Alexander Lohmann
Das Drachenei Version: v1.0
Es war dunkel geworden. Durch die großen Fenster fiel nur wenig...
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Alexander Lohmann
Das Drachenei Version: v1.0
Es war dunkel geworden. Durch die großen Fenster fiel nur wenig Licht in die Halle. So war der schwarz gekleidete Mann neben der Glasvitrine beinahe unsichtbar. Er legte ein Tuch auf die Vitrine und stellte eine Taschenlampe darauf. Durch das Tuch leuchtete die Lampe sanft in den Glaskasten. Ein silbernes Ei lag dort auf einem Kissen aus rotem Samt. Das Ei war so groß wie zwei geballte Fäuste und mit goldenem Rankenwerk verziert, das matt glänzte. Der Mann zog einen Schraubenzieher hervor. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er die vordere Scheibe abhob. Er zögerte kurz. Doch schließlich griff er nach dem Ei und zog es heraus. Einen Moment lang hielt er es abwägend in der Hand. Da ging draußen auf dem Flur das Licht an …
Der maskierte Eindringling stand plötzlich im Lichtkegel, der durch die Tür einfiel. Er blinzelte geblendet, blieb aber ruhig. Er nahm das silberne Ei in die Linke und steckte mit der anderen Hand Tuch und Taschenlampe wieder ein. Kaum war alles verstaut, trat ein älterer Herr mit Halbglatze in den Raum und schaltete das Deckenlicht an. Verwirrt blieb er im Türrahmen stehen und starrte den Maskierten an. »Was wollen Sie hier?«, fragte er halb ärgerlich, halb ängstlich. Der Einbrecher warf dem alten Mann nur einen verächtlichen Blick zu. Er umfasste das Ei mit beiden Händen und drehte daran. Weißes Licht flutete den Raum und löschte die Nacht aus. Und aus dem gleißenden Licht ertönte ein Schrei voller Überraschung, voller Unglauben – und voller Entsetzen …
* »Verdammt noch mal, wer ist denn das?«, rief Kommissar Richardis. »Ich habe doch gesagt, hier soll niemand rum rennen!« Die Frau, die gerade den Ausstellungssaal betreten hatte, blieb stehen. Sie war klein und zierlich. Der bullige Kommissar ragte vor ihr auf wie ein Turm, der jeden Augenblick über ihr zusammenstürzen konnte. Sie strich sich nervös die halblangen, blonden Haare zurück und lächelte unsicher. »Heller«, stellte sie sich vor. »Eva Heller ist mein Name. Ich habe gehört, Sie suchen jemanden, der sich im Museum auskennt.« »Heller?«, knurrte Richardis. »Ich dachte, hier hätte ein ›Herr‹ Professor Heller das Sagen.« »Das ist mein Vater«, erklärte die Frau. »Ich bin Journalistin und arbeite manchmal auch für das Museum. Ich organisiere Ausstellungen und mache Pressearbeit – das ist wichtig für ein
Museum, heutzutage.« Richardis verdrehte die Augen. »Na fabelhaft. Da wollte ich nur mal jemanden fragen, was gestohlen wurde und schon habe ich die Presse am Hals.« Eva Heller blickte den ungehobelten Kommissar fassungslos an. »Warum wenden Sie sich nicht an meinen Vater?« Sie blickte an dem Kommissar vorbei auf die Glasvitrine, in der nur noch ein rotes Samtkissen zurückgeblieben war. »Das Ei war sein Lieblingsstück«, merkte sie an. »Mich wundert, dass er nicht schon hier ist. Hat ihm niemand Bescheid gegeben?« »Ja, das wundert mich auch«, brummte Richardis. »Der Professor ist genauso verschwunden wie sein Schmuckstück da drin.« Er winkte einem jungen Polizisten in Zivil herbei, der mit einer Kladde in der Hand müßig die Arbeit der Spurensicherung beobachtete. »Voss, Sie werden hier nicht fürs Aktenknuddeln bezahlt! Tun Sie mal was Sinnvolles und prüfen Sie mit Frau Heller, ob noch was fehlt.« Der junge Mann trat mit einem entschuldigenden Lächeln heran. »Inspektor Rainer Voss.« Er blickte sich nach dem Kommissar um, aber der war schon weitergegangen. »Sie müssen ihn entschuldigen …« Eva unterbrach ihn. »Er sagte, mein Vater sei verschwunden. Was ist denn hier los?« »Wir erhielten gegen Mitternacht einen Anruf«, erklärte Voss. »Jemand hatte Licht hinter den Fenstern gesehen und vermutete einen Einbrecher. Eine Streife kam vorbei und fand die Hintertür aufgebrochen vor. Im Gebäude befand sich niemand mehr, aber diese Vitrine stand offen. Die Streifenpolizisten haben dann den Tatort gesichert und auf die Kripo aus Münster gewartet … Und dort ist sie.« Er wies auf den missmutigen Kommissar. »Aber mein Vater …«, sagte Eva hilflos. Voss zuckte mit den Schultern. »Wir haben natürlich noch in der
Nacht versucht, den Leiter des Museums zu erreichen. Aber er war nicht zu Hause. Kommissar Richardis vermutet, dass Professor Voss das Ei selbst gestohlen hat – immerhin soll es eine Antiquität von unschätzbarem Wert sein.« »Nein … nein!«, stammelte Eva. »Das würde er niemals tun!« Voss zuckte mit den Schultern. »›Unschätzbar‹ trifft es übrigens recht gut«, wandte sie ein. »Niemand weiß, woher dieses Schmuckstück kommt und wie alt es genau ist. Deshalb ist es als Antiquität beinahe unverkäuflich.« »Das hat den Dieb offenbar nicht gestört«, stellte Voss fest. »Anscheinend hat er nichts anderes gestohlen.« »Es gibt hier kaum etwas, was sich zu Geld machen ließe«, sagte Eva. »Wir sind in erster Linie ein Handwerksmuseum. Das Ei war wenigstens aus Silber und Gold. Aber es war gewiss nicht so wertvoll, dass mein Vater alles andere dafür aufgegeben hätte.« Sie zuckte zusammen. »Aber er war oft noch spätnachts hier. Vielleicht hat er den Einbrecher überrascht und … der hat ihn irgendwo eingesperrt!« »Das ist unwahrscheinlich«, widersprach Voss. »Die Streife hat alle Räume überprüft. Aber wir wollten uns ja ohnehin umsehen. Richardis möchte bestätigt haben, dass außer diesem goldenen Ei nichts fehlt.« »Ein silbernes Ei«, berichtigte ihn Eva, während sie schon aus dem Raum lief. »Kommen Sie.« Hastig suchten sie die Räumlichkeiten ab. Eva hielt nach ihrem Vater Ausschau. Ihr Herz pochte wie wild und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Ihm muss etwas passiert sein, dachte sie. Voss versuchte, sie ein wenig zu beruhigen. In jedem Raum drängte er sie dazu, einen Blick auf die Ausstellungsstücke zu werfen und zu prüfen, ob alles vollständig war.
»Das Gebäude ist nicht sonderlich gut gesichert«, merkte er an. »Gibt es hier keine Alarmanlage? Selbst meine Großmutter könnte reinkommen und alles mitnehmen.« »Dann will ich mal sehen, wie ihre Großmutter diesen Webstuhl aus dem 19. Jahrhundert davonträgt«, erwiderte Eva spitz und wies auf ein klobiges Gerät hinter einer Kordelabsperrung. »Die meisten Gegenstände hier sind für Diebe nicht sonderlich interessant. Es sind hauptsächlich sperrige Werkzeuge und Arbeitsgeräte. Deshalb hat das Museum auch keine Alarmanlage, sondern nur einen Feuermelder.« Sie zeigte auf die Rauchsensoren an der Decke, zuckte zusammen und zog Voss mit sich. »Kommen Sie«, bat sie. »Was ist denn?«, fragte der junge Polizist. Eva eilte die Treppe empor. Unter einer Luke blieb sie stehen. »Es gibt hier auch einen Dachboden. Da hat bestimmt noch keiner nachgeschaut.« Sie nahm eine Stange mit einem Haken von der Wand und entriegelte die Luke an der Decke. Eine Klapptreppe glitt ihnen entgegen. Vorsichtig stiegen sie beide hinauf. Der Dachboden war eine große Halle, die sich über die volle Fläche des Gebäudes erstreckte. Links und rechts fiel die Decke ab und mündete in finsteren Nischen. Durch einige kleine Lukenfenster fiel das Morgenlicht ein. Staub tanzte in der Luft und es roch leicht modrig. Während die Fläche rings um die Luke frei war, standen unter dem niedrigen Teil des Daches sowie an den Stirnseiten zahllose Truhen, Kästen, kleine Schränke und verhüllte Möbel. Voss blickte sich um. »Es sieht nicht so aus, als wäre hier in letzter Zeit jemand gewesen«, stellte er fest.
