Ein trüber Novembertag des Jahres 1989 in der amerikanischen Kleinstadt Twin Peaks nahe der kanadischen Grenze. Ein ein...
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Ein trüber Novembertag des Jahres 1989 in der amerikanischen Kleinstadt Twin Peaks nahe der kanadischen Grenze. Ein einsamer Angler findet, verschnürt in einen Plastiksack, die Leiche einer jungen Frau, die an das Seeufer geschwemmt wurde. Erste Ermittlungen des örtlichen Sheriffs ergeben, daß es sich bei der Toten um die gerade 17jährige Laura Palmer handelt, die allseits beliebt und geachtet war. Erst kürzlich war das ausgesprochen hübsche Mädchen zur Homecoming Queen ihrer Highschool in Twin Peaks gewählt worden. Schon bald ergeben Sheriff Harry S. Trumans Ermittlungen, daß der Fall Laura Palmer weitaus größere Dimensionen hat, als ursprünglich vermutet. Das FBI wird hinzugezogen und Special Agent Dale B. Cooper stößt im Verlauf seiner Ermittlungen auf DAS GEHEIME TAGEBUCH DER LAURA PALMER, dem die Töte Rätsel ihres kurzen Lebens anvertraut hatte. Die Lektüre der persönlichen Aufzeichnungen Lauras wirft Fragen über Fragen auf. Wie konnte es geschehen, daß eine Jugendliche über Jahre hinweg am Rande des Abgrunds stand, ohne daß ihre Eltern auch nur die leiseste Ahnung von ihren zwei Leben hatten. Und wer ist BOB, dieser Mann, der sich immer wieder in ihr Leben und ihre Träume drängt?
Dem Leser des GEHEIMEN TAGEBUCHS enthüllt sich ein Strudel von Sex, Gewalt und Drogen, der nicht nur Laura Palmer in die Tiefe gezogen hat. Hinter der biederbürgerlichen Fassade der sauberen Kleinstadt Twin Peaks lauern ungeheure Monstrositäten... DAS GEHEIME TAGEBUCH DER LAURA PALMER enthüllt das tödliche Netz, in das die Schreiberin über fünf Jahre lang bis zu ihrem Tod verstrickt war. Ein schockierendes Tagebuch, ein atemberaubender Thriller, ein erschütterndes Psychogramm über das Doppelleben der Laura Palmer, die so jung sterben mußte.
TWIN PEAKS
Das geheime Tagebuch der Laura Palmer Gesehen von Jennifer Lynch Aus dem Amerikanischen von Stefan Weidle
Erstveröffentlichung bei: Pocket Books/Simon & Schuster, Inc. New York 1990 Copyright © TWIN PEAKS Productions, Inc., 1990 Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Secret Diary of Laura Palmer Erschienen 1991 in der Bundesrepublik Deutschland: vgs Verlagsgesellschaft, Köln Das Buch basiert auf der Fernsehserie TWIN PEAKS, die von David Lynch und Mark Frost produziert wurde. Namen, Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten, lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Coverfoto mit freundlicher Genehmigung der Twin Peaks Productions, Inc.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lynch, Jennifer:
Das geheime Tagebuch der Laura Palmer / gesehen von Jennifer Lynch. Aus dem Amerikan. von Stefan Weidle. — Köln :vgs,1991 (Twin peaks) Einheitssacht.: The secret diary of Laura Palmer ISBN 3-8025-2207-9
3. Auflage 1991 © der deutschsprachigen Ausgabe vgs Verlagsgesellschaft, Köln 1991 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Fred Papen, Köln Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2207-9
Liebes Tagebuch,
22. Juli 1984
Ich heiße Laura Palmer, und seit ganz genau drei Minuten bin ich offiziell zwölf Jahre alt! Es ist der 22. Juli 1984, und für mich war es ein wunderschöner Tag! Du warst das letzte Geschenk, das ich ausgepackt habe, und ich konnte es kaum erwarten, allein in meinem Zimmer zu sein, um Dir alles von mir und meiner Familie zu erzählen. Dir allein werde ich mich ganz anvertrauen. Ich verspreche, daß ich Dir alles berichten werde, was passiert, was ich fühle und was ich mir wünsche. Und alle meine Gedanken. Da gibt es einiges, was ich niemandem sagen kann. Aber Dir werde ich es sagen, Ehrenwort. Also, als ich heute zum Frühstück runterkam, sah ich, daß Mom im ganzen Haus Luftschlangen aufgehängt hatte, und sogar Dad hatte sich einen lustigen Hut aufgesetzt und blies eine Weile auf einer Tröte. Ich glaubte, Donna und ich würden nie mehr aufhören können zu lachen. Oh, Donna ist meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt. Ihr Nachname ist Hayward, und ihr Vater, Dr. Hayward, hat mich heute vor zwölf Jahren auf die Welt gebracht! Ich kann kaum glauben, daß ich es endlich geschafft habe. Mom hat beim Essen geweint, weil sie sagte, bevor ich's merken würde, wäre ich schon eine erwachsene Frau. Ja, klar. Es wird noch Jahre dauern, bis ich wenigstens meine Periode kriege, das weiß ich genau. Mom spinnt, wenn sie glaubt, ich würde im Handumdrehen erwachsen sein. Außerdem schenkt sie mir immer noch Stofftiere zum Geburtstag! Heute war alles genau so, wie ich es mir gewünscht hatte, nur Donna und Mom und Dad waren da. Und natürlich Jupiter, meine Katze. Zum Frühstück gab es Apfelpfannkuchen, mein Lieblingsgericht, mit Unmengen Ahornsirup und Sauerteigtoast. Donna hat mir die Bluse geschenkt, die ich bei Hörne's Department Store im Schaufenster gesehen habe. Ich weiß, daß sie sie von ihrem Taschengeld bezahlt hat, denn sie hat lange jeden Cent gespart und wollte mir nicht sagen, warum. Es ist die schönste Bluse, die ich je gesehen habe! Sie ist weiß, aus Seide und mit winzigen Rosen bestickt, aber nicht mit so 6
vielen, daß es blöd aussieht. Total perfekt. Ich werde Donna auch etwas Supertolles zum Geburtstag schenken. Meine Cousine Madeline, die wir Maddy nennen, kommt morgen für eine ganze Woche zu Besuch. Sie, Donna und ich wollen eine Bude im Wald bauen und draußen übernachten, wenn Mom uns läßt. Dad läßt uns bestimmt. Er mag den Wald genauso gern wie ich. Einmal habe ich geträumt, daß Dad mit uns in ein Haus ganz tief im Wald gezogen wäre, und vor meinem Schlafzimmer stand ein riesiger Baum, auf dem zwei Singvögel ihr Nest hatten. Bin gleich wieder da, Tagebuch, Dad ruft nach mir. Er sagt, es gibt eine Überraschung! Ich erzähle Dir alles, wenn ich wieder da bin! Küßchen, Laura
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Liebes Tagebuch,
22. Juli 1984, später
Du wirst nicht glauben, was eben passiert ist! Ich lief nach unten, und Dad sagte, Mom und ich sollten uns ins Auto setzen und keine Fragen stellen, bis'wir dort sind, wo wir hinfahren. Natürlich fragte ihn Mom die ganze Fahrt über aus. Aber er ließ nichts raus. Ich blieb ganz still, damit mir die Überraschung nicht verlorenging. Als wir am Broken Hill Stall anhielten, da wußte ich's! Daddy hat mir ein Pony gekauft! Tagebuch, es ist so schön, viel schöner, als ich es mir je hätte träumen lassen. Sein Fell ist zimtfarben und dunkelbraun, und seine Augen sind groß und sanft. Als Mom das sah, konnte sie es gar nicht glauben. Sie fragte Dad gleich, wie er das fertiggebracht hätte, ohne daß jemand was davon gemerkt hatte. Dad sagte, es hätte die Überraschung verdorben, wenn sie davon erfahren hätte. Und da hat er recht. Mom bekam fast einen Herzanfall, als sie mich zwischen den Beinen des Ponys herumkriechen sah, weil ich rauskrie gen wollte, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Aber ich brauchte gar nicht lange, um festzustellen, daß es ein Junge ist. Als hätte ich so etwas noch nie gesehen. Mom kennt mich wohl doch nicht so gut, wie sie glaubt, hmmm? Zurück zu meinem Pony. Ich beschloß, es Troy zu nennen, wie das Pony in Mrs. Larkins Bilderbuch. Zippy, der in dem Stall arbeitet, sagte, er würde mir ein Namensschild machen, auf dem in großen Buchstaben TROY steht. Das hängt er dann vorne hin, damit jeder, der ihn sieht, gleich seinen Namen weiß. Troy ist noch zu jung, man kann ihn noch nicht reiten, aber in zwei Monaten werde ich auf seinem Rücken durch die Felder galoppieren! Heute habe ich ihn nur herumgeführt und ihn mit Mohren gefüttert (Dad hatte welche mitgebracht). Bevor ich mich von Troy trennte, flüsterte ich in sein warmes, weiches Ohr, daß ich ihn morgen wiedersehe und daß ich alles über ihn aufschreibe, hier, in mein Tagebuch. Ich kann kaum erwarten, ihn Donna zu zeigen! Maddy wird Augen machen! Auf dem Rückweg vom Stall sagte Dad, daß Troy und ich am gleichen Tag Geburtstag haben, denn wenn jemand ein Pony geschenkt bekommt, der es richtig lieb hat, dann haben 7
sie alles gemeinsam. Also herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Troy! Ich bin froh, daß ich nicht weiß, wo er herkommt, denn so ist es fast, als hätte ihn der liebe Gott direkt zu mir geschickt. Also, Tagebuch, morgen ist ein großer Tag, und heute nacht werde ich sehr gut schlafen und von Troy träumen. Ich bin das glücklichste Mädchen der Welt. Küßchen, Laura P.S. Hoffentlich kommt BOB heute nacht nicht.
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Liebes Tagebuch,
23. Juli 1984
es ist schon spät in der Nacht, und ich kann nicht schlafen. Ich hatte einen Alptraum nach dem anderen, und schließlich habe ich mich entschlossen, überhaupt nicht mehr einzuschlafen. Ich denke, Maddy wird von der Fahrt hierher müde sein und morgen einen Mittagsschlaf machen wollen, da kann ich mich dann auch hinlegen. Wenn es draußen hell ist, sind vielleicht meine Träume nicht so dunkel. Einer von ihnen war einfach entsetzlich. Ich wachte weinend auf und hatte Angst, Mom könnte hereinkommen, wenn sie mich hört, und dabei will ich jetzt nur allein sein. Das würde sie nicht verstehen. Sie kommt immer rein und singt mir »Waltzing Matilda« vor, wenn ich nicht schlafen kann oder, wie heute, schlecht träume. Sie soll mir ruhig was vorsingen, das ist es nicht - nur in meinem Traum kam dieser seltsame Mann vor, der mit Moms Stimme genau dieses Lied sang. Und das machte mir eine solche Angst, daß ich mich kaum rühren konnte. In meinem Traum lief ich durch den Wald bei den Pearl Lakes, und plötzlich war ein starker Wind da, aber nur um mich herum. Er war heiß, der Wind. Und ungefähr sieben Meter von mir entfernt stand dieser Mann mit langen Haaren und riesigen, schwieligen Händen. Die waren ganz rauh, und er streckte sie mir entgegen, während er sang. Sein Bart flatterte nicht im Wind, denn der Wind war nur um mich herum. Die Kuppen seiner Daumen waren pechschwarz, und er ließ sie kreisen, während seine Hände mir immer näher kamen. Ich ging weiter auf ihn zu, obwohl ich das überhaupt nicht wollte, weil er mir eine solche Angst einjagte. Er sagte: »Ich habe deine Katze«, und Jupiter rannte hinter ihm weg in den Wald, wie ein kleiner weißer Fleck auf einem schwarzen Blatt Papier. Er sang immer weiter, und ich versuchte ihm zu sagen, daß ich nach Hause wollte und Jupiter mitnehmen, aber ich konnte nicht sprechen. Dann streckte er seine Hände hoch in die Luft, sehr, sehr hoch, als würde er von Minute zu Minute größer und stärker, und als seine Hände höher stiegen, fühlte ich, daß der Wind um mich 9
herum aufhörte. Alles wurde ganz still. Ich dachte, daß er mich gehen ließe, weil er meine Gedanken lesen konnte, wenigstens hatte ich das Gefühl. Und als er den Wind so mit seinen Händen anhielt, dachte ich, er ließe mich frei, ließe mich nach Hause gehen. Dann mußte ich an mir heruntersehen, weil es so heiß zwischen meinen Beinen wurde, nicht angenehm warm, sondern heiß. Es brannte, und deshalb mußte ich meine Beine spreizen, damit sie abkühlen konnten. Damit sie nicht mehr brannten, nicht mehr so glühend heiß waren. Und sie fingen von selbst an, sich zu spreizen, als ob sie von meinem Körper abbrechen würden. Ich dachte, ich sterbe daran. Wie soll jemand je verstehen, daß ich versucht habe, meine Beine zusammenzuhalten, aber sie brannten so, daß ich es nicht konnte. Und dann sah der Mann mich an und lächelte sein entsetzliches Lächeln, und mit Moms Stimme sang er: »You'll come a'waltzing Matilda with me . . .« Ich versuchte wieder zu sprechen und konnte nicht, und ich versuchte mich zu bewegen und konnte auch das nicht, und er sagte: »Laura, du bist zu Hause.« Und ich wachte auf. Manchmal wenn ich träume, fühle ich mich im Traum gefangen und habe furchtbare Angst. Aber wenn ich mir jetzt ansehe, was ich gerade geschrieben habe, dann wirkt es gar nicht so schrecklich. Vielleicht schreibe ich von jetzt an alle meine Träume auf, damit ich mich nicht vor ihnen fürchten muß. Letztes Jahr hatte ich einmal einen so entsetzlichen Traum, daß ich den ganzen nächsten Tag in der Schule nicht mitarbeiten konnte. Donna dachte, ich würde verrückt, denn jedesmal, wenn sie mich ansprach oder an meine Schulter tippte, um mir während des Unterrichts einen Zettel zuzustecken, fuhr ich zusammen. Ich wurde nicht verrückt, wie Nadine Hurley oder so, aber ich hatte noch immer das Gefühl zu träumen. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, alles, was ich von dem Traum noch weiß, ist, daß ich in riesigen Schwie rigkeiten steckte, weil ich diese komische Prüfung nicht geschafft hatte, in der man einer bestimmten Anzahl Menschen in einem Boot über diesen Fluß helfen mußte, und ich 10
konnte es nicht, weil ich wohl einfach schwimmen wollte, und deshalb schickten sie jemanden hinter mir her, um mich auf eine ganz eklige und schlechte Art anzufassen. An mehr erinnere ich mich nicht, und ich glaube, das ist auch gut so. Ich habe es so satt, zu warten, bis ich erwachsen bin. Irgendwann geschieht es. Dann bin ich der einzige Mensch, der dafür verantwortlich ist, ob ich mir bei dem, was ich tue, gut oder schlecht vorkomme. Ich schreibe morgen wieder. Jetzt bin ich ziemlich müde. Laura
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Liebes Tagebuch,
23. Juli 1984
meine Cousine Maddy wird jeden Augenblick hier sein. Dad ist allein zum Bahnhof gefahren, um sie abzuholen. Ich habe bis vor einer Viertelstunde geschlafen. Ganz traumlos, nur Mom sagt, ich hätte nach ihr gerufen, und dann hätte ich geschrien wie eine Eule! Das ist mir so peinlich. Sie ist in mein Zimmer gekommen, sagt sie, und ich war noch im Halbschlaf, aber ich hätte wieder . . . diesen Eulenschrei ausgestoßen, und dann, sagt sie, hätte ich gekichert und mich umgedreht und sei wieder eingeschlafen. Ich hoffe, sie erzählt das niemandem. Sie erzählt immer solche Sachen, wenn wir Gäste zum Essen dahaben, wie die Haywards oder sonst jemanden. Sie fängt immer an mit: »Laura hat neulich etwas Süßes, ganz Komisches getan . . .« Und ich weiß schon, was dann kommt. Wie sie zum Beispiel eines Abends erzählt hat, vor allen Leuten, daß ich einmal nachts in die Küche geschlafwandelt bin, kurz bevor sie ins Bett gehen wollte. Ich zog alle meine Sachen aus, stopfte sie in den Backofen und ging ins Bett zurück. Jedesmal, wenn ich jetzt bei den Haywards zum Abendessen bin und Donna und ich in der Küche helfen, fragt mich Mrs. Hayward im Scherz, ob mir klar ist, daß der Backofen ein Backofen ist und keine Waschmaschine. Mom hatte an dem Abend getrunken, als sie das erzählte, deshalb habe ich ihr verziehen. Aber wenn sie irgend jemandem von meinen Eulenschreien erzählt, dann sterbe ich vor Scham. Warum müssen Eltern ihre Kinder nur immer so blamieren? Meine sind da keine Ausnahme. Wenn ich aufhören könnte, dumme Sachen im Schlaf zu machen, dann hätte sie vielleicht nichts, was sie den Leuten erzählen könnte. Später mehr. Laura (Huuu Huuu)
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Liebes Tagebuch,
27. Juli 1984
ich habe Dir so viel zu erzählen. Diese Worte schreibe ich in der Waldbude, die Donna, Maddy und ich gebaut haben. Dad und Mom hatten nichts dagegen, wenn wir nur nahe beim Haus blieben. Wir verwendeten Holz, das uns Ed Hurley gab, und Dad hat alles zusammengenagelt. Donna meint, wenn ein Sturm kommt, ist es aus mit uns, aber ich habe das Gefühl, daß die Bude ganz fest steht, egal was passiert. Maddy sieht jetzt so gut aus. Sie ist sechzehn, und ich bin so neidisch auf ihr Leben! Wäre ich doch schon sechzehn! Sie hat einen festen Freund zu Hause, den sie schon vermißt. Heute hat er hier angerufen, um zu fragen, ob sie heil angekommen ist. Daddy zog sie auf, weil sie so geturtelt hatte am Telefon, aber Maddy ließ das kalt. Donna glaubt, daß sie erst vierzig werden muß, bis sie einen festen Freund hat. Ich erklärte ihr, daß sie spinnt, denn bereits jetzt gefallen wir den Jungs, wir sind nur zu clever, um mit ihnen auszugehen. Ich bin sehr gespannt, wie es sein wird, wenn mich außer meinen Eltern noch jemand liebt, und ob derjenige dann auch anruft, wenn ich verreist bin, um zu hören, ob es mir gut geht. Vorher waren wir alle bei Troy im Stall draußen und haben ihn gestriegelt und gefüttert. Donna und Maddy sagten beide, daß sie noch nie in ihrem Leben ein so schönes Pony gesehen hätten. Ich frage mich, wie ich ihn verdient habe. Donna wünscht sich auch schon seit Jahren ein Pony, aber ihr Vater hat ihr nie eins gekauft. Ich möchte gerne wissen, wie lange Troy wohl leben wird und ob ich ewig weinen werde, wenn er stirbt. Donna sah gerade, was ich über Troys Tod geschrieben habe. Sie meint, ich hätte zu viele traurige Gedanken, und wenn ich so weitermachte, könnte noch wer weiß was passieren. Donna weiß nicht alles, was ich weiß. Manchmal muß ich mir einfach traurige Gedanken machen. Manchmal sind sie einfach überall in meinem Kopf. Mom hat uns Sandwiches und zwei Thermoskannen mitgegeben. Eine mit eiskalter Milch, die andere mit heißem Kakao. Maddy trinkt nicht mehr als eine Tasse von dem 13
heißen Kakao, weil sie glaubt, sie kriegt Pickel davon. Ich kann in ihrem Gesicht keinen einzigen Pickel entdecken. Seit drei Jahren hat sie ihre Periode und sagt, es ist ein einziger Alptraum. Man kriegt Akne davon und Krämpfe, und jedesmal, wenn man seine Tage hat, ist man müde und gereizt. Großartig. Noch etwas, worauf man sich freuen kann. Mom bekam ihre Periode, als sie in meinem Alter war, und ich kann nur hoffen, das heißt nicht, daß ich meine auch dieses Jahr bekomme. Jetzt, nachdem Maddy mir das erzählt hat, bin ich gar nicht mehr scharf darauf. Wir essen alle Sandwiches und trinken Milch und schreiben in unsere Tagebücher. Maddys ist so groß und voll! Donnas ist schon voller als meines, aber ich werde dafür sorgen, daß Du noch dicker und voller als Maddys wirst. Mir gefällt die Idee, alle meine Gedanken an einem Ort zu haben, wie ein Gehirn, in das man hineinschauen kann. Wir haben eine Taschenlampe oben an der Budendecke befestigt, so daß wir alle etwas sehen können. Ein bißchen Licht drang auch aus den Fenstern unseres Hauses hierher, aber wir haben hie r alles dichtgemacht, weil wir fanden, daß es das Gefühl stört, ganz allein im Wald zu sein. Wegen der Decken und dem vielen Essen haben wir sowieso das Gefühl, uns genau dort zu befinden, wo wir in Wirklichkeit sind. Im Garten! Maddy sagt, sie hat eine Schachtel Zigaretten mitgebracht, und wir könnten später, wenn Mom und Dad eingeschlafen sind, eine probieren, wenn wir wollen. Sie meint, sie schmecken fad, denn sie hat sie schon seit Monaten, ohne sie anzurühren, weil sie Angst hat, daß ihre Eltern es rauskriegen. Vielleicht versuche ich es mal. Donna sagt, sie will nicht, und Maddy und ich haben versprochen, sie nicht zu drängen, weil echte Freundinnen sowas nicht tun. Aber ich gehe jede Wette ein, daß ich Donna dazu bringen kann, eine zu rauchen. Ich muß sie nur auf eine bestimmte Art ansehen. Jede Wette. Später mehr.
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Da bin ich wieder. Wir haben so gelacht, daß uns allen der Bauch wehtut. Maddy hat erzählt, wie sie ihren Freund mit ihrer Zunge küßt, und das fanden Donna und ich wahnsinnig aufregend. Donna zog ein Gesicht und sagte, ihr gefiele der Gedanke an einen Zungenkuß überhaupt nicht, und ich tat, als ginge es mir genauso . . . aber ganz ehrlich, Tagebuch, als ich hörte, wie man es macht, bekam ich ein ganz seltsames, komisches Gefühl im Bauch. Ganz anders als . . . na, egal. Ich bekam das Gefühl, daß mir Zungenküsse gefallen könnten, und ich werde es mit einem Jungen, den ich mag, sobald wie möglich ausprobieren. Maddy sagte, sie hätte am Anfang Angst gehabt, aber jetzt macht sie es schon seit einem Jahr, und sie hat es sehr gern. Ich erzählte beiden, wie ich letzten Monat, als ich Fieber hatte, ins Schlafzimmer meiner Eltern ging und sie nackt aufeinander liegen sah, Dad oben. Ich ging sofort hinaus, und Mom kam ein paar Minuten später zu mir mit Aspirin und einem 7-Up. Sie hat nie ein Wort darüber verloren. Donna sagt, sie waren ganz sicher beim Geschlechtsverkehr, und ich wußte das auch schon, aber es sah aus, als hätten sie keinen Spaß dabei. Sie schienen sich nur sehr langsam zu bewegen und sahen sich dabei nicht einmal richtig an. Maddy meint, es wäre wahrscheinlich bloß eine »schnelle Nummer« gewesen. Brrr. Meine Eltern haben Geschlechtsverkehr. Eine unschöne Geschichte! Ich weiß zwar, daß ich aus sowas hervorgegangen bin, aber wenn es nach mir ginge, müßte ich mir das nicht noch einmal ansehen. Ich verspreche hiermit, daß es, wenn ich je mit einem Jungen schlafe, viel mehr Spaß machen wird als das. Nun, Mom und Dad kamen gerade, sagten uns Gute Nacht und richteten Donna aus, daß ihre Eltern angerufen haben, um ihr zu sagen, daß sie morgen nicht in die Kirche zu gehen braucht und deshalb bei uns übernachten kann. Darüber waren wir alle froh. Dad sagte, wir sollten die Augen zumachen und die Arme ausstrecken, und dann legte er jeder von uns einen Schokoriegel auf die Hand und sagte, daß wir Mom nichts verraten dürfen. Dann kam Mom und gab mir eine kleine Tüte mit den 15
Worten: Sag deinem Vater nichts. In der Tüte waren noch drei Schokoriegel! Maddy sah auf ihre Schokolade und seufzte. »Pickel«, war alles, was sie rausbrachte. Aber sie packte beide aus, und wir stopften uns die Schokoriegel in den Mund und versuchten mit vollem Mund »Row, Row, Row Your Boat« zu singen. Donna sagte, die gekaute Schokolade sähe aus wie Troys Pferdeäpfel, und wir mußten sie alle ausspucken. Maddy erzählte eine ziemlich gute Horrorgeschichte, von einer Familie, die abends ausgeht und beim Wiederkommen Leute im Haus versteckt findet, die darauf warten, alle umzubringen. Es kamen noch andere Sachen darin vor, aber ich weiß nicht, an wieviel davon ich mich später erinnern möchte. Ich will meinen Träumen nicht auch noch Nahrung geben. Donna ging aus der Bude, um zu pinkeln, und Maddy erzählte mir, daß auch sie einige böse Träume gehabt hat. Sie sagte, daß sie vor Donna nicht darüber reden will, weil die es vielleicht nicht versteht. Sie sagt, sie hat von mir im Wald geträumt. Donna kam zurück, und Maddy sagte kein Wort mehr davon. Ich frage mich, ob Maddy den langhaarigen Mann gesehen hat? Oder den Wind? Maddy schreibt Gedic hte in ihr Tagebuch, weil sie sagt, daß die manchmal mehr Spaß machen als das langweilige normale Zeug, und falls jemand mal dein Tagebuch sieht, versteht er vielleicht nicht alles, wenn es in Versen ist. Das versuche ich morgen auch. Später mehr. Ha! Ich habe Dir doch gesagt, ich könnte Donna dazu bringen, eine Zigarette zu probieren. Maddy holte ihre Packung raus und steckte eine an, gab sie dann mir zum Versuchen. Ich blase gerne Rauch aus dem Mund. Als käme ein Geist aus mir heraus, ein tanzender, schwebender, durchsichtiger Geist. Als wäre ich eine erwachsene Frau mitten unter vielen Leuten, die mich alle anstarren, so als wollten sie gern wie ich sein. Sogar Donna sagt, ich sehe sehr erwachsen aus, wenn ich rauche. Ich habe nicht mal inhaliert. Aber ic h wüßte gern, wie es ist, wenn ich es tue. 16
Als nächste war Donna dran, und bevor sie noch nein sagen konnte, sagte ich nur: »Ich bin froh, daß ich's probiert habe, und ich muß es ja nie mehr tun, wenn ich nicht will.« Also nahm sie sie und blies ein paar Rauchwölkchen in die Luft. Auch bei ihr sah es gut aus, als sie rauchte, aber irgendwie kriegte sie es mit der Angst und schluckte ein bißchen Rauch und fing ganz laut an zu husten. Also machten wir die Zigarette aus und lüfteten blitzschnell unsere Bude, falls Mom und Dad aufwachten. Ich glaube, ich werde mir bald eine Schachtel Zigaretten kaufen und sie auch einfach so aufheben, wie Maddy es macht. Ich werde bestimmt nicht süchtig danach. Dazu bin ich zu vorsichtig. Jetzt gehen wir ins Bett, und wir alle schreiben gerade einen Gruß an unsere Tagebücher. Also gute Nacht, schlaf schön. Ich glaube, wir beide werden uns prima verstehen. Küßchen, Laura
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Liebes Tagebuch,
29. Juli 1984
Hier also ein Gedicht: Durchs Licht hinter der Scheibe sieht er in mich hinein, Doch ich sehe ihn erst, wenn er nahe ist Und atmet und lächelt an meinem Fenster Er kommt mich holen Dreht und dreht mich im Kreis Komm raus spielen Komm spielen Lieg still Lieg still Lieg still. Kurze Verse und kurze Lieder Stückchen aus dem Wald in meinen Haaren und Kleidern Manchmal seh ich ihn nah bei mir wenn ich weiß, das ist nur Schein Manchmal fühl ich ihn nah bei mir und ich weiß, das muß ertragen sein. Wenn ich rufe Kann mich niemand hören Wenn ich flüstere, denkt er, die Botschaft Ist für ihn allein. Meine leise Stimme in meinem Hals Ich glaube immer, es muß etwas geben, Das ich getan habe, Oder etwas, was ich tun kann hier, Aber niemand kommt und hilft, Sagt er, Einem kleinen Mädchen wie dir.
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Liebes Tagebuch,
30. Juli 1984
Maddy brachte einen Haufen Klamotten mit, und sie ließ mich alle vor dem Spiegel anprobieren. Sie hat gemerkt, daß ich wegen irgendwas deprimiert bin . . . glaube ich. Einige ihrer Sachen sind sehr schön. Ich mag das Gefühl, das ich in ihnen hatte. Besonders in dem kurzen Rock und den hochhakkigen Schuhen mit diesem engen, flauschigen Pullover. Maddy sagte, ich sehe aus wie Audrey Hörne. Das ist die Tochter des Mannes, Benjamin Hörne, für den mein Vater arbeitet. Benjamin ist sehr, sehr, sehr reich. Audrey ist ein hübsches Mädchen, aber ziemlich still und manchmal gemein. Ihr Vater kümmert sich nicht viel um sie. Wahrscheinlich führt sie sich deshalb so auf. Um mich jedoch hat er sich mein ganzes Leben lang sehr gekümmert. Jedesmal, wenn im Great Northern eine Party ist oder man sich dort nur so trifft, setzt Benjamin mich auf seinen Schoß oder sein Knie und singt mir ganz leise was ins Ohr. Manchmal tut es mir sehr leid für Audrey, denn wenn sie ihn sieht, wie er mir was vorsingt, muß sie das wohl traurig machen. Oft rennt sie dann aus dem Zimmer und kommt erst wieder, wenn ihre Mutter sie holt. Manchmal freut es mich irgendwie, wenn sie wegrennt. Als wäre ich ihm wichtiger als die eigene Tochter. Ich weiß, daß es nicht gerade nett ist, so was zu sagen, aber ich bin eben ehrlich. Um ganz ehrlich zu sein — ich gefiel mir gut in Maddys Klamotten. Ich hatte so ein Kribbeln im Bauch. Wie man sich in einer Achterbahn fühlt. Bestimmt wäre alles ganz anders, wenn ich immer so angezogen wäre. Maddy und ich sind später noch spazierengegangen, aber natürlich in unseren Jeans und T-Shirts. In Twin Peaks laufen nicht viele Mädchen in hochhackigen Schuhen und Minirökken herum, wenn nicht gerade überall Plakate hängen, die eine Tanzveranstaltung oder irgendein Fest ankündigen. Wir gingen in den Easter Park und saßen eine Weile im Pavillon. Maddy sagte, daß ihr Leben zu Hause ganz gut läuft, »außer der manchmal ganz unglaublichen Schnüffelei meiner Eltern«. Ich wollte ganz sicher gehen, das wörtlich zu zitieren, weil sie 19
es so perfekt ausgedrückt hat. Sie sagte, daß es im Leben eine Menge Dinge gibt, die einem zuerst nicht richtig vorkommen, mit denen man sich dann aber abfindet. Vielleicht sollte ich auch anfangen, so zu denken. Vielleicht sollte ich ein besserer Mensch werden und nicht ständig so viel darüber nachdenken, was mit mir passiert. Hoffentlich bin ich eines Tages so gut darin, daß ich alles loswerde, was mich jetzt so sehr bedrückt. Dinge, die ich nicht sagen kann, allerhöchstem bruchstückhaft beschreiben. Wenn ich ein besserer Mensch bin und Tag für Tag fest daran arbeite, vielleicht klappt es dann. Küßchen, Laura
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30. Juli 1984, später Eines Tages wird das Erwachsenwerden leichter sein. Tief drinnen bilden sich weibliche Hügel aus Um den Himmel zu sehen Sonne und Mond zu sehen Und die winzigen Sterne im Dunkel einer Männerhand Manchmal am Morgen Werde ich mich ansehen Tiefe Flüsse in mir spüren Wo Hügel und Täler entstehen Äußerlich Knospe ich Innen vertrockne ich. Könnt ich nur verstehen Den Grund meiner Not Könnt ich nur die Angst verlieren Zu träumen ich sei tot.
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Liebes Tagebuch,
2. August 1984
ich habe lange nichts geschrieben, und das tut mir wirklich leid. Maddy ist vor drei Tagen abgefahren, und ich bin voller Angst vor etwas, das ich nicht verstehe. Eine gute Sache ist auch passiert. Gestern mitten in der Nacht hatte ich plötzlich ein wunderschönes Gefühl. Als sei etwas ganz Warmes in meiner Brust und zwischen meinen Beinen. Mein ganzer Körper stülpte sich nach außen, und ich hatte das Gefühl zu zerfließen. Ich glaube, ich hatte einen dieser Orgasmen im Schlaf. Es ist so entsetzlich und peinlich, das hinzuschreiben, aber gleichzeitig auch irgendwie angenehm. Gleich danach hatte ich die Vorstellung, ein Junge käme in mein Zimmer und legte die Hand auf mein Nachthemd und berührte mich zart. Er flüsterte zärtliche Worte, und dann sagte er, ich müßte ganz ruhig liegenbleiben, sonst ginge er sofort. Dann zog er mich an den Füßen bis ans Ende meines Bettes, und als meine Knie über den Rand der Matratze hingen, ließ er mich die Augen schließen, und ich fühlte, wie er mich öffnete, weiter und weiter, und ich mußte unbedingt sehen, was da passierte, und als ich das tat, war er verschwunden. Aber ich schaute auf meinen Bauch und sah, daß ich schwanger war. Er war in mir, ganz klein, wie ein Baby. Ich wünschte, es hätte nicht so geendet. Ich weiß nicht, warum mein Gehirn das getan hat. Es gefiel mir viel besser, als er mich zart herunterzog und mich sanft nahm. Laura
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Liebes Tagebuch,
7. August 1984
ich war heute den ganzen Nachmittag bei Troy, habe ihn geputzt, gestriegelt und gefüttert. Es war faszinierend zu sehen, wie gut er zu verstehen scheint, was ich empfinde. Er drückte lange den Kopf an mich, während ich seine Mähne bürstete. Als ich mich in einer Ecke seines Stalls auf den Boden setzte, senkte er den Kopf, und ich ließ ihn auf mein Gesicht und meinen Nacken atmen. Ich frage mich, ob alle Menschen ihre Pferde so sehr lieben wie ich meins oder ob meine Gedanken und Empfindungen falsch sind. Ich wünschte, Donna wäre hier. Ich wünschte so sehr, Maddy wäre hier. Ich rufe Donna nachher an, vielleicht kann sie ja rüberkommen und bei uns übernachten oder so was. Oder ich gehe zu ihr. Das wäre vielleicht sogar besser. Manchmal ist mein Zimmer der beste Ort auf der Welt, und manchmal ist es ein Ort, der mich gefangenhält und erstickt. Ich frage mich, ob es so ist, wenn man stirbt . . . ersticken. Oder ob es so ist, wie sie in der Kirche sagen. Daß man höher und höher steigt, bis Jesus dich sieht und deine Hand nimmt. Ich bin gar nicht sicher, daß ich nahe bei Jesus sein will, wenn ich sterbe. Ich könnte einen Fehler machen, vielleicht nur einen ganz kleinen, der ihn ärgert. Ich weiß nicht genug von ihm, um sagen zu können, was ihn wütend macht. Klar, die Bibel sagt, daß er uns vergibt und für meine Sünden gestorben ist und jeden trotz seiner Fehler liebt . . . Aber die Leute sagen auch, ich sei die perfekte Tochter, das glücklichste Mädchen der Welt, ohne die geringsten Probleme. Und das ist ganz und gar nicht wahr. Wie will ich also wissen, ob Jesus nicht in Wirklichkeit so ist wie ich? Voller Angst und schlecht manchmal, obwohl die meisten Leute nicht wissen, wie und wann er so ist? Ich werde wohl beim Satan landen, wenn ich nicht aufpasse. Manchmal, wenn ich BOB sehen muß, denke ich, daß ich sowieso schon beim Satan bin und daß ich nie mehr rechtzeitig aus dem Wald komme, um wieder Laura zu sein, gut und zuverlässig und unschuldig. Manchmal denke ich daran, wieviel leichter das Leben wäre, wenn wir nicht daran denken müßten, daß wir Jungen 23
oder Mädchen sind oder Männer oder Frauen oder alt oder jung, dünn oder dick . . . wenn wir alle nur sicher sein könnten, daß wir gleich sind. Das wäre zwar vielleicht langweilig, aber die Gefahren wären weg . . . Ich bin gleich wieder da, rufe nur kurz Donna an. Donna sagt, sie würde auch gerne etwas mit mir unternehmen heute abend, aber bei ihr zu Hause ist »Familienabend«. Ich denke also, daß wir beide unter uns bleiben werden, Tagebuch. Vielleicht können wir in den Wald gehen und eine von den Zigaretten rauchen, die Maddy für mich dagelassen hat. Vier Stück sind es. Ich habe sie sorgfältig im Bettpfosten versteckt. Dort verstecke ich Briefchen aus der Schule, die Mom nicht finden soll, wenn sie hier drin ist und aufräumt/ rumschnüffelt - na, wie Mütter eben so sind. Ich liebe sie sehr, aber sie versteht nicht immer, was ich ihr sagen will. Sie würde vermutlich einen Herzschlag kriegen, wenn sie wüßte, was in meinem Kopf alles vorgeht. Jedenfalls kann man den Knauf vom Bettpfosten abnehmen, und darunter ist ein Loch. Dad würde es eine »Höhlung« nennen. Sie ist ungefähr zehn Zentimeter tief und das perfekte Versteck. Man merkt nicht einmal, daß der Knauf abgeht, wenn eine Handtasche oder ein Pullover darüber hängt. Also können wir vielleicht allein ausgehen, nur Du und ich, mit einer Taschenlampe und einer Zigarette und in aller Ruhe miteinander reden. Ich weiß, daß Du ein Geheimnis für Dich behalten kannst, besser als Donna sogar. Ich könnte Mom niemals von diesen sexuellen Dingen erzählen, an die ich dauernd denke. Ich habe Angst, daß Gott es hört, wenn ich laut davon spreche, oder daß sonst jemand erfährt, wie schlecht ich bin, und dann werden alle sagen . . . Niemand sonst denkt je an solche Sachen! Ganz bestimmt nicht. Ich möchte wetten, daß ich nie den Mann kriege, den ich will, weil er jedesmal, wenn wir uns küssen oder herumalbern, daran denken wird, daß ich eine Verrückte bin, die krank ist und durchgedreht. Ich hoffe, ich bin nicht so. Ich wäre entsetzlich traurig, wenn das wahr ist. Wie aber könnte ich aufhören so zu denken, wie ich denke? 24
Ich kann mein Gehirn nicht davon abhalten, an solche Dinge zu denken. Diese Gedanken, die meinen Körper warm werden lassen, bei denen sich meine Brust hebt und senkt, sich mit Luft füllt und sie wieder herausläßt, so wie sie es in Büchern und Filmen machen, aber doch anders, weil sie dort nie über solche Phantasien reden, wie ich sie habe. Jetzt gehe ich runter zum Abendessen. Ich wünschte, ich könnte Dich auch in den Bettpfosten stecken. Für jetzt befestige ich Dich erst einmal an der Wand hinter meiner Tafel. Hoffentlich fällst Du nicht runter! Später mehr, Laura
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Also, Tagebuch,
11. August 1984
da sind wir. Ungefähr eine Meile von zu Hause, kurz vor dem Dunkelwerden. Im Sommer wirken die Wälder weniger gefährlich. Es ist warm draußen, und Du und ich sitzen auf dem Boden und lehnen uns an den Stamm eines großen Baumes. Eine Douglasie. Donnas und mein Lieblingsbaum. Wenn ich hochschaue, fühle ich mich wie in einer Wiege bei ihm geborgen. Ich glaube, ich rauche die Zigarette jetzt. Ich habe ein Mineralwasser mitgebracht, damit ich die Asche und die Kippe in die Büchse tun kann, um nicht die ganze Stadt T.P. in Brand zu stecken. Wir sagen in der Schule manchmal T.P. für Twin Peaks. Die Welt wischt sich mit T.P. den Hintern. Bobby Briggs sagt das sehr oft. Dann zieht er alle Mädchen an den Haaren und rülpst uns ins Gesicht. Natürlich hat er uns alle gern. Einmal war ich nach der Schule im Double R., und er kam direkt nach mir rein und riß mich tierisch an den Haaren. Norma blinzelte mir zu und fragte, ob wir schon das Hochzeitsdatum festgelegt hätten. Sie ist total übergeschnappt, wenn sie glaubt, ich würde was mit dem anfangen. Kein Junge, mit dem ich was anfangen würde, darf mich so an den Haaren ziehen . . . Wenn überhaupt, dann müßte er mich so an den Haaren ziehen, wie sie es in meinen Phantasien tun. Mit der ganzen Hand, die sie langsam hinter meinem Kopf zur Faust ballen und mich an sich ziehen zu einem Zungenkuß. Ich frage mich, ob alle Penisse so aussehen wie Daddys. Ich habe noch immer vor Augen, wie Mom ihn in jener Nacht mit dem Laken bedecken wollte. Er erinnerte mich irgendwie an etwas Rohes. Etwas, das vielleicht in kurzer Zeit wieder heil ist oder noch vor kurzem heil war, bevor jemand die Haut davon abschälte, so daß es jetzt ganz rosa und komisch aussieht. Vielleicht sehe ich eines Tages einen hübscheren. O Gott, das hoffe ich sehr. Ich werde nicht daliegen wie Mom. Wie ein Fisch auf dem Trockenen, der rauszukriegen versucht, wie man außerhalb des Wassers atmet. Kleine winzige Schnapper und Seufzer, aber sonst nichts. Wenn ich den 26
richtigen Mann finde, vielleicht fühle ich mich dann sicher genug, das zu tun, was Mädchen meiner Ansicht nach tun sollten, wenn sie mit jemandem zusammen sind. Halb kontrolliert und halb . . . Ich weiß kein Wort dafür. Vielleicht wird das nun zu unanständig. Ich würde sterben, wenn irgend jemand sieht, was ich geschrieben habe. Die Eulen haben angefangen zu schreien. Eine sitzt genau über mir im Baum . . .Etwas an ihr ist komisch. Ich weiß genau, daß es eine männliche Eule ist, und ich spüre, daß er mich beobachtet. Jedes Mal, wenn ich zu ihm hochsehe, wendet er rasch den Kopf ab. Ob er wohl weiß, was ich geschrieben habe? O Gott, ich fange besser direkt an, ein ganz braves Mädchen zu sein. Sofort. Vielleicht ist er ein Vogel wie in dieser Geschichte, die ich gelesen habe. Dieser große Vogel konnte plötzlich herabstoßen und sich bei jemandem auf die Schulter setzen, ganz lieb, aber dann las er die Gedanken desjenigen. Und wenn dieser Mensch schlechte Gedanken hatte, hackte ihm der Vogel mit dem Schnabel in Augen und Ohren. Manchmal träume ich vom Fliegen. Ich frage mich, ob Vögel manchmal davon träumen, in die Schule zu gehen oder zu arbeiten. Anzüge und Kleider zu tragen statt der Federn, von denen wir träumen. Ich würde gleich über Twin Peaks fliegen und über das Land dahinter. Ich würde nie wiederkommen, wenn ich nicht müßte. Jetzt schreibe ich noch ein Gedicht - und dann gehe ich nach Hause. In mir ist etwas Das keiner kennt Wie ein Geheimnis Manchmal beherrscht es mich Und ich sinke Tief ins Dunkel zurück. Das Geheimnis sagt mir Ich werde nie älter Werde nie mit Freunden lachen Nie sein, was ich soll, wenn ich je Seinen Namen enthülle. 27
Ist es wirklich — ich kann's nicht sagen Oder hab ich's nur geträumt Denn wenn es mich berührt Versinke ich Keine Tränen kommen Kein Schrei. In einen Alptraum aus Händen Bin ich gehüllt Und aus Fingern Und aus leisen Stimmen im Wald. So falsch So schön So schlecht So Laura. Ich muß nach Hause. Jetzt. Es ist zu dunkel. Das ist jetzt kein guter Platz für mich. Laura
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Liebes Tagebuch,
16. August 1984
nie in meinem Leben war ich so durcheinander. Es ist genau halb sechs morgens, und ich kann kaum den Stift halten, so zittere ich. Ich war wieder im Wald. Habe mich verlaufen. Wurde aber geführt. Ich glaube, ich bin ein sehr schlechter Mensch. Morgen fange ich ein neues Leben an. Ich werde keine schlechten Gedanken mehr haben. Ich werde nicht mehr an Sex denken. Vielleicht kommt er nicht mehr, wenn ich mich mehr anstrenge, gut zu sein. Vielleicht könnte ich wie Donna sein. Sie ist ein guter Mensch. Ich bin schlecht. Laura P.S. Ich verspreche, ich verspreche, ich verspreche, gut zu sein!
