Das Herz von Eden von Adrian Doyle
Obwohl der Anlass des Fluges ein anderer war, musste Zamorra immer wieder an Carrie...
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Das Herz von Eden von Adrian Doyle
Obwohl der Anlass des Fluges ein anderer war, musste Zamorra immer wieder an Carries ungeklärtes Verschwinden denken. Die Durchsuchung des Schlosses hatte nicht den geringsten Hinweis auf den Verbleib des Regenbogenmädchens erbracht. Carrie war wie vom Erdboden verschluckt. Nicht einmal die Zeitschau, mit der Zamorra Licht ins Dunkel hatte bringen wollen, war von messbarem Erfolg gekrönt worden. Auf dem Bildfenster der Silberscheibe hatte er lediglich beobachten können, wie Carrie irgendwann in der Nacht aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte. Zamorra hatte vergeblich versucht, sich auf ihre Fährte zu setzen. Das Mädchen mit der regenbogenfarbenen Haut schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Carrie hatte schon Tage davor von Albträumen berichtet, in denen »jemand« oder »etwas« sie holen wollte. Zamorras größte Befürchtung war nun, dass genau das geschehen war – und er es nicht hatte verhindern können …
1. April 2012 Jordanischer Luftraum »Anschnallen, Chéri«, riss ihn Nicoles Stimme aus seiner Versunkenheit. »Hast du das Zeichen überhört? Wir landen gleich in Amman.« Amman, Jordanien. Nach dem erfolglosen Bemühen, Carrie aufzuspüren, und den Abenteuern auf der Insel Avalon hatte Zamorra entschieden, sich dorthin zu begeben, wo eine arabische Kleinstadt in die Schlagzeilen geraten war. Kerak. Vielleicht konnte er Carrie, die auf dem Château nicht mehr erschienen war, dort finden. Immerhin konnte sich das Mädchen durch eine seltsame Verschmelzung mit den Regenbogenblumen an jeden beliebigen Ort versetzen. Und vielleicht konnten er und Nicole dann gleich zwei – nein, genaugenommen drei! – Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn die 20.000-Einwohnerstadt Kerak in der jordanischen Wüste war zugleich der letzte verbürgte Aufenthaltsort zweier weiterer Vermisster, über deren Schicksal seither nichts Neues mehr bekannt geworden war: Nele Großkreutz und Paul Hogarth. Beide waren auf den Spuren eines biblischen Mysteriums gewandelt: dem Garten Eden. Vor allem Nele glaubte felsenfest an die reale Existenz des Paradieses, aus dem die ersten Menschen einst vertrieben worden waren. Aus gutem Grund glaubte sie daran: Immerhin hatte sie ihre relative Unsterblichkeit einer Frucht zu verdanken, die ihr ein alter
Freund einst mit der Beteuerung überlassen hatte, er habe sie aus Eden mitgebracht und sie stamme vom Baum des Lebens. Irgendwie hatte Zamorra die Idee, dass die Ereignisse in London, die Nele und Hogarth auf den Weg gebracht hatten, der sie nach Eden führte, mit Carrie verbunden waren. Denn auch sie hatte dort gelebt. Der alte Freund Neles hieß Nikolaus und war im Jahre 1212 der Initiator des deutschen Kinderkreuzzuges gewesen, der von Köln aus ins Gelobte Land aufbrach, um die Heilige Stadt Jerusalem ohne Blutvergießen wieder in den Besitz der katholischen Kirche zurückzuführen. »Entschuldige, Nici! Ich war in Gedanken.« »Das habe ich gemerkt.« Er lächelte, beugte sich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf den verführerisch glänzenden Mund. Eine gleichmäßige Stimmkulisse hatte sich über den Passagierraum gelegt. Halblaut wurden Gespräche geführt, während durch die Fenster zu sehen war, wie der Boden immer näher kam. Der Queen Alia International Airport lag 35 Kilometer südlich von Amman im wüstenbraunen Niemandsland. Aus der Höhe betrachtet, erinnerten die Landebahnen und Zufahrtswege an die riesigen Scharrbilder von Nazcar, Peru, in denen Erich von Däniken einst Landebahnen außerirdischer Besucher ausgemacht haben wollte. »Ich dachte an Carrie.« »Nicht an Nele?« »Doch, natürlich. Auch. Genau wie an Paul. Ich mache mir um sie alle Sorgen, aber ganz speziell …« »… um die Kleine«, ergänzte Nicole. Er nickte. »Sie ist eben noch ein Kind. Auch wenn sie über besondere Fähigkeiten verfügt.« Nicole klappte die störende Sitzlehne nach oben und schmiegte sich enger an ihn, offenbar um ihm zu zeigen, dass sie diesen Zamor-
ra noch mehr liebte als jeden anderen. Den, der ein junges Mädchen in sein Herz geschlossen hatte. Zamorra ertappte sich dabei, dass ihm die Vorstellung gefiel. »Wir werden sie wiederfinden«, versprach Nicole, ohne zu erläutern, worauf ihre diesbezügliche Überzeugung basierte. »Aber jetzt machen wir uns erst einmal ein Bild von dem, was hier vorgefallen ist.« Sie nickte aus dem Fenster. Nach einem Knacken in den Bordlautsprechern erklang die Stimme des Piloten, der die bevorstehende Landung ankündigte und die herrschende Temperatur nannte, die sich doch ziemlich von der unterschied, in der sie von Paris aus aufgebrochen waren. Zamorra und Nicole lächelten sich zu. Sie mochten beide Wärme. Und Hitze begann bei ihnen erst ab etwa 45 Grad Celsius – das wurde dem Vernehmen nach nicht erreicht. Kurz darauf setzte die Maschine der Royal Jordanian Airline etwas ruppig auf und rollte aus. Nach dem üblichen Gedränge beim Aussteigen blieb ihnen wenigstens die Pass- und Zollkontrolle erspart. Ein schlanker, weißhaariger Mann in einem Anzug, der wie eine Fantasieuniform aussah, aber offenbar höchst offiziell war, fing sie unmittelbar nach Betreten der Abfertigungshalle ab und erklärte, dass er den Auftrag habe, sie unverzüglich zu ihrem Ziel zu bringen. »Das nenne ich mal Service«, flüsterte Nicole Zamorra zu. »Hoffentlich denkt er auch an unser Gepäck.« »Die paar Koffer?«, scherzte Zamorra. Offenbar endete Nicoles Humor bei der Veralberung des »Allernotwendigsten«, das sie auf Reisen – auch auf Kurzreisen – mitzunehmen pflegte. Auf dem militärischen Teil des Flughafens erwartete sie eine Überraschung. Offenbar hatte man ihnen mehr als nur einen Wagen samt Kontaktperson zur Verfügung gestellt. Zu dem Fahrzeug gehörte
eine Motorradeskorte. »Wie lange werden wir unterwegs sein?«, wandte sich Zamorra, als sie im Fond eines geschlossenen Geländewagen Platz genommen hatten. Ihr Kontaktmann hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt und überließ das Steuer einem Soldaten in grauer Felduniform. »Etwa zwei Stunden«, antwortete der Weißhaarige in perfektem Englisch. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken reichen?« Nicole nickte übermütig. »Cham…«, setzte sie an. Zamorra konnte sie gerade noch vor einem Fauxpas bewahren. »Wasser oder Tee wären wunderbar«, fiel er Nicole ins Wort. Der Weißhaarige lächelte. »Jordanien gehört zu den arabischen Ländern, in denen es kein striktes Alkoholverbot gibt«, sagte er. »Hier wird Wein nicht nur produziert, sondern auch konsumiert. Wenn Sie also einen Schaumwein wünschen, kann ich Ihnen welchen in einem Shop entlang der Strecke besorgen.« Nicole winkte beschämt ab. »Ich hatte nicht daran gedacht, dass …« Sie führte es nicht weiter aus. »Danke, mit Wasser oder Tee wäre ich auch sehr zufrieden.« Die Kolonne setzte sich in Bewegung, und fast auf die Minute genau zwei Stunden später erreichten sie das Basislager der jordanischen Armee. Beim Aussteigen aus dem Fahrzeug stach Zamorra sofort die »Wagenburg« ins Auge, die einen großen Zeltkomplex abschirmte. Dahinter standen die Übertragungswagen diverser TV-Stationen, die ihre Reporter zu diesem entlegenen Fleckchen Erde entsandt hatten. Entlang eines Drei-Kilometer-Radius um die Stadt hatten sich im Abstand von ungefähr einem Kilometer zueinander Panzer und Truppentransporter positioniert. Der Truppenaufzug erweckte den Eindruck einer halbherzigen Belagerung. Offiziell, das hatten sie auf der Fahrt hierher erfahren, sollte er Plünderer abschrecken. Dass sämtliche Häuser Keraks seit Tagen verwaist waren, hatte sich mittlerweile herumgesprochen.
Ohne Umwege führte der Weißhaarige zum Hauptzelt, dessen Eingang von zwei Offizieren bewacht wurde, die salutierten und beiseitetraten. Im Innern des Zeltes wurden sie bereits von dem grimmig dreinschauenden Mann erwartet, der hier das Sagen hatte: Generalleutnant Hashem Halasa. Noch von Frankreich aus hatte Zamorra seine Beziehungen spielen lassen, um Kerak persönlich in Augenschein nehmen zu können. Der Freund eines Freundes eines Freundes kannte den Bruder eines Bruders eines Bruders, der ein hohes Tier im engeren Zirkel um den amtierenden König Abdullah II. bin al-Hussein war. Der so hergestellte Kontakt und die von Zamorra bereitwillig gelieferten Referenzen hatten den König – der für sich in Anspruch nahm, direkt vom Propheten Mohammed abzustammen – offenbar überzeugt, im Falle der verwaisten Stadt einen Spezialisten für unerklärliche Phänomene zuzuschalten. Im Gegenzug hatte sich Zamorra verpflichten müssen, dem Königshaus über das, was er herausfand, exklusiv zu berichten. Zunächst aber erstattete Hashem Halasa ihnen Bericht. Nach kurzer Begrüßung weihte er sie in die aktuelle Lage ein – und verriet dabei weit mehr, als über die Medien bekannt geworden war. So wurde nicht nur die Besatzung eines von Al Jazeera gecharterten Helikopters, der irgendwo in Kerak niedergegangen war, vermisst, sondern auch ein Kontingent Soldaten, das nach ihnen hatte suchen sollen. Seither war Kerak »dicht«. Halasa und seine Männer beschränkten sich aufs reine Beobachten aus der Ferne und auf Patrouillenfahrten entlang der Stadtperipherie. Während des Gesprächs gewann Zamorra den Eindruck, dass der Generalleutnant durchaus froh war, auf Befehl von ganz oben die Initiative einem »ausländischen Spezialisten« überlassen zu können. Das schonte die eigenen Ressourcen.
»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte der Befehlshaber der lokalen Streitkräfte. »Ich werde, wenn Sie gestatten, mit einem Jeep in die Stadt hinein fahren.« »Allein?« »Allein.« Zamorra warf Nicole einen Blick zu, den sie bereits kannte und zu interpretieren wusste: Wir sprechen nachher darüber. Akzeptiere es einfach. Bitte. Daraufhin warf sie ihm einen Blick zu, den auch er kannte: Egoistischer Mistkerl. Pass bloß auf dich auf. »Falls Sie mich aktiv unterstützen wollen«, wandte sich Zamorra wieder an Halasa, »geben Sie mir einen Stadtplan und besorgen Sie mir die Adressen, unter denen ich Angehörige des Saleh-Clans finde. Bayan Saleh, Wafa oder Zalay als Familienoberhäupter sind mir namentlich bekannt.« Täuschte er sich, oder zuckte Halasa bei der Namensnennung tatsächlich zusammen? »Was erhoffen Sie sich von den Adressen?« »Das weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich sind die Häuser der Salehs ebenso verlassen wie die aller anderen. Aber es kann nicht schaden, wenn ich mich davon mit eigenen Augen überzeuge.« »Sie gehen ein enormes Risiko ein, wenn Sie die Stadt betreten. Ist Ihnen das überhaupt bewusst?« »Absolut.« Zamorra nickte energisch. »Kennen Sie die Salehs? Ich hatte eben den Eindruck …« »Es ist eine angesehene Familie. Aber ich kenne niemanden daraus persönlich.« Zamorra lächelte. »Bekomme ich, worum ich Sie gerade gebeten habe?« Hashem Halasa winkte eine Ordonanz heran und redete hektisch auf den Mann ein. Nach einer Weile entfernte der Soldat sich eilig. Halasa sagte: »Ein Jeep und eine Karte, auf der die Wohnungen
der Salehs eingezeichnet sind, stehen Ihnen umgehend zur Verfügung. Bitte gedulden Sie sich solange. Im Zelt stehen Getränke bereit. Wenn Sie Hunger haben, können Sie auch etwas essen. Die Gastfreundschaft ist uns heilig.« Bevor Zamorra antworten konnte, raunte Nicole ihm zu: »Keine Sorge. Ich werde nicht noch mal nach Schampus verlangen. Entspann dich.« Er grinste und gab ebenso leise zurück: »Nicht sauer, weil ich erst mal allein in die Stadt gehen und nach dem Rechten sehen will?« »Stinksauer«, antwortete sie. »Wehe, du kommst nicht wieder!« Zamorra straffte sich. Halasa wartete offenbar immer noch auf seine Antwort. »Gerne«, sagte er laut in dessen Richtung. »Ein Happen zur Stärkung, bevor ich mir die Stadt vorknöpfe, kann nicht schaden.« Während sie auf das Hauptzelt zuschritten, fragte Halasa unvermittelt: »Sind Sie wirklich ein Mann, der Geister beschwören und Dämonen vernichten kann?« Zamorra verlangsamte automatisch seinen Gang. »Wurde ich Ihnen so angekündigt?« Halasa nickte. »Und mir wurde angedeutet, dass Sie auch etwas mit dem Verschwinden Londons vor einigen Monaten zu tun hatten.« Zamorra ging nicht weiter auf die Rolle ein, die er beim Verschwinden Londons – und auch beim Wiederauftauchen der Stadt – gespielt hatte. »Nun, ich fürchte, genau das ist mein Job«, sagte er knapp. »Aber es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich nach dem Verbleib von zwanzigtausend Menschen forschen muss.« »Wer könnte dahinterstecken?« »Wenn ich das bereits wüsste, könnte ich mir den Ausflug sparen, meinen Sie nicht auch?« Halasa nickte verdrießlich. Eine halbe Stunde später bestieg Zamorra den bereitgestellten
Jeep, küsste Nicole ein letztes Mal und brauste auf Kerak zu.
* Trotz wolkenlos blauem Himmel lag ein Schatten über der verlassenen Stadt. Rauer Wind fegte durch die Gassen und wirbelte unablässig Sand auf. Zamorra hatte den Jeep in unmittelbarer Nähe einer der Markierungen auf der Karte stehen lassen, um die Reststrecke zu Fuß zurückzulegen. Durch die offene Tür eines Hauses unweit des Saleh-Anwesens spähte er ins dämmrige Innere und inspizierte die Räumlichkeit: ein klobiger Tisch voller Geschirr, zwei rechts und links davon platzierte, lehnenlose Sitzbänke und mehrere entlang der lehmbraunen Wände aufgestellte Regale. Insbesondere der gedeckte Tisch erweckte den Anschein, als hätten sich die Bewohner des Hauses gerade zum Essen niederlassen wollen, sich dann aber umentschieden. Verdorbene Nahrung, die keine Fliegen anzog – symptomatisch dafür, wie die seltsame Stadt sich dem Besucher insgesamt präsentierte. Mit den Menschen war auch alles Getier daraus verschwunden. »Was ist bei dir los? Immer noch keinen gefunden?« Wie verabredet, suchte Nicole den Kontakt zu ihm. Ihre Stimme musste sich gegen das Rauschen der Statik behaupten. Zamorra zuckte leicht zusammen. Die beklemmende Atmosphäre hatte ihn für einen Moment vergessen lassen, dass er in ständiger Sprechverbindung mit Nicole stand. Seine Partnerin war außerhalb der Stadtgrenze geblieben, weil er darauf gedrungen hatte. Er wollte sich erst ein Bild der Lage machen, bevor er sie nachholte. Vielleicht. So lautete die Abmachung, die Nicole schlussendlich akzeptiert hatte.
Ohne den Blick vom Innern des Hauses zu lösen, erwiderte er ins Mikrofon des Headsets: »Keine Menschenseele. Die Leute müssen völlig überstürzt fortgegangen sein – aber so schlau waren wir ja schon vorher.« Die Medien hatten lang und breit über das Verschwinden der Bevölkerung berichtet, und nicht zuletzt waren es diese Berichte gewesen, die Zamorra nach Jordanien gelockt hatten – sie und der Brief einer Freundin, der schon vor einer Weile geschrieben worden und in Kerak abgestempelt worden war. Als die Stadt noch Bewohner hatte. Nele Großkreutz und Paul Hogarth hatten hier Zwischenstation auf ihrer Suche nach dem biblischen Garten Eden gemacht, dem sowohl Nele als auch Paul es zu verdanken hatten, dass sie noch lebten. Nele seit siebeneinhalb Jahrhunderten und Paul seit einem guten Jahr. Im 13. Jahrhundert hatte Nele eine Frucht aus Eden geschenkt bekommen, und vom Tag des Genusses an hatte ihr alter Körper aufgehört, noch älter zu werden. Die Frucht hatte ihn auf geheimnisvolle Weise konserviert und es Nele ermöglicht, alle seither vergangenen Epochen ungeschoren zu durchwandern. Paul hingegen, ehemals Detective bei Scotland Yard, war im Zuge der Ereignisse, die London vom Rest der Welt abgeschottet hatten, ums Leben gekommen. Nur die von Nele aufbewahrten Kerne jener Frucht, mit der sie sich den Tod dauerhaft vom Leibe hielt, hatten ihn reanimieren können. Doch Gevatter Tod schien nicht so leicht von ihm ablassen zu wollen. In Kerak war es zu Vorkommnissen gekommen, die Nele in besagtem Brief geschildert hatte. Seither starb Paul offenbar alle drei Stunden – um nach kurzer Zeit ohne fremde Hilfe wieder aufzuerstehen. Er erwachte, lebte drei Stunden, als wäre er bei bester Gesundheit, starb, erwachte neu – in einem endlosen Kreislauf. Die Vorstellung dieses Sterbens, das Paul achtmal pro Tag ereilte, sodass es fast schon zur Routine wurde, mutete selbst Zamorra, der manches gesehen und erlebt hatte, fast konkurrenzlos absurd und
bizarr an. Nele hatte in der Nähe von Kerak offenbar einen Zugang nach Eden entdeckt und angekündigt, den biblischen Garten zusammen mit Paul und den drei vergreisten Kindern einer hiesigen Großfamilie aufzusuchen. Der Familie Saleh. Damit endete bislang jedes Lebenszeichen von ihnen. Und statt dass sich die Hoffnung erfüllt hatte, in all den Monaten, die nun schon vergangen waren, wieder etwas von den Freunden zu hören, war Kerak unvermittelt in den Blickpunkt des Weltinteresses gerückt. Von einem Tag auf den anderen – von einer Stunde auf die andere, korrigierte sich Zamorra – waren sämtliche Bewohner aus der Stadt verschwunden. Und alle bisherigen Versuche, eine Erklärung für das Verlassen der Häuser und Straßen zu finden, waren gescheitert. Es verschwanden sogar immer noch weiter Menschen: Reporter, Polizisten, Soldaten. Im Grunde war jeder gefährdet, der die Stadt betrat. Und damit auch Zamorra. Ein Geräusch lenkte ihn ab. Es kam von oben. Er blickte zu dem schmalen Streifen Himmel, der über den Rändern der umstehenden Gebäude zu erkennen war und entdeckte das Objekt, das dort aufgetaucht war und schwankend gegen den Wind anzukämpfen schien. Es sah aus wie ein Insekt aus Metall, das von schnell drehenden Rotorblättern in der Luft gehalten wurde. Die Konstruktion beinhaltete etwas, das ohne große Mühe als Kamera identifiziert werden konnte. »Autsch«, murmelte Zamorra. »Autsch?« »Eine Beobachtungsdrohne. Über mir.« »Eine Drohne?« Nicole klang ebenso überrascht wie er. »Davon hat Halasa nichts gesagt. Warum diese Heimlichtuerei? Wir spielen doch auch mit offenen Karten!« »Frag ihn«, schlug Zamorra vor. »Im Grunde kann es nur positiv
sein, wenn ihr mich im Auge behaltet. Falls mir etwas zustößt, wisst ihr wenigstens, was es war.« »Hatten wir nicht … Abmachung?« Ab und zu wurden ganze Worte von der schlechten Verbindung verschluckt. »Doch«, räumte er ein. »Ich hatte versprochen, auf mich aufzupassen. Dazu stehe ich natürlich weiterhin.« Er lächelte schwach. »Ich meinte auch nur für den Fall, dass …« Aus den Augenwinkeln wurde er auf eine huschende Bewegung aufmerksam. Er blickte die Gasse hinunter, die er gekommen war. Nichts. Er musste sich geirrt haben. »…kay«, sagte Nicole. Das statische Knistern war lauter geworden, die Stimme mehr zu ahnen als zu verstehen. »… melde … wieder … ich das … Drohne geklärt …« Zamorra regelte die Lautstärke des Headset-Empfangs herunter, um seine Aufmerksamkeit besser auf die Umgebung fokussieren zu können. Das Amulett, das er offen vor der Brust trug, sollte ihn gegen etwaige Angriffe schützen. Seit Betreten der Stadt hatte er sich sicherheitstechnisch in die alleinige Obhut von Merlins Stern begeben. Es kostete ihn Kraft, die vielleicht in einem Kampf gegen schwarzmagische Wesen besser aufgehoben gewesen wäre – aber der ließ sich vielleicht leichter vermeiden, wenn er schon vor dem Angriff gewarnt wurde. Außerdem war er, wie er glaubte, so besser gewappnet als jeder andere vor ihm, der sich in den Kopf gesetzt hatte, das Rätsel um das Verschwinden der Stadtbevölkerung zu lösen. Trotzdem fühlte Zamorra sich nicht gegen alle Eventualitäten geschützt. Eine absolute Garantie stellte auch das Amulett nicht dar. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass sein Leben oft am seidenen Faden hing und er es nur einer aberwitzigen Mixtur aus Können, Glück, Geschick und Zufall zu verdanken hatte, wenn er Abenteuer
wie dieses mit heiler Haut überstand. Ich überreize permanent mein Blatt. Irgendwann wird das in die Hose gehen. Da! Wieder die huschende Bewegung im Augenwinkel. Noch schneller als zuvor ruckte sein Kopf herum, starrte er in die betreffende Richtung. Er hatte das Gefühl, ein Schemen zu erblicken. Aber um sich sicher sein zu können, war der Moment zu kurz. »Nici?« Stille. Nicht einmal mehr das Knistern der Statik. Zamorra überprüfte sein Handy, das zum Headset gehörte. Obwohl es eingeschaltet hätte sein müssen, war das Display erloschen und ließ sich auch über den üblichen Tastendruck nicht aus seinem Dornröschenschlaf erwecken. Ich hätte doch die Transfunkgeräte mitnehmen sollen. Zamorras Blick wechselte kurz hinauf zu der propellergetriebenen Apparatur, deren optische Linse ihn anzustarren schien. Er war versucht, eine Grimasse zu schneiden, begnügte sich dann jedoch damit, vielsagend gegen das Handy und das Headset zu tippen. Wer immer die Drohne lenkte, konnte sich damit zusammenreimen, dass Zamorras Sprechverbindung zur Außenwelt gekappt war. Er wartete nicht länger, sondern ging in die Richtung, in der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Die Häuserfronten unterschieden sich kaum voneinander. Fast jedes zweite Gebäude war im Erdgeschoss zu einem Laden ausgebaut. Für Plünderer wäre dies ein El Dorado gewesen. Aber die von der Regierung angeordnete Sperrlinie rund um die Stadt hatte offenbar bislang gehalten. Oder diejenigen, die es herein geschafft haben, sind dem VerschwindikusPhänomen ebenso zum Opfer gefallen, wie die ursprünglichen Bewohner.
