Ernst Vlcek & Neal Davenport
Das Dämonenauge Dorian Hunter Klassiker Band 4
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Die Jagd auf...
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Ernst Vlcek & Neal Davenport
Das Dämonenauge Dorian Hunter Klassiker Band 4
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Die Jagd auf Dorian Hunter ist eröffnet! Der ehemalige Reporter, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die versteckt unter den Menschen lebenden Dämonen der Schwarzen Familie zu vernichten, hat sich auf die Spur des vampirischen Arztes Frederic de Buer gesetzt. Dieser hat ein menschenverachtendes Ex periment gestartet, um den berüchtigten Henker von Paris aus dem Jenseits zurückzuholen. Aber Hunters Kampf gegen de Buer ist nur der Auftakt einer Serie von Abenteuern. Hunters großes Ziel, Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie selbst, zum Kampf zu stellen, ist in greifbare Nähe gerückt. In Zusammenarbeit mit der Mafia gelingt es Dorian, Asmodis Geheimversteck ausfindig zu machen: Die Insel der lebenden Toten, von der noch nie jemand zurückge kehrt ist. Auf der Insel begegnet Hunter dem Mädchen Valiora, das Asmodi vor zweihundert Jahren zur Gefährtin wählte. Ist sie der Trumpf, auf den Hunter so lange gewartet hat – oder ist die Falle raffinierter ausgetüftelt, als es sich der selbsternannte Dä monenjäger jemals vorstellen kann …?
Was bisher geschah Der ehemalige Reporter Dorian Hunter reist zusammen mit seiner Frau Lilian auf ein einsames Schloß an der österreichisch-sloweni schen Grenze. Begleitet wird er von acht ihm unbekannten Män nern, die am selben Tag wie er geboren wurden. Lilian ahnt Böses und versucht Dorian zur Umkehr zu bewegen. Aber dieser weigert sich – und gerät in ein Abenteuer, das seinen Verstand übersteigt. Denn die Schloßherrin ist eine Hexe, die vor dreißig Jahren neun Kinder mit dem Teufel zeugte. Die acht Gefährten Dorians nehmen die Offenbarung euphorisch auf. Schon immer spürten sie die dunkle Seite in sich. Nur Dorian will sein Schicksal nicht akzeptieren. Es gelingt ihm, das Schloß in Brand zu stecken und mit seiner Frau zu entkommen. Aber Lilian ist nicht mehr sie selbst. Sie hat bei der Begegnung mit den Dämonen den Verstand verloren. Die unheimlichen Geschehnisse reißen nicht ab: Als Dorian seine Frau in einer Wiener Privatklinik besuchen will, begegnet er der Hexe Coco Zamis, die den Auftrag erhalten hat, ihn zu töten. Aber sie verliebt sich in Dorian und wechselt die Seiten, woraufhin sie aus der Schwarzen Familie der Dämonen ausgestoßen wird. Coco und Dorian sind gleichzeitig Jäger und Gejagte. Mit Hilfe des Secret Service, den er von der realen Bedrohung durch die Dämonen überzeugen konnte, baut Hunter die Inquisitionsabteilung auf und macht sich auf die Jagd nach seinen Brüdern. Inzwischen ist von ih nen einzig Frederic de Buer, der vampirische Arzt, noch am Leben. Sobald er ausgeschaltet ist, will Hunter Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zum Kampf herausfordern …
Vorwort Hiermit liegt der vierte Band der DORIAN-HUNTER-Reihe vor. Er bildet gleichzeitig den Abschluß des Asmodi-Zyklus. Aber der Dä monenkiller hat noch eine Reihe von Abenteuern zu bestehen, bevor es auf Haiti zur Konfrontation mit seinem Hauptgegner kommt. In Paris trifft er auf den letzten seiner dämonischen Brüder, und auf Si zilien verbündet er sich mit einem Mafia-Don, um Asmodi einen entscheidenden Schlag zu versetzen … das ist Spannung pur, ganz wie man es aus alten ›Dämonenkiller‹-Zeiten kennt. Alle Romane dieses Bandes – Der Kopfjäger, Die Insel der wandeln den Toten, Der Moloch, Das Dämonenauge – wurden von den Vätern der Serie, Ernst Vlcek und Neal Davenport, verfaßt. Auch zur Serienhistorie gibt es einige Worte zu verlieren. So bildet Das Dämonenauge nicht nur den Abschluß des Zyklus, sondern es ist zugleich auch der letzte Roman, der als Erstveröffentlichung inner halb der ›Vampir‹-Reihe erschien. Der Erfolg der Subserie hatte alle Erwartungen übertroffen, eine Ausgliederung der Reihe war notwendig, um den Hunger der Leser nach immer neuen ›Dämonenkiller‹-Abenteuern zu stillen. Der Startschuß fiel mit dem nächsten Band: Das Fest auf dem Teufelshügel, erstmals mit dem bekannten ›Dämonenkiller‹-Logo auf dem Titel. Auch inhaltlich entwickelte sich die Serie weiter. Es folgten zwar noch einige Einzelbände, aber mit Band 23 wurde endgültig das von Ernst Vlcek ausgearbeitete, große Zyklenkonzept sichtbar, das die Serie bis weit in die 100er-Nummern hinein bestimmte. Der Dämo nenkiller erfährt weitere Einzelheiten über seine früheren Leben, be kommt es mit den Dämonendrillingen und einem neuen Hauptgeg ner zu tun und und und … Aber natürlich möchte ich an dieser Stelle nicht zuviel verraten.
Genießen Sie mit mir auf den nächsten Seiten zunächst das furiose Finale eines Zyklus, der unter den ›Dämonenkiller‹-Fans längst Kultstatus erlangt hat. Dario Vandis
Erstes Buch
Der Kopfjäger
von Neal Davenport
»Fahren Sie langsamer!« sagte Sybill Ferrand ängstlich. Der Regen peitschte wie verrückt gegen die Windschutzscheibe. Pierre Gormat lenkte rasant in eine Kurve. »Keine Angst!« sagte er grinsend. »Ich kenne die Strecke wie mei ne Hosentasche.« Der Renault lag gut in der Kurve, doch plötzlich brach er nach rechts aus und raste auf die Leitplanke zu. So sehr sich Gormat auch bemühte, er konnte den Wagen nicht mehr unter Kontrolle bringen. Eine unsichtbare Hand steuerte ihn. Er nahm den Fuß vom Gaspedal, doch der Wagen wurde noch schneller. Krachend zersplitterte die Leitplanke, und der Renault rumpelte die Böschung hinunter. Er wurde immer rascher und schoß zwischen zwei Bäumen hindurch. Sybill Ferrands Augen wa ren vor Entsetzen geweitet. Gormat stand der Angstschweiß auf der Stirn. Er konnte nichts tun; die unsichtbare Hand, die den Wagen steuerte, war stärker. Der Kühler prallte gegen eine Tanne. Die rechte Tür sprang auf, und Sybill Ferrand wurde herausgeschleudert. Sie flog einige Meter weit und blieb benommen hinter einem Gebüsch liegen. Pierre Gor mat hatte nicht so viel Glück. Er spürte den bohrenden Schmerz, als sein Brustkorb zusammengedrückt wurde. Dann wurde es schwarz um ihn. Ohnmächtig hing er über dem Lenkrad. Sybill Ferrand hörte nur noch das gleichmäßige Prasseln des Re gens. Vorsichtig richtete sie sich auf, und da sah sie zwei Männer, die sich rasch näherten. Sie wollte ihnen etwas zurufen, doch ihre Stimme versagte. Sie saß zusammengesunken hinter dem Gebüsch und zitterte. Die beiden Männer waren konturlose Schatten. Sie tru gen weite Regenmäntel und breitkrempige Hüte. Einer der beiden lachte zufrieden, als er neben dem Renault stehenblieb. »Es hat prächtig geklappt«, sagte er. »Sehen wir mal nach, ob der Kerl noch lebt.« »Verdammt!« fluchte der zweite. »Die Tür klemmt.«
»Aber die Tür des Beifahrersitzes ist offen, du Trottel. Holen wir ihn heraus. Hoffentlich lebt er noch, sonst brauchen wir ihn gar nicht mitzunehmen.« Sybill Ferrand hatte verwundert zugehört. Was hatten die beiden Männer vor? Sie duckte sich tiefer und hielt den Atem an. Abgese hen von einigen Prellungen und Hautabschürfungen war der Unfall für sie harmlos verlaufen. Sie sah, daß die Männer den Bewußtlosen aus dem Wagen hoben. »Er lebt.« »Gott sei Dank! Ich packe ihn an den Beinen. Mach rasch! Er ist verletzt. Wir müssen uns beeilen, sonst stirbt er uns noch unter den Händen.« Ein Grunzen kam als Antwort. Sekunden später waren die Männer verschwunden. Sybill nahm ihren ganzen Mut zusammen und folgte ihnen. Nach wenigen Schritten blieben die beiden vor einem Krankenwagen stehen. Sie öffneten die hinteren Türen und legten Gormat hinein. Die Türen wurden geschlossen, und der Wagen fuhr langsam an. Sybill Ferrand versuchte, die Wagennummer zu erkennen, doch es war zu dunkel und der Fahrer hatte die Scheinwerfer nicht einge schaltet. Nachdenklich sah sie dem Wagen nach. Sybill war zweiundzwanzig, groß und schlank und trug einen dunkelblauen Hosenanzug, der mit ihrem schulterlangen blonden Haar kontrastierte. Sie hatte in Versailles eine Freundin besucht und war nach zwanzig Uhr losgefahren, doch nach wenigen Kilometern hatte ihr altersschwacher kleiner Citroën den Geist aufgege ben. Sie hatte sich angestrengt bemüht, das Vehikel wieder in Gang zu bringen, was ihr aber nicht gelungen war. Schließlich hatte ein Wagen angehalten, und der Fahrer hatte ihr seine Hilfe angeboten. Doch auch ihm war es nicht gelungen, ihr Auto zu reparieren. Er hatte ihr vorgeschlagen, mit ihm nach Paris zu fahren, und sie hatte eingewilligt.
Der Mann hatte sich als Pierre Gormat vorgestellt und angegeben, daß er Handelsvertreter einer Lederwarenfabrik sei. Mehr wußte sie über ihn nicht. Sie stand im Schutz einiger Bäume und überlegte. Eigentlich hätte sie die Polizei verständigen müssen, doch etwas hielt sie davon ab. Das Verhalten der beiden Männer war merkwürdig gewesen. Sie waren nur an dem Verletzten interessiert gewesen. Außerdem hatte der Krankenwagen bereits dort gestanden. Als hätten sie gewußt, daß der Unfall stattfinden würde. Sybill Ferrand war noch immer unschlüssig, was sie tun sollte.
Als Pierre Gormat erwachte, wunderte er sich, daß er keinerlei Schmerzen hatte. Deutlich konnte er sich erinnern. Er hatte eine Frau mitgenommen; sie hatte ihn gebeten, nicht so schnell zu fahren, und dann war es passiert. Der Wagen hatte sich selbständig gemacht und war gegen einen Baum geprallt. Gormat hatte den stechenden Schmerz in der Brust gespürt und war ohnmächtig geworden. Als er die Augen aufschlug, war es finster. Es dauerte einige Se kunden, bis er begriff, daß man ihm die Augen verbunden hatte. Er blähte die Nasenflügel; der Geruch war unverkennbar; er mußte sich in einem Spital befinden. Er versuchte sich zu bewegen, doch das ging nicht; er spürte seine Glieder nicht. Er versuchte zu spre chen, doch es kamen nur krächzende Laute über seine Lippen. »Ruhig«, sagte eine sanfte Frauenstimme. »Seien Sie ganz ruhig! Ich hole den Arzt.« Die Schritte dröhnten überlaut in seinen Ohren. Eine Tür wurde geöffnet, dann war es still. Er versuchte noch einmal zu sprechen, hatte jedoch wieder keinen Erfolg damit. Nach wenigen Augenbli cken kehrten die Schritte zurück. »Der Arzt kommt sofort«, sagte die Frauenstimme. »Versuchen Sie, nicht zu sprechen. Bleiben Sie ganz ruhig!«
Pierre Gormat wollte aber sprechen. Er wollte wissen, wie es um ihn stand, ob er schwer verletzt war. Plötzlich hatte er entsetzliche Angst. Er befürchtete, blind zu sein. Schwere Schritte näherten sich, und dann hörte er eine unange nehm krächzende Stimme: »Sie hatten einen schweren Unfall, Herr Gormat, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir wer den Sie wieder auf die Beine bringen.« Er konnte noch immer nicht sprechen; nur unverständliche zi schende Laute kamen über seine Lippen. »Es wird noch einige Zeit dauern, bis Sie sprechen können, Herr Gormat. Versuchen Sie es aber ruhig weiter! Bilden Sie zuerst nur kurze Wörter.« Gormat folgte dem Rat, doch seine Zunge und seine Lippen schie nen sich zu weigern, Worte zu formen. »Schwester«, sagte der Arzt, »lassen Sie die Apparate nicht aus den Augen! Herr Gormat soll üben. Sobald er wieder sprechen kann, geben Sie mir Bescheid!« Die schweren Schritte entfernten sich. Pierre Gormat fühlte sich müde, doch seltsamerweise hatte er keinen Hunger und keinen Durst. Er spürte auch seinen Körper nicht; nur die Binde über seinen Augen drückte unangenehm. Er bewegte die Augäpfel. Hoffentlich bin ich nicht blind, dachte er erneut. Einige Zeit später versuchte er wieder zu sprechen. Diesmal ging es schon besser. »Schwester«, sagte er langsam. »Bin ich … bin ich blind?« »Nein«, sagte die Schwester. »Sie sind nicht blind, Herr Gormat.« »Weshalb – weshalb habe ich eine Binde vor den Augen?« »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Anordnung des Arztes. Ich hole ihn jetzt.« Einige Sekunden herrschte Stille, dann vernahm Gormat wieder die krächzende Stimme des Arztes. »Das ist ja prächtig! Sie können schon sprechen! Wie fühlen Sie sich?« »Ganz gut, Doktor«, sagte Gormat. »Warum habe ich eine Binde
vor den Augen?« »Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wir können sie jetzt ruhig entfer nen.« Finger glitten über sein Gesicht, dann wurde die Binde gelockert und abgenommen. »Lassen Sie die Augen noch einige Augenblicke geschlossen, Herr Gormat«, sagte der Arzt. »Haben Sie Schmerzen?« »Nein«, sagte Gormat. Er konnte nun schon bedeutend besser sprechen. »Überhaupt nicht.« »Gut«, sagte der Arzt. »Öffnen Sie die Augen! Aber nur zu ganz schmalen Schlitzen!« Gormat gehorchte. Das Licht war unangenehm, und er schloß die Augenlider rasch wieder. »Ziehen Sie die Jalousien herunter, Schwester!« sagte der Arzt. Es wurde dämmrig im Zimmer. Gormat schlug die Augen erneut auf. Vor ihm stand ein kleiner Mann, der einen knielangen weißen Mantel trug. Alles an ihm wirkte aufgedunsen. Das runde, schwab belige Gesicht war häßlich. Der Schädel war bis auf einen schmalen Kranz aschblonder Haare kahl. Seine Augen waren klein und ste chend. Neben dem Arzt stand eine junge Frau in einer adretten Schwesternuniform. Ihr Haar war unter einem Häubchen verbor gen, und ihr Gesicht wirkte recht hübsch. Gormat versuchte, den Kopf zu bewegen, aber irgend etwas hielt ihn fest; er konnte den Kopf nur etwas anheben. »Bewegen Sie sich nicht, Herr Gormat!« sagte der Arzt. »Habe ich schwere Verletzungen, Herr Doktor?« erkundigte sich Gormat ängstlich. »Ja.« Der Arzt lächelte und entblößte dabei kräftige gelbe Zähne. »Aber keine Bange! Wir bekommen Sie schon wieder hin.« Der Arzt trat einen Schritt zur Seite und aus Gormats Gesichtsfeld. Plötzlich fühlte Gormat sich müde. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, und dann umgab ihn Finsternis.
Als er wieder erwachte, war es dunkel im Zimmer. Nur das rote Nachtlicht über der Tür brannte. »Schwester?« Er bekam keine Antwort. Vergebens versuchte er, den Kopf zu be wegen. Hilflos lag er da und dachte nach. Er konnte sich nicht erklä ren, weshalb er seinen Körper nicht spürte. Er konnte die Lippen be wegen; er konnte auch die Augen öffnen und schließen, aber er konnte seine Arme und Beine nicht bewegen. »Schwester!« rief er noch einmal so laut er es konnte. »Schwester!« Die Tür wurde geöffnet. Wegen des düsteren Lichts konnte er nicht viel erkennen. Die Gestalt kam näher auf ihn zu. »Wer sind Sie?« fragte Gormat. Die Gestalt blieb vor ihm stehen, und er konnte jetzt Einzelheiten erkennen. Es war eine kleine Frau, die einen blauen Morgenrock trug, der über der Brust weit aufklaffte. Ihr Haar war kastanien braun und zerzaust. »Ich bin Madelaine Dupont«, sagte die Frau. »Sie haben mich ein gesperrt, aber ich konnte die Schwester ausschalten. Ich will fliehen. Kommen Sie mit?« »Ich kann mich nicht bewegen«, sagte Gormat. »Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu«, sagte Madelaine Du pont. »Das ist ein gespenstisches Sanatorium.« »Was meinen Sie damit?« erkundigte sich Gormat neugierig. Die Frau beugte sich vor und senkte ihre Stimme. »Ich könnte Ih nen Geschichten erzählen, da würden Ihnen die Haare zu Berge ste hen. Der Arzt ist ein Teufel. Eine Reihe von Patienten, die alle an geblich schwerkrank sein sollen, sind offensichtlich kerngesund.« Sie flüsterte: »Sie bekommen alle Injektionen. Dann können sie sich nicht bewegen. Der Arzt ist verrückt.« Gormat hatte eher den Eindruck, daß diese Frau einen Dachscha den hatte. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart unbehaglich. »Weshalb sind Sie hier?« fragte er.
Sie kicherte und beugte sich noch weiter vor. »Das würden Sie nie mals erraten.« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer abstoßenden Frat ze. Gormat hatte plötzlich Angst. Diese Frau war ihm nicht geheuer. »Ich werde es Ihnen sagen«, flüsterte sie verschwörerisch. »Ich habe vor ein paar Tagen meinen Mann erschlagen. Er hat mit mir gestritten. Da habe ich das Beil gepackt und ihm den Schädel einge schlagen.« Sie kicherte wieder. Gormat schloß die Augen. »Ich bin geflohen«, fuhr Madelaine Dupont fort. »Ich habe mich hier im Sanatorium versteckt. Dem Arzt gegenüber habe ich mich als verrückt ausgegeben. Aber ich will nicht hierbleiben. Da stelle ich mich lieber der Polizei.« Gormat hatte schaudernd zugehört. Er wollte nach der Schwester rufen, doch er hatte Angst, es zu tun, da er nicht beurteilen konnte, wie die Wahnsinnige darauf reagieren würde. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich habe die Schwester an der Kehle gepackt, als sie mir eine Spritze geben wollte. Wir haben nicht viel Zeit. Sie sind sicherlich auch durch Spritzen gelähmt worden.« »Ich hatte einen Autounfall«, sagte Gormat schwach. »Ach was!« sagte sie. »Ich wette, Sie sind überhaupt nicht verletzt.« Um ihre Behauptung zu beweisen, packte sie die Bettdecke und riß sie weg. Da prallte sie auf einmal entsetzt zurück. Ihre Augen weiteten sich, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Gormat drück te den Kopf nach unten – und da sah er es selbst: Er hatte keinen Körper. Von seinem Schädel liefen dicke Schnüre in einen kleinen Kasten, der in der Mitte des Bettes stand – und aus dem Kasten führten weitere Schläuche und Drähte. »Sie haben keinen Körper«, keuchte Madelaine Dupont. »Nur einen Kopf!«
Ich hatte mir ein Zimmer in einem Mittelklassehotel in der Avenue de Verdun, unweit des Gare de l'Est, genommen und mich nicht als Dorian Hunter angemeldet, sondern als Peter Garner. Auf diesen Namen lautete mein falscher Paß. Nach meiner letzten Auseinander setzung mit der Schwarzen Familie war ich von London nach Zürich geflogen. Ich hatte von meinem Schweizer Konto eine größere Sum me abgehoben und war dann noch zwei Tage in der Schweiz geblie ben. Nachdem ich mich neu eingekleidet hatte, war ich mit der Bahn nach Paris gefahren. Auf die Hilfe des Secret Service konnte ich im Augenblick nicht zählen. Ich wollte meinen Kampf gegen die Schwarze Familie allein fortführen. Niemand wußte, daß ich mich in Paris aufhielt, nicht ein mal Coco, meine Lebensgefährtin. Ich hatte alle meine dämonischen Brüder ausgeschaltet – bis auf einen: Dr. Frederic de Buer. Durch den Secret Service wußte ich, daß er sich in Paris aufhalten sollte, aber ich hatte keinerlei Ahnung, wo genau. Mein Aussehen hatte ich in London geändert; der Schnurrbart war abrasiert, das Haar kurz geschnitten. Ich sah wie ein lungenkranker Vierzigjähriger aus und gefiel mir gar nicht, aber eine Zeitlang woll te ich diese häßliche Aufmachung ertragen. Ich stand am offenen Fenster und starrte auf die Straße hinunter. Es war ein warmer Sommertag und kurz nach fünfzehn Uhr. Ich war schon öfters in Paris gewesen, doch mich hatte die Stadt nie be sonders beeindruckt. Für mich war es eine Stadt ohne Atmosphäre – wie fast alle anderen Großstädte, in denen ich gewesen war. Als Jun ge hatte ich das auf mein kühles britisches Temperament zurückge führt, doch jetzt wußte ich: Paris sprach mich einfach nicht an, es ließ mich kalt, genauso kalt wie Rom. Vor etwas mehr als drei Jahren, als ich noch als freiberuflicher Journalist gearbeitet hatte, war ich von einer großen, englischen Il lustrierten beauftragt worden, eine Artikelserie über einige europäi
sche Großstädte zu schreiben und die Städte so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Ein unmögliches Unterfangen, da jeder Mensch eine andere Ansicht über eine Stadt hat. Da ich damals wegen einiger be sonders bösartiger Artikel bekannt geworden war, die ich unter ei nem Pseudonym geschrieben hatte, war mir gleich klar gewesen, was der Chefredakteur wollte. Ich schrieb also in drei Fortsetzungen einen ätzenden Bericht über Paris, der mit sämtlichen Klischees auf räumte. Mir kamen die Franzosen genauso kleinkariert wie die Bri ten vor. Vor drei Jahren war ich überhaupt noch viel aggressiver und bös artiger gewesen. Ich hatte damals auch über London einen Bericht für eine amerikanische Zeitschrift verfaßt, der es ebenfalls in sich ge habt hatte. Wochen danach wollten noch immer einige Leute nichts von mir wissen. Ich grinste und schnippte die Zigarette auf die Straße. Das war al les lange her. Eine Ewigkeit, wie mir schien. Jetzt konnte ich über derlei Dinge nur noch lächeln. Mein Leben hatte sich grundlegend verändert. Es wurde im Augenblick nur von dem Kampf gegen die Dämonen beherrscht. Ich verließ mein Zimmer, ging in die Bar des Hotels, trank ein Bier und aß zwei Sandwiches. Fünfzehn Minuten später trat ich auf die Avenue de Verdun hinaus. Ich blieb kurz stehen, blickte mich um, überquerte die Rue de Faubourg St. Martin und kaufte mir beim Ostbahnhof eine druckfrische Nummer des France Soir. Lässig klemmte ich mir die Zeitung unter den Arm und setzte mich in ein Café. Ich bestellte eine Tasse Kaffee und stierte vor mich hin. Mir war noch nicht ganz klar, wie ich meinen Bruder aufspüren sollte. Nachdenklich schlug ich die Zeitung auf. Kopfjäger in Paris? lautete die Überschrift. Interessiert las ich den langen Artikel. Er war recht gut geschrieben, voll beleidigender Angriffe gegen die Polizei. Ich las ihn nochmals, nippte am Kaffee und verarbeitete die Fakten, die der Bericht enthielt. Innerhalb einer Woche waren in Paris vierzehn
Leichen ohne Kopf gefunden worden. Begonnen hatte die Schre ckensserie mit einem Autounfall außerhalb von Paris. In einem Wrack hatte man die kopflose Leiche des Handelsvertreters Pierre Gormat gefunden. Es hätte wie ein Dutzendunfall ausgesehen, wenn nicht der Kopf des Toten verschwunden gewesen wäre. So war es später auch mit den anderen Opfern. Sehr scharfsinnig vermutete die Polizei, daß alle Verbrechen von ein und demselben Täter ausge führt worden waren. Die meisten Opfer waren einfache Leute gewe sen: Arbeiter, Angestellte. Nur eines fiel aus der Reihe: Gilbert San son, angeblich ein Nachfahre des berüchtigten Henkers von Paris, Charles-Henri Sanson, der sich während der französischen Revoluti on einen Namen gemacht hatte. Ein Detail, das nur am Rande erwähnt wurde, interessierte mich besonders. Die kopflosen Leichen waren immer völlig ausgeblutet, und am Tatort fand man keinen Tropfen Blut. Sollte hinter diesen geheimnisvollen Verbrechen mein Bruder Frederic de Buer stecken? Auszuschließen war es nicht. Ich wußte nicht viel über ihn, nur daß er ein Vampir war – und ein Serologe. Es konnte nichts schaden, wenn ich mich mit dem Reporter, der den Artikel geschrieben hatte, in Verbindung setzte. Der Bursche hieß Armand Melville. Das Telefon stand auf der Bar. Ich klemmte mir den Hörer zwi schen Schulter und Kinn und wählte die Nummer des France Soir. Er war nicht in der Redaktion. Ich sagte, daß ich es in einer halben Stunde nochmals probieren werde. Ich blieb an der Bar sitzen, trank noch einen Kaffee und überlegte mir, wie ich den Reporter zur Zu sammenarbeit bewegen sollte. Am einfachsten wäre es zu behaup ten, daß ich für eine englische Zeitschrift einen Artikel über die rät selhaften Morde schreiben sollte. Ich konnte ihm ja versprechen, ihn an meinem Honorar zu beteiligen. Eine halbe Stunde später rief ich nochmals in der Redaktion an. Diesmal hatte ich Glück und erwisch te Melville. Seine Stimme klang tief und kultiviert. »Mein Name ist Peter Garner«, sagte ich. Mein Französisch war ziemlich gut. Wenn ich mich bemühte, konnte ich sogar fast akzent frei sprechen. »Ich habe den Auftrag bekommen, für News of the
World einen Bericht über die geheimnisvollen Morde in Paris zu schreiben.« »Ja?« Seine Stimme klang plötzlich mißtrauisch. »Ich habe gerade Ihren Bericht gelesen«, fuhr ich fort, »und möch te mich gern mit Ihnen unterhalten.« Er schwieg einige Sekunden. Ich konnte mir genau vorstellen, was in seinem Kopf vorging. News of the World war eine der auflagen stärksten Wochenzeitungen Englands. Wahrscheinlich rechnete er sich schon aus, wieviel Geld dabei für ihn herausspringen würde. »Es soll nicht Ihr Schaden sein«, sagte ich aufmunternd, um ihm seine Entscheidung zu erleichtern. »Gut«, meinte er schließlich. »Fein«, sagte ich fröhlich. »Wo treffen wir uns?« »Im Aron«, er. »Montmartre 19. Nach achtzehn Uhr. Sie brauchen nur nach mir zu fragen. Einverstanden?« »Einverstanden«, sagte ich und legte auf.
Zehn Minuten nach achtzehn Uhr betrat ich das Aron. Es war ein gutbürgerliches Lokal, in dem ich schon einmal vor Jahren gewesen war. Es hatte sich in der Zwischenzeit nicht verändert. Ich fragte einen Kellner nach Armand Melville, und er führte mich an einen kleinen Tisch. Ein junger Mann sah mich interessiert an. »Herr Melville?« fragte ich. Er nickte, stand auf und schüttelte meine Hand. »Peter Garner«, stellte ich mich vor. Melville war etwas kleiner als ich. Das schwarze Haar bedeckte seine Ohren und stellte sich im Nacken auf. Sein Gesicht war hager und braungebrannt. Er konnte kaum älter als dreißig sein. Sein Lä cheln war einnehmend, aber sein Aufzug war leicht verwirrend: An zug, Hemd und Krawatte wetteiferten in der Grellheit ihrer Farben. Ich setzte mich, und wir starrten uns einige Sekunden lang schwei gend an.
»Peter Garner«, sagte er nachdenklich. »Ihr Name sagt mir eigent lich nichts.« »Das kann ich mir denken«, meinte ich. »Für News of the World schreibe ich unter dem Namen Lester Hawks.« Er kniff die Augen zusammen. »Ah, ich erinnere mich! Ich las mal eine Artikelserie von Ihnen, die sich mit Schwarzer Magie beschäf tigte.« »Richtig«, sagte ich. Ich hatte tatsächlich einmal unter diesem Na men einige Artikel verfaßt. »War recht gut geschrieben, diese Serie, aber ich halte nichts von diesem okkulten Zeug. Alles Quatsch.« Er schnaubte verächtlich. »Das ist was für kleine Kinder.« Ich hörte ihm ernst zu und nickte bedächtig. Melville wären wahr scheinlich die Augen übergegangen, wenn ich ihm einige meiner Er lebnisse mit der Schwarzen Familie erzählt hätte. »Darum geht es jetzt ja auch nicht«, sagte ich. »Es geht um die vierzehn Morde.« Ich griff in die Tasche, holte fünfhundert Francs hervor und reichte sie Armand Melville. Ohne zu zögern, steckte er das Geld ein. »Das soll nur ein Vorschuß sein«, sagte ich und schlug ihm vor, ihn mit zwanzig Prozent an meinem Honorar zu beteiligen. Innerhalb weniger Minuten hatten wir uns geeinigt. Ich bestellte einen Aperitif und griff nach der Speisekarte. Melville schloß sich meiner Bestellung an und wählte die passenden Weine dazu aus. »Hat die Polizei eine Ahnung, wer hinter den Morden stecken könnte?« fragte ich. »Die Brüder sind völlig ahnungslos«, erklärte er abfällig. »Sie ren nen wie aufgeschreckte Hühner hin und her, sind aber überhaupt nicht weitergekommen. Sie versuchten eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen, aber die Ermordeten kannten einander nicht. Es gibt keinen einzigen gemeinsamen Berührungspunkt.« »Was vermutet die Polizei?«
Melville hob die Schultern und ließ sie langsam sinken. »Man hüllt sich in Schweigen. Ich habe nur herausbekommen, daß die Polizei annimmt, daß ein Verrückter hinter den Morden steckt. Wahrschein lich hat sie damit recht. Die Morde sind völlig sinnlos. Niemand profitiert vom Tod der Opfer. Lauter einfache Leute, mit Ausnahme von Gilbert Sanson.« »Was ist mit Sanson?« »Das ist schwer zu sagen«, meinte Melville nachdenklich. »Ich habe ihn vor einiger Zeit auf einer Party getroffen. Er war ein ziem lich extravaganter Bursche. Einige behaupteten, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Er trug nur schwarze Anzüge und altmodische schwarze Hüte. Sein Blick war unglaublich stechend. Wenn er einen anblickte, glaubte man, sein Blick würde einen durchbohren. Er ge hörte einer Gruppe von Geisterbeschwörern an und wollte mit sei nem Urahnen Charles-Henri Sanson in Verbindung treten, hatte aber keinen Erfolg damit. Er schwätzte ziemlich wirres Zeug.« Der Kellner servierte die Schnecken, und wir schwiegen. Ich brei tete die Serviette über meine Knie und begann zu essen. Die Schnecken waren ausgezeichnet; zu gut, als daß ich Lust ge habt hätte, über ungeklärte Morde zu sprechen. Wir warteten bis der Kellner abgeräumt hatte, ehe wir unsere Unterhaltung fortsetzten. »Sanson war eines der ersten Opfer«, sagte Melville. »Es gelang mir herauszubekommen, bei welchem Kreis von Geisterbeschwö rern er hauptsächlich verkehrte. Ich habe mich dort ein wenig umge hört, aber nichts Wesentliches erfahren. Sogar an einer Seance habe ich teilgenommen.« »Ich möchte diesen Kreis gern kennenlernen«, sagte ich. »Morgen findet eine Zusammenkunft statt. Es sind keine besonde ren Aufnahmeformalitäten nötig. Jeder kann an so einer Seance teil nehmen. Er muß nur hundert Francs zahlen.« Melville grinste. »Ein riesiger Schwindel, wenn Sie mich fragen, aber die Dummen sterben nicht aus. Wenn Sie unbedingt daran teilnehmen wollen, führe ich Sie morgen hin.«
»Ja, das will ich. Was ist sonst noch über Sanson bekannt?« »Wenig«, sagte der Reporter. »Er hat ziemlich zurückgezogen ge lebt. Er mußte nie arbeiten, da ihm seine Eltern ein kleines Vermö gen hinterlassen hatten.« »Ich möchte mir seine Wohnung ansehen.« »Das wird schwierig sein«, meinte Melville. »Und Sie werden auch sicherlich nichts finden, was uns weiterhilft. Die Polizei hat bereits alles auf den Kopf gestellt.« »Was ist mit den anderen Opfern? Wann geschahen die Morde? Und wo?« »Das ist ziemlich seltsam.« Melville verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Die kopflosen Leichen wurden nie in einem der inneren Bezirke von Paris gefunden, sondern nur in den Außenbezirken. Vor allem im 13. Bezirk Gobelins. Man fand sie in einsamen kleinen Gassen, auf verlassenen Grundstücken und in Häusern. Die Polizei befürchtet, daß es noch mehr Opfer gibt.« »Sie schrieben in Ihrem Artikel, daß die Leichen völlig blutleer wa ren.« »Das ist ja das Rätselhafte daran«, meinte Melville und strich sich übers Kinn. »In fast allen Fällen stellte die Polizei fest, daß die Opfer dort getötet wurden, wo man sie fand, aber man entdeckte keinen Tropfen Blut.« »Hm«, sagte ich und dachte an meinen Bruder. »Eine andere Fra ge: Wurden die Leichen enthauptet oder wurden sie …« »Da hüllt sich die Polizei in Schweigen. Aber ich bin mit einem Po lizeichef befreundet, und der erzählte mir, daß die Opfer in den meisten Fällen bei lebendigem Leib enthauptet wurden. Nur bei die sem Pierre Gormat liegt die Sache anders. Der Arzt behauptet, daß Gormats Kopf fachkundig amputiert worden sei.« »Damit meint er, von einem Arzt?« Melville nickte. »Genau. Dieser Tote scheint nicht zu den anderen zu passen. Und noch etwas erschwert die Aufklärung: Es ist noch in
keinem einzigen Fall gelungen, auch nur annähernd die Todeszeit festzustellen.« Melville griff in seine Brusttasche und holte ein Stück Papier hervor, das er mir reichte. »Hier haben Sie die Namen der vierzehn Toten, ihre Adressen und wo Sie zuletzt gesehen wurden.« Ich studierte die Aufstellung. Es waren neun Männer und fünf Frauen zwischen achtzehn und dreiundsechzig. Die meisten waren zuletzt in den frühen Abendstunden gesehen worden. Ich legte die Aufstellung zur Seite. Sie half mir im Augenblick nicht weiter. »Die Bevölkerung ist in großer Aufregung«, sagte Melville. »Die Leute haben entsetzliche Angst, was nur zu verständlich ist. Die Morde sind so völlig sinnlos. Niemand weiß, wer das nächste Opfer sein wird.« Der Ober servierte Huhn auf normannische Art, und ich kostete. Es schmeckte ebenfalls ausgezeichnet, aber mir war der Appetit ver gangen. Nach einigen Bissen hatte ich genug. Melville hatte eindeu tig den besseren Magen. Ich sah ihm zu, wie er genüßlich sein Huhn aufaß, und hielt mich mehr an den herrlichen Wein. Als Melville fertig war, steckte ich mir eine Zigarette an. Ich hatte intensiv alles verarbeitet, was mir der Reporter erzählt hatte, und je länger ich darüber nachdachte, um so wahrscheinlicher schien es mir, daß Frederic de Buer seine Hände mit im Spiel hatte. Aber ich hütete mich, etwas von meinem Verdacht zu erzählen.
Jean André verließ Punkt zwanzig Uhr seine Wohnung in der Rue de Wattignies. Er war fünfundzwanzig, seit einem Jahr geschieden und unternehmungslustig. Er besaß ein Sportartikelgeschäft in der Avenue Daumesnil, das ausgezeichnet lief. Er verdiente gut, und ob wohl er höchstens durchschnittlich aussah, hatte er einen Haufen Freundinnen und war mit sich und der Welt zufrieden. Er steckte sich eine Zigarette an und starrte sekundenlang auf den fließenden Verkehr: Er hatte noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Nach halb neun wollte er Marie abholen.
Er überlegte, ob er noch kurz in das Bistro gegenüber gehen sollte, verwarf den Gedanken aber. Es konnte nicht schaden, noch ein paar Minuten spazierenzugehen. Langsam ging er in Richtung Avenue Pontiatowski, sog noch einmal an der Zigarette und warf den Stum mel dann in den Rinnstein. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz im Kopf. Mit beiden Händen griff er sich an die Stirn, doch der Schmerz verflüchtigte sich so schnell, wie er gekommen war. Zwei Minuten später war er jedoch wieder da. Es schien André, als würde Strom durch sein Ge hirn fließen. Für Sekunden war er wie erstarrt. Er schloß die Augen, und seine Gedanken verwirrten sich. Eine unbekannte Macht dirigierte seinen Körper. Mechanisch ging er weiter. Zehn Minuten später betrat er den Bois de Vincennes. Es war dunkel geworden. Einige Liebespaare kamen ihm entgegen, die aber zu sehr mit sich beschäftigt waren, um auf Jean André zu ach ten. Sein Gehirn war wie gelähmt. Mehr als eine Minute stand er un beweglich wie eine Statue da. Dann ging er weiter, teilte einen Strauch und verließ den Weg. Er übersah die Gestalt, die in der Dunkelheit lauerte. Ruhig ging er weiter. Der Wind raschelte in den Blättern der hohen Bäume. Unter einer alten Eiche blieb er stehen und kniete nieder. Sein Kopf war völlig leer. Die Augen hatte er weit geöffnet, doch er sah nichts; er hörte auch nicht die schweren Schritte, die sich ihm näherten und hinter ihm verstummten.
Der Anruf kam um drei Minuten nach halb neun. Melville hatte noch eine Flasche Wein bestellt. Ein Kellner blieb neben unserem Tisch stehen. »Telefon, Herr Melville. Ihre Zeitung.« Melville stand seufzend auf. Ich sah ihm nach und trank mein Glas leer. Ich mußte nicht lange warten. Er kam gleich wieder zurück.
»Wir haben den fünfzehnten Toten ohne Kopf«, berichtete er. »Ich muß hin. Kommen Sie mit?« Ich nickte und stand auf. »Ich zahle morgen«, sagte Melville zu einem Kellner und wandte sich mir zu. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich in Ruhe in einem Lokal sitzen kann. Aber das ist unser verdammter Beruf.« »Wo wurde der Tote gefunden?« »Bois de Vincennes«, sagte Melville. »Die Polizei setzt jetzt Streifen mit Hunden ein. Und so eine Streife fand vor wenigen Minuten den Toten.« Melville blieb vor einem dunkelblauen Peugeot stehen, sperrte auf und klemmte sich hinters Steuer. Dann öffnete er die Tür auf der an deren Seite, und ich stieg ein. Ich hatte kaum die Tür zugeschlagen, als er auch schon losbrauste. Er war scheinbar ein guter Fahrer, aber jetzt fuhr er wie ein Verrückter. Rücksichtslos drängte er sich durch den starken Abendverkehr. Fünfzehn Minuten später hatten wir den Bois de Vincennes er reicht. Melville bog in die schmale Route Circulaire du Lac ein, doch er kam nicht weit. Einige verkehrswidrig geparkte Autos versperr ten uns den Weg. Melville parkte den Peugeot ungeniert auf dem Bürgersteig und sprang aus dem Wagen. Ich folgte ihm. Zwei Poli zisten versperrten uns den Weg. »Presse«, sagte Melville und zückte seinen Ausweis. »Sie dürfen nicht weiter«, sagte einer der Polizisten. Melville hob die Schultern. »Meinen Kollegen geht es wohl nicht besser«, sagte er grinsend und deutete auf eine Gruppe von Män nern, die unweit der Polizisten standen und leise miteinander spra chen. Wir gingen zu den lauernden Reportern. »Abend«, sagte Melville. »Weiß einer von euch etwas Näheres?« »Nichts«, sagte ein schmächtiger Mann. »Überhaupt nichts. Sie las sen uns nicht durch. Der Kommissar will sich später der Presse stel len.«
»Wer leitet die Untersuchung?« Der schmächtige Mann grinste. »Kommissar Phillipe Tissier.« Melvilles Gesicht sah plötzlich so aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Auch noch das!« stöhnte er. »Tissier haßt die Presse. Und die Presse haßt ihn. Auf mich ist er besonders böse, da ich vor einiger Zeit mal einen kritischen Artikel über ihn geschrieben habe.«
Kommissar Phillipe Tissiers Gedanken waren nicht druckreif. Er stand neben der Leiche, die von starken Scheinwerfern angestrahlt wurde, und fluchte unhörbar vor sich hin. Tissier war vierundvier zig, und kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, in ihm einen Polizisten zu vermuten. Er hatte das Gesicht einer Bulldogge, die Gestalt eines Freistilringers und die Hände eines Metzgers. Mit gesenktem Kopf stierte er die Leiche an. Seine gewaltigen Kiefer be wegten sich dabei geräuschvoll. »Seid ihr endlich mit der verdammten Fotografiererei fertig?« fragte er unwillig. »Sofort«, sagte einer der Männer der Spurensicherung. Tissier wandte sich angewidert ab und ballte wütend die Fäuste. Das war die fünfzehnte Leiche, die ohne Kopf aufgefunden worden war. Inspektor Roger Martin blieb neben seinem Vorgesetzten stehen. Er war um zehn Jahre jünger und sah recht gut aus. Vor allem war er an die schlechte Laune des Kommissars ge wöhnt. »Was haben Sie herausbekommen, Martin?« »Der Name des Toten ist Jean André«, sagte Martin. »Er trug einen Ausweis bei sich.« »Irgendwelche Spuren?« bellte Tissier.