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Liebes Tagebuch,
31. August 1984
ich habe Dir ewig nicht geschrieben, weil ich mich so sehr angestrengt habe, glücklich und gut zu sein. Die ganze Zeit war ich unter Leuten, damit ich nie allein bin und an die falschen Dinge denke. Heute aber muß ich Dir schreiben, um Dir die Neuigkeiten mitzuteilen. Ich habe meine Periode. Es ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Schule fängt nächste Woche wieder an, und jetzt das. Ich wollte gerade aufstehen heute morgen, da sah ich das Blut. Ich rief Mom, und sie machte natürlich eine Riesenaffäre daraus. Sie rief Daddy an, obwohl ich sie bat, es niemandem zu erzählen. Und jetzt weiß es wahrscheinlich jeder im Great Northern. Dabei wollte ich bloß ein paar Binden oder sowas, und sie muß sich endlos darüber auslassen, daß ich jetzt eine Frau bin und so weiter. Okay. Okay. Es ist was Besonderes. Aber dadurch kann alles nur schlimmer werden, wenn ich nicht aufpasse. Jetzt liege ich mit Krämpfen im Bett. Mom hat den Fernseher in mein Zimmer gestellt, was nett von ihr war, und ich habe eine Wärmekompresse auf dem Bauch und massenhaft Aspirin auf dem Nachttisch. Fernsehen interessiert mich nicht sehr, also bin ich wieder allein mit seltsamen Gedanken über das Leben und . . . andere Dinge. Ich glaube, was da aus mir herauskommt, hätte die Quelle des Lebens für ein anderes Wesen sein können. Ich bin froh, daß gerade niemand in mir ist. Zumindest kein Kind. Manchmal denke ich, es ist jemand in mir, aber es ist nur ein anderer, fremder Teil von mir. Manchmal sehe ich sie im Spiegel. Ich weiß nicht, ob ich je selbst Kinder haben will. Etwas geschieht mit Eltern oder mit Leuten, die Eltern werden. Ich glaube, sie vergessen, daß sie selbst einmal Kinder waren und daß manches ihre Kinder stört oder ängstigt, aber sie haben das einfach vergessen oder beschlossen, sich nicht darum zu kümmern. Zuviel Schlechtes passiert mir manchmal spät in der Nacht, also wäre ich wahrscheinlich keine besonders gute Mutter. Das macht mich sehr traurig. 30
Über eines bin ich froh. Jupiter liegt neben mir im Bett, und er schnurrt leise. Er würde mich nie kritisieren, genau wie Du. Laura
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Liebes Tagebuch,
1. September 1984
meine Brüste tun weh, was fast idiotisch ist, weil sie so winzig sind. Ich gebe aber zu, daß sie größer sind als letzte Woche und bestimmt hübscher aussehen. Immer hart an den Spitzen. Aber, Gott, sie schmerzen. Mom kam vorhin zu mir, und wir hatten sogar ein echt gutes Gespräch. Ich habe ihr gesagt, daß es mir lieber gewesen wäre, wenn sie Daddy nichts von meiner Periode erzählt hätte, und sie hat sich entschuldigt. Sie behauptete, sie hätte es ihm nur erzählt, weil sie wußte, wie stolz er darauf sein würde, daß sein kleines Mädchen nun zur Frau wurde. Sie hat das Wasser in meiner Kompresse gewechselt und mir lange den Bauch massiert — ohne ein Wort zu sagen, und trotzdem hatte ich das Gefühl, mit ihr zu sprechen. Hinterher kroch sie für etwa eine Stunde zu mir ins Bett, und ich durfte an ihrer Schulter einschlafen. Wir tranken zusammen ein Mineralwasser, als ich aufwachte, und zum ersten Mal seit ganz langer Zeit habe ich mich ihr richtig nahe gefühlt. Hoffentlich kann ich heute nacht durchschlafen. Küßchen, Laura
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Liebes Tagebuch,
9. September 1984
ich habe etwas über mich selbst herausgefunden. Erinnerst Du Dich, wie ich neulich nachts mit diesem wunderschönen Gefühl aufgewacht bin? Nun, es gibt eine ganz besondere Stelle an meinem Körper, die mich das fühlen läßt, so oft ich will. Eine warme, wunderbare Stelle, wo alles andere zerschmilzt und ich mich ganz einfach herrlich fühlen kann. Mein geheimes rotes Knöpfchen. Und es gehört mir ganz allein. Endlich habe ich etwas, das mich bei meinen Phantasien begleitet. Ich kann es im Bett machen, ganz sanft mit der Fingerspitze. Ich kann es in der Badewanne machen, mit dem Wasser, das aus dem Hahn fließt. (Ich habe nie gewußt, wie sehr man das Baden genießen kann!) Oder unter der Dusche, mit einem dünnen Wasserstrahl, der von oben kommt. Ich winde mich und zucke dabei und muß manchmal ein Kissen nehmen und auf mein Gesicht legen, damit es dunkel ist und niemand meine kleinen Schreie hören kann. Schließlich ist es ein Geheimnis, und ganz egal, ob richtig oder falsch, es ist ein tolles Gefühl, wenn es passiert, und keiner braucht davon zu wissen, außer Dir natürlich, liebes Tagebuch. Es war eine ziemlich aufregende Woche, mit meiner Periode und allem anderen, und jetzt diese wunderbare Entdeckung. Jetzt fühle ich mich allmählich als Frau, und eines Tages, vielleicht schon sehr bald, werde ich meine Entdek-kung mit jemand ganz Besonderem teilen. Gute Nacht! Gute Nacht! Gute Nacht! Laura P.S. Von Herzen hoffe ich, daß ich nichts Falsches mache, wenn ich mich da unten streichle. Ich hoffe, daß alle Mädchen das tun und daß ich nicht später dafür bestraft werde.
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15. September 1984 An denjenigen, der in meine Privatsphäre eingedrungen ist: Ich kann das Mißtrauen, das ich meiner Familie und meinen Freunden gegenüber empfinde, kaum fassen. Ich weiß ganz sicher, daß mein Tagebuch von jemandem genommen und gelesen worden ist, vielleicht sogar von mehreren. Ich werde nun sehr lange nicht mehr in dieses Tagebuch schreiben, vielleicht nie mehr. Du hast mein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zerstört. Dafür hasse ich Dich, wer immer Du bist! Auf diese Seiten habe ich Dinge geschrieben, die manchmal so erschreckend oder peinlich waren, daß selbst ich sie nicht noch einmal lesen konnte . . . Ich verlasse mich darauf, daß diese Seiten nur von mir umgeblättert werden, und nur wenn ich selbst es wünsche. Vieles verletzt und verwirrt mich. Ich brauche meine privaten Blätter, um meine Gedanken außerhalb von mir betrachten zu können, sie wegzuschieben. Bitte laß dieses Tagebuch in Ruhe! Das meine ich ganz ernst. Laura
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Liebes Tagebuch,
3. Oktober 1985
ich habe mich nun, über zwölf Monate später, entschlossen, wieder mit Dir zu sprechen. Ich habe ein neues Versteck gefunden, über das ich nichts sagen werde, falls man dich außerhalb davon findet und ein Neugieriger wissen will, wo es ist. Ich weiß, es war nicht Dein Fehler, daß Dich jemand gefunden hat und seiner Neugier freien Lauf ließ, aber es hat sehr lange gedauert, bis ich mich wieder sicher genug fühlen konnte, auf Deine Seiten zu schreiben. Viel, sehr viel ist passiert, seit Du zuletzt von mir gehört hast, und vieles davon hat gezeigt, daß mein Eindruck von der Welt als grausamer und trauriger Ort richtig ist. Ich traue niemandem und auch mir selbst nur selten. Fast jeden Morgen, Mittag und Abend kämpfe ich mit der Frage, was richtig und was falsch ist. Ich verstehe nicht, ob ich für etwas bestraft werde, was ich falsch gemacht habe, etwas, woran ich mich nicht erinnere, oder ob es allen so geht und ich einfach zu blöd bin, es zu verstehen. Das Wichtigste zuerst: Ich habe herausgefunden, daß nicht Dad mir Troy geschenkt hat. Es war Benjamin Hörne. Die Einzelheiten sind unwichtig, sagen wir einfach, ich habe gehört, wie sich Audrey und ihr Vater deswegen gestritten haben. Das war, als ich oben im Great Northern war, um Johnny zu besuchen. Johnny ist Audreys Bruder, Benjamins anderes Kind. Johnny ist geistig zurückgeblieben. Er ist älter als ich, hat aber das geistige Niveau eines Kleinkindes. Das sagen zumindest die Ärzte. Manchmal denke ich, daß er sich ganz bewußt entschlossen hat, still zu sein, weil es manchmal so viel interessanter ist, den Leuten zuzuhören als selbst zu reden. Er sagt nur »ja« oder »Indianer«. Die Indianer liebt er. Immer trägt er einen Kopfschmuck. Einen aus herrlich bunten Federn und gefärbten Lederbändern. In seinen Augen ist die Welt eine seltsame Mischung aus Glück und Schmerz, und ich glaube, Johnny besser zu verstehen als die meisten anderen Leute. Vielleicht läßt sich eine Möglichkeit finden, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Man läßt ihn so oft allein. 35
Ich bin froh, daß Troy mein Pony ist, und ich liebe es, auf ihm zu reiten, ihn zu führen oder ihm einfach beim Grasen zuzusehen. Aber Dad gegenüber habe ich jetzt ein komisches Gefühl. Als wäre er jetzt ein weniger ehrlicher Mann, weil er behauptet hat, Troy sei ein Geschenk von ihm. Vielleicht wollte es Benjamin so, ich weiß es nicht. Aber wie auch immer, irgendwie fühle ich mich nun zu Benjamin mehr hingezogen, habe das Gefühl, daß ich ihm mehr verdanke als Dad. Manchmal denke ich, ich hätte lieber gar kein eigenes Pony bekommen, denn dann hätte ich nicht soviel Respekt vor Dad verloren, und Benjamin wäre für mich weiter einfach Benjamin geblieben. Und was noch schlimmer ist, Audrey und ich werden jetzt wohl nie miteinander auskommen. Mir ist unwohl bei dem Gedanken, daß ich das verursacht habe. Aber es verschafft mir auch ein Gefühl von Macht. Warum passieren mir solche Sachen? Ich glaube, von allen Männern auf der Welt ist Dr. Hayward immer am liebevollsten zu mir gewesen. Er ist selbstlos, nett, und er hat immer ein sanftes Lächeln voller Ermutigung oder Nachsicht für mich - oder irgendwas, das genau den Riß füllt, den ich in mir spüre. Vor dreizehn Jahren brachte er mich auf die Welt und hielt meinen Körper nur einen Augenblick lang in seinen Armen. In meinen Tagträumen kommt mir dieser Moment immer als einer der wärmsten meines ganzen Lebens vor. Ich lie be Dr. Hayward, weil er mich, dieses verängstigte kleine Kind, an die klare Luft und ins Licht gehalten hat und weil er mir ohne ein Wort das Vertrauen eingeflößt hat, daß er mich wieder festhalten wird, wenn ich ihn je brauche. Er kommt mir vor wie jemand, den ich jeden Tag um mich haben könnte. Die Sanftheit eines Großvaters verbunden mit der helfenden Hand des Vaters. Nach dem Abendessen bin ich wieder da. Es gibt noch so viel Neues. Küßchen, Laura 36
Liebes Tagebuch,
3. Oktober 1985, später
das Abendessen war heute gut. Eines meiner Leibgerichte, Kartoffelpfannkuchen mit Maisbrei und Gemüse. Ich muß meine Eßgewohnheiten so schnell wie möglich ändern, oder ich laufe Gefahr, aufzugehen wie ein Ballon. Mom hat das extra für mich heute abend gekocht, weil sie weiß, daß ich wegen Jupiter immer noch ganz außer mir bin. Sie und Dad haben Huhn gegessen. Jupiter ist die andere Neuigkeit. Er hat immer im Garten hinter dem Haus gespielt. Der Garten ist nicht eingezäunt, aber Jupiter ist nie weggelaufen. Er war wohl zu klug, von einem Haus wegzurennen, wo er so sehr geliebt und so gut gefüttert wurde. Obwohl ich Dir nicht oft von ihm geschrieben habe, gehörte er zum Wichtigsten in meinem Leben, er war immer so süß und lieb. Immer liebte er mich, ganz egal, wie ich aussah oder was ich gerade wieder falsch oder richtig gemacht hatte. Oft, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, spielten wir beide unten mit einem Wollknäuel im Licht der kleinen Flurlampe. Danach schleckten wir in der Küche ein Eis. Er war ein totaler Vanille-Fan. Es war dunkel im Haus, und wir beide trieben uns herum, bis wir endlich schlafen konnten. Ich habe noch ein Foto, das Dad von mir und Jupiter auf der Wohnzimmercouch machte, nach einer solchen Nacht. Wir hatten es vor Müdigkeit nicht mehr nach oben geschafft und waren auf der Couch eingeschlafen. Ich habe das Foto Sheriff Truman gegeben, damit er es auf der Wache aufhängt. Ich hoffe, sie finden denjenigen, der Jupiter überfahren hat. Ich weiß, daß es wahrscheinlich ein Unfall war, denn ein paar Minuten bevor es passierte, hatte er eine kleine Maus oder sowas gefunden. Ich hatte nicht darauf geachtet, aber er rannte damit weg und wurde auf der Straße überfahren. Mom hörte den Lärm und rief mir zu, ich solle bleiben, wo ich war, bis sie wußte, was passiert war. Aber manchmal haben Mom und ich dieselben Gedanken, dieselben Träume, und sie müßte eigentlich wissen, daß ich nicht in meinem Zimmer bleiben würde, wenn ich es wußte. Also 37
hörte ich nicht auf sie und rannte raus zu ihm. Er atmete noch ein paar Augenblicke, und Blut lief aus seinen Augen und aus seinem Bauch. Ich kann nicht glauben, daß jemand am hellichten Tag einfach eine Katze überfährt und niemandem Bescheid sagt. Nicht daran denkt, anzuhalten und zum nächsten Haus zu gehen, um zu sagen, was passiert ist. Mom hörte die Reifen quietschen, und Dad meint, wenn er zu Hause gewesen wäre, hätte er vielleicht am Motorgeräusch hören können, was für ein Auto es war. Ich habe da meine Zweifel, aber es war ein lieber Gedanke. Jupiter ist jetzt draußen begraben. Ein guter Freund ist weg, und ich hänge doch so an den wenigen, die ich habe. Ich wünschte, etwas anderes wäre an Jupiters Stelle gestorben. Um ganz ehrlich zu Dir zu sein, wie ich es immer bin: Viele Leute in Twin Peaks mögen mich. Sehr viele kennen meinen Namen, und besonders in der Schule bin ich, glaube ich, sehr beliebt. Das einzige Problem ist, daß ich kaum einen dieser Menschen so gut kenne, wie sie mich zu kennen glauben. Ich glaube sogar, ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß sie mich überhaupt nicht kennen. Donna kennt mich am besten. Aber noch immer habe ich Angst, ihr von meinen Phantasien und Alpträumen zu erzählen, denn manchmal versteht sie mich sehr gut, manchmal aber kichert sie auch einfach, und ich habe nicht den Nerv, sie zu fragen, warum sie so etwas lustig findet. Also fühle ich mich wieder schlecht und halte lange den Mund darüber. Ich liebe Donna sehr, aber manchmal fürchte ich, daß sie nicht mit mir zusammen sein würde, wenn sie wüßte, wie es in meinem Inneren aussieht. Schwarz und dunkel, und angefüllt mit Träumen von großen, riesigen Männern und ihren verschiedenen Arten, mich festzuhalten und mich zu nehmen. Eine Märchenprinzessin, die glaubt, aus dem Turm gerettet zu sein, aber herausfindet, daß der Mann, der sie entführt, sie gar nicht retten will, sondern tief in sie eindringen. Sie reiten will, als wäre sie ein Tier, sie erregt und ihr befiehlt, 38
die Augen zu schließen und zuzuhören, wie er ihr alles schildert, was er tut. Schritt für Schritt. Ich hoffe, das ist kein böser Gedanke. Küßchen, Laura
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Liebes Tagebuch,
12. Oktober 1985
ich habe neulich abend eine Marihuanazigarette probiert. Donna und ich wollten eigentlich nur zusammen bei ihr übernachten, doch ihre und meine Eltern gingen an dem Abend zusammen zu einer Party, die Benjamin Hörne im Great Northern gab. Donna und ich hatten keine rechte Lust mitzugehen, und ich schon gar nicht, wegen Audrey. Ich überredete Donna, mit den Rädern zum Book House raufzufahren, um ein paar neue Leute kennenzulernen. Es hat ewig gedauert, bis sie mir endlich glaubte, daß ich nichts rumerzählen würde und daß wir vor unseren Eltern wieder zu Hause wären. Schließlich war sie dann einverstanden, weil wir beide schon lange die Nase voll haben von diesen ewig gleichen Gesichtern um uns herum. Wir waren kaum eine halbe Stunde da, als ein paar Typen uns ansprachen, Josh und Tim und noch einer, aber den Namen habe ich vergessen. Ich rauchte gerade eine Zigarette, die ich damals vom Pult des Portiers im Great Northern geklaut hatte, als ich Johnny ein Buch mit indianischen Märchen brachte. Sie hielten uns wohl für älter, weil eine von uns rauchte. Also kam Josh mit Tim und dem anderen Typen auf uns zu. Sie sagten, sie wären aus Kanada, und das hörte man auch sofort, weil sie die ganze Zeit »ay« sagten. »Willst du was Besseres als 'ne Zigarette, ay?« Tim fand Donna sofort gut, was sie ganz schön aufregte, weil alle drei so um die zwanzig waren. Mich machte keiner sonderlich an. Sie sahen alle aus wie nette Jungs. Ich fühlte mich ziemlich sic her, fand die Sache aber nicht sehr spannend . . . Verstehst Du, was ich meine? Okay, jedenfalls sagte ich, daß ich diese Zigarette wollte, und Donna und ich gingen ihnen nach hinter das Book House, um dort zu rauchen. Donna hatte sich eine komplizierte Geschichte ausgedacht, daß wir nur für eine Nacht in Twin Peaks wären und daß wir in knapp einer Stunde schon wieder bei unserem Reisebus sein müßten. Sie sagte, wir wären auf einer Tour, die »Round about the Woods« hieße. Ich glaube, 40
sie kauften ihr das ab, jedenfalls beeilten sie sich und zündeten das Ding direkt an. Josh meinte, daß wir vielleicht beim ersten Mal gar nichts spüren würden, aber Donna und ich bewiesen ihm das Gegenteil. Er sagte, wir müßten es »tief runterziehen, ay?« Und das taten wir auch. Sechsmal! Tagebuch, es war total wahnsinnig. Stell Dir vor, so ein entspanntes Gefühl, warm und ein bißchen . . . sexy. Ich nannte Donna »Trisha«, und sie sagte »Bernice« zu mir! (Falls die Typen jemals wiederkommen und aus irgendeinem Grund nach uns fragen. Wir wollten nicht, daß irgendwer davon erfuhr.) Also, wir haben wie verrückt gelacht, ich habe gelacht wie noch nie in meinem Leben. Alles, was ich sah, war so irrsinnig komisch. Alles war ziemlich verschwommen und schwankte irgendwie, als würde ic h die Welt durch den Boden eines leeren Glases sehen. Ich spürte den warmen Sommerwind, und die Bäume dufteten ganz fantastisch. Tim brachte uns eine Tasse Kaffee mit ein bißchen Kakao drin, und wir fünf saßen da und quatschten über alles mögliche, ob zum Beispiel unser ganzes Universum vielleicht nur ein Fusselchen auf dem Pullover eines Riesen wäre, den der bisher übersehen hat, aber jeden Moment wegbürsten könnte. Oder vielleicht steckt er den Pullover mit uns allen in die Waschmaschine, und wir ertrinken. Donna sagte, daß vielleicht unsere ganzen Jahrhunderte für diesen Riesen nur der Bruchteil einer Sekunde sind und daß schon bald etwas passie ren wird, denn wie lange kann jemand den gleichen Pullover anbehalten? Uns allen gefiel die Idee, daß es vielleicht noch andere kleine Welten oder »Fussel« auf diesem Pullover gibt, und wir fanden, daß wir eigentlich ganz gerne mal ein paar Leute von diesen anderen Welten treffen würden, wenn sie nett wären. Wir hörten Musik, die vom Road House rüberkam, und ich mußte unbedingt aufstehen und ein bißchen tanzen. Es ging mir so gut wie nie, ich trieb auf der Nachtluft dahin und fühlte mich innerlich so warm. Donna tanzte sogar ein paar Minuten mit mir, bis ihr klar wurde, daß wir unbedingt weg mußten, ZU UNSEREM REISEBUS! Wir mußten lügen und behaupten, wir hätten die Räder 41
im Fundbüro beim Sheriff ausgeliehen, aber ich glaube nicht, daß die Jungs uns das abkauften. Aber sie waren nett und sagten nichts dazu, auch wenn sie was wußten. Vielleicht machte es die Nacht auch für sie noch aufregender. Aber vielleicht auch nicht, denn sie sind älter und haben bestimmt schon viel aufregendere Nächte erlebt. Auf dem Nachhauseweg mußten wir andauernd anhalten, weil wir Lachkrämpfe hatten. Dann hatte ich auf einmal eine Wahnsinnsgier nach Keksen und Milch, als ob ich sonst sofort tot umfallen würde, und Donna ging es total genauso. Wir mußten auf der Stelle was Süßes haben. Sie sagte, sie hätte noch Kuchen zu Hause, aber das war nicht das Richtige. Also kratzten wir unser ganzes Geld zusammen und gingen in den Supermarkt. Wir kauften so viel Zeug für unser Festmahl, daß wir die Räder bis zu Donnas Haus schieben mußten, weil wir riesige Tüten im Arm trugen. Den ganzen Weg über hatten wir totale Panik, genau wie es uns die Jungs prophezeit hatten, weil unsere Augen ganz rot waren und wir unbedingt zu Hause sein wollten, bevor unsere Eltern kamen. Wir hatten tierisches Glück, denn als wir gerade ins Haus kamen, rief Dr. Hayward an und sagte, sie würden noch länger bleiben, weil Benja min Dias zeigte oder so was. Gott sei Dank! Schnell rannten wir die Treppe hoch und verpaßten uns Augentropfen, dann drehten wir die Anlage auf und aßen und tanzten und lachten, und als die anderen zurückkamen, schliefen wir schon tief und fest. Ich weiß, daß Drogen was Schlimmes sind, aber ich kriege allmählich das Gefühl, daß gerade sowas mir gefällt. Etwas Schlimmes zu tun. Bis morgen, Laura
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Liebes Tagebuch,
20. Oktober 1985
nun ist schon über eine Woche rum, und ich habe Neuigkeiten. Entschuldige, daß ich nicht früher geschrieben habe, aber irgendwie geht hier alles drunter und drüber . . . da drinnen in mir wenigstens. Zu Hause ist alles beim alten. Und das bringt mich auf die Palme. O Gott, ich fühle mich manchmal so unter Zwang, muß andauernd dieses Grinsen im Gesicht haben, oder sie flippen alle aus wegen mir. Ich frage mich, ob ein Schmerz, mit dem man immer leben muß, also nicht der Schmerz, wenn deine Katze überfahren wird oder wenn eine Tante stirbt . . . ob einem so ein Schmerz wohl je zum Freund werden kann? Schmerz als dein Schatten oder Kamerad. Ich wüßte gern, ob es das gibt . . . Nun ja, jedenfalls sind die Neuigkeiten ziemlich eigenartig. Ich habe ein bißchen Angst, weil mir das Gefährliche daran so gut gefallen hat, aber am besten erzähle ich Dir erst mal alles, um es loszuwerden. Vielleicht geht es mir dann wie mit meinen Träumen, die ich leichter verstehe, wenn ich sie schwarz auf weiß vor mir sehe. Also los. Freitag, also vorgestern, gingen Donna und ich ungefähr um vier Uhr nachmittags wieder zum Book House. Ich glaube, wir sind nur hingegangen, weil wir hofften, daß Josh und Tim und ihr Freund dasein würden und wir mit ihnen wieder einen durchziehen und high werden könnten. Wir machten uns ziemlich zurecht, nicht zu gestylt oder ausgeflippt, weil wir so gut wie jeden in der Stadt kennen und nicht wollten, daß es unseren Eltern getratscht würde. Aber wir hatten Röcke an, die ziemlich kurz waren und ein bißchen enger, als es die meisten Leute für richtig halten - außer Typen natürlich. Und wir spielten mit dem Make-up rum, das Donnas Mutter, Mrs. Hayward, ihr zu Ostern geschenkt hatte, weil Donna welches probieren wollte und ihre Mutter fand, sie sollte ihr eigenes haben. Aber weiter! Wir kamen zum Book House, und außer Big Jake Morrissey war niemand da. Ihm gehört der Laden. Ich glaube, ich muß Dir erzählen, wie es dort aussieht, damit Du Dir vorstellen kannst, wo ich war. Es ist so eine Art Cafe, 43
hauptsächlich für Typen. Mädchen dürfen zwar auch rein, aber es hängen fast nur Typen dort rum. Überall auf den Tischen und Regalen liegen Bücher. An allen drei Wänden, bis ganz nach hinten sind solche Regale. Es riecht nach Zigaretten, Aftershave und Kaffee. Ständig wird Kaffee gemacht. Als ich diesmal drin war, sah ich ein Bild an der Wand — ein Mann, der haargenau dem Ideal meiner Träume entspricht! Ich sagte natürlich kein Wort, aber er ist es. Perfekt. Er sieht hart und brutal aus, hat aber treue Hundeaugen und eine weiche, glatte Haut. Auf dem Bild trägt er Jeans und eine Lederjacke und sitzt mit einem Buch in der Hand lesend auf seinem Motorrad. Ich habe mich verliebt! Wir waren also die einzigen Gäste im Lokal, und Jake brachte uns Kaffee und sagte, daß bald Leute kämen und es vielleicht besser wäre, wenn wir bis dahin verschwunden wären, besonders in unserem heutigen Aufzug. Halb im Spaß und halb ernst fragte er uns: »Oder sucht ihr Ärger, der Hosen trägt?« Donna wurde knallrot, und ich erzählte ihm dasselbe, was ich Mom und Dad sagen würde, wenn sie je dahinterkämen. »Das ist doch nur ein Spiel, reine Angabe. Wir wollen uns amüsieren und sind ganz bestimmt nicht auf Ärger aus.« Er nahm mir das ab, und als wir unseren Kaffee ausgetrunken hatten, gingen wir. Beim Gehen jedoch erzählte ich Jake noch, daß vor etwa einer Woche drei unheimlich nette Typen aus Kanada Donna und mir geholfen hätten, unsere Fahrradreifen zu flicken. Ich sagte ihm, wenn er sie sähe - Josh, Tim und den anderen Typen mit blonden Haaren —, sollte er ihnen danken und ihnen sagen, daß wir uns gerne mit einer Tasse Kaffee oder so was bei ihnen bedanken würden. Und dann sagte ich noch, daß wir vermutlich hinter dem Haus sitzen und uns unterhalten würden, falls sie auftauchten. Jake sagte, er würde es ausrichten, wenn sie kämen. Richtig geraten! Sie kamen, und sie machten uns ziemlich an, weil wir sie angelogen hatten. Donna hatte einen Geistesblitz und erklärte: »Wir wollten sichergehen, daß ihr in Ordnung seid, bevor wir euch sagen, wer wir sind und so.« Sie fanden, daß wir total super aussähen, und ich kriegte 44
raus, daß der dritte Typ Rick heißt und daß alle 22 sind! Wir sagten, unser Alter sei unwichtig und würde uns auf keinen Fall davon abhalten, uns zu amüsieren, nur müßten wir um zehn zu Hause sein. Wenn es später würde, müßten wir anrufen. Josh sagte, er hätte Alkohol, und wenn wir hier im Wald einen Platz für ein kleines Feuer und so wüßten, könnten wir eine kleine Party feiern. Das war ungefähr um halb sechs. Diesmal waren sie nicht mit Motorrädern da, sondern mit einem offenen Lieferwagen. Ich kletterte auf die Ladefläche und sagte ihnen, sie sollten Lucky Highway 21 überqueren und in den Wald hinter Low Town fahren. Donna und ich fanden, daß es dort sicherer wäre, und wenn was passieren würde, konnte ich sagen, ich hätte mich mit Donna verlaufen, daß wir spazierengegangen seien oder so und uns verirrt hätten. Es würde schon klargehen. Die Typen schienen echt nett zu sein, deshalb trauten wir ihnen auch ein zweites Mal. Wir fanden eine Stelle an einem Bach, wo kaum Nadeln auf dem Boden lagen, so daß mit dem Feuer nichts schiefgehen konnte. Tim und Rick suchten Holz, und Josh machte die Flasche auf . . . ich glaube, es war Gin. Der einzige Alkohol, den Donna und ich je getrunken hatten, war ein Glas Champagner — ein Glas, bei Dr. Haywards Geburtstagsparty letztes Jahr. Das hier war völlig neu für uns. Donna schien sehr gespannt zu sein, aber auch ein bißchen ängstlich. Ich war einfach nur aufgeregt und war nach Josh die erste, die trank. Wir ließen die Flasche kreisen . . . bis sie leer war. Donna und ich waren beinahe sofort total von der Rolle. Rick sagte dauernd: »Die sind breit, Mann.« Donna und ich mußten pinkeln, also gingen wir etwa zehn Meter vom Feuer weg und hockten uns hinter einen Baum. Einen Augenblick lang hatten wir beide eine Heidenangst. Totale Panik. Wir konnten uns nicht mehr normal benehmen, dachten, daß wir dummes Zeug reden und hatten Angst, daß wir zu jung wirkten oder so. Als ich aufstand, wurde mein Kopf wieder klar. Ich dachte mir: Jetzt ist es zu spät, jetzt bist du sowieso schon betrunken, also sieh zu, daß du deinen Spaß hast, und vergiß nicht, 45
auf die Uhr zu schauen!< Donna fand, wir sollten uns einfach treiben lassen, aber eng zusammenbleiben. Tim drehte das Autoradio an, und ich fragte, ob es blöd aussähe, wenn ich ein bißchen tanzte, weil mir der Song so gut gefiel. Alle drei meinten, das sei okay. Donna saß nur da und starrte eine Zeitlang ins Feuer. Tim ging zu ihr, setzte sich dicht neben sie und flüsterte ihr was ins Ohr. Sie machte große Augen, kicherte vor sich hin und entspannte sic h. Ich glaube, er heizte ihr ein bißchen ein, sagte ihr, daß sie gut aussieht oder so. Ich darf nicht vergessen, sie zu fragen, was er eigentlich gesagt hat. Also tanzte ich. Josh und Rick schauten mir gebannt zu. Ich fühlte mich ziemlich locker oder selbstsicher oder beides, aber ich flippte ein bißchen aus und fing an, mehr Sex in meine Tanzerei zu legen. Das hatte ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel geübt. Ich ließ meine Hüften kreisen und bewegte langsam die Arme, und manchmal berührte ich meine Hüften, als brächte es mich hoch, wenn ich mich selbst berührte. Verdammt! Mom ruft mich zum Abwaschen runter. Bin gleich wieder da. Es gibt noch viel zu berichten! Küßchen, Laura Tagebuch, hier bin ich wieder. Tut mir leid wegen der Unterbrechung. Ich tanzte also, und Donna sah, was ich tat, und schaute mich an, als wär' ich verrückt geworden. Sie starrte ein paar Minuten in die Runde, und ich glaube, sie wollte einfach ein bißchen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn sie schaute auf ihre Uhr und sagte: »Los, je tzt gehen wir nackt baden!« Daran kannst du direkt erkennen, wie betrunken Donna war. Alle schwiegen plötzlich und hörten ein paar Sekunden bloß der Musik zu, aber dann meinten sie: »Ja, okay.« Also zogen Donna und ich unsere Sachen aus . . . alle. Fast hätten wir die Höschen angelassen, aber wir hatten Angst, daß sie uns dann für dumme kleine Mädchen halten würden. Sie saßen schon alle im Bach, an große Steinbrocken gelehnt, als wir zum Feuer zurückkamen. Der Bach ist an seiner 46
tiefsten Stelle wohl knapp über einen Meter tief. Da saßen sie also, und wir legten unsere Kleider hin und blieben kurz beim Feuer stehen. Als wir zum Wasser gehen wollten, sagte Josh: »Halt. Bleibt da stehen. Nur eine Minute.« Das taten wir. Und als wir eine Minute nur so dagestanden hatten, sagte er zu Tim und Rick: »Habt ihr in eurem Leben je etwa so Schönes gesehen wie diese beiden Mädchen?« Sie gaben beide zustimmende Laute von sich. Donna und ich erschraken ein bißchen, als wir merkten, wie sie uns anstarrten . . . so direkt vor uns, verstehst Du? Tim sagte: »Seht euch die Schatten an, die das Feuer auf ihrer Haut macht.« Donna und ich sahen uns an, dann schauten wir wieder zu ihnen. Man konnte sie kaum sehen, weil wir so nahe am Licht standen und sie im dunklen Wasser saßen. Rick sagte bloß: »Bitte, bitte kommt zu uns ins Wasser.« Das taten wir. Es war Wahnsinn. Wie sie sich anfühlten, als wir ihnen unter Wasser nahekamen, weich und glitschig, das war wie in meinen Träumen. Noch nie hatte ich etwas gefühlt, was so toll war und meinen Vorstellungen davon so sehr entsprach. Alle hatten sie . . . harte . . . harte . . . ich glaube, ich nenne sie Schwänze, denn »Penis« klingt wie ein Wort aus dem Biobuch. Sie waren alle steif und hart. Und ich sagte (hauptsächlich, weil ich wußte, daß Donna mehr Angst hatte, als sie zugeben wollte): »Dieser Abend soll für uns alle toll werden . . . und danach wollen wir mit dem schönen Gefühl heimgehen, daß wir alle gerne weitergegangen wären. Donna und ich werden nicht alles mit euch machen.« Als das heraus war, konnte ich es selbst nicht glauben. Wer redete da? Was tat ich, Laura Palmer - dreizehn Jahre alt -, hier mitten im Wald mit diesen drei nackten Jungs, die neun Jahre älter waren als ich? Alle gaben ihr Okay, aber Josh sagte noch: »Dürfen wir euch wenigstens anfassen und vielleicht küssen?« Donna schaute mich an wie vor einem Jahr, als Maddy vom Küssen erzählt hatte. Ich sagte, ich hätte nichts dagegen, aber wenn Donna nicht wollte, könnten sie sie nicht zwingen. Irgendwie wird mir erst jetzt kla r, daß das wohl der erregendste Moment 47
für die Typen war, den sie je erlebt hatten. Ich glaube nicht, daß sie irgendwas Schlechtes getan hätten, selbst wenn wir es gewollt hätten, denn sie hatten genausoviel Angst wie wir. Es war ein so seltsamer und intimer Abend. Als ob uns der Wald um uns herum plötzlich verrückt gemacht hätte. Die Bäume und die Dunkelheit ließen uns vergessen, daß es noch etwas anderes auf der Welt gab. Es war halb neun, wir hatten nur noch eine Stunde, bis wir nach Hause mußten. Ich kniete mich in den Bach vor Josh und machte meine Haare naß. Dann sah ich ihn an und sagte: »Okay, du kannst sie anfassen, wenn du willst.« Langsam begriff er und legte seine Hände auf meine Brüste, die doch schon ziemlich groß sind für mein Alter, und einen Augenblick lang zitterte er, als ob er erschrocken wäre. Ich schwebte im siebten Himmel. Ich brachte diesen 22jährigen Jungen total zum Ausflippen. Er streichelte sie, dann streichelte er nur meine Brustwarzen, und es fiel mir schwer, nicht zu sagen, wie toll sich das anfühlte. Also lachte ich. Tim begann Donnas Brüste zu streicheln, und sie sah ihm schweigend dabei zu. Rick hatte niemanden, deshalb sagte ich: »Du kannst mich auch anfassen . . . aber vergiß nicht unsere Abmachung, okay?« Er nickte und kroch im Wasser zu mir her und preßte seinen Mund auf meine Brustwarze. Ich mußte die Augen zumachen, damit sie mir nicht aus dem Kopf sprangen. Es war Wahnsinn! Ich mußte dauernd an den Typ auf dem Foto im Book House denken. Auch wenn sich das vielleicht komisch anhört, sage ich es: Ich hatte den total erregenden Gedanken, daß ich ihn stillte. Als wäre in mir alle Wärme und Nahrung, die er brauchte . . . dieser ältere Junge brauchte mich. Ich fühlte mich stark, beinahe so, als wäre ich eine Traumgestalt für sie. Josh nahm meine andere Brustwarze in den Mund, und Tim und Donna rückten ein bißchen weiter weg von uns und fingen an zu reden. Dann ging Donna mit Tim aus dem Wasser, sie zogen sich an und setzten sich ans Feuer . . . und redeten weiter. Ich kümmerte mich nicht darum und konnte es auch gar nicht. Ich würde damit nicht aufhören, bis ich mußte, es war einfach zu toll, ich wollte nichts auslassen. 48
Ich flüsterte Josh und Rick zu, daß ich mir wünschte, einer von beiden würde mich küssen, ganz zart und langsam . . . und der andere könnte mich vielleicht weiter streicheln, wie sie es jetzt schon machten. Rick sagte, Josh könnte mich küssen, wenn er es dann später auch dürfte oder so. Also beugte sich Josh über mich, kam ganz nahe, und kurz bevor er mich küßte, sage er: »Zart, ja?« Ich nickte. Und er sagte: »Zart und langsam . . .«Er öffnete den Mund, und ich öffnete meinen, und unsere Zungen fingen an, sich miteinander zu bewegen, als ob wir mehr und immer mehr wollten . . . doch es waren keine schnellen Bewegungen, ganz langsam . . . so schön und langsam. Und Rick saugte an meinen Brustwarzen, als wäre er hungrig und würde gestillt, oder als ob er ein ganz wunderbares Eis lutschte. Ganz egal, was er fühlte, für mich war es mindestens zehnmal so gut, das kannst Du mir glauben. Ich hatte einen Traum, ich weiß nicht wie lange, während das geschah, und es war, als wäre nie etwas Unangenehmes in meinem Leben passiert. Alles verschwand, und plötzlich war es mir egal, wenn ich Donna, Mom, Dad, alle nie mehr wiedersehen würde . . . nie mehr. Dieses warme Gefühl, gebraucht zu werden, jemand ganz Besonderes zu sein, eine richtige Kostbarkeit . . . war alles, was ich je erleben wollte, für immer. Ich hatte kein Alter, und es gab keine Zeit, keine Hausaufgaben, keinen Ärger oder Abwasch mehr oder irgendwas sonst, was meine Stimmung verderben oder mich in die kleine Laura zurückverwandeln könnte. Ich war alterslos, und ich war alles, was diese beiden Jungs wollten. Ich war etwas aus ihren Träumen! Dann begann Rick mich zu küssen, und er war genauso zärtlich und süß, küßte aber anders. Er bewegte seine Zunge und die Lippen anders, und manchmal hörte er auf, um mich ganz zart und spielerisch in die Lippen zu beißen. Ich weiß, ich erzähle und erzähle, Tagebuch, aber jemandem muß ich es sagen, denn Donna war, obwohl sie dabei war, doch woanders als ich. Sie war nicht auf dieses Gefühl vorbereitet. Nicht daß das falsch wäre, aber Donna will immer noch brav sein . . . die ganze Zeit. Ich glaube zwar von mir 49
selbst, daß ich so brav bin wie möglich, und vielleicht mehr als die meisten Leute, aber ich mußte sehr lange Zeit viele Sachen einfach vergessen . . . und das war eine unglaubliche Lösung. Mehr passierte nicht im Bach, außer daß ich beide zwischen den Beinen berührte. Ich war genauso zärtlich zu ihnen wie sie zu mir, und ich fand es wunderbar, daß sie so hart waren und diese Härte vom Wasser umspült wurde . . . etwas, das ich nur fühlen, aber nicht sehen konnte. Genau so wollte ich es. Ich war zwar fähig, mehr zu wollen, aber auch zu genießen, was ich hatte. Tim und Donna tauschten Telefonnummern aus, während ich mich anzog, und mir machte nur Sorgen, daß ich so betrunken war und mir langsam schlecht wurde. Ich glaube, Donna ging es genauso, denn Tim sagte: »Vielleicht sollten wir ihnen helfen, sich zu übergeben, damit es nicht zu Hause passiert . . . Donna macht sich nämlich Sorgen, wie sie das ihren Eltern erklären soll.« Ich konnte kaum glauben, wie cool diese Jungs mit uns waren. Sie machten keine Witze und gaben uns nicht das Gefühl, in ihren Augen nichts zu sein. Ich weiß natürlich, daß wir das nicht sind, aber es war trotzdem nett, daß sie gerade in dieser Situation keine solchen Bemerkungen machten. Rick sagte, es sei Kaugummi im Handschuhfach. Wir könnten welchen haben, wenn wir wollten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich daheim ankommen würde, beschwipst und total benebelt, wie ich war. Spucken klang nicht gerade verlokkend, aber Tim meinte, es würde uns helfen, wieder nüchtern zu werden. Also gingen Donna und ich ein paar Schritte weg und steckten den Finger in den Hals. Es kam hoch. Es war schrecklich, aber ich fühlte mich danach besser, und Donna sagte, sie könnte jetzt wieder leichter gehen. Ich schlug vor aufzubrechen. Wenn es ihnen nichts ausmachte, könnten sie uns etwa einen Block von zu Hause weg absetzen, egal bei wem. Ich dachte, die Fahrt auf dem offenen Wagen und die frische Luft würden uns gut tun. Einen Moment, Tagebuch - Mom will einen Gutenachtkuß. 50
Okay, hier bin ich wieder. Gott sei Dank hat sie Dich nicht gesehen. Als die Jungs uns absetzten, sprangen wir von der Ladeflä che, und Tim küßte richtig romantisch Donnas Hand, und Rick und Josh sagten, sie hätten sich riesig gefreut, sie kennenzulernen. Ich ging zur Fahrertür, wo Josh war, und ich wollte ihm gerade danken . . . und wohl einfach sagen, was mir gerade einfiel . . . Aber er unterbrach mich. (Mir lief ein Schauer über den Rücken.) Er legte mir einen Finger auf die Lippen und sagte: »Ich glaube nicht, daß ich dich je vergessen werde, Laura.« Und er lächelte, und Rick sagte: »Danke für euer Vertrauen.« Sie fuhren los, und Donna und ich heulten fast. Wir waren einen Block von Donnas Haus entfernt und steckten jede noch einen Kaugummi in den Mund und übten unsere Geschichte ein. Wir waren im Wald und unterhielten uns. Wir dachten uns Geschichten aus und redeten über Träume und . . . die Zukunft. Donna sagte, sie hätte gar nicht das Gefühl zu lügen, weil Tim und sie genau das getan hatten. Sie hatten sich ein paarmal geküßt, und Donna gab zu, gerade als wir ins Haus gingen, daß es ihr echt gefallen hatte. Ich beschloß, daß wir nicht davon anfangen sollten, was wir draußen gemacht hatten, bis jemand fragte. Ich habe schon gesehen, daß Leute zuviel erklärten, so daß es schließlich so aussah, als würden sie lügen oder etwas verheimlichen, was wir ja mußten. Donnas Eltern lagen schlafend auf der Couch, als wir reinkamen. Wir schlichen uns an ihnen vorbei hoch in Donnas Zimmer. Wir putzten uns die Zähne und brachten unsere Haare ein bißchen in Ordnung, und bevor wir runtergingen, umarmten wir uns. Wir sprachen kein Wort. Umarmten uns einfach. Ich glaube, das war unsere Art, zu sagen, daß wir ein Geheimnis miteinander hatten und daß wir noch Freundinnen waren und daß wir okay waren. Wir waren zu Hause, und alles war okay. Donna weckte ihren Vater und erklärte ihm, wir hätten gezögert, ihn aufzuwecken, weil er so friedlich ausgesehen 51
hätte, wie er da mit dem Kopf an Mrs. Haywards Schulter schlief. Er bot an, mich nach Hause zu fahren. Also rief ich Mom an, und sie sagte, sie hätte gar nicht bemerkt, daß es schon so spät war, weil sie gerade ein echt gutes Buch gelesen hätte. Dad wäre bereits im Bett, aber sie würde auf mich warten. Ich fühle mich nicht schuldig, weil das passiert ist, aber ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil sich niemand Sorgen gemacht hat und weil die Jungs so nett waren. Ich kann mir nicht helfen, immer wenn ich daran denke, daß jetzt alles vorbei ist, werde ich ganz traurig. Diese Nacht ist vorbei, und ich bin wieder Laura. Dreizehn Jahre alt und Dads Schätzchen. Ohne Zorn, aber mit großer Erwartung sehe ich den Zeiten entgegen, wenn ich alt und selbständig genug bin und niemandem mehr Rede und Antwort stehen muß außer mir selbst. Gott schütze Mom und Dad, Troy, Jupiter — Gott hab ihn selig — und die Jungs. Josh, Tim und Rick. Danke Gott, daß Du mir diese Stunden geschenkt hast, diese paar Stunden voller SELIGKEIT. Bald mehr, L. P.S. Ich habe Lust, jedesmal wenn ich über heute nacht nachdenke, es ein bißchen abzuändern. Die Jungs gehen jedesmal ein bißchen rauher mit mir um. Ich werde verführerischer und lasse mir von ihnen erzählen, was sie empfinden, wenn sie mich anfassen. Ich lasse mir von ihnen erzählen, wie es für sie ist. Ich weiß nicht, warum ich es geändert habe . . . Ich habe es sehr gemocht, wie es war, aber wenn ich es in meinem Kopf noch einmal mache, lasse ich sie alles ein bißchen wilder tun. Ich mag dieses Gefühl, ich mag es, daß sie mehr dabei empfinden als ich.
