TIM SULLIVAN
DAS GEHEIME EXPERIMENT
Aus dem Amerikanischen von Monika Paul
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstausgabe Or...
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TIM SULLIVAN
DAS GEHEIME EXPERIMENT
Aus dem Amerikanischen von Monika Paul
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstausgabe Originaltitel: The New England Resistance A Tom Doherty Associates Book, New York
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 6/90 • 1. Auflage © 1985 by Warner Bros. Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23628 Redaktion: Gundel Ruschill/SK Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23628-2
Der Krieg zwischen den Visitors und der Widerstandsbewegung wird immer brutaler. Eines Tages kommt ein Fremder in die kleine Stadt in Neuengland. Er stellt sich freiwillig für ein geheimes Experiment zur Verfügung, das der Biochemiker Dr. Randall Brunk durchführen will. Dr. Brunk hat ein neuartiges Toxin – und ein entsprechendes Gegengift – entwickelt, mit dessen Hilfe die Erde endgültig vom Terror der Visitors befreit werden soll. Bald stellt sich heraus, daß der Fremde selbst ein Visitor ist! Aber er beteuert, den Menschen nicht feindlich gesinnt zu sein. Pythias Day, ein Fischer aus dem Ort, glaubt dem Visitor und riskiert sein Leben, um ihn zu retten. Beide finden sich auf einer einsamen, verwilderten Insel als Objekte einer todbringenden Jagd wieder – angeführt von einem der grausamsten Anführer der Visitors…
Für Mike Dirda
DER VERRÄTER
Am höchsten Punkt der Klippe, dort, wo die Straße eine scharfe Wendung machte, verhielt das Raumschiff. Aus seinem schnabelartigen Bug zischte jetzt eine Salve blauen Laserfeuers. Der erste Wagen fing Feuer, kam ins Schleudern und stürzte über den Rand der Klippe. Man hörte die Schreie der in ihm sitzenden Männer, als sie in den Tod stürzten. Pythias beobachtete starr vor Entsetzen das grauenvolle Geschehen. Er wartete darauf, daß es auch noch das letzte Auto erwischte. Aber das war weit genug hinter den anderen zurückgeblieben, so daß sein Fahrer rechtzeitig hatte stoppen können. Fünf Männer stiegen aus, und alle bis auf einen begannen, die Straße zurückzurennen. Einer nach dem anderen wurden sie von Lasersalven niedergemäht. Nun gab es nur noch einen Überlebenden. Der Mann stand da und schaute zum Raumschiff hinauf. Pythias erwartete, daß sie auch ihn töten würden, als das Raumschiff zu seiner Überraschung plötzlich von der Klippe abdrehte und über den Ozean davonschwebte, ohne daß auch ein einziger Schuß auf den einsamen Mann abgegeben worden wäre. Und jetzt wußte Pythias auch, wer es war…
Kapitel 1
Obwohl es noch Nachmittag war, fielen schon dunkle Schatten auf die Theke und Tische in Mikes Kneipe. Der Wirt und seine trinkfreudigen Gäste, Hummerfänger und Jäger, schauten mißtrauisch hoch, als sich die Tür zum Schankraum öffnete. Ein Mann trat ein, blinzelte in den dunklen Raum und schritt zum Ende der Theke. »John?« fragte er. »John Ellis, sind Sie das?« »Genau«, antwortete eine tiefe Stimme. »Was kann ich für dich tun, Phil?« »Da ist gerade ein Fremder aus dem Bus gestiegen.« »Viele Fremde kommen nach Cutters Bucht, besonders im Herbst. Gute Zeit zum Jagen.« »Aber nicht dieser Typ. Er hat nach Doktor Brunk gefragt.« Einen Augenblick lang sprach niemand. Dann hörte man schwere Stiefelschritte und das Klacken von Gewehrschäften auf Holzboden. Die Männer hatten ihre Drinks abgestellt und sich erhoben. »Wo ist er jetzt?« wollte John Ellis wissen. »Zuletzt sah ich ihn die Union Street hinuntergehen, Richtung Main.« Ellis ging voran, die Jagdmütze auf dem wallenden blonden Haar; sein massiger Körper füllte die Eingangstür aus. Draußen luden die Männer ihre Gewehre und entsicherten sie, irgendwie ernüchtert durch die salzige Luft. Sie liefen einen mit Holzbohlen ausgelegten Fußweg entlang bis zur nächsten Ecke.
Jetzt sah man das Meer, verfallene Hafenanlagen und eine Konservenfabrik am Ufer. Auf der Main Street ging ein einzelner Mann. »Hallo!« schrie Ellis. »Sie da!« Der Mann drehte sich nach ihnen um. Er war etwa Mitte Dreißig, dünn, hatte eine große Nase und eine sorgenvoll gefurchte Stirn. Als sie näher kamen, blieb er stehen und erwartete sie offenbar. Und schon war er umringt vom bewaffneten Mob. Fünfzehn Männer beobachteten ihn äußerst mißtrauisch, während ihr Anführer Ellis ihn ausfragte. »Was wollen Sie hier?« war seine erste Frage. »Hier wollen?« Der Fremde sprach mit einem merkwürdigen Akzent. »Ich buche nach Doktor Randall Brunk.« »Was? Buche? Sie meinen, Sie suchen Doktor Brunk?« »Ja, suche. Richtig. Können Sie mir helfen, ihn zu finden?« Ellis ignorierte seine Frage. »Woher kommen Sie?« forschte er statt dessen weiter. »Los Angeles.« Nachdem er den Anorak, die Hose und die blankgeputzten Schuhe des Fremden eingehend inspiziert hatte, meinte John Ellis: »Sie sehen zu normal aus, um aus L. A. zu sein.« »Aber nicht doch, dort komme ich – « Wütend grabschte Ellis nach seinem Kragen. »Na, dann wollen wir uns dieses Gesicht doch mal näher ansehen.« Der Fremde wehrte sich nicht, als zwei Männer ihn von hinten an den Armen packten. »George«, befahl Ellis, »halt mein Gewehr.« Der Angesprochene nahm das Gewehr, und Ellis wandte sich wieder dem Fremden zu. »Schauen wir mal, was wir da haben.« Er packte den Mann unterm Kinn und zog daran. Die Haut gab sofort nach und blieb in Ellis’ Hand.
Dort, wo sich die Haut des Fremden befunden hatte, lief jetzt ein langer scharfer Riß über sein Kinn. Grünes, schuppiges Fleisch wurde sichtbar, doch der Fremde blieb weiter ruhig. Sein Verhalten verfehlte nicht seine Wirkung. Früher waren die Männer außer sich gewesen, wenn es ihnen gelungen war, einen Visitor gefangen zu nehmen, aber diesmal blieben sie ruhig. »Ich bin nicht euer Feind«, erklärte der Alien. »Nee, natürlich bist du das nicht«, höhnte einer der Männer. »Du bist wie wir.« »Wenn du nicht unser Feind bist«, meinte Ellis, »wer ist es dann?« »Ich gebe zu, daß meine Leute eure Feinde sind«, erklärte der Visitor, »aber ich bin es nicht. Ich bin hierhergekommen, um Doktor Brunk zu helfen.« »Ihm zu helfen? Soweit wir wissen, arbeitet er an einem neuartigen Gift, das euch Lizards ausrotten wird. Wieso willst ausgerechnet du ihm dabei helfen?« Der Visitor wollte weiter erklären, aber das Geschrei der Männer übertönte seine Worte. Man schubste ihn brutal vorwärts in Richtung Rathaus. Zu beiden Seiten der Straße wurde das Ereignis aus aufgerissenen Fenstern und Türen neugierig verfolgt. Beim Rathaus angelangt, traf man in aller Eile Vorbereitungen, um den Visitor zu lynchen. Die sich versammelnde Menge wuchs. Schon stand der Alien mit einer Schlinge um den Hals auf einer Holzkiste. Die Menschenmenge tobte und schrie nach Blut. »Also, Herr Lizard«, höhnte Ellis über den Lärm hinweg, »haben Sie auch einen Namen?« »Ich werde Willie genannt«, erklärte der Visitor. Grüne Schuppen glitzerten dort, wo seine menschliche Hautmaske eingerissen worden war.
»Dann bete noch ein letztes Mal, Willie – falls ihr Heiden überhaupt so etwas wie ein Gebet kennt.« Ein stämmiger Mann näherte sich in deutlicher Absicht der Holzkiste. In diesem Moment begann Willie etwas in seiner Aliensprache zu singen, krächzend und doch sehr melodisch und für jeden Erdbewohner ganz und gar fremdartig. Die Menge wurde plötzlich still; die Menschen standen wie versteinert. So etwas Seltsames hatten sie noch nie zuvor gehört; es schien unwirklich, geradezu magisch zu sein. Der Gesang endete genauso abrupt, wie er begonnen hatte. Alle schienen sehr bewegt zu sein. Einige aus der Menge gingen zurück zu ihren Häusern; sie schienen jedes Interesse an der Hinrichtung verloren zu haben. »In Ordnung«, sagte John Ellis schließlich, als ihm wieder bewußt wurde, daß er hier ja schließlich das Kommando hatte, »er hat sein Gebet gesprochen. Wilbur, stoß die Kiste um.« Der stämmige Mann hob einen Fuß. Alle warteten auf das Ende, nun aber ohne die Blutgier, die sie noch wenige Augenblicke zuvor empfunden hatten. Plötzlich hörte man einen gewaltigen Schuß über das Meer donnern und durch die Stadt hallen. »Wenn du diese Kiste umstürzt, Wilbur«, rief eine Stimme, »dann bist du ein toter Mann.«
Kapitel 2
Ein alter Mann mit einem langen braunen Bart bahnte sich einen Weg durch die Menge, das Gewehr auf Wilbur, den Henker, gerichtet. »Stoß die Kiste um, Junge, und es wird zwei Tote geben.« Wilbur wich zurück, die Arme bittend ausgebreitet. Dann verschwand er in der Menge. »Was zum Teufel machst du da, Pythias?« fragte John Ellis. »Was glaubst du, was du hier tust, Ellis?« gab der alte Mann zurück. »Hat dich dein Vater nichts Besseres gelehrt, als einen Mann ohne faire Verhandlung zu hängen?« »Das ist kein Mann, Pythias. Schau ihn dir doch an.« Pythias Day blickte Willie an. »Ich sehe ihn.« Sein Gewehr blieb auf John Ellis gerichtet. »Verdammt noch mal, Pythias, du weißt ganz genau, was seine Leute uns angetan haben.« »Ihn einfach aufzuhängen«, bemerkte Pythias, »stellt dich mit den Visitors auf eine Stufe.« Die Menge murmelte zustimmend. »Laßt ihn runter«, befahl Pythias Day. Einige Sekunden lang zögerte John Ellis, nickte dann aber einem seiner Männer zu. Der stieg auf die Kiste und nahm Willie den Strick vom Hals. Der Alien sprang auf den Boden und sah Pythias Day direkt in die Augen. Sanft schien der Alte nicht zu sein, er hatte nur einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. »Ich danke dir«, sagte Willie. »Noch brauchst du dich bei mir nicht zu bedanken. Zunächst einmal erwarte ich eine Erklärung.«
»Natürlich«, erklärte sich Willie bereit. Dann erzählte er, daß er auf der Suche nach Dr. Brunk sei, genauso wie er es den anderen schon gesagt hatte. »Wozu?« fragte Pythias Day mißtrauisch. »Ich diene sozusagen als Kontrolle für ein Experiment mit einem neuartigen Toxin.« »Als Kontrolle? Wenn ich recht verstehe, bist du hierhergekommen… um als Versuchskaninchen herzuhalten.« Willie erwiderte darauf nichts. »Gut, wenn das wahr sein sollte, dann stehen wir alle hier in deiner Schuld. Und wenn nicht…« »Und wie sollen wir das rauskriegen?« überlegte John Ellis laut. »Wenn du bloß nicht so ein verdammter Hitzkopf wärst, John«, erregte sich Pythias, »dann hättest du genau das längst in Erfahrung bringen können.« Stirnrunzelnd sah er den jüngeren Mann an. »Ich werde ihn jetzt zu Brunk bringen, und dann werden wir ja wissen, ob an seiner Geschichte etwas Wahres ist.« »Und was, wenn er so eine Art Spion ist?« »Nun, er weiß ja offenbar sowieso schon, was der Doc in seinem Labor entwickelt, also wird er keine großen Geheimnisse herausfinden. Und wenn er gelogen hat, lochen wir ihn ein.« »Du redest, als wärst du der Sheriff«, höhnte Ellis. »Gestern hat mich der Bürgermeister vereidigt, John. Ich vermute, du warst zu sehr mit deinen Drinks beschäftigt, um mitzukriegen, was hier los war, seit Sheriff Evans letzte Woche ermordet wurde.« Ellis starrte ihn einen Augenblick lang an und dann auf seine Stiefel. »In Ordnung, Pythias, du hast gewonnen.« Der alte Mann klopfte Ellis auf die Schulter. »Ein guter Mann kann zugeben, daß er sich geirrt hat«, sagte er ernst.
»Und du brauchst keine Hilfe, diesen Kerl zu Brunk zu bringen?« wollte Ellis noch wissen. »Nein, nein, ich krieg’ das schon hin.« Die Menge ging auseinander, zurück blieben nur Ellis, Pythias Day und ihr Gefangener. Dann machte sich auch Ellis achselzuckend aus dem Staub. Day gestikulierte mit seinem Gewehr, und Willie begann in die angedeutete Richtung zu gehen. Nur ein paar hundert Meter weiter erreichten sie ein weißes, reichverziertes Haus im viktorianischen Stil mit einem großen überdachten Portal. Im Hof parkte ein Jeep. Day deutete auf den Jeep, und der Visitor stieg ein. Der Alte setzte sich auf den Fahrersitz und kramte in seiner Jackentasche, bis ein Schlüssel zum Vorschein kam. Er startete den Jeep und fuhr aus dem Hof hinaus. Während sie die Main Street hinunterfuhren, fragte Day den Alien nach seinem Namen. Willie sagte es ihm und fügte hinzu: »Vielen Dank, daß Sie mir das Leben gerettet haben.« »Ich habe es nicht gerettet«, erwiderte Day. »Ich habe lediglich deine sofortige Hinrichtung verhindert und ein paar Tage rausgeschunden.« »Sie werden bald wissen, daß ich die Wahrheit sage«, versprach Willie voller Zuversicht. »Wir werden ja sehen.« Pythias Day fuhr jetzt eine zweispurige, sich in vielen Kurven um riesige Felsbrocken aus der Eiszeit windende Straße entlang, so gekonnt, als ob er sie schon tausendmal gefahren wäre, und das war er auch. Willie bestaunte die Landschaft. Er fand diesen Planeten Erde immer noch wunderschön, obwohl so viel seiner natürlichen Schönheit von den Menschen selbst zerstört worden war. Wenn man diesem Planeten sein ganzes Wasser nehmen würde, wäre es zu Ende
mit seiner jetzigen Pracht. Auch moralisch gesehen war es in keiner Weise zu rechtfertigen, der Erde ihren Lebenssaft zu entziehen, auch wenn man dadurch den eigenen Planeten retten sollte. »Du standest ganz schön cool auf der Kiste«, mußte Pythias zugeben. »Es sah aus, als hättest du gar keine Angst vorm Tod.« »Wenn für die Seele die Zeit gekommen ist, den Körper zu verlassen, dann muß man sich fügen. Außerdem lehrt das preta-na-ma, daß es kein wirkliches Ende für die Seele gibt.« »Das preta-na-was?« fragte Day und fuhr mit 60 Sachen in eine Haarnadelkurve. »Das preta-na-ma. Eine alte Glaubenslehre, die jetzt auf meinem Heimatplaneten verboten ist.« »Nun, was immer es auch sein mag, du scheinst daraus viel Kraft zu schöpfen.« Der Jeep fuhr hoch oben eine Klippe entlang, unten schimmerte das Meer wie ein leuchtender Edelstein. Einige Minuten später hatten sie den höchsten Punkt der Klippe erreicht, von dem aus man weit über das Meer und über Cutters Bucht und die Inseln vor der Küste sehen konnte. Pythias fuhr den Jeep auf einen kleinen Parkplatz, der jetzt, zur Nachmittagszeit, leer war. Weiter hinten erhoben sich einige lange, einstöckige weißgetünchte Gebäude. Er schaltete den Motor aus und starrte hinüber zu den Häusern. Alles war still. »Das sind Brunks Laboratorien, Willie«, erklärte er. »Aber es sieht so aus, als ob niemand da wäre.«
Kapitel 3
»Vielleicht hat außer den Leuten vom Widerstand noch jemand von Doktor Brunks Arbeit gehört«, vermutete Willie. Day strich sich über den Bart und schaute Willie an, als ob er herausfinden wollte, ob dieser ihn mit seiner Bemerkung auszutricksen versuchte. »Vielleicht hast du recht«, sagte er schließlich. »Laß uns nachsehen.« Sie stiegen aus dem Jeep aus und gingen auf die Laboratorien zu. Bis auf die Geräusche des Windes und die Schreie der Möwen war es völlig ruhig. Day hielt sein Gewehr wie ein neugeborenes Baby im Arm, den Finger am Abzug. Sie lugten in die Fenster eines der Häuser. Nichts bewegte sich innen, es gab nur lange Reihen von Tischen und Spülbecken, Regale mit Glasgefäßen und verschlossene Türen. »Merkwürdig«, meinte Pythias, »langsam beginne ich mich zu fragen, ob es noch ein Zufall ist, daß ausgerechnet an dem Tag, wo du hier eintriffst, dieser Ort hier wie leergefegt ist.« »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, betonte Willie. »Die Widerstandsbewegung hat mich hierhergeschickt, damit Doktor Brunk mit mir arbeiten kann.« »Haben sie dein Kommen telegrafiert?« »Ich denke schon.« »Dann könnte jemand anders diese Botschaft gelesen haben«, überlegte Pythias. »Deine Leute legen gern wissenschaftliche Einrichtungen lahm.« »Das stimmt. Aber ich glaube, hier geht es nicht darum.« »Und warum nicht?« Pythias griff in eine Jackentasche und zog ein Päckchen Kautabak heraus. Er biß ein ordentliches Stück ab und bot es dann dem Visitor an.
Willie lehnte dankend ab und erklärte ihm dann seine Überlegungen. »Mir scheint, daß dieser Gebäudekomplex ganz einfach ordnungsgemäß verschlossen wurde. Die Menschen, die hier arbeiteten, haben diesen Ort bewußt verlassen, vielleicht weil sie davon ausgingen, daß meine Leute schon nach hier unterwegs sind.« »Wie kommt es, daß du das nicht schon eher gewußt hast, Willie?« Mürrisch betrachtete Pythias den Außerirdischen. »Ich bin inkognito gereist, mit dem Bus von Boston. Das wurde so geplant, damit ich keinen Verdacht erregte. Seit ich Los Angeles verließ, hatte ich keinerlei Kontakt mehr zur Widerstandsbewegung.« Pythias dachte einige Augenblicke lang über seine Worte nach. »Hört sich sinnvoll an«, murmelte er schließlich. »Und du weißt, was noch sinnvoll ist, Willie?« Willie schüttelte den Kopf. »Daß wir hier lieber abhauen sollten. Vielleicht tauchen die Visitors hier jeden Moment auf.« »Ich glaube, dazu ist es zu spät«, seufzte Willie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Was?« Pythias starrte Willie in seine blauen Augen, aber der Alien blickte ihn nicht an. Über die Schulter des Alten hinweg sah er nach oben in den Himmel. Langsam drehte sich Pythias um, und das, was er dann sah, hatte er gehofft nie wieder sehen zu müssen seit dem letzten Gemetzel vor ein paar Tagen, bei dem der bisherige Sheriff getötet worden war. Es war ein Visitor-Raumschiff, das über der Klippe schwebte. »Verdammt«, stöhnte Pythias. Suchend blickte er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch da stürzten bereits mehrere rotgekleidete Visitors ohne ihre menschlichen Masken hinter den Büschen eines der Nebengebäude hervor. Alle zielten mit Laserwaffen auf Pythias und Willie.
»Willie, ich hoffe, ich werde dem Tod genauso mutig ins Auge sehen können wie du heute nachmittag.« Mit diesen Worten richtete Pythias sein Gewehr auf den nächststehenden Visitor und schoß ihn nieder. Aber der Visitor erhob sich wieder, seine kugelsichere Weste hatte den Schrotflintenschuß abgewehrt. Gelassen lud Pythias nach, legte von neuem an und schoß, und wieder stürzte ein Visitor zu Boden. Und so ging es weiter bis zur letzten Patrone. Das Raumschiff der Visitors landete jetzt auf dem kleinen Parkplatz, und weitere Außerirdische kletterten aus der Eingangsluke. Pythias war etwas enttäuscht, daß es ihm nicht gelungen war, einen seiner Angreifer zu töten, andererseits aber auch zufrieden, daß es ihnen nicht gelungen war, ihn zu töten. »Jetzt reicht es, Mister Day«, sagte ein hochgewachsener Visitor, der auf der Rampe des Raumschiffes stand. »Nehmen Sie die Waffe runter.« »Die Hölle werde ich tun.« Pythias schwang sein Gewehr wie einen Baseballschläger. »Kommt nur, und ihr kriegt, was euch zusteht, ihr schleimigen Lizards.« Er sah Willie an. »Dich hab’ ich damit nicht gemeint.« »Hab’ ich auch nicht so verstanden.« Willie schritt auf den Visitorkapitän zu und sprach ihn an. »Trauen Sie diesem Mann nicht«, warnte er. »Außerdem wird er uns lebendig auf jeden Fall nützlicher sein als tot.« Pythias starrte Willie an, seine langen weißen Haarsträhnen wehten im Wind. »Und ich fing gerade an, dir zu glauben«, brüllte er, lief auf Willie zu und versuchte, ihn mit dem Gewehrkolben niederzuschlagen. Ein halbes Dutzend Visitorklauen grabschten nach dem alten Mann und entrissen ihm das Gewehr. Unter wilden Flüchen und Geschrei mußte er sich der Übermacht beugen und wurde weggeschleift.
Herrisch schritt der Anführer der Aliens jetzt die Rampe herunter. Er sprach Willie in der Sprache der Aliens an, doch das war nicht die Sprache des preta-na-ma, sondern kaltes militärisches Vokabular. »Wer bist du?« fragte er. Sich daran erinnernd, daß der Dorfsheriff erst vor knapp einer Woche ermordet worden war, vermutete Willie, daß es in dieser Gegend viele Kämpfe gegeben haben mußte. »Sie haben mich vor ein paar Tagen gefangengenommen«, erklärte er. »Vor wie vielen Tagen?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Willie. »Ich war in völliger Dunkelheit eingesperrt.« Der Kapitän starrte ihn durch seine dunklen Brillengläser lange an. »Du bleibst bei uns, bis ein Shuttle zum Mutterschiff zurückfliegt. Bis dahin unterstehst du meiner Befehlsgewalt.« Willie verneigte sich. »Wie lautet Ihr Auftrag hier?« Die Reptilienlippen des Kapitäns zitterten vor Vergnügen. »Wir sollen einen Menschen namens Doktor Randall Brunk finden.«
Kapitel 4
Willie war sich nicht sicher, wie lange er Ronald, den Visitorkapitän, noch zum Narren halten konnte. Eigentlich wußte er nicht mal sicher, ob ihm das überhaupt gelungen war. Ronald konnte ebensogut nur vorgeben, Willies Geschichte zu glauben, und den richtigen Augenblick abwarten, um mehr über die Widerstandsbewegung in Erfahrung zu bringen. Willie mußte so bald wie möglich hier verschwinden, und er mußte auch Pythias Day helfen, für den er sich verantwortlich fühlte. Schließlich wäre der Mann nie hierhergekommen, hätte er nicht Willies Leben in Cutters Bucht gerettet. Glücklicherweise hatte man Pythias nicht an Bord des Raumschiffes geschafft, sondern in einen kleinen Lagerraum – in Wirklichkeit war es eine große Toilette – in einem der Laboratoriumsgebäude eingesperrt. Der gesamte Gebäudekomplex war nach irgendeinem Hinweis auf das neue Toxin durchsucht worden. Brunks Laboratorien sollten jetzt als Kommandozentrale für die Okkupation der Küste Maines dienen, seine Computer die Streitkräfte der Visitors kontrollieren – ein Kommunikationsnetzwerk, wie es kein zweites in diesem Teil Neu-Englands gab. Dafür hatte Ronald gesorgt. Detailliert schilderte er dies alles Willie, während sie durch das größte der Laborgebäude schritten, und gelegentlich deutete er mit seiner Laserpistole auf Dinge, die, wie er meinte, von Interesse sein könnten. »Wieviel Leute, schätzt du, sind in der örtlichen Widerstandsbewegung?« fragte Ronald plötzlich.
Willie war auf diese Frage nicht vorbereitet. »Oh, vielleicht einige Dutzend, denke ich.« »Denkst du. Es wäre deine Pflicht gewesen, während deiner Gefangenschaft die Aktivitäten des Feindes zu beobachten. Und als loyales Mitglied unserer Spezies bist du dir dessen doch bewußt?« »Natürlich. Es sind ungefähr vierzig aktive Widerstandskämpfer.« Willie übertrieb nun, in der Hoffnung, dadurch irgendwelche Angriffspläne Ronalds auf die Stadt zu vereiteln. »Aber in der Bürgerwehr sind noch mehr ein paar hundert, vermute ich.« Ronald schwieg nachdenklich. Zweifellos war dies eine größere Anzahl, als er vermutet hatte. Wenn Willies Angaben stimmten, müßte er seine Pläne revidieren. »Wenn sie ihre Bürgerwehr zusätzlich mobilisieren«, überlegte er laut, »könnte es ihnen gelingen, unseren Stützpunkt hier einzunehmen. Das können wir auf keinen Fall zulassen.« Plötzlich wurde Willie klar, daß die falsche Information, die er Ronald gegeben hatte, möglicherweise dazu führen konnte, daß Ronald die Visitorstreitkräfte drastisch erhöhte. »Andererseits ist die Widerstandsbewegung davon überzeugt, die Okkupanten erfolgreich geschlagen zu haben, und daher sind sie im Moment recht unvorsichtig.« »Ach so, schon.« Ronald schien beruhigt zu sein. Willie atmete erleichtert auf. Cutters Bucht war für den Moment gerettet. Wenn das kein Glück war… Ronald deutete in Richtung Lagerraum, in dem Pythias Day gefangengehalten wurde. »Nicht mal unter der Folter hat uns der schrumplige Affe soviel erzählt wie du mir jetzt.« Willie hoffte, daß man ihm seinen Schreck nicht ansah. Jetzt, wo er wußte, daß Pythias gefoltert wurde, war es noch dringender geworden, dem Alten rasch zur Flucht zu verhelfen.
Er hatte zwar schon vermutet, daß sie auf diese Widerwärtigkeiten zurückgreifen würden, aber so schnell… Die Menschen dieser Gegend waren zäh, so daß der Visitorkapitän zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen mußte. Oder hatte er persönlich Freude daran, wenn andere gefoltert wurden? Willie hatte mit solchen Sadisten schon zu tun gehabt, und schnell verdrängte er den Gedanken, was Ronald wohl mit ihm anstellen würde. Der Visitorkapitän schien aber offenbar nicht an seiner Loyalität zu zweifeln. Er mußte handeln, bevor Ronald seine Meinung über ihn ändern konnte. »Vielleicht sollte ich einmal mit dem Gefangenen sprechen«, schlug Willie vor. »Ich hatte mir eigentlich überlegt, ihn nicht zu töten, sondern konvertieren zu lassen«, grübelte Ronald. »Aber vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, wenn du ihn dir erst mal vornimmst.« »Ja, ich glaube, er fing gerade an, mich richtig zu mögen. Diese Menschen sind wirklich zu sentimentale Wesen, meinen Sie nicht auch?« »Richtig. Sehr sonderbare Wesen. Versuch mit ihm ins Gespräch zu kommen.« Ronald gab seiner Wache die Anweisung, die Lagertür aufzusperren, und Willie trat in den Raum, der völlig im Dunkeln lag. Pythias sah ihm blinzelnd entgegen, geblendet durch den plötzlichen Lichteinfall. »Was willst du denn hier?« zischte er. »Nur mal mit Ihnen plaudern.« Ein Licht wurde hereingebracht, dann schloß sich die Tür. Willie wartete einen Moment, ging dann näher auf Pythias zu und flüsterte: »Ich will Ihnen helfen.« »Du hilfst mir, wenn du hier abhaust.« Pythias drehte sein Gesicht zur Wand.
»Es war wirklich nicht meine Schuld«, erklärte Willie. »Auch wenn es für Sie so aussieht, als hätte ich Sie in eine Falle gelockt.« Pythias’ Gesicht war zornesrot. »Was weiß ich denn. Alles, was ich weiß, ist, bevor du hier ankamst, sind wir mit den Visitors selber fertig geworden, und sie hatten keine Ahnung, was Doktor Brunk hier oben macht. Und jetzt ist dieser Platz übersät mit ihnen.« Willie war klar, daß er Pythias niemals von seinen guten Absichten überzeugen würde, wenn es ihm nicht bald gelang, den Alten zu befreien. Er grübelte von neuem, wie er das anstellen sollte. Dann seufzte er, erhob sich und klopfte an die Tür des Lagerraums. Ein Wachposten öffnete und trat gelangweilt zur Seite, um Willie vorbeizulassen und die Tür wieder zu verriegeln. Willie griff den Wachposten an, indem er seinen Kopf senkte und ihn genau in Höhe des Zwerchfells dem Soldaten in den Bauch rammte.
Kapitel 5
Der Visitor stürzte rückwärts in ein Regal, Glasgefäße fielen herunter und zerbrachen auf dem Betonfußboden. Seine Laserpistole landete mitten in dem zerbrochenen Glas und wurde von Willie rasch aufgenommen. Er wandte sich zu Pythias um. »Lauf!« brüllte er. Pythias kam mit einer für sein Alter erstaunlichen Geschwindigkeit herausgerast. Als er Willie erreicht hatte, hörten sie draußen Rufe. »Tut mir leid, daß ich dir nicht geglaubt habe«, murmelte Pythias. Willie reichte ihm die Laserpistole. »Hau ab!« schrie er. Pythias rannte zur Tür. Ein Strom blauen Laserfeuers versengte sein Haar. Willie sah durch die Fenster weitere Wachen heranstürmen, während Pythias noch am Türschloß rumfummelte. Im nächsten Moment jedoch war er schon draußen. Er atmete tief die klare salzige Luft und rannte zu seinem Jeep, der immer noch auf dem Parkplatz stand. Im Laufen sah er nur zwei rot Uniformierte. Noch hatten sie ihn nicht entdeckt, und seine Chancen standen gut, vorausgesetzt es gelang ihm, den Laser richtig zu handhaben. Auf den ihm am nächsten Stehenden zielend, betätigte er den Abzug. Er traf den Visitor direkt in den Rücken, und eine Klauenhand griff nach dem tiefen Loch, das sich in den Körper gebrannt hatte. Die Schreie des Verwundeten ließen seinen Begleiter erstaunt aufblicken. Pythias rannte, einen zweiten Laserstrahl abfeuernd, auf ihn zu. Der Visitor fiel mit zerschossenem Kopf zu Boden.
Sekunden später hatte Pythias seinen Jeep erreicht und sprang hinein. Im selben Moment wurde das Fahrzeug von einem Laserstrahl getroffen, der auch Pythias die Hand versengte. Er duckte sich im Fahrersitz und tastete nach dem Zweitschlüssel, den er unter der Fußmatte versteckt hatte. Ein nächster Feuerstoß zischte knapp am linken Vorderreifen vorbei. Wenn sie einen der Reifen erwischen sollten, hätte er keine Chance mehr. Er fand den Schlüssel; es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er ihn in das winzige Zündungsschloß gefummelt hatte. Als er aufblickte, war der Parkplatz voller roter Uniformen. Gleich würden sie ihn erreicht haben. Pythias startete, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr, sich nochmals umdrehend, aus dem Parkplatz heraus. Laserblitze schossen über ihn hinweg; ein Geschoß ließ die trockenen Nadeln einer Pinie herabrieseln. Pythias fuhr im Zickzack die schmale Küstenstraße hinunter. Nach der nächsten Kurve wußte er, daß er außer Sichtweite war. Zweifellos würden sie jetzt das Raumschiff auf ihn hetzen, aber er konnte versuchen, sie in die Irre zu führen. Er kannte ein paar dunkle Wege durch den Wald; die waren so überwuchert, daß die Visitors kaum eine Chance hätten, ihn zu beschießen. Pythias fuhr jetzt so schnell, daß jede Straßendelle den Jeep abheben ließ. Er bremste nur, wenn er in eine Kurve fuhr, und er war mehrere Male nahe dran, ins Meer zu stürzen. Aber irgendwie gelang es ihm doch, auf der Straße zu bleiben. Wild entschlossen hielt er mit weißknochigen Händen das Lenkrad umklammert. Er hatte den halben Weg schon hinter sich, als ein Schatten den Jeep überflog. Blaue Lasergeschosse erzeugten einen wahren Hagel von Feisund Gesteinsbrocken. Einige kleinere Steine trafen Pythias am Kopf. Ein Helm wäre jetzt nicht schlecht, dachte er, aber sein Schädel schien einiges auszuhalten.
Als er eine gerade Strecke erreichte, drehte er noch mehr auf. Sie beschossen ihn jetzt von allen Seiten, und das Raumschiff schwebte beinahe direkt über ihm. Die Straße schlängelte sich zwischen riesigen Felsbrocken hindurch. Pythias fuhr wie ein Irrer weiter. Ein gewaltiges Lichtgeschoß blendete ihn, und kaum konnte er wieder sehen, mußte er sofort ausweichen, um den Jeep auf der Straße zu halten. Das Armaturenbrett fing an zu schmelzen und zu brodeln, der Laserstrahl hatte ihn nur um Haaresbreite verfehlt. Vor ihm tauchten jetzt die Wälder auf. Nur noch ein paar Sekunden… Das Laserfeuer wurde immer stärker. Die blauen Blitze prasselten nur so um ihn herum, aber verbissen kämpfte Pythias sich weiter. Plötzlich hörte er einen Knall, und der Jeep begann wild zu tanzen. Ein Reifen war getroffen worden. Pythias trat mit voller Wucht auf die Bremsen, aber auf der holprigen Straße gelang es ihm nicht mehr, den Jeep unter Kontrolle zu bringen; er kippte um, und Pythias wurde hinausgeschleudert. Wieder schlug ein Lasergeschoß in den Jeep ein und traf diesmal den Tank. Mit einem gewaltigen Knall explodierte er, und Autoteile und Geröll flogen in alle Richtungen. Über dem Wrack hatte sich jetzt eine dichte Rauchwolke gebildet, die Pythias die Sicht auf das Raumschiff nahm. Er war in einem Brombeerbusch gelandet, etwas zerkratzt, aber nicht weiter verletzt. Er stand auf, befühlte seine Gliedmaßen und begann die letzten Meter bis zum Wald zu laufen. Dann war er in die Dunkelheit des Waldes eingetaucht. Ab und zu verlangsamte er sein Tempo und sah zurück. Das Raumschiff war jetzt neben der Straße gelandet, und gleich
würde sich die Rampe öffnen. Gleich würde der Platz voller Visitors sein. Pythias lief tiefer in den Wald hinein. Hinter sich hörte er das krachende Feuer des brennenden Jeeps und die Schreie der ihm folgenden Wesen, fremde, harsche Stimmen, die etwas in einer unbekannten Sprache riefen. Der Alte kannte jeden Baum und jeden Strauch in diesen Wäldern, und das würde ihn jetzt retten. 67 Jahre hatte er hier gelebt. Hier würden sie ihn nie finden. Schweißüberströmt und schwer atmend rannte Pythias Day tiefer in den Wald hinein, und die Stimmen und Geräusche seiner Verfolger wurden leiser und leiser.
