Manfred Weinland
Das Erste Reich Bad Earth Band 9
ZAUBERMOND VERLAG
Anno 2450: Noch immer weilen Scobee und Siroona...
26 downloads
762 Views
836KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Manfred Weinland
Das Erste Reich Bad Earth Band 9
ZAUBERMOND VERLAG
Anno 2450: Noch immer weilen Scobee und Siroona auf Nar'gog, einem sehr speziellen Planeten, der nur dank der vereinten Anstrengungen von Keelon und Felorern vor dem Untergang bewahrt werden konnte. Doch als sich das entartete Zeitfeld der Milchstraße wieder auf ein Normalmaß einpegelt, beginnen dort die Probleme erst. Ungeheuerliches geschieht im Heimatsystem der Anorganischen … Anno 2352: Kargor, die ERBAUER-Entität, hat der RUBIKON wieder den Rücken gekehrt. Doch bald schon stellt sich heraus, dass er nicht allein gegangen ist. Viele mussten ihn begleiten – auf seine Reise ins Erste Reich. Eine Reise ohne Wiederkehr … Indes setzt die RUBIKON ihre Fahrt zum Solaren System, zur Erde fort. Doch was erwartet sie an dem Ort, wo einst alles seinen Anfang nahm? Jahrzehntausende sind aufgrund von Darnoks Manipulation verstrichen. Existiert das Reich der Erinjij noch? Gibt es überhaupt noch … Menschen? Während die RUBIKON Fahrt aufgenommen und Erdkurs gesetzt hat – die Erde einer fernen Zukunft –, überschlagen sich die Ereignisse auf Nar'gog, Scobees aktuellem Aufenthaltsort. Über dem von Felorern und Keelon geretteten Heimatplaneten der Jay'nac erscheint ein unglaubliches Objekt, dem die Anorganischen nur mit der geballten Macht ihrer ganzen Flotte entgegentreten können. Aber ist dieser Aggressor überhaupt zu besiegen? Und welche Motive leiten ihn? Will er die Anorganischen tatsächlich ein für alle Mal aus dem Universum fegen?
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Sato-
ga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis wagen einen Vorstoß in die Station – und begegnen mannigfachem Leben, wo zuletzt noch völlige Verlassenheit herrschte. Das vermeintliche Leben aber entpuppt sich am Ende als Täuschung, als Teil einer Prüfung. Cloud und Jarvis sehen sich schließlich mit einem der legendären ERBAUER konfrontiert. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die erzwungenermaßen zu einer Mission
in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Prosper Mérimée, der Mann mit der Zeitanomalie, die auch schon den Fehlsprung der RUBIKON in eine zweihundert Jahre entfernte Zukunft verursachte, wird von Kargor »zweckentfremdet«, um überhaupt in die Milchstraße vorstoßen zu können die zur Brutstätte des Chaos geworden ist. Galaxisweit ist die Zeit entartet – und die Quelle, der Verursacher dieser Entartung, ist erklärtes Ziel der Kargor-Mission. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher«, umgeben von Jay'nac-Technologie und ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend: Darnok, der einstige Freund und Weggefährte, der in die Gefangenschaft Arabims geriet und später sogar mit diesem »verschmolzen« wurde. Ein absonderliches Schicksal hat Darnok wieder von seinem dunklen Gegenpol befreit. John Cloud und die übrige Besatzung der RUBIKON erfahren die Zusammenhänge, die zu Darnoks Entartung führten. Aber schlimmer noch als die Erkenntnis, was der einstige Freund an Untaten beging (unter anderem löschte er sämtliche Master der Erde aus), wiegt das Bewusstsein, wie viel Zeit aufgrund der Manipulation in der Milchstraße vergangen ist – und nur dort –, nachdem die Zeitbeschleunigung abgeschaltet wurde. Es sind Jahrzehntausende. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen vom Rest der Galaxie abgeschnitten fortentwickelt haben. Enttechnisiert, wenn man so will. Wie mag das neue Bild der Erde aussehen? Wie sind die anderen Spezies – die Mitgliedsvölker der einstigen Allianz CLARON etwa – mit den veränderten Naturgesetzen umgegangen? Von den Jay'nac wurde bereits bekannt, dass sie ihren Zentralplaneten, Nar'gog, wie Phönix aus der Asche der Vernichtung wieder auferstehen ließen. Und dass Keelon, die einst in der Tiefsee der Erde ihr eigenes, Master-abgewandtes Leben führten, im Zusammenspiel mit den Felorern eine Abschirmung schufen, die den Planeten mitsamt seiner Bewohner vor den schädlichen Einflüssen des
Entartungsfeldes schützte. Aber selbst dort kehrt mit der Beseitigung der Darnok-Gefahr nicht automatisch wieder Frieden und Ordnung ein. Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Ende der Entartung … fangen die Probleme für die Jay'nac, ihre Verbündeten und ihre unfreiwilligen Gäste – Scobee und Siroona – erst an …
1. Kapitel – Temporale Krise Nar'gog-System, Scobees Zeitebene ca. 2550 n. Chr. Felvert betrat die Steuer-Acht von Torstation 1. Im Kontrollzentrum der Station waren zahlreiche Felorer mit Überwachungsaufgaben beschäftigt. Holoprojektoren erzeugten einen Panorama-Blick über das Nar'gog-System. Linien, Farben und Kolonnen sich verändernder Symbole veranschaulichten eine Vielzahl von Parametern. Raum. Zeit. Dimensionen. All das wurde hier genauestens beobachtet, um die relative Sicherheit zu gewährleisten, in der sich die Heimat der Jay'nac befand. Aber der entartende, bizarre Mutationen hervorbringende Zeitfluss im Rest der Milchstraße blieb ein ständiger Quell der Sorge – sowohl für die felorischen Tormeister als auch für die anorganischen Jay'nac, deren Heimatwelt wie eine letzte Insel der Stabilität in dem temporalen Chaos anmutete. Felvert bewegte sich in die Mitte des Raumes, dessen Grundfläche den Achten ähnelte, aus denen sein Körper bestand – zwei sich überschneidende Kreise im weitesten Sinne –, der ansonsten eine wurmähnliche Form hatte. »Es ist gut, dass du da bist«, sagte ein anderer Felorer, der intensiv an einer Konsole arbeitete. Boolvert hatte derzeit die Kontrollhoheit der Steuer-Acht inne. »Was ist geschehen?« »Das weiß ich noch nicht. Aber mehrere der anderen Stationen meldeten Daten mit minimaler Abweichung.« »Eine temporale Erschütterung? Ich dachte, die könnte uns nichts
anhaben. Nicht hier, innerhalb unseres geschützten Bereichs.« »In diesem Punkt scheinen unsere bisherigen Erkenntnisse nicht ganz zu stimmen.« »Wir sollten unsere Keelon-Verbündeten um Rat fragen.« »Sicher.« Boolvert drehte sich zu Felvert um. Der wurmartige Körper war dabei gerade aufgerichtet. Er besaß keine erkennbaren Sinnesorgane, aber dennoch eine Wahrnehmung, die so umfassend war, dass sie die Fähigkeiten der meisten bekannten Spezies bei Weitem in den Schatten stellte. Die anorganischen Jay'nac eingeschlossen, in deren Dienst die Felorer standen. »Nimm bitte die Werte zur Kenntnis, Felvert«, wandte sich Boolvert an den obersten Tormeister »Das tue ich. Sie sind in meinem Mentalspeicher, aber ich bin etwas verwirrt. Hast du die bereits interpretiert?« Boolvert verneinte. »Eine Interpretation möchte ich nicht wagen. Noch nicht. Aber ich habe ein Reihenmodell entwickelt, das uns zeigt, ob es möglicherweise gefährliche Tendenzen gibt.« »Und? Gibt es sie?« »Ja.« Will Felvert mich auf die Probe stellen, oder ist er tatsächlich so ratlos wie jeder gewöhnliche Tormeister?, fragte sich Boolvert. Letzteres wäre eine endgültige Bestätigung dafür, dass wir es mit einem absolut außergewöhnlichen Ereignis zu tun haben. In der temporalen Schutzzone des Nar'gog-Systems dürfte so etwas eigentlich gar nicht geschehen … Zu dumm, dass sich das Universum nicht an unsere Axiome hält! »Dann werden wir das Phänomen weiter beobachten«, stellte Felvert klar. »Jawohl«, bestätigte Boolvert. »Ich möchte eine Verbindung zu allen anderen Stationen!«, verlangte Felvert und unterlegte diese Worte mit einer Reihe von Emissionen, die sich an verschiedene andere Sinne der anwesenden Felorer richteten. Was als Zeichen der Entschlossenheit dienen soll, entpuppt sich als Menetekel der Ratlosigkeit!, erkannte Boolvert. Ein Schwall von Gedan-
ken hielt sein Bewusstsein in Aufruhr. Konnte es sein, dass die felorischen Tormeister und ihre Helfer, die Keelon, irgendeinen temporal-physikalischen Faktor bei der Abschirmung des Nar'gog-Systems unbeachtet gelassen hatten? Die Missachtung irgendeiner Kleinigkeit reichte bereits aus, um für eine Katastrophe zu sorgen. Niemandem hätte das bewusster sein sollen als Wesen wie den Felorern oder den Keelon, die mit der Zeit und den Dimensionen jonglierten und die Realität durch Eingriffe in die Vergangenheit änderten. Aber vielleicht sind wir zu selbstsicher und überheblich geworden!, überlegte Boolvert. Wir haben die Kräfte des Raumes und der Zeit nach unserem Gutdünken manipuliert, und vielleicht holen uns jetzt die Folgen unserer Hybris ein … Ein weiterer Felorer meldete sich zu Wort und riss Boolvert aus seinen grüblerischen Gedanken. »Die Konferenzverbindung ist geschaltet, Felvert.« Gestalten erschienen wie aus dem Nichts. Es handelte sich überwiegend um Felorer. Ein paar Keelon und Jay'nac waren allerdings auch darunter. Sie bildeten einen Halbkreis. Felvert war bewusst, dass es sich um Hologramme handelte, die mittels einer Transmission in Echtzeit übertragen wurden. Das menschliche Auge hätte sie von der Realität nicht unterscheiden können. »Es gibt minimale Abweichungen verschiedener Werte«, sagte Felvert. »Eine solche Instabilität dürfte es eigentlich innerhalb unseres Schutzbereichs nicht geben. Das Universum da draußen mutiert. Der Zeitfluss entartet, und das temporale Chaos erfasst alles. Dort sind die Abweichungen normal, aber nicht hier …« Unter den Hologrammen entstand ein aufgeregtes Gemurmel. »Wir haben das natürlich auch registriert, aber sämtliche Werte lagen noch innerhalb der Toleranzgrenzen«, meldete sich einer der erschienenen Tormeister zu Wort. »Sie müssten exakt mit den Vorgaben übereinstimmen«, gab Felvert zu bedenken. »Ich möchte also alle bitten, diese Vorgänge zu beobachten. Es könnte sich um eine sich anbahnende, sehr ernste temporale Krise handeln.« »Ist das dein Ernst, Felvert?«, fragte ein Felorer namens Gelener-
vert, der die Leitung der Torstation 2 innehatte. Er war bekannt dafür, mit kritischen Kommentaren nicht zu sparen und keinen Respekt vor Autoritäten zu kennen. »Könnte es nicht sein, dass es sich einfach um periodisch auftretende dimensionale Effekte oder Interferenzen mit Pararealitäten handelt? Du weißt, dass derlei Effekte auch von uns noch wenig erforscht wurden. Ich habe dazu ein Modell entwickelt, das auf 12-dimensionaler Mathematik beruht und eigentlich aussagekräftig genug sein müsste!« Gelenervert!, durchfuhr es Felvert. Es ist doch immer dasselbe mit dir! Musst dich in den Vordergrund spielen. Aber dazu sollte man nicht unbedingt eine Krisensituation nutzen! Felvert blieb sachlich. Keine seiner Sinnesemissionen ließ erkennen, wie tief die Verachtung war, die er für Gelenervert empfand, den er für einen anmaßenden Wichtigtuer hielt. Diese ruhige Beherrschtheit erwartete man von Felvert. Schließlich war es ja durchaus auch möglich, dass doch etwas an Gelenerverts Einwänden dran war. In diesem Fall wäre es seine Pflicht gewesen, darauf einzugehen. Wenn Felvert jedoch ganz ehrlich war, dann wäre ihm nichts so lieb gewesen, als dass sich all die Bedenken, all die Befürchtungen als völlig unbegründet herausstellten. Am besten, man sicherte sich nach allen Seiten ab. Mit dieser Devise war Felvert immer gut gefahren. Sein unbestrittener Führungsstatus unter den Felorern war der greifbare Beweis für die Richtigkeit dieser Haltung. Das Hologramm von Gelenervert ließ neben sich ein zweites holografisches Fenster erscheinen, in dem vieldimensionale Diagramme erschienen, die die komplizierten Berechnungen veranschaulichen sollten. »Die Gefahr einer ernsten Krise kann nicht übersehen werden. Sie liegt gegenwärtig bei 20 Prozent«, sagte Gelenervert. »Ich denke, dazu braucht man nicht viel mehr zu sagen.« »Zwanzig Prozent? Das ist nicht viel«, behauptete einer der anderen anwesenden Felorer. »Wenn es dabei bleibt«, erwiderte Gelenervert mit unterschwelligen, sehr ernsten Sinnesemissionen, die ihre Wirkung nicht verfehl-
ten. Gelenervert setzte eine Pause, ließ die Sinnesemissionen aber weiter auf seine felorische Umgebung wirken. Ein Teil dieser Emissionen wurde durch die Holo-Übertragung herausgefiltert. Doch das, was mit der Transmission zu den Verantwortlichen der anderen Stationen gelangte, war mehr als ausreichend. »Aber wir wissen alle, wie leicht sich diese Tendenz-Werte verändern können«, sagte Gelenervert. »Ich habe außerdem Detailmessungen der Raumzeit-Struktur vorgenommen und den dimensionalen Stabilitätsfaktor errechnet. Er liegt knapp unterhalb der Grenze, die wir für stabil halten. Aber dieser Grenzwert ist letztlich willkürlich, das wissen alle hier. Die Situation könnte man durchaus auch als Vorspiel zu einer Katastrophe interpretieren.« »Was schlägst du vor?«, fragte Felvert. Die Aufmerksamkeit aller war jetzt auf Gelenervert gerichtet. »Ich bin dafür, bereits prophylaktisch Gegenmaßnahmen zu unternehmen«, erklärte dieser. »Die dimensionale Stabilität sollte durch eine Erhöhung des primären Tempus-Faktors erhöht werden – und zwar bevor es zu spät ist und wir den Kollaps nicht mehr abwenden können.« »Du bist ein Dunkelwahrnehmer, Gelenervert!«, schalt ihn Boolvert. Eigentlich wäre es Felverts Aufgabe, ihn zurechtzuweisen!, ging es ihm dabei durch den Sinn. Warum tut er es nicht? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er früher so konfliktscheu war. Oder steckt mehr dahinter? Boolvert kannte Felvert gut genug, um sich über die jetzige Zurückhaltung des obersten Tormeisters zu wundern. Aber er hatte durchaus eine Idee, woran das liegen konnte. Was, wenn die Abweichungen der temporal-kontinualen Konstanten damit zusammenhängen, dass sich innerhalb unserer Einflusszone etwas befindet, was nicht dorthin gehört. Etwas oder jemand. Boolvert fielen die beiden Organischen ein, die zusammen mit Porlac aus dem intergalaktischen Zwischenraum hierher ins Nar'gog-System gekommen waren. Scobee und Siroona. Eine geklonte Erinjij-Frau und eine alt gewordene Foronin, die Jahrhunderte in der Stasis verbracht hatte. Was für ein sonderbares Paar!, dachte Boolvert. Vielleicht sind sie die
Auslöser der minimalen Raumtzeit-Anomalien, die sich trotz aller Stabilisierungsmaßnahmen in unserem Einflussbereich nachweisen lassen! Boolvert überlegte, ob er dies offen ansprechen sollte. Und gleichzeitig tauchte die Frage in ihm auf, ob Porlac vielleicht angeordnet hatte, diese Symptome zu übergehen und unbequeme Fragen zu unterdrücken. Dass der Sprecher des Granogk sich in besonderer Weise um die beiden kümmerte, war unverkennbar. In erster Linie galt das natürlich für das Individuum Scobee. Fragt sich nur, warum, dachte Boolvert. Es scheint tatsächlich so, als wüsste Felvert mehr als wir. Aber warum dieses Versteckspiel? Oder bilde ich mir das alles nur ein? Am Ende bin ich selbst der Dunkelwahrnehmer und mache mich unter den Formmeistern lächerlich … Was Gelenervert anging, so unterstellte Boolvert diesem durchaus nicht nur ehrenhafte Motive. Der Leiter von Torstation 2 wollte sich selbst in den Vordergrund spielen und demonstrieren, dass die Felorer sich eigentlich seiner fachlichen Autorität – und nicht der von Felvert – zu beugen hätten. Der Kompetenteste soll den Weg bestimmen, besagte das Gesetz der Felorer. Und als den Kompetentesten empfand Gelenervert natürlich sich selbst. Persönliche Animositäten aller Art dürfen eigentlich keine Rolle spielen, überlegte Boolvert. Das ist etwas für primitive Spezies. Für Wesen wie dieses augenlose, alt gewordene Monstrum mit seinem konischen Schädel und der Lautmembrane, das sich Siroona nennt und von sich behauptet, einmal eine sogenannte Hohe gewesen zu sein. Eine allgemeine, teilweise auch heftig geführte Diskussion setzte jetzt unter den Felorern ein. Was war zu tun? Wie sollte man auf die Messergebnisse reagieren? Sollte vielleicht am besten das Granogk, die Elite der Jay'nac, für weitere Instruktionen gefragt werden? Die Argumente des Für und Wider wurden ausgetauscht, bis schließlich Felvert dem Ganzen ein Ende setzte. »Das führt zu nichts«, erklärte er. »Ich teile die Besorgnis, die hier zum Ausdruck gebracht wurde. Aber die richtige Handlungsweise erfordert zunächst eine zutreffende Analyse, und dafür liegen einfach noch nicht genug Fakten vor.« »Und wenn es zu spät ist, bis diese Fakten vorliegen und wir tat-
sächlich begreifen, was sich abspielt?«, erwiderte Gelenervert. Er schien keinen Respekt mehr vor der tormeisterlichen Kompetenz Felverts zu haben. Normalerweise begegnete man unter Felorern den Argumenten eines erfahreneren Meisters nicht mit einer geradezu herausfordernden Überheblichkeit, wie sie Gelenervert zu eigen war. Er überspannt den Bogen!, glaubte Boolvert. Es mag berechtigte Kritik an Felvert geben, aber niemand toleriert es, wenn der oberste Tormeister so behandelt wird. »Ich habe ein paar Dinge zu berichten, die vielleicht mit den dimensionalen Anomalien zu tun haben könnten«, meldete sich eines der anderen Hologramme zu Wort. Es handelte sich um das von Shyylvert, dem Leiter der Torstation 5, der äußersten aller Stationen. Sie war dem weiten, kalten und temporal chaotischen Universum, vor dem sich die Jay'nac mithilfe der Felorer zu schützen gewusst hatten, am nächsten gelegen. »Normalerweise lassen sich nur selten Jay'nac auf den Stationen blicken«, stellte Shyylvert fest. »Aber in letzter Zeit habe ich eine Veränderung festgestellt. Es waren einige Tormeister auf unserer Station, die mich darauf aufmerksam machten, dass sich mehr Jay'nac als sonst ihr Bewusstsein ordnen und mental von uns stabilisieren lassen.« »Worauf willst du hinaus?«, fragte Felvert. Shyylverts Hologramm bewegte sich nach vorn. Er wartete einen Augenblick, ehe er antwortete. »Wir wissen, dass sich Spannungen in der Raumzeit mehr oder minder stark auch auf die mentale Ebene auswirken, ohne dass sich der Einzelne dessen bewusst sein muss. Er spürt nur, dass etwas nicht stimmt. Und uns ist auch bekannt, dass Jay'nac-Bewusstseine hier besonders sensibel sind …« »Du meinst also, das vermehrte Auftreten von Jay'nac, die ihr Bewusstsein von uns ordnen lassen, spricht für eine sich ankündigende Umwälzung im Temporalfluss?«, schloss Felvert. »Ehrlich gesagt, habe ich daran auch schon gedacht, denn auch auf Station 1 gibt es mehr Jay'nac als üblich. Aber im Moment werden wir nichts weiter tun können, als wachsam zu sein und gegebenenfalls schnell zu rea-
gieren.«
Die Hologramme verblassten, nachdem die Verbindung unterbrochen worden war. Felvert wandte sich an Boolvert. »Ich werde mich nach Nar'gog begeben«, kündigte er an. »Um die Angelegenheit dem Granogk vorzutragen?« vermutete Boolvert. »Ja. Unter normalen Umständen hätte dazu eine holografische Transmission gereicht, aber durch mein persönliches Erscheinen will ich der Sache vor dem Granogk besonderes Gewicht verleihen.« »Mentale Stärke sei dein Begleiter, Felvert«, wünschte Boolvert. »Danke«, gab Felvert zurück. »Ich will mir nicht nachsagen lassen, Informationen nicht rechtzeitig an die Gesamtheit des Granogk weitergegeben zu haben. Vor allem möchte ich auch Porlac sprechen.« »Ich nehme an, du wirst permanent mit der Station in Verbindung bleiben.« »Natürlich.« »Die Situation wird schwierig genug werden«, glaubte Boolvert. »Das Granogk könnte dir deine besondere Beziehung zu Porlac zum Vorwurf machen. Du weißt nicht, wie lange er Sprecher des Granogk bleibt.« Felverts Erwiderung war ziemlich reserviert. Die begleitenden Sinnesemissionen machten das mehr als deutlich. »Ich bin durchaus in der Lage, mehrdimensional zu denken, und habe deshalb all diese Faktoren längst in meine Berechnungen einbezogen.«
Boolvert brauchte sich nicht eigens umzudrehen, um wahrzunehmen, wie Felvert die Steuer-Acht verließ. Er ist gereizt, dachte er. Vielleicht nähert sich seine Zeit als oberster Tormeister einfach dem Ende. Kaum einer hat dem enormen mentalen Druck, der damit verbunden ist, jemals so lange standgehalten wie er. Boolvert verscheuchte diese Gedanken wieder, so gut es ging, und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Sein Dienst erforderte höchste
Aufmerksamkeit. Und auch als er abgelöst wurde, um sich mental auszuruhen, ließen ihn die Gedanken an das, was vielleicht auf sie alle zukam, nicht los. Noch war nicht abzusehen, was wirklich dahintersteckte. Und selbst aufwendigsten Messungen und Berechnungen, die die Felorer jetzt mithilfe ihrer leistungsfähigen Rechner anstellten, gaben darüber noch keinen Aufschluss. Die Schutzmaßnahmen, die man auf den Stationen ergriffen hatte, wurden wieder und wieder überprüft – ohne dass man irgendwelche Versäumnisse entdecken konnte. Boolvert fühlte sich mental stark aufgeladen. Er konnte nicht sagen, woran das lag, schließlich hatte er innerhalb der letzten Zeiteinheiten keinem Jay'nac das Bewusstsein geordnet, was unter Umständen zur eigenen Überladung mit mentaler Energie führen konnte. Dass es die Folgen der sich ankündigenden Veränderung waren, glaubte Boolvert hingegen nicht. Warum auch? Auf geistiger Ebene waren die Felorer äußerst robust. Unempfindlicher jedenfalls als die meisten anderen Spezies, die ihnen bekannt waren. Für kurze Zeit sah Boolvert ein Bild vor sich. Ein Bild des Geistes. Im Bruchteil einer Sekunde war es wieder verschwunden, und doch hatte es eine Eindringlichkeit, die dem Felorer einen Schock versetzte. Eine entropische, völlig zerstörte Landschaft hatte er gesehen. Er hatte sofort das Zentralgestirn erkannt. Es war jene Sonne, um die Nar'gog kreiste. Da war er sich absolut sicher. Ein Felorer vermochte die genaue Zusammensetzung des Lichtes zu erkennen, das von einem Stern abgegeben wurde. Und diese Zusammensetzung war wie ein einmaliger Fingerabdruck. Aber der dazugehörige Planet – Nar'gog – war nicht wiederzuerkennen. Eine vollkommene Ödnis. Das Silizium-Leben, das dort überall gewuchert hatte, war verschwunden. Nur noch totes Gestein war geblieben. Die Spuren des Einsatzes von schweren Waffen waren nicht zu übersehen. Was soll das gewesen sein? Ein dummer Gedanke? Eine harmlose Visi-
on, die zeigt, was man im Innersten fürchtet? Oder der flüchtige Blick des ungebundenen Bewussteins in eine fremde Dimension? Eine parallele Zeitlinie vielleicht, die unter geringfügig anderen Umständen auch hätte Realität werden können? Boolvert war entschlossen, sich nicht noch weitere und tiefer gehende Gedanken darüber zu machen. Das war Unsinn. Niemand konnte Nar'gog angreifen. Schließlich war er geschützt, und zu diesem Schutz trugen unter anderem die Felorer mit ihren Stationen bei. Irgendwo im hintersten Winkel seines Bewusstseins meldete sich eine kritische Stimme, die ihn ermahnte, objektiv zu bleiben. Es war grundsätzlich immer besser, der Gefahr ins Auge zu sehen, anstatt ihr mental auszuweichen. Zunächst zog sich Boolvert in seine Ich-Kapsel zurück. In dieser zylindrischen Schale aus einer besonderen Legierung namens Thomban verbrachte er einige Zeit, um eine schlafähnliche Meditation zur Reinigung des Geistes durchzuführen. Die besondere Strahlung, die von der Innenbeschichtung der Kapsel emittiert wurde, sorgte bei Felorern für mentale Erholung. Doch diesmal sorgte der Aufenthalt in der Ich-Kapsel für überhaupt keine Entspannung. Im Gegenteil. Immer wieder wurde er von wirren Visionen geplagt. Bilder, die nicht der Realität entsprachen. Eindrücke von Trümmerlandschaften, zerstörten Stationen und einem Planeten Nar'gog, der nichts weiter war als ein verbrannter Materiebrocken, der einsam um seine Sonne kreiste. Heißt das, eine andere Pararealität gewinnt an Wirklichkeit?, fragte sich Boolvert nicht zum ersten Mal. Oder liegen die Ursachen in meinem Bewusstsein? Muss ich mich vielleicht einer grundlegenden Mentalsortierung unterziehen, wie sie bei den Jay'nac so beliebt geworden ist? Felorer nahmen diese Möglichkeit nur sehr selten in Anspruch. Eigentlich herrschte bei den meisten von ihnen die Meinung vor, dass ein Tormeister so etwas nicht nötig hatte und genug eigene geistige Disziplin besaß, um auf diese geistig stabilisierende Maßnahme verzichten zu können. Ehrenrührig ist es aber auch nicht!, rief sich Boolvert in Erinnerung, denn er hatte einfach das Gefühl, etwas tun zu
müssen. Nur was genau, war ihm nicht klar. Eine innere Unruhe dominierte ihn zunehmend. Vielleicht wäre es gut, diesmal am Ritual des Austauschs teilzunehmen, dachte er. Boolvert hatte das schon längere Zeit nicht mehr getan. Das hatte mit vielen Dingen zu tun. Der wichtigste Aspekt war der, dass er sich in letzter Zeit mental nicht ausreichend aufgeladen gefühlt hatte, um einen Teil dieser Energie abzugeben. Und genau das war beim Ritual des Austauschs unerlässlich. Aber jetzt bist du mental so geladen wie selten – woran auch immer das liegen mag. Einen Augenblick zögerte er noch mit seinem Entschluss, diesmal tatsächlich das Ritual zu besuchen. Du kannst dich nicht wirklich gedanklich von deiner Aufgabe lösen. Auch jetzt nicht, da du längst abgelöst bist und deinen Geist eigentlich regenerieren solltest. Aber wie soll das gelingen, wenn das Geheimnis dieser feinen Strukturveränderungen der Raumzeit wie ein Damoklesschwert über allem schwebt? Aber war das nicht immer schon der Fall gewesen? War Nar'gog nicht ohnehin ein äußerst bedrohter Ort, der nur scheinbar eine sichere Festung darstellte? Eine Festung, die sich im Handumdrehen in einen letzten, verzweifelten Rückzugsort verwandeln konnte. Niemand wusste das besser als ein Felorer.
Boolvert erreichte den Ritualraum. Ungefähr ein Dutzend Felorer hatten sich dort bereits eingefunden. Zwölf – diese Zahl galt als Minimum, aber theoretisch war es auch möglich, das Ritual mit nur zwei Teilnehmern durchzuführen. Die anwesenden Felorer hatten sich in Form einer Ellipse positioniert. »Es ist schön, dass auch du teilnehmen wirst«, sagte Hruusert, der bei den Felorern von Station 1 als Zeremonienmeister fungierte. »Du bist herzlich willkommen.« »Meine Lebensenergie wird der Zukunft dienen«, erwiderte Boolvert. Das war die rituelle Formel. Schließlich ging es ja um nicht we-
niger als die Zeugung felorischen Nachwuchses. Ein Singsang begann. Auf akustischer Ebene war ein Akkord von Brummlauten zu hören. Aber auf den anderen Sinnesebenen der Felorer wurden gleichzeitig ebenfalls Informationen ausgetauscht. Ein regelechter Wahrnehmungscluster ergab sich daraus für jeden Teilnehmer des Rituals. Manche dieser Sinne waren so speziell, dass sie nur Felorern zugänglich waren. Jeder der Teilnehmer löste aus dem Verbund seines aus Achten bestehenden Körpers ein oder mehrere Elemente heraus. In dieses Element wurde die überschüssige mentale Energie umgeleitetet, bevor es in die Mitte geworfen wurde. Für die Felorer war eine so geballte, inhomogene Ansammlung mentaler Energie durch mehrere ihrer speziellen Sinne wahrnehmbar. Diese Wahrnehmungen wurden im Bewusstsein von Felorern mit der Farbwahrnehmung verschaltet, sodass sie mentale Energie als Farbwolken sahen. Die Anwesenden verfolgten aufmerksam, was mit den in die Mitte geworfenen achtförmigen Körperelementen geschah. Wie sie sich ordneten, formten, sich miteinander verbanden. Der Zeremonienmeister leistete dazu hin und wieder seinen Beitrag, indem er lenkend und ordnend eingriff. Die Felorer vermochten die Bewusstseine anderer Spezies wie etwa der Jay'nac strukturell zu ordnen und waren natürlich bei ihrem eigenen Nachwuchs noch in viel höherem Maß daran interessiert, kein mentales Chaos zu produzieren, das sich letztlich nur störend auf die Allgemeinheit ausgewirkt hätte. Die achtförmigen Elemente, die in die Mitte des Kreises geworfen worden waren, bewegten sich zunächst aufeinander zu und begannen schließlich damit, sich ineinander zu verhaken. Was daraus schließlich entstand, war noch lange kein vollwertiger felorischer Körper. Aber ein verheißungsvoller Anfang. »Ich gebe dir den Namen Ooroonert, so lange, bis du in der Lage bist, dir selbst einen Namen zu wählen, der deiner Persönlichkeit entspricht«, sagte der Zeremonienmeister.
»Ooroonert!«, wiederholten alle Anwesenden. Der kleine, nur aus wenigen Achterelementen bestehende ProtoFelorer bewegte sich und begann vorsichtig, die Umgebung mit seinen erwachenden Sinnen zu ertasten. Für ein gewisses Grundwissen war durch den mental strukturierenden Einfluss des Zeremonienmeisters gesorgt worden. Aber die Persönlichkeit, das neue Bewusstsein musste sich erst finden. Die Struktur, in der sich die geistigen Energien zu bewegen hatten, war durch den Zeremonienmeister vorgegeben. Aber innerhalb dieser Grenzen war noch alles möglich. »Ooroonert«, wiederholte der kleine Felorer seinen eigenen Namen und akzeptierte ihn damit vorläufig. So zumindest interpretierte dies die felorische Ritualordnung. »Ooroonert!«, sagte er noch einmal, diesmal lauter, und dabei emittierte er eine Vielzahl von Eindrücken auf anderen Sinneskanälen, die nur für Felorer wahrnehmbar waren. Der Singsang der zwölf Tormeister, die jeweils eines oder mehrere achtförmige Strukturelemente ihrer eigenen Körper für dieses neue Leben zur Verfügung gestellt hatten, schwoll an. Ein Symbol für den Wunsch aller, dass dieser Jung-Felorer wachsen und gedeihen möge. Vom Kleinen zum Großen. Von einzelnen Elementen, die aus unterschiedlicher Quelle kamen, zu einem vollständig ausgebildeten Felorer-Körper. Und vom untergeordneten Chaos mentaler Energie zu einer gefestigten Person, die wusste, dass ihre Persönlichkeit mehr ausmachte als nur die Summe ihrer sortierten Einzelteile. Aber das sind Feinheiten, Ooroonert!, dachte Boolvert wohlwollend. Für einen kurzen Moment verblasste Ooroonerts Gestalt. Sie wurde durchscheinend. Ein Schwall überraschter Äußerungen auf allen möglichen Sinneskanälen ging jetzt von den Anwesenden aus. Ooroonert äußerte mehr oder weniger nur Angst und Verwirrung. Seine Existenz hatte gerade erst begonnen und schien bereits gefährdet zu sein. Für einige Augenblicke verblasste sein kleiner Felorer-Körper so stark, dass er kaum noch sichtbar war.
Alle Anwesenden verharrten für einen kurzen Moment in ihrer Erstarrung. Lähmendes Entsetzen hatte sich in ihnen ausgebreitet. Die Diagnose für diese Krankheit ist eigentlich klar!, ging es Boolvert durch die Windungen der zahllosen achtförmigen Elemente, aus denen sein Körper bestand. Eine Krankheit, die uns alle befallen kann. Realitätsverfall. Temporaler Exitus. »Dimensionsalarm!«, sagte Boolvert. Er nahm Kontakt zur SteuerAcht auf. Der diensthabende Tormeister meldete sich. »Schwere temporale Krise! Es findet wahrscheinlich eine Überlappung mit einer Pararealität mit entsprechenden Resonanzphänomenen statt!« »Maßnahmen sind eingeleitet. Die Realitätsstörung wurde lokalisiert! Wir könnten sie eliminieren. Es kann noch kein Bezug zu einer existierenden und überlappungsfähigen Pararealität festgestellt werden.« »Nein, nicht eliminieren!«, schritt Boolvert ein. »Aber warum nicht?«, fragte der Diensthabende. »Es ist die gefahrloseste Alternative.« Boolvert fühlte sich, als ob jemand seine Achten auseinandergerissen und ins All geschleudert hätte. »Das mag sein, aber …« Der Grund ist doch, dass er ein Teil von dir ist!, überlegte er. Jetzt meldete sich Felvert von Nar'gog aus über das Kommunikationsnetz der Felorer zu Wort. »Es muss eine paradimensionale Stabilisierung durchgeführt werden. Sofort. Eine sektorale Eliminierung könnte durchaus auch Folgen haben. Die Gefahr, dass unser Zeitfluss in einen Parastrom abgleitet, ist nicht zu unterschätzen …« Niemand widersetzte sich der Autorität Felverts. Sein Wissen war so immens, dass selbst erfahrene Torwächter nur davon träumen durften, so sichere Entscheidungen treffen zu können. Und im Fall einer Krise verließen sich die anderen gerne auf ihn. »In Ordnung«, sagte der Diensthabende in der Steuer-Acht von Station 1. »Koordiniertes Vorgehen aller Stationen!«, ordnete Felvert an.
»Wir erhöhen den Botan-Faktor um ein Drittel. Exakt in 12 MikroZeiteinheiten. Ich erwarte Bestätigung von allen Torstationen.« Die Bestätigungen trafen zeitgleich ein und wurden an Felvert übertragen. Für den Tormeister war es kein Problem, all diese Signale gleichzeitig zu verarbeiten. Multifunktionales Denken war eine Stärke seiner Spezies.
Wenig später war Boolvert auf dem Weg zur Steuer-Acht. In dem Moment, als er die Zentrale von Station 1 betrat, war ihm plötzlich sehr eigenartig zumute. Es fiel ihm schwer, einen Gedanken zu fassen. Seine Sinne waren auf einmal so … unscharf. Er vermochte seine Umgebung kaum noch wahrzunehmen. Optisch verblasste sie – doch nicht nur auf diesem Sinneskanal machte seine Umgebung plötzlich einen sehr viel schwächeren Eindruck. So, als würde die Realität selbst allem entweichen, was mich umgibt!, erkannte er. Aber in Wahrheit war es vielleicht auch genau umgekehrt, wie ihm wenig später drastisch demonstriert wurde. Mehrere Tormeister versuchten, Boolverts Körper mit ihren Sinnen zu erfassen. Signale der Verwunderung wurden emittiert. Verwirrung breitete sich aus. »Was ist los mit Boolvert?« »Er sieht wie eine temporale Krisengestalt aus.« »Meine Achter-Elemente wurden erst vor 12 Standardzeiteinheiten zusammengelegt und mental gleichgeschaltet!« »Deine Unerfahrenheit entschuldigt dich.« »Stabilisierungsprozedur durchführen.« »Durchgeführt.« »Erfolg?« »Negativ!« »Wiederholen!« »Verstanden.« Boolvert hörte diese Stimmen wie aus weiter Ferne. Er stellte nur fest, dass er nicht mehr in der Lage war, sich im Raum zu bewegen.
Lediglich die Dimension der Zeit schien ihm geblieben zu sein. Seine Sinne sorgten für eine verwirrende Selbstwahrnehmung, die ihn für Augenblicke daran zweifeln ließ, ob er überhaupt noch existierte. Ein schwacher Schatten des Seins selbst … Mehr schien nicht mehr vorhanden zu sein. Rein äußerlich wurde seine Gestalt durchscheinend. Die mentale Integrität zerfiel. Für einen Moment wusste er nicht mehr seinen Namen. Versuche dich an den Beginn deiner Existenz zu erinnern!, hämmerte es in ihm. Da Felorer während des Austausch-Rituals einige voll funktionsfähige achtförmige Körperelemente und genügend Bewusstseinsenergie der Ritualteilnehmer erbten, wurden sie mit einem Protobewusstsein geboren, dass bereits vom ersten Augenblick an Erinnerungen ermöglichte. »Maßnahme erfolgreich!«, meldete jemand. »Systemweite Stabilisierungstendenz erkennbar. Aber es bauen sich Spannungen in der Raumzeit-Struktur auf. Wir werden es erneut mit Anomalien zu tun bekommen …« »Deprimierende Aussichten!« »Tut mir leid, du kannst die Daten ja selbst überprüfen und schauen, ob du einen Grund findest, optimistischer in die Zukunft zu blicken.« Im nächsten Moment hatte Boolverts Körper wieder Substanz gewonnen. Etwas später war der Tormeister nahezu fassungslos. Dieses Gefühl, dass die eigene Existenz sich buchstäblich auflöste, war mit nichts zu vergleichen. Für einen Felorer war keine Form der Furcht vorstellbar, die tiefer ging und verstörender war. Viele Erzählungen und so manches Drama rankten sich in der felorischen Kultur gerade um diesen Punkt. Wie begegnete man dem Faktum, dass man vielleicht innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne in das Stadium der NichtExistenz eintrat? Es gab mathematisch-philosophische Schulen unter den Felorern, die es bevorzugten, dieses Thema völlig aus jedem Diskurs herauszuhalten. Warum über etwas reden, das – in dem
Moment, in dem es eintrat – unabwendbar war? Wozu auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden? Gedanken, die bestenfalls lähmten, im schlimmsten Fall aber eine mental zerstörerische Wirkung ausübten? Aber die Fragen, die damit zusammenhingen, sich der Tatsache zu stellen, dass die Existenz eines felorischen Lebens keineswegs endlos andauerte, waren offenbar so drängend, dass sie sich nicht auf ewig in den Hintergrund schieben ließen. Diese Vorgehensweise funktionierte nur an der Oberfläche. »Du bist wieder da, Boolvert«, stellte einer der diensthabenden Tormeister erleichtert fest. Es war allerdings nicht nur Mitgefühl, das in dieser Aussage mitschwang. Vielmehr fürchteten alle, dass Boolverts Fall bald weitere folgen würden.
Das Jahr 2552 n. Chr. Eine Zahl ohne Bezug. Zumindest hier, an diesem Ort, der so seltsam war, dass man ihn beinahe nicht als »Welt« bezeichnen mochte. Da waren Formen, Farben. Dinge, die sich veränderten und vage Konturen bildeten. Konturen, die vielleicht Gebäude waren, vielleicht aber auch Lebewesen. Wie lange bin ich jetzt schon auf Nar'gog?, dachte Scobee. Man kann hier jegliches Zeitgefühl verlieren … Die »Stimmen« des Granogk waren überall zu hören. Scobee ließ den Blick über die bizarren Formen schweifen. Jedwede nur denkbare geometrische Struktur war dabei. Die Elite der anorganischen Jay'nac … Irgendetwas scheint sie zu beunruhigen. Das Raunen unter den zum Granogk gehörenden Jay'nac wurde lauter, drängender. Scobee vermochte die Stimmen nicht auseinanderzuhalten. Sie bildeten ein Cluster, dem sie jedoch sehr wohl die vorherrschende Emotion zu entnehmen vermochte. Auch Felvert schien beunruhigt. Der wurmartige, aus lauter Achten bestehende Körper des felorischen Tormeisters wirkte unruhig und war in ständiger Bewegung. Jedes einzelne Achter-Element
schien davon auch für sich betroffen zu sein. Felvert nahm Kontakt mit einer der speziellen Tormeister-Stationen auf, die das Nar'gogSystem schützten. Aber über das, was er erfuhr, machte er keine Mitteilung. »Was ist los?«, fragte Scobee. »Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Felvert. »Weshalb nicht?« »Noch ist die Lage unklar. Aber da ist … etwas.« »Wovon sprichst du?« »Es findet eine Veränderung statt. Sobald ich Näheres darüber weiß, werde ich darüber sprechen.« Diese orakelhafte Auskunft beruhigte Scobee nicht gerade. In ihrer Nähe befand sich Porlac, der Sprecher des Granogk. Die Gesamtheit der Jay'nac-Elite begann sich immer deutlicher und drängender zu regen. Es sprach sich herum, dass da etwas vor sich ging, das sie vielleicht alle in Gefahr brachte. »Das Granogk ist beunruhigt«, stellte Porlac fest und bewegte seinen anorganischen Körper etwas auf Scobee zu. Die GenTec stand inmitten dieser bizarren Menagerie aus anorganischem, auf Silizium basierendem Leben, wobei die Übergänge zwischen belebter und toter Materie und zwischen Lebewesen und Gegenständen fließend waren. Manche Raumschiffe, die auf den Landeplätzen standen, waren in Wahrheit gewaltige Jay'nac-Körper. Dasselbe galt für viele Gebäude. Man konnte sich nie sicher sein, ob man über einen Weg lief oder ob der feste Grund, auf dem man sich befand, nicht in Wahrheit Teil eines oder mehrerer Jay'nac-Individuen war.
Scobee fiel auf, dass sich Felvert etwas zurückgezogen hatte. Er wanderte hektisch zwischen den kristallinen Strukturen umher, die Nar'gogs Oberfläche mehr oder weniger vollkommen prägten – manche lebendig, andere so tot wie Stein. Irgendetwas geht da vor sich!, ging es ihr durch den Kopf. Sie warf einen kurzen Blick zu Siroona, der Angehörigen des ehemaligen foronischen Septemvirats, die jetzt nichts weiter als ein
Schatten ihrer selbst war. Die Gedanken wanderten zurück in jene Zeit, als Siroona zusammen mit ihrem Gefährten Sobek und den anderen Hirten die oberste Instanz an Bord der RUBIKON, die von den Foronen SESHA genannt wurde, dargestellt hatte. Allein der Gedanke an die ungeheuer machtvolle Präsenz Sobeks ließ Scobee unwillkürlich schaudern. Und selbst du, Siroona, bist vor ihm erstarrt, wenn du ehrlich bist. Obwohl er dein Gefährte war und du ansonsten loyal an seiner Seite gestanden hast. Aber auch Siroona hatte eine für Menschen beängstigende Macht besessen, mit der sie ihrer Umwelt früher mühelos ihren Willen hatte aufzwingen können – vorausgesetzt, es ging nicht gerade darum, den noch mächtigeren Sobek zu beeinflussen, was ihr zeit ihres Lebens misslungen war. Eine Rüstung aus unzähligen Nanopartikeln umhüllte sie. Die Außenstruktur ähnelte einem Schwarm winziger Insekten, die sich dicht an sie drängten und ihren alt und gebrechlich gewordenen Körper fast wie ein Korsett stützten. Milliarden und Abermilliarden Nanopartikel mussten es sein. Ihre Zahl war unvorstellbar. Sie wogten wie ein Schwarm durcheinander. Im Moment wurde der Kopf freigegeben, aber ansonsten war sehr oft der komplette Körper von dieser Rüstung bedeckt. Hast du eine Ahnung, was hier geschieht?, fragte Siroona auf telepathischem Weg. Alle Foronen waren Telepathen. Oft waren die Gedankenimpulse so stark, dass sie Wesen mit schwächerer mentaler Präsenz durch einen Kontakt auch gleich den eigenen Willen aufzwangen. Die Botschaft wurde dann zum Befehl. Aber Siroona war nicht mehr so stark, auch wenn Scobee bei ihr sehr wohl das Bedürfnis spürte, andere zu kontrollieren. Aber diese Zeiten waren wohl endgültig vorbei. Glücklicherweise, wie Scobee fand. Dennoch – manchmal hatten Siroonas Gedanken eine Schärfe, die Scobee körperliche Schmerzen verursachte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Scobee. Meine Sinne nehmen etwas wahr, das mich verwirrt, gestand Siroona. Ich kann es nicht näher erklären. Aber etwas stimmt hier nicht.
»Was sollte das sein?« Vielleicht hat es mit dir zu tun. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« Deine Präsenz wird schwächer. Und das in einem erschreckenden Ausmaß. Ich spüre es ganz deutlich! Es fröstelte Scobee plötzlich. Sie hob ihre Hand und merkte, dass sie durch sie hindurchsehen konnte. So, als würde sie entstofflicht. Ich löse mich auf!, durchfuhr es sie. Scobee begriff, dass das Gefühl innerer Kälte nicht mit einer körperlichen Reaktion auf die gemäßigte Außentemperatur zu tun hatte, die selbst in der Nacht auf Nar'gog herrschte. Genau das meinte ich, äußerte sich Siroona. Aber mir geht es nicht besser. Auch ich verliere an Präsenz … »Fragen wir Porlac, was das zu bedeuten hat!«, schlug Scobee vor. Ich glaube nicht, dass Porlac etwas zur Lösung des Problems beizutragen vermag! Porlac war unterdessen noch immer in eine rege Kommunikation mit dem Felorer Felvert verwickelt, von der Außenstehende kaum etwas mitbekamen. Aber die Unruhe, die ohnehin schon im Granogk herrschte, verstärkte sich noch. Scobee bewegte sich auf Porlac zu. Sie stellte fest, dass ihr jede Bewegung schwerfiel. Und vor allem hatte sie das Gefühl, unendlich viel Kraft aufwenden zu müssen, um überhaupt noch vorwärtszukommen. Ich verliere den Kontakt zu meiner Umgebung!, wurde ihr klar. Mit anderen Worten, ich verschwinde langsam im Nichts. Werde ein Geist ohne Bezug zu Raum und Zeit, zu irgendwas … Sie erreichte Porlac schließlich unter Aufbietung all ihrer Kräfte. Der Prozess der Entstofflichung war inzwischen weiter fortgeschritten. Auch die Beine und ihr gesamter Körper waren nun betroffen. Sie sprach Porlac an, aber dieser schien sie zunächst nicht zu verstehen. Gleiches galt für Felvert. Funktionierte ihr Translatorchip nicht mehr richtig? »Wir verstehen dich kaum noch!«, drang schließlich Felverts Stimme in ihr Bewusstsein.