Eva ging zum anderen Ende des Dachbodens und blickte sich aufmerksam um. Plötzlich entdeckte sie ihren Vater. Er kauerte in einem Winkel zwischen einem unförmigen, mit einem Laken verhüllten Objekt und einem Stapel leerer Bilderrahmen. Auf dem Schoß balancierte er ein silbern glitzerndes Oval. »Er hat tatsächlich das Ei!«, rief Voss aus. Eva trat auf ihren Vater zu. »Papa?« Sie schaute ihn genauer an und zögerte. »Was hast du?« Professor Heller blickte zu seiner Tochter auf. Sein Blick flackerte unruhig. »Bleib weg, Eva!« Sie wollte noch einen Schritt auf ihn zutreten, aber Voss hielt sie zurück. »Er ist verwirrt«, stellte er fest. »Lassen Sie mich das machen.« »Den Teufel werde ich tun!«, brauste sie auf. »Und wenn …« Der Professor lachte leise und irre in sich hinein. Eva verstummte. Die Worte erstarben ihr in der Kehle und sie schaute zu ihrem Vater. »Ja, der Teufel … Der Teufel«, brabbelte der Professor und kicherte wieder. »Mein Gott, Papa«, sagte Eva. »Was …?« Sie verstummte hilflos und ging noch einen Schritt näher. Professor Heller riss das Ei hoch und hielt es wie ein Wurfgeschoss. »Bleib weg, Eva!«, schrie er. »Bleib weg!« Mit einem Mal fing er an zu schluchzen. »Geh einfach …« Er ließ das Ei sinken und hielt es in beiden Händen. Eva hielt Voss zurück, der an ihr vorbei treten wollte. »Ich werde dich nicht hier allein lassen. Du stehst unter Schock. Hast du den Einbrecher gesehen?« Sie streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Doch der alte Mann zuckte zurück und blickte mit
tränenüberströmtem Gesicht zu ihr auf. »Warum gehst du nicht einfach?«, flüsterte er erstickt. Er seufzte. »Es ist sowieso zu spät. Ich kann nur eines tun, damit du meine Warnung glaubst.« Sein Blick wurde glasig. Er bewegte die Hände und plötzlich klappte das silberne Ei einen Spalt auf. Licht quoll aus dem Inneren; ein so strahlendes Licht, wie Eva es noch nie zuvor gesehen hatte! Keine Lampe konnte so hell sein, vor allem keine, die in dem kleinen Ei Platz gefunden hätte – in einem Ei, dass mindestens 200 Jahre alt war! Voss keuchte neben Eva entsetzt auf und wich einen Schritt zurück. Eva folgte ihm unwillkürlich. Professor Heller öffnete das Ei noch ein Stück und das Licht wurde intensiver. Es war kein Lichtkegel, wie er aus einem Spalt fallen sollte. Das Licht wirkte lebendig. Es schien sich zu vervielfachen und auszubreiten und strahlte bald den ganzen Dachboden aus. Und doch hatte es ein gleißendes und immer heller werdendes Zentrum – das Ei! Immer weiter klappte der Professor die beiden Hälften auseinander und verschwand hinter dem grellen, runden Lichtfleck. Eva und Voss schützten die tränenden Augen mit den Armen. Blinzelnd versuchten sie, den Professor auszumachen. Aber das Licht war so hell wie die Sonne und überstrahlte alles. »Mein Gott! Was ist das?«, keuchte Voss. Eva glaubte, dass er das Licht meinte. Es war so, als hielte Professor Heller eine Öffnung in den Händen – eine Öffnung nach irgendwo. Dieses Loch wirkte größer als beide Hälften des Eis zusammen und hinter der Öffnung brannte das Licht so hell, dass man nicht hindurch sehen konnte. Doch Voss hatte noch mehr bemerkt.
Ein Schatten formte sich und nahm rasch die Gestalt zweier großer Klauen an. Die schwarzen Hände schienen im weißen Schein zu schweben. Sie wuchsen an und bewegten sich. Von einem Augenblick auf den anderen waren sie nicht mehr im Licht, sondern in der Wirklichkeit – und packten den Professor am Kopf. Eva und Voss sahen wie erstarrt zu, wie die schattenhaften Klauen den alten Mann mit sich zerrten. Die Umrisse des Professors zeichneten sich noch kurz als Silhouette vor dem Strahlen ab, dann wurde er auf den Ursprung des Lichts zugezogen, wurde kleiner und verschwand. Die Öffnung in der Luft schien gerade groß genug zu sein. Da kehrten die Klauenhände zurück und packten Eva am Fuß. Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und kippte um. Voss riss sich aus der Erstarrung. Er glaubte einfach nicht, was hier geschah. Aber er handelte trotzdem, packte Evas Hände und hielt sie fest. Wer hält jetzt eigentlich das Ei?, fragte er sich. Das Licht hatte in dem kleinen Schmuckstück seinen Anfang genommen und doch war Professor Heller darin verschwunden. Das scheinbare Loch aus Licht musste viel größer sein als beide Hälften des Eis zusammen. War es überhaupt noch mit dem Ei verbunden? Mit einem heftigen Ruck wurde Eva seinem Griff entwunden. Voss fasste hektisch nach, aber seine Begleiterin war schon ein gutes Stück weit entfernt und wurde weiter auf das Licht zugezogen. Sie kreischte in Panik und krallte die Fingernägel in das Parkett, ohne Halt zu finden. Voss sprang vor. Er packte jedoch nicht wieder Eva, sondern tastete nach dem Ursprung des Lichtes – allerdings nicht von vorne, wo die schattenhaften Klauen herauskamen, sondern von der Seite.
Tatsächlich ertastete er dort noch die runden Formen des silbernen Eis. Es war beruhigend kühl und fühlte sich so wirklich an. Es wollte gar nicht zu dem Schrecken passen, den es freigesetzt hatte. Voss umklammerte beide Hälften des Eis und drückte sie zusammen. Das Licht erlosch. Die Schattenhände waren fort. Eva lag auf dem Boden und schluchzte. Voss ließ das Ei fallen und krümmte sich zusammen. Er wollte schreien. Am liebsten wollte er sich zusammenrollen und alles vergessen angesichts dessen, was er gerade erlebt hatte. Verrückt! Er hatte es gesehen und Eva hatte es auch gesehen und doch konnte es nicht sein. Was sie hier erlebt hatten, durfte nicht geschehen sein! Voss bückte sich neben seine Begleiterin, nahm sie in den Arm und tröstete sie. Er schaute zu der Luke, aber niemand kam herauf. Das Gebäude war groß, massiv und leer und die Kollegen hielten sich zwei Etagen tiefer auf. Niemand hatte sie gehört. Gut, dachte Voss. Das verschaffte ihnen ein wenig Zeit, sich wieder zu beruhigen. »Frau Heller … Eva«, sprach er eindringlich auf sie ein. »Wir dürfen nichts davon erzählen!« Sie starrte ihn nur leer und verständnislos an …
* »Wo haben Sie das Ei gefunden?«, fragte Richardis. »Auf dem Dachboden«, erklärte Voss. Eva Heller wollte etwas anmerken, aber er fügte hastig hinzu: »Es lag dort einfach herum. Sonst war niemand zu sehen.«
Der Kommissar blickte Eva an. »Sie sehen bleich aus, Frau Heller. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Wieder antwortete Voss. »Sie macht sich große Sorgen um ihren Vater. Er ist immer noch nicht wieder aufgetaucht.« »Mein Vater ist …«, setzte Eva an und ihre Stimme schwankte am Rande der Hysterie. Aber Voss fasste sie am Arm und fuhr ihr, an Richardis gewandt, schnell ins Wort. »Ich bringe sie besser nach Hause. Vielleicht sollte sie zu einem Arzt – ich fürchte, sie steht unter Schock!« Eva verstummte und schnappte nach Luft. Sie sah Voss aus großen Augen an. Der Kommissar nickte. »Sie sieht wirklich nicht gut aus.« »Ja«, sagte Voss. »Sie war eben schon ganz durcheinander.« Er schob sie auf die Tür zu. »Sie hätten das Ei nicht anfassen sollen«, warf Richardis ihm vor. Voss wandte sich wieder seinem Vorgesetzten zu. Er stand wie zufällig zwischen Eva und dem Kommissar. »Ich sah nur etwas funkeln«, erklärte er. »Das Ei lag halb unter einem Laken. Als ich es erkannte, war es schon zu spät.« Der Kommissar wog das silberne Ei in der Hand. Es lag jetzt in einem Kunststoffbeutel, aber inzwischen war es wohl zu spät. Voss’ Fingerabdrücke mussten überall sein. Der Kommissar seufzte. »Nun, Sie kümmern sich am besten um Frau Heller. Wir sehen uns auf der Wache.« »Aber das Ei hat meinen Vater …«, brachte Eva endlich hervor. »Das ist nicht bewiesen«, sagte Voss rasch. Eva war so verwirrt, dass sie erst mal nicht weiter sprach – genau wie Voss beabsichtigt hatte. »Was?« »Es ist nicht bewiesen, dass Ihr Vater etwas damit zu tun hat«, sagte er beschwichtigend.