Bei mir will man es offenbar besser machen und hat mich im Auge. Jeder meiner Schritte, den ich innerhalb der Straßen tue, wird überwacht. Schon das wäre eigentlich Grund genug gewesen, sich ins Innere eines der Gebäude zurückzuziehen, wohin die Drohne aller Voraussicht nach nicht folgen konnte. Aber bislang hatte Zamorra noch kein lohnendes Objekt ausgemacht. Er erinnerte sich an den Film, den Generalleutnant Halasas Leute auf einer Kamera gefunden hatten, die wohl einer der Bewohner gerade benutzt hatte, als das alles passiert war. Es war ein Fest, wahrscheinlich eine Hochzeit, eine opulente, echt arabische Angelegenheit mit einem riesigen Buffet, um das sich hunderten von Menschen tummelten, Tanzende in der Mitte des großen Wohnzimmers, lachenden Kindern und schwatzenden Alten. Doch das Fest war plötzlich beendet gewesen, denn die Teilnehmer waren von einer Sekunde auf die anderen fort. Einfach verschwunden. Der Film hatte gezeigt, dass die Kamera auf den Boden gefallen war, denn auch der Hobbyfilmer war von hier auf gleich weg. Einfach weg. Es war gespenstisch. Plötzlich merkte Zamorra, dass irgendetwas an seinem Bewusstsein zerrte, obwohl er gegen solche Eingriffe eigentlich hätte geschützt sein müssen. Und doch wurde ihm einen Moment schwarz vor Augen, und er schwankte. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, lenkte ein stotterndes Geräusch seine Aufmerksamkeit zum Himmel. Die Drohne dort oben torkelte wie ein trunkenes Insekt. Der Rotorschlag war unregelmäßig, als ginge der Apparatur der Sprit aus. Aber statt einfach wie ein Stein nach unten zu fallen, nahm sie plötzlich Fahrt auf und krachte frontal gegen die Wand eines der Häuser, zwischen denen sie operiert hatte. Ein Trümmerregen ergoss sich
über das Pflaster. Zamorra zog unwillkürlich den Kopf ein. »Merde!«, fluchte er. »Was war das jetzt wieder?«
* Kurz zuvor Nicole Duval steckte das TI-Handy, über das sie mit Zamorra kommuniziert hatte, in die Gesäßtasche ihrer knallengen Jeans. Auf ihrer sonst glatten Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten. Dass die Verbindung zu Zamorra unterbrochen und von immer stärkeren Störungen überlagert worden war, gefiel ihr nicht. Überhaupt nicht. Aber wenn es jemanden gab, der sich seiner Haut zu wehren wusste, dann er. In drei Kilometern Entfernung erhob sich die Silhouette Keraks in der flirrenden Mittagshitze. Nicole entdeckte Generalleutnant Halasa außerhalb des Zeltes und eilte ihm entgegen. Aus schmalen Augen blickte Hashem Halasa ihr entgegen. Er rauchte einen Zigarillo. Seine Miene wirkte angespannt; aber das schien ein Dauerzustand zu sein. Anders hatte Nicole ihn noch nicht gesehen. »Ich protestiere!«, fuhr sie ihn an. Er blinzelte kurz, zog erneut an seinem Glimmstängel und blies den Rauch mit aufgesetzt wirkender Rücksichtnahme zur Seite hin aus. »Sayeeda. Womit kann ich dienen?« »Warum wurde ich nicht informiert?« »Worüber?« »Dass mein Partner während seines Vorstoßes observiert wird!« »Observiert?«
Sie schilderte, was Zamorra ihr via Handy mitgeteilt hatte. »Eine Drohne?« Hashem Halasa wechselte jäh die Farbe und warf seinen halb gerauchten Zigarillo vor sich in den Staub. Ohne sich die Mühe zu machen, die Kippe auszutreten, winkte er drei, vier in Sichtweite befindliche Soldaten zu sich und lief im Stechschritt um den Zeltbau herum. Nicole folgte ihm irritiert. Als sie die Wagenburg passierten, wunderte sie sich noch mehr – eigentlich hatte sie erwartet, eines der wallartig aufgestellten Fahrzeuge sei Halasas Ziel, weil sich dort die Kommandozentrale befand, von der aus die Drohne gelenkt wurde. Doch Halasa und seine Eskorte stapften unverdrossen weiter auf den bunt zusammengewürfelten Haufen ziviler Transporter zu. In Nicole keimte ein Verdacht. Doch sie verzichtete auf frühzeitige Spekulation und trabte lieber weiter hinter den Uniformierten her. Als sie die von Satellitenschüsseln gekrönten Fahrzeuge erreichten, scheuchte Halasa seine Leute zu den einzelnen Wagen, und schon eine Minute später machte einer der Soldaten, die die Transporter inspizierten, lautstark auf sich aufmerksam. Halasa und seine Soldaten wandten sich dem betreffenden Fahrzeug zu. Ebenso Nicole. Kurz darauf wurde sie Zeugin, wie drei Personen ins Freie gezerrt wurden. Eine davon, ein Mann, wehrte sich gegen den Versuch eines Soldaten, ihm ein Gerät aus den Händen zu winden, das wie die Drahtlos-Steuerung einer Playstation älteren Fabrikats aussah. Erst als der Soldat grob wurde und dem Zivilisten das Laufende seiner MPi unter das Kinn drückte, ermattete sein Widerstand, und er ließ sich das Gerät abnehmen. Die einzige Frau der Gruppe ließ eine Tirade nach der anderen über die Soldaten ergehen. Doch alle Proteste halfen nichts. Halasa trat zu den Fernsehleuten und beendete die Scharade. Obwohl Nicole keines seiner Worte, die er an die Gruppe richtete, verstand, wur-
de klar, dass er eine Drohung ausstieß, die keiner von ihnen als leer einstufte. Mit gesenkten Köpfen erinnerten sie an Delinquenten, die die Vollstreckung ihres Urteils erwarteten. So weit ging Halasa glücklicherweise nicht. Stattdessen ließ er sich das sichergestellte Gerät aushändigen und drehte sich zu Nicole um. »Wissen Sie, was das ist?«, fragte er in einwandfreiem Englisch. »Ich vermute es. Eine Fernsteuerung.« »Eine Fernsteuerung, richtig. Und eine Fernsteuerung wofür?« »Die Drohne«, sprach Nicole den Verdacht aus, der in ihr keimte. Die Frau der Gruppe, die gerade noch reumütig nach unten geschaut hatte, hob jetzt den Blick und funkelte Halasa an. »Mein Sender wird sich beim König persönlich über Ihr Vorgehen beschweren. Sie haben wertvolles Equipment zerstört. Das wird Sie teuer zu stehen kommen! Sie können uns nicht behandeln wie gemeine …« Halasa schleuderte die Fernsteuerung demonstrativ zu Boden und zertrümmerte das Plastikgehäuse mit einem gezielten Tritt seines Stiefelabsatzes. Das splitternde Geräusch brachte die Frau, an deren Windjacke das gleiche Al Jazeera-Emblem prangte wie auf dem geenterten Transporter, zum Verstummen. Aber die Wut in ihren Augen glomm unvermindert weiter. Halasa lachte verächtlich. »Mein Onkel hat sicher nichts Wichtigeres zu tun, als sich das Gewäsch einer Frau anzuhören, die meint, wie ein Mann herumlaufen zu müssen.« Das brachte das Fass zum Überlaufen. Nicole reagierte aus ihrer Intuition heraus. Sie trat zwischen die Streithähne und versuchte zu vermitteln. »Es ist ja nichts passiert. Wir machen alle nur unseren Job.« Sie nickte der Unbekannten zu. »Habe ich recht?« Lange sah es nicht so aus, als wäre die Situation noch ohne größere Blessuren zu retten. Doch wider Erwarten lenkte die rassige Schönheit ein. »Was geschieht jetzt mit uns?«
Bevor Halasa antwortete, streifte sein Blick Nicole. Möglicherweise rief er sich dabei in Erinnerung, dass sie und »der andere Ausländer« mit ausdrücklicher Genehmigung von höchster Stelle nach Kerak gekommen waren, vielleicht sogar engere Beziehungen zum Königshaus pflegten als er selbst – Onkel hin oder her –, und womöglich gab das den Ausschlag. »Wurden die Bilder, die euer Maschinchen aus der Stadt schickte, bereits an euren Sender übertragen?« Kopfschütteln. »Ich werde das überprüfen.« »Es wurde nichts übertragen. Wir berichten nicht live. Die empfangenen Bilder waren alles andere als spannend. Um sie senden zu können, hätten sie erst aufbereitet werden müssen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.« »Ich beschlagnahme sämtliches Material, das mithilfe der nicht autorisierten Drohne erstellt wurde.« »Einverstanden.« Halasa legte den Kopf schief. »Ich traue euch nicht. Ihr landet alle hinter Gittern, wenn ihr versucht, mich reinzulegen!« Die Al Jazeera-Crew blickte ihn stoisch an. Schließlich gab Halasa den Befehl, sie in ihren Ü-Wagen zurückkehren zu lassen. Nicole wandte sich an Halasa. »Kann ich zu ihnen?« »Wozu?« »Einfach nur reden. Solange mein Partner in der Stadt ist und ich ihn nicht erreichen kann.« »Falls er noch in der Stadt ist«, erwiderte der Generalleutnant. Mehr nicht. Er wandte sich ab und stiefelte mit seinen Männern davon.
2.
Eden Mehr als ein Jahr zuvor Da lag er also, versunken in Agonie, der Körper eingesponnen in das myzelartige Geflecht, das die Sphäre durchdrang, und träumte in einer Endlosschleife die Jahre, als er noch nicht lebendig begraben gewesen war. Reiche Jahre. Gute Jahre. Aber immer getrieben von unstillbarer Sehnsucht. Doch jeder Traum endet, und so auch dieser. Für den Uralten im Körper eines Jungen – was auch eine Form von Verdammnis sein konnte – kam die Erweckung völlig unerwartet. Er brauchte lange, bis er in der Lage war, auch nur die Lider zu heben und zu schauen, wer zu ihm gekommen war. Und als er die Gestalt schließlich sah, fürchtete er, auch sein Erwachen nur geträumt zu haben und in Wahrheit immer noch dahinzudämmern. Denn der Mann, der vor dem Gespinst stand, das den einstigen Kreuzzügler an aberdutzenden Stellen seines nicht mehr alternden Körpers durchbohrte, sah aus … wie er. Nach einer Weile begann das absurde Ebenbild zu sprechen. »Sie ist da. Willst du sie sehen?« Er verstand den Sinn der Worte nicht sofort, wollte es auch gar nicht. Zu sehr beschäftigte ihn die Fälschung seiner selbst. »Wer bist du? Du siehst aus wie …« »Ich bin ein Meister der Täuschung. Das solltest du vor allen anderen wissen.« Spätestens jetzt wurde Nikolaus klar, wen er vor sich hatte. Denjenigen, der seinen Körper und seine Seele eingesponnen und gezwungen hatte, den Ewigen Traum zu träumen. »Cahhjwa!« »Wenn es dir beliebt. Ein Name ist so gut wie der andere.« Nikolaus versuchte, sich aufzurichten und die bloßliegenden fremden Nervenbahnen abzustreifen, die ihn wie Spinnweben umhüll-
ten. Aber schon die sachteste Berührung der Fäden ließ heißen Schmerz durch seinen Körper fluten. »Was ist das?« Er hatte das Gefühl, seine Qual laut hinauszuschreien, doch auch das spielte sich nur in seiner Vorstellung ab. »Ich. Das bin ich. Wir. Wir sind es.« »Du bist verrückt! Lass mich frei! Ich habe lange genug gebüßt!« »Du erinnerst dich an die verflossenen Jahre?« »Nur als wäre es ein Traum. Aber ich … ich merke, dass es lange war! Wie lange?« Ohne darauf einzugehen, wisperte sein Ebenbild: »Sie ist da. Ich bin bereit, dich zu ihr zu bringen. Ich kenne dein geheimstes Verlangen. Ich kenne jeden noch so schwachen Wunsch, der sich in deinen kleinen, dummen Körper eingenistet hat. Letztlich wurde dir dieses seltsame Ding zum Verhängnis, das du … Liebe nennst.« Nikolaus versuchte, aus dem Schwall der Worte, der sich mental über ihn ergoss, das herauszufiltern, was die Wesenheit ihm eigentlich sagen wollte. Und als ihn eine leise Ahnung zu beschleichen begann, klatschte der falsche Nikolaus vor ihm in die Hände und lachte wild. »Ja!«, jubelte Cahhjwa. »Nun sag: Willst du?« Nikolaus hatte das Gefühl zu brennen. Gleichzeitig sträubte sich alles in ihm, in die offensichtliche Falle zu tappen. Es konnte nur eine Falle sein, eine neue Heimtücke, mit der die Wesenheit ihn zu foltern versuchte. »Sie ist da«, behauptete Cahhjwa. »Steh auf. Wenn du es schaffst, aufzustehen, führe ich dich zu ihr. Ich bin kein Unmensch.« Nein, dachte Nikolaus. Du bist höchstens ein Un. An dir ist nichts Menschliches, das war es nie. Nicht einmal bei unserer allerersten Begegnung. Noch während er so dachte, wurde ihm schmerzhaft klar, dass
einst (wie lange auch immer das tatsächlich her sein mochte) er selbst ein Unmensch gewesen war. Unfreiwillig. (Das Un verfolgte ihn, war essenzieller Bestandteil seines Seins geworden.) »Du lügst!« »Warum sollte ich? Warum sollten Wir?« Nikolaus kannte die Antwort. Und er wusste, dass Cahhjwa sich darüber im Klaren war. Dennoch sprach sein Bewusstsein es aus: »Weil es dir Freude macht. Und ich bin schuld daran – keiner weiß das besser als ich! Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen. Aber dazu bin ich zu schwach. Nicht einmal meine Gebete könnten dich erlösen.« »Gebete!« Es war das erste Mal während dieser Begegnung, dass Cahhjwa – beziehungsweise das Bild, das er Nikolaus schickte – offen verächtlich sprach. »Du warst schon ein Narr, als du kamst. Und du wirst ewig ein Narr bleiben. Ihr Menschen seid ein seltsames Volk. Es hätte Großes aus euch werden können. Doch ihr standet euch selbst im Weg.« »Ich höre dir nicht zu, wenn du so redest!« »Du kannst dich nicht dagegen sperren. Ich bin in dir. Wir sind in dir. Überall. Hast du das schon vergessen?« »Du bist ein Monster!« »Von dir erschaffen.« Die Behauptung traf Nikolaus wie eine mit Eis überzogene Klinge, die sich frostklirrend in sein Herz senkte. Sie traf ihn umso vernichtender, da er wusste, dass sie recht hatte. »Entscheide dich.« Er konnte sich nicht selbst etwas vormachen. Und er konnte Cahhjwa nichts vormachen. »Du kennst die Antwort.«
Sein Ebenbild lachte. »Mich interessiert, ob du sie kennst. Ob du dich ihr stellen willst.« Nikolaus hing an Fäden, durch die unaufhörlich Signale huschten. Der Organismus, an den er gekoppelt war, ließ ihn von der Verderbnis kosten, die er einmal selbst in sich getragen hatte. Ihn schauderte. »Ich glaube dir erst, wenn ich mit eigenen Augen sehe, dass sie hergefunden hat. Und selbst dann werden Zweifel bleiben. Jemand … etwas, das mich so täuschend echt zu kopieren vermag, würde auch mühelos ein Abbild von ihr erschaffen können. Und je länger ich darüber nachsinne, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, das dies und nichts anderes dahintersteckt. Warum weckst du falsche Hoffnungen, schürst du Sehnsüchte, die ich zu überwinden versuche? Habe ich dir nicht alles gegeben, was ich geben konnte?« »Durch dich sind Wir, was Wir sind.« Es klang neutral und doch spürte Nikolaus mit jeder Faser des eigenen und des fremden Seins, in das er eingewoben war, dass starke, abgründige Emotion darin schwang. »Ich weiß, dass ich es bereuen werde«, sagte er endlich. »Aber: ja! Zeig mir, was du ausgeheckt hast! Lass mich sie sehen.« »Sie ist wahr und echt. Und Wir stehen in ihrer Schuld, denn sie sprengt Unsere Ketten.« »Du liegst nicht in Ketten.« Sein Ebenbild blickte betrübt. »Was weißt du schon, Menschlein?« Er winkte. »Nun komm.« Nikolaus blickte an sich herab. Das Gespinst der offenliegenden Nervenstränge glitzerte, als wäre es mit frühmorgendlichem Tau überzogen. »Du verhöhnst mich. Wie sollte ich …« Weiter kam er nicht, denn ohne Ankündigung fielen die Fäden von ihm ab. Selbst die, die sich in seine Haut gebohrt hatten, als wären es Haare, die ihr entsprossen. Nikolaus wunderte sich, dass der Rückzug von Cahhjwas Nerven-
fäden mit keinerlei Schmerz verbunden war. Er spürte nichts. Gar nichts. Als wäre sein Körper taub. Die Furcht, es könnte genau so sein, war der nächste Stich ins Herz. Doch er währte nicht lange. Seine Gliedmaßen gehorchten – und wider Erwarten gelang es ihm sogar, auf die Füße zu kommen. Er trug noch dieselbe Kleidung wie einst, als er den Garten Eden zum zweiten Mal in seinem Leben betreten hatte. Diesen zweiten Besuch hatte man ihm verwehren wollen. Eine geflügelte Gestalt mit einem Schwert aus Feuer hatte sich ihm entgegengestellt – aber nur, um kurz darauf mit wahnsinnigen Schreien in der Welt zu verschwinden, die Nikolaus hinter sich ließ. Träume ich? Liege ich weiterhin da, während Cahhjwa mir Freiheit – einen Hauch von Freiheit zumindest – vorgaukelt? Weidet er sich an meiner Hoffnung? Nikolaus wusste, dass er nur eine Antwort finden würde, wenn er das Wagnis einging, seinem Ebenbild zu folgen, das ihm fröhlich winkend vorausschritt. »Warte! Nicht so schnell!« Der andere Nikolaus – der Homunkulus aus Cahhjwas Hexenküche – lachte. Statt langsamer zu werden, tauchte er noch eiliger in den Gang ein, der sie dem Ziel entgegenbringen sollte. Nikolaus wankte ihm hinterher. Mit jedem Schritt, den er tat, gewann er mehr an Sicherheit. Schließlich holte er zu seinem Ebenbild auf. »Wie weit ist es?« »Entfernung ist eine Illusion«, behauptete Cahhjwas Brut. Nikolaus wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich anfühlte, als könnte es nicht nur Traum und Einbildung sein, dass er hier entlang hastete. Was, wenn es wahr ist?, wisperte es unentwegt durch seine Ganglien. Was werde ich ihr sagen? Was wird sie mir erzählen? Ich darf Cahhjwa nicht trauen. Wenn Nele gekommen ist, nach all der Zeit, wird er uns
unser Glück nicht gönnen. Er ist die Bosheit in Person. Er zeigt sie mir nicht, um mir einen Gefallen zu tun. Oder um ihr zu danken – wofür auch immer. Er tut es, um mich – vielleicht uns beide – zu brechen. Ich bin zu nichts mehr nütze für ihn. Und wenn er sie erst so bestohlen hat wie mich, wird auch sie ihm nicht mehr von Nutzen sein … Doch bei aller Überzeugung, dass Cahhjwa ihn nur leiden sehen wollte, keimte auch ein winziges Quäntchen Hoffnung in ihm, dass die Wesenheit, die Eden beherrschte, doch so etwas wie … Mitleid oder … Gnade kennen und zum Ausdruck bringen könnte. Ich muss völlig wahnsinnig geworden sein. Genauso wahnsinnig wie … »Wir sind da«, sagte der Homunkulus und blieb vor einer Türöffnung stehen, die in einen Raum führte, in dem das gleiche Zwielicht herrschte wie dort, wo Nikolaus zu sich gekommen und aus seinem Ewigen Traum gerissen worden war. Er trat vor, schob sich an seinem Ebenbild vorbei. Und zögerte noch einmal. »Ich würde es fühlen, wenn sie da wäre.« Er drehte sich halb um. »Ich …« Er verstummte, als er merkte, dass er allein war. Cahhjwas Diener war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nikolaus merkte, dass er am ganzen Leib zitterte. Wann habe ich das letzte Mal gegessen?, dachte er. Oder getrunken? Ein Rascheln aus dem Raum, vor dem er stand, machte jede weitere Überlegung in diese Richtung unmöglich. Seine Kopfhaut zog sich zusammen. Ein Kribbeln erfasste jeden Quadratzoll Haut. Bislang hatte er nur mit seinem Geist gesprochen – zu einem Wesen oder Ding, das in der Lage gewesen war, dies zu verstehen und auf gleiche Weise zu antworten. Nun löste sich zum ersten Mal seit langer, unglaublich langer, Zeit ein realer Ton von seinen Lippen, und Nikolaus hatte das Gefühl, dass eine dicke Patina von seinen vibrierenden Stimmbändern bröckelte, als er in die Kammer hinein fragte: »Nele? Nele … bist du das …?«
* Sie war es nicht. Nicht diejenige jedenfalls, die das Geräusch verursacht hatte. Einer von Cahhjwas Günstlingen stand über ein Gebilde gebeugt, das aussah wie ein deckelloser gläserner Sarg. Der Cambrone – so nannten sie sich – raschelte am Kleid der Frau, die Nikolaus trotz des Alters, das sie verunstaltete, sofort wiedererkannte. So (genauso!), wie sie da lag, hatte er sie anno 1270 in Rostock angetroffen. Und von ihr erfahren, dass sie ein gemeinsames Kind hatten, Aaron mit Namen. So hatte das Verhängnis begonnen. Auf der Suche nach Aaron war er nach London gelangt. Und in London hatte er seinen Sohn als Begründer einer außergewöhnlichen Blutlinie gefunden, tief im Bauch der Stadt, wo etwas Finsteres, Verdorbenes schlummerte, das Aaron kraft seines Geistes und der Kräfte, die ihm Vater und Mutter in die Wiege gelegt hatten, in Schach hielt. Als sich Nikolaus wieder von seinem Sohn und jenem Ort verabschiedet hatte – wie hätte er da wissen oder auch nur ahnen können, dass ihm etwas von dem Schrecken anhaftete, das unter Londons Oberfläche hauste und sich von den dunklen Seiten und Ängsten der Bewohner nährte? Wie? Aber so war es gewesen. Die Krankheit, falls man es so nennen durfte, hatte sich in seinem Körper eingenistet, ohne dass er auch nur das geringste Symptom an sich bemerkt hätte. So schnell er es vermochte, war er dorthin zurück gereist, von wo er Nele zu spät, viel zu spät, auch eine Eden-Frucht mitgebracht hatte. Doch er hatte zu lange gebraucht, um die Liebe von einst ausfindig zu machen. Und so war es eine alte Frau, die von ihm das Geschenk ewigen Lebens erhalten hatte, während er schon als Jüngling in seinen Genuss gekommen war – und bis zu seinem Lebensende Jüngling bleiben würde.
Ja, Lebensende, denn auch »Unsterbliche« starben. Auch sie waren nicht gefeit gegen brutale Gewalt oder Unfall. Darüber war sich Nikolaus stets klar gewesen. Und Nele? Da lag sie vor ihm. Unverändert zu damals. Nikolaus hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange er sich schon in Eden aufhielt. Bei seinem zweiten Besuch, der nur dem Zwecke galt, ein Mittel zu erhaschen, das Nele die verlorene Jugend wiederschenkte, war alles schief gegangen, was hatte schief gehen können. Seit Cahhjwa ihn in seinen Klauen hielt, hatte sich die Welt, zu der Eden nur marginal gehörte, weitergedreht. Jahrzehnte mochten vergangen sein. »Jahrhunderte«, raspelte der Cambrone, als hätte Nikolaus seine Gedanken laut ausgesprochen und ihn so zum Widerspruch gereizt. »Jahrhunderte?« Für einen Moment vergaß er, dass er die heuschreckenartigen Wesen noch nie hatte sprechen hören. Und erst recht nicht in seiner Sprache. Im nächsten Augenblick begriff er, wer vor ihm stand. »Cahhjwa!« »Stets zu Diensten.« Die Schrecke zog sich von dem gläsernen Behälter zurück. Nikolaus konnte nicht anders, er hatte nur noch Augen für Nele. Wie sie da lag, reglos, als wäre sie »Tot?« Die Gestalt, derer sich Cahhjwa augenblicklich bediente, gab knackende Laute von sich. »Das ist sie tatsächlich. Sollte ich vergessen haben, es zu erwähnen?« Nikolaus stürzte zu der alten Frau. Obwohl er die ganze Zeit eine Teufelei der Entität erwartet hatte, wollte er sich selbst davon überzeugen, dass Neles Herz aufgehört hatte zu schlagen. Wenig später wusste er, dass es stimmte – und hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich auf den Cambronen zu stürzen. Seine Hand hielt die runzlige Hand der einzigen Frau, die er jemals aufrichtig und ehrlich geliebt hatte.