Kapitel 6
Willie wurde vor Ronald auf die Knie gestoßen. Der Visitorkapitän starrte durchdringend auf ihn herab. »Warum hast du mein Vertrauen mißbraucht?« wollte der Kapitän wissen. »Er hat mein Leben gerettet, als seine Leute mich gerade hängen wollten«, erklärte Willie. »Ich fühlte mich verpflichtet, für ihn das gleiche zu tun.« »Und was ist mit deinen eigenen Leuten. Empfindest du nichts für sie?« »Es ist nicht in Ordnung, daß wir gegen die Erdbewohner Krieg führen«, verteidigte sich Willie. Ein Soldat drückte sein Gesicht in den Boden. »Hör damit auf!« befahl Ronald. »Ich will hören, was er zu sagen hat.« »Aber Kapitän…« »Ruhe.« Ronald sah auf Willie herunter. »Fahre fort.« »Die Lehren Amons«, begann Willie, »die den Prinzipien des preta-na-ma folgen, verbieten uns eine Herrschaft über den Planeten Erde.« »Aber das preta-na-ma darf nicht praktiziert werden. Und was Amon betrifft, so lebt er wie ein gewöhnlicher Krimineller in der Verbannung.« »Sie wissen, daß das nicht wahr ist«, empörte sich Willie. »Ich? Ein einfacher Soldat? Wieso sollte ich mehr wissen, als was man mich gelehrt hat?« »Die Wahrheit läßt sich nicht so leicht unterdrücken«, beharrte Willie. »Vielleicht können wir eine Zeitlang noch so
weitermachen wie bisher, alles nehmen und nichts geben. Aber es ist ein korrupter Weg, und er wird uns innerlich zerstören.« »Ach, dann bist du also ein Philosoph, nicht wahr?« meinte Ronald sarkastisch. »Und ich sollte mir eine entsprechende philosophische Bestrafung für dich ausdenken, mein Freund. Aber das wird etwas Zeit zum Überlegen brauchen.« Willie schaute hinauf in Ronalds grausames Reptiliengesicht. »Schafft ihn fort«, befahl der Visitorkapitän seinen Wachen. In der späten Nachmittagssonne glitt langsam ein Ruderboot über das Meer. In ihm saßen zwei Menschen, eine junge Frau und ein bärtiger Mann mittleren Alters. Der Mann hielt eine Reisetasche umklammert, und die Frau ruderte. Sie steuerten durch die Felsen hindurch auf eine üppig bewaldete Insel zu; dort sprangen sie aus dem Boot. Die kalte Brandung an ihren Füßen ignorierend, zogen sie das Boot auf das sandige Ufer. »Zur Hütte geht es hier entlang, Sarah«, rief der Mann. Das hübsche, eher kühl wirkende Mädchen folgte ihm in die Wälder hinein. Nachdem sie länger als eine Stunde gewandert waren, erreichten sie eine Lichtung. In sanftes Sonnenlicht getaucht stand dort eine kleine Hütte. »Warum haben Sie so weit entfernt vom Wasser gebaut?« wollte das Mädchen wissen. »Um sie vor den Stürmen zu schützen«, erklärte der Mann. »Die Bäume hier bilden einen natürlichen Schutz gegen Wind und Lärm.« Die Frau nickte. »Und gegen Verfolger.« »Selbst aus der Luft wird man uns nicht so leicht erkennen.« Sie schritten zur Hütte hinüber, und der Mann stieß eine knarrende Tür auf. »Es war nicht abgeschlossen?« fragte Sarah erstaunt. »Das ist hier draußen nicht nötig. Und außerdem gibt es nichts, was sich zu stehlen lohnen würde.«
Sie traten ein, und der Mann begann nach Laternen zu suchen. Als er eine gefunden hatte, zündete er sie mit einem Streichholz an. »Diese hier enthält noch ausreichend Öl«, murmelte er geistesabwesend. »Und dort ist noch genug Holz, um ein Feuer zu machen, wenigstens für heute nacht. Morgen werden wir neues suchen gehen.« Sarah nickte. Sie beobachtete, wie er die Schnur, die um die Reisetasche gewickelt war, entfernte, einen Lederbeutel aus ihr hervorzog, diesem fünf winzige Gefäße entnahm und sie auf den rohen Holztisch stellte. »Das hier«, erklärte er, »ist die letzte Hoffnung der Menschheit.« »Wenn uns nur noch die Zeit geblieben wäre, sie an dem Visitor-Freiwilligen zu testen«, seufzte die junge Frau. »Nun wissen wir nicht mit Sicherheit, ob es wirkt, Doktor Brunk.« »Nein, leider nicht.« Randall Brunk drehte sich um und sah nachdenklich durch ein mit einer Folie verhängtes Fenster hinaus in die Wälder. »Aber es ist unser einziges Mittel, um sie für immer zu vertreiben.« Er ging zurück zum Tisch und ließ sich in einen alten Sessel fallen. Die Gefäße mit der klaren Flüssigkeit standen jetzt vor seinem Gesicht. »Nach all der vielen Arbeit ist das hier das einzige, was wir vorweisen können«, meinte er. »Drei Flaschen mit dem Toxin und zwei Flaschen mit dem Gegenmittel. Aber ich glaube, vor uns steht auch die einzige Macht, die die Visitors für immer ausrotten kann.« Der Doktor nahm die Gefäße und verstaute sie wieder in dem Lederbeutel. »Wenn wir nicht rechtzeitig gewarnt worden wären, dann wäre unsere ganze Arbeit jetzt vergeblich gewesen.« »Ja«, meinte Sarah, »aber jetzt sind wir erstmal hier, und die Widerstandsbewegung ist alarmiert worden. Uns bleibt nichts anderes zu tun, als abzuwarten.«
Randall Brunk seufzte. »Wir sind so weit gekommen, zu weit als daß man uns eigentlich noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte, Sarah.« »Sie sind müde. Warum ruhen Sie sich nicht ein Weilchen aus? Ich werde inzwischen noch einmal zum Strand gehen und nachsehen, ob das Boot gut genug versteckt ist.« »Vielen Dank, meine Liebe.« Sarah ging hinaus, und Randall Brunk schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Aber in der Dunkelheit sah er die Schatten von Reptilien, die ihn argwöhnisch beobachteten und verhöhnten. Er hatte sein Leben in den Dienst der Forschung stellen wollen, zum Wohle der Menschheit. Und nun hatte die Ankunft der Visitors ihn dazu gezwungen, sein Wissen einzusetzen, um eine Substanz zu entwickeln, die die Feinde der Erde für immer vernichten würde. Und er konnte nur noch beten, daß es wirklich funktionierte.
Kapitel 7
»Niemals hätte ich ihn einfach gehen lassen sollen«, murmelte John Ellis wütend in sein Bier. »Du hättest ihn nicht aufhalten können, John«, entgegnete Wilbur Grogan. »Es war seine Entscheidung.« »Natürlich hätte ich ihn zurückhalten können.« Ellis hob sein Glas und leerte es in wenigen Zügen. »Laß uns ein paar Männer zusammentrommeln und nach ihm und dem Lizard Ausschau halten.« Seine Miene verfinsterte sich bei dem Gedanken an Willie. Er stand auf und ging hinüber zur Theke, um bei Mike Shermann, dem Eigentümer und Wirt der Taverne, übrigens der einzigen Kneipe der Stadt, zu bezahlen. »John«, warnte ihn Shermann, »vielleicht verrennst du dich da in etwas. Du weißt doch, daß Pythias Day ein verrückter alter Vogel ist. Und nur weil er seit dem Nachmittag hier nicht mehr aufgetaucht ist, braucht das noch lange nicht zu heißen, daß ihm etwas passiert ist.« »Und ich sage, daß es genau das heißt!« brüllte Ellis, langte über den Tresen und zog Shermann kräftig am Hemd; der massige Mann riß den Wirt fast über die Theke. Das Licht einer Neonreklame ließ sein markantes Gesicht unheimlich glitzern. »Nun hör schon auf, John«, beschwichtigte ihn Wilbur. »Wir alle schnappen uns heute noch unsere Gewehre.« »Und sehen mal nach, was los ist«, knurrte Ellis und drehte sich ihm zu. »Der alte Pythias war in allem immer sehr genau, und jetzt ist er verschwunden.« Er schubste den Wirt zurück hinter den Tresen, und ein paar Gläser schepperten zu Boden.
»Laßt uns mal dort hinauffahren zu den Labors, vielleicht finden wir Pythias Day dort. Und wenn nicht, werden wir ihn rächen und ein paar von diesen Visitors niedermachen. Nun, was haltet ihr davon?« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Die Männer scharten sich um Ellis, vom Wirt mißtrauisch beäugt. Nach dem, was eben passiert war, hatte Shermann Angst, auch nur ein kritisches Wort verlauten zu lassen. »Worauf warten wir noch?« brüllte Ellis. »Laßt uns sofort aufbrechen!« Die Männer stürzten aus der Taverne, nachdem sie sich ihre Schrotflinten und Gewehre geschnappt hatten. Einige hatten auch Revolver. Die Aussicht, ihre alten Feinde, die Visitors, bekämpfen zu können, brachte ihr Blut in Wallung. Sie wollten töten. Aber Mike Shermann lebte lange genug in dieser Gegend, um zu wissen, daß auf diese Weise nichts zu erreichen war.
Pythias war am Ende seiner Kräfte, sein Körper durch mehrere Schnittwunden und schmerzhafte Prellungen geschwächt. Aber er freute sich, daß er überhaupt noch in der Lage war weiterzugehen. Hartnäckig setzte er seinen Weg durch den dunklen Forst zurück und zur Stadt fort. In wenigen Minuten würde er die Backlick Road erreichen, die kürzeste Verbindung von Cutters Bucht zu den Klippen. Er würde sich dann seitwärts der Straße bewegen, nur so nahe, daß er noch die Scheinwerfer der Autos sehen konnte. Und sollte ein Visitor auftauchen, würde er wieder tief in den Wald zurücklaufen, so tief, daß selbst ein Rudel Bluthunde ihn nicht würde aufspüren können. Durch die Wipfel der Birken und Nadelbäume sickerte das Mondlicht, so daß er gut seinen Weg erkennen konnte.
Pythias brach einige trockene Äste ab, die ihm den Weg versperrten, und kletterte in ein Flußbett hinunter. Es würde leichter sein, einfach dem Flußlauf zu folgen, zumal er direkt zur Stadt zu führen schien. Kurze Zeit später sah er plötzlich Scheinwerferlicht. Drei, vier, fünf Autos kamen die Backlick Road heruntergefahren. Er konnte die Rufe betrunkener Männer hören. Pythias kletterte aus dem Flußbett und rannte trotz seiner Schmerzen mit letzter Kraft auf die Autos zu. »Hier!« schrie er. »Hierher!« Die Wagen fuhren weiter, ihr Scheinwerferlicht bildete hinund herschwankende Lichtkegel, als sie mit quietschenden Reifen um die Kurven rasten. Pythias lief auf die Straße und schrie ihnen hinterher, aber es war zu spät; der letzte Wagen war schon einige hundert Meter von ihm entfernt. Sie hatten ihn in der Dunkelheit nicht gesehen. »Diese gottverdammten Säufer hätten mich höchstwahrscheinlich sowieso über den Haufen gefahren«, murmelte er mürrisch und beobachtete, wie sie mit Höchstgeschwindigkeit zur Klippe hinauffuhren. Gerade als er sich wieder abwenden wollte, entdeckte er etwas über dem Meer. Es war ein leuchtendes Gefährt, das langsam auf die Spitze der Klippe zuschwebte. »Oh, mein Gott…« Es war ihr Raumschiff. Und die Autos fuhren direkt darauf zu. Am höchsten Punkt der Klippe, dort, wo die Straße eine scharfe Wendung machte, verhielt das Raumschiff. Aus seinem schnabelartigen Bug zischte jetzt eine Salve blauen Laserfeuers. Der erste Wagen fing Feuer, kam ins Schleudern und stürzte über den Rand der Klippe. Man hörte die Schreie der in ihm sitzenden Männer, als sie in den Tod stürzten. Der zweite Wagen wurde getroffen und explodierte auf der Straße. Der nachfolgende Wagen versuchte noch zu stoppen,
Pythias hörte das Quietschen der Bremsen. Aber er hatte keine Chance mehr. Das Auto raste in das brennende Wrack, und beide Wagen polterten die Klippen hinunter. Auch das vierte Auto wurde direkt von einem Laser getroffen und ging in Flammen auf. Seine Insassen verbrannten bei lebendigem Leib. Pythias beobachtete starr vor Entsetzen das grauenvolle Geschehen. Er wartete darauf, daß es auch noch das letzte Auto erwischte. Aber das war weit genug hinter den anderen zurückgeblieben, so daß sein Fahrer rechtzeitig hatte stoppen können. Fünf Männer stiegen aus, und alle bis auf einen begannen die Straße zurückzurennen. Einer nach dem anderen wurden sie von Lasersalven niedergemäht. Nun gab es nur noch einen Überlebenden. Der Mann stand da und schaute zum Raumschiff hinauf. Sein langes blondes Haar wallte unter der Jagdmütze hervor. Pythias erwartete, daß sie auch ihn töten würden, als das Raumschiff zu seiner Überraschung plötzlich von der Klippe abdrehte und über den Ozean davonschwebte, ohne daß auch nur ein einziger Schuß auf den einsamen Mann abgegeben worden wäre. Und jetzt wußte Pythias auch, wer es war. Der Mann war John Ellis.
Kapitel 8
Jane Foley machte sich große Sorgen. Ihre Tochter war seit dem Nachmittag verschwunden. Im Labor, wo Sarah als persönliche Assistentin von Doktor Brunk arbeitete, ging niemand mehr ans Telefon. Hinzu kam, daß der bullige John Ellis allen befohlen hatte, in ihren Häusern zu bleiben. Und da saß sie nun in der Küche und trank Kaffee und wäre doch lieber draußen gewesen, um nach ihrer Tochter zu suchen. Natürlich war Sarah alt genug, um selbst auf sich aufzupassen. Aber wenn die Visitors zurückgekommen waren, wie Jane es vermutete… Warum verschwanden sie nicht endlich und ließen die Erde in Frieden? Wenn sie uns um Hilfe gebeten hätten, dachte Jane, ich bin sicher, wir hätten ihnen geholfen. Sie nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. Er war kalt, und sie hatte ihn so lange ziehen lassen, daß er jetzt viel zu stark und bitter war. Jane schaute aus dem Fenster in das schimmernde Licht der Straßenlaternen. Alles schien ruhig zu sein. Vielleicht konnte sie es doch wagen, einmal die Küste abzufahren und nach irgendeinem Hinweis auf ihre Tochter Ausschau zu halten… Wäre sie eine ängstliche Frau gewesen, hätte sie wohl kaum die Sechzig erreicht. Und schon hatte sie sich eine Jacke übergezogen und stieg in ihren Wagen. Die Straßen waren um diese Zeit wie leergefegt, aber es war ja auch schon elf Uhr nachts. Vor etwa drei Stunden hatte sie noch vier oder fünf Autos voll johlender Männer an ihrem Haus vorbeifahren sehen. Die werden mir den Weg schon gesäubert haben, dachte sie sarkastisch. Bei
dem Lärm mußten die Visitors sie ja schon meilenweit entfernt gehört haben. Sie startete den Honda Civic und fuhr rückwärts aus der Auffahrt. Das Licht aus der Veranda beschien ihre Fahrt entlang der Ulmen und Ahornbäume. Langsam fuhr sie in den Norden der Stadt und hielt nach Fußgängern Ausschau. Kaum war sie aus der Stadt raus, zündete sie sich eine Zigarette an. Dann fuhr sie auf die Straße, die zu Brunks Laboratorien führte. Nach zehn Minuten Fahrt sah sie einen einsamen Wanderer. Es war Pythias Day. Jane fuhr langsam neben dem alten Mann her und kurbelte das Fenster herunter. »Brauchen Sie einen Lift, Pythias Day?« fragte sie. Pythias glotzte in das Fenster. »Jane… Jane Foley, sind Sie das?« »Ja, ich bin’s. Was machen Sie denn hier draußen?« Pythias lief um den Wagen herum zur Beifahrerseite und stieg in den Civic. Die Tür zuschlagend, meinte er: »Jane, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« »Haben Sie etwas von Sarah gehört?« Er nickte. »Sie ist weggegangen, mit Brunk und den anderen vom Labor.« »Dann sind also die Visitors jetzt da?« »Ja, das sind sie.« »Wissen Sie, wo Sarah und Doktor Brunk jetzt sind?« Pythias schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht, Jane. Aber ich war dort, als die Visitors kamen, und alle vom Labor waren schon weg.« »Gott sei Dank.« Das bedeutete also, daß Sarah sich irgendwo versteckt hielt. »Wissen Sie, seit Thaddäus tot ist, habe ich nur noch meine Tochter.« Pythias ließ sich völlig erschöpft in den ausgebeulten Sitz zurückfallen.
»Pythias Day, Sie sehen ja grauenhaft aus!« rief Jane. »Ich werde Sie nach Hause fahren.« Sie wendete den Wagen. »Könnte ich wohl eine Weile bei Ihnen bleiben, Jane?« fragte Pythias. »Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Warum?« Jane blickte ihn aus den Augenwinkeln heraus an, während sie weiterfuhr. »Es könnte gefährlich für mich werden, wenn ich heute nacht zu Hause übernachte.« Janes Wagen kam etwas ins Schleudern. Sie schien überrascht. »In dieser Stadt scheint es einen Verräter zu geben«, sagte Pythias, »und höchstwahrscheinlich werden ihn seine Lizardmeister darüber informiert haben, daß ich zu viel weiß.«
Die Eingangstür der Taverne flog krachend auf. John Ellis trat ein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Nur noch ein paar Hummerfänger saßen oder standen an der Theke. »Whisky«, keuchte Ellis. Shermann goß ihm einen ein. »Gleich noch einen drauf«, befahl Ellis. »Okay.« Shermann goß noch einen dazu und reichte ihm das Glas. Ellis leerte es auf einen Zug. »Sie sind alle tot«, schnaufte er. »Wer?« fragte Shermann. Er glaubte, sich verhört zu haben. »Alle. Wilbur, Charlie, George, Hank, Dan – alle. Von den Visitors getötet.« »O Gott!« In Shermanns Augen stand der Horror. »Sie haben unsere Wagen mit Laserfeuer weggeputzt. Ich glaub’, außer mir ist keiner davongekommen.« Die Männer, die an der Theke gestanden hatten, versammelten sich jetzt um Ellis. »Wo ist es passiert?« wollte einer von ihnen wissen.
»Oben in Blacklick, wo die Straße zur Klippe hoch geht. Es war das Schrecklichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« »Jemand muß ihren Frauen Bescheid geben«, meinte ein anderer Mann. »Vielleicht kannst du das übernehmen, Herb«, schlug Shermann vor. »Sag es zuerst dem Pfarrer, und der kann es dann den Frauen schonend beibringen.« »In Ordnung.« Herb erhob sich und ging hinaus, um diese unerfreuliche, aber unumgängliche Aufgabe zu erledigen. John Ellis trank noch einen Doppelten und fragte dann: »Ist Pythias Day inzwischen aufgetaucht?« »Bisher noch nicht.« Ellis nickte. »Wo er bloß bleibt«, murmelte er, und seine schwielige Faust umklammerte das Glas. »Ich verstehe nicht, wo er bleibt.«
Kapitel 9
In der Dunkelheit des kleinen Lagerraums hatte Willie viel Zeit, über den Mut und die Integrität nachzudenken, die Pythias Day gezeigt hatte, und er war glücklich, daß er dem alten Mann zur Flucht verholfen hatte, auch wenn er jetzt an seiner Statt hier sitzen mußte. Seine Gefangenschaft gab Willie auch Zeit, in sich zu gehen, und er meditierte über seine Verhaltensweisen, seit er diesen Planeten Erde betreten hatte. Nein, er konnte nichts Falsches finden. Er hatte für die Rechte der Menschen gekämpft, und das würde ihn jetzt sein Leben kosten. Sein eigenes Volk war im Unrecht; die Erklärung, dringend Wasser und Nahrung zu benötigen, war doch nur ein Vorwand und noch lange kein Grund, die Menschen dieser Welt derartig zu quälen. Nein, es lag ganz allein an den inneren Konflikten seines Volkes. Außerdem konnte man Wasser und Nahrung überall in der unendlichen Galaxie finden. Warum hatten sie gerade die Menschen und ihre Erde für ihre ›Expeditionen‹ und Bestrafungen auserkoren? Willies Überlegungen wurden durch das Klicken eines Schlüssels im Türschloß unterbrochen; Licht fiel in seine provisorische Zelle und blendete ihn. Ohne Erklärung zerrte man ihn auf die Füße und führte ihn ins Labor. Man hatte die langen Tische zur Seite geschoben, und Ronalds Truppe stand in dem niedrigen Raum Spalier. Willie wurde durch die Reihen geführt; die roten Uniformen seiner Artgenossen schimmerten im Morgenlicht, das durch das Fenster fiel. Alle trugen Sonnenbrillen, damit das Licht sie nicht so schmerzte. Am Ende der Gasse saß Ronald in einer
Art Chefsessel auf einer niedrigen Plattform. Willie wurde zu Ronalds Füßen auf die Knie geschubst. »Ich habe mich für eine Bestrafung entschieden«, erklärte der Visitorkapitän, »die mir deiner Liebe für diesen Planeten angemessen erscheint.« Ronalds Schuppen schienen vor Freude zu zucken über das, was er sich für Willie ausgedacht hatte. »Wir werden dich freilassen, Willie.« Überrascht hob Willie den Kopf. Was bezweckte der Kapitän damit? Sollte es bedeuten, daß er Willie konvertieren lassen wollte, um ihn dann als Spion bei den Widerstandskämpfern einzuschleusen? Es mußte ihm doch klar sein, daß das nicht funktionieren würde. Sein preta-na-ma-Wissen ließ ihn den Konvertierungsprozeß aushalten und widerstehen. Nein, er meinte etwas anderes. Aber was? »Allerdings habe ich noch nicht den Zeitpunkt und den Ort für deine Freilassung festgesetzt«, meinte Ronald. »Der Platz wird von großer Bedeutung sein. Er muß mit äußerster Sorgfalt ausgewählt werden, denn schließlich sollst du dort sterben.« Wieder hob Willie den Kopf, und sofort drückte ihn eine Wache zurück auf den Betonboden. »Schafft ihn fort«, befahl Ronald. Willie wurde in seine Zelle zurückgebracht und wieder in der Dunkelheit allein gelassen. Er wußte, daß Ronald vorhatte, ihn zu quälen, und daher mußte er sofort wieder seine Meditationen aufnehmen und das Ritual des Zon singen. Er begann zu singen, und das Wissen, daß dieses Singen verboten war, gab ihm viel Kraft.
Als er aus dem Bad kam, roch Pythias den Duft von Kaffee aus Janes Küche. Er trocknete sich ab, zog seine verdreckten Sachen wieder an und ging hinunter zum Frühstück.
»Eier mit Speck«, rief Jane, als er in die Küche kam. »Riecht großartig.« Pythias setzte sich an den Tisch, und Jane bediente ihn. Er machte Anstalten, sich selbst den Kaffee einzuschenken, aber es schien Jane Spaß zu machen, ihn zu verwöhnen. Als alles auf dem Tisch stand, setzte auch Jane sich. »So, Mister Day«, meinte sie dann und strich sich Butter auf ein Stück Toast, »sind Sie jetzt bereit, mir alles zu erzählen?« Pythias setzte seine Kaffeetasse ab. »Die Visitors haben einen Kollaborateur in Cutters Bucht.« »Sie erwähnten das schon gestern nacht. Wer ist es?« »Sie werden es kaum glauben, aber es ist John Ellis.« »John Ellis? Der Junge hat hier sein ganzes Leben verbracht! Wie könnte er so etwas machen?« »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht haben sie ihn einer Gehirnwäsche unterzogen oder ihm Geld oder Macht versprochen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben – ich weiß nur, daß sie es haben.« Finster starrte Pythias auf einen gerahmten Druck an der Wand. »Seine Eltern würden sich im Grab umdrehen.« »Aber wieso sind Sie so sicher, daß es Ellis ist?« fragte Jane. »Es gibt keinen Zweifel. Er hat diese Männer in eine Falle gelockt; er hat dafür gesorgt, daß er im letzten Wagen saß, auf den die Visitors nicht schießen würden. Die Männer stiegen aus und wurden allesamt getötet, bis auf John. Er stand einfach nur da, und nicht ein einziger Schuß schlug auch nur in seiner Nähe ein.« »Weiß er, daß Sie ihn gesehen haben?« »Nein.« »Warum machen Sie sich dann Sorgen, daß er hinter Ihnen her ist?« »Also wenn er mit den Visitors Kontakt hat – und das hat er – , so werden sie ihm sicherlich erzählt haben, daß ich weiß, was
dort oben bei den Labors los ist. Ich denke, sie wollen das Ganze auf jeden Fall geheimhalten, damit es für sie leichter wird, Doktor Brunk zu finden.« »Das ist es also, was sie suchen – Doktor Brunk.« Die Tatsache, daß ihre Tochter bei Brunk war, verunsicherte Jane jetzt. »Glauben Sie, daß sie ihn finden werden, Mister Day?« »Offen gesagt, Jane, ich habe keine Ahnung«, seufzte Pythias und breitete die Hände aus. »John Ellis hat auf einen Schlag fast die gesamte örtliche Widerstandsbewegung vernichtet. Wenn es uns gelingen sollte, eine neue Streitkraft aufzubauen, könnte es möglich sein, daß wir Brunk finden, bevor die Visitors es tun. Ach, übrigens, Jane?« »Ja, Mister Day?« »Bitte nennen Sie mich Pythias.«
Kapitel 10
»Ich stell’ es mir so vor«, lallte John Ellis betrunken, »daß sie den alten Pythias gefangengenommen haben und alles aus ihm rausgefoltert haben. Sobald sie wußten, wie viele wir sind, konnten sie sich leicht ausmalen, daß wir nach dem verrückten Alten Ausschau halten würden. Sie brauchten nur noch in ihrem Raumschiff zu warten, daß wir die Klippenstraße herauf gefahren kommen…« »Du glaubst, daß Pythias Day uns verraten hat?« fragte Herb Walsh skeptisch. Ellis drehte sich langsam zu ihm um. »Wer sollte es sonst gewesen sein, Herb? Pythias ist gestern in die Falle gelaufen, so sehe ich es. Und sobald sie ihn in seiner Gewalt hatten, mußte er früher oder später zusammenbrechen.« »Pythias Day?« beharrte Herb. »Ich kann nicht glauben, daß er so ein Typ ist.« »Dann glaub doch, was du willst«, höhnte Ellis und trank aus. »Rechne doch mal zwei und zwei zusammen, und schon weist alles auf unseren neuernannten Sheriff. Ihm haben wir das von letzter Nacht zu verdanken.« »Ich glaub’ es einfach nicht«, murmelte Herb, aber seine Stimme klang schon nicht mehr so überzeugt. »Warum sollte Pythias Day das getan haben?« wollte Mike Shermann wissen. »Ich meine, diese Männer waren schließlich seine Freunde und Nachbarn.« »Ich sagte es doch schon – Folter, oder vielleicht versucht er sich mit den Lizards zu arrangieren, für den Fall, daß die den Kampf gewinnen. Dann wäre er nämlich hier der König der Hügel. Wenn die Knallerei mal aufhören sollte.«
»Aber was wäre, wenn wir gewinnen sollten, wie es uns schon einmal gelungen ist?« fragte Shermann. »Was sollten dann seine Pläne?« »In diesem Fall wird er aus den Bergen zurückkehren, behaupten, daß die Visitors ihn gefangengehalten hätten, und jeder hier würde in ihm einen Helden sehen. Ich könnte mir vorstellen, daß der alte Pythias gut damit leben kann.« Die wenigen Männer in Mikes Taverne begannen jetzt heftig über Pythias Days Motive, sich gegen seine eigenen Leute zu wenden, zu diskutieren. Und je länger Ellis redete, um so wahrscheinlicher erschien es ihnen. Und dennoch wollte keiner von ihnen so recht glauben, daß Pythias zu einer solchen Tat fähig war. »Verdammt noch mal«, sagte Mike Shermann endlich, »wir sitzen hier in Sicherheit, geißeln Pythias Day als Verräter und müssen doch eigentlich davon ausgehen, daß die Visitors ihn getötet haben.« Zum ersten Mal sagte John Ellis nichts. Wie konnte er zugeben, daß er wußte, daß Pythias Day lebte? Also schien es ihm die beste Methode zu sein, den alten Kauz anzuschwärzen, bevor er wieder auftauchte. Aber wo war er? Er müßte längst wieder hier sein, oder die Visitors hatten sich getäuscht. Er konnte natürlich auch verwundet worden und in den Wäldern gestorben sein, irgendwo da draußen. Aber vielleicht war er auch letzte Nacht in die Stadt zurückgekehrt oder heute am frühen Morgen. Er mußte es rauskriegen. »Ich seh’ euch später«, verabschiedete sich Ellis und schmiß ein paar Scheine auf die Theke. Die Männer brummten einen Gruß, während er hinaustrat auf den hölzernen Gehweg vor Mikes Taverne. Er ging bis zur Union Street und überquerte die State Street, wo sich Days Haus befand.
Zehn Minuten später stand er vor dem weißgetünchten alten, zweistöckigen Wohnhaus, in dem Day lebte und das er schon mit seiner Frau bis zu ihrem Tod bewohnt hatte. Und soweit Ellis wußte, war der komische Kauz in diesem Haus auch aufgewachsen. Familien lebten in dieser Stadt über Generationen hinweg; es gab auch kaum die Möglichkeit für sie, woanders hinzugehen. Das Haus wirkte verlassen. Aber um ganz sicher zu sein, ob Day zurückgekehrt war oder nicht, gab es nur ein Mittel. Dreist schritt Ellis direkt auf die Eingangstür zu und klopfte. Er wartete einige Sekunden, dann klopfte er erneut. Stille. Er versuchte es noch einmal. Schließlich gab er auf. Zufrieden, niemanden angetroffen zu haben. Während er zur Union Street zurückmarschierte, glaubte er das erste Mal daran, daß Pythias Day wirklich tot sein könnte. Seit letzter Nacht hatte er mit Ronald keinen Kontakt mehr aufgenommen, und seitdem konnte viel passiert sein. Vielleicht war der Alte wirklich in den Wäldern gestorben. Würde dem alten Eindringling nur recht geschehen, nach allem, was gestern passiert war. Kaum hatte er diesen Verräter von Alien am Wickel gehabt, war Day ihm dazwischengekommen. Ronald war alles andere als zufrieden gewesen, aber immerhin hatten sie jetzt diesen Lizardwiderstandskämpfer, und somit war der außer Gefecht. Ein Auto hupte, und Ellis wirbelte erschrocken herum. Sein Gewehrlauf zielte direkt in das überraschte Gesicht der Witwe Foley, die sofort anhielt. Sie stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. »Was zum Teufel fällt dir ein, mit dem Ding da auf mich zu zielen, John Ellis?« rief sie erbost. »Tut mir leid, Ma’am«, sagte er entschuldigend. »Aber nach allem, was hier passiert ist… Einen Moment lang war ich ganz durcheinander.«
»Es liegt wohl eher daran, daß du wie immer voll bist, junger Mann. Was denkst du dir eigentlich dabei, hier mit einem Gewehr herumzulaufen?« »Ich sehe nur nach, ob auch alles in Ordnung ist.« Er grinste. Jane Foley starrte ihn mißtrauisch an. »Harmlose Alte wie mich beschützen, was John?« »Genau.« »Nun, bemüh dich nicht. Jedenfalls sah es eher so aus, als ob du mich wie einen von diesen verdammten Visitors abknallen wolltest. Hier mit geladenem Gewehr rumzulaufen und voll wie eine Haubitze.« »Hey, tut mir wirklich leid, daß ich auf Sie gezielt habe. Aber ich suche Pythias Day.« Ihr Gesicht verdunkelte sich. War das Angst, was er da sah? »Warum?« »Nun, wir vermissen ihn seit gestern«, erklärte er stockend. »Glaubst du nicht, daß er es uns hätte wissen lassen, wenn er zurück ist?« gab Jane Foley zu bedenken. »Na klar, ich schätze…« »Wer hat dich überhaupt damit beauftragt? Sicherlich nicht der Bürgermeister. Und du weißt auch, daß Day jetzt der neue Sheriff ist, seit Mister Evans tot ist. Es ist sein Job, sich um die Sicherheit der Bürger von Cutters Bucht zu kümmern, nicht deiner.« »Ja, Ma’am.« Er schlief fast ein von dieser Litanei der Alten. »Ich muß jetzt gehen, Ma’am.« »Gut.« Sie nahm eine Tüte mit Lebensmitteln aus dem Civic und warf die Tür zu. Es waren noch zwei Tüten im Wagen. Ellis hatte schon den ganzen Weg bis zur Union Street zurückgelegt, als er sich daran erinnerte, daß Sarah, die Tochter der alten Foley, ja mit Doktor Brunk verschwunden war. Das waren eindeutig etwas viele Lebensmittel für eine alte, einsame Frau.
Kapitel 11
Jane schloß hinter sich die Tür und legte die Kette vor, bevor sie sich daran machte, die Lebensmittel wegzuräumen. Pythias kam langsam die Treppe herunter. »Er hat nach mir Ausschau gehalten«, vermutete er. »Mit einem Gewehr«, fügte Jane hinzu. »Leider habe ich kein Gewehr für dich.« »Ich habe eine Waffe«, erklärte Pythias und trat ans Licht. Er zeigte ihr die Laserpistole, die Willie ihm zugeworfen hatte, als er aus dem Labor geflüchtet war. »Ist das eine von… ihren Waffen?« fragte Jane. »O ja, und dazu noch eine sehr präzise.« »Hast du vor, John Ellis damit…« »Nur, wenn es sein muß«, erwiderte Pythias. Er ging zum Wandschrank und nahm seine Jacke heraus. »Wo willst du hin?« wollte Jane wissen. »In mein Büro«, sagte Pythias gelassen und zog den Reißverschluß hoch. Die Laserpistole steckte er in die Jackentasche. »Dieses Versteckspiel muß ja mal ein Ende haben.« Jane wollte ihn nicht gehen lassen, aber sie ahnte, daß es sinnlos war, mit ihm zu diskutieren. »Sei vorsichtig«, bat sie ihn. Fast liebevoll sah er sie an. »Jane, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Ich werde alles tun, um dir dein kleines Mädchen zurückzubringen. Bis dann. Paß auch du auf dich auf.« »Das werd’ ich.« Sie schloß die Tür hinter ihm.
Gut zwanzig Minuten mußte Pythias bis zum Rathaus laufen, in dem auch sein Sheriffbüro untergebracht war. Das Gehen verursachte ihm noch Schmerzen, aber insgesamt fühlte er sich schon kräftiger, und noch besser, als er schließlich das Büro erreicht hatte. Und diese rasche Genesung hatte wohl etwas mit Jane Foley zu tun. Zunächst einmal wollte er alles, was gestern nacht passiert war, dem Bürgermeister mitteilen. Seine Position erlaubte es ihm, die örtliche Polizei mobil zu machen oder den Gouverneur zu verständigen, der dann die Nationalgarde herschicken konnte. Er betrat die gläserne Vorhalle des Rathauses und ging auf den Empfang zu. »Ist der Bürgermeister da?« fragte er und schritt schon am Empfangstresen vorbei. »Noch nicht, Sheriff.« Pythias blieb stehen und wußte sofort, daß etwas faul war. »Ist er nicht?« Er schaute auf seine Uhr. »Aber es ist schon nach zehn. Wo, glauben Sie, ist er denn?« Die Frau, Peg MacGregor, sah ihn besorgt an. »Ich weiß es nicht, Mister Day. Ich habe bei ihm zu Hause angerufen, aber niemand hat sich gemeldet.« Pythias nickte. Dann lief er zum Rückgebäude und in die Garage, wo sein Dienstauto stand. Er war erst einmal damit gefahren, aber er würde es schon schaffen, trotz der Blaulichter oben drauf und des ewig plärrenden Funks. Pythias spurtete noch mal in sein Büro, fand die Wagenschlüssel, die an einem Brett hingen, und lief zurück zum Wagen. Drei Minuten später bog er in die einen halben Kilometer lange Auffahrt ein, die zum Cochrane-Besitz gehörte. Der Bürgermeister war ein Nachkomme der größten Großgrundbesitzerfamilie dieser Gegend. Sein Großvater hatte
im 19. Jahrhundert diesen Besitz erworben, und seitdem hatten die Cochranes immer in öffentlichen Ämtern gesessen. Aber heute war es hier ungewöhnlich still, schien es Pythias. Normalerweise machte sich der Gärtner im Park zu schaffen oder jemand reparierte irgend etwas am Haus, oder es ritt jemand über das weite Gelände. Heute war keine Menschenseele zu sehen. Pythias stieg aus dem Wagen aus und lief die Freitreppe zur Villa hinauf. Mit dem großen Messingklopfer schlug er gegen die schwere Eichentür, aber niemand reagierte. Seltsam, dachte er und klopfte erneut. Mein Gott, das Haus hier war sonst voller Diener, Mrs. Cochrane war da und wer weiß noch alles. Pythias drückte gegen die Tür, die nach innen aufsprang. Er wartete einen Moment und trat dann vorsichtig ein. Die Eingangshalle war leer. Der einzige Hinweis, daß etwas nicht stimmte, war ein kleiner umgekippter Mahagonitisch. Das Haus war völlig still. Langsam glitt Pythias durch die Räume. Die erste Leiche fand er in der Küche – die Köchin, mit überraschtem Gesichtsausdruck und einem Loch in der Brust. Das Dienstmädchen lag auf der Treppe. Es schien noch versucht zu haben, wegzulaufen, als man es niederschoß. Die Frau des Bürgermeisters lag auf dem Teppich im Flur des ersten Stocks. Sie trug ein silbrig schimmerndes Nachtgewand, und ihr edles Gesicht blickte durch das Treppengeländer. Die ganze Zeit hatte sie auf ihn herabgeblickt, als er langsam die Treppen heraufkam, aber jetzt konnte sie ihn kaum noch darauf aufmerksam machen, daß er ungebeten eingetreten war. Tom Cochrane lag in seinem Schlafzimmer, nur wenige Schritte vom riesigen Himmelbett entfernt, das schon seit Generationen dort gestanden haben mußte.
Im Gegensatz zu seiner Frau lag der Bürgermeister auf dem Rücken. Erstaunen stand in seinem Gesicht, als verstünde er nicht, was ihm und seiner Frau und den Dienern geschah. Pythias vermutete, daß er den Gärtner draußen finden würde und auch den Handwerker und vielleicht jemanden in den Hecken oder in den Wirtschaftsgebäuden. Er schüttelte betrübt den Kopf. Vielleicht waren sie hierhergekommen, weil sie ihn suchten – ihn oder Randall Brunk. Hatte John Ellis den Visitors erzählt, daß er annahm, daß sich die Feinde hier irgendwo versteckt hielten, oder waren der Bürgermeister und seine Familie nur getötet worden, um die Einwohner von Cutters Bucht zu demoralisieren? Er seufzte und wußte, daß er das niemals genau in Erfahrung bringen würde.