»Keine«, erwiderte Martin sanft. »Absolut keine. Sie haben Hunde eingesetzt, doch die rannten nur konfus hin und her und kamen im mer wieder zur Leiche zurück. Wie in den anderen Fällen entdeck ten wir auch keine Spuren, keinen Tropfen Blut. Und … der Schädel ist verschwunden.« Die Leiche wurde auf die Bahre gehoben und mit einer Decke zu gedeckt. Die Träger hoben die Bahre hoch und entfernten sich. »Verdammter Mist!« sagte der Kommissar. »Fünfzehn Leichen und nicht einmal der Hauch einer Spur.« Martin nickte kummervoll. »Die Spurensicherungsleute müssen doch irgend etwas festgestellt haben. Der Täter kann ja nicht aus dem Nichts gekommen sein.« »Die Hunde konnten …« »Sie wiederholen sich, Martin«, brummte Tissier wütend. Martin kniff die Lippen zusammen. Er konnte die schlechte Laune des Kommissars nur zu gut verstehen. Sie hatten schon viele scheußliche Verbrechen zu bearbeiten gehabt, aber noch nie so einen Fall. »Nur eines steht fest«, sagte Martin. »Jean André wurde hier er mordet. Er kniete nieder, so wie die meisten anderen Opfer, und dann …« »Das verstehe ich eben nicht«, sagte Tissier mißmutig. »Die meis ten Opfer hatten sich hingekniet, bevor sie enthauptet wurden. Es kommt mir fast so vor, als hätten sie nur darauf gewartet, daß ihnen der Täter den Kopf abschlägt.« »Vielleicht hypnotisiert er seine Opfer.« »Daran dachte ich auch schon. Es ist für mich die einzige Erklä rung. Aber wohin ist das Blut verschwunden? Nicht einmal die Klei der der Leichen weisen einen einzigen Blutspritzer auf. Das ist ei gentlich völlig unmöglich. Das Blut hätte nur so herausquellen müs sen.« Martin nickte. »Die Morde sind so sinnlos«, murmelte er.
Der Kommissar holte eine Zigarre aus seiner Brusttasche, biß die Spitze ab, zündete sie sich an und inhalierte den Rauch tief. »Sehen wir uns mal die Wohnung des Toten an. Hier kommen wir nicht weiter.« Martin bezweifelte, daß sie in Jean Andrés Wohnung Hinweise auf den Mörder finden würden, doch er sagte nichts und folgte dem Kommissar. Tissiers Gesicht wurde zu einer eisigen Maske, als er die Meute der Reporter erblickte. Verdammte Bande, dachte er wütend. Jetzt werden sie mir wieder einen Haufen ätzender Fragen stellen. Er schnaub te verächtlich und blieb stehen.
Ich hielt mich im Hintergrund. Blitzlichter flammten auf. Ich mus terte den hünenhaften Mann. Nach Melvilles Schilderung mußte es der Kommissar sein. »Meine Herren, ich freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen.« Seine Stimme troff vor Spott. Schweigend und voller Erwartung starrten ihn die Reporter an. »Ich beantworte keine Fragen«, sagte er eisig. »In einer Stunde be kommen Sie die offizielle Presseerklärung. Guten Abend, meine Herren.« Der Kommissar ging auf einen Streifenwagen zu, und Inspektor Martin folgte ihm. Doch so leicht ließen sich die Reporter nicht ab schütteln. Immer wieder prasselten Fragen auf die beiden Beamten ein, die aber stoisch schwiegen. Melville hatte sich seinen Kollegen nicht angeschlossen. Er kam auf mich zu. »Was sagen Sie zu dieser Laus?« fragte er aufgebracht. »So ist es immer. Aber einmal werde ich … Ach was, es hat ja keinen Sinn, daß ich mich ärgere.« »Ich würde mir gern den Tatort ansehen«, sagte ich. »Da müssen wir noch warten«, meinte Melville. »Zuerst müssen
mal die Polizisten verschwinden.« Der Streifenwagen fuhr an uns vorbei, und Melville sah ihm böse nach. Auch die Reporter verschwanden nach und nach. Schließlich standen nur Melville und ich noch da. Eine halbe Stunde später wurde die Polizei abgezogen, und wir konnten zum Tatort. Ich holte meine Bleistiftlampe hervor und knipste sie an. Ich wußte nicht wes halb, aber ich war mir sicherer denn je, daß mein dämonischer Bru der in die Mordserie verstrickt war. »Was ist los?« fragte Melville. Ich antwortete nicht. Je näher wir dem Tatort kamen, desto schär fer wurde meine Aufmerksamkeit. Ich ließ den Strahl der Lampe über den Boden huschen, ging einmal im Kreis und wandte mich dann nach rechts. »Wohin gehen Sie, Garner?« »Ich will mich nur ein wenig umsehen.« Fünfhundert Meter weiter begann der See. Ich starrte mißtrauisch in das Dunkel. Ich hatte das Gefühl, daß wir beobachtet wurden. Aber als ich nichts erkennen konnte, wandte ich mich ab. Auch am Tatort selbst gab es nicht viel zu sehen. »Gehen wir zurück«, sagte ich. »Hier haben wir nichts mehr verlo ren.« Melville schien das ganz recht zu sein. Er mußte zurück in die Re daktion. Wir gingen zum Wagen und fuhren los. Am Place de la Na tion stieg ich aus und winkte ein Taxi heran. Ich fuhr in mein Hotel. Unterwegs dachte ich angestrengt nach. Für mich gab es keinen Zweifel mehr, daß die Schwarze Familie im Spiel war. Ob Frederic de Buer etwas damit zu tun hatte, würde sich zeigen.
* Ich schlief bis zehn Uhr und ließ mir ein ausgiebiges Frühstück und die Zeitungen aufs Zimmer bringen. Während ich aß, blätterte ich die Zeitungen durch. Alle brachten in großer Aufmachung den
fünfzehnten Mord. Die Kommentare waren ziemlich bösartig, die Polizei wurde heftig angegriffen. Doch die Angriffe waren unge recht. Die Polizei hatte keinerlei Hinweise, die Morde ergaben kei nen Sinn. Ich steckte mir eine Zigarette an und legte mich eine halbe Stunde lang in die Wanne. Danach telefonierte ich mit Melville, der mir aber nichts Neues berichten konnte. Wir vereinbarten, daß wir uns kurz vor zwanzig Uhr in der Rue Servan 66 treffen würden. Dort sollte heute die Seance stattfinden, an der ich teilnehmen woll te. Ich schlenderte mehr als eine Stunde lang ziellos durch die Stra ßen. Schließlich ging ich in ein Restaurant und aß etwas Leichtes. Danach studierte ich die Liste mit den Namen und Adressen der Er mordeten, zahlte und verließ das Lokal. Ich wollte der Wohnung von Gilbert Sanson einen Besuch abstatten, obwohl ich mir nichts davon versprach. Nach wenigen Minuten bog ich in die Rue Pigalle ein. Das Haus, in dem sich Sansons Wohnung befand, war uralt. Nach der brüten den Hitze auf den Straßen kam es mir im Hausflur angenehm kühl vor. Vor Sansons Wohnung blieb ich stehen. Mit meinem Spezialbe steck hatte ich in wenigen Augenblicken die Tür geöffnet. Rasch durchsuchte ich die Wohnung. Sanson mußte wirklich eine Vorliebe für Schwarz gehabt haben. Wände, Böden, Möbel, Türen – alles war schwarz. An den Wänden hingen alte Stiche, die hauptsächlich Hin richtungen zeigten. Ich öffnete die Schränke und wühlte in den La den herum, doch ich fand nichts Interessantes. Fünfzehn Minuten später verließ ich die Wohnung wieder.
Gegen Abend hatte es sich ein wenig eingetrübt. Es war windig ge worden, und dunkle Wolken zogen über den Himmel. Fünf Minu ten vor zwanzig Uhr traf ich in der Rue Servan ein. Melville wartete bereits auf mich. Ich schüttelte ihm die Hand, und er grinste. »Sie werden enttäuscht sein«, sagte er. »Die Seance, die ich neulich
besucht habe, war eine Farce.« »Abwarten!« sagte ich und sah das Haus an. Es war schmal, die Fassade war verwittert. Irgendwie sah es unheimlich aus. »Wem gehört das Gebäude?« »Claude Marquet«, sagte Melville. »War früher mal Schauspieler. Kein besonders guter. Er veranstaltet mit seiner Frau zweimal die Woche Seancen. Scheint sein einziges Einkommen zu sein. Er lebt gar nicht schlecht dabei. Es finden sich immer wieder genügend Narren.« Wir stiegen die drei Stufen zur Haustür hoch, und Melville drück te die schwere Tür auf, die krachend hinter uns zufiel. Es roch wie in einer Kirche. Kühle und Stille empfing uns. Wir stiegen die Treppe empor. Der Geruch nach Weihrauch verstärkte sich. »Das Haus wird nur von Marquet und seiner Frau bewohnt.« Im ersten Stock stand eine Tür offen. Leise Musik war zu hören. »Nennen Sie keinen Namen«, flüsterte Melville. Ich nickte. Ich hatte an einigen Seancen teilgenommen, bei denen alle Anwesenden maskiert gewesen waren. Neben der Tür stand ein kleiner Mann. Sein Haar war weiß gefärbt und fiel weit über die Schultern. Er hatte buschige Brauen, die kleine dunkle Augen beschatteten. Sein Gesicht war dunkelbraun, und die scharf gekrümmte Nase sprang wie bei einem Adler hervor. Er trug einen schwarzen Umhang, der bis zum Boden reichte. Die Hände hatte er in den weiten Ärmeln versteckt. Er verbeugte sich leicht und begrüßte uns. »Wir wollen an der Seance teilnehmen«, erklärte Melville. »Gehen Sie weiter, meine Herren!« Wir traten in einen länglichen Raum, der in mattes Licht getaucht war. Die Längsseiten des Zimmers waren mit scharlachroten Vor hängen verkleidet. In der Mitte des Raums stand ein runder Tisch mit einigen Flaschen und Tabletts mit Sandwiches. Mehr als ein Dutzend Leute standen um den Tisch herum. Der Großteil von ih
nen hielt ein Glas in der Hand und versuchte, die anderen zu igno rieren. Nur wenige sprachen miteinander. Ich griff nach einem Glas Orangensaft, musterte der Reihe nach die Anwesenden und wurde auf drei Frauen aufmerksam. »Der Bursche draußen«, sagte Melville leise, »das war Claude Marquet. Die Weißhaarige dort ist seine Frau Tilda.« Ich blickte Tilda Marquet an. Sie trug den gleichen dunklen Um hang wie ihr Mann, und ihr Haar hatte auch die gleiche Farbe, es war schneeweiß und floß fast bis zu ihren Hüften herab. Die zweite Frau mußte weit über Siebzig sein. Sie trug ein altmodisches Kleid und konnte ihre Hände nicht ruhig halten. Die dritte Frau war jung, gegen zwanzig. Sie paßte überhaupt nicht in diese Versammlung. Ihr schulterlanges blondes Haar war glatt und das Gesicht mit den großen dunklen Augen überaus attraktiv. Sie trug einen einfachen Jeansanzug, der ihre schlanke Figur betonte, und wirkte sehr nervös. Ich beobachtete sie verstohlen. Sie hielt ein Glas zwischen beiden Händen und drehte es ständig hin und her. »Kennen Sie die Blonde?« fragte ich Melville. »Nie gesehen. Sieht aber recht anziehend aus, was?« Ich nickte. »Sie sieht ständig einen bestimmten Mann an. Folgen Sie ihrem Blick und sagen Sie mir dann, ob Sie ihn kennen.« Ich nippte an meinem Drink, stellte das Glas ab und zündete mir eine Zigarette an. Wieder blickte die Blonde zu dem Mann, der ab seits von den anderen stand und völlig entspannt wirkte. Sein brau nes Haar war kurz geschnitten und sein Gesicht von totenähnlicher Blässe. »Er kommt mir irgendwie bekannt vor«, meinte Melville nach denklich. »Ich habe ihn schon einmal gesehen, aber mir fällt einfach nicht ein, wann und wo es gewesen ist.« Tilda Marquet kam lächelnd auf uns zu. »Guten Abend. Darf ich Sie um den Eintritt bitten, meine Herren?« »Gern«, sagte ich und holte zwei Hundertfranc-Scheine hervor, die
ich ihr reichte. Sie verbeugte sich und ging in die Diele. Ich sah ihr kurz nach. Ein hochgewachsener, unglaublich dünner Mann trat ins Zimmer. »Das ist Ray Pellegrin«, raunte mir Melville zu. »Ein Freund von Gilbert Sanson.« »Den werde ich mir mal vornehmen.« Pellegrin blieb unweit von uns stehen. Er achtete nicht auf seine Umgebung. Sein Gesicht war starr, nur der Mund bewegte sich. Ich trat auf ihn zu. »Entschuldigen Sie«, sagte ich und tippte auf seine Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich mir zu. »Ja?« fragte er unge halten. »Sie waren doch ein Freund von Gilbert Sanson?« Sein Blick wurde noch mißtrauischer. »Ich bin ein alter Bekannter von Sanson«, log ich. »Wir korrespon dierten seit mehr als einem Jahr miteinander. Soweit ich unterrichtet war, wollte er mit seinem Urahnen in Verbindung treten, doch er hatte wohl keinen Erfolg damit, wie?« »Sie sind Engländer?« fragte mich Pellegrin. »Ja. Hat Sanson Ihnen von mir erzählt?« »Er korrespondierte mit vielen Leuten«, sagte er, diesmal weniger abweisend. Da ich keinen Namen genannt hatte, war es schwierig für ihn zu beurteilen, ob meine Behauptung stimmte. »Ich wollte Sanson besuchen«, fuhr ich fort. »Da erfuhr ich, daß er …« Pellegrins Gesicht verdüsterte sich. »Eine fürchterliche Sache. Ich kann noch immer nicht fassen, daß er tot ist.« »Mich würde interessieren, ob er Erfolg mit seiner Beschwörung hatte.« Pellegrin biß sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein,
er hatte keinen Erfolg. Gil hatte einige Tage vor seinem Tod von ei nem Doktor geschwärmt, der ihm bei seinen Bemühungen, den Geist seines Urahnen anzurufen, helfen wollte, aber er nannte kei nen Namen.« »Versuchen Sie sich zu erinnern«, drängte ich. »Sinnlos«, sagte Pellegrin. »Ich habe ihn nach dem Namen des Doktors gefragt, doch er wollte ihn mir nicht nennen.« »Das ist schade.« In diesem Augenblick betraten Claude und Tilda Marquet das Zimmer. »Meine Herrschaften«, sagte Marquet, »folgen Sie mir, bit te!« Das Ehepaar durchquerte den Raum und zog einen Vorhang zur Seite. Dahinter lag ein schmaler Gang. Ich warf der blonden Frau einen Blick zu; sie schloß sich dem Mann an, den sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. »Vielleicht können wir uns nach der Seance weiter unterhalten«, sagte ich zu Pellegrin. »Das hat wenig Sinn. Ich möchte nicht über Sanson sprechen.« Er ließ mich einfach stehen und schloß sich den anderen an. Mel ville und ich folgten. Der Raum, in den wir kamen, war mittelgroß, quadratisch, und die Wände und die Decke waren mit dunklem Stoff verhangen. In der Mitte stand ein kreisrunder Tisch, über den ein dunkles Tuch gebreitet war. Die einzige Beleuchtung war ein Kerzenleuchter, dessen drei dicke Kerzen düsteres Licht erzeugten. Um den Tisch standen einfache Holzstühle. Claude Marquet schloß die Tür. »Bitte, nehmen Sie Platz!« sagte er. »Tilda Marquet dient als Medium«, flüsterte mir Melville zu, als wir uns setzten. »Meine lieben Freunde«, sagte Marquet salbungsvoll. Er saß uns genau gegenüber. »Einige von Ihnen nehmen zum ersten Mal an ei ner Sitzung bei mir teil. Es ist nicht voraussehbar, was geschehen
wird. Sie brauchen sich nicht zu konzentrieren. Sie müssen sich nur entspannen.« Ich lehnte mich zurück und hatte plötzlich ein unangenehmes Ge fühl. Ich schaute mich um. Befand sich etwa ein Dämon unter den Anwesenden? Wenn ja, so konnte man es ihm nicht ansehen. Einige Augenblicke hatte ich nicht auf Marquets Worte geachtet. »Legen Sie bitte Ihre Hände auf den Tisch!« sagte er jetzt. Wir folgten seiner Aufforderung. »Fassen Sie nun Ihre Nachbarn an den Händen!« Ich nahm Melvilles Hand und reichte meinem anderen Nachbarn auch eine Hand. Melvilles Hand war warm, die des anderen Man nes eiskalt. Es war ein kleingewachsener Mann, der einen struppi gen Vollbart trug. Plötzlich war ein lautes Sausen zu hören, und von der Decke kam ein kalter Lufthauch herab, der die Kerzenflammen zum Flackern brachte. Der Luftstrom wurde immer stärker, und die Flammen er loschen schließlich. Ein simpler Trick. Völlige Dunkelheit umgab uns nun. Ich hörte das schwere Atmen meines Nachbarn. Die Ausstrahlung des Bösen hatte sich verstärkt. Mein Herz schlug schneller. »Entspannen Sie sich!« sagte Marquet. »Schließen Sie die Augen!« Ich versuchte mich zu entspannen, doch es wollte mir nicht gelin gen. Ich saß verkrampft auf dem Stuhl und hatte die Augen weit aufgerissen. Minuten vergingen, und nichts geschah. Dann störte ein Geräusch die Stille. Es war überlaut zu hören. Ein Stuhl wurde ge rückt. Ich ließ Melvilles Hand los und holte meine Bleistiftlampe hervor. Schritte kamen langsam näher – und verstummten. Und dann war ein Schrei zu hören. »Was war das?« hörte ich eine aufgeregte Stimme fragen. »Ruhe!« sagte Marquet. »Ruhe, meine Herrschaften!« Ich knipste die Taschenlampe an. »Licht aus!« keuchte Marquet, doch ich hörte nicht auf ihn.
Instinktiv wußte ich, daß etwas Fürchterliches geschehen war. Ich ließ den Schein der Taschenlampe blitzschnell über die Anwesenden huschen, bis der Lichtkegel auf Ray Pellegrin fiel. Alles brüllte auf geregt durcheinander. Es war ein scheußlicher Anblick. Pellegrin saß unbeweglich wie eine Statue da. Sein Kopf fehlte. Der Sessel ne ben Pellegrin war leer. Ich wußte genau, daß neben Pellegrin der Mann gesessen war, den die Blonde nicht aus den Augen gelassen hatte. »Ruhe!« brüllte Marquet mit sich überschlagender Stimme. Der kopflose Mann stand plötzlich ungestüm auf. Der Stuhl fiel krachend zu Boden. Wohin war der Mann mit dem bleichen Gesicht verschwunden? Die Tür war noch geschlossen, wie ich mich mit einem Blick über zeugen konnte. Der Kopflose lief an mir vorbei, und ich sprang auf. »Lassen Sie das blonde Mädchen nicht aus den Augen!« rief ich Melville zu. »Ich folge dem Kopflosen. Wir treffen uns bei Ihrem Wagen.« Der Mann ohne Kopf erreichte die Tür und riß sie auf. Ich folgte ihm. Er lief durch den schmalen Gang, der ins große Zimmer führte. Hinter mir hörte ich noch immer die Schreie. Ich hatte Mühe, dem Kopflosen zu folgen. Er rannte wie von Furien gehetzt, und sein An blick ließ mich schaudern. Nicht ein Tropfen Blut floß aus dem Hals stumpf. Ich raste durch die Diele, da hatte der Kopflose schon die Treppe erreicht. Ich stolperte über die Türschwelle, kam ins Tau meln und krachte der Länge nach hin. Fluchend sprang ich auf, stürzte die Stufen hinunter und sah den Kopflosen im Erdgeschoß links abbiegen. Als ich den Gang erreichte, war er verschwunden. Ich lief den Kor ridor entlang. Ein halbes Dutzend Türen lag vor mir. Die ersten drei waren versperrt, die vierte ließ sich öffnen. Ich suchte nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Im Lichtschein der Taschenlampe sah ich eine schmale Holztreppe, die feucht schimmerte. Moderge ruch strömte mir aus dem Keller entgegen. Einen Augenblick zöger
te ich, dann stieg ich langsam die Stufen hinunter. Als ich die schmatzenden Geräusche hörte, löschte ich die Lampe. Ich bemühte mich, kein Geräusch zu verursachen. Vorsichtig schlich ich die Stu fen hinunter. Das Schmatzen wurde lauter. Es kam von links. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich hatte Glück und stieß gegen kein Hindernis. Als ich ganz in meiner Nähe gur gelnde Laute hörte, hob ich langsam die Lampe und knipste sie an. Entsetzt prallte ich einen Schritt zurück. Der Kopflose kniete auf dem Boden, und über ihn gebeugt stand ein Mann, dessen Gesicht ich im Augenblick nicht erkennen konnte. Er hatte seinen Mund auf den Halsstumpf des Kopflosen gepreßt und fing das herausspru delnde Blut auf. Jetzt ließ er von seinem Opfer ab und hob das Ge sicht. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Schrei. Ich blickte in Frederic de Buers Gesicht! Lippen und Wangen waren blutverschmiert. Die stechenden Au gen starrten genau in den Strahl der Lampe. Ich kam näher. De Buer ließ von seinem Opfer ab. Ich riß mir mein Amulett vom Hals und richtete den Strahl der Taschenlampe darauf. De Buer stieß einen schrecklichen Schrei aus, preßte die Hände vors Gesicht und wich weiter zurück. Er reagierte unglaublich rasch. Blitzschnell ließ er sich zu Boden fallen, hechtete dann quer durch den Raum und verschwand in einer Nische. Ein knarrendes Ge räusch hallte schaurig durch den Keller. Als ich die Nische erreichte, war sie leer. Ich steckte das Amulett ein und leuchtete die Nische aus. Wahr scheinlich war de Buer durch eine magische Tür entkommen. Ich holte nochmals das Amulett aus der Tasche und drückte es gegen die Wand. Nur lautes Summen erfüllte die Luft. Wütend trat ich zwei Schritte zurück und preßte die Lippen auf einander. So eine gute Gelegenheit würde sich nicht so bald wieder bieten. Ich hatte meinen letzten lebenden Bruder vor mir gehabt und die Chance nicht nutzen können. Aber einen Schritt war ich immerhin weitergekommen. Ich wußte
jetzt, daß de Buer hinter den abscheulichen Morden steckte. Noch einmal sah ich in die Nische, in der de Buer verschwunden war. Mit meinen bescheidenen Mitteln war es mir im Augenblick nicht möglich, die magische Sperre zu durchbrechen, aber ich würde später wiederkommen. Ich stieg die Stufen hoch und überlegte, ob Melville sich noch im Haus befand. Ohne mich weiter umzusehen, verließ ich das Haus und blieb auf der Straße stehen. Ich hatte mit Melville vereinbart, daß ich ihn bei seinem Wagen treffen wollte, nur wußte ich nicht, wo er ihn geparkt hatte. Aufmerksam blickte ich mich um und schritt die Straße entlang. Nach hundert Metern sah ich den Wagen. Melville war nicht allein. Die blonde Frau saß neben ihm. Ich klopfte gegen die Scheibe, und er öffnete die Wagentür. Rasch schlüpfte ich in den Fond des Wagens. Die Frau blickte mich ängst lich an. Sie zitterte. »Guten Abend«, sagte ich. »Das ist Sybill Ferrand«, sagte Melville. »Peter Garner ist ein Kolle ge von mir.« Sybill Ferrand nickte. »Fahren Sie endlich los!« bat sie. »Ich habe entsetzliche Angst. Was bei dieser Seance geschah, war einfach furchtbar.« Melville startete und reihte sich in den Verkehrsstrom ein. »Wurde die Polizei verständigt?« fragte ich. »Nein«, sagte Melville. »Marquet war strikt dagegen. Die Gäste rannten wie aufgeschreckte Hühner auf und davon, und Sybill Fer rand wollte sich auch grußlos empfehlen. Aber ich konnte sie einho len und …« »Sie haben mich festgehalten«, sagte Sybill böse. »Und mich in Ih ren Wagen gezerrt. Was wollen Sie von mir?« Melville ging nicht auf ihre Beschwerden ein. »Sie sind dem Kopf losen gefolgt?« »Ja, aber ich verlor ihn aus den Augen. Er war plötzlich spurlos
verschwunden.« Ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen. Er hätte mir ohnehin kaum geglaubt. »Das ist Pech.« »Wurde Pellegrins Schädel gefunden?« fragte ich. »Nein. Einer der Männer, die an der Seance teilgenommen haben, ist auch spurlos verschwunden.« »Stimmt«, sagte ich. »Und da kommen wir nun zu Ihnen, Fräulein Ferrand.« Sie blickte mich an. Ihre Lippen bebten. »Sie kannten diesen Mann«, stellte ich fest. »Sie ließen ihn die gan ze Zeit nicht aus den Augen. Wer ist er?« »Das kann ich nicht sagen«, murmelte sie schwach. »Es ist alles so furchtbar. So unglaublich. Ich will nicht darüber sprechen. Lassen Sie mich aussteigen! Bitte!« »Nein«, sagte ich hart. »Es gibt für Sie zwei Möglichkeiten. Entwe der Sie erzählen uns Ihre Story, oder wir bringen Sie zur Polizei. Sie können wählen, was Ihnen lieber ist.« »Das ist glatte Erpressung«, sagte sie wütend. Ich grinste. »Haben Sie vielleicht eine Zigarette?« Sie rauchte hastig und wandte mir dabei ihr Profil zu. Ihr Mund öffnete und schloß sich nervös. »Es ist eine ziemlich seltsame Geschichte«, begann sie endlich. »Wahrscheinlich glauben Sie mir kein Wort. Es war vor etwa einer Woche. Ich besuchte eine Freundin in Versailles. Auf der Rückfahrt nach Paris hatte mein Wagen eine Panne. Ein Mann nahm mich mit. Er nannte sich Pierre Gormat.« »Pierre Gormat!« rief Melville überrascht. »Aber das ist doch das erste Opfer!« »Genau«, sagte Sybill Ferrand. »Wir fuhren in Richtung Paris. Es regnete ziemlich stark, und plötzlich verlor Gormat die Kontrolle
über den Wagen. Wir durchbrachen die Leitplanke und prallten ge gen einen Baum. Ich wurde herausgeschleudert, blieb aber unver letzt. Bevor ich nach Gormat sehen konnte, tauchten zwei ver mummte Gestalten auf, die den Bewußtlosen aus dem Wagen zerr ten, ihn in einen Krankenwagen verfrachteten und mit ihm wegfuh ren.« »Haben Sie die Polizei verständigt?« fragte Melville. Sie ging nicht darauf ein. »Mir kam das nicht ganz geheuer vor, vor allem, weil einer der Männer von einer Falle sprach. Es schien mir, als wäre der Unfall sorgfältig vorbereitet gewesen. Ich hatte entsetzliche Angst und wußte nicht, was ich tun sollte. Schließlich ging ich zur Straße zurück, und ein anderer Autofahrer nahm mich mit. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zu tun. Am nächsten Morgen bat ich eine Freundin, meinen Wagen abzuschleppen. Dabei kam ich an der Unfallstelle vorbei. Wir hielten vor dem Wrack an.« Sie atmete tief und schloß die Augen. »Und als wir uns dem Auto näherten … Ein kopfloser Mann saß im Wagen. Er trug den Anzug, den Pierre Gormat getragen hatte. Wir rannten davon, und ich rief die Polizei an. Aber ich habe nicht meinen Namen genannt. Ich hatte zu große Angst.« »So war das also«, sagte Melville. »Ich kann mir vorstellen, daß das ein scheußliches Erlebnis für Sie gewesen ist. Aber das erklärt noch immer nicht, weshalb Sie zur heutigen Seance gekommen sind – und vor allem, wer der Mann war, den Sie ständig anstarrten.« »Der Mann war Pierre Gormat«, sagte sie. »Was?« fragte ich überrascht. »Aber das ist …« Ich brach ab. Der Gedanke, der sich in mein Gehirn stahl, war zu absurd. »Es war Pierre Gormat«, beharrte das Mädchen. »Kein Zweifel. Ich habe ihn nämlich heute zufällig getroffen, doch er sah einfach an mir vorbei. Ich folgte ihm und sprach auf ihn ein, doch er reagierte nicht. So beschloß ich, ihm zu folgen. Und er führte mich zu dem Haus in der Rue Servan. Den Rest wissen Sie.«
»Das ist eine ziemlich phantastische Geschichte, die Sie uns da auf tischen«, sagte Melville skeptisch. »Ich wußte, daß Sie mir nicht glauben würden«, sagte sie resi gniert. »Ich glaube Ihnen«, erklärte ich. »Melville, Sie sagten doch, daß Ih nen der Mann bekannt vorkam?« »Stimmt«, sagte Melville. »Auf dem Rücksitz neben Ihnen müssen einige alte Zeitungen liegen. Wir haben ein Foto von Pierre Gormat veröffentlicht.« Ich griff nach dem Stoß, und nach kurzem Suchen hatte ich die richtige Zeitung gefunden. Als wir an einer Ampel stehenblieben, sah ich mir das Bild an. »Sie haben recht. Pierre Gormat sah dem Mann täuschend ähn lich.« Ich hielt Melville die Zeitung hin. Er warf einen Blick auf das Foto und nickte. Hinter uns hupten einige Wagen. Er gab Gas und braus te über die Kreuzung. »Die beiden sehen sich ähnlich«, gab er zu. »Aber das kann auch ein Zufall sein.« »Für mich gibt es keinen Zweifel«, sagte Sybill Ferrand. »Der Mann bei der Seance war Pierre Gormat.« »Wie können Sie so sicher sein? Sie haben ihn doch kaum ge kannt.« »Ich habe ein ausgezeichnetes Personengedächtnis.« »Halten wir uns doch an die Tatsachen«, sagte Melville. »Gormat wurde ohne Kopf gefunden.« »Und wer sagt Ihnen, daß die Leiche tatsächlich Gormat war?« »Da gibt es keinen Zweifel«, sagte Melville grinsend. »Seine Iden tität ist eindeutig festgestellt worden. Er war vorbestraft, und seine Fingerabdrücke lagen bei der Polizei. Jeder Zweifel ist ausgeschlos sen.« »Das wußte ich nicht«, sagte Sybill schwach.
Wir schwiegen einige Zeit. »Wie wär's mit einem Drink?« fragte Melville. Sybill und ich hatten nichts dagegen. Beim nächsten Café hielten wir an. Ich hatte den Eindruck, als würden uns unsichtbare Augen folgen. Als ich mich umwandte, sah ich jedoch nichts. Aber das un behagliche Gefühl wurde ich nicht los. Wir betraten das Lokal und nahmen an einem kleinen Tisch in der Ecke Platz. Ich trank ein Bier und grübelte. »Sagt Ihnen der Name Frederic de Buer etwas, Melville?« Der Reporter legte die Stirn in Falten. »De Buer? Ich weiß nicht. Ir gendwie kommt er mir bekannt vor. Einen Augenblick fand ich … Ja, jetzt habe ich es! Vor drei Jahren gab es mal einen Skandal, in den ein de Buer verwickelt war. Es ging um seltsame Experimente. Aber ich kann mich nur noch undeutlich erinnern. Was hat er mit diesem Fall zu tun?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Mir fiel nur der Name ein, da Pel legrin von einem Doktor gesprochen hatte.« Melville fixierte mich und beugte sich vor. »Sie verheimlichen mir etwas, Herr Garner. Ich habe den Eindruck, Sie wissen viel mehr, als Sie sagen.« »Hören Sie, Melville, es ist besser für Sie, wenn Sie nicht alles wis sen. Außerdem würden Sie mir ohnehin nicht glauben.« »Wir wollten doch zusammenarbeiten«, sagte er böse. »Und unter einer Zusammenarbeit stelle ich mir vor, daß man mit offenen Kar ten spielt.« »Wie Sie wollen. Glauben Sie an Dämonen?« Er lachte. »Nein. Das sagte ich Ihnen ja schon.« »Sehen Sie, und deshalb ist es einfach sinnlos, mit Ihnen zu spre chen. Ich glaube nämlich an Dämonen – und ich bin sicher, daß Dä monen hinter diesen geheimnisvollen Morden stecken.« »Blödsinn!« sagte er und sah mich an, als wäre ich verrückt. »Abwarten! Wir werden ja sehen, wer recht hat. Ich weiß, worüber
ich spreche.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte er vorsichtig. Ich trank mein Glas leer. »Sollten wir jetzt nicht doch lieber die Polizei verständigen?« ließ sich Sybill Ferrand vernehmen. »Nein«, sagte Melville entschieden. »Ich schlage vor, daß wir uns mal die Straße von Versailles nach Paris ansehen. Vielleicht entde cken wir die Falle, von der die vermummten Männer gesprochen haben.« »Davon verspreche ich mir nicht viel«, sagte ich. »Könnten Sie in Erfahrung bringen, was mit diesem Frederic de Buer geschehen ist?« Melville blickte auf die Uhr. »Hm, ich könnte in der Redaktion an rufen.« »Tun Sie das!« Er stand auf und ging zum Telefon. Ich sah ihm nach und wandte mich Sybill zu. »Noch einen Kognak?« fragte ich. Sie nickte, und ich bestellte einen Kognak und noch ein Bier. Sie seufzte. »Hatten Sie schon einmal das Gefühl, daß Sie von allen Seiten beobachtet werden?« Ich nickte. »Das hatte ich schon des öfteren.« »Es hört sich verrückt an, aber mir kommt es so vor, als würden mich alle Gegenstände hier anstarren.« Mir ging es ebenso wie ihr. Bis jetzt war kein Zusammenhang zwi schen den Morden herzustellen gewesen, doch jetzt gab es den ers ten Hinweis. Ray Pellegrin war getötet worden. Er war ein Freund von Gilbert Sanson gewesen. Und ich hatte de Buer gegenüberge standen. Ich war sicher, daß er mich nicht erkannt hatte, aber er wußte nun, daß sein scheußliches Tun nicht unbemerkt geblieben war, und er wußte auch, daß er es mit einem Gegner zu tun hatte, der etwas von Magie verstand. Ich war sicher, daß er alles daranset zen würde, mich auszuschalten. Dadurch gerieten auch Armand Melville und Sybill Ferrand in große Gefahr.
»Worüber denken Sie nach?« fragte Sybill. »Über Pierre Gormat«, sagte ich. »Kam Ihnen irgend etwas seltsam an ihm vor?« »Sie meinen heute, nicht wahr?« fragte sie. Sie überlegte kurz, ehe sie antwortete. »Ich sagte ja schon, daß er mich einfach ignorierte. Aber es war nicht nur das. Er bewegte sich so seltsam. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen? Er hatte so abge hackte Bewegungen, als wäre er hypnotisiert. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ja, ich verstehe.« Melville kam zurück und setzte sich. »Über Frederic de Buer ist nichts bekannt«, sagte er. »Er verschwand spurlos.« Das hatte ich vermutet. Der Secret Service hatte de Buer aufzuspü ren versucht, doch keinen Erfolg damit gehabt. Er war irgendwo un tergetaucht. Sehr wahrscheinlich hatte er einen falschen Namen an genommen. »Ich fahre jetzt die Straße nach Versailles entlang«, sagte Melville. »Sie kommen mit, Sybill. Sie zeigen mir die Stelle, wo der Unfall ge schah.« »Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. »Wir werden schon aufpassen, daß wir in keine Falle geraten.« Ich lehnte es ab, mitzufahren. Ich hatte etwas anderes vor. Melville gab mir seine Privatnummer. Ich sollte ihn morgen anrufen. Ich ver suchte, ihm die unsinnige Fahrt auszureden, doch er blieb stur, und es gelang ihm schließlich auch, Sybill zu überreden. Sie verabschie deten sich von mir, und ich sah ihnen gedankenverloren nach. Ich hatte Melville warnen wollen, aber es wäre sinnlos gewesen; er hätte mich nur ausgelacht. Ich zahlte und trat auf die Straße. Wieder hatte ich dieses scheußliche Gefühl, beobachtet zu werden. Nach einigen Minuten kam ein Taxi vorbei. Ich fuhr in mein Hotel, nahm einige Gegenstände aus meinem Koffer, steckte sie ein und verließ das Hotel wieder.
Zwanzig Minuten später stand ich vor dem schmalen Haus in der Rue Servan. Ich ging einige Male auf und ab. Alle Fenster im Haus waren dunkel. Ich versuchte, die Eingangstür zu öffnen, doch sie war versperrt. Leute kamen an mir vorbei, aber niemand zollte mir Beachtung. Ich kämpfte mehr als fünf Minuten mit dem Schloß, ehe die Tür aufschwang. Rasch huschte ich ins Haus. Es war dunkel und völlig still im Inneren. Ich steuerte in den linken Gang und blieb vor der Tür stehen, die in den Keller führte. Vorsichtig öffnete ich sie und stieg die Stufen hinunter. Diesmal hatte ich eine starke Stablam pe mitgebracht. Der Kopflose war verschwunden. Ich leuchtete den Keller ab. Der Boden war mit einer dünnen Kohlenstaubschicht bedeckt. Deutlich konnte ich die Stelle erkennen, wo der Tote gekniet hatte. Nach denklich blieb ich stehen. Hatte de Buer den Leichnam fortgeschafft? Ich wollte mir gerade die Nische vornehmen, in der de Buer ver schwunden war, als ich schlurfende Schritte hörte. Ich wandte den Kopf und hob die Taschenlampe. Der Kopflose kam aus einem Ne benraum auf mich zu. Die Hände hatte er weit von sich gestreckt. Er torkelte auf mich zu und wollte nach mir greifen, doch ich sprang zur Seite. Seine Bewegungen waren langsam. Der Bursche war keine ernstliche Gefahr für mich. Ich holte ein Stück Kreide aus der Tasche und zog einen Halbkreis um mich. Dann murmelte ich eine einfache Beschwörungsformel, und der Kopflose hielt mitten in der Bewe gung inne. Ich verließ den Halbkreis, blieb vor dem Toten stehen und untersuchte seine Taschen. In einer Rocktasche fand ich Klein geld, die andere war leer. In der Brusttasche seiner Jacke steckte eine Brieftasche, die ich hervorholte. Darin befanden sich ein größerer Geldbetrag, ein Führerschein auf den Namen Raymond Pellegrin und einige Rechnungen und Visitenkarten, die ich mir näher ansah. Keiner der Namen sagte mir etwas. Trotzdem steckte ich die Karten ein. Dann schob ich die Brieftasche zurück und klopfte den Toten flüchtig ab. In seiner rechten Hosentasche trug er eine kleine Pistole, die ich an mich nahm. Schließlich ging ich zur Nische. Ich hoffte, daß es mir gelang, die
magische Wand zu durchbrechen. Ich murmelte ein paar Beschwö rungsformeln und malte magische Kreise und Figuren auf den Bo den. Zehn Minuten später hatte ich die richtige Formel gefunden. Die Wand glitt zur Seite, und vor mir lag ein mannshoher Gang, den ich betrat und mit der Taschenlampe ausleuchtete. Der Gang mußte ziemlich lang sein. Ich marschierte los und erwartete jeden Augen blick auf ein Hindernis zu stoßen, doch nichts geschah. Nach etwas mehr als hundert Schritten ging es bergab. Der Gang führte immer steiler in die Tiefe. Schließlich versperrte mir eine Holztür den Weg. Ich brauchte nur zwei Minuten, bis sie offen war und ich in einen Keller sah, der voll mit altem Gerümpel stand. Ich durchquerte ihn und stieg eine schmale Eisentreppe hoch. Nach wenigen Sekunden blieb ich stehen. Ein entsetzlicher Schmerz raste durch meinen Schä del. Ich sprang die Stufen hinunter, und der Schmerz ließ nach. Fremdartige Gedanken umnebelten mein Hirn und ließen mich taumeln. Mir wurde übel. Grelle Kreise explodierten hinter meinen Lidern, und dann hörte ich ein geheimnisvolles Lachen. Ich kämpfte verzweifelt dagegen an. Meine Bewegungen wurden langsamer. Mit zittrigen Händen steckte ich die Lampe ein, griff nach dem Amulett, und meine Lippen formten mit letzter Kraft magische Worte. Nach einigen Sekunden konnte ich wieder klar denken. Mehr als fünf Minuten blieb ich unbeweglich stehen. Mein Atem hatte sich beruhigt, und ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ganz of fensichtlich gab es keine Möglichkeit für mich, die magische Falle zu überwinden. Wütend machte ich mich auf den Rückweg. Dabei zählte ich die Schritte. Als ich wieder in Marquets Keller war, blieb ich vor dem Kopflosen stehen. Ich mußte etwa fünfhundert Meter zurückgelegt haben. Vielleicht wußten Claude und Tilda Marquet doch mehr, als ich anfangs vermutet hatte. Ich stieg die Treppe hoch, die in den ersten Stock führte, und dann gleich weiter nach oben, denn sicherlich be fanden sich die Privaträume im zweiten Stock.
Eine Tür stand offen. Mißtrauisch trat ich näher, schritt über die Türschwelle und blieb stehen. Der Lichtkegel der Stablampe tanzte über die Wände. Ein dicker Spannteppich verschluckte das Ge räusch meiner Schritte. Der Schlag kam ohne Vorwarnung. Er traf meinen Hinterkopf. Ich fiel halb besinnungslos zu Boden. Die Lampe entglitt meinen Fin gern. Mühsam warf ich mich zur Seite. Keine Sekunde zu früh. Ein schwerer Gegenstand krachte neben mir auf den Boden. Ich griff nach der Pistole und zog sie heraus.