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Liebes Tagebuch,
10. November 1985
letzte Nacht habe ich zum erstenmal seit Ewigkeiten wieder durchgeschlafen. Beim Aufwachen konnte ich mich nicht mal mehr an einen Traum erinnern, oder ob ich überhaupt geträumt hatte. Ich weiß, man sagt, daß wir alle andauernd träumen, aber normalerweise kann ich mich gut erinnern. Jedenfalls als ich Troy im Stall striegelte, tauchte ganz plötzlich dieses Bild in meinem Kopf auf, das Bild einer Adresse: 1400 River Road, 1400 River Road. Ich hatte sie geträumt. Plötzlich spürte ich, daß ich dorthin mußte. Ich mußte den Ort finden und sehen, was dort war. Ich beschloß, Mom vom Stall aus anzurufen und ihr zu sagen, ich würde mit Troy ausreiten und bald wieder dasein. Ich hatte eine ganz vage Vorstellung, wo 1400 River Road war, aber ich fragte Zippy noch, um ganz sicherzugehen. Er sagte, es sei gar nicht so weit weg, aber es gäbe dort nicht viel zu sehen. Ich erzählte ihm, ich wollte mit Troy irgendwohin reiten, wo ich noch nie war. Ich mochte ihm nicht sagen, daß ich die Adresse geträumt hatte und erst mal rauskriegen mußte, ob sie überhaupt existierte. Ich befürchtete, daß er mich dann für verrückt halten würde. Außerdem wußte ich noch nicht mal selbst, was mich so sehr an diesen Ort zog. Ich dachte, nach allem, was passiert ist, sollte ich besser den Mund halten. Ein Geheimnis mehr, wie so viele andere. Zippy sagte, ich müßte mich auf jeden Fall links halten, wenn sich der Feldweg gabelt, denn sonst käme ich auf eine Teerstraße, und das wäre schlecht für Troys Hufe und Eisen. Ich versprach es, und wir zogen ab. Mir gingen alle möglichen Gedanken im Kopf herum, und ich heulte sogar ein bißchen, weil ich an Josh und Tim und Rick denken mußte und daran, daß ich sie wohl nie wiedersehen werde. Ich dachte auch daran, daß Donna mich heute noch nicht angerufen hatte, und ich fürchtete, sie könnte mich jetzt für verdorben oder schlecht oder so halten. Ich hatte das tiefe Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Hoffentlich mag sie mich jetzt noch. Ich weiß nicht, was ich täte, wenn sie mich nicht mehr mag. 53
Die ganze Zeit sah ich diese Adresse vor meinen Augen, jedesmal, wenn ich einen Gedanken, egal welchen, beendet hatte, war sie da. Und schließlich fand ich mich vor dieser alten, verlassenen Tankstelle wieder. Ich sprang von Troy herunter und band ihn an dem Rahmen fest, der noch da war. Der Rahmen, der oben um die Pumpen liegt. Der, auf dem steht, welches Benzin welches ist. Überall wuchs Gras, und ich ließ Troy einfach grasen, damit ich mich umsehen konnte. Als ich um Troy herumging und die ganze Tankstelle vor mir hatte, sah ich die Holz-Lady ganz ruhig mit ihrem Stück Holz da stehen, genau unter der Holztafel mit der Aufschrift 1400 River Road. Sie lächelte mir zu, und mir wurde klar, daß ich ihr Gesicht in meinem Traum gesehen hatte. Lange sagten wir beide nichts. Wir starrten uns nur an, lächelten. Es war mir nicht unangenehm, aber ich war doch ziemlich neugierig, weshalb ich hier war, und als ich das gerade dachte, begann sie zu sprechen. »Ich weiß, du willst gerne wissen, was es mit diesem Ort und mit mir auf sich hat.« Ich nickte. »Ein Traum hat mir gesagt, ich sollte dich hier treffen und mit dir reden«, sagte sie. Mein Magen zog sich zusammen, und mir fiel die Kinnlade runter. »Ich träume manchmal die Träume anderer«, sagte sie ruhig. »Es passiert einfach.« Ich hatte nie gemerkt, daß Margaret, die Holz-Lady, so nett ist. Wir saßen zusammen im Gras vor dem Haus, und sie erzählte, daß sie eine Menge von mir wüßte, ganz besondere Dinge. Sie meinte, ich sollte mir nicht so viele Sorgen machen. Wenn ich auf alles um mich herum achtgebe, würden diese besonderen Dinge eintreffen. Oft berührte sie ihr Stück Holz und schwieg, während sie sich dicht darüber beugte, um ihm zuzuhören. Meistens lächelte sie dann, als wäre sie amüsiert, erfreut. Manchmal sagte sie dem Holz aber auch, daß sie davon jetzt nichts hören wolle. Das sei nicht der richtige Moment. Als das zum letzten Mal passierte, drehte sie sich zu mir um und flüsterte: »Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.« 54
Sie schaute weg und wandte sich dann mit einem veränderten Gesichtsausdruck wieder zu mir, als wäre sie darüber erleichtert, daß wir immer noch allein waren. Sie sagte, sie wüßte, daß ich davon geträumt habe, eine Frau zu sein, und das sei gut, weil alle jungen Mädchen das tun. Dann wurden ihre Worte verwirrend. Sie erzählte viel vom Wald, und ich versuchte, ganz aufmerksam zuzuhören, weil ich ihr vertraute und dachte, daß sie vielleicht etwas wüßte, was mir helfen könnte. Vieles kam mir vor wie sinnloses Gerede. Ich habe es behalten, also schreibe ich es auf, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Vielleicht verstehe ich es später. Was ich verstanden habe, machte mich sehr glücklich — vielleicht war ich nicht schlecht gewesen die ganze Zeit, und vielleicht durfte ich weiterhin auf etwas hoffen, ohne die Angst, egoistisch zu sein. Hier nun einige der Dinge, die sie mir erzählte. Sie sagte, daß der Wald manchmal ein Ort ist, an dem man vieles erfahren kann, auch über sich selbst. Von Zeit zu Zeit ist der Wald jedoch für andere Geschöpfe da, nicht für uns. Sie sagte, daß Leute manchmal campen gehen und dabei Dinge erfahren, die sie nicht wissen sollten. Manchmal sind Kinder die Opfer. . . Ich glaube, so hat sie es ausgedrückt. Was noch . . . ich habe mich so angestrengt, alles zu behalten. Oh. Sie sagte mir, daß sie dauernd beobachtet und daß man eines Tages herausfinden wird, daß sie vieles sieht und im Gedächtnis behält. Sie meinte, daß es wichtig ist, die Dinge, die man sieht und fühlt, zu behalten. Eulen sind manchmal groß. Da! Das war der Satz, den ich total vergessen hatte. Eulen sind manchmal groß. Hoffentlich bedeutet das nicht, daß Mom über meinen »Eulentraum« getratscht hat. Das glaube ich zwar nicht, aber nur so hat der Satz einen Sinn für mich. Ich hoffe, ich verstehe das alles bald. Wie auch immer, wir blieben da sitzen, und ich hörte zu, wie sie dieses Lied summte, das ich noch nie gehört hatte, aber sehr schön fand. Es machte mich sicher, und ich glaube, sie wollte, daß ich mich sicher fühlte. Es tut mir leid, daß die Leute sie für sonderbar und durchgedreht halten. Das ist sie gar nicht. Ich konnte in ihren Augen sehen, daß etwas sie verletzt 55
hatte, hatte aber keine Ahnung, was es sein konnte, bis Mom es mir sagte, als ich nach Hause kam. Sie erzählte mir, daß Margaret (die Holz-Lady) einen Ehemann hatte, der bei der Feuerwehr war. Er ist bei einem Einsatz ums Leben gekommen, und Mom sagte, es sei entsetzlich gewesen, denn er stolperte über eine Wurzel oder sowas und fiel kopfüber in glühende Kohlen und verbrannte bei lebendigem Leib, das Gesicht zuerst. Sie waren erst kurze Zeit verheiratet, als er starb. Seitdem ist Margaret immer sehr still gewesen und hat ihren Schmerz für sich behalten. Mom sagte, daß sie erst seit dem Tod ihres Mannes dieses Stück Holz mit sich rumträgt. Das alles wußte ich nicht, als ich da draußen vor 1400 River Road mit ihr zusammensaß, aber ich glaube, das macht nichts. Ich sagte ihr, daß sie ein sehr netter und besonderer Mensch ist und daß ich froh sei, auf meinen Traum gehört zu haben, denn dieses Gespräch mit ihr hätte ich um nichts in der Welt missen wollen. Und ich sagte ihr auch, ich hoffte, sie hätte recht mit dem, was sie über mein Leben erzählte, daß etwas ganz Besonderes darin läge — ich will danach suchen, denn ich möchte ein guter Mensch sein. Dann gestand ich ihr noch etwas, wovon ich hoffe, daß sie es niemals weitererzählt. Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, ihr das zu sagen, und weiß offen gestanden gar nicht, wo es herkam. Ich erzählte ihr, daß manchmal Dinge geschehen, von denen kein Mensch weiß. Sie geschehen im Wald, wenn es ganz dunkel ist. Ich sagte, daß ich selbst oft nicht sicher bin, ob diese Dinge wirklich sind, sie jedoch manchmal für wirklicher halte als die Sonne, die morgens aufgeht, und daß dieser Gedanke mir entsetzlich angst macht. Ich erinnere mich, daß sie von mir wegsah, als ich ausgeredet hatte. Ich dachte, ich hätte sie irgendwie verärgert. Sie zog ihr Holz fest an sich und sagte, ich sei ein sehr schönes Mädchen und viele Menschen würden mich in meinem Leben lieben. Ich hoffe, daß mich viele Menschen lieben werden. Eines Tages wird mich jemand so lieben, wie es die Jungs taten und sogar noch mehr. Ich frage mich, wo derjenige jetzt ist, 56
und ob er sich fragt, wo ich bin und wie ich aussehe und wann wir uns endlich kennenlernen. Ich wüßte gerne, ob Margaret je so an Sex gedacht hat wie ich. Auf dem Rückweg versuchte ich das Lied zu summen, das sie mir vorgesummt hatte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl, als ich 1400 River Road verließ, und dieses Gefühl behielt ich auf dem Ritt zum Stall, auf der Heimfahrt mit Mom im Auto, und auch jetzt ist es genauso stark wie am Anfang. Ich hoffe, Margaret fühlt sich jetzt nicht einsam. Hoffentlich geht es ihr so gut wie mir. Ich wünschte, ich hätte auch ihr versprechen können, daß sie ein glückliches Leben führen wird. Es ist zu schade, daß ich gar nichts für sie hatte. Später mehr, Laura P.S. Donna hat mich immer noch nicht zurückgerufen.
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13. November 1985 Wenn man dem Wald zuhört Mir scheint, den Bäumen wohnen Seelen inne, Seelen, die wachsen und sich ändern Von Blatt zu Blatt, ein stilles Erinnern von Momenten, die niemand sonst gesehn. Doch kein Mensch hört dem zu Erwägt je den Gedanken, Daß Bäume vielleicht sehen, was geschieht, Daß in ihrem Rascheln vielleicht Der Wunsch zu sprechen sich verbirgt. Vielleicht haben sie versucht zu flüstern In das Innre irgendeiner Hand Die Erinnerung an das kleine Mädchen. Wie es entstand, das neue Loch in ihr, Und ein neuer, kleinerer Mund. Doch niemand glaubt oder fragt danach, Daß vie lleicht Der Baum weiß, Etwas Schlimmes ist geschehn, Daß er erzählen möchte von dem Leid, Das er so viele Nächte hat mit angesehn. Ich glaube, alle Menschen Sollten tief in die Wälder gehn, Um aufmerksam zu lauschen Den Stimmen in den Blättern. Um Einzelheiten zu sehen, winzige Landkarten Aus Fußspuren und manchmal Flecken. Sie sollten sehen, daß die Blätter Wie Tränen geformt sind, Sollten die Muster abgefallener Nadeln deuten, Vielleicht sind gar Markierungen am Boden, Die hinführen Zu dem Mann, der es gemacht, Das Loch. 58
Es ist spät, und er ist heute gekommen. Ich weiß nicht, ob die Holz-Lady von der richtigen Laura Palmer gesprochen hat.
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Liebes Tagebuch,
20. November 1985
ich hatte gerade einen Traum, und ich glaube jetzt, daß ich nicht mehr einschlafen werde. Ich war in einem Zimmer. Es war völlig leer, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es leer war. Ich dachte, es sei mein Fehler, daß nichts da war. Ich hockte in einer der Ecken des Zimmers und starrte auf einen bestimmten Punkt am anderen Ende, weil ich wußte, daß dort bald etwas sein würde. Nach einer Minute wurde mir sehr kalt. Und ich glaubte, etwas zu sehen, aber es verschwand. Dann schaute ich weg, weil ich versuchte, die Tür zu finden, die aus diesem Zimmer in ein anderes führt, denn ich wollte nachsehen, ob die Möbel in einem anderen Zimmer waren. Mir tat irgendwas leid, und ich wollte alles in Ordnung bringen, damit ich mich nicht mehr so . . . schuldig fühlen mußte. Ich glaube, genau das empfand ich. Schuld. Ich sah wieder zur anderen Seite des Zimmers, und da saß eine riesige Ratte. Ich wußte in meinem Traum, daß sie hinter mir her war und mir einen Fuß abbeißen wollte. Ich hatte solche Angst! Ich sah, wie sie näher und näher kam, und suchte wie verrückt nach einer Möglichkeit, sie aufzuhalten oder wenigstens wegzurennen. Aber ich konnte nirgends hin und gar nichts tun! Das klingt vielleicht komisch, aber es jagte mir eine Wahnsinnsangst ein. Ich saß ganz still und versuchte, meine Füße eng an den Körper zu pressen, damit die Ratte nicht an meinen Fuß konnte. Ich mußte dauernd daran denken, wie entsetzlich es sein würde, wenn sich ihre Kiefer um meinen Knöchel schlössen und zubissen. Ich wollte das nicht erleben, und ich wollte nicht, daß die Ratte näher kam. Bleib weg! Ich dachte dauernd, wie schrecklich der Schmerz sein würde . . . Und deshalb, im Traum, weil ich wußte, daß sie nur meinen Fuß wollte, biß ich mir selber einen Fuß ab. Als ich aufwachte, konnte ich kaum atmen, so verängstigt war ich! Ich sehe die Ratte immer noch, und ich glaube, sie war hinter mir her, weil irgendwas mit dem Zimmer nicht 60
stimmte, oder ich wurde für etwas bestraft. Aber ich hatte mehr Angst vor den Zähnen der Ratte und dem Schmerz. Deshalb beschloß ich, es selbst zu tun. Ich wollte mir wehtun, bevor sie es konnte. Obwohl ich nicht weiß, warum die Ratte mich verletzen wollte, ich wußte nur, daß ich es selbst tun mußte, oder sie würde es tun. Ich hasse diesen Traum! Bitte, Tagebuch, ich weiß, es klingt blöd, aber beurteile mich nicht, wie jemand es vie lleicht täte, der von diesem Traum hört. Hoffentlich habe ich nie mehr so einen Traum. Ich will nicht mal wissen, was er bedeutet oder ob ich ihn mir überhaupt merken will. Das entscheide ich morgen, wenn es nicht mehr dunkel ist und man leichter sehen kann, ob etwas hinter einem her ist. Es macht mich verrückt, daß ich nicht einfach zu Mom gehen und ihr alles erzählen kann. Ich fürchte, sie lacht mich nur aus und erzählt es dann allen Leuten und bringt mich in eine peinliche Situation. Ich habe solche Angst, daß die Leute über mich lachen. Ich will versuchen, mehr wie Donna zu sein. Ich will brav sein und alles tun, was ich soll. Dann gibt es nichts mehr, was irgendwer rausfinden und weswegen man mich dann auslachen kann. Dann gibt es nichts, von dem sie sagen können, ich hätte es falsch gemacht. Ich wette, was ich mit Donna und den Jungs gemacht habe, ist der Grund für das jetzt. Ich kann nicht scharf genug nachdenken, um zu entscheiden, ob es das überhaupt wert war. Irgendwas muß Nächte wie diese verursachen. Ich will versuchen, ein besserer Mensch zu sein. Ich werde aufhören, Dinge zu tun, die zu älteren Mädchen passen. Ich werde mich von niemandem verletzen lassen wie in dem Traum. Eher verletze ich mich selbst. Ich weiß, welche Stellen am empfindlichsten sind. Ich werde das Verletzen von jetzt ab übernehmen, wenn nur das alles aufhört!!!! Ich wünschte so, ich könnte mit Mom sprechen. Laura
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Liebes Tagebuch,
16. Dezember 1985
ich weiß nicht, ob ich in nächster Zeit schreiben werde. Ich hatte gerade wieder einen Traum. Ich muß eingeschlafen sein, während ich auf die Sonne wartete. Ich weiß nicht warum, aber ich sah Dich dauernd auf dem Schoß von irgendwelchen Leuten auftauchen und wieder verschwinden. Auf ihren Stühlen im Lokal, wenn sie zur Jukebox gingen. Auf den Motorhauben ihrer Autos, wenn sie losfuhren. Die ganze Zeit wollte ich Dich zurückholen, aber Du bist mir dauernd entglitten. Du warst drauf und dran, allen zu erzählen, was in Dir steht. Ein paar Leute lasen, was hier steht, und sie verwandelten sich in Ratten. Sie wollten mich mit nach draußen nehmen, wie es BOB tut. Ich glaube, bis ich mehr verstanden habe, sollten wir nicht mehr miteinander sprechen. Ich weiß nicht, warum ich das geträumt habe . . . aber ich habe zuviel Angst, um mich zu widersetzen. Wenn das nicht hilft, daß die Alpträume und das Feuer und die Stricke und die kleinen silbernen Messer weggehen . . . Vielleicht sollte ich ihnen nachgeben. Vielleicht ist das mein Schicksal. Vielleicht sollte ich einfach Geduld haben und aufhören, dagegen anzukämpfen, dann geht es weg. Ich sage einem so guten Zuhörer wie Dir nicht gern Lebewohl. Doch ich spüre, daß ich es muß, bis ich herausfinde, ob Du auf irgendeine Art mit den Leuten redest, und ich weiß nichts davon. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Ich kann es kaum erwarten, daß die Ferien vorbei sind und die Schule wieder losgeht, damit ich etwas habe, was mich beschäftigt. Ich schaue andere Mädchen an, die ich kenne, und alle lächeln, genau wie ich auch. In ihrem Inneren, verlieren sie da auch alles, was sie kennen? Haben sie auch aufgehört, sich selbst und allen Menschen um sie herum zu vertrauen? Bitte laß mich nicht herausfinden, daß ich als einzige auf der Welt diesen Schmerz habe. Laura 62
Liebes Tagebuch,
23. April 1986
lange habe ich nicht geschrieben. Schule ist okay, aber fast zu leicht für mich. Sie lenkt meine Gedanken nicht genug ab, so daß sie zu Jungs schweifen, oder ich habe Phantasien. Donna und ich hatten dieses Jahr schon einige Male Streit, weil sie behauptet, ich sei komisch zu ihr und nicht mehr die Freundin, die ich war. Ich hasse Tränen, warum kommen sie also in letzter Zeit so oft? Ich versuche nur, brav zu sein und mich zu beschäftigen und nicht zuviel zu reden oder in den Tag zu träumen, weil ich dachte, das störte die Leute und ich würde dafür bestraft werden. Jetzt ist Donna wütend, weil ich ihr nicht sagen will, was wirklich in mir vorgeht, denn ich habe Angst! Ich kann ihr nicht sagen, daß ich Angst habe, weil sie mich dazu bringen würde, ihr zu sagen, weshalb. Ich habe mich nicht einmal mehr dort gestreichelt, wo es so schön ist. Ich habe Angst, weil es da um Sex geht, und ich habe beschlossen, nicht mehr daran zu denken. Das ist so schwer!!! Ich hasse mich und hasse mein Leben! Dad war in letzter Zeit dauernd mit Benjamin und seiner Arbeit im Great Northern beschäftigt, und allmählich fühle ich mich so wie Audrey, wenn ihr Vater sich mehr um mich kümmert als um sie. Jetzt läuft es genau umgekehrt, und ich versuche bloß, brav zu sein, damit es anders wird, und dabei fällt es mir immer schwerer zu schlafen oder sogar zu essen! Ich will dieses Gefühl unbedingt loswerden. Wenn nicht, passiert was Entsetzliches. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte im Garten ein Loch für einen Brunnen gegraben, weil ich Wasser für uns beschaffen wollte. Ich fand, es sei eine hübsche Idee, einen Brunnen für die Familie zu bauen. Mom gefiel der Plan sehr gut, und sie strahlte. Aber als sie später in dem Traum rauskam, da vergrub ich mich gerade in dem Loch und versuchte, mich umzubringen. Ihr wurde klar, daß ich sie angelogen hatte, und sie regte sich furchtbar auf. Sie lief auf mich zu, um mich daran zu hindern, und ich schrie, daß ich nicht mehr mitten in der Nacht mit Blättern auf mir aufwachen wollte. Ich wollte ein Baum sein, damit ich im Wald hören konnte, ob 63
was passiert. Und plötzlich war ich begraben. Aber ich befand mich in etwas, das kein Dreckloch war. Kurz danach kam Mom in mein Zimmer und fragte, ob alles in Ordnung sei, und ich behauptete, es ginge mir gut. Ich hätte nur Alpträume vom Wald, sonst nichts. Mom wirkte erleichtert. Dann begann sie unglücklicherweise von etwas zu reden, wovon ich ganz und gar nichts hören wollte! Sie fing an, mir von Vögeln und Bienen zu erzählen und von Empfängnisverhütung und Babys und so absolut lächerliches Zeug wie zum Beispiel, daß meine Träume ein Teil der Veränderungen meines Körpers seien und daß ich vielleicht nur Antworten auf ein paar Fragen brauchte. Die ganze Zeit, während sie redete, dachte ich an was anderes. Ich mußte an Blumen und lächelnde Gesichter und sowas denken . . . an mit Baumstämmen beladene Lastwagen, an Vögel, an Donna Donna Donna - nur gute Gedanken. Wollte und konnte nicht auf diese Stimme hören, die all die Dinge aussprach, die wie kleine Schlüssel zu den Zimmern sind, in denen ich nicht sein sollte! Wie konnte das passieren? Fast eine ganze Stunde lang redete Mom ununterbrochen, und ich mußte mich so beherrschen . . . Ich hätte sie am liebsten geschlagen, in dieses lächelnde, freundliche Gesicht reingeschlagen und geschrien: »Was tust du da! Was ist mit diesem Teil von mir passiert!« Willst Du wissen, was mich dabei am meisten ängstigt? Die Leute glauben einfach, daß ich gerade in der Pubertät stecke! Jeder sieht immer nur die lächelnde Laura Palmer. Das Mädchen mit den perfekten Zeugnissen, dem perfekten Haar, den perfekten schmalen Fingern, die manchmal nachts in den Spiegel tauchen wollen, um die in Träumereien verlorene Unruhestifterin zu erwürgen, die ich darin sehe! Heute besuche ich Donna und werde mit ihr reden. So gut ich irgend kann. Die Hausaufgaben sind erledigt, und ich habe schon zwei freiwillige Referate gemacht. Ich bin unter den Klassenbesten und im Diskussionskreis. Ich bete die ganze Zeit und habe mich doch in meinem ganzen Leben nie so schlecht gefühlt. Ich versuche mir einzureden, daß ein paar 64
gute Momente inmitten von endlosen schlechten Phasen besser sind als überhaupt keine guten. Hoffentlich will Donna immer noch meine Freundin sein. Wenn ich kann, sage ich Dir, wie es mit Donna läuft. Bis bald. Laura
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24. April 1986 Mir fiel gerade etwas ein . . . Eine Erinnerung ans Seilspringen, Ich war klein, sah zu ihm auf, Bevor er mir befahl, mich hinzulegen Oder bestimmte Dinge auszusprechen, Bevor er mir sagte, Ich dürfte den Mund nicht aufmachen Und daß wir ein Geheimnis haben. Bevor er begann, mein Inneres nach außen zu kehren Mit seinen schmutzigen Klauen Bevor ich auf dem winzigen Hügel saß, Hüpften wir oft Seil, Hielten uns an den Händen, Erzählten uns, was wir sahen, Aber ich sah es nicht. Ich bin blind, Glaube ich, Seit das Seilspringen aufgehört hat. Ich will in Ruhe gelassen werden wie andere Leute auch. Ich will etwas über dieses weiche weiße Kleid erfahren, in dem ich stecke — wie jeder andere auch. Ich will diese Dinge vergessen, die mir so plötzlich einfallen. Etwas sehr Übles geschieht da. Warum geschieht es gerade mir? Ich glaube, es ist wirklich. Ich glaube, es ist wirklich! Wenn ich mit Donna gesprochen habe, kann ich Dir vielleicht sagen, woran ich mich erinnere. Ich hatte so viel vergessen, aber ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn ich es weiß oder wenn ich überhaupt nichts weiß. Bitte bleib meine Freundin, Donna, bitte!
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Liebes Tagebuch,
21. Juni 1986
ich war gestern den ganzen Tag mit Donna zusammen. Zuerst hat sie kaum mit mir geredet. Als ich anfing zu heulen, rannte ich aus ihrem Haus und rannte einfach weiter. Ich war so froh, als sie hinter mir herkam und auch heulte. Ich habe ihr soviel erzählt, wie ich konnte. Daß ich Schwierigkeiten habe, brav zu sein, weil ich so schlechte Träume habe, ganz schlimme Träume, und daß es kein Witz ist, wenn ich sage, daß ich überhaupt nicht mehr schlafe. Ich sagte ihr, ich würde so gern mit ihr über die Nacht mit den Jungs am Bach reden, aber es käme mir immer so vor, als würde sie mich hassen oder so. Oder als würde ich hinterher einen entsetzlichen Traum haben und denken, daß alles schlecht war, was passiert ist. Ich sagte ihr, ich müßte unbedingt wissen, wie sie über diese Nacht denkt. Ich muß wissen, ob sie glaubt, wir sollten deswegen bestraft werden, oder ich zumindest, weil ich mehr gemacht habe als sie . . . Das muß ich einfach wissen! Donna erwiderte, sie hätte Angst, daß ich wütend auf sie wäre und nicht mehr mit ihr redete, weil sie mit den Jungs nicht so weit gegangen ist wie ich, und daß ich sie deswegen nicht mehr leiden könnte! Ich fragte sie, wie sie darauf käme, nachdem wir uns doch so schön umarmt hatten, als der Abend vorbei war. Für mich war diese Umarmung einer der klarsten und schönsten Momente der ganzen Nacht! Ich sagte ihr, daß ich einfach sehr durcheinander bin und daß ich nicht wüßte, ob ich die Gedanken daran genießen durfte, wie ich es tat, oder ob ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben müßte. Donna meinte, der einzige Grund, warum sie damals aus dem Wasser gestiegen ist, sei der, daß sie einfach nicht gewußt hätte, ob sie das Richtige tat, obwohl alle Jungs so nett waren. Und außerdem war sie sich mir gegenüber so kindisch vorgekommen, weil ich so erfahren und sicher gewirkt hätte. Sie wollte wissen, ob das aus mir selbst kam oder ob ich schon mal was mit einem Jungen gehabt hätte, ohne ihr davon zu erzählen. Darauf konnte ich ihr lange nicht antworten. Ich glaube, ich wußte keine Antwort. Was meinte sie damit, ich wirkte so 67
erfahren und sicher? Ich erklärte ihr, daß ich mich ziemlich sexy gefühlt hatte und glücklich darüber, daß die Jungs mich mochten und wollten, aber das meiste von dem, was wir im Wasser gemacht hatten, wäre ja von den Jungs ausgegangen. Und außerdem waren wir an dem Abend betrunken, und es war so schön, endlich das zu tun, wovon ich schon lange geträumt hatte . . . Da unterbrach sie mich und gestand, daß sie auch davon geträumt hätte. Ich bat sie, mir ihre Phantasien zu erzählen, und sie sagte, daß sie in ihren Gedanken mit ihr tanzen gehen oder sie von der Schule abholen oder mit ihr spazierenfahren. Sie stellt sich dann vor, mit älteren Jungs zusammenzusein, die sie wie eine Prinzessin behandelten, und nachts kämen sie zu ihr in dieses große, wunderschöne Bett, lägen neben ihr, und sie küßten sich, und manchmal schliefen sie miteinander. Sie sagte, sie geht nur ungern so weit, weil ihr Gedanken an Zärtlichkeit ohne Sex viel besser gefallen. Aber sie denkt auch an Sex, sagt sie. Aber an eine Art Sex, die ganz langsam geht, wie in Fernsehserien. Sie sieht es in Zeitlupe und kann Musik dazu hören, und sie rollen ganz langsam miteinander rum, sie und dieser Junge, bis das Bild in ihrem Kopf verblaßt. Sie fragte, ob meine Phantasien auch so sexy sind wie ihre. O Gott, Tagebuch, hätte ich nur nie mit ihr darüber gesprochen! Jetzt mußte ich sie anlügen und ihr sagen, meine Phantasien wären haargenau wie ihre, und daß wir uns nie hätten streiten sollen. Ich entschuldigte mich bei ihr, falls ich ihre Gefühle verletzt haben sollte. Ich hätte offener zu ihr sein sollen und machte mir nur Sorgen, daß sie mich jetzt hassen könnte, weil ich in jener Nacht so weit gegangen bin. Sie sagte, sie findet mich sehr mutig, und wenn es mir Spaß gemacht hätte, sollte ich positiv darüber denken. Aber was ist mit den Phantasien, die sie hat! Ich wäre fast gestorben, als ich hörte, wie unschuldig, süß und zart sie sind. Warum denkt sie nicht an solche Sachen wie ich! Ich hatte so gehofft, wir hätten die gleichen Gedanken . . . ich verließ mich darauf. Ich weiß, daß sie die Wahrheit sagte, denn man sah ihr an, wie peinlich es für sie war, diese intimen Dinge auszusprechen. Sie ist so unschuldig, ich kann es kaum fassen. Ich 68
glaube, ich bin vergiftet durch die Nächte, in denen ich in den Wald muß. Ich wette, ic h wäre wie Donna, wenn ich immer noch /wischen den Bäumen seilspringen würde, statt was jetzt passiert. Aber nie, nie würde ich das wollen, was jetzt passiert! Ich will andere Dinge, Dinge, bei denen ich mich sexy fühle, begehrt, bei denen nicht ich alles machen muß, sondern jemand anders versucht, meine Wünsche zu erfüllen, statt daß ich immer versuche, alle anderen glücklich zu machen. Ich wünschte, es gäbe einen Ort, wo man hingehen kann und alle Fragen beantwortet kriegt und jemand einem sagt, ob man das Richtige tut oder nicht. Wie soll ich das denn wissen, wenn ich über diese Dinge nicht einmal richtig reden kann? Ich sage nur immer wieder das gleiche. Ich drehe mich im Kreis, und es wird Zeit, daß das aufhört. Donna und ich sind immer noch Freundinnen, und ich liebe sie immer noch, aber bei mir ist alles anders. Ich kann nicht mehr so denken wie sie, es nicht mal mehr versuchen. Ich will so denken, wie ich fühle, und will, daß die Leute die Dinge so sehen wie ich. Jetzt hätte ich gerne eine Marihuanazigarette. Mir kommt es vor, als hätte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gelacht. Danke fürs Zuhören. Laura
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Liebes Tagebuch,
22. Juni 1986
ich werde einfach schreiben und nicht zu scharf darüber nachdenken, vielleicht erinnere ich mich dann an noch mehr. Ich bin gerade aufgewacht; es ist 4 Uhr 12. Ich kann mich nicht erinnern, wann es anfing. Aber er hat schon immer lange Haare gehabt. Er weiß alles über mich und kann mir mehr Angst einjagen als alle meine Träume, von denen ich Dir schon erzählt habe. Zuerst hat er mit mir gespielt. Wir spielten Verstecken im Wald, und er fand mich jedesmal . . . aber ich konnte ihn nie finden. Er kam dann immer von hinten und packte mich an den Schultern und fragte nach meinem Namen. Ich sagte dann, ich heiße Laura Palmer, und er ließ los, drehte mich um und lachte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, so spielte er nicht wie andere Leute. Er war sehr gemein zu mir und jagte mir immer einen Schrecken ein. Es gefällt ihm, wenn ich mich fürchte. Jedesmal, wenn er mich mitnimmt, macht er mir angst. Er erniedrigt mich gerne, indem er mir das Höschen runterzieht und seine Finger hineinsteckt, tief. Wenn er merkt, daß es mir wehtut, zieht er sie raus und riecht daran. Er sagt, ich rieche verdorben. Er schreit laut in den Wald, daß ich schlecht rieche und dreckig bin und daß er nicht verstehen kann, warum er mich überhaupt mag. Er sagt, wenn ich nicht die ganze Zeit betteln würde, daß er kommt, käme er nie mehr. Nie bettle ich, daß er kommt. Nie. Ich wünsche ihn ans Ende der Welt. Das schwöre ich. Als ich langsam älter wurde, hat er mir Dinge über mich erzählt, die ich nicht wußte. Ich glaube nicht, daß es wahr war. Ich glaube, er log mich an und dachte sich immer mehr aus, während er redete. Er wußte immer ganz genau, was mir angst machte, und fand genau die Worte, die mich zum Weinen brachten. Dann nahm er meinen Hals . . . und drückte zu. Er drückte mir den Hals zu, bis ich aufhörte zu weinen. Kurz bevor ich ohnmächtig wurde, ließ er los. Ich glaube, ich wurde ohnmächtig. Manchmal passiert das jetzt noch. Es kribbelt dann und wird dunkel, und in meinem Kopf dreht sich alles, 70
und ich kann nichts sehen, und ich muß aufhören zu weinen oder er drückt weiter. Manchmal sagt er: »Was ist das da unten? . . . Was haben wir denn da unten, Laura Palmer?« Er sagt immer meinen vollen Namen, als wollte er mir damit nicht zu nahe kommen aber auf jede andere Art. Manchmal blute ich, wenn ich nach Hause komme. Ich blute und kann es doch niemandem sagen, also sitze ich die ganze Nacht mutterseelenallein in meinem Bad und warte, bis kein Blut mehr aus mir herausläuft. Manchmal schneidet er mich zwischen den Beinen, und manchmal schneidet er mich im Mund. Immer winzigkleine Schnitte, Hunderte von winzigkleinen Schnitten. Ich mußte im Bad eine Taschenlampe benutzen, damit meine Eltern nicht aufwachen und das Licht sehen, denn dann wäre ich in noch größeren Schwierigkeiten. In manchen Nächten macht er mich klebrig. Er reibt sehr schnell an sich und sagt, ich muß das klebrige Zeug in der Hand halten, die Augen schließen und dieses kleine Gedicht aufsagen, während ich mir die Hände sauberlecke. Ich erinnere mich nur an wenig davon. Das ist schon lange nicht mehr passiert, das mit dem klebrigen Zeug. Ich mußte sagen: Das kleine Schwein Entschuldigt sich Das kleine Schwein Leckt dich rein (An mehr kann ich mich nicht erinnern, außer an die letzte Zeile.) Dieser Samen hat den Tod im Namen Er will, daß es mir gefällt, wenn er bei mir ist. Er will, daß ich sage, ich bin schmutzig und rieche schlecht. Man sollte mich in den Fluß werfen, damit ich sauber werde. Ich achte so darauf, sauber zu riechen, die ganze Zeit. Ich wasche mich immer zwischen den Beinen und ziehe immer ein 71
frisches Höschen an, wenn ich ins Bett gehe, falls er mich holen kommt. Ich habe immer Angst, daß er mich holen kommt und ich habe kein sauberes Höschen an. Er sagt, ich hätte Glück, daß er überhaupt kommt und bei mir ist. Er sagt, er ist der einzige Mann, der mich je wird anfassen wollen. Er kommt ans Fenster, und ich sehe ihn. Immer sehe ic h ihn, und immer grinst er, als hätten wir etwas Schönes vor. Ich bin drauf und dran, meine Eltern zu Hilfe zu rufen, aber ich habe Angst vor dem, was dann passiert. Ich kann nicht zulassen, daß jemand von ihm weiß. Wenn ich ihn weiter treffe, wird er mich vielleicht leid und bleibt weg. Vielleicht macht es ihm keinen Spaß mehr, mich zu besuchen, wenn ich aufhöre, mich gegen ihn zu wehren. Wenn ich keine Angst habe. Wenn ich bloß die Angst loswerden könnte . . . Ich habe noch nie so über ihn nachgedacht. Wenn es einen Gott gibt, dann versteht er hoffentlich, daß ich versuche, rein zu bleiben, und wenn das eine Prüfung ist, der er mich unterzieht, finde ich einen Weg zu bestehen. Bestimmt ist es eine Prüfung. Bestimmt will Gott nur den Beweis von mir, daß ich gehorchen kann, oder vielleicht auch, daß ich keine Angst davor habe, zu sterben und Sein Angesicht zu schauen. Vielleicht kennt BOB Gott und weiß deshalb immer, was in mir vorgeht. Sicher sagt Gott ihm, was er mir antun soll. Gott will vielleicht, daß ic h keine Angst habe, schmutzig zu sein. Wenn ich keine Angst habe, nimmt er mich zu sich in den Himmel. Das hoffe ich.