Vertraulich legte er einen Arm um Eva und bugsierte sie zur Tür. Die junge Frau besaß einfach nicht mehr die Kraft, sich zu widersetzen …
* Doch auf dem Weg zum Ausgang erholte Eva sich ein wenig. Sie konnte wieder reden. Ihre Stimme war gepresst, nicht mehr vor Entsetzen, sondern vor Ärger. Voss entschied, dass das ein Fortschritt war. »Was haben Sie denn eben für eine Geschichte erzählt?«, fragte Eva misstrauisch. »Hören Sie«, erklärte Voss. »Ich habe doch schon versucht, es Ihnen auf dem Dachboden begreiflich zu machen: Wir dürfen nicht über das reden, was da vorgefallen ist.« »Nicht reden?«, entgegnete sie. »Aber wir können doch nicht einfach so weiterleben und tun, als wäre nichts passiert. Mein Vater war da und dann …« Sie verstummte. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen und die Erinnerungen kehrten zurück. Ein eisiges Gefühl zog durch ihren Körper und die Stelle an ihrem Fußgelenk, wo die Schattenhände sie gepackt hatten, prickelte. Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Voss bemerkte es. Er blieb stehen, fasste Eva an den Schultern und stellte sich unmittelbar vor sie. »Hören Sie mir zu!« Er blickte Eva in die Augen. Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie klammerte sich an Voss fest. »Ich habe auch keine Ahnung, was da passiert ist«, sprach Voss leise und eindringlich weiter. »Und ich weiß auch nicht, ob ich
jemals wieder ruhig schlafen kann, oder ob ich mich in Zukunft auch nur alleine aufs Klo traue.« Er versuchte ein Lächeln, scheiterte aber. Es war kein Scherz. Er wusste es wirklich nicht. »Aber eines weiß ich: Der Kommissar kann uns nicht helfen. Niemand von meinem Kollegen kann das. Wenn wir erzählen, was passiert ist, wird uns niemand glauben.« »Aber wir müssen es zumindest versuchen!«, erwiderte Eva. »Was, wenn wieder jemand versucht, das Ei zu öffnen?« Voss zuckte die Achseln. »Wenn wir erzählen, was da oben passiert ist, wird erst Recht jemand das Ei öffnen. Außerdem glaube ich nicht, dass es noch mal geschieht. Würden jedes Mal irgendwelche Ungeheuer auftauchen, sobald sich jemand an dem Ei zu schaffen macht, hätte man schon davon hören müssen.« »Vielleicht wurden bisher alle Zeugen von dem Ei verschlungen«, wandte Eva ein. »Und seit das Ei im Museum ist, wurde es mit wissenschaftlicher Sorgfalt behandelt: Man sieht ihm nicht an, dass es sich öffnen lässt und so hat auch niemand riskiert, es bei einem Öffnungsversuch zu beschädigen.« »Wenn wir jetzt leichtfertig davon berichten, landen wir höchstens in der geschlossenen Anstalt«, sagte Voss. »Niemand braucht einen Polizisten, der Gespenster sieht.« Eva Heller stieß ihn von sich. »Ach, so ist das!«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie machen sich Sorgen um Ihre Karriere!« »Ich habe Ihnen doch gerade erklärt …«, setzte er an, aber sie ließ ihn nicht zu Ende reden. »Es war mein Vater, der in dem Licht verschwunden ist!«, stieß sie wütend hervor. »Ich werde das nicht vergessen. Auch wenn Sie das gerne hätten.« Sie drehte sich brüsk um und ging davon. »Warten Sie!«, rief Voss und lief ihr hinterher. »Ich bringe Sie noch nach Hause. Ich verstehe ja, was Sie empfinden. Aber Sie sollten jetzt nicht alleine sein. In Ihrem Zustand …«
Sie blieb abrupt stehen und stieß ihm den Finger vor die Brust. »Mein Zustand? Sie sollten sich lieber mal Gedanken um Ihren eigenen Zustand machen. Ich finde Sie hochgradig un‐nor‐mal! Und wenn Sie mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben wollen, dass lassen Sie am besten zuallererst mich in Ruhe!« Sie rauschte davon. Voss blieb allein zurück. Er fühlte sich hin und her gerissen, aber vor allem hilflos. Er konnte das, was geschehen war, nicht ändern. Und er konnte auch niemandem davon erzählen. Er konnte einfach nichts tun …
* Als Eva zu Hause ankam, war sie zu Tode erschöpft. Im Treppenhaus, vor ihrer Wohnungstür, befiel sie ein heftiges Zittern. Es gelang ihr kaum, den Schlüssel aus der Handtasche ziehen. Der Flur war schattig und durch die trüben Glasbausteine im Treppenhaus fiel Sonnenlicht ein. Es erinnerte sie an den staubigen, düsteren Dachboden und das sonnengleiche Strahlen aus dem Schmuck‐Ei. Sie wäre am liebsten geflohen – aber wohin? Eva atmete tief durch. Ganz ruhig, dachte sie, während sie mit unsicheren Fingern den Schlüssel ins Schloss steckte. In deiner Wohnung bist du in Sicherheit. Da kannst du nachdenken. Drinnen warf sie ihre Sachen auf die Flurkommode und stürzte ins Badezimmer. Sie ließ sich kaltes Wasser ins Gesicht laufen, als könne das die Albträume wegwaschen. Aber es waren keine Albträume gewesen. Es war wirklich geschehen! Minuten später ging sie ins Wohnzimmer. Vielleicht hätte ich
wirklich zu einem Arzt gehen sollen. Plötzlich spürte sie eine Bewegung hinter sich. Sie fuhr herum und entdeckte einen Mann, der gerade die Wohnzimmertür hinter sich zudrückte. Er war hoch gewachsen, hatte schmutzigblondes, spärliches Haar und trug einen schwarzen Filzmantel und dünne Handschuhe. Eva wich zurück und wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Der Mann legte einen Finger an die Lippen und zeigte ein dünnes Lächeln. »Bitte, erschrecken Sie nicht. Mein Name ist Bernd Kling. Ich bin wegen Ihres Vaters hier.« Eva fand ihre Stimme wieder. »Aber mein Vater ist …« Sie konnte die Worte nicht aussprechen, aber der Fremde tat es für sie: »Tot? Nicht unbedingt.« Er wies auf die Couch. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Eva schüttelte den Kopf. Sie schaute sich immer noch panisch um, blickte vom schwarz gekleideten Fremden zur Tür hinter ihm und dann zum Fenster. »Sie sehen erschöpft aus«, sagte der Mann, »Ich werde Ihnen alles erklären, aber es hilft niemandem, wenn sie zwischendurch umkippen.« »Ich stehe lieber«, entgegnete Eva. Sie war erschrocken, wie dünn ihre Stimme klang. »Wie Sie wünschen«, sagte Kling. »Ich fasse mich kurz. Sie wissen von dem Ei …« »Das Schmuckstück!«, rief Eva aus. »Was wissen Sie darüber?« »Ich weiß eine Menge darüber«, erklärte Kling. »Mehr als Sie und mehr als Ihr Vater.« Er seufzte. »Wissen Sie, ich gehöre einer speziellen Gruppe an. Wir arbeiten für … die Kirche. Wir kümmern uns … um gewisse Dinge.« Eva lachte trocken. »Im Auftrag des Vatikan. Wollen Sie mir