»Nele … Warum?« Sie konnte nicht antworten, Cahhjwa schon. »Du hast dich nicht verändert«, warf er Nikolaus vor. »Du bist immer noch so gerade heraus, so direkt und ehrlich wie damals, als du kamst – und obwohl es damals schon in dir steckte. Du wunderst dich vielleicht selbst, wie du dir deine Unschuld bewahren konntest, obwohl du das Urböse zu mir brachtest. Das Geheimnis ist: Du warst nur sein Träger, du warst nie in dem Sinn davon befallen, dass es dich verändert hätte. Aber empfängliche Wesen wie mein Torwächter – oder Wir – reagierten sofort und uneindämmbar auf dich. Das, was du Uns brachtest, sprang wie ein hungriges Raubtier aus dir heraus und auf Uns über. Es gab kein Entrinnen. Wir waren ihm hilflos ausgeliefert. Und es fand einen fruchtbaren Nährboden.« Nikolaus blickte auf. Statt des Cambronen stand wieder ein Ebenbild seiner selbst vor ihm. Cahhjwa spielte. Cahhjwa quälte. Es war die pure Lust am Leid anderer, das die Entität in wechselnde Gestalt presste. »Warum?«, keuchte Nikolaus. »Warum hast du sie umgebracht?« »Alles, was lebt, stirbt irgendwann. Als Wir sie umarmten und in sie tauchten … du weißt, was Wir damit meinen; wie wir in Geschöpfe zu tauchen vermögen, damit sie sich mit all ihrer Essenz in Uns verströmen … fanden Wir in ihr eine Sehnsucht, die noch über der Sehnsucht nach dir stand.« Sie sehnte sich nach mir? Immer noch? Genau wie ich nach ihr? Obwohl sie tot vor ihm lag, verursachten ihm Cahhjwas Worte eine von nichts anderem ähnlich zu erzeugende Wärme in der Brust. »Was soll das für eine Sehnsucht gewesen sein, du Ungeheuer?« »Todessehnsucht. Sie hatte es satt, andere kommen und gehen zu sehen, ohne selbst gehen zu dürfen. Satt, anderen den Tod zu bringen, der ihr verwehrt war. Aber Wir müssen einräumen …« »Was?« »… dass ihr diese allergrößte Sehnsucht in dem Moment, als sie in
Unseren Fängen starb, selbst nicht bewusst war. Denn da dachte sie nur an dich.«
* Nikolaus ballte die Fäuste. »Was muss ich tun?« »Tun?« Das Ebenbild, aus dem Cahhjwa sprach, gab sich begriffsstutzig. »Was muss ich tun, damit du sie … verschonst?« »Wir haben sie nicht verschont. Sie ist tot. Misstraust du immer noch deinen eigenen Augen und deinen Händen, die über ihre faltige, leblose Haut streichen?« Nikolaus schob trotzig das Kinn vor. »Ich weiß, wie mächtig du bist. Der Tod ist für dich kein Absolutum. Du bist der, den ich einst für Gott hielt. Meinen Gott. Wenn du willst, kannst du sie wieder ins Leben zurückholen. Habe ich recht?« »Du hast eine hohe Meinung von Uns.« »Von dem, der du mal warst. Aber den habe ich umgebracht.« »Ja«, erwiderte Cahhjwa. »Ich fürchte, das hast du.« »Bitte«, flehte Nikolaus. »Hol sie zurück. Hauche ihr wieder Leben ein. Du hast alles, was du wolltest. Das hast du selbst gesagt. Du kannst uns aus deinem Reich werfen, und wir werden dich nie mehr belästigen.« »Ich denke, dafür ist es zu spät.« »Warum?« »Wir könnten dich aus Unserem jetzigen Reich werfen, dich und sie. Aber was wäre damit gewonnen, wem wäre damit gedient? Schon bald wird sich Unser Reich auch auf die Welt draußen erstrecken. Der, der Wir einmal waren, hätte sich mit Eden begnügt. Aber den gibt es nicht mehr. Nun sind Wir Wir. Und Wir haben andere Pläne.« »Egal. Dann bleiben wir hier. Ich ertrage alles, wenn du mir sie
nur zurückgibst.« »Da! Nimm sie dir! Wir schenken sie dir!« »Ich meine lebendig.« Sein Ebenbild glitt heran, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Auf der anderen Seite des offenen Sargs verharrte es, und Nikolaus hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Er hob die Brauen, und sein Gegenüber hob sie auch. Jedes Zucken, jedes Beben der Lippen, jedes Detail seiner eigenen Mimik spiegelte sich auf dem Gesicht der von Cahhjwa aufrechterhaltenen Täuschung. »Bitte!« »Der solche Geschenke gemacht hätte, ist nicht mehr. Warum sollten Wir dein Flehen erhören? Wir sind böse – schon vergessen? Dank dir sind wir böse.« »Das kannst du von mir aus auch weiterhin sein. Terrorisiere uns – ich nehme alles in Kauf. Wenn sie nur wieder atmet und zu mir spricht!« Das Ebenbild regnete wie etwas Flüssiges zu Boden. Aus der Lache erhob sich in Windeseile erneut ein Cambrone. Bevor er den dornartigen Auswuchs eines seiner Arme in Nele Herz stieß, sagte er zwei Worte: »ES SEI!«
3. April 2012 Kerak Als Zamorra das kurzzeitige Schwächegefühl überwunden hatte, setzte er seinen Weg Richtung Saleh-Anwesen fort. Die zerschellte Drohne war im Grunde unwichtig, ganz gleich, wer sie geschickt hatte. Nur, was der Stadt widerfahren war, zählte.
Was war aus ihren einstigen Bewohnern geworden? Eine wenig konkrete Hoffnung trieb ihn zu den Adressen der Salehs. In ihrem Brief hatte Nele ausführlich von den Vorkommnissen in und um Kerak berichtet. Die Salehs waren demnach Nachfahren eines Mannes, der im ausgehenden 13. Jahrhundert auf einen pervertierten Cherubim getroffen war und sich in den Besitz von dessen Flammenschwert hatte bringen können. Doch das Berühren der Klinge hatte seine Hand bis ins Erbgut hinein geschädigt. Von da an war jeder männliche Nachkomme mit einer Flammenhand zur Welt gekommen. Ein Fluch, der die Salehs bis in die Gegenwart geprägt hatte. Und wie Nele schilderte, waren drei betroffene Knaben von dem nach Jahrhunderten wiederwachten Cherubim als Geiseln genommen worden, um wieder in den Besitz seines Schwertes zu gelangen. Letztlich war das eigene Schwert ihm zum Verhängnis geworden, es hatte seine Existenz beendet. Aber zuvor hatte der Engel, der einst den Zugang zum Garten Eden bewacht und gegen Unbefugte verteidigt hatte, die drei entführten Saleh-Kinder zu Greisen altern lassen. Bei ihrem Aufbruch nach Eden hatte Nele sie mitgenommen – in der vagen Hoffnung, »drüben« etwas für sie tun zu können. Die in Kerak verbleibenden Väter der greisen Kinder waren vom Schicksal mit Flammenhänden versehen worden, also mit Sicherheit nicht das, was man Durchschnittsmenschen mit Durchschnittsfähigkeiten nennen konnte. Zeitweise hatten sie sich sogar erfolgreich gegen einen Gegner wie den entarteten Cherubim behauptet. Und aus diesem Grund schöpfte Zamorra die Hoffnung, dass der eine oder andere Saleh auch dem getrotzt haben könnte, was die Stadt entvölkert hatte. Wunschdenken. Eigentlich ist es nicht mehr als Wunschdenken. Wären sie noch da, hätten sie sich den Soldaten draußen längst bemerkbar gemacht. Er ignorierte die kühle Stimme der Logik.
Vor ihm tauchte das Anwesen auf, das auf seiner Karte als Besitz eines Mannes namens Bayan Saleh markiert war. Jenen Bayan Saleh hatte Nele mehrfach erwähnt – und in den höchsten Tönen gepriesen. Nun musste sich zeigen, ob wenigstens er etwas hinterlassen hatte, aus dem sich Rückschlüsse über die Ursache des Massenverschwindens ziehen ließen.
* Das Haus, das er schließlich erreichte, stach aus der Umgebung hervor. Es wirkte nicht protzig, aber gepflegt und um einiges massiver als die Nachbarhäuser. Der allgemein vorherrschende Baustil war großzügig interpretiert. Das Tor der brusthohen Mauer, die das Grundstück umfriedete, stand offen. Dicht dahinter, auf der breiten, mit Steinmosaiken ausgelegten Einfahrt parkte eine schwere Limousine, ein Mercedes. Es sah aus, als habe man das Anwesen gerade verlassen wollen, als … als … Zamorra wünschte, er hätte sagen können, was passiert war. Sein Versuch, via Handy mit Nicole in Verbindung zu treten, scheiterte erneut. Das Gerät wirkte wie tot. Anders das Amulett. Es reagierte prompt, als Zamorra eine neuerliche Zeitschau initiierte. Die letzte hatte ihn überraschend viel Kraft gekostet. Aber er war gekommen, um Antworten auf Fragen zu erhalten, die auf konventionellem Weg nicht zu kriegen waren. Also musste er etwas riskieren. Mit dem Aufleben der ersten Bilder auf der Silberscheibe überkam ihn sofort das belastende Gefühl, kräftemäßig angezapft zu werden. Trotzdem machte er weiter, bis er gesehen hatte, was er bereits vermutete: Gestalten verließen fluchtartig das Haus und bestiegen den Mercedes. Insgesamt drei Personen, darunter ein Mann, in dem
Zamorra Bayan Saleh vermutete. Aber kaum waren sie im Wagen und hatten die Türen zugeworfen … … war der Mercedes leer. Der Wagen machte einen Ruck, als wäre der Motor abgewürgt worden – und genauso war es auch. Der Fuß auf der Kupplung war ebenso plötzlich verschwunden wie der Rest des Mannes hinter dem Steuer. Zamorra beendete die Zeitschau, atmete tief durch und lauschte in sich hinein, um herauszufinden, wie strapaziös der Amuletteinsatz diesmal gewesen war. Es schien sich im Rahmen zu halten. Obwohl nicht mehr damit zu rechnen war, dass sich jemand im Haus befand, drängte ihn ein Bauchgefühl, es zu betreten. Er durchwanderte die großzügig geschnittenen Gänge und Räume. Alle waren verlassen. Natürlich. Ich habe gerade gesehen Er stutzte. Aus dem Augenwinkel nahm er erneut etwas wahr. Weniger eine Bewegung als … Für einen Moment war er sicher, dass er ein Flackern gesehen hatte. Wie von einem … Feuer. Sein Blick ruckte zu der Stelle. Und tatsächlich: Da war eine Flamme. Eine Flamme von der ungefähren Kontur einer gespreizten Hand …
* »Darf ich mich vorstellen? Nicole. Nicole Duval. Habe ich recht, wenn ich sage: Sie und dieser Betonkopf werden in diesem Leben keine Freunde mehr?«
»Könnte hinkommen. Ada. Ada Jarrah. Das hier …« Sie nickte zu den beiden Männern ihres Teams. »… sind Faris und Hamzah. Wir arbeiten für Al Jazeera, wie dir nicht entgangen sein dürfte.« »Wo hast du so gut Englisch gelernt?« »Es gibt auch bei uns Schulen.« Adas Miene war steinern. »Sorry, so war das nicht gemeint. Gib mir einen Fettnapf, und ich trete hinein.« »Ich verstehe, was du meinst, auch wenn es sonderbar klingt.« Die Miene der Frau entspannte sich. Sie zeigte auf einen freien, fest am Boden der Fahrzeugkabine montierten Drehstuhl. »Setz dich. Hier sieht es nicht sehr aufgeräumt aus. Aber man gewöhnt sich dran.« Die Kabine war vollgestopft mit technischem Equipment: Computer, Monitore, dazu eine Menge undefinierbarer Kram. Der vordere Teil inklusive Cockpit war zu einem Schlaflager umfunktioniert, die Sitze zurückgekippt und mit Decken bezogen. »Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte Nicole. »Zu lange«, sagte Ada. »Bevor ihr kamt, war überhaupt nichts mehr los. An Halasa beißt man sich die Zähne aus. Der Typ gibt null Information.« »Bei unserer Ankunft habe ich keinen von euch gesehen.« »Aber wir haben dich gesehen, Schätzchen«, sagte Ada grinsend. Sie zeigte auf einen Monitor, der die Umgebung des Transporters und Halasas provisorisches Hauptquartier zeigte. »Faris hat sofort recherchiert. Wir wissen, wer ihr seid. Und niemand kann uns verdenken, dass ihr uns neugierig macht. Du und dein Begleiter. Als wir sahen, dass der Professor – das ist er doch: Professor auf einem reichlich exotischen Fachgebiet? – von Halasa sogar ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt bekam, um zur Stadt aufzubrechen … dorthin, wo uns jeder Zutritt verboten wurde … schrillten bei uns alle Warnsirenen. Normal, oder?« »Normal«, bestätigte Nicole. »Waren das eure Leute, die mit dem Heli nach Kerak reingingen, als die Bewohner schon als verschollen
galten?« Ada, Faris und Hamzah tauschten betretene Blicke. Ada nickte. »Waren gute Leute.« Nicole nickte. »Was glaubt ihr, was mit ihnen passiert ist?« »Wenn wir das wüssten, wären wir schlauer. Der Sender tritt uns jeden Tag mehrmals auf die Füße. Sie wollen Ergebnisse. Sie wollen eine mit Bildern belegte Sensation. Ich kann’s ihnen nicht verdenken. Ich will das auch. Das ist der Job. Im Trüben zu fischen überlassen wir lieber Widerlingen wie Halasa.« »Ist er denn so schlimm?« Ada schüttelte missmutig den Kopf. »Nein. Ich wünschte, er wäre es. Dann könnte ich ihn wenigstens hassen. So ist er einfach nur eine lästige Schmeißfliege, die uns daran hindert, unsere Arbeit zu tun.« »Ihr würdet ernsthaft in die Stadt reingehen, wenn man euch ließe?« »Dein komischer Freund ist doch auch rein.« »Freund stimmt. Komisch nicht.« »Egal. Rein ist er jedenfalls. Hast du keine Angst um ihn? Bislang ist noch keiner wieder rausgekommen, der reinging.« »Das wisst ihr? Ich dachte, das hätte uns Halasa unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt.« »Deshalb wissen wir es ja.« Ada nickte zu Faris, der feixend ein Richtmikrofon schwenkte.
* Die Flammen malten eine Hand in der Luft. Zamorra näherte sich dem Spuk so rasch er konnte. Er wollte sie erreichen, bevor sie, aus welchem Grund auch immer, wieder verschwanden. Das Amulett bildete plötzlich einen grünen Schutzschirm um Zamorra, als müsste es ihn gegen einen Angriff schützen.
Verblüfft blieb er stehen. Dann sagte er laut in die Stille des Hauses hinein: »Ist da jemand?« Die Flammen schienen kurz aufzulodern, heller zu werden. Eine Reaktion auf die Rufe? Was auf jeden Fall reagierte, war Merlins Stern. Der Schutzschild, der Zamorras Konturen nachzeichnete, schien sich zu verdichten, und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Die Flammenhand verpuffte – und an Zamorra zerrte etwas, als wäre irgendwo ein überdimensionaler Staubsauger eingeschaltet worden. Immense Kräfte zogen an ihm, und er widerstand der Sogkraft nur mithilfe der Energien, die das Amulett zur Verfügung stellte. Der ganze Spuk dauerte etwa eine Minute, dann erlosch der Schild genauso übergangslos, wie er entstanden war. Zamorra blickte sich um. Der Raum war völlig unverändert. Alles stand, hing oder lag noch am selben Platz wie zuvor. Obwohl die Kräfte mit Orkankraft an ihm gezerrt hatten, war die Umgebung völlig unbehelligt davon geblieben. Verrückt. Ein Indiz dafür, dass er sich den Vorfall nur eingebildet hatte? Oder dafür, dass der Sog es einzig und allein auf ihn abgesehen hatte? Waren auf ähnliche Weise auch die ehemaligen Bewohner der Stadt verschwunden? Zamorra entschied, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte, für den Moment zumindest nicht, und verließ das Saleh-Anwesen, ohne noch einmal eine Flammenhand herumgeistern zu sehen. Auf schnellstem Weg begab er sich zu dem abgestellten Jeep. Der Motor sprang ohne Murren an, und Zamorra lenkte das Fahrzeug aus der Stadt heraus. Als das Basislager des Militärs in Sicht kam, dauerte es nicht lange, bis sich eine einzelne Gestalt davon löste und ihm entgegenlief. Sekunden später erkannte er Nicole, die ihm freudig winkte. Sie wirk-
te erleichtert, ihn zu sehen; so erleichtert, als hätte sie nicht mehr damit gerechnet.
* Zamorra harrte noch drei volle Tage bei der verlassenen Stadt aus und unternahm immer wieder kurze Exkursionen. Es dauerte unterschiedlich lange, aber irgendwann machte sich der Sog jedes Mal bemerkbar, zerrte an ihm und versuchte, ihn fortzureißen. Ohne das Amulett hätte er keinen Widerstand leisten können, davon war er überzeugt. Und deshalb unternahm er seine Exkursionen weiterhin allein. Nach jedem Ausflug informierte er Hashem Halasa über das Wenige, was er herausfand. Die Reaktion war stets die gleiche: ein Schulterzucken und ein geringschätziges Lächeln, als wollte der Generalleutnant zum Ausdruck bringen, dass er sich nie Wunderdinge von dem Franzosen erwartet hatte. Zamorra nahm es äußerlich gelassen hin; am Morgen des vierten Tages erklärte er dem Jordanier aber unmissverständlich, dass er in Ermangelung jeglichen Fortschritts bei den Ermittlungen keinen Sinn mehr sah, länger zu bleiben. Halasa schien darüber nicht unglücklich. Der Abschied fiel dementsprechend kurz aus. Wesentlich herzlicher verabschiedete sich Nicole von einer Reporterin namens Ada Jarrah, mit der sie sich angefreundet hatte. »Wir bleiben in Kontakt, ja?« Ada nickte. »Sollte es mich irgendwann mal nach Frankreich verschlagen, klopf ich bei dir an.« »Ich nehm’ dich beim Wort.« Es sollte drei Monate dauern, bis sie wieder voneinander hörten. Drei Monate, bis Kerak wieder von sich reden machte …
4. Eden Mehr als ein Jahr zuvor Ihre Lider flatterten. Dann schlug sie die Augen auf – und japste wie eine Ertrinkende nach Luft. Panik stand in ihren Augen. Bis … ja, bis sie Nikolaus entdeckte. Sofort wurden ihre verzerrten Züge weich, und Friede legte sich darauf. Niemand wusste besser als Nikolaus, dass so Menschen aussahen, die ein Wunder geschaut hatten. Und offenbar hielt sie ihn für genau das: ein Wunder. »Komm erst einmal zu dir. Atme tief durch. Danach reden wir. Ich kann dir alles erklären.« Während er sprach, fragte er sich, wie jemand, der tot gewesen war und plötzlich ins Leben zurückgeholt wurde, ein solches Gewäsch verstehen sollte. Nele hingegen schien das keine Mühe zu bereiten. Die Fältchen um ihre Augen, die Fältchen um ihren Mund gerieten in Bewegung, und sie strahlte, wie Nikolaus lange keinen Menschen mehr hatte strahlen sehen. »Das träume ich – oder?« Sie streckte die Hand nach ihm aus. Der Cambrone war verschwunden. Nur sie und Nikolaus waren da. »Berühr mich. Kneif mich. Egal. Ich will nur spüren, ob ich das träume!« Niemand verstand sie besser als er. Er reichte ihr die Hand. Seine war kalt, ihre warm. Hätte es nicht umgekehrt sein müssen? »Und?«, fragte er. »Träumst du oder wachst du?« »Ich bin mir nicht sicher.« Ich auch nicht, dachte er. So ganz hatte er die Sorge, auch er könnte
nur in seinem Schlaf mit diesen Bildern betrogen werden, nicht abgeschüttelt. Aber falls es real war – falls – wie hätte er die Chance dann nicht beim Schopf packen können? »Gehen wir davon aus, dass wir beide wach sind und uns in diesem Moment gegenüberstehen. Tun wir so, als gäbe es nicht den geringsten Anlass für Zweifel.« »Genau das sind die Worte, die ich nicht hören wollte«, sagte Nele rau. »Aber du konntest noch nie mit Frauen umgehen.« Als sie seine Bestürzung sah, lachte sie wie ein junges Mädchen auf. Wie das junge Mädchen, das sie nicht mehr war, aber gerne wieder gewesen wäre. »War nur ein Jux – wie man in der neuen Zeit sagt.« Obwohl er das Wort noch nie gehört hatte, verstand er seine Bedeutung. Der Moment ihres Wiedersehens war magisch. »Das Vieh hat mich umgebracht. Wieso bin ich jetzt wieder lebendig?« Sie richtete sich auf und sah sich nach allen Seiten um. »Wo bin ich? Wie hast du mich gefunden?« »Vieh?«, echote Nikolaus. »Eine riesige Heuschrecke. Hatte mich aufgespießt.« Ihre Hand ging in den Nacken, fand aber offenbar nichts, was auf die tiefe Wunde ihrer Erinnerung hinwies. »War das nur ein Fake?« Fake? Sie redete so seltsam. »Komm«, sagte Nikolaus. »Ich helfe dir heraus. Sei vorsichtig.« Er gab ihr die Hand und stützte sie gleichzeitig mit der anderen unter der Achselhöhle. Sie war so leicht, als wäre sie aus Pappmaschee. »Angst, dass ich mir die morschen Knochen breche?« Das JA stand ihm auf die Stirn geschrieben. In riesengroßen Lettern. »Du unterschätzt mich«, sagte sie. »Ich bin noch ganz schön rüstig.