Wie aus weiter Ferne kamen seine Worte. »Was soll ich tun?« »Ich habe mit den Stationen Kontakt aufgenommen und alles Nötige veranlasst«, erklärte Felvert. Es folgten einige Sätze, von denen Scobee nichts verstand. Ob es an der mangelhaften Akustik lag oder an ihren eigenen Verständnismöglichkeiten, war ihr nicht so recht klar. Diese Frage schien ihr im Moment auch nicht weiter wichtig zu sein. Sie stellte fest, dass sie vor allem von namenloser Angst beherrscht wurde. Angst davor, sich vollkommen aufzulösen. Auch das wird vorübergehen!, meldete sich eine Stimme in ihrem Bewusstsein, bei der sie sich nicht sicher war, ob sie aus ihr selbst kam oder ob vielleicht Siroona es war, die telepathischen Kontakt mit ihr suchte und ihre Gedanken kommentierte. Oder ob sie diese Worte vielleicht sogar tatsächlich GEHÖRT hatte. Aber wer hatte sie dann ausgesprochen? Porlac? Felvert? Irgendein Jay'nac, der dem Granogk angehörte? Eine weitere Frage stellte sich plötzlich: Wer ist Porlac? Es fiel Scobee schwer, überhaupt noch einen klaren Gedanken zu fassen, abgesehen von der auf einmal beherrschenden Erkenntnis, dass sie sich an einem Ort befand, an dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Warum klammerst du dich also an deine Anwesenheit hier, wenn diese doch keine feste Wurzel mehr in der Kausalität der Ereignisse hat?, ging es ihr durch den Kopf. Ein Kopf, der kaum noch zu sehen war, so durchscheinend wirkte er auf Betrachter. Du musst loslassen … Die Reste deines Bewusstseins werden sich verstreuen, als hätte es dich nie gegeben. Aber was ist so schlimm daran? Es wird erholsamer sein, als ein langer Schlaf. Es wird sein wie vor deiner Geburt – wenn man den Beginn deiner Klon-Existenz der Einfachheit halber einmal so bezeichnen will. Ein Strom aus Bildern, Gedanken und Empfindungen wirbelte in Scobees Innerem durcheinander. Manche davon schienen mit ihr zu tun zu haben. Andere erschienen ihr sehr fremd, und sie war sich nie sicher, ob es sich um Erinnerungssplitter ihres eigenen Lebens
oder um fremde Bewusstseinsbruchstücke handelte, die aus irgendeiner Laune heraus in ihre Seele gespült worden waren und jetzt wie in einem Kaleidoskop durcheinandergewirbelt wurden. Mentales Strandgut. Sie sah sich selbst an Bord der einstigen Foronenarche zusammen mit John Cloud und den anderen Mitgliedern der Crew. Unter anderem Jarvis und Resnick – geklonte GenTecs wie sie. Moment mal … Auch Jiim und ein Gloride befanden sich an Bord. Da sich die androgynen Gloriden äußerlich kaum voneinander unterschieden, vermochte Scobee nicht zu sagen, um wen es sich handelte. Aber eines wusste sie. Resnick gehört nicht dorthin. Er war damals schon lange tot. Und was ist mit Jarvis' Nanokörper? Jarvis' Bewusstsein war in die einstige Rüstung des Foronen Mont transferiert worden. Er war seitdem – zumindest im physiologischen Sinn – kein Mensch mehr, sondern hatte diese aus Abertrillionen Nanopartikeln bestehende, amorphe Hülle als seinen neuen Körper angenommen. Aber in der Vision, die Scobee jetzt hatte, sah er aus wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und das ganz offensichtlich, nachdem Jiim an Bord kam. Das ist nicht möglich. Was soll das? Ein alternativer Zeitstrom? Scobees Verwirrung nahm zu, als sie feststellte, dass auch andere dieser Bilder und kleinen Szenen nicht mit ihrer Erinnerung in Überreinstimmung zu bringen waren. Sie sah sich selbst an Bord einer RUBIKON, die sich hundert Jahre vor Scobees aktueller Gegenwart auf dem Weg zur Erde befand. Die Ortungsanzeigen, die auf der Holosäule in der Zentrale angezeigt wurden, ließen diesbezüglich keinen Zweifel gelten. Scobee veränderte ein paar Einstellungen. Eine Woche noch, bis wir die Erde erreichen. Das Solare System. Die Heimat der Menschen, die man in weiten Teilen der Galaxis als Erinjij verachtet hat … Sie teilte die Spannung, die alle an Bord empfanden. Was ist aus der Erde in den vergangenen Jahrtausenden (Jahrtausende?) geworden? Was aus der Galaxis,
die von den Erinjij zu einem Gutteil förmlich überrannt wurde? Die Szene wurde abgelöst von anderen, die sich vielleicht irgendwann einmal ereignen mochten oder hätten ereignen können. Eine Menagerie der Möglichkeiten. In immer schnellerer Folge lösten sie einander ab. Splitter aus Dutzenden von alternativen Zeitlinien. Immer absurder erschienen sie ihr. In einem dieser Szenarios sah sich Scobee auf dem Mars. Sie öffnete einfach das Visier ihres Helms. Die Atemluft entwich mit einem Knall. Zwischen einem und acht Millibar schwankte der Luftdruck des Mars, was einem Vakuum sehr nahe kam. Sie rang nach Luft und glaubte einige Momente lang, ihr würden durch den Unterdruck die Lungen aus dem Leib gerissen. Die Kälte von minus siebzig Grad dämpfte die Schmerzen. Alles begann sich um sie zu drehen wie in einem Strudel. Bald waren keinerlei Formen mehr erkennbar, nur noch Farben. Alle Sinneseindrücke verschwammen zu einem Brei aus Farben und Tönen. Der Gesang der Ewigkeit, dachte sie. Der letzte klare Gedanke, zu dem sie fähig war. Sie wehrte sich nicht gegen den Prozess der Selbstauflösung. Warum auch? Alles schien so leicht, so gleichgültig. Dann tauchte unverhofft eine Frage auf: Wer ist Scobee? Dunkelheit legte sich über sie und hüllte sie wie in ein schwarzes Tuch ein. Dunkelheit und … … absolute Kälte. Der Eiswind der Zeit.
2. Kapitel – Sein oder Nichtsein Siroona hatte das bohrende Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Sie befand sich in einem düsteren Thronsaal – dem Machtzentrum eines gigantischen Reiches, das sie zusammen mit Sobek regierte. Es umfasste weite Bereiche der Milchstraße, und man schickte sich gerade an, die Große Magellan'sche Wolke, die alte Heimat der Foronen zurückzuerobern. Sobek war vollkommen von seiner Rüstung bedeckt. Es war eine Nanorüstung völlig neuen Typs. Die Partikel, aus denen sie bestand, waren nicht anthrazitfarben, sondern blutrot. Seine Präsenz wurde durch diese Rüstung noch verstärkt. Auf dem gesamten Zentralplaneten war es vollkommen unmöglich, sich seinem Willen zu widersetzen. Allein Siroona konnte wenigstens ihre Meinung gegenüber der Nummer eins unter den Hohen Sieben äußern. Die Entscheidungen traf zumeist Sobek allein, sofern er ihr nicht in einem bestimmten Bereich vollkommene Freiheit ließ. Und diese Bereiche waren im Laufe der Zeit immer größer geworden, was mit den Ausmaßen des Imperiums zusammenhing, das sie errichtet hatten. Es gab niemanden, der Sobek traute. Niemanden außer Siroona. Und so blieb sie die Einzige, an die er tatsächlich bereit war, Aufgaben zu delegieren. Ein Gefühl von Macht, Stärke und mentaler Präsenz durchströmte sie. Dieses Gefühl hatte sie lange nicht gekannt. Zuletzt vor Beginn ihres Staseschlafs an Bord der einsamen Station mitten im Leerraum zwischen Andromeda und der Milchstraße … Siroona stutzte. Ihr war sofort klar, dass sich die Erinnerung an den Staseschlaf nicht mit der Szenerie im Thronsaal vereinbaren ließ. Zwei Realitäten. Zwei unterschiedliche Zeitlinien. Wann haben sie sich
getrennt? Welche Fehler habe ich gemacht? Kann das Alter jener Siroona, die Sobek als Begleiterin und Mitherrscherin zur Seite steht, etwa nichts anhaben? Der Anzug war in diesem Punkt des Rätsels Lösung. Siroona besaß ebenfalls eine der neueren roten Rüstungen, und das war wohl der Hauptgrund dafür, dass sie sich so stark fühlte, schließlich waren die Auswirkungen des Alterns nicht einmal für Foronen auf die Dauer zu umgehen. Aber dann wandelte sich die Szenerie. Siroona versuchte, etwas zu sagen. Sie wollte eine mentale Botschaft an Sobek senden, doch das war nicht möglich. Wie eine Statue hatte Sobek auf seinem Thron Platz genommen. Warum hörst du mich nicht? Er blieb taub für ihre mentalen Signale. Taub – und eigenartigerweise wirkte seine Präsenz auf einmal wie abgedämpft. Sosehr Siroona sich auch bemühte, ihre Sinne nach ihm tasten zu lassen – es wollte ihr einfach nicht mehr gelingen. Sobek! Sobek erhob sich. Er fuhr das Kopfteil seiner rot flimmernden Rüstung zurück, sodass sein augenloses Foronengesicht zum Vorschein kam. Er scheint irritiert zu sein. Aber Siroona schalt sich schon im nächsten Moment eine Närrin. Sie hatte nicht den Hauch eines mentalen Kontaktes. Wie konnte sie also beurteilen, was in Sobeks Gedanken vor sich ging? Gar nicht. Du hast seine Erscheinung, die Bewegungen, sein Gesicht überinterpretiert. Es gibt keinen Anhaltspunkt für deine Annahmen … Diese Erkenntnis war für Siroona absolut niederschmetternd. Vernichtend. Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen. Erst dachte sie darüber nach, ob es an ihrem Körper lag, der schließlich in der roten Rüstung ebenso gebrechlich geblieben war, wie sie es aus jener anderen Ebene kannte, deren Existenz sich mit dem, was sie gerade erlebte, so wenig vereinbaren ließ. Aber dann begriff sie, dass es an etwas anderem lag. Sobek – des-
sen Gesicht genauso alt und verfallen wirkte wie das ihre, ging auf sie zu – und schließlich durch sie hindurch. Sie war schlicht und ergreifend gar nicht vorhanden. Existierte nicht in der gleichen Raumzeit wie dieser Thronsaal und die Raumzeit-Parallele, zu der er gehörte. Im nächsten Moment befand sie sich wieder im Staseblock an Bord der RUDIMENT-Station im intergalaktischen Raum. Sie sah Scobee vor sich, war aber unfähig, etwas zu sagen. Im Staseschlaf foronischer Prägung blieb man bei Bewusstsein. Man bekam alles mit, was in der Umgebung geschah. Vorausgesetzt, es geschah überhaupt etwas. Die meiste Zeit über hatte sich buchstäblich nichts ereignet, und sie war nahe dran gewesen, den Verstand zu verlieren. Welche Realität gilt jetzt?, fragte sich Siroona. Oder ist es am Ende gar so, dass sie sich ALLE auflösen? Kann man selbst unter Umständen noch glauben zu existieren, während man in Wahrheit schon gar nicht mehr vorhanden ist? Bin ich vielleicht nur ein kleiner Informationsrest in einem morphogenetischen Feld? Ein paar verirrte Gedanken aus einer Schattenwelt, die keine Möglichkeit mehr hat, Realität zu werden und einen Zeitstrom zu dominieren? Siroona in ihrem Staseblock konnte beobachten, wie die vor ihr stehende Scobee langsam verblasste und schließlich verschwand. Sie entmaterialisierte. Nicht einmal ein Hauch ihrer ehemaligen Präsenz ließ sich noch wahrnehmen. Nein!, durchfuhr es Siroona, denn ihr begannen die Konsequenzen zu dämmern. Ein Zeitstrom wurde aus der Vielfalt des Multiversums getilgt. Und mit diesem Zeitstrom schien unglücklicherweise ihre eigene Existenz verknüpft zu sein. Die Konturen ihrer Umgebung veränderten sich. Auch die Präsenzen, die sie spürte. Aber diese Wahrnehmungen waren so furchtbar schwach. Ein primitiver Organismus, wie ihn für Siroonas Maßstäbe der geklonte Körper von Scobee darstellte, hätte die Szenerie vielleicht wie
den Blick durch eine zunehmend getrübte Linse wahrgenommen. Nur hatte Siroona keine Augen, die solche Effekte zugelassen hätten. Aber ihre eigenen Sinne wurden auf ganz ähnliche Weise getrübt, bis fast nichts mehr erkennbar war. Es wurde dunkel. Die Wahrnehmung wurde zeitweilig wieder besser. Sie hatte fast den Eindruck, als ob zumindest ein paar Lebensgeister sowohl in ihren Körper als auch in ihr Bewusstsein zurückgekehrt wären. Die Gestirne leuchteten am Himmel. Und Stimmen waren von überall her zu hören. Geistige Stimmen, die zu kristallinen Wesen mit hohem Siliziumgehalt gehörten. Nar'gog!, erkannte sie. Ich bin wieder unter den Jay'nac. Aber gehörte nicht auch Scobee hierher? Sie wusste es nicht mehr genau. Ebenso wenig hätte Siroona in diesem Augenblick sagen können, was sie eigentlich auf dieser bizarren Welt zu suchen hatte, von der lediglich der Name durch ihr Bewusstsein geisterte. Nar'gog. Zwei Kräfte stritten sich in ihrem Bewusstsein. Da war einerseits die Agonie, die immer mehr von ihr Besitz zu ergreifen drohte. Gleichgültigkeit, die sich wie Mehltau über ihren Geist legte und diesen fast ebenso immobil und lethargisch machte, wie es mit ihrem Körper schon geschehen war. Die andere Regung, die sich immer deutlicher zu Wort meldete, war Auflehnung, Kampf um die eigene Existenz. Der verzweifelte, aber daher auch um so entschlossenere Wille, die eigene Existenz nicht aufzugeben und die Integrität des Bewusstseins zu bewahren. Aber das war schwierig. Alles drohte ihr aus dem Griff zu geraten. Einfach zu entgleiten. Ihre Kräfte schienen nicht auszureichen, um das, was ihre Persönlichkeit ausmachte, länger festzuhalten.
Es wird vergebens sein!, ging es ihr durch den Kopf. Du wirst dein Leben nicht bewahren können. Aus irgendeinem Grund ist deine Existenz in diesem Seitenzweig der Realität offenbar nicht vorgesehen. Sie schien auf einen toten Ast in der Entwicklung des Kosmos geraten zu sein. Einen toten Ast der Zeit, der entweder aus der Laune eines missgünstigen Schöpfers oder aus purem Zufall nicht mehr fortgesetzt werden würde. Die Gründe waren eigentlich gleichgültig. Entscheidend war nur das Faktum an sich. Vielleicht ist es das Beste, sich damit abzufinden!, dachte Siroona. Was ist so schlimm am Zustand der Nicht-Existenz? Bedeutet er nicht auch eine Befreiung von Schmerz und Sorge? Eine Befreiung von all dem, was einen niederdrückt? Ist das Nichts nicht letztlich die höchste Form des Glücks, auch wenn jede Existenzform sich Zunächst beharrlich weigert, dies anzuerkennen? Frieden begann Siroonas Bewusstsein mehr und mehr zu erfassen. Vielleicht zum ersten Mal seit Beginn ihrer Existenz. Es war der Frieden des Todes.
Felvert hatte sehr schnell begriffen, was vor sich ging. Eine starke temporale Krise war im Gange. Und außerdem brach ein Parasturm ungekannten Ausmaßes über das gesamte System herein. Dass beides in irgendeiner Form miteinander in Zusammenhang stand, lag für den Tormeister im Erfassungsbereich seiner Sinne. Aber was nun eigentlich die Ursache beider Phänomene war, konnte bisher nur Gegenstand von Spekulationen sein. Über ein Kristallmodul war der Felorer ständig über alles informiert, was auf den Stationen geschah. Sämtliche Daten, die dort eingingen, kamen auch ihm zu. Und da er in permanenter Verbindung mit den jeweils diensthabenden Tormeistern stand, konnte er jederzeit in das Geschehen eingreifen. Erste Maßnahmen hatte Felvert bereits angeordnet. Niemand würde diesen Anordnungen widersprechen, was weniger in der Autorität irgendeines Amtes begründet lag, als vielmehr
in dem Umstand, dass man ihm am ehesten zutraute, eine Lösung für die auftretenden Probleme parat zu haben. Eigentlich müsste ich die Ursache längst erkannt haben, aber die kristallisiert sich nicht klar heraus!, überlegte der Felorer verzweifelt. Wenn Informationen fehlen, die eigentlich unerlässlich sind, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als der Intuition zu folgen! Genau das tat Felvert. In kritischen, nicht durchschaubaren Situationen hatte er es oft so gehalten. Und meistens dabei richtig gelegen. Aber diesmal war es besonders schwierig. Die temporalen Stabilitätsparameter waren in einem permanenten Sinkflug begriffen. »Wir haben eine deutliche Parallele, die unsere Existenz gefährdet!«, meldete Boolvert von Station 1. »Wodurch wird sie verursacht?«, wollte Felvert wissen. »Das haben wir bislang nicht herausfinden können. Aber die temporale Entropie erreicht einen Maximalwert, den wir seit der Abschirmung des Nar'gog-Systems noch nicht gemessen haben!« »Es muss aber eine temporal klar umgrenzte Kausalitätszone geben«, erklärte Felvert. »Die Kausalitätszone liegt etwa 132 Standard-Chronopotenziale in der Vergangenheit …« »Also 95 Sonnenumläufe von Nar'gog«, echote Felvert. Das war immerhin ein Anfang. Ein Punkt, an dem man ansetzen konnte. »Felvert, ich glaube allerdings, dass sich die Parallele schon früher gebildet hat«, meinte Boolvert. »Sie besaß nur bisher einen zu geringen temporalen Relevanzfaktor, um unserer eigenen Existenz gefährlich werden zu können.« »Trotzdem werden wir ein Abwehrfeld mit einer temporalen Tiefenwirkung von genau 132 Standard-Chronopotenzialen einsetzen«, verlangte Felvert. »Aber die Parallele existierte bereits früher!« »Wie weit früher?« »Das lässt sich nicht ermessen!« »Das kann nicht sein!«
»An unseren Messwerten gibt es keinen Zweifel.« »Aber wenn es zutrifft, was du gesagt hast, existierte die temporale Störung bereits zu Beginn des Universums!« »Eine absurde Schlussfolgerung. Und doch scheint es die einzige Erklärung zu sein!« Felvert zögerte. Die Vehemenz, mit der Boolvert seinen Standpunkt vertrat, irritierte ihn. Eigentlich war das unüblich unter Felorern. Felvert war schließlich ihr oberster Tormeister. Der Fähigste sollte in Zeiten der Krise die Führung ausüben. Niemals war daran unter Felorern gezweifelt worden. Alle anderen Kriterien mussten im Krisenfall in den Hintergrund treten. Was bezweckt er damit?, fragte sich Felvert. Glaubt er, er kann sich damit hervortun und für höhere Aufgaben empfehlen? Wohl kaum. »Führt die Maßnahme durch, die ich angeordnet habe!«, beharrte Felvert. »Wir werden keine vollständige Restabilisierung erreichen«, gab Boolvert zu bedenken. »Das mag sein«, erwiderte Felvert. »Aber wir erreichen überhaupt eine Stabilisierung. Für mehr reicht die Energie ohnehin nicht. Möglicherweise werde ich in einem zweiten Schritt die volle Stabilität wiederherstellen.« Einige Augenblicke vergingen. »Befehl ist ausgeführt«, meldete Boolvert. »Auf allen Stationen?« »Ja, Felvert.« »Wie sind die gemessenen Werte für Paraenergie?« »Sie steigen.« »Das kann nicht sein!« »Das tun sie aber.« »Eigentlich müssten die Werte sofort nach Einleitung der Maßnahmen zurückgehen.« »Station 3 meldet bereits mehrere Fälle von Bewusstseinsstörungen. Ein Teil unserer Tormeister wird über kurz oder lang nicht mehr einsatzfähig sein.« In Felverts Gedanken – ein Hirn im klassischen Sinn besaß er nicht
– wirbelte jetzt alles durcheinander. »Da fegt ein Parasturm über uns hinweg, der sich von allen anderen unterscheidet, die wir jemals erlebt haben«, äußerte sich Boolvert. »Es ist gut möglich, dass wir alle wahnsinnig werden, wenn wir das hier überleben.« »Das Risiko müssen wir in Kauf nehmen.« »Was unsere Gegenmaßnamen angeht, so habe ich Kontakt mit unseren Keelon-Verbündeten aufgenommen. Sie sind derselben Ansicht wie ich. Wir müssen die Sache auf einer breiteren temporalen Basis angehen, sonst schaffen wir es nicht!« Felvert spürte Ärger in sich aufkommen. Und das, obwohl Emotionen in Situationen wie dieser tunlichst zu vermeiden waren, wie es eigentlich auch dem Kodex der Tormeister entsprach. »Wenn die Keelon eine Lösung vorschlagen, bin ich gerne bereit, darauf einzugehen. Aber ich glaube, dass sie sich direkt an mich gewendet hätten, wenn dem so wäre. Dass sie das nicht getan haben, zeigt, dass sie genauso ratlos sind wie wir!«
Eigentlich müsste ich auf Station 1 zurückkehren und selbst nach dem Rechten schauen!, dachte Felvert. Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der anderen Tormeister war nicht sonderlich ausgeprägt. Aber eine Rückkehr per Shuttle war unter den gegebenen Bedingungen nicht ungefährlich. Porlac befand sich ganz in der Nähe. Er hatte Siroona und Scobee zeitweilig verblassen und sogar verschwinden sehen. Aber Ähnliches stellte er auch an sich selbst fest. Zeitweilig war er kaum in der Lage, sich zu bewegen. Er sah eine völlig zerstörte Planetenoberfläche vor sich, als wäre ein Fegefeuer der schlimmsten Art über die Jay'nac hinweggefegt. Dann tauchten all die anorganischen Lebensformen wieder auf. Auch das Granogk, dessen Gesamtheit gleichzeitig Elite und Herrschaftsorgan dieser Spezies war. »Porlac, hilf uns!«, hörte er das Granogk rufen. »Du bist der Einzige, der einen Weg weiß!«
Schön wär's, dachte Porlac. Aber die Ratlosigkeit des Torwächters Felvert war ihm nicht verborgen geblieben. Felvert hatte ihn hier auf der Oberfläche aufgesucht, um die Problematik zu besprechen, die möglicherweise durch die pure Existenz von Siroona und Scobee hier auf Nar'gog ausgelöst worden war. Aber noch bevor Porlac alles erfahren hatte, war das paranormale Inferno hereingebrochen. Porlac spürte die gewaltigen, mental hochwirksamen Energien, die jetzt, während der temporalen Krise, in den geschützten Bereich vorzudringen vermochten. So lange konnten wir uns vor der Entartung der Zeit schützen, aber das scheint jetzt vorbei zu sein!, dachte Porlac. »Unsere Existenz!« »Es verschwinden so viele!« »Unternimm etwas, Porlac!« »Wie soll er etwas unternehmen? Niemand von uns kann das!« Sie haben recht!, dachte Porlac. Ich kann nichts tun, außer abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass die Torwächter in Zusammenarbeit mit den Keelon das Richtige tun. Gerade in diesen Augenblick verschwanden Scobee und Siroona völlig. Es blieb nichts von ihnen. Sie verblassten einfach. Porlac ertappte sich dabei, dass bereits im nächsten Augenblick der Gedanke in seinem Bewusstsein auftauchte, ob es die beiden überhaupt je nach Nar'gog verschlagen hatte. Die Temporalkonstante sorgte dafür, dass Erinnerungen, die sich aus einer anderen Zeitebene eingeschmuggelt hatten, innerhalb kürzester Zeit kaum noch abrufbar waren. Das galt auch für Felorer. Zudem sorgte der starke Parasturm dafür, dass im Moment wohl kein Felorer seine geistigen Kräfte so zu konzentrieren vermochte, dass vorhandenes Potenzial wirklich ausgeschöpft wurde.
Einer der herzmuskelförmigen Keelon, die sich derzeit im Nar'gog-
System befanden, hatte sich zur Steuer-Acht von Station 1 begeben. Boolvert nahm ihn deutlich wahr und schien im Gegensatz zu einigen Felorern nichts von seiner Agilität verloren zu haben. Für Boolvert unterschieden sich die Keelon kaum voneinander – selbst dann, wenn man alle Wahrnehmungskanäle zur Identifizierung heranzog. So kam Boolvert nicht auf den Namen seines Helfers. Aber es war ihm auch zu peinlich, danach zu fragen. Boolvert schirmte reflexartig seine Sinne etwas ab. Die fleischige Erscheinung des Keelon wirkte für das verfeinerte ästhetische Empfinden des Felorers eher abstoßend, sodass die Tormeister sie sich nur in möglichst abgeschwächter Form zumuteten. Sie schirmten einfach einen Teil ihrer Sinne ab, um nicht in unerträglich geballter Form mit den körperlichen Eindrücken eines Keelon konfrontiert zu werden. Mit der Wertschätzung, die die Felorer andererseits für die Fähigkeiten dieser Spezies empfanden, hatte das nichts zu tun. »Wir haben die Frage, wie wir dem aufgetretenen Problem begegnen könnten, noch einmal diskutiert«, erklärte der Keelon. »Heißt das, ihr teilt meine Ansicht, dass wir temporal einen breiteren Wirkungsgrad anstreben sollten?« »Nein«, widersprach der Keelon. »Wir sollten genau das Gegenteil tun.« »Das kann nicht euer Ernst sein!«, entgegnete Boolvert fassungslos. Hatte er sich so irren können? Die Fähigkeiten der Keelon zu Temporalmanipulationen war einzigartig. Es war also vielleicht ein Gebot der Klugheit, auf sie zu hören. »Wir schlagen die Konzentration auf den Ursprungsbereich der unsere Realität überlagernden temporalen Alternative vor. Unsere Berechnungen haben ergeben, dass dann ein maximaler Effekt zu verzeichnen ist.« Boolvert war unschlüssig. Der Keelon übergab ihm einen Datenkristall. Boolvert aktivierte ihn. Eine Holoprojektion bildete sich, und die Berechnungen der Keelon wurden mit komplizierten Diagrammen veranschaulicht. Die verwendeten Zeichen waren dabei bereits in den Code der Felo-
rer übertragen worden. Boolvert ging die Berechnungen der Keelon im Einzelnen durch. Und wie man die Sache auch drehte und wendete – der Weg, den sie vorschlugen, hatte einen höheren zu erwartenden Erfolgsfaktor als das, was Felvert angeordnet hatte.
Boolvert versuchte Kontakt mit Felvert aufzunehmen. Aber das war aus irgendeinem Grund nicht möglich. »Gibt es eine Störung im Kommunikationssystem?«, fragte Boolvert einen der anderen diensthabenden Tormeister. Doch dieser verneinte. »Alles funktionierte einwandfrei. Die temporalen Störungen und der heranziehende Parasturm wirken sich auf die Kommunikation nur unwesentlich aus.« Wenig später gelang es doch noch, Kontakt zu Felvert herzustellen. Aber er war ganz offensichtlich nicht mehr bei Sinnen und sandte nur wirre Äußerungen an die Station. Jetzt liegt es an mir!, erkannte Boolvert. »Die Keelon haben recht«, entschied er. »Wir werden es auf diese Weise versuchen. Und falls das nicht klappt, werden wir alle vielleicht nichts weiter als Seelenschatten sein, deren letzte Gedanken sich in der Unendlichkeit verlieren.«
Wer? Ich. Niemand. Erwachen. Licht. Ein großes rundes Licht, das über den Horizont kroch. Sie glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Sicher war sie sich aber nicht. Die vermeintliche Erinnerung vermischte sich mit so vielen anderen Eindrücken, dass es ihr unmöglich war, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren.
Ein Name fiel ihr ein. Scobee. Und dann war es plötzlich ganz leicht. Die wirren Gedankensplitter begannen sich zu ordnen. Bilder, Szenen, Erinnerungen rekonstruierten sich. Jetzt erst hatte Scobee tatsächlich das Gefühl zu erwachen, obwohl sie ahnte, dass sie schon eine ganze Weile zwischen all den seltsamen kristallinen Formen stand und in Richtung Horizont blickte. Dorthin, wo sich das große Licht als orangerote Kugel zeigte. Die Sonne Nar'gogs!, erkannte sie. Fast ein wenig ungläubig betastete sie ihren Körper, so als fiele es ihr schwer, die eigene Existenz als gegeben hinzunehmen. Du existierst noch! Was immer auch geschehen sein mag – mehr kannst du unter diesen Bedingungen wohl nicht erwarten! Nach und nach kehrte all das in ihr Bewusstsein zurück, was letztlich ihre Person ausmachte. Auf einmal war ihr wieder bewusst, was sie auf Nar'gog wollte und wie sie hierher gelangt war. »Porlac!«, sagte sie laut. Der Sprecher des Granogk stand ein paar Schritte von ihr entfernt, sah auf und schien ebenso ungläubig darüber zu sein, dass dieser Höllensturm der Parakräfte über ihn hinweggebrandet war, wie es auch Scobees Empfindung entsprach. Felvert befand sich in seiner Nähe und redete vor sich hin. Offenbar hatte er den Zustand der Verwirrung noch nicht überwunden. Im Hintergrund war ein Chor von aufgeregten Stimmen zu hören. Das Granogk. Der allgemeine Tenor ging jedoch davon aus, dass die Hauptgefahr jetzt vorbei war. Zu glauben, anorganische Silizium-Kristallwesen könnten aufatmen, wäre wohl irgendwie etwas unpassend!, kam es Scobee in den Sinn. Plötzlich drangen fremde Gedanken in ihren Geist. Hast du eine Erklärung für das, was geschehen ist? Scobee drehte sich halb um und bemerkte Siroona. Sie war vollkommen von einer schwarzen Rüstung bedeckt. Auch von dem augenlosen Gesicht war nichts zu sehen. »Zumindest existieren wir noch«, erwiderte Scobee. Sie wandte
sich an Felvert, der sich inzwischen beruhigt hatte. Der Felorer nahm Kontakt mit der Station auf. Wenig später hatte er sich über die Lage informiert. »Die temporale Krise scheint vorbei zu sein. Die angemessenen Werte sind normal. Offenbar bestand zeitweilig die Gefahr, dass unsere Existenz durch die Dominanz einer Parallelzeit ausgelöscht wird.« »Heißt das nicht, dass es in der Vergangenheit zu einem Zeitparadoxon gekommen sein muss?«, mischte sich Porlac ein. »Davon gehen wir aus«, bestätigte Felvert, der erneut Kontakt mit den Stationen aufnahm und für einige Augenblicke nicht ansprechbar war. Was er anschließend zu berichten hatte, verblüffte alle. »Bei den Torstationen gehen erstaunliche Messwerte ein. Danach haben sich die temporalen Verhältnisse in der Galaxis wieder vollkommen normalisiert. Es besteht keine erhöhte Geschwindigkeit des Zeitflusses mehr. Nar'gog ist nicht mehr vom Rest der Galaxis abgeschottet.« »Das Zeitrafferfeld …«, sagte Porlac. »… existiert nicht mehr«, vollendete Felvert. »Das Nar'gog-System und der Rest der Galaxis befinden sich wieder auf demselben temporalen Niveau.« Die Quelle des die Galaxis einhüllenden Feldes hatte nie ermittelt werden können – sosehr sich die Jay'nac und ihre Verbündeten auch darum bemüht hatten. »Die Keelon sind der Meinung, dass es nicht mehr existiert«, stellte Felvert fest. »Ob sich diese optimistische Einschätzung tatsächlich bestätigt, überprüfen gerade die Stationsbesatzungen.«
Shyylvert, der felorische Leiter, der am äußersten Rand des Nar'gogSystems gelegenen Torstation 5, registrierte wie gebannt die eingehenden Ortungsdaten. Auf der gesamten Steuer-Acht herrschte hektische Betriebsamkeit. »Es ist kaum zu fassen, aber die Vergleichswerte, die wir von den Keelon erhalten haben, bestätigen sich bei unseren Messungen«,
sagte Laanvert. Er war Shyylverts Stellvertreter und übernahm dessen Pflichten immer dann, wenn dieser am Austauschritual teilnehmen wollte oder einfach auch nur eine Pause brauchte. Shyylvert konnte es kaum fassen. So lange war das Nar'gog-System notgedrungen eine Art temporale Festung gewesen. Ein Fels in der Brandung der entartenden Zeit. Und jetzt herrschten wieder normale Verhältnisse, so weit die Sensoren der Torstationen reichten. »Es konnte eine vollständige temporale Stabilisierung erreicht werden«, meldete Laanvert. »So positiv das auch ist, ich glaube kaum, dass unsere Maßnahmen dafür verantwortlich sind«, stellte Shyylvert klar. »Das nicht«, gestand ihm Laanvert zu. »Aber immerhin konnten diese Maßnahmen unser aller Existenz erhalten. Und das ist ja auch etwas.« »Trotzdem würde ich zu gerne wissen, wo die Quelle des Zeitentartungsfeldes lag.« »Diese Frage zu beantworten, dürfte jetzt noch schwieriger sein als bisher, Shyylvert. Schließlich gibt es nichts mehr, an dem wir die Suche ansetzen könnten.« »Möglicherweise ist die Quelle auch in eine parallele Zeitebene abgedrängt worden.« »Dann werden wir in Kürze Schwierigkeiten bekommen, uns auch nur an ihre einstige Existenz zu erinnern.« Plötzlich ertönte ein Alarmsignal. Ein Hologramm baute sich auf. Die Ortungssysteme von Torstation 5 hatten etwas aufgezeichnet, das vom Rechnersystem als bedeutend genug eingestuft worden war, um den Alarm auszulösen. Das Hologramm vermittelte nicht nur optische Eindrücke, sondern emittierte darüber hinaus eine Reihe weiterer Sinneswahrnehmungen, von denen viele nur den Felorern zugänglich waren. »Es wurde ein Objekt geortet, dessen Größe die Toleranzgrenze bei Weitem überschreitet«, meldete die Kunststimme des Rechnersystems. »Heranzoomen!«, befahl Shyylvert. »Sinnes-Emission auf maxima-
le Intensität.« Eine gewaltige goldene Kugel, die mit immenser Geschwindigkeit auf Nar'gog zustrebte, wurde in der Holowiedergabe sichtbar. Ein Geschoss von wahrhaft kosmischen Ausmaßen. »Ich möchte eine vorläufige Analyse«, verlangte Shyylvert, als in einem abgeteilten Fenster der Holoprojektion plötzlich Kolonnen von Zeichen erschienen. Aber er ahnte bereits, was da zu sehen war.
Felvert befand sich an Bord eines Jay'nac-Shuttles und war auf dem Weg zur Torstation 1. Das Shuttle bestand vollständig aus dem kristallinen Körper eines Jay'nac, in dessen Innern der Tormeister nun durch den Orbitalbereich von Nar'gog flog. Es gab eine Sauerstoffversorgung, aber keine künstliche Schwerkraft an Bord des Jay'nac-Shuttles. Beides war nur notwendig, wenn empfindlichere organische Organismen an Bord waren. Die Atemluft innerhalb des Jay'nac-Shuttles wurde nicht erneuert, und der Sauerstoffanteil wäre beispielsweise für Erinjij viel zu niedrig gewesen. Die Atmosphäre diente streng genommen auch nicht in erster Linie der Atmung, sondern der verbalen Verständigung, die im Vakuum nicht möglich gewesen wäre. Der Luftdruck war sehr niedrig und reichte gerade aus, um die akustische Ein- und Ausgabe benutzen zu können. Nur sehr wenige rein organische Wesen hätten im Innern des Shuttles überleben können. Die meisten wären jedoch schlicht und ergreifend zu schwach dafür gewesen. Auch jene Scobee, die mit dem Gloriden-Schiff an der Station im intergalaktischen Leerraum angedockt und anschließend die Reise ins Nar'gog-System mitgemacht hatte. Dass sie ein Klon war, hatte Felvert schon nach dem ersten Routine-Scan gewusst. Und im Übrigen war ein Klon auch nur bei den Spezies etwas Besonderes, die sich traditionellerweise auf andere Weise fortpflanzten. Hätten wir die Krise verhindern können, wenn Scobee und Siroona nicht
hierher geholt worden wären?, überlegte er. Die Frage ließ sich nicht so leicht beantworten. Einerseits gab es schon eine gerade temporale Linie von einem Krisenpunkt in der Vergangenheit aus bis zu dem Zeitpunkt, da beide im Nar'gog-System erschienen waren. Andererseits existierten immer noch andere Faktoren, die auch eine Rolle spielten und deren Zusammenwirken nicht kalkuliert werden konnte. Andernfalls wären wir in der Lage, die Zukunft exakt vorherzusagen. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt immer nur Möglichkeiten. Optionen. Tendenzen. Nicht mehr … Die Frage, ob seine Autorität etwas gelitten hatte, weil schließlich eine von den Keelon vorgeschlagene Maßnahme zur Abwehr der Gefahr beigetragen hatte, interessierte ihn weniger. Er hatte schließlich alles erreicht, was ein Tormeister erreichen konnte. Irgendwann kam immer der erste Irrtum. Mitunter zeigte sich dadurch, dass es Zeit war, den Platz in der ersten Reihe zu räumen und Jüngeren den nötigen Spielraum zu lassen. Aber im Moment hielt sich Felvert noch für unverzichtbar. Der Innenraum des Jay'nac-Shuttles glich einer schmucklosen Höhle. Felvert schwebte im schwerelosen Vakuum. Ein Felorer konnte notfalls eine ganze Weile auf die Zufuhr von Sauerstoff verzichten. Eine Atmung im klassischen Sinn fand in den achtförmigen Elementen, aus denen sich sein wurmartiger Körper zusammensetzte, ohnehin nicht statt. Der Tormeister hatte um etwas Licht gebeten, und der Jay'nac, der das Shuttle war, hatte ihm diesen Wunsch gerne erfüllt und mit seinem Körper ein paar Leuchtzonen geschaffen, die wie fluoreszierende Bereiche im Kristall wirkten. Der Name des Jay'nac war Tamrac. Er war gleichzeitig Pilot und Schiff. Die enorme Anpassungsfähigkeit der anorganischen Bewohner Nar'gogs faszinierte Felvert immer wieder. Es schien keinen Bereich des Universums zu geben, den sie nicht potentiell zu erobern vermochten. Einzigartig waren sie keineswegs. Es gab eine Vielzahl anorganischer Lebensformen, von denen allerdings nur wenige die Komplexität erreicht hatten, die für die Jay'nac kennzeichnend war. Von die-
sen wenigen Spezies wiederum hatte nur ein verschwindend geringer Anteil letztendlich Intelligenz entwickelt und gelernt, die Raumfahrt zu betreiben. Aber einzig und allein die Jay'nac waren offenbar in der Lage, ihre Fähigkeiten so zu nutzen, dass sich daraus auch ein immenses Machtpotenzial auf galaktischer Bühne ergab. Ein Potenzial, das von den Gegnern häufig überschätzt wurde. So stark, wie es von außen schien, waren die Jay'nac nämlich keinesfalls. »Wir sind euch Felorern und den Keelon zu Dank verpflichtet«, sagte Tamrac. Die nonverbalen, über teils sehr spezielle Sinne verbreiteten Signale, die der Jay'nac mit diesen Worten aussandte, passten zu dem Gesagten, er war authentisch. Ein ähnliches Echo war ihm bereits auf Nar'gog förmlich entgegengeschlagen. Die Jay'nac empfanden echte Dankbarkeit oder doch zumindest etwas, das dieser Emotion sehr nahe kam. Sie wussten, dass sie ihre Existenz nur der Hilfe der Felorer und Keelon verdankten. »Jeder auf Nar'gog denkt jetzt darüber nach, ob dieser sichere Zustand für länger anhält – oder ob die Entartung der Zeit irgendwann wieder einsetzt«, sagte Tamrac. »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es zu Letzterem kommen könnte«, hielt Felvert dem entgegen. »Der Effekt war künstlichen Ursprungs, aber es ist nie gelungen – auch nicht mithilfe unserer Verbündeten –, die Quelle dieses Zeitrafferfeldes zu finden. Oder diejenigen, die es errichtet haben.« »Das ist richtig.« »Daher ist es jederzeit möglich, dass der Prozess wieder in Gang gesetzt wird?« »Wir können es zumindest nicht ausschließen.« Der Felorer schwebte einmal quer durch den Innenraum, als der Jay'nac ihm die Sicht nach außen ermöglichte. Ein Teil der kristallinen Außenwand wurde transparent. Die Station wurde in all ihrer Schönheit und technischen Vollkommenheit sichtbar. All die achtförmigen Strukturelemente, die ineinander verwoben waren, er-
zeugten in ihrer Gesamtheit einen riesigen Komplex. Überall im System der Jay'nac flogen jetzt wieder Raumschiffe, von denen die meisten aus Jay'nac-Körpern bestanden. Während der temporalen Krise war das nicht möglich gewesen. Zu riskant. Die Auswirkungen waren nicht vorhersehbar, weder für das betreffende Schiff noch für die temporale Stabilität des Systems. »Eine Meldung von Station eins trifft ein«, sagte die Stimme von Tamrac. »Dringend.« Eine Holoprojektion wurde aktiviert. Boolvert erschien dort in Lebensgröße. »Ein riesiges Objekt wurde geortet. Es schießt auf Nar'gog zu und bremst jetzt langsam ab.« In der Holodarstellung zeigte sich die herangezoomte Ansicht des Objekts. Dazu wurden die Daten in einem Nebenfeld eingeblendet. »Das ist unglaublich!«, entfuhr es Felvert. »Was sagen die Keelon dazu?« »Sie sind fassungslos. So wie wir.« »In welcher Absicht ist das Objekt hier?« »Das versuchen wir gerade herauszufinden. Und natürlich fragen wir uns alle auch, ob sein Auftauchen mit dem Verschwinden des Zeitentartungsfelds zu tun hat.« »Vielleicht begegnen wir nun denen, die es geschaffen haben!«
Ein Jay'nac, der die Form einer Pyramide hatte und über mindestens dreißig Extremitäten verschiedener Länge verfügte, von denen ein Drittel zur Fortbewegung diente und die anderen mit verschiedenartigen Greiforganen ausgestattet waren, trat auf Scobee und Siroona zu, die sich noch immer in der Nähe des Granogk im Freien aufhielten. Das Klima auf Nar'gog war mild und gemäßigt. Kein Wind, kein Niederschlag, keine Schwankungen. Selbst der Unterschied zwischen Tag und Nacht war kaum zu spüren. Scobee hatte keine Erklärung dafür. Entweder die Jay'nac verfügten über eine so hoch
entwickelte Technik zur Klimasteuerung, dass sie tatsächlich in der Lage waren, diese, mathematisch gesehen, eigentlich chaotischen Prozesse zu steuern – oder das Granogk befand sich in einer günstigen Zone. Was will dieser hässliche Pyramidenzwerg?, waren Siroonas Gedanken sehr deutlich in Scobees Kopf zu hören. Scobee hoffte nur, dass Siroona diesen telepathischen Strom ausschließlich an sie geschickt hatte, sodass er den Jay'nac nicht erreichte. Der Anorganische hielt mit vier seiner Greifarme jeweils einen zylindrischen Behälter. »Nehmt davon«, sagte er. »Jeder von euch bekommt einen roten und einen gelben Behälter.« Geschenken aller Art sollte man misstrauen, fand Siroona. Ich frage mich, mit welcher Absicht sie gegeben werden. »Mit der Absicht, euch zu helfen«, sagte der Jay'nac ungerührt. »Was ist in den Behältern?«, fragte Scobee. »Nährstoffe und H2O. Ihr seid organische Wesen und habt einen regelmäßigen Bedarf daran. Dass wir nicht daran gewöhnt sind, Organische zu beherbergen, mag sein. Wir haben die Keelon um Rat gefragt, und die Zusammensetzung der Nährkonzentrate dürfte für euer beider Spezies verträglich sein. Was das H2O angeht, so haben wir ein paar Mineralien zugesetzt.« Scobee nahm die beiden Behälter, die für sie bestimmt waren. Das Wasser trank sie zuerst. Sie hatte schreckliche Durst, aber in letzter Zeit kaum daran gedacht, etwas zu essen oder zu trinken. In dem zweiten Behälter befand sich eine breiige Masse. Sie schmeckte ziemlich fad, aber Scobee war froh, überhaupt etwas zu bekommen. »Dies ist eine Wohltat des Granogk und des großen Ganzen«, sagte der Jay'nac. »Ich hoffe, ihr wisst sie auch zu schätzen. Die Herstellung von Nahrungsmitteln für Organische ist äußerst aufwendig und verschlingt eigentlich unverhältnismäßig viele Ressourcen.« »Wir danken dem Granogk und dem großen Ganzen«, sagte Scobee. Siroona zögerte, ehe sich die alte Foronin diesem Dank etwas weniger enthusiastisch anschloss. Das ist scheußlich, äußerte sie in ei-
nem Gedankenstrom, der offenbar nur an Scobee gerichtet war. Zumindest gab es vonseiten des Jay'nac keinerlei Reaktion darauf. Sie flößte sich mit Schmatz- und Sauggeräuschen den Inhalt der beiden Behälter ein. Wie genau sie es bewerkstelligte, war nicht erkennbar, jünger macht mich das auch nicht, es gleicht nur einen momentanen Mangel aus, meinte die Foronin. Ein Lächeln glitt über Scobees Lippen. Ein Lächeln, das niemand auf dieser Welt als solches zu erkennen vermochte. »Mehr zu verlangen, wäre auch wohl ein bisschen übertrieben«, meinte sie, an Siroonas Adresse gerichtet. »Findest du?«, fragte Siroona, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder akustisch äußerte. Der vielarmige Jay'nac meldete sich neuerlich zu Wort. »Wenn ihr noch einen Wunsch habt, dann sprecht ihn aus. Soweit es in meiner Macht steht, wird man ihn erfüllen.« »Danke«, sagte Scobee. Der Jay'nac lief auf seinen ungelenk wirkenden Extremitäten davon und verschwand zwischen all den anderen bizarren Siliziumwesen. Dieses Gebräu wird mir den Rest geben, glaubte Siroona. Womit habe ich das verdient? Gestrandet zwischen den Galaxien und einer temporalen Krise entronnen, sterbe ich nun an schlechtem Essen … »Vielleicht übertreibst du ein bisschen.« Einen Moment lang spürte Scobee die Präsenz der Foronin etwas stärker. Offenbar ein kleiner emotionaler Ausbruch. Wut und Selbstmitleid mischten sich da. Aber sie hatte einfach nicht die mentale Kraft, die sie früher auszeichnete. Siroona war ein Schatten ihrer selbst, und Scobee war froh darüber. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Jedenfalls nicht die individuelle Lebenszeit Siroonas. Scobee beruhigte das. Andernfalls hätte sie ständig fürchten müssen, von ihr übernommen zu werden. Du schirmst deine Gedanken vor mir ab. »Ist das nicht mein gutes Recht?«
Recht? Was soll das sein? Es gibt ein einziges Gesetz im Universum. Und das ist das Recht des Stärkeren. »Und der bin im Moment ich«, stellte Scobee kaltschnäuzig fest. Siroona schwieg eine Weile. Dann stimmte sie Scobee sogar zu. Du hast recht. Aber ein verworrenes Schicksal hat uns nun einmal zusammen auf diese Welt geführt. Wir können diesen Umstand beide verfluchen oder uns fragen, ob es nicht für uns beide klüger gewesen wäre, in der Vergangenheit andere Entscheidungen zu treffen. »Das wäre es wahrscheinlich!«, nickte Scobee. Ich hätte auf der RUBIKON bei John bleiben sollen. Aber was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Es gibt nur einen Weg, der vorwärtsführt. Also hör auf mit dem Gejammer. In punkto Selbstmitleid kommst du ja schon fast an Siroona heran … Siroona äußerte nun ein paar Gedanken, die Scobee nicht verstand. Wirres Zeug. Bilder und semantische Bedeutungseinheiten, die Scobee wie Splitter des eigentlichen Gedankens erschienen. Waren das Alterserscheinungen bei Siroona? Eine Art foronische Demenz? Aber was die Foronin mitzuteilen hatte, interessierte Scobee im nächsten Moment ohnehin nicht mehr sonderlich. Es war die Aufregung innerhalb des Granogk, die Scobee darauf aufmerksam machte, dass etwas Besonderes im Gange war. Im nächsten Moment sah sie es selbst. Ein Objekt erschien am Taghimmel von Nar'gog. Es hob sich zunächst dunkel gegen das Sonnenlicht ab, wurde dann größer und größer. Schließlich schimmerte es metallisch. Eine gewaltige goldene Kugel, imposant wie ein Mond, hing über dem Horizont, sank immer tiefer und gewann dabei noch weiter an Größe. »Ein Schiff der Gloriden!«, stieß Scobee hervor. »Das Ding hat mindestens tausend Meter im Durchmesser!« Was wollen die hier?, fragte Siroona. Aber diese Frage konnte im Moment nicht einmal das Granogk beantworten, in dem es ununterbrochen raunte. Die kristallinen Strukturen veränderten sich. Sie wuchsen zusammen, teilten sich auf und
kommunizierten dabei unentwegt. Scobee konnte davon so gut wie nichts mitbekommen. Sie hatte auf dem Boden gekauert und ihre Mahlzeit beendet. Jetzt schickte sie sich an zu gehen. »Wohin willst du?«, fragte Siroona. Ihre Stimme drang kaum durch das Geraune des Granogk, wurde aber durch einen sehr starken, sehr präsenten Gedankenstrom unterstützt, sodass Scobee regelrecht zusammenzuckte. »Ich will Porlac suchen …« Siroona machte Anstalten, ebenfalls zu gehen. Es ist noch nicht lang her, da war er hier in der Nähe … Warte auf mich! Siroona folgte Scobee, aber die GenTec kümmerte sich nicht weiter um die Foronin. Sie ließ den Blick schweifen und versuchte, inmitten des unübersichtlichen Durcheinanders bizarrster Formen den Sprecher des Granogk zu entdecken. Manche der Stimmen, die sie dabei vernahm, verstand sie jetzt. »Wir müssen Gegenmaßnahmen ergreifen!« »Die Fremden müssen wissen, wer Herr dieses Systems ist!« »Auf unsere Kontaktversuche haben sie nicht reagiert!« »Alarm für sämtliche Streitkräfte. Kampfraumschiffe sollen sofort starten. Gefechtsbereitschaft wird in Kürze hergestellt sein.« Dann fand sie Porlac. Er hatte eine Holodarstellung aktiviert. Symbolkolonnen erschienen dort. In einigen Bildfenstern waren sowohl Keelon als auch Felorer zu sehen. Allerdings schien nun ein Teil der Kommunikation auf nonverbaler Ebene abzulaufen. Allen Beteiligten mochten noch weitaus schnellere Übermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Überall am Himmel konnte man jetzt Jay'nac-Schiffe unterschiedlichster Größe sehen, die gestartet waren, um sich dem mutmaßlichen Aggressor entgegenzustellen. Das gesamte Firmament war nach kurzer Zeit von dieser Armada erfüllt. Und alle Einheiten, die sich gegenwärtig bereits an anderen Stellen des Nar'gog-Systems aufhielten, wurden umgehend zurückgerufen, damit sie ebenfalls der Verteidigung des Jay'nac-Planeten
zur Verfügung standen. Die Kontaktversuche zu dem goldenen Schiff scheinen allesamt zu scheitern!, kommentierte Siroona, was sich vor ihren Augen abspielte. Jetzt bemerkte Porlac Scobee und Siroona. »Was sind die Absichten des goldenen Schiffs?«, fragte Scobee. Porlac verharrte einige Augenblicke lang regungslos. Er antwortete auch nicht sofort. Eine eigenartige Starre hatte ihn befallen. Vielleicht handelte es sich einfach um die Jay'nac-Entsprechung eines fassungslosen Innehaltens. Er machte auf Scobee einen ziemlich ratlosen Eindruck. Dann durchlief eine ruckartige Bewegung seinen kristallinen Körper. »Es ist kein Schiff«, sagte er. »Kein Schiff?« »Das Objekt hat einen Durchmesser von hundert Kilometern!«, erklärte Porlac, und Scobees Übersetzungschip übertrug dabei die Maßangabe gleich in eine Einheit, unter der sie sich etwas vorzustellen vermochte. »Dann ist es eine … CHARDHIN-Perle!«, stieß Scobee hervor. Die Erkenntnis traf Scobee wie ein Schlag vor den Kopf. Es musste also möglich sein, diese gigantischen, normalerweise jenseits des Ereignishorizonts von Schwarzen Löchern fixierten Stationen aus ihrer Verankerung zu lösen und frei zu manövrieren wie ein Raumschiff. Du hast gedacht, dass die Gefahr vorüber ist – und jetzt stehen wir vor Kampfhandlungen ungeahnten Ausmaßes!, lautete Siroonas zynischer Kommentar an sie. Auch Porlac wandte sich an Scobee. »Du weißt, was das für ein Objekt ist?« »Ja.« »Dann sprich. Welches Volk baut derartige Dinge?« »Das wiederum weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass solche Objekte vom halb energetischen Volk der Gloriden im Auftrag der eigentlichen Erbauer verwaltet werden.« »Du sprichst in Rätseln.«
»Ich werde es dir erklären, Porlac. Ich bin sogar schon einmal an Bord eines derartigen Objekts, wie du es nennst, gewesen, und eigentlich ist sein Platz hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs …« Scobee begann zu erzählen, und trotz der Hektik, die im Granogk auszubrechen drohte, hörte Porlac ihr zu. Nur für die wichtigsten Fakten war jetzt Zeit. »Glaubst du, es lohnt die Mühe, Kontakt mit der Besatzung aufzunehmen?«, fragte Porlac. »Natürlich. Wer immer dieses Ding zu fliegen versteht, verfügt über ein technisches Wissen, das dem euren weit voraus ist.«
3. Kapitel – Die Verschwundenen Vergangenheit – 100 Erdenjahre vor Scobees Zeitebene (ca. 2450 n. Chr.) John Cloud war eins mit dem Schiff, dem er den Namen RUBIKON gegeben hatte. SESHA war die Bezeichnung gewesen, auf die das Rochenschiff einst von seinen foronischen Besitzern getauft worden war. Aber die Tage, da Sobek, Siroona und die anderen Hirten das Schiff geführt hatten, waren lange vorbei. Jetzt wurde der Begriff »Sesha« nur noch in Verbindung mit der gleichnamigen Künstlichen Intelligenz des Schiffes benutzt. Vergangenheit, dachte John Cloud. Aber welche Rolle spielte der Name noch im Anbetracht der dramatischen temporalen Odyssee, die das Schiff hinter sich hatte. Relativzeit, dachte Cloud. Vielleicht ist das der Begriff, der es am ehesten trifft. Cloud steckte in einem der Steuersarkophage der RUBIKON. Mit Seshas Hilfe steuerte er das Schiff direkt. Er war in den Sensoren ebenso wie in der Steuerung und den anderen Schiffssystemen. Für die Dauer seines Aufenthalts im Sarkophag war die RUBIKON zu seinem Körper geworden. Einem Körper, den er absolut beherrschte, seit Sesha ihn als Kommandanten anerkannt hatte. Eine Woche noch, und sie würden das Solare System erreichen. Die Heimat der Menschheit, die seit Beginn der Keelon-Herrschaft in der Galaxis als »Erinjij«, als Sternenpest, verschrien war. Natürlich fragte sich Cloud, was sich dort inzwischen getan hatte. Waren die Keelon-Master immer noch an der Macht? Erweiterten die Erinjij nach wie vor ihr Einflussgebiet, oder war der Eroberungsdrang dieser Geißel der Galaxis inzwischen unter dem Einfluss des Entartungsfeldes, das alle Hochtechnik geißelte, zum Erliegen ge-
kommen? Über die Situation, die Cloud und seine Getreuen vorfinden würden, konnten sie nur spekulieren. Sesha!, wandte sich Cloud an den Bordrechner. Die KI gab sich dienstbar. Was kann ich für dich tun, John Cloud? Ich möchte, dass du noch einmal alle Systeme überprüfst, forderte Cloud. Unter welchem Aspekt? Geht es dir um Kargor? Natürlich ging es um Kargor, die rätselhafte Entität der ERBAUER – jener Rasse, die die CHARDHIN-Perlen geschaffen und später den Gloriden zur Verwaltung übergeben hatte, ehe sie sich aus unbekanntem Grund zurückgezogen hatte. Ich habe jetzt mehrere Überprüfungen durchgeführt. Für Kargors Anwesenheit an Bord des Schiffes gibt es keinerlei Hinweise, Kommandant! Ich wäre nur gerne sicher!, gab Cloud zurück. Du bist der Kommandant. Das heißt, ich führe so viele Überprüfungen durch, wie du willst – nur werden sie zu keinem anderen Ergebnis führen. Es gibt nach wie vor zwei Möglichkeiten: Entweder er ist noch irgendwo im Schiff und tarnt sich aus irgendeinem Grund so hervorragend, dass ich ihn nicht zu finden vermag. Die Möglichkeit dazu hätte er meiner Ansicht nach – und wie dir bekannt ist – durchaus. Die zweite Möglichkeit ist, dass er das Schiff tatsächlich verlassen hat. Ich fürchte, ich kann dir – trotz ei ner weiteren Überprüfung – in dieser Angelegenheit nicht wirklich weiterhelfen, Commander. Wir werden mit der Ungewissheit wohl noch eine Weile leben müssen.