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Liebes Tagebuch,
25. Julil986
ich habe mich sehr angestrengt, keine Angst mehr zu haben. Ich gehe mit einem Jungen, von dem ich Dir schon mal erzählt habe. Damals konnte ich ihn nicht leiden, aber jetzt ist er genau richtig für mich, glaube ich. Er erinnert mich sehr an den Typen an der Wand im Book House. Er trägt die gleichen Klamotten, hat aber kein Motorrad. Ich bin jetzt vierzehn. Ich habe niemanden meinen Geburtstag feiern lassen. Mom mußte mir versprechen, nichts zu veranstalten. Am Tag davor erzählte ich ihr am Küchentisch, daß ich gründlich über mein Leben nachdenken muß. Einfach meinen Geburtstag allein verbringen will. Allein Spazierengehen will und vielleicht mit Troy ausreiten. Ich bemühte mich, ihr klarzumachen, daß ich sie auf keinen Fall verletzen wollte, sondern einfach einige Zeit allein sein muß. Sie maulte eine Weile und fragte ein paarmal, warum ich nicht den Tag danach dazu nehmen konnte. Schließlich sagte ich ihr, daß ich im Moment ziemlich durcheinander bin und am Abend meines Geburtstages alles geregelt haben will, wenn ich nach Hause komme. Ich würde nicht weit weggehen, versprach ich ihr. Ich wollte nur weg. Ich versprach ihr, daß ich im nächsten Jahr und besonders im übernächsten, wenn ich sechzehn werde, kleinere oder größere Partys feiern würde. Also verbrachte ich meinen Geburtstag allein. Ich ging zu der Stelle, wo ich immer mit BOB bin. Es war hell, und alle s schien nur ein entsetzlicher Traum zu sein, bis ich ein Stück Schnur hinter einem seiner Lieblingsbäume liegen sah. Ich bekam eine Gänsehaut, überwand mich aber. Ich untersuchte den ganzen Baum, um herauszukriegen, warum er gerade diese Stelle und diesen Baum ausgesucht hatte. Da war nichts. Ich vergewisserte mich, daß ich allein war, bevor ich meinen Plan ausführte. Ich sah mich sorgfältig um, und als ich wußte, daß ich allein war, zog ich eine Marihuanazigarette aus der Tasche. Bobby hatte sie mir besorgt. Er wollte mit mir rauchen, aber ich sagte ihm, das geht nicht. Wir könnten es später nachholen, vielleicht. Ich rauchte ganz langsam und begann, an Sex zu denken. An Männer, alle Arten, in mir. Ich versuchte an Sachen zu denken, die BOB gefallen würden. 73
Ich zog eins meiner Höschen aus der Tasche und rieb es an dem Baum. Ich hatte es getragen, bevor ich hierher kam, wußte also, daß mein Geruch darin stark sein mußte . . . Ich habe auch keine Angst mehr davor, schlecht zu riechen. Ich weiß, daß es nic ht so ist. Ich glaube, ich rieche, wie ein Mädchen riechen soll. Wenn ich mir mein Höschen unter die Nase halte und einatme, stelle ich mir ein Mädchen hier vor und wie ein Mann es anfassen will. Na los doch. BOB sagt Muschi dazu. Ich will sie anfassen, hörst du, BOB! Ich rieche daran und habe keine Angst, sagte ich mir. Ich rief es laut, viele Male, während ich dort war, rauchte und an alle möglichen Arten dachte, wie ich Bobby anfassen könnte . . . Sachen, die ich ihn gerne tun ließe. Ich dachte jeden möglichen Gedanken, der BOB herbeirufen konnte. Ich glaube, er war da, versteckte sich aber. So wurde ich ziemlich stoned, ganz allein, und drückte mich an den schmutzigen Boden, glitt über die Blätter und Nadeln, und ich sah hoch in den großen Baum. Ich wollte, daß der Baum mir zusah, sich das Gesicht des neuen kleinen Mädchens einprägte, das hierher kam, um sich hinzulegen. Das alte gibt's nicht mehr. Sie mußte verschwinden. Ich benutze noch manchmal ihre Stimme; es ist viel leichter, zu kriegen, was ich will, wenn ich es hübsch niedlich wie ein kleines Mädchen sage. Ich zog meine Kleider aus und fing an, meine Brüste zu streicheln, die Finger zu lecken und dann mit der feuchten Fingerspitze meine Brustwarzen zu reiben. Ich machte Kreise, wie es Jungs mit ihren Zungen tun. Ich stöhnte, wenn es sich gut anfühlte. Ich schrie laut, wenn ich sie hart zusammendrückte, so daß sie rosa wurden. Wind kam auf, und ich fühlte ihn über meinen nackten Busen streichen, und ich erinnere mich, daß ich sagte: »Ohh, wer immer das macht, es gefällt mir . . . Ja . . . Das gefällt mir sehr gut . . .« Ich spürte, wie ich in meinem Höschen ein bißchen feucht wurde . . . also zog ich mich ganz aus und redete laut mit BOB, während ich mein geheimes Knöpfchen streichelte. Ich sagte: »BOB . . . Bobby . . . Laura hat ein süßes Pfläumchen hier für dich . . . Hübsch und sauber und . . . mmmmmmm . . . Ich wette, es schmeckt auch 74
gut . . . Komm raus, BOB . . . komm spielen . . .« Der Wind nahm zu, aber BOB sah ich nicht. Ich kam wie noch nie. Mein Körper konnte gar nicht mehr aufhören, und ich mußte mich an dem Baum festhalten, an einer Stelle Rinde abschälen, wieder zugreifen, meine Nägel hineinbohren . . . dann wurde es weniger. Mir war so warm von dem Marihuana und meiner kleinen Show für den Wald, daß ich fast kurz eingeschlafen wäre, nackt wie ich war. Aber das konnte ich nicht tun. Diese Runde ging an mich. Er war nicht gekommen. Tag oder Nacht spielte keine Rolle. Ich zeigte ihm, daß ich keine Angst habe. Ich machte es mir unter diesem Baum. Ich rief ihn und verspottete ihn. Ich werde die Prüfung bestehen. Du wirst es erleben. Wenn BOB es zotig will, ich brauche nur ein bißchen Zeit. Ich kann das verdorbene Mädchen sein, das er will. Auf dem Rückweg aus dem Wald wäre ich fast getötet worden, als eine Eule aus dem Nichts herabstieß. Ich konnte die Kraft in ihren Flügeln spüren, als sie an mir vorbeischoß. Ich dachte an die Holz-Lady. An etwas, was sie gesagt hat: »Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.« Das alles hat mir immer angst gemacht. Dieser Ort, der leiseste Gedanke daran, mich zu berühren, mit mir selbst zu spielen, machte mir angst. Nicht mehr. Nein, dieser Ort, an dem ich war, ist nicht, was er zu sein schien. Ich sehe jetzt, daß er ein Ort der Finsternis ist, aber das gefällt mir sehr. Das ist mir recht. Ich werde mich nicht dagegen wehren, sogar wenn es tief in mich dringt und mich schneidet. Ich habe Licht und Freude in diesem Horror gefunden. Und mein Plan ist noch nicht ganz ausgeführt. Ich komme wieder, BOB. Ich komme wieder und öffne und schließe mich um dich, wie du es dir nie vorgestellt hättest. Ich komme wieder. Laura
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Liebes Tagebuch,
3. August 1986
nur der Vollständigkeit halber: ich verbrachte den Rest des Tages bei Troy im Stall. In seiner Gegenwart entspannte ich mich, und als ich abends dann nach Hause kam, fühlte ich mich sehr stark und innerlich ganz neu. Ich machte mir keine Gedanken, etwas Schlechtes oder Falsches getan zu haben. Ich würde nun von diesem Mann nicht mehr verletzt und verhöhnt werden. Ein Mann, von dem ich nur den Vornamen weiß. Ich weiß nicht, wo er wohnt und woher er kommt. Aber ich werde mich rächen. Die schönste Folterung macht keinen Spaß, wenn das Opfer nach mehr schreit. Das ist jetzt fast zwei Wochen her . . . nein, wohl nur eine Woche. Ich bin in letzter Zeit tief in Gedanken versunken. Mit Bobby Briggs zu gehen, ist echt gut. Er ist überall, wo ich ihn haben will, und bringt mir alles, was ich möchte. Erst gestern habe ich entschieden, daß er schon zu lange darauf wartet, so mit mir zusammenzusein, wie er es sich wünscht. Auch ich hatte das ewige Petting allmählich satt und hinterher dieses blöde Gefühl, einen Korken in mir zu haben, wo ich doch so sehr alles rauslassen will, was in mir eingeschlossen ist. Aber ich mußte ihn in dem Glauben lassen, ich sei die Vierzehnjährige, für die man mich hält . . . Mom und Dad waren den ganzen Nachmittag über weg, und ich erzählte ihnen, ich würde fast genauso lang wegbleiben wie sie, würde aber gerne beim Abendessen helfen und käme deshalb spätestens um halb sieben wieder. Mom strahlte übers ganze Gesicht bei diesen Worten. Ich muß meine Eltern bei Laune halten. Ich muß sie weiterhin lieben, wie es sich für eine anständige Tochter gehört. Ich muß aufrechterhalten, was ich mir nicht ausgesucht habe, sondern was mir einfach zugeteilt worden ist. Zwei Leben. Zwei ganz verschiedene Leben. Die unartigere Laura hatte ein Date mit Bobby Briggs in Low Town. Er sagte, er kennt eine verlassene Scheune weit draußen, wo uns keiner findet. Mir gefiel die Vorstellung, ihn irgendwo ganz für mich allein zu haben und total auf ihn abfahren zu können. Eine Weile war ich ziemlich nervös, weil 76
mir plötzlich klar wurde, daß das nicht der BOB war, den ich hasse, sondern der junge Bobby, der um die lächelnde Laura Palmer herumscharwenzelt und sie fragt, ob sie mit ihm gehen will. Ganz egal, ich mache es so mit ihm, wie er es braucht. Ich wußte, er war sich bewußt, daß ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hatte . . . Ich wußte, es würde ganz anders sein mit jemand, der Rücksicht nimmt . . .Ich wußte, daß es mich in die Dreizehnjährige zurückversetzen konnte, als die ich spät abends in einem Bach lernte, die Hände eines Mannes zu lieben, und heulte, weil er kurz danach schon weg war. Das durfte nicht in mir hochkommen. BOB könnte mich gerade in diesem Augenblick beobachten . . . in jedem Augenblick. Ich konnte mich nicht verlieben . . . auf jeden Fall durfte es niemand merken. Bobby war bezaubernd, und ich spürte deutlich, daß er nervös war, weil er die Worte nicht klar rausbrachte. Die Decke, die er auf seinem Rad mitgebracht hatte, wollte sich nicht entfalten und auf dem Boden ausbreiten lassen, obwohl er sich alle Mühe gab. Das machte ihn total nervös, weil ich eine Flasche Wodka, eine kleine für zwei, und eine Marihuanazigarette (gutes Zeug!) zwischen den Fingern balancierte und sie nicht so gut im Griff hatte, wie ich wollte, und deshalb in die Knie gehen mußte, um nichts zu zerbrechen. Er kam sich ziemlich blöd vor, aber ich gab ihm das Gefühl, ein Held und kein Schwachkopf zu sein. Er war keins von beiden, aber ich ließ zu, daß er mich hochzog und mich mit seinen Armen stützte. Ich konnte nur dran denken, was zu trinken und zu rauchen, um mich zu entspannen. Alles gelingt mir viel besser, wenn ich locker bin und Selbstvertrauen habe. Einer der Gründe, warum ich so gerne mit Bobby zusammen bin, ist, daß er mir jederzeit was zu rauchen besorgt, wenn ich es will . . . Er hat einen Freund, der Alkohol für uns kauft, wann immer ich will. Dieses Gefühl gefällt mir, diese Ergebenheit. Mir gefällt es, wie er zusammenzuckt, kleine Wellen ihn durchlaufen, wenn ich mich an ihn schmiege und sage: »Ich kann's kaum erwarten, aber lassen wir uns noch Zeit.« Sein promptes Lächeln und seine Bereitschaft, mir die Initiative zu überlassen. Schließlich fing ich zum ersten Mal eine sexuelle Beziehung 77
freiwillig und mit Zuneigung an. Diesmal bestimmte ich mehr. Ich wußte, daß er dann schon übernehmen würde, wenn er spürte, daß ich ihn ließ. Nun, wenn er mir weiterhin kleine Aufmerksamkeiten bringen soll, muß er auch das Gefühl haben, daß es sich lohnt . . . daß er sich keinen toten Fisch ausgesucht hat, der ich nie werden will, wie ich versprochen habe. Nach einer Stunde, nachdem ich mir mit seinen Lippen viel Zeit gelassen hatte, ihn dabei gelegentlich mit Rauch oder Wodka fütterte, war ich bereit, und ich sagte ihm, er sollte sich hinlegen und sich vorstellen, was immer er möchte. Er sollte einen Traum in seinem Kopf schaffen und seine Phantasie mir folgen lassen. Das war ganz allein für ihn, wir beide wußten das. Ich nahm ihn, hart, in den Mund und hatte ein Bild im Kopf von BOBs Hand, wie er es selbst . . . wie er meine Hand darauf legte . . . und dann war ich wieder in der Scheune. Ich wurde langsamer, fand den Rhythmus, den er mochte, und dauernd bewegte ich die Zunge dabei. Ich fuhr hoch und runter an ihm, folgte den Geräuschen, die er von sich gab, dem Stöhnen . . . hörte genau hin, um sicher zu sein, ihn dort zu haben, wo er sein wollte. Dieses Mal ging es nicht darum, ihn nur zu reizen und dann aufzuhören. Er kam, wie ich es von Männern träume . . . plötzlich, nachdem es lange in ihm hochgestiegen war. Er setzte sich auf und sah erstaunt und bißchen verunsichert aus . . . und dankbar. Ein Lächeln. Wir verbrachten noch eine Stunde so ineinander vergraben, bis es passieren mußte und er in mich hineinglitt. Ich öffnete die Augen und sah, wie seine sich schlössen. Mit Gewalt vertrieb ich die Erinnerung an diesen Wunsch . . . Es wäre so leicht, sich diesem Gefühl hinzugeben, und doch, ich konnte nicht schwach werden. Wir bewegten uns zusammen, und ich fand es leichter und lustvoller, wenn ich die Augen zumachte. Ich konnte seine Bewegungen mitmachen, mich herumrollen, so daß ich auf ihm lag, seine Hände dorthin tun, wo es mir besonders gefiel. Er ist so gut zu mir, ohne ein Wort zu sprechen. Ich wollte, daß er weiß, wie wunderbar sich das anfühlt, so festgehakt in mir zu sein und nie mehr heraus zu wollen, mich nur immer 78
mehr zu begehren! Wir wälzten uns herum, stießen und zogen einander und kamen erst Stunden später auseinander, als wir einfach nicht mehr konnten. Ich fühlte mich so gelöst und zufrieden, als wäre ich nach Jahren voller Erniedrigungen und psychischem Druck plötzlich befreit. Die Eisenstange, die mich in meiner Vorstellung immer aufrecht hielt, bog sich, wurde zu Fleisch und schmolz. Die ewige Spannung und Unruhe, wie es wohl sein würde, wenn mich jemand wirklich begehrte. Und nicht weil er mich weinen sehen wollte oder an einer unaussprechlichen Trauer sterben lassen. Jemand, der wollte, daß es mir auch bestimmt gefiel. Ich fühlte mich, wie es sein sollte, wie sich alle Mädchen fühlen sollten . . . aber ich konnte nicht vergessen, daß es andere Welten gab, an die ich denken mußte. Andere Momente. Brutales Wecken mitten in der Nacht. Ein Mann an meinem Fenster, lächelnd - der einen schwarzen Handschuh schwenkt und mich herausfordert. Ich lag da, fragte mich, ob er wohl bald kommen wird oder ob er durch meinen einfachen Entschluß, keine Angst mehr zu haben, irgendwie ausgeschaltet worden ist. Ich konnte nicht auf solche Träume bauen. Und plötzlich war da ein schreckliches Problem. Ein schreckliches und trauriges Problem, dem ich mich stellen mußte ohne jenes Gefühl, das ich doch so sehr geben wollte! Aus Bobbys Mund kamen langsam leise Liebesworte, dann Geständnisse. Bald danach Treueschwüre und das Versprechen ewigen Glücks. Laura, Laura, das kann ich dich nicht hören lassen. Sieh nur, wie seine Lippen sich bewegen, hör ihm nicht zu!, sagte ich mir wieder und wieder. Aber Bobby war es ernst. Schließlich war er der Junge, der mich jahrelang angehimmelt hatte, der an meinem Pferdeschwanz gezogen und sich kurz darauf die größte Mühe gegeben hatte, mir jeden Tag auf dem Gang zu begegnen oder in der Klasse meine Blicke auf sich zu ziehen. Und dann ein Lächeln, als wäre es ein unerwarteter Anblick. Ich wußte, das hatte er geplant. Aber die Laura, die seine Liebe erwiderte, das junge Mädchen, das so sehnlich hoffte, daß er dasein würde, wenn die Zeit reif war, kann nicht zum 79
Spielen rauskommen. Sie ist drinnen und ruht sich aus. Tief drinnen, eingehüllt in die mutigere Hälfte. Die sich von diesem Jungen Bobby zwar ganz gut befriedigt fühlt, aber weiter kein Interesse an ihm hat. Es ist keine Kraft in ihm . . . keine Herausforderung. Ich behalte ihn, bewahre ihn für sie auf, wenn es sicher genug ist, daß sie wiederkommen kann. Aber diese Liebeserklärungen sind zu real, zu naiv. Dieser kleine Junge ist bloß ein Laufbursche für die Laura, die jetzt hier lebt. Ich mußte etwas Grausames tun. Etwas, das ihn sein ganzes Bild von Laura überdenken ließ. Er mußte sie mit ganz anderen Augen sehen. Ich mußte ihn auslachen. Laut. Lachen, bis das Leuchten aus seinen Augen verschwand. Ich mußte ihn runtermachen, konnte ihn nicht so anziehend sein lassen für die junge Laura, die BOB will. Diejenige, auf die er bestimmt gerade wartet. Um mich selbst zu retten, mußte ich einem Jungen ins Gesicht lachen, der vielleicht nie mehr so aufrichtig sein wird. Ich mußte es tun! Warum tut es nur so weh, sich zu schützen? Wo war diese Liebe, als ich auf Knien darum bettelte? Verflucht. Ich weiß, ich habe ihn verletzt. Hoffentlich versteht er eines Tages, warum. Nie würde ich jemanden so zerstören, wie ich zerstört worden bin. Wäre ich diejenige, die ausgelacht wurde, würde ich wohl nie mehr aufrecht stehen können — nie mehr jemandem gegenübertreten und auch nur das kleinste Kompliment machen, denn die Erinnerung an das Lachen klänge mir noch in den Ohren. Ich schäme mich und bin verwirrt wegen all dem, was mir passiert. Ist das ein grausames Spiel, das BOB mit mir spielt? Noch eine Prüfung? Meine Chance zu einer Liebesgeschichte mit dem richtigen Jungen zu ruinieren, indem er mich dazu zwingt, ihn zu demütigen, wie ich gedemütigt worden bin, so daß ich nun kalt und verbittert bin wegen der Narben? . . . Fängt sich Bobby und erkennt, daß ich es nicht so gemeint habe? Oder hat man mich verleitet, eine Liebe kaputtzumachen, die mich wenigstens tagsüber hätte schützen können? 80
Was will das Leben von mir? Was habe ich getan, und was soll ich jetzt tun?! Ich wollte doch nur, daß der Schmerz aufhört, und nicht noch mehr Schmerz verursachen. Ich überlege . . . und überlege. Alles, was getan werden mußte, ist getan. Wenn es etwas ist, das BOB getan hat, dann wird es nur ein voller Erfolg für ihn sein, wenn mir irgendwas leid tut, wenn ich irgendwie Reue zeige. Ich kann mich nicht darum kümmern. Ich muß einfach glauben, daß Bobby schwanzwedelnd zurückkommt. Tut er es nicht, dann lerne ich die Pfeife zu blasen, nach der er zu tanzen hat. Und lasse den Jungen sich meine Aufmerksamkeit außerhalb der Lust-Scheune verdienen, ohne die Küsse, die ich nur zulasse, wenn mir danach ist, nicht einfach so. Ich werde ein Profi darin, nichts zu empfinden. Ich werde einen Weg finden. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann kaum glauben, daß auch nur die Hälfte meines Lebens real ist. Ich bin verloren. Verloren. Aber eine stärkere, schlauere Laura erhebt ihren Kopf und zeigt sich bereit für die Drohungen und Spiele, die nur im Dunkeln stattfinden. Wenn ich rauskriege, wer er ist, lasse ich es die ganze Welt wissen! Zu neuer Stärke, Laura
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Liebes Tagebuch,
3. August 1986
es ist kurz nach zehn an dem Abend der Katastrophe mit Bobby Briggs. Du wirst überrascht sein, zu erfahren, daß er vor einer knappen Viertelstunde angerufen hat und . . . irgendwie, in einem gewaltigen Wortschwall, der eher auswendig gelernt als von Herzen kommend wirkte, sich dafür entschuldigte, daß er zu früh solche Liebesschwüre von sich gegeben hat, wo ich ihn doch vielleicht gar nicht so attraktiv fände. Er sagte, es war alles ernst gemeint, aber es wäre falsch gewesen, es so schnell zu sagen. Das Ganze klang, als sei es Wort für Wort aus einem Lexikon oder Wörterbuch abgeschrieben, und einen Augenblick lang wäre ich am liebsten gestorben. Er entschuldigt sich für Worte, die ich mir, wie bestimmt viele Mädchen überall, auch außerhalb von Twin Peaks, immer erträumt habe. Er hat seine Worte sorgfältig gewählt, er versuchte zu zeigen, daß er noch immer, Stunden nach seinem Orgasmus, verliebt ist. Noch ein Wunder . . . und was tue ich? Ich bin gezwungen, am Telefon zu schweigen, die zärtlichen Worte in meinem Herzen zu unterdrücken, einfach aus der Furcht heraus, daß alles nur ein großes Komplott ist, um mich ohne Bremsen auf der Überholspur die Straße in den Wahnsinn entlangfahren zu lassen. Ich bin gefangen in einem Teil von mir, den ich hasse. Ein harter, männlicher Teil von mir, der aufgetaucht ist, um zu kämpfen, nachdem Erinnerungsfetzen und Narben in mir hochkommen mit einer Plötzlichkeit, die ernüchternd und erschreckend zugleich ist — und ich kämpfe, um die Laura zu retten, die ich so gerne wieder sein möchte. Von der jeder glaubt, daß es sie noch gibt. Ich im schulterfreien Kleid, das Haar im Wind und ein Lächeln in meine Wangen gemeißelt von der schneidenden Angst, daß mich an diesem Abend jeden Augenblick ein Mann besuchen könnte, der versucht, mich zu töten.
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Liebes Tagebuch,
4. August 1986 3:30 Uhr
mir wird nun klar, daß ich mich entschlossen habe, mitzuspielen. Nachdem ich es mir wieder und wieder vorgesagt habe, fühle ich nun endlich eine Entschlossenheit in mir, mich mit ihm einzulassen, aus einem einzigen Grund: Kampf. Es aufzunehmen mit der Dunkelheit und mich vielleicht an dem winzigen bißchen Licht in mir festzuhalten und aus ihm die Kraft zu ziehen, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Ach, diese Fairneß des Lebens. Dieser besondere Moment, wenn eine Hand hochgeht, ob sichtbar oder in Worten, und schreit: STOP, sie stirbt! Dieses Kind stirbt ohne die Sicherheit eines festen Charakters, womit die meisten Menschen zu ringen scheinen, als sei das etwas Unbequemes. Ich habe sorgfältig gesucht und eine Stelle in mir gefunden, die mir sagt, es ist schon fast zu spät. Meine Augen sind nicht mehr die eines fünfzehnjährigen Mädchens, sondern die von jemandem, der Angst hat, hinter sich zu schauen und selbst die einfachsten Fragen zu stellen. Mein Bewußtsein, so sagt diese Stelle weiter, ist nicht das eines jungen Mädchens, das sich das Leben als eine Folge von Tagen hinter dem warmen Ofen vorstellt, während draußen der Wind pfeift. Sie warnt mich, daß das Bewußtsein, mit dem ich lebe, jemandem gehört, der zuviel vom Leben weiß, und daß es meistens ohne Vorwarnung endet. Daß es uns Schläge verpaßt und uns zu Träumen herausfordert, wenn wir in Wirklichkeit damit nichts anfangen können. Es sogar schafft, vor mir zu verbergen, daß ein Plan auf diesem Planeten für mich vorgezeichnet ist. Dieses Bewußtsein kennt ihn. Und die Tatsache, daß du dir die Ereignisse eines Tages, selbst eines Augenblickes, nicht aussuchen kannst, wenn dich — sogar noch bevor du zum ersten Mal die Augen aufgemacht hast und das Licht siehst - jemand von großer Verderbtheit 83
und Verschlagenheit für sich ausgesucht hat. Der eine Flasche dreht und über die eigene Macht kichert, wenn der Flaschenhals auf dich zeigt. Laura
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Liebes Tagebuch,
6. August 1986 4:47 Uhr
ich kann mir nicht erlauben zu schlafen, denn ich muß BOB sehen, wenn er durchs Fenster kommt. Ich muß bereit sein. Ich habe viel über mein Leben nachgedacht. Gegen meinen Willen altere ich. Ich glaube, wenn er mich holen kommt, werde ich entweder das Haus verlassen und verwundet wiederkommen, gleichzeitig froh über den brutalen Tod eines Feindes, oder ich werde nie mehr wiederkommen. Und im Tod wortlos eingestehen, daß ich Kraft und Entschlossenheit meines Besuchers unterschätzt habe. Im Augenblick bin ich halb betäubt und halb ruhelos. Ein Mädchen, das es noch immer schafft, jeden Morgen aufzustehen und diesen Ort zu verlassen, der mein Zuhause ist, wie ich mir in letzter Zeit immer wieder ins Gedächtnis rufen muß. Als wäre die Blutspur, die zurückbleibt, wenn ich gehe, völlig unsichtbar. Ich habe keinerlei Zweifel, daß BOB jede meiner Bewegungen wahrnimmt. Daß dieser Horror, der sich Mann nennt, hoch über mir sitzt, wenn die Sonne scheint, oder sich unter mir zusammenrollt. Ganz egal. Er beobachtet mich aus Augen, die sich innen verbergen, jeden Schatten eines Zweifels sehen, jedes Klopfen meines Herzens, wenn ein Junge vorbeigeht, jeden Kuß einer Mutter, die keine Ahnung hat, wie weit sich das Zimmer ihrer Tochter entfernt hat. Jeden Tag versuche ich mir das Gesicht einzuprägen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt. Ich halte es fest. Ich stelle mir vor, daß ich durch die Luft fliege, wenn ich es mit meinen Überresten vergleiche, die, wie ich oft träume, bald gefunden werden. Ich habe solch eine Wut in mir, ein Verlangen, den Himmel anzugreifen, den Wind einen Lügner zu schimpfen, weil er sich niemals zeigt. Ein Verlangen, die beiden anzuschreien, die meine Geburt zugelassen haben. Hilferufe an jeden, der sie hört. Auf der Straße zu schreien, daß es Mutter Natur an Wundern mangelt. Ihre Göttlichkeit ist eine Lüge. In einem Wald voller Bäume hat man mich wieder und 85
wieder erlegt. Operationen seltsamer und unbeschreiblicher Art finden statt. Blut wird vergossen. Diese Natur hat mit dem Bösen nicht aufgeräumt, sie hat nicht einmal ihren Wald geöffnet, um einen Schrei entweichen zu lassen. Statt dessen wiegt sie diesen Mann in ihrem Schoß und bewahrt ihn vor dem Entdecktwerden und vor dem Licht des Tages. Er weiß, der Planet wird ihn nicht verraten. Dieses Licht wird kommen und bleiben und vergehen, um genau planmäßig zurückzukehren. Er hat ein Versprechen. Die Gewohnheit des Universums, die praktischerweise ein zwölfstündiges Verweilen der beiden Extreme verlangt. Seine Zeit ist der Abend, die Stunde, in der Rettung am wenigsten möglich ist, wenn die meisten mit reinen Hoffnungen und Träumen und Erinnerungen an ihre Schaukeln und Rutschbahnen fest schlafen. Ihre Augen bewegen sich schnell unter den Lidern. Sehen nichts. Nie gibt es ein Geräusch, das auch nur die stört, die im Nebenzimmer schlafen. Niemals neigt sich die Welt ein bißchen für mich oder legt ein gutes Wort für mich ein, wird zumindest zum Zeugen . . . Den Mann sehen . . . wie seine Augen erstarrt sind im Anblick meines zum Schrei verzerrten Gesichts. Keine Erklärung, WARUM er gerade mich ausgesucht hat und ob er überhaupt einen endgültigen Plan hat. Ich kann nur warten. Die müden Augen trotzig offenhalten. Ein Kampf, um zu entscheiden, wer tatsächlich der Finsterste ist. Wer wird, wenn er gezwungen ist, die andere Seite zu sehen, tatsächlich überleben? Ich sitze da und warte auf sein Erscheinen, werde wachgehalten von dem Wissen, daß ich mich an die Finsternis viel schneller gewöhnen werde als er an die Helligkeit. Laura
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Liebes Tagebuch,
10. September 1986
anbei mein Bewußtsein und dessen Erinnerungen. Und eine Eigentümlichkeit, die dem Feind im Übermaß fehlt — Gewissen. »Schuld« ist nur ein Wort, das er benutzt, um mich zum Schweigen zu bringen. Leben und Tod kümmern ihn nicht, er schert sich um keine Gefahr. Wie könnte ein solcher Eindringling den Tod oder eine mögliche Haftstrafe fürchten und trotzdem so regelmäßig bei meinem Haus auftauchen und mein Fenster benutzen, als gehörte er zur Familie? Er macht sich über mich lustig, indem er hereinkommt, gekleidet wie jemand, der mein bester Freund sein könnte. Ein Nachbar. Ein Vertreter, der sich ganz zwanglos selbst einlädt, sogar so weit geht, Kaffee zu verlangen, mit Milch und Zucker, bevor er sich in das Traumgebilde auflöst, das er manchmal ist? Erwartet er denn, Platz zu nehmen und zu plaudern, bevor er das einzige Kind des Hauses aus seinem Zimmer herausholt, um es wie ein Versuchsobjekt zu behandeln? Entweder träume ich ihn zum Leben und bringe mich langsam damit um, oder er hat meinen Eltern von seinen Besuchen erzählt, und sie haben vereinbart, im Tausch gegen ihre eigene Sicherheit, daß diese Besuche ohne eine Störung weitergehen. Einfach nicht beachtet werden. Wie Werbeprospekte, die irgendwo im Haus rumliegen. Ich bilde mir ein, meine Eltern müßten mich hören, wenn ich aus dem Haus geführt werde. Kann es sein, daß es ihnen egal ist?
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Liebes Tagebuch,
11. September 1986 2:20 Uhr
ich kann Dir nicht sagen, wie es mich fertigmacht, daß ich keine Bedrohung für ihn bin. Er fühlt sich zu sicher bei dem Gedanken, daß er jederzeit in unser Haus kommen und es mühelos und ohne einen Laut wieder verlassen kann. Und er weiß, daß er im Dunkeln einen Griff um mein Handgelenk finden wird, der fest genug ist, mich zum Schweigen zu bringen. Wie ein Kind, das seine Puppe herumschleift, trägt er mich dann zu einem Ort, wo niemand mich finden wird, wie er genau weiß. Das weiß er, denn dieser Ort ist Meilen von jedem Licht entfernt, außer dem, das manchmal, wie ich mich deutlich erinnere, von seinen Lippen und aus seinen Augen strömt — genau das Licht, das er aus meinem Inneren gestohlen hat. Dem Mädchen, das, solange es zurückdenken kann, sich geduldig bemüht hat, genau den Mann zu ertragen und allen zu verheimlichen, der ihre Unschuld stehlen will, der ihr nie erlaubt, erwachsen zu werden, ihr all die Freuden des Erwachsenseins untersagt — der Zeit, von der das kleine Mädchen immer geträumt hat, seit sie seilspringen konnte und rennen und lächeln selbst bei dem kleinsten Windhauch, weil er so angenehm kitzelte. Selbstlos gab und gab sie von sich, leerte den zerbrechlichen Korb in ihr, ihre Seele. Ich hoffe, ich kann ihn bald an mein Fenster locken. Ich fürchte, er wartet nur darauf, bis ich von diesem Geschreibe, die ganze Nacht lang, müde werde. Auf diese Augenblicke, wenn ich ein und aus gehe in dem Teil von mir, der vorhat, diesmal das Fenster zu öffnen und willig meine Hand zu reichen. Der Teil von mir, der zweifelt, daß irgendwas wirklich existiert und daß es deshalb vor dem Fenster nichts gibt, wovor man sich fürchten müßte, und der also willens ist, sich an den üblichen Ort zu wagen, ohne Kampf. Ich, die schwört, ein Geräusch oder ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf wird ihre Schritte nicht im geringsten ändern. Der Teil von mir, der die Schreie nach mehr einstudiert hat, nach mehr Einschnitten, mehr Penetration, mehr Beschimpfungen und
Drohungen, und der die Absicht hat, damit weiterzumachen, bis sein Appetit, der bis jetzt unstillbar war, geringer wird. Das zu Stein erstarrte Tier vor seinem Gewehrlauf bettelt darum, als Trophäe die freie Stelle an seiner Wand füllen zu dürfen. Weg mit dem Zittern. Programmiere dich selbst. Es wird Schmerzen geben, aber keine schlimmeren als vorher. Halte fest am Bild deines Zuhauses und deines Bettes mit dem warmen Geruch nach ihm, während du duschst und duschst und duschst. Dein Zuhause wartet auf dich, wie immer. Spiel mit ihm, wie er mit dir spielt. Akzeptiere, daß du schlecht und dreckig und billig bist und den Wölfen als Fleischabfall vorgeworfen werden solltest und niemals Kinder haben darfst, denn wer weiß, mit ihren Gesichtern würden sie eingesperrt von ihrer Geburt bis zum Tod . . . Denke daran, nicht darauf zu hören. Laß eine Öffnung in dir, die so groß ist, daß sie sein Körpergewicht in Haß aufwiegt und in Methoden der Schwächung, die allein auf die psychischen Teile des Selbst wirken, die lebenswichtigsten und unersetzlichsten von allen. Glaube, daß ihn nur die Furcht, die er zeugt, fasziniert, dein fehlendes Interesse am Leben, das du zeigst, wenn er dich hinterher zu Hause abliefert. Wie er so tut, als wollte er klingeln, sich über dich lustig macht, über dein Leben, deine Hoffnungen, deine intimsten Zweifel, dir zusieht, wie du mit dem Gedanken kämpfst, daß du unwürdig bist, dieses Haus je wieder zu betreten, in dem du deine ersten Schritte getan hast. Spüre, wie er dich beobachtet, während du eine Träne auffängst, bevor sie aus deinem Auge treten kann - suche nach ihm, und er ist verschwunden. Als wäre es eine Religion, so habe ich mir Ermutigungen vorgesagt, seit Tagen schon jammere ich, höhne ich und wünsche ihn fast schon herbei, aber er kommt nicht. Ich habe unvorstellbare Kopfschmerzen von dem Versuch, über seine Schwächen nachzudenken, obwohl ich die doch tatsächlich nicht einmal ahnen kann. Vielleicht habe ich ganz und gar unrecht damit, daß er nur auf die Angst in seinem jeweiligen Opfer aus ist. Ich muß ehrlich sagen, ich bin müde davon, die
Situation auf die leichte Schulter zu nehmen, und glaube, wenn ich nicht bald schlafe, fange ich an, BOB überall zu sehen. Ich brauche nicht zu sagen, daß das gerade jetzt nicht gut für mich wäre. Ich bin einsam hier und ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken an Bobby, der mich gewiß in seinen Armen halten würde, wie ich es mir bei keinem anderen vorstellen kann. Paß auf dich auf, Laura
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Liebes Tagebuch,
1. Oktober 1986
entschuldige, daß ich lange nicht geschrieben habe, aber es ist so viel passiert. Heute abend, als ich mich gerade auszog, um ins Bett zu gehen, kam Bobby Briggs an mein Fenster. Ein herrlicher Anblick, wie aus einem Traum — ich wurde fast ohnmächtig. Er sagt, es gibt eine Party, die wir nicht versäumen dürfen, ganz am Ende von Sparkwood. Ein Freund von ihm, Leo - von dem ich schon gehört habe — macht eine Party. Ich warnte ihn, daß ich nur ernsthaft daran gedacht hätte, mich an ihn anzukuscheln und zu schlafen, und gab zu, daß mir zuviel Schlaf fehlt, um unter die Leute zu gehen. Er versprach, daß es keine Probleme mit dem Wachbleiben geben würde, da er eine gute neue Sache für mich hätte, die das Schlafbedürfnis manchmal ganz abstellt. Ich bin aus dem Fenster, Tagebuch. Schschsch! Ich erzähle alles, sobald ich wieder da bin. Ich verstecke Dich . . . wegen BOB . . . er kommt manchmal später . . . ach, es ist so viel besser ohne BOB. Laura P.S. Mir fiel gerade auf, daß BOBs Name selbst schon eine Warnung ist . . . B. BESSER O. OHNE B. BOB
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Liebes Tagebuch,
3. Oktober 1986
ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Ich bin erst am folgenden Nachmittag nach Hause gekommen, ohne einen einzigen Muckser der Wachhunde, Mom und Dad. Ich war schon halb am Haus heruntergeklettert, als mir klar wurde, daß ich unterwegs war zu einer Party weit weg von High Town, zu einer Party von Leuten, die mindestens sechs bis zehn Jahre älter waren als ich. Und ich glaubte, ich wäre bei Sonnenaufgang zurück? Niemals! Zumal Bobby irgendwas zum »Aufmöbeln« für mich hatte . . . wenigstens stellte ich mir die Situation so vor, bevor wir bei Leo ankamen . . . Und damit habe ich wohl die Untertreibung des Jahres zu verantworten. Aber was soll's. Erst mal muß ich ein bißchen angeben wegen des feinen Netzes, das ich gesponnen habe, so daß alles funktionierte und mir niemand irgendwelche Fragen stellte, als ich am nächsten Abend um sechs nach Hause kam! Muß ich noch sagen, daß ich inzwischen kaum noch weiß, was >schlafen< ist? Drei Tage und vier Nächte . . . und wenn ich bedenke, was ich als Abschiedsgeschenk an der Tür noch bekam, könnte ich bis nächsten Monat wachbleiben und mühelos ein Pfund nach dem anderen verlieren . . . (sechs sind es, seit ich das letzte Mal geschlafen habe). Ich bemerke, je weniger ich schlafe, desto weniger esse ich, ganz egal, ob mit oder ohne Drogen. Die Nachricht an meine Eltern war einfach, aber genial: Überspringe sie, wenn sie Dich langweilt, aber ich glaube, es verschaffte mir eine gewisse Befriedigung und ein großes Vergnügen, »meinen Leuten« (wie Bobby sagt) Sand in die Augen zu streuen. Mom, es ist gerade fünf Uhr morgens, und ich habe wieder und wieder versucht, noch einmal einzuschlafen. Nach fast zwei geschlagenen Stunden erinnerte ich mich plötzlich an die Lichtung, wo ich neulich nachmittags war. Troy hat es dort auch so gut gefallen, und ich glaube, dieser Ort, eine Decke 92
und ein Buch werden mir den Abstand verschaffen, den ich so dringend brauche. Nicht von Dir, Mom! Ich weiß, Du könntest das persönlich nehmen, aber bitte tu's nicht. Ich meine nur, ohne Menschen um mich herum. Bloß ein paar Stunden mit meinem Pony, Troy, und vielleichtschlafe ich über Nancy Drew oder so etwas kurz ein? Mach Dir bitte keine Sorgen, ich rufe vor sechs an, falls ich bis dahin nicht zu Hause bin. Küßchen, Laura Ich habe die Nacht auf der wildesten Party verbracht, die es je gab, und Mom saß ganz ruhig zu Hause in der Gewißheit, daß ich in ein gutes Buch versunken auf meiner weichen Decke im Gras liege. Ich muß unbedingt dran denken, daß Troy heute noch geritten wird . . . irgendwie . . . Scheiße. Ich hatte ihn ganz vergessen . . . Hoffentlich ruft Zippy nicht an und schlägt vor, ihn selbst zu reiten . . . verdammt. Bin gleich wieder da. Ich rufe nur direkt im Stall an. Geschafft! Bobby hatte sich für die Nacht den Lastwagen von seinem Onkel geliehen, und solange wir von der 21 wegblieben, bestand keine Gefahr, daß wir angehalten wurden. Bobby ohne Führerschein . . . ich ohne Schlaf und diese gigantische Lüge meinen Eltern gegenüber . . .? Kannst Du Dir das vorstellen? Dann ging's los, die Musik klang erstaunlich gut, laut und klar, für das Alter des Wagens. Dadurch bekam ich allmählich das Gefühl, daß alles klappte. Das Rauschen der Bäume im Wind, die Geschwindigkeit des Wagens, die Musik, meine Aufregung, als ich anfing die Sachen auszuziehen, die ich über meinem Geburtstagsgeschenk von Cousine Maddy trug. Das sie mir per LUFTPOST geschickt hat. Habe ich Dir überhaupt erzählt, daß ich letzte Woche fast eine Stunde mit ihr geredet habe? Nun, dieses Kleid ist zum Umfallen, hauteng, und es hat einen Einsatz im Brustbereich, mit dem man den Busen anheben kann, wenn man will, anstatt daß er flachgedrückt wird wie bei anderen Kleidern. Bobby brachte uns beinahe 93
um, als er nur Millimeter an einem Baum vorbeischrammte. Er sagte, das wäre es wert gewesen, zu sterben, »erstarrt im Anblick deines so wundervollen Busens«. Klingt das nicht wie ein Country-Song . . . erstarrt im Anblick deines so wundervollen Busens . . .? Bevor wir ins Haus gingen, blieb Bobby noch einen Moment mit mir hinter dem Truck stehen. Er küßte mich, und dann sagte er, es sei wichtig für mich, zu wissen, daß Leo auf den ersten Blick ein toller Typ ist, witzig und schlagfertig. Dann schüttelte er den Kopf, ein ganz drastisches »NEIN«. Ich wollte wissen, was zum Teufel das bedeutet, also was passieren würde, wenn ich genau das täte, wozu er »NEIN« sagt. Bobby drehte sich um, als wir schon an der Haustür waren, und sagte: »Heute spielt es keine Rolle, ich bin mir ziemlich sicher, daß du dich heute an mich hältst . . . aber ficke nie mit dem Typen. Der steht auf ziemlich abartige Sachen, dieser Leo . . .« Ich nickte und war plötzlich fasziniert von dem Ausdruck »abartige Sachen« und seinem sexuellen Unterton. Bobby ging mir ein Bier holen, glaube ich, und Leo kam auf mich zu. Scheiße . . . da war es, sofort. Wir wußten es beide, und er sagte: »Laura Palmer . . . ach ne! Als ich dich das letzte Mal sah, hat dir der alte Dwayne Milford grade 'ne Plakette oder sowas verliehen . . . irgendein Preis, den du gewonnen hast . . .?« Ich mußte ihn unterbrechen: »Beste Leistungen l Fünf Jahre in Folge.« Er fragte, ob ich einen Beweis für meine Leistungsfähigkeit hätte, und ich versicherte ihm, es gäbe massenhaft Beweise, aber jetzt war' ich todmüde und am Verdursten. Er rief nach Bobby, und ich war ihm dankbar dafür. Denn gerade nach dieser Warnung betrat ich ein Schlafzimmer . . . (Moment, ich muß eben mal paar Linien hochziehen . . . ich komme runter, muß Dir aber noch soviel erzählen, unglaubliches Zeug - also warte.) Ich bin also mit Leo und Bobby in diesem Zimmer, und als wir gerade den Strohhalm rumgehen lassen wollen, geht die Tür zu einem Badezimmer auf. Ein Bad direkt neben dem Schlafzimmer . . . und Ronnette Pulaski kommt raus und sieht aus, als hätte sie das Junk Food aufgegeben und angefangen, sich um ihren Körper zu 94
kümmern — außer um die Nase. Sie war ganz schön high, und so, wie Leo ihr zunickte und kurz »hey« sagte, hatte ich den Eindruck, daß das jetzt ihr Normalzustand ist. Willst Du was Ausgeflipptes hören . . . Es ist mir erst jetzt ganz klar geworden, aber als ich zu der Stelle ging, zu der BOB mich immer mitnimmt . . . und sagte, daß ich manchmal an meinem Höschen rieche und mein Gesicht zwischen die Beine von Mädchen stecken will, um ihren Geschmack kennenzulernen . . . (Gott, manchmal kommt es mir richtig vor, sowas zu sagen, und manchmal kann ich's einfach nicht.) Nun, tatsächlich hatte ich in diesem Moment an Ronnette gedacht, einfach deshalb, weil sie außer Donna das einzige Mädchen ist, das ich je nackt gesehen habe . . . Vor ungefähr zwei Jahren oder mehr machten wir bei einem Schulfest mit, und wir beide waren die einzigen im Programm, die das Kostüm wechseln mußten. Wir zogen uns um . . . und lächelten uns zu . . . ich glaube, sie zog mich irgendwie an . . . durch ihre Augen, die traurig, aber kalt wirkten. Mir gefiel ihr Körper . . . jedenfalls war es eigenartig, sie hier zu sehen. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir hält . . . und bezweifle, daß es klug wäre, sie danach zu fragen. Was mir jetzt noch fehlt, ist, daß Gerüchte aufkommen, Ronnette und ich würden uns »sehen«, so oft es geht. Mom müßte sofort zu den Haywards, wenn nicht sogar ins Krankenhaus, und Dad würde wohl denken, wir hätten uns nur ein neues Spiel ausgedacht, eine Erweiterung des Murmelspiels vielleicht? Was soll's . . .!!! Gott, ich bin so high, ich kann gar nicht aufhören zu schreiben, tausend Wörter pro Minute. Ich hoffe nur für Dich, daß alles lesbar ist, denn, weiß Gott, ich kann jetzt nicht langsamer. Auf diese Droge habe ich mein Leben lang gewartet! Ich fühle mich stark, selbstsicher, sexy, intelligent, verdammt cool, muß ich sagen, und kein Mensch hat gestern irgendwie auf mein Alter angespielt. Ich komme verdammt gut an. Ich konnte die Schwingungen spüren, als wir reinkamen. Ich wußte, es würde eine von diesen ganz speziellen Partys, da hatte Bobby recht. Verdammt irre Sachen gingen da in der Ecke ab. Leo sah sich das hundertprozentig konzentriert an, also gingen Bobby und ich auch zuschauen. 95
Mann, da war diese Schnalle, die lag mit hochgezogenem Rock da und wettete, daß es ihr keiner besorgen könnte . . . Und wenn doch, bot sie hundert Eier. Sie forderte fünf pro Versuch. Denk dran, ich war schon einige Zeit auf der Party und war ziemlich abgefüllt, das heißt gleichzeitig narkotisiert und aufgeputscht . . . Ich schaute in die Runde, und man muß es mir deutlich angesehen haben, denn Bobby zog mich ein bißchen am Arm, und ich sagte, ich würde es versuchen, wenn es ihm nicht zu unangenehm wäre. Er schaute mich nur an, als ob er mich jetzt sowieso nicht mehr davon abbringen könnte . . . Also . . ., ich glaube, er wäre nie auf die Idee gekommen, daß ich an so was auch nur denken würde. Ich fragte, ob ich ihr leise was ins Ohr sagen könnte . . . bevor ich mich entscheide, und sie sagte, sie würde gern meine Stimme ganz nah hören. Also beugte ich mich über sie und flüsterte, ich werde dir richtig einheizen . . . Die hundert Eier sind so gut wie weg . . . Ich schaute einen Moment hoch und fragte, ob sie entspannt wäre. Sie sagte, sie hätte schon so ein komisches Gefühl, daß ich genau wüßte, was ich tue . . . ich ließ sie ein bißchen auf der Couch rücken und küßte sie, nur ein sanfter Kuß, auf die Lippen . . . Noch bevor ich sie überhaupt berührte, wollte sie mir ihren Namen sagen . . . ich sagte, ich würde sie so nennen, wie sie es wollte. Sie fing an, mich ziemlich geil zu machen, was ich nicht gedacht hätte . . . aber es half, denn unsere Empfindungen lagen ähnlich . . . paßten einfach zusammen. Ich öffnete ihre Beine und sagte ihr, daß sie hübsch sei, ob sie das wüßte? Sie nickte. Ich sagte, ich könnte sie nicht verstehen . . . Sie rief: »JA!« Ich lächelte . . . »Ja, was?« sagte ich . . . »Ich habe nichts gehört . . .« Sie holte tief Luft und legte ihre Finger an den Mund, und die Typen hinter ihr machten »Yeah«. Dann hörte ich, wie jemand im Hintergrund sein Glas fallenließ und sagte: »Scheiße, Mann, diese Kleine kriegt sie hin . . . sie verlangt sogar danach, Mann . . .« Ich wußte, sie wollte Dinge sagen, die sie sonst nicht 96
aussprach. Ich paßte auf, daß sie etwas zu fragen oder zu schreien hatte . . . Ich wußte, sie wollte das hören . . . daß die Männer im Zimmer es hörten. Ich sagte ihr, daß alle sie anschauten, daß alle sie mit den Augen fühlen und schmecken konnten . . . einige Männer bewegten ihre Finger, um die Hitze in den Händen rauszulassen. Ich wußte, das geschah alles wegen ihr, ich mußte ihr nur weiter die Sicherheit geben . . . sie wollte es so sehr, und ich sagte ihr, sie sei schön. Zack! Sie packte mich . . . zog an meinen Haaren . . . rief: »Laura, Laura . . . Gott, was machst du mit mir . . .!« Ein fetter Typ wollte übernehmen, aber ich sagte ihm, er sollte noch 'ne Minute warten . . . er war ziemlich sauer, sah dann aber, wie dringend das Mädchen einen Moment Ruhe brauchte. Sie nahm mich an den Haaren und sagte: »Seit fast zwei Jahren ist mir das nicht mehr gelungen . . . ich würde dich hier gerne wiedersehen, wenn ich dich nicht zu sehr verschreckt habe.« Mir dämmerte, daß das der richtige Zeitpunkt war, zu erwähnen, daß ich ein bißchen runterkam, vielleicht von den Hundertdollarküssen. Dann kam dieser Typ auf mich zu und sah mich an, direkt in meine Augen. »Kleine«, er machte eine Pause. »Ich mußte dich einfach anschauen kommen, deine Haut und alles.« Er grinste. »Ich habe noch nie gesehen, wie so viele Typen sie erst angeschaut haben, als wäre sie nichts, und dann alles gegeben hätten, um du zu sein.« Ich antwortete, ich war' froh, daß es ihm gefallen hätte . . . Ich wollte die Party nicht so sprengen, wie ich es getan habe . . . Es tut mir furchtbar leid, ich kann kaum glauben, daß ich das war . . . Ich glaube, ich bin ein bißchen überdreht . . . ich denke, sie sind weg, weil ich ein bißchen . . . Er lachte. »Niemand geht irgendwohin, außer kurz raus auf den Rasen mit einem Bild von dir im Kopf . . . Sie sind bald wieder da, wenn sie sich erleichtert haben.« Die Frau raffte sich schließlich von der Couch auf und kam und küßte meine Brust, wo das Kleid seinen tiefen Ausschnitt hat . . . 97
Sie sagte, sie sei mir was schuldig, wenn sich unsere Wege das nächste Mal kreuzten . . . Leo ließ mich wissen, daß seine Party durch mich ein Knaller geworden ist, die Typen würden noch lange drüber reden . . . Sag Du mir eine ausgeflipptere Art, Leute kennenzulernen . . . Bald muß ich Leo besuchen, um rauszukriegen, ob er so ist, wie ich ihn mir vorstelle . . . Vielleicht macht er ein paar dieser abartigen Sachen mit mir, vor denen mich Bobby gewarnt hat . . . Ich wette, ich habe Bobby heute nacht sowieso ganz schön zugesetzt . . . ich kann nicht verstehen, was da in mich gefahren ist, aber ich wollte es so . . . Ich wollte es ausprobieren, und das war es dann. Es ist mir egal, wie high ich bin oder wie high ich war . . . Es war einfach geil. Du kannst Dich drauf verlassen, ich tue es wieder. Laura
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Tagebuch . . .