Aber der Dorn … Hölle, das Biest hatte es drauf. Das wusste, wie man jemanden aufspießt!« Nikolaus hätte gern auf Einzelheiten verzichtet. Als Nele neben ihm stand, wurde ihm erst wieder bewusst, wie klein und zerbrechlich er sie schon in Rostock gefunden hatte. Er überragte sie um Haupteslänge. Und sie war erschreckend dürr, wirkte regelrecht klapprig. Plötzlich patschte sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Paul! Herrgott, ich hatte ihn völlig vergessen! Weißt du, was mit ihm ist? Und die Saleh-Kinder? Hat das Biest – oder seine Artgenossen – sie etwa auch …?« Nikolaus wusste nicht, von wem sie sprach – und das sagte er ihr auch. »Hier ist niemand außer dir. Und mir.« Cahhjwa ließ er unerwähnt. Cahhjwa war überall, ohne dass es der Erwähnung bedurfte. Was Nele womöglich aber nicht wusste. Trotzdem scheute er sich, ihr Wiedersehen noch mehr zu trüben. Sie würde noch früh genug merken, wie Eden tickte. »Noch mal: Wo sind wir hier? Wenn du mich gefunden hast, musst du auch wissen, wo wir uns befinden. Und wenn du es weißt, kannst du uns von hier wegbringen! Wir müssen nach Paul und den Kindern suchen. Wenn sie noch leben, schweben sie in enormer Gefahr!« Nikolaus schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Das geht nicht.« Ein ungläubiger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Was soll das heißen? Du willst mir nicht helfen?« Sie rückte einen Schritt von ihm ab. »Du missverstehst mich. Liebend gern würde ich dir helfen. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich bin ebenso ein Gefangener wie du.«
Sie brauchte eine Weile, um es sacken zu lassen. »Du meinst dieses komische Wesen, das mich ermordet hat? Cahhjwa? Hält es uns gefangen?« Er nickte. Sie zeigte zu der Türöffnung, die aus der Kammer führte. »Wir sind nicht einmal eingesperrt. Da ist nicht mal eine Tür oder ein Gitter!« »Das hat er nicht nötig.« »Oder Wächter«, fuhr sie fort, als hätte sie ihn nicht gehört. »Wir können nicht vor etwas fliehen«, sagte er düster, »das überall ist.« In ihren Augen glitzerte es. »Was weißt du über das Mistvieh? Erzähl mir alles, was du weißt – unterwegs!« »Unterwegs?« »Du glaubst doch nicht, dass ich mich daran hindern lasse, es wenigstens zu versuchen, von hier wegzukommen und mich um Paul und die Gören zu kümmern?«
* »Wie gut kennst du dich hier aus?« »So gut wie gar nicht.« »Aber du bist schon eine Ewigkeit hier!« »Ich war die wenigste Zeit bei Bewusstsein.« Nikolaus blieb abrupt stehen, weil die Erinnerung an den Ewigen Traum ihn zu verschlingen drohte. Mühsam drängte er sie zurück. Der Gang, durch den sie rannten, hatte keine erkennbare Lichtquelle, trotzdem herrschte fahle Helligkeit. »Wie viele Jahre sind vergangen, seit wir uns in Rostock wiederbegegneten und du mir von Aaron erzähltest?« »Das weißt du nicht, auch nicht ungefähr?« Er schüttelte den Kopf. »Wie ich sagte: Ich war die längste Zeit
ohne Bewusstsein.« »Warum?« »Vielleicht als Strafe.« »Strafe?« »Weil ich Eden auf dem Gewissen habe.« Der Satz grub sich tief in Nele ein. »Du warst in London. Unter der Stadt. Bei Aaron und seinen Nachfahren. Den männlichen, die die Hall-Linie begründeten.« »Was weißt du davon? Als wir in Rostock sprachen, gab es nur eine vage Idee, wohin unser Sohn sich gewandt haben könnte. Und wohin ich ihm folgen wollte.« »Seither ist viel Wasser die Themse hinunter gelaufen.« »Dann sag endlich: Wie lange ist unsere kurze Wiederbegegnung her, bei der ich dir die Frucht brachte?« »Nicht ganz siebeneinhalb Jahrhunderte.« Nikolaus wirkte sichtlich geschockt. Gleichzeitig hallte ein Laut durch den Korridor, der sich wie das irre Lachen eines Giganten anhörte. Nele musste sich die Ohren zuhalten – ohne merklichen Erfolg allerdings, denn das Gelächter schien hinter ihren Schläfen zu hämmern, als befände sich der Quell in ihrem Schädel. »Was – war das?«, brachte sie hervor, als es endlich verstummte. »Cahhjwa«, sagte er. »Dann weiß er, wo wir sind?« »Ich sagte doch, er ist überall. Zumindest hat er seine Augen und Ohren überall .« Nele schüttelte grimmig den Kopf, wie um sich selbst zu überzeugen, dass das für sie nichts änderte. Sie wollte und würde ihre Flucht fortsetzen. »Ich wünschte, ich könnte in den Ghost-Modus wechseln. Du erinnerst dich noch an meine Gabe?« »Natürlich. Wie könnte ich so etwas vergessen? Nur der Name da-
für ist mir neu.« »Dein Cahhjwa hat sie mir gestohlen, keine Ahnung, wie.« »Wahrscheinlich auf ähnliche Weise, wie er die Krankheit aus mir gesaugt hat, die ich aus London anschleppte.« Sie hasteten weiter und weiter. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Noch nicht zumindest. Wie passte das damit zusammen, dass Cahhjwa über jeden ihrer Schritte informiert zu sein schien? »Sag mir«, bat Nele irgendwann. »Wie sah Eden aus, als es noch nicht so … vergiftet war?« Er atmete schwer. »Sag du mir zuerst, wieso du mehr Kondition hast als ich, obwohl dein Körper biologisch viermal so alt ist wie meiner!« »Ich trainiere täglich mit kleinen Gewichten.« Nikolaus starrte verdutzt. Schließlich bemerkte er ihr Schmunzeln, zu dem sie auch noch Kraft fand. »War das wieder ein … Jux?« »Du lernst es allmählich. Bravo. Also: Wie war Eden bei deinem ersten Besuch – und zu Beginn deines zweiten? Ich weiß, ich bin neugierig, aber als meine Gabe noch funktionierte, war sie es, die mir die Augen über die wahren Zustände hier öffnete.« »Was willst du damit sagen? Hat Eden sich verändert? Ich wandelte seit damals nicht mehr durch den Garten. Aber als ich es tat – bevor Cahhjwa sich mit der Verderbnis ansteckte und Jagd auf mich machte – nun, da war Eden das Paradies. Was soll ich mehr sagen?« »Du weißt es nicht«, erkannte Nele. »Du weißt es wirklich nicht.« »Was?« »Wie sich das Paradies, von dem du sprichst, in einen Albtraum verwandelt hat.« Sie seufzte. »Aber damit stehst du nicht allein. Paul, die Kinder, ich – wir ließen uns alle täuschen. Bis ich uns auf jene Realitätsebene versetzte, auf der ich agiere, wenn meine Gabe wirksam ist.« »Was wurde anders?«
»Eden. Eden wurde anders. Es verlor all seinen Zauber – seinen Zauber von Schönheit, Frieden und intakter Natur.« »Was heißt das? Eden ist ein Garten von unglaublicher Pracht. Bäume, Büsche, Blumen, Vögel, Insekten, wie ich sie noch nirgends sonst gesehen habe.« »Ja«, sagte Nele. »Scheinbar ist all das immer noch vorhanden. Aber es ist wie eine Theaterkulisse. Wenn man in der Lage ist, dahinter zu blicken, sieht man das wahre Eden. Ich bin sicher, das, was uns hier als kahle, aber sonst nicht weiter auffällige Gänge erscheint, durch die wir hetzen, hat noch ein anderes Gesicht.« »Wovon um Himmels willen redest du, Nele?« Sie beschrieb ihm, wie sich ihr Eden präsentiert hatte, als sie im Schutz ihrer Gabe unterwegs gewesen war. »Ein Pfuhl der Fäulnis und der Lebensfeindlichkeit«, schloss sie ihre Schilderung. »Wo gerade noch alles vor schillerndem Leben zu strotzen schien, war mit einem Mal kahle Ödnis.« Nikolaus überwand seine Bestürzung. »Und du bist sicher, dass das schwärende Eden das wahre ist? Könnte es nicht ebenso gut sein, dass die Idylle die Realität zeigt?« »Du kennst die Antwort. Denn du musst es gewesen sein, der das Paradies krankmachte. Unheilbar krank.« Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, dass sie richtig gesehen hatte. Und tatsächlich: Über Nikolaus’ blasse Wangen rollten Tränen.
* Schließlich endete der Gang. Und dahinter lag … Nikolaus stieß einen ungläubigen Schrei aus. Er rannte ins Freie. Nele folgte ihm, so schnell es ihre Verfassung zuließ. »Genauso habe ich es in Erinnerung. Du musst dich irren, Nele. Ich dachte wirklich, ich hätte es auf dem Gewissen. Ich hätte all das
Wunderschöne hier für alle Zeit vernichtet …« Nele blickte hinter sich – und fühlte sich, nachdem die Schönheit der Natur auch sie überwältigt hatte, schlagartig ernüchtert. »Wo ist der Ausgang, durch den wir gekommen sind?« Nikolaus drehte sich um. Auch er war verblüfft, dass sich hinter ihnen die Landschaft scheinbar so endlos erstreckte wie vor ihnen, wie links und rechts. Es gab keine Erhebung, in die ein Stollen getrieben war, und folglich auch keinen Gang, aus dem sie ins Freie hätten treten können. Für Nele war das der Beweis, dass ihre menschlichen Sinne unentwegt betrogen wurden. Nikolaus hingegen schien blind für das Offensichtliche. Er lachte, tanzte ausgelassen – und da war er wieder: Der Junge, in den Nele sich einst verliebt hatte. Für einen Moment glaubte sie, dem Drang nicht widerstehen zu können, zu ihm zu eilen, seine Hände zu ergreifen und mit ihm herumzualbern, ihn zu kosen und zu küssen. Doch sie konnte sich nicht völlig davon freimachen, was sie, im Gegensatz zu ihm, auch körperlich war: alt. Bekümmert wartete sie, bis sein Rausch verflogen war. »Entschuldige«, sagte er. »Aber ich war so lange gefangen. Ich hätte nicht gedacht, noch einmal so frei zu sein. Ich verstehe Cahhjwa nicht. Du weißt nicht, wie es war, als er mich bei meiner Wiederkehr bestrafte. Ich brachte den Schrecken, der ein sanftes, gütiges Wesen zum Monster machte. Cahhjwa saugte mich aus bis aufs Mark. So fühlte es sich jedenfalls an. Er holte das aus mir, was sich in London in mich geschlichen hatte. Und es bemächtigte sich seiner in einer Weise, wie ich noch niemals zuvor Zeuge einer Besessenheit wurde. Ich verstehe immer noch nicht, dass ich die Krankheit nicht selbst in mir spürte. Eine Krankheit, die solche Macht über das Leben hat. Selbst über das Leben eines Gottes!« »Warum nennst du ihn so? Einen Gott?«
»Du warst tot«, erinnerte Nikolaus sie. »Wer außer einem Gott hätte dich wieder lebendig machen können?« Sie erinnerte sich an London und den Moment, als Paul Hogarth so schwer verletzt worden war, dass er an seinen Wunden starb. Es war ihre erste Begegnung gewesen. Und nur den Kernen jener Frucht, der Nele den eigenen Alterungsstopp verdankte, den Kernen, die sie in einem Bernsteinanhänger aufbewahrt hatte und als stetes Andenken mit sich trug, hatten Paul wieder ins Leben zurückholen können. Letztlich stammten die Kerne von hier, aus Eden. Und damit mochte Nikolaus so falsch gar nicht liegen: Wer, außer einem Gott, gebot schon über die Macht, Früchte zu erschaffen, die Tote lebendig oder Lebendige unsterblich machten? »Cahhjwa«, murmelte sie. »Was weißt du über dieses Wesen? Ich meine, abgesehen davon, dass es in deinen Augen ein Gott ist.« »Nicht mehr als du.« »Du weißt nicht mehr über ihn als ich?« »Bei meinem ersten Besuch zeigte er sich mir gar nicht. Zumindest merkte ich es damals nicht, dass ich ihn traf.« »Was soll das heißen?« »Da war eine Schlange. Sie wies mir den Weg zu dem Baum, von dem ich die Früchte pflückte, mit denen ich …« Sie nickte in einer Weise, die ihn zum Verstummen brachte. Er verstand, dass sie eigentlich nicht daran erinnert werden wollte, dass er so jung und sie so alt in den Genuss der Eden-Frucht gekommen war. Seither trennte sie die schrecklichste Kluft, die man sich nur vorstellen konnte, voneinander – ein Abgrund aus Jahren. Er schien ihre Gedanken zu erraten, was sie bedrückte. »Weißt du noch, was ich dir in Rostock versprach, bevor ich ging?« »Aaron zu finden.«
»Das auch. Aber fast noch wichtiger war mir etwas anderes. Nur deshalb machte ich mich erneut nach Eden auf.« Sie seufzte. »Du wolltest in Eden ein Mittel finden, das mich wieder jung macht, jung und schön. Wieder … begehrenswert.« Er nickte. Sein Blick wirkte verklärt, als er erwiderte: »Du wirst es nicht glauben, aber wenn ich dich ansehe, bist du das noch immer. Eine begehrenswerte Frau.« Für einen Moment war Nele sprachlos. Dann schüttelte sie den Kopf und keuchte: »Sag so was nie wieder, wie gut du es auch meinen magst! Das grenzt ja an Leichenschändung!«
* Nikolaus zuckte zusammen. Wie sehr sie ihn mit ihrer flapsigen Bemerkung getroffen hatte, wurde ihr erst bewusst, als es nicht mehr rückgängig zu machen war. »Vielleicht ist es besser so«, murmelte sie. »Was?« »Dass du weißt, zu was ich geworden bin. Zu einer zynischen alten Hexe nämlich.« Er presste die Lippen zusammen, dann schüttelte er den Kopf und erklärte: »Das kriegen wir wieder hin.« »Du bist ein hoffnungsloser Optimist. Selbst dir müsste klar sein, dass dein Cahhjwa, wie nett oder gut er früher auch gewesen sein mag, heute nicht mehr den Hauch eines Interesses daran hat, uns oder irgendjemandem einen Gefallen zu tun. Wenn dieses Wesen ein Gott ist, dann ein fürchterlicher, ein böser Gott. Einer, der nicht eher ruhen wird, bis er uns in den Tod getrieben hat.« Nikolaus nickte. »Genau das ist es, was ich auch nicht verstehe. Es war schon erstaunlich, dass er mein Flehen erhörte und dich aus dem Jenseits zurückholte. Aber dass er uns flüchten ließ, hierher, das …«
»Du hast ihn angefleht? Mich wieder lebendig zu machen?« Er blickte sie an. »Ich dachte, das wüsstest du.« »Und wie, du unglaublicher Kerl, wie und woher sollte ich das wissen? Du warst da, als ich zu mir kam. Mehr war für mich nicht ersichtlich.« Sie verzog das Gesicht. Dann sagte sie: »Es beunruhigt mich, dass er dein Flehen erhörte. Dieses Wesen tut nichts ohne Grund. Vielleicht …« »Was?« »Vielleicht – und damit will ich nicht deinen Einsatz für mich schmälern – aber vielleicht hat er erkannt, dass er mich doch noch braucht.« »Wozu braucht?« »Er hat mir meine Gabe gestohlen, um damit die Grenzen dieser Sphäre zu sprengen und … und seine Herrschaft auf die Welt draußen auszudehnen. Das hat er mich wissen lassen, kurz bevor ich starb.« »Aber wenn er sie gestohlen hat und nun besitzt, wozu sollte er dich dann noch brauchen?« Nele wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht kommt er damit nicht zurecht. Vielleicht gehorcht sie ihm nicht so, wie er es sich erhofft hat. Damit wäre ich wieder im Spiel.« »Aber warum hätte er dich dann gehen lassen sollen? Das ergibt keinen Sinn!« Nele spürte, wie sich ihr der Magen zusammenzog. »Es ergibt einen Sinn – wenn wir davon ausgehen, dass er mich gar nicht hat gehen lassen.« Aus dem Nichts dröhnte ein hässliches Lachen. »So klug … so klug!« Im nächsten Moment waren sie umzingelt von insektenhaften Kriegern. »Ich wusste es!«, stöhnte Nele. Da wurde sie auch schon gepackt und ebenso wie Nikolaus davongezerrt.
5. Juni 2012, Gegenwart Château Montagne Nicole saß im Schlossgarten und las in den Schlussseiten eines Buches über François Hollande, den neuen französischen Staatspräsidenten. Der Autor, Serge Raffy, hatte sich auch schon so charismatischer Persönlichkeiten wie Fidel Castro angenommen. Sein schnörkelloser Blick aufs Wesentliche machte die Lektüre zu einem höchst informativen Leseerlebnis, das Nicole darin bestätigte, beim Gang zur Wahlurne alles richtig gemacht zu haben. Als William mit einem Tablett in der Hand auftauchte, blickte sie auf und hoffte zunächst auf ein Erfrischungsgetränk, das er ihr unaufgefordert servieren wollte. Stattdessen lag ein Handy darauf. »Ein Anruf für Mademoiselle. Eine gewisse Ada Jarrah. Sie wollte sich nicht abwimmeln lassen, behauptet, Sie zu kennen. Ich sagte, ich gebe es so weiter. Ich habe sie in die Warteschleife gedrückt. Wenn Sie die junge Dame nicht kennen, kann sie dort auch bleiben, solange ihr die Musik gefällt, die der Zufallsgenerator einspielt.« Es dauerte zehn Sekunden, bis bei Nicole der Groschen fiel. »Ada? Ada Jarrah? Oh! Her damit, William! Ich kenne die Frau tatsächlich. Wir trafen sie vor drei Monaten, als wir …« Die steinerne Miene des Butlers, nachdem er ihr das Handy überreicht hatte, sprach Bände. »Schon gut, es interessiert Sie nicht. Sie dürfen gehen.« William verneigte sich und stakste davon, während Nicole die Rückholtaste drückte und hoffte, dass die Al Jazeera-Reporterin die Geduld nicht schon verloren hatte. »Hallo?« »Mademoiselle Duval?«
Sie bemühte sich, wenigstens ein wenig Französisch zu sprechen. Nicole rechnete nach ihrer Begegnung nicht damit, dass es mehr als eine Floskel war, um Höflichkeit oder Respekt zu bezeugen. Deshalb schaltete sie innerlich auf Englisch um und erwiderte: »Am Apparat. Ada?« »Ja.« »Waren wir nicht beim Du?« »Das sollte unser kleinstes Problem sein, Nicole«, sagte die Reporterin. »Gibt es Probleme? Sitzt ihr etwa immer noch in Jordanien fest?« »Meine Redaktion lässt nicht so leicht locker. Wir waren schon weg, wurden aber aktuell wieder hingeschickt. Und ja: unser gemeinsamer ›Freund‹ Hashem Halasa erwies sich erneut als Kotzbrocken.« »Deshalb rufst an? Versteh mich nicht falsch, Ada, ich freue mich, von dir zu hören. Ich freue mich vor allem, dass du dich guter Gesundheit erfreuen, aber …« Der Ton der Reporterin veränderte sich abrupt. »Was man leider nicht von jedem behaupten kann.« Nicole wusste, dass dieser Satz nur die eigentliche Nachricht einleitete. Also wartete sie einfach ein paar Sekunden ab, bis Ada weitersprach. »Mein Team … Ich habe Faris und Hamzah verloren.« »Verloren?« »Wir versuchten, den Sperrring bei Nacht zu durchbrechen. Keine gute Idee. Überhaupt keine gute Idee. Faris und Hamzah sollten vorausgehen – nicht bis in die Stadt rein, nur nah ran. Ich wartete hinter einem Hügel und verfolgte den Vorstoß via Bildschirm. Sie hatten eine Infrarotkamera dabei. Und, hey, das war echt gruselig.« »Gruselig, Ada? Was genau meinst du damit?« »Na ja, die Landschaft.« »Was ist damit? Wo bist du jetzt gerade? Immer noch Kerak?«
Ada verneinte. »Gut dreißig Kilometer nördlich. Ein kleines Dorf. Ich übernachte, und morgen in aller Frühe geht’s nach Amman. Der Sender hat schon ein Ticket für mich reservieren lassen. Eins, Nicole. Die anderen beiden …« Ein Schluchzen brachte die sonst so stark klingende Stimme zum Verstummen. »Komm bitte zur Sache. Was ist passiert?« Nicole merkte, wie sie trotz der letzten Sonnenstrahlen des Tages im Garten zu frieren begann. »Es war gespenstisch. So gespenstisch wie das Verschwinden der Stadtbewohner.« »Ja«, sagte Nicole. »Viel mehr als vor drei Monaten wissen wir immer noch nicht, was das angeht.« »Ich schon.« »Wenn das wahr ist, sag’s mir.« »Wie schon erwähnt, ich habe meine beiden Kollegen verloren. Sie sind auf dem Weg nach Kerak in der unheimlich veränderten Landschaft verschwunden, die das Infrarot zeigte. Von einem Moment auf den anderen. Aber das ist längst nicht alles.« Sie lachte heiser auf. »Längst nicht.« »Was genau ist denn so unheimlich gewesen an dem, was die Nachtsichtkamera zeigte?« »Wenn ich das so einfach beschreiben könnte.« »Hey, das ist dein Job! Du bist Berichterstatterin. Wer, wenn nicht du …« »Ich habe bislang immer nur von realen Begebenheiten berichtet. Von Kriegsschauplätzen.« Sie schluckte hörbar. »Obwohl … eine gewisse Ähnlichkeit damit hatte es durchaus, wenn ich darüber nachdenke.« »Womit?« »Mit einem Schlachtfeld. Oder sagen wir besser: mit einer bestimmten Art von Schlachtfeld. Nichts, was ich persönlich betreten hätte. Aber ich kenne Bilder, die du sicher auch schon gesehen hast.«
»Was für Bilder?« »Korea. Vietnam. Nigerdelta. Ich meine den Einsatz von Napalm. Während der dortigen kriegerischen Auseinandersetzungen.« »Es sah aus, wie von Brandwaffen verheert?« »Als wäre flüssiger Kunststoff darüber verschüttet worden und wieder erstarrt. Man sieht bizarre Formationen zum Nachthimmel aufragen, wo in meiner Erinnerung nur staubiges Flachland war.« »Du hast angedeutet, das sei noch nicht alles. Deine Kollegen – wie verschwanden sie genau? Standet ihr in Funkverbindung? Gab es irgendwelche Anzeichen, die auf eine Eskalation der Situation hindeuteten? Ich meine, wir reden doch von dem Dreikilometer-Gürtel rund um Kerak, nicht von Kerak selbst. Oder habe ich das missverstanden?« »Den Gürtel … die Sperrzone …«, keuchte Ada, »gibt es nur noch auf dem Papier.« »Was heißt das nun wieder?« »Dass wir uns gleich bei unserer Ankunft wunderten, wie leicht es war, unbehelligt die Sperre zu durchbrechen. Aber es war Nacht. Faris und Hamzah waren zuversichtlich, ein paar gute Bilder in Stadtnähe schießen zu können, mit denen die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht werden sollte, dass Kerak zu Unrecht aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Wir – ich meine natürlich der Sender – wollten das Thema aufwärmen. Weil es das wert ist. Du erinnerst dich: zwanzigtausend Opfer! Und nach ein paar Monaten spricht kaum noch jemand davon!« »Die Welt hatte London«, gab Nicole zu bedenken. »Dagegen ist Kerak ein Klacks – leider.« »London … ja, scheiße!« »Schon gut, andere Baustelle. Verzetteln wir uns nicht. Was ist mit Kerak? Wieso besteht die Sperrzone nur noch auf dem Papier? Was heißt das? Was ist mit Halasa?« »Halasa«, erwiderte die Reporterin, »ist auch verschwunden. Ge-
nau wie alle seine Soldaten.«
* »Ich muss mit dir sprechen.« »Dringend?« »Es duldet keinen Aufschub.« »Das sagst du immer. Sogar, wenn das Mittagessen auf dem Tisch steht.« Nicole schüttelte den Kopf. »Irrtum. In dem Fall sagt das unsere Köchin. Oder lässt es ausrichten von William.« Zamorra winkte sie näher. Gleichzeitig stand er auf und ging ihr entgegen. »Ich wollte gerade Schluss machen für heute. Den Tag mit dir ausklingen lassen …« »Deine gute Laune wird dir vergehen. Ich hatte gerade einen Anruf.« »Wenn mir bei jedem deiner Telefonate die gute Laune verginge!« »Hör auf, es ins Lächerliche zu ziehen. Es ist ernst.« Sie erzählte von ihrem Gespräch mit der Al Jazeera-Journalistin. Danach war auch für Zamorra Schluss mit lustig. »Demnach hatte sich das Phänomen ausgeweitet«, sagte er. »Und den von Menschen errichteten Sperrgürtel einfach ignoriert. Du hast recht, das klingt mehr als ernst. Gesetzt den Fall, unsere Quelle ist glaubwürdig.« »Warum sollte sie uns Lügen auftischen?« Zamorra zuckte mit den Achseln. »Wen außer uns hat sie noch informiert? Ihren Sender, schätze ich. Dann müsste inzwischen etwas über die Mattscheibe flimmern.« Er ging zur Fernsehwand und schaltete den Flachbildschirm ein. Über die Fernbedienung wählte er den Satellitenkanal an, auf dem Al Jazeera sein Programm verbreitete. Aber weder die aktuelle Sendung noch das am unteren Bildende
eingeblendete Laufband mit aktuellen Meldungen hatte Kerak zum Thema. »Merkwürdig«, sagte Zamorra. »Du meinst, es wird unter den Teppich gekehrt? Warum? Das Verschwinden der Stadtbevölkerung wurde doch auch breit getreten. Und das war um einiges brisanter.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Trotz später Stunde versuchte er, eine Telefonverbindung zu seiner Kontaktstelle am jordanischen Königshaus herzustellen. Es gelang. Danach waren sie schlauer. »Wir wollten Sie auch schon kontaktieren, Professor. Die Situation im Gebiet Kerak hat sich dramatisch verschärft. Um eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern, wurde die ohnehin bestehende Nachrichtensperre noch einmal verstärkt. Was aktuell geschieht, verleiht dem Ganzen nicht nur eine schreckliche Dynamik, sondern auch eine ganz neue, unkalkulierbare Qualität.« »Darüber sprachen wir hier auch gerade. Es weitet sich aus. Das Phänomen, das Lebewesen verschwinden lässt, greift über die Stadtgrenzen hinaus um sich. Wenn Sie erlauben, werde ich mich ins nächste Flugzeug setzen und …« »Genau darum wollten wir sie bitten.« Nachdem Details abgeklärt waren, beendete Zamorra das Gespräch. »Bist du so nett und reservierst uns zwei Plätze auf dem nächstmöglichen Flug nach Amman?«, wandte er sich an Nicole. Sie nickte und machte sich an die Arbeit. Eine Stunde später waren alle Vorbereitungen getroffen, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Jordanien aufzubrechen. Die wenigen Stunden, bis sie sich ins Auto setzen mussten, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, wollten sie nutzen, um sich noch eine Mütze voll Schlaf zu verschaffen. »Ist schon komisch«, sagte Nicole, als sie nebeneinander im Bett la-
gen. »Was genau meinst du?« »Wir reisen via Regenbogenblumen in Nullzeit zu fremden Planeten oder düsen auch schon mal mit überlichtschnellen Raumschiffen durchs All, aber in den allermeisten Fällen sind wir hier auf der Erde auf fast schon antiquierte Transportmittel angewiesen, die uns halbe Tage kosten, um von A nach B zu gelangen.« Er lächelte. »Jetzt könnten wir Carrie gut gebrauchen.« Er knipste das Licht aus. Ein tiefes Seufzen in der Dunkelheit, dann murmelte Nicole: »Wenn wir nicht bald etwas von ihr hören, werde ich meschugge. Kerak hin oder her. Ich will …« Sie stockte. »Was ist?« »Weiß nicht. Mir war gerade so komisch. Als würde ich fallen.« Sie tastete nach seinem Arm. »Schon gut, geht wieder. Du kannst das Licht wieder ausmachen.« Er setzte sich neben ihr auf. »Ich habe es nicht angemacht.« »Aber …« »Ja«, sagte er. »Es ist hell geworden. Taghell …« Er schwang sich aus dem Bett und huschte zum Fenster. Die durchsichtige Gardine wischte er achtlos zur Seite und riss die Fensterflügel auf. Für einen Moment erging es ihm ähnlich wie Nicole Sekunden zuvor. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Was geht da vor?«, fragte Nicole vom Bett aus. »Das«, erwiderte Zamorra, »musst du dir schon selbst ansehen. Oder anders ausgedrückt: Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Das muss eine Halluzination sein!« »Was?« Sie glitt aus dem Bett und auf ihn zu. »Das … das kann nicht sein …« Zamorra legte den Arm um ihre Taille und ließ einfach nur das
Bild auf sich wirken, das sich ihnen vom Schlafzimmerfenster aus bot. Nicht nur die Nacht war verschwunden, sondern die ganze Umgebung, in die Château Montagne seit Jahrhunderten eingebettet war. »Wo ist der Berg … das Dorf?« Zamorra wünschte, er hätte darauf eine Antwort gewusst. Falls es dabei blieb, was seine Augen ihm zeigten, hatten sich ihre Reisepläne fürs Erste erledigt. Beziehungsweise waren sie bereits an einen unbekannten Ort gelangt. Und nicht nur sie als Personen, sondern mit ihnen das ganze Schloss. Die Landschaft, auf die sie vom Fenster aus blickten, war jedenfalls absolut fremd. »Das ist ein Traum, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Die Ranken.« Er stöhnte. »Ich hätte nicht auf dich hören sollen. Jetzt haben wir den Salat!« »Du meinst …?« Er ließ sie stehen, eilte zum Bett zurück und tauschte Pyjama gegen alltagstaugliche Kleidung. »Die M-Abwehr hat versagt! In nie da gewesener Weise!«
6. »Du schaust nach William – ich öffne das Arsenal!« Zamorra eilte zu dem Tresor, in dem er seine wichtigsten Waffen neben dem Amulett aufbewahrte. Doch der elektronisch gesicherte Safe widerstand seinen Bemühungen, ihn zu öffnen. Der Saft fehlt. Zamorra fluchte lautlos und betätigte den nächstgelegenen Lichtschalter. Die Raumbeleuchtung reagierte nicht.