Armand Melville hatte das Radio angestellt. Leise Musik drang aus dem Lautsprecher. Immer wieder warf er Sybill heimliche Blicke zu. Sie gefiel ihm, und er hatte den Eindruck gewonnen, daß er ihr auch nicht unsympathisch war. »Ihr Kollege kommt mir seltsam vor«, sagte sie. »Kennen Sie ihn schon lange?« »Seit gestern«, sagte Melville. »Was kommt Ihnen an Garner selt sam vor?« Sie knabberte an ihren Lippen. »Das ist schwer in Worte zu fassen. Er strahlt eine unglaubliche Kraft aus, die in keiner Weise zu seinem Aussehen paßt. Finden Sie das nicht auch?« Melville nickte. »Der verheimlicht etwas vor uns. Ich möchte nur wissen, was. Glauben Sie an diesen Unsinn mit den Dämonen, Sy bill?« »Ich weiß nicht«, sagte sie vorsichtig. »Bis jetzt hielt ich Berichte über Geister für kindisch, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher, was ich davon halten soll. Diese rätselhaften Morde und meine Erlebnis se … das ist alles so unwirklich, so unheimlich.« Melville lachte. »Reden Sie nicht weiter, sonst machen Sie mich noch unsicher!« Er bog in die Rue de Versailles ein. Der Wagen fuhr nicht schneller
als fünfzig. »Wenn wir zu der Stelle kommen, an der Pierre Gormat verun glückt ist, sagen Sie Bescheid.« »Es sind noch etwa zwei Kilometer.« »Was sind Sie von Beruf?« fragte er, um sie abzulenken. »Ich studiere Sprachwissenschaften. Englisch und Italienisch.« »Das wollte ich auch mal«, behauptete er. »Ich gab es aber nach ei nem Semester auf. Mein Sprachtalent ist nicht besonders groß. Dann wollte ich Medizin studieren, aber das vertrug mein Magen nicht. Deshalb studierte ich Zeitungswissenschaften und wurde Reporter.« »Und sind Sie mit Ihrer Wahl zufrieden?« »Anfangs machte es mir großen Spaß«, sagte Melville, »doch jetzt nicht mehr. Sechs Jahre als Kriminalreporter reichen. Man stumpft dabei völlig ab. Menschliches Leid bedeutet einem nicht mehr viel. Man wird zynisch und bösartig. Die Jagd nach der Sensation be herrscht einen. Manchmal finde ich mich selbst zum Kotzen.« Sybill blickte Melville an. »Sie sind ziemlich offen.« Der Reporter lächelte schwach. »Das wird man. Was hätte es für einen Sinn zu erzählen, wie faszinierend es ist, Reporter zu sein? Al les Quatsch. Jetzt müssen wir aber bald die Stelle erreicht haben.« »Ja«, sagte Sybill. »Nach der nächsten Kurve.« Er verlangsamte das Tempo. »Da war es! Sehen Sie die zerbrochene Leitplanke?« Er nickte, bremste und stieg aus. Sybill Ferrand folgte ihm. Mit ei ner Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach mitgenommen hatte, leuchtete er die zerbrochene Leitplanke an. »Wir sind die Böschung hinuntergeflogen und gegen eine Tanne gekracht.« Melville stieg die steile Böschung hinunter. Sybill hielt sich dicht hinter ihm. Sie mußten nicht lange suchen, bis sie den Baum fanden, gegen den Gormats Renault geprallt war.
Melville sah sich aufmerksam um. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte. »Von wo kamen die zwei Männer?« Sybill Ferrand zeigte ihm die Stelle. Melville brummte. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Männer mit dem Ausdruck Falle ge meint hatten. Nach Sybills Worten hatte Pierre Gormat die Gewalt über den Wagen verloren. Wie konnte eine Falle beschaffen sein, die einen Wagen von der Straße zerrte? Ein starker Magnet vielleicht? Melville mußte über diese Vorstellung grinsen. »Ich spüre und sehe keine Falle«, sagte er. »Vielleicht haben Sie sich verhört, Sybill.« »Nein, gewiß nicht. Unsere Falle ist einmalig, sagte einer der Män ner. Ich höre noch ganz deutlich diese Worte. Und Sie können mir glauben, ich habe oft darüber nachgedacht, da ich mir einfach keine Falle vorstellen kann, die …« »Still!« sagte Melville rasch. Beide lauschten angestrengt, doch nur das Brummen der vorbei fahrenden Autos war zu hören. »Splittert da nicht ein Ast?« flüsterte Melville. »Aber vielleicht habe ich mich getäuscht.« »Sie haben sich nicht getäuscht!« Die Stimme klang hart. Melville und Sybill fuhren herum. Einige Meter von ihnen entfernt standen zwei Männer zwischen den Bäumen. Sie trugen weite Re genmäntel und breitkrempige Hüte. »Das sind die Männer, die Pierre Gormat aus dem Wagen zerrten«, hauchte Sybill. »Ich erkenne die Stimme.« »Ganz recht, mein Fräulein«, sagte der eine Mann und kam lang sam näher. Melville leuchtete die beiden Männer an. In den Fäusten trugen sie seltsam große Pistolen. »Weg mit der Lampe!«
Melville gehorchte und steckte die Lampe ein. Ein zischendes Ge räusch war zu hören. Er fuhr sich ins Gesicht. Ein winziger Bolzen hatte sich in seine rechte Wange gebohrt. Dann war das Geräusch nochmals zu hören. Melville riß den Bolzen aus der Wange und warf ihn zu Boden. »Was soll das?« Mehr konnte er nicht sagen. Ein siedend heißer Schmerz durchras te seinen Körper, dann war er gelähmt. »Ich nehme den Mann«, sagte die barsche Stimme. »Du packst das Mädchen.« Melville wollte sich bewegen, wollte schreien, doch er brachte kei nen Laut hervor. Er spürte, wie er brutal hochgehoben wurde. Sybill erging es nicht besser. Sie wurden zu einem Krankenwagen getragen. Die Männer sagten die ganze Zeit über kein Wort. Ar mand Melville und Sybill Ferrand wurden nebeneinander in das Wageninnere geschoben. Sie lagen auf schmalen Pritschen. Melville hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde. Dann fuhr der Wagen an.
Ich entsicherte die Pistole, wälzte mich über den Boden und ver suchte, die Stablampe zu erreichen. Schweres Atmen war zu hören, das langsam näher kam. Als ich die Lampe endlich erwischt hatte, richtete ich den Strahl in die Richtung, aus der das Keuchen kam. Drei Schritte von mir entfernt stand Claude Marquet. Das lange weiße Haar war zerzaust, das Gesicht zu einer unmenschlichen Frat ze verzerrt. Schaum stand vor seinen Lippen. Die trüben Augen wa ren weit aufgerissen. Er ging augenblicklich wieder auf mich los. Mit beiden Händen schwang er einen Baseballschläger, den er mit voller Wucht nach mir warf. Ich hob abwehrend die linke Hand. Der Schläger krachte gegen die Lampe, die zersplitterte. Wieder hüllte uns undurchdringliche Dunkelheit ein. Ich sprang hoch. Der Licht schalter befand sich neben der Eingangstür, doch starke Hände grif
fen nach mir. »Nehmen Sie Vernunft an!« keuchte ich. »Lassen Sie mich los, Marquet!« Der ehemalige Schauspieler entwickelte unglaubliche Kräfte. Eine Hand verkrallte sich in meiner Jacke, die andere griff nach meiner Kehle. Ich entsicherte meine Pistole und schlug mit dem Lauf nach meinem Gegner. Ich hörte das Krachen des Nasenbeins, doch Mar quet stieß keinen Schmerzensschrei aus. Er packte sogar noch fester zu. Ich ließ mich fallen, stieß ihm meine Füße in den Bauch und schleuderte ihn über meinen Kopf. Meine Jacke zerriß, doch ich hat te Marquet abgeschüttelt. Rasch hechtete ich zum Lichtschalter und drückte ihn nieder. Der Raum wurde in mattes Licht getaucht. Marquet stand eben auf. Er duckte sich, und seine Augen funkelten mich böse an. Ich kannte diesen Blick. So sahen Menschen aus, die unter der Kontrolle eines Dämons standen. Jedes Gespräch mit Marquet war sinnlos; er würde bis zum bitteren Ende kämpfen. Ich wandte mich zur Flucht. Da tauchte aus den Schatten des Gan ges eine dunkle Gestalt auf. Sie trat in den Lichtschein. In Tilda Mar quets Hand funkelte ein Dolch. Ihr Gesicht war unmenschlich ver zerrt. Sie schlich auf mich zu. In diesem Augenblick sprang mich Marquet an. Ich taumelte einige Schritte vorwärts und Tilda Mar quet stach zu, doch ich konnte dem Stich noch einmal ausweichen. Ich schüttelte Marquet ab, verlor dabei das Gleichgewicht, bekam einen Stoß in den Rücken und flog mitten ins Vorzimmer. Noch im mer zögerte ich, die Pistole zu gebrauchen. Die beiden standen unter der Kontrolle von Dämonen, und ich hatte wenig Lust, zwei unter Umständen völlig unschuldige Menschen zu töten. Die beiden gingen erneut auf mich los. Ich war neben dem Base ballschläger liegengeblieben und konnte Tildas Angriff mit dem Schläger abwehren. Da versuchte mich Marquet zu packen. Wieder schlug ich zu. Ich hörte das Krachen der Fingerknochen und warf
einen Blick in sein Gesicht. Seine Nase war zerschmettert, Blut tropf te auf seine Brust. Endlich gelang es mir aufzustehen. Ich trat zwei Schritte zurück, wartete kurz und sprang dann vor. Der Schläger krachte gegen Tildas Stirn. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und brach ohn mächtig zusammen. Blitzschnell wirbelte ich herum und schlug auch auf Marquet ein. Ich traf ihn hinter dem rechten Ohr, doch er wurde nicht bewußtlos. Ich mußte nochmals zuschlagen. Er bäumte sich ein letztes Mal auf. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Mit beiden Händen griff er sich an den Kopf, dann sackte er langsam in sich zusammen. Schwer atmend blieb ich vor dem Ohnmächtigen stehen. Als ich mich etwas erholt hatte, riß ich eine dicke Vorhangschnur ab und fesselte den beiden die Hände auf den Rücken. Dann holte ich aus der Küche einen Kübel Wasser, den ich einfach über Tilda Marquets Kopf ausleerte. Sie bewegte sich leicht. Ich holte noch einen Kübel, doch da schlug sie die Augen bereits auf und starrte mich an. Sie wollte sich aufrichten, war aber zu kraftlos. »Was ist los?« fragte sie verständnislos. »Oh, mein Kopf!« Eine große Beule zierte ihre Stirn, die sich langsam verfärbte. »Sind Sie jetzt vernünftig?« fragte ich. »Vernünftig? Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Wieso bin ich gefesselt?« »Sie haben mich mit einem Dolch bedroht«, erklärte ich. »Ich muß te Sie betäuben.« Tilda schüttelte den Kopf. »Unsinn! Ich bin noch nie mit einem Dolch …« Ihr Blick fiel auf die Waffe, die unweit von ihr auf dem Boden lag. »Lösen Sie meine Fesseln!« »Nein«, sagte ich entschieden. »Ich habe keine Lust abzuwarten, bis Sie wieder auf mich losgehen. Beantworten Sie mir erst einige Fragen!« Ihr Mann bewegte sich leicht, stöhnte laut auf und wälzte sich auf
den Rücken. »Weshalb sind Sie auf mich losgegangen?« »Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte sie schwach. »Wir legten uns zeitig nieder. Ich bin sehr schnell eingeschlafen. Und jetzt liege ich gefesselt in meiner Diele. Ich kann mir das alles nicht erklären und glaube auch nicht, daß ich Sie mit einem Dolch bedroht habe. Wahrscheinlich wollten Sie bei uns einbrechen. Sie haben uns nie dergeschlagen und gefesselt. Doch damit kommen Sie nicht durch.« »Glauben Sie, was Sie wollen«, sagte ich ungehalten. »Kennen Sie Frederic de Buer?« »Nein. Diesen Namen höre ich zum ersten Mal.« »Vielleicht kennen Sie ihn unter einem anderen Namen. Ich werde Ihnen den Mann beschreiben. Er ist klein, und sein Gesicht ist aufge dunsen. Er hat eine Halbglatze, nur einen schütteren Kranz blonder Haare. Seine Stimme klingt krächzend. Kennen Sie einen Mann, auf den diese Beschreibung zutrifft?« »Ja«, sagte sie. »Er war vor drei Wochen mit Gilbert Sanson bei ei ner Seance.« »Und wie nannte er sich?« Ich beugte mich interessiert vor. »Er hat sich nicht vorgestellt, und wir fragen prinzipiell nicht nach Namen.« »Haben Sie ihn danach noch einmal gesehen?« »Ja, auf der Straße. Aber er beachtete mich nicht.« »Wo war das? Versuchen Sie sich zu erinnern. Es ist wichtig.« »Es war in der Rue Moret. Er trat aus einem Haus.« »Welche Hausnummer?« »Keine Ahnung. Es ist ein altes Haus. Wirkt völlig zerfallen und unbewohnt. Die anderen Häuser dort sind alle gepflegt. Das Haus paßt gar nicht in die Straße. Lassen Sie mich endlich frei. Ich beant worte Ihnen sonst keine Fragen mehr.« Ich griff nach dem Dolch und schnitt die Schnur durch. Sie stand
auf und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, dann kniete sie neben ihrem Mann nieder. »Was haben Sie mit ihm getan?« fragte sie ängstlich. »Er ging mit diesem Baseballschläger auf mich los. Ich mußte ihn niederschlagen.« Marquet stöhnte. Ich konnte mir vorstellen, daß ihm seine gebro chene Nase ziemliche Schmerzen verursachte. Tilda Marquet holte einen Schwamm und ein Handtuch und wusch das Gesicht ihres Mannes. Er setzte sich schließlich auf, und ich löste auch seine Fes seln, hielt aber noch immer den Baseballschläger umklammert. Ich wollte kein Risiko eingehen. Die beiden konnten sich von einem Au genblick zum anderen wieder in Wahnsinnige verwandeln. »Waren Sie mit Gilbert Sanson befreundet?« »Nein«, sagte sie. »Wir kannten ihn nur sehr flüchtig. Er kam ein mal im Monat zu einer Seance. Sonst hatten wir keinen Kontakt mit ihm.« »Nun zu Ihnen, Marquet.« Er blickte mich böse an. »Kannten Sie den Mann, der vor drei Wochen mit Gilbert Sanson bei Ihnen war?« »Nein«, sagte Marquet. »Lassen Sie uns in Frieden! Verschwinden Sie endlich! Was haben Sie überhaupt hier zu suchen? Ich werde die Polizei …« »Halten Sie den Mund! Sehen Sie mal in Ihren Keller. Dort werden Sie Raymond Pellegrin finden. Und die Polizei wird sehr daran in teressiert sein, was heute bei Ihnen geschah.« »Der Kopflose ist im Keller?« fragte Tilda überrascht. Ich nickte. »Ja. Ich habe ihn verfolgt. Er lief in den Keller, und des halb kam ich nochmals zurück. Ich fand den Toten und wollte zu Ih nen in die Wohnung gehen. Es war dunkel. Da wurde ich plötzlich von ihnen angegriffen. Ihr Mann ging mit einem Baseballschläger auf mich los und Sie mit einem Dolch. Es hatte aber den Anschein,
als wären Sie hypnotisiert. Können Sie sich an nichts erinnern?« Marquet schüttelte den Kopf. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Ma chen Sie endlich, daß Sie verschwinden! Ich werde später in den Keller gehen.« »Tun Sie das«, sagte ich und warf den Baseballschläger zu Boden. »Und überlegen Sie es sich gut, ob Sie die Polizei verständigen.« Ich warf einen raschen Blick in den hohen Spiegel neben der Ein gangstür. Mein Äußeres war etwas ramponiert, mein Gesicht schmutzig und meine Jacke zerrissen. Ich wischte mir übers Gesicht und steckte die Pistole ein. Als ich ging, warfen mir die beiden böse Blicke nach. Ich verließ das Haus, betrat das erste Restaurant, an dem ich vor beikam, ging sofort auf die Toilette und wusch mein Gesicht. Dann klopfte ich die Jacke aus, kehrte ins Restaurant zurück, bestellte ein Bier und bat um einen Stadtplan. Zwei Minuten später hatte ich das Gewünschte. Ich breitete den Stadtplan auf dem Tisch aus, steckte mir eine Zigarette an und trank einen Schluck. Nach kurzem Suchen fand ich die Rue Servan. Der Gang war nach links verlaufen und etwa fünfhundert Meter lang gewesen. Mit dem Finger maß ich auf dem Plan die Entfernung ab und hielt den Atem an. In etwa fünf hundert Meter Entfernung befand sich die Rue Moret, in der Tilda Marquet den Mann gesehen hatte, der möglicherweise Frederic de Buer war. Ich drückte die Zigarette aus und schloß die Augen. Irgend etwas hatte ich übersehen. Mir war etwas aufgefallen, doch ich konnte mich nicht erinnern, was es gewesen war. Angestrengt überlegte ich. Rue Moret. Irgendwann hatte ich in letzter Zeit diesen Straßenna men schon gelesen. Und plötzlich wußte ich es. Ich griff in die Rock tasche, holte die Visitenkarten hervor, die ich dem Kopflosen abge nommen hatte, und blätterte sie rasch durch. Da war sie! Lucien Ber val, Rue Moret 14. Ich starrte die Karte an. Verbarg sich hinter diesem Namen Frede ric de Buer?
Ich zahlte und steckte die Visitenkarte wieder ein. Zwei Minuten später überquerte ich die Avenue de la Republique. Zehn Minuten später hatte ich die Rue Moret erreicht. Vor dem Haus Nummer 14 blieb ich stehen. Tilda Marquet hatte recht gehabt, dieses Haus paßte überhaupt nicht in die Straße. Es war zweistöckig und wirkte baufällig. Alle Fenster waren dunkel. Sekundenlang spielte ich mit dem Gedanken, dem Haus einen Be such abzustatten, doch ich verwarf diese Idee. Sollte sich tatsächlich hinter Lucien Berval mein Bruder verstecken, dann mußte ich besser ausgerüstet sein. Ich fühlte mich müde und einfach nicht in der rich tigen Verfassung, de Buer entgegenzutreten. In der Rue Oberkampf stieg ich in ein Taxi und fuhr in mein Hotel. Ich wollte kein Risiko eingehen und sicherte den Raum durch einige magische Kreise ab. Dann duschte ich kurz und ließ mich mit Mel villes Privatnummer verbinden. Niemand meldete sich. Ich rauchte eine Zigarette und mußte plötzlich grinsen. Wahrscheinlich war Melville mit Sybill noch irgendwo hingegangen. Ich drückte die Zigarette aus und kroch ins Bett. Wenige Minuten später war ich eingeschlafen.
Melville fühlte sich schwerelos. Er war noch immer gelähmt, doch er machte sich keine Sorgen deswegen. Er fühlte sich so wohl wie nie zuvor in seinem Leben. Aber sein Hochgefühl hielt nicht lange an. Plötzlich glaubte er, ersticken zu müssen. Verzweifelt kämpfte er ge gen die Lähmung an. Dann bekam er plötzlich wieder Luft, doch seine Gedanken schienen in einem Irrgarten gefangen zu sein. Die Fahrt konnte Minuten, aber auch Stunden gedauert haben. Un deutlich waren Stimmen zu hören, die wie durch ein Tuch gefiltert an sein Ohr drangen. Er hörte scheinbar sinnlose Worte, die Halluzi nationen auslösten. Sein Hirn wurde zu einem riesigen Käfig, in dem sich seltsame Monster bekämpften. Lange Finger griffen nach ihm. Die Bilder wechselten immer rascher, wurden immer unheimli
cher. Überall war Blut. Kopflose Männer und Frauen tanzten um ihn herum und warfen sich seinen Schädel zu. Dann verblaßten die Bil der langsam, und Melville konnte sich wieder bewegen. Es war warm und roch nach Karbol. Er hob den Kopf und blickte sich um. Er lag auf einer Pritsche. Eine Decke war über seinen Körper gewor fen worden. Er setzte sich auf. Seine Bewegungen waren unsicher. Behutsam zog er die Arme unter der Decke hervor. Die Hände zitterten unkon trolliert. Er schlug die Decke zur Seite, stellte die nackten Füße auf den kalten Steinboden und blickte an sich herab. Er war völlig nackt. Mühsam richtete er sich auf, ließ sich aber sofort wieder auf die Prit sche fallen. Alles um ihn herum schien sich zu bewegen. Er legte sich zurück und wartete, bis sich die Kreise vor den Augen aufgelöst hatten. Dann wandte er den Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf eine zweite Pritsche. Er sah seidiges, blondes Haar, das unter der Woll decke hervorlugte. Allmählich kehrte seine Erinnerung zurück. Der Wald, die beiden Männer, der Bolzen in seiner Wange, die Läh mung. Er streckte die rechte Hand aus, berührte das blonde Haar, schob es zur Seite und blickte in Sybill Ferrands schlafendes Gesicht. Ihre Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern. Ihr Mund stand weit offen, und sie atmete schwer. »Sybill«, sagte er leise. »Sybill!« Das Mädchen schlief fest. Melville blickte zur Decke empor. Sie war weiß und hatte Risse, die wie ein gewaltiges Spinnennetz aussa hen. Nach einigen Minuten fühlte er sich kräftig genug, nochmals auf zustehen. Der Raum war winzig und bis auf die beiden Pritschen völlig leer; nur über der Eisentür brannte eine kleine rote Lampe, die den Raum in unheimliches Licht tauchte. Er wankte zur Tür und griff nach der Klinke. Die Tür war versperrt. Er torkelte zurück und setzte sich. »Sybill«, sagte er wieder.
Sie bewegte sich jetzt leicht. Ihr Atem war flacher geworden. Er blieb zusammengesunken sitzen und starrte das Mädchen an. Nach einiger Zeit wälzte sie sich auf den Rücken und schlug die Au gen auf. »Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte er. »Es dauert einige Zeit, bis Sie sich wieder besser fühlen.« Sie drehte ihm den Kopf zu. Ihre Augen waren glanzlos. »Wo sind wir?« Jedes Wort schien ihr Mühe zu bereiten. »Keine Ahnung. Es riecht nach Krankenhaus.« »Sie sind nackt, Armand«, stellte Sybill fest. Sie schob ihre Decke etwas zur Seite. Ihre hübschen nackten Brüste kamen zum Vor schein. »Ich bin auch nackt!« Sie deckte sich wieder zu. »Schlagen Sie mal mit den Fäusten gegen die Tür, Armand!« »Ich weiß nicht, ob das sehr sinnvoll ist.« »Das ist mir gleichgültig«, sagte sie ungehalten. »Ich möchte wis sen, wo wir uns befinden und was die Leute mit uns vorhaben.« Er stand auf und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Die Schlä ge klangen seltsam dumpf. Nach einer Minute fühlte er sich völlig erschöpft. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt. Er kroch wieder unter die Decke und drehte sich zur Seite. »Sie müssen uns gehört haben«, sagte Sybill. »Das sollte man annehmen. Wie fühlen Sie sich?« »Schwach. Unendlich schwach. Eigentlich will ich nur schlafen.« Beide zuckten zusammen, als die Tür aufschwang. Zwei breitschultrige Männer in weißen Mänteln betraten den Raum. Ihnen folgte ein kleiner Mann, der einen Arztkittel anhatte. Er war abgrundtief häßlich. Der Schädel war bis auf einen schmalen Kranz aschblonder Haare kahl. Melville setzte sich auf. »Bleiben Sie liegen!« befahl der Kahlköpfige. Seine Stimme war unangenehm knarrend.
»Wer sind Sie?« fragte Melville. »Das ist für Sie völlig uninteressant.« »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, sagte Melville. »Wo sind wir?« Der Kahlköpfige lächelte spöttisch. »Sie fragen zuviel, Melville. Aber das bringt wohl Ihr Beruf mit sich. Sie sind von Natur aus neu gierig. Ich verfolge seit einiger Zeit Ihre Artikel im France Soir mit Interesse. Sie sind ein tüchtiger Journalist. Es ist nur bedauerlich für Sie, daß Sie Ihre Nase in Dinge stecken, die Sie nichts angehen.« »Was haben Sie mit uns vor?« fragte Sybill Ferrand ängstlich. »Eine gute Frage, mein Fräulein«, sagte der kleine Mann. »Eine Frage, die ich aber selbst noch nicht beantworten kann. Ich bin mir nämlich noch nicht klargeworden, was ich mit Ihnen machen soll. Ich führe gerade einige Experimente durch. Vielleicht habe ich da für Sie Verwendung.« »Sie müssen übergeschnappt sein«, keuchte Melville wütend. »Ich verlange, daß Sie uns sofort freilassen, andernfalls …« »Halten Sie den Mund, Melville! Sie erreichen überhaupt nichts, wenn Sie mich beleidigen. Außerdem wissen Sie zuviel.« »Stecken Sie hinter den Morden?« »Ja und nein«, sagte der Kahlköpfige. »Ich kann mir vorstellen, wie brennend gern Sie etwas Näheres erfahren würden, aber diesen Gefallen tue ich Ihnen nicht. Sie werden sterben, Melville, das steht fest. Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie ich Sie töten soll.« »Sie sind verrückt!« schrie Melville und richtete sich auf. Einer der Wärter packte ihn und drückte ihn zurück auf die Pritsche. »Ich bin nicht verrückt«, sagte der kleine Mann. »Vielleicht werde ich Ihnen kurz vor Ihrem Tod die Wahrheit sagen. Ihnen werden die Augen übergehen. Sie und Sybill Ferrand sind eigentlich keine ernsthafte Gefahr für mich gewesen. Ihr Freund, Peter Garner, ist als Gegner wesentlich höher einzuschätzen. Ich bin sicher, daß er ziem lich genau Bescheid weiß. Aber das wird ihm auch nichts helfen. Ich
werde ihn so wie Sie ausschalten.« Er zog eine Spritze aus der Rocktasche, füllte sie und blieb neben Melville stehen, der sich heftig wehrte und die Wärter abzuschütteln versuchte. Trotz wütendster Gegenwehr bekam er die Spritze ver paßt, und seine Bewegungen wurden immer langsamer. Dann wandte sich der kleine Mann Sybill Ferrand zu. »Eigentlich sind Sie viel zu hübsch, um schon zu sterben. Vielleicht fällt mir et was anderes ein. Ich werde mir alles noch mal durch den Kopf ge hen lassen.« Er stieß ihr die Nadel in die Armbeuge. Sekunden später schlief sie friedlich.
Ich hatte noch zweimal versucht, Melville in seiner Wohnung zu er reichen. Schließlich rief ich in der Redaktion an. Auch dort hatte er sich noch nicht gemeldet. Langsam machte ich mir Sorgen um Sybill und ihn. Ohne rechten Appetit aß ich einige Hörnchen mit Butter und trank zwei Tassen Kaffee. In der Schweiz hatte ich nach längerem Suchen alle Utensilien be kommen, die ich im Kampf gegen Frederic de Buer einsetzen wollte. Ich gab mich keinen Illusionen hin. Er war eindeutig der Stärkere. In einer direkten Konfrontation mit ihm würde ich unterliegen. Aber ich hatte noch einige Asse im Ärmel, die meinen Bruder das Leben kosten konnten. Ich sicherte das Zimmer nochmals ab, indem ich überall magische Kreise und Formeln hinmalte. Dann traf ich meine Vorbereitungen. Sie nahmen mich fast eine Stunde in Anspruch. Als ich damit fertig war, rief ich nochmals bei Melville zu Hause und in der Redaktion an. Er hatte sich noch immer nicht gemeldet. Meine Vermutung, ihm könnte etwas zugestoßen sein, verstärkte sich. Ich hatte einen Leihwagen bestellt. Einige Minuten nach elf Uhr verließ ich das Hotel, klemmte mich hinter das Steuer des smaragd
grünen Simca und fuhr los. Ich war sicher, daß ich beobachtet wur de. Eigentlich hätte ich überhaupt nichts zu unternehmen brauchen. Für mich stand fest, daß mich mein Bruder ausschalten wollte. Ich hoffte nur, daß er noch nicht herausbekommen hatte, daß ich in Wirklichkeit Dorian Hunter war. Nach einigem Suchen fand ich endlich einen Parkplatz in der Rue Moret. Ich zündete mir eine Zigarette an, wartete und stieg schließ lich aus. Der Himmel war verhangen, und es nieselte leicht. Ich sperrte den Wagen ab und steckte den Schlüssel ein. Dann ging ich die Straße entlang, bis ich das Haus Nummer 14 erreicht hatte. Bei Tageslicht wirkte es noch abscheulicher. Ich öffnete die Haustür. Wie erwartet knarrte sie entsetzlich. Ich mußte fünf Stufen hochstei gen, um ins Erdgeschoß zu gelangen. Eine Wendeltreppe führte weiter nach oben. Ich sah mich kurz um. Neben der Treppe hing eine Tafel, auf der die Mieter verzeichnet waren. Lucien Berval wohnte im zweiten Stock. Nach kurzem Suchen hatte ich die Tür des Hauswarts gefun den. Ich klopfte. Schlurfende Schritte näherten sich, und die Tür wurde geöffnet. »Guten Tag«, sagte ich freundlich und musterte den alten Mann, der in der Tür stand. Sein Gesicht war faltig, und eine altmodische Nickelbrille saß auf seiner Nasenspitze. »Ja, mein Herr?« »Ich hätte gern eine Auskunft«, sagte ich, setzte ein gewinnendes Lächeln auf und fuchtelte mit einem Fünfzig-Franc-Schein vor der Nase des Alten herum. Sein Blick folgte wie gebannt meinen Bewe gungen. »Ist Lucien Berval zu Hause?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte der Alte. »Er kommt nur selten hier her.« »Damit wir uns richtig verstehen«, sagte ich. »Berval ist klein, hat eine Halbglatze und eine krächzende Stimme.«
»Ja, das ist Berval.« »Fein«, sagte ich. »Seit wann wohnt er hier?« »Seit etwa einem halben Jahr. Er ist Arzt. Er wohnt eigentlich nicht hier. Er hat ein Privatsanatorium außerhalb von Paris.« »Das ist ja interessant«, sagte ich. »Woher wissen Sie das?« »Zufällig«, sagte er. »Mein Neffe wohnt in Sartrouville. Er besucht mich jede Woche einmal. Und vor vier Wochen begegnete er Dr. Berval. Er sagte mir, daß Dr. Berval der Leiter eines Sanatoriums in Sartrouville sei.« Das genügte mir vorerst. Ich gab dem Alten den Geldschein. »Bes ten Dank. Sie haben mir sehr geholfen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Dr. Berval gegenüber keine Erwähnung von meinem Be such machen würden.« »Versteht sich«, sagte er und barg die Banknote wie einen kostba ren Schatz an seiner Brust. Ich trat wieder auf die Straße und blieb stehen. Der Alte war für meinen Geschmack zu gesprächig gewesen. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß er von de Buer beeinflußt worden war. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Von einer Telefonzelle aus versuchte ich wieder Melville zu errei chen. Er hatte sich noch immer nicht in der Redaktion gemeldet. Ich kaufte mir einige Zeitungen und überflog die Überschriften. Die Po lizei war keinen Schritt weitergekommen, aber es waren auch keine neuen Opfer gefunden worden. Marquet hatte es anscheinend vor gezogen, die Polizei doch nicht zu verständigen. Ich ging einige Minuten spazieren und versuchte, Ordnung in meine wirren Gedanken zu bringen. Mit ziemlicher Sicherheit konn te ich annehmen, daß Frederic de Buer und Lucien Berval ein und dieselbe Person waren. Seit etwa einem halben Jahr hatte de Buer die Wohnung in der Rue Moret. Und von diesem Haus führte ein Geheimgang zu Marquets Haus. Gilbert Sanson hatte Kontakt mit de Buer aufgenommen. Wahr
scheinlich hatte Sanson seinen Freund Raymond Pellegrin darüber informiert und ihm auch Lucien Bervals Karte gegeben. Sanson hat te seinen Urahnen, den früheren Henker von Paris, anrufen wollen. Hatte er damit Erfolg gehabt? Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. Gilbert Sanson war eines der ersten Opfer gewesen. Ray Pellegrin hatte wahrscheinlich sterben müssen, weil er von de Buer gewußt hatte. Aber die Morde ergaben für mich keinen Sinn. Ich hatte zwar de Buer gesehen, wie er Ray Pellegrins Blut geschlürft hatte, aber ich war ziemlich sicher, daß er die Morde nicht selbst begangen hatte. Wer steckte dann dahinter? Eigentlich gingen mich die Morde gar nichts an. Ich wollte nur de Buer töten. Dennoch kehrten meine Gedanken immer wieder zu der Mordserie zurück. De Buer war ein Vampir, aber er hatte ganz ande re Möglichkeiten, an Blut zu kommen. Er mußte deshalb nicht seine Opfer töten. So sehr ich auch hin und her überlegte, ich kam zu kei nem Schluß. Es regnete stärker, und ich stieg wieder in den Simca. Melvilles Verschwinden beunruhigte mich doch mehr, als ich zu geben wollte. Ich beschloß, die Straße nach Versailles zu inspizieren. Später wollte ich dann nach Sartrouville fahren und das Sanatorium suchen. Ich verfuhr mich einige Male, doch nach einer halben Stunde hatte ich die Rue de Versailles gefunden. Der Regen prasselte ungestüm gegen die Scheiben. Ich fuhr langsam. Nach einigen Minuten Fahrt mußte ich die Scheinwerfer einschalten. Ich konnte kaum etwas se hen; die Scheibenwischer kamen nicht nach. Der Boden dampfte, und weiße Schwaden zogen über die Straße. Fast hätte ich Melvilles Peugeot übersehen. Ich bremste ab und blieb einige Meter vor dem Wagen stehen. Mehr als zehn Minuten lang wartete ich, bis der Regen etwas schwächer wurde, dann erst stieg ich aus. Ich ging zu Melvilles Wagen. Er war abgeschlossen. Ich bückte mich und blickte ins Wageninnere, doch mir fiel nichts
Ungewöhnliches auf. Rasch überquerte ich die Straße und warf der zersplitterten Leit planke einen flüchtigen Blick zu. Das mußte die Stelle sein, an der Pierre Gormat verunglückt war. Vorsichtig stieg ich die Böschung hinunter. Ich machte mir heftige Vorwürfe, daß ich Melville nicht entschiedener auf die Gefahren hingewiesen hatte. Es war nur ein schwacher Trost, daß er meine Warnung sowieso nicht beherzigt hätte. Der Regen hatte nun ganz aufgehört, und die Sonne kam schüch tern hinter den Wolken hervor. Irgendwelche eventuellen Spuren hatte der heftige Regen vernichtet. Mißmutig stapfte ich zwischen den triefenden Tannen hin und her. Ich hatte wenig Hoffnung, daß Armand und Sybill noch am Leben waren. Jeden Augenblick erwar tete ich, ihre kopflosen Leichen zu entdecken. Doch ich fand nichts, und nach einer Stunde gab ich die Suche auf. Meine Laune hatte den Nullpunkt erreicht, als ich weiterfuhr. Ich ließ Versailles hinter mir und bog in die N 184 ein, die zu dieser Zeit wenig befahren war. Zwanzig Minuten später kam ich in St. Ger main an. Vor einem Restaurant stellte ich den Wagen ab. Der Him mel war nun wolkenlos und von einem dunklen Blau. Es war schwül. Ich setzte mich in den Restaurantgarten, breitete die Land karte vor mir aus und bestellte eine Zwiebelsuppe und ein Glas Bier. Die Suppe belebte meine Lebensgeister etwas, obwohl sie nicht be sonders gut schmeckte. Ich trank noch ein Bier und studierte die Landkarte. Sartrouville lag nur wenige Kilometer entfernt. Ich ging noch einmal alle Fakten durch. De Buer war einer jener Vampire, die das Sonnenlicht nicht besonders gut vertrugen. Er konnte zwar einige Stunden bei Tageslicht herumgehen, doch es schwächte ihn stark. Er war ein Vampir der alten Schule, aber mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Ich wunderte mich, daß er noch nichts unternommen hatte, um mich in seine Gewalt zu be kommen. Aber wahrscheinlich war er seiner Sache zu sicher. Er wußte inzwischen wahrscheinlich, daß ich sein Inkognito gelüftet
hatte. Im Augenblick fühlte ich mich nicht beobachtet. Ich trank noch einen Kaffee und blieb ruhig sitzen. Nichts geschah. Mir sollte es nur recht sein. Es war immer gut, wenn der Gegner einen unter schätzte. Ich war auf alles, auch auf das Schlimmste gefaßt, doch ich schätzte meine Chancen recht gut ein. Schließlich zahlte ich und ging mehr als zwei Stunden lang durch St. Germain spazieren. Mit Beginn der Dämmerung kehrte ich zu meinem Wagen zurück. Als ich Sartrouville erreichte, war der Himmel blutrot. Ich fragte nach dem Sanatorium, und der Weg wurde mir bereitwillig erklärt. Ich dankte und fuhr langsam weiter. Das Sanatorium lag am Ende des Ortes. Eine gut ausgebaute Straße führte direkt hin. Das alte Haus war von der Straße aus kaum zu sehen. Eine mannshohe Steinmauer, die mit Efeu bewachsen war, säumte das Areal ein. Ich steckte mir eine Zigarette an und wartete. Die Strahlen der unterge henden Sonne tauchten die Landschaft in blutrotes Licht. Ich stieg aus, warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus. Plötz lich wurde ich nervös. Ich hatte mich auf meinen Kampf gegen de Buer gut vorbereitet, aber es gab zu viele Unsicherheitsfaktoren, die ich nicht berechnen konnte. Ich schloß die Augen, entspannte mich und wurde langsam wieder ruhig. Schlendernden Schrittes näherte ich mich dem Sanatorium. In die Steinmauer war ein hohes Eisentor eingelassen, neben dem sich ein Pförtnerhaus befand. Ich blieb im Schatten einiger Eichen stehen und beobachtete das Tor. Im Pförtnerhaus flammte ein Licht auf. Dann wurde das Tor geöff net, und zwei hünenhafte Männer traten heraus. Sie kamen auf mich zu, und ich zog mich einige Schritte zurück. Es war nun zu dunkel geworden, um Einzelheiten erkennen zu können. Die beiden Gestal ten waren schemenhafte Schatten. Ich war sicher, daß sie ausge schickt worden waren, mich zu fangen. Wahrscheinlich hatte de Buer die Geduld verloren, darauf zu warten, daß ich etwas unter nahm.
Ich preßte mich hinter einen Baumstamm und sagte scharf: »Blei ben Sie stehen!« Die beiden Gestalten gingen ruhig weiter. Sie waren nur noch zehn Meter entfernt. Beide hielten große Pistolen in der rechten Hand. Ich hatte wenig Lust, mich mit den Kerlen auf einen Kampf einzu lassen, rannte ein Stück zurück und wandte mich dann nach rechts. Die schweren Schritte meiner Verfolger waren überlaut zu hören. Ich entfernte mich weiter vom Sanatorium, aber es gelang mir nicht, die Männer abzuschütteln. Im Gegenteil, sie kamen immer näher. Ich rannte einen schmalen Feldweg entlang, hechtete eine Böschung hinauf und erreichte die Straße, die zum Sanatorium führte. Das Tor stand noch immer offen. Ich durchschritt es, blieb keuchend stehen, dann schlug ich es hinter mir zu und drehte den Schlüssel herum. Ein kleiner Mann trat aus dem Pförtnerhaus. Bevor er noch etwas sagen konnte, stand ich neben ihm und schlug mit meiner rechten Handkante gegen seine Halsschlagader. Er brach bewußtlos zusam men. Bis zum Haus waren es etwa hundert Meter. Einige Fenster waren erhellt. Ohne zu zögern rannte ich über den betonierten Hof zum Haus und riß die Tür auf. Eine junge Krankenschwester kam mir entgegen. Ihr Gesicht glich einer Maske. Ihre Augen waren starr. Sie stand unter dem Einfluß eines Dämons. Ich packte sie um die Hüf ten und riß sie an mich. Sie wollte sich befreien, doch ihre Gegen wehr war zu schwach. Ich riß die nächste Tür auf und hatte Glück. Das Zimmer war leer. Ich zerrte die Krankenschwester hinein, warf sie auf das leere Bett und schlug die Tür zu. Die Frau wollte sich aufrichten, doch da war ich schon neben ihr. Ich holte mein Amulett hervor und hielt es ihr vors Gesicht. Ihre Augen wurden groß; sie konnte den Blick nicht von der Silberscheibe mit den seltsamen Mo tiven abwenden. »Wer sind Sie?« »Schwester Nancy«, sagte sie stockend. Ihr Gesicht war bleich,
Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. »Ist Lucien Berval im Haus?« »Ja.« »Wo finde ich ihn?« »Im ersten Stock.« Sie verfiel zusehends. Lange würde sie den An blick des Amuletts nicht mehr ertragen. »Im Operationssaal.« »Was tut er dort?« »Er hat ein Mädchen bei sich«, sagte sie fast unhörbar. »Sybill Fer rand.« Ihr Gesicht war jetzt grau, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Ich atmete auf. Sybill Ferrand lebte noch. Dann gab es vielleicht doch noch eine Chance, sie und Armand Melville zu retten. »Wissen Sie, ob sich Armand Melville hier befindet?« »Ja. Zimmer 21.« »Wo ist dieses Zimmer?« »Neben dem Operationssaal.« Ich zog das Amulett zurück und steckte es ein. Schwester Nancy saß reglos wie eine Statue auf dem Bett. Es wür de einige Tage dauern, bis sie sich erholt hatte. Ich kannte die Wir kung meines Amuletts auf Menschen, die von einem Dämon be herrscht wurden. Ich stürmte auf den Gang hinaus und zu der Treppe, die in den ersten Stock führte. Als ich oben ankam, war kein Mensch zu sehen. Ich kam am Operationssaal vorbei. Eine rote Lampe leuchtete über der Tür. Nicht eintreten, stand auf einer Tafel. Ich ging den Gang ent lang und fand Zimmer 21. Die Tür war unversperrt. Ich trat ein, zog die Tür leise hinter mir zu, knipste das Licht an und kam näher. Es stand nur ein Bett im Zimmer. Armand Melville lag auf dem Rücken und schlief. Ich setzte mich auf das Bett und rüttelte ihn. Er bewegte sich nicht. Ich rüttelte ihn stärker. »Melville!« zischte ich. »Wachen Sie auf!«
Ich beugte mich vor und sah ihn genauer an. Er atmete sehr schwach. Seine Wangen waren eingefallen und mit schwarzen Bart stoppeln bedeckt. Ich mußte ihn aufwecken. Er konnte mir vielleicht helfen. Aber ich hatte nicht viel Zeit. Sicherlich war de Buer schon über die Vorgänge und mein Eindringen unterrichtet worden. Mel ville stand entweder unter dem Einfluß eines starken Schlafmittels, oder de Buer hatte ihn mit Schwarzer Magie betäubt. Wieder einmal mußte ich mein Amulett hervorholen. Melville krümmte sich zusammen. Meine Vermutung war also richtig gewe sen. De Buer hatte ihn verhext. Ich zog die Decke zur Seite, hob Mel ville aus dem Bett, legte ihn auf den Fußboden. Dann kreuzte ich die Arme vor der Brust und flüsterte mit geschlossenen Augen einige Zaubersprüche. Als ich die Augen wieder öffnete, bewegte er sich leicht. »Aufstehen!« sagte ich ungeduldig. Er hob den Kopf und schlug die Augen auf. Sein Blick war starr. Ich versetzte ihm einen Stoß. »Nicht!« sagte er. »Lassen Sie mich in Ruhe!« »Stehen Sie endlich auf, Melville!« Ich riß ihn hoch. »Ich will nicht«, maulte er wie ein trotziges Kind. »Wir haben nicht viel Zeit. Reißen Sie sich zusammen!« »Ich kann nicht, Garner. Ich bin zu schwach.« Ich schleppte ihn zum Waschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt seinen Kopf darunter. »Besser?« Er nickte keuchend. »Wie kommen Sie hierher?« »Das erzähle ich Ihnen später, Melville. Sybill ist in Gefahr. Kom men Sie mit!« Ich öffnete die Tür und trat in den Gang hinaus. Noch immer war niemand zu sehen. Irgendwo wurde eine Tür zugeschlagen. Ich hör te schwere Schritte, die über die Treppe polterten. Ich zog mich zu rück, schloß die Tür und preßte den Kopf dagegen. Die Schritte wa ren überlaut zu hören. Sie kamen immer näher. Ich zog die Pistole
hervor, die ich Ray Pellegrin abgenommen hatte. Die Tür wurde ge öffnet, und ein unheimliches Geschöpf trat ein. Es war bis auf kurze Shorts nackt. Der Schädel war gedrungen und wollte nicht zu dem riesigen Körper passen. »Das kann es nicht geben«, keuchte Melville hinter mir. Das unheimliche Geschöpf hatte vier Arme von unterschiedlicher Länge. Es kam näher. Ich hob die Pistole, zielte und drückte ab. Die Kugel drang in die Brust des Ungeheuers. Unbeirrt schritt es weiter. Ich schoß mehrmals. Nicht ein Tropfen Blut quoll aus den Wunden. Ich steckte die Pistole wieder ein; sie half mir nichts. »Wir sind verloren«, schrie Melville entsetzt, als das Monster nach uns griff. Ich sprang zur Seite und verschanzte mich hinter dem Bett. Mel ville folgte meinem Beispiel. Das Bett konnte unsere Rettung sein. Ich packte das Kopfende und rammte das Fußende in den Bauch des Monstrums. Es taumelte zurück. Sofort setzte ich nach. Melville half mir, und gemeinsam konnten wir das vierarmige Scheusal gegen die Wand drücken. Es schlug verzweifelt mit den Armen um sich. »Hinaus auf den Gang mit Ihnen, Melville!« keuchte ich. Er ließ das Bett los und torkelte zur Tür hinaus. Das Monster drückte gegen das Bett. Es war klar, wer in diesem Kampf Sieger bleiben würde. Das Ungetüm verfügte über unglaubliche Kräfte und drängte mich langsam zurück. Ich stemmte mich nochmals mit vol ler Kraft gegen das Kopfende des Bettes und ließ dann plötzlich los. Das Bett sauste durch das Zimmer und krachte gegen die gegen überliegende Wand. Das Monster wurde mitgezerrt. Es hatte sich am Fußende festgeklammert und stürzte nun zu Boden. Ich sprang aus dem Zimmer, schlug die Tür zu und schob den Rie gel vor. Wahrscheinlich würde die Tür nicht lange standhalten. »Zum Operationssaal!« keuchte ich und zerrte Melville mit. Meine Schüsse schienen nicht gehört worden zu sein. Ich wunder te mich, daß niemand zu sehen war. Vor der Tür zum Operations
saal blieb ich stehen. Sie war versperrt. Hinter uns schlug das vierar mige Monster gegen die Tür.