Algorian saß in einem Schalensitz, der sich seiner hageren, aber humanoiden Gestalt vollkommen angepasst hatte. Viel war geschehen, seit er Teil der RUBIKON-Crew geworden war. Das Gefühl des Alleinseins machte ihm zu schaffen. Er war der einzige Aorii an Bord. Normalerweise lebten Aorii als Zwillingspaar zusammen, und seit dem Tod seines Hassbruders Rofasch hatte Algorian ein permanentes Gefühl der Einsamkeit nie wirklich verlassen. Einzig und allein die Freundschaft zu dem Aurigen Cy konnte die-
se sich immer wieder Bahn brechende Emotion auf ein erträgliches Maß abmildern. Aber so eng die Verbindung zu dem Pflanzengeschöpf auch sein mochte – sie beide waren letztlich doch sehr verschieden, sodass ein Austausch nur in gewissen Grenzen möglich war. Nicht immer empfand Algorian das so schmerzvoll wie im Moment. Er streckte seine Psi-Fühler aus, aber sie blieben ohne Kontakt zu einer verwandten Seele. Als Zweitling waren seiner Parafähigkeiten nur sehr schwach ausgebildet. Sein Hassbruder Rofasch war ein überaus starker Telepath gewesen. Zu Lebzeiten hatte er ihn mitunter verflucht, wenn er ungefragt in seine Gedanken eingedrungen war, ohne dass es dafür Algorians Meinung nach einen adäquaten Anlass gegeben hatte – aber inzwischen vermisste er nichts so sehr wie die Gedanken seines Zwillings. Dein Hassbruder wird nicht ins Reich der Lebenden zurückkehren, wenn du jetzt in Selbstmitleid zerfließt. Und wenn du dich etwas ehrlicher und nüchterner deinen Erinnerungen stellst, dann musst du zugeben, dass euer Verhältnis so unproblematisch nun auch nicht war. Schließlich warst du ja nur der Zweitgeborene … und das mit allen Konsequenzen! Algorian versuchte, seine fruchtlosen Grübeleien darüber, ob er nun mehr unter seinem Hassbruder zu leiden oder doch das verbindende Element in ihrer Beziehung dominiert hatte, zu beenden. Es gab nämlich noch eine andere Sache, die ihn beschäftigte und die ihm eigentlich sehr viel wesentlicher erschien. Kargor hatte das Schiff verlassen. Zumindest hatte er es so angekündigt. Aber mittlerweile war sich Algorian nicht sicher, ob das wirklich der Fall war. Zwischenzeitlich hatte er nämlich geglaubt, Kargors Anwesenheit erspürt zu haben. Für einen kurzen Moment war er sich vollkommen sicher gewesen. Sicher genug, um auch Commander Cloud davon zu berichten, der daraufhin eine Überprüfung sämtlicher Systeme anberaumt hatte, deren Ziel es war, nach Anzeichen für die Anwesenheit des ERBAUERS zu suchen. Offenbar war man dabei bisher nicht fündig geworden.
Inzwischen war sich auch Algorian selbst nicht mehr so sicher, ob er seine Empfindungen richtig interpretiert hatte. Rofasch müsste hier sein! Ich selbst bin eben nur ein schwach begabter Aorii … Immer wieder hatte sich Algorian seit der ersten Spur zurückgezogen, um sich besser konzentrieren und die schwach ausgebildeten Psi-Kräfte gebündelt einsetzen zu können. Vor allem musste er dazu frei von jeder Ablenkung sein, was für Cy zunächst schwer verständlich gewesen war. Aber schließlich ging es ja darum zu überprüfen, ob die Entität ihre Ankündigung wahr gemacht hatte. Ein Summton zeigte an, dass jemand Algorians Raum zu betreten wünschte. Algorian hatte den Zugangsmechanismus gegenwärtig so konfiguriert, dass man nicht einfach eintreten konnte, sondern nur, wenn Algorian es gestattete. Er hatte schließlich sein Anrecht auf etwas Privatsphäre – ein Wort, mit dem ein Mensch wohl dieses Phänomen beschrieben hätte. Für die Aorii gab es aufgrund der starken Psi-Fähigkeiten, die vor allem Erstlingen zu eigen waren, ohnehin nur bedingt so etwas wie eine Sphäre, zu der niemand anders Zugang hatte. Die starken telepathischen Kräfte der Erstlinge sorgten zumindest bei den Zweitlingen dafür, dass sie sich erstens gegen die Macht ihrer erstgeborenen Zwillingsbrüder nicht zu wehren vermochten und zweitens deren Gedanken auch nicht als etwas angesehen wurden, was ein Aorii unbedingt hätte für sich behalten müssen. Algorian erinnerte sich noch gut daran, dass es auf Crysral, der Zentralwelt der Allianz CLARON, immer wieder Probleme zwischen Aorii-Erstlingen und Angehörigen anderer Bündnis-Völker gegeben hatte, die sich ausspioniert fühlten, während den Aorii dafür jegliches Unrechtsbewusstsein fehlte. Aber all das war lange Vergangenheit. Die Allianz CLARON existierte nicht mehr. Sie war unter dem Ansturm der verreinigten Erinjij- und Jay'nac-Streitkräfte untergegangen. Und jetzt, nach dem letzten Zeitsprung, den die RUBIKON hinter sich hatte, waren vermutlich nicht einmal mehr Spuren ihrer Exis-
tenz geblieben. Auch das verursachte Wehmut in Algorian. Wehmut, die er zu unterdrücken versuchte, so gut es ging. Erneut war der Summton zu hören. Algorian erhob sich von seinem Schalensitz und schaltete durch einen verbalen Befehl den Zugang frei. Kurz darauf erschien das Pflanzenwesen. Der Aurige hatte die Form eines Strauchs. An einer stammähnlichen Verdickung in der Mitte befand sich eine Membrane, mit der er in der Lage war zu sprechen. »Sei gegrüßt, Algorian«, wisperte Cy. Der Aorii hörte den Vorwurf, der in den Worten des Aurigen mitschwang, durchaus heraus. Aber in dieser Hinsicht stellte er sich taub. Er war der Auffassung, dass ihm das Recht zustand, sich zeitweise zurückzuziehen. Auch von so engen Freunden, wie Cy es zweifellos für ihn war. Dass Cy Schwierigkeiten hatte, dies zu verstehen, dafür konnte Algorian nichts. Der Aorii-Zweitling hatte sich wahrlich Mühe gegeben, es Cy zu erklären. Doch offenbar gab es eben doch eine Grenze des gegenseitigen Verständnisses. Eine Grenze, die möglicherweise nicht nur damit zu tun hatte, dass sie wirklich extrem unterschiedlichen Spezies angehörten, bei denen man schon annehmen konnte, dass der bloße Begriff Freundschaft nicht kompatibel war. »Ich musste über vieles nachdenken«, sagte Algorian. »Du hättest deine Gedanken mit mir teilen können.« »Das tue ich demnächst auch wieder, aber bevor es Sinn hat, seine Gedanken zu teilen, muss man sie zunächst ordnen. Findest du das nicht auch, Cy?« »Dieses Argument hat durchaus etwas Bedenkenswertes«, gab der Aurige zu. »Ich werde darüber nachsinnen und dir dann meine Meinung mitteilen.« »Tu das.« »Heute suche ich dich allerdings einer anderen Sache wegen auf. Sollte ich dich in deiner Meditation gestört haben, so tut mir das zwar leid, aber ich sehe es als einen Umstand an, den ich nicht zu
ändern vermag.« Ist es leiser Spott, der sich da in den Worten meines Freundes Cy widerspiegelt?, ging es Algorian erstaunt durch den Kopf. »Ich war keineswegs nur mit mir selbst und meinem Innenleben beschäftigt«, widersprach Algorian, noch bevor Cy in der Lage gewesen wäre, sein Anliegen vorzubringen. »Das wollte ich auch gar nicht behaupten, Algorian.« »Ich versuche herauszufinden, ob Kargor wirklich die RUBIKON verlassen hat.« »Schlecht wäre das nicht! Ich weine dieser seltsamen Entität ehrlich gesagt keine Träne nach«, gestand Cy. »Du hast keine Tränen«, erinnerte ihn Algorian. »Ich weiß«, sagte Cy. »Es ist eine Redensart, die ich von den Erinjij aufgeschnappt habe.« »Sie mögen es nicht, wenn man sie so nennt.« »Und da wir mit ihnen an Bord eines Schiffes leben, sollten wir darauf Rücksicht nehmen, findest du?« »Ja.« Cy schwieg einige Augenblicke lang. Mit seiner nächsten Frage machte er deutlich, dass er über dieses Thema nicht weiter diskutieren wollte. »Hast du Kargor gefunden?«, fragte der Aurige. »Ich dachte es. Aber …« »Es war ein Irrtum?« »Ich bin mir nicht sicher. Und Cloud auch nicht. Deswegen werden dauernd Systemchecks durchgeführt.« »Nun, warum sollte Kargor plötzlich Verstecken spielen? Hat er das nötig?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Cy. Ich weiß aber, dass meine Psi-Begabung zwar selbst für einen Zweitling recht schwach ist, ich mich aber im Großen und Ganzen auf sie bisher verlassen konnte. Aber ich bin mir inzwischen auch nicht mehr ganz sicher, was ich wirklich empfunden habe. Die ganze Zeit versuche ich bereits, diesen Moment noch einmal zu vergegenwärtigen. Was ist das gewesen? Welche speziellen Signale glaubte ich da zu empfangen?«
»Du schließt also nicht aus, dass du dir etwas eingebildet hast.« »So drastisch wollte ich das nicht formuliert wissen. Und jetzt heraus mit der Sprache! Weswegen bist du hier?« »Früher brauchten wir keine Rechtfertigung, um die Gesellschaft des jeweils anderen zu suchen«, hielt Cy ihm entgegen. »Das brauchen wir auch in Zukunft nicht. Aber ich bin etwas gereizt, weil ich mich geistig sehr anstrengen musste, um die Spur diese Entität vielleicht doch noch aufzunehmen. Daher wäre ich dir sehr dankbar, wenn du zur Sache kommen könntest.« Cy zögerte. Ein leichtes Rascheln im Geäst seines Körpers war zu hören. Schließlich entschloss er sich doch, die Sache vorzubringen, nachdem in seinem Innern wohl ein heftiger Kampf darüber getobt hatte. »Es tut mir leid, aber ich kann dir Belastungen seelischer Art nicht ersparen, sosehr ich es mir auch gewünscht hätte.« Algorian war jetzt vollkommen verwirrt. »So?« »Kargor ist nicht der Einzige, der verschwunden zu sein scheint.« »Wovon redest du, Cy?« »In Ermangelung eines anderen Gesprächspartners – du warst ja nicht verfügbar – hatte ich mich in letzterer Zeit des Öfteren mit Sahbu unterhalten.« »Der Typ aus Prosper Mérimées Truppe aus dem ehemaligen Getto?«, fragte Algorian. »Ja. Ich habe ihn überall gesucht. Er war auf einmal nicht mehr da. Dasselbe gilt übrigens für Prosper Mérimée selbst.« »Noch jemand?« »Ich habe gehört, wie nach Sarah Cuthbert gesucht wurde. Sie ist noch nicht aufgetaucht. Selbst Sesha steht vor einem Rätsel.« »Das klingt ernst, muss aber nichts bedeuten. Wir hatten schon mehr KI-Ausfälle in letzter Zeit. Sie wird sich einfach mal zurückgezogen haben, wie ich das auch ab und zu tue«, hielt Algorian seinem Freund Cy entgegen. »Und da zu den Verschwundenen ja wohl mehrheitlich du den letzten Kontakt hattest, solltest du dir mal überlegen, ob das alles nicht damit zusammenhängen könnte, dass du ein paar Leuten an Bord hier zurzeit etwas auf die Nerven gehst!«
»Algorian, es geht nicht um mich oder darum, ob ich irgendwem an Bord auf die Nerven gehe. Das kann ich ohnehin kaum abschätzen, da ich mich doch am stärksten von euch allen unterscheide und ihr in der Regel gar nicht nachempfinden könnt, was in meinem Inneren vor sich geht.« Eins zu null für Cy, musste Algorian zugeben. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Dann schlug Cy vor, die betreffenden Personen ebenfalls durch Sesha suchen zu lassen, nicht nur Sarah. Algorian blieb skeptisch. »Das ist längst geschehen …« »Ohne Erfolg, oder? Aber wenn Leute vom Schiff verschwinden, dann müssen notfalls eben wir eingreifen!«, verlangte Cy. »Immerhin ist das hier unser Lebensraum! Und sind solche Anomalien nicht eigentlich ein Zeichen dafür, dass irgendetwas mit der Zeit selbst nicht stimmt?« Algorian machte eine Geste mit der rechten Hand, womit er eine Verneinung signalisierte.
John Cloud hatte die Steuerung an Sesha übergeben, stieg aus dem Sarkophag und stellte fest, dass mehrere Besatzungsmitglieder die Zentrale betreten hatten, neben Algorian und Cy auch der Narge Jiim. In der Holosäule waren Ansichten des umgebenden Weltraums zu sehen. Dominant hatte sich eine gewaltige Positionsdarstellung aufgebaut, die den Weg bis zum Solaren System veranschaulichte. Die gegenwärtige Position der RUBIKON war farbig markiert. Als Cloud den Sitz hinter sich ließ, betrat Jarvis die Zentrale. Er trug immer noch Kargors Splitter, den der ERBAUER ihm zum Geschenk gemacht hatte – und der die Illusion vortäuschte, es wieder mit dem »alten« Jarvis, dem GenTec aus Fleisch und Blut zu tun zu haben. Der Kristallsplitter formte eine Maske, die für den Betrachter nur zu entlarven war, wenn er Jarvis berührte … und statt weichem Körpergewebe das starre Nanokonstrukt unter den Fingerkuppen fühlte.
Cloud kam kurz in den Sinn, dass eine wichtige Person weiterhin in diesem Kreis fehlte. Scobee. Ihre Entscheidung, nicht an Bord der RUBIKON zu bleiben, hatte Cloud zwar akzeptiert. Wirklich nachvollziehen konnte er sie jedoch nicht. Er ließ durch einen Befehl an Sesha eine Konsole aus dem Boden wachsen, über die man einen Getränkespender bedienen konnte. Er braute sich einen Syntho-Drink mit Koffeinzusatz. Danach fiel die Konsole wieder in sich zusammen und wurde eins mit dem Boden. Cloud nippte an seinem Becher und verzog das Gesicht. »Sieht so aus, als müsste ich da noch ein paar Dinge verbessern«, meinte er. »Ich habe den Drink exakt nach deinen eingegebenen Vorgaben gemixt!«, meldete sich die KI zu Wort. »Durchaus möglich, dass meine Vorgaben nicht exakt genug waren«, erwiderte Cloud. »Und deshalb bin ich nicht für ein mangelhaftes Ergebnis verantwortlich.« Cloud schmunzelte. »Das Ergebnis ist nicht mangelhaft. Ich befinde mich gewissermaßen noch in einer Experimentierphase, was die Kreation eines optimalen Getränks angeht.« »Dann siehst du das gegenwärtige Ergebnis als Zwischenlösung an?« »So ist es.« »Ich möchte dich bitten, mir Angaben zur Spezifikation zu machen. Dann kann ich das Ergebnis verbessern.« »Später. Im Augenblick bin ich einigermaßen zufrieden.« »Wie kannst du zufrieden sein, wenn du andererseits das Ergebnis als noch nicht optimal bezeichnest?«, fragte Sesha. Man sollte mit Computern nicht diskutieren!, dachte er. »Wir werden den Drink später optimieren. Im Moment stellen sich dringendere Probleme.« »Dann gestattest du, dass ich selbst nach einer optimalen Lösung suche?«
»Kontakt Ende«, sagte Cloud entschieden und nahm einen etwas kräftigeren Schluck aus dem Becher. Er atmete tief durch und stellte erleichtert fest, dass Sesha verstummt war. »Sie kann ganz schön nervig sein, was?«, lautete Jarvis' Kommentar. »Das kannst du laut sagen!« Er ist der letzte aus der alten Crew!, rief sich Cloud ins Gedächtnis. Der Crew, mit der ich einst zum Mars flog: Scobee, Resnick, Jarvis … So vieles hatte sich seitdem geändert. Eine bizarre Odyssee durch Raum und Zeit lag hinter ihnen – eine Odyssee, deren Ende noch nicht absehbar war. Alle, die daran beteiligt gewesen waren, hatten einen mehr oder minder starken Wandlungsprozess durchlaufen. Das galt für Cloud selbst natürlich auch. Am stärksten aber zweifellos für Jarvis, der sich an einen völlig neuen, nicht menschlichen Körper hatte gewöhnen müssen. Und nun erneut auf die psychische Probe gestellt wurde – denn auch wenn es ihm sichtlich guttat, nach außen wieder wie der »echte« Jarvis – der von einst – auftreten zu können, so waren die damit verbundenen Gefühle sicherlich auch höchst ambivalent. Gerade die neue, vorgegaukelte Menschlichkeit musste ihm innerlich den Spiegel vorhalten, was wirklich aus ihm geworden war – eine Art beseelter Roboter, der beispielsweise nie (nie!) mit einer Frau zusammenkommen konnte. Eigentlich fand Cloud, obwohl auch ihn der Anblick des vermeintlich wieder ins normale Leben zurückgeholten Jarvis vordergründig freute, dass Kargors Geschenk die Tragik um das Schicksal seines Freundes eher noch erhöht hatte. Er blickte verwundert in die Runde. »Nanu, was ist das denn hier? Eine Volksversammlung?« »In letzter Zeit sind tatsächlich die meisten an Bord etwas ihre eigenen Wege gegangen«, stellte Cy fest. Worauf diese Äußerung eigentlich abzielte, war Cloud zunächst nicht so ganz klar. Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich doch nach den letzten Ereignissen nur zu verständlich. Die Zeit, die wir
brauchen, um das Solare System zu erreichen, ist doch für die meisten eine willkommene Gelegenheit, mental etwas auszuspannen. Davon abgesehen: Hat eigentlich jemand von euch Sarah gesehen?« Sarah Cuthbert, die ehemalige Präsidentin der USA, war für Cloud nach Scobees Weggang zu einer der wichtigsten Bezugspersonen an Bord geworden. Allerdings hatte er sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, wenn er die letzte Zeit Revue passieren ließ. Aber das Schiff war ungeheuer groß, und es bedeutete keinerlei Schwierigkeit, sich zurückzuziehen oder anderen aus dem Weg zu gehen. »Genau das ist der Punkt«, sagte Cy. »Sarah Cuthbert scheint nicht die Einzige zu sein, die momentan unauffindbar ist.« »Na ja, vielleicht übertreibst du ein bisschen«, sagte Cloud. »Nur weil sich ein paar von uns vielleicht etwas mehr zurückziehen, heißt das nicht, dass sie verschollen sind. So groß ist die RUBIKON nun auch wieder nicht! Und der Einzige, der sich wohl verabschiedet hat, ist Kargor.« »Aber hat er das auch wirklich getan?« mischte sich Algorian ein. »Du hast doch inzwischen Überprüfungen durchgeführt.« »Mehrfach sogar«, nickte Cloud. »Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass er sich noch an Bord befindet. Aber einen klaren Beweis dafür zu finden, dass er tatsächlich gegangen ist, dürfte uns letztlich unmöglich sein.« »Vielleicht ist er nicht allein gegangen«, mischte sich nun Jarvis in das Gespräch ein. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun aber mal raus mit der Sprache – vermisst du auch jemanden, Jarvis?«, fragte Cloud. »Prosper Mérimée«, erklärte Jarvis. »Und wenn du einen Moment lang darüber nachdenkst, dann macht sein Verschwinden auch Sinn.« »Inwiefern?«, fragte Cloud. »Nach allgemeiner Auffassung hier war die Anwesenheit von Prosper Mérimée dafür verantwortlich, dass die RUBIKON ihren fulminanten Fehlsprung hingelegt hat, der uns nicht nur durch den Raum, sondern auch die Zeit katapultierte.«
»Richtig.« »Könnte es nicht sein, dass Kargor es auf seine verquere Art durchaus … nun ja, gut mit uns gemeint hat, indem er Prosper … verschwinden ließ? Er könnte das als eine Sicherheitsmaßnahme in unserem Interesse aufgefasst haben.« »Das glaube ich nicht. Außerdem …« »Was?« Cloud atmete tief durch. »Ich habe noch mit Prosper gesprochen – und zwar, nachdem Kargor offenbar von Bord gegangen ist.« »Wir wissen weder exakt, wann, noch ob Kargor von Bord gegangen ist«, erklärte Algorian und berichtete anschließend in knappen Sätzen von der psionischen Wahrnehmung, die er in Bezug auf die Entität der ERBAUER gehabt hatte. »Ich sage das natürlich unter allem nur denkbaren Vorbehalt«, schränkte Algorian seine Aussage gleich wieder ein. »Normalerweise wäre ich mit dieser Sache gar nicht an euch herangetreten, aber da ich nicht der Einzige bin, der hier seltsame Dinge wahrzunehmen scheint, denke ich, dass alle das Recht haben, darüber Bescheid zu wissen. Vielleicht ergibt sich ja aus den Bruchstücken, die wir bis jetzt haben, ein Gesamtbild. Oder zumindest doch die Ahnung davon …« Cy wandte sich an Jiim. »Du hast bis jetzt zu dieser Sache geschwiegen. Was ist deine Meinung?« Jiim schwieg zunächst weiterhin. In seinem Leben hatte es große Veränderungen gegeben. Das Nabiss war auf unerklärliche Weise mit seinem Körper verschmolzen – und dann war da auch noch Yael, das Kind, das er während Kargors Anwesenheit auf der RUBIKON zur Welt gebracht hatte. Es war schon verwunderlich genug, dass er seinen Spross allein ließ, um an dieser Zusammenkunft teilzunehmen – aber gleichzeitig war es auch ein klares Signal, dass er sich weiterhin der Gemeinschaft zugehörig fühlte. »Mir ist aufgefallen«, erhob der Narge schließlich doch noch seine Stimme, »dass ich in letzter Zeit weder Sarah noch irgendjemanden aus Prosper Mérimées Tross gesehen habe – insofern kann ich die
Beobachtungen der anderen hier im Raum nur bestätigen. Aber was ich daraus schließen soll, weiß ich nicht. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ich jemanden hier an Bord über längere Zeit nicht getroffen habe. Obwohl es gerade bei Sarah etwas seltsam ist. Sie kümmerte sich eine Zeit lang fast täglich um Yael …« »Der Aufenthaltsort der Vermissten müsste doch festzustellen sein«, sagte Jarvis. »Durch Sesha.« »Negativ«, meldete sich die KI sofort aus dem Off. Verblüffte Blicke folgten. »Ist das dein Ernst?«, fragte Cloud. »Warum hast du dann nicht früher gemeldet, dass …« »Mich hat niemand gefragt.« »Du hast immer noch einen Schaden, stimmt's?«, knurrte Cloud in Erinnerung an die Verwirrung der KI während Kargors Aufenthalt. »Falsch. Meine Selbstdiagnose ergibt keinerlei Beeinträchtigung. Ich arbeite auf einem optimalen Level. Das unterscheidet mich von biologischen Einheiten wie –« »Schon gut, schon gut.« Jarvis zuckte mit den Schultern. »Sie kapiert es nicht, dass es Dinge gibt, die selbst an ihr vorbeilaufen – mich beunruhigt nur die Häufung dieser Fehleinschätzungen. Könnten wir sie nicht ganz ausschalten und den Kahn manuell fliegen?« Er zwinkerte hoffnungsvoll. In diesem Moment ertönte ein durchdringendes Alarmsignal. Die Holosäule der Zentrale leuchtete grell auf. Etwas Außergewöhnliches musste geschehen sein.
»Eine Erklärung, Sesha!«, verlangte Cloud. »Was ist los?« In der Holosäule war jetzt nichts mehr zu erkennen. Sie war letztlich erstarrt und wirkte wie nach einem kompletten Systemabsturz. Sesha gab keine Antwort, was Clouds Befürchtungen in diese Richtung wachsen ließ. »Gefechtsstatus?«, fragte er. Wieder keine Reaktion der KI. Nicht einmal die Anzeige der Or-
tungsdaten und der Positionsangabe. Plötzlich erschien eine Holokugel mitten im Raum. Alle Anwesenden wichen unwillkürlich einen Schritt zurück. In der Holokugel waren nur wirre Formen und Farben zu erkennen. Ein abstraktes Muster, das keine weitergehende Bedeutung zu haben schien. Vielleicht handelte es sich aber auch nur um eine Darstellungsweise, die den menschlichen Sinnen nicht so recht angepasst war. »HIER SPRICHT KARGOR«, sagte eine wohlmodulierte Kunststimme, die eigentlich sonst zum Pool an verschiedenen Stimmen gehörte, die von Sesha für die akustische Systemsausgabe benutzt wurden. »Kargor, du bist noch an Bord? Vielleicht gibst du uns jetzt mal eine Erklärung für das, was gerade geschieht? Was hat der Alarm zu bedeuten? Worin besteht die Gefahr, der sich das Schiff ausgesetzt sieht, und weshalb ist die KI abgestürzt?« »DIES IST EINE NACHRICHT, DIE MIT EINER ZEITSCHALTUNG AKTIVIERT WURDE. WENN DU SIE ERHÄLTST, JOHN CLOUD, WERDE ICH NICHT MEHR AN BORD SEIN. ICH HIELT ES FÜR ANGEMESSEN, DICH ÜBER EINIGE DINGE ZU INFORMIEREN. SO HABE ICH DAS SCHIFF NICHT ALLEIN VERLASSEN, SONDERN ZUVOR SÄMTLICHE RISIKOFAKTOREN FÜR DIE SICHERHEIT DER RUBIKON BESEITIGT.« »Damit meint er Prosper!«, entfuhr es Jarvis ungehalten. Cloud hörte weiter zu. »DASS PROSPER MÉRIMÉE EINE ZEITANOMALIE IN SICH TRÄGT, DIE ZUM FEHLSPRUNG DER RUBIKON FÜHRTE, DÜRFTE INZWISCHEN WOHL AUCH UNTER EURESGLEICHEN ALS UNSTRITTIG GELTEN. ICH HABE IHN DAHER … ENTFERNT. ABER WENN DU GLAUBST, DASS DIES DIE EINZIGE URSACHE FÜR DIE BEEINFLUSSUNG EURER SPRUNGTRIEBWERKE WAR, SO IRRST DU. ICH HABE SEINE GESAMTE … ZIRKUSTRUPPE EBENFALLS VOM SCHIFF ENTFERNT. SIE STELLTEN EBENSO POTENZIELLE GEFAHRENQUELLEN DAR WIE DIE FRAU NAMENS SARAH CUTHBERT …«
Eine Flut von Gedanken brandete durch Clouds Hirn. Was hatte die Entität mit all den Genannten angestellt? Sie einfach getötet – oder nur entführt? In Gefilde, die Cloud und der Besatzung der RUBIKON-Crew unzugänglich waren? Wo mochten sie stecken? Ein kalter Schauder überkam Cloud. Mit vielem hatte er gerechnet – aber nicht mit dieser kompromisslosen Kaltschnäuzigkeit, die Kargor an den Tag legte. Nahezu fassungslos hörte er zu, wie die Entität in ihrer Erklärung fortfuhr …
4. Kapitel – Raumschlacht um Nar'gog Zeitebene Scobee, ca. 2550 n. Chr. Scobee sah, wie Porlac eine holografische Positionsübersicht aktivierte. Die Stimmen des Granogk schwollen zu einem schrillen Chor an. Aber es bestand offensichtlich jetzt Einigkeit darüber, was zu tun war. Der Himmel über Nar'gog war von einer Raumschiff-Armada erfüllt. Überall schwebten die Schiffe empor zur Stratosphäre des Jay'nac-Planeten, um den Ankömmlingen begegnen zu können. Hunderte von kristallinen Großeinheiten starteten von der Oberfläche Nar'gogs. Dazu kam eine ungeheure Zahl kleinerer Schiffe, sie ging in die Tausende. »Was geschieht jetzt?«, fragte Scobee. Porlac erläuterte es ihr. »Wir versuchen permanent, Kontakt aufzunehmen. Aber unsere Kommunikationsversuche werden ignoriert. Da bleibt nur eine Möglichkeit.« »Der Kampf.« »Ja.« Seid ihr dazu denn stark genug?, meldeten sich die Gedanken von Siroona mit einer deutlich spöttischen Note. »Das wird sich herausstellen«, lautete Porlacs nüchterne Erwiderung. Auf der Positionsanzeige war zu erkennen, wie sich fast die gesamte verfügbare Flotte der Jay'nac um die CHARDHIN-Perle sammelte. Die gigantische Kugel hatte indessen ihre Geschwindigkeit verringert und erheblich abgebremst, bewegte sich allerdings immer noch langsam auf Nar'gog zu, sodass das Objekt für einen Betrachter an der Oberfläche des Planeten immer größer wurde. Ein mehr als imposanter Anblick. Scobee fragte sich, wer sich wohl an Bord der Perle befinden
mochte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Gloriden dazu in der Lage gewesen wären, eine CHARDHIN-Station aus der Verankerung jenseits des Ereignishorizontes zu lösen und letztlich wie ein Raumschiff zu manövrieren. Die Gloriden waren schließlich von den ERBAUERN nur zur Verwaltung dieses fantastischen Erbes eingesetzt worden – ohne die verwendete Technik wirklich bis in die letzte Konsequenz zu verstehen. Aber wer dann?, ging es ihr durch den Kopf. Die ERBAUER? Eine andere Schlussfolgerung war eigentlich undenkbar. Wer sollte sonst das immense technisch-naturwissenschaftliche Wissen mitbringen, das zweifellos nötig war, um ein solches Objekt zu bewegen – noch dazu mit dieser Effizienz und Zielstrebigkeit? Scobees Eindruck nach hatten die Gloriden noch nicht einmal gewusst, dass dies überhaupt möglich war. Die androgynen Wesen, die nach Belieben zwischen einem energetischen und physisch fassbaren Status hin- und herwechselten, waren eben mal in der Lage, die vorgefundene Technik der ERBAUER zu benutzen, aber sie durchschauten sie nicht wirklich. Ihnen fehlte ein Verständnis der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten des Universums, das tief genug war, um daraus technische Möglichkeiten von so gigantischen Ausmaßen herauszudestillieren, wie es das universelle Netz der CHARDHIN-Perlen darstellte. In all den Äonen, in denen die Gloriden die Perlen verwaltet und das dazugehörige Transportsystem aufrechterhalten hatten, waren sie niemals imstande gewesen, die vorgefundene Technik auch nur um einen Deut weiterzuentwickeln. Es gab nicht einmal gloridische Modifikationen. Und noch eine weitere Frage stellte sich für Scobee: War es die CHARDHIN-Perle aus dem Zentrum der Milchstraße, die hier im Nar'gog-System vorstellig wurde? Oder stammte sie aus einer ganz anderen Galaxie? Alles eine Frage des Antriebs, dachte Scobee. Vermutlich wurde eine Art Transition durchgeführt. Demnach könnte sie fast von überall hergekommen sein. Und im Gegensatz zur Crew der RUBIKON dürften diese Superwesen gegebenenfalls auftretende temporale Effekte im Griff gehabt
haben. Schließlich hatten die legendären ERBAUER derlei Nebenwirkungen ja auch jenseits des Ereignishorizontes von schwarzen Löchern in den Griff bekommen – und das war eine wesentlich anspruchsvollere Aufgabe. Auf der Positionsanzeige war jetzt erkennbar, wie sich die Jay'nacSchiffe um das goldene Riesenobjekt gruppierten und es einkreisten. Auf allen nur erdenklichen Frequenzen und Kanälen wurden in sämtlichen bekannten Codes Warnungen abgegeben. Ohne Erfolg. Die Keelon beteiligten sich ebenso wie die Felorer sehr intensiv an diesem Versuch einer Kontaktaufnahme. Aber das goldene Objekt zeigte allen Bewohnern des Nar'gog-Systems nur die kalte, metallisch wirkende Oberfläche. Das Granogk gab schließlich Feuerbefehl für eine Warnsalve. Von allen Seiten schossen Strahlenbahnen von geringer bis mittlerer Intensität auf die Außenhaut der CHARDHIN-Perle zu. Doch die Wirkung blieb aus. Es gab keinerlei Beschädigungen – und auch keine Reaktion der Perlenbesatzung, wenn man einmal davon absah, dass das Objekt seine Geschwindigkeit nun auf nahezu null abgesenkt hatte. Aber ob das wirklich eine Reaktion auf den Angriff war, konnte niemand genau sagen. Es war ebenso gut möglich, dass die Perle nun einfach bereits die angestrebte Zielposition erreicht hatte. Was auch immer ihre Besatzung dort vorhaben mag!, ging es Scobee schaudernd durch den Kopf. Die Kristallbrocken können nicht kämpfen, lautete Siroonas herablassender Kommentar über die Abwehr der Jay'nac. Eine Flotte von Foronen wäre anders gegen den Aggressor aufgetreten. Die Jay'nac offenbaren erbärmliche Qualitäten … Erneut wurde eine Salve befohlen. Diesmal feuerten die Jay'nac-Schiffe jedoch mit sehr viel höherer Intensität. Von Warnschüssen konnte nicht mehr die Rede sein. Die Nachricht verbreitete sich rasch, dass ein unsichtbarer Feldschirm die Perle einhüllte und vor dem vernichtenden Einfluss des
Beschusses schützte. Die Perle bewegte sich weiter und verharrte schließlich in einer Höhe von exakt zehn Kilometern direkt über dem Granogk – bis zu ihrer Unterseite gemessen. Der optische Eindruck war überwältigend. Dieses riesige Objekt lastete schwer auf den Jay'nac, die sich auf der Oberfläche Nar'gogs befanden. Bewegung kam in die Kristallwesen. Es gab bereits einige unter ihnen, die das Gebiet unterhalb der Perle verließen. Manche stiegen empor, um die Verteidiger in ihrem wenig Erfolg versprechenden Kampf zu unterstützen. Andere wiederum wollten sich wohl einfach nur aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen. Jede Flucht ist sinnlos, überlegte Scobee. Die Herren der Perle – wer auch immer das im Augenblick sein mag – haben zweifellos die Macht, den gesamten Planeten zu zerstören, wenn sie dies beabsichtigen. Scobee bekam am Rande mit, dass Porlac offenbar in heftige Beratungen mit dem Granogk verstrickt war, die allerdings schon nach ungewöhnlich kurzer Zeit beendet waren. Danach gab Porlac seinen Befehl, der auch vom Granogk gestützt wurde, an die Flotte aus. Die Jay'nac-Schiffe wurden angewiesen, eine Kugelschale um das Objekt zu bilden und es auf diese Weise einzuschnüren. Es sollte völlig von der Außenwelt abgeschnitten werden. Schon Sekunden später startete von der Oberfläche Nar'gogs eine weitere Armada aus Schiffen vielfältigster Art und Größe. Bei den meisten handelte es sich einfach um Jay'nac-Körper, die eine raumtaugliche Form annahmen und mit Geschützen ausgestattet worden waren. Sofort begannen sie, eine Art Kokon um die CHARDHINPerle zu bilden. Die einzelnen Schiffe formierten sich zu einem Verbund. Die Operation ging sehr koordiniert vonstatten. Warum wehrt sich die CHARDHIN-Perle nicht?, fragte sich Scobee. Die Besatzung hätte mit Sicherheit die Möglichkeit dazu …
Von Torstation 1 aus verfolgte Felvert die Operation der Jay'nac-
Flotte. Ein kleinerer Teil positionierte sich in der Nähe der Station, um sie im Notfall verteidigen zu können. Denn wenn es die Jay'nacArmada nicht schaffen sollte, den Feind abzuwehren, mussten andere Maßnahmen ergriffen werden. Maßnahmen mit erheblichem Risikopotenzial, an die Felvert im Moment noch nicht denken mochte. Auf einem großen Holo-Kubus an der Schnittstelle der Steuer-Acht war die CHARDHIN-Perle nur noch zu etwa zwanzig Prozent zu sehen, der Rest war bereits von den Jay'nac eingeschlossen. Die Kristallschiffe strömten zusammen und bildeten anschließend Fragmente einer löchrigen Kugelschale. »Wir können nur hoffen, dass die Jay'nac-Flotte groß genug ist, um die Perle vollständig zu isolieren«, äußerte sich Boolvert. »Und dann?«, fragte Felvert. »Die Perle wird nicht mehr manövrierfähig sein und sich ergeben müssen.« »Wenn das wirklich die Konsequenz wäre, hätte sich die Besatzung der Perle – aus wem auch immer sie nun bestehen mag – längst gewehrt, Boolvert.« »Warum tut sie es dann nicht?« »Ich weiß es nicht, Boolvert.« »Vielleicht wartet man auf einen günstigen Moment für einen Gegenangriff.« »Möglich.« »Aber du denkst an etwas anderes, nicht wahr, Felvert?« Der Felorer bewegte seinen wurmartigen Körper etwas nach vorne. »Ich denke, dass wir einen Aspekt in unseren Betrachtungen bisher nicht wirklich berücksichtigt haben.« »Und der wäre?« »Ich habe Temporalmessungen an dem Objekt vorgenommen. Dabei bin ich zu sehr seltsamen und teilweise widersprüchlichen Ergebnissen gekommen.« Felvert nahm ein paar Schaltungen vor und öffnete weitere holografische Displays in Säulen- und Würfelform, um neue Berechnungen anzustellen. »Bist du schon zu einem Ergebnis gekommen?«
»Nur zu einem vorläufigen.« »Und das wäre?« »Die Widersprüche in den Temporalwerten ließen sich mathematisch erklären, vorausgesetzt man nimmt an, dass dieses Ding seit Beginn des Universums existiert.« Boolvert glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. »Das dürfte unmöglich sein. Es würde bedeuten, dass das Objekt älter als seine Schöpfer wäre – und ich dachte eigentlich, dass wir uns darüber einig wären, dass es sich um ein künstlich geschaffenes Artefakt handelt.« Ein ganzer Schwall von Einwänden prasselte nun auf Felvert ein. Es dauerte daher eine ganze Weile, ehe er wieder zu Wort kam. »Alles, was ich gesagt habe, ist, dass mit diesem Objekt auf temporaler Ebene etwas nicht stimmt«, sagte er dann. »Und das bedeutet, wir müssen uns jeden Schritt genau überlegen.« »Scobee weiß einiges über dieses Objekt«, erklärte das Porlac-Hologramm. »Sie nennt es eine CHARDHIN-Perle.« »Dann möchte ich mit ihr reden«, verlangte Felvert. »Und zwar unverzüglich.«
Scobee trat mit Felvert in Verbindung und fasste ihm gegenüber so knapp wie möglich zusammen, was sie über die CHARDHIN-Perlen wusste. Viel war es nicht. Sie berichtete ihm von den Gloriden und den unbekannten ERBAUERN, von denen es keine echte Spur gab. Sie beschrieb das kosmische Netzwerk, das die Gloriden in Gang gehalten hatten. »Waren die Gloriden jene Spezies, mit deren Raumschiff du unsere Torstation im intergalaktischen Leerraum erreicht hast?«, erkundigte sich Felvert. Scobee bestätigte dies. »Ja.« »Hast du eine Erklärung dafür, dass diese Perle, wie du sie nennst, seit Anbeginn der Zeiten zu existieren scheint?« »Sie existiert auch bis zum Ende der Zeiten«, erwiderte Scobee.
»Oh, ich wusste nicht, dass Hellsichtigkeit zu den Fähigkeiten deiner doch eher mit bescheidenen geistigen Fähigkeiten ausgestatteten Rasse gehört«, gab Felvert fast schon süffisant zurück. Seltsam, dachte Scobee. Bei jedem anderen hätte das jetzt so richtig herablassend geklungen. Bei ihm nicht. Da klingt es eher … verzeihlich. Sie blieb gelassen, während Felvert das Hologramm, das sie wiedergab, aufmerksam mit seinen Sinnen erfasste. »Die Gloriden nennen dieses Phänomen Permanenz«, sagte sie. »Die Perlen sind so in der Zeit verankert, dass sie permanent existieren. Wie sie das schaffen, weiß ich nicht. Und mir ist auch nicht klar, ob diese Permanenz aufgehoben ist, sobald eine Chardhin-Perle die Zone hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs verlässt.« »Ich verstehe«, sagte Felvert. »Ehrlich gesagt, wusste ich bisher nicht einmal, dass die Perlen überhaupt dazu in der Lage sind, ihre Sphäre auch zu verlassen. Meines Wissens haben die Gloriden dies niemals geschafft – aber vielleicht bin ich auch nur falsch unterrichtet, oder ich habe sie unterschätzt.« »Fürs Erste wissen wir genug«, erklärte Felvert. Was bin ich für ihn?, dachte Scobee. Ein Affe, der etwas von der Relativitätstheorie aufgeschnappt hat und versucht, es wiederzugeben? So in der Art muss ich mir meinen Status wohl vorstellen … Und ich kann ihm dabei noch nicht einmal widersprechen! Die Verbindung wurde unterbrochen.
Eine Meldung der Keelon traf ein, wonach auch der jüngste – und letzte – Versuch einer Verständigung gescheitert war. Und die Außenhülle der CHARDHIN-Perle ortungstechnisch zu durchdringen, erwies sich als ebenso unmöglich, wie ihr durch Beschuss mit Energiestrahlen zu schaden. »Eine Meldung der Jay'nac-Flotte trifft ein«, meldete einer der untergeordneten Tormeister. »Der Kokon um die Perle ist vollendet. Der Feind ist eingeschlossen. Nach Ansicht des Granogk bleibt ihm nur noch die Möglichkeit der Kapitulation.«
»Schön wär's«, murmelte Felvert, ihm fehlte der Glaube. »Immerhin hat es keine weitere Positionsveränderung der Perle gegeben«, stelle Boolvert mit Blick auf die Ortungsanzeigen fest. »Das könnte man doch als gutes Omen deuten, oder?« »Oder als Zweckoptimismus«, erwiderte Felvert, der sich unbeirrt seinen Berechnungen widmete.
»Wir haben es geschafft«, glaubte Porlac. Und das Granogk teilte seinen Optimismus. »Diese Perle wurde dazu geschaffen, den Gewalten jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs zu trotzen«, stellte Scobee indessen sehr viel nüchterner fest. »Wer diesen Kräften die Stirn bietet, wird sich durch das, was man auf Nar'gog aufzubieten hat, kaum beeindrucken lassen.« Ausnahmsweise sind wir mal einer Meinung, kommentierte die Gedankenstimme Siroonas ihre Worte.