Kapitel 12
Willie wurde gut ernährt; er sollte fit und bei Kräften sein, wenn Ronald ihn freilassen und zu Tode hetzen würde. Willie verweigerte die Nagetiere, die sie ihm brachten, und aß nur das Gemüse. Seit er dem Widerstand angehörte und nach den Gesetzen des preta-na-ma lebte, die es jedem verboten, Fleisch zu essen, war er Vegetarier geworden und hatte erfahren, wie vital und widerstandsfähig ihn diese Ernährungsweise machte, fast so wie damals als Kind auf seinem Heimatplaneten. Willie war in der Provinz aufgewachsen, wo die Menschen noch an die alte Religion glaubten. Niemals würde es den sirianischen Diktatoren gelingen, das preta-na-ma auszurotten. Je stärker sie es zu unterdrücken versuchten, um so mehr Anhänger gewann es. Wie war es nur möglich gewesen, daß seine Welt sich so entwickelt hatte? Er wußte, daß sein Volk im Kern gut war, und dennoch hatte man nichts gegen diese teuflische Regierung unternommen. Alle schienen vor Furcht wie gelähmt. Die Menschen behaupteten, daß auch sie schon solche Regierungen gehabt hätten, aber niemals eine mit einem derartigen Expansionsdrang. Und sie hätten sich wohl kaum träumen lassen, einmal von interplanetarischem Totalitarismus und Terror beherrscht zu werden. Wie alle anderen auch, die man zur Erde geschickt hatte, war Willie vorher einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Man hatte ihm eingetrichtert, daß die Menschen minderwertige Lebewesen, unintelligent und ausschließlich von Gefühlen
geleitet waren, unfähig, ihre nationalen und regionalen Konflikte und Differenzen zu beheben, zu irgendeiner Art vernünftiger Weltpolitik. Willies Volk hatte somit das Recht – nein, sogar die Pflicht –, diese »Affen«, wie man sie nannte, zu zivilisieren. Auch Willie war dieser Überzeugung gewesen, bis er selbst die Erde kennenlernte und merkte, wie sie wirklich waren, diese Menschen. Er war von ihnen geliebt worden und fand ihre so verachteten Gefühle alles andere als übel. Eine menschliche Frau hatte ihn geliebt, und für diese Liebe war sie gestorben. Niemals würde er das vergessen! Er mußte so schnell wie möglich von hier fliehen, oder Ronald würde ihn wie ein wildes Tier töten. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Wachen zu überwältigen, wenn sie die Mahlzeiten brachten. Nein, niemals würden die sich ein zweites Mal auf die gleiche Art und Weise überrumpeln lassen. Trotz der offenkundigen Beschränktheit seines militärischen Denkens war Ronald keineswegs dumm. Willie mußte abwarten und auf spätere Chancen hoffen. Und auch wenn Ronald ihn zur Todeshatz herausholen ließ, so war das immer noch besser, als hier in diesem widerwärtigen Raum eingesperrt zu sein. Ja, das war es dann wohl. Er würde warten und auf alles, was Ronald von ihm verlangte, eingehen. Aber er würde es Ronald nie gestatten, ihn zu foltern. Er setzte jetzt sein ganzes Vertrauen auf die Kraft des preta-na-ma, denn das war etwas, was Ronald niemals begreifen würde. Willie begann das Ritual des Zon zu singen, um sich selbst zu stärken und seine Feinde zu schwächen.
Draußen krümmten sich die Wachen unter dem erneuten Singsang. Als ihr Meister erschien, waren beide erleichtert über die Unterbrechung. »Er singt immer noch?« fragte Ronald erstaunt. »Glaubt er, daß wir hier ein Fest feiern?« »Ich weiß nicht, was mit ihm ist, Sir«, erwiderte eine der Wachen. Ronald machte dem Soldaten ein Zeichen, zu schweigen. »Ich habe dich nicht aufgefordert, mir zu antworten, du Narr.« Ronald starrte auf die verriegelte Tür. Nach einer Weile schlug er mit seiner zusammengeballten Klaue dagegen. Für einen kurzen Moment hörte der Gesang auf, um dann erneut einzusetzen. Ronald hämmerte gegen die Tür. »Ruhe!« schrie er. Wieder hörte Willie auf zu singen. »Wie Sie wünschen«, hörte man ihn von der anderen Türseite her sagen. Aber Ronald schien das nicht zu genügen. »Wenn er noch mal mit diesem grauenvollen Gesinge anfängt«, sagte er wütend, »dann ruft mich sofort. Jedesmal wenn er das Ritual des Zon singt, bricht er das Gesetz.« Die Wachen duckten sich ängstlich bei der Erwähnung des Zon, des verbotenen Glaubens. Der Visitorkapitän stolzierte hinaus. Er ging zum Raumschiff, und auf ein spezielles Lautkommando hin senkte sich die Rampe herunter, und die Luke öffnete sich. Ronald betrat das Raumschiff und vergewisserte sich, daß sich die Luke hinter ihm sofort wieder schloß. Auf ein weiteres Kommando hin schob sich ein etwa 7x3 Meter großes Stück der Wandverkleidung hervor. Ronald zog seine Uniform aus, legte Mütze und Sonnenbrille ab, öffnete einen Teil der Verkleidung, und ein sarkophagähnliches Gebilde wurde sichtbar. Dort legte er sich hinein, und die Verkleidung schloß sich über ihm.
Einen Moment später wurde die kleine Kabine, in der er nun lag, durch eine Vibration erschüttert. Ein warmes chemisches Bad umspülte Ronalds schuppiges Fleisch, und eine fasrige Substanz bedeckte ihn in der Flüssigkeit, die langsam abkühlte und sich in etwas verwandelte, das in nichts von menschlichem Fleisch zu unterscheiden war. Als er die Kabine wieder verließ, sah Ronald aus wie ein nackter menschlicher Mann, bis auf seine gelben Reptilienaugen. Er öffnete eine Kiste, die eine Auswahl von Plastikaugen enthielt, und nahm ein Paar grüner Augen heraus. Er befestigte sie in seinem pseudomenschlichen Gesicht und betrachtete sich dann in einem Spiegel. Als er dann noch eine Perücke aufsetzte, war nicht mehr zu erkennen, daß er kein Mensch war. Die perfekte Verkleidung, um ungestört seine Aufgabe in Cutters Bucht zu erledigen.
Kapitel 13
Als Pythias durch die Straßen und Vororte von Cutters Bucht fuhr, bemerkte er, daß sich die Menschen von ihm abwandten. Man könnte meinen, ich sei ein Visitor, dachte er und fuhr auf der Backlick Street zurück in die Stadt. »Das ist es!« rief er plötzlich. Ellis mußte verbreitet haben, daß er jetzt für die Visitors arbeitete, um sich selbst zu schützen. Nun, dann wurde es Zeit, John Ellis einen kleinen Besuch abzustatten. Und Pythias hatte auch schon eine Idee, wo er diesen verdammten Hurenbock finden würde. Er wendete auf der Union Street und parkte direkt vor Mikes Taverne. Sich nochmals vergewissernd, daß er den Laser in seiner Jacke gut versteckt hatte, lief er über den Holzsteg und öffnete die Tür zum Schankraum. Ellis, der an der Theke saß, schaute nicht hoch. »Hallo John«, rief Pythias. Ellis hob das verdrießliche Gesicht, und ihm klappte der Unterkiefer runter, als er sah, wer ihn da begrüßte. »Na, das darf doch wohl nicht wahr sein«, meinte Mike Shermann. »Wo kommst du denn her, Pythias? Jeder hier glaubt, daß du tot bist oder von den Lizards gefangengehalten wirst.« »Ich war auch gefangen, das stimmt.« »Dann war es also eine Falle der Lizards?« fragte Herb Walsh. »Das habe ich zuerst auch gedacht«, begann Pythias zu erzählen und ging zum anderen Ende der Theke, weg von John Ellis. »Gib mit bitte ein Bier, Mike.«
»Und das stimmte dann nicht?« fragte Mike, während er das Bier eingoß. »Ja, genau.« »Nun sag schon, was passiert ist«, bat ihn Herb. »Es gibt keinen, der eine Story besser erzählen kann als du, Pythias.« Pythias lächelte. »Er verhalf mir sogar zur Flucht.« »Was? Wer?« schrien alle gleichzeitig. In dem allgemeinen Durcheinander und Stimmengewirr war John Ellis von seinem Hocker gerutscht und kam jetzt bedrohlich auf den alten Mann zu. »Was zum Teufel redest du da eigentlich, Day?« brüllte er. »Du hast es doch gehört, John.« Pythias trank einen großen Schluck von seinem Bier und wischte sich dann über die Lippen. »Jeder weiß doch, daß die Visitors niemanden, den sie einmal gefangengenommen haben, wieder freilassen.« »Das hab’ ich auch nicht gesagt, daß sie das getan haben«, entgegnete Pythias und fuhr mit einem Finger über das Glas. »Die Visitors nahmen Willie und mich gefangen. Weil er einer der ihren ist, wollten sie einfach nicht kapieren, daß er zur Widerstandsbewegung gehört, wie er uns erzählt hat.« John Ellis fing an zu knurren. »Und das stimmt wirklich.« Pythias sah ihn scharf an. »Ich weiß es, denn er half mir, aus dem Raum, in dem sie mich eingesperrt hatten, zu fliehen.« »Und das ist kein Witz?« wollte Mike Shermann wissen. »Nein, Sir«, erwiderte Pythias und trank noch einen Schluck von seinem Bier. »Das ist alles andere als ein Witz.« »In meinem ganzen Leben hab’ ich noch nie so einen verdammten Mist gehört«, empörte sich John Ellis. »Wirklich, John?« meinte Pythias und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Hast du vielleicht eine bessere Geschichte auf Lager?«
Ellis sah sich, plötzlich unsicher geworden, um. »Was soll das heißen?« »Nun, du scheinst dir doch so sicher zu sein, daß das, was ich sage, nicht der Wahrheit entspricht. Wie ist deine Version?« »Warum, ich war doch nicht dabei. Ich…« »Aber du hast doch ein paar Männer letzte Nacht überredet, dorthin zu fahren, nicht wahr? Um mich zu finden, wie du gesagt hast. Ist das richtig?« »Ja, das ist richtig, aber was – « »Das ist es, was ich von dir wissen will, John«, sagte Pythias und schaute direkt in Ellis’ flackernde Augen. »Wie kommt es, daß du als einziger zurückgekehrt bist?« »Ich… hatte eben Glück«, erklärte Ellis, jetzt bereits in die Enge getrieben. Seine kleinen, rotunterlaufenen Augen wichen dem Blick des alten Mannes aus. Jetzt starrten ihn alle an. Richtig. Warum waren fünfundzwanzig Männer draufgegangen und nur John Ellis zurückgekehrt? »Ihr könnt nichts beweisen.« Ellis Blick wanderte zu seinem Gewehr, das am Tresen lehnte. »Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre, John«, rief Pythias cool. »Dieses Ding hier brennt wie die Hölle.« Ellis drehte sich um und sah die Laserpistole in Pythias’ Hand. »Ich bringe dich jetzt zum Revier, wo wir uns noch ein wenig unterhalten werden. Und es könnte durchaus sein, daß du in der Zelle landest – als Mörder der Männer.« Pythias war die Ruhe selbst. »Bist du verrückt geworden, Day?« bellte Ellis. »Du hast doch keinerlei Beweise.« »Das werden wir ja sehen, mein Junge.« Ellis starrte hinüber zu seinem Gewehr und überlegte krampfhaft, wie er es noch erreichen könnte…
»Vergiß deine Kanone, Junge«, warnte ihn Pythias. »Oder du bist gleich nur noch ein Haufen Asche.« Ellis hob die Hände hoch, Schweiß rann ihm übers Gesicht. »Los jetzt! Auf geht’s!« kommandierte Pythias. Und Ellis ging.
Kapitel 14
Jane war beim Wäschewaschen. Sie hob eine Packung Waschpulver hoch, während sie zum tausendsten Mal darüber nachdachte, wo sich Sarah und Doktor Brunk versteckt halten könnten. Auf der Packung war eine Ozeanwelle abgebildet, und plötzlich wußte sie es. »Der Ozean«, sprach sie laut vor sich hin. »Brunk hat doch eine Hütte auf einer Insel im Ozean.« Sie setzte die Packung ab und lief zum Telefon, um Pythias anzurufen. Aber dann mußte sie daran denken, was John Ellis letzte Nacht getan hatte. Man konnte nie wissen, wer noch für die Visitors arbeitete, und es gab viele Möglichkeiten, ein Telefongespräch abzuhören. Sie würde also besser gleich zum Rathaus fahren. Sie lief zur Garderobe, griff sich ihre Jacke und eilte zu ihrem Wagen. Als sie die Tür aufschloß, fiel ihr ein, daß sie ihre Tasche vergessen hatte, und sie rannte noch einmal zurück, um sie zu holen. Wenig später saß sie in ihrem Civic, startete und setzte rückwärts aus der Auffahrt. Ein Lastwagen donnerte heran und hupte. Jane bremste scharf, und als der Wagen vorbei war, fuhr sie etwas langsamer weiter.
Ein großer Mann im typischen blauen Geschäftsanzug öffnete die Tür zum kleinen Sheriffbüro, das im Rückgebäude des Rathauses untergebracht war; es klingelte, als er eintrat.
Etwas verdutzt schaute er einen Moment lang die Klingel an und dann Pythias. Der Alte glaubte, ein vertrautes Leuchten in den grünen Augen des Fremden zu entdecken… »Was kann ich für Sie tun, Mister?« »Ich habe gehört, daß Sie meinen Cousin hier gefangenhalten«, erklärte der Mann. »Wie ist sein Name?« wollte Pythias jetzt wissen und dachte, daß es sich wohl um einen Irrtum handelte. »John Ellis.« »Ja, das ist richtig, den haben wir dort hinten eingesperrt.« Pythias öffnete die Schreibtischschublade und holte den Schlüssel raus. »Ich wußte gar nicht, daß er einen Cousin hier hat.« »Da haben Sie schon recht, Sheriff«, meinte der Mann lächelnd. »Ich bin Bill Ellis aus Bangor. Ich habe John seit Jahren nicht mehr gesehen, aber da ich gerade geschäftlich in Rockland bin, dachte ich, ihn mal zu besuchen, wo ich schon in der Nähe bin.« »Er wird nicht lange hier bleiben«, erläuterte Pythias. »Aber wie kommt es, daß Sie ihn so schnell aufgespürt haben?« »Nun, ich war in der Taverne, und die erzählten mir dort, daß er hier sei.« Bill Ellis guckte besorgt. »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes, weswegen er hier ist.« »Zunächst nur, weil ein paar Dinge zu klären sind.« Pythias führte den Mann nach hinten in den Zellenbereich. Schlecht gelaunt und verkatert saß John Ellis in seiner Zelle. »John«, rief Pythias, »hier ist jemand, der dich sprechen will.« John Ellis blickte auf. Aber es war nicht die Art von Blick, die Pythias erwartet hatte: Ellis sah verdutzt aus. »Natürlich erkennst du mich nicht mehr«, sagte Bill Ellis. »Du hast mich ja nicht mehr gesehen, seit du acht warst. Ich
habe jahrelang im Mittleren Osten gearbeitet. Ich bin dein Cousin Bill… aus Bangor.« »Oh, Bill…« Ellis stand auf. »Was machst du denn hier?« »Ach, reiner Zufall. Ich war in Rockland und dachte, dann könnte ich ja gleich mal in Cutters Bucht vorbeifahren, um mal nach meinem fast vergessenen Cousin zu sehen. Ist das eine Überraschung?« »Das kann man wohl sagen.« Ellis sah gleich viel fröhlicher aus. »Was du dir nur für einen Tag ausgesucht hast, um mich zu besuchen…« Pythias ließ sie allein. Die Sache mit dem Zufall schien einleuchtend zu sein. Es waren schon viel merkwürdigere Dinge passiert. Nichtsdestotrotz rückte er sich seinen Stuhl so zurecht, daß er die beiden im Auge behielt. Bill Ellis hatte sich an die Gitterstäbe gelehnt, während die Männer plauderten. Er sah aus wie ein einflußreicher Mann. Bestimmt würde John ihn bitten, eine Kaution für ihn zu hinterlegen. Und bestimmt würde sein Cousin darauf eingehen, dachte Pythias. Wie auch immer, er wußte die Wahrheit über John Ellis. Und John Ellis konnte nicht sicher sein, wieviel er, Pythias, wirklich wußte. Solange er im Gefängnis saß, konnte sich Ellis nicht mit den Visitors in Verbindung setzen, und sollte er herauskommen, würde er Ellis’ weitere Aktivitäten überwachen. Pythias seufzte und dachte daran, wie gut es wäre, einen Stellvertreter zur Seite zu haben. Aber es gab sowieso schon einen regelrechten Männermangel in dieser Stadt seit diesem Ereignis. Eigentlich waren da nur noch die Säufer in Mikes Taverne. Auf keinen Fall wollte Pythias noch so einen Schwächling wie John Ellis, der ihn von hinten niederschießen würde, wenn es die Visitors verlangten. Nein, er mußte es wohl allein durchstehen. Er machte sich ziemliche Vorwürfe, daß er Jane Foley da mit hineingezogen hatte. Lieber hätte er
gleich nach Hause fahren und es dabei belassen sollen. Und dennoch war es schön gewesen, letzte Nacht in ihrem Haus. Sie hatte etwas Trost nötig gehabt, genau wie er, und von daher war es doch gar nicht schlecht gewesen, was er getan hatte. In diesem Augenblick fuhr der vertraute Honda Civic in eine Parklücke. Jane Foley sprang heraus und rannte wie ein junges Mädchen mit wehendem Rock auf das Büro zu. Aufgeregt stürzte sie in das Büro und knallte die Tür so zu, daß sich die Klingel fast überschlug. »Pythias!« schrie sie. »Ich glaub’, ich weiß jetzt, wo Sarah und Doktor Brunk sind. Brunk gehört doch eine Insel, nicht weit weg von der Küste!« Pythias hatte vergeblich versucht, ihren Redeschwall zu stoppen. Er blickte hinüber in den Zellenbereich und sah, wie beide, sowohl Bill als auch John Ellis, aufmerksam zu Jane herüberstarrten.
Kapitel 15
Sarah deckte den Doktor mit einem Plaid zu, nachdem er eingeschlafen war. Sie wußte, daß sein Herz nicht in Ordnung war, und paßte immer auf, daß er sich nicht überanstrengte, obwohl er sich oft lautstark über ihr Bemuttern beschwerte. Er war schwer davon zu überzeugen, daß seine früheren Herzattacken Grund genug waren, jede Aufregung zu vermeiden. Er mußte vorsichtig sein, schließlich lag das Schicksal der Menschheit in seiner Hand. Sanft schloß sie die Tür der Hütte hinter sich und begann ihren Spaziergang. Lange Schatten fielen auf die Tannennadeln, die rings um die Hütte einen federnden Belag bildeten. Es war Herbst, und die Tage wurden allmählich kürzer. Die Luft war schon so frisch, wie es noch vor einer Woche unvorstellbar gewesen wäre. Das Holzsammeln wird mir in den kommenden Tagen etwas Abwechslung bieten, dachte Sarah. Als sie den schattigen Wald betrat, fielen ihr Ereignisse aus früheren Tagen ein. Die Visitors, die damals die ländlichen Gebiete erobern wollten, waren in einer kleinen Gruppe nach Cutters Bucht gekommen. Anscheinend hatten sie gedacht, so eine kleine Provinz mit Leichtigkeit terrorisieren zu können. Und die Wut, mit der die Ortsbewohner sich wehrten, hatte sie überrascht. Es hatte mehrere Aufstände gegeben, einen davon direkt in der Union Street. Die Visitors hatten den Sheriff getötet, aber auch sie selbst hatten viele Soldaten verloren. Einen verwundeten Visitor hatte man zu Brunks Labor gebracht, der gerade am neuen Toxin arbeitete. Er extrahierte aus der Körperflüssigkeit des
Alien einen Virus, den er mit neuem genetischen Material neu kombinierte. Der Virus, den er damit geschaffen hatte, war so gut wie unbesiegbar. Er würde sich in seiner inaktiven Phase an den Nervenenden der Aliens festsetzen, und in seiner aktiven Phase würde er zum Killer werden. Aber all das konnte nicht überprüft werden. Denn unglücklicherweise war der Alien seinen Verletzungen erlegen, und Brunk kam somit nicht dazu, den toxischen Virus zu testen. Die Widerstandsbewegung versprach, einen verbündeten Visitor zu schicken, der freiwillig seines verstorbenen Artgenossen Platz einnehmen wollte. Aber an dem Tag, als er ankommen sollte, hatten sie die Nachricht erhalten, daß die Visitors darüber informiert waren, was in Brunks Laboratorien passierte. So waren sie gezwungen, die Laboratorien zu verlassen. Sarah folgte der Markierung an den Bäumen, die der Doktor ihr gezeigt hatte. Der Wald war hier so dicht, daß wohl niemand Menschen vermuten würde. Und selbst wenn jemand auf diese Insel kommen sollte, so würde er die Hütte möglicherweise nie finden, denn für Ortsunkundige war sie so gut wie unsichtbar. Auch die Visitors würden sie nicht aufspüren. Ein Hase hoppelte vor ihr über den Weg. »Hier gibt es keine Lizards«, sagte sie laut. Aber viel Wild gab es auf den paar Quadratkilometern der Insel. Doktor Brunk hatte ihr sogar von Bären berichtet, und daß sie nachts immer die Tür verriegeln müßten, da die Tiere kommen würden, um die Hütte nach Nahrung zu durchstöbern. Sarah wunderte sich, wie die Bären jemals hergekommen waren. War etwa eine trächtige Bärin hergeschwommen auf der Suche nach Blaubeerpfründen? Und hatte es ihr dann so gut gefallen, daß sie an diesem friedvollen Platz blieb?
Sarah vermutete, daß, wenn sie die Bären nicht provozierte, diese ihr ebenfalls nichts tun würden. Vielleicht könnte sie ihnen sogar etwas zum Fressen hinstellen, wenn sie erst einmal ein paar Tage hier waren. Aber natürlich wußte sie nicht, wie lange sie wirklich hier bleiben würden. Sie hatten keine Möglichkeit herauszufinden, was auf dem Festland los war. Vielleicht hatte man die Visitors schon längst wieder zurückgeschlagen. Vielleicht. Früher oder später mußten auch sie beide wieder zum Festland zurückkehren. Sie hatten so gut wie keine Vorräte mit auf die Insel gebracht, gerade mal die paar Dinge, die im Labor herumgelegen hatten, dazu etwas Brot und kalten Aufschnitt aus dem Kühlschrank im Korridor. Dieser kleine Vorrat würde nicht lange ausreichen. Aber sie hatte Angelzeug in der Hütte entdeckt, und natürlich konnte man sich mit den Bären ein paar Blaubeeren teilen. Sarah hoffte jedoch, daß es nicht soweit kommen mußte, sondern daß die Widerstandsbewegung es ihnen ermöglichen würde, bald wieder zum Festland zurückzukehren. Etwas anderes wollte sie sich jetzt nicht ausmalen. Sie erreichte die Küste, atmete tief die salzige Luft ein und beobachtete das sanft wogende Meer. Etwas weiter entfernt lag das Boot gut zwischen zwei großen Felsbrocken versteckt. Drüben auf dem Festland, etwa eine Meile entfernt, sah sie Möwen kreisen. Hier und da erhoben sich aus dem glitzernden Meer dicht bewaldete Inseln. Sarah überlegte, auf wie vielen von ihnen wohl auch solche Hütten wie die ihre standen… Das Wasser, das an die riesigen Uferfelsen schwappte, plätscherte angenehm beruhigend. Plötzlich sah sie etwas am Horizont aufleuchten. Bevor sie näher hinschauen konnte, um zu erkennen, was es war, war es schon hinter der Insel verschwunden.
Etwas, das so groß war, daß es das untergehende Sonnenlicht noch reflektierte, konnte nur ein Schiff sein. Andererseits würde kein so großes Schiff so dicht an die Küste heranfahren, außer vielleicht eine sehr große Jacht. Aber sie spürte, daß es nicht so etwas Unschuldiges war. Das Ding tauchte wieder auf, aber diesmal nicht neben der Insel, sondern über ihr. Es wurde von einer Kraft angetrieben, die nicht von dieser Welt war. Das konnte nur ein Visitorraumschiff, eine ihrer Kampffähren, sein. Die Frau drehte sich abrupt um und rannte zurück in den Wald. Sie rannte und rannte, stolperte über Baumwurzeln, fiel, rappelte sich auf und rannte weiter. Sie mußte Brunk warnen. Sie mußte ihm sagen, daß die Visitors gekommen waren.
Kapitel 16
»Es tut mir so leid, Pythias«, sagte Jane, die in der Eingangstür zu Days Haus stand. »Wie kann eine Frau von fast sechzig immer noch nicht gelernt haben, ihren Mund zu halten?« »Hör auf, dich zu martern, und komm lieber herein«, schnauzte Pythias. Er führte Jane ins Wohnzimmer. »Ich wollte mir gerade einen Kaffee machen. Würde dich eine Tasse davon besänftigen?« »Vielen Dank.« Sie setzte sich, nachdem Pythias ihr den Mantel abgenommen hatte. Pythias verschwand für einen Moment und kehrte mit zwei dampfenden Kaffeebechern zurück. Einen stellte er auf dem Tisch ab, vor Jane, den anderen hielt er hoch, während er sich neben sie setzte. »Du wußtest ja nicht, daß ich John Ellis eingelocht hatte«, beruhigte Pythias sie. »Und selbst wenn du es gewußt hättest, wie hättest du vorausahnen können, daß sein Cousin heute auftauchen würde, um ihn gegen Kaution herauszuholen?« »Welch ein Zufall«, meinte Jane trocken. »Darüber denk’ ich auch schon die ganze Zeit nach.« Pythias nippte an seinem Kaffee. »Zum Teufel mit dem Zufall. Ich könnte schwören, daß ich Bill Ellis schon mal begegnet bin, obwohl er behauptet, mich noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.« »Ich glaub’, das ist auch gar nicht so wichtig«, meinte Jane. »Entscheidend ist, daß er ihn rausgeholt hat.« »Knallhart gelöhnt. Das konnte ich natürlich nicht ahnen, als Ellis ihn festnahm. Dachte auch, ich könnte ihn jederzeit wieder einlochen – wegen Trunkenheit oder Anstiftung zum
Aufruhr oder Tragen einer nicht angemeldeten Waffe, irgend so etwas. Aber jetzt braucht er bloß seinen Cousin anzurufen und ist draußen, ehe du Zeit hast, auf den Bürgersteig zu spucken.« »Was ich nicht vorhabe, Pythias.« Er schenkte ihr eines seiner seltenen Lächeln. »Nenn mich Pyth.« »Pyth? Noch nie hab’ ich jemanden dich so rufen hören.« Sie lachte fast. »Meine Jeannie nannte mich so.« Jane nickte und verstand, daß das ein Kompliment sein sollte. Im ersten Moment hätte sie fast gelacht, aber jetzt war sie tief gerührt. Soweit ihr bekannt war, hatte Pythias nie wieder etwas mit einer anderen Frau angefangen, seit Jeannie Days Tod vor sieben Jahren. »Jetzt stellt sich die Frage«, setzte Pythias das Gespräch fort, so als ob nichts zwischen ihnen passiert wäre, » wie wir weiter vorgehen sollen?« Er schien nicht zu bemerken, daß sie sich mit der Hand eine Träne wegwischte. »Gut«, sagte sie, »wie gehen wir weiter vor – Pyth?« »Ich glaube, so hast du mich noch nie gefragt.« Wieder lächelte er, und durch seinen zotteligen Bart leuchteten weiße, kräftige Zähne. »Wir müssen zur Insel, bevor die Visitors uns zuvorkommen. Schließlich wissen sie nicht, welche Insel es ist, und es gibt eine ganze Menge rings um Cutters Bucht.« »Gute Idee, nur – ich weiß auch nicht, um welche Insel es sich handelt.« Pythias erschrak. »Du weißt es nicht?« »Nein, ich kann mich nur daran erinnern, daß Sarah mir erzählt hat, daß Doktor Brunk eine kleine Insel irgendwo nicht weit vor der Küste gehört. Er fuhr dort immer hin, um sich zu entspannen und zu fischen.«
Pythias runzelte die Stirn. »Irgend jemand hier muß doch wissen, wo sie ist.« »Das glaub’ ich kaum«, sagte Jane. »Brunk ist ein ausgesprochener Einzelgänger.« »Egal, wir müssen einfach versuchen, sie zu finden. Es bleibt uns nichts anderes übrig.« Pythias setzte seinen Kaffeebecher ab. »Ich habe ein paar Karten, auf denen die Inseln verzeichnet sind und auch die Meeresengen und kleinen Buchten. Vielleicht schauen wir die zunächst einmal an und überlegen uns, wo wir anfangen sollen.« »Gute Idee«, meinte Jane und versuchte hoffnungsvoll zu klingen. »Wenn wir einen Helikopter oder ein kleines Flugzeug hätten«, grübelte Pythias, »dann könnten wir tief über den Inseln fliegen und versuchen, die Hütte zu finden, aber seit diese Visitors hier herumschleichen, sind alle öffentlichen Sicherheitseinrichtungen unterbesetzt. Es würde zu lange dauern, bis wir das durchgesetzt haben.« »Was dann?« »Wir müssen es mit dem Boot versuchen.« »Pyth, das nimmt viel zuviel Zeit in Anspruch.« Er schaute sie mit aufrichtigem Bedauern an. »Jane, mir fällt aber nichts Besseres ein.« Er ging zu einem gläsernen Schrank und entnahm ihm mehrere zusammengerollte Karten. »Versuch dich bitte zu erinnern«, sagte er, als er eine auseinander rollte. »Aber die Visitors haben doch diese Raumschiffdinger. Sie können sie von der Luft aus suchen.« Jane fröstelte, wenn sie daran dachte, in welcher Gefahr ihr Mädchen war. »O mein Gott.« Pythias schob die Karte zur Seite und wandte sich Jane zu.
»Nun komm schon, Jane. Reiß dich zusammen. Du mußt jetzt tapfer sein.« Aber die Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen ihre Wangen hinab. »Ich dachte damals, als wir sie aufs College schickten, daß sie das auf einen guten Job vorbereiten würde. Und dann war ich so glücklich, als sie schließlich Doktor Brunks persönliche Assistentin wurde – und gar nicht so weit weg von zu Hause. Niemals hätte ich gedacht, daß es sie das Leben kosten könnte.« Pythias wußte nicht, was er sagen sollte. So ging er zu ihr und hielt sie umarmt, bis sie zu weinen aufhörte.
Kapitel 17
John Ellis steuerte seinen alten Ford Pinto die Route 31 entlang, etwas ins Inland hinein. Neben ihm saß sein »Cousin« Bill Ellis. »An der nächsten Kreuzung biegst du rechts ab, nach Osten«, dirigierte ihn sein Begleiter. »Du willst wieder zurück zur Küste?« »Auf Umwegen«, erklärte Bill. »Wir werden dann vom Norden her zur Küstenstraße stoßen und zu Brunks Laboratorien weiterfahren.« »Wer bist du?« fragte Ellis neugierig. Ihm kam der Gedanke, daß sein Retter vielleicht für Pythias Day arbeiten könnte. Vielleicht wollten sie auf diese Weise herausfinden, was er über die Visitors wußte. »Kennst du mich wirklich nicht, Johnny?« schnarrte Bill. »Ich bin dein alter Cousin Bill.« »Aber ich habe keinen Cousin, der Bill heißt«, entgegnete John Ellis. Er fuhr jetzt auf einer holprigen Landstraße, die er noch von seinen Jagdausflügen kannte. »Diese Straße führt uns höchstwahrscheinlich zurück zum Ozean.« »Ausgezeichnet.« »Ich werde dich hinfahren, wohin du möchtest, Mann, und ich möchte mich auch nochmals dafür bedanken, daß du mich aus dem Gefängnis herausgeholt hast.« »Du wirst etwas mehr tun müssen, als mir nur zu danken, John Ellis.« Etwas in der Stimme des Mannes ließ Ellis frösteln. »Wer bist du?« wiederholte er seine Frage.
Während er die einsame, morastige Straße hinunterfuhr, versuchte Ellis seinen Retter im Auge zu behalten. »Weißt du wirklich nicht, wer ich bin?« »Nein.« Ein merkwürdig zischender Ton entwich Bills Lippen, der sich mit einer Hand ans Gesicht faßte. »Was tust du da?« Bill zog an der Haut seiner linken Wange. Seine Nägel gruben sich so tief hinein, daß John dachte, gleich müßte Blut spritzen. Aber etwas anderes passierte: Die gesamte linke Hälfte von Bills Gesicht löste sich ab, und zum Vorschein kam schimmerndes, dunkelgrünes Reptilienfleisch. »Dachtest du, die ACLU hat mich geschickt?« fragte Bill und lachte scheußlich. Jetzt drückte er einen Daumen in seine linke Augenhöhle. Der Augapfel löste sich und fiel ihm in die Hand. »Das ist ein sensorisches Abtastgerät«, erklärte Bill. »Ein hübsches Plastikspielzeug, findest du nicht?« John war zu Tode erschrocken; seine Hände zitterten so heftig, daß er nur mit Mühe den Wagen unter Kontrolle halten konnte. »Weißt du jetzt, wer ich bin?« fragte die Kreatur auf dem Beifahrersitz. »Ronald«, sagte Ellis schließlich. »Du bist Ronald. Ich hätte es wissen sollen.« »Das hättest du in der Tat«, gab Ronald zurück und zog sich den Rest der Pseudohaut vom Gesicht. Ellis war schon immer etwas nervös geworden, wenn er dem Alienkapitän so nahe war. Sonst hatten sie sich immer tief in den Wäldern getroffen, wo sie niemand entdecken konnte. Aber Ronald hatte ihn niemals so geschockt wie in diesem Augenblick.
»Ich bin noch nicht mit dir fertig, John Ellis«, meinte Ronald. »Noch nicht.« »Mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte Ellis, der immer noch um Fassung rang. »Du weißt, daß ich auf deiner Seite bin.« »Jedenfalls hast du das vorletzte Nacht ganz ausgezeichnet gemacht, als du uns, wie besprochen, deine Männer ausliefertest. Das macht auch deinen gescheiterten Versuch, den Verräter Willie zu exekutieren, wieder wett.« »Ich tat, was ich konnte«, antwortete Ellis bescheiden. »Ja, und du wirst bekommen, was du verdient hast – wenn die Zeit gekommen ist.« »Ich kann warten. Schließlich habe ich mein ganzes Leben lang gewartet, aufgewachsen in dieser Baracke an der Peripherie von Cutters Bucht, mein Vater ein Trinker. Mit sechzehn war ich dann ganz allein, nachdem mein Vater krepiert war. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt, niemals hatte ich jemanden, bei dem ich weinen konnte und der mich tröstete. Erst als ihr hierherkamt, änderten sich die Dinge für mich.« »Ja«, zischte der Alien. »Da änderten sich die Dinge.« Ellis fuhr weiter; die Straße war so schmal, daß die Tannenzweige gegen die Windschutzscheibe schlugen. So ganz glücklich war er nicht darüber, sich mit den Lizards eingelassen zu haben; aber sollten sie eines Tages die Erde vollständig erobert haben, dann hätte er hier das Sagen. Und all die Leute, die sein ganzes Leben lang immer nur verächtlich auf ihn herabgesehen hatten, die würden dann von ihm Befehle erhalten. »Fahr mal etwas langsamer«, forderte Ronald ihn auf. »Ich muß meine Gesichtshaut wieder anlegen, falls uns jemand begegnet.«
»Niemand wird dich zu Gesicht kriegen«, versprach Ellis ihm. »Wenn wir aus dem Wald raus sind, sind wir schon ganz nahe bei der Klippenstraße.« »Ausgezeichnet.« »Wann schickst du eine Patrouille, um die Inseln nach Brunk abzusuchen?« »Ich habe schon entsprechende Anweisungen in dieser Sache gegeben«, erklärte Ronald ihm. »Na, dann wirst du Brunk bald haben – und dieses Mädchen.« Und Ellis mußte an Sarah Foleys sanfte Schönheit denken. Er hatte sie schon immer begehrt, seit er ein Teenager gewesen war, aber sie war immer so unerreichbar gewesen – fast wie eine Göttin. Vielleicht würde Ronald sie ihm geben.