Sybill Ferrand war auf einem fahrbaren Operationstisch festge schnallt. Ihre Arme und Beine steckten in Lederschlaufen, die fest angezogen waren. Den Kopf konnte sie bewegen. Sie blickte sich entsetzt im Raum um. Die rechte Längsseite wurde von hohen Schränken eingenommen, in denen unzählige Fläschchen standen. Vor der gegenüberliegenden Wand standen seltsam geformte Appa rate und ein Instrumentenschrank. Über ihr hing eine Operations leuchte, die aber nicht eingeschaltet war. Sybill war erst vor wenigen Minuten aus ihrer Ohnmacht erwacht. Ihre letzte Erinnerung war der kahlköpfige Mann, der ihr eine Sprit ze gegeben hatte. Ihr war kalt, und als sie an sich herunter blickte, stellte sie fest, daß sie völlig nackt war. Langsam kehrte ihre Erinne rung zurück. Der unheimliche Mann hatte von Experimenten ge sprochen und davon, daß er Melville töten würde. Eine Tür wurde geöffnet, und Sybill hob den Kopf. Der Kahlköpfi ge kam langsam auf sie zu. Er blieb vor ihr stehen und musterte sie genau. Sie spürte seinen Blick fast körperlich. Er verbeugte sich leicht, und ein spöttisches Lächeln lag um seinen Mund. »Guten Abend! Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Mein Name ist Frederic de Buer. Einige Leute kennen mich auch unter dem Na men Lucien Berval.« Sybill erinnerte sich plötzlich, daß Peter Garner über de Buer ge sprochen hatte. »Was haben Sie mit mir vor?« fragte sie mit zittriger Stimme. »Immer diese Fragen«, knurrte de Buer unwillig. »Das haben Sie mich schon einmal gefragt. Mein hübsches Kind, Sie werden alles rechtzeitig erfahren.« »Wo ist Armand Melville?«
»Schon wieder eine Frage«, seufzte de Buer. »Aber ich will sie be antworten. Ich habe mich entschlossen, Melville dem Henker von Paris zu übergeben. Er wird ihn köpfen.« Sybills Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Sie sind ein Scheusal«, keuchte sie und riß verzweifelt an den Lederschlaufen. De Buers Gesicht wurde ernst. »Beleidigungen helfen Ihnen nichts. Ich werde Ihnen erzählen, was ich mit Ihnen vorhabe.« Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Bis jetzt experimentierte ich fast ausschließlich mit Männern. Aber jetzt wer de ich auch Frauen heranziehen. Kann ganz interessant werden.« »Sie sprechen immer von Experimenten. Was …« »Unterbrechen Sie mich nicht immer!« brummte er ungehalten. »Sie werden alles erfahren. Zu Beginn experimentierte ich mit Toten. Ich versuchte, sie zum Leben zu erwecken, sie mit dem Geist von Verstorbenen zu beseelen. Die Ergebnisse waren recht vielverspre chend. Ich hatte einige schöne Erfolge zu verzeichnen, aber sie konnten mich nicht befriedigen. Ich wollte einen perfekten Men schen schaffen. Aus verschiedenen Leichen setzte ich einen Mann zusammen. Ich nahm dazu Körperteile von fünf verschiedenen Männern und Frauen und setzte auf den leblosen Körper einen le benden Schädel.« De Buer grinste. »Pierre Gormats Kopf.« Sybill schloß vor Entsetzen die Augen. »Gilbert Sanson hatte mich auf einen guten Gedanken gebracht«, fuhr de Buer fort. »Er wollte den Geist seines Urahnen Charles-Hen ri Sanson de Longval herbeirufen. Ich stellte mir das sehr amüsant vor, und so war es auch. Zusammen mit Gilbert Sanson führten wir eine Geisterbeschwörung durch, die tadellos klappte. Pierre Gor mats Geist verschmolz mit dem von Charles-Henri Sanson. Aber dann traten die ersten Schwierigkeiten auf. Sansons Geist war ein deutig stärker, und er beherrschte Pierre Gormat. Durch diesen Kampf kam es zu Störungen. Der von mir geschaffene Mensch ent zog sich teilweise meiner Kontrolle. Er machte sich selbständig. Charles-Henri Sanson starb als Wahnsinniger, und es paßte ihm gar
nicht, daß er aus dem Jenseits zurückgeholt worden war. Ich ver suchte ihn auszuschalten, doch der wirre Geist, der den künstlichen Körper beherrschte, ließ sich von mir nicht beeinflussen. Er ist im mun gegen meine Angriffe. Mir bleibt jetzt keine andere Wahl, als einen neuen Körper zu schaffen, der den Henker von Paris ausschal ten soll. Und das werden Sie sein.« Sybill war unfähig, etwas zu sagen. »Ich werde einen Homunkulus schaffen, der unbesiegbar ist. Aber dazu sind noch einige Experimente notwendig. Und ich werde sie an Ihrem Körper durchführen …« »Sie sind wahnsinnig!« brüllte Sybill. »Schreien Sie nur.« De Buer lachte. »Niemand wird Sie hören.« Er stand auf, schob den Stuhl zurück, schaltete die Operationslam pe ein, und Sybill schloß die Augen. »Keine Angst. Sie werden nicht sterben. Ganz im Gegenteil! Ich werde aus Ihnen eine perfekte Schönheit machen. Sie bekommen neue Hände, üppigere Brüste und längere Beine.« Er tätschelte flüchtig ihren Bauch, und Sybill schauderte. »Fassen Sie mich nicht an!« De Buer lachte. »Ich werde jetzt alles zur Operation vorbereiten.« Er zog den Instrumentenschrank neben den Operationstisch, dann verschwand er hinter Sybill und schob einige Apparate näher heran. Eine Krankenschwester und ein junger Mann, der einen Arztkittel trug, betraten den Operationssaal. Sybill fielen die ausdruckslosen Augen der beiden auf. Der Mann schob eine kleine Bahre vor sich her, auf der ein Glaskasten stand. »Sie werden nichts spüren, Sybill«, sagte de Buer. »Sie bekommen eine Narkose, und wenn Sie aufwachen, ist alles vorbei.« Er öffnete den Glaskasten und griff hinein. Dabei wandte er Sybill den Rücken zu. Als er sich umdrehte, lag ein teuflisches Lächeln um seinen Mund. In seiner Rechten hielt er eine schlanke, gepflegte Frauenhand.
»Das ist eine der Hände, die Sie bekommen werden.« Sybill fiel in Ohnmacht. De Buer legte die Hand in den Glaskasten zurück und lachte.
Endlich war es mir gelungen, die Tür zum Operationssaal zu öffnen. Melville hatte sich gegen die Wand gelehnt. Er war noch immer ziemlich schwach. Ich packte ihn, schob ihn in den Vorraum, zog die Tür zu und sperrte wieder ab. Der Raum war bis auf einen Tisch und einen Stuhl leer. Ich setzte Melville auf den Stuhl, schlich zur Schwingtür, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Deutlich erkannte ich de Buers Stimme. »Mundschutz und Handschuhe!« sagte er soeben. Vorsichtig drückte ich die Tür weiter auf und blickte in den Raum. Eine Krankenschwester band de Buer gerade den Mundschutz um. Er kehrte mir den Rücken zu. Auf dem fahrbaren Operationstisch erblickte ich Sybill Ferrand. Sie war ohnmächtig. Sicherlich hatte de Buer sie betäubt. Ich kehrte zu Melville zurück. »Hören Sie mir gut zu«, flüsterte ich. »Ich gehe jetzt hinein und versuche, de Buer zu erledigen.« »De Buer?« fragte er überrascht. »Ja. Unterbrechen Sie mich nicht! Wir haben nicht viel Zeit. De Buer ist ein Vampir. Er …« »Unsinn!« zischte Melville. »Es gibt keine Vampire.« »Zum Teufel!« fluchte ich ungehalten. »Sie müssen mir glauben. Er ist ein Vampir. Wenn etwas schiefgeht, müssen Sie versuchen, ihn aufzuhalten!« Aus der Brusttasche holte ich ein einfaches Holz kreuz. »Halten Sie ihm das Kreuz entgegen. Das wird helfen.« Er runzelte die Stirn. »Das ist doch Quatsch. Ich …« »Tun Sie, was ich Ihnen sage! Da haben Sie die Pistole. Die wird Ihnen gegen de Buer zwar nichts nützen, aber vielleicht fühlen Sie
sich sicherer.« Er hielt das Kreuz in der linken Hand, die entsicherte Pistole in der rechten. »Ich gehe jetzt hinein«, sagte ich. »Sie bleiben hier sitzen und rüh ren sich nicht vom Fleck, bis ich zurück bin. Verstanden?« »Ja.« Ich näherte mich wieder der Schwingtür und hörte das Klingeln des Telefons. Als ich die Tür öffnete, sah ich, daß die Kranken schwester den Hörer abgehoben hatte und ihn jetzt de Buer hinhielt. Wahrscheinlich bekam er Bescheid, daß ich mich im Haus aufhielt. »Was sagen Sie da?« brüllte er in den Hörer. »Garner ist ins Haus eingedrungen? Wann war das?« Er keuchte vor Wut. »Und wieso werde ich darüber erst jetzt verständigt?« Ich trat lautlos ein. Er bemerkte mich und drehte den Kopf herum. Seine Augen starrten mich böse an. Wütend warf er den Hörer auf die Gabel und riß sich den Mundschutz herunter. »Packt ihn!« schrie er seine Helfer an. Die Krankenschwester und der junge Mann stürzten auf mich zu. Beide standen unter seinem Einfluß und würden alle seine Befehle widerspruchslos ausführen. Meine Jacke hatte ich schon aufgeknöpft; jetzt riß ich mit beiden Händen das Hemd auf. De Buer stieß einen Wutschrei aus und tau melte einen Schritt zurück. In meinem Hotelzimmer hatte ich mir heute morgen ein scharlachrotes Kreuz und einen Bannspruch auf die Brust gemalt. Die Krankenschwester und der junge Mann er starrten mitten in ihren Bewegungen. Ich ging zwischen den beiden hindurch, und de Buer wich weiter zurück. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Mit beiden Händen griff er sich an die Brust. Bis jetzt klappte alles wie geplant. Ich holte eine kleine Kapsel aus der Tasche und schleuderte sie meinem dämoni schen Bruder ins Gesicht. Die Kapsel zerbrach, und ein intensiver Knoblauchgeruch schwängerte die Luft. De Buer brüllte unmensch
lich. Aber es standen ihm noch weitere böse Überraschungen bevor. Ich hatte ihn in eine Ecke des Raumes gedrängt. Wenige Schritte von ihm entfernt blieb ich stehen. Er öffnete die Augen, die jetzt klein und blutunterlaufen waren. »Sie sind nicht Peter Garner«, keuchte er. »Sie … du bist Dorian Hunter!« »Erraten«, sagte ich und trat einen Schritt vor. In der rechten Hand hielt ich ein Holzkreuz, dessen oberes Ende spitz wie ein Pfeil war. Ich hob es hoch, und ein Zittern durchlief de Buers Körper. Er wandte den Blick ab, und sein Gesicht veränderte sich. Es wurde schmal, seine Zähne wuchsen. »Du kannst mir nicht entkommen«, sagte ich und holte eine Spray dose hervor. Ich drückte auf den Zerstäuber und besprengte de Buer mit geweihtem Wasser. Er duckte sich, doch einige Wassertropfen trafen sein Gesicht, und es bildeten sich sofort Blasen an den Stellen. »Ich habe mir geschworen, daß ich alle meine Brüder töten würde. Du bist der letzte, de Buer. Es wird mir eine große Freude sein, dich umzubringen.« Ich sprang zwei Schritte vor und stieß mit dem Kreuz nach seiner Brust. Die Spitze drang durch den dünnen Stoff seines weißen Kit tels und ritzte seine Haut. Er heulte wütend auf und schlug mit sei nen Krallen nach mir. Ich wich zurück und wartete ab. Die Zeit arbeitete für mich. Je län ger er den Knoblauchdunst einatmete, um so besser. Sein Gesicht verfiel zusehends. Ich merkte, wie er versuchte, dem Bann meiner Waffen zu entfliehen. Er wollte sich in eine Fledermaus verwandeln, doch die Metamorphose gelang nur teilweise. Sein Schädel wurde ein häßlicher grauer Klumpen, und seine Arme verwandelten sich in Flügel. Ich sprühte wieder etwas Weihwasser in seine Richtung, und er verwandelte sich zurück. Sein Gesicht war nun grau, und die wulsti gen Lippen waren blutleer. Er taumelte hin und her, dann fiel er auf
die Knie. Ich drückte das Kreuz gegen sein Gesicht. Es roch augen blicklich nach verbranntem Fleisch, und Rauch stieg von ihm auf. Seine Hände verkrallten sich in meinem Hals. Ich holte aus und rammte ihm die Spitze des Kreuzes in die Brust. Sein Griff wurde lockerer, und schließlich baumelten seine Hände kraftlos herunter. Ich riß das Kreuz aus seiner Brust – noch hatte ich ihn nicht ins Herz getroffen – und stieß erneut zu. Ein Zittern durch lief seinen Körper, und seine Beine und Arme zuckten seltsam ver krampft. Ich trat einen Schritt zurück. De Buer hob den Kopf. Sein Blick flackerte, und seine Lippen be wegten sich. Er versuchte, sich das Kreuz aus der Brust zu reißen, doch als seine Hände das Holz berührten, verkohlten sie. Er wollte etwas sagen. Noch ein letztes Mal richtete er sich auf, dann schrumpfte sein Körper langsam ein. »Ich werde mich rächen«, wisperte er fast unhörbar. »Ich sterbe, aber freue dich nicht zu früh, Hunter. Ich verfüge über Kräfte, die nach meinem Tod noch wirksam sein werden. Der Henker wird dich holen. Der Henker …« Ich hörte hinter mir Schritte und wandte rasch den Kopf herum. Melville war in den Operationssaal gekommen. Er blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen und glotzte den sterbenden Vampir an. »Sie glauben doch nicht an Dämonen, Melville«, sagte ich. »Sehen Sie gut zu! So bald werden Sie nicht wieder zu sehen bekommen, wie ein Vampir stirbt.« Ein letztes Zittern durchlief de Buers Körper. »Verflucht sollt ihr sein. Der Henker wird euch alle holen. Dich, verfluchter Bruder, und Armand Melville und Sybill Ferrand. Der Tod ist euch sicher. Der Tod …« Dann starb er. Es dauerte nur wenige Sekunden, und sein Körper zerfiel zu Staub. Die Krankenschwester und der junge Mann wur den ohnmächtig. »Das war knapp«, sagte ich und ging zu Sybill Ferrand, die er wacht war und den letzten Teil des Dramas mit angesehen hatte. Ich
löste die Lederschlaufen und half ihr, sich aufzurichten. Sie zitterte am ganzen Leib. »Sehen Sie in den Glaskasten«, sagte sie mit bebender Stimme. Ich warf einen Blick hinein und sah zwei Frauenhände, Beine und einen Oberkörper. »Diese Körperteile waren für mich gedacht«, sagte Sybill. »Ich wollte …« Sie konnte nicht weitersprechen. Melville versuchte sie zu beruhi gen. Meine Aufgabe war noch nicht ganz erfüllt. Ich suchte nach einem Besen und einer Schaufel. Es war schon vorgekommen, daß Vampi re wieder zum Leben erwacht waren. In einem anschließenden Raum fand ich ein Kehrblech und einen kleinen Besen, mit dem ich den Staub, der von de Buer übriggeblieben war, zusammenkehrte. Ich warf ihn in die Toilette. Als ich zurück in den Operationssaal kam, hatte sich Sybill schon etwas beruhigt. »Ich kann noch immer nicht glauben, daß ich gerettet bin.« Sie knabberte an ihren Lippen. »Dieses Scheusal hat uns noch im Tode verflucht. Was ist mit dem Henker, von dem es gesprochen hat?« »De Buer kann uns nichts mehr anhaben«, beruhigte ich sie. »Er ist tot. Sie brauchen nichts auf dieses Gerede zu geben, Sybill.« Ich steckte mir eine Zigarette an. »Geben Sie mir bitte auch eine!« Ich hielt ihr die Packung hin. Ihre Finger zitterten noch immer. Sie inhalierte den Rauch tief. »Wie es scheint, wissen Sie noch nicht alles.« Ich kniff die Augen zusammen. »Was meinen Sie? Raus mit der Sprache!« »De Buer hat mir alles erzählt.« Sie starrte dem Rauch nach, der in Schwaden zur Decke zog. »Schauerliche Dinge. Es gelang ihm, einen künstlichen Menschen zu schaffen. Das Ungetüm trägt Pierre Gor mats Kopf.«
»So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht«, sagte ich. »Aber mit de Buers Tod sind alle seine Monster gestorben, und alle Men schen, denen er seinen Willen aufgezwungen hatte, sind nun wieder frei. So wie diese Krankenschwester und der junge Mann da.« Sie schüttelte den Kopf. »De Buer gelang es, den künstlichen Men schen mit einem neuen Geist zu beseelen. Er sprach von einer Geis terbeschwörung, die er zusammen mit Gilbert Sanson durchführte. Es gelang ihnen, den Urahn von Gilbert Sanson, Charles-Henri San son de Longval, zurückzuholen, dessen Geist sich mit dem von Pier re Gormat vereinigt hat. De Buer konnte den Henker von Paris je doch nicht unter seiner Kontrolle behalten. Er machte sich selbstän dig. De Buer wollte einen neuen Homunkulus schaffen, um den Henker auszuschalten.« Das konnte allerdings böse werden. Wenn sich Sanson tatsächlich auch nur teilweise der Kontrolle de Buers entziehen konnte, dann war es ziemlich sicher, daß er noch am Leben war. Ich ging unruhig im Operationssaal auf und ab. De Buer hatte uns verflucht. Davor hatte ich keine Angst. Aber vielleicht war es ihm im Tod noch gelun gen, Sanson zu beeinflussen. »Hat er ihnen verraten, wo sich Sanson aufhält?« Sybill schüttelte den Kopf. »Wir werden das Sanatorium durchsuchen«, schlug ich vor. »Aber zunächst müssen wir Kleider für Sie beschaffen.« Jetzt erst wurde Armand und Sybill bewußt, daß sie nackt waren. Das hatten sie völlig vergessen. Ich sah nach der bewußtlosen Schwester und dem jungen Mann. Sie atmeten ruhig. Ich schüttelte die Schwester leicht, doch sie wachte nicht auf. »Wir werden später die Polizei verständigen«, sagte ich. »Aber zu erst sehen wir uns im Haus um.« Wir durchsuchten den zweiten Stock. Immer wieder stießen wir auf bewußtlose Krankenschwestern und Pfleger. In einigen Zim mern lagen Patienten in todesähnlichem Schlaf. Im ersten Stock ent deckten wir einen Raum, der voll mit Kleidern war. Nach kurzem
Suchen hatte Melville seinen Anzug gefunden. Sybill brauchte etwas länger, bis sie ihre Habseligkeiten entdeckte. Die beiden kleideten sich an, dann setzten wir unsere Suche nach dem Henker fort – je doch ohne Ergebnis. Ich durchsuchte de Buers Privaträume in der Hoffnung, irgendei ne Aufzeichnung zu finden, entdeckte aber nichts. Wo könnte er sei ne Notizen hinterlassen haben? Vielleicht in seiner Wohnung in der Rue Moret. Vom Pförtnerhaus aus rief ich die Polizei an. Ich ließ das Tor offen, und wir stiegen in meinen Simca. Unterwegs kam uns ein Streifen wagen der Polizei entgegen. »Sie heißen nicht Garner«, sagte Sybill, die neben mir saß. »De Buer sagte Dorian Hunter zu Ihnen.« »Das ist mein richtiger Name«, sagte ich. Ich gab keine weiteren Erklärungen, und Sybill zog es vor zu schweigen. Meine Gedanken beschäftigten sich mit dem verschwun denen Henker. Es war natürlich durchaus möglich, daß de Buer mich belogen hatte und der Henker von Paris mit seinem Tod ge storben war. Aber ich glaubte nicht daran. Armand Melville hatte sich von seinem Schock bereits gut erholt. »Das wird vielleicht eine Story!« grunzte er zufrieden. »Sie werden gar nichts schreiben, Melville«, sagte ich. »Na, hören Sie mal!« brauste er entrüstet auf. »Das ist die beste Geschichte meines Lebens.« »Die Wahrheit können Sie ohnehin nicht ausplaudern. Da würden die Leute Sie doch für verrückt halten. Überlegen Sie! Was wollen Sie denn schreiben?« »Nun, daß de Buer hinter den Morden steckte. Daß er …« »… ein Vampir war«, vollendete ich seinen Satz. »Wenn Sie das schreiben, wird Ihnen Ihr Chefredakteur einen Psychiater auf den Hals hetzen.« Er knirschte mit den Zähnen. Langsam dämmerte ihm, daß er die
se tolle Story nicht ausschlachten konnte. »De Buer ist verschwunden«, sagte ich. »Und seine Asche schwimmt in irgendeinem Kanal. Sie haben keinerlei Beweise. Sie könnten höchstens über de Buers Sanatorium berichten. Aber das würde ich an Ihrer Stelle lieber bleibenlassen, denn selbst da können Sie nicht die Wahrheit schreiben. Überlegen Sie sich das alles gut!« Melvilles Zähneknirschen wurde noch lauter. »Sie haben recht«, sagte er schließlich bitter. »Da habe ich die tollste Story und darf nicht darüber schreiben. So eine verdammte Sauerei!« »Seien Sie froh, daß Sie noch leben, Armand«, sagte Sybill. »Wis sen Sie, was de Buer mit Ihnen vorhatte?« »Ja, er wollte mich töten«, sagte Melville kleinlaut. Der Gedanke schien ihn zur Besinnung zu bringen. Er kniff die Lippen zusam men. »Ohne Ihr Erscheinen, Hunter, wären wir jetzt beide tot. Ich habe Ihnen noch gar nicht dafür gedankt, daß …« »Lassen Sie das«, sagte ich und grinste. »Verschonen Sie mich mit Dankesfloskeln. Tun Sie mir nur einen Gefallen, schreiben Sie im Augenblick kein Wort über Ihre Erlebnisse. Versprechen Sie mir das?« Er überlegte einen Augenblick, dann nickte er. »Ich verspreche es Ihnen.« Wir schwiegen. Ich erreichte die N 13, und nach wenigen Minuten hatte uns Paris wieder. Ich fuhr die Avenue de Neuilly entlang. »Noch eines«, sagte ich. »Wir schweben in Gefahr. Der Henker wurde nicht gefunden. Wahrscheinlich lauert er irgendwo in der Stadt. Wir wissen nicht, wo. Wenn es de Buer tatsächlich gelungen ist, noch im Tod Kontrolle über den Henker zu gewinnen, dann kann das sehr gefährlich für uns werden. Ich bringe Sie jetzt nach Hause. Verlassen Sie Ihre Wohnungen nicht! Ich rufe Sie morgen an. Wo wohnen Sie, Sybill?« »Rue Fortuny«, sagte das Mädchen. »Ich wohne ganz in der Nähe von Sybill«, sagte Armand. »Boule
vard de Courcelles.« »Wohnen Sie allein, Sybill?« »Nein, ich habe zusammen mit zwei Freundinnen eine Wohnung.« »Dann sagen Sie ihnen, daß sie vorsichtig sein sollen. Sperren Sie sich ein und lassen Sie keinen Menschen in die Wohnung! Keinen! Haben Sie verstanden?« Sie nickte. »Das gilt auch für Sie, Melville. Schreiben Sie mir Ihre Telefon nummer auf, Sybill! Ich rufe Sie morgen gegen neun Uhr an.« Sie schrieb ihre Nummer auf einen Zettel, und ich steckte ihn ein. Zuerst setzte ich Sybill ab. Sie drückte mir einen Kuß auf die Lip pen und winkte Armand lächelnd zu. Dann stieg sie aus, und ich wartete, bis sie im Haus verschwunden war. Zwei Minuten später wurde ein Fenster im zweiten Stock geöffnet, und sie winkte uns zu. Es war alles in Ordnung. Danach brachte ich Melville nach Hause. Es war fast zwölf Uhr, als ich weiterfuhr. Mein Ziel war die Rue Moret. Eigentlich hätte ich zu frieden sein sollen, denn ich hatte den letzten meiner Brüder getötet, aber ich spürte keine Befriedigung; der Gedanke an den Henker, der möglicherweise noch immer lebte, war alles andere als angenehm. Wieder einmal mußte ich ein versperrtes Tor öffnen. Ich kam mir langsam wie ein routinierter Einbrecher vor. Das Schloß war alt und bot keinerlei Schwierigkeiten. Drei Minuten später stand ich vor de Buers Wohnung. Die Tür war mit zwei Schlössern gesichert, die ziemlich schwierig zu knacken waren. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich endlich die Tür geöffnet hatte. Die Wohnung sah wie ein Saustall aus. Die Fenster strotzten vor Schmutz, die Böden waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die Einrichtung war alt und unfreundlich. In einem Kasten fand ich einige Anzüge, Schuhe und Unterwäsche. Ich setzte mich an den Schreibtisch. Die Laden waren versperrt. Ich brach sie einfach auf. Alle, mit Ausnahme einer, waren leer. Ich fand einige Bögen Brief
papier, Bleistifte und einen Schnellhefter, den ich auf den Schreib tisch legte. Rasch blätterte ich ihn durch und lehnte mich dann zu frieden zurück. Ich hatte gefunden, wonach ich suchte. De Buers Aufzeichnungen lagen vor mir. Seine Handschrift war klein und fast unleserlich. Ich durchsuchte noch die restlichen Kästen und Schrän ke, fand aber nichts Interessantes mehr und verließ die Wohnung. Die Tür ließ ich offen. Ich fuhr in mein Hotel und bestellte beim Room-Service einige Sandwiches und eine halbe Flasche Bourbon mit Eis und Wasser. Dann setzte ich mich aufs Bett, legte den Schnellhefter auf meine Knie und blätterte ihn langsam durch. Gelegentlich las ich einige Sätze. Die Aufzeichnungen trugen leider kein Datum. Ein mißgelaunter Kellner brachte die Sandwiches und den Bour bon. Ich gab ihm zehn Franc, was seine Laune hob und ein Lächeln in sein Gesicht zauberte. Ich sperrte die Tür hinter ihm ab und schenkte mir einen ordentli chen Schluck ein. Ich verschlang die Sandwiches, als hätte ich seit Wochen nichts mehr gegessen. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und vertiefte mich in de Buers Aufzeichnungen.
Heute bin ich wieder einen Schritt weitergekommen. Es gelang mir, einen Toten für einige Stunden zum Leben zu erwecken. Doch der Zauber war zu schwach. Aber es war ein unbeschreibliches Gefühl zu sehen, wie sich der Tote bewegte und wie er auf einfache Befehle reagierte. Irgendwann wird es mir gelingen, aus verschiedenen Leichenteilen einen perfekten künstlichen Menschen herzustellen. Ich will die Geister von Verstorbenen beschwören. Sollte mir das gelingen, so ergeben sich besonders reizvolle Variationsmöglichkeiten. Ich muß nur Vorkehrungen treffen, damit sich die Geister der Toten nicht gegen mich wenden und meiner Kontrolle ent gleiten. Die erste Geisterbeschwörung klappte überhaupt nicht. Mir gelang es zwar, mit einem Geist Verbindung aufzunehmen, doch ich konnte ihn nicht in den Körper des Toten bannen. Ich nahm verschiedene Kontakte mit
Geisterbeschwörern auf, doch die meisten sind nur Scharlatane. Ich benöti ge dringend ein gutes Medium. Kürzlich habe ich an einer Geisterbeschwörung bei Claude Marquet teilge nommen. Seine Frau scheint ein gutes Medium zu sein. Sie verfügt über starke Kräfte, die ihr Mann nicht wecken kann. Gilbert Sanson führte mich hin, mit dem ich mich vor einigen Tagen angefreundet hatte. Er will unbe dingt den früheren Henker von Paris, Charles-Henri Sanson de Longval, beschwören. Der Besuch bei Marquet brachte mir übrigens eine andere in teressante Neuigkeit. Ich entdeckte im Keller einen Geheimgang, der direkt zu meinem Haus in der Rue Moret führt. Ich ahnte, daß so ein Gang exis tieren mußte. Ich werde ihn durch magische Fallen sichern. Es ist mir gelungen, Claude Marquet und seine Frau zu beeinflussen. Sie gehorchen mir aufs Wort. Sanson liegt mir ständig in den Ohren, doch endlich den Versuch zu wagen, seinen Urahnen zu beschwören. Aber das muß noch einige Zeit warten. Ich habe meine Experimente noch nicht abge schlossen. Sanson stellte mir einen Freund vor, Raymond Pellegrin. Ich habe nun auch über Sanson und Pellegrin Macht. Bei Lebenden geht alles sehr einfach, aber mit den Geistern habe ich Schwierigkeiten. Endlich ist es mir gelungen. Endlich! Das ist ein Tag zum Feiern. Ich habe einen Toten beseelt. Er spricht ganz vernünftig und folgt mir aufs Wort. Leider hat er große Gedächtnislücken. Aber ich bin wieder einen Schritt vorwärts gekommen. Doch wird es immer schwieriger, Leichenteile zu be schaffen. Ich muß mir da etwas einfallen lassen, und ich weiß auch schon, was ich tun werde. Ich werde eine magische Falle errichten und zwei Män ner dort postieren. Die Falle ist ein voller Erfolg. Heute wurde sie zum erstenmal in Betrieb genommen. Sie befindet sich auf der Straße von Paris nach Versailles. Es regnete, und der erste Wagen ging in die Falle. Der Wagen kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Der Fahrer trug schwerste in
nere Verletzungen davon. Der Mann heißt Pierre Gormat. Ich löste seinen Kopf vom Rumpf und schloß ihn an das von mir entwickelte System an. Der Erfolg übertraf tatsächlich all meine Erwartungen. Der Schädel lebte weiter. Er kann sprechen und völlig klar denken. Morgen ist es soweit. Ich werde Gormats Kopf auf einen präparierten Körper verpflanzen, den ich aus verschiedenen Leichenteilen zusammengesetzt habe. Und dann werden wir versuchen, den Geist von Charles-Henri Sanson de Longval zu be schwören. Dieses Experiment wird die erste Krönung meiner Bemühungen sein. Ich werde Gilbert Sanson als Medium verwenden. Die Beschwörung werde ich in Marquets Keller durchführen. Alles ist vorbereitet. Ich hoffe, daß ich Erfolg haben werde. Die Person des Henkers von Paris hat mich seit meiner frühesten Jugend fasziniert. Gilbert Sanson hat mir einige alte Dokumente gezeigt, die die ganze Geschichte der Longvals beinhalten. Durch welche Umstände sich der Name de Longval zu Sanson de Longval erweiterte, darüber gibt es kei nerlei Aufzeichnungen. Die Übersiedlung der Sansons aus der Provinz nach Paris hat im Jahre 1685 stattgefunden. Charles Sanson de Longval war damals zum Scharf richter von Paris ernannt worden, und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Sansons diese höchste Stellung, zu der ein Scharfrichter in Frankreich aufsteigen konnte, innegehabt. Alle Banditen, Mörder und Gift mischer, die von den Pariser Gerichten zum Tode verurteilt worden waren, starben durch die Hand eines Sansons. Der bekannteste Henker aus dieser Dynastie war zweifelsohne Charles-Henri Sanson de Longval, der sein Amt im Alter von neunzehn Jahren angetreten hatte. In seiner Laufbahn hatte er mehr als dreitausendfünfhundert Menschen hingerichtet, darunter so prominente Leute wie den König, die Dubarry, Danton und Robespierre. Die Vorstellung, diesen unheimlichen Mann zum Leben zu erwecken, ist einfach umwerfend. Morgen ist es soweit. Ich flehe alle bösen Geister an, daß es gelingen möge. Die Beschwörung war ein Erfolg, aber sie verlief völlig anders, als ich er wartet hatte. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis es Gilbert Sanson ge lang, Kontakt mit seinem Urahnen herzustellen. Dann trat ich in Aktion
und riß ihn aus dem Jenseits in die Gegenwart. Ich zwang den Geist in Pi erre Gormats Gehirn. Charles-Henri Sanson de Longval unterdrückte Pier re Gormats Geist. Aber mir gelang es nur teilweise, den Geist des Henkers von Paris zu beherrschen. Der Mann war wahnsinnig gewesen, als er starb, und die Ausstrahlung von Wahnsinnigen ist für einen Dämon kaum zu ertragen. Anfangs redete der Henker wirres Zeug. Unverständliche Worte sprudel ten aus seinem Mund. Er wollte zurück; zurück in die Dunkelheit. Dann sprach er immer deutlicher, immer verständlicher. Ich stellte ihm unzählige Fragen, die er nicht beantwortete. Er tobte im Keller herum, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Gilbert Sanson hatte ein zweischneidiges Henkersschwert mitgenommen, das früher einmal dem Henker von Paris gehört hatte. Es hatte sich bei der Geisterbeschwörung als gut erwiesen, wenn sich ein Gegenstand des Ver storbenen im Raum befand. Bevor ich noch eingreifen konnte, packte der Henker das Schwert und blieb vor seinem Urenkel stehen. Eine unglaubli che Kraft strömte von Charles-Henri Sanson de Longval aus. Ich versuchte seine Ausstrahlung zu brechen, doch es gelang mir nicht. Wie unter einem unheimlichen Zwang kniete Gilbert Sanson nieder und senkte den Kopf. Und dann kam das Furchtbare: Der Henker stellte sich hinter Gilbert San son und sprach die Worte, die sich von Generation zu Generation vererbt hatten. »Herr, mein Gott, ich flehe um deine Barmherzigkeit. Laß deine Gnade auch leuchten über die Seele des armen Sünders, den von seinem Erdenle ben zu befreien mir jetzt obliegt.« Mit einem gewaltigen Hieb trennte er den Kopf Gilbert Sansons vom Leib. Der Kopf kullerte über den Boden. Meine Blutgier erwachte. Ich pack te den Toten und schlürfte das hervorquellende Blut. Ich steigerte mich in einen wahren Rausch. Es war eine Lust, das herrlich warme Blut zu trin ken. Ich konnte nicht genug bekommen. Als ich aus meiner Ekstase erwachte, war der Henker mit dem Schädel des Ermordeten verschwunden, doch es war mir ein Leichtes, dem Henker zu folgen. Er schritt unbeirrt durch die nächtlichen Straßen. Sein Körper war fast unsichtbar, nur eine schemenhafte Gestalt, die kaum zu erkennen
war. Bald hatte ich Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben, da er immer ra scher ging. Und plötzlich war er gänzlich unsichtbar geworden. Ich spürte nur noch seine Ausstrahlung und konnte ihm daher weiter folgen. Wir überquerten die Seine. Er ging in Richtung Süden. Es kam mir endlos lan ge vor, bis er endlich in einer einsamen Gasse stehenblieb. Er trat in ein al tes verlassenes Haus ein. Ich blieb draußen stehen und versuchte, die Kon trolle über ihn zu erlangen, doch ich hatte nur teilweise Erfolg damit. Ich betrat ebenfalls das Haus, und er nahm Gestalt an. Ich kämpfte mit ihm, doch ich konnte ihn nicht besiegen. Sein wirrer Geist ließ es nicht zu. Ich legte einen Bannspruch um das Haus und kehrte in mein Sanatorium zurück. Verzweifelt suchte ich nach einem Weg, den Henker auszuschal ten. Es bleibt mir nur eine Möglichkeit: Ich muß einen anderen künstlichen Menschen schaffen und ihn beseelen. Dazu muß ich einen mächtigen Geist erwecken. Irgendeinen Dämon, der immun gegen die Ausstrahlung eines Wahnsinnigen ist. Heute habe ich den Henker besucht. Er tobte und versuchte mich zu töten, doch ich konnte ihn abwehren. Er ist voller Haß und Wut. Er will sich rä chen, und in seinem Wahnsinn hat er das dringende Verlangen, Menschen zu töten. Er konnte den Bannspruch, den ich um das Haus gelegt hatte, überwinden. Ich folgte ihm wieder. Er hat eine unheimliche Macht. Er kann die Menschen beeinflussen und macht sie zu willenlosen Puppen, die er auf telepathischem Weg in abgeschiedene Straßen und Winkel lockt und dann köpft. Ich war immer zur Stelle und trank das Blut. Aber langsam bekomme ich Angst. Der Henker mordet immer weiter. Die Schwarze Familie ist bereits aufmerksam geworden. Man hat von mir verlangt, den Henker zu töten, um weiteres Aufsehen zu vermeiden.
Hier endeten die Aufzeichnungen Frederic de Buers. Der Henker von Paris war also am Leben, und er hatte die Fähigkeit, sich un sichtbar zu machen. Er lauerte irgendwo in der großen Stadt und würde sich weiterhin Opfer suchen. Eine Vorstellung, die mir kalte
Schauer über den Rücken jagte. Es mußte mir gelingen, ihn aufzu spüren. Aber wie sollte ich das anstellen? De Buer hatte leider nicht die Adresse angegeben, wo sich der Henker einquartiert hatte; ir gendwo im Süden der Stadt, schrieb er nur. Ich legte mich auf das Bett und schloß die Augen. War es de Buer gelungen, doch noch Kontakt mit dem Henker herzustellen? Steckte er jetzt vielleicht im Körper des künstlichen Menschen? Wenn das zutraf, dann befanden sich Sybill, Armand und ich in großer Gefahr. Ich ging mehr als eine halbe Stunde ruhelos im Zimmer auf und ab. Sollte ich den Untoten tatsächlich finden, wie konnte ich ihn dann ausschalten? Selbst de Buer war es nicht gelungen, den Geist des Henkers zu beherrschen. Ich zog mich aus, duschte und wusch mir das aufgemalte Kreuz und den Dämonenbanner von der Brust. Und plötzlich wußte ich die Lösung. Sie war so naheliegend, daß ich mich ärgerte, nicht frü her darauf gekommen zu sein. De Buer hatte sich nur der Mittel der Schwarzen Magie bedienen können. Mit Weißer Magie hätte er sich selbst vernichtet. Aber mir stand die Weiße Magie zur Verfügung. Ich trocknete mich ab, kroch ins Bett, trank noch einen Schluck und löschte das Licht. Es dauerte ziemlich lange, bis ich endlich einschlief.