wirklich mit diesem Verschwörungs‐Thriller‐Quatsch kommen? Wenn Sie nichts anderes zu erzählen haben, verschwinden Sie lieber.« Ihr Herz pochte heftig. Aber sie wollte ihrer Angst nicht nachgeben. »Glauben Sie, was Sie wollen«, erwiderte Kling. »Aber wenn Sie Ihren Vater retten wollen, sollten Sie tun, was ich sage.« Eva stockte der Atem. »Meinen Vater retten?«, entfuhr es ihr. Kling lächelte wieder. Seine grünen Augen funkelten kalt. »Wir haben von dem Ei erfahren – dem Drachenei! Es öffnet ein Tor zur Hölle. Wir haben jemanden geschickt, um es aus dem Museum zu holen und in Sicherheit zu bringen.« »In die Gewölbe des Vatikans«, unterbrach Eva ihn höhnisch. Sie konnte nicht anders. Der Mann gefiel ihr nicht und sie traute weder ihm noch seiner Geschichte. Und wenn er von dem Ei gewusst hatte – umso schlimmer! In dem Fall trug er die Schuld für das, was mit ihrem Vater geschehen war. »Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen«, sagte Kling. »Das muss Ihnen nicht gefallen, aber wenn Sie mich daran hindern, dann tragen Sie die Verantwortung für das, was weiterhin geschieht. Wie Ihr Vater. Er hat unseren Mann im Museum überrascht und konnte ihm das Ei wegnehmen.« »Einfach so?«, fragte Eva. »Nicht einfach so«, sagte Kling. »Vermutlich hat Ihr Vater versucht, das Ei festzuhalten. Und dabei hat es sich geöffnet.« Er musterte Eva eindringlich. »Inzwischen wissen Sie ja, was das bedeutet. Das Tor zur Hölle öffnet sich. Unseren Mann hat es erwischt und Ihr Vater hat sich wohl in Panik versteckt. Er stand mit Sicherheit unter Schock. Wir konnten nicht zu ihm, um ihm zu helfen. Die Polizei war da, bevor wir davon erfahren haben.« »Mein Vater war auf dem Dachboden«, warf Eva ein. Kling nickte. »Das haben wir uns gedacht. Und als ich Sie gesehen
habe, wusste ich, dass wir nicht mehr nach Ihrem Vater suchen müssen. Ihr Gesichtsausdruck hat es verraten. Es hat ihn erwischt und Sie waren Zeugin.« Eva nickte benommen. »Aber es ist noch nicht zu spät«, erklärte Kling. »Wir müssen das Ei in Sicherheit bringen, damit kein weiterer Mensch zu Schaden kommt. Doch wenn wir das Ei haben – und zwar schnell! – können wir auch noch Ihren Vater zurückholen …«
* Eva stand wieder vor dem Museum. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so schnell zu diesem Ort zurückkehren würde. Egal wie es ausgeht, überlegte sie, ich werde hier nicht mehr arbeiten. Niemals mehr würde sie sich unbefangen unter diesem Dachboden aufhalten können, auch wenn das Ei gar nicht mehr dort war. Sie schüttelte den Kopf. Es war zu früh für solche Gedanken. Erst musste sie das Ei beschaffen und ihren Vater retten. Das würde schwierig genug sein. Vielleicht würde Voss ihr helfen. Voss musste ihr helfen. Er war der Einzige, der Bescheid wusste. Auch wenn er ein Feigling war, er konnte ihre Bitte nicht ablehnen – er durfte es einfach nicht! Am Eingang stand ein Polizist und davor einige Schaulustige. »Tut mir Leid«, erklärte der Beamte. »Wir können im Augenblick niemanden reinlassen. Der Kommissar hat die Untersuchung auf die übrigen Räume ausgeweitet.« »Dann geben Sie bitte Inspektor Voss Bescheid«, sagte Eva. »Ich … muss ihm etwas sagen. Mir ist noch etwas eingefallen.« »Natürlich, Frau Heller.« Der Polizist zückte sein Sprechgerät.
Eva stand vor dem Eingang und bewegte unruhig die Füße. Im Auftrag des Vatikans! Sie lachte bitter in sich hinein. Was sollte sie Voss von diesem Schauermärchen erzählen? Wie wahrscheinlich war es, dass sie das Ei – ein wichtiges Beweisstück – in die Hand bekam?
* »Nein!«, sagte Voss entschieden. Sie standen in einem kleinen Zimmer, das an die Eingangshalle grenzte. Es war die Hausmeisterloge – dicht am Eingang, aber weit genug von dem Polizisten und den Schaulustigen entfernt; und weit genug von den anderen Beamten, die sich noch im Museum umsahen. Hier waren sie ungestört. »Wollen Sie du meinen Vater sterben lassen? Oder … Schlimmeres?« »Wie stellen Sie sich das vor?«, wandte Voss ein. »Der Kommissar hat das Ei in Verwahrung genommen. Bei nächster Gelegenheit kommt es zur Untersuchung nach Münster. Wie soll ich da rankommen?« »Zur Untersuchung!«, rief Eva. »Die werden es öffnen. Das dürfen Sie nicht zulassen!« »Ich kann es mir nicht einfach nehmen«, beharrte Voss. »Und wenn ich das Ei doch irgendwie rausschmuggele, bin ich wegen Raub und Unterschlagung dran. Herrgott, es ist eine Antiquität aus Gold und Silber – was werden die Leute denken, wenn ich es mitnehme?« »Es ist ein Tor zur Hölle«, widersprach Eva. »Es muss in Sicherheit gebracht werden. Wenn wir den Kommissar ins Vertrauen ziehen …« »Der wird uns jetzt so wenig glauben wie vorher«, fuhr ihr Voss
ins Wort. »Wie denn auch? Ich glaube es ja selbst kaum. Glauben Sie etwa alles, was dieser Kerl erzählt? Dass er ein Ritter der Inquisition ist oder so was? Er ist einfach nur irgendein Fremder, der Ihnen eine Geschichte erzählt hat.« »Wir haben gesehen, was auf dem Dachboden passiert ist!«, gab Eva zu bedenken. »Wir haben ein strahlendes Licht gesehen. Sah das aus wie das Tor zur Hölle? Da stelle ich es mir eher dunkel vor, oder voll mit roten Flammen.« »Ist es nicht egal, wie es aussieht? Aber Kling hat mir das auch erklärt. Den Teufel nennt man doch auch Luzifer – der Lichtbringer. Sein Strahlen konkurriert mit dem Licht Gottes, doch im Kern sitzt die Finsternis. Die Beschreibung passt doch.« »Dieser Kling biegt sich alles so zurecht, wie es ihm passt«, knurrte Voss. »Aber ich traue ihm nicht. Wenn dieses Ei tatsächlich das Tor zur Hölle ist, wäre der Kerl sogar der Letzte, dem ich es anvertrauen würde. Die Kirche will sich darum kümmern? Dann soll sie doch einen Bischof schicken und die nötigen Formulare ausfüllen!« Eva wurde lauter und gab alle Höflichkeit auf. »Du biegst dir die Sache zurecht und suchst Ausreden. In Wirklichkeit traust du dich einfach nicht. Du denkst nur an deine Karriere und daran, was der Kommissar von dir halten könnte. Mein Vater und … die anderen, die das Ei vielleicht irgendwann einmal öffnen, sind dir völlig egal!« Voss blickte an ihr vorbei ins Leere. »Irgendwann lernt man eben, dass man nicht alle Probleme der Welt lösen kann. Wenn ich eine Möglichkeit sehen würde, mit anderen darüber zu sprechen und Hilfe hinzuzuziehen, dann würde ich es tun. Aber glaubst du wirklich, der Kommissar hätte ein offenes Ohr für mich?« Er bemerkte gar nicht, dass auch er sein Gegenüber jetzt duzte. Eva wollte wieder aufbrausen, aber Voss berührte sie am Oberarm und blickte sie eindringlich an. »Ich will niemanden im Stich