14. Dezember 1986
letzte Nacht habe ich von BOB geträumt. Ganz und gar kein schöner Traum, das wäre wohl auch krankhaft, denn ich hasse ihn so sehr dafür, wie er mich verdorben hat . . . mir einredete, ich sei häßlich und schlecht, weil ich Liebe und Zuneigung ersehnte . . . Für eine sehr lange Zeit hat er meinen ganzen Stolz und meine Selbstachtung zerstört . . . Ich konnte nur hübsch und brav sein, weil hübsch und brav sein einfach war . . . gute Noten gingen noch leichter. Niemand wollte mich . . . ich konnte nicht mal zugeben, daß ich wußte, was Sex war. Er hat mich total ruiniert, oder? Also, in dem Traum kam er an Leos Fenster und sah mich. Es war eine schlimmere Szene im Traum als letzte Nacht in Wirklichkeit. Dauernd zeigte er dieses Bild von mir. Und dann stand er bei dem Baum u nd sagte OHNE MICH KÖNNTEST DU NICHTS VON ALL DEM TUN. Ich sagte ihm, daß er da falsch liegt. Ich erklärte ihm, daß ich mir alles selbst beigebracht habe, um damit die Wunden zu heilen, die ich von ihm habe. Er sagte: »ACH JA, WARUM ABER WILLST DU DANN, DASS LEO DICH FESSELT, DICH LECKT, DICH ZU SEINER SKLAVIN MACHT . . . ICH WEISS, DAS WILLST DU . . . GENAU SO, WIE ICH ES DIR BEIGEBRACHT HABE, DU KLEINE SAU. ICH HAB DICH GESEHEN MIT DER RUTE, WIE DU MIT DIR SELBST GESPIELT HAST . . . DU HAST AN DEN SCHLIMMEN JUNGEN LEO GEDACHT, NICHT AN BOBBYLEIN, DER PLÄRRT, WENN EINE KLEINE SCHLAMPE WIE DU IHN GEPICKT HAT.«
Und ich wachte auf. Voller Scham. Voller Entsetzen. Voller Schuld. Und plötzlich bildete ich mir ein, ihn zu sehen, direkt vor mir auf meinem Bettrand. DU VERGISST, LAURA, ICH WEISS ALLES, SEHE ALLES, GEHE ÜBERALL HIN, WO ICH WILL . . . ICH KÖNNTE DIR 99
MEHR ÜBER DAS ERZÄHLEN, WAS DU FÜR GEHEIMNISSE HÄLTST, MEHR ALS DU SELBST WEISST! DU HAST DEINE DECKUNG HÄNGENLASSEN, NICHT WAHR, HAST MIR EINE ANGENEHME ERHOLUNG VON DEINEM GESTANK VERSCHAFFT . . . DANN MUSSTEST DU MICH WIEDER ZU DIR RUFEN . . . VERKOMMENE KLEINE SAU! DU BIST MANCHMAL ZIEMLICH GEMEIN ZU MIR, WENN DU SCHREIBST, STIMMT'S? DAS WERDEN WIR IN ORDNUNG BRINGEN MÜSSEN. DAMIT DU MICH WIEDER LIEBST WIE FRÜHER. ICH ERINNERE MICH GUT . . . DU AUCH?
Und dann verschwand er. Ich muß etwas tun, irgendwas, das gut und richtig ist, heute noch! Wer zum Teufel ist er, und warum haßt er mich so? Ich will sterben und alles andere vergessen. Ich halte es nicht mehr aus! Gerade, wenn ich mal gut drauf bin, kommt jemand und macht, daß ich mich verdorben fühle, schmutzig. Dann küßt mich jemand genau richtig, und ich komme mir wieder begehrenswert vor und bin total happy. Ich muß unbedingt wissen, ob das richtig ist, was ich tue. Ich kann nicht zulassen, daß BOB es war, der mir beigebracht hat, daß ich manchmal gefesselt werden will. Ich will niemals verletzt werden. Ich selbst habe das nie getan. Ich will nur diese Spiele spielen, wo ich manchmal schmutzige Sachen sagen muß, keine gemeinen Sachen, wie BOB meint, und wenn ich dann bestraft werde, dann mit Sex, nicht mit Schmerzen. Es ist nicht BOB, der mir diese Gedanken eingibt. Das lasse ich nicht zu. Das sind meine eigenen, intimsten Gedanken. Ich habe Angst davor, meine sexuelle Erfahrung nur noch mit einem Gefühl der Angst zu machen, immer zu befürchten, daß er kommt und Lügen über mich verbreitet. Wenn irgend jemand, der mich liebt, diese Zeilen nach Jahren einmal lesen wird, bitte versuche, mich nicht zu hassen. Ich empfinde eben so, wie ich empfinde. Ich verletze niemanden damit und will es auch nicht. Jeden Tag versuche ich, ein besserer Mensch zu werden und mehr dem zu entsprechen, was die Welt von einem Mädchen wie mir erwartet. 100
Aber ich bin Laura. Ich bin traurig. Gott, wieder bin ich traurig! Warum nur! Ich vermisse das Lachen und sehne mich nach einem Tag unter Freunden, denen es egal ist, woran ich spät nachts denke. Sie hassen mich nicht dafür, daß ich manchmal nachts träume, mit einer Hand zwischen meinen Beinen, voller Scham und dem Wunsch, daß meine andere Hand einfach abdrückt. BOB, ich verbiete dir, je wieder zu mir zu kommen, in Träumen oder in Wirklichkeit. Du bist nicht willkommen! Ich hasse dich. Ich bin so allein, Laura
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10. Januar 1987
Liebes Tagebuch,
beim Frühstück habe ich versucht, mit Dad zu reden, aber er saß bloß da und rutschte auf seinem Stuhl rum, als hätte er keine Zeit für irgendwelche Probleme. Hat keine beschissene Zeit für die Selbstmordträume seiner eigenen Tochter. Meine Eltern reden nicht mit mir . . . Was ist das? Eine Art Traum? Dad zog sich nackt aus und schrie: »Es ist ein Traum . . . Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! . . . Deine Mutter hat Fotos von dir gesehen, wie du anderen Frauen die Spalte leckst. Es sah a uf den Fotos so aus, als hättest du Spaß daran. Stimmt das?« Ich hatte noch nie soviel Angst wie in dieser Sekunde. Ich merkte nicht mal, daß ich schlief, als das geschrieben wurde . . . Habe ich geschlafen? Scheiße, das ist zu ausgerastet. Einfach ein biß chen zu ausgerastet. War BOB da? War BOB in . . . Ich will nicht mal daran denken.
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Liebes Tagebuch, Februar 1987
3.
kein Kokain mehr. Alles weg. Ich hasse diesen Zustand . . . als wäre ich in einem luftleeren Raum, mein Körper ist vergewaltigt worden, meine Gedanken, Träume, die Vorstellungen, die ich von Mom und Dad habe, sind jetzt entsetzliche und deprimierende Bilder, die ich dauernd ansehen muß . . . Oh, wenn Mom je wüßte, was alles passiert ist. Ich frage mich, ob irgend jemand mir glauben würde, wenn ich alles sagte, was ich von ihm weiß . . . Ich könnte die Polizei holen und sie auf ihn warten lassen, bis er auftaucht, aber das wüßte er bestimmt, wie er alles weiß, was ich denke. Mein Bewußtsein ist ein Spielzeug für ihn. Etwas, das er zwischen seinen Klauen hin und her schiebt. Ich werde es eben allen erzählen und sie überzeugen müssen. Und zwar erzählen . . . WAS WILLST DU ERZÄHLEN, LAURA PALMER? DASS ICH DICH HOLE UND DU NIE WIDERSPRICHST? NIE UM HILFE SCHREIST? WILLST DU VIELLEICHT ERZÄHLEN, DASS DU MICH SIEHST, ABER NIEMAND SONST? DIR WIRD NIEMAND GLAUBEN, LAURA PALMER . . . ICH BIN VIEL ZU VORSICHTIG.
O Gott . . . es ist wieder passiert . . . Er hat sich auf diese Seite geschlichen . . . Das wollte ich überhaupt nicht schreiben! Es macht mir furchtbar angst, daß BOB einen Weg in die Seiten meines Tagebuchs gefunden hat, als ob er meinem Bewußtsein die Worte einflößt, in Sekundenschnelle, so daß ich denke, es wären meine eigenen. Kann ich Dir irgendwas besorgen, BOB . . . irgendwas, das meiner Familie gehört, als Tausch für mich? Rede mit mir, BOB . . . über einen Handel . . . tausche mich für was anderes ein. INVERSTANDEN, ICH WERDE TAUSCHEN, er wird es sein?
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DAS WEISS MAN NIE SO GENAU . . . VIELLEICHT ÜBERLEGE ICH ES MIR ANDERS.
. . . dachte ich mir.
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Tagebuch,
2. April 1987
ich brauche Koks, oder ich schaffe es nicht. Muß unbedingt Bobby erreichen. Verdammt, wo ist der Scheißkerl, wenn ich ihn brauche! Das ist großartig. Hier sitze ich, Laura Palmer, Musterschüler in, vorbildliche Bürger in von Twin Peaks . . . und habe eine Sucht, die ich mir gerade erst zugelegt habe. Ich bin nicht bereit für diesen Job . . . Habe immer noch Angst, daß BOB wartet. Wenn er im Wald ist, kriegt er mich jetzt, weil, Scheiße, wenn ich nicht eine Möglichkeit f inde, mir in der nächsten halben Stunde eine dicke Linie Selbstvertrauen in die Nase zu ziehen. Eine fette weiße Linie, die nach mir verlangt, wie es ein Liebhaber tun sollte. Ich wünschte, BOB würde tauschen. Wenn er es tut, versuche ich sein neues Opfer zu finden und ihr zu sagen, sie soll sich hüten VOR DEM MANN, DER VIELLEICHT IN DIR EIN UND AUS GEHT WIE DER WIND, DEN MAN NICHT BEMERKT, DANN ÜBER DICH KOMMT UND EINE FAUST IN DEN WEIBLICHEN BEREICH STECKT, IN DEN DU DICH SO VERLIEBT ZU HABEN SCHEINST, LAURA PALMER . . . DU SOLLTEST DIR NICHTS WÜNSCHEN . . . DU KRIEGST NICHT, WAS DU WILLST, DAFÜR SORGE ICH SCHON. DENK DRAN, LAURA PALMER, ICH KANN DEIN BEWUSSTSEIN SO BEEINFLUSSEN, DASS DU NICHTS FÜHLST, AUSSER WAS ICH DICH FÜHLEN LASSE. FÜHLST DU DICH NICHT ZUM STERBEN ELEND, LAURA PALMER . . . WILLST DU MIR NICHT GERADE WIEDER NACHGEBEN? NIMM MICH ZURÜCK, UND ICH WERDE KEINEN SCHRECKLICHEN UNFALL VERURSACHEN ETWAS SPÄTER HEUTE. WENN JEMAND DABEI VERLETZT WIRD, KANNST DU DIR LÄCHELND SAGEN, DASS ES DEINETWEGEN GESCHAH. EGOISTISCHE, DROGENSÜCHTIGE LESBE!
Leck mich! Wenn ich gleich zu Leo gehe wegen Koks, vielleicht kriege 105
ich dann alles wieder auf die Reihe und finde meine Freiheit wieder. Die Privatsphäre meiner Gedanken, und zwar ganz. Ich hole sie mir zurück. Sie gehört mir. Ich brauche nur ein bißchen Koks . . . ich brauche einen Lift von hier weg . . . Scheiße, ich laufe. Ich stehe einfach auf, gehe runter, zur Haustür raus, als ob nichts wäre. Ich kriege das Koks, und alles wird besser. Dann kann ich wieder nachdenken. Ich laufe einfach zu Leo, und alles geht in Ordnung. Ich nehme Dich mit, Tagebuch Laura
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Liebes Tagebuch,
2. April 1987
Leo hatte Gesellschaft von der weiblichen Sorte, und sie konnten nicht an die Tür kommen. Oh, Gott . . . Geld . . . Scheiße! Vielleicht gibt er mir das Koks erst mal so, und ich zahle dann später, oder . . . halt, er kommt gerade raus. Bis gleich, L Hoffentlich ist Leo anständig mit dem Geld für das Koks, hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich.
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Wieder da und happy, bei Leo:
2. April 1987
er hat welches, und es ist gut. Er hat mir gerade mit einer Nase voll wieder auf die Beine geholfen . . . Mein Kopf fängt wieder an, seine mentalen Dateien zu ordnen . . . spüre das Blut in meinen Venen . . . Ich sagte Leo, daß ich normalerweise nicht diese ausgeflippte Süchtige bin, aber ich habe einfach so lange nicht geschlafen . . . Warte! BOB ist weg. Ich spüre ihn nicht mehr um mich. Vielleicht weil ich high bin. Vielleicht bin ich verrückt und bilde ihn mir nur ein . . . Nein, Scheiße. Ich bin verrückt, wenn ich glaube, daß er nur in meiner Einbildung existiert . . . er ist wirklich. Ich weiß, daß es ihn wirklich gibt. Sicher. Ich könnte so etwas Schreckliches wie diesen Mann nicht erfinden. Allmählich wird aus mir wirklich das, was BOB mir prophezeit hat. Ein gefallenes Mädchen, mißbraucht, mißtrauisch, verloren, das Sex und Drogen liebt, weil sie immer zur Hand sind, um mich so high zu machen, wie ich es erwarte . . . keine Überraschungen. Siehst Du nicht, daß Du mich umbringst, BOB? Ist das der Grund? Ich sehne mich nach diesen Tagen vor erst einem Jahr, als ich mich an fast nichts erinnern konnte . . . Ich wußte nur irgendwie, daß ich in manchen Nächten nach Hause kam, viel weinte und mich voller Scham im Bad versteckte. Ich erinnere mich, was du zu mir gesagt hast, du Drecksack! Ich erinnere mich genau! Ich weiß, daß du mich geschnitten hast, als ich noch sehr jung war, mehrere Male, und mir dann erzählt hast, ich sei in großen Schwierigkeiten, weil ich geblutet hatte. Du hast mir eingeredet, guten Kindern läuft kein Blut die Beine runter. Du hast mir eingeredet, ich sei kein Kind Gottes! Gab es überhaupt irgendwas, bei dem du mir normale Gefühle erlaubt hast? Ich wuchs auf, und du warst immer um mich, um mir vor Augen zu fuhren, wie verkommen und schlecht ich war. Du warst diese Stimme . . . du Wichser. Leo will mit mir reden, wegen Geld . . . ich hoffe, diese Aktion geht glatt, schmerzlos und ruhig vonstatten. Ich sagte Leo, daß er mir sofort Bescheid sagen soll, wenn Bobby sich meldet. 108
Wir müssen für heute nacht noch einen anderen Dealer finden . . . Ich habe das Letzte von dem sauberen Stoff gekriegt, außer Leos Privatvorrat, und der ist, wie sein Name sagt: rein privat. Wenn mir nicht soviel Scheiße im Kopf rumginge, brauchte ich für heute nacht nichts mehr. Ich muß noch was haben. Das ist alles, was mir zur Zeit bleibt, Mann. Mein Freund, die weiße Linie, an den ich so angenehm erinnert werde, wenn ich über die großen Highways fahre oder einen Schneesturm sehe oder ein Häufchen Babypuder, das als Provokation in meinem eigenen verdammten Haus herumliegt. Hoffentlich kriegen wir noch was. Wir müssen. Nach den letzten paar Tagen ohne Schlaf mit diesem verdammten BOBDeal . . . Ich kann mich einfach nicht ins Bett legen und schlafen. Zu gefährlich. NA, LAURA PALMER, ES IST DOCH ERST ZWEI, DREI TAGE HER, SEIT DU ZUM ERSTEN MAL GESCHNUPFT HAST . . . DU BIST EIN VERKOMMENES LUDER . . . NOCH HIER.
Leck mich, BOB. Dann bin ich eben so, wie du es mir immer gesagt hast. Ein kleines Luder, dreckig und versaut, das rumfickt, um an Geld für Drogen zu kommen. Du gewinnst. Du hast mir Schmerzen eingeflößt, als ich keine hatte, und als ich Schmerzen hatte, hast du gesagt, es war' meine eigene Schuld . . . Du bist der widerlichste, übelste, durchtriebenste Mann, der je in mein Leben getreten ist, wozu dich niemand eingeladen hat und wozu du kein Recht hattest. Verdammt, was willst du eigentlich! Du schwindelst doch, denn du suchst dir keinen Gegner, der dir gewachsen wäre . . . Erobere so jemanden, dann gebe ich zu, daß du gewonnen hast. Dann folge ich dir sogar. Ohne Widerrede. Laura Palmer glaubt, daß du ein Schwindler bist.
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Liebes Tagebuch,
24. Juni 1987
es ist spät in der Nacht, und ich habe keine Lust, zu Hause Bescheid zu sagen oder jemanden wissen zu lassen, wo ich bin und ob ich mich in Sicherheit befinde. Ich habe keine Lust, darüber nachzudenken. Ich will nichts mehr über mich wissen, von niemandem . . . Zu viele Lügen sind in mich eingedrungen, wie Geschosse, die Wunden hinterließen . . . langsam bluten. Erst Jahre später sollte ich sie bemerken. Und die Schwäche zu spüren beginnen. In die Welt der Drogen sinken. In die Welt des Sex als Show und als Machtmittel. Um Stärke zu finden, ging ich zu den falschen Leuten. Der Teil von mir, der die Fähigkeit hatte, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, ist mir genommen worden. Ein Entschluß hält für mich nur noch einen Augenblick lang, bevor ich an ihm zweifle und mich verfluche, weil ich einmal gedacht habe, ich könnte den rechten Weg wählen . . . Schon vor Jahren hätte ich lernen sollen, mich an dich zu erinnern. Vielleicht hätte ich mir dann einige sehr traurige Momente erspart . . . sehr üble Träume und ein paar Hundert Versuche, mein besseres Ich wiederzubekommen. Dasjenige, das dich hereingelassen hat. Und dem du ein ganzes Leben schuldest. Ich hoffe nur, du hast bekommen, was du brauchtest. Für mich gibt es nichts Gutes, jetzt nicht. Ich kenne den Weg zu verantwortlichem Handeln nicht mehr, den ich früher kannte. Es ging sich so einfach darauf . . . Ich habe Troy weggeschickt. Ließ ihn frei und gab ihm ein paar Peitschenhiebe auf den Arsch (eine Methode, die bei mir ausgezeichnet funktioniert hat, wie du dich sicher erinnerst, BOB). Er ist weg. Ich verdiene ihn nicht, und er verdient kein Leben, das Tag für Tag in einer kleinen viereckigen Box beginnt und endet. Als Mahnung, wenn du so willst, daß er nicht frei ist, sondern einen Besitzer hat. Ich habe das Pony gehen lassen. Eines der letzten Dinge, die ich erhofft hatte, bevor ich mich erinnerte an deine . . . Scheiße. Es ist sowieso egal. 110
Hoffentlich hat Troy verstanden, warum ich ihn weggejagt habe. Ich habe eine solche Angst, daß alles, was ich berühre, in Gefahr ist, mit BOB Kontakt zu bekommen. Ich werde den Tod erforschen . . . keine Sorge. Ich spüre, daß du entscheidest, wie und wann. Du Dreckskerl. Laura
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Liebes Tagebuch,
12. November 1987
ich hoffe, Gott liest das: Ich könnte die Hilfe brauchen. Das ist nun endgültig das Ende meines Lebens, mein Glaube an mich selbst . . . Vertrauen . . . alles weg! Leo und Bobby kamen mich im Stall abholen, weil ich kaum mehr gehen konnte. Bobby sagte, er hätte bei mir zu Hause angerufen und erklärt, daß er mich zu einer Einladung zum Abendessen mitnimmt, es sollte eine Überraschung für mich sein . . . wir kämen spät zurück. Das war süß und sehr umsichtig von ihm, muß ich zugeben. Noch ein Dankeschön an Bobby: Er hat von Donna Klamotten für mich ausgeliehen — Donna hat ihm übrigens gestanden, daß sie sich Sorgen um mich macht. Ich gebe zu, daß ich überrascht bin. Nicht daß ich an Donnas Freundschaft und Treue zweifle, aber ich glaube jetzt zu fest an BOB. Ich erklärte Leo und Bobby, daß ich mir Sorgen mache. Daß es einen guten Grund für mich gibt, die ganze Nacht an einem festen Ort zu verbringen. Ich sagte, ich wäre so beunruhigt, daß wir, wenn sie einverstanden sind, meinetwegen gerne umdrehen könnten und das Koks bis morgen vergessen. Bobby lachte mich aus, und Leo tätschelte meine Hand, als wäre ich ein süßes kleines Ding, das immer dasselbe vor sich hin flötet. Wie eine Aufziehpuppe, nutzlos. »Ich glaube nicht, daß das ungefährlich ist.« Wir fuhren raus, an Mill Town vorbei und tiefer nach Low Town. Ich habe noch nie eine so finstere Nacht erlebt. Kein Mond am Himmel. Das beunruhigte auch Leo, der sicher gut auf mich aufpassen wird, bis ich gehe. Alles, was ich jetzt brauche, ist entweder Stoff oder das Geld für neuen Stoff. Mein kleiner weißer Freund. Noch eine Lüge, aber wenigstens weiß ich diesmal, daß es eine Lüge ist, auch wenn ich sage, daß ich dran glaube. Zeitweiliges Glück ist besser, als nach und nach zulassen zu müssen, daß Freunde, Familie, Liebhaber einen Einblick kriegen, wie nahe ich an der Selbstzerstörung bin. Komm nicht zu nahe, es gibt keine Sicherheit mehr in der Menge. Das kann ich Dir versprechen. 112
Wir bogen auf eine schmale Straße ohne jedes Schild ab, nahmen aber an, daß es die richtige sein mußte, weil es meilenweit die einzige Straße war. Bobby saß einfach nur da, bevor er zu dem Haus runterfuhr. Leo trieb ihn an, sagte irgendwas wie: »Komm schon, Bobby, fahr los.« Auch ich versuchte, zu ihm durchzudringen, aber er war ganz einfach in einer anderen Welt. Machte ein Gesicht wie aus Twilight Zone. Als Bobby aus seinen Gedanken erwachte, brauste er sofort los, die Straße hinunter in die völlige Dunkelheit vor uns, die irgendwo ein Haus verbarg. Eines, von dem ich hoffte, daß es unanständig voll von Drogen und einem schnellen Drink war, wenn ich ein Lächeln aufsetzte . . . Zeig deine Zähne, dachte ich. Leo sah mich einen Augenblick an, als käme es ihm irgendwie falsch vor, hier zu sein, unter diesen Bedingungen, ohne jemanden zu kennen und vollgestopft mit Geld, das in die Tausende ging. Ich lehnte mich wieder in meinen Sitz zurück und hielt den Mund - plötzlich wurde mir klar, wie lächerlich die ganze Umzieherei war . . . Mit den Klamotten konnte es nur Ärger geben in Low Town bei dieser völligen Dunkelheit, für die es in den Radionachrichten noch keine Erklärung gegeben hatte. Sie sagen nicht mal, daß Stromausfall ist. Ich sagte: »Wie lange braucht die Polizei nach einem Anruf wohl, bis sie hier ist?« Bobby langte in seine Jacke und brachte die Pistole seines Vaters zum Vorschein. Sie schimmerte nur ganz wenig, und ich sagte ihm, er hätte wohl nur noch Scheiße im Hirn, dieses Ding mit sich rumzutragen. Ich war nun sicher, daß ich nicht einfach Magenschmerzen hatte, sondern eine innere Stimme dahinter steckte, die mir riet, umzudrehen und in einem Höllentempo loszurasen, bis wir in meiner Gegend waren. Der Wagen drehte nicht und fuhr auch nicht langsamer. Auf der Straße war kein Lebenszeichen zu erkennen, kein Haus vor uns, keine verdammte Menschenseele weit und breit . . . nun, doch vielleicht ein, zwei . . . noch mehr Grund, sich still und leise aus dem Staub zu machen, solange wir noch die Chance hatten, zusammen wegzukommen. 113
Ohne jeden ersichtlichen Grund machte Bobby eine Vollbremsung. Der Lastwagen drehte sich zweimal um die eigene Achse, Staub wirbelte hoch und leuchtete im Licht der Scheinwerfer. Schließlic h blieb der Wagen stehen. Wir hatten alle einen leichten Schock. »Ich dachte, da ist jemand . . .«, erklärte uns Bobby. »Ich wollte ihn nicht überfahren.« Wir stiegen aus und bewegten uns langsam durch das Dunkel. Plötzlich packte mich jemand von hinten und würgte mich. Ich dachte, soll ich so sterben? Das glaube ich nicht . . . in Low Town bei einem Blackout, den niemand sonst zu bemerken scheint, während ich gerade versuche, Drogen zu kaufen, Kokain, um genau zu sein, und keiner von den beiden starken, kräftigen Männern, die mich begleiten, weiß, daß ich erwürgt werde, verdammt! Ich dachte, das war es . . . Diesen Ausflug müßte ich mit dem Leben bezahlen. Bezahlen wollte ich zwar. Aber was anderes. Bar. Der Griff lockerte sich, alles verschwamm vor meinen Augen, und ich wurde ohnmächtig. Ich wachte im Hause dieses Dealers auf, mit Kopfschmerzen wie von einem Aneurysma. Bobby und Leo kamen ins Zimmer, und Bobby setzte sich gehorsam neben mich und tat besorgt wegen meinem Kopf. Seine Besorgnis erinnerte mich daran, was passiert war. Und ich sagte (mit einer guten Portion Sarkasmus, darf ich hinzufügen): »Wer hat die verdammt kluge Idee gehabt, mich zu würgen, bis ich ohnmächtig wurde?« Keine Antwort. »Soll ich vielleicht glauben, daß die Typen in Low Town Mädels immer so anmachen?« Wieder Schweigen. »Echt klasse.« Der fetteste von den vier Brüdern zog eine Kanone aus dem Hemd und zielte auf mich. Ich schaute ihn an, ob er da nicht ein bißchen übertrieb, denn ein »Hält's Maul« oder »Verpiß Dich« wären mir vollauf verständlich gewesen. Er entsicherte das gottverdammte Ding und hielt es mir unter die Nase. »Ich bitte um Entschuldigung, Herzchen . . . Heutzutage ist nicht jeder, der ein Kleid trägt, ein Mädchen.« Er starrte mich an, leckte an seiner Kanone. »Hübsche Titten.« 114
»Ich weiß.« Auch wenn diese Erklärung für seinen brutalen Griff nicht unbedingt einleuchtend war, seine Entschuldigung nahm ich an. Ich streckte ihm die Hand hin und bedankte mich dafür, daß er mich nicht erschoß. Das hätte mir echt den Abend versaut. Es entstand eine Pause . . . und kein Händedruck. Langsam, und mit großem Genuß, zog er die Mundwinkel hoch, höher und höher, und beendete die Vorstellung mit einem eingefrorenen Grinsen, das soviel besagte wie »Friß Scheiße und verrecke«, ein Grinsen, wie ich es vorher nur einmal gesehen hatte. Ich wußte, der Deal war ein Schwindel. Wachgehalten und an die gute Sitte des Schweigens erinnert wurde ich von den vier Pistolen, deren Mündungen auf recht wesentlichen Teilen meines Gesichtes ruhten. Kaltes Metall. Ein Kribbeln in meinem Nacken. Horror. Nenn mich verrückt, aber Waffen bringen mich oft zum Hyperventilieren, und dann brauche ich dringend große Mengen frische Luft, und zwar so schnell wie möglich. Ich sagte ihnen, ich ginge zum Wagen. Ich dachte, daß jeden Augenblick eine der Kanonen losgehen und mir den weiten Weg ersparen würde. Ich mußte unbedingt Luft kriegen, was noch schwieriger war als sonst wegen dieses Dings, das meinen Nacken zusammenschrumpfen ließ. Und außerdem habe ich Angst vor Kugeln und mache jede Wette, daß sie wehtun, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit ins Fleisch dringen. Plötzlich fielen mir Leute mit militärischem Aussehen auf, die wie erstarrte Alpträume über das ganze Haus verteilt waren. Einer der Soldaten kam zu meinem Fenster, ich hatte mich ganz zusammengekauert, weil es kalt war und ich Angst hatte. Mit völlig unbewegtem Gesicht fragte er: »Denken Sie manchmal ans Sterben?« »Nicht in einer Situation wie dieser. Nein, Sir.« Er sah mich an, als hätte ich gerade dafür gesorgt, daß seine Beförderung ein paar Tage früher erfolgte als geplant. »Sie müssen leider den Wagen verlassen, bitte, Miss.« »Wollen Sie mich jetzt erschießen, oder was?« 115
»Es ist eine beträchtliche Menge Kokain aus dem Haus gestohlen worden. Ich dachte, vielleicht möchten Sie mir zeigen, daß der Wagen sauber ist, dann können wir mit unseren Geschäften fortfahren . . . gemäß den Regeln.« Ich stieg aus und hatte das Gefühl, in kleinste Knochenstückchen zu zerspringen, vor lauter Angst. »Alles okay?« »An meinem Ende der Pistole, ja.« Ich konnte mich nicht bewegen. »An Ihrem Ende ist nicht viel los, wie?« »Nein. Nein, etwa soviel wie bei einer Totenwache . . . man sehnt sich nicht gerade danach. Sir.« »Sie können jetzt auf Ihren Sitz zurück und sich ausruhen.« »Was tut sich gerade im Haus?« Er zuckte die Schultern. »Ich denke, die Jungs sitzen rum und debattieren, ob sie ihnen die Gehirne wegpusten sollen oder sie nach High Town zurückschicken, wie sie gekommen sind.« »Oh. Jetzt fühle ich mich schon viel ruhiger. Danke.« Fast vierzig Minuten mußte ich in dem beschissenen Truck sitzen und warten, um herauszufinden, ob Bobby und Leo in fester oder flüssiger Form nach Hause durften. Endlich kamen sie zur Tür raus, klopften diesen Gangstern auf die Schultern und lachten, als ob sie lieber noch geblieben wären. Ich dachte, wow, das ist super. Ich bin hier draußen und kann jeden Moment per Genickschuß erledigt werden, weil ich ein Kilo Kokain geklaut habe (ich verstaute es vorsichtig unter meinem Kleid, das immer noch hauteng wirkte und dadurch meine Unschuld bewies), und zum Dank legen sie ein Schneckentempo vor auf ihrem Weg zum Wagen. Und präsentieren dazu ein übles Beispiel für männliche Kumpanei, wie ich es noch nie gesehen habe. Und dann traf mich ein Blick voller Panik aus Bobbys Augen, und der besagte: »Paß auf!« Pistolen ballerten los, als hätte der Jagdverband Mitglieder aufgenommen, die offiziell für blind erklärt waren. Die schössen einfach völlig bescheuert aufeinander . . . paranoid und so high, daß sie es erst morgen spüren würden, wenn sie getroffen waren. Ich rutschte auf den Fahrersitz rüber, riß den Wagen 116
herum, dorthin, wo Leo Deckung gefunden hatte. Er war unbewaffnet und betete wie ein Irrer. Und dann waren wir weg, rasten zurück Richtung Stadt. Dann war ich dran mit dem Blick, der besagte »Oh, Scheiße«. Als wir die halbe Strecke hinter uns hatten, schaute ich in den Rückspiegel und sah noch jemanden auf der Ladefläche bei Leo, und Leo bezog höllische Prügel. Bobby holte seine Kanone raus, zog sich mit dem freien Arm am Seitenfenster hoch, beugte sich raus und machte dem Typen klar, daß er in zwei Sekunden entweder verschwunden oder tot sei. Er mußte sich schnell entscheiden . . . Der Typ richtete sich auf, und Bobby schoß ihn in die Brust, aus einer Entfernung von einem, vielleicht anderthalb Meter. Der Aufprall der Kugel ließ den Kerl in hohem Bogen vom Wagen fliegen, auf die Erde hinter uns. Bobby schrie mich an: »Mach, daß wir hier rauskommen. Gib Gas!« Sobald wir wieder auf der asphaltierten Straße waren, ließ sich Bobby in die Fahrerkabine zurückgleiten, hielt aber noch immer seine Pistole in der Hand, als sei er jederzeit schußbereit. Bobby sprach auf dem Heimweg kein Wort. Leo saß hinten und dankte Gott für das Wunder, mit dem er sein Gebet erhört hatte. Ich fragte mich, ob wohl eine Menge Blut hinten auf dem Wagen war und ob der Mann noch lebte . . . Bei Leo angekommen, ging ich mit ins Haus und fragte, ob wir allein seien. Er bejahte, und ich holte das ganze Kilo Kokain unter meinem Kleid raus, in Plastik verschweißt und völlig unbeschädigt. Guter Job für einen Amateur wie mich, dachte ich. Ich entschuldigte mich bei Bobby, weil es wahrscheinlich meine Schuld war, daß der Mann sich dort hinten versteckt hatte. Ich war aber durchsucht worden, und der Typ sagte, ich sei sauber. Ich dachte, sie hätten aufgegeben, als ich sah, wie beim Rausgehen jeder jedem um den Hals fiel. Leo sagte: »Sie erzählten uns dabei hübsch langsam, wie sie uns finden und unsere Genitalien entfernen würden, Zentimeter für Zentimeter . . . mit einem Buttermesser, wenn dieses Flittchen, das wir dabeihatten, auf einem Kilo von ihrem Koks 117
saß, und wir würden unter sorgfältiger Umgehung aller Krankenhäuser direkt zur Hölle fahren.« Ich setzte mich und dachte einen Moment lang über das Wort »Flittchen« nach. »Hey, Jungs«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Ich hätte das nicht getan, wenn ich nicht gedacht hätte, daß ihr Luftsprünge macht deswegen.« Keine Antwort. »Schließlich war ich es auch, die vorgeschlagen hat, überhaupt nicht hinzugehen, wißt ihr noch?« Beide lächelten. Leo deutete mit dem Kopf auf das Kilo und sagte: »Da hast du dir was Hübsches angeschafft.« Bobby drehte sich zu mir und betrachtete mich mit plötzlichem Stolz. »Echt wie Bonnie und Clyde.« Das Drama war zu Ende, aber ein anderes sollte beginnen. Natürlich beschlossen wir sofort, uns das Zeug in die Nase zu jagen, in Mengen, wie sie dem menschlichen Körper noch nie zugeführt worden sind. Wenn uns die Kugeln nicht getötet haben, so bekam nun das Koks seine Chance. Wir waren high. Ich mußte raus. Ich brauchte was aus dem Supermarkt. Keiner von ihnen dachte überhaupt nur daran, sich von der Couch zu erheben. Sie fuhren voll aufs Fernsehen ab und auf diesen Macho-Kitzel, dazusitzen, einen Berg Kokain vor sich mit drei Strohhalmen, die aus einem Loch in der Plastikfolie ragten. Beide glotzten mich mit glasigen Augen und geweiteten Pupillen an und sagten: »Macht's dir was aus, wenn wir hier liegen bleiben?« Ich war ein bißchen sauer auf Bobby, weil er seiner Freundin nicht einmal anbot, sie zu begleiten, nachdem sie es doch war, die unter Einsatz ihres Lebens, auch wenn das im Moment wertlos ist, dafür gesorgt hat, daß er so high sein konnte, wie er war. Ich dachte, die können mich mal, und entschied, daß ich durchaus in der Lage war, zwei Blocks weit zu fahren, ohne daß mir der Angstschweiß ausbrach oder ich einen Nervenzusammenbruch erlitt. Ich fuhr los, und als ich gerade an den anderen beiden 118
Häusern in dieser Straße vorbeikam, sah ich eine Zeitschrift auf dem Boden liegen, die mir vorher nicht aufgefallen war. Fleshworld Magazine. Mir drehte sich der Kopf, so eine Zeitschrift konnte mir vielleicht Sachen beibringen, auf die ich selbst noch nicht gekommen war . . . und PENG! Ich fuhr rechts ran, und bevor ich aus dem Truck stieg, um zu sehen, was ich da überfahren hatte, sah ich mich selbst, wie ich vor vier Jahren war. Ein junges Mädchen, von dem Krach alarmiert, kam aus dem Haus gestürzt und blieb erstarrt stehen, als sie das Tier auf der Straße liegen sah. Sie sah es und kam einen Schritt näher, aber noch immer nicht näher als fünf Meter, als wollte sie sich dieser Realität nicht aussetzen. Ich drehte mich um und sah Jupiter. Eine Katze, die genauso aussah wie die, die ich für meinen besten Freund gehalten hatte, bis so ein Drogenfreak wie ich kam, jemand, der sich mehr für die Geschichten in einem Porno-Magazin interessiert als dafür, was auf der Straße herumlaufen könnte. Ich fing an zu heulen. Und konnte nicht mehr aufhören. Ich war jetzt, Jahre später, selbst derjenige, den ich gehaßt hatte, weil er mir meine Katze nahm, als ich sie am dringendsten um mich brauchte. Ich sagte zu dem kleinen Mädchen, daß ich alles tun wollte, was sie für richtig hielt. Wenn sie eine neue Katze wollte, würde ich gerne eine für sie kaufen . . . Sie schaute mich an — und versuchte mich aufzumuntern! Ihre Katze klebt auf der Straße, wegen meiner Sex-Macken, und sie versucht, mich zu trösten! Sie ging um den Truck herum zur Fahrertür, an der ich lehnte. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Ich schämte mich so, ich konnte mich kaum bewegen. »Bitte hör auf zu weinen.« Gott, sie hatte sogar meine Stimme. »Warum bist du so traurig? Ich wollte nicht, daß du so traurig bist.« Ich schaute zu ihr runter und erkannte etwas, das ich so lange vermißt hatte. Eine solche Bereitschaft zur Verzeihung. Eine solche Großherzigkeit; dieses eine Mädchen könnte 119
diese ganzen Vereinigten Staaten lieben, so daß sich niemand einsam fühlen mußte. »Als ich ungefähr so alt war wie du, hatte ich eine Katze, die aussah wie deine. Ich nannte sie Jupiter, und sie war wahrscheinlich mein bester Freund. Jemand überfuhr sie vor meinem Haus, und ich hörte den Krach und rannte raus, um ihr zu helfen. Ich erinnere mich noch, wie überrascht ich war, wie schnell . . . der Tod zu ernten beschließt.« Einen Moment lang gab es nur den Wind. Wir schwiegen. Dann sah sie zu mir hoch und fragte: »Hast du dem Menschen verziehen, der deine Katze überfahren hat?« Ich kauerte mich neben sie und erzählte ihr, daß der Fahrerflucht begangen hatte. »Ich stellte mir vor, daß sie im Himmel war, aber sie fehlte mir sehr . . . und ich verzieh ihren Tod, aber ich habe wohl nie vergessen, daß jemand meine Katze überfahren hat und nicht wenigstens angehalten hat, um sich zu entschuldigen.« Sie streckte ihre Hand aus, und ihr Nachthemd, aus Flanell, ließ mich lächeln. »Ich heiße Danielle.« Sie drückte mir fest die Hand. »Ich heiße Laura Palmer.« Ich nahm sie in den Arm, und sie schlang die Arme um mich, warm. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Danielle.« Ich stand auf. »Man muß schon ein ganz besonderer Mensch sein, um so schnell verzeihen zu können.« Sie hielt meine Hand einen Moment lang fest, und nachdem sie sehr sorgfältig über etwas nachgedacht hatte, sah sie zu mir hoch und sagte: »Als ich den Krach hörte, hatte ich Angst, daß der Katze was passiert ist . . . Aber dann kam ich raus und sah dich, und du heultest noch mehr als ich, weil du dich an deine eigene Katze erinnert hast und es dir deswegen noch mehr leid tat, daß du meine überfahren hast. Warum sollte ich dich leiden lassen für irgendwas, das du tust? Ich finde dich nett, Laura Palmer.« »Danielle, ich finde dich ultrasupernett und noch viel mehr.« Ich sah auf die Katze, dann wieder zu ihr. »Meine Mama erledigt das schon.« 120
Die kleine Danielle gab mir das Gefühl, mehr als alle anderen, mit denen ich in letzter Zeit zusammen war, daß noch immer eine Chance besteht, alles auf die Reihe zu kriegen. Ich dachte sogar, eine neue Katze wäre gut . . . Gerade dachte ich daran, daß ich mein Pferd freigelassen habe. Hoffentlich habe ich es nicht irgendwo hingeschickt, wo es überfahren oder nicht richtig versorgt wird. Ich glaube, daran hätte ich denken sollen, bevor ich dem etwas theatralischen Einfall nachgab, mein Pferd freizulassen, damit es tun kann, was immer es möchte . . . Allein. Oh, Mann, ich kriege diese Woche ein ordentliches Sündenregister zusammen, nicht wahr? Was für finstere, aber beinahe prophetische Erlebnisse ich da hatte. Warum? Soll ich versuchen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen und mir einen Job zu suchen? Alles, was ich jetzt weiß, ist, daß ich auf der Stelle den Truck zurückbringe und die Finger von den Drogen lasse und statt dessen einen ausnüchternden Spaziergang nach Hause mache. Vielleicht macht Mom mir eine heiße Schokolade, und ich kann die Ereignisse dieses Abends vergessen und einfach nur bei meiner Mom sein. Ich bringe nur schnell den Truck zurück und gehe direkt nach Hause. Werde einfach zu Fuß gehen. Nur nach Hause. Ich schreibe Dir, wenn wir dort sind.