Der Saft fehlt komplett. Eigentlich hätte die Notstromversorgung in einem solchen Fall automatisch anspringen müssen. Dass sie es nicht tat, ließ Raum für schlimmste Befürchtungen. Nicole kehrte mit William zurück. Der Butler wirkte erstaunlich gefasst, obwohl er von Nicole schon eingeweiht worden sein musste. »Ist sonst noch jemand im Schloss?«, wandte Zamorra sich an ihn. »Madame Claire?« Die Köchin wohnte im Dorf, aber es war schon vorgekommen, dass es spät wurde und sie den Weg nach Hause scheute. Für den Fall stand ein Zimmer zur Verfügung. William schüttelte den Kopf. »Ich brachte sie zum Tor. Sie ging kurz nach 22 Uhr heim.« Zamorra nahm es mit Erleichterung zur Kenntnis. Eine Person weniger, um die er sich Sorgen machen musste. »Der Safe lässt sich nicht öffnen«, wandte er sich an Nicole. »Stromausfall.« »Stromausfall? Was ist mit dem Notstromaggregat?« »Springt nicht an. Bleib du mit William hier – ich gehe nach unten und schau’s mir an.« »Was befürchtest du?« »Generell – oder nur auf das Aggregat bezogen?« »Generell.« »Falls der Anschein nicht trügt und wirklich das ganze Schloss an einen uns unbekannten Ort versetzt wurde – das Schlimmste.« »Carrie«, sagte Nicole. »Vorhin sprachen wir noch von ihr. Und dass wir nichts von ihr gehört haben. Aber das hier ist auf ihrem Mist gewachsen. Das spüre ich. Und ja, ich geb’s zu: Ich hätte dich machen lassen sollen, als du die Ranken, die entlang der Schlossmauer wachsen, entfernen wolltest.« Ranken, die in der Farbe von Regenbogenblumen leuchteten.
Ranken, die Carrie gezüchtet und dort platziert hatte – unmittelbar vor ihrem Verschwinden. »Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dein Argument war nicht von der Hand zu weisen. Carrie reagierte mit Schmerzen darauf, dass wir nur ein winziges Pflänzchen, das sie erschaffen hatte, beseitigten. Die Vernichtung des gesamten Mauerschmucks hätte sie womöglich umgebracht.« »Was bezweckt sie damit? Warum schadet sie uns?« Zamorra schüttelte den Kopf. »Tut sie das? Ich meine, absichtlich? Aber es ist sinnlos, darüber zu spekulieren. Wir wissen nichts. Nicht mal, ob sie wirklich etwas damit zu tun hat. Wir müssen sehen, dass wir die Kontrolle wenigstens über das Schlossinnere behalten. Ich geh jetzt in den Keller. Eine funktionierende Energieversorgung wäre ein wichtiger Schritt. Eigentlich müssten wir autark sein. Vielleicht nur eine winzige Störung. Ich seh nach!« Er stürmte aus dem Raum und erreichte wenig später die breite Treppe, die in die Gewölbe führte, wo sich nicht nur das Stromaggregat befand, sondern auch der Raum mit der RegenbogenblumenKolonie, die im Notfall eine Evakuierung des Châteaus erleichtert oder Hilfe hätte bringen können. Doch daraus würde nichts werden. Zamorra stoppte, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. Die Treppe endete schon nach wenigen Stufen wie abgeschnitten. Dort, wo es hätte weitergehen sollen, hatte eine unheimliche Macht den Treppenverlauf durch Erdreich ersetzt. Der Keller, wurde Zamorra in diesem Moment klar, existierte nicht mehr – jedenfalls nicht hier. Das, was das Schloss ortsversetzt hatte, hatte sich auf das oberirdische Gebäude beschränkt. Die Gewölbe hatten es nicht interessiert. Und damit war zugleich die Erklärung gefunden, warum der Notstrom nicht hatte anspringen können.
Es ist alles noch viel schlimmer, dachte Zamorra. Ohne Regenbogenblumen sitzen wir hier fest. Weder Flucht noch Unterstützung durch unsere Freunde ist möglich. Nicht auf die einfache Tour jedenfalls … Jetzt war endgültig klar: Wo immer sie sich auch befinden mochten, sie saßen in der Patsche!
* Handys und Transfunk versagten auf ganzer Linie. Wann hatte es das schon mal gegeben? Abgeschnitten von allem und jedem – wer sollte ihnen jetzt noch beistehen? Beistehen gegen wen? »Wie kann das sein? Wo zur Hölle sind wir?« Nicole wollte gar nicht mehr weg vom Fenster, von dem aus sie auf eine scheinbar paradiesische Landschaft blickte, die irgendwo in den Regenwäldern von Südamerika hätte liegen können. Nur die schwüle Hitze fehlte. Es war angenehm temperiert und die Luft gesättigt mit fast berauschenden Düften. Anders als auf seinem angestammten Platz, erhob sich das Château nicht auf einem Berg, sondern wirkte wie mitten zwischen Urwaldriesen geklatscht. Zamorra fragte sich, was mit der Vegetation passiert war, die hier zuvor gewuchert war. Hatte das Schloss sie unter sich begraben, oder war ein schlichter Tausch erfolgt? Schraubten sich auf dem verwaisten Berg seiner Heimat nun Baumgiganten in den Himmel; Gewächse, die niemand aus der Region so schon mal vor der Haustür hatte bestaunen können? Oder, überlegte er weiter, klafft jetzt einfach eine Lücke im Berg? Und wie werden die Dorfbewohner darauf reagieren? Sind das die nächsten Schlagzeilen: SCHLOSS SPURLOS VERSCHWUNDEN? Lösen wir damit Kerak ab? »Wenigstens ist uns das Amulett geblieben«, sagte Nicole, ohne
den Blick von der exotischen Umgebung zu lösen. »Kannst du nicht versuchen, damit den Tresor zu knacken? Ich würde mich mit einem E-Blaster in der Hand bedeutend wohler fühlen.« »Der dich wovor schützen sollte?« Er sah, wie sie regelrecht erstarrte. Dann winkte sie ihn hektisch zu sich. »Davor«, sagte sie und zeigte hinaus. »Wir bekommen Besuch.«
* »Hast du so was schon mal gesehen?« Er schüttelte den Kopf, ebenso überwältigt von dem Anblick wie Nicole, die fast hypnotisiert nach draußen starrte und mit bebenden Lippen fragte: »Wie viele sind das? Es müssen Dutzende sein.« »Eher mehr. Hunderte«, schätzte er. Überall, wohin sein Blick sich wandte, huschten sie zwischen den Bäumen heran. Ihre Bewegungen unterstrichen unmissverständlich ihre Gefährlichkeit. Die heuschreckenartigen Wesen, ein jedes größer als ein Durchschnittsmensch, marschierten nicht einfach auf das Schlossgebäude zu, das ihnen in den Vorgarten gefallen war, sondern bewegten sich schubartig immer wieder schneller als das Auge zu folgen vermochte. Abrupte Sprünge, die sie manchmal zehn, zwanzig Meter auf einmal überbrücken ließen, aber dann bremsten sie unvermutet wieder ab, verharrten, ließen ihre Kopffühler nach allen Richtungen pendeln, als könnten sie noch so schwache Veränderungen ihrer Umgebung erspüren. »Was sind das für Typen?« Sie flüsterte, als fürchtete sie, ein allzu lautes Wort könnte bis zu den kriegerisch wirkenden Insektoiden dringen und sie auf den Beobachtungsposten hinter dem Fenster aufmerksam machen. »Ich habe keine Ahnung.« »Kann es sein, dass wir uns gar nicht mehr auf der Erde
befinden?« »Das würde zumindest ansatzweise erklären, warum wir keinen Funkkontakt zur Außenwelt bekommen. Andererseits sind dem Transfunk normalerweise kaum Grenzen gesetzt.« »Wenn wir nicht mehr auf der Erde sind – wo dann?« »Es könnte überall sein. Überall, wo es erdähnliche Planeten mit vergleichbarer Atmosphärenzusammensetzung gibt.« »Falls tatsächlich Carrie hinter der Schlossentführung steckt, müsste sie dann nicht hier irgendwo sein?« Zamorra verzichtete auf eine Antwort. Der erste heuschreckenartige Insektoide hatte das Schloss erreicht. Seine Facettenaugen schienen in mehrere Richtungen gleichzeitig zu blicken und dabei auch die bunten Ranken zu begutachten, mit denen die Außenmauer überzogen war. Carries Werk. War auch die Schlossversetzung das Werk der Vollwaisen? »Zum Glück ist das Tor verriegelt«, äußerte sich erstmals William. Er war unbemerkt zu ihnen ans Fenster getreten, um sich ebenfalls einen Eindruck von den Geschehnissen zu verschaffen. »Ich will Ihnen die gute Laune nicht verderben, aber ich fürchte, das wird sie wenig beeindrucken«, sagte Zamorra. »Und erst recht nicht aufhalten.« »Ich bin sicher, Sie werden diesem Gezücht die passende Antwort geben, falls das geschieht.« Nicole rollte mit den Augen. »Der Safe«, erinnerte sie Zamorra. »Öffne ihn – wie du es machst, ist mir egal. Aber wir brauchen Waffen, um uns diese Gestalten vom Hals zu halten.« Zamorra wandte sich nur kurz dem Safe zu. Als er wieder aus dem Fenster blickte, stellte er verdutzt fest: »Sie sind weg. Verschwunden.« Doch lange mussten sie nicht nach ihnen suchen. Irgendwo ganz in der Nähe, unweit des Zimmers, in dem sie sich
aufhielten, ging etwas scheppernd zu Bruch. »Sie sind hier – im Schloss«, hauchte Nicole. »Man kann nicht sagen, dass sie sich Zeit lassen.« Sie eilte zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss. Kaum war sie damit fertig, bewegte sich die Klinke, und etwas drückte gegen die Tür. Zamorra machte sich bereit, das Amulett als magische Waffe zu gebrauchen. Er winkte Nicole und William aus der Schusslinie. Angespannt blickte er zur Tür. Die Sekunden später förmlich explodierte und eine ganze Meute der Insektoiden in den Raum quellen ließ. Mit unglaublichem Gespür für die Situation und ebenso unglaublicher Reaktionsschnelligkeit verteilten sie sich und attackierten sofort. Zamorra wollte mit Merlins Stern Kampfblitze gegen die Eindringlinge schleudern – aber da hatten sie sich schon Nicole und William geschnappt und benutzten sie als lebende Schutzschilde. »Ergebt euch«, sirrte eine Stimme, von der Zamorra nicht hätte sagen können, welches der chitingepanzerten Wesen sie erklingen ließ. Nicole zappelte ebenso hilflos in den Fängen einer Kreatur wie der betagte Butler. Nur vor Zamorra schienen sie – noch – Respekt zu haben. Eine der Schrecken huschte heran und blieb ohne erkennbare Furcht einen Schritt von ihm entfernt stehen. Die Chitinklaue hob sich und streckte sich Zamorra verlangend entgegen. Wortlos. Es will das Amulett! Er war nicht gewillt, ihnen seinen wertvollsten Besitz kampflos zu überlassen. William röchelte gequält, als sich ein dornartiger Auswuchs der Insekten-Gliedmaße in seinen Bauch bohrte. Tief hineinbohrte.
Zamorra hatte das Gefühl, die dolchartige Extremität im eigenen Leib zu spüren. Die wedelnde Bewegung, mit der sein Gegenüber nach dem Amulett verlangte, wurde erkennbar ungeduldiger, während William zu husten begann und Blut spuckte. »Er stirbt«, rief Nicole, selbst von einem Insektoiden in Schach gehalten. »Tu was … irgendwas! Himmel, siehst du nicht? – Er stirbt!«
* »Stopp!«, herrschte Zamorra das Rieseninsekt an. »Aufhören! Wenn du das Amulett haben willst, dann bring das sofort wieder in Ordnung! Mir ist egal, wie du es machst, aber wenn dieser Mann stirbt, bist du auch tot! Unterschätze mich nicht!« Noch während er sprach, dämmerte ihm, wie unwahrscheinlich es war, dass die Kreatur seine Sprache beherrschte. Doch ihre Reaktion schien dafür zu sprechen. Mit einem schmatzenden Geräusch zog die Schrecke den Dorn aus William heraus – und statt dem erwarteten Schwall Blut und Mageninhalt, der wie eine Fontäne herausspritzte, schloss sich die Wunde in dem Moment, da der Fremdkörper den Körper des Butlers verlassen hatte. Etwas hatte sie verklebt. In Butter war damit noch lange nicht alles. William krümmte sich vor Schmerz. Innere Verletzungen, dachte Zamorra. Er wird jämmerlich krepieren. Dieses Monster! »So haben wir nicht gewettet, Arschloch!«, fauchte er. »Du willst die Scheibe? Hier hast du schon mal einen Vorgeschmack davon!« Er initiierte den Waffenmodus. Ein silberner Strahl fuhr aus dem Amulett und traf zielsicher den Punkt, den Zamorra in Gedanken anvisiert hatte: mitten zwischen die beiden handtellergroßen Facettenaugen.
Der Schädel der Schrecke zerplatzte. Statt Gehirn verteilte sich eine sonderbare, kristallin anmutende Masse über die Umgebung. Ein wenig von dem staubartigen Zeug landete auch auf Zamorras Haut – auf Gesicht und Händen –, wo es höllisch brannte. Vor Jahren hatte er einmal mit den Raupenhärchen eines Eichenprozessionsspinners unliebsame Bekanntschaft gemacht – so ähnlich hatte die allergische Reaktion sich angefühlt. Sofort schloss er den Mund, um keine Teilchen in die Lunge zu bekommen. Glücklicherweise verteilten sich die austretenden Partikel nicht als Wolke, sondern breiteten sich nur in geringem Radius aus und fielen dann so schnell zu Boden, als wären sie schwer wie Eisen – Eisen, das ein Vielfaches der Größe dieser Körnchen hatte. Zamorra blieb keine Zeit, sich um das Phänomen zu kümmern. Da waren noch zu viele andere Gegner. Einer war bei Nicole, die aber klug genug war, sich nicht zu rühren, sodass Zamorra den nächsten Strahl aus dem Amulett abfeuern konnte. Er bohrte sich seitlich in den Brustpanzer der Riesenheuschrecke. Und auch hier: statt Blut ein Schwall amorpher Substanz, der sich durch das aufgeschmolzene Chitin den Weg ins Freie suchte. Der Insektoide kippte um und blieb reglos zwei Schritte von seinem Art- und Schicksalsgenossen liegen. Nicole eilte zu William, Zamorra zu beiden. Gleichzeitig entlud sich ein Gewitter aus Silberblitzen gegen die anderen Eindringlinge, die es in den Raum geschafft hatten. Zu seiner Bestürzung musste Zamorra feststellen, dass jeder einzelne Blitz, den er mit dem Amulett abfeuerte, ihn mehr Kraft kostete als normalerweise üblich. Normalerweise. Es gab kaum ein Wort, das er skeptischer betrachtete. Weil Normalität in seinem Leben nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme war. Wie auch hier.
Der Strom der Angreifer nahm kein Ende. Zamorra hatte keine Wahl. Er musste weiter feuern, Schuss um Schuss, Silberstrahl um Silberstrahl. Schließlich brach er ausgelaugt zusammen. Er öffnete noch den Schnellverschluss, der das Amulett von der Kette und rief Nicole mit letzter Kraft zu: »Übernimm du!« Dann wurde es schwarz um ihn.
7. April 2012 Eden Eben noch die Stadt … … und jetzt? Bayan Saleh hockte wie vom Donner gerührt am Boden. Überall war Geschrei. Leute, die er kannte und solche, die er noch nie im Leben gesehen hatte, plärrten wild durcheinander. Seine Frau und seine Tochter schmiegten sich eng an ihn. Inaya weinte, während ihre Mutter zusammenhangloses Zeug murmelte. Sie standen alle unter Schock. Bayan inbegriffen. Es kam ihm wie Minuten vor, dass er sie gedrängt hatte, die nötigsten Sachen zusammenzupacken und sich ins Auto zu setzen. Seit er mit seinen Brüdern aus der Wüste zurückgekehrt war, wo er eine furchtbare Entdeckung gemacht hatte, war ihm von Tag zu Tag mehr klar geworden, dass auch die Stadt keine Sicherheit mehr für sie bot. Dort draußen in der Wüste hatte er für einen kurzen Moment hinter die scheinbare Wirklichkeit geschaut und die wahre gesehen. Des Menschen Auge ließ sich betrügen, nicht aber das magische
Erbe der Salehs, das die männlichen Mitglieder seit Jahrhunderten dazu verdammt, mit einer brennenden Hand geboren zu werden. Der Fluch ging auf Karim Saleh zurück, der einst einem übernatürlichen Wesen begegnet und dessen Flammenschwert an sich gebracht hatte. Die Berührung des Schwertes hatte ihm einen hohen Preis abverlangt: Die magische Hitze hatte sich im Erbgut ihres Vorfahren niedergeschlagen und es dahin gehend verändert, dass seine Kinder und Kindeskinder, so sie Knaben waren, fortan ein »Andenken« in die Wiege gelegt bekamen, das sie zwang, Vorkehrungen zu treffen, um ihre Umwelt weder auf das magische Erbe aufmerksam zu machen noch zu gefährden. Leder hatte sich als simpler, aber verlässlicher Schutz erwiesen, und so trugen die Männer der Familie fortan zeitlebens an der betroffenen Hand einen Handschuh, der das magische Feuer eindämmte, dessen bloßer Anblick Menschen in den Irrsinn treiben konnte. Bayan blickte auf, als er in der Menge eine Gestalt erblickte, die er kannte: Unweit von ihm irrte sein Bruder Wafa in der Menge herum. Der Anblick löste die Starre, in die Bayan verfallen war. Er löste sich aus Liwas Umarmung und der seiner Tochter Inaya und wankte auf Wafa zu. »Bayan! Was geht hier vor? Träume ich, oder …« Sie umarmten einander so innig wie schon lange nicht mehr. Rings um sie spielten sich dramatische Szenen ab. Ein Polizist wurde von der Menge bedrängt. Aus seinen Gesten war zu entnehmen, dass er ebenso ratlos war wie alle anderen. »Ich wünschte, es wäre ein Traum. Aber sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es uns erwischt hat.« »Erwischt?« »Das Unsichtbare, das wir vor der Stadt fanden – als ich meine Flammenhand auf den Felsen legte. Sag nicht, dass du das vergessen
hast.« »Natürlich nicht. Es verfolgt mich seither bis in den Schlaf. Ich war nie wieder dort. Wie lange ist es her? Vier, fünf Tage? Warst du noch mal draußen?« Bayan schüttelte den Kopf. »Ich habe euch auf den Anrufbeantworter gesprochen, dir und Zalay. Ihr wart nicht zu erreichen. Aber ich wollte nicht länger warten.« »Womit?« »Zu verschwinden. Wir waren schon im Auto, als es … als es passierte.« »Wie war es bei dir?« »Als würde ich durch das Wagendach gerissen. Ein Sog. Unwiderstehlich. Und beim nächsten Atemzug war ich schon hier in diesem … Dschungel!« Wafa nickte fahrig. »Ich war in einem Café. Wir tranken Tee, die Kinder aßen ein Eis – dann riss es mir den Stuhl unter dem Hintern weg. Wie du hatte auch ich das Gefühl, durch die Wand des Gebäudes gedroschen zu werden. Als sich das Schwindelgefühl legte, lag ich im Gras zwischen Bäumen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Zum Glück war meine Frau bei mir, und auch …« Seine Stimme brach. Er schluchzte wild auf. »Das geschieht nicht wirklich, oder? Bayan, sag mir, dass das nicht wirklich geschieht, ich flehe dich an!« »Ich wünschte, ich könnte es. Wo ist Zalay? Hattest du noch Kontakt mit ihm, bevor wir …?« Wafa schüttelte den Kopf. Sein Blick schweifte durch die Umgebung. »So viele Menschen. Das sind Hunderte, oder?« Bayan folgte seinem Blick. Es schnürte ihm die Kehle zu, als er sein Weib Liwa und seine Tochter Inaya immer noch dort kauern sah, wo er selbst Minuten zuvor gesessen hatte. Dass so viele andere ihr Los teilten, war eher belastend als tröstlich. Nach einer Weile sagte er: »Mehr. Es müssen Tausende sein. Vielleicht …«
»Vielleicht was?« »Vielleicht die ganze Stadt.« Sämtliche Bewohner Keraks? Die Vorstellung steigerte die Verzweiflung in Wafas Augen ins Unermessliche. »Es kann nicht wahr sein«, flüsterte Wafa. »Die Stadt kann nicht einfach verschwinden. Und wir können nicht statt in ihr plötzlich hier sein.« Er zeigte auf den Urwald. »Das ist doch völlig unmöglich!« »So unmöglich wie der entartete Engel, gegen den wir kämpften«, sagte Bayan und bemühte sich um einen gefassten Tonfall. »Oder das hier.« Er hob seine behandschuhte Faust. »Oder unsere Söhne, die von dem Engel entführt und als Tattergreise zurückgebracht wurden. Oder Nele und Paul, die mit ihnen aus unserer Welt fortgingen, um sie zu retten. Vielleicht zu retten.« Er vermisste seinen Sohn, und er wusste, dass es Wafa und Zalay nicht anders erging. Ihr aller Leben war aus den Fugen geraten. Nun schien es vollends im Chaos zu versinken. »Hol deine Familie«, forderte Bayan seinen Bruder auf. »Entweder das, oder wir kommen mit dir. Wir sollten unbedingt zusammenbleiben. Schau dich nur um. All die Angst! Es dauert nicht mehr lange, dann wird Panik ausbrechen.« Wafa nickte dumpf. »Kommt mit, es ist nicht weit«, bat er. Bayan holte seine Frau und die Mädchen. Sie waren in keiner guten Verfassung, besonders seine Frau stand vor dem nervlichen Kollaps. Bayan hoffte, dass es besser würde, sobald sie Wafas Frau sah und sie sich gegenseitig stützen konnten. Unterwegs erlebten sie Menschen unterschiedlichsten Gemütszustands. Manche waren völlig lethargisch, andere gebärdeten sich aggressiv. Irgendwo kam es sogar zu einer Prügelei. Als sie die Stelle endlich erreichten, wo Wafa seine Familie zurückgelassen hatte, gab es einen kurzen Glücksmoment, denn Zalay hat-
te sich inzwischen mit den Seinen dort eingefunden. Schneller als erwartet, waren sie wieder vereint. Aber an der Grundsituation änderte das nichts. »Wir sollten uns absetzen«, schlug Bayan vor. »Was meinst du mit absetzen?«, fragte Wafa. »Uns aus der Menge heraus begeben. Die Leute werden immer unberechenbarer. Sieh dich nur um. Da! Da ist schon wieder eine Prügelei. Alle sind überfordert – ich schließe mich mit ein –, lange wird das nicht mehr gut gehen.« Wafa nickte. »Wenn wir wenigstens wüssten, wo wir sind!« »Auch das lässt sich am ehesten herausfinden, wenn wir nicht nur hier herumsitzen. Die Kinder werden immer quengeliger. Sie haben Hunger und Durst. Und tausend anderen Kindern geht es ebenso, von den Erwachsenen ganz zu schweigen.« Sie einigten sich darauf, das Gewimmel hinter sich zu lassen, brauchten aber fast eine Stunde, um den Rand der riesigen Menschenmenge zu erreichen. Und als sie schließlich in lichtere Bereiche kamen, eskalierte die Lage erneut. In einer Weise, mit der niemand auch nur im Traum gerechnet hätte. Plötzlich kamen ihnen Leute, wie in heilloser Flucht entgegengerannt. Sie hetzten in die Richtung, aus der die Salehs kamen. Die Gruppe stoppte. Bayan versuchte, einen der Fliehenden aufzuhalten und nach dem Grund ihres Verhaltens zu fragen. Doch der Mann ließ sich nicht stoppen. »Das gefällt mir nicht«, sagte Wafa. Seine Frau nickte und machte Anstalten, wieder dorthin zurückgehen, wo sie gerade herkamen. »Wartet!«, rief Bayan. »Wir dürfen nicht …« Weiter kam er nicht. Sein Blick traf auf etwas, das erklärte, wovor die Leute flohen. Sein Blick traf auf huschende Gestalten, bei denen es sich um eines
mit Sicherheit nicht handelte: um Menschen. Von einem Moment zum anderen waren nicht nur alle guten Vorsätze über Bord geworfen, sondern auch jegliche Souveränität, die Bayan gerade wiedererrungen hatte. Fassungslos starrte er auf das Heer von riesigen, bizarren Insekten, das sich aus dem Unterholz auf sie zu bewegte. Wir sind verloren!, dachte er. Instinktiv rückten seine Brüder und er samt ihrer Familien enger zusammen. Statt mit den anderen zu fliehen (aber wohin zu fliehen?), blieben sie einfach stehen. Aus. Aus und vorbei, dachte Bayan. Doch Sekunden, bevor die aufrecht gehenden Rieseninsekten sie erreichten, bemerkte er neben sich eine Gestalt, die – das hätte er schwören können – vorher nicht da gewesen war. Eine Gestalt, ähnlich bizarr wie die nahende Flut von Ungeheuern, aber im Gegensatz dazu wenigstens annähernd vertraut. Ein Mädchen von elf, zwölf Jahren, das keine Haare auf dem Kopf hatte, dafür aber mit Leuchtfarben angemalt schien. Bayans Verstand versuchte, das Bild zu verarbeiten, das seine Augen ihm vermittelten. Aber er schaffte es nicht. Er wusste: Die Monster würden gleich bei ihnen sein, und was das seltsame Mädchen anging … Es starrte ihn genauso verdutzt an, wie er es musterte, wirkte selbst gehetzt. Und dann tat es etwas, was Bayan erst in seiner Tragweite begriff, als es schon vollzogen war. Das bunt schillernde Mädchen sprang zu ihm, umschlang ihn und rief: »Die Hände! Fasst euch bei den Händen!« Bayan sah noch, wie mehrere Rieseninsekten gleichzeitig bei ihnen auftauchten. Er sah eines der Ungeheuer genau auf sich zuschnellen, schloss in einem Reflex die Augen – und wartete vergeblich auf den mörderischen Zusammenprall.