Kapitel 18
Jake Futtermann und Charlie Fitzgerald hatten sich den weiten Weg von Manhattan gemacht, nur um ein wenig jagen zu können. Sie waren bis zu diesem kleinen Nest an der Küste Maines gefahren, die Gewehre hinten im Kofferraum von Charlies Cadillac. »Meinst du wirklich, daß wir im Ozean das finden, was wir suchen?« fragte Jake sarkastisch. »Aber nun schau doch mal.« Charlie deutete auf die dichten Wälder, die die kleine Stadt umgaben. »Alles, was wir brauchen ist jemand, der sich hier auskennt und uns führen kann.« »Ja, in Ordnung. Trotzdem, ich hätte lieber mit Ethel in die Poconos fahren sollen.« »Nun komm schon, Jake. Jetzt suchen wir uns erstmal ein Zimmer und kaufen uns eine Flasche Bourbon. Wer weiß, vielleicht kommt uns sogar etwas vor die Flinten.« Jake seufzte. »Ach, schau doch mal dort drüben – das Pine Tree Motel. Na, was hab’ ich gesagt?« Charlie fuhr auf das Motel zu. Nachdem er geparkt hatte, stellte er den Motor ab und öffnete die Wagentür, um auszusteigen. »Was ist, wenn nichts mehr frei ist?« wollte Jake wissen. »Spinnst du jetzt?« Charlie gestikulierte wild mit der rechten Hand, während die linke immer noch die Wagentür offenhielt. »Jetzt arbeiten wir schon – wie lange? – zwölf Jahre zusammen, und du stellst immer noch so blöde Fragen. Jake,
wir sind doch hierhergekommen, um eine gute Zeit zu haben. Es wird schon alles in Ordnung gehen.« Jake murmelte irgend etwas Unverständliches und stieg aus. Gemeinsam gingen sie zum Empfang des Motels. Beide trugen neonorangefarbene Jägerjacken und Mützen. Drinnen standen sie einem mürrischen Ostküstenbewohner gegenüber, der sich einen Boxkampf auf einem alten Schwarzweißfernseher ansah. »Könnten wir ein Zimmer haben?« fragte Charlie. »Warum nicht?« antwortete der Alte routiniert. »Wir haben genug davon.« Sie zahlten im voraus. Dann fragte Charlie nach einem Führer. »Versuchen Sie’s in der Taverne oben an der Union Street«, schlug ihnen der Boxfan vor. »Den Hügel rauf und dann rechts. Können Sie gar nicht verfehlen.« »In Ordnung. Vielen Dank.« Jake und Charlie gingen, um ihre Sachen aus dem Wagen zu holen. Nachdem sie Gewehre und Kleidung in ihrem Zimmer verstaut hatten, an dessen Decke ein Pferdekopf als Lampenschirm hing, fuhren sie los, um die Taverne zu finden. »Er hat uns noch nicht einmal den Namen der Kneipe genannt«, beschwerte sich Jake. »Was glaubst du, wie viele Kneipen so ein Ort wie der hier hat, Jake?« amüsierte sich Charlie und steuerte den Caddy um die Ecke. »Weißt du, du machst dir einfach überhaupt viel zu viele Gedanken. Als die Visitors kamen, dachtest du, es sei das Ende dieser Erde, jedenfalls so wie wir sie kennen. Du sagtest, die menschliche Rasse sei außerstande, sich gegen eine so hochentwickelte Rasse durchzusetzen. Aber dann stellte sich heraus, daß es einigen Wissenschaftlern gelungen war, ein Toxin zu entwickeln, das es den Visitors unmöglich macht, in kalten Klimazonen zu überleben.«
»Es sind immer noch welche von ihnen hier.« »Aber nur noch bis zum ersten Frost, mein Freund.« »Sie werden ein Mittel dagegen finden.« »Dann werden wir wieder etwas Neues entwickeln. Du kennst doch die Wissenschaftler.« »Kann schon sein«, murmelte Jake. »Dort ist es«, sagte Charlie, als er Mikes Taverne entdeckte. Er parkte direkt davor, und sie stiegen aus dem Wagen und hüpften den hölzernen Gehweg entlang. »Ist ja genau wie in einem Western«, meinte Jake. »Ich wußte doch, daß es dir gefallen wird«, grinste Charlie und öffnete die Kneipentür. Drinnen war es dunkel. Ein paar alte Männer saßen schweigend vor ihren Drinks. Jake und Charlie standen einen Moment in der Tür und traten dann ein. »Was kann ich euch anbieten, Leute«, fragte der Wirt und betrachtete ihre Jägerkluft. »Bier«, bestellte Charlie. »Zwei Bier.« »Kommen sofort.« Nachdem Mike die Biere gebracht hatte, meinte Charlie: »Wir hörten, daß hier ein recht gutes Jagdrevier sein soll.« »Kann schon sein«, erwiderte der Wirt. »Nun, da wir uns hier nicht so gut auskennen, hätten wir gern einen Führer angeheuert.« »Es gibt nicht mehr viele geeignete Männer in der Stadt«, erklärte Mike ihnen. »Diejenigen, die in Frage kämen, sind bei der Bürgerwehr, bei dem, was von ihr noch übriggeblieben ist. Wir rechnen demnächst mit Auseinandersetzungen mit den Visitors.« »Wir haben davon in New York gehört«, sagte Jake. »Sie wollen sich jetzt die Provinz unter den Nagel reißen.« »Ich hoffe, ihr habt mehr Glück, als wir es hatten«, seufzte Jake.
Charlie warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. »Wir sind nicht hergekommen, um über Politik zu diskutieren«, meinte er. »Eigentlich wollten wir nur ein bißchen jagen. Könnte einer von Ihnen uns führen?« fragte er an die anderen Kneipengäste gewandt. »Ich werde euch führen.« Vom anderen Ende der Taverne kam ein kräftiger blonder Mann auf sie zu. »In Ordnung«, rief Charlie. Das Geschäft war bald perfekt, und schon wenige Minuten später verließen Jake und Charlie Mikes Taverne – in Begleitung von John Ellis.
Kapitel 19
Pythias verbrachte fast einen ganzen Tag damit, im Rathaus etwas über die Insel in Erfahrung zu bringen, die der BrunkFamilie gehörte. Es gab siebzig Inseln, die alle nicht weit entfernt lagen von Cutters Bucht, aber keine war unter diesem Namen eingetragen. Der Alte überlegte, daß er vielleicht unter dem falschen Namen suchte. Möglicherweise hatte die Insel einmal der Familie von Brunks Mutter gehört oder vielleicht der seiner Exfrau. Unmöglich, das herauszufinden. Es mußte einen Eintrag geben, aber wie sollte er ihn finden? Ihm wurden auch seine Grenzen als Amateur-Sheriff bewußt. Ein erfahrener Gesetzesvertreter wie Sheriff Evans hätte wahrscheinlich ganz genau gewußt, was in einem solchen Fall zu tun war. Er schloß das schwere, schwarz eingebundene Grundbuch, das er so erfolglos durchstöbert hatte, und stand auf; seine Hand rieb die schmerzende Stelle seines Rückens. Dann trug er das Buch zurück zu Mrs. Snodgrass, die an ihrem Schreibtisch saß. »Nun, hatten Sie Glück?« fragte ihn die ältere Frau und nahm ihm das schwere Buch ab. »Nein, noch nicht.« »Das ist komisch«, sagte Mrs. Snodgrass. »Warum das?« Pythias zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Nun, Doktor Brunk kommt nicht aus dieser Gegend, aber man müßte doch annehmen, daß alle Besitz Veränderungen notiert werden, und außerdem ist Cutters Bucht eine kleine Stadt.«
»Er muß das so gewollt haben«, vermutete Pythias. »Es sollte ein Geheimnis bleiben.« »Aber warum sollte es das?« »Vielleicht um seine Privatsphäre zu schützen.« Pythias bemerkte den listigen Blick der alten Dame. »Sie haben nicht zufällig eine Idee, warum er das wollte?« »Um nicht so einen hohen Preis zahlen zu müssen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Pythias. »Nun, Brunk hat lange genug hier gelebt, um zu wissen, daß es Preise für Einheimische und Preise für Zugezogene, wie er es war, gibt. Und da er ein kluger Bursche ist, wird er schon herausbekommen haben, wie man dieses Problem löst.« Pythias nickte. »Ich verstehe.« »Das dachte ich mir.« Mrs. Snodgrass lächelte. »Aber das sagt uns leider noch nicht, wer der Strohmann war, falls Ihre Vermutung richtig ist.« »Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen, aber ich kann mich mal umhören.« »Vielen Dank. Ich werde das gleiche tun, und vielleicht können wir beide zusammen etwas herausfinden.« Pythias verließ das Rathaus und ging seitlich um das Gebäude herum zu seinem Büro. Das ist das Gute an einer kleinen Stadt, dachte er, man mußte nicht weit gehen, um das zu finden, was man brauchte – vorausgesetzt, das Gesuchte war vorhanden. Er war überrascht, Herb Walsh anzutreffen, der offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Herb stand vor dem Büro und trat von einem Fuß auf den anderen; dabei sah er sehr unbehaglich aus. »Was kann ich für dich tun, Herb?« fragte ihn Pythias. »Ist die Kneipe geschlossen?« Herb schaute auf seine Füße. »Das geschähe mir recht«, sagte er. »Die ganze Zeit saufen, während so schlimme Dinge passieren.«
»Tut mir leid, daß ich das gesagt habe«, beschwichtigte ihn Pythias. »Komm rein, Herb.« Sie gingen hinein, und Pythias schob ihm einen Stuhl hin. Der junge Mann setzte sich, und Pythias machte Kaffee. »Du willst mir etwas erzählen, Herb?« »Es muß nicht unbedingt wichtig sein.« »Dann kann es ja auch nicht so schlimm sein, es mir zu erzählen, oder?« »Vermutlich nicht.« Pythias ließ den Kaffee ziehen und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Jetzt wirkt es vielleicht etwas offizieller«, kommentierte er. »Natürlich habe ich noch nicht diese kleinen Kärtchen mit meinem Namen darauf, aber ich werde tun, was ich kann, um auch das noch in Ordnung zu bringen.« Herb mußte lächeln. »Mister Day, ich war wirklich überrascht darüber, daß Sie der neue Sheriff sind. Nehmen Sie mir das nicht übel, aber Sie sind überhaupt nicht der Typ dafür.« »Der letzte Bürgermeister konnte niemand anderen finden«, sagte Pythias. »Und nun, mein Junge, weshalb bist du gekommen?« »Es geht um John Ellis.« Pythias lehnte sich vor, um Herbs belegte Stimme besser verstehen zu können. »Was ist mit ihm?« »Ein paar Dinge. Zunächst erzählt er jedem, daß Sie für die Visitors arbeiten müßten, seit Sie diese Laserpistole haben.« Pythias zuckte die Achseln. »Ich glaube das nicht«, meinte Herb. »Aber wie Sie wissen, kenne ich John schon mein ganzes Leben lang. Und er hat keinen Cousin, weder in Bangor noch sonstwo. Sein Vater war alles, was er hatte, und seit sein Vater tot ist, hat er schon zum tausendsten Mal erzählt, daß er das letzte lebende Mitglied seiner Familie sei und daß er darüber glücklich wäre.«
»Jesus!« rief Pythias. »Ich wußte doch, daß mit dem Typen etwas nicht stimmt.« »Aber das ist noch nicht alles«, fügte Herb hinzu. »John hat sich heute freiwillig als Führer für zwei angebliche Jäger aus New York angeboten.« Pythias war erstaunt. »So?« »Nun, es kann sein, daß er zusätzlich etwas Geld verdienen will, aber John hat sich noch nie bereit erklärt, Jäger zu führen.« Pythias nickte. »Vielen Dank, Herb.« »Was ich Ihnen da gerade erzählt habe, wird doch unter uns bleiben, nicht wahr?« »Ja, aber vielleicht brauchen wir dich noch als Zeugen vor Gericht.« »Ich werde tun, was man von mir verlangt«, sagte Herb ernst. Pythias schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, daß du gekommen bist.« Herb nickte und erhob sich. »Der Kaffee müßte jetzt fertig sein.« »Nein, vielen Dank«, lehnte Herb ab. »Ich gehe jetzt besser zurück.«
Kapitel 20
Es fiel auf, daß John Ellis auf der Beerdigung fehlte. Der Bürgermeister und seine Frau wurden um neun Uhr morgens auf dem kleinen Friedhof in der Nähe der Methodistenkirche beigesetzt. In der klaren Herbstluft hielt Reverend Fischer die Ansprache. Pythias war über Johns Abwesenheit überhaupt nicht erstaunt, denn letztendlich war ja wohl hauptsächlich er für diese beiden Morde verantwortlich. Neben Pythias stand Jane Foley, die sich die Tränen wegwischte, als man die Särge des Bürgermeisters und seiner Frau in das Grab hinunterließ. Traurig mußte sie daran denken, daß vielleicht auch Sarah, ihrer einzigen Tochter, ein solches Schicksal bevorstand. Als die letzten Worte gesprochen waren, gingen die Trauergäste – es waren fast alle Bürger von Cutters Bucht – einen schmalen Weg den Hügel hinunter zu der alten Backsteinkirche. Hell leuchteten die vielfarbigen Blätter im Sonnenlicht, und man hörte die Kinder im nahen Schulhof spielen. Langsam zerstreuten sich die Trauergäste. »Viel Glück habJ ich nicht gehabt«, erzählte Pythias, offensichtlich ziemlich entmutigt. »Wenn ich nur herausfinden könnte, wer als Zwischenmann die Insel für Randall Brunk gekauft hat.« »Irgend jemand in dieser Stadt muß das doch wissen«, ereiferte sich Jane, froh, über etwas sprechen zu können, was sie von dem Gedanken an ihre Tochter ablenkte, wenn auch nur für ein paar Augenblicke.
»Und dann scheint da noch was mit John Ellis und diesen Jägern zu sein.« »Ich dachte, du wärst froh darüber. Schließlich bist du Ellis dadurch für eine Weile los.« Pythias schaute hinüber zum Ozean. Eine Insel nach der anderen, so weit das Auge reichte, hob sich aus den glitzernden Wellen. »Vielleicht ist es am besten, wenn ich schnell ein Boot nehme und selber diese Insel suche.« »Pyth!« schrie Jane plötzlich. »Schau!« In einiger Entfernung schwebte etwas über dem Ozean, das aussah wie ein weißer Raubvogel. Gelegentlich stieg es höher, um über eine der Inseln hinwegzuschweben. »Ich darf keine Zeit mehr verlieren«, rief Pythias. »Ich muß sofort los.« Schnell liefen sie zum Wagen und stiegen ein. »Ich bring’ dich nach Hause«, sagte Pythias. »Nein, Pyth, ich will dich begleiten.« »Könnte der Gesundheit schaden.« Jane grinste. »Allein daheim zu hocken und zu warten schadet auch der Gesundheit – zumindest der psychischen.« Sie schaute ihn erwartungsvoll an. »Was?« »Du bist ein Teufelsweib.« Sie lächelte. »Heißt das, du hast nichts dagegen, wenn ich mitkomme?« »Natürlich habe ich nichts dagegen.« Sie fuhren die alte Straße zum Ozean hinunter bis zu Don Curtis’ Bootsschuppen. Don, ein Veteran, der fünfzig Jahre lang Hummerfallen gelegt hatte, kam heraus, um sie zu begrüßen. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff?« fragte er, die Maiskolbenpfeife zwischen den gelben Zähnen. »Wie geht’s Ihnen, Ma’am?«
»Wir wollen ein Boot mieten, Don.« »Ich hab’ viele Boote. Sieht aus, als ob ihr hier richtig seid.« »Wir brauchen eins, das schnell ist«, erklärte Pythias. »Wir müssen ein ziemlich weites Gebiet abklappern.« Sie gingen auf die Pier, betrachteten Dons Boote und entschieden sich bald für ein kleines Schnellboot mit einem Evinrude-Außenbordmotor. »Damit schafft ihr’s«, meinte Don und nannte die Leihgebühr. »…Außer es handelt sich um eine offizielle Angelegenheit.« Lässig spuckte er auf die Pier. Pythias dankte ihm, erfreut darüber, daß es noch solche Menschen wie Don Curtis in Cutters Bucht gab. Mit Curtis’ Hilfe kletterten er und Jane in das kleine Boot. Nach einigen erfolglosen Versuchen gelang es Pythias, den Motor anzulassen. Sie nahmen Kurs auf die nächstliegende Insel. »Das kann alles ganz schön lange dauern«, brüllte Pythias durch den Wind. »Vielleicht hätten wir noch etwas Proviant mitnehmen sollen«, rief Jane zurück. »Wir müssen sowieso wieder an Land, wenn uns das Benzin ausgeht. Kann aber sein, daß das ziemlich lange dauert, Jane.« Die Inseln ragten aus dem Meer heraus wie die Köpfe riesiger Pilze. Sie fuhren um die erste Insel herum, aber nichts deutete darauf hin, daß sie bewohnt war. Pythias wußte aber auch, daß die Hütten, so eine, wie sie sie suchten, oft weit ab vom Wasser gebaut wurden, so daß die Bäume einen Windschutz boten und gleichzeitig die Privatsphäre ihrer Bewohner schützten. Er lenkte das Boot zwischen zwei hohen Felsen hindurch und legte an. Die Insel war so klein, daß er das Meer auf der anderen Seite sehen konnte. Hier würden sie keine Hütte finden.
»Es gibt einige, die wesentlich größer sind als diese hier«, erklärte er. »Dort sollten wir nachsehen.« Jane nickte. Sie wollte gerade hinzufügen, was für einen Spaß es machen würde, die Inseln unter anderen Umständen zu erkunden, aber ein tiefes Brummen ließ sie verstummen. Sie schauten beide hoch und sahen ein schlankes Visitorraumschiff durch die frische Herbstluft schweben. Da sie sich hinter den Felsen befanden, hatte man sie wahrscheinlich nicht entdeckt. Und schon ging die Kampffähre etwas tiefer und verschwand in Sekundenschnelle hinter der nächsten Insel.
Kapitel 21
Jake und Charlie fürchteten sich. »Schau sie dir an, sie zittern wie erschrockene Nagetiere«, meinte Ronald. »Deshalb werden deine Leute uns auch nie besiegen, John Ellis – sie sind einfach zu schwach.« Ronald wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Kontrollen des Raumschiffes zu, vor denen der Visitorpilot der Kampffähre saß. Über ihm auf dem Bildschirm sah man den Ozean seltsam verzerrt. Die mit Nadelbäumen bewachsenen Inseln ragten aus dem Wasser wie grüne Eisbergspitzen. »Wir wollten doch nur auf die Jagd gehen«, stöhnte Jake. »Ruhe!« befahl Ronald. »Sie sprechen nur, wenn ich Sie dazu auffordere!« Jake duckte sich. Charlie hatte sich schon mit ihrer Situation abgefunden. Sie flogen nur wenige Meter über dem Meer dahin. »Warum hast du mir diese Idioten gebracht?« wollte Ronald wissen und wandte sich John Ellis zu. »Habe ich nicht schon genug Probleme?« »Ich… ich habe angenommen, daß du wünschst, daß ich sie gefangennehme. Du wolltest doch, daß niemand etwas erfährt, wenn du das Toxin gefunden hast, oder?« »Aber wir wissen doch überhaupt nichts«, schrie Charlie. »Laßt uns bitte zurückfahren nach New York, und ihr werdet nie wieder ein Sterbenswort von uns hören.« »Wenn ich euch jetzt töte«, meinte Ronald, sorgfältig seine Worte wählend, »dann werde ich mit Sicherheit nie wieder ein Sterbenswort von euch hören.«
»O bitte«, winselte Charlie. »Tun Sie das nicht. Wir werden auch alles tun, was Sie von uns verlangen.« »Wieso habe ich mich eigentlich von dir zu einem Jagdausflug nach Maine überreden lassen?« grübelte Jake verbittert. Ronald ignorierte sie einen Augenblick, tief in Gedanken versunken. »Ihr könnt etwas für mich tun«, sagte er schließlich. »Sagen Sie es uns«, bat Charlie. »Alles, egal, was es ist. Sagen Sie es uns.« »Ihr seid doch hierhergekommen, um zu jagen«, erklärte Ronald, »also schicke ich euch auch auf die Jagd.« Jake und Charlie blickten einander an. Sie vermuteten eine Falle, aber sie wagten nichts dagegen einzuwenden. Sie warteten darauf, daß Ronald ihnen näher erklärte, was er meinte, aber sie wurden enttäuscht. »Ja«, krächzte der Alienkapitän, »ihr werdet bald auf die Jagd gehen können.«
»Du mußt in der Hütte bleiben, Sarah.« Brunk sah sie ernst an. »Wenn sie kein Lebenszeichen auf der Insel entdecken, dann werden sie vielleicht weiterfliegen. Aber wenn sie einen von uns hier herumlaufen sehen, dann werden sie sofort herunterkommen, um die Insel genauer zu erforschen.« Sarah stand auf und schlang ihre Arme um sich selbst. »Ich werde dennoch hinausgehen, um etwas Holz fürs Feuer zu suchen«, meinte sie. »Wenn ich draußen bin, höre ich das Raumschiff, bevor es nahe genug ist, um mich zu entdecken.« »Kein Feuer. Sie werden den Rauch in der Luft sehen.« »Und was ist, wenn die Temperatur heute nacht sehr sinkt?« wollte Sarah wissen. »Was sollen wir dann machen?«
»Wir müssen jetzt sehr achtsam sein. Die Visitors verstehen keinen Spaß. Offensichtlich wissen sie auch, daß wir uns auf einer der Inseln versteckt halten. Das bedeutet, daß wir absolut kein Lebenszeichen von uns geben dürfen. Wenn sie uns hier finden sollten, werden sie das Toxin an sich nehmen und uns töten. Sollte es uns aber gelingen, das Toxin vorher noch zu vernichten, dann werden sie mich mit Sicherheit foltern, um die Formel zu erfahren. Und vielleicht foltern sie auch dich, meine Liebe.« Sarah sah, wie betroffen den Doktor der Gedanke daran machte. Sie wußte, daß er ihr diese Möglichkeit nur deshalb vor Augen hielt, um ihr klarzumachen, wie entscheidend es war, nicht aufgespürt zu werden. Brunk war niemand, der das Verhängnis heraufbeschwor, und auch keiner, der bei der geringsten Kleinigkeit Alarm schlug. Sarah schauderte bei der Vorstellung, was die Lizards ihr antun könnten. Aber es war nicht das erste Mal, daß ihr solche Gedanken kamen. »Wir werden gegen sie kämpfen«, sagte sie. »Wir werden uns gegen sie wehren, wenn sie kommen sollten.« »Ja, natürlich werden wir das. Aber vielleicht wird es auch nicht nötig sein. Früher oder später wird der Winter die Visitors vernichten. Wenn wir es bis dahin hier aushalten, sind wir gerettet.« »Aber wenn sie uns finden, bevor die Widerstandsbewegung etwas unternimmt…« »Laß uns nicht daran denken, Sarah.« »Noch vor einer Minute haben Sie mir die Möglichkeit vor Augen geführt, und jetzt wollen Sie plötzlich nicht mehr daran denken.« Der Doktor brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich meinte doch nur, daß es wenig Sinn hat, sich das alles genau auszumalen.«
»Vielleicht haben Sie recht. Auf jeden Fall sollten wir uns aber überlegen, wie wir sie bekämpfen wollen, falls sie uns finden«, beharrte Sarah. »Wir haben Messer, ein Beil, eine Axt…« »Und das Toxin«, fügte Brunk hinzu, »falls es wirkt.« Sarah ging auf ihn zu und umarmte ihn. »Es wird wirken, Doktor. Es muß einfach.« »Ich habe Angst, es könnte nicht klappen, Sarah.« Sie liebte diesen Mann beinahe so wie ihren verstorbenen Vater, und sie weigerte sich, daran zu denken, daß die Arbeit vieler Monate umsonst gewesen sein sollte. »Es wird wirken«, sagte sie fest. »Ich weiß, daß es das wird.«
Kapitel 22
Bei Sonnenuntergang gaben Pythias und Jane auf. Sie fuhren das Boot zurück zu Don Curtis’ Anlegestelle, dankten ihm und fuhren mit dem Polizeiauto langsam wieder den Hügel hinauf. »Mein Gott, wie frustrierend«, stöhnte Jane. »Allen möglichen Klatsch erfährt man über die Leute in dieser Stadt, aber laß es mal wichtig sein…« »Klatsch…« Grimmig starrte Pythias auf die Straße vor sich. »Was?« »Wo gehst du hin, wenn du den neuesten Klatsch hören willst?« »In den Bridge Club. Nähzirkel. Zum Zaun hinterm Haus.« »Oder in deine freundliche Kneipe in der Nachbarschaft.« Pythias steuerte den Wagen zur Union Street, und schon wenige Minuten später betraten sie Mikes Taverne. Die übliche Runde von Nichtstuern soff sich durch den frühen Abend, einschließlich Herb Walsh, der Pythias grüßte. Nur einer der Stammgäste fehlte, genauso wie am frühen Morgen bei dem Begräbnis: John Ellis. Mike Shermann fragte sie nach ihren Wünschen. »Für mich ein Bier«, sagte Pythias. »Was möchtest du, Jane?« »Nur eine Diät-Cola.« »Darf’s vom Faß sein?« »Ja klar.« Mike reichte ihnen ihre Getränke. Pythias schien es, als wären alle Anwesenden etwas zurückhaltend. Aber vielleicht lag das nur daran, daß eine Dame unter ihnen war. Doch er sah auch ihre feindseligen Blicke. John Ellis hatte scheinbar ganze
Arbeit geleistet. Er entschied, daß die beste Methode, dagegen vorzugehen, war, die Sache sofort anzusprechen. »Was bedrückt euch, Jungs?« fragte er. Keiner antwortete, aber er wußte, daß er richtig lag, besonders nachdem Herb ihm gestern erzählt hatte, mit welchen Verdächtigungen Ellis gegen ihn hausieren ging. »Nun kommt schon«, meinte Pythias. »Was ist los?« »Wir sprechen nicht mit Verrätern«, hörte man eine wütende Stimme vom hinteren Ende der Theke. »Wer hat das gesagt?« wollte Pythias wissen. »Komm hierher und steh mir gegenüber wie ein Mann.« Ein dünner, hohlwangiger Mann um die Fünfzig kam heran und baute sich vor Pythias auf. »Arvid Ebbeson, ich hätte es wissen sollen.« »Was wissen sollen?« stieß Ebbeson hervor. »Daß du viel zu sagen haben würdest, nachdem der Kampf vorüber ist.« »Was soll denn das heißen?« »Genau das, was ich gesagt habe«, spottete Pythias. »Wo warst du, als wir dich vor ein paar Tagen brauchten?« »Ich war die Küste rauf… arbeiten.« »Ist das ein Grund?« Rotgesichtig und beschämt blickte sich Ebbeson um. Jeder starrte ihn jetzt an. Er stand da, unschlüssig, ob er zurückschlagen oder sich lieber hinsetzen sollte. Er sah Pythias an. Irgend etwas in der Miene des alten Mannes veranlaßte ihn, eine Entscheidung zu treffen. Er setzte sich. »Ist es das hier, was euch ärgert?« fragte Pythias und zog die Laserpistole aus seiner Jacke. Er legte sie auf den Tresen. »Seltsames kleines Ding«, sagte Mike Shermann und stieß einen Pfiff aus. »Kannst du es uns nicht mal vorführen?«
»Stell mal ein Glas dort hinten auf die Theke«, beauftragte ihn Pythias. Dann nahm er den Laser und schoß, ohne zu zielen, einen Bogen über den Tresen, bis der blaue Lichtstrahl das Glas traf. Dort ließ er ihn einen Moment lang verharren. Das Glas erhitzte sich, begann rot zu glühen und zersprang dann in tausend Stücke. Rauch stieg von den Überbleibseln hoch, und die Zuschauer rückten näher, um noch einmal alles genauer in Augenschein zu nehmen. »Wie bist du an das Ding geraten?« wollte Melvin Grant wissen. »Bei meiner Flucht aus Brunks Laboratorien«, erklärte Pythias. Die Männer schienen geneigt, ihm zu glauben. Sie versammelten sich jetzt um Pythias, um den Laser besser betrachten zu können. Er gab ihn dem Nächststehenden, damit er ihn untersuchen konnte. »Aber Sie sind doch nicht hergekommen, um Schießübungen zu veranstalten, Sheriff, nicht wahr?« fragte ihn Mike Shermann. »Nein, nicht ganz, Mike.« »Also, was kann ich für Sie tun?« »Ich bin dabei, etwas über eine Grundbesitztransaktion herauszufinden.« Mike lehnte sich zu ihm herüber und hörte zu. »Es scheint, daß Doktor Brunk etwas Land gekauft hat – eine Insel vor der Küste, nicht weit von hier –, aber er hat sie nicht unter seinem Namen gekauft.« »Mmm.« »Die alte Snodgrass, die im Rathaus arbeitet, denkt, daß jemand aus der Stadt für ihn den Strohmann gespielt hat.« »Sie hat recht«, sagte Mike.
»Ach ja? Woher wissen Sie das?« »Ganz einfach.« Mike lächelte breit. »Ich hab’ den Kauf für Brunk getätigt.«
Kapitel 23
Sie zerrten Willie vor Ronalds Füße. Da das Licht ihn stark blendete, war er jedesmal dankbar dafür, wenn der Wachposten ihm den Kopf runterdrückte. »So, mein kleiner Philosoph«, begann Ronald. »Sobald die Sonne aufgegangen ist, werden wir mit unserem Spiel beginnen.« »Dann haben Sie also einen geeigneten Platz gefunden?« fragte Willie. Die Wache versetzte ihm einen Fußtritt. »Hör auf«, befahl Ronald. »Laß ihn aufstehen.« Willie war erleichtert. Er erhob sich, und auch seine Augen gewöhnten sich langsam an das künstliche Licht. »Das Glück ist auf unserer Seite, Willie«, schnarrte Ronald. »Wir haben nicht nur den perfekten Ort für unser kleines Spiel gefunden, sondern auch lokalisiert, wo sich dieser Brunk aufhält.« Eine Zentnerlast wälzte sich auf Willies Herz. »Noch haben wir ihn nicht gefangengenommen«, erzählte Ronald, »aber er steht unter Beobachtung und wird uns nicht entkommen.« Willie schaute zu Boden und dachte an das Ritual des Zon. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das kalte Wetter einsetzte; wenn sie nur bis dahin durchhalten würden. Aber Ronald schien sich seiner Sache so sicher zu sein… Vielleicht zu sicher. Willie spürte die Schwachstelle in Ronalds intrigantem Denken: das fehlende Verständnis dafür, daß Dinge auch schiefgehen konnten, egal wie sorgfältig man sie geplant hatte.
»Bei Tagesanbruch beginnen wir mit der Jagd«, erklärte Ronald. »Du wirst jetzt an den Platz gebracht, den wir ausgesucht haben.« Ronald verließ als erster das Laboratorium. Willie, von Wachen umzingelt, folgte ihm, froh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Obwohl die Zusammensetzung der Atemluft auf der Erde etwas anders war als auf seinem Heimatplaneten, hatte er gelernt, die Luft seines Adoptivplaneten gern zu atmen. Und wie es aussah, würde er sowieso nie wieder in seine Heimat zurückkehren können. Es war nicht damit zu rechnen, daß diese Militärdiktatur noch zu seinen Lebzeiten niedergeschlagen würde. Die einzige Hoffnung war Amon, ihr spiritueller Führer, der heute in der Verdammung lebte. Willie rechnete nicht damit, daß die ›Jagd‹ für ihn heute gut ausgehen würde. Und auch die armen Kreaturen dieser Welt hatten einen langen Kampf vor sich. Aber Willie war davon überzeugt, daß sie am Ende siegen würden. Ihre Sache war gerecht, und sie glaubten an die Gerechtigkeit, und das wiederum gab ihnen jene Kraft, die seinen Leuten leider fehlte. Sie gingen das kurze Stück über den Parkplatz bis zum Raumschiff. Die Sterne standen hoch und klar am Himmel. Sirius war noch gut zu sehen, obwohl schon das erste graue Licht der Morgendämmerung über dem Meer aufstieg. Er war der leuchtendste Stern am Himmel, ein glitzernder Juwel in der Dunkelheit. Sie standen vor dem Raumschiff und beobachteten, wie sich die Rampe langsam senkte. Einen Augenblick später waren sie schon an Bord, und Willie überkamen nostalgische Gefühle, wieder einmal auf einer Kampffähre zu sein, auf der er in der Vergangenheit so viel Zeit zugebracht hatte. Obwohl sie als Zerstörungsmaschine konstruiert war, bewunderte er ihre schnittige Form und die Raffiniertheit ihres Designs. Seine
Leute waren Meister dieser Technologie. Wenn sie ihr Wissen doch nur statt zur Eroberung für konstruktivere Zwecke einsetzen würden. Ronald deutete auf einen Sitz, und Willie versuchte es sich so bequem und entspannend wie möglich zu machen. Zeigte er auch nur den Anflug eines Gefühls von Furcht oder Anspannung, dann würde sich Ronald das zunutze machen. Während die Mannschaft mit den Details des Starts beschäftigt war, dachte Willie darüber nach, daß er nie eine besonders starke Persönlichkeit gewesen war. Er war zwar zum Militär gegangen, aber da jeder in einem bestimmten Alter dazu verpflichtet war, war das nichts Besonderes. Seine Leute hatten ihr eigenes Sonnensystem unterworfen und waren dann weiter in die Galaxie vorgedrungen, immer auf der Suche nach Wasser und Nahrung. Man war der Überzeugung, daß bewaffnete Übergriffe notwendig waren, um das Überleben ihrer Welt zu sichern. Willie hatte immer seine Zweifel daran gehabt. Aber auch wenn es wahr sein sollte, so legitimierte es nicht solch ein Vorgehen gegenüber der Menschheit – und auch nicht sich selbst gegenüber, wenigstens im spirituellen Sinn. Und das war es, was zählte… das spirituelle Leben. Die Raumfähre begann sich vom Boden zu lösen; langsam ließ die Erdanziehung nach. Die Schubkraft, die er nun so oft schon verspürt hatte, verschaffte ihm ein angenehmes Gefühl, obwohl er wußte, daß es vielleicht das letzte Mal sein würde, daß er sie erlebte. Auf dem Bildschirm sahen sie die kleiner werdenden Gebäude und die weißen Schaumkronen der Wellen, die sich am felsigen Ufer brachen. Am Horizont kündigte ein rosaroter Schimmer den heraufziehenden Morgen an. Dank der Antischwerkraftsysteme spürten sie kaum, wie schnell das Raumschiff über das Wasser glitt. Willie sah die
dunklen, scharfen Schatten, die aus dem Meer ragten: die Inseln. Er hatte erwartet, daß sich die Kampffähre ab einem bestimmten Punkt dem Festland zuwenden würde, aber das tat sie nicht. Sie folgte in einer gewissen Entfernung den Inselküsten und wurde immer dort langsamer, wo die Inseln dicht bewaldet waren. Sie stoppten schließlich direkt über dem felsigen Strand einer Insel, die mehrere Kilometer breit war. Dies also war der Platz, den Ronald für Willies Tod ausgesucht hatte.
Kapitel 24
Pythias Day hatte beobachtet, wie sich das Raumschiff langsam der Insel näherte, und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam ihn. »Jetzt können wir nicht auf die Insel«, sagte er traurig. »Oh, Pyth.« Jane sah aus, als ob sie gleich weinen würde. Pythias wendete das Boot. Die Visitors sollten sie nicht entdecken. »Wir müssen einen Kampftrupp zusammenstellen. Das ist der einzige Weg, sie aufzuhalten, jetzt, wo sie auf der Insel sind.« »Aber wer ist noch da, der kämpfen könnte?« rief Jane. »John Ellis hat doch dafür gesorgt, daß alle unsere jungen Männer getötet wurden.« »Doch, es gibt noch Leute«, versicherte Pythias. »Und diese Leute sind bereit zu kämpfen, wenn ihre Heimat bedroht ist.« »Aber die Visitors haben ihren Kampfgeist gebrochen.« Pythias hielt auf das Festland zu. Wenigstens wußten sie jetzt, auf welcher der Inseln Brunk und Sarah waren. War es möglich, daß die Visitors es nicht wußten? Oder womöglich erkundeten sie gerade jetzt diese Insel. Nach außenhin gab es wirklich kein sichtbares Zeichen, daß irgend jemand hier lebte. Aber er machte sich wohl selbst etwas vor. Natürlich wußten sie es. Er mußte jetzt ein paar Männer zusammentrommeln. Und wenn es nicht genug Männer gab… »Warte einen Moment!« »Was ist das, Pyth?« Ein blauer Feuerblitz verfehlte um Haaresbreite Pythias’ Ohr. Einen Moment lang bewegte sich keiner von beiden. Dann zog Pythias seine Laserpistole und drehte sich um.