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Liebes Tagebuch,
13. November 1987
ich bin zu Hause. Es ist noch früh. Leo und Bobby waren nicht sehr erbaut davon, als ich nach Hause wollte. Leo hatte beschlossen, daß es eine Nacht voller neuer und »ungewöhnlicher Dinge« werden sollte. Bobby war high, total high, und ich glaube, Leo hatte ihm eingeschärft, daß er mich dazu bringen sollte, alles mitzumachen, was Leo wollte. Aber Bobby schien sich gar nicht wohl zu fühlen bei dem Gedanken, denn ich hatte ihn noch nie so bemüht gesehen, mich an irgendeinem Ort zu halten. Zumindest war er unsicher, ob er mich da hineinziehen sollte oder nicht. Wedelte vor der Maus mit dem Köder . . . eine kleine, blonde, sehr verschüchterte Maus. Siehst du die Falle? Sieht du sie? Geh rein. Du wolltest es doch nicht anders, oder? Leo schüttelte den Kopf, als ich ihnen sagte, daß ich mich entschlossen hatte zu gehen, daß etwas passiert war, das mich tief . . . Ich beendete den Satz nicht, weil ich plötzlich erkannte, daß die beiden nicht in der Lage waren, auch nur zu heucheln, sie interessierten sich für eine Katze draußen auf der Straße. Ein weißes Tier, vielleicht noch immer dort . . . oder so, wie ich es mir vorstellte, während ich langsam und ohne Licht zurück zum Ende der Straße fuhr. Ich sah die toten Augen des Tieres auf das Bild einer Mutter fixiert, wahrscheinlich war sie müde und fragte sich, ob mit ihrer Tochter alles in Ordnung war. Und fragte sich, während sie behutsam den Leichnam aufhob, ob der Tod genau hier endete. Vielleicht dachte sie an die Arbeit des nächsten Tages, dachte daran, wieder hier auf der Straße zu sein . . . so müde, immer müde. Ich glaube, ich denke hier an mich selbst. Ich bin müde. Ich bin diejenige, die fragt, ob der Tod wohl nur das erstarrte Bild ist, das uns von dem Leichnam des Tieres bleibt. Großvaters Asche, nur eine Methode, ihn in eine Urne zu kriegen? Er ist nur noch ein toter Körper, warum die Überreste nicht schmücken? Wenn ich sterbe, wird man mich wohl begraben. Hoffentlich wurde die Katze begraben. Ich dachte daran, dazubleiben 122
und zu helfen, aber es war zu bedrückend. Der tote Körper war wie eine Botschaft. Vielleicht sind solche Unfälle mehr, als sie scheinen. Botschaften, wie der Unfall heute abend . . . oder Beispiele, denen wir nie Beachtung schenken. Das ist es. Ruhe. Ewige Ungestörtheit. Ich wollte heute nacht nicht bei den Jungs bleiben. Ich wollte nach Hause gehen, in meinem Bett schlafen, wieder ein kleines Mädchen sein. Mich krank stellen oder Krämpfe vortäuschen, damit Mom sich um mich kümmert. Mit ihr Dornröschen oder Stuart Little lesen und Kaffee trinken, während sie die Seiten umblättert und auf mich aufpaßt. Das wollte ich, wußte aber, es würde damit enden, daß ich bei Leo bleiben würde. Mich kurz vor Sonnenaufgang nach Hause stehlen würde . . . Sekunden bevor der Wecker losging. Mich ganz ausziehen und ins Bett kriechen. Ich wußte, ich würde Dir erzählen, was passiert ist. Einfach. Mit einem Füller, ohne einen Ton zu sagen. Worte haben für mich einen seltsam fremden Klang bekommen in diesen letzten Tagen. Meine waren Lügen, wieder und wieder. Eine zweite kommt und hilft der ersten Lüge überleben . . . wirklich bleiben. Bobbys Worte waren wie kleine Messer. Ich weiß, er will mich nicht verletzen, aber seine Überraschung wegen meinem Benehmen neulich nachts, gestern nacht, wegen dem Unterschied, den er sieht, wenn ich high bin . . . Er sagt, er hätte nicht gewußt, daß ich so hemmungslos sein kann. Ich glaube, er meint, daß er nie gewußt hat, daß ich so schlecht bin. Er kannte Laura Palmer nie so, wie der Wald, die Bäume, die Erde sie kennen. Oft zerschlagen und wütend, bedroht, gelähmt, unfähig wegzulaufen. Oder unwillig. Laura Palmer hat man eingeschärft, daß sie Schmerzen verdient, und eine Art von Zuwendung, über die die meisten Leute nie sprechen, ja, an die sie nicht einmal denken, weil sie glauben, daß sie nicht richtig ist. Laura Palmer? Sie hatte schon keine Wahl, als sie geboren wurde. Ihr wurde ganz ruhig versichert, in einer Nacht vor langer Zeit, daß es ihr gefallen würde, oder sie müßte sterben. Ich blieb also. Leo wollte, daß ich was trinke. Mich ent123
spanne. Er sagte, er wollte mich so, wie ich war. Er sagte, ich hätte es ihm versprochen. Er würde schon dafür sorgen, daß ich rechtzeitig zu Hause bin . . . niemand würde was merken. Er kniete sich vor mich hin und faßte mich an den Handgelenken, sehr fest. Ich dachte an BOB und schloß die Augen. Ich muß wohl gestöhnt, einen Laut ausgestoßen haben, irgendwas, denn er sagte: »Ich wußte es. Ich wußte, das kennst du.« Er nahm nun meine Hände. Hielt sie etwas sanfter. »Gut. Ich wußte, du würdest das verstehen. Ich habe es dir angesehen.« Ich hörte, wie Bobby von seinem Stuhl aufstand, und ich hörte, wie Leo ihn hinderte. »Setz dich hin, Bobby. Sofort. Laura holt dir was zu trinken. Sie macht ihre Augen auf, und wir trinken alle zusammen was.« Ich öffnete langsam die Augen. Leo legte meine Hände in meinen Schoß. Ich stand auf und ging in die Küche, um Bobby was zu trinken zu holen. Sie fingen an, über irgendwas zu streiten. Ich glaube über mich, die Pläne für den Abend. Es tat mir weh, machte mir Ohrenschmerzen, als ich sie so streiten hörte. Ich wollte nicht, daß sie weiterredeten. Ich ging also zurück und sagte ihnen, sie sollten den Mund halten. Ich wollte, daß sie den Mund hielten. Ich würde alles tun oder sagen, was die »Spiele« dieser Nacht erforderten. Dazu brauchte es keinen Streit. Ich wollte nur meinen Spaß haben. Ich wollte high sein. So high wie sie. Ich wollte vergessen, was draußen auf der Straße passiert war. Bobby kam in die Küche und erklärte mir, daß ich verdammt Glück gehabt hätte, daß Leo mir keine geknallt hat, weil ich ihm in seinem eigenen Haus gesagt habe, er soll den Mund halten. Ich sagte ihm, das war kein Glück. Ich wußte, daß Leo mich mag. Wenn er mich je schlagen sollte, dann nur, wenn ich es wollte. Bobby sagte, daß er nächste Woche gerne mal ganz allein mit mir ausgehen will. Weil er die Dates mit Laura vermißt. Ich haßte ihn, weil er das sagte. Ich wollte ihm eine runterhauen. Statt dessen erklärte ich ihm, daß ich Laura überhaupt nicht vermisse. Ich sagte ihm, daß er sie vielleicht nie wiedersieht. Lange Zeit saßen wir nur da, tranken, koksten und beob124
achteten Leo: Ich wußte nicht wofür, aber ich wußte, daß ich bereit sein mußte. Vielleicht war er nett, vielleicht aber auch nicht. Die ganze Zeit sah ich Bobby nicht an. Ich stellte sicher, daß er mich mit Leo sah. Es gefiel mir nicht, daß Bobby die süße kleine Laura vermißte. Ich kann sie jetzt nicht wecken. Sie mag Nächte wie diese nicht. Sie würde nicht mitspielen wollen. Ich wollte. Ich mußte jemand anderes sein, anders als sie . . . Ich mußte das abschütteln, was BOB zu meinem Fenster zog. Diesen Duft von Unschuld. Ich traf eine Entscheidung. Ich sagte ihnen, ich wollte raus, in den Wald. Leo schien die Idee zu gefallen, er grinste Bobby an. Er wandte sich wieder mir zu: »Du bist total stoned?« Ich sagte ja, aber ich wollte nicht drinnen bleiben. Ich mochte das Licht nicht. Ich sagte ihm, das machte alles zu einfach. Ich fing an, Koks für den Wald einzupacken, und Leo sah mir zu, als würde ich was stehlen oder so. Ich sagte ihm: »Hör zu, ich habe das Zeug gestohlen, klar? Ich bin diejenige, die euch zu dieser Nacht verhilft . . . und ich habe keine Lust runterzukommen, während wir im Wald sind.« Er sagte, er beobachte mich nur. Ich sollte mich entspannen. Dann kam er zu mir rüber, ganz nahe. Er meinte, es gefiele ihm, wenn ich mich wehrte, aber im Wald draußen müßte damit Schluß sein. Plötzlich stellte ich mir vor, wie ich mich draußen im Wald mit ausgestreckten Armen ganz schnell im Kreis drehte, drehte und drehte, und Bobby und Leo bei jeder Drehung vor Augen . . . Dann ein langsamer Traum von Leo, mit weit aufgerissenen Augen, zufriedenem Blick, geöffneten Lippen, und seine Hände kamen immer wieder zusammen, als er ganz langsam meiner Vorstellung applaudierte. Als wir gerade gehen wollten, kam Bobby aus dem Bad und sagte, er sei müde und habe beschlossen, nicht mitzugehen. Er wüßte, daß es heute nacht sowieso nur um Leo und mich ginge, und er würde mich vielleicht in ein paar Tagen anrufen. Leo grinste, als Bobby die Haustür hinter sich zuknallte. »Bobby ist ein cleverer Junge.« Ich nickte, aber eigentlich wollte ich Bobby umbringen, weil er mir zu verstehen gegeben hatte, daß ich schlecht bin. Er wollte, daß die süße, unschuldige Laura hinter ihm her125
rennt, mit ihm nach Hause geht, Hand in Hand. Er war schuld daran, daß ich sie einen Augenblick lang selbst wieder wollte. Aber das war zu gefährlich. Er hatte keine Ahnung, wie gefährlich das für uns alle war, besonders hier draußen. Der Wald mußte mich heute sehen. Mußte sehen, wie ich gewachsen bin, was aus mir geworden ist. Dann kann er BOB ausrichten, er soll von mir wegbleiben. Er wird glauben, seine Arbeit an mir wäre getan. Leo kam zu mir und steckte seine Hand unter meine Bluse, hielt meinen Blick mit seinen Augen fest, fand mit seinen Fingern die Brustwarze. Hielt meinen Blick fest, ließ mich nicht wegsehen, sagte: »Du wirst ihn nicht vermissen, du wirst niemanden vermissen.« Er ließ meinen Blick los; meine Beine versagten fast. »Nimm mich irgendwohin mit, laß mich alles vergessen.« Ich griff nach seinem Arm, um mein Gleichgewicht wiederzubekommen. Er sagte, er hätte eine Idee. Es würde mich vielleicht erschrecken, aber es wäre okay. Er sagte, wenn er mich nach heute nacht mag, dann könnten wir anfangen, uns wirklich näherzukommen. Er wollte aber heute nacht erst mal sehen, allein. Er wollte wissen, ob es mir Spaß machte, erschreckt zu werden. Ich antwortete, daß manchmal schreckliche Dinge passie ren, aber am nächsten Morgen sei es damit vorbei. Ich machte ihm klar, daß ich richtig geil werden wollte, ich brauchte dieses Gefühl. Ich hatte es lange nicht gespürt. Hatte zuviel damit zu tun, anderen dieses Gefühl zu verschaffen. Als wir aus dem Haus gingen, band er mir ein Tuch vor die Augen. Er flüsterte: »Kannst du die Dunkelheit fühlen?« Ich bejahte. Er sagte: »Gut. Ich werde dich in sie hineinführen. Wie du es wolltest. Ich werde dich führen, also gehe mit mir, bis ich Halt sage.« Wir gingen los, und beim Gehen spürte ich, wie die Bäume sich über mir schlössen, fühlte den Wind, wie er abflaute, kreiselte, bis er ganz zur Ruhe kam, unfähig, zum Himmel zurückzukehren . . . Ich hörte Leos Atem. Fühlte seine Hand 126
auf meinem Rücken, stark. Ich wollte ihm sagen, daß ich dieses Gefühl im Bauch hatte. Das einen locker macht, einem Wünsche eingibt . . . Aber er ließ mich nicht reden. Er sagte, nur er allein würde reden, bis er etwas von mir wissen wollte. Er sei ziemlich sicher, daß er wüßte, was in mir vorgeht, auch ohne, daß ich es aussprach. Es schien viel Zeit vergangen zu sein, als er stehenblieb. Und ich wußte nicht, was ich tun sollte, also wartete ich. Auf seine Führung. Als wir schließlich ganz anhielten, hörte ich, wie er um mich herumzugehen begann, seine Schritte waren auf den Nadeln, die den Boden bedeckten, kaum zu hören. Ich konnte seine Augen spüren, wie Hände, auf und ab, den Biegungen meines Körpers folgend. Hinter mir blieb er stehen. »Kannst du ein Geheimnis bewahren, Kleine?« Ich war nicht sicher, ob ich antworten sollte. »Ist okay. Los, sag's mir.« »Ja. Ich kann ein Geheimnis bewahren.« Plötzlich begann ich den tiefen Moschusgeruch des Waldes zu spüren und zu riechen. Ich kenne ihn gut. Ich fühlte, wie die Angst sich in mir auszubreiten begann. Ich mußte den Kopf kreisen lassen, mich lockern . . . dagegen ankämpfen. Mich erinnern, worum es ging. »Das Geheimnis ist, daß ich manchmal genau hier Stimmen höre. Manchmal wird mir klar, daß ich nicht allein bin.« »Wessen Stimmen hörst du?« »Ich kenne die Stimmen nicht . . . Aber manchmal, wenn ich ganz still bin, merke ich, daß ich diese Leute um mich spüren kann. Ich höre, wie sie über mich reden, aber wenn du versuchen würdest, sie zu sehen, verschwinden sie bestimmt.« »Hörst du jetzt irgendwelche Stimmen?« »Ich glaube, ich höre sie ganz schwach. Sie kommen in diese Richtung. Macht dir das angst?« »Ich glaube nicht, nein.« Ich war darauf gefaßt, daß ein ganzer Bus voller Trucker ankäme und irgendein seltsames Ritual beginnen würde . . . Plötzlich kam ich mir sehr nackt vor. Ich fragte mich, wie viele Leute wohl hierher unterwegs waren. 127
»Ich helfe dir, dich hinzusetzen. Hier drüben.« Leo setzte mich hin, und ich erkannte, daß ich auf einem ziemlich bequemen Stuhl saß, mitten im tiefsten Wald. Was für ein Ort war das? Hatte ich ihn tagsüber schon mal gesehen? Musik setzte ein. Seltsame Geräusche von Wasser und etwas, das ich nicht einordnen konnte . . . und eine Trommel . . . tief. Ich fühlte sie in meiner Brust. Sie war laut genug, daß ich nicht mehr am Geräusch feststellen konnte, ob jemand bei mir war oder nicht. Ich hörte in meinem Ohr: »Warte hier . . . entspann dich. Genieß es.« Ich bin nicht sicher, ob ich Dir die nächsten fünf Stunden überhaupt schildern kann. Die Musik spielte ununterbrochen, ein Rhythmus, der mich sanft wiegte und mich auf mehr von allem brennen ließ. Mehr von diesen Händen, die plötzlich auf mir lagen, Lippen, die sacht über meinen Nacken strichen, Händen auf Brust, Schenkeln und Gesicht. Stimmen flüsterten mir ins Ohr . . . und zogen sich wieder zurück. Ich glaube, es waren drei verschiedene Frauen und mindestens vier Männer, mit Leo. Ich wurde gefesselt, zum Schluß an den Stuhl, mit einem Strick, der meine Hände so fest band, daß es beinahe schmerzte, doch ich wußte, das war Teil des Spiels und wohlüberlegt. Alle möglichen Phantasien, die man spät in der Nacht oft heraufbeschwört wurden Wirklichkeit - an mir, mit mir oder für mich. Als hätte mich ein Traum verschlungen, ein ganz und gar vollkommener Traum. Meine einzige Aufgabe dabei bestand darin, blind zu sein und jedem die Möglichkeit zu geben, mit mir zu machen, was er wollte. Ich konnte sie hören, die anderen, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, zu mir zu kommen. Nur Stimmen im Wald, deren Körper zu Bildern wurden, die ich hören konnte, sehen durch die Geräusche, die sie machten . . . alles war so sinnlich geworden. Ich konnte sie die ganze Nacht hören, wie sie sich gegenseitig erregten bis hin zu kleinen inneren Zuckungen, Milliarden von winzigen Wellen aus Licht, Wasser, Elektrizität durchliefen sie. Alle reagierten darauf mit einer seltsamen 128
Mischung von Staunen und Freude . . . einem Durst, wenn einer den Höhepunkt erreichte. Sogar ich, die weiter weg saß, wie auf dem Präsentierteller (mehr wie eine Trophäe als wie ein Schaustück) spürte eine Befriedigung in den Geräuschen vor meinen Füßen. Diese Leute ganz unterschiedlichen Alters verbrachten ihre Abende im Wald, vergaßen Namen und Geschichte, ließen sich nur von ihren Trieben leiten, ihren Wünschen, festgehalten und gestreichelt zu werden, begehrt und völlig akzeptiert zu werden, ganz egal, wie sie aussahen oder wer sie am Arbeitsplatz waren oder in der Schule am nächsten Morgen. Es war dunkel und seltsam und manchmal fast betäubend. Ich wiegte mich hin und her, mein Kopf war schwer in dieser Dunkelheit. Die Energie war so dicht, daß ich beinahe spürte, wie die Luft sich teilte, um mich durchzulassen. Jeder einzelne Nerv meines Körpers spürte etwas . . . einen Schrei unter meiner Haut, ununterbrochen und viel größer als sonst, weil ich ihn nicht kommen fühlte. Ich könnte schwören, daß ich einige Male so sensibel war, daß ich die Fingerabdrücke derer spüren konnte, die mich berührt hatten. Sie sehen konnte, wie sie über meine Haut strichen . . . die Muster wie Lichtspuren hinter meinen Lidern. Als ich wieder mit eigenen Augen sehen konnte, fiel mein Blick auf mein Haus. Das Licht streifte es, es war kurz vor Sonnenaufgang . . . ein gelber Lichthauch kämpfte noch gegen den Schatten, der sein Dasein noch nicht beendet hatte. Ich brauchte eine Minute, um wieder klar sehen zu können. Leo saß neben mir in seinem Truck. Er sagte, daß er wegfährt und daß seine Frau bald wiederkommt. Wenn wir uns wiedersehen wollten, müßten wir das sorgfältig planen. Ich hatte seine Frau ganz vergessen. Shelley. Ziemlich hübsch. Sie kellnert mit Norma im Double R. Na ja, jedenfalls bat ich Leo, er solle mich anrufen. Er sagte, er hätte ein paar Sachen dabei, die ich brauchen würde, solange er weg war. Er gab mir einen zum Platzen gefüllten Rucksack. Er warnte mich, ihn erst zu öffnen, wenn ich allein war. Dann küßte er mich, wartete, bis ich im Haus war, und fuhr los. Als ich die Treppe hochlief, hatte ich die Vorstellung, Mom 129
wachte auf . . . und fragte mich, wie die Orgie gewesen sei. Ich erzählte es ihr in allen Einzelheiten, und sie fing an, von ihren eigenen merkwürdigen Erfahrungen nachts im Wald zu berichten. Sie wollte ihre Freundinnen anrufen und ihnen erzählen, daß ihre Tochter bei einer Orgie gewesen ist . . . war das nicht wunderbar? Die Vorstellung verschwand, als ich oben an der Treppe war und sah, daß meine Zimmertür weit offen stand — ich erstarrte zu Eis. Ich schaute zur Tür meiner Eltern. Die war fest zu. Als ich mich wieder zu meinem Zimmer wandte, sah ich etwas Entsetzliches! Ich konnte ganz deutlich einen Männerschuh hinter meiner Tür erkennen, und dann zeigte er sich und grinste. Es war BOB. Mit einer Hand faßte er mich am Arm, die andere legte er über seine Lippen: »Schschsch.« Mit einer schnellen Bewegung zog er mich in mein Zimmer. Die Tür schloß sich fest hinter mir. Halt. Das muß ein Traum sein. Ich bin high. Habe nicht geschlafen. Wecke bloß Mom und Dad nicht auf, sonst kriegen sie raus, daß du nicht zu Hause warst. Und stellen Fragen, die du nicht beantworten kannst. Denke nach. Ich werde verrückt, renne hin und her, kämpfe mit Gedanken, Wörtern, dem Bild dieses gespenstischen Grinsens. Bleib von mir weg, BOB! ICH KANN TUN, WAS ICH WILL.
Bleib von diesem Haus weg! Laß mich in Ruhe, oder ich sorge dafür, daß es dir leid tut. MIR KANN NICHTS LEID TUN, LAURA PALMER.
Sieh nur, was aus mir geworden ist wegen dir und deiner Krankhaftigkeit, deiner Schwäche. Du bist eine widerliche Kreatur! KEIN GEWISSEN. KEINE SCHULD. DAS HAST DU SELBST GESAGT. WIE ICH SEHE, HAST DU DICH LETZTE NACHT PICKEN LASSEN. EINE EULE HAT'S MIR ERZÄHLT. 130
STECKST GANZ SCHÖN TIEF IM KOKS, NICHT? SCHMUTZIGES MÄDCHEN, LAURA PALMER. DU SOLLTEST ALLMÄHLICH WISSEN, DASS DU MICH NICHT BEEINDRUK-KEN KANNST . . . ICH INTERESSIERE MICH NICHT DAFÜR, WAS DU MIT DEINEN KLEINEN KOKSFREUNDEN MACHST. IHR HABT ALLE LÄCHERLICH AUSGESEHEN, HABE ICH GEHÖRT.
Geh aus meinem Kopf raus. Sofort! NEE. Laß mich in Ruhe, du perverser Dreckskerl. Wie kannst du es wagen! Ich will dich nicht hier! Hau ab! Hau ab! Ich bin es leid, dich die ganze Zeit hier zu haben . . . Ich hasse dich. Verschwinde! DAS IST NICHT DEINE ENTSCHEIDUNG, LAURA PALMER. DU SOLLTEST DEIN EGO IM ZAUM HALTEN. ES IST UNGLAUBLICH.
Leck mich. HEULEN HÄLT MICH AUCH NICHT DAVON AB ZU BLEIBEN. ICH BIN IMMUN GEGEN DEIN HYSTERISCHES, PUBERTÄRES, BESCHISSENES, LESBISCHES NUTTENGEPLÄRR. ICH BIN DAS BESTE IN DEINEM LEBEN.
Das bist du nicht. Das ist nicht wahr! NEIN?
Hör auf, mich anzulügen. Es gibt weit Besseres in meinem Leben als dich. Das weiß ich. O JA? WAS DENN? Meine Eltern.
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GLAUBE ICH NICHT. SIE HABEN MICH NICHT DAVON ABGEHALTEN, ZU DIR ZU KOMMEN, ODER? KEINER VON BEIDEN REDET SO MIT DIR WIE FRÜHER. SIE HABEN SCHON LANGE AUFGEHÖRT, SICH UM DICH ZU SORGEN. HABEN SICH EINFACH MIT DIR ABGEFUNDEN. SONST NICHTS. ICH BIN BESSER.
Donna. DIE »BESTE FREUNDIN«, MIT DER DU NIE REDEST? DIE DU FÜR DIE DROGEN AUFGEGEBEN HAST? DA BIST DU LEIDER AUF DEM HOLZWEG.
Ich habe mich selbst. Ich bin besser als du! NEIN. ICH HABE DICH. DU GEHÖRST MIR. DU KANNST NICHTS OHNE MEINE ERLAUBNIS TUN. ICH BESTIMME DEIN LEBEN, UND ICH STEUERE DICH SO, WIE ES MIR GEFÄLLT.
Nein! BIN NOCH DA.
Du bist nicht wirklich! Ich weigere mich zu glauben, daß du wirklich existierst! Ich bilde mir dich nur ein . . . ich mache dich . . . ich werde einfach damit aufhören! Du mußt verschwinden, wenn ich aufhöre an dich zu glauben. VERSUCH'S NOCH MAL. ICH BIN SCHON JAHRELANG HIER. DEIN GLAUBE ÄNDERT GAR NICHTS. DEINE MEINUNG IST TOTAL UNWICHTIG. DENK DARÜBER NACH. SIEH DIR DEIN LEBEN AN. DU PICKST MIT WILDREMDEN LEUTEN RUM. ANDAUERND DROGEN. BALD BIST DU SECHZEHN. DEIN LEBEN IST TOTAL VERSAUT, UND DU BIST NOCH NICHT MAL SECHZEHN. SCHAU IN DEN SPIEGEL UND SIEH SELBST. DU BIST EIN NICHTS.
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Was . . . was willst du? ICH WILL DICH. Warum? Für was! UNTERHALTUNG. ICH SCHAUE GERNE GEGEN DIE WAHRHEIT ANKÄMPFST.
ZU,
WIE
DU
Welche verdammte Wahrheit? DEIN LEBEN IST WERTLOS FÜR JEDEN, DICH SELBST EINGESCHLOSSEN. ICH TUE DIR EINEN GROSSEN GEFALLEN. ICH GEBE DIR UNTERRICHT. DU SCHULDEST MIR UNBEDINGTE TREUE. DU SCHULDEST MIR ALLES.
Nichts schulde ich dir. ICH BIN DAS BESTE IN DEINEM LEBEN.
Hau ab! ICH KOMME WIEDER.
Leck mich. SCHON BALD. DU WIRST SEHEN. Halt. BIS DANN . . . WENN ES DUNKEL IST, LAURA PALMER.
Leck mich! Leck mich! Leck mich! Leck mich! Bleib zum Teufel endlich weg von mir. Du bist in meinem Kopf. Niemand sonst sieht oder hört dich, also mußt du in meinem Kopf sein. Ich lasse dich nie mehr in dieses Zimmer. Niemals. Du bist nur eine Vorstellung. Du bist eine Angst. Du bist nur das Produkt meiner Kleinmädchenangst vor dem Wald! 133
Siehst du! Jetzt kannst du nicht wiederkommen, stimmt's? Du hast keine Macht, wenn ich sie dir nicht gebe . . . Diesmal halte ich dich von mir fern. Das ist mein Leben! Es gehört mir! Hier ist kein Platz für dich . . . Ha! Ich muß arbeiten. Schlaf nachholen. Du bist tot. Du bist nicht mal eine Erinnerung. Laura P.S. SCHAU ZUM FENSTER, LAURA PALMER.
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Liebes Tagebuch,
15. Dezember 1987
entschuldige, daß ich lange nicht geschrieben habe, aber ich hatte so viel Arbeit! Es gibt so vieles, was Du noch nicht weißt! Das Wichtigste zuerst: Ich habe ein Abkommen mit den Hornes getroffen. Als ich letztes Mal bei ihnen war, erkannte ich, daß Johnny so schlapp wirkte und schlecht betreut. Traurig. Also schlug ich vor, daß ich Johnny Unterricht gebe, ihm vorlese und mit ihm spreche, dreimal die Woche, mindestens ein bis eineinhalb Stunden lang. Sie waren von der Idee begeistert und zahlen mir 50 Dollar die Woche, also 200 im Monat. Das Geld brauche ich für den Koks, aber hauptsächlich macht es Spaß, bei Johnny zu sein, weil er mich liebt und es ihm ganz egal ist, was ich tue, wenn ich nicht bei ihm bin. Er verletzt mich nicht und macht mich nicht an, er will nicht mit mir schlafen oder mich schneiden oder irgendwelche von den Millionen Dingen tun, die andere Leute mit mir anstellen wollen . . . Mich ständig anfassen und etwas von mir nehmen, immer mehr wollen, immer mehr und mehr. Johnny will nur, daß ich ihm vorlese. Dornröschen ist sein Lieblingsmärchen. Wenn ich ihm vorlese, legt er gerne seinen Kopf in meinen Schoß und sieht zu mir hoch. Von Zeit zu Zeit unterbrechen wir und schauen uns die Bilder an, manchmal muß ich ihm die erklären, wie auch Teile der Geschichte, damit Johnny mehr versteht. Oft hat er diesen sehr verwirrten, verlorenen Gesichtsausdruck, als hätte er Angst, überhaupt nichts zu verstehen. Wenn ich das bemerke, höre ich immer auf zu lesen und gehe die Geschichte noch einmal mit ihm durch. An vielen Nachmittagen gehen wir raus, auf den Rasen vor dem Haus, und spielen mit Pfeil und Bogen. Er hat dort diese Büffel aus Gummi, die er aus einiger Entfernung abschießt. Er lächelt so süß, wenn er getroffen hat, und ist dann ganz high. Das ist ein sehr seltsamer Anblick. Johnny draußen auf dem Rasen, das Gras unter seinen Mokassins grellgrün, er hält den Pfeil fest am Bogen, während er spannt, und lächelt 135
dabei. Nach einigen Minuten der Konzentration läßt er ihn los. Der Pfeil scheint sich langsamer zu bewegen, als es überhaupt möglich ist, Johnny läßt die Arme sinken, stellt sich auf die Zehenspitzen und wartet . . . Volltreffer. Er springt in die Luft, immer wieder, freut sich. Dann wendet er sich zu mir und lächelt dieses total begeisterte Lächeln. »Indianer!« ruft er aus. Ich gratuliere ihm zu seinem guten Schuß und fordere ihn auf, weiterzuschießen. Das tut er immer gern. Ich muß eine Menge Linien hochziehen bei Johnny, oder vielmehr im Badezimmer . . . so oft wie nötig. Es ist schrecklich, wenn ich die Geduld mit ihm verliere. Einmal ist es passiert, und ich kam mir so jämmerlich vor, bis ich endlich sicher war, daß er den Vorfall entweder vergessen hatte oder mir verzieh. Ich will keine Einzelheiten schildern, denn mein Verhalten war zu entsetzlich. Kurz gesagt, ich lieferte eine verteufelt gute Imitation von BOB. Es war grausam. So häßlich habe ic h mich noch nie gefühlt. Direkt danach tat ich mein Bestes, mich zu entschuldigen und das Ganze zu erklären, so gut es ging. Ich wollte ihm klarmachen, daß ich erkannt hatte, was ich da tat, und hörte sofort auf. Ich ging raus und kratzte genug aus der Bombe und aus ein paar Glasröhrchen ganz unten in meiner Tasche, um high zu werden. Ich konnte wieder denken. Das ist nur schwierig, wenn ich nichts habe. Deshalb treffen sich Bobby und ich so oft in aller Unschuld. Aber davon weißt Du noch gar nichts, oder? Nun, warte ab. Ich muß den Bettpfosten hier aufmachen . . . und ein paar Linien hochziehen, bevor Mom kommt und mir sagt, ich müßte mich um den Abwasch und den Müll usw. kümmern. Scheiße, ich kann einfach nicht glauben, wie anders mein Leben ist, sobald ic h die Haustür hinter mir zugemacht habe. Bin so bald wie möglich wieder da. Laura
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Liebes Tagebuch,
16. Dezember 1987
entschuldige, daß es einen ganzen Tag gedauert hat, aber Mom und ich hatten ein langes Gespräch in der Küche, während ich abwusch, und das dauerte fast vier Stunden. Dad kam nach Hause und setzte sich noch eine Dreiviertelstunde zu uns, bevor er früh ins Bett ging. Ich glaube, Benjamin läßt ihn ganz schön schuften an irgendeinem neuen Projekt. Dad rollt nur die Augen, wenn Mom oder ich fragen, wie es läuft. Manchmal denke ich, Mom und ich könnten die besten Freundinnen sein. Von Zeit zu Zeit sehe ich ihr in die Augen und frage mich, ob Mom wohl je etwas Ähnliches gefühlt hat wie ich jetzt . . .? Ich ahne, daß sie einige meiner Erlebnisse und Erfahrungen verstehen würde, aber sie entstammt einer Familie und einer Generation, wo man nicht gerne über Dinge redet, die einem unangenehm sind. Vielleicht hat sie selbst ein unangenehmes Gefühl wegen BOB. Vielleicht kennt Dad BOB auch, aber Mom läßt uns nicht über ihn reden, weil es uns alle so . . . aufregt . . .? Ich weiß nicht. Ich glaube trotzdem, daß unser Gespräch gut war, denn sie war sehr fröhlich, als sie ins Bett ging. Ich blieb noch eine Weile unten, ging dann raus und untersuchte die Mauer, an der BOB immer zu meinem Fenster hochklettert. Es ist erstaunlich, daß er sich dabei noch nicht den Hals gebrochen hat oder wenigstens abgestürzt ist. In den Nächten, wo ich mich heimlich davongemacht habe, wurde mir beim Runterklettern immer geholfen. Ich frage mich, ob ich etwas tun kann, damit er abstürzt . . .? Aber ganz egal, was ich täte, er findet immer einen Weg in mein Zimmer, und außerdem soll Bobby Briggs ja auch weiterhin meinen Nasenpuder durch dieses Fenster liefern . . . und vielleicht auf eine schnelle Nummer reinkommen, wenn meine Eltern nicht da sind oder schlafen. Darauf wollte ich zurückkommen. Bobby Briggs. Wir treffen uns, wie man das auf der High School eben tut. Es ist ziemlich ausgeflippt. Ich sehe Donna wieder öfter, sie geht 137
jetzt mit Mike. Ich glaube, sie ist glücklich, aber mich erinnern die beiden immer an eine Kaugummireklame oder sowas. »Glück und Ehrgeiz, Sport und Studium, bla, bla, bla.« Letzte Woche verbrauchte ich eine ganze Bombe voll Koks, als ich vor dem Proble m stand, nach dem Kino noch einen Hamburger mit ihnen essen zu gehen. Bobby und ich aßen nichts. Bobby hatte schon im Kino jede Menge Zeug gefressen, und ich war zu high, um überhaupt nur ans Essen zu denken. Donna stopfte sich voll, und ich wußte, daß sie dafür mit Pickeln und geplatzten Nähten zahlt, wenn sie am nächsten Morgen aufsteht. Ich wette, sie hat fünf Pfund zugelegt. Mike ist ein Schwein. Er schaufelte ununterbrochen Fritten und Hamburger in sein Maul, als müßte man zwischendurch nicht auch mal schlucken. Ganz ehrlich! Mir gefällt auch nicht, wie er Donna anglotzt. Ich mache mir Sorgen wegen ihr, denn er ist ein solches Arschloch . . . denkt, er war' eine Art Supermann im Jackett seiner Schule mit den Sportabzeichen, das er immer trägt. Scheiße. Er interessiert mich nicht. Donna ist clever. Ich kann nur nicht glauben, daß Dr. Hayward nichts dazu gesagt hat. Also, der Grund, warum ich mich so mit Bobby treffe — wir gehen ins Kino oder essen, lernen bei ihm zu Hause, gehen in den Pavillon im Park und knutschen, fahren mit dem Auto seines Vaters an die Pearl Lakes raus — ist, daß er sich endlich bereit erklärt hat, für Leo Koks zu verkaufen. Für mich. Ich hatte darauf gewartet, daß er das tut, aber er wollte zuerst, daß ich ihm verspreche, wieder mit ihm zu gehen. Ich habe Bobby wirklich sehr gern, aber er wird nie verstehen, was manchmal mit mir passiert. Der Grund, warum ich zu Leos Orgien gehe, der Grund, warum ich mich fesseln und manchmal sogar von ihm schlagen lasse . . .ist, neben einer seltsamen Freude daran, daß ich das Gefühl habe, an einen so finsteren Ort wie diesen zu gehören. Ich gehöre zu perversen Männern, die in Wirklichkeit schreiende Säuglinge sind. Ich treibe mein Spiel mit ihnen, und schon bald nennen sie mich »Mama«, verbergen ihre Köpfe in meinem Schoß und heulen über ihre Schmerzen . . . Und 138
dann muß ich ihnen sagen, was sie tun sollen. Das gefällt ihnen. Zu ihnen gehöre ich. Das muß so sein, denn sonst fiele es mir nicht so leicht. Ich sage ihnen dann, was sie mit mir machen sollen. Befehle es ihnen. Und wenn sie es dann tun, wenn es sich gut anfühlt und ich merke, daß sie sich echt Mühe geben, dann erzähle ich ihnen, was ich fühle. Wie wunderbar sie sind. So »gute Jungen. Gute, gute Jungen«. Ich sage ihnen, daß Mama glücklic h ist. Das lieben sie. Kleinkind und Mann gleichzeitig. Sie alle, diese Freunde von Leo und Jacques (über den ich noch berichten muß!), sind sehr nett zu mir. Wenn ich je Hilfe brauchte, wären sie für mich da, glaube ich. Ich weiß nicht. Ich habe mich schon oft geirrt. Bobby dealt also in der Stadt mit Koks, und Leo verkauft sein übliches Zeug über die Grenze, nach Kanada. Ich kriege immer mindestens ein Briefchen umsonst, und jedesmal, wenn ich Leo treffe, füllt er meine Bombe oder ein Glasröhrchen, falls ich eins dabeihabe. Bobby verdient echt gut, und alle sind glücklich. Und das ist doch das einzige, worum es im Leben geht, oder? Nur eins kotzt mich an: Bobby erzählte mir neulich, als wir zu meinem Schließfach gingen, um das Drogengeld zu holen (ich kann schließlich nicht Tausende von Dollars in meinem Bettpfosten verstecken!), daß Mike anfängt, ihm beim Dealen zu helfen. Ich bekam einen Wutanfall und sagte ihm, wenn er das zuläßt — und Mike erzählt Donna davon —, dann rede ich kein Wort mehr mit ihm. Donna würde es sofort ihrem Vater sagen. Das weiß ich. Ich könnte es nicht ertragen, daß Dr. Hayward von mir enttäuscht wäre . . . ich würde daran sterben. Bobby sagte, es wäre noch nichts entschieden. Aber er mußte mir trotzdem versprechen, daß er Mike nicht reinzieht, und das tat er.. Danach gingen wir zu dem Baum, wo der hohle Football vergraben ist, bei Leos Haus. Geld und Drogen werden in dem Ball ausgetauscht. Leo macht sich immer über Bobby lustig wegen seiner Verstecke. »Football-Star« nennt er ihn .Bobby ist tatsächlich ein Football-Star. Zumindest in der Schule hält man ihn dafür. 139
Jacques sagte, daß er auch Football gespielt hat, bis er rausfand, daß man nicht unbedingt gegen eine Herde riesiger Typen anrennen muß, um viel Geld zu verdienen. Jacques lebt tief im Wald in einer Blockhütte, nur mit seinem Vogel, Waldo. Waldo spricht und hat meinen Namen perfekt gelernt. Jacques, Jacques Renault, arbeitet in Kanada, irgendwo in einem Kasino. Er ist ein großer, fetter Kerl, aber manchmal macht er mich ganz schön scharf. Auch er ist diese Kombination aus Kleinkind und starkem Mann, nur versteht er viel mehr vom Körper einer Frau als sogar Leo. Eines Nachts ging ich allein zu Jacques raus, und als wir total high waren, spielten wir alle möglichen geilen Sexspiele miteinander. Es kam so weit, daß er nur zu sagen brauchte: »Zeig's mir, Kleine . . . zeig's mir«, und bei mir ging schon die Post ab! Waldo wiederholte fast alles, was wir in dieser Nacht bis in den frühen Morgen hinein sagten. Auf dem ganzen Heimweg hörte ich immer, wie Waldo sagte: »Zeig's mir . . . Zeig's mir . . . Kleine . . . Kleine.« An dem Morgen wurde mir übrigens auch klar, daß die Orgien mit Leo vor Jacques' Blockhütte stattfanden. Da stand dieser Stuhl . . . Ich setzte mich einen Augenblick hinein und wußte Bescheid. Ich schreibe bald wieder. Heute nacht habe ich was vor.
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Liebes Tagebuch,
21. Dezember 1987
Weihnachten steht vor der Tür. Ich fange an, mich nach einem anderen Job umzusehen, einem, der ordentlich bezahlt wird und wo ich alle zwei Wochen einen Scheck kriege . . . richtiges Geld. Mom beginnt sich Sorgen zu machen, weil ich in letzter Zeit so wenig esse. Ich finde das total gut. Ich schwöre Dir, mein Körper hat mir noch nie so gut gefallen wie jetzt. Ich habe immer noch hübsche Brüste und runde Hüften, aber das Fett ist verschwunden. Alle Typen, mit denen ich zusammen war, haben in den höchsten Tönen von meinem Körper geschwärmt. Ich brauche einen Job, um mehr Geld zu haben, aber auch, damit ich Mom erzählen kann, ich hätte bei der Arbeit gegessen. Ich kann mich nicht mehr dazu zwingen, ein Abendessen runterzuwürgen, wie ich es bisher getan habe. Leo und Jacques gaben mir neulich nacht ein paar Nummern von Fleshworld. Ich blätterte sie durch und stellte ein paar der Posen für sie nach, tanzte ein bißchen, spielte mit mir selbst . . . und ließ sie dabei zuschauen, bis wir alle drei gleichzeitig kamen. Ich weiß, das klingt schmutzig, aber ich tue nur, was ich seit neuestem immer tue . . . Mache eine Show für andere Leute, während ich mich in meinem Kopf einem Traum hingebe. Ein großes Publikum, mindestens hundert Menschen, (Ich tue das, denn je mehr Leute zusehen, desto weniger heimlich und schmutzig wirkt das Ganze.) All diese Menschen, Männer und Frauen, sehen mir zu. Sehen zu, wie ich mich bewege, wie ich kleine Schreie ausstoße, wenn ich dieses warme Gefühl bekomme . . . Ich träume von einem Mann oder einer Frau, manchmal von beiden . . . und wie ich sie in der ersten Reihe sitzen sehe, die stillsten von allen. Sagen wir, es ist ein Mann, dann ist es einfacher zu beschreiben. Also gehe ich runter ins Publikum, ich trage etwas Schwarzes, Durchsichtiges, und ich nehme ihn an der Hand und bringe ihn dazu, mit auf die Bühne zu kommen. Er will nicht, aber ich verspreche ihm, daß ich ihn nicht lächerlich mache oder verletze. Er glaubt mir, und wir treten ins Scheinwerferlicht. Ich erkläre allen flüsternd, daß dieser Mann in meinen 141
Augen schön ist, und ich sage ihnen, warum. Ich beschreibe ihn, so daß er selbstsicher wird und gleichzeitig erregt. Das Publikum liebt ihn jetzt, genau wie ich. Normalerweise ändere ich den Traum jedesmal, aber er endet immer damit, daß ich und mein Partner uns vor aller Augen lieben. Ich werde manchmal fast euphorisch, wenn ich daran denke, daß BOB mich in diesem Traum sehen wird und erkennt, daß er mich endlich freilassen sollte. Ich habe also diese Magazine jetzt, und manchmal senden Leute ihre Phantasien ein, und die werden dann gedruckt. Ich erzählte Leo und Jacques in der Nacht, als sie mir die Dinger gaben und wir herumspielten, von einigen der Phantasien, die ich manchmal habe. Beide sagten, ich soll eine einschicken, oder vielleicht sogar mehr als eine . . ., um zu sehen, ob ich eine davon gedruckt kriege. Sie sagten, wenn ich das tue, setzen sie die gedruckte Phantasie für mich in Wirklichkeit um, wie ich sie beschrieben habe. Genau so, wie ich es will. Ich glaube, ich tu's. Mir gefällt die Idee einer ganz besonderen Nacht, sorgfältig im voraus geplant, ganz allein für Laura Palmer. Vielleicht schreibe ich die Phantasie auch hier auf, damit Du genau erfährst, was geschehen wird, wenn sie gedruckt ist. Ich werd's mir überlegen. Manche von den Bildern in den Magazinen sind so . . . schmutzig. Fast zu schmutzig für mich, aber ich begreife, warum sie manche Leute scharf machen. Meistens sind es Bilder von Leuten, die an einem Ort oder mit einer Person zusammen sind, die total irreal sind. Es gibt da kein Gestern oder Morgen. Keine Stunden, Minuten, Gesetze, Eltern oder Schulen, woran man denken muß. Das gefällt mir daran, aber manche der Bilder zeigen Frauen, die von diesen Männern gefangengenommen und entführt werden. Die mag ich nicht besonders, weil, aus einem bestimmten Grund . . . ich weiß nicht, jedenfalls erinnern sie mich zu sehr an BOBs Besuche. Die Frauen sind zu jung oder zu unschuldig. Ich lasse mich gerne von jemandem nehmen, aber ich will erst scharf gemacht werden, will Träume und Ideen von ihm bekommen. Ich mag keine Angst oder Schreie, und so sind 142
manche der Bilder. Die dunkle Seite des Sex ist okay, solange sie etwas Geheimnisvoll-Mysteriöses hat und nichts von Alpträumen, Hölle oder Tod. Dieses Zeug ist nichts für mich. Ich mag nur die guten Sachen. Fast schlecht, aber eben nur fast, spielerisch. Und nicht das Böse, das einen an der Hand packt und hinabzieht. Morgen muß ich Weihnachtsgeschenke kaufen gehen. Gott, ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich schenken soll. Ich nehme an, daß es böse von mir ist, wenn ich mir Koks zu Weihnachten wünsche . . . Eine Tonne weißen, feinen Schnee, der mich ganz bedeckt. Später mehr, Laura
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Liebes Tagebuch,
23. Dezember 1987
erinnerst Du Dich noch an die Nacht, als Leo, Bobby und ich nach Low Town fuhren, um Koks zu kaufen? Weißt Du noch? Ich stahl ein Kilo, und alle flippten total aus, wir mußten um unser Leben rennen, weil alle plötzlich mit ihren Kanonen losballerten. Ich habe gerade davon geträumt. Ich habe nie richtig darüber nachgedacht, daß Bobby diesen Kerl wahrscheinlich umgebracht hat, als er auf ihn schoß. Bobby hat ihn tatsächlich erschossen, und ich saß daneben und kümmerte mich nicht darum! Ich glaube, ich habe mir einfach eingeredet, das sei ein Traum oder sowas, aber ich weiß, daß das eine komplette Lüge ist. Ich habe gerade Bobby zu Hause angerufen und eine Weile mit ihm darüber geredet. Zuerst war er okay, und wir versuchten ganz leise zu reden, damit uns niemand hörte . . . und dann fing er an zu heulen, glaube ich. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, daß auch er sich selbst belegen hat, wie ich mich belogen habe. Ich glaube, keinem von uns war klar, was wir getan haben. Ich telefonierte von dem Apparat in meinem Zimmer aus, und als Bobby am anderen Ende der Leitung schwieg, starrte ich auf den Bettpfosten. Ich glaube, ich stecke ganz tief drin im Koks, aber ich kann einfach nicht damit aufhören. Es ist das einzige außer Johnny Hörne und allen möglichen Arten von Sex, das mich aufrecht hält . . . Ich frage mich, ob dieser Traum wohl bedeutet, daß ich in die Hölle komme. Ich und Bobby Briggs in der Hölle, Seite an Seite, und wir koksen mit dem Teufel. Ich weiß, das ist nicht komisch. Es ist überhaupt nicht komisch. In dem Traum stand der Kerl auf, nachdem Bobbys Kugel in seiner Brust eingeschlagen hatte, und sagte, daß der Tod ihm sechzig Sekunden gegeben hat, um uns unsere Zukunft vorherzusagen. Er sagte: »Du mit der Kanone . . . paß gut auf dich auf. Wer so stirbt, prägt sich das Gesicht seines Mörders genau ein und beschreibt dem Tod dieses Gesicht. Der Tod sucht dich dann. Nimmt deine Freunde oder Vater oder Mutter. Der 144
Tod nimmt, was du ihm erlaubt hast. Mord ist nur eine Art, dem Tod die Hand zu schütteln und zu sagen: >Was mein ist, ist dein.Jetzt sagt er gleich was ganz Ernstes . . . Ich spüre es schon.< Er nahm einen raschen Zug, hielt den Rauch unten, sah zum Himmel, atmete aus, sah wieder zu mir. »Laura?« 154
»Ja, Bobby.« Ich hatte ein wunderbar warmes Gefühl. Ich liebe Pot. »Laura, es tut mir leid, alles ist manchmal so . . . zwischen uns. Ich meine, ich wünschte, wir wären beide . . ., ich weiß nicht.« »Sprich nur weiter, Bobby, ich höre dir zu.« »Ich weiß natürlich nicht, wie es bei dir ist, aber ich habe manchmal das Gefühl, daß wir uns so nahe sind. Sogar wenn wir nicht miteinander schlafen. Wir sind uns einfach nahe . . .« Ich drehte mich auf die Seite und stützte den Kopf auf eine Hand. Wir hatten seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander geredet. Und stoned waren wir dazu noch. »Weiter. Ich finde das auch.« »Manchmal dann wieder - weiß ich einfach nicht, was zum Teufel los ist. Als täte ich mein ganzes Leben lang irgendwas . . . Was Bobby Briggs halt so tut . . . aber es geht mich irgendwie gar nichts an, was es doch eigentlich müßte. Verstehst du?« Ich wollte es verstehen, also startete ich einen Versuch: »Du meinst, es ist so, als ob ein Teil von dir in die Schule geht, den Abwasch macht, aushilfsweise arbeitet oder sonstwas macht, der andere Teil aber, der Teil, der Gefühle hat und Interessen, ist in dir verborgen und schläft?« »Ja . . . ja, du hast es fast. Aber das ist es nicht, worum es mir hier geht.« Er bot mir den letzten Zug aus dem Joint an. Ich beschloß, ihn zu nehmen, und rauchte, während er den Joint zwischen seinen Fingerspitzen hielt. Ich liebe den Geruch von Bobbys Haut. Ich nahm den letzten Zug, und er redete weiter. »Ich dachte gerade, daß du und ich zusammen sind, weil wir beide es so erwartet haben. Macht das Sinn?« Ich nickte. Ich wußte, was er sagen wollte. »Ich will nur nicht, daß wir zusammen sind wegen irgendeinem Deal, den wir gemacht haben, wegen dem . . . ich meine Leo und der ganze >Schnee< um ihn herum. Manchmal denke ich, das ist ganz egal, aber manchmal glaube ich, 155
daß du, wenn du wählen müßtest zwischen dem Schnee und mir . . . Nun, ich glaube, ich würde verlieren.« Ich schaute auf die Decke, auf der wir lagen. Ich versuchte, ihr Muster im Dunkeln zu erkennen, sah aber nur die undeutlichen Schattierungen der schwarzroten Wolldecke, die ich kannte. Nervös zupfte ich an der Wolle. Schließlich brachte ich es fertig, Bobby anzusehen. Ich sagte ihm, daß ich manchmal das Koks ihm vorzöge, aber daß ich manchmal Koks allem und jedem vorziehen würde. Ich sagte ihm, daß ich ihn nicht verletzen wollte, daß ich niemand verletzen wollte. Ich spüre nur, daß ich manchmal am besten mit mir allein bleibe, wegen dem, was in meinem Leben passiert. Dann kann ich einfach mit niemandem zusammen sein. Er sagte, daß er das vielleicht verstehen kann, wollte aber wissen, ob ich glaubte, das Koks wäre mein Problem. Ich antwortete ganz ruhig, daß ich tatsächlich Koks nur deshalb mag, weil ich dann nicht an »das Problem« denken muß. Und fügte hinzu, daß ich Pot aus demselben Grund mag. Ich erinnere mich, daß ich sagte: »Ich kann nicht darüber sprechen, Bobby. Ich kann einfach nicht. Ich verstehe, wenn du mich deswegen verlassen willst, aber ich kann weder mit dir noch mit sonst jemandem darüber reden.« Ich wußte, daß das Koks ein Problem ist, aber verglichen mit BOB ist es gar nichts. Ganz lange schwieg er. Dann küßte er mich. Er küßte mich sehr lange, und als er aufhörte und mich ansah, sagte er, daß ich auch nicht alle seine Probleme kenne und daß er versuchen würde, zu verstehen, wenn ich manchmal nicht gerade überschäume vor Glück, oder so ähnlich. Dann sagte er, daß er das Gefühl hat, wir gehören zusammen, zumindest im Moment wäre das Gefühl ganz stark. Den Rest der Nacht war alles seltsam. Nicht unangenehm seltsam, nur anders als sonst, wenn Bobby und ich zusammen sind. Wir knutschten stundenlang, und dann, und ich sage das mit vollem Ernst, liebten wir uns. Keine Spiele, keine Kontrolle, kein Ego, keine schlechten Gedanken oder Gedanken an irgendwas außer was gerade passierte. Es war extrem. Darüber waren wir uns einig. Ich wußte in diesem Moment, daß ich Bobby liebte, und ich 156
weiß, ich liebe ihn auch jetzt. Ich frage mich nur, ob ich es zulassen kann, daß ich so wunderschöne, reine Gefühle habe, ohne Ärger mit BOB zu kriegen. Warum muß ich immer, immer mein Leben und meine Gefühle prüfen? Warum kann ich ihn nicht einfach lieben, mit ihm streiten, ihn küssen, ohne Angst zu haben, daß ich deswegen sterben muß? Was machen andere Mädchen, um ein glückliches Leben zu führen? Warum kann ich ihm nicht einfach die Wahrheit sagen? DU KENNST DIE WAHRHEIT NICHT.