»Die Keelon messen eine temporale Unregelmäßigkeit an. Leichte Verzerrungen in der Raumzeit«, meldete Boolvert. »Sie umgibt das Objekt und breitet sich aus.« Felvert war wie elektrisiert. »Das passt ins Bild«, stellte er fest, ohne dass einer der anderen Tormeister dies begriff. Er blickte zu dem Holo-Kubus und wartete zwei Sekunden. Dann brach das Inferno aus. Das habe ich befürchtet!, dachte Felvert. Aber es gab wohl keine Möglichkeit mehr, das Unglück aufzuhalten … Und jetzt wird uns nichts anderes übrig bleiben, als den ANDEREN Weg zu beschreiten …
Augenblicke, bevor am Himmel von Nar'gog die Hölle losbrach, hatte Siroona mit ihren hochsensiblen Foronensinnen eine Wahrnehmung, die sie nicht näher zu erklären vermochte. Sie bildete jeden-
falls das Kopfteil ihrer Rüstung zurück und ließ es anschließend wieder über ihr augenloses Gesicht fahren, so als nähme sie an, dass ihre Empfindung etwas mit dem Anzug zu tun hätte. Aber das war offenbar nicht der Fall. Während sie zuvor überwiegend am Boden gekauert hatte, um die Kräfte ihres alt gewordenen Körpers so sparsam wie möglich zu verwenden, stand sie jetzt auf und ging ein paar Schritte völlig unmotiviert auf und ab. »Was ist los?«, fragte Scobee. Schweig!! In diesen Gedankenbefehl legte sie so viel Präsenz dass Scobee schon fast an die gemeinsamen Zeiten auf der RUBIKON erinnert wurde. Scobee kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Sie blickte zu dem riesigen Objekt am Himmel, das wie ein Mond kurz vor dem endgültigen Fall über dem Granogk hing. Die CHARDHINPerle und der sie umgebende Kokon aus Jay'nac-Raumschiffen. Einzelne Elemente dieser Schale platzten jetzt heraus. Feuer kam darunter zum Vorschein. Die kristalline, kugelförmige Hülle, die von den Jay'nac-Schiffen geformt worden war, brach an mehreren Stellen gleichzeitig auseinander. Risse mäanderten an den Übergängen der einzelnen Schiffe über die Oberfläche. Der Verbund der Jay'nac-Schiffe brach auseinander, und darunter breitete sich eine Glutwolke aus. Zuerst wurden die einzelnen Einheiten davongeschleudert, doch eine unfassbare Kraft hielt sie zurück und kehrte diesen explosiven Vorgang um. Die Jay'nac-Schiffe wurden in einen glühenden Schlund gesogen, der wie das Tor zur Hölle wirkte. Die CHARDHIN-Perle hatte sich in dieses feurige Monstrum verwandelt. Ein Jay'nac-Schiff nach dem anderen verschwand darin – angezogen von einer Kraft, gegen die die Antriebsysteme nicht den Hauch einer Chance hatten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und der Großteil der zur Verteidigung des Nar'gog-Systems bereitstehenden Kampfraumschiffe war ein Opfer dieses alles verschlingenden Molochs geworden. Manche feuerten in ihrer Verzweiflung die Strahlenkanonen mit
höchster Intensität ab. Aber das nützte den Jay'nac nichts. Einheiten, die herbeieilten, um die in Not geratenen Schiffe in Schlepp zu nehmen, gerieten ebenfalls in den Einflussbereich jener mörderischen Kräfte, die das Gros der Flotte bereits in den sich immer weiter öffnenden Feuerschacht gezogen hatten. Schließlich blieb ein Ballon aus purer Glut übrig. Aber diese Glut verschwand innerhalb weniger Augenblicke. Darunter kam wieder die Perle zum Vorschein. So golden und makellos glänzend wie zuvor. Scheinbar unverwundbar hing sie tief am Himmel von Nar'gog. Eine Materie gewordene Drohung. »Der Großteil der Jay'nac-Verteidigung ist jetzt eliminiert worden«, stellte Siroona laut fest. »Ich denke, das ist das Ende.« Scobee konnte noch immer kaum fassen, was sie soeben gesehen hatte. Sie beobachtete Porlac und hörte dem Geraune des Granogk zu. Verschiedene Lösungen wurden erwogen. Aber nur eine überzeugte die Führungsriege der Jay'nac. Porlac stellte Kontakt zu Felvert und den Keelon her. »Wir brauchen eure Hilfe«, bekannte der Sprecher des Granogk. »Andernfalls sind wir rettungslos verloren.«
»Die Sache klingt leichter, als sie sein wird«, gab Felvert zu bedenken, nachdem er den Ausführungen des Jay'nac gefolgt war. Porlac war in Form einer Holografie virtuell anwesend und hatte zu ihm gesprochen. Außerdem bestand eine Konferenz-Schaltung zu den Keelon. »Es ist die einzige Möglichkeit, die uns bleibt«, erklärte Porlac. »Und das Granogk teilt diese Meinung einhellig. Wenn ihr oder die Keelon eine Alternative wisst, dann nennt sie uns jetzt.« Das Anliegen, mit dem Porlac an die Felorer und die Keelon herangetreten war, lief darauf hinaus, das Auftauchen der CHARDHIN-Perle ungeschehen zu machen. Auf eine Manipulation der Zeit. »Was soll so schwierig daran sein?«, fragte das Porlac-Holo-
gramm. »Schließlich hat das schon einmal geklappt, als das zerstörte Nar'gog-System wiedererstanden ist und von der Außenwelt abgeschirmt wurde. Und als wir jüngst der temporalen Krise ausgesetzt waren, habt ihr ebenfalls eingegriffen – mit derselben Technik, wie ich vermute. Es gibt also kein Argument, ausgerechnet jetzt zu zögern.« »Doch, das gibt es«, widersprach Felvert. »Wir haben noch nie ein Objekt mit temporaler Permanenz ungeschehen gemacht. Dieses Ding hat vom Anfang des Universums an existiert und wird, so wie es scheint, auch bis in alle Ewigkeit ›da‹ sein. Die Temporalparameter habe ich bereits eingehenden Untersuchungen unterzogen und dazu ein Rechenmodell entwickelt.« »Mit welchem Ergebnis?« »Mit dem Ergebnis, dass die Folgen eines Eingreifens nicht absehbar wären.« »Was sagen die Keelon dazu?«, wollte Porlac wissen. Die herzmuskelförmigen Meister der Zeitmanipulation hielten sich zunächst zurück. Sie mussten erst ihre eigenen Berechnungen anstellen. Doch Porlac und das Granogk wollten nicht länger warten. Sie konnten es auch nicht. »Wenn dieses Objekt uns angreift, ist Nar'gog verloren«, stellte er klar. »Wir haben so gut wie keine Verteidigung mehr. Nur ein kärglicher Rest ist uns geblieben, und unsere Waffen sind offenbar wirkungslos. Wir müssen alles auf eine Karte setzen!« Scobee beobachtete die Meinungsbildung im Granogk. Dich fragen sie nicht einmal, ob du vielleicht noch mehr weißt, stellte Siroona fest. »Und sie haben recht damit«, erwiderte Scobee. »Ich kann ihnen nicht sagen, was geschieht, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen. Mehr als die wenigen Dinge, die ich von den Gloriden weiß, konnte ich ihnen nicht vermitteln.«
»Die Felorer werden jetzt zusammen mit den Keelon versuchen, den optimalen Zeitpunkt zu ermitteln, an dem sie die Existenz dieses
Objekts auslöschen können«, erklärte Porlac, an Scobee gewandt. »Dann sollten wir ihnen wohl die Daumen drücken«, gab sie zurück. Porlac reagierte mit Unverständnis. »Meinem Kenntnisstand nach bezeichnet der Begriff Daumen einen Teil des Greiforgans der Menschen.« »Das ist korrekt«, sagte Scobee. »Aber weshalb möchtest du einen Teil deines Greiforgans drücken?« »Das ist eine Redensart meines Volkes. Damit ist gemeint, dass man jemandem viel Glück bei einem Vorhaben wünscht.« »Vielleicht sprechen wir ein anderes Mal darüber, weshalb es dabei notwendig ist, das Greiforgan zu misshandeln, und worin dann die eigentliche Bedeutung dieser Symbolik liegt«, erwiderte Porlac. Die Emotionen eines Jay'nac einzuschätzen, fiel Scobee sehr schwer – sofern man bei den Anorganischen überhaupt von Emotionen sprechen konnte. Andererseits glaubte sie, deutliche Anzeichen von Nervosität bemerken zu können. Es wurmt ihn, dass er im Moment zur Untätigkeit verdammt ist, dachte sie. Wie wir alle, ist auch er gezwungen, abzuwarten, ob die Felorer und die Keelon eine Möglichkeit finden, den goldenen Koloss unschädlich zu machen, ihn auszuradieren – so als hätte es ihn nie gegeben …
Es blieb nicht viel Zeit, um zu entscheiden. Die Keelon schickten ein Rechenmodell, nach dem ein Zeitpunkt, der ein paar Monate in der Vergangenheit lag, ideal dazu geeignet war, um den Angriff der goldenen Riesenkugel zu verhindern. »Ich persönlich würde gerne wissen, wie die Keelon auf diesen Wert kommen«, gestand Boolvert. »Aber ich nehme an, dass uns keine Zeit bleibt, ihre Berechnungen zu überprüfen.« »Ich bin zumindest so weit, sagen zu können, dass es durchaus ein paar Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Analyse gibt«, erklärte Felvert. »Der von den Keelon anvisierte Zeitpunkt scheint eine Art temporale Bruchstelle zu sein. Wenn man dort ansetzt, könnte es
möglicherweise gelingen, die Perle aus ihrer Permanenz herauszuhebeln, ohne damit ein Paradoxon zu erzeugen.« »Weshalb sollte denn dadurch kein Paradoxon erzeugt werden?«, fragte Boolvert. »Da bin ich entschieden anderer Meinung. Ich habe zwar keine Ahnung, wie diese ominösen ERBAUER es geschafft haben sollen, etwas herzustellen, das von Anfang bis Ende des Universums existiert …« »… was ja an sich schon ein Zeitparadoxon wäre!«, mischte sich Yyvert ein, ein noch junger Felorer, der sehr viel kleiner als die anderen Tormeister war. Das lag an seiner Jugend. Es war noch nicht lange her, als er durch das hastige Zusammenwerfen von nur drei verschiedenen Achter-Strukturelementen und die dazugehörige, ebenso hastige mentale Entleerung gezeugt worden war. Bevor es dazu kam, hatte einer der Beteiligten Mitleid gehabt und noch ein weiteres achtförmiges Element geopfert, sodass Yyvert in der ersten Zeit seiner Existenz nicht ganz so unscheinbar daherkommen musste. Yyvert galt unter den Felorern als hochbegabtes Talent. Aber sowohl sein körperliches wie auch sein geistiges Wachstum waren noch längst nicht abgeschlossen. Normalerweise fand ein Felorer erst dann als Tormeister Verwendung, wenn er mindestens 70 Prozent der durchschnittlichen Anzahl von achtförmigen Elementen besaß. Yyvert besaß nicht einmal dreißig. Was hätte aus ihm werden können, wenn seine Schöpfer nicht so ungeduldig gewesen wären und mit ihrer mentalen Entladung hätten warten können, bis sich das eigentlich vorgeschriebene Dutzend an Tormeistern zusammenfand, um ihn zu beseelen, dachte Felvert beiläufig, während er ein paar Schaltungen an einer Kristallkonsole vornahm. »Die temporale Sollbruchstelle ist angepeilt«, meldete Boolvert. »Wir brauchen nur noch die Schaltung auszulösen.« »Wenn wir scheitern, könnte eine temporale Schockwelle die gesamte Existenzzeit des Universums durchlaufen«, gab Yyvert zu bedenken. »Niemand weiß, wie sich das auswirkt.« »Wir haben keine andere Wahl«, meinte Felvert. Die Kommunika-
tion mit den Keelon und dem Granogk lief auf Hochtouren. Es gab niemanden, der diese Auffassung nicht teilte. Schließlich war allen bewusst, dass die Besatzung der Perle mächtig genug war, um Nar'gog mit einem einzigen entschlossenen Angriff zu zerstören. »Das Ziel der Fremden ist es offenbar, unsere Kapitulation zu erzwingen«, stellte Porlac fest. »Aber dazu wird es nicht kommen.« Felvert war noch nicht hundertprozentig überzeugt. Ihm war klar, dass es unmöglich war, sämtliche Risiken auszuschließen. Niemand konnte das. Und die Bedenken, die Yyvert geäußert hatte, waren nicht von der Acht zu weisen. »Wir wissen, was beim Ausradieren eines unerwünschten Phänomens aus der Zeitlinie geschieht«, begann Yyvert von Neuem. »Wir wissen auch, wie Zeitparadoxa eliminiert werden können. Aber der Fall liegt hier anders. Wir setzen an einer temporalen Sollbruchstelle an und erzeugen möglicherweise eine Resonanz, die die Stabilität unserer eigenen Zeitlinie gefährdet.« »Wir riskieren es«, entschied Felvert schließlich. »Dieses Objekt gefährdet schließlich ebenfalls unsere Existenz, und gewiss nicht unbeträchtlich! Es hat bereits die Flotte der Jay'nac vernichtet. Einen weiteren Schlag werden wir nicht verwinden können …« Felvert gab das Signal zum Eingreifen. Und dann blieb nur das bange Warten darauf, was geschehen würde …
Scobee blickte zum Himmel. Das Wispern des Granogk verriet ihr, dass etwas im Gange war, das sie mit ihren vergleichsweise primitiven menschlichen Sinnen noch nicht erfasste. Auch Siroona war plötzlich aufmerksamer als sonst. Es geschieht etwas mit dem Ding, erklärte sie in einem sehr diffusen Gedankenstrom, der auch nicht nur an Scobee gerichtet war, sondern eher wie eine telepathische Streuemission wirkte. Eine Flut von Bildern und Gedanken suchten Scobee in diesem Augenblick heim. Das Ganze fühlte sich wie ein sehr intensiver,
aber auch sehr chaotischer Tagtraum an. Bilder aus der Vergangenheit, der Zukunft und möglichen Parallelrealitäten mischten sich zu einem bizarren Konglomerat, bei dem Scobee zunehmend Schwierigkeiten hatte zu ergründen, was nun tatsächlich zur Kontinuität ihrer eigenen Zeitlinie gehörte. Temporaler Stress – das könnte das richtige Wort dafür sein!, dachte sie. Oh, du empfindest so etwas auch?, fragte Siroona in einem sehr viel konzentrierteren Gedankenstrom. So viel Sensibilität hätte ich einer primitiven Spezies wie der deinen gar nicht zugetraut! Unverhohlener Spott schwang in Siroonas Gedanken mit. Aber ihre telepathische Stimme verstummte, als die gewaltige Kugel am Himmel von Nar'gog innerhalb weniger Augenblicke verblasste. Das Zentralgestirn Nar'gogs stand inzwischen hoch am Himmel. Sein Licht schien nun durch die transparent gewordene CHARDHIN-Perle hindurch, die schließlich gänzlich entmaterialisierte.
Ein erleichtertes Seufzen brandete über Nar'gog. Es erfasste nicht nur das Granogk, sondern alle lebenden Jay'nac, die die Oberfläche des Planeten bevölkerten. Porlac wandte sich an Scobee. »Du wirst uns über diesen Invasor alles berichten müssen, was du weißt. Jede Einzelheit wird unseren Verbündeten, den Keelon und Felorern, als Grundlage ihrer Studien dienen, sodass wir gegen einen Angriff weiterer Objekte dieser Art besser gewappnet sein werden!« »Nun, ich sagte bereits, dass ich nicht viel mehr darüber sagen kann. Ich war zwar schon mal an Bord einer solchen CHARDHINPerle, muss aber gestehen, dass ich das Meiste von dem, was dort geschah, nicht wirklich verstehen konnte.« »Das macht nichts«, erwiderte Porlac. »Trotzdem können deine Beobachtungen wertvoll sein. Dieses Mal mussten wir schnell handeln. Aber nachdem wir erfolgreich waren, werden wir jetzt mehr Zeit haben, um uns auf das eventuelle Auftauchen weiterer goldener Kugeln vorzubereiten – und darauf zu reagieren.« »Ehrlich gesagt ist mir das Ziel dieser Operation …« Scobee ver-
mied instinktiv das Wort Angriff, da es ihr nicht wirklich klar war, ob es sich tatsächlich um einen solchen im klassischen Sinn gehandelt hatte. »… noch immer nicht klar. Was erhoffte sich die Besatzung der Perle, hier auf Nar'gog zu erreichen?« »Eine Frage, auf die ich auch gerne eine Antwort wüsste«, bekannte Porlac. Eine Meldung der Keelon traf ein. Demnach war das Nar'gog-System wieder vollkommen vom Rest der Milchstraße isoliert. »Wir können uns also in Sicherheit wiegen«, stellte Porlac gegenüber Scobee, Siroona und dem Granogk fest. »Selbst wenn jetzt plötzlich noch weitere sogenannte CHARDHIN-Perlen auftauchten, so wäre es ihnen unmöglich, in unser System einzufliegen.« Es sei denn, sie sind in Wahrheit schon längst da!, ging es Scobee plötzlich mit einem Schaudern durch den Kopf. Schließlich ist niemandem von uns auch nur in Ansätzen bewusst, was temporale Permanenz wahrhaftig bedeutet … Siroona fragte: Warum behältst du diesen Gedanken für dich, Scobee? Scobee fluchte innerlich. »Ich werde mir wieder mehr Mühe geben, meine Gedanken abzuschirmen«, sagte sie. Das kannst du gar nicht!, lautete die zynische Erwiderung der Foronin. Scobee beobachtete schon seit einer ganzen Weile, dass sich die Kräfte der Foronin zu erholen schienen. Sie mischte sich ein, zwang Scobee mitunter Gedanken auf und war inzwischen auch wieder in der Lage, ihre Gedanken zu lesen, ohne dass Scobee es ihr gestattete. Ich werde etwas unternehmen müssen!, entschied sie.
Felvert verließ die Steuer-Acht von Torstation 1. Er wollte sich ein wenig ausruhen. Die Abwehr der goldenen Kugel hatte die geistigen Kräfte des Felorers bis aufs Äußerste angestrengt. Jetzt brauchte er dringend Regeneration. Aber die Gedanken sprudelten nur so. Sie ließen sich einfach nicht aufhalten, Fragen über Fragen taten sich auf. Die wichtigste war mo-
mentan ganz sicher, mit was für einem Feind sie es hier zu tun hatten. Waren die Herren der Perle – wer immer das nun auch sein mochte – vielleicht auch für das Zeitentartungsfeld verantwortlich, das im Rest der Galaxis die temporale Geschwindigkeit so radikal beschleunigt hatte? Waren sie auch dafür verantwortlich, dass dieses Feld verschwunden war und plötzlich wieder scheinbare Normalität vorherrschte? Wenn Scobees Worte auch nur einen Hauch von Wahrheit enthielten, dann waren sowohl die Gloriden als auch die legendären ERBAUER ungeheuer mächtige Wesen, deren temporale Fähigkeiten vielleicht noch größer waren, als das Vermögen der Felorer und Keelon zusammengenommen. Felvert machte auf seinem Weg zum Meditationsbereich der Station an einer Konverterküche Halt. Felorer besaßen keinen eigenen Stoffwechsel. Dieser war in riesigen Energiewandlern ausgelagert, die alles Mögliche verarbeiten konnten. An diesen Konverterküchen existierten Dockingstationen, in die sich die Tormeister einklinkten, um sowohl mit Energie als auch mit den nötigen Nährchemikalien versorgt zu werden, die für den Körperaufbau nötig waren. Felvert klinkte sich in die Dockingstation ein und genoss den angenehm prickelnden Energiestrom. Durch Eingabe eines persönlichen Codes ließ dieser Energiestrom sich so modifizieren, dass die Vorlieben des Betreffenden berücksichtigt wurden. Anschließend ließ sich Felvert eine Reihe chemischer Verbindungen zuführen, an denen sein Körper im Augenblick laut eines Kurzdiagnose-Scans Mangel litt. Felvert neigte dabei etwas zur Fehlernähung. Zumindest, wenn man nach den Vorgaben des Diagnoseprogramms ging. Insbesondere starke Anteile an Schwefelverbindungen wurden von der felorischen Medo-Kontrolle mit äußerstem Misstrauen betrachtet. Felvert nahm einfach zu viele solcher Verbindungen zu sich. Da Felorer keine Ausscheidung kannten, sondern darauf angewiesen waren, dass die zugeführten Chemikalien vollständig in das körpereigene, in
achtförmigen Sektionen aufgeteilte Gewebe transferiert wurden, begegnete man Fehl-Ernährern mit Misstrauen. Schwefel sagte man eine halluzinogene und bisweilen auch bewusstseinsverändernde Wirkung nach. Es gab Schwefelverbindungen, die von Felorern geächtet wurden, weil sie süchtig machten. Und Felvert wusste nur zu gut, dass er selbst nahe daran war, abhängig zu werden. Wenn das publik wurde, war er auf seinem Posten als oberster Tormeister nicht mehr tragbar. Das wusste er sehr wohl. Schon deswegen nicht, weil er natürlich immer auch ein Vorbild für jüngere Felorer zu sein hatte, die ihm als Meister nacheiferten und davon träumten, einmal genauso große Fähigkeiten zu erwerben. An Felverts Körper begann sich bereits ein verräterischer Fortsatz zu bilden. Eine tote Acht. Gewebe, das unbeseelt war und nur die Körpermasse vermehrte. Selbst für die verfeinerten Sinne eines Felorers waren diese toten Achten zunächst einmal nicht von ganz gewöhnlichen Körpersegmenten zu unterscheiden. Aber dieses eine tote Segment würde nicht das einzige bleiben, wenn er weiterhin einen so hohen Anteil an Schwefel in sich hineinsog. Man hatte unter den Felorern bereits darüber beraten, ob die Chemikalienspender nicht mit automatischen Kontrollen versehen werden sollten. Aber dieses Maß an öffentlicher Kontrolle über das Verhalten des Einzelnen erschien der Mehrheit als völlig unverhältnismäßige Maßnahme. Aber die Minderheit, die genau dies forderte, wuchs. Wir werden sehen, was kommt!, dachte Felvert. Einstweilen kann ich jedenfalls noch so viel Schwefel zu mir nehmen, wie ich will. Und wie ich brauche … Felvert musste sich eingestehen, dass er immer höhere Schwefeldosen genommen hatte. Ich bin nicht der Einzige!, wusste er. Und wer konnte sich auch allen Ernstes angesichts der enormen Verantwortung, die auf den Schultern eines hochrangigen Tormeisters lastete, darüber wundern? Manipulationen an der Raumzeit und den Dimensionen waren ex-
trem gefährlich. Der kleinste Fehler konnte Katastrophen ungeahnten Ausmaßes bewirken. Die mentale Anspannung ließ sich durch die Teilnahme am Ritual zumindest teilweise im Griff halten. Aber dieselbe Anspannung fand ihre biochemische Entsprechung bis auf Molekularebene in jedem einzelnen Achter-Element, aus dem sich Felverts bizarrer Körper zusammensetzte. Auch dafür bedurfte es eines Ausgleichs. Und den vermochte sehr oft nur der Schwefel zu bieten. Schwefelhaltige Verbindungen verbesserten den Allgemeinzustand eines von übermäßigem Stress heimgesuchten Felorers. Der Preis mag sein, dass dafür der Geist auf lange Sicht versklavt wird, dachte Felvert. Dieses Risikos war sich jeder bewusst, der in die Parallele des Schwefels gefallen war, wie man unter Felorern sagte. Jeder wusste, dass dies auf viele Tormeister zutraf. Jeder wusste, dass die meisten von ihnen sonst kaum in der Lage gewesen wären, ihre Aufgabe zu erfüllen. Und doch verurteilte man den Schwefelkonsum auf das Heftigste. Aber das war eben die öffentliche felorische Doppelmoral. Und dass der Schwefel auf Dauer deine Persönlichkeit verändert?, meldete sich ein kritischer Kommentator aus dem hintersten Winkel von Felverts Bewusstsein. Hat das überhaupt kein Gewicht? Felvert kam nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten. Weder im Allgemeinen noch zur Besänftigung seiner Selbstzweifel. In diesem Augenblick ertönte nämlich ein schrilles Alarmsignal. Dieser Ton wäre das Einzige gewesen, was neunundneunzig Prozent aller Spezies davon wahrgenommen hätten. Aber für die Felorer transportierte er gleichzeitig noch weitere wichtige Informationen, die über die speziellen Sinneskanäle gesendet wurden. Felvert aktivierte seinen Kommunikator. Eine Holokugel bildete sich vor ihm. Boolvert meldete sich. Die Botschaft war ernüchternd: »Station 5 meldet das erneute Auftauchen eines goldenen Objekts an der Grenze des Nar'gog-Systems. Die Messungen ergaben, dass es sich um exakt dieselbe CHARDHIN-Perle handeln muss. Sie nimmt Kurs auf Nar'gog!«
»Und diesmal haben die Jay'nac nicht einmal eine Flotte, mit der sie sich verteidigen könnten!«, stellte Felvert fest. Der Appetit auf fragwürdige Schwefelverbindungen war ihm nachhaltig vergangen.
5. Kapitel – Die Rückkehr zur CHARDHIN-Perle Überall auf Torstation 1 hatte der Alarm für hektische Aktivität gesorgt. Auf den Korridoren war jetzt fast nur noch felorisches Einsatzpersonal zu finden. »Was ist los?«, sprach einer jener Jay'nac, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Bord der Torstation befanden, beim obersten Tormeister vor. Felvert brauchte einige Augenblicke, um sich mental auf den Jay'nac einzustellen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Jay'nac, die die Torstationen besuchten, war er nicht ausschließlich hier, um sich die Mentalstruktur des eigenen Bewusstseins ordnen zu lassen, sondern in ganz offizieller Mission. Im Auftrag des Granogk. Felvert kannte ihn. Sein Körper glich einem unregelmäßig geformten Klotz mit scharfen Kanten, der sich mit einem schabenden Geräusch über den blanken Boden bewegte. Er rutschte noch etwas näher auf Felvert zu. Das Geräusch, das dabei entstand, war für Felverts hoch entwickelte Wahrnehmungsfähigkeit kaum erträglich. Dass die Jay'nac in dieser Hinsicht sehr viel unempfindlicher waren, hatte Felvert zu akzeptieren gelernt. Es fiel ihm nicht allzu schwer, denn er musste neidlos eingestehen, dass sie auf anderen Gebieten Großes leisteten. Aber wie sich gezeigt hatte, reichte das nicht unbedingt aus, um sich selbst zu schützen. Das Zünglein an der Waage waren Spezies wie die Felorer oder die Keelon, deren hervorstechende Fähigkeiten und Potenziale in der zurückliegenden Krise lebensrettend gewesen waren. »Ein Vorsprung des Wissens ist wie der vorweggenommene Sieg in einer kriegerischen Auseinandersetzung«, hatte Jirandogonervert, ein berühmter felorischer Tormeister der Alten Zeit einmal
gesagt. Zumindest hatten nachfolgende Chronisten ihn in dieser Form überliefert. »Droovac, nicht wahr?«, fragte Felvert. »Richtig.« Man brauchte nicht unbedingt ein besonders guter Kenner der Jay'nac-Psychologie zu sein, um zu merken, dass Droovac von seinem Gegenüber erwartete, erkannt zu werden. Angesichts der sehr individuellen körperlichen Merkmale eines Jay'nac war das auch keineswegs zu viel verlangt. Die neue Krise, in der sich das Nar'gog-System befand, kam für Droovac völlig überraschend. Aber eigentlich war jede Krise auch eine Möglichkeit, sich zu profilieren. Vielleicht trachtete er danach, sich einmal zum Sprecher des Granogk aufzuschwingen. Allerdings hatte Droovac zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, etwas zur Stabilisierung der Lage beisteuern zu können. Felvert hatte den Eindruck, dass Droovac auch ein wenig überfordert war. Aber das Granogk hat ihn in seiner unergründlichen Weisheit nun einmal hierhergeschickt!, meldete sich eine sarkastische Gedankenstimme aus einem hinteren Winkel von Felverts Bewusstsein. »Ich nehme alles wahr!«, sagte Droovac gerade. Eine formelhafte Redewendung der Jay'nac, mit der sie einem Gesprächspartner signalisierten, dass sie einen Bericht erwarteten. Felvert stutzte einen Moment, was sich in einer sehr aufrechten Haltung seines entfernt wurmähnlichen Körpers zeigte. Dann fiel ihm die Bedeutung von Droovacs Worten gerade noch rechtzeitig ein. Bei noch längerem Herauszögern der Antwort hätte er eindeutig als unhöflich gegolten. »Wir sind leider noch nicht so weit, um berichten zu können.« »Auch nicht vorläufig?« »Nein.« »Aber hier läuft alles durcheinander, und ich wüsste gerne, was …« Felvert fiel Droovac ins Wort. »Es tut mir leid, aber ich kann im Moment keine weiteren Auskünfte geben«, erklärte der oberste Tormeister. »Ich möchte gerne auf dem Laufenden gehalten werden.«
»Natürlich.« So etwas hat mir gerade noch gefehlt!, dachte er ärgerlich. Es ist immer dasselbe – dass diejenigen, die am wenigsten zur Lösung des Problems beitragen können, sich selbst am Wichtigsten nehmen! Felvert ließ Droovac einfach stehen und begab sich umgehend in die Steuer-Acht zurück. Die Situation erforderte einfach seine Anwesenheit. Jetzt, da die Krise sich zuspitzte, war dort sein Platz, gleichgültig, wie es ihm ging oder wie lange er schon ununterbrochen Dienst gehabt hatte. In Augenblicken wie diesen war das alles zweitrangig. Ich werde die letzen Reserven mobilisieren müssen, dachte er. Mentale Reserven – und chemische. Und dann wollen wir mal sehen, ob wir dieses Problem nicht doch vom Antlitz des Universums radieren können! Auf die eine oder andere Weise … Felvert sammelte seine inneren Reserven, wozu er eine kleine, auch während der Fortbewegung machbare Meditationsübung durchführte. Geistige Disziplin ist alles. Sie entscheidet letztlich über Leben und Tod. Trotzdem fühlte er eine tiefe Erschöpfung in sich, von der er ahnte, dass keine Schwefelverbindung dagegen etwas hätte bewirken können. Das Problem lag auf mentaler Ebene. Felvert war dies zwar in aller Deutlichkeit bewusst, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, an seiner gegenwärtigen Verfassung etwas zu ändern. Zumindest nicht fundamental. Das Gesetz der zunehmenden Entropie ist eine Grundlage aller Existenz, dachte er. Und du versuchst gerade, dieses Naturgesetz zu umgehen, es zu leugnen oder durch den Einsatz von schwefelhaltigen Chemikalien zu betrügen. Eigentlich solltest du es besser wissen … »Der Aggressor nähert sich erneut! Und zwar auf einem Kurs, der so gut wie identisch mit jenem Weg ist, den diese Riesenkugel bei der ersten Annäherung genommen hat«, meldete Boolvert. Seine Worte rissen Felvert sofort aus seinen Grübeleien heraus. Für den Moment war die sich bereits bedrohlich ausbreitende Lethargie wie weggeblasen.
Jetzt zählte die Gegenwart. Der Moment. Sonst nichts. Alle Gedanken, die Felvert von der Konzentration auf den Augenblick hätten ablenken können, verbannte er aus seinem Bewusstsein. Aber manchmal war es bedeutend einfacher, das Bewusstsein eines Jay'nac zu ordnen, als dasselbe Kunststück bei sich selbst hinzubekommen, wie Felvert bitter feststellen musste. Was Boolvert gesagt hatte, klang unglaublich. Nach und nach sickerten seine Worte in die tieferen Schichten von Felverts Bewusstsein. Vor allem dämmerten dem Tormeister die Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Allein bei dem Gedanken daran schauderte es ihn. »Und ihr seid euch sicher, dass es sich tatsächlich um dieselbe Kugel handelt?«, fragte Felvert skeptisch. Es fiel ihm nach wie vor schwer, dies als Faktum zu akzeptieren. »Absolut!«, meldete Yyvert, nachdem er noch einmal die Instrumente kontrolliert hatte. Ein Zittern durchlief die ineinander verhakten achtförmigen Körpersegmente des Felorers. Ein sonderbares Geräusch entstand dabei, das einem spontanen und tief empfundenen Ausdruck des Erstaunens gleichkam. »Aber das ist unmöglich!« »Unsere Ortung irrt sich nicht!« »Dennoch …« »Ich habe einen Fein-Scan der Oberfläche durchgeführt. Das Material ist sehr ungewöhnlich, aber die Strukturen sind völlig identisch mit dem ersten Objekt, das ins System eindrang.« »Das ist natürlich ein Beweis«, gestand Felvert zu. Die Konsequenz lag auf der Hand. Der Versuch, dieses Riesenobjekt ungeschehen zu machen, war gründlich gescheitert. Woran das genau lag, musste noch untersucht werden. Allerdings nur, sofern Zeit dazu blieb. Felvert registrierte mit großer innerer Anspannung den Kurs des Objekts, wie er auf der Positionsanzeige abgebildet wurde. Die Ge-
schwindigkeit war enorm. Station 5 war bereits passiert worden, und der Ankömmling machte keinerlei Anstalten, ein Bremsmanöver durchzuführen, was eigentlich nur daran liegen konnte, dass das Schiff über absolut erstklassige Antriebsaggregate für den notwendigen Gegenschub verfügte. Die Reste der Jay'nac-Flotte versuchten, sich zu einer Kampfformation zu gruppieren. Aber selbst dazu war es wohl zu spät. Die wenigen Kampfschiffe, die es noch im Orbitalbereich gab, feuerten Strahlenschüsse ab. Das blieb allerdings ohne Wirkung. Die Strahlen schienen in der Außenbeschichtung der Perle einfach zu verschwinden. Möglicherweise wurde ein Schutzschild verwendet, über dessen genaue Merkmale man sich auf der Steuer-Acht jedoch noch nicht so recht im Klaren war. Ohne dass man es daran hätte hindern können, erreichte das Objekt die Umlaufbahn von Nar'gog. Es bremste stark ab, drang in die Stratosphäre ein und wurde dort von ein paar kleineren Schiffen der Jay'nac-Verteidiger angegriffen. Das Granogk war sich unterdessen uneins darüber, wie man am besten reagieren sollte, und auch die Verbündeten der Jay'nac waren vollkommen ratlos. Sowohl den Keelon als auch den Tormeistern fiel so schnell keine neue Strategie ein, um das goldene Riesenobjekt auszuschalten. Für Felvert war es nach wie vor ein Rätsel, wie es der CHARDHIN-Perle hatte gelingen können, einfach in die abgeschirmte Schutzzone einzufliegen, ohne dass sich irgendein temporaler Effekt gezeigt hätte. Der Schluss lag nahe, dass es mit dem Phänomen der zeitlichen Permanenz in Zusammenhang stand, die Scobee erwähnt hatte. Aber mehr als eine Hypothese war das auch nicht. Von gesichertem Wissen konnte man da beim besten Willen nicht sprechen. Wir bewegen uns wie auf den schwankenden Baumscheiben, aus denen die Flöße unserer Urahnen der Sage nach gebaut waren!, dachte Felvert. Alles andere hieße, die Lage zu beschönigen. »Das Wissen der Erinjij-Frau war sehr unvollständig«, sagte Boolvert. »Was temporale Permanenz bedeutet und wie sie sich aus-
wirkt, beginnen wir erst jetzt zu verstehen.« »Jedenfalls haben wir offenbar den falschen Ansatzpunkt gewählt, um diesen Eindringling ungeschehen zu machen«, meinte Felvert deprimiert. »Und ehrlich gesagt fällt es mir schwer, weiter optimistisch zu sein. So kommen wir nicht weiter, das dürfte feststehen!« Zukunftsloser! Diese Beschimpfung, die bei den Felorern einen notorischen Pessimisten bezeichnete, konnte Felvert förmlich in den Gedanken seiner Mit-Felorer erkennen. »Immerhin gab es keine Katastrophe«, gab Yyvert zu bedenken. »Auch das wäre ja durchaus möglich gewesen.« »Wissen wir, was noch kommt?«, fragte Felvert. Innerlich kochte er. Waren die anderen Tormeister etwa schon bereit, allein das bisherige Ausbleiben der großen Katastrophe als Anzeichen für den Erfolg des eigenen Eingreifens zu sehen, anstatt die Ehre demjenigen zuzugestehen, der sie Felverts Meinung nach verdiente? Dem puren Zufall nämlich! Mit dieser Einstellung kommt man nicht weit!, dachte er bitter. Er hatte lange gegen diese Geisteshaltung gekämpft. Nun musste er feststellen, dass sein Kampf wohl vergebens gewesen war. Er stellte eine Verbindung zu Porlac her. »Das Granogk soll seine Kriegsschiffe zurückziehen!«, forderte der Felorer entschieden. »Es hat überhaupt keinen Sinn, auch noch die letzten Einheiten zu opfern. Für das Objekt stellen sie keine Bedrohung dar, geschweige denn, dass sie in der Lage wären, seinen Weg auch nur für kurze Zeit aufzuhalten.« »Ich weiß«, antwortete Porlac. »Aber im Granogk herrscht keine Einigkeit. Manche glauben hier, dass es die letzte Möglichkeit ist, Nar'gog doch noch vor dem Aggressor zu sichern.« Felvert wurde wütend. War er denn wirklich nur von Unfähigen umgeben? »Das ist Unsinn!«, sagte der oberste Tormeister mit aller Überzeugungskraft. »Könnt ihr uns denn wenigstens Hoffnung machen?« »Unsere Bemühungen sind grundlegend gescheitert. Es hätte keinen Sinn, dasselbe noch einmal zu versuchen. Davon abgesehen,
hätten wir dazu auch gar nicht mehr die Möglichkeit, weil unser Energiestatus gegenwärtig bereits bedenklich abgesunken ist und wir ja außerdem noch das Abschirmungsfeld aufrechterhalten müssen.« »Dann schaltet es ab«, rief Porlac. Felvert glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. »Ist das ein offizieller Befehl des Granogk?«, hakte er nach, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass Porlac dies tatsächlich ernst gemeint hatte. Ein derartiger Vorschlag wäre in der Vergangenheit geradezu einem Sakrileg gleichgekommen. Konnte es sein, dass das Granogk einen Grundpfeiler seiner Sicherheitsdoktrin verriet? »Das Granogk ist im Augenblick nicht in der Lage, irgendwelche Befehle zu geben«, erklärte Porlac mit überraschender Nüchternheit. »Aber die temporale Abschirmung des Nar'gog-Systems ist offensichtlich für den Gegner, mit dem wir es hier zu tun haben, völlig ohne Bedeutung, daher brauchen wir sie nicht mehr.« Felvert blieb reserviert. »Die Lage ist uns bekannt.« »Dann könnt ihr im Moment nichts tun?«, fragte Porlac voller Sorge. Wie schlecht es wirklich steht, scheint er sich noch nicht verinnerlicht zu haben!, überlegte Felvert. Laut sagte er: »Wir arbeiten natürlich fieberhaft an einer neuen temporalen Strategie, um den Gegner auszulöschen. Aber dazu brauchen wir Zeit, Porlac. Und die gewinnen wir am ehesten, wenn es zu keiner weiteren Konfrontation kommt!« »Also läuft alles auf eine Kapitulation hinaus«, lautete Porlacs Schlussfolgerung. »Wir haben gegen diesen Gegner einfach keine Chance. Zumindest nicht militärisch. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist eine weitere temporale Manipulation – aber da hast du mir ja bereits wenig Hoffung gemacht.« »Wir sollten es einen Waffenstillstand nennen. Aber es gibt ohnehin bei einer Fortsetzung des Kampfes nichts zu gewinnen. Die Herren des Riesenobjekts sind uns offenbar technisch haushoch überlegen.«
Porlac sah durchaus ein, dass Felvert recht hatte. Aber es würde schwierig sein, das heillos zerstrittene Granogk von dieser Position zu überzeugen. »Versucht alles, was ihr könnt und von dem ihr glaubt, dass es wenigstens den Hauch einer Erfolgschance hat«, sagte Porlac. Er war sehr niedergeschlagen. Die Situation war schlicht und ergreifend so, dass Nar'gog und seine Bewohner dem Wohlwollen jener geheimnisvollen Wesen ausgeliefert war, die die goldene CHARDHIN-Perle steuerten. Daran gab es nichts zu beschönigen. Und du wirst das auch akzeptieren müssen, Porlac. Ob es dir nun passt oder nicht!, dachte Felvert. Porlac beendete die Verbindung. Felvert fühlte sich mental entleert. So als hätte er gleich drei- oder viermal hintereinander am Zeugungsritual des Austauschs teilgenommen, was er in seinen jüngeren Jahren durchaus getan hatte, um seine physischen Grenzen auszutesten. Aber jetzt geht es um die geistigen Grenzen!, dachte der Tormeister. Nicht nur um meine eigenen, sondern um die unserer ganzen Art.
Die riesenhafte goldene Kugel schwebte exakt an ihre alte Position über dem Granogk, dessen aufgeregtes Geraune nun zunächst verklungen war. Keines der wenigen noch verbliebenen Jay'nac-Schiffe wagte es, sich dem goldenen Koloss in den Weg zu stellen oder gar einen Angriff zu versuchen. Die Elite der Jay'nac schwieg. Lähmendes Entsetzen und Lethargie legten sich wie Mehltau über die gesamte Zivilisation von Nar'gog. Das Granogk wollte nicht wahrhaben, wie die Lage wirklich war, und weigerte sich, die Realitäten anzuerkennen. Konnte es denn sein, dass das einzige anorganische Volk, das es jemals geschafft hatte, eine Militärmacht von nennenswerter Stärke aufzubauen, derart wehrlos am Boden lag? Unter dem Rest der Jay'nac-Bevölkerung sah das Meinungsbild wohl etwas anders aus. Langsam dämmerte es dort jedem, dass die Jay'nac vor der größ-
ten Niederlage ihrer Historie standen – rechnete man die Verwüstung ihres Planeten durch die Erinjij nicht mit, die man ja aus dem Lauf der Geschichte hatte tilgen können. Aber was diesen Gegner betraf, so war das offenbar nicht möglich. Das alles muss mit der Permanenz der CHARDHIN-Perle zusammenhängen!, dachte Scobee. Offenbar besteht dadurch ein Schutz gegen die Manipulationen der Torwächter und der Keelon, den auch die Felorer nicht umgehen können … Siroona meldete sich telepathisch und auf gewohnt zynische Weise zu Wort. Sie erinnerte damit Scobee daran, dass bei Foronen ein Gedanke schon eine Waffe sein konnte. Wir sollten diesen Siliziumbrocken, die von sich behaupten, lebendig zu sein, kein Mitleid schenken, Scobee. Sie sind es nicht wert. »Hast du dir auch einmal Gedanken darüber gemacht, was aus uns wird, Siroona?«, fragte Scobee laut. Ihr Tonfall war kühl und reserviert. Siroona wandte den augenlosen Kopf ein paar Grad seitwärts. Was aus mir wird, ist nicht so wichtig, Scobee. Ich habe keinerlei Ambitionen mehr, sondern bin nur noch eine Getriebene. Eine, die ihre angestammte Zeit durch ein paar unglückliche Umstände überlebt hat.
Die CHARDHIN-Perle sank noch etwas tiefer. Bei den Jay'nac entstand deshalb Unruhe. Die ersten Anorganischen begannen bereits damit, den Bereich unmittelbar unter der Perle zu räumen. Eine chaotische Wanderbewegung setzte ein. Innerhalb des Granogk wurde heftig diskutiert. Aber es vermochte niemand einen Weg aufzuzeigen, wie man sich gegen dieses gigantische, goldene Ungetüm wehren konnte. Porlac nahm noch einmal Kontakt zu Felvert auf. Aber die Tormeister sahen zurzeit keine Möglichkeit, die CHARDHIN-Perle aus dem Zeitstrom zu eliminieren, ohne dabei auch die gesamte Zeitlinie auszulöschen. Das zumindest war die mathematische Konsequenz von Berechnungen, die ein junger, begabter Tormeister namens Yyvert angestellt hatte, dessen Name Porlac zum ersten Mal
hörte. Offenbar ließ man ihn angesichts der Ereignisse in die erste Reihe der Tormeister aufsteigen, um das Blatt vielleicht doch noch zu wenden. Das letzte geistige Aufgebot der Felorer also!, dachte Porlac. Wenn die Konsequenzen daraus nicht für alle Beteiligten dermaßen tragisch wären, könnte man als Jay'nac sogar noch Trost aus dem Umstand ziehen, dass nicht nur wir auf ganzer Linie gescheitert sind – sondern auch die Felorer, die intellektuell so weit über uns stehen! Für Porlac war die Tatsache, dass man auf jemanden wie Yyvert setzte, ein zusätzliches Indiz dafür, wie verzweifelt man auf den Torstationen war. Man war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.
Scobee fragte sich derweil, ob es sich tatsächlich um die CHARDHIN-Perle aus dem Zentrum der Milchstraße handelte – oder um ein anderes Exemplar, das von wer weiß woher stammen mochte. Fast unbeteiligt beobachtete sie die panische Flucht der Jay'nac. In die kristalline, auf den ersten Blick wie eine Felswüste wirkende Oberfläche Nar'gogs kam gespenstisches, für die Augen eines organischen Wesens untot wirkendes Leben. Die Perle war jetzt keine hundert Meter mehr von der Oberfläche entfernt – und sank noch immer. Weglaufen ist sinnlos!, stellte Siroona fest. Da hätten wir früher aufbrechen sollen – und ich alte Foronin bin ohnehin viel zu langsam dafür geworden. Jetzt wird uns dieses goldene Riesending also zerquetschen wie nutzlose Insekten. »Nein«, stellte Scobee klar. »Das würde überhaupt keinen Sinn ergeben. Warum sollte die Besatzung der Perle so etwas tun?« Kommt immer auf die Besatzung an. Es gibt Individuen, die brauchen keinen Grund, um zu töten. Umgekehrt müssen sie schon sehr überzeugende Argumente aufgeboten bekommen, wenn diese Wesen einen Feind am Leben lassen sollen. Eine Art telepathisches Kichern erreichte Scobee, das sie nicht zu interpretieren wusste. »Ich nehme ja nicht an, dass die Besatzung aus Foronen besteht!«, versetzte Scobee sarkastisch.
Siroonas Gedankenstrom versiegte. Wahrscheinlich war sie beleidigt. Die CHARDHIN-Perle sank bis auf eine Höhe von gut dreißig Metern über den höchsten Bodenerhebungen der Umgebung herab. Ein großer freier Platz war entstanden, den die Jay'nac in Panik geräumt hatten. Aus dem Südpol der CHARDHIN-Perle wurde nun ein sich verlängernder Fortsatz ausgebildet. Immer kleiner werdende quadratische Elemente wurden ausgefahren, und innerhalb weniger Augenblicke entstand eine schlauchartige Verbindung zur Oberfläche. Offenbar befand sich innen eine Art Liftsystem. Es gab offene Stellen in diesem Schlauch, an denen man eine Kabine nach unten fahren sehen konnte. Wenig später bildete sich eine Türöffnung. Eine Gestalt trat in den Schatten, der hier unten herrschte. Scobee verengte die Augen. Sie glaubte, die Gestalt schon einmal gesehen zu haben, obwohl sie den Mann nur als Schemen wahrnahm. Aber sie verfügte auch über Infrarotsicht und konnte den Fremden daher sehr viel besser beobachten als die Jay'nac. Als er aus dem Schatten trat, glaubte Scobee endgültig, ihrem Verstand nicht mehr trauen zu können. »Prosper!«, murmelte sie. Diese Überraschung war wirklich perfekt. Mit ihm hatte Scobee nun wirklich nicht gerechnet. »Du kennst diesen Narren da vorne?«, fragte Siroona laut. »Er hat mit seinem Schiff viel Chaos angerichtet. Ich würde es verstehen, wenn die Jay'nac sich jetzt auf ihn stürzten und ihn in der Luft zerrissen!« Prosper Mérimée schritt Scobee entgegen. Du wirst eine Menge zu erklären haben!, dachte sie und hob den Kopf, sah ihm entgegen. Aber Prosper wich ihrem Blick aus irgendeinem Grund aus. Was soll das denn? Kennst du mich auf einmal nicht mehr?, dachte sie. Aber gegen Siroonas gehässigen Kommentar schirmte sie sich vollkommen ab. Das musste sie sich nun wirklich nicht auch noch antun!