Zwei Visitors näherten sich ihnen. Auf silbernen Scheiben glitten sie zwei Meter über den Wellen dahin. Je näher sie kamen, um so deutlicher hörte man das Summen ihrer Antischwerkraftsysteme. Wieder feuerten sie, und der Schuß brannte ein hübsches rundes Loch in den Bug. Pythias schoß zurück; der Energiestrahl zuckte dicht an einem Visitor vorbei. Beide Scheiben begannen im Zickzack zu fliegen. »Sie versuchen nur, uns einen Schrecken einzujagen«, brüllte Pythias. »Aber ich muß sie töten. Wenn ihr Anführer etwas von diesem Laser erfährt, dann weiß er, daß es sich um mich handelt, auch wenn diese beiden es nicht wissen.« Die beiden Reiter auf den Scheiben wurden langsamer, vielleicht überlegten sie, lieber umzukehren. »Halt mal!« Pythias drückte Jane die Laserpistole in die Hand und drehte das Boot um 180 Grad. Das kalte Salzwasser spritzte ihm ins Gesicht. Pythias erhöhte die Geschwindigkeit und hielt direkt auf die beiden Visitors zu. Er sah ihre vor Staunen offenen Münder unter den dunklen Sonnenbrillen, als er sie angriff. Jane wartete nicht darauf, daß Pythias den Laser wieder an sich nahm. Sie feuerte einen Schuß ab, der die Luft zwischen den beiden Scheiben zum Flimmern brachte; ein zweiter verfehlte knapp einen der Scheibenreiter, der bei dem Versuch zu entkommen umfiel. Sein Partner ließ eine ganze Salve Laserfeuers los, so daß das Seewasser rings um das Boot zu kochen anfing, aber Pythias und Jane verschonte er. Pythias stürzte jetzt auf Janes Seite des Bootes und klopfte ihr auf die Schulter. »Geh du jetzt rüber und steure das Boot«, brüllte er über den Lärm des Motors, der Scheiben und des Laserfeuers hinweg. »Ich hab’ mehr Übung mit dem Ding.«
Er nahm die Laserpistole an sich, und Jane kletterte zurück ins Heck. Sorgfältig zielend schoß er, verfehlte jedoch den nächstfliegenden Visitor. Sein nächster Schuß traf den Visitor, der aufschrie und vor Schmerz und Schreck von seinem fliegenden Untersatz fiel. Er verschwand in einer Explosion weißen Schaums. »Guter Schuß, Pyth!« rief Jane aufmunternd. Der zweite Visitor drehte sich auf seiner Scheibe und versuchte zu entkommen. Wild feuerte Pythias hinter ihm her, und der Visitor stieg immer höher auf bei seinem Versuch, außer Reichweite zu gelangen. Bei diesem Manöver fing die Scheibe jedoch bedenklich zu schwanken an. Pythias blinzelte in die Sonne und brannte einen blauen Bogen in den Himmel, der den Scheibenreiter knapp verfehlte, als dieser zur Seite kippte und nun etwa dreißig Meter über dem Meer nur noch gefährlich auf einer Seite hing. Einen Moment lang verlor Pythias ihn aus den Augen, und dann sah er, daß der schlaue Alien abgedreht hatte und sie jetzt von hinten angriff. Der Alte schnellte hoch, wobei ihr Boot fast umgekippt wäre. Der Visitor war jetzt dicht hinter ihnen, ungefähr drei Meter über dem Wellenkamm schwebend, und schoß wild um sich. Eine Lasersalve hätte Jane beinahe getroffen, wenn sie sich nicht panikartig hätte zurückfallen lassen. Der Schuß traf den Dollbord und explodierte in einem gewaltigen Funkenhagel. Auch wenn er uns nicht trifft, dachte Pythias, so könnte dieser Hurensohn doch das Boot zum Sinken bringen. Ich kann es nicht riskieren, ihn nochmals zu verfehlen. Er ist zu nahe, um uns nicht irgendwann zu treffen. Stetig glitt die Scheibe über die Wellen, anders als das tänzelnde Boot. Pythias und der Visitor legten gleichzeitig an. Einen Augenblick lang starrten sie einander über den Gewehrlauf
ihrer Laser hinweg in die Augen. Der Visitor zögerte einen Moment. Pythias sah nichts weiter als das Spiegelbild von Janes zu Tode erschrockenem Gesicht in den dunklen Augengläsern des Alien. Er feuerte. Der Alien erzitterte. Seine Klauenfinger konnten die Waffe nicht länger halten, und sie fiel in den Ozean. Einen Augenblick später folgte er. Pythias und Jane beobachteten, wie die Scheibe umkippte und wie ein scharfschneidiges Messer ins Meer glitt. Pythias kletterte in das Heck des Bootes, umarmte Jane und griff nach dem Steuer. »Pyth…« »Ja, Jane?« Er dachte, daß sie jetzt zusammenbrechen und weinen würde, aber was sie sagte, überraschte ihn. »Laß uns hier schnell abhauen, bevor sie uns noch mehr von diesen Reitern auf den Hals hetzen.«
Kapitel 25
»Nun kommt schon, Jungs«, rief John Ellis den beiden gequälten Jägern zu. Er wartete einen Moment, bis sie ihn eingeholt hatten, und beschimpfte sie dann für ihre Trödelei. »Schließlich war es nicht unser Wunsch, auf dieser Insel zu jagen«, erklärte Charlie, vor Anstrengung heftig atmend. »Wir wollten auf dem Festland jagen.« »Kein Grund zur Aufregung«, murmelte John und lächelte boshaft. »Auf dieser Insel kann man gut jagen. Ausgezeichnet sogar.« »Rotwild?« fragte Charlie. »Kein Rotwild, aber Bären, Hasen… und ‘ne Menge anderes.« »Hier gibt es Bären?« fragte Jake ungläubig. »O nein!« »Reg dich nicht auf, Jake«, beruhigte Charlie ihn. »Schließlich haben wir Gewehre, oder etwa nicht?« »Er hat recht«, stimmte Ellis zu. »Außerdem schmeckt Bärenfleisch ausgezeichnet, und stell dir erst mal den schönen Bettvorleger vor, den du nach New York mit zurückbringen wirst.« Jake und Charlie sahen einander an. Ohne darüber gesprochen zu haben, wußten sie beide, daß sie höchstwahrscheinlich nie mehr nach New York zurückkehren würden, auch dann nicht, wenn sie alles taten, was die Visitors von ihnen verlangten. Warum man sie bisher noch nicht getötet und hierher gebracht hatte, war ihnen sowieso schleierhaft. Das einzige, was ihnen Hoffnung machte, war die Tatsache, daß sie überhaupt noch lebten.
»Kommt weiter«, trieb Ellis sie an. Er führte sie tiefer in den Wald hinein und sprach dabei leise: »Die Bären sind jetzt sowieso beim Fischen oder beim Lunch in den Heidelbeeren.« »Wie schön, dann werden sie wenigstens nicht uns zum Lunch wollen«, meinte Jake. John Ellis gluckste. »Hier lang.« Er führte sie auf eine Lichtung, die dicht mit Büschen wilder Blaubeeren bewachsen war. »Geh hin und schau mal im Unterholz nach«, befahl er Charlie. Charlie sah Jake an, der mit den Achseln zuckte. »Okay«, meinte Charlie und ging direkt auf das Gebüsch zu. Er konnte keinerlei Bewegung entdecken bis auf ein paar trockene Blätter, die von den Ästen schaukelten. Er hörte nur den Wind, der sanft die Zweige bewegte. Alles wirkte friedlich. Als er zu seinen Begleitern zurückblickte, gab Ellis ihm mit Gesten zu verstehen, tiefer in das Unterholz einzudringen. Er war geneigt, die Aufforderung des verräterischen Bastards zu ignorieren, aber er wagte es nicht. Bisher hatte es keine Möglichkeit gegeben, den Visitors zu entkommen, und er wollte nicht, daß Ellis sie gegen Jake und ihn aufhetzte. Die einzige Chance, daß die Visitors sie gehen ließen, sah er darin, daß sie es vielleicht leid würden, mit ihnen zu spielen. Plötzlich spürte er, daß etwas nach dem Ärmel seiner Jagdjacke griff. Voller Panik versuchte er sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Schweiß lief ihm die Stirn hinunter, und er drehte sich um, um dem Ding, das ihn festhielt, ins Auge zu sehen. Aber da war nichts. Charlie blickte an sich herab, und dann sah er, was es war. Es war kein Bär, sondern ein Zweig, der sich in seinem Ärmel
verfangen hatte. Verärgert befreite er sich und entschied, weiter in das Gestrüpp vorzudringen. Nach einigen Minuten glaubte er, etwas zu hören. Es war ein tiefes, schnaubendes Geräusch. Er stand ganz still. Doch bis auf den Wind in den Bäumen war nichts mehr zu hören. Aber das war es nicht, was er gehört hatte… Sekunden später ging er weiter, seine 30.06 im Anschlag. Es mußte doch nur der Wind gewesen sein, entschied er. Hier war niemand. Er fühlte sich etwas sicherer und ging immer tiefer und tiefer in das Dickicht hinein, die Büsche vor sich mit seinem Gewehr zerteilend. Das Ganze begann ihm jetzt richtig Spaß zu machen, so furchtlos herumzustöbern in der Nähe wilder Bären. Plötzlich griff etwas aus den Büschen nach seinem Gewehr. »Whoa«, stieß Charlie hervor. Noch mal ließ er sich nicht täuschen; das Gewehr war wahrscheinlich wieder an einem Ast oder ähnlichem hängengeblieben. Er versuchte, es loszukriegen. Wieder war das schnaubende Geräusch aus dem Gestrüpp zu hören, und genau von der Stelle, wo sich das Gewehr verklemmt hatte. Charlie versuchte zu schießen, aber die 30.06 war gesichert. Vorsichtig beugte er sich hinunter und entsicherte sie. In dem Augenblick, als er schießen wollte, wogte es in den Büschen, und ein riesiger schwarzer Bär tauchte wütend brüllend vor ihm auf. Charlie sah in ein großes, weit offenstehendes Maul, als er rückwärts in das Gestrüpp hinter sich stolperte. Aus dem Gewehr löste sich ein ohrenbetäubender Schuß. Irgendwie gelang es ihm, wieder auf die Füße zu kommen, und er rannte schnell zu Jake und Ellis zurück. Er sah, wie die beiden ihm ungläubig entgegenstarrten, bevor auch sie losliefen.
Als er über die Schulter zurückblickte, sah er, daß der Bär hinter ihm herstürmte; seine massigen Gliedmaßen schlugen wild herum, und Äste flogen durch die Luft. Der Bär stieß drohende Laute aus, während Charlie um sein Leben rannte. Wenige Sekunden später hatte er Jake und Ellis erreicht und überholte sie so schnell, daß es aussah, als ob die beiden stillständen. Charlie fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten, und er hörte nicht auf zu laufen, bis er die felsige Küste erreicht hatte.
Kapitel 26
»Hast du auch einen Schuß gehört?« fragte Brunk und ging ans Fenster. »Ja, mir war so.« Sarah reckte den Kopf und lauschte. Sie wartete einen Moment, aber es fiel kein weiterer Schuß. »Vielleicht hat es nur gedonnert«, meinte sie. »Nein, Donner klingt niemals so«, bemerkte der Doktor. »Und außerdem, schau mal aus dem Fenster. Es ist nicht eine einzige Wolke am Himmel.« »Dann haben sie uns entdeckt.« »Vielleicht, aber ich denke nicht, daß es die Visitors sind.« »Wer dann?« »Ich weiß es nicht. Normalerweise machen sich die Jäger nicht den Weg bis hierher, jedenfalls nicht, solange es auf dem Festland genug zu jagen gibt.« »Bis sie von den Bären hier hörten«, grinste Sarah und drückte Brunks Hand, der vom Fenster zurückgetreten war. »Es müssen Jäger sein, die hier nach Bären jagen wollen, Doktor. Und das bedeutet, daß die Visitors diese Gegend hier verlassen haben müssen.« »Sei dir da nicht allzu sicher«, riet ihr der Wissenschaftler. »Es könnte auch ein Trick sein.« Sarahs Begeisterung schlug um. »Sie haben recht. Ich wollte schon hinausrennen und sie mit offenen Armen empfangen. Ich muß endlich lernen, realistischer zu sein.« »Nun, schließlich bist du seit Tagen hier isoliert, und ein Ende ist noch nicht abzusehen«, meinte Brunk. »Ich kann es dir wirklich nicht verdenken, daß du ein bißchen aufgedreht bist. Nichtsdestotrotz bitte ich dich nochmals, unbedingt im
Haus zu bleiben, bis wir ganz sicher sein können, daß die Gefahr vorbei ist.« Sarah fragte sich, ob sie überhaupt jemals wieder außer Gefahr sein würden, jetzt, da die Visitors zurückgekehrt waren. Wenn sie nur so lange aushalten könnten, bis es kälter geworden war. Das Toxin wirkte im Ökosystem der Erde nur in kalten Klimazonen, in denen der Virus in eine Art lebensnotwendigen Winterschlaf fallen konnte, um dann zur Frühjahrsschmelze wieder aktiv zu werden. In heißen Klimazonen war das nicht möglich, und unter solchen Bedingungen vernichtete sich der Erreger selbst. Die Visitors starben, wenn sie über den ersten Frost hinaus blieben… außer sie verfügten über das Gegenmittel, das Nathan Bates für jene Außerirdischen entwickelt hatte, die im Widerstand arbeiteten, wie derjenige, der kommen sollte, um dem Doktor zu helfen. Aber es wäre ein leichtes für die Visitors, den Roten Staub und das Gegenmittel zu analysieren, falls ihnen jemand, der darüber Bescheid wußte, in die Hände fiele. Aufgrund ihrer hervorragenden Technologie war es aber auch möglich, daß sie das Antitoxin selbst entwickelt hatten. Und daher war Brunks Arbeit so wichtig. Und deshalb mußten sie unbedingt überleben. »Wir haben nichts mehr zu essen«, sagte der Doktor plötzlich. »Gut«, entgegnete Sarah. »Es tut uns beiden gut, ein paar Pfund abzunehmen.« Brunk lächelte. »Da hast du vermutlich recht.« Sie wollten nicht darüber sprechen, aber sie hatten beide Angst davor, daß die Visitors sie schon entdeckt haben könnten. Und die schönen Sommertemperaturen taten das ihre, um ihre Überlebenschancen ziemlich unrealistisch werden zu lassen. Aber sie wollten einander nicht die letzte Hoffnung nehmen, indem sie aussprachen, was sie dachten und ahnten.
Brunk setzte sich in den schmutzigen alten Armsessel. Er steckte sich die Pfeife in den Mund und suchte nach Streichhölzern. Sarah ging zum Kaminsims und brachte ihm eine Schachtel. »Ich danke dir«, sagte der Doktor und zündete die Pfeife an. »Erinnern Sie sich, wie besorgt ich noch vor ein paar Tagen war, daß es kalt werden könnte?« fragte sie. »Ja.« »Und jetzt wünsche ich es mir«, meinte sie. »Einen harten Frost, der diese verdammten Lizards töten soll.« »Aber auch wir könnten daran sterben, Sarah.« »Und wenn schon. Jemand wird das Toxin hier neben unseren Leichen finden, und die Welt hätte zumindest eine Waffe, um die Eindringlinge endgültig zu vernichten.« Entgegen ihrem Willen kamen ihr die Tränen. Sie wandte sich ab und ließ sich auf das alte Sofa auf der anderen Seite des kleinen Wohnraums der Hütte fallen. Brunk nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sarah«, sagte er mitfühlend, »es tut mir so leid, daß es so gekommen ist. Ich habe es nicht ahnen können.« Er kam zu ihr herüber, setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. »Es ist hart, ich weiß. Aber wir hatten keine andere Chance, als zu fliehen, als wir hörten, daß die Visitors kommen würden. Das war das Beste, was wir tun konnten. Und jetzt können wir nur noch hoffen, daß sich alles zum Guten wendet.« Sarah trocknete ihre Tränen, dankbar für Brunks Wärme. Plötzlich hörte sie etwas. »Doktor, hören Sie doch!« »Was ist denn, Sarah? Ich höre nichts.« »Das ist es ja gerade. Normalerweise sind die Vögel um diese Tageszeit sehr laut, aber es ist so merkwürdig still draußen vor der Hütte.«
Brunk erhob sich und ging zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie und sah hinaus auf die kleine Lichtung und den Wald. »Du hast recht«, meinte er. »Es ist absolut ruhig. Nicht mal ein Eichhörnchen sieht man draußen herumspringen.« Sie versuchte ihr Erschrecken vor ihm zu verbergen, aber sie erkannte an seinem Blick, daß er es bemerkt hatte. »Das habe ich hier noch nie zuvor erlebt«, sagte Brunk stockend. »Weil noch nie zuvor so etwas hier passiert ist«, erwiderte Sarah. »Sarah, laß dich nicht auf Vermutungen ein. Es braucht überhaupt keine Bedeutung zu haben…« »Sie kommen, Doktor«, sagte Sarah und duckte sich in das Sofa. »Sie kommen, um uns zu holen.«
Kapitel 27
Willie stand am Strand, umzingelt von Visitorwachen, und sah Ronald direkt ins Gesicht. Wenige Meter hinter ihm begann der Wald. »Ich werde dich jetzt freilassen, Willie«, erklärte Ronald. »In den vergangenen Tagen habe ich dich bewußt geschont, so daß du heute gut bei Kräften und bei wachem Verstand bist. Die ganze Insel steht dir als Spielfeld zur Verfügung. Sie ist nicht sehr groß, vielleicht zwölf Kilometer im Durchmesser, und es gibt, sagen wir mal, Hindernisse, aber genauso Dinge, die nützlich und vorteilhaft für dich sein könnten, wenn du ruhig und logisch bleibst.« Willie nickte und bemerkte, wie gleichförmig der Kreis der Wachen war; ein perfektes geometrisches Gebilde umringte ihn und ihren Meister – der Auftakt für das ninj-ki-ra, das Ritual des Todes. Er hatte es noch nie zuvor miterlebt, aber auf seinem Heimatplaneten erzählte man sich Legenden darüber. Das ninj-ki-ra beruhte auf einer uralten Tradition, wurde aber nur noch vom Militär praktiziert und auch nur in Extremfällen, wie zum Beispiel bei Verrat durch einen ihrer Angehörigen. Willie hatte vermutet, daß Ronald sich in seinem Fall nicht genau an die Regeln halten würde, aber augenscheinlich hatte er sich geirrt. »Du weißt, was du zu tun hast?« fragte ihn Ronald jetzt. »Ja«, sagte Willie. »Ich muß versuchen, zu überleben.« »Und du weißt auch, was das bedeutet, mein kleiner Philosoph?« Willie schüttelte den Kopf.
»Du mußt mich töten – « Ronalds Reptilienmaul verbreiterte sich zu einem Grinsen, und seine Spaltzunge schoß vor und zurück vor tief empfundener Freude. »… Falls es dir gelingt.« Das also war Ronalds letzter Triumph. Willie vermutete, daß der Kapitän Angst vor dem preta-na-ma hatte, daß er glaubte, dieses Mörderspiel könnte ein Ersatz dafür sein; oder in dem Fall, daß er doch selbst sterben müßte, sollte Willie der Mörder sein. Und das widersprach den Prinzipien, nach denen Willie sein Leben, ausrichtete – und an die er glaubte. »Selbst wenn Sie versuchen, mich wie eine wilde Bestie zu jagen«, sagte Willie fest und sah Ronald, dabei durch die unergründlichen Brillengläser direkt in die Augen, »werde ich nicht versuchen, Sie zu töten.« »Dann wirst du sterben müssen«, schnarrte Ronald, und seine Stimme übertönte das laute Plätschern der Wellen. »Vielleicht. Aber nur mein Körper wird sterben; meine Seele wird weiterleben.« Ronald zischte vor Wut, verärgert darüber, daß es ihm immer noch nicht gelungen war, Willies Kraft und Widerstand zu brechen. »Wir werden sehen, wie viele Leben du hast«, sagte er abschließend. »Geh jetzt!« Willie sah seinen Widersacher noch ein letztes Mal an und drehte sich dann um. Die Soldaten traten zurück und öffneten den Kreis, um ihn durchzulassen. Willie ging einen Schritt vorwärts, zögerte eine Sekunde, um dann den aufgebrochenen Kreis zu überschreiten. Das Spiel hatte begonnen. Auf den schützenden Wald zulaufend, sah er über die Schulter zurück. Der Kreis der Visitors hatte sich nicht bewegt. Wie Ronald es versprochen hatte, würden sie dreißig Minuten warten, bevor sie die Jagd begannen. Willie hatte also Zeit,
sich zu verstecken, und auch Zeit, darüber nachzudenken, wie er sich gegen Ronalds Waffen zur Wehr setzen konnte. Dankbar hieß er die ihn einhüllende Dunkelheit des Waldes willkommen, als er ihn jetzt betrat. Weißrindige Bäume führten zu größeren Kiefern. Diese Bäume hatte Willie schon mal in Kalifornien gesehen, aber die weißen waren ihm unbekannt. Wieviel es I noch zu lernen gab, aber seine Chance, sein Wissen über die Flora und Fauna seines Adoptivplaneten zu vertiefen, standen im Augenblick mehr als schlecht. Er hatte jetzt nur noch Zeit, an sein Überleben zu denken. Kleine Tiere mit buschigen Schwänzen sprangen ihm aus dem Weg, als er weiterrannte – Eichhörnchen hießen sie, wenn er sich richtig erinnerte. Laut schlugen seine Laufschritte auf den Teppich aus toten Blättern und Nadeln. Wohin er laufen sollte, wußte er nicht, nur, daß es so weit weg von Ronald wie möglich sein mußte. Wenn Ronald sich wirklich an die Regeln des ninj-ki-ra hielt, was Willie annahm, würden die Wachen zurückbleiben. Nur Ronald ganz allein würde ihn jagen. Wenn er Ronald besiegen sollte, würde das bedeuten, daß er von aller Schuld freigesprochen wäre. In diesem kaum anzunehmenden Fall könnte er zu seinem Heimatplaneten zurückkehren. Aber das wollte er gar nicht, denn er hatte sich entschlossen, den Menschen bei ihrem Kampf zu helfen. Und sein Glaube verbot es ihm, ihnen einfach den Rücken zu kehren, egal welche Konsequenzen das hätte. Es war sehr anstrengend für Willie zu laufen, schließlich trug er noch die menschliche Kleidung und die Pseudohaut. Es würde leichter für ihn sein, wenn er nackt wäre. Er hielt an und legte eine Hand an die rauhe Rinde einer Kiefer. Es war warm genug, aber er wußte, daß hier oben im Norden die Temperaturen ganz plötzlich rapide fallen konnten. Selbst in Los Angeles hatte es Zeiten gegeben, wo er froh war,
daß ihn die Pseudohaut schützte. Nichtsdestotrotz mußte er jetzt ohne sie weiterlaufen, sonst war er einfach zu langsam. Er zog die Jacke und die Hose aus und begann dann, die künstliche menschliche Haut abzuziehen.
Kapitel 28
Langsam und elegant entfernte Willie eine Fingerspitze nach der anderen. Mit den Fingernägeln einer Hand zog er dann die Haut wie einen Handschuh ab, und zum Vorschein kamen die Klauen seiner eigenen Hand. Nach der gleichen Methode riß er mit der Klaue die vordere Pseudohaut vom Schlüsselbein bis zur Leiste weg. Als nächstes entfernte er den falschen Nacken von seinem grünen, gepanzerten Fleisch, und geschickt zog er das dehnbare Material so weit auseinander, bis er sich das Gesicht wie eine Maske vom Kopf ziehen konnte. Er vergaß jedoch, auf die kostbaren und empfindsamen Abtastgeräte, die als Augen dienten, zu achten. Eins fiel ins Laub und war nicht mehr zu entdecken, während er sich die Beine, Knöchel und schließlich die Füße der Pseudohaut abzog, die er noch nie abgenommen hatte, seit er bei den Menschen lebte. Er legte die Pseudohaut unter einen Busch und streckte sich, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Das Körpergefühl, das er jetzt empfand, war wunderbar; und er fühlte sich so wohl wie schon sehr, sehr lange nicht mehr, selbst unter diesen widrigen Umständen. Fast heiter lief er tiefer in den Wald hinein, unentwegt überlegend, wie er Ronald bekämpfen könnte. Welchen Weg sollte er einschlagen? Vielleicht war es gleichgültig, solange er nicht eine sichtbare Spur hinterließ, die Ronald dann leicht aufspüren konnte. Wahrscheinlich würde es das beste sein, unwegsame Pfade zu nehmen, denn auf den leicht zugänglichen Wegen würde Ronald ihn bald eingeholt
haben. Willie sprang in das Dickicht hinein, die nadelspitzen Zweige ritzten seinen Reptilienkörper. Sein Vorteil gegenüber einem Menschen war, daß sein horniger Panzer das empfindliche Gewebe unter seinen Schuppen an den meisten Stellen schützte, nur die Innenseiten seiner Arme und Beine litten von Zeit zu Zeit unter den schmerzenden Kratzern. Doch es war auszuhalten. Er biß die Zähne zusammen und merkte dabei, daß es immer noch die künstlichen menschlichen Zähne waren. Er zerrte an ihnen, während er durch die Büsche kroch. Das künstliche Gebiß war mit seinen echten Fängen verzahnt, aber es dauerte nicht lange, und er hatte es heraus und warf es ins Gestrüpp. Von dort, wo er die falschen Zähne hingeworfen hatte, war plötzlich ein grauenvolles Gebrüll zu hören. Willie blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen, unfähig, sich angesichts dieses furchtbaren Geräusches noch weiterzubewegen. Still wie eine Statue stand er da und lugte in das Dickicht hinein, um zu sehen, welche Art von Kreatur er da mit dem Gebiß getroffen hatte. Ein riesiges Monster schritt schwerfällig auf ihn zu, groß und schwarz und haarig, mit gewaltigen Klauen und Fangzähnen. Es rollte auf seinen gewaltigen Beinen vorwärts wie eine Zerstörungsmaschine. Willie rutschte das Herz in den Bauch beim Anblick dieses Grauenwesens. Sein erster Impuls war, so schnell wegzurennen, wie er nur konnte, aber dann erinnerte er sich des preta-na-ma. Er wußte, daß er den Klauen des Wesens nicht entkommen konnte, wenn er floh. Willie stand still und sah dem riesigen Tier direkt ins Gesicht. Es schien überrascht zu sein und verlangsamte seine Schritte, bis es sich kaum noch bewegte. Das Tier gehörte zu der Familie der Ursidae, da war sich Willie ziemlich sicher. Er
hatte schon einiges über Bären in illustrierten Büchern gelesen. Faszinierende Kreaturen. Warum wollte er ihn angreifen? Willie versuchte, mit dem Tier zu kommunizieren, im Sinne des preta-na-ma. Als er seinen Singsang begann, stellte der Bär die Ohren auf. Dicht neben Willie setzte er sich hin und schnüffelte neugierig an dessen Klauen. Noch immer singend, beugte sich Willie vor und streichelte den enormen Kopf des Bären. Das Lied drang durch Willies Körper und über seinen in den des Bären. Zungenrollend erlaubte das große Tier Willie, es zu liebkosen. »Jetzt kennen wir uns, mein Freund«, erklärte ihm Willie. »Du kannst jetzt deine Sorgen mit mir teilen.« Er schloß die Augen und konzentrierte sich. Er sah Dunkelheit und darin einen schwachen Farb- oder Lichtschimmer… Und dann sah er klarer… hatte die Vision einer dunklen Höhle, die von dichtem Gestrüpp umgeben war… Und in der Höhle waren die Jungen des Bären. »Ah«, meinte Willie. »Du bist also eine Mutter, die ihre jungen vor Eindringlingen schützt.« Die Bärin maunzte vor Vergnügen, als Willie sie liebkoste. Sie leckte seine geöffnete Klaue. Willie versenkte sich nochmals in das elementare Wesen der Bärin. Er sah winzige Früchte an wilden Büschen, die einen Großteil der Ernährung der Bärin ausmachten. Er beugte sich vor, riß ein paar von einem Zweig ab und fütterte sie damit. Während sie fraß, suggerierte er ihr seinen Wunsch, ihre Jungen sehen zu wollen. Die Bärin zögerte einen Moment, doch dann erhob sie sich und ging schwerfällig zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Willie folgte ihr und drückte die Zweige zur Seite, damit er leichter hindurchschlüpfen konnte.
Er wußte, daß er noch nie zuvor so erfolgreich mit einem Tier kommuniziert hatte. Er führte das zurück auf seine tiefen meditativen Übungen in den vorangegangenen Tagen. Versteckt hinter Büschen lag die Öffnung der Höhle. Willie kletterte nach der Mutter hinein und wurde von drei ängstlichen Bärenjungen begrüßt. Die Mutter liebkoste und leckte sie, und einige Augenblicke später waren sie ruhig. Willie holte ein paar Beeren hervor und fütterte sie. »Jetzt muß ich aber gehen«, erklärte er, nachdem die Jungen alles aus seiner Hand gefressen hatten. »Wenn ich hierbleibe, könnte derjenige, der mich jagt, euch vielleicht auch töten.« Die Bärin maunzte traurig, als Willie zurück in den Wald ging. Er hörte es noch eine ganze Weile.
Kapitel 29
Der Zeitpunkt war gekommen. Ronald trat aus dem Kreis der Wachen und begann auf den Wald zuzugehen. Seinen Soldaten hatte er strengstens untersagt, ihm zu folgen. In seiner leichten, gepanzerten Uniform fühlte sich Ronald gut geschützt; nur sein Kopf konnte als Angriffsziel dienen. Seine Zunge schoß vor Vergnügen durch die kalte Herbstluft bei dem Gedanken daran, wie schlecht dagegen Willies Chancen standen. Ronald hoffte jedoch, daß er wenigstens versuchen würde zu kämpfen. Er hatte in der Vergangenheit schon auf mehreren Planeten das ninj-ki-ra geleitet. Es hatte immer sehr viel Spaß gemacht und auch die Truppe bei der Stange gehalten. Aber er mußte sich eingestehen, daß es für ihn noch eine andere Bedeutung hatte. Er haßte die Verräter, die sich für das pretana-ma entschieden hatten. Diese alte Religion zu praktizieren, war verboten, und Ronald verstand jetzt auch, warum. Sie ersetzte die Liebe zum eigenen Planeten und zur eigenen Rasse, und sie erlaubte den Schwachen, ihren Verrat als spirituelles Erwachen auszugeben, wie Willie es getan hatte. Es war skrupellos und unerträglich, und dafür sollte Willie stellvertretend zahlen. In einer so großen Stadt wie Tontran war an solche Dinge gar nicht zu denken gewesen, erinnerte sich Ronald, während er mit seinem Laser einen Ast beiseite schob. Aber als er noch sehr jung gewesen war, hatte er mit seinem Vormund die Provinzen besucht, und dort hatte er Ältere das preta-na-ma praktizieren sehen. Doch sein Vormund hatte ihn schnell von
dem verbotenen Schauspiel weggezogen und ihm später das Teuflische dieses alten Glaubens erklärt. Warum verlor das preta-na-ma nicht an Kraft und Einfluß? Jetzt hatte es sogar schon Weltraumdistanzen überwunden und seinen häßlichen Kopf der Erde zugewandt. Es würde größter Kraftanstrengung bedürfen, es für immer auszurotten. Und er würde heute den Anfang machen, indem er Willie vernichtete. Und falls Willie sich wehren sollte, um so besser. Nicht nur, weil das zum höheren Sport dazugehörte, sondern vor allem deshalb, weil damit die Seichtheit dieses Aberglaubens bewiesen werden konnte. Es war eines, von Leidenschaftslosigkeit zu sprechen und lieber zu sterben, bevor man einen anderen tötet, und ein anderes, dem Tod wirklich ins Auge sehen zu müssen. Bald würde er wissen, wie stark Willies Glaube wirklich war. Ronald zuckte zurück, als ein Lichtstrahl durch seine dunklen Brillengläser drang. Auf seinem Heimatplaneten war die Kohlendioxydschicht dicker und daher besser für die Augen; zudem war es dadurch auch wärmer als auf der Erde. Dennoch war es doch bemerkenswert, daß sie so nahe beim Sirius einen Planeten mit einer atembaren Atmosphäre und so viel Wasser gefunden hatten. Für die Anhänger des preta-na-ma war das sicher eine Fügung des Schicksals, dachte er sarkastisch. Kleine Säugetiere mit enormen buschigen Schwänzen sprangen fast lautlos vor ihm aus dem Weg. Ronald bewunderte ihre Agilität; genauso sollte er jagen. Plötzlich entdeckte er eine Vertiefung im Blätterboden. Willie mußte hier gewesen sein oder ein Mensch… vielleicht Doktor Brunk, sein letztes Jagdopfer. Willie hatte keine Ahnung, wie nahe er dem Manne war, den er in Cutters Bucht gesucht hatte. Und jetzt würde er Ronald sogar noch zu ihm führen. Welch delikate Ironie.
Ronald beugte sich nieder, um die Spur näher zu untersuchen. Es schien wirklich zu stimmen. Willie mußte sich entschieden haben, einen schwierigeren Weg zu nehmen als denjenigen, dem Ronald gerade folgte. Ein abgebrochener Ast bestätigte Ronalds Verdacht. Jetzt war es sogar noch leichter, Willie zu folgen, als wenn er den direkten Weg durch den Wald genommen hätte. »Du machst mir die Jagd zu einfach«, sagte Ronald laut. Dann begann er in das dichte Gestrüpp hineinzugehen, verlor aber bald die Orientierung, denn er fand keine weiteren Spuren seines Opfers. Ronald ging zurück bis zu der Stelle, wo er den Fußabdruck gefunden hatte. Vielleicht war Willie doch schlauer, als er vermutet hatte, spekulierte der Visitorkapitän. Die Spur führte in die Büsche und verschwand dann. Außerdem war das Gestrüpp an dieser Stelle zu dicht, um tiefer einzudringen. Vielleicht sollte er das Unterholz besser umgehen. Es würde Willie einige Zeit und ziemliche Anstrengung kosten, sich einen Weg hindurchzubahnen, und alles nur, um auf der anderen Seite auf Ronald zu stoßen, der schon auf ihn wartete. Ronald schnalzte bei dem Gedanken mit der Zunge. Wie amüsant… wenn es klappen sollte. Vorsichtig schritt er durch die Büsche und begann seinen Weg um das Gestrüpp herum, das sich etwa über einen Kilometer auszudehnen schien. Plötzlich sah er etwas. Ronald richtete seinen Laser darauf. Etwas, das aussah wie gegerbtes Leder, von der gleichen Farbe wie Willies Jacke, lag hinter einem einzelnen Busch außerhalb des Gestrüpps. Sollte das Spiel so schnell zu Ende sein? »Komm heraus!« befahl Ronald. Keine Antwort.
»Ich weiß, daß du da drin bist«, schnauzte Ronald. »Und jetzt komm raus, bevor ich schieße.« Aber nichts rührte sich hinter dem Busch. Ronald gab einen Warnschuß in die Nähe des Busches ab. Eine weiße Rauchwolke stieg auf und verflüchtigte sich, aber Willie kam nicht hinter dem Busch hervor. Ronald ging bis auf einen Meter an das Gestrüpp heran. Er wußte, daß Willie ihn nicht angreifen konnte, denn er war bewaffnet. War Willie tot? Ronald beugte sich tiefer in den Busch hinein und zielte mit seinem Laser auf das, was er für Willie hielt… und fand die Kleidung, die sein Opfer getragen hatte, und die zerfetzten Reste der menschlichen Pseudohaut. Ronald lachte. »So läuft er also nackt durch den Wald wie ein unschuldiges Kind, ganz im Sinne des preta-na-ma.« Und obwohl er es sich selbst nicht eingestehen wollte, als er wieder die Verfolgung aufnahm, betrübte ihn das Ganze. Willie bediente sich anderer Spielregeln, als Ronald gehofft hatte.
Kapitel 30
John Ellis schaute auf seine Uhr und stellte fest, daß er schon seit einigen Minuten wieder hätte am Strand sein sollen. Ronald hatte angeordnet, daß nur die beiden New Yorker im Wald zu sein hätten, wenn die Jagd begann. Und es lag John Ellis fern, den Lizardführer und seine Autorität in Frage zu stellen. »Also dann noch eine schöne Jagd, Jungs«, meinte er. »Wir müssen uns jetzt trennen.« Jake und Charlie schauten ihn mißtrauisch an, als ob sie nicht recht glauben wollten, daß er sie jetzt in Ruhe lassen wollte. »Nun«, fragte Ellis, »wollt ihr mir nicht auf Wiedersehen sagen?« Und er konnte sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Schließlich werden wir uns, so wie die Dinge stehen, wahrscheinlich nie wiedersehen.« Er freute sich, als sie ihn erschrocken und völlig verängstigt ansahen, zog sich seine Schirmmütze über die Augen, grinste gehässig und überließ sie ihrem Schicksal. Unbeholfen klammerten sie sich an ihre Gewehre. »Bis später«, rief Ellis. Schon nach wenigen Schritten rief Jake hinter ihm her: »Heh!« Ellis zögerte, drehte sich dann aber um, um zu hören, was der Idiot noch wollte. »Was sollen wir denn jetzt machen?« jammerte Jake. »Meinetwegen bleibt da stehen und weint«, rief Ellis. »Oder jagt ein bißchen.« »Aber warum?« flehte Jake. »Warum habt ihr uns hierhergeschleppt?«
»Frag mich nicht«, antwortete Ellis und machte sich auf den Weg zurück in den Wald. »Die Wege des Herrn sind unergründlich.« Verängstigt standen die beiden Freunde da und beobachteten, wie Ellis verschwand. Beide wünschten nichts sehnlicher, als wieder zu Hause zu sein, statt auf dieser Insel ausgesetzt, mit einer Bande von Lizards und einem Bären. »Sagtest du nicht zu mir, wie glücklich ich mich schätzen könnte, hier zu sein?« meinte Jake schließlich. »Hör schon auf«, antwortete Charlie, »wir stecken jetzt beide drin.« »Das stimmt. Ich wünschte, ich könnte einfach die Polizei rufen und nach Hause gehen, aber ich sitze hier mit dir fest, ob es mir nun gefällt oder nicht.« »Nun gut«, grinste Charlie plötzlich, »dann laß uns tun, was der Mann gesagt hat. Laß uns jagen gehen.« »Jagen gehen? Was ist, wenn die Visitors uns jagen?« »Hätten sie uns unsere Gewehre zurückgegeben, wenn sie uns jagen wollten?« Jake überdachte das. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte er schließlich zu. »In Ordnung, gehen wir auf die Jagd.« »Langsam nimmst du Vernunft an.« »Laß uns gleich beginnen«, meinte Jake. »Die Sonne steigt immer höher.« Die zwei Männer standen da und sahen einander an. »Nun?« fragte Jake schließlich. »Ich denke, wir sollten uns lieber trennen«, schlug Charlie vor. »Ja, das ist es. Laß uns verschiedene Wege nehmen.« »Warum?« fragte Jake mißtrauisch. »Weil jeder für sich mehr von der Insel erkunden kann. Und wir machen nicht so viel Lärm, weil wir einander nichts zurufen.«
»Richtig, Jake«, rief Charlie. »Es ist wirklich besser, wenn wir uns trennen.« »Genau wie im Büro«, bemerkte Jake. Charlie sah sich um und spähte nach rechts und links in den Wald hinein. »Ich werde dort entlang gehen«, erklärte er nach ein paar Sekunden. »Wieso?« »Aus keinem speziellen Grund«, fügte Charlie hinzu. »Es sieht einfach so aus, als ob man dort besser jagen könnte.« »Warum?« »Ich weiß es nicht… reine Intuition.« »Okay, Dschungelboy«, sagte Jake. »Du gehst hier entlang, und ich dort. Und in zwei Stunden treffen wir uns wieder hier.« Sie verglichen ihre Uhren. Dann ging jeder seiner Wege, und keiner von beiden wußte, ob er nun nach Norden, Süden, Osten oder Westen unterwegs war. Jake bahnte sich seinen Weg durch das Gestrüpp, kläglich vor sich hin murmelnd. Er wußte, daß er, wenn er das Schlimmste befürchtete, nicht enttäuscht werden konnte. Normalerweise war es nie das Schlimmste, was passierte, aber auf diesem Trip hier schien alles ganz nahe am Schlimmsten zu sein. Alle paar Minuten hielt er an und lauschte. Er hörte das Rattattat des Spechtes und das Rascheln der Eichhörnchen im Laub. Wenigstens gab es nicht so viele Stechmücken wie das letzte Mal, als sie jagen waren. Nach einer dreiviertel Stunde hörte Jake auf einmal, daß sich hinter ihm im Busch etwas bewegte. Er erstarrte und drehte sich dann ganz langsam um. Alles war wieder ruhig. War es der Bär? Jakes erster Impuls war, loszubrüllen, daß er rauskommen solle, aber das wäre wohl dumm. Was es auch war, es würde höchstwahrscheinlich bei dem Geschrei
verschwinden. Oder er wartete, daß es sich nochmals bewegte, so daß er einen Schuß darauf abgeben könnte. So lautlos wie möglich entsicherte Jake das Gewehr und blieb abwartend stehen.