Das Telefon schrillte eine Viertelstunde vor neun Uhr. Ich fuhr hoch und hob den Hörer ab. »Ihr Weckruf, Herr Garner«, sagte eine helle Frauenstimme. »Danke«, antwortete ich und legte auf. Verschlafen kroch ich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Kurz vor neun ließ ich mich mit Melvilles Wohnung verbinden. Nie mand meldete sich. Ich probierte es bei Sybill Ferrand. Nach dem dritten Läuten wurde der Hörer abgehoben. »Hallo?« meldete sich eine weibliche Stimme.
»Guten Morgen! Hier ist Dorian Hunter. Ich möchte mit Fräulein Ferrand sprechen.« »Hunter? Aber Sie haben doch schon einmal angerufen, um sich mit Sybill zu verabreden.« »Was sagen Sie da?« »Aber ja!« Sie lachte. »Sie haben Sybill zu einer Villa bestellt.« »Das ist eine Falle«, sagte ich. »Wohin ist Sybill gefahren?« »Ich habe mir die Adresse nicht gemerkt. Marie hat Sybill dort ab gesetzt.« »Wann sind sie losgefahren?« »Vor einer halben Stunde etwa.« Ich überlegte kurz. »Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Marie zu rück ist.« Ich gab ihr die Nummer meines Hotels und sagte, daß sie Peter Garner verlangen solle. Sie versprach, mich sofort anzurufen. Ich kleidete mich blitzschnell an, steckte einige Gegenstände ein, die mir vielleicht helfen konnten, wenn ich dem Henker von Paris gegenüberstand, und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das Warten zerrte an meinen Nerven. Irgend jemand hatte wahrscheinlich mit verstellter Stimme bei Sy bill und Armand angerufen. Die beiden schwebten in entsetzlicher Gefahr, und ich mußte hier sitzen und warten, bis sich Marie end lich meldete. Vielleicht aber kehrte sie gar nicht in die Wohnung zu rück? Mir brach der Schweiß aus. Wie ein gefangenes Tier raste ich im Zimmer umher und ließ das Telefon nicht aus den Augen. Zwan zig Minuten nach neun läutete der Apparat endlich. Mit einem Hechtsprung war ich da und hob den Hörer ab. »Hallo?« »Hier spricht Marie, die Freundin von Sybill Ferrand.« »Wohin haben Sie Sybill gebracht, Marie?« »In die Rue Lidion«, sagte sie. »Das ist eine kleine Seitenstraße von
der Rue Didot, ganz im Süden von Paris. Ich habe sie vor einem al ten Haus abgesetzt. Es ist eine Villa, die inmitten eines verwilderten Gartens steht.« »Danke«, sagte ich und legte auf. Wie ein Verrückter rannte ich zum Aufzug, raste durch die Hotel halle und sprintete über die Straße. Ich sprang in den Simca, startete und fuhr los. An roten Ampeln studierte ich den Stadtplan. Es war ein ordentliches Stück Weg bis in die Rue Lidion. Ich fürchtete, zu spät zu kommen.
Sybill Ferrand beäugte das Haus mißtrauisch und sah dann ihrer Freundin Marie nach, die ihr zuwinkte und davonfuhr. Das Haus sah alles andere als vertrauenerweckend aus. Es war uralt, einstö ckig, das Dach an verschiedenen Stellen eingestürzt, der Verputz überall abgeblättert. Hunters Stimme hatte merkwürdig erregt am Telefon geklungen. Sie solle unbedingt rasch hierher kommen, hatte er gesagt. Sie betrat den verwilderten Garten. Überall wuchs Unkraut. Ein schmaler Weg führte zum Haus. Die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen, und einige Fenster hingen schief in den Angeln. Die Tür stand weit offen. Sybill blieb stehen und blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen, kein Auto fuhr vorbei. Irgendwo zwitscher ten Vögel vergnügt. Mißtrauisch trat sie durch die Tür und blieb stehen. Die Diele war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Deutlich waren unzählige Fußspuren zu sehen. Ein widerlicher Geruch schlug ihr entgegen. Der Staub wirbelte unter ihren Füßen auf. Sie mußte niesen. Die Wände waren mit unzähligen Spinnweben bedeckt. Nicht ein einzi ges Möbelstück stand in der Diele. Sybill Ferrand blieb stehen. Plötzlich hatte sie Angst. Sie rief nach Dorian Hunter, bekam aber keine Antwort. Er hatte ihr am Telefon
gesagt, daß das Haus unheimlich aussähe, doch sie solle keine Angst haben, ihr könne nichts geschehen. Sie ging weiter und betrat eine große Halle. Durch die hohen Fens ter fielen Sonnenstrahlen. Der Parkettboden war an einigen Stellen ramponiert, und die Wände waren grau. Deutlich konnte man die Stellen erkennen, wo früher Möbel gestanden hatten. Eine Treppe führte ins Obergeschoß. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet. Ihr Herz schlug schneller. Ohne zu überlegen, rannte sie die Stufen hoch, die bei jedem Schritt unheimlich knarrten. Die Schritte hinter ihr kamen näher. Im Obergeschoß lag ein breiter Gang vor ihr. Links und rechts be fanden sich Türen, von denen einige offenstanden. Sie lief weiter. Vor einer der offenen Türen blieb sie stehen und trat ein. Der An blick, der sich ihr bot, ließ ihr fast das Blut gerinnen. Sie riß die Au gen auf und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die linke Wand wurde von einem hohen Schrank eingenommen, der drei Fächer hatte. In den Fächern lagen etwa zwanzig Men schenköpfe. Die Köpfe lebten auf unheimliche Weise. Die Augen be wegten sich und starrten Sybill an. Die Münder öffneten sich, und leise klagende Laute waren zu hören. Endlich löste sich der Bann, und Sybill schrie wie eine Wahnsinni ge. Entsetzt wich sie zurück und taumelte wieder auf den Gang hin aus. Sie hörte nicht die Schritte, die rasch näher kamen. Als sie die Hand auf ihrer Schulter spürte kreischte sie noch lauter. Doch als sie den Kopf herumwandte, stand Armand Melville vor ihr. Sie warf sich an seine Brust und barg ihren Kopf an seiner Schulter, am gan zen Leib zitternd. »Was ist denn los?« fragte er leise und zog sie an sich. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. »Es ist … so entsetzlich«, stammelte sie. »Da in diesem Raum … aber sieh selbst!«
Er hob den Kopf, blickte an Sybill vorbei und sah die Köpfe, die nun zischende Laute ausstießen. Die Gesichter verzerrten sich, und die Augen blickten böse. »Scheußlich!« sagte er schaudernd und zog Sybill mit sich fort. Ge meinsam gingen sie auf die Treppe zu. »Wo ist Hunter?« »Keine Ahnung. Er hat mich hierher bestellt, aber ich habe ihn bis jetzt nicht zu Gesicht bekommen.« »Mich hat er ebenfalls angerufen«, sagte Armand. »Das kommt mir allmählich seltsam vor. Verschwinden wir lieber. Dieses Haus ist unheimlich.« Als sie die erste Stufe betraten, hörten sie das Geräusch. Sie blie ben stehen und lauschten. Schwere Schritte kamen näher. Die Tür zur Halle wurde geöffnet, und der Henker von Paris trat ein. Er blieb stehen und hob das große Schwert. Die Sonne spiegelte sich auf der scharfen Schneide. Der Henker trug einen altertümlichen schwarzen Anzug und schwarze Handschuhe. Sein Gesicht war starr, nur die Augen schienen ein eigenes Leben zu führen. Er hob den Blick und starrte Sybill und Armand an. »Wir müssen fliehen!« schrie Melville, packte Sybill am Arm und zerrte sie hinter sich her. Doch nach wenigen Schritten blieb er ste hen. Ein stechender Schmerz durchraste sein Hirn. Er glaubte, sein Schädel würde platzen. Er schloß die Augen und kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an. Fremdartige Gedanken stahlen sich in sein Hirn. Die unheimliche Stimme in seinem Kopf trieb ihn weiter. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sy bill folgte ihm. Sie war genauso willenlos wie er. Die beiden betraten einen dunklen Raum, knieten nieder, hoben die Köpfe und warte ten. Der Henker stieg langsam die Treppe hoch. Das schwere Schwert hielt er mit beiden Händen umklammert. Er verharrte kurz vor dem dunklen Zimmer, dann trat er über die Türschwelle. Hinter Sybill und Armand blieb er stehen. Er stützte sich auf das Schwert und
schloß die Augen. »Es soll geschehen«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Ich folge deinem Befehl, Frederic de Buer. Ich werde die beiden töten. Und dann Dorian Hunter. Danach wird sich der Fluch von mir abwen den, und ich werde Erlösung finden. Es soll geschehen, wie du es wolltest.« Er öffnete die Augen. Sein Blick war starr auf seine Opfer gerichtet. Melville hatte die Worte wie durch eine Wand hindurch gehört. Verzweifelt bäumte er sich gegen die Lähmung auf, die seinen Kör per befallen hatte. Und dann sagte der Henker den Spruch, den er immer vor einer Hinrichtung gesprochen hatte. Er sprach langsam und betonte jedes Wort. »Herr, mein Gott, ich flehe um deine Barmherzigkeit. Laß deine Gnade leuchten …«
Ich hatte mich einmal verfahren, und das hatte kostbare Minuten ge kostet. Endlich erreichte ich die Rue Didot. Die Reifen heulten pro testierend. Ich war gefahren, als wäre der Leibhaftige hinter mir her. Nur noch wenige Meter. Ich bremste ab, bog in die schmale Straße ein und sah das Haus, das Marie mir beschrieben hatte. Fast sprang ich aus dem Wagen. Ich stürmte in den Garten, riß die Haustür auf und raste durch die Diele. In der Halle blieb ich stehen. »Sybill, Armand!« schrie ich. Keine Antwort. Ich wandte mich der Treppe zu, rannte hinauf, und da hörte ich die Stimme. »… laß deine Gnade leuchten über die Seelen der armen Sünder, die von ihrem Erdenleben zu befreien …« Wie von Furien gehetzt, rannte ich den Gang entlang. Die Tür zu einem Zimmer stand offen. Ich warf im Vorbeilaufen einen Blick
hinein und schauderte beim Anblick der Köpfe. Sybill und Armand knieten auf dem Boden eines dunklen Zim mers. Hinter ihnen stand der Henker von Paris. »… mir jetzt obliegt. Richte mich nicht, denn ich habe nicht gerich tet, sondern vollziehe nur den Spruch.« »Halt!« schrie ich und sprang den Henker an. Er taumelte zur Seite, und das Schwert entfiel seinen Händen. Doch er richtete sich gleich wieder auf. Seine Blicke schienen mich zu durchbohren. Ich kreuzte meine Hände vor der Brust und trat einen Schritt zurück. »Hör mir zu, Charles-Henri Sanson de Longval!« sagte ich. Sein Blick änderte sich nicht. »Du wurdest gegen deinen Willen zum Leben erweckt«, sprach ich weiter. »Ich werde dich erlösen.« Unheimliche Gedanken strömten plötzlich auf mich ein. Der Hen ker hob beide Arme, und seine Gestalt wurde durchscheinend. Ich griff in die Tasche, holte ein geweihtes Kreuz hervor und schleuder te es der verblassenden Gestalt entgegen. Ein lauter Knall war zu hören, und der Henker nahm wieder Gestalt an. Rasch bückte ich mich und hob das Kreuz auf. Der Gesichtsausdruck des Henkers veränderte sich. Er atmete ra scher und ließ das Kreuz nicht aus den Augen. »Du warst dein Leben lang ein gläubiger Mann, Sanson de Long val«, sagte ich. »Spürst du die Wirkung des geweihten Kreuzes? Sie ist stärker als die Schwarze Magie, die dich zurückgeholt hat. Kon zentriere dich auf das Kreuz! Konzentriere dich!« Ein heiseres Keuchen kam über die Lippen des Henkers. Seine Hände zitterten. Er streckte die Arme aus, und ich trat einen Schritt vor. Seine bebenden Finger griffen nach dem Kreuz. Er packte es mit beiden Händen und preßte es gegen seine Stirn. Für einige Sekun den erstarrte er und schloß die Augen. Ich bückte mich, hob das Schwert auf, holte die Spraydose mit
dem geweihten Wasser heraus und besprühte das Schwert damit. Mir graute vor dem, was ich jetzt würde tun müssen. Ich hob das Schwert, und in diesem Moment öffnete der Henker wieder die Au gen. Sein Blick war leer. Er bewegte sich leicht und ging dann an mir vorbei. Ich folgte ihm. Er hielt das Kreuz noch immer fest umklam mert. Sein Körper sackte langsam in sich zusammen. Mühsam schleppte er sich vorwärts. Seine Bewegungen wurden immer abge hackter. Ich wartete, denn ich wollte ihm möglichst nicht den Kopf abschlagen. Er stieß gegen eine Wand, ging in die Knie, rappelte sich nochmals auf. Endlich erreichte er den Raum, in dem ich die lebenden Schädel gesehen hatte. Ich sah, wie er das Kreuz hob und damit einmal rund um seinen Hals strich. Dann stieß er einen durchdringenden Schrei aus und fiel bäuchlings ins Zimmer. Ich sah nur noch seine Beine, die einige Sekunden lang zuckten. Vorsichtig kam ich näher und ließ das Schwert fallen. Es war nicht mehr notwendig, dem Henker den Kopf abzuschlagen. Das hatte je mand anderer besorgt. Eine unerklärliche Kraft war wirksam ge worden. Ich starrte auf den kopflosen Körper zu meinen Füßen. Aus dem Halsstumpf floß nicht ein Tropfen Blut. Hinter mir hörte ich die erregten Stimmen Sybills und Armands, die aus ihrer Erstarrung erwacht waren. Ich stieg über den leblosen Körper hinweg und blieb vor dem Schrank stehen. Die Köpfe, die vor wenigen Minuten noch ein eige nes Leben geführt hatten, waren nun tot. Sie sahen wie Schrumpf köpfe aus, seltsam klein, kaum faustgroß und wirkten mumifiziert. Die Augen waren geschlossen, die Gesichter unmenschlich verzerrt. Ich trat näher und erkannte Ray Pellegrins Kopf. Dann fiel mein Blick auf einen Schädel, der allein im obersten Fach stand. Er gehörte Pierre Gormat. Es war der Schädel, den der wiederer wachte Henker von Paris getragen hatte. Langsam wandte ich mich um. Sybill und Armand kamen ins
Zimmer. Ihre Gesichter waren bleich vor Schreck. Stockend berichtete Armand, wie sie fast von dem Henker geköpft worden waren. »Wie ist es Ihnen gelungen, den Henker zu töten, Hunter?« Ich hob die Schultern. »Die Waffen des Glaubens … Charles-Henri Sanson de Longval war ein gläubiger Mensch. Er hat an die Kraft des Kreuzes geglaubt und sie eingesetzt. Er hat sich selbst getötet. Fragen Sie mich nicht, wie. Das wird für ewige Zeiten ein Rätsel bleiben.« Sybill und Armand blieben vor den Schrumpfköpfen stehen. »Er hat die Schädel seiner Opfer gesammelt«, sagte ich. »Ein un heimliches Hobby. Sanson war verrückt. Das war mit ein Grund da für, daß de Buer ihn nicht töten konnte.« Ich warf den Schrumpfköpfen noch einen letzten Blick zu und ver ließ das Zimmer. Sybill und Armand folgten mir. Als wir aus dem Haus traten, blinzelte ich in die hochstehende Sonne. Mit de Buer war der letzte meiner dämonischen Brüder außer Gefecht gesetzt. Sieben von ihnen waren tot, einer war von Asmodi, dem Herrn der Finsternis, in einen Freak verwandelt worden. Ich war sicher, daß ich ihm eines Tages wieder begegnen würde. Meine Aufgabe hier in Paris allerdings war erfüllt. Noch heute würde ich Frankreich verlassen. Vor mir lag die bisher schwierigste Aufgabe: Ich wollte mich As modi selbst zum Kampf stellen. Das würde wahrscheinlich der er bittertste Kampf meines Lebens werden.
Zweites Buch
Die Insel der wandelnden Toten
von Ernst Vlcek
Das zehn Meter lange Motorboot trieb scheinbar verlassen und führungslos in der Strömung der Sizilianischen Straße. Es strahlte etwas Unheimliches aus, das spürte Alfredo Cammero sofort. »Los, werft den Motor an«, trug er deshalb seinen beiden Söhnen auf. »Wir machen, daß wir von hier fortkommen. Wir tun so, als hät ten wir überhaupt nichts bemerkt.« »Es handelt sich um eine der Jachten von Don Chiusa, Vater«, rief da sein älterer Sohn Umberto. »Ich kann es jetzt ganz deutlich erken nen.« »Dann sollten wir erst recht einen Bogen darum machen«, erklärte Alfredo. »Ich möchte mit Don Chiusa nichts zu schaffen haben. Es genügt, wenn er sich von jedem unserer Fischfänge seinen Anteil holt.« »Ahoi!« rief sein jüngerer Sohn Franko mit lauter Stimme über das Wasser und winkte mit beiden Händen. Sein Vater stürzte sich auf ihn und riß ihn zurück. »Bist du ver rückt?« herrschte er Franko an. »Ich habe doch wohl deutlich genug gesagt, daß ich nichts mit dem Schiff und den Leuten, die dazugehö ren, zu tun haben möchte.« »Aber an Bord scheint irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, Va ter«, wandte sein jüngerer Sohn ein. »Nichts rührt sich, und auf mei nen Ruf hat niemand geantwortet.« »Wahrscheinlich haben sie heiße Fracht an Bord«, sagte Alfredo. »Eben«, erwiderte sein älterer Sohn Umberto. »Die Jacht kommt si cher von Tunis. Es muß irgend etwas passiert sein, sonst würde sie nicht ohne Fahrt dahintreiben. Vielleicht können wir der Besatzung noch helfen, und du weißt, Vater, daß sich Don Chiusa nicht lumpen läßt, wenn man ihm einen Dienst erweist.« »Ich pfeife auf seine Almosen«, sagte Alfredo abfällig, und Bitter nis schwang in seiner Stimme mit. »Es handelt sich sowieso um Geld, das er aus uns armen Fischern herauspreßt.« »Du bräuchtest nicht arm zu sein, wenn du für Don Chiusa fahren
würdest«, warf ihm Umberto vor. »Aber wenn du schon nicht auf eine Belohnung aus bist, solltest du wenigstens Don Chiusas Zorn fürchten. Wenn ihm zu Ohren kommt, daß du eines seiner Schiffe auf hoher See im Stich gelassen hast, dann …« Das gab für Alfredo Cammero den Ausschlag. Er war bisher standhaft gewesen und hatte es verstanden, sich aus den Geschäften der Cosa Nostra herauszuhalten – was auf Sizilien eine Leistung be sonderer Art war –, aber so weit ging seine Courage auch wieder nicht, daß er sein Leben riskierte. Der Fischer näherte sich der dahintreibenden Jacht mit tuckern dem Motor und legte an ihrer Seite an. Noch immer rührte sich nichts an Bord. »Ist da jemand?« rief Alfredo mit unsicherer Stimme. »Hallo, warum meldet sich niemand? Wenn wir an Bord kommen sollen, dann gebt uns ein Zeichen!« Die drei Männer lauschten angestrengt, aber außer dem Geräusch, das die gegen die Bordwände der beiden Schiffe schlagenden Wel len erzeugten, war nichts zu hören. Plötzlich war Alfredo jedoch, als würde jemand stöhnen. Seine Söhne und er sahen einander an. Um berto wollte aufs andere Schiff hinüberspringen. Sein Vater konnte ihn gerade noch zurückhalten. Sie erstarrten alle drei, als sie wieder ein Stöhnen hörten und gleichzeitig schlurfende Schritte. Die Ge räusche kamen aus der Kajüte. Alfredo erwartete, jeden Augenblick einen übel zugerichteten Mann auftauchen zu sehen. Er wußte, daß Don Chiusa auch Mädchenhandel betrieb und die Polizei von Tunis nicht zimperlich im Gebrauch mit Waffen war, wenn sie einen Mäd chentransport abfing. Was Alfredo dann aber zu sehen bekam, übertraf seine schreck lichsten Erwartungen. »Mama mia!« entfuhr es ihm, als das unheimliche Wesen hinter den Deckaufbauten auftauchte. »Helft … uns!« sagte der Unheimliche krächzend und stockend. Dann torkelte er gegen die Reling.
Umberto wollte neuerlich auf die Jacht hinüberspringen, doch diesmal war es der Verstümmelte selbst, der ihn davon abhielt. »Nein!« rief er abwehrend, und hob den Kopf. Alfredo konnte jetzt deutlich in sein Gesicht sehen. Der Anblick krampfte ihm die Eingeweide zusammen. Was er vor sich sah, muß te einmal ein Mann gewesen sein. Jetzt war das Gesicht wie von der Pest zerfressen. Die Haut – sofern noch vorhanden – war schwarz verfärbt; über die Augen hingen Muskelstränge, an denen noch die Haare der Brauen klebten. Da sie seine Sicht behinderten, riß das Wesen sich die Fleischfetzen einfach ab. Als es zwinkerte, fiel ein Auge aus der Höhle. »Kommt mir nicht zu nahe«, wimmerte es. »Sonst … ergeht es euch ebenso. Obwohl ich bei lebendigem Leibe verfaule, kann ich noch denken. Die anderen – meine drei Freunde – sind viel schlim mer dran.« Umberto hatte sich als erster von seinem Schrecken erholt. »Sollen wir Don Chiusa benachrichtigen?« fragte er. Der Mann mit dem verwesenden Körper nickte. »Du mußt ihm al les sagen, Umberto.« »Wieso kennst du meinen Namen?« fragte Umberto verblüfft. Der andere gab ein Krächzen von sich, das wohl ein Lachen sein sollte. »Ich kenne dich, weil ich dein Freund bin. Du erkennst mich wohl nicht mehr? Na, viel ist von mir auch nicht mehr übriggeblie ben, und der Rest wird nach und nach verfaulen.« Umberto verzog das Gesicht und fragte zögernd: »Marco?« »Ja, ich bin Marco. Ich …« »Was ist geschehen? Wer hat dir das angetan? Sage es mir! Ich schwöre dir, dich zu rächen, Marco.« Marco machte eine fahrige Handbewegung, und die Kuppe seines kleinen Fingers fiel ab. »Du hilfst mir und dem Don – und allen an deren, wenn … wenn du den Don warnst. Niemand soll der Teufels insel zu nahe kommen.«
»Wart ihr dort?« Marco nickte. »Wir wollten daran vorbeifahren. Aber dann tauchte das nackte Mädchen auf. Es hat uns verhext. Es tänzelte leichtfüßig über die Wellen, und wir mußten ihm folgen. Ihr werdet mich für verrückt halten, aber erzählt Don Chiusa alles so, wie ihr es von mir hört. Das Mädchen lockte uns zur Insel. Dort …« Marco bäumte sich wie ein nach Luft schnappender Fisch auf. Er taumelte zurück, machte mit den Händen rudernde Bewegungen und kreischte markerschütternd. Umberto umklammerte mit beiden Händen die Seile. Seine Knö chel traten weiß hervor. Es schmerzte ihn, zusehen zu müssen, wie sein Freund bei lebendigem Leib verfaulte, und ihm nicht helfen zu können. »Die Sonne. Ich ersticke!« Das waren Marcos letzte Worte. In diesem Moment traf ihn der erste Strahl der aufgehenden Sonne. Er erstarrte mitten in der Bewe gung. Seine schwarze Haut und das verfaulte Fleisch wurden von den Sonnenstrahlen gebleicht. Die Hände über den Kopf erhoben und abwehrend von sich gestreckt, gleichsam zu Stein erstarrt, so stand er einige Sekunden lang da. Dann kippte er zur Seite. »Wir werden das Schiff ins Schlepptau nehmen«, sagte Umberto. Sein Vater, der immer noch unter dem Eindruck dieses entsetzli chen Erlebnisses stand, nickte nur, kniete mit ausdruckslosem Ge sicht nieder, bekreuzigte sich und betete. Neben ihm beugte sich sein jüngerer Sohn über die Bordwand und übergab sich. Nur Umberto hatte seine Fassung bewahrt. Er sprang auf die Jacht hinüber, um die Ankerkette zu holen und am Heck ihres Kutters zu vertäuen. Als er einen Blick in die Kajüte warf, sah er darin drei wei tere menschliche Gestalten. Sie waren noch übler zugerichtet als Marco, und auch sie schienen zu Steinstatuen erstarrt zu sein.
Der Mann mit der abgesägten Schrotflinte saß lässig auf der Mauer der Einfahrt und ließ die Füße herunterbaumeln. Die wachsamen Augen waren auf die staubige Straße gerichtet, die sich in Serpenti nen ins Tal hinunterwand und auf der anderen Seite des Flusses in die Staatsstraße 115 mündete. An dieser Straße lag Mazara del Vallo. Der Mann schien zu dösen, obwohl er die Augen geöffnet hatte. Sein Körper war zusammengesunken, die Hände hielten locker die Schrotflinte. Auf seinem braungebrannten Gesicht war kein einziger Schweißtropfen zu sehen, obwohl die Junisonne heiß vom Himmel brannte. Er saß stocksteif da, nur der Grashalm zwischen seinen Zähnen wippte unaufhörlich auf und ab. Einmal drehte er sich um, als hin ter ihm helles Lachen ertönte, und er grinste, als er zwischen Zwerg palmen, Agaven und Opuntien einen gebräunten Mädchenkörper erblickte. Das Mädchen hatte nichts an. Es winkte ihm aufreizend zu, die kleinen Brüste wippten, als es zu dem weißgekalkten Haus mit dem flachen, schwarzgebeizten Holzdach hinauftänzelte. Der Mann wandte sich wieder um, versank aber nicht erneut in seine lässige Warteposition, sondern richtete sich langsam auf. Seine Augen glichen jetzt denen eines Falken, die Hände umfaßten die Schrotflinte mit dem abgesägten Lauf fester, und sein Körper straffte sich. Auf der gewundenen Straße war eine Staubwolke zu sehen. Der Wachposten erkannte mit scharfem Blick, daß es sich bei dem Wa gen um einen Alfa Romeo handelte. Es saß nur ein Mann darin. Als der Wagen mit röhrendem Motor auf die Einfahrt des Anwesens zu geschossen kam, sprang der Wachposten von der Mauer und lande te sicher wie eine Wildkatze auf dem Boden. Die Schrotflinte hielt er nun im Anschlag. Der Alfa Romeo kam wenige Zentimeter vor ihm zum Stillstand. Drinnen saß ein Mann mit dunklem Teint und fast schwarzem Haar. Seine Oberlippe zierte ein Bart, der aber noch recht kümmerlich aus sah – als hätte er sich erst vor kurzem entschlossen, ihn wachsen zu
lassen. Er hatte den obersten Hemdknopf geöffnet, und die azur blaue Krawatte mit dem faustgroßen Knoten saß locker. Das Sakko seines Anzuges – in der gleichen Farbe wie die Krawatte – lag unor dentlich über dem Vordersitz. Obwohl die beiden vorderen Seiten fenster des Wagens heruntergekurbelt waren, glänzte sein Gesicht vor Schweiß. Der Fremde stammte nicht von der Insel; das war dem Wachpos ten sofort klar. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Ausländer. »He, du da!« rief er ärgerlich und lehnte sich aus dem Fenster. »Mach Platz! Ich will zu Stefano Alberto Chiusa.« »Verschwinden Sie wieder!« zischte der Wachposten und bewegte dabei kaum die Lippen. »Wenn Don Chiusa Besuch erwarten wür de, wüßte ich es.« »Ich bin nicht angemeldet«, sagte der Mann im Alfa Romeo. »Aber dein Don wird mich trotzdem empfangen. Ich habe ihm ein Ge schäft vorzuschlagen.« Der Wachposten grinste. Er wußte über die Gepflogenheiten von Don Chiusa genug Bescheid, um zu wissen, daß er mit dahergelau fenen Kerlen wie diesem nichts Geschäftliches erörtern würde. »Verschwinden Sie!« wiederholte er und entsicherte die Flinte. Da ließ der Fremde den Motor des Wagens aufheulen und duckte sich gleichzeitig hinter das Lenkrad. Der Wachposten sprang ge schickt zur Seite und drückte ab. Die Windschutzscheibe des Alfa Romeo barst in tausend Trümmer. Doch bevor der Wachposten zum zweiten Mal feuern konnte, war der Wagen an ihm vorbei. Er schoß den geschwungenen Weg hinauf, daß der Kies nur so aufspritzte. Der Wachposten holte hastig ein Sprechfunkgerät hervor und ver ständigte die Leibgarde des Dons davon, daß ein ungebetener Gast zum Haus unterwegs war.
Der silbergraue Alfa Romeo parkte zwischen einem Aston Martin
und einem Mini Cooper, als drei Männer mit Pistolen in den Hän den von verschiedenen Seiten zum Portal des Herrenhauses kamen. Einer von ihnen war nur mit einer Badehose bekleidet. Auf seinem muskulösen Oberkörper perlten Wassertropfen. Der Fahrer des Alfa Romeo klopfte sich gerade die Splitter der Windschutzscheibe vom Gewand. »Pfoten hoch!« wurde er angeherrscht. Er gehorchte widerspruchslos, ermahnte die Leibwächter jedoch: »Behandelt mich gut, sonst ergeht es euch schlecht! Ich habe Signore Chiusa ein Geschäft vorzuschlagen und bin überzeugt, daß er mit beiden Händen zugreifen wird.« »Don Chiusa!« schärfte der Leibwächter in der Badehose dem Fremden ein und begann ihn recht unsanft zu durchsuchen, wäh rend die beiden anderen mit schußbereiten Waffen danebenstanden. Im Hauseingang tauchte für einen Moment eine schlanke Blondine auf, die nur die Andeutung eines Bikinis anhatte. »Was ich bis jetzt so gesehen habe, scheint es sich als Mafiosi im mer noch recht gut zu leben«, meinte der Eindringling mit spötti schem Lächeln. Die Bemerkung trug ihm einen Faustschlag in die Lebergegend ein. Der Leibwächter förderte aus seinen Taschen eine Brieftasche mit einem englischen Paß und eine Pistole zutage. »Wer schickt Sie?« fragte einer der beiden anderen. »Niemand«, antwortete der Fremde. »Ich komme auf eigene Faust. Um euch weitere Fragen zu ersparen, sollt ihr erfahren, daß ich in Sachen Chalkiris komme. Alles andere sage ich Signore Chiusa per sönlich.« »Don Chiusa!« wurde er wieder berichtigt und mußte einen spiele risch wirkenden, aber schmerzhaften Schlag in die Rippen einste cken. »Er ist Engländer und heißt Peter Garner«, sagte der Leibwächter, der ihn durchsucht hatte. In den Händen hielt er den aufgeschlage
nen Paß des Fremden. »Das ist nicht mein richtiger Name«, erwiderte der Mann. »In Wirklichkeit heiße ich Dorian Hunter. Aber was steht ihr noch so herum? Wollt ihr eurem Don nicht endlich ausrichten, daß ich mich mit ihm über Chalkiris unterhalten möchte? Sonst überlege ich es mir noch anders.« Der Mann in der Badehose gab den beiden anderen einen Wink, und diese brachten Dorian Hunter ins Haus, in dem es angenehm kühl war. Auf dem Weg durch die Halle lief ihnen wieder ein halb nacktes Mädchen über den Weg. Diesmal handelte es sich aber um eine dunkelhäutige Schönheit mit asiatischem Einschlag. »Ist es nicht schade, daß dieses Mädchen irgendwann einmal im Zelt eines Emirs landen wird?« fragte Dorian Hunter. Statt einer Antwort wurde er in einen dunklen Korridor und dann durch eine Tür über eine Treppe in einen Keller gedrängt. Hier war es noch kühler, und Dorian fröstelte. Wenn nun Chiusa nicht an Informationen über den Milliardär Chalkiris interessiert war? Er wischte seine Befürchtungen hinweg. Chiusa, so mächtig er auch war, konnte es sich einfach nicht leisten, Geschehnisse im Zusammenhang mit Anatoll Chalkiris auf die leichte Schulter zu nehmen – oder gar zu übergehen. Darauf hatte Dorian seinen Plan aufgebaut. Er hätte mit Don Chiusa auch auf an dere und ungefährlichere Art Verbindung aufnehmen können, doch glaubte er mit einem spektakulären Auftritt mehr Wirkung zu erzie len. Der Keller hatte keine Fenster und wurde nur von einigen schwa chen Glühlampen erhellt. Dorian konnte nicht sehen, wie tief er war, denn Regale mit Hunderten von Weinflaschen verstellten ihm die Sicht. Er war davon überzeugt, daß von hier unten kein Laut nach draußen dringen würde, nicht einmal die Detonation eines Schusses. Dorian beachtete seine beiden Bewacher überhaupt nicht; er tat, als seien sie Luft für ihn. Von Revolverhelden ließ er sich schon längst nicht mehr beeindrucken, seit er sich mit Dämonen herum
schlagen mußte. Nach einer endlos scheinenden Zeit öffnete sich die schwere Kel lertür. Ein Gesicht erschien darin, das Dorian unbekannt war. Der Mann sagte in einem kultiviert klingenden Italienisch: »Bringt ihn in mein Arbeitszimmer!« Der Mann hinter dem Schreibtisch war Jurist, das erkannte Dorian auf den ersten Blick. Er war klein, hatte zierliche Hände und das Ge sicht eines aufgeschlossenen Beichtvaters, der jederzeit bereit war, seinen sündigen Schäfchen ein Ohr zu leihen. Nur seine Augen wollten nicht in dieses Bild passen. Ihr Blick war lauernd, kalt und unbarmherzig, aber es sprach auch eine gehörige Portion Intelligenz aus ihnen. Das verwunderte Dori an nicht, denn ein Mafiaboß vom Range Chiusas würde sich nur den besten Anwalt nehmen. »Setzen Sie sich, Signore Garner. Oder soll ich Sie Hunter nennen?« fragte er mit einer Stimme, in der etwas von der Kälte, die sich in seinen Augen spiegelte, mitschwang. »Mein Name ist Ugo Valcarese und …« »Sie können sich jedes weitere Wort ersparen«, unterbrach ihn Do rian ungehalten. »Ich habe wohl deutlich genug gesagt, daß ich Don Chiusa persönlich sprechen möchte. Wenn das nicht möglich ist, gehe ich wieder. Aber dann erfahren Sie auch nichts über Anatoll Chalkiris.« »Seien Sie doch nicht so unbeherrscht, Signore Hunter!« be schwichtigte ihn Valcarese. »Don Chiusa ist ein vielbeschäftigter Mann. Er kann sich nicht selbst um alles kümmern. Ich als sein An walt bin über alles informiert und in der Lage, Verhandlungen im Namen des Don zu führen.« Dorian beugte sich über den Tisch, bis sein Gesicht ganz nahe dem Valcareses war. »Ich bin nicht den weiten Weg nach Sizilien gefah ren, um mich dann mit Ihnen zu begnügen. Ich habe nämlich ange nommen, daß Chiusa die Einmischung Chalkiris' in seine Geschäfte ernst nehmen würde. Aber anscheinend macht es Chiusa überhaupt
nichts aus, daß der Grieche seine Leute reihenweise umbringen läßt und ihm Millionengeschäfte vor der Nase wegschnappt. Vielleicht habe ich aber auch falsche Informationen erhalten, und es stimmt al les gar nicht. Vielleicht ist Chiusa sogar froh, daß Chalkiris von sei ner Insel aus, die nur siebzig Meilen von Mazara del Vallo entfernt ist, seine Fäden über die ganze Welt zu ziehen beginnt. Möglich auch, daß Chiusa überhaupt nicht befürchtet, daß Chalkiris der Cosa Nostra den Rang ablaufen könnte. Wenn das stimmt, dann bin ich umsonst gekommen.« Dorian stand auf und wandte sich der Tür zu. Er blieb abrupt ste hen, als er sah, daß sie offenstand. Zwei Männer waren hereinge kommen. Sie verursachten kaum ein Geräusch, weshalb ihr Kom men unbemerkt geblieben war. »Sie sind also der Unterhändler von Signore Anatoll Chalkiris«, sagte der vordere der beiden. Er war so groß wie Dorian, jedoch annähernd doppelt so alt und beachtlich rundlich. Aber er wirkte nicht dick, eher stattlich. Er war die Personifikation des erfolgreichen Geschäftsmannes: distinguiert und präzise in Gesten und Worten. Wenn man einen Anwalt mit einem Beichtvater verglich, mußte man bei Chiusa die höchste Instanz zum Vergleich heranziehen: den lieben Gott. »Es freut mich, daß Sie doch noch Zeit gefunden haben, sich mir persönlich zu widmen, Don Chiusa«, sagte Dorian. »Aber bevor wir uns miteinander unterhalten, möchte ich einen Irrtum aus der Welt schaffen. Ich diene nicht Chalkiris, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich bin sein erklärter Feind. Ich bin nach Sizilien gekom men, um ihn zu töten. Und deshalb dachte ich, daß wir zusammen arbeiten könnten, Don Chiusa.« Der Mann, der hinter dem Don ins Arbeitszimmer des Anwalts ge treten war, taxierte Dorian. Er war etwa Mitte zwanzig, sah blen dend aus und hatte einen durchtrainierten Körper. »Ich glaube ihm kein Wort«, sagte er. »Wir sollten unsere Zeit
nicht mit ihm vergeuden, Vater.« Stefano Alberto Chiusa warf ihm einen Blick zu, aus dem milde Strenge sprach. »Noch bin ich der Don, Gianni.« Damit ging die erste Runde an Dorian, doch er wußte, daß es mit Gianni noch Schwierigkeiten geben würde, falls er sich mit der Ma fia einigen konnte. Einer der Leibwächter brachte eine Flasche Malvasia di Lipari. Do rian nippte kurz an seinem Glas, um den Don nicht zu verärgern, er bat sich danach jedoch anstatt des süßlichen Dessertweines einen Bourbon. Er benötigte zwei Drinks pur, um den aufdringlichen Ge schmack des Weines wegzuspülen. Währenddessen kamen sie ins Gespräch. »Ich möchte die Fronten von Anfang an klar abstecken«, sagte Do rian. »Mich kümmern Ihre Geschäfte überhaupt nicht, Don Chiusa, und auch das Schicksal Ihrer Organisation ist mir egal. Meinetwe gen könnte die Cosa Nostra zum Teufel gehen. Nehmen Sie das bitte nicht persönlich! Jedenfalls weiß ich, daß Anatoll Chalkiris Ihnen ein Dorn im Auge ist, weil er Ihnen in Ihre Geschäfte pfuscht. Sie wer den es sich wahrscheinlich nicht eingestehen wollen, aber ich kann Ihnen versichern, daß die Organisation des Griechen bald mächtiger sein wird als die Cosa Nostra. Wenn Sie das verhindern wollen, müssen Sie Chalkiris beseitigen.« »Sie sprechen ziemlich unverblümt, Mr. Hunter«, meinte Chiusa mit ausdruckslosem Gesicht. »Deshalb möchte ich Sie ebenso klar fragen, warum Sie sich ausgerechnet an mich wenden. Sie bieten mir nicht Ihre Unterstützung an, sondern wollen sich von mir helfen las sen.« »Wenn ich Chalkiris beseitige, dann helfe ich Ihnen zwangsläufig«, erwiderte Dorian. »Wenn auch unbeabsichtigt. Und da Sie aus Chalkiris' Tod zweifellos Nutzen ziehen, sehe ich nicht ein, warum Sie mich nicht unterstützen sollen.« »Warum wollen Sie Chalkiris aus dem Weg räumen?« »Weil er zu mächtig wird. Er stellt eine Bedrohung für die gesamte
Menschheit dar. Zwingen Sie mich bitte nicht, dies näher zu erläu tern. Aber gegen die Wesen, die Chalkiris führt, ist die Mafia ein Kinderschreck. Chalkiris und seine Organisation, man nennt sie auch die Schwarze Familie, könnten in einigen Jahren die Erde be herrschen – wenn sie es wollten. Das muß Ihnen als Motivation ge nügen, Don Chiusa.« Dorian hoffte, daß diese Erklärung dem Mafiaboß tatsächlich ge nügte, denn die volle Wahrheit konnte er ihm schlecht erzählen. Er würde ihn für verrückt halten und ihn – im günstigsten Fall – da vonjagen. Für jemanden, der von der Existenz der Dämonen keine Ahnung hatte, würde es sich wie das Gerede eines Irren anhören, wenn man ihm sagte, daß der Reederkönig und Milliardär Anatoll Chalkiris in Wirklichkeit identisch mit Asmodi war, dem Fürst der Finsternis und dem Oberhaupt der Schwarzen Familie. Und doch war es so. Dorian wußte es von Olivaro. Der Dämon Olivaro, der ihm wohlgesonnen schien, hatte ihm noch weitere wichtige Informa tionen gegeben. Sie konnten ausreichen, Asmodi alias Anatoll Chal kiris endgültig zur Strecke zu bringen. Doch allein konnte Dorian sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen. Er benötigte die Hilfe einer Organisation wie der Mafia. Er mußte sich ihrer Unterstützung ver sichern, um ein noch größeres Übel zu beseitigen. »Ich biete Ihnen eine Chance, die sich nicht wiederholen wird, Don Chiusa«, fuhr Dorian fort. »Wenn man Chalkiris beseitigen will, dann kann man das nur auf seiner Insel tun.« »Und wie wollen Sie auf die Insel gelangen?« fragte Chiusa mit leichtem Spott. »Ich habe mir sagen lassen, daß sie eine uneinnehm bare Festung ist. Niemand kann ungestraft einen Fuß darauf setzen, geschweige denn in Chalkiris' Nähe kommen.« »Sie sprechen wohl aus Erfahrung«, meinte Dorian. »Wie viele Leute haben Sie schon durch Chalkiris verloren? Oder können Sie sie nicht mehr zählen? Und was ist aus jenen geworden, die Sie heimlich zur Insel geschickt haben? Sahen Sie einen von ihnen je mals wieder? Und wenn – in welchem Zustand?«
Don Chiusa atmete schwerer. »Nicht umsonst nennt man Chalki ris' Land die Teufelsinsel. Man könnte tatsächlich meinen, daß dort der Teufel haust. Doch sagen Sie mir endlich, wie Sie schaffen wol len, was anderen nicht gelungen ist.« Dorian wurde zuversichtlicher; er befand sich auf der Siegesstraße. »Erstens bekämpfte ich Chalkiris mit seinen eigenen Waffen. Und zweitens besitze ich einen Plan von der Insel, in dem einige der Menschenfallen eingezeichnet sind.« Chiusas Anwalt, Ugo Valcarese, fragte mißtrauisch: »Wie sind Sie an den Plan herangekommen?« »Ich habe unter Chalkiris' Leuten einen Verbündeten. Von ihm habe ich auch erfahren, daß Chalkiris in vier Tagen auf seiner Insel eine wichtige Geschäftsbesprechung abhält. Er erwartet dazu nicht nur seine engsten Vertrauten, sondern auch wichtige Geschäfts freunde aus der dritten Welt – Politiker afrikanischer Staaten, die zu den zahlungskräftigsten Abnehmern jeglicher Art von Waffen zäh len.« Chiusa wechselte einen schnellen Blick mit seinem Anwalt. Dann fragte er anscheinend ohne besonderes Interesse: »Was wissen Sie sonst noch über diese Konferenz?« »Sie haben also auch schon davon gehört, Don Chiusa? Dann wer den Sie mir wohl zustimmen, daß es Chalkiris hart treffen muß, wenn die Konferenz durch einige Terrorakte gestört wird. Er würde bei seinen Geschäftsfreunden in so einem Fall viel an Prestige einbü ßen, wenn sie nicht überhaupt den Kontakt zu ihm abbrechen und sich wieder an ihren früheren Partner – nämlich Sie, Don Chiusa – erinnern. Wie gefällt Ihnen diese Vorstellung?« Der Don schwieg nachdenklich. Sein Sohn betonte indessen noch einmal: »Ich glaube ihm noch immer kein Wort. Das alles stinkt mir zu sehr nach einer Falle.« »Seien Sie nicht kindisch, Gianni«, meinte Dorian amüsiert. »Ich verlange nicht viel. Nur ein schnelles Schiff, etwa ein Dutzend ver läßlicher und mutiger Leute und eine entsprechende Ausrüstung.