Zeitebene RUBIKON … Gespannt hörte John Cloud der Aufzeichnung zu, die Kargor ihm und der restlichen RUBIKON-Crew hinterlassen hatte. »WENN IHR ANNEHMT, DASS AUSSCHLIESSLICH PROSPER MÉRIMÉES ANWESENHEIT FÜR EURE FEHLTRANSITION VERANTWORTLICH WAR, DANN IRRT IHR GEWALTIG«, verkündete der ERBAUER und fuhr fort: »IN WAHRHEIT IST ES SO, DASS JEDER, DER ÜBER LÄNGERE ZEIT IN JENEM GETTO DER ERDE LEBTE, EINE ZEITANOMALIE IN SICH TRÄGT. MIR IST BEWUSST, DASS ES SEHR SCHWER IST, EUCH DAS VERSTÄNDLICH ZU MACHEN. STELLT ES EUCH SO ÄHNLICH WIE EINE GENETISCHE VERÄNDERUNG VOR. JEDENFALLS GEFÄHRDEN ALLE GENANNTEN DAS SCHIFF BEI WEITEREN TRANSITIONEN. ICH SAH MICH DAHER VERANLASST, DIESE GEFAHRENQUELLE ZU BESEITIGEN …« Er hat sie einfach alle verschwinden lassen!, durchfuhr es Cloud wütend. Prosper und seine Zirkusleute, Sarah Cuthbert … Jeden, der sich seiner Meinung nach zu lange im Getto aufhielt! Es hätte demnach auch Aylea treffen können – oder mich … Der ERBAUER sprach weiter, während Cloud noch immer über die Kaltschnäuzigkeit schockiert war, mit der Kargor vorgegangen war. »DER REIBUNGSLOSE ABLAUF DES TRANSITIONSVORGANGS IST FÜR DIE RUBIKON VON EXISTENZIELLER BEDEUTUNG. DAS WIRST AUCH DU, JOHN CLOUD, WOHL NICHT BESTREITEN WOLLEN, OBWOHL ICH SCHON AHNE, DASS DIR MEIN VORGEHEN RÜCKSICHTSLOS ERSCHEINEN MAG. ABER ICH BIN DER AUFFASSUNG, DASS DAS RICHTIGE GETAN WERDEN MUSS. WIE AUCH IMMER, ES WAR ZUM BESTEN FÜR ALLE ANDEREN AN BORD. DAS WERDET IHR NOCH ERKENNEN.«
Die Nachricht war zu Ende. »Die Selbstherrlichkeit, mit der die Prismengestalt vorzugehen pflegt, ist schwer erträglich!«, stellte Cloud fest. Er hatte unwillkürlich die Hände zu Fäusten geballt. »Was machen wir jetzt?«, fragte Jiim. »Das Schlimme ist: Wir können im Grunde genommen gar nichts tun«, erklärte Jarvis. »Jedenfalls nicht, solange wir keinen Anhaltspunkt besitzen, wo die Verschwundenen geblieben sind.« Sein Tonfall wirkte niedergeschlagen. »Ich würde Kargor durchaus zutrauen, sie einfach ausgelöscht zu haben«, sagte Cloud. »Jedenfalls wäre es unsere Entscheidung gewesen, ob wir die Gefahren durch die ehemaligen Gettobewohner in Kauf nehmen oder sie von Bord schicken wollen«, stellte Jarvis klar. »Diese Entscheidung hat uns Kargor jedenfalls abgenommen«, schloss Cloud. Er wandte sich an Sesha. »Ich möchte eine Aufstellung aller derzeit an Bord befindlichen Personen mit genauer Lokalisierung anhand der Biozeichen.« Er dachte dabei vorrangig an Aylea, deren geringes Alter besondere Schutzreflexe in ihm auslöste. »In Ordnung«, bestätigte die Schiffs-KI der RUBIKON. Offensichtlich funktionierte Sesha wieder einwandfrei. Die vorübergehende Störung hatte wohl mit der sich selbst aktivierenden Nachricht von Kargor in Zusammenhang gestanden. »Glaubst du etwa, Kargor blufft nur?«, ereiferte sich Jarvis. Cloud schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber ich möchte andererseits gerne sichergehen.« Cloud machte ein paar Schritte und ließ sich in einem Holosegment anzeigen, wie die gegenwärtige Position der RUBIKON war. Er verschränkte die Arme vor der Brust und dachte einige Augenblicke lang nach. »Ich schlage vor, dass wir unseren Kurs einfach beibehalten. Alles andere macht keinen Sinn.« »Dann geben wir die Verschwundenen also auf?«, fragte Cy. Cloud schüttelte den Kopf. »Davon kann doch gar keine Rede sein!«, erwiderte er – deutlich heftiger, als er es eigentlich beabsich-
tigt hatte. Schuldgefühle?, fragte er sich plötzlich und versuchte, den Gedanken daran sofort wieder zu verscheuchen. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für ausgedehnte Grübeleien. Aber ein Gewissen sollte man sich trotzdem leisten. Du lässt schließlich ein paar Besatzungsmitglieder der RUBIKON im Stich, die dir als dem Commander vertraut haben! Cloud schloss für kurze Zeit die Augen. Andererseits kann es gut sein, dass Kargor mit seiner Behauptung recht hat und ehemalige Getto-Bewohner tatsächlich eine Zeitanomalie in sich tragen. Es hieß jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und genau das zu tun, was notwendig war. Er öffnete die Augen wieder und schaute in die Runde. Bevor er etwas sagen konnte, begann Cy zu sprechen. »Ich würde das so ausdrücken: Mit Sahbu habe ich mich zum Beispiel sehr gerne unterhalten. Ob wir Freunde waren – sind! –, weiß ich nicht, weil ich nicht hundertprozentig sicher bin, was eure Art darunter für gewöhnlich versteht. Bei den Aorii habe ich das mühsam erlernen müssen, und das hat auch seine Zeit gedauert …« Der strauchförmige Aurige war im Augenblick ungewöhnlich gesprächig. »Die Zirkusleute wurden mitunter als Freaks abgestempelt«, fuhr er fort. »Das bedeutet, keiner von ihnen entsprach der Norm. Sie wiesen alle körperliche oder geistige Besonderheiten auf – gemessen an einem Normal-Menschen natürlich. Vielleicht habe ich mich ihnen deshalb immer sehr nahe gefühlt, denn meine Situation weist einige Parallelen dazu auf.« »Das kann ich sogar nachvollziehen«, erwiderte Cloud. Cy rückte etwas näher auf den Commander der RUBIKON zu und blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. »Wollen wir es wirklich einfach so hinnehmen, dass Kargor ein paar Mitglieder unserer Besatzung verschwinden lässt, weil er sie für gefährlich hält?« Eine gute Frage. Aber haben wir denn eine Wahl?, fragte sich Cloud. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Einer musste die Entscheidung verkünden, zu der es im Grunde keine vernünftige
Alternative gab. Und das war Sache des Commanders. »Uns bleibt keine andere Möglichkeit«, entschied Cloud. »Wir haben keinen Ansatzpunkt, um nach ihnen zu suchen. Sie könnten sonst wo sein.« »Und im Übrigen könnte es sein, dass wir Kargor noch einmal wiedersehen«, vermutete Algorian. Cys Geäst raschelte ein wenig. Er war offensichtlich etwas irritiert über die Worte seines Aorii-Freundes Algorian. Etwas umständlich drehte er den strauchartigen Körper. Die Sprechmembrane bewegte sich und produzierte zuerst nichts weiter als einen schnarrenden Laut, ehe sie endlich Worte hervorbrachte. »Wie kommst du darauf?«, verlangte Cy zu wissen. Auch die Blicke der anderen waren jetzt auf Algorian gerichtet. »Es ist nur eine Vermutung«, gestand er. »Aber eines ist mir aufgefallen: Kargor hatte ein verdächtig großes Interesse daran, dass die zukünftigen Transitionen der RUBIKON reibungslos ablaufen. Ich habe mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, weshalb ihm dieser Punkt so wichtig ist.« »Algorian hat recht«, mischte sich Jarvis in das Gespräch ein. »Reine Fürsorge kann das nicht gewesen sein. Vielleicht kehrt dieses Geschöpf tatsächlich noch einmal zurück, weil es irgendetwas mit der RUBIKON plant.« Jarvis zuckte mit seinen Schultern. »Na ja, das ist nur ein Gedanke … Aber irgendein Interesse muss es an unserem Schiff haben.« »Es könnte auch sein, dass Kargor die RUBIKON selbst über kurz oder lang als temporalen Störfaktor sieht, wenn sich weiterhin Personen hier aufhalten, die eine Anomalie in sich tragen«, vermutete Cloud. »Nun, wir werden sehen …«
6. Kapitel – Prosper, der Mächtige »Prosper!«, begrüßte Scobee den Mann, der aus der CHARDHINPerle gestiegen war. Aber Prosper Mérimée wich zunächst ihrem Blick aus, sah sie schließlich nur kurz an und ging an ihr vorbei, so als hätte er sie nicht bemerkt. Scobee war irritiert. Was wird das jetzt?, fragte sie sich. Ah, da scheint sich ja eine interessante Wendung anzubahnen!, meldete sich Siroonas telepathischer Kommentar. Vielleicht bekomme ich auf meine alten Tage ja noch ein richtiges Drama geboten … Unterdessen blieb Prosper Mérimée stehen, ließ den Blick schweifen und wartete einige Augenblicke ab, bis er sicher war, dass man ihm zuhörte. »Wo ist der Sprecher des Rates?«, rief er, und das Geraune des Granogk begann wieder, nachdem dort für eine ganze Weile geschwiegen worden war. »Ich bin hier!«, meldete sich Porlac zu Wort. Der Sprecher des Granogk kam Prosper ein Stück entgegen. Scobee fiel auf, dass der Chef der Zirkustruppe aus dem Getto sehr angespannt wirkte. Seine gesamte Körperhaltung verriet dies und stand in einem zumindest für menschliche Augen deutlich erkennbaren Widerspruch zu dem zur Schau gestellten, auftrumpfenden Selbstbewusstsein. Eigentlich kein Wunder, dass er sich in seiner Haut unter all den Jay'nac nicht wohlfühlt!, dachte Scobee. Kommt hierher, markiert den großen Zampano, vernichtet mal eben fast die gesamte Raumflotte der Jay'nac und wagt es dann, ohne Begleitschutz mitten unter seine Feinde zu gehen! Siroona hatte diesen Gedanken offenbar mitbekommen, denn sie äußerte sich telepathisch dazu. Er hat die Jay'nac besiegt, Scobee! Er ganz allein. Warum sollte er auch nur einen von ihnen fürchten?
Scobees eisige Erwiderung ließ nicht auf sich warten. Behalte deine Gedanken für dich, Foronin! Siroona und Scobee verfolgten, was zwischen Prosper und Porlac geschah. Siroona glaubte, dass Prosper gekommen war, um die Kapitulation entgegenzunehmen. Alles andere war ihrer Meinung nach nicht logisch. Scobee hingegen beschäftigte eine ganz andere Frage: Wie war Prosper an Bord der CHARDHIN-Perle gelangt? Scobee hatte ihn zuletzt auf der RUBIKON gesehen, kurz bevor die ehemalige Foronenarche durch die Portalschleuse gegangen war, während Scobee sich zusammen mit dem Gloriden Ovayran von Andromeda aus auf die Reise durch den Leerraum in Richtung Milchstraße gemacht hatte. Wie hatte er es nur geschafft, an Bord einer CHARDHIN-Perle zu gelangen und diese dann offenbar auch noch unter seine Herrschaft zu zwingen? Denn genau so trat er hier auf – als wäre er der Herr der Perle. Wenn das stimmt, stellt er selbst John als ›Raumschiff-Kaperer‹ weit in den Schatten!, dachte Scobee ironisch. Prosper stemmte gebieterisch die Arme in die Hüften und wandte sich an Porlac. Der Anorganische war vermutlich gar nicht in der Lage, diese Geste der Herrschaft als solche zu erkennen. »Es braucht niemand auf Nar'gog vor mir oder dem goldenen Schiff Angst zu haben«, erklärte Prosper. »Uns liegt nichts daran, eure Kultur oder euren Planeten zu zerstören. Ganz im Gegenteil.« Prospers Worte mussten auf das Granogk angesichts dessen, was geschehen war, wie blanker Hohn wirken. »Und was wollt ihr dann hier? Warum wurde unsere Flotte zerstört?«, fragte Porlac. Es kostete ihn einige Mühe, sich zu beherrschen. Selbst für einen Nicht-Jay'nac war das leicht zu erfassen. Aber Porlac war sich der Tatsache bewusst, dass er und das Granogk im Moment in der ungünstigeren Position waren. Darum musste er sich jeden Schritt gut überlegen und die Folgen bedenken. »Eure Flotte wurde nicht zerstört«, widersprach Prosper entschie-
den und erntete dafür ein allgemeines ungläubiges Erstaunen aufseiten des Granogk. Hier und da gab es Jay'nac, die sich bissiger Kommentare einfach nicht enthalten konnten. »Lügner!« »Nein, es ist die Wahrheit!«, rief Prosper Mérimée so eindringlich, dass er sich schon in der nächsten Sekunde wieder der Aufmerksamkeit aller sicher sein konnte. Aber bevor er noch etwas erläutern konnte, ergriff Porlac die Initiative. Genau das erwartete man auch von ihm. Schließlich war er der Sprecher des Granogk. »Willst du etwa behaupten, dass das Granogk und alle Jay'nac auf dieser Seite des Planeten einer Halluzination erlegen sind?«, empörte sich Porlac. Prosper hob beschwichtigend seine Hände – eine Geste, die den Jay'nac möglicherweise durch ihren Kontakt zur Erde und den dortigen Mastern bekannt war. »Eure Flotte ist in eine andere Zeitebene versetzt worden – das ist alles!«, rief er mit beschwörendem Unterton. »Es wurde niemand getötet. Nicht die Existenz eines einzigen Jay'nac ging verloren. Im Übrigen war die Perle gezwungen, sich zu verteidigen. Schließlich waren es eure Kriegsschiffe, die massiv das Feuer eröffneten!« »Weil die CHARDHIN-Perle hier unbefugt eingedrungen ist und wir eurem entscheidenden Schlag zuvorkommen mussten!«, verteidigte sich Porlac. »Jeder hätte so gehandelt, und es kann niemanden an Bord eures Schiffes wirklich gewundert haben, wie wir reagierten! Davon abgesehen, feuerten unsere Schiffe zunächst Warnsalven ab. Wir hätten euer Schiff nicht weiter behelligt, wenn ihr bereit gewesen wärt, den Angriff gegen uns einzustellen.« Prosper blieb ruhig. Auch die brodelnde Kulisse des Granogk schien ihn nicht zu beeindrucken. »Wie gesagt, es ist niemand getötet worden«, stellte er nochmals klar. »Und dafür, dass sich eure Flotte nun in einer anderen Zeitebene befindet, kann niemand von uns zur Rechenschaft gezogen werden! Es war unter den gegebenen Umständen die humanste Lösung.«
Eine Pause trat ein. Das Geraune des Granogk war nun plötzlich sehr verhalten. Man wartete offenbar erst einmal ab, was die Gespräche zwischen Porlac und dem Fremden, der aussah wie ein Erinjij, erbringen würden. Die Fluchtbewegungen unterhalb der CHARDHIN-Perle waren inzwischen zum Stillstand gekommen. Nachdem offenbar ein Besatzungsmitglied dieses riesigen Objekts selbst seinen Fuß auf die Oberfläche des Planeten gesetzt hatte, wurde die Gefahr, dass die Perle auf der planetaren Kruste Nar'gogs aufschlug, als nicht mehr so groß angesehen. Schließlich wäre Prosper Mérimée wohl kaum ausgestiegen, wenn dort irgendeine Gefahr gelauert hätte. Prosper vollführte eine etwas großspurig wirkende Geste und drehte sich dabei halb um. Für einen Augenblick begegnete Scobee seinem Blick. Aber erneut wich er ihr sogleich aus. Scobees Instinkt sagte ihr, dass irgendetwas an dieser Situation nicht stimmte. Sie war nicht in der Lage, die Ursache ihres Unbehagens näher zu bestimmen – aber andererseits sagte ihr das untrügliche Bauchgefühl, dass da ein paar Dinge nicht zusammenpassten. Das gewaltige Perlen-Raumschiff, die geweiteten Augen Prosper Mérimées, der seltsame Auftritt, den der Mann hier hinlegte … Etwas überinszeniert!, dachte Scobee. Aber vielleicht gerade passend für eine Zirkustruppe aus dem Pekinger Getto!, wandte dagegen eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf ein. Prosper fuhr inzwischen mit großspuriger Geste fort: »Wie gesagt, wir sind in Frieden gekommen – obwohl eure Verbündeten versucht haben, uns mit den hinterhältigsten aller Waffen anzugreifen.« Prosper machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Hier und da schlug ihm verhaltener Spott entgegen. »So?«, gab sich Porlac reserviert. »Ich spreche von der Zeit«, erklärte Prosper, und nun bekam seine Stimme einen deutlich kühleren, fast an klirrendes Eis erinnernden Tonfall. »Die Zeit, die größte Mörderin des bekannten Universums, wäre von euren Bundesgenossen beinahe als Vernichtungswaffe ge-
gen die Besatzung der CHARDHIN-Perle eingesetzt worden. Das ist besonders niederträchtig.« »Wir waren verzweifelt«, erwiderte Porlac. »Und in einem verzweifelten Abwehrkampf, in dem es um die nackte Existenz geht, ist jedes Mittel erlaubt.« »Denkst du das wirklich? Woher willst du wissen, ob wir nicht ebenfalls einen Abwehrkampf geführt haben?«, empörte sich Prosper. »Unsere Unterhaltung ist fruchtlos«, erwiderte Porlac. Der Anorganische schien die Argumente seines Gegenübers nicht für wert zu befinden, näher darauf einzugehen. Warum auch? Die Entscheidung war gefallen. Die Herren der Perle hatten sich als so überlegen herausgestellt, dass es von vorneherein wohl keine Abwehrchance für die Jay'nac und ihre Verbündeten gegeben hatte. Nun musste man sich auf Nar'gog unterwerfen. So schwer das auch fallen mochte. Aber die Umstände ließen nichts anderes mehr zu. Ich muss meinen Stolz vergessen!, überlegte Porlac. Für die Jay'nac geht es jetzt darum, an die Zukunft zu denken und so viel wie möglich ihres alten Reiches zu retten. Vermutlich musste man sich auf eine längere Phase des Vasallentums einstellen, bevor man tatsächlich wieder an Selbständigkeit denken konnte. Aber das hing ganz von den Plänen des Eroberers ab. »Welch Bedingungen stellst du uns?«, fragte Porlac also geradeheraus. Denn das war seiner Einschätzung nach der einzige Grund, weswegen sich Prosper aus dem Innern der Perle gewagt hatte. »Es gibt nur eine einzige Bedingung. Wird sie erfüllt, habt ihr nicht mehr mit unserer Feindschaft zu rechnen, und wir werden uns einfach zurückziehen. Der heutige Tag wird für eure aufgezeichnete Geschichte nichts weiter als eine Episode bleiben!« »Wie lautet die Bedingung?«, hakte Porlac nach. In diesem Augenblick herrschte Totenstille. Selbst das Granogk war ruhig. Überall spürte man gespannte Aufmerksamkeit.
Prosper schien diesen Auftritt regelrecht zu genießen. Er dehnte die Pause absichtlich etwas aus, um die Wirkung zu erhöhen. Der Chef der Zirkustruppe wusste genau, wie man das machen musste, ohne zu langweilen oder vor den Kopf zu stoßen. Prosper streckte den Arm aus und zeigte auf Scobee. »Ich will diese Gefangene von euch. Liefert sie mir aus.« »Die Menschenfrau?«, vergewisserte sich Porlac. »Genau.« Porlac war völlig perplex. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass ein übermächtiger Feind seine Flotte besiegte und anschließend nur eine Erinjij ausgeliefert haben wollte. Ein Organischer!, dachte Porlac. Wer versteht schon deren verquere Logik! »Was willst du von ihr?«, wandte sich der Sprecher des Granogk an Prosper Mérimée. »Das braucht deine Sorge nicht zu sein, Porlac. Ich möchte einfach, dass diese Gefangene in meine Obhut übergeben wird. Das ist alles.« »Und was ist mit der Foronin?« »An ihr bin ich nicht interessiert. Nur an der Erinjij-Frau.« Porlac zögerte. Irgendetwas stimmt doch hier nicht!, überlegte er. Hatte Scobee irgendetwas an sich, das sie so wertvoll machte, um ihretwegen einen Krieg zu beginnen? Für Porlac war das alles schwer nachvollziehbar, und die schroffe Argumentation des Erinjij namens Prosper Mérimée machte es ihm auch nicht gerade leichter, deren Motive zu verstehen. Und genau darum bemühte er sich. Solange ihm das jedoch nicht gelang, würde auch das Misstrauen bleiben. Der Sprecher des Granogk fragte sich, was für ein Spiel sein Gegenüber da eingefädelt hatte. »Warum ist die Erinjij in unserer Gewalt so wichtig für dich?«, wollte er wissen. Aber Prosper schien nicht bereit zu sein, über diesen Punkt zu reden. Er vollführte eine abwehrende Handbewegung, blickte kurz zu Scobee hinüber und schüttelte anschließend den Kopf.
»Ich werde keine Verzögerung dulden«, erklärte er entschieden und mit einem harten Unterton. »Meine Zusage, dass keine feindseligen Aktionen gegen die Jay'nac durchgeführt werden, gilt nur für den Fall, dass ich die Gefangene ohne größere Umstände übergeben bekomme und sie an Bord meines Fahrzeugs bringen kann. Andernfalls …« »Was ist andernfalls?«, verlangte Porlac zu wissen. Prosper hob die Augenbrauen. »Die Perle ist in der Lage, Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes zu verursachen. Sie kann ganz Nar'gog vernichten, aber auch nur einen einzelnen Sektor der Oberfläche, wenn dies sinnvoller erscheinen sollte. Doch das liegt bei dir, Porlac. Bei dir und deinen Artgenossen.« Prosper lachte heiser. »Ob allerdings das Granogk tatsächlich die Elite der Jay'nac-Kultur darstellt und dessen Sprecher tatsächlich für alle Jay'nac spricht, wage ich zu bezweifeln.« »Ach, ja?« »Ja, denn es ist im Interesse jedes einzelnen Jay'nac auf Nar'gog, dass man auf meine Bedingungen eingeht – weil nämlich sonst Tod und Zerstörung dieses System heimsuchen werden. Wobei die Perle selbst vollkommen unverwundbar bleibt! Zumindest für die primitiven Waffen, mit denen ihr uns bisher versucht habt zu eliminieren.« Prosper zuckte mit den Schultern. »Das mit den Zeitmanipulationen war ja eine ganz nette Variante, aber nichts, was eine Perle in Gefahr bringen könnte.« Porlacs Erwiderung klang eisig. »Es freut mich, dass du dir da so sicher bist!«, versetzte er. Er bewegte sich etwas auf den Menschen zu. Im Granogk war ein Gemisch von Stimmen zu hören, die sich alle auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen: unterdrückte Wut. Aber sie blieben vorsichtig. Schließlich waren die Jay'nac momentan in einer fast aussichtslosen Lage, falls den Felorern nicht doch noch eine Wunderwaffe einfiel. Prosper Mérimée ging darauf jedoch nicht weiter ein. Stattdessen fragte er: »Wie lautet jetzt die Antwort? Bekomme ich, was ich will, oder müsst ihr erst mühsam auf den Weg des Gehorsams gezwungen werden?«
Einige Momente herrschte Schweigen. Schweigen und tiefe Ratlosigkeit. Es gab weder Waffen noch andere Tricks, die den Jay'nac in dieser Situation weiterzuhelfen vermochten. Die Verteidiger des Nar'gogSystems standen mit leeren Händen da. Von daher war es vermutlich das Vernünftigste, die Bedingung zu erfüllen, die Prosper gestellt hatte. Scobee dachte in der Zwischenzeit vor allem über Prosper und seine Beweggründe nach. Warum tut er das?, ging es ihr durch den Kopf. Wieso bin ich für Prosper so wichtig? Es musste einen Grund dafür geben, dass man ihretwegen dieses ganze Theater inszenierte. Und zwar einen, der nichts damit zu tun hatte, dass sie zeitweilig an Bord ein und desselben Raumschiffs gelebt und sich dabei natürlich zwangsläufig auch kennengelernt hatten. Zumindest in Ansätzen. »Ich werte das Schweigen des Granogk als Zustimmung«, sagte Prosper laut. Er wandte sich in Scobees Richtung und ging auf sie zu. »Halt!«, schritt Porlac ein. Auf ein Signal des Granogk-Sprechers erschienen von allen Seiten Jay'nac, um Scobee abzuschirmen. Inwieweit Waffen in ihre Körper bereits integriert waren, war äußerlich nicht zu erkennen. Aber Prosper schien auch wenig Neigung zu verspüren, dies wirklich auszutesten. Er wandte sich an Porlac. »Schade. Du machst ein schlechtes Geschäft, Porlac. Und ich habe gedacht, dass man mit dir handeln kann …« »Das war möglicherweise ein Irrtum«, erwiderte Porlac. »Wer sagt uns, dass wir es hier nicht mit einem gewaltigen Bluff zu tun haben? Dass euer Raumschiff sich gegen die Zeit-Attacken unserer Verbündeten als resistent erwiesen und die Flotte unschädlich gemacht hat, ist eine Sache. Aber ich bezweifele doch, dass du in der Lage wärst, ganz Nar'gog zu vernichten …« »Nicht nur Nar'gog, sondern auch seine Sonne und all seine Plane-
ten, wenn es sein muss!«, widersprach Prosper mit einer überraschenden Gelassenheit. »Aber ich sehe schon, ihr Jay'nac werdet wohl oder übel eine Demonstration benötigen, um wirklich zu begreifen, welcher Macht ihr gegenübersteht!« An seinem Handgelenk trug Prosper einen Kommunikator. Scobee fiel auf, dass dieses Gerät keinem der Apparate entsprach, die sie von der RUBIKON her kannte. ERBAUER-Technik?, fragte sie sich. Jedenfalls nichts, was Prosper aus dem Getto oder von der RUBIKON mitgebracht hatte. Das stand für Scobee auf den ersten Blick fest. Prosper Mérimée nahm an seinem Kommunikator eine Schaltung vor. Anschließend blickte er hinauf zu dem gewaltigen Kugelkörper der Perle. Daraufhin drang ein Glutball durch die Panzerung. Sie verharrte wie eine Miniatursonne neben der Außenhülle. Offenbar wurde sie von Bord der Perle aus kontrolliert. »Was hast du vor?«, fragte Porlac. Er war offensichtlich zutiefst beunruhigt. Aber es gab nichts, was der Jay'nac hätte unternehmen können. Porlacs geheime Hoffnung gründete sich auf seine Verbündeten. Vielleicht fiel den Keelon zusammen mit den Felorern ja doch noch eine Lösung ein. Eine temporale Lösung, die es ermöglichen würde, die CHARDHIN-Perle nachhaltig aus der Zeitlinie zu eliminieren. Aber realistischerweise war damit auf die Schnelle nicht zu rechnen. Vielleicht war es auch überhaupt nicht möglich, wenn sich jener Faktor, den Scobee als Permanenz bezeichnet hatte, als unüberwindbar entpuppte. Prosper Mérimées Gesicht wirkte starr, fast maskenhaft. »Die Ortung der Torstationen wird dir und dem Granogk in Kürze berichten, was geschieht«, versprach er. Eine Drohung. Die Feuerkugel setzte sich plötzlich in Bewegung, schoss hinauf in die Stratosphäre, wurde zu einem winzigen Lichtpunkt am Himmel und entschwand gänzlich.
Yyvert passte die Konsole in der Höhe seiner vergleichsweise kleinen Körpergröße an. Er aktivierte mehrere Holodisplays in Würfelund Säulenform. Kolonnen von Formeln und Zeichen erschienen dort, dazu mehrdimensionale Holomodelle, die es erleichterten, Berechnungen in höherdimensionaler Mathematik durchzuführen. Yyvert liebte solche Berechnungen. Die Harmonie einer perfekten mathematischen Lösung war für ihn der höchste Ausdruck der Kultur. Er konnte sich daran jedes Mal aufs Neue berauschen. Die Zeit, die Richtungen des Raumes und verborgenen Dimensionen … das alles musste in einen überaus komplexen Zusammenhang gebracht werden, der sich auf mathematischer Ebene exakt beschreiben ließ. Selbst die Vorstellungskraft von Felorern oder Keelon stieß hier manchmal an ihre Grenzen. Mit etwas Glück konnte ein wacher Geist aber mitunter diese Grenzen um ein kleines Stück erweitern. Yyvert zählte sich selbst durchaus zum illustren Kreis derer, die dazu die Fähigkeiten mitbrachten. Aber er hatte kein Zutrauen zur felorischen Gesellschaft. Die Mehrheit der Felorer auf den Torstationen lehnte Innovationen im Grunde ihres Herzens ab, auch wenn sie das niemals öffentlich geäußert hätten. Faktisch taten sie aber alles, um lieb gewonnene Pfade nicht verlassen zu müssen. Yyvert fand das bedauerlich. Aber er hatte es sich längst abgewöhnt, darüber zu verzweifeln. Stattdessen war ihm mehr und mehr bewusst geworden, dass man einen langen Atem brauchte, um erfolgreich zu sein. Yyverts Vorstellungskraft ging dabei um einiges über die Fähigkeiten der anderen Felorer hinaus. Ob es daran lag, dass es bei seiner Zeugung nur drei Spender von Mentalenergie und Achter-Elementen gegeben hatte? Das jedenfalls unterschied ihn von allen anderen Felorern, mit denen er die Lebenszeit teilte. Yyvert hatte sich allerdings auch in den Archiven der Felorer kundig gemacht und festgestellt, dass kein anderer Fall in der langen Geschichte seines Volkes bekannt war, der seinem eigenen glich. Felorer betrieben keine Medizin im eigentlichen Sinn. Wenn ein fe-
lorischer Körper nicht mehr funktionierte, wurden seine Achterelemente in einer Reihe von Austauschritualen verwendet. Dasselbe geschah mit der Mentalenergie. Große Anstrengungen in die Reparatur eines physiologisch defekten Körpers zu stecken, erschien keinem Felorer sinnvoll. Das unterschied sie von vielen anderen Spezies. Insbesondere waren da eher konventionelle organische Arten zu nennen, bei denen meistens die individuelle Integrität eine besondere Rolle spielte. Einem Felorer fiel es normalerweise nicht schwer, innerlich der Auflösung der eigenen Persönlichkeit zuzustimmen. Yyvert hatte gehört, dass beispielsweise Erinjij genau diesen Vorgang als Tod bezeichneten. Ein Weiterleben ohne den Erhalt der eigenen Persönlichkeit hatte für sie keinen Sinn, weswegen es für sie auch kein Trost war, wenn über den Nahrungskreislauf letztlich die Materie, aus denen sich zersetzende Leichen bestanden, über die Aufnahme in Pflanzen und Tiere wieder von anderen Artgenossen aufgenommen wurden. Nach felorischer Auffassung war eine Persönlichkeit jedoch ohnehin nur ein Konstrukt auf Zeit. Eine überzogene Betonung des Egos war demzufolge nur ein Quell von Leid. Auch das war ein Grund dafür, dass beim Ritual des Austauschs mindestens zwölf Felorer teilzunehmen hatten, um zu verhindern, dass die neu entstehende Persönlichkeit zu einseitig durch die Bewusstseinsanteile einiger weniger Spender geprägt wurde. Das wurde allgemein als schädlich angesehen, obwohl die Nebenwirkungen in Wahrheit wenig erforscht waren. Man befürchtete, dass es zu übergroßer Egozentrik führte, wodurch die spätere Selbstauflösung zu einer unnötigen Seelenqual werden musste. Genau das könnte bei mir eines Tages der Fall sein, überlegte Yyvert, während er ein paar höherdimensionale Routineberechnungen überprüfte. Die Tatsache, dass es so gut wie keine felorische Medizin gab, hatte zur Folge, dass dieser Aspekt nie wirklich erforscht worden war. Die felorische Wissenschaft hatte sich über ungezählte Generationen so gut wie ausschließlich mit dem Raum, der Zeit und den aufge-
rollten Dimensionen befasst. Allein eine Beschäftigung mit diesen Forschungsgebieten brachte Prestige und ermögliche den Aufstieg zum Tormeister. So kam es, dass die Felorer fast alles über das Universum und verhältnismäßig wenig über die eigene Spezies wussten. Genauso wenig kannte man die Ursache von Yyverts besonderer Begabung. Sie war ein Rätsel. Bestaunt wie ein mystisches Wunder oder mit Skepsis betrachtet aufgrund der außergewöhnlichen Zeugung durch nur drei Individuen. Auch in diesem Punkt war man mehr oder weniger auf Mutmaßungen angewiesen. Dass es etwas mit den besonderen Umständen des Austauschrituals zu tun hatte, bei dem Yyvert gezeugt worden war, lag für die meisten, die an diese Angelegenheit einen Gedanken verschwendeten, auf der Hand. Die eigentlichen Zusammenhänge lagen jedoch im Dunkeln. Noch war Yyvert ein Jung-Tormeister. Noch waren seine geistigen Kräfte gar nicht voll zur Entfaltung gekommen. Aber wenn das eines Tages der Fall ist, werde ich in die Untiefen der Raumzeit vordringen, die nie zuvor ein Felorer ausgelotet hat!, so hatte er sich vorgenommen. Im Augenblick arbeitete Yyvert fieberhaft an einer Möglichkeit, die gigantische Kugel, die so unerwartet erneut das Nar'gog-System heimgesucht hatte, doch noch aus dem Lauf der Zeit herauszuschneiden. Und das trotz der Tatsache, dass die CHARDHIN-Perle mit etwas ausgestattet war, das allem widersprach, was die Felorer über Raum, Zeit und Dimensionen wussten. Mit Permanenz. Den Erbauern der Perle war damit etwas gelungen, was eigentlich allen Gesetzen der Physik widersprach. Sie hatten den Kosmos selbst überlistet. Wie viel hätte Yyvert dafür gegeben, dieses Geheimnis zu ergründen! Die Wahrheit war, dass er gerade genug über die kosmischen Gesetze der Raumzeit wusste, um ermessen zu können, wie weit die Erbauer der CHARDHIN-Perle der felorischen Wissenschaft voraus sein mussten. Das war deprimierend. Der Versuch, eine Sollbruchstelle in diese
sich durch die gesamte Dauer des Universums ziehende Existenzlinie zu treiben, war kläglich gescheitert. Aber möglicherweise lag der Fehler gar nicht an der Methode an sich. Vielleicht war es möglich, eine andere Zeitebene zu finden, wo man ansetzen konnte. Die logische Konsequenz wäre es, wirklich bis zum Anfang des Universums zurückzugehen, überlegte Yyvert. Aber dazu fehlt uns bislang die Energie! Vor allem mentale Energie! Der Geist kann durch die Zeit fast nach Belieben reisen, wenn er stark und beweglich genug ist. Manchmal braucht er die Mathematik als Hilfsinstanz dabei, aber im Prinzip ist jedes Bewusstsein dazu fähig. Die Keelon machen es uns ja vor. Nur die Körper sind und bleiben ein Hindernis dabei. Zumindest für uns. Und doch hatte Yyvert sich erlaubt, einen Eingriff ganz am Anfang des Kosmos zumindest einmal rechnerisch durchzuspielen. Torstationsleiter Boolvert hatte ihn zunächst mit Geringschätzung bedacht, weil er sich sogenannten fruchtlosen Gedankenspielen hingab, anstatt aktiv nach einer Lösung für die anstehenden Probleme zu suchen. Aber Yyvert wusste nur zu gut, dass große Lösungen sehr häufig gerade aus derartigen, zunächst einmal fruchtlosen Gedankenspielen erwuchsen. Sie waren der Beginn jeder Kreativität, während die in ihren Ritualen erstarrte, streng hierarchisch organisierte Wissenschaft der Felorer die schöpferische Kraft des Einzelnen eher erstickte als förderte. Zumindest empfand Yyvert das so, und da er bereits ein Außenseiter war, brauchte er nicht darum zu fürchten, von den anderen gemieden oder missachtet zu werden. Das geschah ja ohnehin schon.
Yyvert ging – mit ausschließlich mathematischen Mitteln – immer weiter in der Zeit zurück. Bis zum Big Bang. Dem großen Donnerwetter, das die Ouvertüre zur Bildung des Universums gewesen war. So weit zu kommen, war selbst für Felorer schwierig, und es gab nur wenige, die es je geschafft hatten. Wie mochten es die ominösen Schöpfer der CHARDHIN-Perlen nur geschafft haben, ihre goldenen Vehikel genau an dieser Stelle in
der Zeit zu verankern? Yyvert fiel ein, dass es vielleicht tatsächlich auf den exakten Zeitpunkt ankam, an dem die ERBAUER in Aktion getreten waren. Kurz vor oder kurz nach dem Big Bang? Das schien Yyvert im Augenblick die alles entscheidende Frage zu sein, von deren Beantwortung so viele andere Faktoren abhingen. Yyvert dachte nach. Das karge Wissen über die CHARDHIN-Perlen verdanken wir der Erinjij-Frau, die Porlac mitgebracht hat. Aber die Frage ist, als wie zuverlässig diese Quelle betrachtet werden kann. Yyvert reckte seinen Felorer-Körper etwas. Er spürte ein leichtes Unwohlsein. Die Ursache kannte er. Es war der Schwefelentzug. Aber Yyvert beachtete es kaum. Zu sehr war er in seine Gedanken versunken. Wenn es den Schöpfern der CHARDHIN-Perle einst tatsächlich gelang, die Permanenz der Perlen temporal VOR dem Urknall zu fixieren, dann sind sie tatsächlich unangreifbar. Schon eine einzige Millisekunde DANACH würde es mit sich bringen, dass man zumindest mit einem entsprechenden Energieaufwand die gesamte permanente Zeitlinie aus der Raumzeit herausoperieren und ungeschehen machen müsste. Ein Konglomerat aus Stimmen und nonverbalen Sinneseindrücken stürmte in diesem Augenblick auf Yyvert ein. Innerhalb der SteuerAcht von Torstation 1 begannen tumultartige Zustände auszubrechen. Alarmsignale schrillten. Es musste etwas Furchtbares geschehen sein.
Sehr langsam nur tauchte Yyvert wieder aus den Tiefen seines Bewusstseins empor. Die Realität der Gegenwart drang wie ein Sturzbach in sein Bewusstsein und überflutete es mit unzähligen, verwirrenden Eindrücken. Boolvert und Felvert waren voller hektischer Aktivität. Neue, großformatige Holodisplays wurden geöffnet. Eines schwebte über den Tormeistern und zeigte das Nar'gog-System in seiner ganzen Ausdehnung. Die Torstationen waren dabei wie üblich gesondert
markiert. Dasselbe galt für die Zentralwelt der Jay'nac. »Höchste Alarmstufe!«, meldete eine Kunststimme, in deren Worten noch ein paar nonverbale, nur für Felorer erfassbare Sinneseindrücke mitschwangen, die den einzelnen Tormeistern sofort ein Bild davon vermittelten, wie dieser Alarm einzuschätzen war. Schlimmer kann es wohl nicht mehr kommen!, dachte Yyvert. Auf der Positionsanzeige wurde ein sich schnell bewegendes Objekt angezeigt, bei dessen ortungstechnischer Erfassung sich die Stations-KI nicht so recht schlüssig wurde. Es wurde ein Energiemuster angezeigt, aber es schien keinerlei feste Materie zu geben. Und doch verhielt sich dieses Objekt andererseits genauso wie ein fester Körper. Im Prinzip sind Energie und Materie ineinander umwandelbar!, dachte Yyvert. Aber unser Rechnersystem hat offenbar seine Probleme damit … Das Objekt, das am ehesten als Energiewirbel zu bezeichnen war, strebte auf den äußersten Planeten des Nar'gog-Systems zu. Die temporale Schutzzone, die die Felorer zu überwachen hatten, reichte allerdings noch weit darüber hinaus bis zu einem wolkenartigen Feld aus Kometen und Meteoriten. Dieses Feld war die Grenze des Nar'gog-Systems, dessen äußerster Planet diese Zone streifte. Es handelte sich um eine Eiswelt mit einer Masse, die etwa halb so groß war wie die Masse Nar'gogs. Der Planet war unbewohnt. Drei Monde umkreisten ihn in mehr oder minder irregulären Bahnen. Wie sie zustande gekommen waren, hatte nie ein Astronom geklärt. Wahrscheinlich waren die exzentrischen Umlaufbahnen Ergebnis zahlreicher Kollisionen während des Durchgangs durch diese Zone, die die Jay'nac einfach nur als das Äußere bezeichneten – im Gegensatz zu einem ähnlichen, in unmittelbarer Nähe des Zentralgestirns gelegenen Bereichs, der demgegenüber als das Innere bezeichnet wurde. Yyvert konzentrierte sich auf das energetische Objekt, das förmlich durch das System schoss. »Was ist das?«, fragte er. »Vielleicht eine Waffe«, gab Boolvert Auskunft. Yyvert nahm ein paar Schaltungen an seiner Konsole vor und ließ
sich insbesondere die Kommunikation der letzten Zeit in Form einer Übersicht anzeigen. Er besaß unter anderem die Fähigkeit, sich derartige Übersichten innerhalb von Sekunden dauerhaft einzuprägen. Felvert erklärte: »Nach dem, was wir an Kommunikation von der Oberfläche mithören konnten, ist es ganz bestimmt eine Waffe!« Die Kommunikation zwischen Porlac und Prosper Mérimée war in voller Länge auch zu den Torstationen übertragen worden. Porlac wünschte, dass die Tormeister über alles im Bilde waren. Ihnen in dieser Situation irgendwelche Befehle zu geben, wäre wohl sinnlos gewesen. Zweifellos verfügten die Herren der Perle über Mittel und Wege, um solche Nachrichten aufzufangen und zu entschlüsseln. So lag es also durchaus im Ermessen der Felorer, selbst zu entscheiden, ob und wie sie handelten. Das Reich der Jay'nac war politisch ohnehin vollkommen handlungsunfähig. Folglich herrschte auf den Stationen die Devise zuzuschlagen, sofern man eine Möglichkeit dazu sah, den Feind in der goldenen Kugel doch noch zu besiegen. »Ich möchte eine genaue Analyse haben!«, forderte Felvert und brachte damit sein Missfallen über die bisherigen Ergebnisse sehr viel drastischer zum Ausdruck, als dies unter Felorern eigentlich als höflich galt. Aber Felvert stand als oberster Tormeister auch unter dem mit Abstand größten Druck von allen Felorern an Bord der Torstationen. Ganz gleich, was nun geschah – später würde man darüber diskutieren, ob er seine Position verantwortungsvoll ausgefüllt hatte. »Worum handelt es sich bei diesem wirbelartigen Objekt?«, fuhr Felvert gereizt fort. Er machte sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe, sich einigermaßen zu beherrschen. »Außerdem möchte ich, dass eine permanente Verbindung zu Station 5 geöffnet wird. Die ist dem vermuteten Zielpunkt am nächsten.« »Wird ausgeführt«, meldete Ronert, einer der untergeordneten Tormeister, die zurzeit auf der Steuer-Acht von Torstation 1 Dienst taten. Yyvert verachtete ihn. Für ihn war Ronert der Prototyp des angepassten Tormeisters. Vielleicht wärst du auch so, wenn du auf normale
Weise gezeugt worden wärst und keinen zurückgebliebenen Körper hättest!, meldete sich eine kritische Stimme in ihm. Also geh nicht härter mit ihm ins Gericht, als du es mit dir selbst tun würdest! Yyvert versuchte, sich wieder seiner Arbeit zu widmen, aber Felvert sprach ihn jetzt an. »Wir brauchen die dir zur Verfügung gestellten Rechnerkapazitäten.« »Warum?« »Weil gerade ein Angriff im Gange ist.« »Das ist doch nichts weiter als eine Machtdemonstration des Perlenherrn«, glaubte Yyvert. »Es lohnt sich nicht, deswegen Rechnerkapazitäten von einem Projekt abzuziehen, das noch die Chance hat, die ganze Sache zu wenden!« »Es ist ja nicht für lange, Yyvert!«, tröstete ihn der oberste Tormeister. Im nächsten Moment standen Yyvert nur noch die normalen Rechnerfunktionen zur Verfügung. Die großzügigen Speicherweiterungen und Sonderfunktionen für aufwendige Simulationen waren gesperrt, weil die Rechnerkapazitäten jetzt anders genutzt wurden. Zum Beispiel, um den Angriff der CHARDHIN-Perle zu beobachten und auszuwerten. Etwas, das Yyvert für absolut sinnlos hielt. »Der Angriff wird so oder so erfolgen. Wir können uns dagegen kaum wehren, ganz gleichgültig, wozu wir unsere Rechnerkapazitäten auch nutzen mögen.« »Die Sache ist entschieden«, erklärte Felvert noch einmal. Seine Worte klangen überraschend frostig. Widerspruch ist eben etwas, das man an Bord eines Schiffes oder einer Station eigentlich vermeiden sollte!, überlegte Yyvert. Leider konnte ich der Versuchung bisher nie widerstehen, meine Meinung laut und deutlich zu sagen. Ronert führte ein paar Schaltungen durch. Im nächsten Moment öffnete sich ein Holofenster, durch das die permanente Verbindung zur Station 5 geschaltet wurde. Der obere Teil des wurmartigen, aus ungezählten Achter-Segmenten bestehenden Körpers von Stationsleiters Shyylvert wurde nun sichtbar. Er gab einen kurzen Statusbericht ab.