Kapitel 31
Seltsamerweise fühlte sich Willie im Wald wie zu Hause. Er war sich seines Körpers so bewußt, wie er es seit seiner Kindheit, als er in der Wüste seines Heimatplaneten spielte, nicht mehr erlebt hatte. Hinzu kamen die kühle, angenehme Temperatur und die Vielfalt von Lebewesen auf der Insel. Von Insekten bis zu Bären, der Ort wimmelte nur so von pulsierendem, aktivem Leben. Die Wülste auf Willies Stirn zitterten förmlich von den Vibrationen und Signalen, die er empfing. Er war so auf diese Welt eingestimmt wie noch nie zuvor – jetzt, da er auf die Kraft des preta-na-ma so sehr vertraute und an die Einheit allen Lebens des Universums glaubte. Dieses Vertrauen und dieser Glaube würden ihn durch irritierende und schwierige Zeiten geleiten. Und dennoch konnte er sich nicht sicher sein, ob seine Instinkte denen Ronalds überlegen waren, hier in diesem fremden Wald in der fremden Welt. Plötzlich hörte er eine Bewegung zwischen den Bäumen am Rande des Unterholzes und legte sich so flach er konnte auf den Boden. Mit angespannten Muskeln war er bereit zum Kampf. Das Wesen kam näher, doch was immer es war, so, wie es sich durch das Gestrüpp bewegte, schien es Willie eher Mensch als Tier zu sein. Der Alien spürte sein Näherkommen, noch bevor er es hörte. Sein Reptilienkörper lag kauernd da, und seine grüne Haut war von der Umgebung nicht zu unterscheiden. Einen Augenblick lang überlegte Willie, was er tun würde, wenn er mit dem Mann kämpfen müßte. Würde er vielleicht aus Furcht, aber ohne Absicht, den Angreifer mit
seinem Schlangengift besprühen? Es könnte den Mann töten, aber wäre Willie dafür verantwortlich? Gerade jetzt, wo sein Leben gefährdet war, verwirrten ihn seine eigenen moralischen Standpunkte. Jetzt sah Willie den Mann durch die Büsche hindurch. Er war mit einer so bunten Jacke und einer ebenso leuchtenden Mütze be kleidet, daß Willie kaum hinschauen konnte. Noch irritierender war jedoch, wie der Mann sein Gewehr hielt. Der Alien spürte seine Nervosität, eine nicht gerade beruhigende Erkenntnis unter diesen Umständen. Dennoch, wenn er ruhig blieb, würde der Jäger, und um einen solchen handelte es sich offenbar, vorbeigehen. Der Mann blieb einen Augenblick lang stehen und schaute sich um. Er schien nicht zu ahnen, daß er beobachtet wurde. Kurz darauf ging er weiter. Willie erhob sich langsam und ging die letzten wenigen Meter, bis er aus dem Gebüsch heraus war. Er betrat jetzt den Wald und begrüßte dessen kühlen, dunklen Schutz. Er hatte etwa einen Kilometer durch dichtes Gestrüpp zurückgelegt, um hier anzukommen, und er hoffte, daß Ronald nicht seine Spur aufgenommen hatte. Während er vom Wald aus jede Bewegung beobachtete, wunderte sich Willie darüber, wie der Jäger wohl auf diese Insel gelangt sein könnte. War Ronald auch hinter ihm her, um das Spiel noch etwas delikater zu machen? Jetzt umkreiste er im Schutz des Waldes das Unterholz. Seine scharfen Sinne nahmen jede auch noch so geringe Nuance wahr. So war es gar nicht schwierig für ihn, auch den zweiten Jäger auszumachen. Dieser Mann war etwas kräftiger gebaut, trug aber die gleiche Kleidung und hatte genauso ein beeindruckendes Gewehr. Willie entschloß sich, dem zweiten Jäger zu folgen. Das war ziemlich einfach, denn der Typ bewegte sich so laut durch den Wald, daß man ihn, auch ohne ihn zu sehen, aus jeder
Entfernung hören konnte. Bemerkenswert war auch, daß er ganz allmählich denselben Weg zurückging, den er gekommen war, aber anscheinend ohne es zu merken. Das bedeutete, daß er zwangsläufig den Weg des anderen Jägers kreuzen mußte. Auch Willie würde ihm bald begegnen, wenn er seine Umkreisung fortsetzte. Er beschloß, ungesehen zu bleiben, und hoffte inständig, daß irgend etwas passieren würde, was die beiden entmutigte, so daß sie aufhörten, hier auf dem Spielfeld des ninj-ki-ra, dem Gebiet des Todes, herumzulaufen. Er ging tiefer in den Wald hinein und begann ebenfalls den Weg, den er gekommen war, zurückzugehen. Vorsichtig lief er von Baum zu Baum. Über die letzte Position des ersten Jägers fand er heraus, wo er sich jetzt ungefähr befand. Bald würde er ihn eingeholt haben, und auch der zweite Jäger konnte nicht weit weg sein. Er entdeckte einen kleinen Erdhügel am Rande des Waldes, kletterte hinauf und schmiegte sich dicht an den Boden. Vom Unterholz aus konnte man ihn nicht mehr sehen. Willie wartete. Jetzt sah er den zweiten Jäger langsam näherschleichen. Dieser schaute etwas verdutzt, als er merkte, daß er zu seinem Ausgangspunkt im Unterholz zurückgekehrt war. Wenige Augenblicke später kam auch der andere. Willie befand sich genau in der richtigen Angriffsposition. Seine Klauenhand griff nach einem Stein und warf ihn mitten zwischen die beiden Jäger, die einander nicht sehen konnten, da zwischen ihnen der Erdhügel und dichter Nadelwald waren. Er sah, wie beide auf das Geräusch des Steines hin starr vor Entsetzen stehenblieben. Fast simultan hoben beide Jäger ihre Gewehre an die Schulter und feuerten. Die Gewehrschüsse donnerten durch den Wald und machten einen Höllenlärm.
Jeder der beiden hörte den Schuß des anderen, duckte sich, drehte sich auf den Absätzen herum und rannte davon. Willie wartete, bis er ihre Stiefelschritte nicht mehr durch das Laub hasten hörte, und erhob sich dann. Er war froh, daß sich die beiden Jäger nicht gegenseitig verletzt hatten. Er hoffte, daß sie nun auf das Festland zurückkehren würden. Falls nicht, war das Spiel um ein neues gefährliches Element erweitert worden. Aber im Moment hatte er andere Sorgen. Jetzt, da die Schüsse gefallen waren, mußte er so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ronald dürfte nicht weit entfernt sein.
Kapitel 32
Diesmal waren die Schüsse ganz in der Nähe der Hütte gefallen. Brunk wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis man sie hier entdeckte. »Ich denke, es ist besser, das Toxin gleich zu vernichten«, sagte er und starrte auf die erkaltete Feuerstelle. »Und auch das Gegenmittel.« Sarah sprang auf. »Das können Sie nicht tun! Nicht nach der vielen Arbeit!« »Aber ich kann es doch nicht in ihre Hände fallen lassen«, gab der Doktor zu bedenken. »Wissenschaftliche Entdeckungen haben die Eigenschaft, zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten gemacht zu werden. Bald wird jemand anderer das Toxin ebenfalls entdecken. Und wenn die Visitors es auch schon haben sollten, sind sie uns sowieso einen Schritt voraus.« Sarah ließ den Kopf hängen. Ihr wurde bewußt, daß sie sich wieder einmal von Emotionen statt von Logik hatte leiten lassen. »Es tut mir leid.« »Ach Sarah«, antwortete Brunk freundlich. »Du bist für mich wie eine Tochter, weißt du das?« Er ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. »Können wir nicht wenigstens noch etwas warten? Was ist, wenn Sie jetzt das Toxin vernichten und die Widerstandsbewegung kann gerade noch rechtzeitig die Visitors vertreiben, so wie damals…« Brunk griff nach dem nächststehenden Kristallfläschchen. »Vielleicht hast du recht, Sarah. Wir werden noch warten.«
Aber sie sah es seinen müden Augen an, daß er es nicht ernst meinte und in Wirklichkeit ihren Untergang voraussah. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er seinem Leben wahrscheinlich ein Ende gemacht. Gott sei Dank war sie bei ihm. »Ich frage mich, wie es meiner Mutter geht«, sagte Sarah, um das Thema zu wechseln. Bei der Erwähnung ihrer Mutter schien der Doktor wieder etwas munterer zu werden. Tatsächlich hatte Sarah immer gehofft, daß die beiden einmal zusammenkommen würden. Vielleicht gab es die Chance sogar noch, wenn sie dies alles hier erst einmal überstanden hatten. »Wahrscheinlich werden die Visitors nicht noch einmal Cutters Bucht angreifen«, meinte Brunk. »Es wird ihr bestimmt gutgehen – jedenfalls hoffe ich das.« »Aber es muß schlimm für sie sein, Visitorraumschiffe ganz frech über die Inseln fliegen zu sehen. Sie hat immer Situationen gehaßt, gegen die sie nichts tun konnte. Hilflos dazusitzen und nur beobachten zu können, ist für sie…« In diesem Augenblick hörten sie den nächsten Schuß.
»Du Narr!« schnarrte Ronald und riß Charlie das Gewehr aus den Händen. »Tut mir leid«, jammerte Charlie. »Als Sie mir auf die Schulter klopften, löste sich ein Schuß.« »Eure Schießerei hat mich zu euch geführt«, sagte Ronald. »Auf was schießt ihr denn?« »Ich weiß es gar nicht«, gab Charlie zu. »Ich habe es nicht gesehen. Ich habe es nur gehört.« »Hast du irgend etwas getroffen?« »Das weiß ich auch nicht. Und ich bin auch noch nicht lange genug herumgelaufen, um es zu finden.«
Plötzlich freute Ronald sich. Das war es, diese feige Veranlagung der Menschen, die ihn ermutigte, daran zu glauben, daß sein Volk letztendlich diesen Planeten vollständig unterwerfen würde. Wie furchtsam und kriecherisch die meisten Menschen doch waren, solche wie Pythias Day waren die Ausnahme. Aber wo war eigentlich der zweite Jäger geblieben? »Der andere«, fragte Ronald. »Wo ist er?« »Ich habe ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Wir wollten uns eigentlich am Rande des Unterholzes treffen, aber ich konnte die verabredete Stelle nicht mehr finden.« Ronald schüttelte seinen massigen Schädel und drückte Charlie wieder sein Gewehr in die Hände. »Setz die Jagd fort«, befahl er. Charlie betrachtete das immer noch rauchende Gewehr. »Muß ich das?« fragte er. »Du bist doch hierhergekommen, um zu jagen, oder etwa nicht?« Charlie schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich hab’ genug gejagt.« Ein drohendes Knurren entwich Ronalds Kehle. Sein Maul schwoll an wie ein Ballon. »Du wirst tun, was ich dir sage«, brüllte er. »J-ja, Sir.« Charlie wich zurück. Bevor er im Wald verschwunden war, rief Ronald hinter ihm her: »Wo hast du deinen Kumpel zum letzten Mal gesehen?« Charlie schaute sich um. »Ich glaube, es war… diese Richtung.« Und er deutete in den Wald hinein. »Sehr gut. Und vergiß nicht, daß auf dieser Insel gefährliche Bestien leben. Schieß auf alles, was sich bewegt.« Unsicher schaute ihn Charlie an. »Auf alles?« »Auf alles.« Verzweifelt ging der Jäger zurück in den Wald.
Ronald knurrte wütend. Er war ziemlich sicher, daß Willie mit der Schießerei zu tun hatte. Dieser Verräter war doch klüger, als er vermutet hatte, aber letztendlich würde das Töten für Ronald so nur noch versüßt werden. Er kam Willie immer näher und auch Brunk, doch der Doktor konnte noch warten. Zunächst war Willie dran, und die Jagd schien spannender zu werden, als sich Ronald je hatte träumen lassen.
Kapitel 33
Für John Ellis klang es so, als ob einiges auf der Insel passierte. All diese Schüsse mußten doch etwas zu bedeuten haben. Er stapfte durch den Wald in der Hoffnung, bald Ronald zu finden, um in Erfahrung zu bringen, ob das Mädchen noch lebte. Ronald hatte sie ihm praktisch versprochen. Ein Rebhuhn flatterte aus einem Busch und verschwand in den Baumwipfeln. John hatte noch nicht mal Zeit, auf das Huhn zu schießen. Ob Ronald Willie schon erledigt hatte, oder hatten bloß diese beiden Clowns aus New York auf alles geschossen, was sich bewegte? Vielleicht sollte er weiter in das Innere der Insel vordringen, um zu sehen, was er herausfinden konnte. Je mehr er daran dachte, daß Sarah Foley ihm gehören würde, desto aufgeregter wurde er. Er erinnerte sich daran, daß sie die Cheerleaderin in der Highschool gewesen war, und alle Jungs waren wild auf sie gewesen. Ihn hatte sie niemals richtig wahrgenommen, und wenn überhaupt, so hatte sie höchstwahrscheinlich mit ihren Freundinnen über ihn gelacht. Wenn er sie erst mal hätte, würde sie nie wieder über ihn lachen. Niemand würde jemals wieder über ihn lachen. Die ganze Stadt würde ihm künftig gehorchen müssen und nicht nur ein paar Trunkenbolde dort unten bei Mike, die ihn fürchteten, weil er stärker war als sie. Alle würden ihn von nun an fürchten, sogar respektieren. Das wäre etwas Neues – Respekt. Ellis kam zu einem großen Felsbrocken, der spitz aus dem Boden ragte. Ihm fiel ein, daß er von dort oben viel besser in
den Wald hineinsehen könnte. Er blieb stehen, zog einen Flachmann aus seiner Jacke und nahm einen langen Schluck. Er fuhr sich über die Lippen und seufzte tief, dann verstaute er den Flachmann wieder und ging um den Felsen bis zu dessen Rückseite. Er kletterte bis zur Spitze hinauf, wo er sich hinsetzte und den Wald beobachtete. Gut fünfzig Meter weit konnte er alles, was sich bewegte, gut erkennen, weiter, als er vermutet hatte. Wieder zog er den Flachmann hervor und nahm einen ordentlichen Schluck. Die Beine übereinandergeschlagen wartete er, trank und lauschte auf die Geräusche des Waldes und der See. Das Wetter war so schön und warm, daß man sich kaum vorstellen konnte, daß es bald kalt werden sollte. Es gab Leute, die behaupteten, das kalte Wetter würde die Visitors vertreiben, aber John glaubte nicht daran. Und selbst, wenn sie weggehen müßten, so wäre das bestimmt nur vorübergehend. Warum sah denn nicht jeder ein, daß die Lizards die Herrschaft übernehmen mußten? Ein Flug mit einem Raumschiff, und alle Zweifel wären beseitigt. Damals, in jener Nacht, als ihn die Visitors auf dem Heimweg geschnappt hatten, glaubte er, daß sie ihn töten wollten. Statt dessen hatten sie ihn zu Ronald gebracht. Er hatte Ronald versprochen, daß er ihm alles, was in der Stadt passierte, erzählen würde, und Ronald hatte akzeptiert – ohne Konvertierungsmaßnahmen. Keiner konnte John Ellis einen Vorwurf daraus machen, daß er seine Chancen genutzt hatte. John döste vor sich hin, mit einem Ohr achtete er jedoch auf ungewöhnliche Geräusche. Schließlich hörte er etwas, und augenblicklich war er hellwach. Der Wald war einen Moment lang völlig ruhig, und dann setzte das Zirpen und Zwitschern wieder ein. Irgend etwas
hatte die Tiere aufgescheucht, wenigstens einen Augenblick lang. Da war sich Ellis ganz sicher. Und dann entdeckte er den Grund dafür. Etwas kroch auf allen vieren über den Boden, etwas, was sich mit einer außerirdischen Grazie bewegte. Noch nie zuvor hatte er einen Visitor völlig unbekleidet gesehen. Seine Bewegungen waren schnell, vorsichtig, und seine schuppige Haut und sein zerfurchter Rücken schimmerten im Sonnenlicht. Die Hornwülste auf seiner Stirn zitterten über seinen leuchtenden, intelligenten Augen. Das mußte der sein, den Ronald jagte. Ellis lächelte und dachte daran, wie stolz er auf sich sein konnte, wenn es ihm gelingen sollte, diesen verräterischen Alien zu fangen. Ellis machte Willie auf sich aufmerksam. »Bleib da stehen«, rief er, »oder ich blas’ dir ein Loch so groß wie Aroostock County in den Leib.« Willie erstarrte. Er spürte, daß ein Fluchtversuch ihn das Leben kosten würde. Seine einzige Hoffnung war, mit dem Mann zu sprechen. »Ich will dir nichts Blödes«, sagte er auf englisch. »Nichts Blödes?« fragte Ellis. »Du meinst wohl, nichts Böses, oder?« »Ja, das meine ich. Nichts Böses.« John Ellis stand auf und kletterte langsam seitlich den Felsen hinunter, sorgfältig darauf achtend, daß sein Gewehr dabei immer auf Willie gerichtet war. »Nun gut, ob du nun nichts Böses willst oder das Gegenteil, Ronald wird sich freuen, dich zu sehen.« Der Mann wußte offensichtlich nichts vom ninj-ki-ra. »Das könnt Ihr nicht machen«, meinte Willie. »So, kann ich nicht?« Ellis kam auf ihn zu und zog eine lange Schnur aus seiner Erste-Hilfe-Tasche. »Schau her.«
Er winkte Willie und deutete ihm an zurückzutreten, bis sein zerklüfteter Rücken an einer Birke lehnte. In Sekundenschnelle hatte er Willie an den Stamm gefesselt. »Nun, dann«, rief Ellis und trat zurück, um sein Werk zu bewundern. »Ich glaube, ich schau’ jetzt mal, ob ich Ronald nicht finde. Vielleicht hat er Lust, dich als Zielscheibe zu benutzen, alter Kumpel.«
Kapitel 34
Als John Ellis im Wald verschwunden war, begann Willie an seinen Fesseln zu zerren. Es sah nicht gut aus; anscheinend würde es ihm kaum gelingen, sie zu lösen. Je mehr er daran zog, desto fester wurden die Knoten. Ronald war bestimmt nicht erfreut darüber, daß ihn dieser Mann hier gefesselt hatte, aber das bedeutete natürlich nicht, daß er ihn deshalb verschonen würde. Alles hing davon ab, wieviel ihm das ninj-ki-ra bedeutete. Willie neigte dazu, anzunehmen, daß es ihm letztendlich nicht allzuviel bedeutete, daß Ronald es eher aus persönlichen Gründen initiiert hatte als aus spirituellen, aus denen das ninj-ki-ra vor Millionen von Jahren auf dem Heimatplaneten eingeführt worden war. Nun schien es nur noch kurze Zeit zu dauern bis zu seinem letzten – wahrscheinlich tödlichen – Treffen mit Ronald. Wenn er sich nicht täuschte, war es Zeit, das Ritual des Zon zu zelebrieren. Willie begann zu singen. Immer noch war ihm nicht klar, warum ihn das Schicksal ausgerechnet hierhergeführt hatte, hilflos an einen Baum gefesselt, während sich seine Widersacher versammelten, um ihn zu töten. Und dennoch akzeptierte er es. Wenn dies der Tag seines Todes sein sollte, dann sollte es so sein. Seine Seele würde weiterleben, eins mit dem Kosmos. Er betete um die Kraft, den Schmerz mit Würde zu ertragen. Der volltönende Gesang hallte durch den Wald und quälte John, der auf der Suche nach Ronald war. Es schien, als ob Willie Ronald an einem unsichtbaren Faden näher zu sich
heranzog, begierig zu sterben. Ellis schüttelte den Kopf. Er würde diese Lizards nie verstehen. Während er durch den Wald lief, schaute er sich von Zeit zu Zeit um. Als er sich wieder einmal fast den Hals verrenkte, erschrak er, denn fast wäre er mit Ronalds rotgekleideter Gestalt zusammengestoßen. »Ronald!« schrie er. »Du erkennst mich wieder«, amüsierte sich Ronald. »Du wirst jeden Tag scharfsinniger.« Ellis versuchte zu lachen, aber er fürchtete sich zu sehr vor Ronald. Der mächtige Alien starrte ihn mit seinen leuchtendgelben Augen an. »Ich höre Gesang«, meinte Ronald. »Ja, ich habe ihn für dich gefangengenommen. Dort hinten im Unterholz habe ich ihn gefesselt.« »Du Narr«, zischte Ronald. »Was?« Ellis wich einen Schritt zurück und wünschte sich, vor diesem bedrohlichen Reptilienmonster davonlaufen zu können. »Was ist daran falsch, Ronald?« »Du hast das Ritual des ninj-ki-ra unterbrochen.« Ronalds Zunge schoß heraus wie die einer Schlange. »Du mußt mich sofort zu ihm führen. Ich muß ihn sofort töten. Und alles nur wegen deiner Stümperei.«
Willie spürte, daß sich jemand näherte. Zuerst dachte er, es sei Ronald, aber dafür war es noch zu früh – und die Intelligenz des Wesens war zu rudimentär. Die Büsche rauschten heftig, so als ob sich etwas Massiges hindurchbewegen würde. Einen Moment später tauchte ein großer schwarzer Kopf auf. Es war die Bärin, mit der er sich vor kurzem angefreundet hatte.
Willie konzentrierte sich mit aller Kraft. Er hatte ja schon sehr erfolgreich mit dem Bären kommuniziert, aber noch nicht genug. Er schloß die Augen und projizierte seine Gedanken in das wilde Tier. Der Bär hob witternd seinen riesigen Kopf und starrte Willie an. Seine rosafarbene Zunge hing ihm aus dem Maul. Er spürte, daß Willie mit ihm sprach, aber noch begriff er nicht, was er von ihm wollte. Willie versuchte jetzt, die Gedanken des Bären zu lesen. Zunächst fand er nur Dunkelheit, aber dann flackerte ein Schimmer des Verstehens in seinem Bewußtsein auf – Sorgen um die Jungen, über den kommenden Winter, über die Fremden, die auf diese Insel gekommen waren. Dann hatte er plötzlich eine direkte Gedankenverbindung mit dem Bären! Willie dachte ganz konzentriert an die Schnur, die ihn an diesen Baum fesselte. Er stellte sich vor, daß Ronald ihn töten würde, während er hilflos gefesselt war. Mit der Gewißheit, daß der Bär ihn verstand, erzeugte Willie ein inneres Bild, das den Bär zeigte, wie er die Schnur durchbiß. Er versuchte das in allen Details zu visualisieren. Er hatte die Augen immer noch geschlossen, als er etwas Warmes an seinen Handgelenken spürte. Er wagte nicht, sie zu öffnen, aus Angst, den inneren Draht zu dem Bären zu verlieren. Er fuhr fort, an nichts anderes als an seine Befreiung zu denken. Der Speichel des Bären tropfte auf seine Schuppen.
»Er hat aufgehört zu singen«, bemerkte Ronald und hielt einen Moment lang inne. »Vielleicht hat er aufgegeben«, meinte John Ellis. Es gefiel ihm nicht, wie Ronald sich verhielt. »Vielleicht ist ihm gerade
klargeworden, daß er bald sterben muß und daß ihm das Singen auch nichts mehr nützt.« Ronald blickte ihn finster an, und seine gelben Katzenaugen verengten sich. Hier im dunklen Wald brauchte er seine Kontaktlinsen nicht, aber Ellis wünschte, er würde sie wieder anlegen. Diese Augen verursachten ihm eine Gänsehaut. »Hier entlang«, meinte er, als er plötzlich merkte, daß Ronald auf ihn wartete. Sie hasteten durch ein Birkenwäldchen und tauchten dann am Rande des Unterholzes auf. »Er ist gleich dort drüben.« John blickte sich um. Er hätte schwören können, daß er den Alien an einen der Bäume dort rechts gefesselt hatte. Aber bis auf die weiße Schnur sah er nichts. »Ich kann es nicht glauben!« schrie Ellis. »Wie konnte er – « Er drehte sich um und sah in Ronalds wütendes Gesicht; ein tiefes Knurren drang aus der Kehle des Visitorkapitäns. Ellis versuchte zu lächeln. »Nun«, sagte er, »wenigstens kannst du jetzt mit diesem ninj-ki-ra fortfahren.«
Kapitel 35
Willie rannte durch den Wald, hüpfte über knorrige Baumwurzeln und vermied so weit es ging Lichtungen. Er war Ronald zwar entkommen, aber das nur sehr knapp. Der brutale Alienkapitän war sicher dicht hinter ihm. Schwer atmend blieb Willie einen Augenblick lang stehen. Welchen Weg sollte er nehmen? Vielleicht war es am gescheitesten – und sichersten –, in den dichtesten Teil der Insel vorzudringen, in ihr Zentrum. Und wenn Ronald auftauchen sollte, konnte er von dort aus in alle Richtungen fliehen. Andererseits durfte er nicht zu weit gehen, um nicht an der Ostseite der Insel herauszukommen, denn dort auf dem schmalen Küstenstreifen patrouillierten sicherlich Ronalds Häscher, genauso wie im Westen, Norden und Süden der Insel. Willie versuchte nicht zu verzweifeln, als er jetzt weiterlief. Er dachte daran, welchen Torturen Amon ausgesetzt war, von seinem Heimatplaneten verbannt, und die Erinnerung an das Leiden dieses Einen Großen tröstete ihn. In Gedanken wiederholte er das Ritual des Zon, während er von einer Baumgruppe zur nächsten lief, fast wie ein Wesen, das in den Wäldern aufgewachsen war. Plötzlich wurde das Licht über ihm heller, und Willie wußte, daß er sich in der Nähe einer größeren Lichtung befand. Er entschied sich, sie einmal zu umkreisen. Jedoch trieb ihn die Neugierde doch näher heran, und was er dort sah, überraschte ihn. Auf der Lichtung standen bemooste Baumstümpfe, und ein schmaler Weg führte zu einem Blockhaus.
Obwohl er wußte, daß es gefährlich für ihn werden konnte, die Lichtung zu betreten, kam Willie der Gedanke, daß er in der Hütte Brauchbares finden könnte, Werkzeug zum Beispiel oder – Zon möge ihm vergeben – vielleicht sogar Waffen. Da er einen Vorsprung vor Ronald hatte, war es kaum möglich, auf der Lichtung gefangengenommen zu werden, vorausgesetzt, er handelte sofort. Willie betrat die Lichtung und rannte auf die Hütte zu. Sekunden später hatte er die Tür erreicht. Er versuchte sie zu öffnen, aber sie schien fest verriegelt zu sein. Er ging um das Blockhaus herum. Die Fenster waren mit durchsichtiger Plastikfolie bespannt. Willie zerriß sie mit seinen Klauen und zerschlug die zerbrechlichen Holzrahmen der einzelnen Fensterhälften, so daß das Fenster jetzt groß genug war, um hineinklettern zu können. Er zog sich am Fensterflügel hoch und hockte sich auf das Fensterbrett. Das helle Nachmittagssonnenlicht blendete ihn etwas, so daß er nicht gut sehen konnte, was drinnen war, aber er hatte den Eindruck, daß nichts sein Eindringen behinderte. Aber lohnte es sich überhaupt? In dem halbdunklen Licht war nichts auszumachen. Doch dann sah Willie vage ein paar vielversprechende Gegenstände herumstehen. Weich sprang er in den Raum. Auf allen vieren hockend, verharrte Willie ein paar Sekunden lang in völliger Stille, nur seine Stirnwülste zitterten. Auf einmal wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Hier war jemand. Das alte Sofa in der Ecke kippte plötzlich um. Ein bärtiger Mann und ein junges Mädchen kamen zum Vorschein. »Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte der Mann. Verwundert darüber, was er wohl meinen könnte, schaute Willie ihn an.
»Und hier habe ich es auch schon«, fuhr der alte Mann fort. »Kommen Sie etwas näher, dann werde ich es Ihnen geben.« Willie verhielt sich ruhig. Der bärtige Mann, durch Willies Schweigen ermutigt, trat einen Schritt näher. Die Finger seiner erhobenen Hand umklammerten etwas, das Willie nicht erkennen konnte. »Ich verstehe Sie nicht«, sprach Willie endlich. »Bitte erklären Sie mir, was Sie meinen.« »Ich kann noch etwas viel Besseres, als erklären«, erwiderte der Mann, und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. »Ich kann es dir demonstrieren.« Plötzlich sprang der Mann vor, seine Hand zuckte und Flüssigkeit spritzte in Willies Gesicht. Zurücktretend öffnete der Mann seine Hand. Eine kleine Kristallflasche fiel zu Boden. Zuerst dachte Willie, man wolle ihn auf irgendeine Art und Weise herausfordern. In einem Film hatte er einmal gesehen, wie einem Mann Wein ins Gesicht geschüttet wurde, um ihn zu einem Duell zu zwingen. Aber dann erinnerte er sich daran, daß diese hitzige Sitte der Vergangenheit der Erde angehörte. Er spürte, daß etwas auf seinem Gesicht prickelte und ihm die Wangen hinunterlief. Aber er fühlte es auch innerlich; sein Inneres brannte, und die Hitze strömte durch seine Adern bis in die Spitzen seiner Klauenhände und Füße. Die Hitze wurde immer stärker, in ihm schienen Flammen zu brennen. Sie drohten ihn zu verzehren, und dann, als er glaubte, völlig auszubrennen, erfaßte ihn eine schreckliche Kälte. Unter der Wirkung dieses eisigen Feuers zitternd, wankte Willie auf den bärtigen Mann zu. »Was haben Sie mit mir gemacht?« fragte er. »Ich habe dich getötet«, erwiderte der Mann.
»Aber ich bin nicht Ihr Feind«, keuchte Willie und wußte jetzt, wer dieser alte bärtige Mann war. »Ich laufe genauso vor ihnen davon.« »Aber du bist doch einer von ihnen«, rief die junge Frau. »Einer von ihnen«, sagte Willie, »aber von der Widerstandsbewegung zu euch geschickt, um euch zu helfen.« »Dann bist du Willie«, schrie die Frau auf. »Du hast uns gefunden.« »Ja«, bemerkte Willie, »aber ich fürchte, daß die anderen nicht mehr weit sind, und die sind alles andere als wohlmeinend.« Willie versuchte, ihnen noch die Richtung zu zeigen, aus der er gekommen war, aber es gelang ihm nicht mehr. Er stolperte und verlor das Bewußtsein, als das Toxin sich über sein gesamtes Nervensystem ausbreitete. Er sah nur noch undeutlich, wie der Boden näher kam.
Kapitel 36
Entgeistert starrten Brunk und Sarah Foley auf Willie, wie er dort ausgestreckt wie ein Fisch ohne Wasser auf dem Boden der Hütte lag. »Guter Gott«, rief der Doktor. »Was habe ich nur getan?« Er kniete neben Willie nieder und drehte den Alien auf den Rücken. »Wir haben doch das Antitoxin«, rief Sarah. »Aber wir wissen nicht, ob es wirkt.« »Das Toxin jedenfalls scheint sehr gut zu wirken.« Sarah griff nach den anderen Fläschchen auf dem Tisch. »Also wird das Antitoxin auch wirken.« »Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch helfen wird«, erklärte Brunk. »Alle Körperzellen sind bereits angegriffen. Also, beeilen wir uns.« Sarah reichte ihm die Flasche. Brunk hielt Willies Kopf hoch, während er versuchte, ihm das Antitoxin einzuflößen. Aber Willies Zuckungen machten sein Vorhaben immer wieder zunichte. »Sarah, hilf mir, ihn stillzuhalten«, bat Dr. Brunk, »allein schaff ich es nicht.« Während er mit ihr sprach, hatte er sich von Willie abgewandt. Im selben Moment wurden Willies Zuckungen noch heftiger. Er krümmte sich und schlug mit den Armen um sich. Dadurch wurde die Flasche aus Brunks Hand geschlagen und zerschellte auf den Steinen der Feuerstelle. Brunk schrie: »Eine neue, Sarah! Mehr Antitoxin!«
Jetzt drang ein schreckliches Rasseln aus Willies Kehle, sein Hals schwoll an, und eine gräßliche schwarze Flüssigkeit strömte aus seinem weit aufgerissenen Maul. Das Rasseln wurde immer lauter und eskalierte in Todesschreien. Willies ganzer Körper vibrierte jetzt und war völlig außer Kontrolle geraten. Er rollte in spasmischen Zuckungen über den Boden, und sein Körper klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Sarah hielt die zweite Flasche mit dem Antitoxin, während der Doktor versuchte, Willie zu bändigen. Brunk wurde gegen die Wand geschleudert, rang nach Atem, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Sarah vergaß Willie und rannte, um ihrem Mentor zu helfen. Keuchend schüttelte Brunk den Kopf. »Nein, ich bin in Ordnung«, stieß er hervor. »Wir müssen ihm helfen, bevor es zu spät ist.« »In Ordnung.« Sarah versuchte, Willie zu bändigen, indem sie seine Arme auf den Rücken zog, aber ihre Finger glitten an seinen Schuppen ab, und mit Leichtigkeit stieß er sie weg. Das Mädchen stürzte auf die umgestürzte Couch, während Willie sich krümmte, in einen Holzstuhl krachte, dann gegen die Wand fiel und wieder schrecklich zu schreien anfing. Schwarzer Schaum stand vor seinem Maul. »Wir sollten versuchen, ihn gemeinsam zu bändigen. Jetzt.« Beide stürmten auf Willie los, der die Klauenhände in die Luft warf; eine Vase krachte zu Boden, als er zusammenbrach. Jeder griff sich jetzt einen Arm, und so versuchten sie ihn festzuhalten. Willie jedoch warf sie um, als wären sie nur Stoffpuppen, und Fleischstücke rissen von ihm ab. Alle lagen jetzt ineinander verknäult auf dem Boden, und Willie jammerte und heulte weiter wie ein Irrsinniger. »Das Toxin«, preßte Brunk durch die Zähne. »Schau.«
Willie hatte den Tisch, auf dem die Fläschchen standen, umgestoßen, und diese rollten über den Boden. Dunkle Flecken bildeten sich dort, wo sich die Korken gelöst hatten und das Toxin ausgelaufen war, für immer verloren. »Wir müssen retten, was zu retten ist«, schrie Sarah. Sie kroch über den Boden und hob die Fläschchen auf. Die, die aufgegangen waren, enthielten nur noch wenige Tropfen, aber die anderen waren zum Glück noch voll mit Toxin. Diejenige, die sie jetzt in der Hand hatte, war die einzige noch verbliebene Flasche mit Antitoxin. Angesichts der Todesgefahr, in der Willie schwebte, wußte Sarah, daß sie nur noch eine Chance hatte. Sie zog den Korken aus der Antitoxinflasche, rannte auf Willie zu und versuchte, es ihm ins Gesicht zu schütten. Willie schlug ihre Hand weg. Einen Moment lang glaubte sie, er wolle sie angreifen, aber dann sah sie seine Augen. In ihnen waren keine Wut, kein Haß, nur Traurigkeit und Schmerz. Willie fiel in den letzten Todeskampf. Wahrscheinlich war ihm auch nicht mehr bewußt, was um ihn herum geschah. »Niemals hätte ich gedacht, daß die Reaktion so heftig ist«, meinte Brunk. »Es scheint unmöglich, ihm das Antitoxin zu verabreichen.« »Aber wir können ihn doch nicht einfach sterben lassen«, schrie Sarah panisch. »Er ist doch hergekommen, um uns zu helfen.« Als Willie wieder mit der Stirn gegen die Wand knallte, sagte der Doktor hilflos: »Was können wir nur tun?« Verzweifelt sah sich Sarah in der verwüsteten Hütte um. Der Feuerhaken klirrte zu Boden, während sich Willie wild um sich selbst drehte. Sie stürzte auf ihn zu und hob ihn auf. Willie kletterte jetzt den Kaminsims hinauf, grauenvoll kreischend im Todeskampf mit dem giftigen Serum, das durch seine Adern brannte. Sein Körper versteifte sich, als er
versuchte, zu stehen, er schwankte, verlor den Halt und stürzte dumpf auf den Boden. Sarah wollte keine Zeit mehr verlieren. Möglicherweise würde es ihn töten, aber er würde sowieso sterben, wenn nicht sofort etwas geschah. Bevor Willie sich wieder erheben konnte, schlug sie ihm mit dem Feuerhaken hart über den Schädel.