Das ist für einen Don ein Pappenstiel, und Ihr Vater würde diese Leute nach und nach sowieso verlieren. Was riskiert ihr also bei die sem Unternehmen?« Don Chiusa hatte Dorian aufmerksam zugehört. Jetzt wandte er sich an seinen Anwalt. »Ugo, was hältst du davon?« »Das Angebot klingt verlockend, doch es kommt mir ein wenig zu plötzlich. Wir müssen uns alles genau überlegen. Zumal wir über haupt nichts über Sie wissen, Signore Hunter.« »Dann ziehen Sie in London Erkundigungen ein«, entgegnete Do rian. »Es wird Ihnen nicht alles gefallen, was Sie über mich hören, aber etwas wird Sie sicherlich beeindrucken.« »Und das wäre?« wollte Chiusa wissen. »Erinnern Sie sich an Bruno Guozzi?« fragte Dorian zurück. »Er wurde einst von seinen Feinden lebendig eingemauert. Ich irre si cherlich nicht, daß dies in Ihrem Auftrag geschah, Don Chiusa. Nun, Bruno Guozzi war auf diese Art und Weise nicht kleinzukriegen. Er brach nach einiger Zeit aus seinem Gefängnis aus und übte furcht bare Rache. Ihren Leuten gelang es nicht, ihn zur Strecke zu bringen, obwohl sie ihn oftmals vor ihren Waffenmündungen hatten. Habe ich recht?« »Es wurde behauptet, daß Gewehrkugeln ihm nichts anhaben konnten«, sagte Chiusa leise. »Das ist richtig«, bestätigte Dorian. »Und Chalkiris hat einige solch unheimlicher Diener, die auf herkömmliche Art nicht umzubringen sind. Mir gelang es jedoch, Guozzi unschädlich zu machen. Ich habe ihm den Schädel abgeschlagen.« »Sie wollen das gewesen sein?« entfuhr es Ugo Valcarese ungläu big. »Ah, Sie wissen darüber Bescheid«, grunzte Dorian zufrieden. »Dann überzeugen Sie sich, ob ich die Wahrheit sage. Ich lasse Ihnen bis morgen mittag Zeit, sich mein Angebot zu überlegen. Wenn Sie mich vorher erreichen wollen, so finden Sie mich in der Villa Gio
vanna. Das ist eine einfache, aber nette Pension in Mazara del Vallo.« Als Dorian sich erhob, sprang auch Gianni von seinem Platz auf und stellte sich ihm in den Weg. »Die Villa Giovanna ist uns natür lich bekannt, aber es wäre einfacher, wenn Sie für heute unser Gast sind, Mr. Hunter«, sagte er grinsend. »Das wird sich leider nicht machen lassen«, entgegnete Dorian im gleichen Tonfall. »Ich brauche in den nächsten vierundzwanzig Stunden Handlungsfreiheit. Sie verstehen, Gianni?« Der Mafiosisproß rührte sich nicht von der Stelle. Dorian überlegte sich, wie er die Situation, ohne Don Chiusa zu verärgern, bereinigen konnte. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und ein großer, bullig wirkender Sizilianer betrat den Raum. Sein braungebranntes, bruta les Gesicht sah mindestens so ölig aus wie sein kunstvoll gewelltes, pomadisiertes Haar. Er hatte einen etwas nach links verdrehten Un terkiefer, den er sich offensichtlich mal gebrochen hatte. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Bestürzung. »Was gibt es, Marcello?« fragte Don Chiusa leicht unwillig. »Entschuldigen Sie die Störung, Don, aber es hat sich ein tragi scher Unfall ereignet. Die Jacht aus Tunis …« Die weiteren Worte verstand Dorian nicht mehr, denn Marcello beugte sich zu Chiusa hinunter und flüsterte ihm den Rest ins Ohr. Don Chiusa wurde blaß. Wortlos erhob er sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Kommt mit! Auch Sie, Mr. Hun ter!« Sie folgten dem Don. Gianni ließ Dorian den Vortritt und verließ als letzter den Raum. Sie gingen durch einen Korridor, der in eine Garage führte. Dort war nur ein einziges Auto geparkt. Es handelte sich um einen geschlossenen Lieferwagen. Drei Sizilianer standen daneben, die bei Don Chiusas Anblick fast einen Kniefall machten. Der eine war sicher über fünfzig, die beiden anderen nicht viel älter
als zwanzig. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Vater mit seinen Söhnen. »Wer bist du?« wandte sich der Don an den Alten. »Ich heiße Alfredo Cammero, und das sind meine beiden Söhne Umberto und Franko«, sagte der Alte dienernd. »Ich bin Fischer und fuhr zusammen mit meinen beiden Söhnen lange vor Sonnenauf gang aufs Meer hinaus. Dort stießen wir auf die führungslos dahin treibende Motorjacht.« »Weiter!« verlangte Chiusa. Der Fischer schluckte. »Wir, das heißt mein Sohn Umberto, hat so fort erkannt, daß es eine Ihrer Jachten ist, Don Chiusa. Weil sich auf unsere Rufe niemand meldete, haben wir angelegt. Bevor wir jedoch an Bord gehen konnten, tauchte Marco auf und warnte uns. Er bot einen furchtbaren Anblick, Don Chiusa.« Chiusa gab den Söhnen des Fischers einen Wink, die Hecktür des Lieferwagens zu öffnen. Dorian blickte in den Laderaum. Er sah vier weiße Körper, die übereinandergeschichtet waren. Zuerst dachte er, daß es sich um Steinstatuen handle, doch als er Einzelheiten erken nen konnte, ahnte er die grauenhaften Zusammenhänge. »Das sind die vier, so wie wir sie auf dem Boot gefunden haben«, sagte der Fischer. »Zuerst waren sie schwarz, stanken erbärmlich, und die verfaulten Körperteile fielen einfach ab. Marco, der ein Freund meines Umberto ist, verlor während des Sprechens ein Auge. Und als ihn der erste Sonnenstrahl traf, erstarrte er, und sein Körper wurde weiß.« Die beiden Söhne des Fischers holten die vier Erstarrten aus dem Lieferwagen und legten sie auf den Boden. Ihre Körper waren wie von der Lepra zerfressen. An manchen Stellen schimmerten blanke Knochen durch. Aber es schien, als hätte das Sonnenlicht nicht nur ihre Körper gebleicht, sondern auch den Zerfallsprozeß gestoppt. »Wie ist das passiert?« fragte Don Chiusa. Seine Stimme und sein Gesicht waren ausdruckslos. Er hatte sich gut in der Gewalt.
Der alte Fischer erzählte, was ihm Marco noch anvertraut hatte, bevor er erstarrt war. »Schon wieder Chalkiris«, murmelte Don Chiusa. Er wich Dorians Blick aus und wandte sich an den Mann mit dem verrenkten Unter kiefer: »Übernimm du die Angelegenheit, Marcello! Wir brauchen einen Totenschein für alle vier, damit wir ihnen ein ordentliches Be gräbnis geben können. Und dann verständige die Angehörigen! Ih nen steht ein Schmerzensgeld zu. Aber veranlasse, daß sie kein zu großes Geschrei machen, Marcello! Ich möchte verhindern, daß es sich herumspricht, wie diese armen Teufel zugerichtet wurden. Am besten, man versiegelt ihre Särge. Sie sind tot, und mehr sollen auch ihre Angehörigen nicht erfahren.« Marcello machte sich sofort an die Arbeit. Er veranlaßte, daß die vier gebleichten und erstarrten Leichname wieder in den Lieferwa gen verfrachtet wurden. Nun schaltete sich Dorian ein. »Es ist ein Irrtum, Don Chiusa, wenn Sie glauben, daß diese vier Männer ihre ewige Ruhe gefunden haben. Haben Sie nicht gehört, daß sie erst im Sonnenlicht erstarr ten? Sie sind nicht endgültig gestorben. Wenn die Sonne untergeht und es Nacht wird, können sie wieder erwachen. Sie werden erst von ihren Qualen erlöst sein, wenn sie endgültig verwest sind.« »Mama mia!« rief jemand entsetzt. »Hören Sie mit diesem Unsinn auf, Mr. Hunter!« fuhr der Don ihn an und verlor zum erstenmal die Beherrschung. »Wollen Sie mit die sem Schauermärchen meine Leute einschüchtern? Was würden Sie denn vorschlagen, was wir mit den vier machen sollen?« »Sie müssen verbrannt und eingeäschert werden«, antwortete Do rian. »Dann können sie keinen Schaden mehr anrichten.« Don Chiusa blickte ihn an, als hätte Dorian an seiner Ehre gezwei felt. »Es waren gute Männer«, sagte er gepreßt. »Ihnen steht ein or dentliches Begräbnis zu.« Ohne ein weiteres Wort verließ er die Ga rage. Um Dorian kümmerte sich niemand mehr, nicht einmal der Mafio
sisproß Gianni. Der unheimliche Anblick der vier Gebleichten war für alle ein Schock gewesen. Dorian nutzte die Gelegenheit, um sich unbemerkt aus dem Staub zu machen.
Dorian störte der Wind nicht, der durch die zerschmetterte Wind schutzscheibe blies; für seinen Geschmack war es ohnehin zu heiß. Als er den Hügel hinunter war, überquerte er die Brücke am Mazo re, fuhr ein Stück auf der Staatsstraße 115 und nahm dann die erste Abzweigung, die in die Ortsmitte von Mazara del Vallo führte. Mazara del Vallo war eine Stadt mit sechsunddreißigtausend Ein wohnern, die in der Hauptsache vom Fischfang lebten. Die Stadt be saß einen der wichtigsten Fischereihäfen von ganz Italien und war außerdem auch führend in der Landwirtschaft und im Weinbau. Ansonsten besaß Mazara del Vallo keine besondere Bedeutung – wenn man davon absah, daß sich hier mit Don Chiusa einer der mächtigsten Mafiabosse niedergelassen hatte. Für Dorian war das natürlich wichtiger als alles andere. Die Fischerstadt war sein Sprungbrett zur Teufelsinsel, dem Hauptsitz Asmodis. Dorian glaubte, daß durch den Zwischenfall mit den vier Verwe senden seine Chancen gestiegen waren. Chiusa würde nun nach Ra che sinnen und seinem Angebot positiver gegenüberstehen. Er fuhr nicht zu seinem Hotel, sondern zuerst in die Werkstatt, um eine neue Windschutzscheibe einbauen zu lassen. Um die Bezah lung würde sich die Leihwagenfirma kümmern, bei der er den Wa gen gemietet hatte. Als er die Werkstatt verließ, fiel ihm ein rotes Sportcoupé auf, das etwas weiter oben an einer Kreuzung parkte. Darin saßen zwei Männer. Dorian ging in die andere Richtung. Als er sich nach einigen Schritten umdrehte, sah er, daß einer der Männer ausstieg und ihm folgte. Das paßte Dorian gar nicht. Er hatte eine Verabredung mit Olivaro und wollte nicht, daß man ihn beobachtete. Noch weniger
würde es Olivaro behagen, mit Dorian gesehen zu werden, denn wenn Asmodi davon erfuhr, würden alle ihre Pläne platzen. Dorian bog in eine schmale Gasse ein. Plötzlich bekam er furchtba re Kopfschmerzen. Er mußte stehenbleiben und sich an einer Haus wand stützen. Nach einigen Atemzügen fühlte er sich jedoch wieder besser. Er drehte um und ging die Gasse zurück. Dabei stieß er fast mit dem Mann zusammen, der ihm gefolgt war. Doch das kümmerte ihn jetzt nicht mehr. Eine seltsame Veränderung war mit ihm vorge gangen. Die Kopfschmerzen waren verschwunden, aber dafür hatte er auf einmal den dringenden Wunsch, ein bestimmtes Lokal aufzu suchen. Der Name des Lokals war irgendwo in seinem Unterbe wußtsein verankert, doch es fiel ihm nicht ein, ja, er wußte nicht ein mal, ob er schon jemals dort gewesen war. Ihm war nur klar, daß er dorthin mußte. Seine Beine trugen ihn mechanisch durch die winke ligen Gassen der Altstadt, ohne daß er wußte, in welche Richtung er ging. Nicht ein einziges Mal drehte er sich nach seinem Verfolger um. Dann war er am Ziel. Er wollte das Schild über dem Eingang lesen, doch es verschwamm vor seinen Augen. Wie unter einem Zwang teilte er die Plastikschnüre und betrat einen düsteren Raum. Als sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, wurde sein Kopf auf einmal wieder klar. Er blickte sich um. Das Lokal war leer. Nur durch eine offene Tür, die in die Küche führen mußte, drangen Geräusche und das Geplapper einer Frau und eines Mannes. Dann entdeckte er in einer Nische, die mit Schilfrohr abgeteilt war, den einzigen Gast. Olivaro! Dorian ging hin und setzte sich ihm gegen über. Olivaro blickte lächelnd auf und sagte statt einer Begrüßung: »Hier sind wir ungestört. Der Wirt wird sich nicht um uns küm mern. Und solange wir hier sind, werden auch keine Gäste kom men.«
Olivaro war klein. Wenn er stand, reichte er Dorian nur bis ans Kinn. Er hatte ein schmales Gesicht, und seine dunkelbraunen Au gen standen weit auseinander. Er trug das braune Haar kurzge schnitten, hatte eine kleine gerade Nase und einen zu großen Mund mit vollen sinnlichen Lippen. Alles in allem war er eine mehr als durchschnittliche Erscheinung, aber dafür besaß er außergewöhnli che magische Fähigkeiten, von denen Dorian gerade eine Kostprobe bekommen hatte, als er ihn gegen seinen Willen zu diesem Treff punkt lotste. Und sicherlich konnte Olivaro, wenn ihm danach war, einem Betrachter jedes nur gewünschte Aussehen vorgaukeln. Aber Dorian konnte sicher sein, daß Olivaro so aussah, wie er sich im Augenblick zeigte. Er hatte den Beweis dafür – eine Kupferstich platte aus dem 15. Jahrhundert, die Olivaro darstellte. Dorian wußte aus Erfahrung, daß Dämonen mit ihren Bildnissen in enger Symbio se lebten. Zerstörte man das Bildnis, dann mußte auch der Dämon sterben. So war es Dorian möglich gewesen, Olivaro zu erpressen. Doch inzwischen hatte sich herausgestellt, daß Olivaro auch freiwil lig mit dem Dämonenkiller zusammenarbeiten würde. Um seinen guten Willen zu demonstrieren, hatte Dorian dem Dä mon die Druckplatte mit seinem Bildnis ausgehändigt. Als Gegen leistung hatte Olivaro versprochen, ihm Asmodi auszuliefern. »Was haben sie bei Chiusa ausgerichtet?« fragte Olivaro. »Ich glaube, er war sehr beeindruckt und wird mit mir zusammen arbeiten«, antwortete Dorian und berichtete von der neuerlichen Schlappe, die Chalkiris dem Mafiaboß zugefügt hatte. »Wenn ich erst Chiusas Mißtrauen gegen mich zerstreut habe, wird er mir bestimmt jegliche Unterstützung gewähren. Und dann kann ich zum Schlag gegen Asmodi ausholen.« »Chiusa ist so mißtrauisch, daß er Ihnen zwei seiner Männer auf die Fersen gesetzt hat«, sagte Olivaro. »Aber seien Sie unbesorgt! Den beiden ist es nicht gelungen, Ihnen zu folgen.« »Sie überraschen mich immer wieder mit Ihren Fähigkeiten, Oli varo«, sagte Dorian anerkennend, doch nicht ohne Unbehagen. »Mir
wäre aber wohler, wenn ich wüßte, welche Gebiete der Schwarzen Magie Sie beherrschen. Ich weiß noch nicht einmal, welche Art von Dämon Sie sind.« »Das ist auch besser so«, meinte Olivaro. »Angenommen ich wäre ein Leichenfresser, ein in Ihren Augen abscheulicher Ghoul, oder ein Vampir, dem nur das Blut von kleinen Kindern mundet, glauben Sie nicht, daß es unsere Beziehungen stören würde, wenn Sie davon wüßten? Es muß Ihnen genügen, daß ich Ihnen helfen will, Asmodi zur Strecke zu bringen.« Dorian nickte. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Er wechselte das Thema. »Haben Sie mir den Plan von der Insel mitgebracht?« Olivaro breitete eine Karte auf dem Tisch aus. Darauf war eine In sel eingezeichnet, die etwa die Form eines Ellipsoides hatte. Im Wes ten waren der Insel Riffe vorgelagert. Mehr Eintragungen fanden sich in diesem Gebiet nicht. Nur die Ostspitze war mit kartographi schen Eintragungen versehen. Es handelte sich um einen Hafen, um den sich verschieden große Gebäude gruppierten. Olivaros Finger deutete darauf, und er erklärte: »Das ist das Hauptquartier von Asmodi. Von hier aus beherrscht er die Schwar ze Familie und lenkt die Geschicke der Sterblichen. Verständlich, daß diese Residenz stark bewacht ist. Asmodi läßt sich in seinem Pa last von einem Heer von Untoten bewachen. Wenn Sie versuchen sollten, vom Hafen her zu ihm vorzudringen, haben Sie keine Chan ce. Sie müssen im Westen der Insel landen und über Land zu seinem Hauptquartier vordringen.« Dorian schnitt eine Grimasse. »Warum weist die Karte in diesem Teil der Insel keine Eintragungen auf? Sagen Sie nur nicht, daß As modi hier keine Menschenfallen aufgestellt hat.« »Ich kenne diesen Teil der Insel nicht«, gestand Olivaro. »Sie wis sen, daß Asmodi auch innerhalb der Schwarzen Familie viele Feinde hat. Deshalb muß er sich auch vor seinen eigenen Leuten schützen. Und der beste Schutz ist es immer noch, die Verteidigungsanlagen
geheimzuhalten. Es wird nicht leicht sein, die Insel zu durchqueren, aber Sie haben zumindest eine Chance auf Erfolg, während Sie im Osten von vornherein auf verlorenem Posten stehen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie mir wenigstens einiges darüber sagen könnten, was mich auf der Insel erwartet«, sagte Dorian zerknirscht. »Am besten ist es, wenn Sie sich auf das Schlimmste gefaßt ma chen«, riet Olivaro. »Und so ganz unwissend sind Sie ja auch nicht. Sie haben die Aussage der Mafialeute gehört, die von einem Mäd chen zur Insel gelockt wurden.« »Ich nehme an, daß es sich nur um eine Halluzination gehandelt hat«, meinte Dorian. »Nicht ganz«, widersprach Olivaro. »Asmodi hat eine Geliebte na mens Valiora. Von ihr ging die Kraft aus, die die Mafialeute ins Ver derben lockte. Ich weiß nicht, welche Machtmittel Asmodi sonst noch gegen Eindringlinge einsetzt, aber eine seiner Waffen ist dieses Mädchen. Auf seine Art, sofern ein Dämon überhaupt zu Gefühlen fähig ist, liebt er sie. Wenn es Ihnen gelingt, an Valiora heranzukom men, dann haben Sie schon halb gewonnen. Sie müssen zuerst das Mädchen töten, dann haben Sie Asmodis Achillesferse freigelegt. Denken Sie immer daran!« »An guten Ratschlägen haben Sie mir genug auf den Weg mitgege ben«, sagte Dorian sarkastisch. »Werden Sie nicht auf der Insel sein, wenn die Konferenz stattfindet?« »Doch. Ich werde nach unserer Unterhaltung sofort zur Insel fah ren. Asmodi vertraut mir mehr als allen anderen. Er ahnt nicht im mindesten, daß ich ihn verraten habe. Deshalb weihte er mich teil weise auch in seine Beziehungen zu Valiora ein. Dieses Wissen habe ich an Sie weitergegeben, Dorian. Mehr kann ich nicht für Sie tun, denn sonst würde Asmodi sofort Verdacht schöpfen.« »Schon gut.« Dorian winkte ab. »Ich verstehe vollkommen. Und ich bin Ihnen für die Information natürlich dankbar. Ohne Sie hätte ich nicht einmal erfahren, daß Asmodi mit Anatoll Chalkiris iden tisch ist und daß er seinen Sitz auf der Teufelsinsel hat.«
»Vielleicht kann ich doch noch etwas für Sie tun«, sagte Olivaro nachdenklich. »Wenn es mir irgend möglich ist, werde ich mich mit Valiora beschäftigen und sie von Ihnen abzulenken versuchen. Aber versprechen kann ich nichts.« »Das ist immerhin schon etwas.« Olivaro erhob sich, Dorian ebenfalls. Er wollte dem Dämon die Hand hinstrecken, überlegte es sich dann aber anders. Diese Geste war in der Schwarzen Familie nicht gebräuchlich und für Olivaro daher bedeutungslos. »Noch eines«, sagte Olivaro abschließend. »Sollten Sie Asmodi in die Hände fallen, so kann ich nichts für Sie tun. Selbst wenn wir ein ander gegenüberstehen, wird es mir nicht möglich sein, Ihnen zu helfen.« Mit diesen Worten verließ er das Lokal. Dorian stand noch benommen da, als der Wirt aus der Küche kam und sich, die Hände an der Schürze abwischend, nach seinen Wün schen erkundigte. Da es schon längst Mittag war, bestellte Dorian eine Fischsuppe, ein Schwertfischschnitzel und als Nachspeise Can noli. Dazu trank er einen Tischwein mit der klingenden Bezeich nung Cerasuolo di Vittoria. Whisky wäre ihm lieber gewesen, doch den hatte der Wirt nicht auf Lager.
Dorian entspannte sich gerade im Hotelzimmer auf seinem Bett, als die Tür mit Gepolter aufgestoßen wurde, und zwei Männer mit Pis tolen hereinstürmten. Sie schlossen die Tür hinter sich und drehten das Licht an. »Aufstehen!« wurde Dorian aufgefordert. Nachdem sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er in einem der Männer seinen Verfolger vom Mittag. »Es hat aber lange gedauert, bis ihr mich gefunden habt«, meinte er spöttisch, als er sich vom Bett erhob. »Dabei hättet ihr nur euren
Don zu fragen brauchen. Er weiß, wo ich wohne.« »Keine langen Reden«, sagte der Mann, der ihn beschattet hatte. »Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit! Und stecken Sie nicht erst eine Waffe ein! Wir müßten sie Ihnen doch abnehmen.« »Wohin bringt ihr mich?« fragte Dorian. Er erhielt keine Antwort. Gehorsam schlüpfte er in seine Jacke, und die beiden brachten ihn auf die Straße hinunter, wo sie ihr rotes Sportcoupé geparkt hatten. Er mußte sich auf den Beifahrersitz setzen, während sein Bewacher sich auf den Notsitz zwängte und ihn mit der Pistole im Genick be drohte. Die Fahrt führte aus der Stadt hinaus, einen Hügel hinauf und endete vor einem mit Neonreklame beleuchteten Gebäude. Grotta Marcello, las Dorian und fragte: »Gehört das Lokal etwa dem Marcello mit dem schiefen Kiefer?« »Marcello Sanza ist hier Geschäftsführer«, wurde ihm geantwortet. Ein Blick auf den Parkplatz zeigte Dorian, daß hier nur stinkreiche Leute verkehrten. Gleich am Eingang wurden sie von einer leichtbe kleideten Frau empfangen. Das Glamourlächeln gefror ihr aber auf den Lippen, als einer der beiden Revolverhelden sie zwanglos in den Po kniff. Das Mädchen hinter der Garderobe war womöglich noch hüb scher, und auch die Zigarettenmädchen, Barmädchen, Animiermäd chen und Stripperinnen auf der Bühne standen ihr im Aussehen um nichts nach. Frauen, wohin man blickte – und als Gegengewicht, da mit die Sache nicht zu einseitig wurde, betagte Herren ohne An hang. Dorian wurde von den Revolverhelden zu einer Loge neben der Bühne gebracht, wo ein halbes Dutzend Männer saß, die sich – bis auf zwei von ihnen – ebenfalls im fortgeschrittenen Alter befanden. Die beiden Ausnahmen waren Gianni Chiusa und Marcello Sanza, der Geschäftsführer des Nachtclubs. Die anderen vier Männer hat ten nichts mit den Lebemännern gemein, die hier waren, um sich
mit dem jungen Fleisch zu amüsieren. Sie hatten für die Mädchen kaum einen Blick übrig, und da in ihrer Mitte Don Chiusa saß, wuß te Dorian auch sofort, wo er die anderen drei einzureihen hatte. Don Chiusa bat Dorian an seinen Tisch und stellte ihn den drei Unbekannten als »einen ambitionierten jungen Mann« vor. Dann nannte er die Namen seiner »Geschäftsfreunde«, doch Dorian ver gaß sie, kaum daß er sie gehört hatte. »Es überrascht mich, daß Sie sich so schnell entschieden haben, Don Chiusa«, eröffnete Dorian das Gespräch. »Oder haben Sie mich nicht rufen lassen, um Ihre Entscheidung bekanntzugeben?« »Sie fällt mir schwerer denn je«, sagte Chiusa. »Ich werde mir ein fach über Sie nicht klar, Mr. Hunter.« Dorian lächelte. »Sie meinen, weil es Ihnen nicht gelang, mich be schatten zu lassen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich eine wichti ge Verabredung hatte?« »Mit wem?« »Auch das wissen Sie. Mit meinem Mittelsmann zu Chalkiris. Er sollte mir den Plan der Insel beschaffen.« »Haben Sie ihn?« Dorian klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke. »Sicherlich überle gen Sie jetzt, wie Sie mir den Plan abluchsen können, Don Chiusa. Aber das zahlt sich nicht aus. Der Plan allein hilft Ihnen überhaupt nichts. Ohne meine Hilfe schaffen Sie es nicht, ebenso wie ich auf Ihre Unterstützung angewiesen bin. Wir müssen also zusammenar beiten.« »Wie können Sie von Zusammenarbeit reden, wo Sie Ihre eigenen Ziele verfolgen?« »Wir wollen beide Anatoll Chalkiris beseitigen. Dabei ist es un maßgeblich, welche Motive wir haben. Haben wir unser Ziel er reicht, gehen wir wieder jeder unserer Wege. Ich weiß nicht, warum Sie mir immer noch mißtrauen. Sie gehen doch wahrlich kein Risiko ein, während ich meinen Kopf riskiere.«
»Zeigen Sie mir den Plan der Insel!« verlangte Chiusa. »Warum nicht?« Dorian griff in die Innentasche seiner Jacke. »Aber er wird Ihnen nicht viel nützen. Es sind nur die Hauptgebäu de darin eingezeichnet. Ein Großteil der Insel ist unerforscht. Auf der Karte ist er nur ein weißer Fleck.« Chiusa nahm die Karte an sich und entfaltete sie vor sich auf dem Tisch. Seine drei Geschäftsfreunde, die bisher noch kein Wort ge sprochen hatten, blickten ihm neugierig über die Schulter. Der Don runzelte die Stirn. »Warum sagten Sie, die Gegebenheiten der Insel seien nicht eingezeichnet, Mr. Hunter?« Dorian erhob sich von seinem Platz, um einen Blick auf den Plan zu werfen – und zuckte überrascht zusammen. Er konnte Chiusas Verwunderung verstehen, denn der Plan wies keinen einzigen wei ßen Fleck auf. Die gesamte Insel war kartographisch ausgewertet; es waren Hügel und Täler, Schluchten und Flußläufe, Tümpel und Tei che eingezeichnet. Dorian verstand das nicht. Warum hatte ihm Oli varo die Illusion gegeben, daß die Karte im Westen keine Eintragun gen enthielt? »Verstehe ich nicht«, murmelte er. »Was verstehen Sie nicht, Mr. Hunter?« »Nicht so wichtig.« Dorian winkte ab. »Sind Sie jetzt zufrieden, Don Chiusa? Ich brauche nur noch Ihr Einverständnis, dann kann es losgehen. Wir müssen spätestens in der nächsten Nacht auslaufen, sonst kommen wir zu spät zu der in vier Tagen von Chalkiris einbe raumten Konferenz.« »Wenn ich noch zögere, dann nicht aus Mißtrauen Ihnen gegen über, Mr. Hunter«, sagte Don Chiusa nachdenklich. »Ich muß nur an die vier Männer denken, die der Teufelsinsel zu nahe gekommen sind. Ich möchte nicht noch mehr Leute auf diese Weise verlieren.« »Was haben Sie eigentlich mit den Überresten der vier Männer ge macht?« fragte Dorian. »Die sind gut aufgehoben«, warf Marcello Sanza grinsend ein. »Ich
habe sie einstweilen im Kühlraum auf Eis gelegt. Bei minus zwanzig Grad Celsius werden sie nicht so rasch auftauen.«
Paolo Ferraro wetzte das lange Fleischmesser ohne besondere Hast. Immer wieder prüfte er die Schärfe, war mit dem Ergebnis aber nie zufrieden. »Was ist denn, Paolo?« rief der Küchenchef der Grotta Marcello über den Lärm hinweg. »Holst du nun endlich das Fleisch aus dem Kühlraum, oder muß ich dir Beine machen? Wenn sich auch nur ei ner von den Gästen beschwert, daß er zu lange warten muß, dann ziehe ich dir die Ohren lang.« Paolo Ferraro spurtete in den Keller. Er war nicht besonders klug, dafür aber der geborene Metzger. Er war so stark, daß er einen halb en Ochsen mühelos mit sich spazieren tragen konnte, und er war Schlächter aus Leidenschaft. Sprudelndes Blut aus einer Rinderkehle war für ihn ein faszinierender Anblick. Sein Beruf hatte ihn abge stumpft. Ihm machte es daher auch nichts aus, eine Menschenkehle durchzuschneiden, was er schon mehr als einmal getan hatte, ohne deswegen Gewissensbisse zu verspüren. Er schob den Riegel des Kühlraums zurück, öffnete die schwere Tür und drehte das Licht an. Wo jetzt die Rinder- und Schweinehälften an den Haken hingen, hatten auch schon ausgeblutete Körper von Männern gehangen. Aber das war schon lange her. Paolo besah sich die einzelnen Rinderhälften und drehte sie her um, um sie besser taxieren zu können. Dabei ließ er seine Blicke im mer wieder zum rückwärtigen Teil des Kühlraumes wandern. Paolo wußte, daß dort vorübergehend vier Leichen einquartiert worden waren. Er selbst hatte sie im Auftrag von Signore Sanza im Kühl raum untergebracht. Aber Paolo war sich gar nicht sicher, ob es sich um echte Leichen handelte. Sie sahen eher wie Attrappen aus, wie man sie für Filmaufnahmen verwendete. Er wußte das, weil er selbst schon mal eine Saison lang in Cinecitta als Statist tätig gewesen war.
Die Gummipuppen hatten so ausgesehen wie diese vier Leichen. Nur waren die Leichen nicht angemalt, sondern weiß wie Gips, und sie waren auch genauso steif. Aber Signore Sanza hatte gesagt, er solle sie gut kühlen, sonst wür den sie auftauen und fürchterlich stinken. Das konnte Paolo nicht glauben. Andererseits – warum sollte ihn Signore Sanza anlügen? Die anderen nahmen ihn schon mal auf den Arm, aber nicht Signore Sanza. Ob er mal nachschauen sollte, was aus den Leichen gewor den war? Er vergaß, daß der Küchenchef auf Nachschub wartete. Seine Neu gier war stärker als alles andere. Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung und trugen ihn tiefer in den Kühlraum hinein. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Rinderhälften hindurch, die er spielerisch wie Punchingbälle zur Seite stieß. Plötzlich blieb er stehen. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Nein, das konnte nicht möglich sein. Er mußte sich geirrt haben. Noch einen Schritt, dann hatte er den freien Platz an der Rückwand des Kühlraumes erreicht, wo er die steifen und kalkwei ßen Körper aufgebahrt hatte. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, daß keiner der vier mehr weiß war. Sie hatten sich schwarz ver färbt und wirkten auch nicht mehr steif. Es sah so aus, als seien sie förmlich zerflossen. Und sie stanken. Paolo hielt sich die Nase zu und wollte kehrtmachen, um Signore Sanza zu berichten, daß die Leichen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen aufgetaut waren, da kam aus der Kehle des einen ein gurgelnder Laut, der Paolo vor Schreck erstarren ließ. Während er noch wie ge lähmt dastand, begann sich der schwarze, stinkende Leichnam zu bewegen. Er hob den Arm, als wollte er nach Paolo greifen, und da bei fielen einige der schwarzen Fleischstücke ab. Paolo wich zurück. Da erhob sich der verwesende Leichnam und schwankte auf seinen knöchernen, von zerfressenen Sehnen und Muskeln zusammengehaltenen Beinen auf ihn zu. Paolo ging noch einen Schritt rückwärts, aber da schlug eine Ochsenhälfte gegen sei
nen Rücken und schleuderte ihn genau in die Arme des Scheusals. Aus dessen Rachen kam wieder ein gurgelnder Laut, als es Paolo seine glitschigen Hände um den Hals legte. Paolo wußte sich nicht mehr anders zu helfen, als dem Leichnam das lange Fleischermesser zwischen die Rippen zu stoßen. Das Messer ging durch den Körper hindurch, als wäre er aus Butter. Paolo stieß wieder zu, immer wieder, doch der lebende Leichnam verkraftete die Messerstiche und schleuderte Paolo zur Seite. Zwi schen den Rinderhälften eingeklemmt, sah er, daß auch die drei an deren Toten sich erhoben und ihrem Anführer zum Ausgang folg ten. Paolo wurde übel. Als er auf seine Hände blickte und sah, daß sie sich ebenfalls schwarz verfärbt hatten, wollte er schreien, doch das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Die zum Leben erwachten To ten hatten die Verwesung auf ihn übertragen. Während er noch auf seine Hände starrte, sah er, wie die schwarzverfärbte Haut abfiel und darunter dunkles Fleisch zum Vorschein kam. Gleichzeitig ging eine Verwandlung mit ihm vor. Er schloß sich den vier Leichen an und folgte ihnen ins Obergeschoß hinauf, um Verwesung und Tod unter die Gäste der Grotta Marcello zu bringen.
Ein schriller Schrei gellte durchs Lokal, als auf der Bühne vier schau rig anzusehende Gestalten auftauchten, denen kurz darauf eine fünfte folgte. Einige Männer, die dahinter einen makabren Scherz vermuteten, lachten unsicher. Doch das Lachen verging ihnen schnell. Eine der Gestalten, die im bunten Scheinwerferlicht noch unwirklicher aussahen, umfaßte das Mädchen, das sich auf der Büh ne gerade verführerisch auszuziehen begann, von hinten. Das Mäd chen begann sich zu winden und in höchster Not zu schreien. Da be griffen alle, daß es sich nicht um einen Scherz handelte. Marcello Sanza sprang beim Anblick der wandelnden Leichen auf. »Das sind die Toten aus dem Kühlraum!« schrie er fassungslos.
Der Tisch fiel polternd um, als auch die anderen von ihren Plätzen sprangen. Gianni Chiusa zog seine Waffe und stellte sich schützend an die Seite seines Vaters. »Ich habe Ihnen gesagt, daß die Toten keine Ruhe finden würden«, sagte Dorian zu dem Mafiaboß. »Sie hätten sie verbrennen sollen.« Der Don stand reglos da und starrte wie gebannt zu den fünf Ge stalten hinüber, die sich dem Bühnenrand näherten und sich an schickten, das Podium zu verlassen. Marcello Sanza rief seinen Leuten Befehle zu, aber sie waren über das ganze Lokal verteilt und konnten sich nur mühsam einen Weg durch die Gäste erkämpfen, die in wilder Panik den Ausgängen zu strebten. Einige Mafiosi hatten ihre Waffen gezogen und schossen über die Köpfe der Menge auf die fünf Monster, doch ihre Kugeln richteten keinen Schaden an. Sie hinterließen nur Löcher in den halb verwes ten Körpern. Sanza und Gianni nahmen die wandelnden Toten nun ebenfalls unter Beschuß. Die Striptease-Tänzerin stand mitten im Kugelhagel und wurde etliche Male getroffen. Dorian sah die Einschußstellen in ihrem Körper, doch suchte er vergeblich nach Blut. Aus den Wun den kamen nur einige Tropfen schwarzer Flüssigkeit. Ein Zeichen dafür, daß die tödliche Infektion blitzschnell auf gesunde Körper übergreifen konnte und sie im Nu zersetzte. »Zum Ausgang!« schrie Dorian über den Lärm hinweg. »Wer von den Toten berührt wird, ist unweigerlich verloren.« Von der Bühne her schlug ihnen bestialischer Gestank entgegen. Die meisten der Gäste waren bereits aus dem Lokal geflohen. Einige, die von den anderen erbarmungslos niedergetreten worden waren, rafften sich mit letzter Kraft auf und schleppten sich auf allen vieren fort. Obwohl die Gäste leichte Opfer für die Untoten gewesen wären, kümmerten sich diese überhaupt nicht um sie. Sie wichen manch mal aus und strebten zielbewußt auf die Loge zu, in der sich noch
immer Don Chiusa und seine Freunde aufhielten. Anstatt schleu nigst die Flucht zu ergreifen, hatte sich der Mafiaboß von seinen Leibwächtern umringen lassen. Doch obwohl sie ununterbrochen feuerten, konnten sie die Untoten nicht aufhalten. Jetzt kamen die sechs aus drei Richtungen. Sie hatten Don Chiusa und seinen Beglei tern den Weg zu den Ausgängen abgeschnitten und trieben sie in die Enge. Das Mädchen, das noch vor wenigen Minuten die Gäste mit den Reizen ihres makellosen Körpers betört hatte, bot nun einen noch furchtbareren Anblick als die vier Männer, die die Saat des Todes von der Teufelsinsel eingeschleppt hatten. An manchen Stellen war ihre Haut noch glatt, wenn auch bereits schwarz verfärbt, aber da zwischen schwärten tiefe Wunden. Als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte, fiel ihr ein Ohr ab. Dorian hob einen Sessel hoch und schleuderte ihn einem Untoten entgegen. Der konnte dem Wurfgeschoß nicht mehr ausweichen und wurde zu Boden gerissen. Dorian nutzte die Gelegenheit und sprang über die Balustrade der Loge auf die Tanzfläche. Dort ergriff er den nächsten Stuhl und hielt ihn einem anderen Untoten, der sich ihm drohend näherte, entgegen. Auch Chiusas Leibwächter sahen nun ein, daß sie mit ihren Pisto len gegen diese unheimlichen Gegner nichts ausrichten konnten, und machten es Dorian nach. Mit Stuhl- und Tischbeinen bewaffnet, stellten sie sich den Monstern entgegen, um so ihrem Don freien Weg zum Ausgang zu verschaffen. »Da hilft nur noch Feuer«, erklärte Dorian. »Zündet die Bude an und seht zu, daß keiner der Untoten ins Freie gelangt!« Dorian und den Mafialeuten war es gelungen, die unheimlichen Angreifer wieder bis zur Bühne zurückzudrängen. Gianni war an der Seite seines Vaters geblieben. Marcello Sanza lief neben ihm her. »Sie können nicht zulassen, daß Feuer gelegt wird, Don Chiusa«, beschwor er den Mafiaboß. »Es muß eine andere Möglichkeit ge ben.«
Gianni schlug ihm mit dem freien Handrücken ins Gesicht. »Tu endlich, was Hunter verlangt!« herrschte er ihn an. Aber inzwischen hatten schon andere die Initiative ergriffen und die Plüschvorhänge in Brand gesteckt. Die Flammen züngelten hoch und griffen auf einen der Untoten über, der mit tierischem Gebrüll um sich schlug und seinen lichterloh brennenden Körper zu löschen versuchte. Marcello Sanza schlug einen seiner Leute nieder, der mit einem Benzinkanister ins Lokal gerannt kam. Dabei fiel der Benzinkanister zu Boden. Das Benzin floß aus und fing augenblicklich Feuer. Sanza konnte sich gerade noch retten, der andere war jedoch so unglück lich gestürzt, daß er bewußtlos liegenblieb. Dorian verließ als einer der letzten den Barraum, in dem nun über all die Flammen tobten. Die Untoten waren umzingelt und versuch ten vergeblich, dem Feuer zu entfliehen. Als Dorian ins Freie kam, atmete er gierig die frische Luft in tiefen Zügen ein. Hinter ihm versperrten die Mafiosi alle Zugänge zum Gebäude. Don Chiusa saß mit seinem Sohn und den drei Geschäftsfreunden bereits im Wagen. Gianni hatte das Steuer übernommen. Neben der Fahrertür stand Marcello Sanza. Er machte einen nie dergeschlagenen Eindruck. Dorian glaubte aber nicht, daß das bren nende Lokal der einzige Grund dafür war. Gianni winkte Dorian heran, und der Dämonenkiller folgte der Aufforderung. Doch nicht Gianni war es, der das Wort an ihn richte te, sondern Don Chiusa selbst. »Ich habe mich entschieden, Mr. Hunter«, sagte der Mafiaboß, ohne Dorian anzusehen. »Sie bekommen ein Schiff und zehn Mann. Die Einzelheiten können Sie morgen noch mit Gianni besprechen. Er wird Sie begleiten.« »In Ordnung, Don Chiusa«, sagte Dorian, der alles andere als glücklich darüber war, daß ausgerechnet der Sohn des Mafiabosses
ihn begleiten wollte. Gianni entging Dorians Unbehagen nicht, und er grinste. Dann bückte er sich an Dorian vorbei und sagte zu Sanza: »Willst du dich nicht auch freiwillig für dieses Todeskommando melden, Marcello? Du hast einiges gutzumachen.« Sanzas Unterkiefer verrenkte sich noch mehr, als er schluckte. »Ich komme mit«, preßte er gequält hervor. »Ich wußte, daß du nicht kneifen würdest, Marcello«, sagte Gianni grinsend. »Und jetzt sorge dafür, daß Hunter in sein Hotel zurück kommt.« Gianni startete den Wagen und schoß mit quietschenden Reifen davon.