Danach hatte das energetische Objekt eine sehr weitläufige Umlaufbahn um den äußeren Eisplaneten erreicht. Die Jay'nac hatten ihm einst den Namen Dan'drag gegeben, was so viel wie Hartes, schmutziges Wasser im Überfluss bedeutete, aber auch mit Ort, den man meiden sollte übersetzt werden konnte. Bevor es die Torstationen gegeben hatte, war man auf den Gedanken gekommen, eine Garnison auf Dan'drag zu errichten. Aber dieser Plan war nie verwirklicht worden. Die Verbesserung der Ortungssysteme und die Errichtung der Torstationen hatten ihn ohnehin obsolet gemacht. So hatte es auf Dan'drag niemals auch nur einen Außenposten gegeben. Torstation 5 war keineswegs in einer Umlaufbahn um diese Welt etabliert worden, sondern an einem der Lagrange-Punkte zwischen Dan'drag und seinem Zentralgestirn. Dort hoben sich die Gravitationskräfte von Planet und Sonne gegenseitig auf. Während der Eisplanet seinen fast zehntausend Erdjahre andauernden Umlauf begann, wanderten diese Lagrange-Punkte natürlich mit dem Planeten um die eigene Sonne. Ein idealer Ort für eine Station also. Nirgends konnte man sie besser verankern. Allerdings sammelten sich an den Lagrange-Punkten auch mit Vorliebe Meteoriten und kleinere Asteroiden, die dann von dort nie wieder freikamen und immer ein gewisses Kollisionsrisiko mit sich brachten. Doch gegen solche Unbilden standen den Felorern seit dem Bündnis mit den Keelon notfalls Mittel der Zeitmanipulation zur Verfügung, von denen sie im Fall der eigenen Existenzbedrohung auch ohne Rücksicht Gebrauch zu machen pflegten. »Eine genaue Analyse des Objekts ist nach wie vor nicht möglich«, erklärte Ronert schließlich. »Es verfügt sowohl über Eigenschaften von Materie als auch solche, die man eher der Energie oder elektromagnetischer Strahlung zuordnet.« »Aber es dürfte feststehen, dass es künstlich gesteuert wird«, meldete sich Shyylvert von Station 5 aus. »Ich frage mich, ob es von der goldenen Kugel aus gelenkt wird. Jedenfalls wüsste ich nicht, wie sonst die entsprechenden Informationen innerhalb des Objekts gespeichert und abgerufen werden könnten.« »Was ist deine Meinung dazu, Yyvert?«, fragte Felvert, nun aus-
drücklich an Yyvert gerichtet. »Ehrlich gesagt, bin ich bis vor Kurzem so sehr in die Lösung eines anderen Problems vertieft gewesen, dass es mir sehr schwer fällt, jetzt dazu …« »Schon gut. Aber vielleicht widmest du dich der Sache nun doch einmal«, schalt ihn Felvert. Das Objekt wurde näher herangezoomt. Es war jetzt deutlich erkennbar, wie es sich anschließend teilte. »Objekt hat sich gedrittelt. Alle drei Teilobjekte kreisen um einen regulären Orbit des äußeren Eisplaneten«, meldete Shyylvert von Station 5. »Für mich sieht das wie eine Machtdemonstration aus!« »Genau das wird es sein!«, stimmte Felvert zu. »Und so, wie die Lage im Moment ist, können wir nichts dagegen tun.« »Das einzige lohnende Ziel am Rand des Äußeren ist Torstation 5«, gab Yyvert zu bedenken. »Die Jay'nac haben keine Kriegsschiffe mehr in dem Sektor und auch sonst keinerlei Basen.« Eines der drei Teilobjekte schoss jetzt aus der Bahn heraus. Es setzte sich urplötzlich auf einen höherdimensionalen Impuls hin in Bewegung. Der Ortung von Station 5 gelang es nur, eine Resonanz dieses Impulses aufzuzeichnen, aber als Ursprungsort war eindeutig die tief über dem Granogk hängende CHARDHIN-Perle identifizierbar. Der rasende Energiewirbel fuhr in einen der Monde hinein, einen luftlosen Felsbrocken. Für ein paar Augenblicke geschah nichts. Dann platzten die ersten Gesteinsbrocken aus der Oberfläche des Mondes heraus. Mäandernde Risse fraßen sich über die gesamte, an den Polen leicht abgeplattete Gesteinskugel. In einer gewaltigen Explosion flog der Mond dann förmlich auseinander. Milliarden von kleinsten Brocken wurden wie Geschosse auf die Reise geschickt. Dutzende von Einschlägen konnte man selbst mithilfe der optischen Ortungsinstrumente auf dem Eispanzer des äußeren Planeten erkennen. Da es dort so gut wie keine Atmosphäre gab – sah man einmal von einem beständigen Strom von Edelgasen ab, der die Oberfläche erreichte und sich dort in einer Konzentration verteilte, die um den Faktor zehn unter dem mittleren Luftdruck des Mars lag – schlugen
die Brocken teilweise mehrere Kilometer tief in das Eis ein. Nur vagabundierende Trümmerstücke blieben von dem Mond übrig. Diese irrlichterten nun durch das All, chaotisch in ihren Drehbewegungen. Manche wirkten, als würden sie Pirouetten vollführen. Früher oder später fing sie die Gravitation des Eisplaneten ein. Und dort, wo sie mit genug Kraft hinaus in Richtung des Äußeren geschleudert wurden, bekam dieser Gürtel von Materiebrocken, der das Nar'gog-System umgab, ein paar Objekte dazu. Nach zahllosen Karambolagen würden diese vielleicht in Jahrtausenden endlich ihre Bahn finden. »Es war tatsächlich eine Machtdemonstration«, stellte Yyvert fest. »Aber ich glaube nicht, dass das Spektakel bereits vorbei ist.«
Porlac verfolgte die Vorgänge um den äußersten Planeten des Nar'gog-Systems auf einem Holodisplay. Dort wurden zeitgleich die Anzeigen eingespielt, die von Torstation 5 kamen. Der zertrümmerte Mond hatte sowohl auf Porlac als auch auf das Granogk einen tiefen Eindruck gemacht. Die entsprechenden Stimmen waren unüberhörbar. »Wir müssen nachgeben – andernfalls wird Nar'gog viel zu erleiden haben!«, sagte jemand. Und ein anderes Mitglied des Granogk erklärte: »Sie sind einfach zu mächtig. Wir riskieren unseren endgültigen Untergang!« »Wie gut, dass unsere Vorfahren diesen Moment nicht erleben mussten!« Siroona und Scobee hatten all das ebenfalls mitbekommen, und Siroona konnte sich der morbiden Faszination, die von dieser barbarischen Form purer Gewalt ausging, kaum entziehen. Sie wollte es auch gar nicht. Was auch immer in der Milchstraße geschehen sein mag, seit ich auf der intergalaktischen Station festsaß … bei den Herren der Perle muss es sich um die legitimen Nachfolger foronischer Macht handeln. Siroona ließ diesen Gedanken ohne jede Wehmut zu. Es hatte keinen Sinn, den alten Zeiten nachzutrauern. Das hatte sie inzwischen begriffen. »Ihr habt die Demonstration unserer Macht gesehen«, stellte Pro-
sper Mérimée klar. »Aber wir sind noch zu sehr viel mehr in der Lage.« Porlac zögerte noch immer. Innerhalb des Granogk mehrten sich jetzt die Stimmen, die sich dafür aussprachen, die Gefangene Scobee auszuliefern. Porlac hingegen arbeitete darauf hin, Zeit zu gewinnen. Zeit, die seine felorischen Freunde vielleicht noch brauchten, um schließlich doch ans Ziel zu gelangen. Was geschieht, wenn wir Scobee jetzt ausliefern?, fragte sich Porlac recht nüchtern. Er hatte sie zwar gewissermaßen unter seine Fittiche genommen, aber das hieß nicht, dass er ihretwegen die Sicherheit des Nar'gog-Systems gefährdet hätte. Die Perlenbesatzung kann jederzeit zurückkehren und nahezu alles von uns verlangen, wenn wir dem nicht Einhält gebieten!, ging es dem Sprecher des Granogk durch das aufgewühlte Bewusstsein. Die Gedanken rasten nur so. Er musste abwägen. Entscheiden, ob er sein Gegenüber – einen dahergelaufenen Erinjij, der auf mysteriöse Weise die Herrschaft über die Perle usurpiert haben musste – noch länger hinhalten wollte oder ob die Gefahr zu groß wurde, dass man zum tödlichen Schlag gegen Nar'gog und die Jay'nac ausholte. Aber Porlac war plötzlich davon überzeugt, dass es dazu nicht kommen würde, solange die Fremden etwas von ihm und dem Granogk wollten. Sie konnten Nar'gog so lange nicht vernichten, wie sich hier eine Erinjij befand, an der Prosper Mérimée aus unerfindlichen Gründen ein so unglaubliches Interesse hatte. Wenn ich nur den Grund dafür wüsste!, dachte Porlac. »Was ich bis jetzt gesehen habe, sind doch nicht mehr als ein paar billige Kunststückchen, zu denen wir auch jederzeit in der Lage gewesen wären!«, erwiderte er daher. »Und das Schicksal eurer Flotte? Habt ihr Jay'nac das schon vergessen?«, fragte Prosper Mérimée. »Wie könnte ich das! Aber es steht leider nicht in meiner Macht, sie zurückzuholen.« »Wie gesagt, wir haben sie nicht vernichtet, obwohl sie uns ange-
griffen hat – was ein Beweis unserer Friedfertigkeit ist.« »Jeder Räuber bekommt eine gewissen Zug von Friedfertigkeit, wenn er bekommen hat, was er will!«, lautete Porlacs kühle Erwiderung. »Du legst es also darauf an, Sprecher des Granogk. Ist dir bewusst, dass jetzt, in diesem Augenblick, ein Laserstahl vom Himmel fahren und dich in eine Partikelwolke verwandeln könnte?« »Wie interessant! Jetzt kommt die persönliche Drohung. Ein Verhalten, das uns durch unsere Studien der Erinjij durchaus bekannt ist. Ich hatte für ein paar Augenblicke gedacht, dass du ihnen vielleicht nur äußerlich ähnelst, in Wahrheit aber ein Wesen bist, dessen Anlagen denen der sonst bekannten Erdbewohner weit überlegen sind. Ich scheine mich jedoch getäuscht zu haben.« Prosper Mérimée vernahm ein Summen seines Kommunikators. Er blickte auf die Anzeige. Sein Gesicht veränderte sich. Die Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen. Die Züge wurden besorgt. Wer ist mit ihm gerade in Kontakt getreten?, fragte sich Scobee, die diese Szene sehr aufmerksam mit angesehen hatte. Und was hindert Prosper eigentlich daran, den widerspenstigen Sprecher des Granogk tatsächlich einzuäschern? Blufft er am Ende gar? Sind seine Fähigkeiten doch nicht so gewaltig, wie man im ersten Moment glauben konnte? Prosper Mérimée wandte sich an das Granogk. »Ist das, was euer Sprecher Porlac geäußert hat, auch die einhellige Meinung des Granogk – oder gibt es unter euch doch noch Wesen, die kompromissbereit und vernünftig sind? Jay'nac, denen der Fortbestand ihres Heimatplaneten ein ernstes Anliegen ist und die nicht verstehen können, dass ihr Sprecher die Zukunft wegen einer läppischen Gefangenen aufs Spiel setzen will! Aber genau das tut Porlac! Darum wende ich mich nun direkt an euch, die ihr das Volk der Jay'nac repräsentiert! Euch, von denen man sagt, ihr wärt die Elite der Jay'nac!« Er schwieg. Atmete tief durch. Ließ den Blick schweifen. Es herrschte Totenstille im Granogk und darüber hinaus. Dass es innerhalb des Rates vereinzelte Zweifel gab, ob Porlac tat-
sächlich noch immer den richtigen Kurs verfolgte, traf zu. Aber ein Prinzip des Granogk – vielleicht sogar sein wichtigstes – war die Geschlossenheit. Die Geschlossenheit mit dem großen Ganzen beispielsweise, aber auch untereinander. Man stand gemeinsam zu getroffenen Entscheidungen oder zu Personen, die mit einer bestimmten Aufgabe betraut worden waren. In diesem Fall war das nun einmal Porlac. Prosper Mérimée trat ein paar Schritte zurück. Er begann zu ahnen, dass er sich vergaloppiert hatte. Der Ansatz, einen Keil zwischen das Granogk und seinen Sprecher treiben zu wollen, war falsch, das erkannte er nun. Dadurch sorgte er nur dafür, dass die Elite der Jay'nac und ihr Sprecher noch enger zusammenrückten. »So seht, was weiter geschieht!«, sagte Prosper und wandte sich vom Granogk ab. Er deutete auf das Holodisplay. »Die bisherige Demonstration unserer Macht scheint euch noch nicht genug beeindruckt zu haben!« Prospers Blick fixierte Scobee. Sie zuckte unwillkürlich zusammen und wich ein paar Schritte zurück. Ihr stand überhaupt nicht der Sinn danach, an Bord der CHARDHIN-Perle zu gehen. Wie auch immer Prosper in die Situation gekommen war, die Perle zu beherrschen, so hatte sie jedenfalls keine Lust, sich den Launen eines Mannes unterzuordnen, der sich offenbar seit ihrer gemeinsamen Zeit an Bord der RUBIKON charakterlich stark verändert hatte und Scobees Einschätzung nach vollkommen unberechenbar geworden war. Andererseits war ihr sehr wohl bewusst, dass Porlac gewiss irgendwann nachgeben würde. Du wirst dich gegen das Anliegen dieses Emporkömmlings wohl kaum wehren können!, lautete Siroonas Kommentar. Ich nehme an, dass sich die Situation für uns alle etwas entspannt, wenn du mit ihm gehst. Also zier dich nicht so, Klon! Du könntest einer Planetenbevölkerung das heben retten! Scobee wandte den Kopf in Siroonas Richtung. Ich glaube, du irrst dich, alte Frau!, antwortete Scobee mit einem konzentrierten Gedankenstrom, der nur für die Foronin bestimmt war.
So?, höhnte Siroona. Ihr augenloses Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Eine starre Maske. Scobee sagte laut: »Sobald Prosper mich mitnimmt, hat er, was er will, und könnte Nar'gog vernichten, ohne dass er sich damit selbst schaden würde!« Sie sprach in gedämpftem Tonfall, sodass nur Siroona ihre Worte verstehen konnte. Zwar hätte auch ein konzentrierter Gedankenstrom genügt, aber es war leichter, seine Gedanken zu sammeln, wenn man sie mündlich artikulierte, wie Scobee immer wieder festgestellt hatte. Schließlich hatte sie selbst ja keinerlei Anlage zur Telepathin. Ein Lachen ertönte in Scobees Kopf. Es dauerte einen Moment, ehe sie erkannte, dass es Jarvis' Stimme war. Es handelte sich um die Erinnerung an ein Lachen, das Siroona während ihrer gemeinsamen Reise auf der RUBIKON neuronal in ihrem Hirn abgespeichert haben musste. Jetzt holte sie diese »Konserve« wieder hervor und pflanzte sie in Scobees Denken. »Was soll das, Siroona? Trauerst du so sehr den alten Zeiten nach, dass du mich mit aller Macht daran erinnern willst?«, fauchte Scobee sie giftig an. »Was bildest du dir eigentlich ein?« Dieses Lachen war mein Kommentar zu dem, was du gesagt hast. Da ich selbst Menschenlachen nicht adäquat reproduzieren kann, habe ich dir etwas gesandt, das zugegebenermaßen »secondhand« war. Ich habe nicht damit gerechnet, dass dich das so aufregt. Schließlich habe ich mir sagen lassen, dass deinesgleichen ohne Bedenken und Skrupel beispielsweise die Häute toter Tiere am Leib trägt, somit also sehr wohl bereit ist, auch etwas »Gebrauchtes« zu verwenden. Scobee verzog angewidert das Gesicht. »Das ist ekelhaft!« Oh, so empfindlich? »Ja!« Könnte es sein, dass du dich etwas überschätzt?, fragte Siroona höhnisch. Scobee ignorierte die Frage. Jedenfalls werde ich es dir persönlich verübeln, wenn uns diese Kugel deinetwegen alle zerquetschen sollte, liebste Scobee, wisperte die Foronin mit falscher Freundlichkeit.
Der zweite Energiewirbel verließ jetzt die Umlaufbahn des äußeren Eisplaneten. Er stürzte geradezu auf die Oberfläche und fraß sich in das gefrorene Wasser hinein. Die Hitzeentwicklung war dabei enorm. Eis taute in gewaltigen Mengen. Riesige, flüssige Pfützen, die kleinen Meeren glichen, bildeten sich und erstarrten sogleich wieder zu spiegelglatten Flächen. Der Energiewirbel fraß sich tiefer und tiefer. Seine enorme Kraft wurde durch den Eispanzer so gut wie nicht gebremst. Er erreichte schließlich den unter einem dicken Eispanzer verborgenen Ozean des Planeten. Wasser erreichte nun einmal bei Minus zwei Grad die maximale Dichte, was bedeutete, dass das unter einem Millionen Tonnen schweren Eispanzer zusammengepferchte Wasser einfach nicht gefrieren konnte. Die durch den Energiewirbel ausgelösten Turbulenzen sorgten dafür, dass sich an der Oberfläche des Eispanzers erste Risse und Verschiebungen zeigten. Eisbeben. Der Wirbel drang schließlich bis zum eigentlichen Gesteinskern des Planeten vor und begann ihn aufzuschmelzen. Es dauerte nicht lange, bis sich der gesamte Planet in eine Explosionshölle verwandelte. Eine rotierende Materiewolke blieb zurück, aus der vielleicht in ein paar hundert Millionen Jahren einmal wieder ein Planet werden konnte. Optimistisch geschätzt. Die verbliebenen Monde des Eisplaneten kamen nun auch ins Trudeln und verloren völlig ihre Bahn. Einer torkelte in die Materiewolke, deren hohe Temperaturen früher oder später auch dafür sorgen würden, dass er aufgeschmolzen und in die Sphäre des neuen Protoplaneten integriert würde. Der letzte Mond des ehemaligen äußeren Eisplaneten driftete in Richtung jener Zone ab, die von den Jay'nac das Äußere genannt wurde. Sowohl die Felorer auf den Torstationen als auch Porlac und das Granogk konnten per Live-Transmission mitverfolgen, was mit dem Eisplaneten geschah.
Shyylvert, der Leiter von Torstation 5, nahm fassungslos die Sinneseindrücke auf, die ihm die Ortungsanzeige vermittelte. Was sich auf Nar'gog tat, hatte er – wie auch die Felorer auf den anderen Torstationen – per Direktübertragung mitverfolgen können. So war Shyylvert auch Zeuge des anmaßenden Auftritts des Erinjij Prosper Mérimée geworden. Instinktiv hatte Shyylvert sofort verstanden, warum sich Porlac in dieser Situation so schwer damit tat, nachzugeben und die Gefangene einfach auszuliefern. Auf seiner Station suchten die felorischen Tormeister – ebenso wie auf allen anderen – verzweifelt nach einer Möglichkeit, diesen übermächtigen Feind doch noch zu besiegen. Deshalb blieben sie ständig untereinander in Kontakt. Aber die Chancen standen denkbar schlecht. »Wir können nur hoffen, dass die andere Seite die Codierung unserer Kommunikation nicht zu knacken weiß«, sagte Mirert, der auf Torstation 5 für die Kommunikation zuständig war. »Andernfalls wissen die, was wir vorhaben.« »Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte Shyylvert. »Auf sich gestellt wird keine unserer Stationen eine Lösung finden.« »Da gibt's doch dieses Wunderkind auf Station 1.« »Du sprichst von Yyvert?« »Ja.« »Das Ergebnis eines misslungenen, fehlerhaften Austauschrituals – aber mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns wirklich weiterbringt.« »Aber Felvert ist mit seiner Kreativität am Ende«, stellte Mirert kühl fest. »Ich sage das nicht gern. Er war an dem Austauschritual beteiligt, das zu meiner Zeugung führte und spendete sogar drei Achter-Elemente. Von daher gibt es eine gewisse emotionale Verbundenheit mit ihm. Aber die Wahrheit muss man wohl mit all ihren Sinnes-Emissionen aufnehmen, so schmerzhaft das auch manchmal ist.« Er rutschte durch den Raum der Steuer-Acht zu einer der
anderen Konsolen und öffnete durch ein paar Schaltungen ein holografisches Display, das die Form einer Pyramide besaß. Dann kehrte er zurück zu seinem angestammten Platz. »Ich denke, wir bekommen vorher noch ein anderes Problem«, war Shyylvert überzeugt. Mirert wandte das obere Ende seines augen- und ohrenlosen Körpers in Shyylverts Richtung. Einen Kopf besaßen die Felorer ebenso wenig wie äußerlich sichtbare Sinnesorgane. »Und das wäre?« Shyylvert markierte die gegenwärtige Position des dritten Energiewirbels in der holografischen Darstellung. »Ich glaube nicht, dass Prosper Mérimées Machtdemonstration schon vorbei ist.« »Aber was sollte er jetzt noch zerstören wollen? Hier draußen ist doch nichts mehr.« »Nein? Du vergisst unsere Station.«
Man erkennt ihn nicht wieder, so machtbesessen, wie er sich hier gibt!, ging es Scobee durch den Kopf. Was war nur aus dem Mann geworden, den sie an Bord der RUBIKON kennengelernt hatte? Dem Getto-Emigranten und Anführer einer Truppe von menschlichen Abnormitäten? Die Pose des machtbesessenen Erpressers und Eroberers passte nicht zu ihm, fand Scobee. Aber er selbst schien das anders zu sehen. Auf dem Weg zur Macht schien ihm jedes Mittel recht gewesen zu sein. Ist das jetzt nicht langsam bereits eine Überinterpretation von Prospers Verhalten?, fragte sie sich wenig später – allerdings nur in Gedanken. Und da war immer noch dieser Blick in seinen Augen, der Scobee sagte, dass da etwas nicht so war, wie es zu sein schien. Der Blick passt nicht zu seinem Auftreten. Das ist der Punkt. Prosper Mérimée wandte sich inzwischen an Porlac und das Granogk von Nar'gog. »Sagt euren felorischen Freunden, dass sie die äußerste Torstation evakuieren sollen. Ich glaube, ihr habt sie den Funksprüchen nach,
die wir abgefangen haben, als Station 5 bezeichnet.« »Was hast du jetzt vor?«, rief Porlac ihm entgegen. Aber der Sprecher des Granogk war letztlich vollkommen wehrlos. »Du wirst es erleben, Porlac. Und ich hoffe, du bist dann von meiner Macht überzeugt. Meine Demonstration ist nämlich noch keineswegs beendet. Der Energiewirbel hatte sich gedrittelt – und ein Drittel befindet sich immer noch am Rand des Nar'gog-Systems.« Prosper machte eine Pause. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Dann blickte er auf das Display seines Kommunikators. Er wirkte zunehmend unruhig. Was für Botschaften er aus der CHARDHINPerle empfing, blieb sein Geheimnis. Scobee registrierte allerdings, dass sich Prospers Gesicht veränderte. Der letzte Rest an Farbe wich aus seinem Teint. Schließlich fuhr er fort: »Ihr solltet mit der Evakuierung sofort beginnen. Sonst kann ich für nichts garantieren!« Seine Stimme klang belegt und tonlos. Scobee sah ihn an. Aber er drehte sich nicht zu ihr um.
Die Meldung von dem bevorstehenden Angriff des letzten Energiewirbels erreichte Station 5 ohne Verzögerung. Dort herrschte sofort höchste Alarmbereitschaft. »Ich habe es geahnt!«, stieß Shyylvert hervor und ordnete danach die umgehende Evakuierung der Station an. Er wollte kein Risiko eingehen. Jedes Shuttle, das sich in den Hangars der Station befand, wurde aktiviert. Außerdem gab es einen achtförmigen Fortsatz, der als Rettungskapsel für den Großteil der Stationsbesatzung konzipiert war. Damit würde der Großteil der Besatzung die Station verlassen – zusammen mit dem einen oder anderen Jay'nac, von denen hier auch eine ganze Reihe zu Gast waren. Einige der wenigen noch nicht verschwundenen Kriegsschiffe der Jay'nac näherten sich inzwischen der Station, die im Übrigen jetzt aufgrund der Ereignisse um den äußeren Eisplaneten haltlos durch das All torkelte. Den Lagrange-Punkt, der ihrer Position Stabilität gegeben hatte,
gab es nicht mehr, weil der Eisplanet und sein Gravitationsfeld nicht mehr existierten. Ein Teil der Masse hatte sich zu einer proto-planetaren Wolke zusammengefunden, aber die Schwerkraft dieser Wolke war wesentlich geringer, als es bei dem Planeten der Fall gewesen war. Das bedeutete, dass sich der Lagrange-Punkt nicht mehr an derselben Stelle befand. Die Station besaß zwar auch Antriebssysteme, um die eigene Position zu korrigieren, aber dazu würde jetzt wohl kaum noch Zeit bleiben. »Warum diese blinde Zerstörungswut?«, stieß Shyylvert hervor. »Es ist so sinnlos und vernichtet die Arbeit von vielen, vielen Felorern, die hier über lange Zeit hinweg tätig waren.« Oder war dieser angekündigte Angriff gar keine Demonstration der Macht, wie Prosper Mérimée es gegenüber Porlac und dem Granogk behauptet hatte? War es vielleicht in Wahrheit eine Verzweifelungstat? Ahnten die Herren der Perle, dass die Felorer noch immer versuchten, sie ungeschehen zu machen, und gingen sie deshalb mit ungeminderter Aggression vor, obwohl die Verteidiger inzwischen jede bewaffnete Gegenwehr wegen Erfolglosigkeit aufgegeben hatten? Shyylvert erreichte die Rettungskapsel. Er drehte sich im Korridor vor der Schleuse noch einmal um. Er empfand Wut darüber, dass er gezwungen war, die Station unter diesen Umständen zurückzulassen – mit dem Wissen, dass sie in Kürze zerstört werden würde. Es war in dieser kurzen Zeit auch längst nicht möglich gewesen, alle Forschungsergebnisse zu sichern. Das meiste war unwiederbringlich verloren. Nur ein Teil des Datenarchivs hatte noch übertragen werden können. Welch maßlose Verschwendung!, dachte Shyylvert. Und das alles nur wegen der ebenso maßlosen Ambitionen eines primitiven Erinjij mit Namen Prosper Mérimée … Shyylvert gab sich einen Ruck und passierte die Schleuse. Wenn er an all die aufwendigen Experimente und Forschungssimulationen dachte, die jetzt nicht mehr zu Ende geführt werden konnten, dann hätte er jedes einzelne Achter-Element an seinem Körper schütteln
können, so tief saß der Grimm, der ihn erfasst hatte. Nach vorne orientieren!, nahm er sich vor, während sich das Schleusentor hinter ihm schloss. »Willkommen an Bord«, begrüßte ihn der Pilot – ein Felorer. »Willkommen an Bord, Pilot«, antwortete der Jay'nac. Die Shuttles waren längst ausgeschleust worden. Jetzt klinkte sich noch die große Rettungskapsel aus – ein Gefährt, das die Form einer liegenden Acht aufwies, an deren Seiten sich kleine Ausleger befanden, die als Antriebsdüsen fungierten. »Maximale Beschleunigung!«, befahl Shyylvert. »Verstanden!«, bestätigte der felorische Pilot der Rettungskapsel. Die Ortung zeigte, dass sich der Energiewirbel in Bewegung gesetzt hatte. »Wenn die uns alle vernichten wollten, dann könnten sie es zweifellos tun!«, war der Pilot überzeugt. »Die technischen Möglichkeiten dazu hätten die Perlenherren gewiss.« »Sag mir Bescheid, wenn wir außerhalb der Gefahrenzone sind«, forderte Shyylvert. Das Gefühl der Resignation machte sich immer stärker in ihm breit. »Das lässt sich kaum bestimmen«, sagte der Pilot. Shyylvert war sofort wieder mit seinen Gedanken im Hier und Jetzt. »Wieso nicht?«, fragte er nach einer etwas längeren Pause. Daran musste man sich im Umgang mit ihm gewöhnen. Der Pilot antwortete: »Der Gegner ist viel zu schnell. Ob wir bereits ein paar hunderttausend Kilometer weiter weg sind, spielt überhaupt keine Rolle. Dieser Energiewirbel hätte uns ohnehin innerhalb kürzester Zeit eingeholt.« Nach einer kurzen Pause fuhr er schließlich fort: »Immerhin sind wir bereits weit genug von der Station entfernt, dass uns die Trümmer nicht um die Ohren fliegen.« »Angesichts der Lage ist das wohl etwas, wofür man schon dankbar sein muss«, erwiderte Shyylvert düster. Er stellte eine Verbindung zur Station 1 her, um Felvert zu sprechen. Es war unerlässlich, dass der ehemalige Leiter von Torstation 5 jetzt Bericht erstattete. Nur wenig später hatte der Energiewirbel die Station erreicht. Die
achtförmigen Segmente, die dem Aufbau eines felorischen Körpers nachgebildet waren, wurden auseinandergerissen. Nichts blieb davon übrig. Die Macht einer ungeheuren Explosion ließ die Station zerbersten. Glühende Trümmer irrlichterten durch das All und leuchteten noch einmal kurz auf, ehe die Kälte des Alls sie kurz danach für immer verlöschen ließ.
Wer bist du? Auf welcher Station dienst du? Yyvert war dem Zustand der Erschöpfung nahe – und zwar sowohl körperlich als auch geistig. Er hatte sich aus der Steuer-Acht in einen abgelegenen Raum mit Zugang zur Stations-KI zurückgezogen. Die Simulationen, mit denen er temporale Effekte abzuschätzen versuchte, waren äußerst rechnerintensiv. Aber sowohl Boolvert als auch Felvert waren damit einverstanden, dass Yyvert alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt bekam. Yyvert versuchte inzwischen, immer weiter zurückliegende Zeitlevel anzusteuern. Er befand sich bereits innerhalb der ersten Sekunde seit der Entstehung des Universums, das zu dieser Zeit von einer nahezu gleichmäßig verteilten Menge Protonen erfüllt war. Wasserstoff. Der Anfang von allem. Vermutlich werde ich mich dem Nullpunkt des Seins mathematisch immer weiter annähern können, ohne ihn je zu erreichen!, erkannte Yyvert schließlich resignierend. Wie haben es die Herren der Perle geschafft, den Ursprung der Permanenz so tief in der Vergangenheit zu verankern? Es muss ungeheure Energien gekostet haben. Oder war die Aufwendung dieser gewaltigen Kräfte vielleicht sogar letztlich die Ursache des Urknalls selbst? Der Kosmos als einziges Paradoxon, dachte Yyvert. Die rechnerische Möglichkeit existiert – aber ich mag mir das nicht wirklich vorstellen … Die andere Möglichkeit, nach der die Erbauer der CHARDHINPerle den Ursprung der Permanenz jenseits des Urknalls temporal verankert hatten, erschien ihm immer wahrscheinlicher – obwohl auch diese Hypothese mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete.
Später fand Felvert ihn im Zustand vollkommener Erschöpfung. Yyvert lag auf dem Boden vor einer der Konsolen, mit denen er gearbeitet hatte. Die Simulation lief noch. Felvert begriff gleich, dass es dabei um Zeiträume ging, die in extremer Nähe des Nullpunkts der Zeit lagen. Und doch wohl offenbar nicht nah genug. Selbst wenn wir den Punkt finden, an dem wir ansetzen können, so ist noch lange nicht geklärt, wie die zu einem so fundamentalen Eingriff in die Zeitlinie notwendige Energie gewonnen werden kann!, dachte Felvert. Der oberste Tormeister empfand keine Befriedigung darüber, dass sie das sogenannte Wunderkind bei der Lösung des Problems offenbar auch nicht weitergebracht hatte als der erfahrene Felvert. Felvert versuchte, den in eine Schlaftrance gefallenen Yyvert zu wecken. Zunächst vergeblich. Dann bemerkte er die toten Achter-Segmente an Yyverts kleinem – manche sagten, missgestaltetem – Körper. Also auch er!, überlegte Felvert. Der Schwefel … Seinen eigenen Hang zu dieser Sucht sah Felvert nun in einem etwas milderen Licht. Wenn schon jemand mit der Genialität eines Yyvert zu diesem Hilfsmittel greifen musste, um die geistigen Anforderungen erfüllen zu können, die der Dienst auf der Torstation nun einmal verlangte, dann hatte Felvert doch wohl jedes Recht, sich selbst zu entschuldigen. Jene Achter-Elemente, die Felvert für tot hielt, waren nicht sofort als tote Segmente zu erkennen. Das konnten nur geübte Sinne zuverlässig erfassen. Sinne, die oft genug am eigenen Körper das Fortschreiten dieser suchtbedingten Wucherungen beobachtet hatten und sie daher vom normalen Wachstum unterscheiden konnten. Felvert transferierte einen Impuls aus Mentalenergie in den völlig weggetretenen Yyvert. Dieser erwachte nun aus seiner Trance. Seine Lebensgeister kehrten zurück. »Wir schaffen es nicht«, sagte er. »Wir schaffen es einfach nicht.«
»Man muss auch mit der Tatsache fertig werden, dass man scheitert«, erwiderte Felvert. »Das sagt sich so einfach.« »Ich verstehe, was du meinst.« »Nein, das glaube ich nicht, Felvert. Ich war so nahe dran, das Unmögliche doch noch wahr zu machen. Aber meine geistigen Kräfte reichten einfach nicht.« »Du siehst also definitiv keine Möglichkeit mehr, dass wir noch zu unseren Gunsten eingreifen können?«, fragte Felvert resigniert. »Im Moment nicht, nein«, erwiderte Yyvert bedauernd.
7. Kapitel – An Bord der CHARDHINPerle Zeitebene Scobee – auf Nar'gog »Uns bleibt wohl keine andere Wahl, als die Gefangene auszuliefern!«, erklärte Porlac. Prosper Mérimée näherte sich Scobee. Jetzt wird es ernst, Teuerste!, spottete Siroona. Wie wirst du dich verhalten? Versuchst du die Flucht, oder stellst du dich zum Kampf? Es ist doch schön, dass mir auf meine alten Tage noch so ein Schauspiel geliefert wird, das mich richtig mitfiebern lässt. »Spar dir deine Kommentare, Siroona!«, zischte Scobee ärgerlich. Siroonas Zynismus ging ihr inzwischen ziemlich auf die Nerven. So empfindlich? »Das wärst du in meiner Lage mit Sicherheit auch.« Jedenfalls wirst du mir als Gesellschafterin fehlen!, spottete sie weiter. Prosper Mérimée blieb in ein paar Metern Entfernung stehen. »Du solltest keine Schwierigkeiten machen, Scobee«, sagte er. »Und wenn doch?« »Du weißt, was dann geschieht. Ein ganzer Planet hätte darunter zu leiden. Und du am Ende auch. Also leiste besser keinen Widerstand.« Scobee nickte. »Keine Sorge, ich weiß sehr wohl, was von meinem Verhalten abhängt.« »Dann ist es ja gut.« »Du scheinst dich sehr verändert zu haben, seit wir uns auf der RUBIKON gesehen haben.« »Das mag sein. Die Zeit verändert uns alle, Scobee. Ohne Ausnahme. Die einen mehr, die anderen weniger. Und nun komm mit mir!«
»Unter normalen Umständen würde ich das tun«, sagte Scobee. »Aber …« »Du hast keine andere Wahl, Scobee. Und es wird dich auch niemand hier schützen. Die hiesige Flotte existiert nicht mehr – jedenfalls ist sie nicht mehr verfügbar.« Scobee machte einen Schritt. Da bemerkte sie, dass sich von mehreren Seiten Jay'nac näherten und ihr den Weg abschnitten. Nein, ich habe wirklich keine andere Wahl!, begriff sie. »Ich hoffe nicht, dass erst Gewalt angewendet werden muss«, drohte ihr Prosper Mérimée nun unverhohlen. Scobee schluckte. »Ich folge dir!«, kündigte sie an und hatte sogleich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. »Das will ich hoffen«, erwiderte Prosper.
Scobee ging an Prosper Mérimées Seite in Richtung des seltsamen Aufzugs, der sie beide ins Innere der CHARDHIN-Perle bringen sollte. Immerhin komme ich an einen Ort, an dem ich schon gewesen bin!, machte sie sich Mut. Die Frage beschäftigte sie, was Prosper Mérimée so verändert haben mochte. Welcher Faktor war entscheidend dafür gewesen, aus ihm diesen fordernden, skrupellosen Eroberer zu machen? »Warum bin ich dir so viel wert, dass du die gesamte Jay'nac-Flotte unschädlich machst, um mich in deine Finger zu bekommen?«, fragte Scobee, als der Lift sie emportrug. »Das ergibt eigentlich keinerlei Sinn.« »Nein?« »Für mich nicht.« »Ich werde es dir bei Gelegenheit erläutern. Wenn wir an Bord der RUBIKON sind … Dann müssten wir eigentlich Zeit genug finden, um darüber zu sprechen.« »RUBIKON ist ein gutes Stichwort. Wann ist sie in meine aktuelle Gegenwart zurückgekehrt?« Sie erhielt keine Antwort. »Aha. Halt! Nicht so schnell und so viel
an Information auf einmal – das erschlägt mich ja förmlich!« »Immer noch die Alte«, lächelte Prosper karg. »Aber alles zu seiner Zeit.« »Ich würde es gerne jetzt wissen. Und ich sehe auch keinen Grund, weshalb du mir meine Fragen nicht sofort beantworten solltest.« »Hat dir mal jemand gesagt, dass du ganz schön stur sein kannst, Scobee?« »Hin und wieder. Aber ich nenne das Zielstrebigkeit.« »Was du nicht sagst …«
Durch die Lücken in der Außenverkleidung des schlauchartigen Fortsatzes, der die Perle mit dem Boden verband, konnte sie noch Blicke auf die Jay'nac werfen. Im Granogk schienen lebhafte Diskussionen vor sich zu gehen. Es war auf eine Weise in Unruhe geraten, die Scobee während ihres gesamten Aufenthalts auf Nar'gog bisher nicht erlebt hatte. Regelrechter Aufruhr schien dort ausgebrochen zu sein. Scobee wartete immer noch auf eine Antwort. Aber Prosper Mérimée schwieg beharrlich. »Was war so schwer zu verstehen an meiner Frage?«, hakte Scobee nach. »Es ist jetzt einfach nicht die Zeit, sie zu beantworten.« »Ach, aber es war die Zeit, um ein System zu überfallen, das sich mit Mühe noch selbst schützen konnte und dessen gesamte Flotte in einem Feuerball verglühen zu lassen.« »Die Jay'nac-Flotte ist keineswegs in einem Feuerball vernichtet worden – wie ich schon ausführte.« »Ich habe Augen im Kopf!« »Es mag für dich so ausgesehen haben, Scobee. Aber in Wahrheit wurden sie nicht einmal vernichtet. Die Jay'nac-Flotte ist in ein anderes Zeit-Level transferiert worden, damit sie keinen Schaden anrichten kann. Das ist die Wahrheit. Und jetzt hör auf zu löchern.« »Aber …« »Ich werde dir alle deine Fragen beantworten, so gut ich kann, je-
denfalls. Aber nicht jetzt.« Warum ist er so angespannt?, fragte sie sich und hatte dabei sofort eine Assoziation. Er wirkt wie jemand, der selbst nicht frei ist. Wer treibt ihn? Wer bringt ihn dazu, all die Dinge zu tun, die man in den letzten Stunden bei ihm erleben konnte?
Der Fortsatz mit dem Aufzug wurde wieder eingezogen. Porlac und die Jay'nac hielten inne, als sich die CHARDHIN-Perle deutlich hob. Sie stieg wieder in Richtung Stratosphäre auf und beschleunigte dabei immer stärker. »Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Prosper Mérimée tatsächlich sein Wort hält!«, äußerte sich Porlac, nachdem das goldene Objekt sich noch ein ganzes Stück höher in die Atmosphäre erhoben hatte. Niemand würde diesen Besucher vermissen. Ich werde mit den Felorern sprechen müssen! Noch einmal soll uns so etwas nicht passieren!, nahm sich Porlac vor. Und aus dem Geraune des Granogk konnte er eine Reihe von Äußerungen herausfiltern, die einen ganz ähnlichen Tenor hatten. Nachdem die Chardhin-Perle den freien Raum erreicht hatte, beschleunigte sie noch mehr. Es dauerte nicht lange, und die Ortung der Torstationen meldete, dass das riesige Objekt aus dem Erfassungsbereich ihrer Sensoren verschwunden war. Es hatte die höherdimensionale Schutzzone des Nar'gog-Systems mit unbekanntem Ziel verlassen – wie bei seiner Ankunft, als würde es gar nicht existieren.
Scobee folgte Prosper Mérimée einen langen Korridor hinunter. Tausend Fragen spukten ihr im Kopf herum, aber sie hatte das Gefühl, dass Prosper im Moment nicht bereit war, auch nur eine einzige davon zu beantworten. Sie hatte in dieser Hinsicht ja schon einmal auf Granit gebissen. Sie erreichten ein Schott. Davor stand ein Roboter, der ganz entfernt humanoide Körperformen besaß – sah man einmal davon ab,
dass er insgesamt fünf Arme mit verschieden großen Greifwerkzeugen besaß. Eines davon streckte er Prosper Mérimée entgegen. Der Anführer der Zirkusleute schien sofort zu wissen, was die Maschine von ihm wollte. Er händigte dem Roboter den Armbandkommunikator aus. Scobee hatte es geschafft, zwischendurch einen Blick auf das seltsame Display zu erhaschen. Dabei hatte sie festgestellt, dass ihr die Schriftzeichen, die darauf zu lesen standen, völlig unbekannt waren. Das Schott öffnete sich selbsttätig. Es glitt einfach zur Seite, und sie traten ein. In dem großen, kahlen Raum, der sich vor Scobee ausbreitete, waren sie keineswegs allein. Stimmen riefen durcheinander. Im nächsten Moment stürzte man sich von allen Seiten auf sie. »Scobee!« Sie ließ den Blick schweifen und entdeckte Sarah Cuthbert, die sie ungläubig anstarrte. Neben ihr stand Sahbu, ein Mann aus Prospers Zirkus-Truppe. Die anderen Freaks aus dem Getto waren ebenfalls anwesend. Scobee drehte sich zu Prosper herum. »Spätestens jetzt solltest du mir ein paar Dinge erklären!«, verlangte sie. Prosper Mérimée zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, aber ich hatte keine andere Wahl, als da unten bei den Jay'nac Theater zu spielen.« »Das scheint dir ja gelungen zu sein!« »Ja.« »Du bist nicht der Herr der CHARDHIN-Perle«, stellte Scobee nüchtern fest und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. Ihr Blick fixierte Prosper, durchbohrte ihn geradezu. Er wich diesem Blick aus. »Nein, das bin ich bestimmt nicht.« Scobee sah ihn ernst an und hob die Brauentattoos. »Was dann?«, fragte sie. »Was bist du denn?« »Wir sind Gefangene. Wir alle.« Scobee seufzte. Etwas in der Art hatte sie sich schon gedacht. Es hatte nur noch so
etwas wie die letzte Bestätigung gebraucht. »Wie zum Teufel kommt ihr hierher?« Prosper atmete tief durch. Er ging ein Stück auf und ab. »Es ist viel geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« »Auf der RUBIKON …« »Du bist von Bord gegangen. John hat den Grund dafür wahrscheinlich bis heute nicht begriffen.« »Ich habe mich auf den Weg zur Milchstraße gemacht, Prosper. Das musste ich einfach tun. Ich weiß nicht, ob ich es dir wirklich erklären kann …« »Erklär es John bei Gelegenheit mal.« Scobees Antwort war sehr ernst. »Sollten wir uns je wiedersehen, werde ich das schon!« Prosper musterte sie einen Moment. Er zuckte schließlich mit den Schultern. »Wie auch immer. Die RUBIKON ging durch die Portalschleuse. Von Anfang an stand ich ja im Verdacht, der Auslöser der Fehltransition gewesen zu sein, wie du sicher noch weißt.« »Ja, ich erinnere mich.« »Die Mannschaft hat glücklicherweise zu mir gehalten, sonst wäre ich irgendwo im Universum gestrandet. Ausgesetzt auf einer Sauerstoffwelt oder so. Auf der RUBIKON tauchte ein sogenannter ERBAUER auf.« »Was für ein Erbauer?« »Es ist von den Schöpfern der CHARDHIN-Perlen die Rede, Scobee. Jenes legendäre Volk, das die Gloriden für die Verwaltung ihres kosmischen Transportnetzes verwendete. Dieses Wesen nennt sich Kargor und hat uns hierher entführt. Wie genau das geschehen ist, weiß ich nicht. Wir waren von einem Augenblick zum anderen nicht mehr an Bord der RUBIKON.« Scobee hob erstaunt die Augenbrauen. »Aber weshalb? Was will dieser Kargor von euch?« »Von dir auch, Scobee.« »Wenn du meinst …« »Diese Entität stellte fest, dass nicht nur ich für die Fehltransition verantwortlich war, weil ich etwas in mir trage, das die Zeit mutie-
ren lässt. Eine temporale Anomalie oder etwas in der Art.« »Sondern?« »Jeder, der eine gewisse Zeit im Getto gelebt hat, trägt diese Anlage in sich und bildet daher einen Gefahrenfaktor für die RUBIKON, die bei jeder neuen Transition relevant werden kann. Kargor hat deswegen in seiner Selbstherrlichkeit alle, auf die das zutraf, von der RUBIKON entfernt. Offenbar hat er es besonders gut mit Cloud und dem Rest der Besatzung gemeint. Das Motiv dieser Entität kann ich mir bis heute nicht erklären.« Prosper machte eine Pause, blickte auf und fuhr schließlich fort: »Vielleicht wird dich interessieren, wer für die Zeit-Mutation in der Milchstraße mit all ihren schrecklichen Folgen verantwortlich war.« »Wer?« »Das Ganze geht auf Darnok zurück. Als Keelon ist er für Zeitmanipulationen ja prädestiniert …« Wie gebannt hing Scobee an Prospers Lippen und lauschte seinem Bericht über das, was sich seit ihrer Trennung alles ereignet hatte. Sie selbst machte schließlich auf eine entsprechende Frage Prosper Mérimées hin ein paar Angaben zu ihren eigenen Erlebnissen. Dann herrschte plötzlich Schweigen. Das, was sie von Prosper Mérimée gehört hatte, war für Scobee wie ein Schlag vor den Kopf. Sie war offenbar vom Regen in die Traufe geraten. »Wenn diese Entität, oder wie immer sich dieses Wesen auch nennen mag, euch hierher entführt hat – dann heißt das doch, dass Kargor an Bord sein muss!« »Ein zutreffender Schluss«, nickte Sarah. Sie näherte sich zögernd. Dann streckte sie Scobee sogar die Hand entgegen. Ein warmer Händedruck – in Zeiten wie diesen schon eine Rarität. Scobee wandte sich erneut an Prosper. »Ich möchte in Kontakt mit dieser Entität treten, die sich offenbar einbildet, lebende Wesen wie Schachfiguren benutzen zu können!« »Du kannst sie jederzeit rufen«, sagte Prosper. »Sie ist überall, und ich nehme auch an, dass sie alles hört und alles versteht, was wir sagen. Ob Kargor sich dann aber dazu herablässt, um mit dir zu sprechen, ist eine ganz andere Frage.«
»Er kann ziemlich launisch sein«, berichtete Sarah. »Aber es hat überhaupt keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen. Dabei kannst du nur verlieren.« Ein offenes Lächeln flog über Sarahs Gesicht. »Wie auch immer Scobee, ich bin froh, dass du hier bist und wir dich dadurch wiedergefunden haben. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht damit gerechnet. Immerhin musste auch erneut ein anderes Zeitlevel angesteuert werden, um mit dir zusammenzutreffen …« »Wisst ihr zufällig, was Kargor von mir will? Wieso beginnt er einen Sternenkrieg, um mich mitzunehmen?« Sarah Cuthbert hob das Kinn und atmete tief durch. »Darüber hat die Entität mit uns nicht gesprochen«, erklärte sie. »Wir tragen ja alle angeblich ein Risiko, besagte Anomalie, in uns, was uns zur Gefahr für transitierende Schiffe macht!« »Wobei das eigentlich nur in Hinblick auf die RUBIKON belegt ist«, mischte sich Sahbu ein. Er vollführte eine wegwerfende Handbewegung und fuhr schließlich fort: »Wir haben natürlich keine Ahnung darüber, ob sich das bei Schiffen anderer Bauart genauso verhält, und was die sogenannte Entität angeht, so lässt sie uns nur in sehr sparsamem Maß an den Errungenschaften ihres Wissens teilhaben.« »Aber irgendetwas muss Scobee anhaften, was es für die Entität zwingend macht, sie hier an Bord zu haben«, gab Sarah zu bedenken. »Fragt sich nur, was.« »Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung«, bekannte Scobee. »Aber ehrlich gesagt gefällt es mir nicht besonders. Der Grund spielt da schon fast keine Rolle mehr.« »Ich kann dich nur zu gut verstehen, Scobee«, erwiderte Sarah. »Kargor ist absolut selbstherrlich und zynisch. Wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen geht, wird er sauer.« »Hat er euch gesagt, was er mit euch vorhat?«, fragte Scobee. »Nein, hat er nicht«, erklärte Sahbu. »Zumindest nicht mir gegenüber.« Sahbu wandte sich an die anderen. »Gibt es einen unter euch, dem Kargor mehr gesagt hat?« Ein Stimmengewirr erhob sich. Es stellte sich heraus, dass Kargor hier und da Andeutungen gemacht hatte, aus denen aber niemand
aus der Gruppe schlau geworden war. »Kargor spricht manchmal mit Einzelnen von euch?«, fragte Scobee erstaunt. »Das kommt vor«, bestätigte Sarah. »Ansonsten scheint Prosper sein bevorzugter Ansprechpartner zu sein.« Prosper meldete sich sogleich zu Wort. »Bevor mich Scobee oder jemand anders jetzt mit Fragen löchert, möchte ich noch mal feststellen, dass ich nicht mehr weiß als ihr alle. Wäre es anders, hätte ich euch die Neuigkeiten schon weitergegeben!« Er sah Scobee einen Augenblick lang nachdenklich an und fuhr schließlich in gedämpftem Tonfall fort: »Ich persönlich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass er uns auf ewig in diesem Raum eingepfercht hält. Das hier ist eindeutig eine Übergangslösung.« »Ich möchte mit Kargor sprechen«, sagte Scobee. »Dann warten wir am besten ab, ob Kargor das umgekehrt auch will«, meinte Sarah mit etwas sarkastischem Unterton.
Scobee fühlte sich wie elektrisiert. In ihrem Hirn rasten die Gedanken nur so. Warum hatte dieses mysteriöse Wesen namens Kargor ein so großes Interesse an ihr, dass es offenbar ihretwegen einen Angriff auf das Nar'gog-System begonnen hatte? Und woher hatte Kargor ihren Aufenthaltsort gekannt? Auf Scobees Anliegen, persönlich mit der Entität zu sprechen, ging Prosper Mérimée zunächst nicht weiter ein. Als Scobee ihn nochmals darauf ansprach, sagte der Anführer der Zirkustruppe nur: »Später, Scobee. Das ergibt sich schon.« »Was soll das heißen, das ergibt sich schon?« »Die Entität wird sich an dich wenden, wenn die Zeit gekommen ist. Es hat wenig Sinn, das beeinflussen zu wollen. Glaub mir! Wir müssen Kargors Launen schließlich schon länger ertragen!« Es schien Prosper nicht weiter zu stören, dass der ERBAUER in der Lage war, alles, was unter den Gefangenen besprochen wurde, mitzuhören. Als Scobee ihn auch darauf ansprach, vollführte er eine wegwerfende Geste und lachte. »Was sollen wir tun? Als Telepathen
wurden wir alle leider nicht geboren, und nur noch unehrlich miteinander zu reden, kann ja auch nicht der richtige Weg sein, oder?« »Nein.« »Also nehmen wir einfach keine Rücksicht darauf, dass dies Kargor vielleicht missverstehen könnte. Sonst wird man ja in kürzester Zeit verrückt!« Sarah Cuthbert mischte sich in das Gespräch mit ein. Sie hatte den Wortwechsel zwischen Scobee und Prosper aufmerksam verfolgt. »Ich weiß, dass du viele Fragen hast, Scobee. Das ging uns allen so, nachdem wir hierher versetzt worden sind. Aber es hat keinen Sinn, ungeduldig zu sein.« »Dann habt ihr euch mit eurem Schicksal also schon abgefunden?«, fragte Scobee. Die ehemalige Präsidentin der USA schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das stimmt nicht, Scobee. Aber es hat auch wenig Sinn, sich gegen die Verhältnisse hier aufzulehnen. Kargor beherrscht diese CHARDHIN-Perle nun mal.« »Wie hat er das geschafft?«, fragte Scobee. »Wie konnte er dieses gewaltige Objekt unter seine Kontrolle bringen und vor allem die Verankerung lösen, mit der es jenseits des Ereignishorizonts fixiert war?« »Du wirst Kargor selbst fragen müssen, wenn du Kontakt zu ihm bekommst«, erklärte Sarah. »Ich hoffe, dass er dir etwas erschöpfendere Auskünfte erteilt, als es bei uns der Fall war. Aber wenn er zum Volk der Perlen-Erbauer gehört – wovon wir ausgehen müssen –, war es für ihn wohl keine wirkliche Schwierigkeit.« Scobee konnte sich nur langsam beruhigen. Zu groß war die innere Anspannung. Die Ungewissheit nagte an ihrer Seele – aber so, wie es schien, musste sie sich wohl für länger darauf einstellen. Schließlich hatten auch Prosper und seine Leute bisher keine umfassenden Auskünfte darüber erhalten, was mit ihnen werden sollte. Du wirst dich mit der Situation wohl oder übel arrangieren müssen!, ging es der GenTec durch den Kopf. Zumindest für eine Weile. Wahrscheinlich wirst du so am weitesten kommen. »Ich bin jedenfalls froh, dass du da bist, Scobee«, bekannte Sarah.