Das Nächste, was er hörte, war seine Frau, die laut betete. Andere Stimmen fielen darin ein. Bayan öffnete die Augen – und traute ihnen weniger denn je. Die Rieseninsekten! Vergeblich hielt er Ausschau nach ihnen. Ebenso vergeblich wie nach all den Menschen, die ebenso aus Kerak stammten wie er. Aber er sah Wafa und Zalay, ihre Frauen und Kinder, die immer noch dicht an dicht standen und auf das Mädchen starrten, das wie eine Klette an Bayan hing. Das Mädchen ohne Haar, mit einer Haut, die in den buntesten Farben schillerte. Das Mädchen, das plötzlich zu Boden sank und sich nicht mehr rührte.
8. Gegenwart Nicole rief das Amulett. Es gehorchte ohne das geringste Zögern, löste sich aus Zamorras Hand und glitt auf sie zu. Zeit, um sich um Zamorra zu kümmern, blieb nicht. Nicole machte dort weiter, wo er aufgehört hatte. Angriffswelle um Angriffswelle wurde gestoppt. Und schon bald wurde klar, warum Zamorra zusammengebrochen war. Merlins Stern zehrte auch an Nicoles Kräften. Während sie die Insektenkrieger zurückwarf, sah sie, wie William wieder zu sich kam, aber offenbar nicht in der Lage war, sich aus eigener Kraft auch nur zu erheben. Er wirkte mitgenommen, und selbst wenn sie sich wie durch ein Wunder gegen die Angreifer behaupten sollten, erschien es Nicole fraglich, ob er sich von der Schwere seiner Verletzung je wieder erholen würde.
Dort, wo sie es am wenigsten erwartet hätte, mit solcher Brachialgewalt attackiert zu werden, im zur Festung gegen die Dämonen ausgebauten Château, erschütterte sie zutiefst. Sie versuchte, auszublenden, wie es dazu hatte kommen können, um nicht völlig aus der Bahn geworfen zu werden. Zamorra am Boden. William am Boden. Wann würde sie fallen? Es schien nur noch eine Frage der Zeit. Der unablässige Amuletteinsatz forderte auch von ihr seinen Tribut. Immer schwerer kroch die Schwäche in ihre Knochen und Muskeln. Jeder Blitz, den sie den Rieseninsekten entgegen schleuderte, schien seine Energie direkt aus ihrer Lebenskraft zu ziehen. Sie wankte, stolperte. Die Insektoiden schienen das Nachlassen ihres Widerstands zu spüren und rückten noch konsequenter vor, stürmten den Raum, stiegen über jeden gefallenen Artgenossen hinweg, als halte der Tod nicht den geringsten Schrecken für sie bereit. In immer längeren Abständen lösten sich silbrige Strahlen aus dem Amulett. Nicole wusste, dass sie verloren war. Sie ebenso wie Zamorra und William. Wie gut, dass wenigstens Madame Claire diesem Massaker entgeht. Bezeichnend, dass sie für einen solchen Gedanken noch Zeit fand, bevor … … bevor … Noch abrupter als die Salven aus dem Amulett versiegte der Strom der Angreifer. Wankend stand Nicole da und traute ihren Augen nicht. Die monströsen Insekten ergriffen die Flucht. Statt sich auf die schlachtreife Beute zu stürzen, die kaum noch zu Gegenwehr in der Lage war, wandten sie sich zur Flucht und konnten den Raum gar nicht schnell genug verlassen. Ohne eine Erklärung für das Geschehen zu haben, torkelte Nicole zu Zamorra und sank neben ihm in die Knie. Sie tastete nach seinem
Puls und fand ihn. Dass er lebte, mobilisierte noch einmal Kräfte, die sie schon verloren zu haben glaubte. »William«, krächzte sie. »William – wie geht es Ihnen?« Die Züge des Butlers wirkten seltsam entspannt. Er nickte, mehr nicht. Er brauchte auch nichts zu sagen, sie sah, wie es um ihn stand. Als er die Augen aufriss, fürchtete sie schon, dass er sein Leben aushauchte. Doch dann bemerkte auch sie Bewegung hinter sich. Waren die heuschreckenähnlichen Angreifer zurückgekehrt? Sie drehte den Kopf und verstand immer weniger. Da waren Menschen – Männer und Frauen –, die über die Kadaver der Gefallenen stiegen und schnurstracks auf Nicole zukamen. Ihr Anführer trat zu ihr und warf etwas Netzartiges über sie. Sie vermutete eine neuerliche Attacke und wollte das Gespinst von sich reißen. Doch die Hand des Mannes schnellte vor und legte sich eisern um ihren Arm. Eine Hand in einem Lederhandschuh, an dessen Rändern es düster glomm. »Nicht! Ihr habt nur eine Chance, wenn ihr die Netze tragt!« Nicole sah, wie andere zu Zamorra und William traten und ihnen ebenfalls etwas überwarfen. Insgesamt zählte sie ein halbes Dutzend Personen, von denen ungefähr die Hälfte Gegenstände an die Lippen hielten, die wie Blasrohre aussahen, sich bei genauerem Hinsehen aber als pfeifenartige Instrumente entpuppten. Obwohl sie erkennbar hineinbliesen, hörte Nicole keinen Ton. »Eine Chance?«, reagierte sie verspätet auf die Worte des Unbekannten. »Was sollte dieses Zeug gegen die Ungeheuer ausrichten, die das Schloss stürmen?« »Es ist deine Entscheidung«, sagte der Mann, der sich selbst nicht auf die Art schützte, die er Nicole empfahl. »Vertraut uns oder sterbt.« Nicole überlegte eine Sekunde. Eine Sekunde, in der es irgendwo in ihrem Kopf klick machte. »Der Handschuh!« Sie zeigte darauf. »Dieses Glühen, das am
Rand hervorzubrechen versucht – könnte es sein, dass dein Name Saleh ist? Könnte es sein, dass wir eine gemeinsame Bekannte haben, Nele Großkreutz?« Das machte selbst ihn sprachlos. Mit einem Wink forderte er seine Begleiter auf, sich um die beiden Männer zu kümmern, die momentan am hilflosesten waren. Zamorra und William wurden von jeweils zwei der dunkelhäutigen Fremden angehoben und aus dem Zimmer getragen. Nicole folgte, gestützt von dem Anführer, der leise sagte, während sie über die Insektenleichen hinweg stiegen: »Ich heiße wirklich Saleh – aber wie kannst du das wissen? Wer, bei Allah dem Allmächtigen, bist du?«
* Noch in Sichtweite des Châteaus, das in der fremden Umgebung wie ein Anachronismus wirkte, verschlechterte sich Williams Zustand rapide. Sie legten eine Rast ein. Anfangs hatten sie sich noch ihren Weg durch eine Heerschar von Insektenwesen bahnen müssen, die das Schloss regelrecht belagerten. Mittlerweile hatten sie die hochgradig aggressiven Kreaturen hinter sich gelassen und bewegten sich durch paradiesische Wildnis. Für die Nicole spätestens in dem Moment keinen Blick mehr hatte, als William zu röcheln begann. Neben Bayan hatte Nicole zwischenzeitlich noch zwei weitere Salehs kennengelernt: Wafa und Zalay. Auch unter den Brüdern schien Bayan der Wortführer zu sein, weshalb sie sich auch an ihn wandte, als es William spürbar dreckig ging. »Er wurde von einem dieser Viecher gestochen – regelrecht aufgespießt. Seither ringt er mit dem Tod. Gibt es irgendetwas, was ihr für ihn tun könnt?« Zamorra war während des ganzen bisherigen Marsches noch nicht wieder zu sich gekommen, doch Puls und Atmung hatten sich weit-
gehend normalisiert; Nicole rechnete jeden Moment damit, dass er die Augen aufschlug. Bayan trat zu William, der auf ein Lager aus riesigen Blättern gelegt worden war. Der Butler blickte ruhig zu ihm empor. Vergeblich suchte Nicole, die ihn nicht aus den Augen ließ, eine Spur von Angst bei ihm. Fast schien es ihr, als habe der alte Mann sich mit seinem Schicksal abgefunden. Nein, verdammt! Kämpfe! Am liebsten hätte sie es ihm ins Gesicht geschrien. Bayan sprach leise mit dem Siechenden. Zum ersten Mal wurde Nicole bewusst, dass sie sich sowohl mit den Salehs als auch jedem anderen der Gruppe perfekt verständigen konnte. Verrückterweise hatte sie das Gefühl, ihre Muttersprache zu benutzen, die von den anderen mühelos verstanden wurde – und umgekehrt hörte sie beispielsweise Bayan arabisch sprechen, was sie eigentlich nur in Brocken beherrschte, doch hier in dieser Umgebung wandelte ihr Gehirn das Idiom mühelos so um, dass auch sie ihn verstand, als unterhielten sie sich beide in einer gemeinsamen Ursprache. Bislang hatte sie ihn noch nicht darauf angesprochen, und sie tat es auch jetzt nicht, weil William alle Aufmerksamkeit des Jordaniers erforderte. Nach einer Weile winkte er seine Brüder zu sich und besprach sich leise mit ihnen. Nicole schwante Schlimmstes. Doch dann forderte Bayan sie auf, den Blick abzuwenden, um keinen Schaden zu nehmen. Gleichzeitig nestelten er und seine Brüder an ihren Handschuhen. Zweifellos, um sie abzustreifen. Nicole wollte kein Risiko eingehen und gehorchte. Im Wegdrehen sah sie, wie Bayan William die Augen mit der gesunden Hand bedeckte – was sonst noch passierte, blieb ihr verborgen, und es dauerte auch nur eine Minute. Als Bayan ihr erklärte, sie könne wieder hinsehen, zögerte sie noch
ein paar Sekunden, ehe sie es tatsächlich wagte. William lag mit geschlossenen Augen reglos da, und für bange Sekunden fürchtete sie, ihn verloren zu haben. Doch dann sah sie, wie sich sein Brustkorb langsam hob und wieder senkte. »Er hatte innere Blutungen«, sagte Bayan. »Außerdem sondern die Cambronen beim Stechen ein Sekret ab, das rasch lähmend wirkt.« »Innere Blutungen. Ich hatte es befürchtet. Dann wird er …« Bayan schüttelte beruhigend den Kopf. »Ich glaube, wir konnten ihm helfen.« Nicoles Herz übersprang einen Takt. Sie sah, dass die Flammenhände der Salehs wieder hinter Leder verschwunden waren. »Wie?« Bayan zuckte ebenso mit den Achseln wie Wafa und Zalay. Aber sie wirkten zufrieden mit dem, was sie geschafft hatten. Tatsächlich ging Williams Atem völlig ruhig, und seine Wangen hatten einen gesunden, rosigen Ton angenommen. Als dann auch noch Zamorra aus der Ohnmacht erwachte, war Nicoles Glück perfekt. Fürs Erste zumindest. Um diesen Patienten kümmerte sie sich persönlich.
* Zamorra ließ sich berichten, was passiert war, nachdem er die Besinnung verloren hatte. »Du hast tapfer gekämpft«, sagte er und lächelte Nicole liebevoll an. »Wie ich es gehofft hatte.« Sie nickte, schränkte aber sofort ein: »Das hätte alles nichts genützt, wären unsere Freunde hier …« Sie zeigte zu der Gruppe dunkelhäutiger Männer und Frauen, die bei ihnen standen. »… nicht gewesen. Ohne ihr Einschreiten im allerletzten Moment hätte es für uns kein Entkommen gegeben. Sie verfügen über Wunderwaffen. Ich hoffe, du bist genauso neugierig wie ich zu erfahren, woher
sie das Zeug haben, das wie geschaffen ist, um sich bei den Riesenschrecken Respekt zu verschaffen.« Zamorra nickte mit Nachdruck und blickte zum Anführer der Gruppe. »Mich würde zuallererst interessieren, wo wir eigentlich sind. Wenn ihr, wie ich vermute, ursprünglich in Kerak beheimatet wart, müsste das hier der Ort sein, an den ihr vor einem Vierteljahr verschwunden seid. Korrekt?« »Korrekt.« Bayan Saleh trat zu ihm. »Aber was den Ort selbst betrifft, sind wir ebenso auf Vermutungen angewiesen wie du. Er könnte identisch sein mit dem, an den unsere Kinder verschwunden sind. Und zwei weitere Personen, die schon vor mehr als einem Jahr nach Kerak kamen. Ein Mann mittleren Alters und eine betagte Frau, die dennoch überaus rüstig war. Wir verdanken ihnen den Sieg gegen eine übernatürliche Erscheinung.« »Paul und Nele«, sagte Zamorra. »Und die Erscheinung war ein entarteter Engel. Zumindest klang das in Neles Brief so, den sie uns schickte, bevor sie Kerak Richtung Eden verließ.« Nicole schluckte hörbar. »Dann könnte dies hier tatsächlich Eden sein? Aber wie kommt Eden dazu, uns samt Schloss an sich zu ziehen?« »Es muss mit Carrie zu tun haben – und mit dem, was sie an der Schlossmauer hinterließ«, sagte Zamorra. »Nachdem wir hier gelandet sind, würde ich mein Hab und Gut darauf wetten, dass unsere Kleine mit der Regenbogenhaut auch nicht weit ist.« Er wandte sich an Bayan Saleh. »Könnte es sein, dass euch ein kahlköpfiges Mädchen von zwölf Jahren, dessen Haut in allen Farben des Regenbogens leuchtet, bekannt ist?« Der Mann, der kurz zuvor gemeinsam mit seinen Brüdern William vor dem schon fast sicheren Tod bewahrt hatte, zögerte keinen Moment, sondern nickte. »Und könnte es sein, dass ihr die Menschen seid, bei denen sie untergekommen war?« Seine Miene hellte sich
auf. »Carries Freunde sind auch unsere Freunde. Ohne Carrie wäre alles anders gekommen. Ihr verdanken wir es, nicht längst versklavt oder umgebracht worden zu sein. Ich wünschte, wir hätten auch ihr helfen können. Ich wünschte, ich wüsste, wo sie jetzt ist …«
9. April 2012 Eden Während die Frauen sich um das Mädchen mit der auffälligen Hautfärbung kümmerten, das sein Bewusstsein noch nicht wieder erlangt hatte, beratschlagten die Männer, wie sie mit der Situation umgehen sollten. »Sie hat uns gerettet – zweifelt daran einer von euch?«, wandte sich Bayan an seine Brüder. Ab und zu warf er einen Blick zu den weiblichen Mitgliedern der Familie, die das Mädchen umringten, das sie offenbar allein kraft besonderer Fähigkeiten aus der Schusslinie der Rieseninsekten gebracht hatte. Um einen hohen Preis allerdings. Offenbar hatte die Aktion ihr eine immense Anstrengung abverlangt. Wafa und Zalay schüttelten den Kopf. Zalay sagte: »Wer mag sie sein? Sie kann nicht mit uns gekommen sein. Aus Kerak, meine ich. Von einem missgebildeten Kind mit diesen Merkmalen hätten wir gehört. Was meint ihr?« Das von Wafa verwendete Adjektiv missfiel Bayan, und er machte keinen Hehl daraus. »Nenn sie nicht missgebildet, ich bitte dich.« »Aber sie …«, setzte Wafa zu seiner Verteidigung an. »Ich weiß, du meinst es nicht böse. Aber es scheint mir … nun, un-
angebracht. Respektiere das. Vor allem, wenn sie wieder bei sich ist. Ich möchte nicht, dass sie sich verletzt fühlt, ganz egal, woher sie kommt.« Wafa nickte. Zalay ebenfalls. »Wir werden warten müssen, bis sie das Bewusstsein wiedererlangt – vorher werden wir nicht erfahren, wer sie ist und warum sie uns geholfen hat«, sagte Bayan. »Hoffentlich kann sie uns auch sagen, wo wir eigentlich sind.« Zalay rieb sich den Nacken. Er schwitzte, obwohl es nicht sonderlich warm war. »Hier sieht es ziemlich genauso aus wie dort, wo wir von den Insektenkriegern attackiert wurden. Verflucht, wo ist die Sonne? Von jedem Punkt der Erde aus ist sie bei wolkenlosem Himmel und bei Tag zu sehen – warum hier nicht?« Dazu hatte Bayan seine eigene Theorie – die er aber noch nicht auszusprechen wagte. Er sah sich um und dachte: Müsste ich es nicht spüren, wenn du hier wärst? Oh, Rami … Kurz tauchten auch die Gesichter seiner beiden Neffen, Naru und Aun, vor seinem geistigen Auge auf. Er liebte sie fast ebenso wie sein eigen Fleisch und Blut. »Bayan! Schnell!« Liwas Stimme. Er blickte zu der Gruppe, die das kahlköpfige, kunterbunte Mädchen umscharte. »Sie kommt zu sich!«
* »Verstehst du mich? Ich habe dich vorhin jedenfalls verstanden, als du uns aufgefordert hast, uns bei den Händen zu fassen. Wie heißt du?« Das Mädchen sah sich misstrauisch um. Wobei ihr Blick weniger den Salehs galt als der Umgebung.
Sie sucht nach den Insektenkriegern. Ihm wurde bewusst, dass er, im Gegensatz zu ihr, viel zu sorglos war. Dass sie den Ort verlassen hatten, an dem sich die Bewohner Keraks drängten und wo sie von den Ungeheuern attackiert worden waren, bedeutete schließlich nicht, dass sie da, wo sie jetzt waren, nichts mehr zu fürchten hatten. Vielleicht hatten die Insekten längst ihre Spur aufgenommen. »Carrie«, sagte das Mädchen. »Mein Name ist Carrie Bird. Wo befinden wir uns?« »Ich dachte, das könntest du uns sagen. Immerhin hast du uns doch hierher gebracht. Du erinnerst dich hoffentlich.« Carrie nickte, schränkte aber ein: »Ich bin immer noch ganz durcheinander. Da war dieses … dieses Ding, das mir vormachen wollte, es sei ein Mensch.« Sie schauderte. »Wovon redest du?«, mischte sich Wafa ein. »Was für ein ›Ding‹?« Carrie erzählte, wie sie gegen ihren Willen zu jemandem geholt worden war, der sie zuvor über Nächte hinweg in ihren Träumen heimgesucht hatte. Als der Name Nikolaus fiel, horchte Bayan auf. Einen Nikolaus hatte auch Nele Großkreutz erwähnt. Sie war im Grunde nur nach Kerak gekommen, weil sie hoffte, eine Spur von ihm zu finden. »Du kennst Nele?«, rief Carrie, als er ihren Namen fallen ließ. In knappen Sätzen berichtete er von der für seine Familie schicksalhaften Begegnung. Dabei erwähnte er auch ihren Begleiter. »Paul. Paul Hogarth.« Carrie erklärte, dass sie beide nur vom Hörensagen kenne. »Aber es müssen großartige Menschen sein.« Bayan konnte das nur bestätigen. »Und du bist jemandem begegnet, der von sich behauptete, wie der der von Nele Gesuchte zu heißen?«
Carries Miene verfinsterte sich. »Ich habe gleich gemerkt, dass es lügt. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber es konnte mich nicht überzeugen. Es versuchte, mein Vertrauen zu gewinnen. Ich hatte den Eindruck, es wollte mich aus der Reserve locken. Ich bin überzeugt, dass es mich hierher holte. Auch wenn es das bestritt. Letztlich verlor es aber die Geduld und ließ die Maske fallen. Plötzlich sah es gar nicht mehr menschlich aus.« »Sondern?« »Wie die Ungeheuer, die über euch herfielen.« »Riesige Heuschrecken?« Carrie nickte. »Wie konntest du ihm entkommen?« »Ich kann mich an ferne Orte wünschen.« Bayan begriff, dass er es nach Nele abermals mit jemandem zu tun hatte, der über übernatürliche Talente verfügte. Da er selbst mit einem magischen Stigma geboren worden war, genau wie seine Brüder, fiel es ihm leicht, es als Tatsache zu akzeptieren. Obwohl Carries Gabe fast noch bemerkenswerter war als die von Nele. »Einfach an ferne Orte wünschen – das klingt beneidenswert.« »Wenn es funktioniert, ja. Ich habe versucht, wieder dorthin zurück zu gelangen, von wo ich gegen meinen Willen entführt wurde. Das gelang mir nicht. Stattdessen landete ich bei euch. Vom Regen in die Traufe, dachte ich, als ich die Angreifer sah. Als ich euch dann mitnahm, so viele Personen auf einmal, ist mir die Sicherung durchgebrannt. Das hab ich noch nie probiert. Ich fürchte, ich hab mich übernommen.« »Du hast uns gerettet.« »Nicht der Rede wert.« Sie grinste. Bayan konnte nicht anders, als dieses Mädchen in sein Herz zu schließen. In diesem Moment rief Zalay: »Lauft! Sie haben uns gefunden!« Einen Steinwurf entfernt stürmten martialisch aussehende Riesen-
heuschrecken hinter Büschen und Bäumen hervor – und hielten genau auf sie zu.