lassen«, sagte er. »Sobald ich hier weg kann, komme ich bei dir vorbei und wir suchen gemeinsam einen Ausweg. Meinetwegen können wir zur Kirche gehen und nachfragen, ob sich dort jemand mit so was auskennt. Ich bin zu allem bereit, was sinnvoll ist. Aber ich bin nicht bereit, blind umherzutapern und mich von irgendeinem geheimnisvollen Herrn Kling zum Werkzeug machen zu lassen.« Eva wollte widersprechen, aber sie spürte seinen entschlossenen Griff und wusste, dass das sein letztes Wort war. Sie ließ sich zur Tür bringen und ging hinaus – still, aber in ihrem Inneren brodelte es. Vielleicht hatte Voss Recht, aber das machte es nur noch schlimmer. Er war trotzdem ein zynisches Arschloch! Er ließ sie allein im Regen stehen und die Zeit für ihren Vater lief ab. Man kann eben nicht immer auf Nummer sicher gehen, dachte sie. Manchmal muss man ein Risiko eingehen und einfach handeln, um einen geliebten Menschen zu retten …
* Nachdem Voss Eva hinausbegleitet hatte, lief er noch eine Weile ziellos durch das Museum. Er mied die Räume, in denen seine Kollegen arbeiteten. Ich suche nach Spuren, rechtfertigte er sich in Gedanken. Aber in Wirklichkeit brauchte er einfach nur Ruhe zum Nachdenken. Er fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits war er immer noch aufgewühlt von den Ereignissen auf dem Dachboden. Er spürte den unbändigen Drang, etwas zu tun, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – und damit auch sein Leben wieder zu ordnen, das durch das unglaubliche Geschehen aus den Fugen geraten war. Andererseits sträubte sich alles in ihm, sich noch weiter auf diese
unwirklichen Vorfälle einzulassen. Das war nicht seine Welt und er tat besser daran, möglichst viel Abstand davon zu gewinnen. Und wie dachte sich Eva Heller das? Sollte er einfach so Beweismittel stehlen? Der Kommissar würde sie ihm gewiss nicht freiwillig aushändigen … »Inspektor Voss?« Erschrocken fuhr der Angesprochene herum. Er wurde sich bewusst, dass er stehen geblieben war und schon seit Minuten aus dem Fenster starrte, ohne etwas wahrzunehmen. Ein Polizist war in den Raum getreten. »Was ist?«, fragte Voss. »Richardis sucht nach Ihnen«, berichtete der Polizist. »Er wirkt … gereizt. Sie waren nicht zu erreichen.« »Oh«, erwiderte Voss nur und blickte auf sein Funkgerät. Er hatte es während der Unterhaltung mit Eva ausgeschaltet und anschließend vergessen. »Er hätte es ja per Handy versuchen können.« Der Polizist grinste. »Das sagen Sie ihm besser selbst.« Voss folgte dem Kollegen nach unten in die Halle. Kommissar Richardis blickte demonstrativ auf die Uhr. »Wo haben Sie denn gesteckt?« »Ich habe mich noch …«, setzte Voss an, aber Richardis ließ ihn nicht aussprechen. »Schreiben Sie es in Ihren Bericht, wenn Sie einen Mitteilungsdrang verspüren«, knurrte er. »Die Spurensicherung ist hier fertig. Ich möchte noch ein paar Erkundigungen einziehen. Hier sind Beweismittel, die wir möglicherweise noch mal genauer in Augenschein nehmen sollten.« Richardis drückte Voss einen kleinen Metallkoffer in die Hand. »Bringen Sie den erst mal in die hiesige Asservatenkammer. Ich melde mich bei Ihnen auf der Dienststelle, bevor ich nach Münster zurückfahre.« Er ließ den Inspektor mitsamt
dem Köfferchen stehen und schritt nach draußen. Voss verharrte einen Moment lang wie erstarrt, bevor sein Blick hinunter auf das wanderte, was er in der Hand hielt. War dort auch das Drachenei drin? Vermutlich. Handelte es sich um einen Wink des Schicksals? Eine Aufforderung, Evas Wünschen nachzukommen? Wohl kaum. Er konnte schlecht mit einem Koffer durchbrennen, den Richardis ihm vor aller Augen übergeben hatte. Steif ging Voss zu seinem Auto. Er war sich des Gewichts an seinem Arm nur allzu bewusst. Er glaubte fast, die Ausstrahlung des rätselhaften Schmuckstückes zu spüren. In dem Koffer befand sich etwas, was ihn beunruhigte. Was ihn erschütterte. Es war wie ein Pulsieren, das seinen Arm vibrieren ließ, hinauf wanderte und in seinem Kopf weiterpochte. Als er das Auto erreicht hatte, spürte er, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Er hätte beinahe hysterisch gekichert, obwohl ihm nicht zum Lachen zu Mute war. Aber die Anspannung wollte aus ihm heraus. Voss hatte das Gefühl, dass er jeden Augenblick durchdrehen konnte. Außerdem ging ihm immerzu durch den Kopf, dass er nun wie zuletzt der Professor das Drachenei hütete. Möglicherweise konnte es auch von selbst aufgehen! Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Voss hatte stets gedacht, das Unheimliche, ein Schrecken wie aus einem Horrorfilm, könnte im Tageslicht nicht bestehen. Und doch brachte die Sonne ihm erstaunlich wenig Trost. Die finstere Ausstrahlung, die er aus dem Koffer zu spüren glaubte, war stärker. Er griff nach dem Zündschlüssel, da ließ ihn ein schriller laut zusammenfahren. Unwillkürlich zuckte sein Blick zu dem Koffer.
Im nächsten Moment erkannte er, dass lediglich sein Handy klingelte. Mit zitternden Fingern zog er das Mobiltelefon aus der Innentasche. »Inspektor Voss?«, meldete sich sofort eine fremde Stimme. »Hier ist Kling. Wir müssen uns unterhalten.« »Woher haben Sie meine Nummer?«, entfuhr es Voss, während er den Namen noch einordnete. Das war Evas verrückter Vatikan‐ Krieger! »Das tut nichts zur Sache«, erwiderte Kling ruhig, beinahe sanft. »Viel wichtiger ist, dass ich nicht nur Ihre Nummer habe, sondern auch Frau Heller in meiner Gewalt. Ich habe gehört, sie waren unkooperativ. Im Interesse von Frau Heller hoffe ich sehr, dass sich das noch ändert.« »Hören Sie mal! Ich bin Polizist. Was glauben Sie wohl, was ich tun werde?« »Ich hoffe, Sie tun das Richtige.« Klings Stimme klang belustigt. »Sie wissen nichts über mich. Wenn Sie allerdings glauben, dass Ihre Dienstmarke Sie vor den Widrigkeiten des Schicksals behütet, dann können Sie die Sache gerne auf Ihre Weise angehen.« »Sie wollen also das Drachenei«, versuchte Voss seine Gedanken zu ordnen. Er überlegte fieberhaft, was für Möglichkeiten er hatte. »Und sie haben Eva Heller. Ich habe diese Frau heute zum ersten Mal in meinem Leben gesehen. Wie kommen Sie zu der Annahme, dass ich für eine Fremde ein Verbrechen begehen würde?« »Nun, es ist ein Versuch. Wenn wir Frau Heller töten müssen und nichts damit gewinnen, überlegen wir uns halt etwas anderes. Auf die eine oder andere Weise werden wir das Drachenei schon kriegen.« »Was sagt denn die Kirche zu dieser Einstellung?«, erwiderte Voss spöttisch und bitter.