»Und ich denke, es geht auch noch anderen so. Schließlich bedeutet jeder zusätzliche Charakter hier eine Abwechslung im täglichen Einerlei.« Scobee lächelte verhalten. »Das kann ich sogar verstehen.« »Untereinander halten wir hier zusammen, Scobee. Du kannst dich also auf jeden von uns verlassen.« »Haben wir die Möglichkeit, uns frei an Bord der CHARDHINPerle zu bewegen?«, erkundigte sich Scobee. »Nur innerhalb gewisser Grenzen«, erwiderte Sarah. »Und diese Grenzen werden uns bei Bedarf auch ziemlich deutlich aufgezeigt.« »Sind Gloriden an Bord?«, fragte Scobee. »Oder noch irgendjemand anders – mal abgesehen von der Entität?« »Das wissen wir nicht«, ergänzte Sahbu, der sich den beiden Frauen unterdessen genähert hatte, während sich Prosper zu einer anderen Gruppe gesellte. Er war es offenbar leid, all die Fragen beantworten zu sollen, auf die er wohl zum größten Teil selbst keine Antwort hatte. Zumindest keine, die zufriedenstellend war. Sarah sagte: »Wir haben hier nie jemanden gesehen, der nicht zu unserer Gruppe gehörte. Ich nehme an, dass wir allein an Bord sind – mit Kargor natürlich. Aber Prosper ist in diesem Punkt anderer Ansicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben hier wenig zu tun, da vertreibt man sich schon mal die Zeit damit, irgendwelche Theorien zusammenzuschustern.« »Dann sind wir also die einzigen Gefangenen an Bord?« »Ja, das sieht so aus.« Scobee folgte den anderen zu dem Lagerplatz, an dem die meisten Gruppenmitglieder kauerten. Sie warteten einfach nur ab, was geschah. Das Leben an Bord der Perle war für die Gefangenen recht eintönig. »Wir werden hier gut versorgt«, sagte Sahbu. »Es gibt genug Nahrungsmittel und Wasser. Ansonsten sind wir im Augenblick dazu verdammt, abzuwarten, was der Herr dieser Perle mit uns vorhat.« Scobee atmete tief durch. Ihr stand nun wirklich nicht der Sinn danach, sich so einfach mit diesem Schicksal abzufinden.
Scobee hatte irgendwann das Bedürfnis zu schlafen. In dem Raum, in dem die Zirkusleute untergebracht waren, gab es einfache Liegen, auf denen man ausruhen konnte. Auf die speziellen anatomischen Bedürfnisse irgendeiner Spezies nahmen sie allerdings keine Rücksicht. Jedenfalls konnte Scobee davon nichts erkennen. Aber alle Lebewesen, die nicht länger als zwei Meter fünfzig waren, konnten mit diesen Möbelstücken auf die eine oder andere Weise etwas anfangen. Eine Weile hörte sie noch den Unterhaltungen der Zirkusleute zu. Sie spekulierten natürlich auch über die Frage, weshalb es Kargor so wichtig gewesen war, Scobee an Bord zu holen. Eine vernünftige Lösung kam dabei nicht heraus. Diese Ansammlung von menschlichen Kuriositäten hatte Prosper Mérimée schon im Getto von Peking um sich geschart. Freaks, die äußerlich sehr verschieden waren, aber wohl durch eine Gemeinsamkeit gekennzeichnet waren. Sie tragen die Anomalie in sich!, erinnerte sich Scobee. Trage ich etwa auch eine in mir, ohne es zu wissen? Eigentlich war ihr Aufenthalt im Getto dazu nicht lang genug gewesen, fand sie. Und hätte es dann nicht auch Cloud und Aylea treffen müssen, von Kargor gekidnappt zu werden? Aber wer konnte da schon sicher sein, wo wirklich die Grenze für die offenbar auch auf molekularbiologischer Ebene registrierbare Veränderung lag, welche die Gefangenen auszeichnete? Sie war darin zu wenig Experte, um es abschätzen zu können. Die genetische Besonderheit liegt bei mir ja auf einem ganz anderen Gebiet!, überlegte sie. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Tatsache, dass ich eine GenTec bin, irgendetwas damit zu tun hat, warum mich Kargor in seine Menagerie eingereiht hat! Eines stand jedoch fest: Kargor musste sich etwas dabei gedacht haben. Wir sind Teil seines Plans, wissen aber nicht einmal, worum es eigentlich geht!
Die Ungewissheit nagte an ihr. Und das Gefühl, eine Gefangene zu sein. Sie war es leid, dass andere über ihr Schicksal bestimmten. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass sie einst mit einem genetisch verankerten Gehorsamsprogramm zur Welt gekommen war, warum ihre Abneigung gegen jegliche Bevormundung dermaßen groß war. Langsam begann sich Scobees Puls zu verlangsamen, und sie fand endlich etwas Ruhe. Die Strapazen der letzten Zeit forderten ihren Tribut. Sie schlief wie ein Stein …
… und erwachte schweißgebadet aus wirren Träumen. Das Licht war deutlich abgedämpft worden, und die anderen Mitglieder der Gruppe schliefen. Offenbar gab es hier Wach- und Schlafperioden. Scobee erhob sich. Sie dachte an Ovayran und seine gloridischen Begleiter, die durch die Felorer an Bord der Station im intergalaktischen Leerraum zum Erstarren gebracht und zurückgelassen worden waren. Scobee hatte keine Ahnung, um was für eine Art von Erstarrung es sich dabei handelte. Wahrscheinlich war es ein ähnlicher Zustand wie die Stasis, in die die Foronin Siroona verfallen war. Je nachdem, ob man die ganze Zeit über bei Bewusstsein bleibt und eventuell sogar mitbekommt, was in der Umgebung vor sich geht, handelt es sich dabei um die wohl schlimmste Folter, die man sich vorstellen kann!, überlegte sie. Aber seit sie von den Jay'nac in Gewahrsam genommen worden war, hatte es keine Möglichkeit mehr gegeben, Ovayran und den Seinen zu helfen. Die Ereignisse hatten Scobee darüber hinaus kaum Zeit gelassen, zur Ruhe zu kommen und an etwas anderes zu denken als ihr eigenes Schicksal. Doch das hatte sich nun geändert. Was könnte ich für Ovayran und die anderen Gloriden tun?, fragte sie sich. Zumindest nahm sie sich vor, bei nächster Gelegenheit dafür zu sorgen, dass sie aus ihrer Erstarrung erlöst wurden. Eigentlich musste es für den Beherrscher einer CHARDHIN-Perle kein Problem sein, die Station im intergalaktischen Leerraum zwischen An-
dromeda und der Milchstraße aufzusuchen und die Gloriden zu befreien. Zumal, wenn es sich bei Kargor offenbar tatsächlich um einen jener legendären ERBAUER handelte, die die Perlen geschaffen hatten! Ich werde Kargor danach fragen, sobald er sich dazu herablässt, endlich mit mir Kontakt aufzunehmen!, nahm sich Scobee vor. Aber bislang hatte Kargor dazu keine Anstalten gemacht. Und ob Prosper, was dies betraf, wirklich auf ihrer Seite stand, wusste sie noch nicht so recht. Ihr schien es eher so zu sein, dass der Anführer der Zirkustruppe seine Stellung als quasi exklusiver Übermittler von Botschaften der Entität auch ein wenig genoss. Vielleicht tue ich ihm damit auch Unrecht, und er hat einfach nur bereits die Erfahrung gemacht, dass es sinnlos ist, sich gegen Kargor aufzulehnen, kam ihr ein Gedanke, der ihre Meinung über Prospers Rolle an Bord der CHARDHIN-Perle etwas relativierte. Scobee erhob sich und durchschritt den Raum. Der einzige Zugang war das Schott, durch das Scobee eingetreten war. Warum sollte ich nicht einfach mal versuchen, die Grenzen selbst auszutesten, die mir hier gesetzt werden? Sie trat auf das Schott zu. Niemand von den anderen bemerkte sie. Sie versuchte, das Schott zu öffnen, aber nichts geschah. Dann fand sie einen Schalter, den sie herunterdrückte, woraufhin das Schott zur Seite glitt. Sie trat in den Raum davor – noch immer erstaunt darüber, dass Kargor nicht abgeschlossen hatte. Eine Bewegung von rechts ließ sie zur Seite wirbeln. Ein Roboter versperrte ihr den Weg. Es handelte sich um den fünfarmigen Gesellen, den sie hier schon einmal angetroffen hatte. »Du verlässt den autorisierten Bereich!«, erklärte der Fünfarmige kalt. Scobee ging einfach weiter. Ich lasse es darauf ankommen! Der Roboter folgte ihr nicht, sondern blieb auf seinem Posten. Na also, es geht doch!, dachte sie. Scobee stand wenig später vor dem nächsten Schott, das sich selbsttätig öffnete. Dahinter befand sich ein langer Korridor. Da die
Gloriden sich in Energiewesen verwandeln konnten und in diesem Zustand dazu in der Lage waren, feste Materie zu durchdringen, gab es weite Bereiche in einer CHARDHIN-Perle, die durch normale Eingänge gar nicht zugänglich waren. Es war also fraglich, ob Scobee auf diesem Weg überhaupt weiterkam. Am Ende des Korridors befand sich ein weiteres Schott, das ebenfalls sofort zur Seite glitt. Dahinter warteten zwei fünfarmige Roboter. Ehe Scobee sich versah, hatten sie die GenTec an den Armen gefasst. Ihre Griffe waren so fest wie die von Schraubstöcken. Sie versuchte sich loszureißen, trat um sich, aber die Maschinen waren stärker. Sie hatte keine Chance. »Leiste keinen Widerstand mehr«, kam es aus dem Lautsprecher von einem der beiden Roboter hervor. »Das hat keinen Sinn. Du bist für eine besondere Aufgabe auserwählt und sollest dich innerlich darauf vorbereiten!« Scobee unternahm einen letzten Versuch, sich aus den Klammergriffen zu befreien. Vergeblich. Sie hatte der Kraft der Maschinen einfach nichts entgegenzusetzen. Gegen ihren Willen wurde sie über den Korridor geschleift. Sie gab den Widerstand schließlich auf. Es hatte einfach keinen Sinn. Die Worte des Roboters hallten in Scobees Bewusstsein wider. »Bist du das, Kargor?«, rief sie plötzlich. »Benutzt du einen dieser Roboter als Sprachrohr?« Die Antwort bestand aus beharrlichem Schweigen. »Hörst du mich, Kargor? Ich habe ein paar Fragen an dich, und die erste wäre, weshalb wir alle hier festgehalten werden? Was hast du mit uns vor?« Keine Reaktion. Schließlich brachten die beiden Fünfarmigen Scobee zurück zu den anderen. Sie stießen sie zu Boden, drehten sich um und gingen davon. Scobee rappelte sich auf. Außer ihr war nur Sarah Cuthbert bereits wach gewesen. Die anderen schliefen noch, waren aber nun durch das Auftreten der Roboter geweckt worden. Sie setzte sich auf und wartete, bis die beiden Roboter den Raum verlassen und sich das
schwere, goldene Schott hinter ihnen geschlossen hatte. »Was machst du für Sachen, Scobee?«, fragte Sarah. Scobee zuckte mit den Schultern und rieb sich die Arme. Die Roboter hatten sie ziemlich hart angefasst. Um ein paar blaue Flecken kam sie wohl nicht herum. »Ich habe versucht herauszufinden, wie weit ich gehen kann«, antwortete sie. Sarah Cuthbert lächelte verhalten. »Offenbar im wortwörtlichen Sinn.« »Was dagegen einzuwenden?« »Abgesehen davon, dass es sinnlos ist, den Überwachungssystemen an Bord entkommen zu wollen – nein.« »Der erste Roboter hat mich einfach gehen lassen …« »… und sofort über Funk Alarm geschlagen.« »Warum ist eigentlich das Schott nicht abgeschlossen?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat die Entität auch eine geheime Freude daran, immer einige von uns dazu zu animieren, den Raum zu verlassen.« »Du meinst, Kargor will unseren Forschergeist testen?«, wunderte sich Scobee. »Wenn dir eine vernünftigere Erklärung einfällt – bitte! Realistisch betrachtet haben wir überhaupt keine Chance, innerhalb der CHARDHIN-Perle auch nur den Sektor zu wechseln. Weite Bereiche kann nur jemand betreten, der feste Materie zu durchdringen vermag.« »So wie die Gloriden.« »Ja.« Eine Pause entstand. Sarah seufzte. »Trotzdem, es ist wirklich sinnlos, was du versucht hast, Scobee. Glaubst du nicht, wir hätten das nicht alle schon probiert, nachdem wir von einem Augenblick zum anderen hierher transferiert wurden? Die Entität beherrscht diese Perle vollkommen. Jeden Winkel. Sie steckt in allem. Sie kriecht gewissermaßen in die Systeme hinein und wird ein Teil davon.« »Hat die Entität das auch mit der RUBIKON gemacht?«, erkundig-
te sich Scobee. Sarah Cuthbert nickte. »Ja. Bis sie irgendwann angekündigt hat, zu gehen – da hat sie uns dann leider mitgenommen, wie du inzwischen ja weißt.« Sarah zuckte mit den schmalen Schultern. »Na ja, vielleicht war es ja auch richtig so. Zumindest für die RUBIKON.« »Du meinst wegen dieser angeblichen genetischen Veränderung, die mit der Zeitanomalie im Getto zu tun hat.« »Warum sagst du angeblich?«, fragte Sarah Cuthbert, während auf ihrer Stirn eine tiefe Furche erschien. »Steckt denn mehr dahinter, als nur die Behauptung Kargors? Habt ihr irgendeinen Beweis?« »Die Analysemethoden an Bord der RUBIKON sind sicher weit über dem Niveau angesiedelt, das sich Menschen wie wir, die ehemals aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert der Erde stammen und durch Raum und Zeit von ihrem Ursprung entfernt wurden, überhaupt vorstellen können. Ich denke, dass die Aussagen, die Kargor über unsere Genetik macht, weitaus genauer sind, als man das von den Leuten sagen kann, die beispielsweise seinerzeit das GenTec-Programm ins Leben riefen.« Scobee verzog das Gesicht zu einem gezwungen wirkenden Lächeln. »Heißt das, man sollte der Entität trauen?« »Bis zu einem gewissen Grad.« »Ich werde mich nicht damit abfinden, eine Marionette in dem Spiel dieses Wesens zu sein. Und ich kann mir ehrlich gesagt nur schwer vorstellen, dass eine Frau, die immerhin mal Präsidentin der mächtigsten Nation der Erde war, sich sehr wohl dabei fühlt!« Auf Sarahs Gesicht erschien ein nachsichtiges Lächeln. »Dass ich mal Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika war, ist nun wirklich nicht mehr von Bedeutung«, sagte sie. »Die USA gehören zu einer versunkenen Welt, an die man sich nicht mehr erinnert. Der Flug einer gewissen GenTec Scobee zusammen mit Cloud, Resnick und Jarvis zählt wohl auch dazu. Davon blieben bestenfalls ein paar Erinnerungssplitter – und das war's.« Scobee schwieg. So viel Selbstmitleid hätte ich jemandem wie Sarah gar nicht zugetraut!, ging es ihr durch den Kopf. Aber es ist wohl ganz of-
fensichtlich so, dass die Umstände auch den Charakter verändern. Nach einer Pause fragte Scobee: »Warum ist Prosper so schweigsam?« »Ich habe keine Ahnung.« »Aber du hast das doch auch bemerkt, oder?« »Vielleicht sind es die Umstände, die wir hier angetroffen haben, die ihn so wortkarg werden ließen. Ich weiß es nicht.« Sie sah Scobee ernst an. »Dieser unmögliche Auftritt da unten auf Nar'gog war ganz bestimmt nicht seine Idee. Das kann ich bezeugen.« »So?« »Die Entität herrscht über ihn. Sie scheint der Meinung zu sein, dass wir alle, die wir hier sind, für ihre Pläne zur Verfügung zu stehen haben.« »Was sind das für Pläne?« »Eine gute Frage, Scobee. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Auf der anderen Seite ist diese Entität zu intelligent, um mit derart großem Aufwand sinnlose Handlungen zu vollziehen. Sie tauchte auf der RUBIKON auf, um uns später zu entführen. Dann flog sie ins Nar'gog-System, um dich zu holen …« »Also ehrlich – wie eine wohlüberlegte Strategie klingt das für mich nicht!« »Warten wir es ab, Scobee. Aber weil du Prosper angesprochen hast …« »Ja?« »Dir ist ja inzwischen wohl klar geworden, dass er nicht freiwillig gehandelt hat.« »Wie hat die Entität ihn unter Druck gesetzt?« »Indem sie ihn glauben ließ, dass dem Rest seiner Truppe etwas geschehen würde, wenn er nicht mitspielt.« Scobee atmete tief durch. »So etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht«, bekannte sie. »Aber er war sehr überzeugend. Ich habe ihm die Charakterwandlung zum skrupellosen Machtmenschen da draußen vor dem Granogk durchaus abgenommen. Erst später, als ich merkte, dass ihr ebenso Gefangene seid wie ich, war mir klar, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist.«
»Das Schlimme ist, dass ich keine Möglichkeit sehe, an unserer Lage in nächster Zeit etwas zu ändern, Scobee. Es wird alles seinen Gang nehmen. Tag für Tag derselbe Trott … Das lähmt auf die Dauer den Geist. Man wird träge. Die Lethargie kommt schleichend, und irgendwann bist du bereit, dich mit den Verhältnissen abzufinden und inzwischen vielleicht auch schon geistig so erstarrt, das du dir kaum noch etwas anderes vorzustellen vermagst.« »Das wird mit mir nicht geschehen«, kündigte Scobee voller Entschlossenheit an. Sie reckte das Kinn vor und hob die eintätowierten Linien, die ihre natürlichen Augenbrauen ersetzten. »Ich habe mir fest vorgenommen, nicht aufzugeben, ganz gleich, was auch geschieht.« »Warten wir ab«, murmelte Sarah in einem Tonfall, der für Scobees Ohren erschreckend resigniert klang. Genau so will ich nicht werden!, nahm sich Scobee vor. Aber sie war natürlich realistisch genug, um zu wissen, dass dies nur ein frommer Vorsatz war – der sich irgendwann an der Realität messen lassen musste.
Inzwischen wurden auch die anderen wach. Eilig hatte es hier niemand mit dem Aufstehen. Wozu auch? Das Spannendste waren ja ohnehin noch die nächtlichen Träume. Die Wachphasen hatten mehr oder weniger nur Langeweile und quälende, unbeantwortete Fragen zu bieten. Roboter brachten ihnen das Essen. Dabei wurde auf individuelle Wünsche durchaus Rücksicht genommen, soweit sich die an Bord befindliche Technik auf die Herstellung der gewünschten Produkte umstellen ließ. Scobee war überzeugt davon, dass dies nicht an den technischen Möglichkeiten scheiterte, sondern eher an der menschlichen Fähigkeit, dem fremden System zu vermitteln, was Rindfleisch oder Bananen oder Kaffee waren. Selbst hinter synthetischem Kaffee steckte ja immer noch eine Vorstellung davon, was Kaffee eigentlich sein sollte – aber die mit der Herstellung betrauten KIs wussten davon nichts. Und die Beschreibungen, die ein Mensch dazu abgeben konnte,
reichte einfach nicht aus, um das Ergebnis hinterher den Qualitätsund Geschmackskriterien entsprechen zu lassen. Daher schmeckte das an Bord der CHARDHIN-Perle servierte Essen ziemlich einfallslos. »Die Gloriden kennen gar keinen Nährstoffwechsel im herkömmlichen Sinn«, berichtete Scobee bei anderer Gelegenheit. »Sie haben sich über eine Art Energietransfer ernährt, wenn das der richtige Ausdruck ist.« »Deinen Schilderungen nach könnte man eher von ›Auftanken‹ sprechen«, lautete Sahbus Kommentar. »Das ist richtig. Aber da sie die Hälfte ihrer Zeit als Energiewesen verbringen, sind sie eben auch in der Lage, auf diese Weise eine herkömmliche Ernährung zu ersetzen.« »Es ist ziemlich eigenartig, dass wir bis jetzt nicht auf Gloriden gestoßen sind«, sagte Sahbu. »Das finde ich auch«, nickte Scobee. »Aber wissen wir, wer sich noch alles an Bord dieses gewaltigen Objekts befindet?« »Du meinst, dass die eigentliche Besatzung dieser Perle irgendwo anders einkaserniert gehalten werden könnte«, schloss Sarah Cuthbert. Scobee nickte. »Genau.« Sarah strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, aber wenn ich daran zurückdenke, wie sich dieser Kargor auf der RUBIKON verhalten hat, kann ich mir schon vorstellen, dass es ihm irgendwie gelungen ist, die Perle ihren eigentlichen Bewohnern abzuluchsen – wer auch immer das zum Zeitpunkt von Kargors Auftauchen gewesen sein mag.« Scobee hatte keine Lust, sich weiter an diesen Spekulationen zu beteiligen. Von Ovayran wusste sie genau über die Probleme Bescheid, die das kosmische Perlennetzwerk in letzter Zeit gehabt hatte. Aber ihr stand jetzt einfach nicht der Sinn danach, mehr davon zu berichten, denn sie hatte nicht das Gefühl, dass sich daraus irgendwelche Antworten auf die Fragen ergeben konnten, die sich ihnen gegenwärtig stellten. Die wichtigsten davon waren: Was für Pläne hatte die Entität na-
mens Kargor? Was waren die Ziele dieses ominösen Wesens? Und vor allem: Was hatte Kargor mit ihnen, den Gefangenen, vor? Prosper Mérimée wusste vielleicht mehr, als er den anderen gegenüber verriet. Scobee erfuhr von Sahbu, dass er manchmal das Schott des Raumes passierte und erst nach Stunden zurückkehrte. Allerdings wurde er dann im Gegensatz zu Scobee nicht von Robotern gepackt und gewaltsam zurückeskortiert. Er selbst gab sich diesbezüglich sehr schweigsam, aber alle anderen Mitglieder der Gruppe gingen davon aus, dass er während dieser »Ausflüge« in näheren Kontakt zur Entität trat. Und da man sich auf Kargors Seite offenbar sicher war, dass Prosper die Grenzen akzeptierte, ließ man das zu. Grenzen, die im Übrigen für Prosper Mérimée etwas weiter gesteckt zu sein schienen als für den Rest der Gefangenen. Die Entität benutzte und manipulierte Prosper letztlich für ihre Zwecke. So zumindest stellte sich das bisher für Scobee dar. Kargor hatte gleich erkannt, wem die natürliche Autorität innerhalb der Gruppe zufiel, und diesen Umstand zugunsten seiner eigenen Ziele genutzt. Es war auch für Scobee offensichtlich, dass Prosper in der Vergangenheit mehr Kontakt zu Kargor gehabt hatte als die anderen Gefangenen. Anders wäre wohl auch die Inszenierung auf Nar'gog gar nicht möglich gewesen. Warum hat Kargor dazu jemanden wie Prosper Mérimée gebraucht?, fragte sich Scobee. Wieso konnte die ach so mächtige Entität diese Rolle, die ihr doch eigentlich wie auf den Leib geschneidert war, nicht selbst spielen? Scobee zögerte lange, sich mit ihren Fragen nochmals an Prosper Mérimée zu wenden. Aber die Ungewissheit rumorte einfach zu stark in ihr. Sie musste wissen, was los war, außerdem konnte sie den Gedanken schwer ertragen, dass es da jemanden unter den Gefangenen gab, der ihr in dieser Hinsicht etwas voraushatte. Also sprach sie ihn schließlich doch noch einmal an. »Was weißt du über die Entität, Prosper?« Ihre Stimme klang hei-
ser und ein wenig belegt. Prosper saß ruhig auf einem Sitzmöbel, dessen Merkmale erkennbar nicht auf die menschliche Anatomie abgestimmt waren. Anscheinend war es darauf aber trotzdem recht bequem, denn der Anführer der Zirkustruppe verharrte dort bereits eine ganze Weile fast regungslos. Er wirkte in sich versunken und schien seinen Gedanken nachzuhängen. Womit auch immer die sich beschäftigen mochten … Die Tatsache, dass er insgesamt einen doch recht resignierten Eindruck auf Scobee machte, gab ihr zu denken. Für die Chancen einer Flucht oder gar einer Schiffsübernahme durch die Gefangenen standen die Chancen damit wohl ziemlich schlecht. Warum sich schon im Vorhinein den Mut nehmen lassen?, ging es Scobee durch den Sinn. Erinnere dich an das, was auf der Foronenarche SESHA geschah, die schließlich zur RUBIKON wurde! Auch dieses Schiff wurde von der eindeutig schwächeren Gruppe an Bord in Besitz genommen. Und du selbst hattest daran deinen Anteil! Warum sollte so etwas also nicht wieder geschehen können? Vielleicht war das nichts weiter als Zweckoptimismus in einer an sich aussichtslosen Lage. Aber Scobee war das in diesem Moment gleichgültig. Alles, was sie mental stabilisierte, war jetzt ihrer Meinung nach erlaubt. Schließlich musste es irgendwie weitergehen. Prosper sah sie an. Eine ganze Weile musterten seine Augen Scobee, und sie fragte sich schon, ob er ihre Frage überhaupt verstanden hatte. Schließlich sagte er: »Ich weiß, dass die Entität mit den ERBAUERN in Zusammenhang steht. Oder sagen wir es genauer: Sie behauptet das, und es gibt bisher keinen Grund für uns, daran zu zweifeln. Außerdem scheint sie an Bord dieser CHARDHIN-Perle mehr oder minder unbeschränkte Macht auszuüben. Was der Wahrheit entspricht und was vielleicht nur Schaumschlägerei eines mysteriösen Wesens ist, das uns mit seinen Spielzeugen verwechselt, darüber möchte ich im Moment einfach nicht spekulieren.« Respektier diese Haltung!, meldete sich eine Stimme in Scobees Hinterkopf. Prosper Mérimée hat offenbar seinen eigenen Weg gefunden, mit
der Situation klarzukommen. Mehr wirst du im Augenblick ohnehin nicht von ihm erfahren.
Eine Zeit, die nach Scobees Gefühl mehreren Standardtagen entsprechen musste, verging, ohne dass sich etwas Außergewöhnliches ereignete. Scobee gewöhnte sich an das Leben an Bord. An die Regeln, die sich unter den Mitgliedern von Prosper Mérimées Truppe eingebürgert hatten, und an das fade, breiartige Essen, das man den Gefangenen überließ und bei dem man sich doch redlich Mühe gab, die Geschmacksnuancen irdischer Produkte nachzuahmen. Wenn auch ziemlich vergeblich. Alles lief sehr eintönig ab. Eine Weile überlegte Scobee, wie sie das regelmäßige Auftauchen der fünfarmigen Roboter, die die Nahrungsmittel brachten, vielleicht für eine Flucht nutzen konnte. Aber dann sagte sie sich, dass so etwas eigentlich von vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Schließlich konnte Kargor sie jederzeit an Bord der Perle aufspüren und nötigenfalls mit Unterstützung der Roboter wieder dorthin bringen lassen, wo auch die anderen Gefangenen untergebracht waren. Sinnvoll war eine derartige Aktion nur dann, wenn sie erstens von den anderen Gefangenen unterstützt wurde und es zweitens auch eine realistische Chance gab, das Schiff zu verlassen. Wenn die CHARDHIN-Perle um einen Planeten kreiste, war dies vielleicht gegeben. Noch eher, wenn ein Landemanöver durchgeführt wurde, das jenem auf Nar'gog ähnelte. Der Haken an der Sache war nur, dass weder Scobee noch die anderen Gefangenen je etwas davon mitbekommen würden, wo sich das Schiff gerade befand und wie nahe möglicherweise der nächste Planet war, dessen Oberfläche das Ziel einer Flucht sein konnte. Vielleicht war Prosper Mérimées Strategie doch die bessere. Erst einmal abwarten, was geschah. Darauf lief es hinaus. Irgendwann würde sich der Plan Kargors schon offenbaren. Irgendwann …
Scobee verfluchte den ERBAUER innerlich. Sie konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sich jemand wie ein Gott aufspielte. Aber zurzeit musste sie das wohl noch ertragen.
Es war während einer Schlafperiode, als Worte Scobee weckten. Sie war von einem Augenblick zum anderen hellwach, wunderte sich allerdings, woher diese durchdringende Stimme kam. Sie hörte sie nicht wirklich. Stattdessen hallten die Worte in ihrem Kopf wider. Aber es war Scobee vom ersten Augenblick an klar, dass es sich nicht um ihre eigenen Gedanken handelte. »HÖRST DU MICH, SCOBEE? HIER SPRICHT KARGOR.« Scobee glaubte auch, erkennen zu können, dass es sich nicht um eine telepathische Übertragung handelte. Und wenn doch, geschah diese auf völlig anderer Basis, als es beispielsweise während eines Gedankenaustauschs mit Siroona der Fall war. Vielleicht steuert Kargor einfach das Implantat an, das ich trage. Der Translatorchip würde sich dafür anbieten … Kargor reagierte nicht auf Scobees Gedanken. Und das war für sie ein weiteres Indiz, dass sie es nicht mit Telepathie, sondern mit einer Transmission zu tun hatte, die auf Technik fußte. »Was willst du, Kargor?«, fragte sie laut. »IST ES WIRKLICH ANGEMESSEN, DIESE FRAGE ZU STELLEN?«, gab der ERBAUER zurück. »SCHLIESSLICH WOLLTEST DU DOCH MIT MIR SPRECHEN – UND NICHT UMGEKEHRT!« O Mann, so schnell beleidigt? Das kann ja heiter werden!, dachte Scobee. Sie saß nun kerzengerade auf ihrem Lager und war hellwach. »Was hast du mit uns vor?«, fragte Scobee. Das war der mit Abstand wichtigste Punkt, der geklärt werden musste. Aber die Entität hatte in ihrer Erhabenheit offenbar wenig Neigung zu konkreten Auskünften. »ZU GEGEBENER ZEIT WIRST DU NÄHERES ÜBER MEINE PLÄNE ERFAHREN«, versprach Kargor. »Das ist doch völliger Irrwitz!«, rief sie lauter, als sie es beabsichtigt hatte. »Wer soll dir das abnehmen?«
Eines der Mitglieder von Prosper Mérimées Truppe wachte kurz auf und drehte sich auf die andere Seite. Der Mann schien noch immer ziemlich müde zu sein und schlief dementsprechend rasch wieder ein. Scobee lauschte in sich hinein. Aber die Entität schwieg. »Warum bekomme ich keine vernünftigen Antworten auf meine Fragen?«, wollte sie wissen, als ihr die Pause des gegenseitigen Schweigens einfach zu lang und unbehaglich wurde. »Du hast Menschen gegen ihren Willen von einem Raumschiff entführt, und dasselbe hast du mit mir getan. Es muss einen tieferen Grund dafür geben als den von dir genannten! Das hoffe ich zumindest, denn wenn du das nur getan haben solltest, um ein paar lebendige Spielzeuge um dich zu scharen, fände ich das zutiefst verachtenswert.« Scobee wartete einen Moment, dann erfolgte die Antwort der Entität. Irgendwie konnte sich Scobee des Eindrucks nicht erwehren, dass Kargor etwas eingeschnappt war. Aber das war ihr im Moment ziemlich gleichgültig. »ICH VERFOLGE EINEN PLAN, VON DEM ICH JETZT NOCH NICHTS VERRATEN WERDE!«, behauptete die Entität. »Warum nicht?«, hakte Scobee nach. Sie war nicht gewillt, lockerzulassen, sondern nahm sich vor, einfach penetrant immer weiter zu fragen. So lange, bis sie eine zumindest einigermaßen befriedigende Antwort bekam. Es wurmte sie einfach, mit welcher Arroganz Kargor vorging, und sie hatte längst entschieden, dass sie das nicht leiden konnte. »DEN GRUND, WESHALB ICH PROSPER MÉRIMÉE UND SEINE GRUPPE AUS DER RUBIKON ENTFERNT HABE, IST DIR DOCH HINLÄNGLICH BEKANNT«, sagte Kargor. »Du belauschst uns!«, stieß Scobee hervor. »Du belauschst uns alle permanent!« Die Entität blieb vollkommen ruhig und wirkte verständnislos. »WARUM SOLLTEN INFORMATIONEN AUS EUREM AKUSTISCH-KOMMUNIKATIVEN VERKEHR NICHT GESAMMELT UND AUFGEZEICHNET WERDEN?«, fragte sie. »ICH SEHE KEINEN GRUND, AN DIESER PRAXIS ETWAS ZU ÄNDERN. FÜR
MICH SEID IHR EINE WERTVOLLE FRACHT, UND ES GIBT ÜBERHAUPT KEINEN GRUND, MEIN EIGENTUM NICHT STÄNDIG MIT ALLEN SINNEN ZU ERFASSEN.« »Woher kanntest du meinen Aufenthaltsort, Kargor?«, stellte Scobee die nächste Frage, aber ihre Hoffnung, wenigstens darauf eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen, war inzwischen auf den Nullpunkt gesunken. Es scheint eine Spezialität dieses Wesens zu sein, sich aus allem herauszureden!, überlegte sie. Und mit meinen bescheidenen Verhörmethoden werde ich da wohl nicht weiterkommen. »ICH BESITZE EIN GROSSES WISSEN ÜBER VIELE DINGE«, erwiderte Kargor so ausweichend, wie Scobee es befürchtet hatte. »WARUM ALSO NICHT AUCH ÜBER DEN AUFENTHALTSORT EINER GENTEC NAMENS SCOBEE?« »Wie hast du es geschafft, die Herrschaft über diese CHARDHINPerle zu gewinnen und sie aus der Verankerung jenseits der Dunkelzone des galaktischen Schwarzen Lochs zu ziehen?«, fragte Scobee. »KEIN KOMMENTAR. ÜBERDIES WERDE ICH MICH JETZT MENTAL ZURÜCKZIEHEN!« »Nein!«, rief Scobee laut. »WAS IST NOCH? ES HAT WENIG SINN, WENN WIR IM MOMENT WEITER KOMMUNIZIEREN. ICH WERDE MICH STATTDESSEN ZU GEGEBENER ZEIT AN DICH UND DIE ANDEREN GÄSTE AN BORD DER CHARDHIN-PERLE WENDEN …« Gäste!, echote es in Scobees Kopf wieder. Welch ein Hohn! »Kargor!«, rief sie. Aber die Entität hatte sie verlassen. Scobee bekam keine Antwort mehr. »Überheblicher Astral-Schuft!«, schimpfte sie vor sich hin.
Prosper war durch den Dialog zwischen Scobee und Kargor erwacht. Er hatte von dem Zwiegespräch lediglich den Teil mit anhören können, den Scobee gesagt hatte. Jetzt stand er auf, ging auf sie zu und ließ sich wenig später ganz in ihrer Nähe nieder.
»Kargor hat mit mir gesprochen«, sagte Scobee zur Erklärung dafür, dass sie so viel Lärm gemacht hatte. »Du hast mit ihm gesprochen, wenn ich das richtig verstanden habe«, hielt Prosper Mérimée dem entgegen. »Aber die Antwort war nicht zu hören.« »In meinem Körper befinden sich eine Reihe von Implantaten, darunter auch ein Übersetzungschip. Ich nehme an, dass Kargor eines dieser neuronal vernetzten, technischen Elemente angesteuert hat und mir auf diese Weise seine Botschaften zukommen ließ.« Prosper Mérimée hob die Augenbrauen und gähnte im nächsten Augenblick. Die Schlafperiode schien für ihn nicht lang genug gewesen zu sein. Er machte einen nicht gerade erholten Eindruck. »Möglich, dass du recht hast«, gestand er ihr zu. »Und? Habe ich dir zu viel versprochen?« »Die Entität ist nicht gerade sehr gesprächig«, stellte Scobee fest. »Ja, und es gibt für dich nicht die geringste Möglichkeit, gegen die Entität zu konspirieren. Wenn es anders wäre, hätte ich das längst versucht. Die Überwachung ist total.« »Vielleicht verfolgt unser aller ›Wohltäter‹ unser Gespräch, indem er einfach die Daten meines Übersetzungschips abgreift.« »Du darfst nicht resignieren, Scobee!« Dass ausgerechnet du mir so etwas sagst!, ging es ihr bitter durch den Kopf. Aber das bedeutete nicht, dass Prosper nicht recht gehabt hätte.
Scobee überlegte sich, wie sie die Entität erneut dazu bringen konnte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Eine Möglichkeit schien ihr zu sein, Kargor zu provozieren, indem sie immer wieder den Raum verließ, in dem sie untergebracht waren. Das Schott war auch jetzt nicht geschlossen worden. Sie passierte es also. Prosper hatte ihr dringend davon abgeraten, es aber nicht näher erklärt. Scobee hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen. Sie wollte etwas unternehmen, um Bewegung in die Situation zu brin-
gen, denn sie hatte das Gefühl, dass dies dringend nötig war. Der vor dem Schott postierte fünfarmige Roboter sprach Scobee an und wies sie darauf hin, dass sie den erlaubten Bereich verließ. Scobee fragte sich erneut, weshalb Kargor das Schott nicht einfach verschloss. Offenbar verfolgte er seine eigenen undurchsichtigen Pläne mit Scobee. Wollte er anhand des offenen Schotts vielleicht den Charakter der Gefangenen testen? Solche perversen Psycho-Spielchen traue ich ihm glatt zu!, überlegte Scobee. Der Roboter versuchte, sie am Arm zu fassen. Aber Scobee wich aus. Sie spurtete den Korridor entlang, an dessen Ende sie erneut einen Ausgang fand. Doch als sie sich dem zweiten Schott näherte, verschmolz es mit der Wand und war im nächsten Moment nicht mehr sichtbar. Scobee stand wenig später fassungslos vor der vollkommen glatten Wand, die so kalt und metallisch war, wie man es auch von der gesamten Außenhülle der CHARDHIN-Perle kannte. Scobee seufzte. Sie drehte sich um, damit sie sehen konnte, wie weit ihr die Verfolger schon im Nacken saßen, und stellte fest, dass hinter ihr in etwa drei Metern Entfernung plötzliche eine Wand den Korridor versperrte. Wie aus dem Nichts war sie erschienen. Was soll das nun?, fragte sie sich. Eine neue Variante des alten Spiels? Scobee lief zurück, hämmerte mit den Fäusten gegen die neue Barriere. Ihr Gesicht wurde zu einer grimmigen Maske. »Kargor! Hör auf mit deinem sadistischen Spiel! Alles, was du damit gewinnen kannst, ist meine Verachtung! Du magst dich als die Krone der Schöpfung ansehen, aber das bist du nicht! Jedes sogenannte Primitivwesen besitzt im Umgang mit anderen mehr Anstand und Moral als du!« »WAS TUST DU DA?«, fragte plötzlich eine laute und sehr artikuliert sprechende, männliche Stimme. Scobee war empört. »Erkläre mir, was du jetzt für eine perverse Versuchsanordnung aufgebaut hast!« »ICH VERSTEHE DICH NICHT. DU WOLLTEST WEG VON
DEN ANDEREN, UND ICH HABE DIR DEN GEFALLEN GETAN UND DICH SEPARIERT. WAS IST DAGEGEN EINZUWENDEN?« »In Wahrheit hatte ich den Plan, mich auf eigene Faust auf den Weg durch die Perle zu machen, um herauszufinden, was hier vorgeht!« »HABE ICH DAS NICHT BEREITS GESAGT?« »Es tut mir leid, aber das habe ich leider nur zum Teil verstanden!« Einige Augenblicke herrschte Schweigen. »DU SOLLTEST ES NICHT DARAUF ANLEGEN, MICH ZU ERZÜRNEN!«, sagte die Entität. »Kann mir das in meiner jetzigen Lage nicht gleichgültig sein?«, lautete Scobees respektlose Erwiderung. »DURCHAUS NICHT.« »Erklär mir, warum«, verlangte Scobee. »IM AUGENBLICK NUR SO VIEL: ICH MEINE ES GUT MIT EUCH UND WERDE ALLES ZU EUREM BESTEN ARRANGIEREN. DENN ES LIEGT AUCH IN MEINEM EIGENEN INTERESSE. DER PLAN, DEN ICH MIT EUCH HABE, WIRD SICH ERFÜLLEN.« »Worin besteht der Plan?« »ICH WEISS NICHT, OB EIN ELEMENT WIE DU DER GRUPPE BEI DER AUFGABE, DIE IHR BEVORSTEHT, WIRKLICH ZUTRÄGLICH IST.« Scobee horchte auf. »Von was für einer Aufgabe redest du andauernd?«, fragte sie. »DAS BRAUCHST DU JETZT NOCH NICHT ZU WISSEN.« »Was ist der Plan?« »ICH WERDE ES EUCH ERKLÄREN. ABER NICHT JETZT.« »Wann?« »WENN DIE ZEIT GEKOMMEN IST!« »Zu welchem Zeitpunkt soll das sein?« »BALD.« »Das ist mir zu schwammig. Ich verlange genauere Auskünfte. Diese Ungewissheit ertrage ich nicht länger!«
Eine Pause entstand. Schließlich erklärte die Entität: »KURZ BEVOR WIR DAS ZIEL ERREICHEN, WIRST DU NÄHERES ERFAHREN. WENN DIESER FALL EINTRITT, WERDE ICH EUCH INFORMIEREN.« Deine Arroganz bringt mich noch zur Weißglut!, durchfuhr es Scobee. »WAREN DAS ALLE DEINE FRAGEN?« »Nein, durchaus nicht. Ich nehme an, dass für die CHARDHINPerle eine Entfernung zwischen der Milchstraßen-Galaxie und Andromeda leicht zu überwinden ist!« »DAS IST RICHTIG.« »Ich bin mit ein paar Gloriden unter der Führung eines gewissen Ovayran bei einer Station mitten im Leerraum gestrandet. Jay'nac und Felorer haben mich in Gewahrsam genommen.« »WARUM ERZÄHLST DU MIR DAS ALLES?« »Weil ich möchte, dass wir zu dieser Station fliegen und sie aus der Erstarrung befreien, in die sie versetzt wurden!« Ein seltsamer Laut drang in Scobees Bewusstsein, und sie wusste sofort, dass es sich um Kargors Entsprechung eines höhnischen Gelächters handeln musste. Es wollte zunächst gar nicht aufhören. »SO, DU MÖCHTEST ALSO GERNE DEN KURS DIESER CHARDHIN-PERLE BESTIMMEN UND DICH ZUR HERRIN DES SCHIFFS AUFSCHWINGEN? DEIN EHRGEIZ IMMERHIN IST BEMERKENSWERT, AUCH WENN ER IN KEINER WEISE MIT DEINEN FÄHIGKEITEN ZU KORRESPONDIEREN SCHEINT: AUSSERGEWÖHNLICHE AMBITIONEN SOLLTEN VON AUSSERGEWÖHNLICHEN GABEN GESTÜTZT WERDEN. ABER DIESE ANSICHT SCHEINT AUS DER MODE GEKOMMEN ZU SEIN.« Er seufzte – laut und gut hörbar. »NATÜRLICH KOMMT ES NICHT INFRAGE, DASS DEIN VORSCHLAG REALISIERT WIRD.« »Warum nicht?« »WIR HABEN DRINGLICHERES ZU ERLEDIGEN.« »Was?« »MÖCHTEST DU IN ZUKUNFT ALLEIN WOHNEN ODER ZU DEN ANDEREN GELANGEN KÖNNEN?« Er geht nicht auf mich ein!, erkannte Scobee. Daher sagte sie resi-
gnierend: »Ich brauche Kontakt zu den anderen.« »GUT, DANN WERDE ICH DICH ZURÜCKBRINGEN. ICH ÜBERLEGE MIR ABER, OB ICH DICH VIELLEICHT AUF DAUER AUS DER GRUPPE HERAUSNEHMEN UND ELIMINIEREN SOLLTE.« »Warum solltest du so etwas Verrücktes tun? Dazu hättest du nicht erst das Granogk erpressen müssen …« »WEIL ICH MIR MITTLERWEILE NICHT MEHR SICHER BIN, OB DU FÄHIG BIST, DICH IN DEN DIENST EINER GEMEINSCHAFT ZU STELLEN.« Jetzt war es Scobee, die lachte. »Du meinst damit doch gar nicht den Dienst an einer Gemeinschaft – sondern an dir!« »DU KANNST DAS MEINETWEGEN DREHEN, WIE DU WILLST. JEDENFALLS WIRD ES GENAU DARAUF IN ZUKUNFT FÜR EUCH ALLE ANKOMMEN. ICH BEOBACHTE EUCH DAHER SEHR INTENSIV, DENN ICH MÖCHTE AUF KEINEN FALL RISKIEREN, DASS MEIN PROJEKT SCHEITERT.«
8. Kapitel – Das Projekt Kargor zog sich zurück und ließ Scobee mit ihren Gedanken allein. Die Entität hatte von einem Projekt gesprochen – was immer das letztlich auch heißen mochte. Und wir nehmen dabei wohl die Rolle von Versuchstieren ein!, überlegte sie. Schon deshalb gefiel ihr diese Zukunftsaussicht ganz und gar nicht. Scobee blieb eine Weile allein in einem Raum ohne Öffnungen. Es gab keinerlei Zugänge, aber ihr war inzwischen klar, dass dies vielleicht auch nur eine Illusion war – beziehungsweise, dass die eigentlichen Zugänge so getarnt waren, dass Scobee sie unmöglich entdecken konnte. Das ist offenbar die Bestrafung, die Kargor für mich vorgesehen hat, dachte Scobee. Was hat er vor? Gott zu spielen? Fehlen ihm dazu die sterblichen Untertanen? Oder konnte es wirklich sein, dass die Entität so viel Zeit dafür brauchte, um sich darüber klar zu werden, ob Scobee nun eliminiert werden sollte, weil sie nicht zur Gruppe passte, oder nicht. Soll er mich doch auslöschen, wenn er glaubt, dass sein sogenanntes Projekt dadurch eine höhere Erfolgsaussicht hat!, dachte Scobee voll tief empfundener Wut. Mir wird dann wenigstens die Teilnahme daran erspart! Schon bei Reuben Cronenberg, dem sie genetisch zu Gehorsam verpflichtet war, hatte sie es nicht ausstehen können, zu einer Befehlsempfängerin herabgewürdigt zu werden, die keinerlei Einfluss mehr auf die Entwicklung hatte. Schließlich schien sich Kargor entschieden zu haben. Zumindest glaubte Scobee das, die inzwischen einsah, dass es vielleicht nicht gerade die allerklügste Entscheidung gewesen war, Kargor so zu provozieren, wie sie es getan hatte. Ich hätte mich an Prosper Mérimée und den anderen orientieren sollen, was den Umgang mit der Entität angeht, überlegte sie. Aber nun ist es
wohl zu spät, um das noch bedauern zu können. Die Würfel sind gefallen. So oder so. Nachdem noch etwas mehr Zeit – Scobee hatte keine Ahnung, wie viel – vergangen war, bildete sich in einer der Wände eine Tür. »Kargor?«, rief sie. Keine Antwort. Die Herrschaft ist wohl beleidigt. Sie trat an die Tür und öffnete sie. Die Tatsache, dass diese Tür überhaupt existierte und für Scobee sichtbar war, hieß wohl auch, dass die Entität es ihr gestattete, sie zu passieren. Sie ging hindurch und trat in einen Korridor, bei dem sie sich fragte, ob es jener war, durch den sie gekommen war. Schließlich gelangte sie über ein Schott zu den anderen zurück. Der wachhabende Roboter ließ sie diesmal vollkommen unbehelligt. Selbst der Hinweis darauf, dass sie sich außerhalb des Gebietes aufgehalten hatte, in dem ihr Aufenthalt autorisiert war, fehlte.
»Wir haben dich schon vermisst«, sagte Sarah Cuthbert. Die Gespräche innerhalb der Gruppe verstummten, als Scobee durch das Hauptschott zurück in den Raum gelangte, den Kargor ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Scobee trat den anderen entgegen und blieb dann stehen. Sie lächelte matt. Die Blicke aller waren auf sie gerichtet. Sie warteten offenbar darauf, das sie einen Bericht ablieferte. Schließlich war sie eine ganze Weile fort gewesen. »Ich hatte eine Unterredung mit Kargor«, begann Scobee also. Sie bemerkte, wie sich in Prospers Gesicht etwas veränderte. »Und die Auskünfte, die du erhalten hast, waren wahrscheinlich genauso nichtssagend wie immer«, meinte Sarah Cuthbert. »Mit anderen Worten: Dieses Großmaul ist dir vermutlich ausgewichen!« »Ja.« »Man kann eher einen Pudding an die Wand nageln, als der Entität ein paar verbindliche Aussagen abringen!«, ergänzte Sarah Cuthbert, die in dieser Hinsicht offenbar auch schon ihre Erfahrungen ge-
macht hatte. »Darauf läuft es wohl hinaus, oder?« »Bis auf eine Kleinigkeit«, widersprach Scobee. Auf Sarah Cuthberts Stirn erschien eine Falte. »Und die wäre?« Alle sahen Scobee gespannt an. »Kargor wird uns informieren, sobald wir das Ziel dieser Reise erreicht haben«, fuhr Scobee fort und dachte: Wahrscheinlich will er, dass du genau das tust: dich vor die anderen stellen und ihnen von dem berichten, was er gesagt hat. Andernfalls würde er dir das gar nicht gestatten. Und wer weiß, vielleicht hat diese unterschiedliche Zuteilung von kleinen Informationsschnipseln ja Methode, und Kargor hat eine klammheimliche Freude daran, was damit innerhalb der Gruppe ausgelöst wird. Du spielst eine Rolle, die diese Entität dir übertragen hat. Ach, ich habe dieses Leben im Reagenzglas so satt. »Dann wollen wir mal abwarten, ob die Entität auch Wort hält«, äußerte sich Sahbu kritisch. »Bis jetzt hat Kargor immer Wort gehalten«, mischte sich nun Prosper Mérimée ein. »Leider.« Er wandte sich an Scobee. »Wo bist du so lange gewesen?«, fragte er. »Hat dein Gespräch mit der Entität so lange gedauert? Dann hätte eigentlich mehr dabei herauskommen müssen!« »An mir hat es nicht gelegen, Prosper.« »Woran dann?« »Der Entität gefiel es, mich für eine Weile einzusperren«, offenbarte Scobee. »Wenn ich das alles ganz falsch interpretiere, ist das hier dann wohl so eine Art Resozialisierung.« Die anderen schwiegen. Scobee bemerkte allerdings, dass Prosper Mérimée und Sarah Cuthbert einen vielsagenden Blick miteinander tauschten. »Es ist jedenfalls gut, dass du wieder da bist«, meldete sich Sahbu zu Wort, und einige andere aus der Gruppe äußerten dazu ihre Zustimmung. Scobee wandte sich an Prosper. »Hat die Entität mit dir jemals über das Projekt gesprochen?« Prosper zögerte. Es folgte ein weiterer Blickaustausch mit Sarah Cuthbert. Schließlich nickte er knapp. »Ja, das trifft zu.«
»Was weißt du darüber?« Er hob die Schultern. »Nur, dass es existiert«, erklärte er, und auf seiner Stirn bildete sich dabei eine tiefe, seine Skepsis verratende Falte. »Zumindest in den Gedanken der Entität. Kargor hat das Projekt mir gegenüber genau ein einziges Mal erwähnt, und ich war mir ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob er selbst schon so genau wusste, was das eigentlich sein sollte. Mir schien das alles sehr schwammig und vage zu sein. Eine Chiffre für irgendeine diffuse Zukunftsplanung, die ich nicht wirklich ernst genommen habe.« »Mir schien, dass Kargors Pläne im Hinblick auf dieses sogenannte Projekt inzwischen schon sehr viel konkreter geworden sind, auch wenn er mir leider darüber keine näheren Auskünfte geben wollte.« Prosper lächelte. »So, dir auch nicht?« »Leider.« »Wir werden es erleben«, kündigte Prosper an. »Ob wir wollen oder nicht. Eine Wahl werden wir wohl kaum haben. So etwas hat Kargor in seinen Plänen nicht vorgesehen.« »Wenigstens wird das vielleicht etwas Abwechslung bringen«, konnte Sahbu der ganzen Sache sogar einen positiven Aspekt abgewinnen.