Kapitel 37
»Drehen wir ihn um«, meinte Brunk. Zusammen legten sie ihn auf den Rücken, und der Doktor öffnete sein kräftiges Fangzahngebiß und goß das letzte Fläschchen mit dem Antitoxin in Willies Kehle. Irgendwie war es Sarah tatsächlich gelungen, es über die Raufereien zu retten. Der Körper des Alien zitterte noch immer, seine gelben Augen waren nach oben verdreht, so daß man noch den unteren Teil der Hornhaut sehen konnte. Dann traten Sarah und Brunk zurück, denn jetzt begann das Antitoxin zu wirken – ob zum Guten oder Schlechten, war noch ungewiß. Willie stöhnte leise. Sein Maul war weit aufgerissen, und man sah einen Rachen, der dreimal so groß war wie der eines Menschen. »Wenn er etwas von dem Gegengift wieder ausspeit«, überlegte Brunk, »wird der Rest wahrscheinlich nicht ausreichen, ihn zu retten.« »Wir haben getan, was wir konnten«, sagte Sarah schweratmend. »Wir haben auch kein Antitoxin mehr.« Willies Krämpfe ließen jetzt etwas nach. War es die Ruhe vor den letzten Todeszuckungen oder wirkte das Antitoxin? Sie konnten nur abwarten und zusehen. Auf irgendeine Art, obwohl beide es nicht zugeben würden, waren sie jetzt erleichtert. Das Toxin war getestet worden, und offensichtlich wirkte es ausgezeichnet. Sie kannten diesen Visitor nicht, und seine Gegenwart irritierte sie. Monatelang hatten sie gelernt, die Visitors zu hassen, und obwohl sie es begrüßten, daß Willie ihrer Sache diente, fürchteten sie doch, daß sie mit dem Alien niemals richtig warm werden könnten.
Andererseits wünschte keiner von beiden Willie den Tod. Wenigstens hatten sie versucht, ihn zu retten. Es war alles so kompliziert geworden, seit sich einige Lizards entschlossen hatten, mit den Menschen gegen ihre eigene Rasse zusammenzuarbeiten. Zweifellos brauchten die Menschen solche wie Willie, aber was würde mit ihm geschehen, wenn seine Dienste nicht mehr notwendig waren? Willie lag jetzt ruhig da, sein Kopf in einer Lache schwarzer Flüssigkeit. Sie warteten auf ein Lebenszeichen von ihm. Nach einigen Minuten meinte Sarah: »Glauben Sie, daß er lebt?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Brunk. »Ich weiß auch nicht, wie die Lebenszeichen dieser Organismen aussehen. Bei dem Gefangenen in unserem Labor sind wir rein experimentell vorgegangen, und bevor wir mehr über ihn lernen konnten, war er auch schon tot.« »Jedenfalls haben wir genug gelernt, um sie alle töten zu können«, flüsterte Sarah. »Das ist oft eines der ersten Dinge, die wir über einen Organismus lernen«, bemerkte Brunk. Sie schwiegen und jeder dachte über die Mysterien des Lebens und des Todes nach, während vor ihren Augen ein Lebewesen mit dem Tode rang. Willie bewegte sich und riß beide aus ihren Gedanken. Intensiv beobachtete Brunk den Visitor. Langsam wandte er sich ihnen zu, seine Augen wurden klarer, und er schien jetzt seine Umgebung wahrzunehmen. »Doktor Brunk«, sagte er schwach. »Ich glaubte, sterben zu müssen.« »Sprich jetzt nicht. Sarah, hilf mir das Sofa wieder aufzurichten. Er muß sich jetzt unbedingt ausruhen.« Sie bückten sich, um Willie auf das Sofa zu legen. Unter seiner schuppigen Haut konnten sie jetzt seine zarten Muskeln
fühlen, die weich und geschmeidig waren und nicht mehr steif und starr wie noch vor wenigen Augenblicken. »Bitte verzeiht mir meine Heftigkeit«, bat Willie sie. »Ich war nicht mehr Herr meiner selbst für eine Eile.« »Eine Eile?« fragte Sarah. »Ich meine eine Weile. Als ich das erste Mal auf der Erde war, war ich in Saudi Arabien stationiert, und ich habe daher nie so richtig nach dem englischen Fexikon gelernt.« »Ich denke, du meinst ›Lexikon‹, aber das spielt jetzt keine Rolle«, meinte Sarah. »Kann ich etwas für dich tun, Willie?« »Wasser bitte.« »Ich werde dir etwas holen.« Sarah ging zur Tür. »Meinst du wirklich, daß du jetzt rausgehen kannst?« fragte der Doktor. »Es könnte gefährlich sein.« »Das wird schon in Ordnung gehen.« Sie öffnete die Tür und trat hinaus in die kalte Luft. Die Sonne ging gerade unter, und die Kiefern warfen lange Schatten. Sarah ging zu der Pumpe, die sich hinter der Hütte befand, und merkte auf einmal, daß sie einen Behälter für das Wasser vergessen hatte. Als sie zurückging, fühlte sie sich fast schuldig wegen ihrer Reaktion auf Willie, als dieser im Sterben lag. Nach nur wenigen Worten Konversation hatte sie schon angefangen, ihn gern zu haben. Nahe der Tür hörte sie plötzlich etwas hinter sich. Sie zögerte und drehte sich dann um. Aus dem schattigen Wald trat eine Kreatur, die aussah wie Willie, nur daß sie eine rote Uniform trug. Dann rannte sie los.
Kapitel 38
Überrascht blickten Brunk und Willie auf, als Sarah die Hüttentür hinter sich zuschlug und verriegelte. »Sie sind dort draußen«, rief sie atemlos. Der Doktor schüttelte besorgt den Kopf. »Alles, was uns übriggeblieben ist, ist diese eine Flasche mit Toxin«, erklärte er. »Wenn wir sie ausschütten, bleibt ihnen nichts als die Befriedigung, uns töten zu können.« »Sie werden versuchen, Sie zu konvertieren«, entgegnete Willie. »Um die Formel aus Ihnen herauszupressen.« »Das wird nicht klappen.« Brunk lächelte bitter. »Mein Herz würde eine Konvertierung nie aushalten. Ich werde die Formel mit ins Grab nehmen.« »Seien Sie da nicht zu sicher«, gab Willie zu Bedenken. »Sie haben Mittel und Wege zur Verfügung, die so subtil sind, wie Sie es sich gar nicht vorstellen können.« »Vermutlich hast du recht, aber höchstwahrscheinlich bin ich gar nicht mehr in der Lage, mich an die ganze Formel zu erinnern, und meine Unterlagen sind vernichtet worden, Willie.« »Bitte, helfen Sie mir aufzustehen«, stöhnte Willie. »Ich muß mich auf die Begegnung mit Ronald vorbereiten.« »Ronald… ist das euer Anführer?« »Ja, er ist der Geschwaderkommandant«, erklärte Willie. »Durch seine Zusammenarbeit mit einem Menschen aus der Stadt ist es ihm gelungen, die meisten der jungen Männer der Stadt zu töten. Die örtliche Widerstandsbewegung hat nur noch ganz wenige Leute, oder wenigstens hofft Ronald das.« »Ist er dir hierher gefolgt?«
»Ja, ich bin sein Jagdopfer in einem alten Ritual, dem ninj-kira, und er wußte, daß ich ihn letztendlich zu euch führe… und zu dem Toxin.« »Nun, das scheint ja geklappt zu haben«, mischte sich Sarah ein. »Aber was machen sie jetzt da draußen?« »Wahrscheinlich beglückwünschen sie sich«, bemerkte Brunk sarkastisch. »Sieht so aus, als ob sie gewonnen hätten.« »Wenn Sie es nicht zulassen, dann werden sie nicht gewinnen«, entgegnete Willie. »Ronald fürchtet die Wahrheit, denn in ihr liegt eine Kraft, über die er niemals verfügen wird. Bitte vergessen Sie das nicht, denn er wird versuchen, Ihnen Ihre Kraft und somit die Wahrheit zu rauben.« »Aber ich weiß doch gar nicht, was die Wahrheit ist, Willie«, sagte Brunk weich, erstaunt darüber, wie sehr ihn dieser Alien innerlich aufrüttelte. »Ich kämpfe für das Leben meiner Leute, meiner Welt.« »Aber darin liegt sehr viel Wahrheit«, erwiderte Willie, »vielleicht mehr, als wir zu ahnen vermögen. Möglicherweise weiß es nur das Universum selbst, das Große Eine, von dem wir ein Teil sind.« »Wie kommt es, daß so kriegerische Wesen so tiefgehende Gedanken haben können?« fragte Sarah. »Wir sind kompliziert, wie ihr auch.« »Willie«, sagte Brunk, »ich muß dir gestehen, daß ich mir noch vor wenigen Minuten gewünscht habe, daß du sterben mögest, aber jetzt bin ich froh, daß du lebst.« »Dann haben Sie gerade einen kleinen Schimmer der universalen Wahrheit erhascht.« Der Doktor lächelte. »Vielleicht.« Ein blauer Blitzstrahl schoß durch das offene Fenster und brannte ein Loch in die gegenüberliegende Wand. Sarah wich entsetzt zurück; der Strahl hatte sie nur um Zentimeter verfehlt.
»Ronald«, rief Willie und stolperte zum Fenster. »Du hast gewonnen. Ich komme raus.« Keine Antwort. »Du hast mich aufgespürt«, sagte Willie. »Es gibt keinen Ort mehr, wo ich noch hingehen könnte. Mein Leben liegt in deiner Hand, du kannst es dem ninj-ki-ra gemäß beenden.« Stille. Willie wandte sich an Sarah und den Doktor. »Er wartet darauf, daß ich ihm sage, was es hier noch für ihn gibt.« »Unterwirf dich ihm nicht, Willie«, meinte Dr. Brunk. »Du kannst uns doch nicht retten.« »Ich muß es versuchen.« Brunk hob die rechte Hand. Er zeigte ihnen die letzte Flasche, ein schimmerndes kleines Ding, das die letzte Hoffnung der Menschheit enthielt. »Doktor«, meinte Sarah, »ich werde ein Feuer vorbereiten.« »Warum?« wollte Willie wissen. »Er kann dann den Inhalt der letzten Flasche in die Flammen gießen, und es wird keine Spur des Toxins und des Antitoxins mehr geben. Ich denke, so wird es das Beste sein.« Sie begann die Feuerstelle mit Zeitungspapier zu füllen, legte einige Holzscheite darauf und strich ein Streichholz an, um das Feuer zu entfachen. »Ihr könnt es nicht zerstören«, rief Willie. »Es ist eure einzige Hoffnung.« »Aber wir können auch nicht zulassen, daß es ihnen in die Hände fällt, Willie.« »Doktor, Sie wissen nicht wirklich, was passieren wird«, gab Willie zu bedenken. »Und diese junge Frau braucht vielleicht noch mal etwas, was sie beschützen könnte.« Brunk war zur Feuerstelle gegangen, jetzt hielt er inne und sah Willie an. »Was meinst du damit?« »Haben Sie denn noch nie von den… Greueltaten gehört?«
Jetzt wurde auch Sarah aufmerksam. »Was machen sie dann mit mir?« fragte sie. »Viele meiner Leute verstehen einfach nichts«, begann Willie. »Es gibt einen alten Glauben über Säugetierwesen, die euch sehr ähnlich waren. Sie haben das krankhafte Verlangen zu demütigen, zu quälen und zu vernichten.« Sarah und Brunk sahen einander erschrocken an. »Behalte die letzte Flasche«, meinte der Doktor schließlich. »Versteck sie, Sarah. Vielleicht wirst du sie wirklich brauchen.« Sarah nickte. »In Ordnung.« Und sie steckte die Flasche in die Hüfttasche ihrer Jeans. In diesem Augenblick wurde die Hüttentür aus ihren Angeln gerissen.
Kapitel 39
Eine hochgewachsene Gestalt stand im offenen Türrahmen, und das letzte Tageslicht bohrte sich durch den Rauch, der ihn umkreiste. »Ronald«, rief Willie. »Dann bist du jetzt gekommen, um mich zu holen.« »Ich bin nicht nur deinetwegen hierhergekommen, mein kleiner Philosoph«, schnarrte Ronald. »Und du hast mir auch noch nicht erzählt, wer hier noch auf mich wartet, wie es das ninj-ki-ra eigentlich verlangt.« »Hier ist niemand außer mir, nur meine Seele, die darauf wartet, von dir befreit zu werden.« »Du lügst!« zischte Ronald. Prunk und Sarah erschraken, aber Willie zeigte keine Angst. Ruhig stand er da, als Ronald den qualmenden Raum betrat. »Dann kennst du also die Wahrheit?« fragte Willie. »Wenn ihr Amon-Moralisten glaubt, daß nur ihr allein den Schlüssel zur Wahrheit besitzt, dann täuscht ihr euch. Ich sage dir, es gibt viele Wahrheiten, und es gibt keine Wahrheiten. Aber das ist für euch simpel denkende Religionsfanatiker wohl etwas zu kompliziert«, spottete Ronald. »Du versuchst zweifellos, dir einzureden, daß das, was ich sage, nicht ernst zu nehmen sei, aber irgendwo in deinem Innern gibt es die Gewißheit, daß das Universum nicht bloß dichotom aufgebaut ist, wie dein Glaube es behauptet. Natürlich wären wir alle, wenn wir nur nach der Wahrheit handeln würden, glücklicher, aber wir wären nicht das, was wir jetzt sind.« »Da hast du noch nicht alles über die Wahrheit vergessen«, sagte Willie.
Ronald zischte und winkte dann denen, die draußen waren, daß sie die Hütte umzingeln sollten. Willie sah fünfzehn oder zwanzig Soldaten durch die offene Tür und das Fenster, die sich in ihren roten Uniformen vor dem dunklen Wald abzeichneten. In Sekundenschnelle hatten sie die Hütte umzingelt. Jetzt konnte keiner mehr entkommen. »Das ninj-ki-ra fordert ein schnelles Ende«, sagte Willie. »Die Regeln des ninj-ki-ra können bei Komplikationen variieren, ähnlich denen, die hier vorliegen«, entgegnete Ronald. »Ich meine speziell die Gegenwart von Doktor Brunk und seiner Assistentin.« »Laß sie gehen«, forderte Willie ihn auf. »Wenn ich im Besitz der Formel bin, könnte ich diese Alternative in Betracht ziehen«, meinte Ronald, und seine bösen gelbbraunen Augen blickten hinüber zu Brunk. »Es gibt keine Formel«, meldete sich der Doktor zu Wort. »Sie ist mit den Unterlagen verlorengegangen.« »Dann werden Sie mir einfach das Toxin geben – und das Antitoxin.« »Nichts mehr da.« Brunk deutete auf den rauhen Holzboden. »Die Reste davon sind hier in diesen Brettern versickert.« Ronald gluckste. »Dann werden wir die Formel aus ihrem Gehirn pressen, Herr Doktor.« Beschützend stellte sich Sarah dicht neben Brunk. Er spürte, wie sie neben ihm zitterte. Das war es, was sie befürchtet hatte. »Machen Sie, was sie wollen, Ronald. Niemals werden sie lernen, wie man das Toxin herstellt. Ihre Jagd ist vergebens gewesen.« »Unsinn.« Vor Wut schwoll Ronalds Hals an. »Wären Sie auf diese Insel geflohen, wenn Sie nichts zu verstecken hätten? Also geben Sie mir sofort das Toxin, bevor ich die Geduld verliere.«
Der Doktor nahm sich ein Beispiel an Willies mutigem Auftreten, sah Ronald direkt in die Augen und schüttelte den Kopf. Er wußte, daß er gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte, aber er fürchtete sich nicht so, wie er geglaubt hatte. Statt dessen befriedigte ihn der Gedanke, daß er alles getan hatte, um gegen die Visitors zu kämpfen. Jemand anderes würde im Falle seines Todes das Toxin neu entwickeln. Freiwillig würde er es ihnen niemals geben. »Ich will es nicht«, sagte er. »Und ich kann es nicht.« »Sehr gut«, meinte Ronald. »Sie haben also die Rolle des Helden in unserem kleinen Drama gewählt, Doktor. Sie sehen sich, vermute ich, als den edlen Wissenschaftler, der den teuflischen Eindringling bis zum letzten bekämpft. Bewundernswert, aber langweilig.« Er drehte sich um winkte jemanden von draußen herein. Zwei Soldaten und ein Mann, den Brunk nicht erkannte, betraten die Hütte. Sarah jedoch erkannte ihn. Sie kannte ihn schon, solange sie lebte, und sie fürchtete sich vor ihm. Es war John Ellis. »Im Gegensatz zu einigen meiner Leute«, erklärte Ronald, »habe ich an eurer Rasse ein ausschließlich militärisches Interesse, – und natürlich ein kulinarisches. Nein, Sex macht mir nur mit meiner eigenen Rasse Spaß. Die meisten – aber nicht alle – Menschen scheinen ähnlich zu empfinden. Auffallend an der menschlichen Sexualität scheint mir, zumindest meinen begrenzten Beobachtungen nach, wie wählerisch die Frauen sind, obwohl die Männer in der Minderheit sind. Junge Frau, wie denken Sie über dieses Exemplar von einem Mann?« Mit seiner Klauenhand deutete er auf Ellis. Sarah antwortete nicht. »Ah, vielleicht bedeutet Schweigsamkeit etwas. Aber was?« seufzte Ronald. »Ich kenne leider die menschlichen
Umgangsformen nicht so gut. Es kommt mir jedoch so vor, als ob die sittsame junge Dame sich freut, daß wir John Ellis hergebracht haben. Oder sehe ich das falsch?« »Allerdings sehen Sie das falsch«, sagte Sarah wütend. »Oh, dann gehören auch Sie zu den Wählerischen. Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Und jetzt schwoll Ronalds Hals vor Vergnügen an. »Dann wird eure Verbindung gleich noch viel interessanter werden.«
Kapitel 40
John Ellis ging schwerfällig auf Sarah zu, mit einem verschlagenen, lüsternen Grinsen auf dem roten Gesicht. Willie kam es so vor, als ob Ronald mehr über menschliche Sexualität gelernt hatte, als er zugab. Wie sonst hätte er eine solche perverse Begegnung arrangieren können? Sein Studium der menschlichen Verhaltensweisen schien jedoch nicht auf intellektuellen Erwägungen zu beruhen. Für ihn gab es nur den einen Gedanken: den Feind zu demütigen und zu demoralisieren. Das Entsetzen auf Sarahs Gesicht hätte nicht größer sein können, wenn Ronald persönlich versucht hätte, sich ihrer zu bemächtigen. »Laß sie zufrieden!« schrie Brunk. »Kannst du nicht sehen, daß sie nichts, rein gar nichts mit dir zu tun haben will?« »Halt’s Maul, du alter Narr«, knurrte Ellis. »Genau, seien Sie ruhig, Doktor Brunk«, befahl Ronald. »Stören Sie das schöne Schauspiel nicht mit Ihrem Geschwätz.« Überraschend schnell schoß Ellis’ fleischige Hand vor und ergriff Sarahs Handgelenk. Hart zog er sie an sich. Sarahs Miene zeigte jedoch keine Angst, nur Empörung und Wut. Als ihr Angreifer sie umschlingen wollte, stieß sie ihm das Knie kräftig in den Schritt. Ellis stöhnte auf. Dann keuchte er und sank zu Boden. Erleichtert wandte sich Sarah ab. »Diesmal bist du noch glimpflich davongekommen, du Idiot«, schimpfte sie. Aber Ellis war schon wieder auf den Beinen. »Du Hexe.«
Ronald gluckste genüßlich. Solch unerwartete Wendung des Geschehens erfreute ihn und erhöhte den Reiz des grausamen Spiels. Aus diesem Grunde hatte er auch Jake und Charlie mit einbezogen. Er liebte Überraschungen, allerdings nur, solange er die Kontrolle über die Ereignisse hatte. Sarah schüttelte ihren hübschen Kopf, um die Haare aus dem Gesicht zu bekommen. In diesem Moment griff John Ellis sie an wie ein wildgewordener Stier. Sarah wurde überrumpelt. Ellis schmiß sie zu Boden, legte sich auf sie und versuchte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Mit geballten Fäusten schlug sie auf ihn ein und schrie, daß er sie loslassen solle. Dabei versuchte sie, ihn mit den Knien wegzudrücken. Aber gegen seinen massigen Körper hatte sie keine Chance. Sie kratzte ihm mit den Nägeln übers Gesicht, und Ellis jaulte vor Schmerz auf, als ihm das Blut über die Wangen lief. Sein Kopf zuckte zurück, und Sarah nutzte die Gunst des Augenblicks, um unter ihm wegzurutschen. »Sie scheint zu stark für ihn zu sein«, meinte Ronald beobachtend. »Aber so leicht gibt er nicht auf.« Ellis schwang herum und kam wieder auf die Füße. Diesmal versuchte er nicht, sie zu Boden zu zwingen, sondern schlug und boxte mit seinen fleischigen Fäusten auf sie ein. Sarahs Kopf flog zurück, sie drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und knallte dann in einen umgestürzten Stuhl. Ihr Kopf schlug auf dem harten Holzfußboden auf. Schon war Ellis über ihr. In ihrer Benommenheit war das Mädchen vollkommen wehrlos. Halb bewußtlos stöhnte sie vor Schmerzen. »Nein!« schrie Brunk. Er riß sich von der Wache, die ihn am Arm festgehalten hatte, los und zerrte Ellis von Sarah weg. »Lassen Sie sie los, Sie Tier!« »Schnappt ihn euch!« befahl Ronald.
Zwei Soldaten griffen nach Brunk, jeder nach einem Arm. Irgendwie fand er jedoch die Kraft, sie abzuschütteln und stürzte sich auf Ronald. »Sie Monster!« brüllte er. Ronald stand völlig ruhig da, als Brunk ihn angriff. Er bewegte sich nicht, selbst dann nicht, als Brunk ihm den Kopf ins Zwerchfell rammte. Spöttisch schaute er hinunter auf den rasenden Mann. Alle erwarteten jetzt Entsetzliches, aber sekundenlang tat Ronald gar nichts. Er wartete, und Brunk versuchte von neuem, ihn zu attackieren. Dann handelte Ronald. Er beugte sich nach unten, griff nach Brunks Kehle und drückte sie so fest zu wie ein Schraubstock. Sarah versuchte, dem Doktor zur Hilfe zu kommen, aber die Wachen hielten sie zurück. Willie beobachtete alles und wurde traurig. Er wußte, daß Randall Brunk seine Wahl getroffen hatte. So würde Ronald niemals die Formel des neuen Toxins erfahren. Ronald dachte an nichts anderes als daran, Brunk zu vernichten. Den eigentlichen Zweck seines Kommens hatte er in seinem Blutrausch völlig vergessen. Immer noch Brunks Kehle umklammernd, hob der Visitorkapitän ihn jetzt vom Boden hoch. Gurgelnde, abgehackte Laute drangen aus Brunks Mund, schaumiger Speichel tropfte ihm den Bart hinunter. Er baumelte jetzt direkt vor Ronalds Reptilienmaul. Ein krachendes Geräusch kündigte den Tod des Doktors an; ein Nackenwirbel war gebrochen. Willie stimmte einen inneren Gesang an, mit dem er den toten Mann ehrte und für seine Seele betete. Nun war Brunk eins mit dem Kosmos, ein Wesen, das in Würde und mit Mut gestorben war, und seine Kraft verströmte ins unendliche eine Universum.
Plötzlich schien sich Ronald bewußt zu werden, was er getan hatte. Voller Wut blickte er auf den Körper in seinen Händen und warf ihn dann auf den Boden, als könnte der Mann ihm noch im Tode Schaden zufügen.
Kapitel 41
Ronalds Hals schwoll an, und seine Schuppen wurden so tiefgrün, daß sie fast schwarz wirkten. Seine Augen wanderten vom Körper des toten Doktors zu Willie. »Das ist die Wahrheit«, sagte Willie, »dort liegt sie, vernichtet auf dem Fußboden.« »Er war ein Narr!« bellte Ronald. »Ein völliger Idiot!« »Dieser Narr hat dich besiegt«, teilte Willie ihm sanft mit. »Mich besiegt? Ihn zu töten, war so einfach, als ob ich ein Insekt zerdrücken würde.« »Ein Insekt, das ein Geheimnis kannte, das du verzweifelt suchst«, erinnerte ihn Willie. Ronalds Hals schwoll von neuem an, und finster fixierte er Willie. Er wußte, daß Willie recht hatte. Er hatte zugelassen, daß seine Wut alles vereitelte; ein schwächlicher Mensch hatte ihn ausgetrickst und seinen Auftrag zunichte gemacht. Und dieser Verräter stand vor ihm und sah ihn gerade an, selbstgefällig und zufrieden. Das konnte Ronald nicht zulassen. »Du«, wandte er sich an John Ellis. Ellis, immer noch verblüfft über den Märtyrertod Doktor Brunks, begriff zunächst gar nicht, daß Ronald ihn meinte. »Geh«, befahl ihm Ronald. »Gehen?« Ellis zeigte mit dem Finger auf seine Brust. »Aber ich habe noch nicht…« »Du hast genug getan. Was jetzt kommt, ist nicht für deine Augen bestimmt.« »Aber du hast mir das Mädchen versprochen!«
»Ich hab’ dir gar nichts versprochen. Du hast niemals verstanden, was Macht bedeutet, John Ellis, du hast lediglich einen Schimmer davon erhascht.« »Ich hatte fünfundzwanzig Männer, die mir jederzeit folgten.« »Und du hast sie verraten«, sagte Ronald. »Sie haben dir vertraut, und du hast ihr Vertrauen mißbraucht. Was hast du jetzt?« Wild schaute sich Ellis im Raum um. »Er hat es mir versprochen!« brüllte er. »Er hat gesagt, wenn ich die Männer zu ihm führte, würde er mich zu einem mächtigen Mann machen.« Auf Sarahs Gesicht zeigte sich ein heftiger Ekel. »Und er sagte – er sagte, wenn ich ihn zum Bürgermeister führte, würde er mir – « Flehend sah er Sarah an. »Er sagte, daß er dich mir gibt.« Ihr eisiger Blick ließ ihn in sich zusammenfallen, diesen Mann, der seine Zeit damit verschwendet hatte, von Macht zu träumen. Er deutete auf Willie. »Er ist nicht besser als ich!« kreischte er. »Schaut ihn an! Auch er hat seine Leute verraten!« »Mit einem Unterschied«, sagte Sarah. »Einem Unterschied? Welchem Unterschied?« »Willie wechselte aus Gewissensgründen auf unsere Seite über. Du hast aus reiner Habgier Verrat begangen.« Die Verzweiflung, die jetzt in John Ellis’ Augen lag, war fast Mitleid erregend. Er wußte jetzt, daß Ronald ihn nur benutzt hatte. Es war so einfach für den Alien gewesen, ihn zu manipulieren. Jetzt empfand Ellis nur noch Verachtung für sich selbst. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Aber an Sarah Foleys Miene erkannte er, daß er ausgespielt hatte. Verzweifelt ließ er den Kopf hängen.
»Genug Herzschmerz«, mischte sich Ronald wieder ein. »Geh jetzt.« Ellis spürte das Blut in seinen Schläfen. Geduckt ging er an Willie, Sarah und Ronald vorbei, und dann stürzte er zur Tür hinaus. »Wiederum eine Fehlkalkulation meinerseits«, meinte Ronald. »Obwohl er der Sache eine Zeitlang sehr nützlich war.« »Hab Mitleid mit ihm«, bat Willie, »falls du solch ein Gefühl überhaupt kennst, Ronald.« »Ich hab’ davon gehört«, entgegnete Ronald trocken. »Aber ich habe vermutlich wenig dafür übrig.« Willie ging zu Sarah und legte ihr den Arm um die Schultern. »Bist du verletzt?« fragte er. »Nein, kaum. Ich habe nicht gewußt, daß er so ein kleiner, ängstlicher Mann ist. Eigentlich tut er mir leid, Willie.« »Es ist gut, daß du Mitleid mit ihm hast, denn er ist sehr krank – krank an Herz und Seele.« »Verschont mich jetzt damit«, rief Ronald. »Du glaubst, du hast gewonnen, und vielleicht hast du das auch irgendwo, obwohl ich es nicht glaub’. Mir scheint, daß hier noch jemand ist, der etwas über dieses Toxin weiß.« Willie spürte, wie Sarah erzitterte. »Nein«, antwortete Willie. »Du hast doch gehört, wie er sagte, daß selbst ihm es nicht gelingen würde, die Formel zu rekonstruieren.« »Es wäre ihm wieder eingefallen, wenn er dem nötigen Druck ausgesetzt gewesen wäre. Und ich denke, es ist immer noch möglich, die Formel zu erhalten.« »Du träumst.« »Ja, und meine Träume sind ganz schön lebendig, Willie. Genau wie deine.«
Ronald kam auf sie zu, eine mächtige, hochgewachsene Erscheinung, deren Stirnwülste wie die Hörner eines Dämons herausragten. »Unsere Methoden müssen unglücklicherweise grausam sein«, schnarrte er, »denn die Zeit ist knapp. Wir müssen bald an Bord des Raumschiffs gehen.« »Des Raumschiffs? Warum?« »Wir wollen die Stadt angreifen. Es darf niemanden geben, der berichten kann, daß das neue Toxin in unseren Händen ist.«
Kapitel 42
»Aber es gibt keinen Grund, die Leute von Cutters Bucht zu töten«, gab Willie zu Bedenken. »Die Formel existiert nicht mehr.« »Ich vermute, daß das nicht die ganze Wahrheit ist«, entgegnete Ronald. »Aber was nützt es, sie alle zu vernichten?« schrie Sarah. »Selbst wenn Sie das Toxin kriegen sollten, würde die Widerstandsbewegung herausfinden, warum Sie sie alle getötet haben.« »Nicht, wenn wir… einen Überlebenden konvertieren, der ihnen dann erzählt, daß wir nichts gefunden haben. Wenn wir sie also in dem Glauben lassen, daß sie immer noch über eine Waffe gegen uns verfügen. Und schon sind wir wieder einen Schritt weiter, um euren Planeten vollständig unter unsere Kontrolle zu bringen.« »Und was ist, wenn Sie das Toxin nicht kriegen?« »Dann wird uns die Menschheit aus anderen Gründen zu fürchten haben.« »Sie wollen also Cutters Bucht ohne jeden Grund ausrotten?« meinte Sarah fassungslos. Sie dachte an ihre Mutter, die auf sie in diesem alten, großen Haus wartete. »Sie werden sie alle töten?« »Es scheint das ratsamste zu sein.« »Mein Gott.« Sarah brach weinend zusammen. Willie dachte seltsam bewegt: Eine menschliche Reaktion, die durch Streß hervorgerufen wird.
»Wie können Sie so herzlos sein?« schniefte das Mädchen. »Wie ist es nur möglich, daß Sie und Willie so verschieden sind?« »Er ist nicht wie ich für den Krieg gezüchtet worden«, meinte Ronald. »Ich hatte wenig Einfluß auf das, was aus mir wurde.« »Aber Sie verfügen doch über einen freien Willen. Wie können Sie so scheußliche Dinge tun?« »Weil es für mein Volk das Beste ist«, erwiderte Ronald. »Wir haben kein Wasser und keine Proteine. Und die endgültige Unterwerfung der Erde wird dieses Problem beseitigen, zumindest für eine Weile.« »Aber warum versucht ihr das nicht mit anderen Mitteln? Ist es denn wirklich nötig, die Menschen zu vernichten, nur damit ihr eure Bedürfnisse befriedigen könnt? Warum bittet ihr uns nicht um Hilfe?« War das Ironie, was sie jetzt in Ronalds Augen funkeln sah? »Wir haben euren Planeten genauestens beobachtet, bevor wir hierherkamen«, antwortete er. »Freundlichkeit Fremden gegenüber scheint auf diesem Planeten doch eher selten zu sein. Und das war schon vor unserem Kommen so.« Sarah schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu diskutieren; er hatte auf alles eine Antwort. Es gab eben viele verschiedene Arten von Wahrheit, wie Ronald selbst gesagt hatte, und seine war nicht die ihre. »Schluß jetzt mit dieser sinnlosen Diskussion«, sagte Ronald. »Hier habe ich etwas für Sie, junge Frau, das Ihr Erinnerungsvermögen etwas auffrischen wird.« Ronalds linke Klaue faßte unter die gepanzerte Weste und zog ein spitzes Gerät hervor. »Nein!« schrie Willie. Er versuchte, auf Ronald zuzulaufen, um ihn aufzuhalten, aber die Wachen hinderten ihn daran.
Ronald betätigte das Gerät, und eine grüne Welle quoll daraus heraus. Die Welle schien das Licht zu bündeln und verzerrte alles, was man durch sie hindurch sehen konnte. Das Licht umhüllte Sarah wie ein smaragdgrüner Kokon. Einen Augenblick lang schien sie nichts zu spüren, doch dann weiteten sich ihre Augen. Ihr Zentralnervensystem wurde von einem brennenden Energiefeld erfaßt, und sie schrie vor Schmerzen. Hilflos mußte Willie voll Entsetzen mit ansehen, wie sie sich im Energiefeld krümmte und dieser mächtigen Kraft nicht entkommen konnte. Über eine Minute lang setzte Ronald sie diesem Schmerzfeld aus, bevor er ihr eine Pause gewährte. Plötzlich verschwand das grüne Licht, und Sarah sank am ganzen Körper zitternd zu Boden. »Ronald«, bat Willie. »Findest du es nicht unter deiner Würde, so ein primitives Mittel wie körperlichen Schmerz einzusetzen?« »Meinst du wirklich?« fragte Ronald. Aber es war nur eine rhetorische Frage, denn Willie sah, daß der grausame Visitorkapitän erneut das Gerät auf Sarah richtete. »Amon zuliebe«, schrie Willie. »Hör auf damit. Hast du nicht schon genug Leiden gesehen, Ronald?« »Vielleicht«, meinte Ronald, »zieht sie so doch die Möglichkeit in Erwägung, daß die Formel noch vorhanden ist, selbst nach Brunks Tod.« Sarahs Schreie übertönten seine Worte. Wie er es schon oft getan hatte, setzte Ronald Schmerz kalt berechnend ein. Es schien sogar, als würde es ihm Spaß bereiten. »Dreh ab«, sagte Willie. »Sie wird reden.« »Glaubst du wirklich?« Ronald setzte Sarah einem letzten Energiestoß aus und schaltete dann das Gerät aus.
Mit dem Gesicht nach oben und durchgebogenem Rücken lag Sarah da; ihr Mund war weit geöffnet von einem letzten stillen Schrei. Ihr kollabierter Körper sah aus wie der einer Marionette, die nicht mehr an ihren Fäden hing. Ronald stellte sich über das keuchende Mädchen. »Die Formel«, sagte er. »Wo ist sie?« »Ich weiß es nicht«, stöhnte Sarah. »Ihr langweilt mich«, meinte Ronald. »Ihr alle beide. Aber du, Willie, du mußt noch etwas auf deine Strafe warten.« Wieder schaltete Ronald das Gerät ein, diesmal mit noch höherer Energieladung. Das smaragdgrüne Feld leuchtete, und schreckliche Schreie stiegen von neuem auf. Sarah war nur noch verschwommen im Feld zu erkennen. »Du hast schon den Mann getötet, der dir hätte weiterhelfen können, und nichts hast du aus ihm herausbekommen«, griff Willie erneut ein. »Willst du jetzt auch noch das Mädchen töten?« Offensichtlich irritiert folterte Ronald Sarah noch einige Sekunden lang, um dann das Gerät wieder auszuschalten. »Du hast recht, Willie«, gab er zu. »Du bist wirklich ein bemerkenswerter Bursche, weißt du das eigentlich.« Er beleckte seine Fangzähne. »Die junge Frau scheint dich ja geradezu liebgewonnen zu haben. Wollen wir doch mal sehen, wie Sie sich verhält, wenn du gefoltert wirst.« Die Spitze des Gerätes glühte auf, und Willie wurde, noch bevor er etwas sagen konnte, von dem smaragdgrünen Netz eingehüllt.
Kapitel 43
Willie mußte all seine inneren Kräfte aufbieten, um den Schmerz ertragen zu können. Obwohl ihm die Techniken des preta-na-ma in Fleisch und Blut übergegangen waren, bedurfte es größerer Anstrengung, dem gewaltigen Energieandrang zu widerstehen. Außerdem war er durch die Vergiftung mit Brunks Toxin geschwächt. Eine Million grüner, energiegeladener Nadeln schienen auf ihn einzustechen. Er gab sich den Befehl, nichts zu spüren. Einen Moment lang schien alles Fühlen ausgeschaltet zu sein. Aber langsam kam es zurück. Wie Wasser, das durch einen Türspalt sickert, drang es in sein Bewußtsein: das grüne Energiefeld, der tiefe, brummende Ton, der Geruch und Geschmack von Ozon – und der Schmerz, der sein Nervensystem marterte. Willie verdoppelte die Anstrengung, indem er versuchte sein Wahrnehmungsvermögen auszuschalten. Er spürte, wie alle Kraft aus ihm floß, und der Schmerz sickerte erneut ein – stärker als zuvor. Von irgendwoher hörte er Sarah schreien.
