen bewahren könnten.« »Selbstverständlich. Sie können sich darauf verlassen!« »Und sagen Sie es bitte auch nicht Ihrer Frau.« Karel wunderte sich zwar, doch er versprach es. Karel hatte die Haustür noch nicht einmal hinter sich geschlossen, da rannte bereits Alzbeta, bewaffnet mit einer Schürze, einem Kochtopf in der einen und einem Geschirrtuch in der anderen Hand, aus der Küche. »Wie war es?« Karel zog sich langsam den Mantel aus. »Ich bin zur Anhörung vor der Fakultät zugelassen.« Alzbeta ließ vor Freude den Kochtopf fallen und umarmte ihren Mann begeistert. »Na, das ist ja wunderbar! Was für eine Ehre! Aber warum freust du dich nicht?« »Doch, ich freue mich ja.« »Aber nicht so, wie du dich freuen solltest. Wie ist es bei Arnost gelaufen?« Er zögerte einen Moment und sagte dann: »Im Grunde genommen gut.« »Was heißt >im Grunde genommen gut