Die nächsten Wechsel der Schlaf-/Wachphasen gingen ohne besondere Ereignisse dahin. Innerhalb der Gruppe herrschte eine Art lethargische Harmonie. Die Mitglieder der Zirkustruppe hatten sich offenbar in ihr Schicksal ergeben, und auch Scobee stellte ihre Widerstandsaktionen ein. Sie sah einfach keinen Sinn mehr darin. Ihnen blieb wohl angesichts von Kargors überlegener Macht gar keine andere Wahl, als sich bereitwillig zu fügen. Die ERBAUER-Entität konnte nach Belieben schalten und walten, während den Gefangenen bestenfalls die Rollen von Schachfiguren zufielen. Schachfiguren in einem Spiel, dessen Regeln sie noch nicht einmal
zur Gänze verraten bekommen hatten, was ihre Perspektiven nicht gerade verbesserte. Irgendwann befand sich nach der Schlafphase eine zylinderförmige Konsole in der Raummitte. Sie war einfach da, und es gab bei niemandem einen Zweifel daran, dass Kargor dafür verantwortlich war. Kargor gibt und Kargor nimmt!, dachte Scobee sarkastisch. Scheu näherten sich die Mitglieder von Prosper Mérimées Gruppe dem Objekt. Manche wagten sogar, es zu betasten. Nichts geschah. »Ich nehme an, dass du für diese Überraschung verantwortlich bist, Kargor!«, rief Prosper laut. Aber er erhielt keine Antwort von der ERBAUER-Entität. »Hörst du mich?«, rief Prosper ärgerlich, aber der absolute Herr der Perle schien es nicht für nötig zu erachten, dem menschlichen Ausgangsmaterial seines Projekts im Moment irgendeine Auskunft zu geben. Er schwieg beharrlich. Und wir haben wieder einmal die Rolle von Affen im Zoo, bei denen beobachtet wird, wie sie auf neues Werkzeug reagieren!, ging es Scobee durch den Kopf. Wahrscheinlich ist es besser, ich gewöhne mich langsam mal daran. »Ich nehme an, dass Kargor sich schon etwas dabei gedacht hat, uns dieses Ding hierher zu zaubern«, meinte Sahbu. Er hatte die Konsole als Erster erreicht, war sich aber unschlüssig darüber, wie sie zu benutzen war. Daher hielt er sich zurück. Rein äußerlich waren nämlich keinerlei Bedienungsmerkmale zu erkennen. Nur eine glatte, golden schimmernde Oberfläche ohne Konturen oder Farbnuancen. »Ich nehme an, dass die Gloriden diese Technik durch direkten Energietransfer bedient haben«, sagte Scobee. »Diese Möglichkeit steht uns ja leider nicht zur Verfügung«, warf Sarah ein. Scobee nickte nachdenklich und fuhr fort: »Andererseits haben sie aber auch eine körperliche Erscheinungsform, und ich habe während meiner Reise mit Ovayran gesehen, dass sie Sensorfelder an Konsolen bedienten. Davon abgesehen haben sie mir einen
Bordrechnerzugang gelegt, bei dem sie ihre Technik an mich anpassten, was sehr gut funktionierte.« »Wenn du dich damit auskennst, würde ich vorschlagen, probier doch mal dein Glück!«, sagte Prosper. »Immerhin hast du ja offenbar eine Weile unter Gloriden gelebt.« »Wobei niemand sicher sein kann, dass hier wirklich GloridenTechnik verwendet wurde«, ergänzte Sarah. »Nein, es ist ERBAUER-Technik«, hielt Scobee dem entgegen. »Und die wurde für die Gloriden angepasst. Ich habe allerdings an Bord eines Gloridenschiffs erlebt, dass sie sich auch an die Bedürfnisse von Menschen anpassen lässt.« Scobee trat vor die Konsole und starrte auf deren glatte Oberfläche. Manchmal ist es das Beste, einfach dem Instinkt zu folgen!, ging es ihr durch den Kopf. Sie legte die Handfläche auf den Mittelpunkt der oberen, auf der Konsole befindlichen Kreisfläche. Die Mitglieder der Zirkustruppe stoben wie aufgescheuchte Hühner auseinander, als ein gewaltiger Holo-Kubus erschien. Seine Kantenlänge betrug mindestens drei Meter. Er schwebte in der Luft – etwa in Augenhöhe. Kolonnen von Zeichen sowie die Abbildung einer Galaxie waren in einem kleinen Teilfenster zu sehen. Manche der Darstellungen wechselten so schnell, dass sie sich kaum erfassen ließen. Aber dieses Tempo wurde minimiert. »Das ist unsere Milchstraße!«, erkannte Scobee ein dargestelltes Objekt. Das laufende Programm zoomte eigenständig einen bestimmten Bereich heran und vergrößerte ihn immer wieder, sodass sich schließlich ein kompletter Spiralarm präsentierte. »Das ist auf jeden Fall ein Bereich unserer Milchstraße, der mir bisher unbekannt ist!«, erklärte Scobee. Der Zoomfaktor wurde abermals vergrößert. In einem durch interstellare Nebelwolken abgeschirmten Gebiet fand sich ein Sonnensystem mit sieben Planeten. Verbindungen zwischen einzelnen Welten wurden durch einfache, farbige Linien markiert. »Das sieht beinahe wie ein Transportsystem aus«, stellte Sarah
Cuthbert fest. »Wobei wir nicht vergessen sollten, dass es sich um eine schematische Darstellung handelt, deren eigentlicher Sinn noch nicht eindeutig bestimmt wurde!«, wandte Scobee ein. Eine weitere Holofigur entstand. Scobee glaubte im ersten Augenblick, dass es sich um ein neuerliches Großdisplay handelte, auf dem Daten angezeigt wurden. Aber das war nicht der Fall. Stattdessen verwandelte sich der zweite Holokubus in ein Gesicht, das äußerlich dem eines Menschen glich, aber so androgyn war, dass es sich nicht eindeutig bestimmen ließ, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Außerdem passte die Sprache nicht so recht zu den Eindrücken des Bildes, was wohl daran liegen konnte, dass dem Herrn der Perle einfach nicht genügend Informationen vorlagen, um sie in ein wirklich überzeugendes Avatar einfließen zu lassen. »Seid gegrüßt. Hier spricht das Avatar der Perlen-KI. Ich wurde angewiesen, euch mit Informationen zu versorgen und habe damit auch bereits durch die Aktivierung von Sternenkarten begonnen.« »Heißt das, wir haben das Ziel dieser Reise erreicht?«, fragte Scobee, die sich an das erinnerte, was Kargor ihr gesagt hatte. »Es ist nicht das Ziel dieser Reise, aber es ist euer Ziel«, korrigierte die KI und wies damit auf einen sehr feinen, aber wesentlichen Unterschied hin. »So wie Kargor es vorgegeben hat!«, ergänzte Scobee. »Kargor bestimmt die Geschicke dieser CHARDHIN-Einheit«, informierte die KI. »Bedeutet das, hier beginnt auch das Projekt?«, hakte Scobee nach. »Ja.« »Was sind das für Markierungen in der Sternenkarte?«, wollte Prosper Mérimée wissen. »Alle Informationen sind über das Menü abrufbar. Scobee hat sich durch ihren Aufenthalt an Bord eines Gloridenschiffs ja auch bereits Grundkenntnisse in der Bedienung der entsprechenden Technik erworben. Die Konsole ist so konzipiert, dass die Beschränktheit der Wahrnehmungsfähigkeit eurer Art berücksichtigt wurde.« »Hat diese KI nicht eine neckische Art, sich auszudrücken?«, spot-
tete Sahbu. Das Holo-Avatar verschwand. Scobee ging noch einmal an die Konsole. Sie öffnete ein Menü und fand tatsächlich die Informationen, die sie suchte. »Bei den Verbindungen handelt es sich offenbar tatsächlich um ein Transportsystem.« »Sind es Transmitterverbindungen?« »Hier werden sie Energiestraßen genannt.« Scobee zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt, aber ich weiß nicht, ob technische Einzelheiten im Moment wirklich so entscheidend sind.« »Da hast du allerdings recht!«, fand Sahbu. »Das Interessante an diesen Energiestraßen ist, dass sie fortlaufend zu fluktuieren scheinen«, stellte Prosper Mérimée mit Blick auf den großen Holokubus fest. Anhand der Markierungen war deutlich zu sehen, wie sich immer neue Verknüpfungen bildeten und dafür alte gekappt wurden. Das Netz, das sich zwischen den sieben Welten spannte, veränderte sich manchmal von Sekunde zu Sekunde. Danach konnte es sein, dass es für ein paar Minuten stabil blieb, ehe es erneut einer Serie von Veränderungen und kleinsten Modifikationen unterworfen wurde. Ein faszinierender Anblick, der an die neuronale Vernetzungsstruktur eines menschlichen Gehirns erinnerte. »Hier wird das ungefähre Alter dieser Anlage angegeben«, stellte Scobee fest. »Die verwendeten Einheiten kann ich nicht in die Zeitmaße umrechnen, die mir geläufig sind, aber fest steht, dass dieses Transportsystem schon seit … Äonen bestehen muss.« »Und was ist mit den Geschehnissen, die Darnok mit seinen Zeitmanipulationen heraufbeschworen hat?«, fragte Sarah Cuthbert. »Ich meine, die Folge der zweiten Komponente seines Entartungsfeldes war doch das Versagen jeglicher Technik innerhalb der Milchstraßengrenzen – aber davon kann in diesem Fall ja wohl kaum die Rede sein.« »Das stimmt«, murmelte Scobee, die sich daranmachte, eigene Nachforschungen im Datenwust des Archivs, das Kargor angelegt hatte, zu tätigen.
Schließlich gelang es ihr, eine schematische Positionsdarstellung zu aktivieren, die anzeigte, wo sich die CHARDHIN-Perle gegenwärtig befand. »Wir befinden uns offenbar gewissermaßen bereits in der Anflugphase«, sagte Scobee. Sie ließ sich die Ortungsdaten der einzelnen Planeten anzeigen. Eine weitere Holodarstellung wurde geöffnet; in ihr wurden diese Daten mithilfe von Diagrammen veranschaulicht. »Die sieben Planeten des Systems sind vom Volumen und der Masse her absolut identisch«, stellte Scobee erstaunt fest. »Eine derartige Konstellation habe ich noch nirgends gesehen, obwohl ich inzwischen ja auch etwas herumgekommen bin.« »Leider bin ich keine Astronomin, aber das dürfte wohl absolut irregulär sein«, meinte Sarah. »Jedenfalls ist es wohl so gut wie ausgeschlossen, dass dieses System auf natürliche Weise entstanden ist.« Scobee rief ein schematisches 3D-Lagemodell auf, das noch einen anderen Aspekt verdeutlichte: Alle sieben Welten befanden sich auf einer einzigen Umlaufbahn. Die Abstände waren von exakter Regelmäßigkeit. Außerdem besaß keiner dieser Himmelskörper einen Trabanten. »Ich hatte mich gleich gewundert, was für ein Gedränge im inneren Bereich dieses Sonnensystems herrscht«, gestand Scobee. Aber auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, dass die Bahnen der Systemwelten lediglich sehr dicht beieinanderlagen. Erst aus diesem Blickwinkel wurden die tatsächlichen Verhältnisse transparent. Scobee sorgte dafür, dass der Zoomfaktor des großen Holo-Kubus noch einmal vergrößert wurde. Sie ließ sich die Ortungsergebnisse anzeigen. Mit welchen Methoden die Sensoren der Perle letztlich zu ihren Messergebnissen gelangten, war ihr vollkommen unbekannt. Lediglich eine der verwendeten Methoden unterschied sich im Prinzip nicht von der seit den Kindertagen der irdischen Raumfahrt angewendeten Spektralanalyse. Die chemische Zusammensetzung der einzelnen Planeten lieferte eine weitere Überraschung: Diese sieben Welten schienen sich nicht
nur in ihrer Größe und Gestalt, sondern auch chemisch sehr ähnlich zu sein. Und sie hatten ausnahmslos atembare Lufthüllen. Der Sauerstoff-Anteil schwankte leicht und lag zwischen 19 und 22 Prozent, was den irdischen Durchschnittsverhältnissen entsprach. »Vielleicht kannst du uns noch einmal diese sogenannten Energiestraßen einblenden, Scobee«, schlug Sarah vor. »Gerne.« »Es könnte ja sein, dass sich aus der Nahsicht Rückschlüsse ableiten lassen, von wo aus dieses faszinierende System gelenkt wird.« Scobee blendete die aufblitzenden Energiestraßen wieder ein, die sich ständig neu konfigurierten. Ein sich verränderndes, ständig in der Entwicklung befindliches Netz aus purer Energie, das sich offenbar den wechselnden Bedürfnissen nach Information und Verkehr anzupassen vermochte. Anders war das Bild, das sich Scobee und den anderen bot, nicht zu verstehen. Sarah Cuthbert hob die Brauentattoos. »Wie schon gesagt, es ist äußerst erstaunlich, dass dieses System offenbar völlig von dem Entartungsfeld verschont wurde, das sich im Rest der Milchstraße doch so verhängnisvoll auf jedwede Hochtechnik auswirkte.« »Möglicherweise existiert hier ein Schutz, vielleicht andersgeartet als im Nar'gog-System, aber ebenso effizient«, vermutete Scobee und fügte noch schulterzuckend hinzu: »Das wäre zumindest eine Erklärung!« »Anders kann es eigentlich auch nicht sein«, nickte Prosper Mérimée. »Fragt sich nur, was wir hier sollen!«, seufzte Sahbu. »Den ominösen Plan der Entität erfüllen«, äußerte sich Scobee mit ziemlich bissigem Unterton. Sie wandte sich an Prosper. »Weißt du vielleicht doch noch irgendein Detail, das dir erst jetzt wieder einfällt? Schließlich warst du doch – wie soll ich sagen? – die bevorzugte Kontaktperson des ERBAUERS.« »Nein«, murmelte Prosper Mérimée auf seine einsilbige Art. »Auch nicht irgendetwas, was du vielleicht aufgeschnappt hast und das jetzt plötzlich einen Sinn ergibt?«, ließ Scobee nicht locker. Prosper schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, nichts. Ich glaube,
du überschätzt meine Rolle, die ich für Kargor gespielt habe.« Scobee hob die Schultern. »Es war nur eine Frage.« »Und die Antwort darauf hatte ich dir bereits gegeben. Und noch etwas: Wenn du glaubst, dass ich in irgendeiner Weise die Interessen unserer Gruppe an Kargor verraten habe, dann liegst du absolut falsch, Scobee!« »Das habe ich niemals behauptet!«, verteidigte sie sich. »Aber gedacht hast du es. Man braucht kein Telepath zu sein, um das zu merken!« Scobee sah Prosper offen an. »Ich habe das gedacht, als ich Zeuge deines Auftritts vor dem Granogk wurde. Vielleicht auch noch in der ersten Zeit hier in der CHARDHIN-Perle, aber jetzt nicht mehr. Das ist die Wahrheit.« Prosper erwiderte ihren Blick. Dann nickte er. »Gut. Das musste vielleicht mal ausgesprochen werden.« »Ja, da magst du recht haben.«
Anhand der aufgefächerten holografischen Positionsanzeigen war erkennbar, wie schnell sich die CHARDHIN-Perle diesem Ring aus sieben nahezu identischen Welten näherte. Die Geschwindigkeit war dabei erheblich abgebremst worden. Es lag eigentlich auf der Hand, dass die Perle eine dieser Welten anfliegen würde. »Kargor!«, rief Scobee. »Wo bist du? Erkläre uns, was hier geschieht!« Aber der Herr der Perle schien Wichtigeres zu tun zu haben. Er meldete sich nicht. Statt ihm antwortete das Avatar. Es materialisierte wieder und sagte: »Zu Diensten. Was ist eure Frage? Gibt es Schwierigkeiten mit der Bedienung des Terminals?« »Nein«, erwiderte Scobee gallig. »Falls es Bedienungsschwierigkeiten geben sollte, so liegt dies vielleicht an einer Überforderung der doch recht groben Sinnesorgane eurer Spezies, und es ist dann eine weitergehende Anpassung notwendig, die ich gerne vornehmen würde. Allerdings brauche ich
dazu deine Mitarbeit …« »Ich möchte, dass sich Kargor selbst hier meldet und unseren Fragen stellt!«, verlangte Scobee. »Die Entität ist stark beschäftigt«, verteidigte das Avatar seinen Herrn und Meister. »Aber er hat es mir versprochen!«, beharrte Scobee. »Und ich lasse mich nicht durch irgendeinen mechanischen Lakaien abspeisen!« »Ich nehme an, mit mechanischem Lakaien bin ich gemeint. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich ein hocheffizientes, mit Protobewusstsein ausgestattetes Avatar bin, das speziell für diese Aufgabe programmiert wurde. Solltet ihr schwerwiegende Mängel feststellen, bitte ich die Funktion zur Grund-Kalibrierung zu betätigen. Es lassen sich dabei zahlreiche Einstellungen ganz nach Wunsch verändern.« »Kargor!«, rief Scobee und schnitt dem Avatar damit das Wort ab. Es verstummte daraufhin. Dann verschwand es. »Ob du wirklich den richtigen Ton getroffen hast, möchte ich doch stark bezweifeln!«, meinte Sarah skeptisch, an Scobee gerichtet. Scobee zuckte mit den Schultern und nahm noch ein paar Veränderungen an den Darstellungen vor. Ihre Finger glitten über die zentimetergroßen Sensorfelder, die auf der bis dahin konturlosen Oberfläche der Konsole erschienen waren. Sie zoomte das Netz der Energiestraßen näher heran. Es veränderte sich zwar dauernd, aber die sieben Planeten waren untereinander ständig mit mindestens einer dicken Hauptader verbunden. Die Nahsicht zeigte darüber hinaus ein feines Netz, das die Planeten mit einem Punkt verband, der sich mitten im Zentralgestirn befand. Diese im Wesentlichen sternförmig verlaufenden Energiestraßen waren viel stabiler als die stärker fluktuierenden interplanetaren Verbindungen. »Es sieht so aus, als käme die Energie, die dieses Transportnetz aufrechterhält, aus dem Innern der Sonne!«, stellte Scobee fest. »Dort muss das Reservoir liegen, das all das, was wir hier sehen, aufrechterhält!« »Was ziemlich nahe liegt«, sagte Prosper. »Soweit ich das beurtei-
len kann, ist diese Sonne auch die einzige nennenswerte Energiequelle im weiten Umkreis.« »Dann müsste sich eigentlich innerhalb der Sonnenkorona eine Kontroll- und Steuerstation befinden, die das gesamte Netz stabilisiert«, glaubte Scobee. »Ich werde mal sehen, ob ich ortungstechnisch näher an dieses energetische Zentrum herankomme!« »Probier das ruhig«, sagte Sahbu. »Die Entität scheint ja nichts dagegen zu haben, dass wir uns gut informieren.« »Hat von euch schon einmal jemand darüber nachgedacht, weshalb uns Kargor all diese Daten zur Verfügung stellt?«, fragte Sarah Cuthbert. Sahbu zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise will man uns hier in der Gegend absetzen. Vielleicht versteht er das unter dem Projekt!« Alle Blicke waren auf Sahbu gerichtet. Dieser hob abwehrend die Hände. »Das war ja nur so ein Gedanke!« »Leider ist dieser Gedanke verdammt naheliegend«, murmelte Scobee, die absolut keine Lust darauf hatte, wie ein moderner Robinson Crusoe auf einer dieser Welten zu stranden, nur weil eine selbstherrliche Entität namens Kargor einen wirren Plan verfolgte, der unbedingt und mit aller Gewalt in die Tat umgesetzt werden musste! Koste es, was es wolle! »Auswilderung von Humanoiden – ohne mich!«, sagte Scobee. »Unglücklicherweise wird man dich kaum um Erlaubnis fragen!«, erwiderte Prosper Mérimée. »Bis jetzt ist alles nichts weiter als wilde Spekulation«, versuchte Sarah Cuthbert wieder etwas Ruhe in die Diskussion zu bringen.
Der Positionsanzeige nach war die Geschwindigkeit der CHARDHIN-Einheit auf einen Wert gesunken, der nahe bei null liegen musste. Es war erstaunlich, wie punktgenau dieses Bremsmanöver abgelaufen war. Die Perle musste unglaubliche Andruckabsorber in Verbindung mit hoch leistungsfähigen Triebwerken haben.
Die gigantische goldene Kugel befand sich nun auf einer Ebene mit der Umlaufbahn, die sich alle sieben Welten teilten. Die Energiestrahlen zuckten an der Perle vorbei. An bestimmten Punkten trafen sie sich und bildeten energetische Knotenpunkte, von denen sternförmige Verzweigungen abgingen. Einer der Planeten rückte jetzt näher in das große Holodisplay. Diese Veränderung des Zoomfaktors war allerdings von keinem der Gefangenen vorgenommen worden. Also nahm Scobee an, dass die Entität dafür verantwortlich war und damit den Blick auf einen bestimmten Himmelskörper lenken wollte. »SEID GEGRÜSST«, ertönte plötzlich Kargors Lautsprecherstimme. Etwas Großspuriges haftete ihr an und Scobee hatte für sich entschieden, dass sie diese Art nicht mochte. »ICH HABE EUCH ETWAS VERNACHLÄSSIGEN MÜSSEN, DA ICH SEHR BESCHÄFTIGT WAR. MEIN AVATAR HAT SICH IN DER ZWISCHENZEIT ALLE MÜHE GEGEBEN, EUCH ZU INFORMIEREN. FÜR EVENTUELL AUFGETRETENE SCHWIERIGKEITEN MÖCHTE ICH MICH ENTSCHULDIGEN. LETZTLICH DIENTE ALLES NUR DEM PROJEKT, DAS HIER UND JETZT ZUR ENTFALTUNG KOMMT.« Also doch!, dachte Scobee. Er will offenbar sehen, wie wir uns in der freien Wildbahn durchschlagen. »Wie kommt es, dass dieses System offenbar gar nicht von den zerstörerischen Wirkungen des Entartungsfeldes betroffen war?«, fragte Scobee laut. »ES IST DAS ERSTE REICH«, sagte Kargor, so als wäre dies allein schon Erklärung genug. »Was ist das Erste Reich?«, hakte Scobee sofort nach. »ACH, IHR WENDET EUER INTERESSE IMMER DEN FALSCHEN FRAGEN ZU.« Scobee runzelte die Stirn. »Und was wäre deiner Ansicht nach die richtige Frage?« »IHR SOLLTET EURE WISSBEGIER AUF DIESE WELT LENKEN!«, regte Kargor an und ließ einen der auf dem Holodisplay dargestellten Planeten rot aufleuchten. »DAS IST ANGK I«, stellte er
klar. »Und weshalb sollte ›Angk I‹ für uns so interessant sein?«, rief Prosper Mérimée, der lange Zeit geschwiegen hatte. »IN KÜRZE WERDET IHR DORT AUSGESETZT«, eröffnete Kargor. »Du willst uns aussetzen?«, ereiferte sich Prosper. »Warum?« Von Kargor kam keine Antwort. Die Entität hüllte sich in Schweigen. Das also ist Kargors großartiger Plan, ging es Scobee durch den Kopf. Hölle und Verdammnis! Laut sagte sie: »Das ist mal wieder typisch! Die Entität schweigt, sobald es interessant wird oder man Fragen stellt, die ans Eingemachte gehen.« »Wundert dich das immer noch?«, fragte Sarah spöttisch. »Du kennst sie doch inzwischen genauso gut wie wir. So ist Kargor nun mal.« »Die Frage ist doch, ob wir irgendetwas tun können, um unsere Abschiebung auf diese Welt namens Angk I zu verhindern«, sagte Sahbu mit vor der Brust verschränkten Armen. »Ich habe auch keine Lust, als Schiffbrüchiger auf irgendeiner Welt ausgesetzt zu werden«, bekannte Prosper Mérimée. »Andererseits sehe ich aber auch keine Möglichkeit, wie wir das verhindern könnten.« »Und vielleicht ist unsere Lage dann zumindest etwas besser als im Augenblick«, glaubte Sarah Cuthbert. »Selbst wenn Kargor die Entwicklung seines Projekts im Auge behalten will, kann er uns dort nicht dermaßen drangsalieren, wie er es hier tut.« »Aber für uns bestünde keine Möglichkeit, diese Welt zu verlassen«, stellte Sahbu fest. Scobee hob die Augenbrauen-Tattoos. »Und was ist mit diesen Energiestraßen?«, fragte sie. »Ich dachte, die verbinden die sieben Welten untereinander. Zumindest erweckt die Holodarstellung doch stark diesen Eindruck.« Auf der holografischen Positionsanzeige war jetzt zu sehen, dass sich die CHARDHIN-Perle einem der energetischen Knotenpunkte
näherte. Schließlich sprang der »Funken« über. Eine Energiestraße bildete sich zur Perle. Im selben Augenblick wurde der Raum, in dem sich Prosper, Scobee und die anderen befanden, von einem grellen Leuchten erfüllt. Scobee schloss die Augen, doch das nützte nichts. Platinweiß war dieses Leuchten, das vollkommen blendete. Aber überraschenderweise schmerzte es nicht in den Augen. Alles schien sich zu drehen. Scobee glaubte, in einen tiefen, hell erleuchteten Schlund zu fallen, und fühlte sich unwillkürlich an das Verschwinden der Jay'nacSchiffe im Nar'gog-System erinnert. Nur, dass sie überraschenderweise keine Hitze spürte. Sondern Kälte. Wenig später hatte sie das Gefühl, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu spüren. Das Leuchten verschwand und schrumpfte schließlich zu einem glutroten Sonnenballon, der über den Horizont kroch und die Landschaft eines erdähnlichen Planeten mit seinem warmen Licht beschien. Nach und nach bildeten sich erste Konturen. Bäume, Sträucher und Berge hoben sich deutlich ab. Scobee bemerkte, dass die gesamte Gruppe über die Energiestraße hierher transferiert worden war. Sarah Cuthbert sowie Prosper Mérimée und die anderen ehemaligen Gettobewohner waren allesamt auf die Oberfläche dieses Planeten transferiert worden. Niemand fehlte. Prosper, der gerade seinen Blick über die anderen schweifen ließ, schien derselbe Gedanke zu beschäftigen. Als er feststellte, dass niemand zurückgelassen worden war, nickte er zufrieden. Angk I … Das also ist die Welt, die Kargor für uns gewählt hat!, überlegte Scobee. Eine Welt, die offenbar keine schlechten Überlebensbedingungen hatte. Am Himmel waren die mäandernden, sich ständig verzweigenden und wieder zu Knotenpunkten zusammenfindenden Energiestraßen zu sehen. Sobald es richtig hell geworden war, würde das wohl nicht mehr möglich sein.
Etwas Leuchtendes schoss jetzt vom Himmel herab. Für einen Meteoriten war es entschieden zu schnell. Ungefähr drei Meter über den Köpfen der Ausgesetzten blieb dieser Lichtball stehen. »KARGOR WÜNSCHT EUCH EIN GUTES GEDEIHEN!«, meldete sich die Stimme der Entität zu Wort. »DIESER ORT IST EURE ZUKÜNFTIGE HEIMAT. LEBT BIS ZU EUREM TOD IN FRIEDEN UND … ABER DAS WIRD SICH ERGEBEN!« Diesmal kamen weder Scobee noch Prosper Mérimée oder eines der anderen Gruppenmitglieder dazu, irgendeine Frage zu stellen. Nachdem das karge Statement beendet war, flog Kargor wieder zum Himmel empor. Direkt in die aufgehende Sonne hinein, sodass die Lichterscheinung bereits nach wenigen Augenblicken scheinbar eins mit dem Sonnenlicht wurde. Na großartig!, ging es Scobee durch den Kopf. Von so etwas hast du doch immer schon insgeheim geträumt, oder? »Wo sind wir hier nur hineingeraten?«, fragte Prosper. »In irgendeine Art von Kulturexperiment, bei dem der große Schöpfer alle paar Jahrhunderte mal vorbeischaut und nach dem Rechten schaut?« »Wir werden sehen«, murmelte Sarah. »Oder unsere Nachfahren – in tausend Generationen …« Scobee ließ derweil ihren Blick über die umliegende Landschaft schweifen. Da war sie also, die Welt, die ihnen von der Entität zugeteilt worden war. Auf den ersten Blick ein Paradies. Aber welches Paradies kam schon ohne Schlange aus? Ein leichter Wind wehte und bog das Gras und die Sträucher. Geflügelte Tiere erhoben sich von einem der nahen Berge und segelten im Schein der Sonne durch die Lüfte. »Eigentlich sahen meine Pläne anders aus«, gestand Prosper Mérimée. »Zumal die Frage ist, welche Überraschungen uns hier noch erwarten.« »Ich glaube nicht, dass wir gefragt werden, ob uns das gefällt«, antwortete Scobee, während ihr der leichte Wind eine kitzelnde Haarsträhne ins Gesicht blies. Nein, dachte sie. Gefragt werden wir
ganz bestimmt nicht, was uns lieber wäre. Kargor ist ein Geschöpf mit vielen Gesichtern – und die freundlichen sind wohl auch die falschesten. Dieser verdammte Bastard lässt uns tatsächlich hier auf uns allein gestellt zurück! Sie wünschte ihm die Pest an den Hals. Und falls es in diesem Universum überhaupt so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit gab, würde der ERBAUER sie auch bekommen. Die fieseste Pest, die es zwischen den Sternen einzufangen gab!
9. Kapitel – Die neue Erde Zeitebene RUBIKON – vor der letzten Transition Richtung Solares System »Kargor kann sich eigentlich nicht mehr an Bord der RUBIKON befinden«, sagte Jarvis. »Es gibt nichts, was dafür spräche. Allerdings gibt es auch keinerlei Spur, wohin die Entität die Vermissten transferiert haben könnte.« Außer Jarvis befanden sich noch Cloud und Algorian in der Zentrale des Rochenschiffs. »Ich bin auch nicht so recht weitergekommen«, gestand Cloud. »Was Kargor angeht, so haben diverse Systemchecks wohl dein Ergebnis bestätigt, Jarvis. Er ist nicht mehr an Bord.« »Und was habe ich dann wahrgenommen?«, fragte Algorian aufgebracht. Cloud zuckte mit den Schultern. »Vielleicht eine Art psionischen Nachhall seiner mentalen Präsenz?« »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, gestand Algorian. »Aber es war eine sehr schwache Empfindung, und ich hatte ja von Anfang an eingeräumt, dass ich mich vielleicht irre.« »Das glaube ich nicht!«, widersprach Jarvis. »So?«, wandte der blassblau gesichtige Aorii in Jarvis' Richtung, dessen Maske absolut lebensecht war; ein Anblick, an den sich Algorian erst gewöhnen musste. Bei seiner Ankunft auf der RUBIKON seinerzeit hatte Jarvis bereits in seinem robotähnlichen Nanokörper gesteckt. »Ich bin während der von mir selbst angestellten Untersuchungen immer wieder auf leichte temporale Anomalien gestoßen«, erklärte der ehemalige GenTec. »Nichts, was sich mit den Verhältnissen im Pekinger Getto vergleichen ließe, sondern lediglich ganz geringfügi-
ge Erschütterungen und Deformationen der Raumzeit. Zumindest lassen sich gewisse Wahrnehmungen von mir auf Nano-Ebene eigentlich nur erklären, wenn man solche Anomalien als gegeben annimmt.« »Was hat das mit meiner – zugegebenermaßen recht schwach ausgeprägten – Psi-Fähigkeit zu tun?«, fragte Algorian etwas ungehalten. Er sah offenbar den Zusammenhang zwischen Jarvis' Ausführung und dem, was er erlebt hatte, nicht so recht. »Wenn Kargor tatsächlich das ist, was er behauptet, nämlich eine Entität der legendären ERBAUER der CHARDHIN-Perlen, müssen wir annehmen, dass sie ein großes Wissen im Umgang mit der Zeit haben und sich vermutlich auch in verschiedene Zeitebenen versetzen können. Denken wir nur an die temporale Permanenz der CHARDHIN-Perlen oder ihre Portalschleusen! So etwas ist ohne derartige Fähigkeiten gar nicht denkbar!« »Du meinst also, Kargor könnte sich in eine andere Zeitebene abgesetzt haben«, sagte Algorian. »Ich finde, dieser Schluss liegt nahe«, gab Jarvis zurück. »Aber wenn sich jemand aus unserer Zeitlinie Knall auf Fall verabschiedet, kann das doch eigentlich nicht ohne Spuren ablaufen.« »Kannst du genau bestimmen, in welchem Zeitraum die von dir erkannten Anomalien festzustellen sind?«, fragte John Cloud. Jarvis nickte. »Ich habe das bereits mit den Daten abgeglichen, an denen SESHA die Verschwundenen zum letzten Mal geortet hat oder uns eindeutige Beweise ihrer Anwesenheit vorliegen. Nahrungsbestellungen an die Schiffs-KI zum Beispiel oder der Nachweis von verbrauchter Atemluft in den jeweiligen Quartieren.« »Und?«, fragte Cloud. »Die Daten passen zusammen. Kargor hat demnach tatsächlich kurz nach Darnoks Bergung das Schiff verlassen und die Verschwunden mitgenommen. Leider kennen wir nicht den Ort ihres Verbleibs …« »Oder die Zeit«, ergänzte Cloud. Der Kommandant der RUBIKON ging zu einem Sarkophagsitz und ließ sich darin nieder. »Ich hoffe, dass uns wenigstens im irdi-
schen Sonnensystem positive Neuigkeiten erwarten.« »Ich würde nicht darauf setzen«, sagte Jarvis. Ein mattes Lächeln glitt über Clouds Gesicht. »Nimm einem doch nicht jede Hoffnung, Jarvis! Manchmal ist es der optimistische Selbstbetrug, der einen aufrecht hält!« Cloud nahm eine Schaltung vor. Das Gehäuse des Sitzes schloss sich, und der Commander wurde eins mit dem Schiff. Seine Sinne verschmolzen mit den zahllosen Sensoren und Instrumenten. Die letzte Transition!, dachte er. SESHA erklärte: Es wäre gut, wenn der Zielpunkt innerhalb des Solaren Systems noch präzisiert würde. Die Schiffs-KI hatte natürlich recht. Wir werden uns vorsichtig heranpirschen, bestimmte Cloud. Schließlich wissen wir ja nicht, was uns erwartet. Dann schlage ich einen Rematerialisationspunkt nahe der Oort'schen Wolke vor, meinte SESHA. Die Reststrecke ist mit konventionellem Antrieb leicht und schnell zu bewältigen. Was immer die KI als konventionell betrachtete. In Ordnung, bestätigte Cloud. Nach langer Zeit kehrte er in sein Heimatsystem zurück. Aber was werde ich vorfinden?, fragte er sich – und gab sich selbst die wenig optimistische Antwort: Vermutlich irgendeine Abart der Hölle!
Die RUBIKON transitierte an ihren Zielpunkt am äußersten Rand des Sonnensystems. Achtung! Verdacht auf Fehltransition!, meldete Sesha sogleich mit Wiedereintritt in den Normalraum. Erheblicher Widerspruch in den astronomischen Grunddaten! Es lief Cloud kalt über den Rücken. Bitte nicht schon wieder!, durchfuhr es ihn. Sesha wiederholte inzwischen in penetranter Weise die Fehlermeldung. Liegen irgendwelche Hinweise auf eine temporale Anomalie vor?, fragte
Cloud. Negativ, meldete die Bord-KI. Das bedeutet, die Transition ist vollkommen normal verlaufen?, wollte Cloud anschließend wissen. Sesha erklärte: Ja. Aber meine Alarmroutine ist aktiviert worden, da die astronomischen Grunddaten um mehr als den festgelegten Toleranzwert abweichen. Cloud war verwirrt. Was soll das heißen? Befinden wir uns beim falschen Sonnenssystem? Sterne vom G-Typ gibt es schließlich wie Sand am Meer. Die Schiffs-KI der RUBIKON ging auf diese typisch menschliche Metapher nicht weiter ein. Aber nur einen Einzigen mit dieser speziellen Isotopen-Verteilung, entgegnete sie. Die ist genauso individuell wie ein genetischer Fingerabdruck. Das heißt, eine Verwechslung wäre für dich von vorneherein ausgeschlossen, zog Cloud den einzigen vernünftigen Schluss. Sesha bestätigte dies. Das ist wahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Sonnen mit derselben Isotopenverteilung vorkommen, ist so gering, dass man sie getrost vernachlässigen kann. Wir befinden uns definitiv am Rand des Solaren Systems – aber das scheint seinen Aufbau erheblich verändert zu haben. Die Sensoren arbeiteten auf Hochtouren. Noch lieferten sie kein stimmiges Gesamtbild dieser Veränderungen. Aber etwas fiel Cloud sofort auf: Die Oort'sche Wolke aus unzähligen Brocken, die seit Jahrmilliarden das Reservoir war, aus dem die Kometen kamen, existierte nicht mehr. Sie war einfach – verschwunden. So als hätte ein überdimensionaler kosmischer Staubsauger sie einfach aufgesogen! Kein Wunder, dass die Alarmmeldung ausgelöst wurde!, ging es Cloud fassungslos durch den Kopf. Er checkte die ordnungsgemäße Funktionsweise der Ortungssysteme. Es konnte kein Fehler festgestellt werden, und auch die Vergleichsmessungen an bekannten astronomischen Objekten bestätigten, dass alle Systeme einwandfrei funktionierten.
Was war geschehen? Was für gigantische Kräfte hatten hier gewirkt? Cloud war wie vor den Kopf gestoßen. Er musste unwillkürlich an Jarvis' wenig optimistische Einschätzung denken. Was er jetzt vorfand, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Und ließ Ahnungen von noch mehr Unheil in ihm aufsteigen. John Cloud beschleunigte die RUBIKON. Sie jagte mit ihren flexiblen Schwingen auf der überall verteilten Dunklen Materie des Alls dahin wie ein Mantarochen, der damit Wasser verdrängte. Während der Fahrt zwischen der Position der einstigen Oort'schen Wolke und dem Kuiper-Gürtel meldeten die Sensoren nichts Aufsehenerregendes. Schließlich erreichte die RUBIKON die äußeren Ausläufer des Kuiper-Gürtels, jenes scheibenartigen Bereichs, in dem ebenfalls massenhaft Kleinobjekte um die Sonne kreisten: Asteroiden, Meteoriten, Eis- und Gesteinsbrocken – aber auch Dutzende von Kleinplaneten, von denen eine ganze Reihe die Größe von Pluto hatten oder sogar übertrafen. Sedna, Quor, Xena, und wie die Astronomie des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts sie auch genannt haben mochte. Viele von ihnen hatten Schlagzeilen als Entdeckungen von neuen Planeten gemacht, bis die Astronomen dem einen Riegel vorschoben, indem sie ihre Definition des Begriffs Planet kurzerhand selbst über den Haufen warfen und eine neue Gattung von Himmelskörpern schufen – die sogenannten Zwergplaneten. Dwarfs. Pluto und sein Mond Charon verloren im Zuge dieser Entwicklung ihren Status als Planet beziehungsweise Mond und waren seitdem ebenfalls Zwergplaneten. Im Jahr 2041, als Cloud mit seiner Marsexpedition gestartet war, hatte man diese Vorgänge bereits in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Ob die Astronomie der Erinjij diese umstrittenen Beschlüsse jemals korrigiert hatte, wusste er nicht. Es bedeutete eine gewisse Erleichterung, dass wenigstens die größten Brocken des Kuiper-Gürtels nach wie vor vorhanden waren – allerdings waren sämtliche »Kleinteile«
ebenso unauffindbar wie die Oort'sche Wolke! »Verdammt! Was hat das zu bedeuten? Sesha!« Unwillkürlich entfuhren ihm die Worte laut. Ich habe keine Theorie anzubieten. Na toll!, dachte Cloud. John Cloud visierte mit der Ortung der RUBIKON den plutogroßen Kleinplaneten Sedna an, der rein äußerlich wie ein geschrumpfter Zwilling des Mars wirkte. Hier schien alles in bester Ordnung zu sein. Auch Pluto und Charon waren da, wo sie sein mussten, und umkreisten als Doppel-Zwergplanet auf einer jahrhundertelangen Bahn ihr Zentralgestirn sowie einen gemeinsamen Gravitationsschwerpunkt. Die RUBIKON passierte die Bahnen von Neptun, Uranus und Saturn, kreuzte schließlich die Jupiterbahn – dessen Monde sich gerade auf der entgegengesetzten Seite der Ellipse um ein gravitatorisches Zentrum bewegten, das nichts mehr mit dem einstigen Riesenplaneten gemein hatte – und gelangte ins innere Sonnensystem. Gibt es irgendwelche Anzeichen einer feindlichen Ortung?, fragte Cloud die KI. Negativ, gab Sesha bereitwillig Auskunft. Weder Funksignale noch sonst irgendetwas. Auch keine Peilung durch fremde Ortungssysteme. Und sonstige Lebensspuren?, vergewisserte sich Cloud, der noch immer nicht glauben konnte, es offenbar mit einem toten System zu tun zu haben. Aber alles, was bisher an Daten über die Sensoren an die Schiffs-KI zur Auswertung gegeben worden war, ließ eigentlich nur diesen Schluss zu. Mein Gott, was mag hier nur geschehen sein? Cloud überliefen kalte Schauder. Nach und nach enthüllte sich eine schreckliche, grausame Wahrheit. Das Solare System war ein Ort des Todes und der Zerstörung geworden. Wer auch immer letztlich dafür verantwortlich sein mochte. Die Tatsache an sich schien nach Prüfung vieler Beweise unumstößlich
zu ein.
Schon aus weiter Entfernung war zu sehen, dass sich im inneren Sonnensystem eine gewaltige Änderung vollzogen hatte. Ein gigantischer Schatten hob sich vor der RUBIKON gegen das Sonnenlicht ab. Eigentlich hätte das die Erde sein müssen. Aber die Daten stimmten in keiner Weise überein. Die RUBIKON hatte die Mars-Bahn passiert und war schließlich dorthin gelangt, wo sich eigentlich die Erde hätte befinden müssen – hinter einem Schattenschirm oder klar für jeden ersichtlich. Jedenfalls hätte sie da sein sollen. Was aber nicht der Fall war, ganz und gar nicht! Sie war ebenso verschwunden wie Luna, und stattdessen befand sich auf ihrer Bahn etwas anderes, absolut Groteskes: keine murmelartige, blau leuchtende Kugel mit einem bleichen Trabanten. Nein, an ihrer Stelle umkreiste eine gigantische, atmosphärelose und lebensfeindliche Riesenwelt die Sonne. Ihre Masse betrug ein Vielfaches dessen, was man von der Erde hätte erwarten dürfen. John Cloud zoomte diesen gigantischen Materiebrocken, der überwiegend aus Schwermetallen und Metallverbindungen bestand, näher heran. Die Oberfläche war absolut öde. Gestein, Staub … sonst nichts, außer Narben von heftigen Meteoriteneinschlägen. Wie der einstige Mond sah diese Erde aus – als hätte ihn eine unbekannte Kraft aufgebläht. Und die Erde?, dachte Cloud. Was ist aus der Erde geworden? Er wagte sich nicht einzugestehen, dass es darauf eigentlich nur eine Antwort gab: Sie existierte nicht mehr. Irgendetwas – irgendjemand – hatte sie in den zurückliegenden Jahrzehntausenden zerstört. Und an ihre Stelle diesen Koloss gesetzt? Cloud konnte nur noch den Kopf schütteln. Immer und immer wieder. Die Heimkehr hatte er sich anders vorgestellt. Nicht einmal
unter der Herrschaft der Master hatte er sich beim Anblick des Sonnensystems so verloren gefühlt. Denn ein Zuhause gab es nicht mehr. Seine nächsten Gedanken galten Darnok, der irgendwo auf der RUBIKON seiner Heilung entgegenschlief. Was hast du uns nur angetan? Und vielleicht zum ersten Mal begriff er das Verbrechen des einstigen Freundes in seinem vollen Ausmaß. Mit der Zeit als Waffe hatte Darnok nicht nur das Bild des irdischen Sonnensystems vollkommen umgekrempelt. So oder ähnlich – mancherorts gewiss noch schlimmer – musste es an zahllosen Stellen der Milchstraße aussehen. Auf Kalser etwa, der Heimat der Nargen. Noch immer war Jiim nicht dazu zu bewegen, seinen Freunden zu offenbaren, was die morphogenetische Botschaft ihm an Informationen dazu vermittelt hatte. Im noch immer geschlossenen Sarkophag durchlebte Cloud die schlimmsten Momente seines Lebens. Angesichts dieses steinernen Riesen, der die Erde verdrängt hatte, stiegen Gefühle in ihm auf, die ihn mehr entsetzten als alles, woran er sich erinnern konnte. Bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, dass er einmal so weit kommen könnte, ein lebendes Wesen mit den bloßen Händen zu erwürgen. Ein Ungeheuer, von dem er nun wusste, dass er es nie mehr würde Freund nennen können. Sesha, wandte er sich auf dem Höhepunkt seiner Wut an die KI. Stell sofort alle lebenserhaltenden Maßnahmen an dem Keelon ein, den wir auf Butterfly M2-9 an Bord nahmen! Darnok? Falls Sesha irritiert wirken konnte, dann tat sie es in diesem Augenblick. Erbitte Bestätigung, dass – »Darnok!«, schnappte Cloud mit sich überschlagender Stimme. Er hatte die Fäuste geballt, ohne es zu merken. Seine Sinne waren die des Schiffes. Er hätte den Keelon in seinem Regenerationstank sehen können, wenn er es denn gewollt hätte. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen.
Und es war auch nicht nötig. Sesha war zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Sie führte jeden seiner Befehle aus – auch wenn es mitunter zu Rückfragen kam. Und nun wurde die KI sogar zum Henker. Systeme abgeschaltet, meldete sie. Der genannte Keelon stirbt wie von dir gewünscht, John Cloud. ENDE
Glossar John Cloud
Scobee
Jarvis
Porlac
28 Jahre alt, 1,84m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Der Jay'nac, der schon maßgeblich am erfolgreichen Friedensschluss zwischen seinem Volk und dem Erzfeind, den Satoga, beteiligt war. Aber Porlac ist nicht mehr der Alte – obwohl ihm zweihundert Jahre, wie sie seit der letzten Begegnung mit
ihm vergingen, eigentlich nichts anhaben dürften. Er wirkt stark mitgenommen – und als er seine Geschichte erzählt, wird für jeden Zuhörer klar, warum er sich veränderte. Er musste das schier Unmögliche möglich machen – um sein Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Tormeister Felvert Ein Außerirdischer, dessen Körper sich aus unzähligen Achten zusammenzusetzen scheint. Gehört dem mit den Jay'nac verbündeten Volk der Felorer an. Offenbar sind die Jay'nac nur mithilfe dieser Verbündeten in der Lage, künstliche Wurmlöcher zu erzeugen und als Reisewege über kosmische Entfernungen zu nutzen. Die Felorer sind Meister der Dimensionen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Kargor Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, jedoch aus kristallinen
Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen.
Vorschau Die Welten des Prosper Mérimée von Manfred Weinland Angk I, die Welt, auf der Kargor Scobee und die ehemaligen Bewohner des Erdgettos ausgesetzt hat, ist eine Welt mit vielen Gesichtern – und nur eine von insgesamt sieben, die ihr Zentralgestirn auf der exakt gleichen Bahn umlaufen. Verbunden über ein einzigartiges Verkehrssystem: die Energiestraßen. Es gibt einen Schlüssel, der es erlaubt, all diese Straßen auch als Mensch zu benutzen. Und als er entdeckt wird, stehen die Wege in ein Fabelreich offen. Das ERSTE REICH, so wird immer klarer, wurde von Intelligenzen errichtet, deren Genialität nur noch von ihrer Tragik übertroffen wird. Oder dem Wahnsinn, der hinter Kargors »großem Plan« steht …