Dorian stand am Bug des Bootes und starrte auf die dunkle Wasser fläche, die irgendwo am Horizont mit dem Schwarz des wolkenver hangenen Himmels verschmolz. Nebel kam auf. Nur das Tuckern des Motors und die Stimmen der verhalten sprechenden Männer waren zu hören. Sie näherten sich den Klippen an der Westseite der Teufelsinsel. Hier gab es gefährliche Untiefen, und der Karte zufolge existierte überhaupt nur eine einzige schmale Wasserstraße, durch die man die Steilküste erreichen konnte. Deshalb loteten sie ständig die Meerestiefe aus. Plötzlich sah Dorian vor sich etwas leuchten. Er versuchte, die Ent fernung zu dem Irrlicht abzuschätzen, aber das gelang ihm nicht, weil er keine Bezugspunkte hatte. Eine undurchdringliche Brühe aus Nebelschwaden zog über die Meeresoberfläche. Nur das seltsa me flimmernde Licht durchdrang den Nebel. Einmal glaubte Dori an, die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, doch dann zerflossen die Konturen, und das Irrlicht wurde wieder formlos. Dorian wollte die Männer auf die Erscheinung aufmerksam machen, doch das war nicht mehr nötig.
»Was ist das da vorn?« fragte Umberto, der ältere Sohn des Fi schers Alfredo Cammero, der es sich nicht hatte nehmen lassen, mit zukommen. Er wollte Rache für seinen Freund Marco. »Da ist nichts«, sagte ein anderer. »Doch!« behauptete ein dritter. »Wo?« »Da! Ich kann es noch nicht genau erkennen, aber es leuchtet. Und es hat die Gestalt einer Frau!« Das Flimmern war schwächer geworden, und die Gestalt eines weiblichen Wesens hatte sich herauskristallisiert. »Schaut nicht hin!« beschwor Dorian die Männer. »Ihr habt gese hen, was aus euren Kameraden geworden ist. Marco hat auch von einer Frau gesprochen, die sie zur Insel gelockt hat. Wendet euch ab!« Aber es war, als würde er zu tauben Ohren sprechen. »Jetzt ist sie ganz genau zu erkennen. Ein tolles Weib!« »Und sie ist nackt!« »Wie kann sie nur über das Wasser gehen?« »Sie ist dunkelhäutig wie ein Mischling.« »Und klein und zierlich. Aber sieh sich einer diese wippenden Brüste an!« Ja, sie war schön und hatte die bronzene Hautfarbe einer SüdseeInsulanerin. Sie war klein und zierlich und aufreizend wohlgeformt, und sie war völlig nackt. Sie schritt so leichtfüßig und mühelos über das Meer, als hätte das Wasser für sie Balken. »Seht nicht hin!« rief Dorian wieder, obwohl er selbst die Blicke nicht von der jungen Frau abwenden konnte. »Was ist, lotet ihr nicht mehr die Meerestiefe aus? Gianni, halten Sie den ursprünglichen Kurs! Fahren Sie um Himmels willen nicht dem Mädchen nach! Be achten Sie es gar nicht!« »Sie will uns den Weg weisen«, behauptete Gianni Chiusa.
»Sie will uns ins Verderben locken«, erwiderte Dorian. Er bekam keine Antwort. Die Frau war jetzt trotz der Dunkelheit und des Nebels ganz deut lich zu sehen. Dorian blickte auf ihre Füße. Sie schienen das Wasser überhaupt nicht zu berühren. Das war kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern nur ein Trugbild. Obwohl Dorian das wußte, konnte er sich ihrem Bann nicht entziehen. Er stand am Bug und war er leichtert und entsetzt zugleich, daß Gianni das Boot vom Kurs ab brachte und der Frau nachfuhr. Niemand an Bord sprach ein Wort. Dorian eingeschlossen, starrten elf Augenpaare dem Lockvogel entgegen. Er wußte nicht, wie lange er so dagestanden hatte, als er plötzlich ein lautes Knirschen vernahm. Das Boot ruckte so heftig, daß er bei nahe über Bord geworfen worden wäre. Er beobachtete noch, wie die Frau etwa hundert Meter vor ihnen das Ufer betrat und sich ab wartend auf einen Felsen setzte, die Hände züchtig in den Schoß ge legt, dann stürzte das Bootsdeck auf ihn – oder umgekehrt. Als nächstes sah er durcheinanderwirbelnde Körper, die schrien und fluchten. »Wir sind auf Grund gelaufen!« rief jemand. Marcello Sanza blickte in die Kajüte, fluchte und brüllte: »Wir ha ben ein Leck! Wir sinken!« »Die Schlauchboote! Schnell, holt die Schlauchboote!« befahl Dori an. »Und ladet die Ausrüstung um! Denkt aber daran, daß die Sprengsätze und die Flammenwerfer für uns am wichtigsten sind. Die Handfeuerwaffen können wir noch am ehesten entbehren. Packt so viel Kerosin auf die Schlauchboote wie nur irgend möglich! Und vergeßt die Lebensmittel und die Medikamente nicht!« Dorian half kräftig mit zu verladen. Das erste Schlauchboot war schnell voll. Fünf Männer ruderten in ihm zur Küste. Sie verschwan den im Nebel. Die Frau saß am Ufer und beobachtete die Männer. Als das zweite
Schlauchboot beladen war, kam plötzlich eine Welle herangerollt und das Schlauchboot kippte um. Die Männer verfolgten entsetzt, wie ihre Ausrüstung über Bord ging. Ein Sturm kam auf und rüttel te an dem gekenterten Motorboot. Die Gischt schäumte über die Bordwand und durchnäßte die Männer. »Wir sinken!« schrie Gianni Chiusa. »Rette sich wer kann!« Die Männer hatten das Schlauchboot wieder herumgedreht und kletterten nun hinein. Einer glitt jedoch ab und verschwand in der schäumenden Gischt; er tauchte nur noch einmal auf, dann sank er für immer auf den Meeresgrund. Dorian rettete sich als letzter aufs Schlauchboot. Durch die Gischt hindurch sah er die Frau am Ufer stehen. Er war überzeugt, daß der Sturm ihr Werk war. Als sich das erste Boot mit den fünf Männern dem Ufer näherte, verschwand sie plötzlich. Dorian sah nicht, wo hin. Sie war nur von einem Augenblick zum anderen nicht mehr da. Er zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber, denn vorerst war es nur wichtig, daß sie lebend das Ufer erreichten.
»Rizzo hat es erwischt. Er wurde von der Brandung einfach fortge spült.« Niemand sagte etwas dazu. Einer der Männer bekreuzigte sich, die anderen saßen nur da, abgekämpft und völlig durchnäßt. Dorian machte Inventur. Als sie nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Hafen von Mazara del Vallo ausgelaufen waren, hatten sie die Ausrüstung einer kleinen Armee an Bord gehabt. Jetzt war sie auf einige Kisten Munition, ein halbes Dutzend Pistolen, zwei Maschi nenpistolen und zwei Flammenwerfer zusammengeschmolzen. »Die Medikamente sind alle beim Teufel!« schimpfte Dorian. »Wenigstens haben wir eine Kiste mit Konserven gerettet«, meinte Gianni. »Und was ist mit dem Wasser?« Dorian suchte vergeblich nach
den Wasserbehältern und fluchte wieder. »Wir werden schon irgendwo Wasser finden«, versuchte Marcello Sanza ihn zu beruhigen. »Auf Ihrer Karte sind doch Teiche und eini ge Quellen eingezeichnet.« »Das schon«, gab Dorian zu. »Doch wer garantiert uns, daß das Wasser nicht vergiftet ist?« Die Männer sahen ihn ungläubig an. »Übertreiben Sie nicht etwas, Hunter?« meinte Gianni. »Die Teu felsinsel ist hundert Kilometer lang und etwa fünfzig breit. Da wer den wir doch irgendwo trinkbares Wasser und etwas Eßbares fin den. Auf Ihrer Karte sind ausgedehnte Wälder eingezeichnet. Also wird es auch Tiere geben. Davon werden wir uns zur Not ernähren können.« Dorian sah den Zeitpunkt gekommen, die Männer aufzuklären. »Seid nur nicht zu sicher, daß es hier jagdbares Wild und trinkbares Wasser gibt. Ihr glaubt Anatoll Chalkiris' Gefährlichkeit zu kennen – und doch unterschätzt ihr ihn sträflich. Der Grieche ist mächtiger, als ihr euch vorstellen könnt. Er wird über die Insel verteilt tausend Menschenfallen aufgestellt haben, die ihr nicht einmal als solche er kennen könnt. Dazu gehörte auch die Frau, die uns hergelockt hat. Und dazu gehören auch vergiftete Quellen und wilde Tiere, die dar auf abgerichtet sind, Menschen zu reißen. Malt euch die schlimms ten Schrecken aus – unheimliche und phantastische! Laßt eurer Phantasie freien Lauf! Hämmert euch ein, daß jeder Schritt euer Tod sein kann! Denn das ist annähernd das, was uns hier erwarten wird.« Marcello mit dem schiefen Kinn grinste und sagte mit seiner leicht lispelnden Stimme: »Uns können Sie keine Angst einjagen, Hunter.« »Das ist schade«, bedauerte Dorian, »denn wenn ihr die Gefahren unterschätzt, dann seid ihr so gut wie verloren. Ihr müßt auf das Schlimmste gefaßt sein, denn die Wirklichkeit wird ohnehin viel schrecklicher sein, als ihr euch vorstellen könnt.« »Hören Sie endlich damit auf, Hunter!« sagte Gianni ärgerlich.
»Wir sind doch keine kleinen Kinder. Jeder dieser Männer hat schon mehr als einmal dem Tod ins Antlitz geblickt. Sie wissen alle, wor auf es ankommt. Überlegen wir uns lieber, wie es nun weitergehen soll.« Dorian sah ein, daß es keinen Zweck hatte, die Männer auf die Konfrontation mit den Dämonen vorbereiten zu wollen. Einige von ihnen hatten zwar mit eigenen Augen gesehen, was mit Marco und den anderen passiert war, trotzdem wollten sie nicht erkennen, daß hier die Mächte des Übernatürlichen am Werk waren. Er überblickte die Männer, zählte sie und stutzte. »Zwei fehlen«, stellte er fest. »Ich meine, von Rizzo abgesehen.« Die Männer sahen einander betroffen an, dann sagte einer: »Ich habe gesehen, wie dieser Umberto und sein jüngerer Bruder Franko den Steilhang hinaufkletterten. Sind wohl hinter der Frau her.« Dorian wirbelte herum. »Warum haben Sie das nicht sofort gemel det?« »Ich weiß nicht …« Es hatte keinen Zweck, dem Mann Vorwürfe zu machen, ebenso wenig wie den anderen; zweifellos waren sie beeinflußt und zur Passivität veranlaßt worden, ohne daß sie es ahnten. »Wir müssen ihnen nach«, erklärte Dorian und ergriff den einen Flammenwerfer. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Ich brauche einen Freiwilligen, der mich begleitet.« »Ich komme mit, Hunter«, erbot sich Gianni. Dorian war einverstanden. Gianni griff sich eine der beiden Ma schinenpistolen und steckte sich drei Reservemagazine in den Gür tel. »Ihr anderen bleibt hier und rührt euch nicht vom Fleck, was auch immer passieren mag!« Sie begannen mit dem Aufstieg. Als sie den Steilhang erklommen hatten, standen sie auf einer großen Wiese. Die Wolkendecke war et was aufgerissen, und der Mond tauchte das Gelände in fahles Licht. »Da sind sie!« rief Gianni und stieß Dorian an. »Und dort ist auch
die Frau.« Dorian bekam sie noch einen Augenblick lang zu sehen, dann war sie in dem zweihundert Meter entfernten Wald verschwunden. Die beiden Männer wollten ihr folgen. Gianni hob die Hände an den Mund und rief: »Umberto! Franko! Kommt zurück!« Aber obwohl die beiden Männer ihn hören mußten, reagierten sie überhaupt nicht. »Feuern Sie eine kurze Salve ab!« befahl Dorian. Gianni hob die Maschinenpistole und drückte auf den Abzug. Das Geknatter der Schüsse zerriß die Stille, aber die beiden Brüder schritten unbeirrt auf den Waldrand zu. Dorian begann zu laufen. Gianni folgte ihm. »Ich hätte gute Lust, diese Hunde einfach abzuknallen«, sagte der Mafiasproß keuchend, während sie den Brüdern nachrannten. »Vielleicht können wir sie noch retten«, meinte Dorian. Gianni warf ihm einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts. Um berto und Franko erreichten nun die ersten Bäume. Sie schienen ihre Verfolger nicht bemerkt zu haben und zeigten keine besondere Eile, wenngleich sie zielstrebig weitermarschierten. Als Dorian den Waldrand erreichte, blieb er stehen. Neben sich hörte er Gianni schnaufen. »Die beiden …«, begann der Mafiosi, doch Dorian brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er lauschte, und plötzlich glaubte er, in der Ferne jemanden singen zu hören. Der Gesang wur de immer lauter und eindringlicher. Dorian blickte auf Gianni und konnte am Ausdruck seines Gesichts erkennen, daß auch er den Ge sang hörte. Es war eigentlich mehr ein Summen, das an- und ab schwoll. Ein einschmeichelnder und verführerischer Singsang. Es war der Gesang, mit dem Hexen ihre Opfer einlullten und verzau berten. Dorian war gegen diese Art der Verzauberung inzwischen weitge
hend gefeit, aber Gianni nicht. Er war dem Gesang sofort verfallen. Dorian sprach ihn gar nicht erst an, weil Gianni doch nicht gehört hätte. Er setzte sich wortlos in Bewegung. Gianni folgte ihm erst wie in Trance, wurde dann immer schneller und überholte Dorian schließlich. Dieser ließ ihn die Führung übernehmen. Der Wald wurde immer dichter, die Pflanzenwelt veränderte sich. Sträucher und Bäume wurden exotischer, so als würden sie mit je dem Schritt tiefer in einen subtropischen Dschungel eindringen. Der Gesang wurde noch lauter, oder besser gesagt, eindringlicher. Dori an mußte all seinen Willen aufbieten, um der Verführung nicht zu unterliegen. Er blieb abrupt stehen, als sie auf eine große Lichtung kamen. Gi anni ging weiter. Er hörte nur die Stimme. Seine Augen waren starr auf die Frau gerichtet. Keine zehn Schritte hinter ihr befanden sich die Brüder Umberto und Franko. Inmitten der Lichtung stand eine Statue, die aus Marmor gehauen zu sein schien. Dorian hielt unwill kürlich den Atem an, als er erkannte, daß die Statue ein naturgetreu es Abbild der jungen Frau war. Die Fremde breitete jetzt die Arme aus, als wolle sie einen sehnsüchtig erwarteten Liebhaber umarmen, und die beiden Brüder kamen auf sie zu. »Umberto! Franko!« rief Dorian. Er sah, wie die Frau zusammenzuckte. Der verführerische Gesang brach für einen Moment ab. Umberto hielt inne und schien sichtlich verwirrt. Sein Bruder aber ging weiter. Er breitete nun ebenfalls die Arme aus, doch die Frau wich rückwärtsgehend vor ihm zurück. Dorian rannte auf die Lichtung hinaus und schoß im Laufen einen zwanzig Meter langen Feuerstrahl aus dem Flammenwerfer ab. Er überholte Gianni, dessen Bewegungen plötzlich eckig geworden wa ren, so als kämpfe er gegen eine fremde Macht an. Franko ging wei ter auf das Mädchen zu, das nun mit dem Rücken an der Steinstatue lehnte. Dorian rief seinen Namen. Der Junge reagierte noch immer nicht. Sein Bruder hingegen blieb stehen und sank etwas in sich zu
sammen. Dorian drückte wieder auf den Flammenwerfer. Eine lange Feuer spur zog durch das Gras. Die Frau verschmolz mit der Steinstatue. Tödliche Stille herrschte auf der Lichtung. Plötzlich schluchzte Franko auf und warf sich gegen die Steinsta tue. Er legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Franko, was tust du da?« rief nun sein Bruder, der endgültig zu sich gekommen war. Er wollte zu seinem Bruder eilen, doch da war Dorian heran und schlug ihn nieder. »Franko, komm zurück!« herrschte Dorian den Jungen an. »Kehre in die Wirklichkeit zurück!« Aber es war bereits zu spät. Als Franko seine Arme zurückziehen wollte, hoben sich plötzlich die steinernen Arme und umschlangen seinen Körper. Der Junge stöhnte wohlig auf, dann durchlief ein Zit tern seinen Körper, und er erschlaffte. Die Steinstatue zog ihre Arme zurück und ließ den reglosen Körper des Jungen zu Boden gleiten. »Franko!« schrie Umberto markerschütternd und wollte sich er neut auf seinen Bruder stürzen, doch wieder hielt ihn der Dämonen killer zurück. »Er ist tot. Du kannst ihm nicht mehr helfen, Umberto«, sagte Do rian. »Du darfst ihn nicht einmal berühren, denn wer weiß, viel leicht überträgt sich die Saat des Todes auf dich.« »Heilige Mutter Gottes!« rief Gianni erschüttert. »Das kann es doch gar nicht geben. Es ist unmöglich, daß dieses Ding aus kaltem Stein lebt und sich bewegt!« »Jetzt ist es wieder nur eine leblose Statue«, erklärte Dorian, »weil die Frau sie nicht mehr belebt. Aber sie kann diese Statue jederzeit wieder zu unheimlichem Leben erwecken. Sie werden sich mit die ser Tatsache abfinden müssen. Und ich bin sicher, daß wir noch mehr solch unheimlicher Überraschungen erleben werden.« Er ging einen Schritt auf Franko zu, der zusammengekauert vor
den Füßen der Mädchenstatue lag. Wo ihn die steinernen Arme be rührt hatten, war der Stoff seines Hemdes wie von Säure zerfressen, darunter war schwärzlich verfärbte Haut zu sehen. »Jetzt wissen wir wenigstens, wie Marco und die anderen ihr Schicksal ereilte«, sagte Dorian. Er wich einige Schritte zurück, brachte den Flammenwerfer in Anschlag und erklärte bedauernd: »Wir müssen ihn verbrennen, bevor er als Untoter erwacht und an dere infiziert.« »Nein!« schrie Umberto. »Das lasse ich nicht zu!« Dorian sah ihn auf sich zukommen und wollte dem Schlag aus weichen, doch da traf ihn etwas Hartes an der Schläfe, und er verlor schlagartig das Bewußtsein.
Als Dorian die Augen aufschlug, war es heller Tag. Er fuhr hoch. Er lag am Strand, an der Stelle, wo sie mit den Schlauchbooten gelan det waren, aber er war allein; von den Männern und der Ausrüs tung fehlte jede Spur. Einen Moment lang geriet er in Panik, doch er beruhigte sich rasch wieder, als er den Flammenwerfer erblickte, der an einem Felsbrocken lehnte. Dafür fehlte aber der Plan der Insel. Er hatte ihn in einem ledernen Umschlag an einer Kette um den Hals getragen. »Na, haben Sie Ihre fünf Sinne wieder beisammen?« Dorian blickte hoch. Gianni Chiusa saß oben auf dem Steilhang. »Wo sind die anderen?« wollte Dorian wissen. »Fort«, antwortete Gianni. »Als wir mit Ihnen im Schlepptau hier ankamen, waren sie verschwunden. Sie haben alle Waffen mitge nommen. Nur den Kompaß, ein Seil und den Spaten haben sie uns zurückgelassen.« Dorian blickte aufs Meer hinaus. Dort trieb eines der beiden Schlauchboote; es war leer. Also hatten die Männer die Insel nicht verlassen.
»Ist Umberto bei Ihnen?« rief Dorian den Steilhang hinauf. »Kommen Sie hoch!« rief Gianni statt einer Antwort zurück. »Ich habe eine Nachricht für Sie. Zumindest glaube ich, daß sie für Sie bestimmt ist. Ich kann nichts damit anfangen.« Dorian kletterte den Steilhang hinauf. Im Tageslicht wirkten die Ebene und der Wald harmlos. Vielleicht war das Gras saftiger als sonst in diesen mediterranen Breitengraden, aber sonst war nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Gianni stand auf seine Maschinenpistole gestützt. »Ich nehme an, Sie haben das hier schon gesucht.« Mit diesen Worten überreichte er ihm den Plan der Insel. »Breiten Sie ihn aus!« verlangte Gianni. Dorian tat es und sah auf den ersten Blick, daß die Landkarte sich wieder verändert hatte. Verschiedene Eintragungen, die er noch gut im Gedächtnis hatte, konnte er nicht mehr finden, dafür waren an dere eingezeichnet, die ihm fremd erschienen. Zum Beispiel ein Pfad durch den Dschungel, der als begehbar bezeichnet wurde und etwa einen Kilometer nördlich von ihnen begann. »Ich sehe, Sie sind so überrascht wie ich«, sagte Gianni. »Also ha ben nicht Sie die Änderungen vorgenommen. Wer dann?« »Ich weiß es schon«, sagte Dorian und dachte an Olivaro. Er hatte immer noch keine Ahnung, warum ihn der Dämon nicht darauf auf merksam gemacht hatte, daß die Karte variabel war. »Was ist mit der Nachricht, Gianni?« »Halten Sie die Karte so, daß das Sonnenlicht etwa in einem Win kel von fünfundvierzig Grad darauf fällt. Ich bin durch Zufall da hintergekommen.« Dorian hielt die Landkarte so, wie Gianni es ihm aufgetragen hat te, und plötzlich kristallisierten sich aus den verwirrenden Linien Buchstaben, die aber sofort wieder verschwanden, wenn das Son nenlicht nicht in einem Winkel von fünfundvierzig Grad drauf fiel. Dorian las:
Valiora ist auf Deinen Wegen Ihr Auge blickt aus Stein Sie ist von Asmodi gefangen Kommt Stheno oder Euryale Dir entgegen wachsen Schlangen aus wildem Wein und Deine Jugend ist gegangen. Dorian ließ die Karte sinken. »Verstehen Sie das?« fragte Gianni. »Teilweise«, antwortete Dorian. »Ich weiß jetzt, daß das Mädchen, das uns hergelockt hat, mit Valiora identisch ist. Sie kann uns mit Hilfe der Steinstatuen beobachten. Aber ich bin nicht sicher, ob die Warnung für mich bestimmt ist. Es paßt gar nicht zu Olivaro, daß er die Versform gewählt hat.« »Wollen Sie mich dumm sterben lassen, Hunter?« sagte Gianni un gehalten. »Sagen Sie schon, was die Botschaft zu bedeuten hat!« Dorian blickte in Richtung Norden. Dort stand in einiger Entfer nung eine Steinstatue, wie sie sie auf der Dschungellichtung gese hen hatten. »Wir verschwinden hier besser«, sagte er. »Wir werden beobachtet. Wo ist Umberto?« »Er verscharrt seinen Bruder.« »Was?« Dorian packte Gianni am Arm. »Und Sie lassen das zu? Habe ich nicht eindringlich genug vor einer Ansteckung durch den Toten gewarnt?« »Umberto hat versprochen, vorsichtig zu sein.« »Aber es nützt nichts, wenn er seinen Bruder verscharrt. Franko muß verbrannt werden!« Dorian packte den Flammenwerfer und rannte auf den Dschungel zu. Er glaubte, den Weg zu der Lichtung zu kennen, trotzdem verirrte er sich einige Male, bevor er sein Ziel erreichte. Die Steinstatue stand noch immer an ihrem Platz. Sie war
so leblos, wie Marmor es nur sein konnte. Dennoch hatte Dorian das Gefühl, daß sie ihn beobachtete. Zwei Meter von der Statue entfernt war eine Grube ausgehoben worden, daneben lag ein Spaten. Die Grube war etwa einen halben Meter tief – und leer. Von Umberto und seinem Bruder Franko fehlte jede Spur. »Wann ist Umberto hierher gegangen?« fragte Dorian. »Es war noch vor Sonnenaufgang.« »Dann kann ich mir schon denken, was passiert ist.«
Umberto stieß den Spaten in die Erde. Nach einigen Stichen blickte er zu seinem reglos daliegenden Bruder. Eine schreckliche Verände rung war mit diesem vorgegangen. Sein ganzer Körper hatte sich schwarz verfärbt. Die Haut war schuppig. Aus seinen Poren drang eine schwarze Flüssigkeit. Ein furchtbarer Gestank ging von ihm aus. Umberto schaufelte weiter. Das war er seinem Bruder schuldig. Er durfte nicht zulassen, daß man ihn wie den Kadaver eines Tieres einäscherte. Als er einen halben Meter tief gegraben hatte, hörte er plötzlich ein Stöhnen. Er fuhr herum und sah, wie sein Bruder sich bewegte. Ohne zu überlegen, rannte er zu ihm. Er nahm ihn in die Arme und richtete ihn auf. »Franko, Franko, du lebst?« »Ja, Bruder«, krächzte Franko. »Du hast mich wieder.« Plötzlich zuckte Umberto zurück. Er betrachtete seine Hände, mit denen er Franko berührt hatte. Sie wurden vor seinen Augen schwarz, so als hätte er sie in Pech getaucht. Er schrie auf und wischte sie im Gras ab. Aber sie blieben schwarz. Wie von Sinnen rannte er schreiend in den Dschungel hinein. Franko folgte ihm, wimmernd und stöhnend, denn die beginnende Verwesung verursachte ihm Schmerzen. Als die Brüder wieder zu sammentrafen, unterschied sich Umberto im Aussehen kaum noch
von Franko. Sie legten noch eine kurze Strecke zurück, dann wur den ihre Bewegungen immer langsamer, bis sie schließlich erstarr ten. Die Sonne war aufgegangen. Ihre Strahlen versteinerten die bei den Untoten und bleichten sie.
Marcello Sanza kam erst wieder zu sich, als der verführerische Singsang abbrach. Auf einmal war es wieder totenstill. Er blickte sich um und fand sich inmitten eines subtropischen Dschungels. Die fünf Männer, die mit ihm am Strand zurückgeblieben waren, umringten ihn. Sie sprachen plötzlich alle durcheinander, und aus ihren Worten ging hervor, daß sie nicht recht wußten, wie sie hier her gekommen waren. Sie hatten an die vorangegangenen Gescheh nisse nur bruchstückhafte Erinnerungen, wußten nur noch, daß sie die Ausrüstung zusammengepackt hatten und aufgebrochen waren, als sie den süßen Gesang der fremden Frau hörten. Sie hatten nicht anders gekonnt, hatten der Stimme folgen und sehen müssen, wer da sang. »Wenigstens sind wir bewaffnet«, redete sich Marcello Mut zu. »Die Küste liegt im Westen. Da die Sonne noch nicht aufgegangen ist, können wir uns noch nicht weit davon entfernt haben. Mit Hilfe des Kompasses werden wir leicht zurückfinden.« Es stellte sich jedoch heraus, daß sich der Kompaß nicht unter der Ausrüstung befand. »Macht nichts«, sagte Marcello Sanza. »Wir finden auch so zurück. Der Dschungel hat keine so große Ausdehnung, daß wir uns darin verirren könnten. Irgendwann werden wir schon zur Küste kom men.« Aber so einfach war das gar nicht. Nach zehn Stunden Marsch war die Küste noch immer nicht zu sehen. Auf ihrer Wanderung waren sie keinem einzigen Tier begegnet, hatten kein Vogelgezwitscher ge hört – nicht einmal das Summen einer Mücke. Im Dschungel herrschte – bis auf das Rascheln der Blätter – absolute Stille; er war
wie ausgestorben. Dafür stießen sie auf Steinstatuen, die alle die Frau darstellten, die sie mit dem Schiff zu den Klippen gelockt hatte. Einer der Männer verlor die Nerven, als sie wieder einmal auf eine solche Statue stie ßen. Er feuerte eine Garbe aus der Maschinenpistole ab, aber die Ge schosse kratzten den Stein nicht einmal an. »Ich werde noch verrückt«, rief Antonio Valazza und schleuderte den Tornister mit den Sprengsätzen zu Boden. »Was sollen wir hier denn überhaupt? Wir sind hergekommen, um für Chalkiris ein Feu erwerk zu veranstalten. Sollen wir das …« »Wenn dich Don Chiusa hören könnte, würde er nicht gerade er baut sein«, sagte Marcello tadelnd. »Es würde dem Don aber auch nicht gefallen, daß wir durch dich testen Dschungel irren müssen«, erwiderte Antonio. »Von Chalkiris' Leuten keine Spur. Hier gibt's nicht einmal Tiere! Ich wäre schon froh, wenn mich eine Mücke stechen würde.« »Toni hat recht«, sagte ein anderer. »Es ist geradezu unheimlich. Selbst die Pflanzen wirken so tot, als seien sie aus Plastik.« »Haltet endlich den Mund!« rief Marcello ungehalten. Das Genör gel seiner Leute machte ihn nervös. »Wir legen hier erst einmal eine Rast ein. Vielleicht stoßen Gianni und Hunter zu uns.« »Ich könnte diesem Hunter den Hals umdrehen«, sagte Antonio und zündete sich eine Zigarette an. Dabei fiel sein Blick zu Boden. Dort lag eine Kippe. Er starrte darauf, bückte sich langsam, hob den Zigarettenstummel auf und betrachtete ihn von allen Seiten. »Raucht außer mir noch jemand Camel?« fragte er, obwohl er wußte, daß er der einzige war, der diese Marke rauchte. »Das ist nämlich die Kippe einer Camel.« »Manche laufen meilenweit für eine Camel. Toni tut das schon für eine Kippe«, spottete Marcello, und alle lachten. »Ich finde das gar nicht lustig«, sagte Antonio ernst. »Denn dies ist die erste Zigarette, die ich rauche, seit wir hier Rast machen. Hier
liegt aber eine Kippe. Wißt ihr, was das bedeutet?« Marcello machte mit seinem verrenkten Unterkiefer mahlende Be wegungen. »Das würde bedeuten, daß du vorher schon einmal hier warst.« »Jawohl. Wir sind im Kreis gelaufen.«
Sie waren bis zur Dämmerung ununterbrochen marschiert, ohne si cher zu sein, daß sie nicht wieder im Kreis gegangen waren. Als die Dunkelheit hereinbrach, schlugen sie auf einer Lichtung ein Nacht lager auf. Obwohl sie völlig erschöpft waren, konnte keiner von ih nen Schlaf finden. Sie lagen bis tief in die Nacht wach, hingen ihren verstörten Gedanken nach oder tauschten alte Erinnerungen aus. Keiner von ihnen sprach das aus, was ihn wirklich bewegte. Jeder behielt seine geheimen Ängste für sich. Es war deshalb wie eine Erlösung für alle, als Antonio gegen Mit ternacht aufsprang und behauptete: »Ich habe Geräusche gehört.« »Du hörst Gespenster«, versuchte ihm einer einzureden. »Vielleicht sind es sogar Gespenster«, erwiderte Antonio. Dann plötzlich vernahmen sie es alle. »Es hört sich wie das Knacken eines Zweiges an«, behauptete Mar cello. »Vielleicht ist es Gianni, der unsere Spur gefunden hat.« »Ruhe!« befahl Marcello gedämpft. »Bewaffnet euch für alle Fälle!« Die Männer holten ihre Pistolen hervor. Antonio, der sich die Ma schinenpistole angeeignet hatte, schob ein volles Magazin hinein. Marcello nahm den Flammenwerfer an sich. Er eiferte Dorian Hun ter nach, der seiner Meinung nach am besten wissen mußte, welche Waffen auf der Teufelsinsel eingesetzt werden mußten. Die Geräusche kamen näher. Zwei der Männer hatten sich links
und rechts postiert. Sie hielten zusätzlich zu den Waffen noch jeder eine Taschenlampe in der Hand. »Marcello!« Die Stimme, die den Namen rief, klang den Männern nicht ver traut. Auch als sich der Ruf wiederholte, konnte niemand die Stim me erkennen. »Haltet euch bereit!« raunte Marcello seinen Leuten zu. »Das könnte eine Falle sein.« Laut fragte er: »Wer ist da?« »Ich bin es, Umberto!« kam es aus dem Dickicht. »Franko ist bei mir.« »Und was ist aus Gianni und Hunter geworden?« »Wir haben sie aus den Augen verloren.« Marcello lauschte dem Klang der Stimme. Versuchte jemand, ihn nachzuahmen, oder handelte es sich wirklich um Umberto und war nur irgend etwas mit ihm passiert? »Wie habt ihr uns denn gefunden?« »Das war gar nicht schwer.« Die Stimme war schon ganz nahe. Ein seltsamer Geruch wehte Marcello plötzlich in die Nase. Es roch nach Verwesung. Es war der gleiche Gestank wie in seinem Nachtlokal, als die Monster ins Lokal stürmten. Zwischen den Büschen tauchten jetzt zwei Gestalten auf. »Da sind wir!« rief die Stimme, die angeblich Umberto gehören sollte. »Taschenlampen einschalten!« befahl Marcello. Das Licht der beiden Taschenlampen fiel auf zwei furchterregende Gestalten. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um Umberto und Franko, aber das war nicht mehr festzustellen. Ihre Gesichter waren vom schwarzen Tod zerfressen. Sie schrien beide auf, als das Licht sie traf, und hoben die knöchernen Arme schützend vors Gesicht. Die Männer begannen zu feuern, ohne erst Marcellos Befehl abzu
warten, doch die Kugeln gingen fast wirkungslos durch die Körper der beiden Untoten hindurch; diese wurden nur von dem Aufprall der Geschosse erschüttert. Der eine Untote entriß dem links von ihm stehenden Mann die Ta schenlampe und schleuderte sie fort. Der kleinere der beiden, bei dem es sich um Franko handeln mußte, stürzte sich auf einen ande ren, der gerade ein neues Magazin in seine Pistole schob. »Zur Seite!« schrie Marcello. Dann schaltete er den Flammenwerfer ein. Franko wurde mitsamt dem Mann, mit dem er rang, von den Flammen erfaßt. Die beiden wurden wie von einer Sturmbö davongeschleudert. Marcello schwenkte den Flammenwerfer herum und erfaßte mit der lodern den Zunge Umberto. Er konnte jedoch nicht verhindern, daß ein zweiter seiner Männer in den Bereich der Flammen kam. Umberto versuchte sich in den Dschungel zu retten, aber Marcello schickte ihm einen zweiten Feuerstrahl nach, unter dem er zusammenbrach. Dann war alles vorbei. Die beiden Untoten brannten wie Zunder, ebenso wie ihre beiden Opfer. Marcello wandte den Blick ab, als er zu den drei Überlebenden sagte: »Nehmt mit, was ihr tragen könnt! Und dann nichts wie weg von hier!«
Marcello Sanza und seine Männer waren vor Durst und Hunger schon halb wahnsinnig. Als sie an diesem Morgen die Konservendo sen öffneten, hatten sie eine böse Überraschung erlebt. Das Büchsen fleisch war von Maden und Würmern durchsetzt gewesen. Sie hat ten eine Dose nach der anderen geöffnet, jede hatte den gleichen An blick geboten. Sie hatten alles weggeworfen, aber bald war ihr Hunger so groß geworden, daß sie dies zu bereuen begannen. Sie machten Marcello Vorwürfe, weil er so voreilig gehandelt hatte. Hinzu kam, daß sie
überhaupt nicht mehr wußten, wo sie sich befanden. Sie konnten sich nicht einmal am Stand der Sonne orientieren, weil eine dunkle Wolkendecke den Himmel verdüsterte. Und dann kam die Dämme rung – und sie hörten wieder das Lachen der geisterhaften Frau. Zu erst glaubten sie, endgültig den Verstand verloren zu haben, aber dann sahen sie sie barfüßig durch den Dschungel laufen. Sie blieb immer wieder stehen und gab sich dabei überaus kokett, so als woll te sie die Männer verspotten. Sobald diese in ihre Nähe kamen, schwebte sie wie eine Elfe davon. Die vier Männer folgten ihr. Da erstarrte die Frau auf einmal. Sie stand bewegungslos zwischen den Büschen, von Lianen und exoti schen Blüten umrankt. Die Männer kamen fasziniert, aber mit einer gewissen Scheu nä her. »Es sieht so aus, als sei sie aus Marmor«, sagte einer. »Sie ist auch aus Stein!« hörte sich Marcello sagen. Warum wehrte er sich gegen die Faszination, die von diesem göttlichen Geschöpf ausging? Tief in seinem Innern meldete sich eine Stimme, die ihn vor der Berührung dieser Steinstatue warnte. »Nicht näher!« rief er seinen Leuten zu. »Aber ich muß dieses Mädchen umarmen«, sagte einer der Män ner. »Zurück!« schrie Marcello. Er rannte dem Mann nach, doch dessen Vorsprung war schon zu groß. Er hatte die Mädchenstatue bereits erreicht und umfaßte ihren steinernen Körper. Da bewegten sich ihre Arme und umklammerten ihn mit tödli chem Griff. Als sie Minuten später in ihre ursprüngliche Stellung ruckten, fiel der Mann leblos zu Boden. Um seine Körpermitte zog sich ein schwarzer Streifen. Marcello verbrannte den Mann. Über ihnen erklang das spöttische Gelächter eines Mädchens. Die Männer kämpften sich weiter ihren Weg durch den Dschun
gel, bis sie ein Licht sahen. Sie pirschten sich vorsichtig heran und blickten voll ungläubigem Staunen auf die Szene, die sich ihnen bot. Sie standen vor einer großen Lichtung, die etwa zweihundert mal hundert Meter maß und vor einer fünfzig Meter hohen, fast senk rechten Felswand endete. Links und rechts von der Lichtung reichte der Dschungel bis an die Felswand heran. Der Fels war durch zahl reiche in den Stein gehauene schmale Treppen aufgelockert, die zu Höhleneingängen führten, von denen es mehr als ein Dutzend gab. In einigen Eingängen kauerten Alte, die so verhutzelt wirkten, daß man ihr Geschlecht nicht erkennen konnte. Sie waren alle in Lum pen gekleidet und hatten lange, filzige Haare. An die Felswand gelehnt stand ein Steinhaus. Es war nur einstö ckig, allerdings an die sieben Meter hoch, wirkte antik und erinnerte an einen griechischen Tempel, auch wenn es nicht im griechischen Stil gebaut war. Vor dem Haus brannte ein Lagerfeuer. Darum her um saßen einige Alte, die die Flammen beschworen und Wurzeln hineinwarfen. Andere kamen mit Reisigbündeln oder Knochen, die sie neben dem Feuer aufschichteten. Marcello glaubte, daß es sich um Menschenknochen handelte. Er versuchte, den Weg der Knochentransporte zurückzuverfolgen, und war schließlich sicher, daß sie aus den Höhlen herbeigeschafft wur den. Die Alten hatten die Augen geschlossen, und wenn sie sie doch einmal öffneten, dann leuchteten diese weiß. Sie hatten keine Pupil len. Die schmalen, eingefallenen Lippen hielten sie ebenfalls meist fest zusammengepreßt, öffneten sie jedoch einmal den Mund, dann sah man zwei Reihen blendend weißer Zähne, die spitz wie die Zäh ne von Haifischen waren. »Eine Greisen-Kolonie«, flüsterte Antonio. »Sie scheinen mir recht ungefährlich zu sein. Ob es hier vielleicht etwas zu essen gibt?« »Von irgend etwas müssen sie sich ernähren«, meinte der andere Mafioso. »Und sie brauchen auch Wasser. Sonst trocknen sie ganz aus.«
»Wir werden ihnen mal auf den Zahn fühlen«, beschloß Marcello, dem die Eingeweide vor Hunger schon schmerzten. »Aber seid auf der Hut, denn auf dieser Insel scheint alles gefährlich zu sein.« Die Alten, die um das Lagerfeuer saßen, hielten in ihrer Tätigkeit inne, als die drei Fremden aus dem Dschungel traten. Einige von ih nen streckten die Köpfe zusammen, die anderen standen nur da und starrten. Die in den Höhleneingängen Sitzenden stiegen die Treppen hinunter; auch aus dem antiken Steinhaus kamen einige heraus. Alle schienen im gleichen greisenhaften Alter zu sein und ähnelten ein ander so sehr, daß sie nicht auseinanderzuhalten waren. Nicht ein mal zwischen Männlein und Weiblein gab es Unterschiede. Falls sie alle dem gleichen Geschlecht angehörten, war nicht mit Bestimmt heit zu sagen, ob es sich nun um Frauen oder um Männer handelte. Die drei Fremden waren bewaffnet und machten den Eindruck, als würden sie von ihren Waffen auch Gebrauch machen. Doch das be eindruckte niemanden aus der Greisenkolonie. Einer der Alten trat näher an die Fremden heran und sagte mit einer Stimme, die weder männlich noch weiblich klang: »Ihr seht müde und abgekämpft aus. Ihr werdet Hunger und Durst haben. Folgt mir ins Haus. Stheno und Euryale erwarten euch bereits.« Der Alte drehte sich um und ging voran ins Haus. Die drei Mafiosi folgten ihm, ihre Waffen schußbereit in den Händen haltend. Aber die Greise zeigten sich nicht feindselig. Ihnen folgten nur Blicke aus geschlossenen Augen. Das war das Unheimliche daran: Obwohl sie die Augen geschlossen hatten, schienen sie alles zu sehen, was um sie herum vorging – und sogar noch mehr. Die drei Mafiosi betraten das Haus. Sie kamen in eine Säulenhalle, in deren Mitte ein Becken mit kristallklarem Wasser stand. Beim An blick des köstlichen Naß konnten die Männer sich nicht beherrschen und stürzten sich auf das Becken. Ihr Führer wartete geduldig, bis sie ihren Durst gestillt hatten, dann sagte er mit seiner wesenlosen Stimme: »Kommt!« Er ging tiefer ins Haus hinein. Hinter der Halle mit dem Becken
lag ein langer Korridor, der länger als das Haus tief war. Das Gewöl be am Ende des Korridors mußte sich bereits unter dem Felsen be finden. Die drei Mafiosi trauten ihren Augen nicht, als sie auf eine Tafel blickten, die mit herrlichsten Fleischspeisen beladen war; dazwi schen standen Wasserkaraffen und Suppenterrinen. Wieder wollten sie sich mit Heißhunger auf die Leckerbissen stürzen, doch da ertön te ein zweistimmiges: »Halt!« Die drei Männer hatten überhaupt nicht bemerkt, daß an dem Tisch zwei Frauen saßen. Sie hatten nur Augen für die Speisen ge habt und nahmen die Frauen erst wahr, als diese auf sich aufmerk sam machten. Die Frauen waren schön, trugen wallende, halbtrans parente und bis zum Boden reichende Gewänder, und ihre grün schillernden Haare waren zu hohen Turmfrisuren gekämmt und von wildem Wein umrankt. »Bevor ihr euren Hunger stillt, laßt euch warnen. Einer von euch dreien wird diese Tafel nicht lebend verlassen, denn eines der Ge richte ist vergiftet. Überlegt also gut, für welchen Platz ihr euch ent scheidet! Einer von euch muß sterben, denn jede von uns kann nur einen Mann lieben.« Marcello dachte keinen Moment daran, die Frauen mit Waffenge walt dazu zu zwingen, ihm zu verraten, welche der Speise vergiftet war. Er überlegte nur fieberhaft, welches Gericht wohl kein Gift ent hielt, und er entschloß sich, den Platz zur Rechten der einen Frau zu wählen. »Ich bin Stheno«, sagte die Frau verführerisch, als er sich an ihrer rechten Seite niederließ. Antonio belegte den Sitz rechts von der anderen Frau mit Be schlag. »Ich bin Euryale«, zirpte sie. Der dritte Mafiosi stürzte sich bedenkenlos auf den verbliebenen Platz, ergriff eine köstlich anzusehende Fleischkeule und riß mit den Zähnen ein Stück davon ab.