»Ich bin tatsächlich Abgesandter einer Kirche«, sagte Kling. »Aber Frau Heller hatte mich nicht gefragt, welcher Kirche ich diene. Meine Kirche weiß meine Einstellung zu schätzen. Es ist die Kirche der großen Schlange, des Drachen – die Kirche Satans! Seit über zweihundert Jahren sucht unsere Gemeinschaft nach dem Unterpfand unseres Herrn. Jetzt, wo wir es gefunden haben, werden Sie uns nicht mehr aufhalten. Ich melde mich heute Abend wieder. Besorgen Sie das Ei und erwarten Sie meinen Anruf allein in Ihrer Wohnung.« Die Verbindung brach ab. Voss ließ die Hand sinken und starrte auf sein Telefon. Dieser Kling wusste anscheinend nicht, dass er das Ei bereits hatte. Das war ein gutes Zeichen. So allmächtig er sich auch gab, er war nicht allwissend. Dafür aber kannte er Voss’ Handynummer und offenbar auch seine Privatadresse. Kling war also nicht einfach ein Stümper und ein Irrer, sondern auf seine Weise ein Profi, der sein Handwerk verstand. Voss musste die Drohungen ernst nehmen. Und was bedeutete das? Gewiss nicht, dass man diesem Mann das Drachenei leichtfertig übergeben sollte. Der Inspektor fühlte sich plötzlich einsam. Er konnte zu seinen Kollegen gehen. Eigentlich war er sogar dazu verpflichtet, Kommissar Richardis von dem Gespräch zu berichten. Wenn er nur erzählte, dass irgendein Verrückter Eva Heller entführt hatte und das silberne Ei haben wollte, wäre das eine durchaus glaubwürdige Geschichte. Sie hatte nur einen Haken. Er, Voss, war selbst auf diesem Dachboden gewesen. Er hatte gesehen, wie sich das Tor zur Hölle auftat und die Klauen Satans den Professor mit sich rissen. Er wusste, dass mehr hinter der Sache steckte, als irgendein vernünftiger Mensch ihm glauben würde. Wenn er also seine Kollegen zur Hilfe holte, blieben ihm nur zwei
Möglichkeiten. Er konnte ihnen die Wahrheit erzählen – in dem Fall würde man ihn für verrückt halten. Oder er konnte die Hintergründe verschweigen – und irgendwann im Verlauf des Falles würden sie zu Tage treten und vielleicht noch weitere Polizisten in Gefahr bringen. Er hatte nicht die geringste Lust, Kling das Drachenei zu überlassen. Aber er konnte weder dessen Drohungen ignorieren, noch konnte er Hilfe hinzuziehen. Aber er konnte das Drachenei aus dem Koffer nehmen und einstecken. Das würde man erst bemerken, wenn Kommissar Richardis oder irgendjemand anders nach dem Gegenstand fragte. Vielleicht fand er in der Zwischenzeit einen Weg, wie er Kling überlisten, Eva befreien und das Ei zurückbringen konnte. Später blieb immer noch das Problem, wie er das Schmuckstück nachträglich den Beweismitteln wieder zufügen konnte, ohne dass jemand ihn zur Rede stellte. Alles der Reihe nach, beschloss Voss. Zunächst einmal brauchte er etwas Zeit. Zeit, um nachzudenken. Zeit, um die Probleme selbst zu regeln. Zeit, um sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Wenn das überhaupt noch möglich war …
* Voss wartete in seiner Wohnung. Es war bereits Abend und ihm war immer noch nichts eingefallen. Das silberne Drachenei lag auf den kleinen Beistelltisch im Wohnzimmer, die Dienstwaffe daneben. Der Inspektor lief unruhig umher, grübelte und wartete im Grunde doch nur auf den nächsten Anruf. Er befand sich in der Defensive und er wusste, dass das nicht gut war. Wenn er gegen
Kling bestehen wollte, durfte er diesem nicht erlauben, den weiteren Ablauf der Ereignisse zu bestimmen. Aber ihm fiel einfach nichts ein. Obwohl er den ganzen Nachmittag Ermittlungen angestellt hatte, wusste er nichts über die Hintergründe. Er hatte nichts über das Ei herausgefunden und nichts über Kling. Doch vermutlich war das auch nicht der richtige Name des Mannes. Er hatte versucht, der seltsamen ›Kirche‹ auf die Spur zu kommen. Über Satanisten gab es genug Material. Um genau zu sein: Es war viel zu viel, um es alleine in der kurzen Zeit zu überprüfen. Mehr als einmal verspürte Voss den Drang, seine Kollegen hinzuzuziehen. Was wäre es für eine Erleichterung gewesen, die ganze Sache einfach Kommissar Richardis und dessen Stab überlassen zu können. Voss hatte sich den weiteren Ablauf ausgemalt. Großeinsätze und Rasterfahndung, ein ganzer Apparat, der diese Verschwörung aufrollen würde. Aber immer, wenn er mit einem anderen darüber reden wollte, war seine Kehle wie zugeschnürt. Er konnte es einfach nicht. Immer wenn sich Voss die Worte zurechtlegte, klangen sie wie aus einem Horrorfilm und nicht wie eine Meldung, die man an Vorgesetzte und Kollegen weiterleitete. Und er sah vor seinem inneren Auge das Loch aus Licht und die schwarzen Klauen, die alles verschlangen – Richardis und sein Team und alle Experten. Es klingelte. Voss sprang zum Telefon. Erst als er den Hörer schon in der Hand hatte, erkannte er, dass es die Türklingel gewesen war. Er nahm die Pistole, trat vorsichtig zur Wohnungstür und blickte durch den Türspion. Er erkannte das Gesicht von Eva Heller. Gerade klingelte sie ein zweites Mal. Die Journalistin wirkte abgehetzt und ungeduldig. Sie blickte sich misstrauisch um, allerdings auf eine Weise, die nahe
legte, dass sie – noch! – allein im Treppenhaus war. Voss riss die Tür auf, fasste sie am Arm und blickte an ihr vorbei. Es war niemand bei ihr. »Ich konnte entkommen«, sagte sie. Voss zog sie in die Wohnung, schloss die Tür und legte die Kette vor. Anschließend stand er schwer atmend da und fühlte sich, als hätte er gerade einen anstrengenden Sprint hinter sich gebracht. »Was sind das für Leute?«, fragte er schließlich und führte Eva ins Wohnzimmer, wo er die Pistole zurück auf das Tischchen legte. »Sie wollen dieses Ei. Und ich glaube nicht, dass sie wirklich für die Kirche arbeiten.« »So viel habe ich auch schon herausgefunden«, erwiderte Voss trocken. Plötzlich fragte er sich, ob er nicht zu grob war. Wer wusste schon, was Eva Heller durchgemacht hatte – zusätzlich zu dem, was er selbst miterlebt hatte. Aber er war selbst erschüttert und fühlte sich nicht in der Lage, jemanden zu trösten oder Sicherheit zu vermitteln. »Wie bist du diesem Kling entkommen?« »Er war zuerst in meiner Wohnung und hat mich mit einer Waffe bedroht. Von dort aus hat er dich auch angerufen.« »Ich weiß«, warf Voss ein. »Das habe ich bereits herausgefunden. Ich bin gleich zu dir gefahren, aber es war niemand mehr da.« »Er hat mich zum alten Theater gebracht«, berichtete Eva. Sie zuckte mit den Schultern. »Die Toiletten dort haben große Fenster … Aber darum geht es gar nicht! Ich habe etwas Wichtiges herausgefunden. Hast du das Ei?« Voss blickte sie misstrauisch an. »Warum ist das noch wichtig? Du bist frei. Kling kann jetzt selbst sehen, wie er an das Ding kommt.« »Der ist mir egal«, sagte Eva. »Es geht um meinen Vater!«