10. Gegenwart »Carrie wurde von jemandem aus dem Château entführt, der sich als Neles alter Freund Nikolaus ausgab?« Nicole musterte Bayan Saleh skeptisch. »Ich verstehe nicht, was das für einen Sinn ergibt. Bist du sicher, dich nicht verhört oder etwas durcheinandergebracht zu haben?« Der Jordanier zuckte mit den Achseln. »Ich verlange nicht, dass ihr mir glaubt.« Zamorra versuchte zu vermitteln. »Wir glauben dir. Wir versuchen aber die Motive dieses … Dings, wie Carrie es nannte, zu verstehen. Offenbar war es nicht nur in der Lage, Carrie hierher zu holen, sondern auch, Carrie dauerhaft daran zu hindern, zu uns zurückzukehren. Drei Monate ist es her, dass sie aus dem Schloss verschwand. Wie lange war sie bei euch? Was geschah, als die Insektoiden euch fanden? Verschleppten sie Carrie? Wie seid ihr anderen ihnen entkommen?« Bayan schüttelte den Kopf. »Sie fanden uns nicht.« »Aber du warst gerade an der Stelle deiner Schilderung, als sie dort auftauchten, wo Carrie euch und sich selbst hingewünscht hatte. Versetzte sie euch erneut an einen anderen Ort?« Wieder schüttelte er den Kopf. Nicole gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Knurren hatte. Sie konnte ihre Ungeduld kaum bezähmen. »Was dann?«, fragte Zamorra.
»Sie behandelten uns, als wären wir Luft.« »Luft?« »Wir hatten den Eindruck, dass sie uns gar nicht sahen, obwohl wir ohne Deckung vor ihnen standen.« »Wie sollte das zugehen?« Bayan Saleh lächelte. »Das haben wir uns, nachdem sie uns ignoriert und weitergegangen waren, auch gefragt.« »Und? Habt ihr eine Erklärung?« »Heute ja. Damals nicht.« »Und sie lautet?« »Carrie. Jeder, den sie einmal mithillfe ihrer speziellen Gabe räumlich versetzte, fällt offenbar aus dem Wahrnehmungsraster der Schrecken. Warum das so ist …« Er zuckte mit den Schultern. »Aber wir erlebten es nicht nur an uns, unserer Familie, die sie zuerst rettete, sondern auch an anderen, die sie später aus der Gefangenschaft der Spezies befreite, die hier das Sagen hat.« »Die Schrecken sind intelligent – das vermutete ich bereits«, sagte Zamorra. »Und wenn sie die Herrscher über Eden sind – ich setze jetzt einfach mal voraus, dass wir uns in Eden befinden, auch wenn es mir nach wie vor absurd erscheint, dass das Château hierher versetzt wurde –, müssten sie auch hinter Carries Kidnapping stecken. Richtig?« Er blickte seine Zuhörer der Reihe nach an und merkte, dass kaum jemand bereit war, seiner Logik zu folgen. Nicht einmal Nicole. »Schöne Theorie«, sagte sie auch prompt. »Ich frage mich allerdings, wie sie damit zusammenpasst, dass Nikolaus bei seinem ersten Besuch sozusagen ›mit Geschenken beladen‹ wieder aus Eden fortgehen durfte. Waren da die Riesenschrecken noch gut? Wurden sie erst böse, nachdem Nikolaus ihnen den zweiten Besuch abstattete?« »Möglich wäre es«, sagte Zamorra. »Aber wahrscheinlich müssten wir die Insektoiden selbst befragen, um darauf eine verlässliche
Antwort zu bekommen.« »Das willst du jetzt aber nicht ernsthaft tun?« Er verzichtete auf eine Antwort. »Seid ihr hier Nele und Paul begegnet?« Bayan Saleh verneinte. »Hm. Und … euren Söhnen?« In den Augen des Jordaniers flackerte es auf. »Nein«, sagte er rau. »Obwohl wir uns bemüht haben, ihre Spur zu finden, das versichere ich dir. Anfangs mit Carries Hilfe. Doch das war nicht lange möglich.« »Du hast es schon angedeutet. Sie ist nicht mehr bei euch. Warum nicht? Was ist passiert?« »Eines Tages war sie einfach fort. Aber es kündigte sich an. Wir wussten nur nicht die Zeichen zu deuten, sonst hätten wir ihr vielleicht helfen können. Wie gerne hätten wir ihr wenigstens einen Bruchteil dessen, was wir ihr verdanken, zurückgezahlt!«
11. Eden wenige Wochen zuvor Nachdem die Insektenkrieger sie unbehelligt gelassen hatten, suchten sie gemeinsam einen Platz, wo sie ihr Lager aufschlagen konnten. In der Nähe entsprang ein kleiner Bachlauf, sodass sie mit dem Wichtigsten überhaupt versorgt waren, was sie für den Moment brauchten: mit Trinkwasser. Ihren Hunger stillten sie an exotischen Früchten und Beeren – aber erst, nachdem Carrie sicherstellte, dass sie ungiftig waren. Wie sie das tat?
Bayan Saleh und seine Familie staunten, als sie das Regenbogenmädchen zum ersten Mal auf diese Weise in Aktion erlebten: Nachdem eine große Menge unterschiedlichster Nahrungsmittel von den Bäumen und Sträuchern gepflückt worden und aufgehäuft worden war, ging Carrie hin und betrachtete sich das verlockende Angebot. Während sie es tat, verschwand die Ernte plötzlich. »Weg!«, keuchte Wafa. »Es ist weg!« Er hatte kaum ausgesprochen, da waren die Früchte und Beeren auch schon wieder da. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Inaya, Bayans Tochter. Sie war fast im selben Alter wie Carrie und fühlte sich offenbar von der potenziellen Freundin angezogen – umso mehr, da diese Freundin in spe über beneidenswerte Fähigkeiten verfügte. Carrie zuckte mit den Achseln, trat vor und nahm sich ein paar Beeren, die sie offenbar bedenkenlos nacheinander in den Mund steckte und jedes Mal, wenn sich der Geschmack entfaltete, verzückt mit den Augen rollte. »Ihr könnt zugreifen. Falls etwas davon giftig gewesen sein sollte, habe ich es geändert und genießbar gemacht.« »Wie?« Inaya trat neben Carrie und konnte sich gar nicht beruhigen. »Wie hast du das gemacht? Du hast sie nicht einmal berührt, bevor sie verschwanden!« »War nicht nötig«, erwiderte Carrie, wobei sie sich immer neue Früchte einverleibte. »Du wirst dir den Magen verderben, sei vorsichtig«, warnte Liwa und blickte ihren Mann an, als wartete sie darauf, dass er einschritt und das »unvernünftige Mädchen« vor Schaden bewahrte. Er winkte nur ab. »Lass sie. Sie weiß, was sie tut.« Carrie nickte ausgelassen. »Und ob. Greift endlich zu. Ich höre eure Mägen bis hierher knurren!« Bayan folgte ihrer Aufforderung als Erster. Und merkte, dass Carrie mit ihrem verzückten Mienenspiel nicht übertrieben hatte. Nie
hatte er etwas Wohlschmeckenderes gekostet. Jede Frucht, jede Beere hatte ihr eigenes Aroma, aber allen war gleich, dass ihr Genuss unglaubliche Glücksgefühle hervorrief. »Du kannst nicht immer alles für uns präparieren«, sagte Bayan später zu Carrie, als jeder sich gesättigt hatte. Arglos sah sie zu ihm hoch. »Wieso nicht?« Wie beneidenswert naiv. Weil wir nicht wissen, ob wir immer zusammen sein werden. Er brachte es nicht übers Herz, es laut auszusprechen. Aber er spürte, dass der Friede des Augenblicks nicht von Dauer sein konnte. Sie waren an einem fremden Ort voller Feinde. Und es beruhigte ihn nicht nachhaltig, dass die Riesenschrecken wie blind an ihnen vorbeigetappt waren. Über das Warum zerbrach er sich pausenlos den Kopf. Er hegte keine Zweifel, dass Carrie auch dabei die Hände im Spiel hatte – offenbar, ohne sich dessen selbst bewusst zu sein. Als es dunkel wurde (dunkel! – in einer Welt, die keine Sonne zu haben schien und von der sie geglaubt hatten, sie wäre ewig hell) und sie sich schlafen legten, ahnte auch Bayan nicht, wie schnell die Albträume Carrie wieder einholen sollten. Sie mochte dem Ding körperlich entflohen sein. Aber seinen mentalen Rufen und Lockungen war sie weiterhin schutzlos ausgeliefert.
* In sternenloser Nacht ließ Carries Schrei alle auffahren. Es hörte sich an, als hätte eine der Schrecken ihr ihren Waffendorn in die Brust gebohrt. Während die Frauen die Kinder beruhigten, eilten die Saleh-Brüder zu dem Regenbogenmädchen, das aufrecht auf seinem Bett aus fleischigen Blättern saß und wie einsames Licht inmitten völligen Dunkels wirkte. Carries Haut verströmte einen sanften Schimmer.
Einen matten Schein, der die Furcht, die sich in ihr Gesicht gemeißelt hatte, wie unter einem Mikroskop herausarbeitete. »Was ist? Schlecht geträumt?« Das Mädchen war schweißgebadet. Carrie nickte. »Ich dachte, ich wäre es los.« Sie hatte von der Stimme erzählt, die sie schon in der Welt draußen heimgesucht und von der sie glaubte, letztlich auch hierher gezwungen worden zu sein. Bayan fröstelte unwillkürlich, als er sich das in Erinnerung rief. Er winkte Liwa herbei; stattdessen kam Inaya gerannt und setzte sich zu Carrie, legte wie eine kleine Schwester den Arm um die große, spendete intuitiv die Art von Trost, zu der Erwachsene in den seltensten Fällen noch fähig waren. Wäre der Grund nicht zu ernst gewesen, hätte Bayan über das Bild schmunzeln müssen. Inaya und Carrie waren äußerlich komplett verschieden, aber auf einer schwer zu beschreibenden Ebene wirkten sie auch unglaublich vertraut, trotz der kurzen Zeit, die sie einander kannten. »Hat es dich wieder gerufen?«, fragte er, nachdem Carrie sich etwas beruhigt zu haben schien. Das Regenbogenmädchen nickte. »Ich träumte von diesem Nikolaus, der zur Schrecke wurde und mich mit seinen Fängen an sich riss.« »Vielleicht sind es nur noch Nachwehen deiner alten Träume«, sagte er, ohne rechte Überzeugung. »Du wurdest, genau wie wir, aus deiner vertrauten Umgebung gerissen. So was geht nicht spurlos an einem vorbei. Auch ohne Mächte, wie sie dir zu schaffen machen, hättest du Mühe, das alles zu verarbeiten.« Carrie blickte ernst zu ihm. »Danke. Ich weiß, dass du es gut meinst, aber … da ist mehr. Es hat mich nicht aufgegeben. Es will mich immer noch.« Bayan sah, dass auch Inaya, die alles mit anhörte, eine Gänsehaut
bekam. Trotzdem hielt sie wacker neben dem Regenbogenmädchen aus. »Versuch, noch einmal einzuschlafen.« Carrie schüttelte den Kopf. »Aber du brauchst ebenso Ruhe und Erholung wie jeder von uns. Wenn es hell ist, sieht die Welt wieder anders aus.« Bayan wusste, dass das hohle Worte waren. Aber Carrie nickte. »Schlaft«, sagte sie. »Ich werde es auch versuchen.« Bayan durchschaute sie ebenso mühelos, wie sie ihn durchschaut hatte. Den Rest der sternenlosen Nacht tat auch er kein Auge mehr zu.
* In den folgenden Tagen und Wochen fand Carrie ihre Befürchtung bestätigt, dass sie innerhalb der seltsamen Sphäre, in die sie geraten war, offenbar beliebig springen konnte, aber es nicht schaffte, in die Welt außerhalb zurückzukehren. So sehr sie es sich auch wünschte. Sie sehnte sich nach dem Château, nach den Menschen, die ihr dort eine neue Heimat geschaffen hatten, angefangen bei der Köchin, bis hin zum Schlossherrn, dem Professor, der sein Leben dem Kampf gegen Dämonen und anderes Höllengezücht verschrieben hatte. Wenn ich ihm wenigstens ein Zeichen schicken könnte. Ein klitzekleines Zeichen …! Mit Inaya sprach sie manchmal über die Dinge, die sie bedrückten. Und Inaya erzählte, dass es ihr nicht viel anders ging. Auch sie war dem Ort entrissen worden, den sie als Heimat definierte. Auch sie hatte Schreckliches erlebt, wie Carrie erfuhr. Die Entführung ihres kleinen Bruders, Rami, und dessen schlussendliches Verschwinden an der Hand der Fremden, die sich Nele Großkreutz nannte. Er und seine Cousins Aun und Naru waren nach Eden entschwunden, einem Ort, der bis dato völlig irreal für Inaya gewesen war. Ihre kind-
liche Vorstellungskraft hatte nicht ausgereicht, auch nur eine vage Idee davon zu entwickeln, was Eden sein sollte. Und jetzt war sie hier. Genau wie Carrie. Wie oft in den letzten Monaten hatte sie sich ihr langweiliges Leben vor ihrer Bekanntschaft mit dem Übernatürlichen zurückgewünscht? Wie oft hatte sie sich nach Mum und Dad zurückgesehnt. Aber der Kraft ihrer Wünsche und Sehnsucht waren klare Grenzen gesetzt. Es würde nie mehr so sein, wie es einmal gewesen war. Wann immer sie an diesem Punkt anlangte, tauchte das Château vor ihrem inneren Auge auf. Nach London hatte sie endlich wieder ihr Glück gefunden gehabt, sich hinter den trutzigen Schlossmauern sicher und geborgen gewähnt. Bis die Stimme nachts zu ihr gesprochen hatte. Das Ding, von dem Carrie immer noch nicht genau wusste, was es eigentlich war. Nur dass es ihr in Gestalt eines jungen Mannes und eines insektenhaften Ungeheuers begegnet war. Vor dem Ungeheuer war sie geflüchtet und hatte die Salehs getroffen. Aber das genaue Wesen dessen, was an ihr zerrte, kannte sie immer noch nicht. Genauso wenig wie die Motivation, die es Jagd auf Carrie machen ließ. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie sich mit Bayan Saleh, Inayas Vater, auf die Suche nach den anderen ehemaligen Bewohnern Keraks machte. Zu ihrer Erleichterung bestätigte sich die schlimmste Befürchtung nicht, dass sie alle von den Insektenkriegern gemeuchelt worden waren. Aber sie wurden wie Tiere, auf engstem Raum zusammengepfercht, gehalten und nur mit dem Allernotwendigsten an Nahrung und Wasser versorgt. Beim Anblick der Geknechteten fasste Carrie einen spontanen Ent-
schluss. Und noch am selben Tag befreite sie die ersten Frauen und Kinder aus der Gefangenschaft.
* Carries Tun blieb den Insektenwesen nicht lange verborgen. Und auch unter den ehemaligen Bewohnern Keraks entstand Unruhe, als immer neue Personen verschwanden, nachdem ein Mädchen mit Haut in den Farben des Regenbogens zwischen ihnen aufgetaucht war. Sofort schwärmten Heerscharen von Kriegern aus, um die Gegend nach den Flüchtlingen zu durchkämmen. Dabei wurde auch die Gegend durchstreift, in der die Salehs und Carrie sich ein provisorisches Zuhause errichtet hatten – und wohin Carrie nun auch die Befreiten brachte. Unter großer Anspannung warteten alle darauf, von den Insektenwesen entdeckt und gestellt zu werden. Doch wieder waren die Sinne der Eden-Spezies nicht in der Lage, die Geflüchteten wahrzunehmen – obwohl es ihnen bei den weiter Eingepferchten offenbar mühelos gelang. »Es muss an dir liegen, Carrie«, sprach Bayan sie direkt darauf an, nachdem die Patrouille wieder abgezogen war. Nicht einmal den groben Bauten, die von den Salehs aus den Ästen und Blättern umstehender Bäume errichtet worden waren, hatten sie Beachtung geschenkt. »Sobald du Menschen mit deiner Gabe hilfst, scheint es eine Art Stempel zu hinterlassen, der sie davor schützt, länger von den Mächtigen dieser Sphäre behelligt zu werden.« Carrie fand zwar keine bessere Erklärung für das Phänomen, wies aber darauf hin: »Und was ist mit den Sachen hier? Den Unterkünften, die ihr errichtet habt? Wie kann man das übersehen?« »Du hast bei ihrer Errichtung mitgeholfen.«
»Aber ich habe nicht alles angefasst, geschweige denn mit meiner Gabe berührt.« Bayan zuckte ratlos mit den Schultern. »Einer von uns hat es immer, nichts fand von selbst an seinen Platz.« »Was willst du damit sagen?« »Dass vielleicht die, die du durch deine Kräfte ›unsichtbar‹ für die Insektenwesen gemacht hast, dies an alles weitergeben, was sie selbst anfassen.« Er sah zu den Unterständen, von denen einige schon fast wie primitive Hütten aussahen. »Die Monster sehen die Landschaft hier vermutlich, als wäre sie unberührt – wir, und alles, was wir bauen, dringen nicht an ihre Sinne.« »Wenn das so ist, werde ich weitermachen. Und nicht aufhören, bis auch der Letzte befreit ist.« Bayan nickte. »Du solltest trotzdem Vorsicht walten lassen. Hier ist genug Platz für Tausende. Und der Urwald bietet mehr als genug Nahrung für alle, dazu das Wasser …« Er blickte zu dem Bach, der in der Nähe plätscherte. »Das alles passt, und ich gönne jedem die Freiheit. Ich hoffe nur, dass alle sie auch zu schätzen wissen und keinen Streit vom Zaun brechen.« Carrie schien zu verstehen, was er damit meinte. »Ja«, sagte sie. »Das hoffe ich auch.« In der Folgezeit befreite sie nach und nach sämtliche Gefangenen. Nie wurde sie behelligt. Die Insektoiden fanden einfach kein Mittel gegen sie. Doch jede Nacht wurde zur ärgeren Prüfung für Carrie. Jede Nacht wurde der Ruf stärker, der sie schon einmal ereilt hatte. Und irgendwann hielt sie ihm nicht mehr stand. Irgendwann war das Bett aus Blättern, auf das sie sich zum Schlafen niedergelegt hatte, morgens leer – ohne dass sie sich davon erhoben hätte.
12. Gegenwart »Dann hat dieselbe Macht, die Carrie vor drei Monaten aus dem Schloss entführte, sie auch wieder von euch weggeholt«, resümierte Zamorra das Gehörte. »Dann ist sie wieder bei dem ›Ding‹, wie sie es nannte. Dem Ding, das sie mit menschlichem Aussehen zu narren versuchte und sich ihr, als das scheiterte, in Gestalt eines dieser Insektenwesen zeigte.« »Was auch nicht seine wahre Gestalt sein muss«, sagte Nicole. »Nein«, stimmte Zamorra ihr zu, »das muss es nicht. Aber es ist unser bislang einziger Anhaltspunkt, was die wahre Natur unseres Gegners angeht.« Nicole legte die Stirn in Falten. »Und wenn Carrie sich ebenso hat täuschen lassen, wie wir gerade dabei sind, ihm auf den Leim zu gehen?« »Wem?« »Nikolaus«, sagte sie. »Was, wenn er sich seit seinem zweiten Auftauchen hier zum Herrscher über Eden aufgeschwungen hat, unterstützt und getrieben womöglich von dem, was er aus London mitbrachte?« »Das, was schon den Engel infizierte, der den Zugang bewachte?« Sie nickte. »Es könnte die Saat gelegt haben, um das, was Eden Ende des 13. Jahrhunderts regierte, schachmatt zu setzen. Seither könnte Nikolaus – beziehungsweise das, wozu das London-Böse ihn hat mutieren lassen – das einstige Paradies beherrschen.« Zamorra rieb sich den Nacken. »Ausschließen können wir es nicht. Vielleicht steckt der echte Nikolaus tatsächlich irgendwo in dieser Sphäre, genau wie übrigens Nele und Paul.« »Und die Kinder unserer Freunde.« Sie nickte zu Bayan hin.
»Rami, nicht wahr? Rami, Nuri und Aun.« Bayan schenkte ihr einen langen Blick, als wollte er sich dafür bedanken, dass sie die Söhne der Familie nicht vergessen hatte. Zamorra nutzte die Gelegenheit, um nach William zu schauen. Der Butler war weitestgehend genesen und stand schon wieder aus eigener Kraft auf seinen Beinen. Trotzdem machte er einen ungewohnt lädierten Eindruck. Die dschungelartige Umgebung passte einfach nicht zu seiner Livree. »Wir müssen Carrie finden«, sagte Zamorra, als er zu Nicole und dem Jordanier zurückkehrte. »Sie oder Nele – am besten beide. Ich wüsste nicht, wie wir ohne sie jemals wieder in die Welt gelangen sollen, aus der wir stammen. Das Château inbegriffen.« Die Erwähnung des Schlosses, in dem sie nach Eden versetzt worden waren, schien Nicole die wahre Größe der Aufgabe, die noch vor ihnen lag, erst bewusst zu machen. Sie seufzte tief. Im nächsten Moment dröhnte Gelächter auf. Dröhnendes, unmenschliches Gelächter, als würde jedes Molekül der Luft sich plötzlich in einen Lautsprecher von unglaublicher Stärke verwandeln – gleichzeitig aber auch wie ein Messer im Kopf, eine Klinge, die sich mit der zermalmenden Kraft von hundert MigräneAttacken ins Gehirn bohrte. Und aus dem Gelächter wurden Worte, wurde Drohung. »GENUG GESPIELT! ICH HOLE EUCH JETZT!«
* Mit den Augen des Gottes, der sie geißelte, sah Carrie, wie Cahhjwa sein Heer entsandte und das, wie er es nannte, Spiel beendete. Er zwang sie, zuzusehen, wie die Cambronen auf das Gebiet hinabstießen, in dem es sich die früheren Bewohner Keraks sicher vor Nachstellungen wähnten. Aber Cahhjwas Wege waren unergründlich. Er hatte auch Carrie
genarrt. Hatte ihr die Illusion vermittelt, ihm entkommen zu können – um sie beim nächsten Mal umso vernichtender in ihre Schranken zu weisen. Inzwischen wusste sie, dass niemand sie gerufen hatte. Keine Person. Auch Cahhjwa nicht. Etwas hatte sie nach Eden gezerrt. Und dieses Etwas erfüllte auch Cahhjwa bis in sein innerstes Wesen. Genaugenommen waren sie beide Opfer. Aber was spielte das noch für eine Rolle? Carrie sah, wie die Cambronen Zamorra packten. Und Nicole. Und Bayan, Wafa, Zalay. Jeden von Bedeutung. Jeden, der Cahhjwa, und damit dem Ungeheuer, das er geworden war, etwas zu geben vermochte. Das ihn noch mächtiger, noch unbesiegbarer und damit unaufhaltbar machte …
* Zunächst hielt Zamorra das Rauschen, das dem Dröhnen der Megastimme folgte, für deren Echo, das sie hinter sich herzog wie einen lärmenden Kometenschweif. Doch dann zeigte einer der Kerakianer zum Himmel, und er sah den Schwarm, der alle Schwärme, die er je gesehen hatte, in den Schatten stellte. »Was sind das für Vögel?«, entfuhr es Nicole, die nun auch dorthin blickte. »Keine Vögel«, sagte Zamorra. »Heuschrecken. Hunderte, vielleicht Tausende Riesenheuschrecken!« Sekundenlang herrschte lähmendes Schweigen. Dann keuchte Bayan: »Warum haben sie nicht schon bei früheren Gelegenheiten gezeigt, dass sie des Fliegens mächtig sind?«
Als niemand antwortete, befahl er: »Die Pfeifen! Schnell! Setzt die Pfeifen ein!« Wie schon bei dem kurzen Einsatz im Château sah Zamorra, wie etliche Kerakianer flötenartige Instrumente zückten und hineinbliesen, ohne dass der geringste Ton zu hören war. Nicht für unsere Ohren jedenfalls. Aber sie scheinen zu wissen, was sie tun. Irgendjemand muss herausgefunden haben, dass die Schrecken auf bestimmte Hochfrequenzen mit Verwirrung reagieren, man sie damit in die Flucht schlagen kann! Aber aus irgendeinem Grund funktionierte es heute nicht. Der Schwarm näherte sich völlig unbeeindruckt. Genug gespielt!, rief sich Zamorra in Erinnerung, was die Megastimme gebrüllt hatte. Sollte alles, was sie seit ihrer Ankunft in Eden erlebt hatten, nur inszeniert gewesen sein? Auch schon vieles vor ihrer Ankunft? Waren Bayan und seine Leute gezielt in dem Glauben gehalten worden, ihren Häschern entronnen zu sein? Er riss sich das Netz von Kopf und Körper, das seit ihrer Flucht aus dem Château verhinderte, dass die Herren von Eden sie aufspüren konnten. Die Netze gingen angeblich auf Carrie zurück, die sie mit ihrer Gabe quasi »gesegnet« hatte, bevor sie verschwand. So hatte Bayan es erklärt. Aber Bayan irrte offenbar nicht nur darin. Was für ein groß angelegter, perfider Betrug, dachte Zamorra. Dann zerrte er die einzige Waffe unter dem Hemd hervor, auf die hoffentlich noch Verlass war – auch wenn sie den unangenehmen Nebeneffekt hatte, dass sie von den Kräften ihres Nutzers zehrte. Hier in Eden deutlich stärker als in der Welt, in der Zamorra heimisch war. Aber darauf durfte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Der Schwarm setzte zur Landung an. »Was hast du vor?« Nicoles mit schriller Stimme vorgebrachte Frage war rhetorisch.