Langsam und ohne sein Gewehr, das er in der Hütte zurückgelassen hatte, schritt John Ellis durch den Wald und machte sich Gedanken, was jetzt aus ihm werden sollte. Er konnte unmöglich in die Stadt zurückkehren. Er konnte keinem mehr ins Gesicht sehen, nach allem, was passiert war. Wie war es zu alldem gekommen? Die vielen toten Menschen. Ronalds Betrug…
Was war er doch für ein Narr gewesen. Außerdem würde Ronald ihn jetzt sowieso nicht in die Stadt zurückkehren lassen. Er wußte zuviel. Der einzige Grund, daß er ihn nicht gleich an Ort und Stelle getötet hatte, war wohl der, daß er zu sehr damit beschäftigt war, an die Formel zu kommen. Alle Visitorsoldaten waren um die Hütte herum postiert. Ellis überlegte, ob er mit dem Raumschiff entkommen konnte – irgendwohin, nur weg aus Maine. Aber wie sollte er die Fähre fliegen? Dann gab es noch das Boot, mit dem Brunk und Sarah hierhergerudert sein mußten. Bis zum Festland war es höchstens ein Kilometer. Das könnte er schaffen, bevor sie überhaupt bemerkten, daß er verschwunden war. Er könnte nach Hause gehen und einen Bus nehmen, vielleicht nach Portland oder Hartford oder sogar nach Boston. Niemand würde ihn jemals wiedersehen. Etwas raschelte in den Büschen. Sollte das doch eine der Wachen sein? Hatte er einen Soldaten übersehen? Er bezweifelte es, schlich aber vorsichtig in Buschnähe. Bestimmt waren es diese beiden New Yorker. Natürlich. Jetzt konnte er sie sogar sprechen hören. Er erkannte sie an ihrem deutlich hörbaren New Yorker Dialekt. Was für Jäger – so verscheuchte man jedes Wild im Umkreis von einem Kilometer. John bahnte sich einen Weg ins Gebüsch; er wollte versuchen, ihnen die Gewehre abzunehmen. So wäre er nicht mehr unbewaffnet, falls er doch noch auf Lizardwachen traf. Trockene Äste zerbrachen unter seinen Füßen, und er betrat eine kleine Lichtung. Da standen die beiden und schauten in die entgegengesetzte Richtung, erstaunt darüber, was wohl diesen Lärm verursacht haben konnte. »Hier bin ich, Jungs«, rief John Ellis.
Jake und Charlie drehten sich um, ihre Mienen verrieten Angst. Noch bevor sie erkannten, wer es war, löste sich aus Charlies Gewehr ein Schuß. Der Rückstoß riß Charlie beinahe von den Füßen. Er trug das Gewehr in Hüfthöhe, und der Kolben traf ihn hart, aber er stand noch. Im Gegensatz zu John Ellis. Er war in die Büsche zurückgeschleudert worden, als die Kugel durch seine Brust drang. Charlie hatte nicht bemerkt, daß seine Waffe entsichert war. Ungläubig starrte er jetzt darauf. Aus dem Gewehrlauf drang Rauch. »Ich hab’ ihn erschossen«, murmelte er. »Ja«, stimmte Jake zu, »sieht so aus.« »Mein Gott, ich hab’ ihn getötet.« »Scheint so. Aber dieser Bastard hat es auch nicht anders verdient.« »Mag sein«, krächzte Charlie, die Augen weit aufgerissen, »aber er war Ronalds wichtigster Mann. Glaubst du etwa, dem Lizard wird das hier gefallen?« »Er wird es schon verkraften«, meinte Jake etwas unsicher. »Außerdem war es ein Unfall.« »Vielleicht sollten wir die Leiche verstecken.« »In Ordnung. Oder sie dem Bären überlassen.« Jake wurde etwas mutiger. »So würde Ronald niemals erfahren, daß wir etwas damit zu tun hatten.« »Los tragen wir ihn ins Unterholz«, schlug Charlie vor. »Dort wird ihn der Bär finden.« Schwerfällig drangen sie in das Gebüsch ein. Unter ihren Füßen knackten die Äste, als sie versuchten, John Ellis’ Leiche herauszuziehen. Der Schuß war glatt durch seinen Körper hindurchgegangen, so daß die Wunde kaum blutete.
Schwer atmend schafften sie es schließlich, ihn aus dem Busch auf die Lichtung zu schaffen. Eine Stimme rief: »Bleibt schön ruhig dort stehen.« Sie blickten direkt in den Lauf einer Schrotflinte.
Kapitel 44
Pythias Day schaute über sein Gewehr hinweg auf die beiden Männer, die einen Toten zwischen sich trugen. »Sieht so aus, als ob ihr Burschen mir etwas zu erklären hättet«, schnaubte er. »Er war unser Führer«, begann Charlie und suchte nach einer Erklärung. »War das ein Grund, ihn zu erschießen?« fragte Pythias. »Natürlich nicht. Es war ein Unfall. Er hat uns den Visitors ausgeliefert und – « »Das ist John Ellis«, ließ sich plötzlich eine weibliche Stimme hören. Jane Foley trat hinter einem Baum hervor, eine Pistole in der zierlichen Hand. »Sie haben der Menschheit einen Gefallen getan.« »Ich dachte, es sei dieser Bär«, fuhr Charlie fort. »Ich wußte nicht, daß es… Was haben Sie gesagt?« »Daß Sie der Menschheit einen Gefallen getan haben. Dieser Mann war ein Verräter.« »Ja, das war er. Woher wissen Sie das?« »Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Jane. Sie pfiff, und plötzlich kamen immer mehr Leute aus dem Wald. Sie waren alle bewaffnet; einige hatten nur Messer, andere Werkzeuge und Feldarbeitsgeräte. Das beeindruckendste jedoch war die Tatsache, daß die Truppe neben einer Handvoll Männer vor allem aus Frauen und Jugendlichen bestand. »Das gibt es doch nicht«, staunte Jake. »Wir verfügen zwar nicht über solche Waffen, wie die Visitors sie haben«, rief Pythias, »aber wir sind in der Überzahl.«
»Wie seid ihr überhaupt hier auf die Insel gekommen, wo hier doch überall Lizards rumlaufen?« fragte Jake. »Von der nächstliegenden Insel aus haben wir diese hier ständig beobachtet. Vor noch nicht allzu langer Zeit verließen sie alle den Strand und gingen tiefer in die Insel hinein. Wir glauben zu wissen, warum.« Jake und Charlie sahen einander an. »Wir sind frei«, sagte Jake schließlich. »Das ist richtig«, bestätigte Pythias. »Ihr könnt hier warten, während wir sie verfolgen – oder ihr könnt uns begleiten.« Beide nickten. »Wir begleiten euch«, meinte Jake. »Dieser Planet gehört schließlich uns allen, und deshalb, vermute ich, ist dies genauso unser Kampf wie eurer.« Pythias schenkte ihnen sein seltenes Lächeln. »Willkommen an Bord.« »Was können wir tun, um euch zu helfen?« wollte Charlie wissen. »Irgendwo auf dieser Insel gibt es eine alte Hütte. Ein Doktor, der ein Toxin, das die Visitors vernichtet, entwickelt hat, hält sich dort versteckt. Eine junge Frau, seine Assistentin, ist bei ihm. Sie sind hierhergekommen, weil dieser Platz hier sehr einsam und schwer zu finden ist. Eine gute Idee, bis die Visitors sie entdeckt hatten.« »Also sollen wir die Hütte finden und dann unseren Mann stehen. Ist das richtig so?« Die Sache schien Jake zu gefallen. »Worauf warten wir noch?« Sie bildeten mehrere kleine Suchtrupps. Pythias und Jane blieben zusammen, und beide beteten, daß Sarah noch lebte.
Willie fiel zu Boden, er würgte und zitterte heftig. Es war ihm unmöglich, noch länger gegen den Schmerz anzukämpfen; er war einfach zu schwach für solch eine intensive Konzentration.
Es kam ihm so vor, als ob Ronald ihn seit Ewigkeiten folterte und mit ihm sein Katz-und-Maus-Spiel trieb. »In Gottes Namen!« schrie Sarah. »Hören Sie auf!« »Gottes?« amüsierte sich Ronald. »Welchen Gottes? Ihres oder Willies?« Er verpaßte Willie einen erneuten Energieschock, der ihn automatisch auf die Füße riß. Willie hing die Zunge aus dem Maul, und Schaum tropfte daran herunter. Langsam bewegte Ronald das Gerät von rechts nach links und zwang Willie damit, die groteske Parodie eines Tanzes zu vollziehen; sein Körper verbog sich zu den skurrilsten Stellungen. Sarah konnte es einfach nicht mehr mit ansehen. »Bitte«, sagte sie, »wenn Sie damit aufhören, werde ich Ihnen geben, was Sie verlangen.« Das grüne Licht erlosch, und Willie fiel von neuem in sich zusammen. »Ich wußte, daß Sie ein vernünftiges Mädchen sind«, sagte Ronald. »Danke«, keuchte Willie vom Boden her, »aber du hättest nicht nachgeben sollen.« »Ich kann nicht zulassen, daß er dich tötet«, widersprach Sarah. Sie wollte zu ihm gehen, aber die Wachen hinderten sie daran. »Laßt sie gehen«, befahl Ronald. Sarah kniete nieder und sanft bettete sie seinen Kopf in ihren Schoß. »Alles in Ordnung?« fragte sie zärtlich. »Ja, ich werde mich wieder erholen, aber du hättest ihn mich töten lassen sollen.« »Ich konnte nicht zulassen, daß du dein Leben opferst, nicht, nachdem du so viel Mut gezeigt hast.« »Wie rührselig«, schnarrte Ronald. »Schluß jetzt mit diesem Theater. Wo ist die Formel?« »Sie ist nicht hier«, antwortete Sarah.
»Wo dann?« »Auf dem Festland«, log sie, »bei mir zu Hause.« Ronald trat einen Schritt näher, und sein Körper schien vor Sarah und Willie bedrohlich zu wachsen. »Wenn Sie lügen – und wir werden das schnell herausfinden, da meine Soldaten sich schon für den letzten Angriff auf Ihre Stadt versammelt haben –, falls ich also herauskriegen sollte, daß Sie lügen, so wird das übel für Sie ausgehen, das verspreche ich Ihnen.« »Es ist die Wahrheit.« Sie mußten Zeit gewinnen, das war das einzige, woran sie denken konnte. Ronalds Klaue umfaßte ihr Handgelenk und zog sie auf die Füße. Willie stemmte sich auf einen Ellenbogen und versuchte so hochzukommen, aber es gelang ihm nicht. Ronald wandte sich zur Tür. In diesem Augenblick erschien einer seiner Soldaten im offenen Türrahmen und sprach panisch etwas in der Aliensprache. Bevor Ronald ihm antworten konnte, fiel ein Schuß. Der Soldat griff sich an den Kopf und brach dann tot über der Türschwelle zusammen.
Kapitel 45
Durch die herbstliche Luft um die Hütte donnerten Gewehrsalven und Laserfeuer. Ronald zog sich von der Tür zurück. Das erste Mal in seinem Leben, seit er die Erde betreten hatte, war er zutiefst verwirrt. »Die Widerstandsbewegung«, schrie Sarah und versuchte sich aus Ronalds Klaue zu befreien. Doch er hielt sie weiter in seinem eisernen Griff gefangen. Er befahl seinen Wachen hinauszugehen und zu kämpfen. Einer von ihnen war gerade über den toten Körper im Eingang gestiegen, als er von einem Laserstrahl getroffen wurde. Sein fallender Körper legte sich über den seines toten Kameraden. Draußen vor der Hütte gaben die Visitors in ihren roten Uniformen gute Zielscheiben für die Widerstandskämpfer ab, die den Feind aus dem Schutz der Bäume heraus mit Dauerfeuer belegten. Aber es war schwierig, die Reptiliensoldaten niederzuschießen; sie trugen ausnahmslos kugelsichere Westen. Pythias hatte das bereits vor ein paar Tagen in dem Labor entdeckt, zu seinem großen Verdruß. Und er hatte Jane, Herb Walsh, Mike Shermann und den anderen geraten, auf den Kopf oder auf die Beine zu zielen. Die Visitors ballerten ziellos herum, vollkommen verwirrt durch die neue Situation und Ronalds Abwesenheit. So war es für die Widerstandskämpfer ein leichtes, einen nach dem anderen auszuschalten. Pythias mit seinem Laser war es sogar gelungen, gleich zwei mit einem Schuß kampfunfähig zu machen.
Bevor die Visitors überhaupt begriffen, wer sie angriff, waren die meisten von ihnen gefallen. Der Rest der Truppe sammelte sich vor der Hütte. Geblendet vom Licht der untergehenden Sonne, fielen in nur wenigen Sekunden drei weitere Visitorsoldaten. Peg MacGregor, Don Curtis, Mrs. Snodgrass, die mit der 30.30 ihres verstorbenen Mannes kämpfte, und Herb Walsh schickten die letzten fünf Alien in den Tod. »Ronald«, rief Pythias, »jetzt ist nur noch Ronald übrig.« Jane sah ihn an, voll verzweifelter Hoffnung, daß ihre Tochter dort in der Hütte noch lebte. »Kommt jetzt da raus!« brüllte Pythias. »Es ist zu Ende!«
Ronald zischte vor Wut, als Pythias Days Stimme hereindröhnte. Wie hatte dieser bärtige alte Affe es nur geschafft, so weit zu kommen? Immer noch Sarahs Handgelenk umklammernd zog er seine Laserpistole aus dem Halfter. »Es ist wahr«, sagte Willie schwach. »Es ist aus. Pythias Day hat recht.« Vor Wut knurrend richtete Ronald den Laser auf Willies Kopf. »Du wirst seinen Sieg nicht mehr erleben.« »Nein!« Sarah schlug mit aller Kraft gegen seine Hand, und der blaue Energiestrahl brannte ein Tischbein weg, das zu Boden polterte und in Willies Richtung rollte, der gerade den Mund öffnete, als ob er etwas sagen wollte. Er begann jedoch das Ritual des Zon zu singen. »Ruhe!« kreischte Ronald. Gehorsam hörte Willie auf zu singen, aber das machte Ronald noch wütender. Seine Zähne knirschten hörbar, und der Zorn ließ seinen Hals anschwellen. »Warum mußte ich ausgerechnet auf dich treffen, Willie?« brüllte er.
»In der Vergangenheit bist du immer siegreich gewesen, Ronald«, sagte Willie, »und daher glaubtest du, es sei dein Vorrecht, immer zu gewinnen. Aber das war ein Irrtum. Du hast verloren, und deshalb wäre es das beste, wenn du dich in Würde ergibst.« Von draußen war wieder Pythias Days Stimme zu hören. »Wenn Sie jetzt herauskommen, werden wir uns um die Verwundeten kümmern. Aber wir können ihnen nicht helfen, wenn Sie in der Hütte bleiben. Sie könnten auf uns schießen, wenn wir die Lichtung betreten, um Hilfe zu leisten.« Knurrend feuerte Ronald eine ganze Serie blauer Laserstrahlen durch das Hüttenfenster. »Ist das Ihre Antwort?« fragte Willie. »Die Soldaten, die Ihnen gedienten, sterben zu lassen, nur weil Ihr Stolz verletzt wurde?« Ronalds gespaltene Zunge zuckte vor und zurück, während er seine Lage überdachte. Schließlich wandte er sich an Willie und meinte erleichtert: »Immerhin haben wir noch das Raumschiff.«
Kapitel 46
»Hilf ihm aufzustehen«, befahl Ronald. »Er ist zu schwach«, protestierte Sarah. »Wenn er in einer Minute nicht aufgestanden ist, werde ich ihn töten.« Ronald ließ ihr Handgelenk los. Sarah bückte sich, um Willie hochzuhelfen. Langsam und schwankend erhob sich der Alien und sah Ronald fest an. »Mach mit mir, was du willst.« »Warum kämpfst du nicht?« fragte Ronald wütend. »Ich weiß, daß du Mut hast. Warum hast du nicht das Verlangen, mich zu töten, nach allem, was passiert ist?« »Ich kann dir nichts antun«, erklärte Willie. »Denn du bist innerlich bereits tot. Leben bekämpft nicht das Tote.« »Das mag sein«, sagte Ronald und griff wieder nach Sarah. »Aber es sieht doch so aus, als ob das Tote Lebendiges verletzen kann.« »Was hast du mit ihr vor?« wollte Willie wissen. »Sie wird mich begleiten – und du auch.« Willie nickte und dachte, daß das ninj-ki-ra doch noch nicht vorbei war. Sich an der Wand abstützend, wartete er auf den letzten Akt des Schauspiels. »Du gehst als erster«, befahl Ronald. »Und wir folgen.« Willie schwankte auf die Tür zu, und Ronald schubste ihn hart vorwärts. Ein Schuß ließ einen Teil des Türpfostens krachen und bedeckte Willie mit einer ganzen Ladung von Holzsplittern. »Nicht mehr schießen!« brüllte Pythias Day. »Es ist Willie. Und eins will ich dir noch sagen, Arvid, du hast doch gehört,
daß ich sie aufgefordert habe, rauszukommen. Warum ballerst du da noch herum?« Willie war dankbar, daß die Sonne unterging, als er aus der Hütte trat. Beinahe wäre er gestürzt, aber irgendwie gelang es ihm doch, auf den Füßen zu bleiben. Sarah kam hinter ihm. Und dann Ronald, die Klauenhand fest um Sarahs Hals gedrückt. Mit der anderen Klaue hielt er ihr die Laserpistole an die Schläfe. »Sarah!« schrie Jane Foley. Sie wollte loslaufen, wurde aber von Pythias zurückgehalten. »Warte«, flüsterte er. Ronald sah seine Soldaten, die da in ihrem eigenen Blut lagen, nicht an. Statt dessen blickte er finster zum Wald hinüber. »Kommt raus«, rief er. »Ihr alle, kommt heraus, oder ich werde diese Frau töten.« Einen Moment lang geschah nichts. Hatte sich Ronald getäuscht? Würden sie es riskieren, daß er sie tötete? »Macht es so, wie er gesagt hat«, rief Pythias den Widerstandskämpfern zu. Langsam traten sie aus dem Wald, Frauen, Jugendliche, Männer, darunter auch ein paar stadtbekannte Trinker. Heute waren sie jedoch ziemlich nüchtern, sie hatten begriffen, was auf dem Spiel stand. Voller Groll gingen sie jetzt auf die von Ronald geforderte Kapitulation ein. Aber sie konnten nicht zulassen, daß er Sarah tötete. Sie alle – mit Ausnahme von Jake und Charlie – kannten das Mädchen von Kindheit an. Sie versammelten sich vor der Hütte, die Gewehre hielten sie auf den Boden gerichtet. »Wir werden jetzt losgehen«, sagte Ronald. »Willie zuerst, und dann folgt die Frau. Wenn irgend jemand versuchen sollte, uns zu folgen, wird sie sterben, sobald ich in Sicherheit bin.«
»Mein Kind!« schrie Jane. Sie versuchte, an Sarah heranzukommen. Aber Ronald schüttelte nur warnend seinen schuppigen Kopf. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, rief er. »Lassen Sie das Mädchen gehen«, bat Pythias Day und fuhr sich mit der Hand durch seinen langen Bart, »und wir werden Sie gehen lassen.« »Ihr wollt mich ohne sie gehen lassen?« spottete Ronald. »Das bezweifle ich. Aber ich weiß, daß ihr mich gehen laßt, wenn ich sie mitnehme. Glaubst du wirklich, ich sei so ein Narr, Pythias Day?« »Wenn ich von der Schweinerei ausgehe, die Sie hier veranstaltet haben«, ließ sich Pythias hören, »würde ich sagen, daß das genau die passende Beschreibung ist.« Der Visitorkapitän sagte nichts, aber Sarah spürte, wie er innerlich vor Wut knurrte. »Ist mit dir alles in Ordnung, Sarah?« fragte Pythias. »Ja.« Pythias nickte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, das Mädchen Ronald überlassen zu müssen, aber er konnte jetzt nichts anderes tun. Solange sie lebte, gab es Hoffnung. Aber wenn Ronald die Flucht gelingen sollte und sie bei ihm blieb, würde sie sicherlich als Mahl für eine verdammte Lizardbande enden. »Werft die Waffen weg«, befahl Ronald. Alle folgten seiner Aufforderung. »Los.« Ronald stieß Willie den Lauf seiner Laserpistole in den Rücken. Willie begann loszulaufen, und Ronald schubste Sarah dicht hinter ihm her. Sie durchschritten ein Spalier zornbebender Bürger. Die Menschen aus Cutters Bucht, die hierhergekommen waren, um Ronald zu besiegen, mußten jetzt hilflos mit ansehen, wie er sich davonmachte.
Bald darauf waren Ronald und seine beiden Gefangenen im Wald verschwunden. Zufrieden gluckste der Alienkapitän vor sich hin. Er kam gar nicht auf die Idee, sich umzuschauen. Er war sich vollkommen sicher, daß man ihnen nicht folgte. Diese närrischen Menschen, die nur nach ihren Gefühlen handelten, waren unfähig, ein einzelnes, unbedeutendes Lebewesen zum Wohle aller zu opfern. Ronald war glücklich darüber, daß er wegkam von einer Rasse, die sogar noch stolz auf ihre banale Logik war. Er zürnte noch immer, daß es ihm nicht gelungen war, Willie dazu zu bringen, ihn zu hassen. Dieser Möchtegernphilosoph konnte nichts weiter als wirr daherreden. Die vorsintflutlichen Mythen dieser Affenmenschen hatten ihn offensichtlich verführt. Eine oder zwei Sitzungen in einer Konvertierungskammer würden da schon Abhilfe schaffen. Der Weg durch den Wald war schwierig, aber schließlich erreichten sie den Strand. Dort auf dem schmalen Sandstreifen stand das Raumschiff wie ein heller Geier vor der untergehenden Abendsonne. »Steigt an Bord«, schnarrte er. »Wir werden hier wegfliegen – wenn wir die Formel haben…«
Kapitel 47
Ronald gab ein subvokales Kommando, das nur die Sensoren des Schiffes empfangen konnten. Auf einer Seite der Kampffähre öffnete sich jetzt die Einstiegsluke, und die Rampe wurde summend über den plätschernden Wellen heruntergelassen. Deprimiert marschierte Willie die Rampe hinauf und betrat das Raumschiff. Körperlich völlig erschöpft fiel er auf einen Sitz, war aber entschlossen, jedem Konvertierungsversuch – und Ronald würde es versuchen – zu widerstehen. »Kannst du dieses Ding fliegen?« fragte Ronald. »Ja«, antwortete Willie. »Dann geh hinüber zur Konsole.« Willie tat, wie ihm befohlen, und bewegte seine Klauen über die Schalttafel, die als Antwort auf seine Bewegungen aufleuchtete. Die Maschine begann zu arbeiten. »Sobald wir startklar sind, fliegst du uns in die Stadt«, bestimmte Ronald. »In die Stadt?« »Ja, zum Haus dieser Frau. Wir wollen sehen, ob sie wirklich die Wahrheit gesagt hat.« Willie zögerte den Start solange er konnte hinaus. Er wußte, daß Sarah bluffte, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Ronald entdeckte, daß sie das letzte Fläschchen Toxin bei sich trug. So wie er sie festhielt, hatte sie keine Chance, das Gefäß aus der Tasche zu ziehen. Und doch war das Toxin ihre letzte Hoffnung. »Du verschwendest deine Zeit, Willie«, bemerkte Ronald.
Willie seufzte und berührte einen rotleuchtenden Knopf auf der Schalttafel. Sanft löste sich das Raumschiff vom Boden. In hundert Meter Höhe steuerte Willie die Kampffähre in Richtung Küste. In Sekunden erreichten sie Höchstgeschwindigkeit. Als sie über das Meer brausten, wurde Sarah immer bänglicher zumute. Was sollte sie tun, wenn sie das Haus erreicht hatten? Würde Ronald ihr glauben, wenn sie ihm dann erklärte, das Toxin wäre nicht mehr da, jemand anderes hätte es wohl an sich genommen? Ihre Mutter vielleicht. Oder Pythias Day. Nein, niemals würde er ihr diese Geschichte abnehmen. Dazu war er viel zu clever. Wenn er sie nur endlich losließe, dann könnte sie vielleicht klarer denken. Jetzt waren sie über Cutters Bucht. Unter sich sahen sie die Kirche und den Friedhof. Willie verlangsamte das Raumschiff. »Du mußt mir jetzt wohl zeigen, wo dein Zuhause ist, Sarah«, meinte er. »Dazu müßte ich näher an den Bildschirm herantreten«, meinte sie und hoffte, daß Ronald sie zu diesem Zweck loslassen würde. Statt dessen jedoch trat er noch näher an sie heran, und seine Krallenhand faßte ihre Kehle noch ein wenig fester. Er ging kein Risiko ein. »Die Straße dort«, zeigte Sarah. »Das Haus mit dem Baum davor, das ist es.« Willie manövrierte so lange, bis sich die Fähre über der Straße vor dem Haus befand. Dann ließ er sie auf den Bürgersteig hinunter. Er gab ein letztes Kommando, und die Maschinen stoppten. »Steigt aus«, befahl Ronald.
Die Luke öffnete sich, und die Rampe glitt auf den rissigen Asphalt hinunter. Wieder ging Willie voran, stolperte die Rampe hinunter und wartete unten auf Sarah und Ronald. »Dieses Haus hier?« wollte Ronald wissen. »Nein, das da drüben.« Zumindest wußte sie, daß ihre Mutter nicht zu Hause war. Sie gingen die Treppe zur Veranda hinauf. »Ich habe keinen Schlüssel«, fiel Sarah ein. Ronald knurrte ungeduldig und schlug ein kleines Fenster in der Tür ein. Er griff hinein und öffnete die Verriegelung. Die Tür sprang auf, und sie traten ins Haus. Drinnen war es dunkel – zu Willies und Ronalds Erleichterung, jedoch nicht zu Sarahs. Sie versuchte das Licht einzuschalten, aber Ronald stieß sie vom Lichtschalter weg. »Ich sehe im Dunkeln besser«, erinnerte er sie. »Nun, wo ist das Toxin?« »Es ist – äh, dort in dem Zimmer.« Sarah deutete auf eine dunkle Türöffnung am Ende des Flurs. »In einem Schreibtisch.« Ronald schubste sie zu dem Zimmer hin, begierig und siegessicher trotz allem, was heute passiert war. Wenn er erst im Besitz des Toxins war, würde man ihm auch verzeihen, daß er alle seine Soldaten verloren hatte. Sie waren schließlich austauschbar – das Toxin jedoch nicht. An der Wand standen ein alter Schreibtisch und ein Holzstuhl. »Öffne ihn«, befahl Ronald. »Ich hab’ den Schüssel nicht.« Ronald zielte mit dem Laser auf das Schubladenfach und versengte das lackierte Holz. »Öffne ihn«, wiederholte er.
Sarah berührte das schwelende Holz. Sogar jetzt hielt er noch ihre Kehle umklammert, so daß sie keine plötzlichen Bewegungen machen konnte. »Autsch!« Funken versengten ihre Finger. »Öffne ihn!« bellte Ronald. Sarah riß die Schublade auf. Willie begann zu singen, als Ronald Sarah beiseite schob, um den Schreibtisch zu durchwühlen. Er zerknüllte Papiere, riß weitere Schubladen auf und schmetterte sie ungeduldig auf den Boden. Als er merkte, daß da nichts war, was an eine chemische Formel erinnerte, drehte er sich wütend zu Sarah um. In seinen Ohren dröhnte Willies höllischer Gesang. »Wo ist das Toxin?« fragte er. Sarah hielt etwas hoch, eine funkelnde kleine Flasche. »Hier ist es«, sagte sie und warf es Ronald ins Gesicht.
Kapitel 48
Ronald stand ganz still da. Willie sang, aber es war nicht mehr derselbe Gesang wie zuvor. Jetzt begriff Ronald, daß es das Lied des Todes war, ein Teil des Rituals des Zon, das er seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Er fuhr mit einer Klaue über sein tropfnasses Gesicht. Konnte diese merkwürdige Flüssigkeit wirklich das sein, weshalb er hierhergekommen war? Für das so viele gestorben waren? Es schien ihm unwahrscheinlich. Außerdem fühlte er nichts, bis auf ein leichtes Brennen in seinem Mund. Aber das konnte auch ein Zufall sein, oder nicht? Dann wurde das Brennen so stark wie Feuer, und er wußte, daß er verloren war. »Du!« kreischte er und deutete mit dem Laser auf Sarah. »Du hast mich belogen!« »Sie selbst sagten doch, es gäbe viele Wahrheiten«, entgegnete Sarah. Wütend versuchte Ronald auf sie anzulegen, aber in diesem Augenblick warf ihn ein schrecklicher Krampf zu Boden. Die Zuckungen hörten auf, und wieder versuchte er, den Laser auf Sarah zu richten, aber seine gelähmte Klaue gehorchte nicht mehr seinem Willen. Die Gestalten von Willie und Sarah begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Ein nächster Krampf schüttelte ihn, schrecklicher als der vorangegangene. Seine erstarrten Klauen konnten die Waffe nicht mehr halten, und krachend fiel sie zu Boden. Vage sah er noch, wie Sarah sie aufhob, aber er achtete nicht mehr darauf, was passierte. Ein Kälteschauer verzehrte ihn, eisig und brennend zugleich.
Dann fiel er auf den Schreibtisch und mit diesem auf den Boden. Zitternd lag er da, von neuen Krämpfen am ganzen Leib geschüttelt. Er wälzte sich zwischen brennenden Papieren, die durch den schwelenden Schreibtisch Feuer gefangen hatten. Seine Zunge schoß wild vor und zurück, und schwarze Galle lief aus seinem Mund auf die rote Uniform. Plötzlich begriff er, daß er sterben mußte, und was das zu bedeuten hatte. Und die ganze Zeit über hörte er Willie singen. Aber der Gesang quälte ihn nicht mehr. Er begann eine gewisse Schönheit darin zu entdecken, als milderte er diesen letzten Akt seines Lebens. Er krümmte und wand sich, aber je mehr sein Körper schmerzte, um so ruhiger wurde sein Geist. So viele hatte er in den Tod geschickt, hatte ihn selbst immer gefürchtet, und jetzt, da er starb, war alle Furcht von ihm gewichen. Bald würde er nicht mehr leiden müssen. Sein ganzes Leben lang hatte er gelitten, und zum ersten Mal fühlte er Frieden. Auch als Ronald endgültig still war, sang Willie weiter. Sarah hatte inzwischen das Feuer unter Kontrolle gebracht. Willies Gesang hatte eine sehr hohe Tonlage erreicht und verhallte jetzt langsam. Das ganze Haus war nun still. »Schnell«, meinte Willie, »wir müssen ihn ins Raumschiff schaffen.« »Warum?« fragte Sarah. »Bitte«, bat Willie, »hilf mir.« Obwohl sie todmüde war, gefiel Sarah der Gedanke nicht, Ronalds Körper hier im Haus liegen zu haben. »Also gut.« Mühsam schleppten und zogen sie den toten Visitorkapitän durch den dunklen Flur und zur Eingangstür hinaus. »Wir müssen uns beeilen«, drängte Willie.
Sarah verstand nicht, warum, aber sie vertraute Willie. Sie wünschte sich nur eins – daß dieser Alptraum bald zu Ende sein möge. Endlich hatten sie Ronalds Leiche auf der dunklen Straße. Außer einer fauchenden Katze unter einer Straßenlaterne war niemand zu sehen. Willie und Sarah zogen jetzt mit letzter Kraft den Toten die Rampe hinauf. Keuchend vor Anstrengung schafften sie es schließlich, ihn ins Raumschiff zu heben. Willie plazierte den Körper vor der Konsole. Wieder sang er einige Sekunden lang und machte dann über Ronalds Kopf ein Zeichen. Er schaltete die Maschinen ein. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. Er ergriff Sarahs Hand, und sie rannten hinunter auf die Straße. »Warum rennen wir?« wollte das Mädchen wissen. »Ich habe kurz bevor wir vorhin von Bord gingen die Systeme so programmiert, daß sie das Schiff zerstören. So hätte Ronald, auch wenn er Erfolg gehabt hätte, niemals das Toxin zurück zu meinen Leuten bringen können.« »Es freut mich, Willie, daß du diese Entscheidung getroffen hast, aber verstößt sie nicht gegen deine Prinzipien?« »So wäre nur ein Soldat gestorben und nicht ein ganzer Planet«, erwiderte Willie. Sie versteckten sich hinter einer dicken Eiche und sahen atemlos auf das Raumschiff. Ein hellorangefarbenes Licht brach aus der Luke hervor, Flammen züngelten in Richtung auf das Haus der Foleys. Dann explodierte das Raumschiff. Die Trümmer flogen in alle Richtungen; einige schlugen auf den Dächern mehrerer Häuser auf. Die Straße erstrahlte im Licht des Feuers; einige Fensterscheiben gingen zu Bruch, aber sonst entstand kein größerer Schaden.
Sarah und Willie beobachteten, wie das Raumschiff langsam niederbrannte. Dann näherten sich Pythias Day und seine Kämpfer vom Ende der Straße.
Kapitel 49
»Sieht so aus, als ob du wieder ganz gesund bist, Willie«, meinte Sarah und nahm das Stethoskop von seiner Brust. »Das Antitoxin hat die Viren besiegt. Auch der Kontakt mit Ronalds vergiftetem Körper konnte dir nichts mehr anhaben.« Willie kletterte von der Liege herunter, auf der Sarah ihn untersucht hatte. »Vielen Dank«, meinte er. »Wenn man einerseits darum kämpft, den Tod nicht zu fürchten, muß man sich andererseits auch am Leben erfreuen.« »Hört sich zwar ein bißchen seltsam an, Willie«, bemerkte Pythias Day, »aber ich denke, ich kann mich dem anschließen.« »Das gleiche gilt für mich«, sagte Jane und umarmte Willie. »Ich will ihn auch umarmen.« Und Sarah schlang ihre Arme um den Alien. Sosehr er Willie auch mochte und bewunderte, umarmen konnte Pythias ihn nicht. Er streckte ihm die Hand hin, und Willie schüttelte sie kräftig. »Ich danke dir, Willie. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft.« »Ich werde euch alle sehr küssen«, meinte Willie. »Du meinst, uns vermissen«, sagte Sarah lachend. »Ja, aber etwas macht mir noch zu schaffen.« »Was ist es, Willie?« »Wie soll ich nach Los Angeles kommen? Ich hab’ doch keine Pseudohaut mehr.« Alle lachten. »Darüber mach dir mal keine Gedanken, Willie. Eine Speziallimousine wird dich zurückbringen. Jake und
Charlie haben sich auch schon angeboten, dich bis New York mitzunehmen, aber wir haben etwas viel Besseres für dich.« »Ja?« »Komm mit raus und schau’s dir an.« Alle vier gingen hinaus und zum Parkplatz hinüber. Es war ein sonniger Tag, und von der Klippe aus, auf der sich Brunks Laboratorien befanden, hatte man einen herrlichen Blick über das Meer, das im Morgenlicht schimmerte. »Es ist immer wieder wunderschön«, seufzte Jane. »Und immer noch gehört alles der Menschheit.« »Der Kampf geht weiter«, warf Willie ein. »So leicht geben meine Leute nicht auf.« »Ich denke, dafür war Ronald der beste Beweis«, bemerkte Sarah. »Eine Zeitlang habe ich nicht mehr daran geglaubt, daß wir es schaffen würden.« Ein tiefes Brummen ließ sie aufschauen. Sie sahen, wie ein Raumschiff, Willies »Limousine«, zur Landung auf dem Parkplatz ansetzte. »Oh, eines der entführten Raumschiffe, das nun der Widerstandsbewegung gehört«, rief Willie. »Sehr gut.« Als die Rampe auf dem Asphalt aufgesetzt hatte, drehte sich Willie noch einmal um und machte mit den Fingern das Siegeszeichen. »Willie«, rief Sarah, »eines möchte ich noch von dir wissen. Warum hast du Ronalds Leiche und das Raumschiff vernichtet?« »Die Zerstörung des Raumschiffes war nicht mehr rückgängig zu machen«, erklärte Willie. »Und wenn die Maschinen wieder eingeschaltet werden, ist es auch für die Passagiere endgültig vorbei. Was Ronald betrifft, so handelte ich im Sinne des ninj-ki-ra, das seine Religion war, so wie das preta-na-ma meine ist.«
Die Menschen hätten Ronalds Körper für Untersuchungen zwar gut gebrauchen können, aber alle hatten Verständnis dafür, warum Willie so gehandelt hatte, Verständnis für die Tiefe seines Glaubens. »Versucht alles, damit der Kampf aufhört«, sagte Willie, »so daß eure Welt in Frieden leben kann.« »Auf den Tag freuen wir uns alle, Willie«, rief Pythias. »Ich werde mich dann zur Ruhe setzen und ein Kochbuch schreiben.« Alle lachten und winkten ein letztes Lebewohl. Willie stieg in das Raumschiff ein, die Luke schloß sich hinter ihm, und langsam hob die Kampffähre vom Boden ab. Deutlich zeichnete sie sich vor einer Wolke ab, um dann nach Südwesten davonzugleiten. Pythias, Jane und Sarah schauten so lange hinterher, bis das Raumschiff am Horizont verschwunden war. Dann gingen sie zurück zu Pythias’ Jeep, um nach Hause zu fahren.