Voss sah zu dem kleinen Tisch neben der Couch, wo er die Pistole wieder abgelegt hatte. Das Ei lag direkt daneben. Eva folgte dem Blick und sah es auch. »Hör zu!«, sagte der Inspektor eindringlich. »Wir wissen jetzt, dass dieser Kling uns von A bis Z belogen hat, um an das Ei zu kommen. Er hatte mit Sicherheit niemals vor, deinen Vater zu retten.« Eva nickte. »Das stimmt vielleicht. Aber wir brauchen diesen Kling nicht mehr. Nachdem er mich entführt hat, war er so selbstgefällig, dass er sich kaum noch zurückhalten konnte. Er hat mir alles erzählt. Ich weiß jetzt, wie wir meinen Vater retten können.« »Der Schurke enthüllt dem Helden erst mal seine Pläne?«, fragte Voss höhnisch. »Das glaubst du doch selbst nicht.« »Er hat nicht damit gerechnet, dass ich es jemals gegen ihn nutzen könnte. Außerdem hat er mir nichts über sich verraten. Wir haben nur über dieses Drachenei gesprochen. Er hat mir erklärt, dass man den Dämon darin beherrschen kann, wenn man das Ei beim Öffnen in eine bestimmte Richtung dreht.« Voss schüttelte abwehrend den Kopf. »Er hatte keinen Grund, mich anzulügen! Ich war in seiner Gewalt und er musste annehmen, dass er das Ei bald selbst in der Hand hält. Er war einfach zu selbstsicher. Und wenn wir den Dämon beherrschen, können wir ihm auch befehlen, meinen Vater zurückzubringen.« »Du willst dieses Ei aufmachen? Bist du verrückt? Weißt du nicht mehr, was mit deinem Vater passiert ist?« »Aber wir wissen jetzt, was wir tun müssen!« »Wir wissen nur, was dieser Kling dich wissen lassen wollte«, widersprach Voss. »Ich bin nicht bereit, mich darauf einzulassen.« Eva sprang auf. »Und ich bin nicht bereit, meinen Vater im Stich zu lassen!«
* Kling stand drei Häuser weiter am Fenster einer verlassenen Wohnung. Die Bewohner waren im Urlaub und es war weder sonderlich schwierig gewesen, das herauszufinden, noch, Zugang in die Wohnung zu erlangen. Von hier aus hatte er das Wohnzimmerfenster und den Hauseingang von Inspektor Voss hervorragend im Blick. Bisher war alles ruhig geblieben. Aber sobald sich etwas ergab, konnte es ihm nicht entgehen. So oder so. Plötzlich schimmerte strahlendes Licht durch den schweren Vorhangstoff vor Voss’ Fenster. Kling seufzte. Endlich. Er war seinem Ziel so nahe – und er hatte so lange darauf hingearbeitet. Er betrachtete das hell erleuchtete Fenster. Jetzt, da sich die Jagd dem Ende neigte, war er ein wenig enttäuscht. Hell wie die Sonne, so war die Öffnung des Dracheneis beschrieben worden. Aber die letzten Aufzeichnungen darüber stammten aus dem 18. Jahrhundert, als die Menschen in der Nacht nur trübe Funzeln kannten. Heutzutage würde man die Wirkung des Dracheneis einfach nur als hell erleuchtetes Wohnzimmerfenster beschreiben. Strahlend hell, heller als die hellste Zimmerlampe – das gewiss. Doch es reichte nicht einmal, um die Vorhänge zu durchdringen. Kling lächelte schwach und dachte ironisch bei sich: Ja, ich bin eben ein aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts … Er wandte sich vom Fenster ab und ging los. Das Tor zur Hölle konnte nicht lange geöffnet bleiben. Das Ei schloss sich von selbst wieder, wenn keine Opfer anwesend waren und er konnte es bedenkenlos abholen. Das war wie Ostern … Als er auf die Straße trat, war das Licht hinter dem Fenster schon
erloschen. Kling summte leise vor sich hin, während er zum Haus des Inspektors ging. Er zückte einen großen Schlüsselbund, öffnete die Haustür, ging die Treppe empor und hatte auch für die Wohnung den passenden Schlüssel parat. Das war Routine. Als er in den Flur trat, stutzte er. Eva stand dort. Sie hielt das Ei in der Hand und starrte ihn aus großen Augen an. Sie schien nicht zu verstehen, wo er so plötzlich herkam. Er grinste. Das lief ja noch besser als geplant. Nun musste er für heute Abend kein neues Opfer auftreiben. »Es hat nicht geklappt«, stotterte Eva. »Das Ei hat ihn einfach verschlungen!« Kling zog eine Pistole. »Geben Sie es mir!« Er steckte das Ei in die Manteltasche und dirigierte Eva mit gezogener Waffe vor sich her zum Auto. Sie wehrte sich nicht, aber sie bewegte sich langsam und wie unter Schock. Immer wieder sah sie sich um und blickte zurück, als würde sie jeden Augenblick erwarten, dass ihr Freund, der Polizist, zurückkehrte. Kling lächelte. Er hatte, was er wollte – die Macht des Eis. Er setzte Eva auf den Beifahrersitz und schob sich hinter das Steuer. Sie saß einfach nur da und starrte aus dem Fenster. Kling tätschelte ihr das Knie, bevor er das Auto startete. »Wissen Sie: Es hat nie eine Rolle gespielt, in welche Richtung man das Ei öffnet. Der Dämon holt sich einfach jeden. Erst wenn er auf diese Weise drei Opfer innerhalb von drei Tagen bekommen hat, kann man ihn beherrschen. Und die Opfer müssen das Ei freiwillig öffnen. Es ist nicht leicht, so rasch hintereinander drei Leute zu finden, die ahnungslos oder dumm genug sind.« Er lenkte den Wagen durch die nächtlichen Straßen, während er weiter sprach. »Natürlich wusste ich, wie groß die Toilettenfenster im alten Theater
sind. Ich und meine Gefolgsleute nutzen dieses Gebäude schon seit geraumer Zeit. Ich glaube, Sie haben heute Abend einen Auftritt dort. Im Rampenlicht …«
* Etwa zwanzig Personen hatten sich im alten Theater versammelt wie Zuschauer, die man nach der letzten Vorstellung vergessen hatte. Sie saßen auf den ausgeleierten, fleckigen Sitzen in der ersten Reihe. Das einzige Licht im Raum kam von der Bühne, wo Kerzen und Petroleumlampen in einem großen Kreis aufgestellt waren. Kling stand im flackernden Schein der Flammen, das Drachenei in der Rechten. Neben ihm standen zwei vierschrötige Männer, die Eva Heller festhielten. »Glauben Sie wirklich, dass ich freiwillig das Ei öffne und nach meinem Vater und Inspektor Voss zum dritten Opfer werde?«, fragte Eva leise. »Das ist gar nicht nötig«, entgegnete Kling gut gelaunt. »Ihr Vater war nicht das erste Opfer – das erste Opfer war der ›Einbrecher‹, den die Polizei im Museum so eifrig gesucht hat. Das war ein Freund von uns, der ein wenig zu unvorsichtig gewesen ist. Sie sehen, das Ei hatte schon seine drei freiwilligen Opfer und steht für unsere Zwecke bereit.« »Du hast Frank einfach ins Messer laufen lassen«, brummte einer der Männer neben Eva halblaut. »Er war nicht zuverlässig«, erklärte Kling. »Er wollte sich bewähren. Er wollte für uns das Drachenei aus dem Museum stehlen. Du hättest ihn warnen müssen, dass er es noch nicht öffnen darf.« »Sagen wir, es war eine Probe seiner Zuverlässigkeit«, sagte Kling. »Er hätte uns das Ei einfach bringen sollen, wie ich es ihm befahl. Dann wäre ihm auch nichts geschehen.«
»Du wusstest genau, dass er das Drachenei öffnen würde. Und wenn nicht – was hättest du dann getan?« Kling zuckte mit den Schultern. »In dem Fall hätte ich mir was anderes überlegen müssen, wie ich das Ei in die Hände von Unschuldigen fallen lasse, damit sie es öffnen und zu den ersten Opfern werden. Wie auch immer … Frank hat genau das getan, was ich von ihm erwartet habe, aber es war seine eigene Schuld. Und so gelangte das aktivierte Drachenei in die Hände des Professors und später des Polizisten.« »Wenn Sie keine Opfer mehr benötigen – was wollen Sie dann von mir?«, hauchte Eva ängstlich. »Ich habe nie gesagt, dass wir kein Geschenk an den Dämon mehr brauchen.« Kling sprach leise und ungerührt. Er schenkte Eva ein strahlendes Lächeln. »Wir brauchen keine freiwilligen Opfer mehr. Man kann das Drachenei jetzt gefahrlos öffnen und dem Dämon Befehle erteilen – aber nur, wenn man ihm jedes Mal sofort ein anderes Opfer anbieten kann.« Er wandte sich dem Publikum im Saal zu und hielt das Drachenei in die Höhe. »Seht unseren Preis«, rief er. »Über zweihundert Jahre des Suchens haben ein Ende. Der Herr der Finsternis hat uns ein Zeichen geschickt. Wir werden seinen Diener rufen, mit Opfern besänftigen und uns im Glanz seiner Macht sonnen. Von heute an wird uns kein Wunsch verwehrt bleiben!« Die Zuhörer im Saal hingen gebannt an seinen Lippen. Eva hinter ihm wehrte sich schwach gegen den Griff der beiden Männer, aber sie konnte nichts tun. »Drei unwissende Opfer hat das Drachenei gefunden, wie ich es geplant hatte«, verkündete Kling. Einer der Männer neben Eva zischte unwillig. Er wirkte immer noch unzufrieden über das Schicksal seines Kumpanen. »Und jetzt ist der Dämon bereit! Mit dem nächsten Opfer wird er