Zamorra aktivierte den Waffenmodus. Zamorra feuerte Silberblitze gegen die geflügelten Angreifer. Doch keiner der Strahlen fand sein Ziel. Der Herr und Schöpfer der Geflügelten wollte es nicht …
* Die Schüsse zerplatzten an einer unsichtbaren Barriere. Aber nicht alle. Einer wurde wie von einem unzerstörbaren Spiegel zu seiner Quelle zurückgeworfen – und schleuderte Zamorra die Silberscheibe aus der Hand. Sofort tauchte ein Schemen auf und fischte sich das Amulett aus dem Gras. Zamorra hatte das Gefühl, Flammenhände zu besitzen – wie die Salehs. Doch Merlins Stern hatte das meiste der Strahlenergie abgefangen und kompensiert. Nach einer Schrecksekunde hatte sich Zamorra wieder soweit gesammelt, dass er der Flugschrecke die Suppe versalzen konnte. Glaubte er. Er rief das Amulett zurück. Doch der Geflügelte gab die Beute nicht frei. Im Gegenteil. Er verschwand plötzlich, als hätte er eine Pforte benutzt, die menschlichen Augen verborgen blieb. Verschwand samt Amulett. Wieder dröhnte Sinne betäubendes Gelächter. Dann waren die Schrecken gelandet. Gegenwehr war zwecklos. Es waren zu viele, sie waren zu stark, und sie hatten natürliche Waffen, die jeden Widerstand im Keim erstickten. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit bohrte sich ein giftiger Dorn in Williams Körper. Für Zamorra, Nicole und andere hingegen war es traurige Premiere.
* Im Gespinst der Nervenfäden Cahhjwas verfolgte Carrie den Untergang der Freunde. Sie hatte vergessen, wozu ihre Gabe sie einmal befähigt hatte. Der Druck des Gottwesens auf ihren Geist wurde von Tag zu Tag stärker, erstickte nach und nach ihre Individualität, und schon jetzt gab es Momente, in denen sie glaubte, Cahhjwa zu sein. Von ihrem Kokon aus konnte sie andere Nervenknäuel sehen und darin die Umrisse von Menschen, denen es so ergangen war wie ihr. Vielleicht würde Cahhjwa ihr eines Tages verraten, um wen es sich handelte. Jedes Mal, wenn sie jetzt darüber grübelte, verliefen sich ihre Gedanken im Nichts. Cahhjwa dehnte seine Kontrolle über sie aus. Cahhjwa kämpfte an vielen Fronten. Und überall triumphierte er früher oder später, scheinbar nach Belieben …
* Als Zamorra zu sich kam, füllte flüssiges Feuer seine Bauchhöhle, dort wo der Dorn in ihn gedrungen war. Sein Blick war zuerst verschwommen wie bei einem Fehlsichtigen, dem die Brille abhandengekommen war. Doch nach einer Weile kehrte die gewohnte Sehkraft zurück. Die Benommenheit hingegen blieb. Als hätte er Fieber. 40 Grad oder mehr. Der Dorn steckte nicht mehr in ihm, dafür anderes: Unzählige garndünne Fäden, die ihn auch umsponnen. Als wäre er einer überdimensionalen Spinne ins Netz gegangen, deren Biss Enzyme in seine Blutbahn gebracht hatte, die dafür sorgten, dass sich seine inneren Organe langsam auflösten, vorverdaut wurden …
Er war einiges gewohnt, aber das Grauen seiner jetzigen Lage ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Seine vorrangige Sorge aber galt Nicole. Er blickte sich um. Zwielicht erfüllte den höhlenartigen Raum, dessen Wände aber nicht aus Fels, sondern aus etwas Holzigem bestanden. Die Stelle wiederum, an der Zamorra klebte (anders konnte er es nicht ausdrücken), gehörte eindeutig zu etwas … ja, Lebendigem. Und die Fäden, die ihn durchbohrten, kamen aus dem klobigen, walgroßen Körper, der nur aus eben dem zu bestehen schien: Körper. Haut, die wie aus unzähligen, überlappenden Schuppen zusammengefügt wirkte, aber trocken war, nicht feucht. Rau, nicht glatt. Wie ein gestrandeter Wal, blieb Zamorra bei seinem Vergleich. Da waren keine Extremitäten, kein erkennbarer Kopf; es gab kein vorne oder hinten, oben oder unten, das sich an körperspezifischen Merkmalen festmachen ließ. Und doch wusste – spürte – Zamorra, dass das riesenhafte Ding lebendig war. Er hatte das Gefühl, den dumpfen Herzschlag der Kreatur bis in sein Fadengefängnis zu fühlen. WOMBA! – WOMBA! – WOMBA … Wie ein dunkler Gong hallte der Puls durch ihn hindurch, stimulierte den Schmerz, der in ihm tobte. Er reagierte darauf wie ein lebender Seismograf. Endlich fanden seine Blicke einen anderen Kokon. Er wirkte unfertig, und durch die Lücken konnte Zamorra erspähen, was sich darin befand: ein Körper, zweifellos menschlich wie er, nur kleiner, zierlicher, und obwohl die Haut von ihrer Farbenpracht eingebüßt hatte, fast grau wirkte, gab es keinen Zweifel an der Identität. Der Schock der Erkenntnis ließ ihn die eigene Misere vorübergehend vergessen. »Carrie …!«, ächzte er. Heiser löste sich der Laut von seinen Lippen.
Täuschte er sich, oder standen Carries Augen tatsächlich offen? Und blickten sie nicht in seine Richtung? Wogte nicht dumpfe Verzweiflung darin, Zeichen ihrer Selbstaufgabe und völligen Kapitulation? »Carrie!« »Professor …« Sie hatte ihn auch erkannt, war noch in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen. Zamorra fragte sich, ob sie auch aufgespießt worden war, bevor sie hier landete. Vom Hals abwärts war sein Körper taub, er spürte nicht einmal mehr seine Hände. »Du hättest nicht … kommen dürfen«, wisperte Carrie. Hatte ich eine Wahl? Er sprach es nicht laut aus, obwohl er immer noch überzeugt war, dass Carrie nicht schuldlos am Transfer des Schlosses nach Eden war. Aber falls sie damit zu tun hatte, schien es ihr nicht bewusst zu sein. »Kein guter … Ort«, gab er zurück. »Die Insektenbiester … haben uns … erledigt. – Dich auch?« Ihr Kopf wackelte, als wollte sie ihn schütteln. Völlig ermattet sagte sie: »Die Cambronen sind … nur Diener. Werkzeuge.« »Cambronen?« »Die Schrecken.« Zamorra horchte auf. »Und wem … dienen sie?« »Ich dachte … das wüsstest … du …« Diesmal wackelte er mit dem Kopf. »Du kennst … Cahhjwa nicht?« »Cahhjwa?« »Den Erbauer … von Eden …« Von Carrie drang ein hysterisches Kichern zu ihm herüber. Als sie sich wieder beruhigt hatte, wiesen ihm ihre Augen die Richtung, in die er blicken sollte. »Ihn. Wir … sind ihm … ganz nah …«
Das war der Moment, in dem sich Cahhjwa ihm zuwandte.
* In Zamorras Gedanken mischten sich urplötzlich fremde, die ihn zum Erzittern brachten. Selbst den Gedanken des Giganten haftete etwas eitrig Krankes an, und Zamorras Furcht, selbst davon angesteckt zu werden – wenn er das nicht längst war –, wuchs für einen Moment ins Bodenlose. Er musste sich zwingen, kühlen Kopf zu bewahren. Kühlen Kopf, während ich brenne. Er übte sich in Sarkasmus, und erstaunlicherweise half das. Cahhjwa!, dachte er so intensiv, dass ihm der Schädel zu zerspringen drohte. Gib uns frei! Er hatte das Gefühl, dass das aufbrandende Gelächter nur in seinem Kopf stattfand. Nur für ihn bestimmt war. Er versuchte, gedanklich zu vermitteln, dass er die Motive der ihm entgegen schlagenden Feindseligkeit nicht verstand. »Wir trinken aus dir. Deine Lebenskraft ist von besonderer Note.« Die Klarheit der Aussage überwältigte ihn sekundenlang. Er hatte nicht damit gerechnet, nicht so schnell jedenfalls, in eine echte Kommunikation mit Cahhjwa treten zu können. Cahhjwa – der ihm im nächsten Moment Bilder schickte, die seine Motive unumwunden darlegten. Bilder, die Zamorra, die Haare zu Berge stehen ließen, denn sie bestätigten, was er seit dem jüngsten Anruf Ada Jarrahs befürchtete: dass Kerak erst der Anfang einer Entwicklung war, die zum Ziel hatte, noch ganz andere Bereiche der Welt unter Kontrolle zu bringen. Aber selbst das war noch nicht die ganze Wahrheit. Cahhjwa beabsichtigte, Eden zu öffnen und mit der normalen Welt
zu verschmelzen, so wie es einst, vor urlanger Zeit, schon einmal der Fall gewesen war. Cahhjwa strebte die Weltherrschaft an, an der er in den Äonen davor nie ein Interesse gezeigt hatte. Die Bilder erklärten auch dies. Und sie offenbarten, wer Cahhjwa war. In dem Augenblick, als dies geschah und ins Begreifen Zamorras gesickert war, wusste er, dass er es mit einer Art von Gegner zu tun hatte, der sich keine Fehler leisten würde – und der faktisch nicht besiegbar war. Dass Cahhjwa ihm das Amulett abgenommen hatte, wirkte plötzlich nebensächlich. Nicht einmal damit, ahnte er, hätte er etwas ausrichten können. Nicht gegen einen Gott als Widersacher.
* Nachdem Cahhjwa ihm seine Pläne offengelegt hatte, drängten andere Bilder in Zamorras Gehirn. Eingesponnen in Kokons, wie auch ihn einer in Ansätzen umfing, erhielt er Eindrücke von Personen, die ihm nahestanden und Cahhjwa ebenfalls zum Opfer gefallen waren. »Nele«, rann es über seine Lippen. »Paul. Nicole, die Salehs-Bayan, Zalay, Wafa. Und Naru, Aun, Rami.« Ganz zuletzt tauchte das Gesicht Carries wie hinter Spinnweben auf. Zamorra erinnerte sich, unter welchen Umständen er sie kennengelernt hatte. Von welcher Macht sie vor einem Jahr noch besessen gewesen war. Das Böse unter dem Tate. Das Böse, das London aus der Welt herausgeschnitten und unsägliches Leid über die Bewohner gebracht hatte. Auch über Carrie. Die sich mit etwas infiziert hatte, das eine unselige Allianz mit den Regenbogenblumen in ei-
nem Garten in den Highgate Woods eingegangen war. Eine Entartung, die Carrie wie durch ein Wunder besiegt und sich davon befreit hatte. An diesem Punkt seiner Erinnerung schien sich ein Schalter in seinem Kopf umzulegen. Adrenalin schoss in solcher Menge durch seine Adern, dass es ihm gelang, Cahhjwas Sendungen zurückzudrängen. »Carrie!«, krächzte er, der Kehlkopf durchbohrt von einem der Fäden, die ihn mit Cahhjwas Nervensystem verbanden. Sofort spürte er den Druck, der von dem Wesen ausging, so, als wüsste es bereits, was er vorhatte – und wolle es um jeden Preis verhindern. »Carrie! Du musst springen!« Ihr hoffnungsloser Blick änderte sich nicht. Dennoch gab sie Antwort: »Kein Weg … führt aus Eden … heraus … Kann nicht … Hab’s versucht …« Zamorra hatte das Gefühl, als würde sich eine glühende Nadel in seinen Rachen bohren. »Egal! Das ist völlig … egal! Spring einfach! Sofort! Aber du musst … ihn mitnehmen!« Jetzt, spätestens jetzt, drang Cahhjwas Geist bis in den Winkel vor, in dem Zamorra seine Idee zu verstecken suchte. Die ganze Absicht und Hoffnung dahinter. Carrie reagierte nicht. »Tu – es!« Es waren Zamorras letzte Worte. Bevor Cahhjwa wie tollwütig neue Fäden in seinen Körper bohrte, in seine Brust, diese das Herz umschlangen und … es zum Stillstand brachten.
Epilog
Noch bevor er die Augen aufschlug, merkte er, was sich unter seinen Händen befand. Er lag weich. Er lag bequem. Und jemand hatte ihm das Amulett auf der Brust platziert, die Fingerspitzen darauf gelegt … Er glaubte nichts von alledem, wähnte sich immer noch sterbend. Letzte Zuckungen eines Gehirns, in dem mit hauchdünnen Tentakeln gewühlt wurde. Cahhjwa! Der Gedanke ließ seine Lider aufspringen. Jemand huschte heran. Nicole. Er brauchte unsäglich lange, bis er verstand, dass er nicht länger eingesponnen in etwas war, das Bestandteil eines Körpers war, der einem … einem Gott gehörte. »Du siehst erholt aus«, sagte Nicole und lachte. Ihre Hand schob sich über seine Hände, die das Amulett drückten. »Ich dachte mir schon, dass dein Spielzeug dazu beiträgt, dass du ganz schnell wieder zu dir kommst.« Wie sie redete. Als wäre nichts, nicht das Geringste geschehen. Als wäre er nicht gerade gestorben, umgebracht worden von einem »Wo ist es?« Er schob ihre Hand von sich, richtete sich auf. »Es?« »Das Schöpferwesen! Es hat uns …« So wie gerade seine Gedanken, stockte nun auch seine Stimme. »Es hätte uns alle umgebracht – oder sich einverleibt«, sagte Nicole und nickte. »Wie immer man es nennen will. Aber deine Idee war Gold wert. Sie hat uns gerettet. Sie hat alle und alles gerettet.« »Wovon redest du?« Nicole setzte sich neben ihn auf den Bettrand. »Carrie. Die Kleine hat den Planeten gerettet. Uns eingeschlossen.« Langsam kehrte die Erinnerung an das zurück, was ihm über die
Lippen gekommen war, als schon keine reelle Chance mehr bestanden hatte, dass doch noch alles zum Guten gewendet werden könne. »Sie hat es getan? Sie ist – gesprungen?« »Auf ihre ganz spezifische Art.« Nicole nickte. »Als wäre sie eine Regenbogenblume, die keine ›Gegenstation‹ braucht, um sich an andere Orte zu versetzen. Dabei hat sie Jachhwa mitgenommen. Und uns, die wir daran klebten, auch. Es war wie damals, als sie mich aus London ins Château wünschte – und ich durch den Sprung von dem Befall entarteter Zellen befreit wurde. Nur war das, was sie diesmal heilte, um einiges größer.« Sie verdrehte die Augen. »Du hast es nicht gesehen – was wir in der Höhle sahen, war nur die Spitze des Eisbergs. Jachhwa ist so gewaltig, dass es mir den Atem verschlug.« »Du sagst andauernd Jachhwa – nicht Cahhjwa. Wieso?« »Cahhjwa nannte sich das, was die Infektion, die Nikolaus nach Eden brachte, aus Jachhwa machte. Cahhjwa war sozusagen die pervertierte Ausgabe von Jachhwa. Doch nach seiner Heilung …« »Er wurde tatsächlich von dem, was ihn entarten ließ, komplett befreit?« »Er durchlief während des Transfers, den Carrie einleitete, eine Katharsis unvorstellbaren Ausmaßes und war direkt danach nicht mehr wiederzuerkennen. Zu unser aller Glück. Ich glaube nicht, dass er dich sonst reanimiert hätte.« »Reanimiert? Ich war …?« »Mausetot.« Die Lockerheit, mit der sie darüber sprach, entsprang zweifellos dem tiefen Glücksgefühl, dass er dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte und noch einmal von der Schippe gesprungen war. Er ließ es auf sich wirken. Alles. »Und wo ist Carrie jetzt? Wo sind wir?« Er sah sich in dem vertrauten Raum um, der zweifellos ihr gemeinsames Schlafzimmer im
Schloss war. »Immer noch in Eden, oder …?« Sie schüttelte den Kopf. »Das Château macht seinem Namen wieder Ehre und steht auf seinem alten Platz in Bergeshöhen. Schöne Aussicht inbegriffen.« »Wir müssen ganz schön für Wirbel gesorgt haben. Im Dorf, meine ich. Wie lange waren wir weg?« Nicole lächelte. »Nicht sehr lange. Aber das mit dem Wirbel stimmt.« »Gibt es die Regenbogenranken noch? Apropos – hast du mit Carrie gesprochen? Hat sie dir verraten, wie alles zuging, dass wir samt Schloss nach Eden entführt wurden? Mitten rein in den Riesenschlamassel?« Nicole schüttelte den Kopf, was sich, wie sich herausstellte, auf die erste seiner Fragen bezog. »Die Ranken sind verschwunden. Carrie kündigte es mir an. Die Ranken waren Vorkehrungen, die ihr Unterbewusstsein im Bündnis mit ihrer Gabe traf – als die Albträume begannen und sie schon früh fürchtete, irgendwohin ›geholt‹ zu werden. Das Schloss – wir! – erklärte sie mir, waren zu ihrer Zuflucht geworden, mit der sie Geborgenheit und – trotz aller Vorkommnisse – ein Höchstmaß an Schutz und Sicherheit verband. Als sie in Eden in die Gewalt des entarteten Schöpferwesens geriet, klammerte sich ihr Unterbewusstsein an das, was Carrie am Schloss zurückließ – die Ranken. Die Ranken übten die Funktion von Regenbogenblumen aus und versetzten uns samt dem Château nach Eden. Eine unbewusste Rettungsmission sozusagen, die Carrie einleitete, als sie nicht mehr fähig war, Eden aus eigener Kraft zu verlassen. Die Ranken arbeiteten wie Verstärker ihrer Gabe. Irgendwas in der Art.« »Und wo ist Carrie jetzt? Kann ich sie sehen?« Zum ersten Mal seit seinem Erwachen huschte ein Schatten über ihr Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. »Nein?« Er war irritiert. »Heißt das etwa …« »Das nicht. Um Gottes willen. Es geht ihr gut. Aber sie ist in Eden
geblieben. Es war ihr eigener Wunsch. Vorläufig zumindest.« Zamorra musterte sie ungläubig. »Warum?« »Das wollte ich auch von ihr wissen. Aber eigentlich …« »Eigentlich was?« »… kannte ich die Antwort, bevor Carrie sie mir gab.« Zamorra wartete ungeduldig auf die noch ausstehende Erklärung. »Wenn du bei dir gewesen wärst, als wir uns noch in Eden aufhielten, nachdem aus Cahhjwa wieder Jachhwa geworden war, wüsstest du, was Carrie zu ihrem Entschluss bewog. Ehrlich gesagt … musste auch ich mit mir ringen, um wieder von dort fortzugehen. William ging es ähnlich, das sagte er mir. Und du hättest dasselbe empfunden, das weiß ich. Und Eden erholt sich gerade erst von den Auswirkungen dessen, was Nikolaus ins Paradies einschleppte. Wie muss es erst sein, wenn die Sphäre wieder vollständig heil ist …« Ihr schwelgerischer Ton weckte ein tiefes Bedauern in Zamorra, dass er das, was sie so intensiv gefühlt zu haben schien, nicht selbst hatte erleben dürfen. »So muss es auch bei Nikolaus’ erstem Besuch gewesen sein«, mutmaßte er. »Damit wäre er bislang der einzige Mensch, von dem wir wissen, dass er das Paradies auch wirklich als solches betreten durfte. Ich wage kaum zu fragen, was mit ihm ist. Und Nele. Und Paul. Und …« »Du liegst völlig richtig mit der Vermutung – sie sind alle in Eden geblieben. Auch die Bewohner Keraks. Keiner wollte in die wahre, nüchterne Welt zurück – was ein ganz schön bezeichnendes Bild auf sie wirft, oder?« »Ist die Gefahr, die im Raum Kerak vor unserem Transfer ausging, damit gebannt, dass das Schöpferwesen geheilt wurde?« Nicole nickte. »Es hat seine Invasionspläne ad acta gelegt. Mehr noch: Es hat Nele zurückgegeben, was es ihr als Cahhjwa geraubt hatte. Ihre Gabe. Damit wollte es aus dem Gefängnis Eden in unsere Realität gelangen.«
»Gefängnis?« »Die Entartung hatte das Schöpferwesen in seiner Schöpfung eingesperrt. Mithilfe von Nele hatte es gerade begonnen, sich ein Schlupfloch zu schaffen – was wir hier als das Phänomen wahrnahmen, das Kerak entvölkerte.« Zamorra seufzte. »Da ist noch was, ich seh’s dir an der Nasenspitze an.« Nicole lachte wie ein Teenager. »Du hast recht – da ist noch etwas.« Sie griff in die Schublade des Nachttischs und holte eine apfelgroße Frucht hervor. »Zum Abschied gab uns Jachhwa noch ein Geschenk mit.« »Doch nicht etwa …?« Er starrte auf die Frucht. Nicole schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Wäre aber auch eine nette Geste gewesen. Eine Frucht vom Baum des Lebens! Nun gut, vielleicht kommt das ja noch irgendwann. Einstweilen ist das hier ein Fremdkörper, den er offenbar nur allzu gern los wurde … – vielleicht kommst du ja selbst drauf?« Zamorra überlegte vergeblich. Sie erlöste ihn. »Eine Träne. Eine weitere Träne Luzifers.« ENDE
Schatten und Feuer von Oliver Fröhlich Auch wenn Dylan sich derzeit kaum darauf konzentrieren kann, ist er doch noch im Besitz des magischen Tattoo-Armbandes – seiner besten Waffe im Kampf gegen die Dämonen. Und doch ist das seltsame Ding von einem Geheimnis umgeben. Wer ist die junge Frau, der Dylan immer wieder in seinen Träumen begegnet? Hat sie mit dem Armband zu tun oder mit ihm und seinem Leben in den letzten 800 Jahren? Und wer ist der kleine Mann mit der Geiernase, der plötzlich vor dem Château Montagne auftaucht?