Ach, du schon wieder. CLEVERES MÄDCHEN.
Was willst du? NUR NACH DIR SEHEN.
Schön. Ich bin da. Du hast nach mir gesehen. Nun geh. ICH HABE LICHT BEI DIR GESEHEN, SECHS NÄCHTE HINTEREINANDER.
Das hat jeder gesehen, der draußen vorbeiging. LAURA PALMER . . . SEI ETWAS FREUNDLICHER.
Das hast du mir nie beigebracht. FREUNDLICH. DEFINITION: NICHT FRECH SEIN.
Mir ist schon alles egal, BOB. Tu, was immer du tun mußt. ICH MUSS GAR NICHTS.
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Wie schön für dich. Jetzt geh aus meinem Kopf raus! ICH WILL ETWAS.
Ich kann dich nicht hören. WIR WISSEN BEIDE, DASS DU DAS KANNST.
Tagebuch, ich bin ganz allein hier in meinem Zimmer. Es war ein sehr schöner Tag für mich, und jetzt sitze ich im Bett, auf der Decke, und schreibe an Dich. Ich weiß, daß ich das im Griff habe. Ich weiß, ich kann BOB SEHEN, WEIL ER WIRK LICH IST. EINE WIRKLICHE BEDROHUNG. FÜR DICH, LAURA PALMER. FÜR JEDEN IN DEINER UMGEBUNG. SEI EIN BISSCHEN FREUNDLICHER. FREUE DICH, MICH ZU SEHEN. Niemals! DADURCH MACHST DU ALLES NUR NOCH SCHLIMMER.
Das geht gar nicht! Scheiße, hau aus meinem Kopf ab! MIR GEFÄLLT'S HIER. VIELLEICHT BLEIBE ICH NOCH EINE WEILE. Auch gut. SEI FREUNDLICH.
Freundlich? Ja, BOB, bist du das? Wie nett von dir, in meinem Kopf vorbeizuschauen. Die Tür steht immer für dich offen. Warum gehen wir nicht beide ein bißchen im Wald spazieren, BOB? Na komm schon. Geh'n wir. Du darfst dir das Spiel für heute aussuchen. Was wird es sein . . . Sex? NEIN. DU BIST SCHMUTZIG.
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Stimmt nicht. VERSUCH'S NOCHMAL, LAURA PALMER.
Das bist du nicht wert. ICH HABE EINE BOTSCHAFT.
Eine Botschaft von . . .? EINEM TOTEN.
Ich bin verrückt. Du existierst nicht wirklich! Es ist ganz einfach. Ich muß zum Arzt, weil ich mir das alles einbilde. Ich bestimme hier. Ich muß mich beruhigen. Ich muß mich unbedingt beruhigen. BOTSCHAFT: MAN HÄLT EINEN STUHL FÜR DICH FREI . . . LAURA PALMER.
Hör auf! BIS BALD. Siehst du? Du bist in meinem Kopf. Niemand außer dir kannte die Einzelheiten meines Traums vom Tod. Nicht mal Bobby. BOB ist nicht wirklich. Laura
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7. Januar 19 In den Augen des Besuchers Ich bin stets dieselbe Stets das Beutetier Man rückt mir zu Leibe Und egal, wie oft ich Ins Nest geschickt werde Blutend Ich bleibe. Ich bin der Dummen Dümmste Ein Defekt im Lebenskreis Kein Geschöpf mit Achtung Vor dem Leben Vor sich selbst Vor seinem Feind Steht wieder und wieder Am Wege des Feinds. Ich bleibe. Ich habe keine Achtung
Mehr Vor dem Feind Vor dem Nest Vor dem Baum Vor der Beute. Ich warte Ohne eine Wahl Ich fordere ihn heraus Und seine Drohung Dieses Kind hier zu nehmen Und zu überreichen dem Tod. 160
Liebes Tagebuch,
20. Januar 1988
ich habe gute Nachrichten. Ich war heute den ganzen Nachmittag bei Johnny. Er war besonders gut drauf, und ich fand, daß der Tag zu klar und schön war, um im Haus zu bleiben. Wir gingen also beide raus, auf den Rasen vor dem Haus. Dieser Rasen ist ein großes Areal von grünem Gras und Blumen. Das ganze Jahr über pflegt ihn eine Gruppe von Männern und Frauen mit grünen Daumen, Fingern und was dazugehört. Es ist der vollkommene Platz für einen Samstagnachmittag. Normalerweise besuche ich Johnny Montag, Mittwoch und Freitag, aber offenbar war gestern irgendein Spezialist da, um ihn zu untersuchen, und Benjamin fragte, ob es mir was ausmachen würde, statt dessen heute zu kommen. Unter uns, Tagebuch, heute paßte es mir viel besser. Gestern habe ich zum zweiten Mal in meinem Leben die Schule geschwänzt. Den ganzen Tag verbrachte ich damit, meine Sachen durchzugehen und mein Zimmer umzuräumen. Mom und Dad waren tagsüber weg, auf irgendeiner Versammlung, und kamen erst um sechs wieder. Ich stellte meine Möbel ein bißchen um und kaufte ein Schloß für meine Zimmertür. Es war leicht anzubringen, denn es ist eine einfache Sicherheitskette. Ein paar Schrauben, und schon hatte ich meine Privatsphäre. Wenn nur alles so einfach wäre. Ich habe Mom und Dad nicht gefragt, ob sie was dagegen haben, deshalb entschied ich mich für die Sicherheitskette, in der Annahme, daß sie glauben werden, ich will sie nur vorlegen, solange ich da bin. Das ist nicht der Fall, aber für den Moment, bis mir ein Grund einfällt, den beide akzeptieren würden, ohne groß Fragen zu stellen . . . ist es das. Ich blätterte ein paar von den letzten Fleshworld-Magazi-nen durch und stellte fest, daß es höchste Zeit ist, eine Phantasie von mir einzuschicken. Es gibt ein Preisausschreiben, das nur einen Monat geht und »Phantasie des Monats« heißt. Der Sieger erhält 200 Dollar. Anonyme Einsendungen sind zugelassen, aber eine Postanschrift ist notwendig. Durch 161
mein Bankschließfach habe ich ein Anrecht auf ein kostenloses Postfach für sechs Wochen. Ich glaube, ich gehe nachher mal dorthin und kümmere mich darum. Wenn ich unter falschem Namen einsende, kann mir nichts passieren. Heute brauchte ich sowas wie einen Neuanfang. Die Stunden mit Johnny waren wunderbar, fast möchte ich sagen, übernatürlich. Wir lagen auf dem Bauch einander gegenüber, und er wollte, daß ich ihm eine Geschichte nach der anderen erzählte. Kaum hatte ich eine beendet, da klatschte er und sagte: »Geschichte!« Er wollte nichts vorgelesen bekommen. Er wollte wahre Geschichten. Lebenserfahrung. Zuerst hatte ich nur den Gedanken: Das ist unmöglich. Ich kann ihm doch keine meiner Geschichten erzählen! Aber schließlich wurde mir klar, daß ich nicht nur ein paar passende Geschichten wußte, sondern auch, daß ich Johnnys Geisteszustand außer acht gelassen hatte. Ich hätte ihm meinen Einkaufszettel vortragen können, solange ich nur die Sprechweise des Geschichtenerzählens imitierte, hätte er auch dazu applaudiert. Er wollte sich in eine Diskussion von Mensch zu Mensch einbezogen fühlen, wollte eine Art von Kommunikation. Daß man mit ihm sprach statt über ihn. Es gelang mir, mein Selbstmitleid zu überwinden und mir einige der glücklichsten Zeiten meines Lebens ins Gedächtnis zu rufen, auch einige der traurigsten. Jede Geschichte half mir ebensosehr wie Johnny. Ich hatte die Gelegenheit, zu erkennen, wie weit ich jede Art von Unbeschwertheit aus meinem Leben verbannt habe. Und wie sehr ich sie vermisse. Wie Du Dir sicher vorstellen kannst, nahm ich die Chance voll wahr, ohne Unterbrechung auf jemanden einreden zu können, Geschichten wie wahre Begebenheiten. Keine Fragen, keine Kommentare, keine Urteile darüber, wer ich war oder wohin ich nach meinem Tod kommen würde. Johnny ist einfach der beste Zuhörer weit und breit. Ich fühlte mich sehr erfrischt und sogar gut unterhalten dank Johnnys unschuldiger Grimassen bei unserer Unterhaltung. Immer nickte er, als könnte er verstehen . . . Lächelte, 162
wenn ich es tat, und bei dem Wort »Ende« legte er seine ganze Kraft in den Applaus. Etwa um halb drei rief uns Mrs. Hörne — ich war überrascht, sie einmal ohne zwei Einkaufstüten im Arm und ein Flugticket im Mund zu sehen - ins Haus zum Mittagessen. Als ich auf meine Uhr sah, erschrak ich fast darüber, daß schon fast dreieinhalb Stunden vergangen waren. Bevor ich aufstehen konnte, nahm Johnny meine Hände und lächelte über das ganze Gesicht wie noch nie. Er schloß die Augen, öffnete sie dann wieder und sagte seinen allerersten Satz! Er sagte: »Ich liebe dich, Laura.« Ich könnte noch ewig davon schwärmen, wie wunderbar das war, sowohl als gewaltiger Schritt vorwärts für ihn, wie für mich selbst. Es war das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe. Nach dem Essen ging ich, um mein Postfach zu eröffnen. Ich werde sorgfältig über diese Phantasie nachdenken müssen. Vielleicht sollte ich sie nicht in Deine Seiten schreiben, denn wenn sie nicht gedruckt wird, ist sie mir auch nicht in Wirklichkeit passiert. Oder? Bald mehr, Laura
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Liebes Tagebuch,
1. Februar 1988
ich habe wieder und wieder über meine sexuellen Erfahrungen nachgedacht und beschlossen, daß es wichtig ist, zumindest die Initialen von jedem, mit dem ich zusammen war, einmal aufzuschreiben. B. B.B. L. J. R. P. J. C. L. T. T. R. D. M. J. C. D. M. M. R. M. D. G. G. N. G. P. D. L. M. R. M. F. R. D. T. T. O. K. M. Y. S. R. A. N. M. D. J. H. M. F. C. S. B. G. D. L. D.
J. H. Und diverse unsichtbare Unbekannte — draußen bei der Blockhütte. T. P. S. M. T. G. L. 164
J. S. M. V. L. C. S. D. M. J. A. W. N. M. S. R. D.D. S. C. H. P. B.E.
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Liebes Tagebuch,
9. Februar 1988
etwas sehr Abartiges ist passiert. Ich schlich mich letzte Nacht aus dem Haus, um Leo und Jacques bei der Hütte zu treffen. Ronnette sollte auch da sein, und ich freute mich sehr darauf, sie zu sehen. Unter anderem, weil es schon Ewigkeiten her ist, seit ich mit einem Mädchen über alles reden konnte. Donna würde meine Probleme nicht verstehen. Ich brauchte das Gespräch mit einem Mädchen, dringend. Zuerst ging ich zu Fuß, war dann aber doch zu ungeduldig (ein Riesenfehler) und ging zum Highway 21, in der Hoffnung, die ein oder zwei Meilen bis zur Hütte mitgenommen zu werden. Nach etwa fünfzehn Minuten sah ich einen riesigen LKW, so einen wie Leos, auf mich zukommen. Ich hielt meinen Daumen hoch, und natürlich fuhr der Truck rechts ran, und die Tür flog auf. Im Fahrerhaus waren vier sehr betrunkene, vollgekiffte Trucker, die, soviel ich verstehen konnte, in der Stadt einen trinken waren. Einer bot mir ein Bier an, und ich nahm es. Nicht weil ich es wollte, sondern weil ich plötzlich Angst hatte, einen von ihnen zu verärgern. Ich sagte ihnen, wo ich raus mußte, und kurz vor dem Haltepunkt trank ich mein Bier aus und begann, nervös das Etikett von der Flasche abzukratzen. Ich erkannte, daß sie nicht anhalten würden. Ich sagte dem Fahrer, daß er dabei war, an meiner »Haltestelle« vorbeizufahren, und er erklärte mir, daß ich es eigentlich besser wissen müßte, als spät in der Nacht zu trampen, mit einem solchen Körper in knallengen Jeans und T-Shirt. Ich schwöre, meine Kla motten waren nicht »knalleng«, Tagebuch. Mein einziger Fehler war es, meinen Waldweg zu verlassen und allein an den Highway zu gehen. Das war ein großer Fehler, aber ich . . . ich habe einfach nicht nachgedacht. Wir fuhren durch Twin Peaks durch zu einem runtergekommenen kleinen Motel, von dem ich nicht einmal gedacht hätte, daß es jemand gehörte und in Betrieb war, so verwahrlost sah 166
es aus. Es versteht sich von selbst, daß die Typen bereits zwei Zimmer hatten und mich buchstäblich ins erste hineintrugen. Ich konnte die Zimmernummer erkennen, 207. Falls ich Hilfe herbeirufen konnte, wüßte ich wenigstens, wo ich war. Ich war sehr unsicher, ob ich hier heil rauskommen würde. Alle wurden unglaublich ordinär. Sie brüllten wie die Tiere und schrien wüste Schweinereien durcheinander. Einen Moment lang dachte ich, wenn ich nur aufstehen und losrennen könnte, ohne daß sie was merkten, dann würde ich die vier Besoffenen wahrscheinlich lässig abhängen. Ich war so vorsichtig wie möglich, aber beim leisesten Versuch aufzustehen, waren schon drei von ihnen bei mir. »Wo willst du denn hin, Baby?« »Warum gehen wir beide nicht ins andere Zimmer rüber und tanzen ein bißchen miteinander, so ganz unter uns?« Das war der Häßlichste von allen. Ich wußte, wenn ich nicht bald etwas unternahm, irgendwas, dann würden sie brutal werden und mich höchstwahrscheinlich vergewaltigen. Mir wurde klar, daß ich da vielleicht nicht lebendig rauskam. Ich hatte totale Panik. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Hört . . . hört mal alle gut zu.« Einer der Typen glotzte mich an, als wäre ich völlig übergeschnappt, daß ich mir solche »Freiheiten« herausnahm. Aber er war wohl neugierig, was ich zu sagen hatte, denn er brachte alle dazu, das Maul zu halten und sich brav um den Stuhl zu versammeln, auf dem ich saß. Ich preßte noch ein falsches Lächeln aus meinem Gesicht und fuhr fort: »Also, wenn ihr heute nacht alle auf ein bestimmtes Spiel aus seid . . . ihr wißt schon, was ich meine . . . dann laßt es uns aber richtig machen, okay?« Einer der Typen, der mit den Tätowierungen überall, kam näher und trat mit dem Fuß wie ein Irrer gegen den Stuhl. Fünf oder sechs Mal. Ich versuchte meine Todesangst nicht zu zeigen. Er beugte sich über mich, sein fettiges Haar hing ihm in die Stirn, und sein Atem stank entsetzlich: »Paß bloß auf, was du quatschst, kleine Tramperin. Wo ich her bin, da 167
traut sich kein mieses Loch wie du, zu einem Mann zu sagen, daß er nicht so verflucht scharf ist, daß er alle um Längen schlägt.« »Ich wollte damit nicht etwa andeuten, daß es euch an Erfahrung mangelt. Im Gegenteil. Das sehe ich schon an der Art, wie ihr euch bewegt.« Gott, sie waren alle so gräßlich. Meine Lippen zitterten, nervös und verräterisch. Ich war so dumm! Ein anderer, der Jüngste und der einzige, der irgendwelche Spuren von Rücksicht auf mich zeigte, schlug vor, man sollte mir erst mal zuhören. Ich richtete mich in meinem Stuhl auf und musterte sie alle sorgfältig. Geh aufs Ganze, Laura. Entweder funktioniert es oder sie vergewaltigen dich und bringen dich wahrscheinlich um. Solche Leute dürfen dir nicht das Leben nehmen. Du wirst ständig improvisieren müssen, während dein Plan abläuft, Laura. »Okay, ich habe nichts gegen Alkohol oder Drogen oder Sex, aber alles mit Maßen. Ich habe nichts dagegen, ein bißchen auszuflippen, mütterlich zu sein oder ein kleines Mädchen zu werden . . . ein noch kleineres Mädchen. Und ich habe nichts dagegen, eine Solovorstellung für jeden zu geben.« Grunzen und Kopfnicken war die Folge. Acht große Augen wurden noch größer. »Ich glaube, euch allen wird meine Show gefallen, sehr gefallen . . . Ich werde sogar ein paar ganz neue Sachen für euch erfinden, neue Variationen . . . und wenn euch irgendwas einfällt, was ihr gerne von mir sehen würdet, kommt einfach rüber und flüstert es mir ins Ohr. Ich mache jedes Spiel mit. Aber hier ist meine Bedingung: Ihr fahrt mich hinterher in die Stadt zurück, und ich gehe aus diesem Zimmer raus, wie ich reingekommen bin. Keine Gewalt.« Einer der Typen fand, daß er für so was zu sehr Macho war, und sagte: »Ich zieh dir eins über den Schädel, wenn mir danach ist, du Nutte.« Ich behielt meine Nerven so weit unter Kontrolle, daß ich 168
mich zu ihm vorbeugte und ganz selbstsicher antwortete: »Wenn dir nach Schlagen ist, wie du sagst, dann habe ich es nicht gut gemacht . . . meinen Job.« Ich schluckte schwer. »Du kannst mich Nutte nennen oder sonstwas, aber laß uns versuchen, miteinander auszukommen . . . okay?« Nachdem sie meiner Show zugestimmt hatten, brauchte ich noch vierzig Minuten, bis sie mit dem Gebrüll und ihrem Macho-Getue aufhörten. Schließlich gab ich jedem ein Valium in sein Bier und sagte ihnen, sie sollten sich auf die Couch setzen und ihr Bier trinken, damit ich anfangen konnte. Noch nie hatte ich eine solche Angst, niemals. Vergiß die Alpträume, vergiß alle brenzligen Situationen in einem schnellen Wagen auf nasser Straße, vergiß sogar BOB, denn im Vergleich hierzu war er nur einer gegen vier. Und jeder von ihnen war groß und stark genug, mich mit Haut und Haaren verschlingen zu können, als kleinen Imbiß zwischendurch. Alle setzten sich auf die Couch, außer einem, den ich an die Tür postiert hatte, damit sie nicht fürchten mußten, ich könnte abhauen. Ich zog einen Stuhl in die Mitte des Zimmers. Einen Holzstuhl mit einer hübsch hohen Lehne . . . fast zu perfekt. Ich ging ein paar Schritte durch den Raum und machte die Lichter aus. Langsam begann ich mich auszuziehen, und jedesmal, wenn ich ein Kleidungsstück ablegte, merkte ich mir genau, wo ich es »hingeworfen« hatte, damit ich (wenn sie ohnmächtig wurden, wie ich geplant hatte) mich schnell wieder anziehen und verschwinden konnte. Ich hielt Selbstgespräche. Stellte mir vor, stoned zu sein, um mich zu entspannen. Ich hatte eine so gottverdammte Angst, daß einer plötzlich aufspringen und sagen könnte: »Das war's, Baby«, aber keiner tat's. Langsam begann ich mit der Nummer »kleines Mädchen verläuft sich im finsteren Wald« . . . ein Hit bei Leo und Jacques, weil ich so schnell die »Mammi« werden kann. Ich betete, daß ich sie lange genug fesseln konnte, um zu sehen, wie ihre Lider schwer wurden. Ich ging zu dem Kerl an 169
der Tür, wahrscheinlich der brutalste von allen, legte seine Hand, die erstaunlich entspannt war, auf meine Brust und redete leise auf ihn ein. Es brauchte gut fünfzehn Minuten, bis er richtig drauf einstieg, mich befingerte und antwortete. Ich merkte, wie er weich wurde — genau wie Jacques. Einer der anderen wurde neidisch und rief: »Hey, und was ist mit mir!« »Nur keine Aufregung, Jungs, ich werde schon nicht müde. Ich langweile mich niemals dabei, und es ist ganz unmöglich, daß ich vergesse, wer noch in diesem Zimmer ist.« Ich mußte alle bei Laune halten. Ich drehte den Stuhl um und forderte den Mann bei mir auf, sich hinzuknien. Ich sagte es ganz sanft, damit es nicht wie eine Herausforderung wirkte, und fing an zu tanzen. Ich tanzte durchs ganze Zimmer . . . nahm mir für jeden Zeit . . . bewunderte sie, alles an ihnen . . . log . . . (Keiner verlor das Bewußtsein!) Schließlich schaffte ich es zum Stuhl zurück. Dann begann der heißeste Teil des Ganzen . . . eine sehr ordinäre, geile Nummer im Sitzen, während der sich alle vorbeugten und ganz genau zuschauten, wie ich mit mir spielte. Ich machte weiter und verfeinerte die Nummer noch . . . baute sie aus. Ich tat alles, was ich konnte, um sie physisch und psychisch in einen Rausch zu versetzen. Alle sahen müde aus, aber noch immer rafften sie sich auf, zu pfeifen und zu klatschen. Kurz und gut, das ging so lange, bis drei von den vieren weg vom Fenster waren und ich mit einem allein blieb. Ein großer, fetter Arsch mit einem Dreitagebart und Schweinsäuglein. Er sagte, er sei wie hypnotisiert von mir. Er fragte, ob ich ins andere Zimmer wollte. Er hätte den Schlüssel. Ich ging auf Tuchfühlung und fragte: »Wie war's mit dem Truck? Können wir's nicht dort machen?« »Klar, ist ja dein Rücken, Baby.« Also nahm ich, was ich von meinen Kleidern erwischen konnte, Socken und BH mußte ich dalassen, und stürzte mich raus in die Nacht, voller Gedanken, wie ich vielleicht aus dieser Scheiße entkommen könnte . . . so schnell wie möglich. Ich mußte weg. Ein paar Linien wegmachen. Nach Hause. 170
So schnell ich konnte, schwang ich mich auf den Fahrersitz und rief ihn mit gespitzten Lippen rüber. Blitzschnell rutschte er über die Plastiksitze. Er vergrub seine n Kopf tief zwischen meinen Brüsten, und ich dachte, okay, Laura, taste nach der Flasche . . . da ist sie! Bewege dich nicht zu schnell, lenk ihn ab, und WUMMM! Ich zog dem Typen eins mit der Flasche über den Schädel, daß es blutete. Er war voll am Bluten! Ich sprang aus dem Truck und rannte los, halbnackt . . . aber scheiß' drauf! Ich wollte weg sein, bevor sie merkten, was ich getan hatte. Ich ging zu Jacques' Hütte, in der Hoffnung, daß er und Leo da wären und Ronnette auch noch. Als ich ankam, war ich zie mlich verstört, psychisch völlig am Ende. Ich brach in Tränen aus und fiel auf die Knie. Ronnette kam sofort und half mir auf die Couch. Ich konnte nicht aufhören zu heulen! Ich schämte mich sogar für die Art, wie mir die Flucht gelungen war . . . ich kam mir vor wie der schmutzigste Mensch aller Zeiten! BOB hatte recht, er hatte ja so recht! Ich hielt mich an Ronnettes Arm fest und hörte sie sagen: »Sie ist total voller Blut, wir müssen sie erst mal waschen. Solange sie das Blut sieht, beruhigt sie sich nie.« Als nächstes erinnere ich mich, wie ich in meinem eigenen Bett aufwachte, mit einem Zettel, den ich fest in der geschlossenen Hand hielt. Liebe Laura— — wir haben versucht, Dich zu beruhigen, so gut es ging, aber Du warst völlig hysterisch . . . und redetest nur davon, daß Du nach Hause wolltest. Ich glaube nicht, daß uns jemand kommen gehört hat, aber wenn Du erwischt wirst, sag ihnen, was passiert ist. Jetzt ist alles wieder okay. Ich weiß, was für eine Angst Du ausgestanden hast. . . Vielleicht können wir uns in ein paar Tagen treffen und in Ruhe darüber reden oder so, okay? Ronnette 171
Das also war meine Nacht. Man sollte denken, ich würde was daraus lernen, aber ich fürchte, aus irgendeinem Grund kann ich das nicht. Ich machte mir sogar schon seit dem Aufwachen heute Gedanken darüber, wie ich eine noch bessere Vorstellung für diese Tiere hätte hinkriegen können! Mein Gehirn spielt die Szenen immer wieder durch — wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat -, nur daß ich es besser mache, relaxter . . . ausgeklügeltere Sachen sage. Ich ertappe mich sogar bei dem Gedanken daran, loszugehen und nach ihnen zu suchen! Ich verliere wohl den Verstand . . . diese Gedanken sind alle falsch und schlecht! Ich bin auf dem total falschen Weg! Später erzähle ich weiter, Laura
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Liebes Tagebuch,
4. März 1988
gestern war ich bei Donna, und mir wurde klar, daß wir uns nichts mehr zu sagen haben. Wir reden zwar, und sie spricht ununterbrochen, aber die ganze Zeit, die ich dort war, dachte ich nur daran, möglichst schnell wieder wegzukommen. Ich spürte, wie ihre sauberen, perfekten Wände sich immer enger um mich schlössen. Sie führte mich in ihr Zimmer und machte die Tür hinter sich zu, um mir ins Ohr zu flüstern, daß sie und Mike bald aufs Ganze gehen wollen. Sie planen das große Ereignis schon voraus . . . Donnerstag nacht . . .? Ich weiß nicht mehr. Das erzählt sie mir also und erwartet natürlich, daß ich sage: »Wow, Donna, bist du auch ganz sicher, daß du das willst?« Nun, ich denke, er wird es Donna schon gut machen, dieser Mike, Bobbys bester Kumpel. Erinnerst du dich? Die Kaugummi-Reklame? Ich kann nur hoffen, daß er nett zu Donna ist. Ich habe ihn immer für ein Arschloch gehalten . . . aber ich muß ihn schließlich auch nicht bumsen, oder? Viel Spaß, Donna. Laura
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Liebes Tagebuch,
10. März 1988
ich saß gerade hier in meinem Zimmer und dachte über Bobby nach. Vielleicht hätte ich ihm das mit den Truckern nicht erzählen sollen, denn seither redet er nicht mehr mit mir. Ich habe die Wahrheit gesagt, genau so, wie wir es an Silvester besprochen hatten. Wir wollten ehrlich sein . . . sagten, daß wir uns liebten . . . Was ich getan habe, habe ich doch nur getan, um lebend dort rauszukommen. Benjamin Hörne rief eben an. Mom brüllte die Treppe hoch, daß es für mich sei, Benjamin Hörne wäre dran. Bevor ich mich überhaupt meldete, fragte ich direkt: »Ist Johnny okay? Was ist los?« Er sagte, ich sollte mich hinsetzen. Ich wußte, daß Dad zu Hause war, Mom auch . . . Johnny geht es gut . . . »Was ist los?« Er sagte, daß man Troy heute früh gefunden hat, auf den Bahngleisen nahe der Grenze. Er hatte ein gebrochenes Bein, und drei Hufeisen fehlten . . . ganz zu schweigen davon, daß er total unterernährt war. Er hatte kein Futter finden können. Benjamin sagte, er sei sicher, daß es Troy war, wegen dem Brandzeichen von Broken Circle. Benjamin hat zugesehen, wie die Grenzpolizei ihn erschoß. Zwei Kugeln in den Kopf. Er sagte, man hat festgestellt, daß ihn jemand rausgelassen hat. Am Telefon versprach er mir, den Übeltäter ausfindig zu machen und dafür zu sorgen, daß er spürt, was er diesem wunderbaren jungen Pferd angetan hat. Ich legte auf. Ich sah um mich, und alles wurde grau, schwarz, grau, schwarz . . . Ich bin so schlecht. Wohin ich mich auch wende, irgendwas sagt mir immer, daß ich verkommen, schlecht, böse bin . . . Wie konnte ich Troy das nur antun? Wenn ich nicht dauernd so vollgepumpt mit Drogen wäre und so total idiotisch, könnte ich jetzt rausfahren und ihn reiten. Mit ihm zusammen in die Felder abhauen, wo wir gemeinsam irgendwie überlebt hätten. Ich kann nicht glauben, was mit mir und mit meinem Leben 174
passiert! Wie kann ein Tag so unendlich kostbar sein und der nächste ein Alptraum . . . ein dunkler Traum, der mich vom Tod träumen läßt . . . genau in diesem Moment.
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Liebes Tagebuch,
7. April 1988
mir gefällt nicht nur der Job am Parfümstand ausgesprochen gut, sondern ich bin ganz begeistert davon, mit jemandem arbeiten zu können, der so cool ist wie Ronnette. Sie hat immer Verständnis, wenn ich deprimiert bin, und nervt nicht. Bobby spricht wieder mit mir, und wir gehen wieder ziemlich regelmäßig miteinander aus — vielleicht zweimal die Woche; höchstens, im Durchschnitt wohl eher fünfmal im Monat. Aber früher sahen wir uns jeden Tag. Jetzt stecken wir auch in der Schule nicht mehr dauernd zusammen. Das Komische daran ist, daß wir ausgerechnet dieses Semester von der gesamten Schülerschaft zum »besten Paar« gewählt wurden. Ich glaube, wir haben uns sehr gern, aber wir sind jetzt eigentlich mehr aus Bequemlichkeit und Gewohnheit zusammen — ohne die Liebe und das Engagement von früher. Oft koksen wir miteinander oder ziehen einen durch — meistens bei Leo oder draußen an den Pearl Lakes. Wenn wir bei Leo high sind, kümmert sich Bobby mehr um Shelley als um Leo oder mich, besonders in letzter Zeit. Ich glaube, zwischen den beiden läuft bald was . . . wenn sie nicht schon heimlich zusammen sind. Das sagte ich neulich nacht zu Leo, was definitiv ein Fehler von mir war. Ich wünschte, ich könnte die Dummheiten, die aus meinem Mund strömen, immer auf das Koks schieben, das in meine Nase einströmt, aber das will nicht glücken. Ich mußte ihn anflehen, daß er sich beruhigte. Noch nie habe ich einen so plötzlichen Gewaltausbruch erlebt. Ich bezweifle kein Sekunde lang, daß Leo jähzornig ist, was mir aber Kopfzerbrechen macht, ist das Ausmaß der Wut, die da in so kurzer Zeit hochstieg. Ich selbst hoffe sogar, daß Bobby und Shelley eine Beziehung haben . . . Mir gefällt die Vorstellung, solo zu sein, zwar ganz und gar nicht, aber es kann noch schlimmer kommen, und ich glaube, Bobby und Shelley passen gut zusammen. Darf ich behaupten, Leo Johnson und Laura Palmer sind aus dem gleichen Holz geschnitzt . . .? Wie auch immer, was ich sagen will, ist, daß 176
Leo und ich öfter miteinander schlafen als Bobby und ich, und ich weiß, daß es bei Leo und Shelley dasselbe ist. Warum suchen wir uns gerade die Partner aus, die wir haben? Um das Alleinsein zu vermeiden, um beinahe jeden Preis . . . wir wählen unseren Partner nach seiner Arbeit, seinem Gehalt oder seinen Fähigkeiten im Schlafzimmer aus. Das sind gute Gründe, und wenn du Glück hast, findest du einen Typen, der dazu noch nett zu dir ist. Bobby schien genau richtig für mich zu sein. Er war da. Er war süß, beliebt, aus guter Familie . . . und er schwor mir seine Liebe wieder und wieder, bis er erkannte, daß ich im Moment nichts und niemand lieben kann. Sich verlieben heißt, dem Feind die weiße Fahne zeigen und sagen: »Wir geben auf, wir lieben uns, Liebe ist Kapitulation.« Das kann ich nicht tun, bis ich ganz sicher weiß, daß BOB tot ist. Bis eine Leiche da ist, die ich so oft treten kann, wie ich will. Gott, ich hoffe nur, dieser Tag kommt bald. Laura
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Liebes Tagebuch,
10. April 1988
ich hatte heute in Hörne's Department Store mein Vorstellungsgespräch, obwohl ich schon über einen Monat dort arbeite. Ich erwartete wohl, dabei mehr zu erfahren, als ich schon weiß. Mr. Battis, der Manager, erinnert mich an eine große Frucht - irgendwas, das langsam verfault. Was tut er hier, und wann geht er? Armer Kerl. Mr. Battis hat so ein schlechtes Gewissen, weil er »Freunde« des Chefs rumkommandiert, daß er die Gegend um den Parfümstand nie verläßt. Es kommt mir fast so vor, daß er mir nachspioniert — eine dauernde Belästigung, die mir keinen Zug aus der Bombe erlaubt und nicht einmal einen Klaps auf Ronnettes Arsch. Ich erinnere mich, daß ich damals von Benjamins Büro ganz schön eingeschüchtert war - die Größe des Zimmers, die vielen dauernd blinkenden Telefone, der Blick aus dem Fenster, sein riesiges Sofa und . . . aha . . . An dem Tag sagte Benjamin zu mir: »Einer von meinen Angestellten wird dich bald zu Hause anrufen, Laura, um ein Vorstellungsgespräch zu arrangieren.« Kein Glück damit: Mr. Battis ist etwas rundlich und nicht mehr der Jüngste, weniger vornehm, als ich gedacht hatte, und viel weniger interessant. Ich werde ihm wohl bald mal sagen müssen, daß er uns alle hier unten mehr stört als entlastet und daß ich persönlich es leid bin, ein falsches Lächeln aufzusetzen, wenn ich sein idiotisches Gesicht sehe oder er uralte Witze macht. Das klingt wohl ziemlich gemein, aber das habe ich mir weiß Gott auch verdient. Ich arbeite hart, und manchmal ist es mir einfach zuviel. Ich gehe jetzt in die Pause: BIN IN FÜNFZEHN MINUTEN ZURÜCK. Ich brauche eine Zigarette und eine Linie. Bin wieder da. Als ich gerade aus der Damentoilette kam, sah ich Donna auf meinen Stand zugehen. Scheiße, dabei fühlte ich mich gerade etwas besser. 178
Sie kam auf mich zu und fing an, mir was vorzuquasseln von ihrer Reise nächste Woche, um ein paar Colleges auszuchekken, und wie sehr sie Mike vermissen würde und: »Was kostet das Fläschchen hier?« Ich freute mich, sie zu sehen, und freute mich gleichzeitig gar nicht. Es ärgerte mich, daß sie mit Mike so glücklich ist; ich will zwar nicht gerade, daß er sie schlecht behandelt, aber in tiefstem Herzen wollte ich doch wissen, daß sie mich lieber hat oder meine Gesellschaft mehr braucht als seine. Mir wird klar, wenn ich das hier lese, wie egoistisch ich bin, zumal ich es war, die sich nicht mehr gemeldet hat. Wir sind nicht mal mehr richtige Freundinnen. Wir sind wie alle anderen, fürchte ich. Wir versprechen, daß etwas für immer ist, wenn es doch in Wirklichkeit nur so lange dauert, bis wir es leid sind. Als sie ging und sich die Tür hinter ihr schloß, da war es, als verließe sie mich für immer. Laura
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Liebes Tagebuch,
21. April 1988
Ronnette rief eben von der Arbeit an, um zu sagen, daß erst heute abend eine Aushilfe kommt, sie aber gerade jetzt jede Menge Hilfe am Stand braucht; ob ich also, obwohl mein freier Tag ist . . . ob es mir was ausmachen würde, in die Stadt zu kommen und ihr zu helfen? Mit anderen Worten: Sag deinen Eltern, daß du Überstunden machst, in der Blockhütte im Wald findet eine Party mit Leo und Jacques statt. Ronnette und ich haben einen Geheimcode für bestimmte Dinge und Orte. »Ich brauche sofort deine Hilfe!« heißt: »Ich brauche sofort eine Nase voll Koks, hast du welches?« oder »Am Stand wird sofort jemand gebraucht!« heißt: »Es ist kein Koks in der Hütte, bring, was du hast.« Also fuhren Ronnette und ich zur Hütte, und unterwegs versuchte ich sie davon zu überzeugen, daß sie niemals erkannt, niemals angemacht und unvorstellbar reich würde, wenn sie »es« mit mir machte. Mit »es« meinte ich, Fotos von sich an Fleshworld schicken. Ich erklärte ihr, sie soll eine Anzeige aufgeben, daß sie obszöne Tonbänder, Höschen und Bilder gegen eine einfache Gebühr verschickt . . . Sie soll sich ein Bankschließfach anschaffen, einen falschen Namen angeben, eine Geschichte dazu erfinden — Jacques könnte gleich diese Nacht die Fotos von uns machen. Wir hatten schon ein paar Stunden in der Hütte gesessen und getrunken, als ich Jacques sagte, daß ich Polaroids von mir gemacht haben wollte. Die roten Vorhänge reichten als Hintergrund aus, und die Farbe war stimulierend genug, daß ich eine Million Fotos verkaufen konnte, wenn ich die richtigen Posen fand. Jacques und Leo machte es ganz schön geil, was ich da tat. Ich habe eine neue Methode entdeckt, sie zu verführen. Ronnette sah mich in Aktion und fand, daß es vielleicht doch eine recht gute Idee war. Bis bald, Laura 180
Liebes Tagebuch,
22. Juli 1988
herzlichen Glückwunsch zu meinem sechzehnten Geburtstag . .. Alles ist wie im Traum, wie in einem bösen, sehr traurigen Traum von einem kleinen Mädchen, das sein ganzes Leben lang davon geträumt hat, wie das Leben mit sechzehn sein würde. Ach Gott, Tagebuch, ich hatte so wunderbare Vorstellungen von dem Jungen, der mich lieben würde und immer bei mir wäre. Davon, wie meine Freundinnen und ich mit meinem funkelnagelneuen Auto zum Strand fahren würden, uns ausziehen bis auf die Bikinis und ins Wasser springen. Ich hätte den perfekten Körper, die perfekte Haut, die perfekte Familie und das perfekte Zuhause - eine ausgezeichnete Schülerin, die immer hilfsbereit ist und ihr eigenes Geld verdient. Ich wollte mein eigenes Pony, eine Katze und vielleicht einen Hund. Donna Hayward wäre bei mir, in einem weißen Kleid mit Spitzen, und unsere Freunde würden uns zu Hause abholen. Unsere Eltern würden sie lieben, denn wir hätten die perfekten Eltern. Das alles machte meine Träume aus, bis der Alptraum begann. Sicher dachte ich nicht, daß alle diese »BilderbuchSituationen« in meinem Leben vorkommen würden, aber ich hatte doch Träume, die Hoffnung, daß alles möglich war. Ich kann Dir nicht sagen, wie wichtig und wertvoll solche Träumereien sind . . . Ich vermißte sie nicht, bis sie plötzlich weg waren. Ohne sie wurde ich kalt, paranoid, unfreundlich und bereit für alle möglichen schrecklichen Dinge. Das meiste weißt Du schon. Sechzehn zu sein ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bobby Briggs und ich haben beschlossen, uns eine Pause voneinander zu gönnen — ich glaube, er hat eine Affäre mit Shelley — ganz egal. Ich kann Bobby nicht so lieben, wie er es verdient, und es bringt mich innerlich fast um, das zugeben zu müssen. Donna Hayward ist nicht bei mir. Etwas ist mit uns passiert, wir sind zusammen aufgewachsen, aber dann habe ich mich 181
plötzlich ganz anders entwickelt als sie . . . bestimmte Ereignisse ließen mich vorzeitig altern, machten mich bitter. Ich sehe wohl, daß ich sie zu Unrecht für eine Idiotin gehalten habe, nur weil sie nicht verbittert ist - niemand kam nachts aus dem Wald zu ihr, um ihr zu versichern, daß es keine Hoffnung gibt. Nein. Das war mein Leben. Ich habe kein funkelnagelneues Auto. Meine Eltern leihen mir ihres. Warum sollte ich auch eins haben, in Twin Peaks — man braucht es kaum. Ich versuche, hart zu arbeiten, aber ich muß noch mehr tun. Ich muß härter arbeiten, um alle meine bösen Taten abzubüßen . . . meine Kokainräusche, den ganzen Tag, die ganze Nacht, seit Monaten. Ich bin süchtig, und ich zwang Bobby zum Dealen, indem ich ihm drohte, ihn sonst zu verlassen. Jetzt weiß ich, daß er mich nicht mehr will. Ich verdiene ihn sowieso nicht. Sein männliches, hübsches Äußeres, und innen ein Herz aus Gold . . . mein Traummann. Ich muß mit dem Koks aufhören. Und mit dem Sex! Ich weiß mehr darüber, als ein Mädchen in meinem Alter wissen sollte. Viel mehr. Sex, der immer schwärzer wird - eher ein Racheakt als ein Liebesakt. Ich schlafe manchmal sehr gern mit Frauen, weil ich genau weiß, wie ich sie befriedigen kann, und das gibt mir soviel Macht! Nach solcher Stärke sehne ich mich ununterbrochen, deshalb das Kokain. Ich habe oft Angst, daß ich für alle meine Taten in die Hölle komme. Ich hatte ein Pony. Ein sehr schönes. Troy. Mit einer tiefbraunen Mähne. Wieder liegt die Schuld allein bei mir . . . obwohl es Umstände in meinem Leben gibt, die mich glauben ließen, daß ich richtig handelte. Doch das zählt nicht. Ich führte ihn aus dem Stall, gefangen in meinem eigenen Traum von Freiheit. Ich schlug ihm mit der Peitsche auf den Arsch, hart. Ich sah ihn weglaufen . . . und ich glaube, er schaute einmal zurück, aber ich wandte mich ab. Irgendwie spürte ich schon, was mit ihm passieren würde. Durch meine Schuld. Man fand ihn halb verhungert, unbeschlagen, mit einem gebrochenen Bein auf den Bahngleisen bei der Grenze. Ben182
jamin Hörne sah zu, wie er schweigend zwei Kugeln in den Kopf hinnahm. Ich bin ein Dieb geworden, wie der Besucher BOB. Stehle Stolz und Hoffnung, Selbstvertrauen . . . Meine Katze . . . darüber will ich nicht sprechen. Es ist traurig genug, an sie zu denken. Ich muß gehen. Später mehr, Laura
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Liebes Tagebuch,
22. Juli 1988
genug von der Vergangenheit und genug von den Fehlern, die ich in der Gegenwart wieder und wieder mache. Es gibt eine Neuigkeit, die mich wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hat. Ich bin schwanger. Siebeneinhalb Wochen schwanger. Niemand weiß davon außer Dir und der Frau im Krankenhaus (ich lieh mir den Wagen heute aus, um zum Arzt zu gehen und Sicherheit zu erhalten). Jetzt bin ich sicher. So viele Stimmen schwirren durch meinen Kopf jetzt . . . Seit gestern nacht habe ich keine Linie Koks mehr hochgezogen — es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich wünschte, mein ganzes Leben wäre ein Traum. Ein riesiger, seltsamer Traum mit vielen realistischen Handlungsfäden und Beziehungen, aber . . . Das kann nicht das Leben von Laura Palmer sein . . . ich versuche so, alles richtig zu machen! Warum? Ich habe keine Ahnung, wer der Vater ist! Ich kann heute nicht noch mehr weinen, weil mein sechzehnter Geburtstag ist, und alle werden wissen wollen, warum ich so durcheinander bin. Ich werde es niemandem verraten. Laura
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Liebes Tagebuch,
2. August 1988
es ist schon eine ganze Woche her, seit BOB zuletzt bei mir war. Ich bin so betäubt, daß ich mich vor ein paar Tagen tatsächlich bei dem Wunsch ertappte, er käme wieder und schnitte mich, wie er es früher tat. Und nähme so einige dieser ununterbrochen wiederkehrenden Gedanken von mir, indem sie einfach als Blut aus mir herausliefen. Natürlich würde er niemals auftauchen, wenn ich es will.