uns gehören.« Evas Blick wich dem Ei aus. Ihr unruhiger Blick suchte nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Aber die Stuhlreihen hinter den Teufelsanbetern versanken in Dunkelheit. Kling reckte das Ei in die Höhe. Nach dieser Vorstellung würde seine Macht im Orden gesichert sein. Seine Leute würden Einfluss und Reichtum sammeln. Aber er war derjenige, der die Kette des Dämons in den Händen hielt. Ein Opfer für einen Wunsch. Er war bereit, diesen Preis zu zahlen und für die Leute, die sich nicht selbst die Hände schmutzig machen wollten, den Mittelsmann zu spielen. Politiker, Geschäftsleute, Anwälte … Männer und Frauen in hohen Positionen. Das waren die Menschen, die dort in der ersten Reihe saßen. Er, Kling, war stets nur die ausführende Hand gewesen, der Mann fürs Grobe. Und jetzt war es genau diese Position, die ihm den Schlüssel zur Macht in die Hände legte. Kling legte beide Hände um die Hälften des Eis. Er murmelte die Worte einer Beschwörung, die er aus einem 250 Jahre alten Buch gelernt hatte und drehte die Hälften des Dracheneis in der überlieferten Weise. Kling spürte ein Knacken unter den Handflächen. Das Drachenei öffnete sich. Eva wehrte sich nicht gegen den Griff von Klings Schergen. Sie stand da und schaute ihm plötzlich ruhig ins Gesicht. »Sie werden scheitern!« Für einen Moment verlor er die Konzentration. Die beiden Hälften des Eis klafften immer weiter auseinander. Das Licht breitete sich aus, überstrahlte die Kerzen und Lampen und tauchte die Sitzreihen des Theaters in ein blendendes Gleißen. »Ihr tretet besser beiseite.« Kling richtete das Ei auf das Opfer, das
er für den Dämon ausgewählt hatte. Die beiden Männer, die Eva gehalten hatten, wichen eilig zur Seite. Klings Unsicherheit war verschwunden. Alles lief wie geplant. Einige der Zuschauer hoben schützend die Arme vors Gesicht, während der Raum heller und heller ausgestrahlt wurde. Schon waren die anwesenden Menschen nur noch als Schattenrisse sichtbar. Hell wie die Sonne, dachte Kling. Ja, die Berichte sind nicht übertrieben. Etwas an diesem Gedanken irritierte ihn, aber ehe er seine Sorge greifen konnte, waren die Klauen da. Sie schossen aus dem Licht wie ein lebendig gewordener Schatten, fuhren durch die Luft – und packten Kling am Hals. Er konnte nicht schreien und brachte nur ein Röcheln hervor. Mit gnadenloser Kraft wurde er in das Ei gezerrt, dem Zentrum des Lichtes entgegen. Er zappelte. Sein Körper faltete sich in unmöglicher Weise und wurde vom Licht verzehrt. Seine Anhänger waren wie erstarrt. Eva lief los. Halb blind taumelte sie nach vorne und floh vom Zentrum des Lichts. Sie verfehlte den Bühnenrand und kam in einer Mischung aus Sprung und Sturz unten im Zuschauersaal auf. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Knöchel. Einige der Anwesenden hatten sich ebenfalls gefangen und versuchten, sie aufzuhalten. Einer der vierschrötigen Männer setzte zur Verfolgung an, während die Klauen schon wieder auftauchten und nach seinem schreienden Begleiter griffen. Plötzlich donnerte ein Schuss durch den Saal. Evas Verfolger taumelte und brach zusammen. »Keine Bewegung«, rief eine laute Stimme. »Polizei!« Alle erstarrten, nur Eva lief auf die Stimme zu. Jemand fasste sie an der Hand und zerrte sie Richtung Ausgang.
Hinter ihnen brach die Hölle los – im wahrsten Sinne des Wortes! Menschen brüllten durcheinander. Flüchtende stießen polternd gegen Möbel oder stolperten über Sitzreihen. Die Schreie steigerten sich zu einem irren Kreischen, wenn die Klauen aus der Hölle wieder jemanden packten und zum Ursprung des Lichtes zerrten, das mit jedem Augenblick noch heller strahlte. Mit einem Mal verschwand das Licht wie abgeschnitten und die Geräusche klangen nur noch gedämpft heran. Eva erkannte, dass sie sich auf dem Flur befand. Voss hatte die Tür zum Theatersaal geschlossen und schob nun einen bereit gestellten Stuhl unter den Griff, um den Zugang zu blockieren. »Was hast du so lange getrieben?«, fragte Eva atemlos. »Ich dachte schon, etwas wäre schief gegangen.« »Zu Recht«, sagte Voss. »Wäre Kling nicht tatsächlich zum alten Theater gefahren, hätte ich ihm vielleicht nicht folgen können.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die Tür. Blendendes Licht quoll durch alle Fugen und Ritzen. Irgendwer rüttelte von der anderen Seite daran. Voss und Eva hielten dagegen. »Ich habe gehört, was der Spinner verkündet hat«, erklärte Voss atemlos. »Und ich wusste ja, dass ich nicht als drittes Opfer im Drachenei saß. Also dachte ich mir, ich lasse ihn das Ding erst mal aufmachen. Wenn es als Erstes den schnappt, der es öffnet, war das der richtige Zeitpunkt zum zuschlagen.« »Und das war es auch«, sagte Eva. »Aber du standest ja auch nicht direkt daneben. Ich war nicht so begeistert von dem Plan.« Voss zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Nun, es war ja auch kein richtiger Plan. Eher eine Verzweiflungstat.« Plötzlich war es still. Niemand rüttelte mehr am Türgriff. Nur das Licht war noch da.
»Und was sollte ich auch machen?«, fügte Voss hinzu. »Da waren immer noch zwanzig Leute zwischen uns. Ich brauchte eine Ablenkung.« »Du hast ja Recht«, stimmte Eva müde zu. »Du hattest immer Recht, auch als du der Meinung warst, dass Kling mich nur täuschen wollte. Wenn wir tatsächlich das Ei geöffnet hätten …« »Das hätte ich niemals zugelassen«, verkündete Voss im Brustton der Überzeugung. »Aber ich war schon geschockt, als dieser Kerl plötzlich in meiner Wohnung stand. Zum Glück hast du ihn noch im Flur abgefangen. Wäre er ins Wohnzimmer gekommen, hätte ich mich nicht verstecken können. Mit dem Halogenstrahler in der Hand sah ich sicherlich ziemlich dumm aus.« Endlich erlosch das Licht aus dem Saal und sie standen im Dunkeln. Dennoch warteten sie noch eine Weile, bevor sie es wagten, den Saal zu betreten. Das silberne Ei lag unbeachtet und geschlossen inmitten der immer noch ruhig vor sich hinflackernden Kerzen und Öllampen. Ansonsten war der Saal leer. Der Tumult von vorhin hatte kaum Spuren an den fest verankerten Sitzen hinterlassen. Selbst der Mann, den Voss niedergeschossen hatte, war verschwunden. Der Inspektor schob das Drachenei vorsichtig in eine Plastiktüte. »Es gibt wohl keine Möglichkeit mehr, meinen Vater zurückzuholen«, stellte Eva resigniert fest. »Aber was machen wir mit dem Ei?« »Wir müssen es irgendwie in die Asservatenkammer schaffen«, sagte Voss. »Richardis wird es gewiss noch untersuchen lassen.« »Dann findet er jetzt wenigstens die Fingerabdrücke von Kling darauf«, warf Eva ein. »Ich bin schon gespannt, was er dazu herausfindet. Vielleicht können wir das Ei erst mal ins Museum schaffen und so tun, als hätte Richardis vergessen, es zu den anderen Beweismitteln zu packen? Ich meine, wenn ich morgen das Ei zur Wache bringe und erzähle, ich hätte es im Museum gefunden
– in dem Fall wird doch niemand glauben, dass du es aus dem Koffer genommen hast.« Voss seufzte und legte den Arm um Evas Schultern. »Vielleicht. Aber weißt du: Nach allem, was hier passiert ist, kann ich eigentlich nicht glauben, dass wir für dieses Problem keine Lösung finden …« ENDE