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SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
Ich denke in diesen Tagen an den Tod wie an einen Kameraden, den ich schrecklich gerne treffen würde. Leb wohl, Laura
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SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
KLEINES LUDER. Bist du da, Bob? IMMER.
Warum kommst du nicht einfach her und nimmst mein Leben . . . jetzt. ZU LEICHT.
Das ist Unsinn! Ich werde verrückt! Ich kann so nicht mehr leben! Geh entweder sofort aus meinem verdammten Kopf raus, aus meinem Leben, aus meinem Haus . . . oder bring mich um! DU NIMMST MIR DEN GANZEN SPASS. Also hatte ich von Anfang an recht. Es war immer dein Ziel, mich umzubringen. MANCHMAL GEHT ES IM LEBEN DARUM, WAS VOR DEM TOD PASSIERT. ICH WOLLTE SEHEN, WAS MÖGLICH IST.
Ich bin also ein Experiment. JA. DAS HAST DU SCHON EINMAL GESAGT.
Ich hatte nie eine Chance . . . DOCH, NATÜRLICH.
Ich glaube dir nicht. NIEMAND TUT DAS. DAS IST DER GRUND, WESHALB DU . . . STÜRZST.
Ich stürze . . .? 195
IN DIE FINSTERNIS. HÜBSCH, NICHT? Nein. NEIN?
Ich habe es dir gesagt! Ich hasse das! Ich hasse mich selbst und alles um mich herum! WIE SCHADE. Bist du wirklich, Bob? FÜR DICH BIN ICH DIE EINZIGE WIRKLICHKEIT.
Aber . . . MIT DIR IST ES EWIG DAS GLEICHE. IMMER BEHAUPTEST DU, DU WÜRDEST MIT DEN BÖSEN DINGEN AUFHÖREN . . . DU HÖRST NIE DAMIT AUF.
Als du zum ersten Mal zu mir kamst, habe ich überhaupt nichts Böses getan! Ich war ein Baby! Ich war nichts . . . nur gut . . . ich war glücklich! UNRICHTIG.
Ich könnte endlos mit dir reden und würde doch nichts erfahren. MIT EINEM WEISEN IST DIE KOMMUNIKATION IMMER SCHWIERIG. DIES IST DAS FEUER, DURCH DAS DU GEHEN MUSST.
Ich will nichts hören von Feuer. DANN WILLST DU DIE ANTWORT NICHT.
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Wer bist du . . . wirklich? ICH BIN GENAU DAS, WAS DU FÜRCHTEST, DASS ICH BIN.
Schluß . . . Ich verstehe. Es reicht. Ich muß weg. Geh jetzt. Bitte. Nur . . . geh weg. SCHÖNE LETZTE TAGE, LAURAS BABY.
Ich habe den Verstand verloren. Ich werde eine Zeitlang nicht mehr mit Dir sprechen.
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Liebes Tagebuch,
10. August 1988
es ist schwer zu beschreiben, ohne daß es nach Selbstmitleid klingt, obwohl das nur die halbe Wahrheit ist. In ein paar Minuten war es vorbei, und dennoch hörte ich alle möglichen Geräusche, Welten zogen an mir vorüber . . . Das Leben drehte sich einen Moment im Kreis und rannte weg. Der Arzt kam rein, seine großen Hände steckten schon in Gummihandschuhen, und seine Augen waren so steril wie der ganze Raum und die Instrumente, die man dort benutzt. Er schüttelte mir die Hand. Der Gummihandschuh erinnerte mich an etwas, war es BOB? Die letzten paar Augenblicke mit dem Baby waren die schlimmsten, die ich je erlebt habe. Was für eine Entscheidung hatte ich da gefällt? Wessen Baby war es? Der Arzt warf die Arme in die Luft und sagte: »Verdammte Ärmel.« Dann krempelte er die Ärmel auf und ging an die Arbeit. Maschinen begannen zu surren. Die Schwester in dem Zimmer nahm meine Hand. Sie lächelte, und der Arzt beugte sich zwischen meine gespreizten Beine und verharrte einen Moment so; er sah auf mich hinunter und sagte: »Es wird ein bißchen weh tun.« Also schloß ich die Augen und hielt die Hand der Krankenschwester. Ich wünschte, wer auch immer dieses Kind war, möge wiederkommen, wenn die Zeit dafür reif ist. Wenn ich verheiratet bin. Eine Ehe, in die Du geboren wirst, und nicht eine, für die Du verantwortlich bist. Du, Kind, sollst ein Geschenk sein, keine Last wie so viele vor Dir. Komm wieder, Kind, wenn ich selbst kein Kind mehr bin. • Laura
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Liebes Tagebuch,
10. August 1988
auf der Rückfahrt vom Krankenhaus habe ich ununterbrochen geheult und daran gedacht, was alles mit mir geschehen ist oder was ich geschehen ließ, während dieser letzten paar Monate. Ich wünschte, Maddy wäre bei mir gewesen. Ich hätte fast angerufen, um sie zu fragen, ob sie nicht kommen kann, aber aus irgendeinem Grund tat ich es dann doch nicht. Das einzig Positive bei allem ist die Tatsache, daß ich von heute l Uhr morgens an gerechnet seit neunzehn Tagen clean bin. Kein Koks. Es war viel härter, als ich je gedacht hätte. Manchmal sehe ich aus reiner Gewohnheit in den Bettpfosten nach einem Restchen, das vielleicht irgendwo an meinen Utensilien klebt, die ich noch immer dort aufbewahre. Übrigens habe ich ganz vergessen, Dir zu erzählen, daß Norma vor ein paar Tagen anrief. Wir treffen uns morgen, um mein Projekt zur Hilfe für die Alten von Twin Peaks zu diskutieren. Ich hoffe, es wird was draus, denn das könnte sowohl der Stadt nützen als auch meiner Abstinenz. Als ich zu Hause ankam, wurde mir erst klar, wie stark meine Schmerzen waren. Ich dachte, ich schaffe es nicht mal die Treppe hoch in mein Zimmer. Mom erwischte mich prompt und sagte: »Also, wie war's?« »Das Vorstellungsgespräch lief ganz gut, Mom.« Ich hielt mich am Geländer fest und sagte ihr, daß ich früh ins Bett wollte. Ich fühlte ihren Blick in meinem Rücken, als ich Stufe für Stufe weiterging. Als ich gerade oben war, rief Mom nach mir und sagte, daß Maddy für mich angerufen hat. Ich war starr vor Staunen. Maddy hatte meinen Hilferuf gehört. Im selben Augenblick spürte ich Moms Blick — reine Eifersucht hinter mir. Ich muß mich ausruhen. Laura
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Liebes Tagebuch,
16. August 1988 3:15 Uhr
es ist schon eine ganze Zeit her, daß wir beide uns noch so spät nachts unterhalten haben. Abstinenz ist trügerisch. Noch nie war ich so paranoid wie in den letzten Tagen. Es kommt mir vor, als hätte ich alle meine Freunde verloren, weil ich clean bin. Ronnette und ich reden nicht mehr miteinander wie früher, besonders bei der Arbeit, und ich werde nicht mehr verständigt, wenn Partys in der Blockhütte stattfinden. Bobby ruft kaum mehr an. Ich rufe ihn an! Das ist total abartig! Es scheint ihm gut zu gehen ohne mich, und ich habe das Gefühl, daß alle das bemerken und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ich frage mich, bin ich wirklich dieser schlechte Einfluß, wie BOB es mir immer eintrichtern will? Bedeutet meine Abstinenz, daß ich in völliger Einsamkeit enden werde? Sogar mein neuer Freund Harold Smith
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Liebes Tagebuch,
20. August 1988 5:20 Uhr
es ist ganz dunkel in meinem Zimmer, und ich schreibe Dir nur beim schwachen Schein der Nachtlampe. Ich will niemanden wissen lassen, daß ich wach bin. Ich habe solche Angst. Ich hatte gerade einen Alpträum. Jetzt schwitze ich wie wahnsinnig und kann kaum atmen. In meinem Traum nahm jeder auf der Welt Drogen, nur ich hatte aufgehört. Ich weiß nicht, warum . . . vielleicht fühlte ich mich so besser. Ich denke, ich hielt es für richtig. Kaum hatte ich aufgehört, wurde ich unsichtbar. Ich fiel in ein Vakuum und schwebte durch Twin Peaks . . . durch die Schule . . . Niemand bemerkte mich, niemand! Ich rannte in ein Klassenzimmer und sah Donna. Ich stellte mich ganz nahe neben sie und schrie ihr ins Gesicht, aber sie hörte mich nicht. Bobby und Shelley kamen mir auf dem Flur entgegen. Sie unterhielten sich und gingen glatt durch mich hindurch! Als ich mich umdrehte, um ihnen nachzulaufen, sah ich Leo und Jacques am Wasserspender. Sogar sie sahen mich nicht! Ich konnte niemanden dazu bringen, mich zur Kenntnis zu nehmen. Keinen konnte ich glauben machen, daß ich irgendwas darstellte, denn in den Augen der anderen war ich nichts. Sie konnten mich nicht sehen, weil ich clean war. Der ganze Traum kam mir so wirklich vor. Ich fühlte mich so allein. Als ich hochschaute, um nach dem Licht auf dem Flur zu sehen, da war, vor meinem Fenster, die Augen starr auf mich gerichtet, BOB und lachte (seine Geräusche und das Lachen durchs Glas gedämpft)! Dreckskerl! Durch das Zimmer sah ich sein Gesicht, beleuchtet vom orangenen Schimmer meiner Nachtlampe. Nur eine Glasscheibe trennte uns. Er lachte weiter, und dann ließ er sich ganz langsam aus dem Quadrat, das mein Fenster ist, herunter. Ich konnte keine Ruhe mehr finden, bis die Sonne aufging 203
und mein Fenster das Licht enthielt, das es ihm verbietet, zurückzukommen. Küßchen, Laura
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Liebes Tagebuch,
20. August 1988, später
Mr. Battis hatte mich gebeten, ihn um halb sechs in seinem Büro zu treffen. Um Viertel nach fünf sagte ich Ronnette, daß ich gehen müßte, aber so bald wie möglich wieder da wäre, um ihr beim Ausladen der neuen Ware zu helfen. Einige Minuten lang war ich in Mr. Battis' Büro allein. Ich setzte mich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Als Mr. Battis reinkam, warf er mir einen kurzen Blick zu und lächelte. Er mochte mich, das war mir klar, aber jetzt wurde es sogar noch deutlicher. Mr. Battis ging zwei Schritte auf sein Fenster zu und sah durch den Spalt zwischen den Vorhängen hinaus. »Irgendwie ahne ich, daß Sie auf einen besseren Job aus sind . . .?« »Ja.« Ich schlug die Beine übereinander. »Das ist wahr.« Er sah noch immer aus dem Fenster und sagte: »Ich gla ube, wir haben diesen Job für Sie.« »Und was wäre das, Mr. Battis?« fragte ich. »Hostess . . . mit Aufstiegsmöglichkeiten.« »Hostess?« »Können Sie tanzen, Miss Palmer?« »Amory, ich kann noch viel mehr.« »Dann können Sie eine Menge Geld verdienen.« Mr. Battis sagte, ich sollte ihn nächsten Samstag hier treffen, wir (inklusive Ronnette) würden dann zu einem Lokal jenseits der Grenze fahren, namens One-Eyed Jack's. Ich dankte ihm und verließ sein Büro. Auf dem Weg zurück zum Parfümstand entschied ich, daß Abstinenz nichts für mich ist. Ronnette sagte, sie würde mich eine Weile vertreten. Ich nahm ihre Bombe mit ins Lager. Ich nahm zwei Nasen voll, wandte mich zum Gehen, und da saß BOB zusammengekauert in der Ecke und grinste triumphierend. Auf ein neues, Laura
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Liebes Tagebuch,
23. August 1988
es geht mir so viel besser, seit ich wieder kokse! Ich wollte Dir noch erzählen, was bei meinem Treffen mit Norma rauskam. Ich hatte darüber nachgedacht, wie man den alten Leuten am besten hilft, die ihr Haus kaum mehr verlassen können. Ich würde gern den Alten dieser Gegend, die zum Essen nicht ausgehen können, warme Mahlzeiten bringen. Ich sagte ihr, als Name für das Projekt stellte ich mir »Meals on Wheels« vor. Norma fand die Idee ausgezeichnet und sagte, sie würde ein paar Leute im Rathaus und vielleicht im Krankenhaus anrufen. So könnten wir die geeigneten Empfänger herausfinden, ohne lang rumlaufen zu müssen. Norma erklärte sich bereit, die Mahlzeiten zu bereiten, zwei täglich an vier Tagen in der Woche. Der Gewinn wird halbiert. Ich liefere die Essen aus, und vielleicht bekomme ich dadurch wieder etwas Selbstvertrauen . . . Oder habe ich es schon? Oder bin ich so total auf Koks, daß ich das gar nicht mehr weiß? Heute also kam ich ins Lokal, um zwei Essen abzuholen. Ich half Norma gerade, sie aus dem Ofen zu holen, als Josie Packard reinkam. Norma unterhielt sich kurz mit ihr, und Josie regte sich dabei ziemlich auf, verlor fast die Beherrschung. Norma rief mich dazu und erzählte, daß man Josie in der Mühle wegen ihrem Englisch aufzieht . . . Es war deutlich, daß ihr das sehr peinlich war. Ich sagte, ich würde ihr gerne Unterricht geben, wenn sie will. Norma lächelte mich an und klopfte mir auf die Schulter. Josie gab sich einen Ruck und sagte: »Ich wäre glücklich, Sie für Ihre Dienste bezahlen zu dürfen.« Ich schüttelte ihr die Hand, und sie sagte, der erste mögliche Termin für sie wäre Montag abend . . .? Ich stimmte zu. Ich würde dann Montag zu ihr kommen. Ich nahm die zwei Essen und ging. Innerhalb von fünfundvierzig Minuten mußte ich sie abliefern und bei Johnny Hörne oben sein. 206
Zuerst ging ich zu Mrs. Trendmonds Wohnung. Ich stellte das Tablett vor die Tür und legte einen Zettel dazu mit der Bitte um einen eigenen Hausschlüssel. Harold Smith war der andere Kunde. Ich glaube, ich habe Dir schon erzählt, daß er ein sehr interessanter Mann ist. Sehr gutaussehend. Er war offenbar Botaniker. Aus irgendeinem Grund, an den er sich nicht erinnern kann, wachte er eines Morgens auf und hatte eine Agoraphobie. Er glaubt, der Tod wartet direkt vor seiner Tür und ruft spät nachts nach ihm von draußen wie ein seltsamer Vogel. Er bat mich herein, aber ich war schon spät dran, deshalb vertröstete ich ihn aufs nächste Mal. Ich kam zu den Hornes, und sie waren schon fertig zum Ausgehen. Ich wünschte ihnen einen schönen Abend, Johnny und ich würden es uns gutgehen lassen, kein Grund zur Sorge. Ich überredete Bobby, ein bißchen Koks für mich herzubringen, und Johnny und ich verbrachten einen ruhigen Abend, wir lasen in seinen Märchenbüchern und aßen Eis. Später mehr, Laura
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SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
Liebes Tagebuch,
31. August 1988
gerade habe ich den Eintrag von gestern noch mal gelesen und schäme mich nun plötzlich dafür, am Leben zu sein. Das Mädchen, das dieses Tagebuch zu seinem zwölften Geburtstag bekam, ist seit Jahren tot, und ich, die ihren Platz eingenommen hat, habe all die Träume, die sie einst hatte, zu Hohn und Spott werden lassen. Ich bin sechzehn Jahre alt, kokainsüchtig, eine Prostituierte, die die Chefs ihres Vaters fickt, ganz zu schweigen von der Hälfte dieser beschissenen Stadt, und der einzige Unterschied zu letzter Woche ist, daß ich jetzt dafür bezahlt werde. Mein Leben ist so, wie es jeder xbeliebige, der mit mir in einem Raum ist, haben will. Deshalb ist mein Leben nichts, wenn ich allein bin. Ich träumte letzte Nacht, daß ich im Wald vor Jacques' Blockhütte stand und hineinzukommen versuchte. Es gab keine Tür, nur ein Fenster, dasselbe wie in meinem Zimmer. Ich schaute durchs Fenster und sah Waldo hin und her fliegen, ganz, ganz langsam. Als bewegte er sich in Zeitlupe, aber ich wußte, daß er panische Angst hatte. Er rief: »Laura, Laura«, als wollte er mich warnen . . . Und plötzlich trat BOB in das Quadrat des Fensters und packte Waldo mit seinen Händen. BOB wandte sich mit einem Lächeln zu mir, und mit einer einzigen Bewegung zerquetschte er Waldo. Ich zog mich vom Fenster zurück und rannte vom Haus weg, so schnell ich konnte. Aber ganz egal, wohin ich mich wandte, das Haus war immer vor mir, und jedesmal, wenn ich BOB sah, war er ein Stück mehr aus dem Fenster geklettert. Ich fiel auf die Knie. Alles wurde still. Ich sah hoch, und da, etwa zehn Meter vor mir, war eine riesige Eule. Wenn ich jetzt zurückdenke, bin ich noch immer nicht sicher. »War er ein Freund oder ein Feind?« Lange standen wir da und starrten uns an. Ich hatte das Gefühl, der Vogel wollte etwas sagen, aber er sagte nichts. Ich wachte auf und hoffte, daß das, was die Holz-Lady gesagt hat: »Eulen sind manchmal groß«, sich auf heute nacht bezog und bedeutete, daß mir etwas Gutes bevorsteht. Gerade jetzt, wo ich im One-Eyed Jack's arbeite, könnte ich 213
ein gutes Omen gebrauchen. Ich werde auf alles achten, wie es mir die Holz-Lady geraten hat. Ich habe den Verdacht, daß dies das erste von vielen Dingen ist, auf die ich achtgeben muß. Laura P.S. Um sicherzustellen, daß niemand in meine Privatsphäre eindringt, werde ich ein zweites Tagebuch beginnen müssen. Es soll, wenn man es findet, dem Neugierigen »die Laura« zeigen, die alle in mir sehen. Es wird mich einige Zeit kosten, es vollzuschreiben. Ich frage mich, ob ich dieses Leben überhaupt noch vortäuschen kann.
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Liebes Tagebuch,
13. November 1988
ich war oben bei Hornes, wegen Johnnys Unterricht. Einer seiner Ärzte, Dr. Lawrence Jacoby, schloß sich uns an, um ein paar Gummibüffel zu schießen. Sofort spürte ich, daß sich Lawrence von mir angezogen fühlte, zwar sprachen wir nicht darüber, aber doch davon, woher diese Anziehung stammte. Er hat sich in die »zwei Lauras« verliebt, die doch genau der Grund sind, weshalb ich so unbedingt sterben will. Was ich als einen Fluch empfinde, fand er verlockend und aufrichtig. Er machte sich über meine Qualen nicht lustig. Er akzeptierte sie. Also begannen Dr. Jacoby und ich, uns hermlich in seinem Büro zu treffen. Er läßt mich einfach reden, und von Zeit zu Zeit versuche ich ihn zu schockieren mit Einzelheiten meiner dunkleren Hälfte, doch er akzeptiert auch sie nach wie vor, akzeptiert mich, weil er stets erkennt, daß meine hellere Hälfte diese Dinge niemals hat tun wollen. Deshalb verzeiht er mir. Ich weiß, das klingt vielleicht pervers und gemein, aber manchmal bin ich voller Haß auf ihn, weil er mir nie in die Augen gesehen und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt hat — daß ich so werde wie BOB, schlecht. Vielleicht ist es so, wie er sagt: Ich habe einfach vergessen, wie es ist, geliebt zu werden. Laura
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Liebes Tagebuch,
13. Januar 1989
ich habe Dir nicht geschrieben, weil Dr. Jacoby mir ein hübsches knallrosa Tonbandgerät zu Weihnachten geschenkt hat. Er sagte, es hilft mir vielleicht, wenn ich darauf spreche. Ich schicke ihm die Bänder, nachdem ich sie selbst abgehört habe. Obwohl ich noch immer sehr traurig bin, habe ich den Eindruck, daß es mir hilft, den Bändern zuzuhören. Alles, was ich höre, gibt mir das Gefühl, die Probleme, über die da gesprochen wird, sind gar nicht meine. Ich würde öfter schreiben, aber wegen der ganzen Arbeit und dem anderen Tagebuch, das ich immer hübsch up to date halten muß, habe ich kaum Zeit, so ehrlich zu sein, wie ich zu Dir bin. Ich schreibe mehr, sobald ich kann. Laura
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Liebes Tagebuch,
27. März 1989
schon seit Wochen hatte ich versprochen, einen Besuch bei Harold zu machen, und heute endlich habe ich es geschafft. Seine Wohnung ist klein und voller Bücher, vom Toilettenkasten bis auf den Kühlschrank. Ich glaube, er muß andauernd Geschichten lesen, weil es in seinem Leben so wenige Geschichten gibt. Manchmal macht es mir Spaß, mit Harold zu spielen. Es gefällt mir, wie er an meinen Lippen hängt, wenn ich ein paar meiner Abenteuer schildere. Besonders bei denen aus dem One-Eyed Jack's (wo übrigens Jacques als Croupier beim Blackjack arbeitet). Meine Geschichten erregen Harold. Das weiß ich. Aber trotzdem reagiert er beinahe mit Gewalt, und mit Angst, wenn ich auch nur den leisesten Annäherungsversuch mache. Ich mag Haralds Zartheit und fühle mich meist sehr wohl, wenn ich bei ihm bin oder an ihn denke. Aber manchmal hasse ich mich selbst mehr, als Du Dir vorstellen kannst, für die Erregung, die mich befällt, wenn ich Harolds angstverzerrtes Gesicht sehe - das ist es wohl, was BOB sieht, wenn er mich anschaut. Die Beute, in die Enge getrieben . . . so gedemütigt . . . zum Spielzeug degradiert. Ich bemerke mehr und mehr, und denke, auch BOB bemerkt es, wenn er mich besucht, daß ich in letzter Zeit gar nicht genug verletzen oder verletzt werden kann. Laura
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Liebes Tagebuch,
4. Juni 1989
schon eine ganze Zeit arbeite ich jetzt mit Josie an ihrem Englisch, und sie macht kaum Fortschritte, strengt sich nicht mal besonders an. Ich weiß, daß Josie in Hongkong Tänzerin und Prostituierte war, als Andrew sich in sie verliebte und ihr das Leben rettete, indem er sie vor sechs Jahren hierher brachte. Ich glaube, sie hat noch immer mehr von diesem Lebensstil in sich, als die meisten sehen. Sie nimmt unseren Unterricht mehr als kaum kaschierte Verfuhrungsversuche, und je mehr sie auf mich abfährt, desto weniger Respekt habe ich vor ihr. Nicht daß sie mir schmeichelt. Es ist etwas anderes . . . Sie erwähnt Bobby oft, und ich weiß genau, daß sie eifersüchtig auf ihn ist. Sie macht so viele Anspielungen auf meine sexuellen Gewohnheiten, daß ich glaube, sie ist ein viel zwielichtigerer Mensch, als die ganze Stadt meint. Armer Sheriff Truman. Laura P.S. Es macht mich krank, daß es jedesmal, wenn ich etwas Gutes tun will, damit endet, daß ich gefickt werde.
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Liebes Tagebuch,
6. August 1989
Norma hat diese Woche fast die gesamte Auslieferung übernommen, fragte jedoch, ob ich Mr. Penderghast versorgen könnte, weil sie ihren Mann, Hank, an dem Nachmittag im Gefängnis besuchen mußte. Ich habe sechzehn Schlüssel an meinem Bund, außer meinen fünf eigenen. Oft denke ich über die phantastische Möglichkeit nach, zu so vielen Häusern, die nicht meine eigenen sind, Zugang zu haben. Ich begreife den Reiz, den ein Einbrecher empfindet, wenn er in eine Wohnung kommt und sich plötzlich klarmacht, daß alles, was er sieht, ihm gehört. Mr. Penderghast ist der vertrauensvollste und süßeste von allen Alten, denen ich Essen bringe. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß und betrat leise seine Wohnung. Ich hörte den Fernseher in seinem Schlafzimmer und rief, daß ich da sei. Er antwortete nicht. Ich fand ihn hinter der Schlafzimmertür, die Hände noch fest um den Türgriff geschlossen, als ob er ihn als Stütze gebraucht hätte bei dem Versuch, durch seine Wohnung zu gehen. Weil er immer so freundlich war, fand ich es besonders schlimm, daß er mit dem Ausdruck eines solchen Kampfes auf dem Gesicht sterben mußte. Sein Blick und seine herabgezogenen Mundwinkel sagten mir, daß er sich von seinen Freunden verlassen und verraten fühlte. Ich wartete fast eine ganze Stunde, bis ich den Krankenwagen rief. Ich setzte mich neben ihn und beobachtete ihn, reglos, dem Tod ergeben. Ich glaube nicht, daß ich in dieser Stunde etwas erfahren habe, was ich mir nicht selbst denken konnte, aber dort zu sein, in dieser Stille, schenkte mir die Hoffnung, daß es wenigstens nach dem Tod keine Kämpfe mehr gibt. Ich habe mehr vom Tod gesehen als vom Leben. Manchmal treffen sogar die abgenutztesten Klischees noch zu. Ich glaube, ich lebe mein Leben nur, um zu sterben. Laura
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Liebes Tagebuch,
5. Oktober 1989
mitten während der Nachtschicht gestern im One-Eyed Jack's verließ ich mein Zimmer und ging ins Büro. Ich wollte die Toilette dort benutzen, weil man die Tür abschließen kann. Ich war so down, daß ich mehr brauchte, als in meiner Bombe war, ich brauchte ein paar schöne, fette Linien . . . Als ich aus der Toilette rauskam, benutzte ich die andere Tür, die in Blackies Zimmer geht. Sie saß auf dem Bett mit einem Tourniquet um den Arm und fixte Heroin. Ich mag zwar voll auf Drogen sein, aber ich jage mir nicht dieses Scheißzeug in den Arm. Das ist eine Droge für Idioten. Blackie lehnte den Kopf zurück, sie hatte offenbar gerade ihren Flash. Ich sagte ganz direkt zu ihr: »Ich bin hier, um mir mein Geld abzuholen.« Euphorisch, und ein bißchen von oben herab, sagte sie: »Du kriegst es heute nacht.« »Das hast du mir gestern nacht schon erzählt.« Ich unterbrach mich. »Wenn du aufhörst, dir dieses Zeug in den Arm zu jagen, vergißt du vielleicht nicht so schnell, was du gesagt hast.« Blackie stand auf, ganz schön high, und sagte, daß sie meine Kleinmädchentour satt hätte und ich endlich erwachsen werden sollte. Sie fügte noch hinzu, daß ich aufhören sollte, »mich im Schnee zu vergnügen« . . . daß die Kunden schon was merkten. Ich sagte ihr, das wäre total lächerlich, die Kunden hätten überhaupt nichts bemerkt außer besserem Sex und besserer Bedienung, als sie je hier bekommen haben. »Aber sie haben mich noch nicht gebumst«, erwiderte Blackie. Ich zögerte absichtlich und sagte dann: »Oh, ich dachte, dich zu bumsen sei die Strafe für diejenigen . . .« Blackie unterbrach mich mit einem Schlag ins Gesicht. Sie sah mir in die Augen und sagte: »Ich werde dir ein oder zwei Sachen übers Bumsen beibringen, und zwar gleich jetzt.« Ich lächelte so, wie BOB es getan hätte, und dachte: Ich werde diejenige sein, die hier Lektionen erteilt. Als ich Blackie später verließ, lag sie auf dem Boden, mit 220
nichts am Leib als ihrem Schmuck, und war beschämt, weil es mir gelungen war, die totale Kontrolle zu kriegen und ihr Dinge zu zeigen, die sie nie für möglich gehalten hatte. Ich führte sie in sehr dunkle erotische Gefilde . . . und ließ sie dort allein zurück. Als ich die Tür öffnete, landete Blackie ihren letzten Schlag, den einzigen, der ihr noch blieb. »Paß besser auf deinen Kokainkonsum auf, Laura. Es kann sein, daß man dich sonst deswegen rausschmeißt.« Ich wußte sofort, daß es meine letzte Nacht im One-Eyed Jack's sein würde. Laura P.S. Ich werde allen über Benjamin Bescheid sagen müssen.
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Liebes Tagebuch,
10. Oktober 1989
ich rief Josie an und sagte ihr, daß ich es nicht vor zehn Uhr schaffen könnte, ihr Unterricht zu geben. Sie sagte, das wäre in Ordnung und sie würde auf mich warten. In dieser Nacht nützte ich es aus, daß mich jemand so sehr begehrte. Und dennoch ertappte ich mich wieder dabei, wie immer, daß ich meinem Partner Anweisungen erteilte, wie ich befriedigt werden wollte. Gerade durch diese Erfahrung fühlte ich mich leer und wütend und ohne jeden Respekt für noch einen Bürger dieser Stadt. Laura P.S. Auf dem Heimweg von Josie hatte ich eine entsetzliche Vision von der kleinen Danielle, die zu mir gerannt kam und mir erklärte, daß BOB sie besucht. Er hat ihr erzählt, ich hätte ihn zu ihr geschickt. Als die Vision zu Ende war, wurde mir klar, daß BOB mich seit über einer Woche nicht mehr besucht hat . . . Ich hoffe, daß es nur eine Vision war und nicht eine Vorahnung. Vielleicht sollte ich Danielle warnen . . .
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Liebes Tagebuch,
31. Oktober 1989
Halloween. Maske ist überflüssig. Blackies Schwester, Nancy, aus dem One-Eyed Jack's brachte mir meine Klamotten und das Geld, was sie mir schulden, verpackt in einem Plastikkürbis. Sie fragte, ob sie mich einen Moment draußen sprechen könnte, denn
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SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
Liebes Tagebuch,
ohne Datum
heute verbrachte ich den ganzen Nachmittag in Dr. Jacobys Büro. Er wollte mich sehen, um mit mir durchzugehen, was ich auf die Bänder gesprochen habe. Er wollte mehr über James Hurley erfahren, weil ich gesagt habe, daß ich seinetwegen vielleicht mit dem Koks aufhöre. Ich erzählte ihm, daß ich James schon seit langem kenne, wenn auch nicht so gut. Und ich sagte ihm, daß ich mich in James' Klarheit und Reinheit verliebt habe und in die Vorstellung, daß er mich, wenn ich stark genug bin, aus dieser Finsternis führen könnte. Ich erklärte, daß wir unsere Beziehung nur deshalb geheimhalten, weil ich es so wollte. Donna weiß davon. Aber wir drei sind alte Schulfreunde, deshalb wird sie Bobby bestimmt nichts verraten. Ich erzählte Dr. Jacoby auch, wie hart es in letzter Zeit für mich gewesen ist, alles zog sich um mich zusammen, und mir wurde schließlich klar, daß James mein letzte Chance war, in hellere Zonen zurückzukehren. Ich komme mir wie eine Betrügerin vor, gestand ich, obwohl ich doch Schülerin des Jahres geworden bin. Ich mußte so viel verbergen hinter meinem Lächeln auf den Fotos und beim Football-Spiel. Noch immer fühlte ich die Hände und Lippen der Männer auf mir, mit denen ich noch wenige Stunden vorher zusammen war. Ich sagte ihm, ich hätte noch dasselbe Höschen angehabt, falls BOB käme. Ich hatte das Gefühl, die Schule, die Stadt und die ganze Welt machten sich über mich lustig, indem sie mich zur Schülerin des Jahres wählten . . . Wie konnte es ihnen entgangen sein, daß ich beinahe im Schmerz ertrank? Wie konnten sie nur ein derartiges Spektakel veranstalten und mich andauernd auffordern zu lächeln, wieder und wieder und wieder! Beim Spiel war Bobby der Held, der er sein wollte, aber von der Tribüne aus konnte ich ihn auf dem Platz kaum ausmachen. Alles schien so weit weg und gedämpft, als ob das Blut, das durch meinen Kopf rauschte, alle Geräusche auslöschte, außer meinem Herzklopfen und meinem Atem, der schwer und unregelmäßig ging. 227
Ich erzählte ihm von meinen entsetzlichen Alpträumen. Alle handeln sie vom Wald, den Wegen, Bäumen, Fußspuren, den Schreien einer Eule . . . Ich habe den Tod gespürt in diesen Träumen, aber auch die Lust. Lust, wie ich sie kannte, als sie noch neu für mich war und noch nicht erschöpft und ausgelutscht und nur noch durch Gewalt stimuliert. Ich hatte einen Traum, den schlimmsten, vom Wasser. In dem Traum stand ich am Rand des Wassers, und der Himmel war ganz dunkel, aber in seiner Spiegelung auf dem Wasser war er voller weißer Wolken und tiefblau. Ich erinnere mich, in dem Traum gedacht zu haben, wenn ich reinspringe und nur weit genug schwimme, dann komme ich vielleicht in einer anderen Welt an, die nicht so voller Schlechtigkeit ist . . . so voller Haß. Als ich hineinsprang, erinnere ich mich, daß ich die halbe Länge des Sees durchschwamm . . . ich glaube, es war ein See — nur um dann von einer Hand hinuntergezogen zu werden, einer Hand, die mein Handgelenk packte und mich tiefer und tiefer und tiefer zog. Ich sagte ihm, daß sie es für die Hand von BOB hielt. Ich erzählte Dr. Jacoby, daß es beim letzten Mal, als ich mich mit Jacques und Leo traf, ziemlich unschön war. Wir hatten herumgealbert, und sie hatten mich an den Stuhl gefesselt, aber plötzlich bekam ich dieses klaustrophobische Gefühl . . . fühlte mich so eingeengt. Ich bekam Panik und fing an zu hyperventilieren und versuchte zu erklären, was los war, aber ich hatte Schwierigkeiten zu sprechen, und niemand erkannte, daß es mir ernst war. Mir wurde schwindlig, und vor meinen Augen blitzte es, und schließlich gelang es mir, sie anzuschreien, sie sollten aufhören. Das war nicht okay . . . mir ging es nicht gut. Wir hatten dieses Spiel gespielt, das wir oft spielen, worin ich in einer Blockhütte gefangen bin, weit weg von jeder Hilfe. Ich bin eine Jungfrau, und sie sind Männer, die aus einem fremden, erotischen Land zu mir geschickt worden sind, um mich zu entjungfern und mich dafür zu bestrafen, daß ich mich gegen sie gewehrt habe. Leo hörte also, wie ich sagte, es sei nicht okay, aber er hielt es für einen Teil des Spiels und sagte: »Oh, hat die kleine Jungfrau etwa Angst?« So ging es weiter, und ich fing an, mit dem Stuhl 228
hin und her zu schaukeln, und ich glaube, Leo fuhr voll darauf ab, ebenso wie Jacques. Leo drehte ein bißchen durch und schlug mich, hart . . . zu hart. Mir dröhnten die Ohren. Ich fing an zu heulen. Erst da sagte Jacques: »Warte einen Moment, sie ist nicht okay.« Sie banden mich los, und ich rannte ohne ein Wort nach Hause. Leos Ohrfeige hatte einen häßlichen blauen Fleck auf mei ner Backe hinterlassen. Ich mußte meinen Eltern erzählen, den schrecklichen schwarzen und blauen Fleck hätte ich mir zugezogen, als ich ein Tablett aus Harolds Wohnung trug. Ich erzählte Dr. Jacoby, daß ich Donna vermisse und mir wünschte, sie und Ronnette würden sich mögen. Ich wünschte, wir könnten alle Freunde sein, damit ich vor niemandem etwas zu verbergen hätte. Ich erzählte ihm, wie ich letzte Woche zu Harold ging, total auf Koks, und was für eine Angst ich ihm einjagte, als ich ihn hart bedrängte. Und dann, hauptsächlich, weil er sein Haus nicht verlassen konnte, zwang ich ihn zum Geschlechtsverkehr mit mir. Ich sagte Dr. Jacoby, daß ich danach stundenlang geheult habe, weil ich mir so schrecklich gemein vorkam. Harold brauchte fast eine ganze Stunde, bis er wieder mit mir sprechen konnte, weil ich ihm solche Angst gemacht habe, sogar in seinem eigenen Haus , seiner einzigen Zuflucht. Und dann erzählte ich Dr. Jacoby, daß ich es zum einen gehaßt habe, es mich aber auch stark gemacht und mir ein heißes Gefühl zwischen den Beinen gegeben hat. Als ich Harold verließ, sah mich Mrs. Tremonds Enkel, Pierre, und kam zu mir, zog eine Goldmünze aus meinem Ohr und ging weiter. Ich sagte ihm, daß BOB immer näher kommt und ich so gut es geht versuche, über ihn zu schreiben, um rauszukriegen, was er war, wer er war, bevor er zu mir gelangte. Ich habe so viel über ihn in me in Tagebuch geschrieben, in Träumen und Gedichten, und jedesmal, wenn ich das tat, sah ich ihn an meinem Fenster oder fühlte ihn kommen, aber ich war nicht sicher, ob das Paranoia war . . . Ich wollte doch nur normal sein. Ich will wie alle anderen sein. Ich finde es furchtbar, 229
aufpassen zu müssen, mit wem ich rede, weil man mich hassen könnte, wenn die Wahrheit über mich rauskäme — wie schmutzig ich bin. Und wie ich irgendwie, ich weiß nicht mehr genau, aber irgendwie jeden Tag darum bat, so behandelt zu werden. Es geschieht immer, also muß es etwas sein, das ich nicht bewußt sage oder bewußt denke. Ich erzählte ihm, wie ich zu meinem Bankschließfach ging und das Drogengeld dort sah und eine Phantasie hatte, es einfach zu nehmen und damit für immer davonzulaufen. Aber ich habe das nicht verdient. Ich habe etwas Schlimmes getan. Mein Herz tat so entsetzlich weh, aber ich wußte, daß ich bleiben mußte. Ich nahm die Zuschriften auf meine Anzeige in Fleshworld mit nach Hause und blieb die ganze Nacht auf und steckte Fotos von mir und Höschen in Briefumschläge . . . und wie ich immer mehr Koks brauchte, um high zu sein und nicht zusammenzubrechen und zu heulen, denn ich wollte nicht, daß irgendwer mein Schluchzen hört, weil es sie sowieso nicht interessiert. Nie interessiert hat. Küßchen, Laura
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SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
SEITE HERAUSGETRENNT (so vorgefunden)
Liebes Tagebuch,
ohne Datum
ich weiß, wer er ist. Ich weiß genau, wer und was BOB ist, und ich werde es allen erzählen müssen. Ich werde es jemandem erzählen müssen, so daß alle es glauben. Jemand hat Seiten aus meinem Tagebuch herausgerissen, Seiten, die mir vielleicht helfen zu erkennen . . . Seiten mit meinen Gedichten, vollgeschriebene Seiten, intime Seiten. Ich habe solche Angst vor dem Tod. Ich habe solche Angst, daß mir niemand glauben wird, bis ich den Platz eingenommen habe, den jemand für mich freigehalten hat in der Finsternis. Bitte haßt mich nicht. Ich habe die kleinen Hügel und das Feuer nie absichtlich gesehen. Ich habe ihn nie absichtlich gesehen oder reingelassen. Bitte, Tagebuch, hilf mir, allen zu erklären, daß ich nicht so werden wollte, wie ich geworden bin. Ich wollte bestimmte Erinnerungen an ihn und bestimmte Erkenntnisse über ihn niemals haben. Ich habe nur getan, was jeder von uns tun kann, in jeder Situation . . . Mein Bestes. Küßchen, Laura P.S. Ich gebe Dich Harold zur sicheren Verwahrung. Ich hoffe, ich sehe Dich wieder. Ich kann nicht mehr clean bleiben. Ich kann einfach nicht. Ich muß betäubt sein.
DIES WAR LAURAS LETZTE EINTRAGUNG. NUR WENIGE TAGE SPÄTER WURDE SIE TOT AUFGEFUNDEN.
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A TWIN PEAKS A
FBI-Agent Dale B. Cooper Mein Leben, meine Aufzeichnungen Eine Biographie Aufgeschrieben von Scott Frost Wer ist dieser Mann, der als Spezialagent beim FBI die spektakulärsten Fälle zu lösen hat? Wie verlief sein Leben bis zu dem Tag, an dem er zur Auflösung eines mysteriösen Mordes in das kleine Städtchen Twin Peaks entsandt wurde? Die Autobiographie des Agenten Dale B. Cooper beschreibt das Leben eines Mannes, der auszog, das Böse zu besiegen und der im privaten und beruflichen Leben immer wieder vor Abgründen steht . . .
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