Marcello und Antonio kauten ebenfalls bereits. Sie warfen sich be zeichnende Blicke zu, während sie einen Bissen nach dem anderen hinunterschlangen. Und dann begannen sie alle drei zu lachen. Aber der dritte Mann lachte nicht lange. Er gab plötzlich röchelnde Laute von sich, rang nach Atem, bäumte sich auf und griff sich an den Hals. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht ver färbte sich bläulich. Er taumelte zurück und stürzte zu Boden. Mar cello kümmerte sich nicht um ihn. Er nahm nur am Rande wahr, was mit seinem Gefährten geschah; es berührte ihn überhaupt nicht. Einige Alte eilten herbei, packten den Toten mit gierigen Händen und zerrten ihn hinaus. »Auch Greise sind hungrig«, kommentierte Stheno. Marcello dachte sich nichts weiter dabei. Er aß, bis er nicht mehr konnte. Danach fühlte er sich so wohlig müde und entspannt, daß er sofort auf dem Sessel hätte einschlafen können. Doch Stheno gönnte ihm die ersehnte Ruhe nicht. Sie strich mit ihren zarten Händen über sein stoppeliges Kinn und hauchte ihm Küsse auf die Wangen. Er erhob sich von seinem Platz und folgte ihr aus dem Gewölbe. Er wußte nicht, was er tat, sondern spürte nur, wie dieses unvergleich liche Weib ihn berauschte. Er hatte schon viele Frauen in seinem Le ben gehabt, solche und solche, aber noch nie war er einem weibli chen Wesen wie diesem begegnet. Eine andere hätte es wohl kaum verstanden, einen müden Krieger wie ihn wieder munter zu ma chen. Das heißt, er war nicht wirklich munter, sondern eher schläf rig, aber er war über alle Maßen erregt; seine Lenden schienen mit Dynamit geladen. Sie umfaßte ihn mit ihren geschmeidigen Armen und preßte ihn fest an ihren pulsierenden Körper. Ihre Lippen, die sich halb zum Kuß öffneten, glichen einem Vulkan. Feuer sprühte aus ihnen, floß wie Lava durch seinen Mund und durchflutete seinen ganzen Kör per. Dann saugten sich ihre Lippen an seinen fest. Erst als er zu ersti cken drohte, riß er sich gewaltsam los. Er öffnete die Augen und
sah, wie sich ihre Haare bündelweise bewegten, als führten sie ein eigenes Leben. Sie wiegten sich wie Schlangen nach der Flötenmelo die des Fakirs und schlängelten sich bei jedem Takt der unhörbaren Musik näher an ihn heran. Marcellos Augen wurden groß. Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Sthenos Haare waren tatsächlich Schlangen. Aber das erkannte er erst, als es schon zu spät für ihn war. Die Schlangen aus dem Frau enhaupt umzüngelten seinen Kopf und schnürten ihn ein. Sie er stickten seinen Schrei, und Marcello fühlte, wie er immer müder, im mer schwächer wurde, bis seine Beine ihn nicht mehr tragen konn ten. Schwärze umfing ihn.
Der zweite Tag ging seinem Ende zu. Dorian und Gianni hatten sich an den auf der Karte eingezeichneten Pfad gehalten. Der Kompaß war nicht zu gebrauchen. Die Nadel zeigte nicht nach Norden, son dern drehte sich ständig im Kreis. Ihr einziger Wegweiser waren die Eintragungen auf der Landkarte. Dorian war sich aber nicht ganz si cher, daß sie sich daran halten konnten, weil er nicht wußte, ob die Hinweise tatsächlich von Olivaro stammten. Als sie jedoch nach zwei Tagesmärschen, die praktisch ohne Zwischenfälle verlaufen waren, nur noch fünfzehn Kilometer von Asmodis Hauptquartier entfernt waren, hatte Dorian kaum noch Zweifel. Aber warum hatte ihm Olivaro nicht schon bei ihrer Zusammenkunft auf Sizilien ver raten, daß die Karte ihre Geheimnisse erst nach und nach preisgeben würde? Dorian wußte darauf nur eine Antwort: Olivaro hatte in jenem Au genblick wahrscheinlich selbst noch nicht gewußt, ob er Dorian auf seinem Marsch zu Asmodis Hauptquartier behilflich sein konnte, und um Dorians Hoffnung nicht zu hoch zu schrauben, hatte er lie ber geschwiegen. Jedenfalls war die Warnung vor Valiora unmißverständlich, und
Dorian richtete sich danach. Er wich allen Steinstatuen aus. Manch mal hatte er den Dschungelpfad deswegen verlassen müssen und war in einem großen Bogen vorangegangen. Er war sich allerdings nicht sicher, ob Valiora sie nicht doch entdeckt hatte. Am Ende des zweiten Tages machten sie Rast an einem Tümpel. Die Versuchung war groß, von dem Wasser zu trinken, aber da es am Nachmittag leicht geregnet hatte und sie mit ihren Mündern die Wassertropfen gierig aufgefangen hatten, waren sie nicht mehr so durstig, daß sie sich um jeden Preis Wasser verschaffen mußten. Dorian breitete wieder den Plan der Insel vor sich aus. Er deutete auf einen Fleck, der wohl den Tümpel darstellte, an dem sie lager ten, und sagte: »Wir sind hier. Der Hafen mit der kleinen Stadt, in der Chalkiris seine Gäste empfängt, ist nur noch fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt. Wir könnten diese Strecke bis morgen abend schaffen, selbst wenn wir Umwege machen, aber ich glaube, wir müssen noch auf einige Überraschungen gefaßt sein. Diese Ruine hier, die auf unserem Weg liegt, könnte eine Gefahr für uns bedeu ten.« »Dann weichen wir ihr eben aus«, sagte Gianni. »Wenn es uns gelingt.« Gianni las die Eintragung, die neben dem Symbol für die Ruine stand. »Was bedeuten die beiden Worte Stheno und Euryale?« fragte er. »Sie kamen doch auch in der Botschaft vor.« »Stimmt«, pflichtete Dorian ihm bei. Die sechs Zeilen, die unter bestimmten Lichtverhältnissen auf dem Plan zu sehen gewesen waren, hatten sich inzwischen wieder aufge löst. Aber Dorian hatte sich den Vers gemerkt. Er rezitierte: »Kommt Stheno oder Euryale Dir entgegen, wachsen Schlangen aus wildem Wein, und Deine Jugend ist gegangen. Erinnert Sie das nicht an etwas, Gian ni? Denken Sie an die griechische Mythologie!« Gianni schüttelte den Kopf. Dorian vermutete, daß er sich damit
nicht besonders gut auskannte, es aber nicht zugeben wollte. Das konnte auch der Grund sein, weshalb er jetzt schnell das Thema wechselte. »Sehen Sie sich die Landkarte genauer an, Hunter! Haben Sie die Kreuze hier vorher schon gesehen? Ich kann mich nicht an sie erin nern.« Dorian betrachtete die Karte. Tatsächlich waren darauf einige Kreuze zu sehen. Sie verteilten sich über das Gebiet des westlichen Dschungels. Ein Kreuz war bei der Ruine mit der Bezeichnung Sthe no und Euryale eingezeichnet. Insgesamt waren es sechs. »Es sind aber keine richtigen Kreuze«, meinte Dorian. »Wenn schon!« sagte Gianni. »Aber man hat den Eindruck, als sei en es Kreuze.« »Sie sollen wahrscheinlich Orte markieren, an denen Leute von uns ihr Leben ließen«, sagte Dorian. »Das würde bedeuten, daß au ßer uns noch zwei am Leben sind. Wir müssen sie finden, weil anzu nehmen ist, daß sie noch einen Teil der Ausrüstung bei sich haben, womöglich sogar die Sprengladungen. Und die brauchen wir unbe dingt für unser Unternehmen.« »Damit haben Sie natürlich recht.« Es herrschte wieder Schweigen zwischen ihnen. Dorian starrte auf den Plan, auf dem in der fortschreitenden Dämmerung keine Einzel heiten mehr zu erkennen waren, und dachte an Olivaro, der trotz al lem immer noch ein Dämon war. Hätte er sonst die Gräber ihrer Ka meraden anstatt mit richtigen Kreuzen nur mit kreuzähnlichen Sym bolen markiert? Aber Dorian zweifelte nicht daran, daß es Olivaro ehrlich damit meinte, ihn bei der Vernichtung Asmodis unterstützen zu wollen. Gianni ließ sein Feuerzeug aufschnappen und zündete sich eine Zigarette an. Im Schein der schwachen Gasflamme glaubte Dorian eine Gestalt über die Landkarte huschen zu sehen. Die Karte be stand plötzlich nicht mehr aus kartographischen Linien, sondern war eine Miniaturausgabe der Teufelsinsel.
Und durch diesen Mikrokosmos rannte die nackte Frau – Valiora. Der Mond schien. Es war Vollmond. Und hinter Valiora lief eine be haarte Schauergestalt mit menschlichem Körper her. Ein Werwolf. Sekundenbruchteile später war der Spuk wieder vorbei. Gianni hatte das Gasfeuerzeug zugeklappt, in seiner Tasche ver staut und paffte genüßlich an seinem Glimmstengel. »Zünden Sie das Feuerzeug noch einmal an und halten Sie die Flamme über die Landkarte!« verlangte Dorian. »Los, machen Sie schon!« Gianni gehorchte verständnislos. Er ließ das Feuerzeug beinahe fallen, als er die Szene auf der Landkarte erblickte. »Heilige Mutter Gottes! Es ist, als würden wir durch ein Fenster einen weit abgelegenen Teil des Dschungels sehen. Und was ist das für ein Wesen?« »Das ist ein Werwolf«, erklärte Dorian. »Ein Mensch, der in Voll mondnächten zu einer reißenden Bestie wird.« »Aber so etwas gibt es doch nicht!« »Was für ein Narr Sie doch sind, Gianni. Ist Ihnen noch immer nicht klargeworden, daß es auf dieser Insel viel Unmögliches gibt? Können Sie mit Ihrem Verstand etwa erklären, wie es kommt, daß eine Steinstatue einen Mann umarmt und dieser Mann dann ver west?« Gianni sagte nichts darauf, aber seine Hand mit dem Gasfeuer zeug zitterte. Dorian konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse auf der Landkarte. Valiora lief immer noch vor dem Werwolf davon. Dorian wußte, daß die Szene Realität war und sich irgendwo in dem Dschungel tatsächlich abspielte. Die Frau konnte den Werwolf auf Distanz halten. Sein Gebrüll gellte gespenstisch durch die Nacht. Das fahle Mondlicht, das durch das Blätterdach fiel, ließ ihn noch viel furchterregender aussehen. Jetzt hatte Valiora eine ihrer Stein statuen erreicht und ging darin auf. Der Werwolf umkreiste die Steinstatue knurrend, machte Anstalten, sie anzuspringen, wich
dann aber wieder zurück. »Los, laß dich von der Statue umarmen!« drängte Dorian, als könnte er den Werwolf beeinflussen. Aber der Werwolf dachte nicht daran. Den Schweif zwischen die Hinterbeine geklemmt, zog er sich unwillig und heulend zurück. Die Szene verblaßte. Die Landkarte war wieder ein Stück Papier mit kartographischen Eintragungen. Nur das Heulen des Wolfes klang immer noch schaurig durch die Nacht. Dorian konnte durch die Blätter die volle Scheibe des Mondes sehen. »Er ist ganz in unserer Nähe«, sagte Gianni bestürzt. »Glauben Sie, daß er uns wittern wird?« Wieder heulte der Werwolf auf, diesmal klang er jedoch nicht mehr enttäuscht. »Er hat uns bereits gewittert.« Gianni entsicherte die Maschinenpistole und sprang auf. »Mit der Maschinenpistole könnten Sie nur etwas ausrichten, wenn sie mit Silberkugeln geladen wäre. So aber ist sie nutzlos.« »Verdammt! Wie sollen wir uns dann dieser Bestie erwehren?« Dorian lauschte auf das Geheul des Wolfes. Er war ganz nahe. Viel Zeit würden sie nicht mehr haben. Ein Werwolf im Blutrausch be lauerte seine Opfer nicht lange, sondern stürzte sich sofort auf sie. »Ich habe bemerkt, daß Sie ein Kreuz an einer Kette um den Hals tragen«, sagte Dorian. »Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt damit?« entgegnete Gian ni ungehalten und versuchte das Dickicht mit den Augen zu durch dringen. »Ich bin eben gläubig.« »Und ich habe auch bemerkt, daß die Kette und der Anhänger aus Silber sind.« »Na und?« »Warum nicht aus Gold, Gianni?« »Man sagt, daß Silber sich schwarz verfärbt, wenn ein Kranker es
trägt. Ich möchte es sofort wissen, wenn ich krank werde.« »Geben Sie mir die Kette, Gianni!« verlangte Dorian. »Wir haben nicht mehr viel Zeit« »Weshalb?« »Geben Sie schon her!« Gianni griff sich unters Hemd und zog die schwere Silberkette mit dem Kreuz über den Kopf. Dorian riß es ihm aus der Hand. In die sem Augenblick teilten sich die Büsche, und der Werwolf kam her ausgestürzt. Gianni feuerte das Magazin der Maschinenpistole auf ihn leer. Ob wohl die Geschosse den Werwolf nicht verletzten konnten, so hiel ten sie ihn zumindest eine Weile in Schach. Doch als das Magazin leer war, und Gianni ein neues hervorholen wollte, griff der Wer wolf an. Da schaltete sich Dorian ein. Er sprang die Bestie an. Noch im Sprung stieß er dem Werwolf die Faust, in der er die Silberkette mit dem Kreuz hielt, in den Rachen. Er stopfte ihm die Kette samt An hänger in den Schlund. Dann zog er die Hand wieder raus. Eine Weile mußte er mit der Bestie ringen, bevor es ihm gelang, die Wolfsschnauze mit beiden Händen zuzudrücken, damit der Wer wolf das Silber nicht ausspeien konnte. Diesem blieb nichts anderes übrig, als hinunterzuschlucken, was Dorian ihm in den Rachen ge steckt hatte. Er begann sich daraufhin wie verrückt zu gebärden, lief im Kreis und schnappte mit den Fängen nach der eigenen Flanke. Dann wälzte er sich auf dem Boden. Er machte unmögliche Verren kungen, kratzte mit den Hinterläufen an seinem Brustkorb und schnappte immer wieder zu, bis seine Fänge und Lefzen mit Blut ge tränkt waren. Im Bauch klafften Wunden. Seine Innereien wurden von der Strahlung des Silbers zersetzt. »Gehen wir«, sagte Dorian. »Das hier ist kein schöner Anblick. Ich habe ihn schon zu oft geboten bekommen.« Gianni dagegen konnte seinen Blick nicht von der Wolfsbestie los reißen, die auf dem besten Wege war, sich selbst aufzufressen.
»Es ist besser, wenn wir die Nacht durchmarschieren«, sagte Dori an. »Der Todeskampf könnte leicht weitere Schauergestalten anlo cken.« »Werde ich froh sein, wenn ich erst einmal von hier fort bin«, sagte Gianni schaudernd. »Es ist alles so unwirklich. Wie in einem Alp traum. Mein Alter wird mich glatt für verrückt halten, wenn ich ihm das alles erzähle.« Sie wanderten die ganze Nacht durch und machten erst in der Morgendämmerung Rast, als der Vollmond verblaßte. Minuten später waren sie beide vor Erschöpfung eingeschlafen.
Dorian wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen. Er sprang schlaf trunken auf die Beine und brachte gleichzeitig den Flammenwerfer in Anschlag. Er war sofort munter, als er die groteske Szene erfaßte, die sich vor ihm abspielte. Gianni Chiusa rang mit einem Greis, der sich in seiner Schulter verbissen hatte. Er konnte ihn schließlich abschütteln. Während sich Gianni mit der einen Hand die blutige Schulter hielt, zielte er mit der Maschinenpistole auf den Alten, der sich wie ein geschlagenes Tier zu Boden duckte. »Er hat mich im Schlaf überfallen«, erklärte Gianni fassungslos, als könnte er es selbst kaum glauben. »Er hat mich gebissen, und da durch bin ich aufgewacht.« »Das stimmt nicht«, beteuerte der Greis mit zittriger Stimme. »Ich habe mich nur über ihn gebeugt, weil ich neugierig war. Dadurch wurde er wach. In meiner Angst habe ich dann zugebissen. Bestra fen Sie mich nicht dafür! Bitte tun Sie mir nichts!« »Der hat Zähne wie ein Raubtier«, meinte Gianni und rieb sich die schmerzende Schulter. »Ich wollte Ihnen nicht weh tun«, beteuerte der Greis abermals. »Ich bin nur ein schwacher, alter Mann. Was könnte ich schon gegen
einen so jungen und kraftstrotzenden Kerl wie Sie ausrichten? Ver schonen Sie mich, und ich werde Ihnen helfen.« »Wieso glauben Sie, daß wir in Schwierigkeiten sind?« fragte Dori an. Der Alte kam langsam auf die Beine. »Das geht allen so, die auf die Insel kommen. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie nicht hier leben. Sie sind Eindringlinge, und Ihre Feinde lauern hier überall.« »Und Sie gehören auf die Insel?« fragte Gianni. Der Alte nickte. »Aber das war nicht immer so. Ich wurde auch als junger Mann auf die Insel verschlagen und mußte um mein Leben laufen. Erst jetzt, als Greis, habe ich meine Ruhe.« »Das würde bedeuten, daß Sie schon seit Jahrzehnten hier leben«, meinte Gianni. »Was tun Sie hier?« »Ich versuche, den Tod so lange wie möglich hinauszuschieben«, war die ausweichende Antwort des Greises. »Ich lebe zusammen mit einigen anderen, die das gleiche Schicksal wie mich ereilt hat, ganz in der Nähe in Felsenhöhlen. Wir haben auch ein herrliches Herrschaftshaus. Wenn Sie wollen, können Sie sich dort eine Weile ausruhen. Sie sehen müde und ausgehungert aus. Wir haben genug zu essen. Kommen Sie, ich führe Sie hin. Die anderen werden sich über die Abwechslung freuen.« Er ging voran, ohne sich noch einmal nach den beiden umzusehen. Es sah gar nicht mehr so aus, als hätte er Angst vor ihnen. »Mir gefällt das nicht«, sagte Gianni. »Ich schwöre Ihnen, Hunter, daß ich erst durch den Biß des Alten aufgewacht bin. Mann, hat der ein Gebiß!« »Ich habe seine Zähne gesehen«, erwiderte Dorian. »Er hat sie nach der Art der Kannibalen spitz zugefeilt.« »Na, Sie haben vielleicht Humor!« Gianni schüttelte sich. Der Alte hatte sich schon mehr als zehn Meter entfernt. Jetzt erst drehte er sich nach ihnen um und rief: »Kommen Sie! Kommen Sie! Wir haben frisches Fleisch. Wir haben erst gestern eine Schlachtung
vorgenommen.« Gianni sah Dorian fragend an. Dieser sagte: »Gehen wir mit. Wir müssen nur die Augen offenhal ten.« Nach ein paar Schritten hatten sie den Alten eingeholt. »Wir sind nun schon den dritten Tag hier«, sagte der Dämonenkil ler im Plauderton, »haben aber bisher noch kein einziges Tier gese hen. Gibt es hier überhaupt jagdbares Wild?« »Doch, doch«, versicherte der Alte. »Wir jagen immer wieder et was. Manchmal erwischen wir auch etwas ganz Junges, Zartes. So wie gestern. Es ist sicherlich noch etwas für Sie übrig. Schmeckt ganz ausgezeichnet. Sie werden mir recht geben.« Sie kamen nun auf eine Lichtung, die auf drei Seiten vom Dschun gel und auf einer von einer fünfzig Meter hohen Felswand abge grenzt wurde. Die Felswand zierten Höhleneingänge, zu denen Treppen hinaufführten. An ihrem Fuße stand eine Ruine, die einst mals ein griechischer Tempel gewesen sein mochte. Als der Alte mit Dorian und Gianni die Lichtung betrat, erschie nen in den Höhlen ausgemergelte Gestalten, die dem Greis zum Verwechseln ähnlich sahen. Keiner hatte irgendein besonderes Merkmal, durch das er sich von den anderen unterschied. Langsam kamen sie nacheinander die Treppen herunter. »Seht!« rief der Alte ihnen zu, der Dorian und Gianni hergeführt hatte. »Wir haben Besuch! Zeigt euch also von eurer besten Seite.« Er wandte sich seinen Gästen zu. »Kommt nur, meine Freunde! Kommt! Für euch haben wir den schönsten Platz reserviert.« Er ging auf die Ruine zu. Dorian folgte ihm über die Wiese, in de ren Mitte ein großer schwarzer Fleck zu sehen war. Dort befand sich die Feuerstelle, an der die Greise ihr Fleisch rösteten. Dorian sah zwischen den halbverkohlten Holzresten auch angesengte Knochen aus der Asche ragen. Handelte es sich um menschliche Gebeine? Dorian bereute nun fast, daß er dem Alten gefolgt war. Er hatte es
getan, weil er sich gesagt hatte, daß dieser viel zu gebrechlich war, als daß er zu einer ernsthaften Bedrohung werden könnte, aber er hatte nicht geglaubt, daß er so viele Kumpane besaß. Es handelte sich um eine regelrechte Greisenkolonie. Dorian schätzte, daß es an die vierzig Greise waren. Sie umsäumten nun alle den Weg zur Ruine. Die Augen hatten sie geschlossen. Es schi en, als würden sie im Stehen schlafen. Trotzdem fühlte sich Dorian von ihnen beobachtet. »Macht ein Feuer!« rief der Alte, der sie hergebracht hatte, und klatschte dabei in die Hände. »Holt das Fleisch aus der Vorratskam mer und bringt frisches Wasser! Unsere Gäste sind hungrig und durstig.« Gianni blickte sich unbehaglich um. »Obwohl sie schon alle mit ei nem Fuß im Grab stehen, sind sie mir unheimlich«, raunte er Dorian zu. »Vielleicht wäre es doch besser, gleich zu verschwinden. So harmlos, wie sie tun, sind sie sicher nicht.« »Eben«, entgegnete Dorian ebenso leise. »Wer weiß, in welche Scheusale sie sich verwandeln, wenn wir ihre Einladung ablehnen. Wir müssen diplomatisch vorgehen.« »Hoffentlich schneiden sie uns nicht die Kehle durch, ehe wir di plomatisch sein können«, meinte Gianni. »Wissen Sie, woran mich diese Ruine erinnert, Hunter? An die Eintragung auf der Landkarte.« »Die vielen Alten scheinen jedenfalls darauf hinzuweisen, daß hier Stheno und Euryale hausen.« »Ich kann mir unter diesen Namen immer noch nichts vorstellen«, gab Gianni zu. »Aber wenn Sie meinen, daß uns von diesen Ge schöpfen Gefahr droht, sollten wir doch zu fliehen versuchen.« Sie hatten die Ruine betreten und mußten nun über herumliegen de Steinquader, umgestürzte Säulen und andere Trümmer klettern. »Stheno und Euryale brauchen wir nur des Nachts zu fürchten«, sagte Dorian. »Und bis dahin werden wir längst das Weite gesucht
haben.« Sie kamen in einen schmalen Tunnel, der in den Fels hineinführte. Er wurde von einer Fackel beleuchtet. Der Alte holte diese aus der Halterung. »Ihr seid zwei. Das ist gut«, sagte er und kicherte. »Wieso ist das gut?« wollte Gianni wissen. »Zwei ist eine runde Zahl.« Der Tunnel endete in einem Gewölbe. In dessen Mitte stand ein langgestreckter Steinquader, auf dem dunkle Flecken zu sehen wa ren. Getrocknetes Blut? Um den großen Steinquader lagen einige Felsbrocken, die wahrscheinlich als Sitzgelegenheiten dienten. Dori an blieb abrupt stehen und blickte in einen dunklen Winkel des Ge wölbes, wo einige nicht genau erkennbare Gebilde seine Aufmerk samkeit erregten. Kurz entschlossen ging er zu dem Greis, nahm ihm die Fackel ab und leuchtete den Winkel aus. Dort lagen drei Tornister, die genauso aussahen wie jene, in denen sie ihre Ausrüs tung gehabt hatten. »Woher stammen diese Rucksäcke?« fragte er scharf. »Die?« Der Alte stellte sich dumm. »Habe keine Ahnung. Aber ich kann mal die anderen fragen. Vielleicht wissen sie etwas. Ich sehe sie jedenfalls zum ersten Mal.« Dorian hätte gute Lust gehabt, die Wahrheit aus dem Alten her auszuprügeln, sagte jedoch nur: »Laß uns jetzt allein.« »Aber …« Der Alte wollte aufbegehren, unterbrach sich jedoch, als er Dorians entschlossenen Gesichtsausdruck sah. »Wie ihr wünscht. Wenn das Fleisch gar ist, werden wir servieren.« Als er im Tunnel verschwunden war, öffnete Dorian einen der Tornister, griff hinein, und seine Hand kam mit einer Handvoll Pa tronen zum Vorschein. »Munition!« »Die Sprengladungen!« rief Gianni aus, der einen anderen Tornis ter geöffnet hatte. »Demnach waren mindestens drei von unseren Leuten hier«, sagte Dorian. »Und nach dem Kreuz auf der Landkarte zu schließen, hat
einer hier sein Leben gelassen. Aber was ist mit den beiden anderen passiert?« »Jetzt haben wir wenigstens einen Teil der Ausrüstung wieder«, stellte Gianni zufrieden fest, dem alles andere nicht so wichtig zu sein schien. »So können wir den Sabotageakt doch noch durchfüh ren. Hauen wir endlich ab!« Dorian glaubte auch, daß das wohl am besten war. Sie hatten jetzt Munition genug, um sich den Weg notfalls freischießen zu können. Er ging zu dem Tunnel und blickte ins Freie hinaus. Dort standen die Greise dicht aneinandergedrängt. Sie glichen schwarzen Sche men. Er blinzelte und sah dann noch einmal hin. Er hatte sich nicht getäuscht. Draußen dunkelte es bereits. Aber wie war das möglich? »Gianni, wie lange ist es her, daß wir dieses Felsgewölbe betreten haben?« »Einige Minuten, vielleicht zehn. Höchstens aber eine Viertelstun de.« »Den Eindruck hatte ich auch«, erwiderte Dorian. »Aber das muß eine Täuschung sein, denn draußen wird es bereits Nacht. Wir ha ben den ganzen Tag hier drinnen verbracht, Gianni!« »Unmöglich!« »Sie können sich selbst davon überzeugen, daß es bereits dunkel wird.« Dorian griff sich an den Kopf. Er versuchte eine Lücke in seinem Gedächtnis zu finden, aber die Geschehnisse gingen nahtlos inein ander über. Sie waren zwischen den Trümmern der Ruine in den Tunnel gegangen. Der Alte hatte die Fackel ergriffen und sie hierher geführt. Dorian waren die drei Tornister ins Auge gestochen, und er hatte einen geöffnet. Die Fackel! Dorian betrachtete sie. Die Fackel war fast herunterge brannt. Aber noch ungewöhnlicher war die Tatsache, daß sie in ei ner Halterung in der Wand steckte, und zu Dorians Füßen lag ein weiterer Fackelstummel. Obwohl sich Dorian nicht daran erinnern
konnte, war er jetzt überzeugt, daß sie beide betäubt worden waren und den ganzen Tag verschlafen hatten. Ihr Gedächtnis funktionier te erst wieder seit dem Zeitpunkt, da sie zu sich gekommen waren. Er drehte sich um und bekam den nächsten Schock. An der Stelle des Steinquaders stand jetzt ein langer Holztisch, um den vier Sessel gruppiert waren. Der Tisch war für vier Personen gedeckt. »Wir sitzen in der Falle, Gianni. Jetzt müssen wir es nicht nur mit den Greisen aufnehmen, sondern auch noch mit Stheno und Eurya le.« »Sie kommen«, sagte Gianni, als sich aus der Richtung des Tunnels Schritte näherten. Kurz darauf kamen vier Alte herein, die in Holztassen dampfende Fleischstücke hereinbrachten. Die Greise hatten die Augen jetzt ge öffnet, sie waren groß, weiß, mit feinen roten Äderchen durchzogen und besaßen keine Pupillen. »Gebraten schmeckt es besser als gerissen!« sagte einer von ihnen. Gianni griff sich bei diesen Worten unwillkürlich an die Bißwunde an seiner Schulter. »Laßt es euch schmecken!« Die Greise setzten die Tabletts ab. Gianni lief das Wasser im Mund zusammen, als ihm der Duft des Fleisches in die Nase stieg. Dorian erging es nicht viel anders, doch verging ihm der Appetit, als er daran dachte, was für Fleisch das möglicherweise war. »Eßt! Eßt so viel, wie in eure Bäuche geht!« Dorian war bemüht, den verführerischen Duft nicht einzuatmen. Irgendwie erschien ihm sein Verdacht auf einmal lächerlich, doch er mußte sich Gewißheit verschaffen, bevor er auch nur einen Bissen schluckte. Immer mehr Greise kamen in das Gewölbe und umstan den die Tafel mit den dampfenden und duftenden Fleischstücken. »Eßt! Eßt!« forderten sie die beiden auf und schmatzten dabei ani mierend. »Nehmt nur ein Stück und kostet! Es wird euch munden!« Und das Schmatzen ging weiter. Die Greise seufzten und machten
»Ah!« und »Oh!« und »Hm!«, aber sie erreichten damit nur das Ge genteil von dem, was sie bezweckten. Dorian war nun völlig ernüch tert. »Was ist?« fragte eine zittrige Stimme neben ihm. »Mögt ihr Fleisch nicht? Oder habt ihr es lieber anders zubereitet?« »Greife ruhig zu, Gianni!« sagte ein Greis, der neben Chiusa aufge taucht war. Gianni fuhr herum. »Wieso kennen Sie meinen Namen?« »Ich war es doch, der dich und Hunter hergeführt hat, Gianni«, sagte der Greis. »Erinnerst du dich nicht mehr?« »Ihr seht doch alle gleich aus«, sagte Gianni. »Ich kann mich auch nicht erinnern, dir meinen Namen genannt zu haben.« »Wir wissen alle eure Namen!« rief einer der Greise, die den Tisch umstanden. »Eure Freunde, die vor euch da waren, haben ihn ge nannt.« Gianni hob drohend die Maschinenpistole, aber die Greise ließen sich nicht einschüchtern. »Was ist aus unseren Kameraden geworden?« fragte Gianni mit Erregung in der Stimme. »Los, rückt mit der Sprache heraus, sonst mähe ich euch mit meiner Spritze nieder!« »Notschlachtung!« rief einer, und einige Greise lachten und wie derholten: »Das wäre Notschlachtung!« »Eure Kameraden sind den Weg gegangen, den auch ihr gehen werdet, Gianni«, sagte der Greis an seiner Seite. »Den Weg, den wir alle einmal gegangen sind. Willst du mehr über das Schicksal von Marcello und Antonio wissen?« »Marcello und Antonio?« wiederholte Gianni. »Jawohl, so hießen doch eure Freunde.« »Und der dritte? Es muß noch ein dritter dabeigewesen sein?« »Du willst wissen, was aus ihm geworden ist, Gianni?« »Mach schon den Mund auf, Alter!« schrie Gianni unbeherrscht.
»Was ist mit dem dritten geschehen?« Der Alte kicherte und deutete auf die Tabletts mit den dampfen den Fleischstücken. Giannis Lippen begannen zu zittern. Er war to tenblaß geworden. Plötzlich krümmte er sich. Seine Wangen blähten sich, und er übergab sich. Die Greise kreischten vor Vergnügen. »Laß dir deinen Freund gut schmecken!« Gianni war wie von Sinnen. Bevor Dorian es verhindern konnte, knatterte seine Maschinenpistole los. Der Alte an seiner Seite wurde durchgeschüttelt. Er verkrallte sich in Giannis Gewand; seine blick losen Augen wurden größer und immer größer. »Gianni«, stöhnte er. »Gianni, du tötest deinen Freund Marcello. Aber du entgehst deinem Schicksal nicht.« »Marcello Sanza?« fragte Gianni ungläubig. Bevor der Greis, der Marcello Sanza sein sollte, zu Boden fallen konnte, rissen ihn die anderen Greise mit sich fort. Gianni wandte sich dem Greis zu, der noch immer an Dorians Seite stand. »Und wer bist du?« fragte er. »Ich war Antonio Valazza«, wurde ihm kichernd geantwortet. »Jetzt bin ich nur noch ein Greis, gealtert in einer einzigen Liebes nacht. Es war ein unbeschreibliches Erlebnis, Gianni, soviel sei dir verraten, aber es hat sich nicht gelohnt. Willst du dich nicht stärken, bevor …« Gianni schrie unartikuliert auf und wollte mit dem Lauf der Ma schinenpistole auf den Greis einschlagen. Er war drauf und dran, den Verstand zu verlieren; er hätte dem greisen Antonio Valazza wahrscheinlich den Schädel eingeschlagen, wäre Dorian nicht da zwischengetreten. »Du bist nicht Toni!« schrie Gianni, während er versuchte, sich aus Dorians Griff zu befreien. »Du kannst nicht Toni sein. Und der ande re war nie und nimmer Marcello!« Dorian ließ Gianni erst los, als er sich beruhigt hatte. In diesem
Augenblick ging ein Gekreische durch die Reihen der Alten, und sie strebten alle fluchtartig dem Tunnel zu, der ins Freie führte. Dorian ahnte, was das zu bedeuten hatte, und er wollte sich den Greisen an schließen. Doch Gianni rührte sich nicht vom Fleck. Sein Gesicht be kam einen verklärten Ausdruck, so als sähe er Dinge, die noch kein Sterblicher erblickt hatte. Für Dorian stand fest, daß Stheno und Euryale ihn bereits in ihren Bann geschlagen hatten. Dorian besaß noch seinen eigenen Willen, und es wäre ihm möglich gewesen, sich in Sicherheit zu bringen. Doch wollte er Gianni nicht allein zurücklassen. Er erinnerte sich, in einem der Tornister ein Buschmesser gesehen zu haben. Er durch wühlte die Rucksäcke, bis er es zu fassen bekam. Als er sich umdrehte, erschienen zwei überirdisch schöne Frauen in dem Gewölbe. Ihr Anblick raubte ihm den Atem. Es wäre leicht gewesen, alles zu vergessen und sich ihrer Verzauberung hinzuge ben, aber Dorian rief sich die Männer in Erinnerung, die in den Ar men dieser Frauen zu Greisen geworden waren. Sie waren nur noch menschliche Wracks, deren Lebenslicht bald für immer erlöschen würde; Kannibalen, die nicht einmal davor zurückschreckten, das Fleisch ihrer Freunde zu verzehren. Er dachte an den Vers, den er auf der Karte gelesen hatte: Kommt Stheno und Euryale Dir entgegen … Er hatte die beiden sofort mit den Gorgonen aus der griechischen Mythologie assoziiert, doch er hatte am Anfang nicht gewußt, daß die Übereinstimmung so exakt war. Wachsen Schlangen aus wildem Wein … Die Weibsteufel hatten ihre Haare zu turmartigen Gebilden fri siert, die von Gebinden aus wildem Wein zusammengehalten wur den. Zwischen den Weinranken begannen sich nun die Haare zu schlängeln. Sie bekamen ein eigenes Leben. Statt der Haarpracht zierte das Haupt der Gorgonen plötzlich eine vielköpfige Schlangen brut. Die starren Augen bannten ihre Opfer mit hypnotischen Bli cken, machten sie willenlos und gefügig. Die gespaltenen Zungen
zuckten aus den Reptilienmäulern. Und Deine Jugend ist gegangen … Eine Umarmung dieser überirdischen Frauen mußte sich jeder Mann erträumen. Allein der Gedanke daran brachte unbeschreibli che Wonnen. Diese zarten Hände liebkosend auf der Haut zu spü ren, den festen, warmen Körper an sich zu drücken und sich an den sinnlichen Lippen festzusaugen – das war der Traum des Lebens. Aber es war ein Traum, der das Leben kostete. Wenn die Umar mung vorüber war, dann war aus den Lippen des Opfers die Le benskraft herausgesogen. Zurück blieb eine fast leere Hülle, zerknit tert, ausgedorrt. Zurück blieb ein Greis. Lohnte sich das für einen kurzen Augenblick? War dieses höchste Glück, das ein Mann je erfahren konnte und das doch nur einen Atemzug dauerte, so lange, wie Stheno und Euryale brauchten, um das Leben aus ihrem Opfer zu saugen – war die Erfahrung dieses Glücks den Preis wert? Gewiß nicht. »Gianni!« Er rief den Namen des Mafioso, um ihn aus der Lethar gie zu reißen. Das Echo hallte eindringlich zurück, nur Gianni hörte ihn nicht. Und Stheno – oder Euryale? – kam näher. Gianni war bereit, den ge forderten Preis für einen einzigen Höhepunkt zu bezahlen. Er vi brierte förmlich vor Spannung. Die Energien stauten sich in seinem Körper, um sich in einem einzigen Augenblick zu entladen. Die Frau kam näher. Der Dämonenkiller erwartete sie mit erhobe nem Buschmesser. Er hatte die Augen halb geschlossen und blickte durch den Weibsteufel hindurch. Er hoffte, daß es so aussah, als würden die starren Blicke aus den hin und her pendelnden Schlan genköpfen ihn hypnotisieren. Der Weibsteufel befand sich jetzt dicht vor ihm. Die personifizierte Verheißung, die Inkarnation der Leidenschaft … Alles Blendwerk, dachte Dorian. Denn hinter diesem Trugbild lauer te der Tod.
Er holte aus. Sein Schrei hallte durch das Gewölbe und zerriß die letzten Schleier der Illusion. Die Trugbilder zerrannen, zurück blieb die nackte Bedrohung durch die züngelnden Schlangen. Er ließ das rasierklingenscharfe Buschmesser durch die Luft sau sen. Hinter diesem Schlag steckte Kraft. Die Schlangenköpfe fielen wie Grashalme. Nur winden sich Halme nicht und zischen nicht und haben keine Reptilienmäuler mit Giftzähnen. Dorian sprang zurück, als die vom Haupt abgetrennten Schlangen über den Boden auf ihn zukrochen. Er zertrat eine Schlange, die zu nah gekommen war, und wandte sich dann Gianni zu. Die Gorgone hatte ihn fast erreicht. Als sie Dorian auf sich zukommen sah, duckte sie sich unter dem ersten Streich hindurch. Doch er ließ das Busch messer daraufhin in die Tiefe sausen und schnitt dem Gorgonen haupt eine Tonsur. Die Weibsteufel kreischten nun wie die Furien; nicht aus Schmerz, sondern vor Wut und Enttäuschung. Sie standen Seite an Seite und versperrten Dorian den Weg zum Ausgang. Er konnte sich nur in die Höhle zurückziehen. Er stieß den völlig apathischen Gianni vor sich her. Im Vorüberge hen ergriff er noch den Tornister mit den Sprengladungen, den er sich über die Schulter warf. Die beiden Weibsteufel verfolgten sie. Dorian sah, daß die abge trennten Schlangen auf ihren Häuptern nachwuchsen. Die Gorgo nen hatten jetzt etwas Raubtierhaftes an sich. Sie wollten nicht mehr verführen, sondern gingen zum gnadenlosen Angriff über. Er machte einen Ausfallschritt und trennte mit einem kraftvollen Streich einige Schlangen vom Haupt der einen Gorgone. Eine von ihnen schnellte auf Dorian zu. Er konnte sie im Flug abfangen, be kam sie hinter dem Kopf zu fassen und schleuderte sie zurück. Die Gorgonen reagierten unerwartet. Sie zuckten zurück. Dorian hatte dafür nur eine Erklärung: Wahrscheinlich wurden die Schlangen nach der Abtrennung völlig unabhängig, und ihr Gift war nunmehr für die Gorgonen so tödlich wie für alle Sterblichen.
Dorian machte die Probe aufs Exempel. Er bückte sich nach einer Schlange und schleuderte sie ebenfalls den Weibsteufeln entgegen. Wieder wichen die Gorgonen entsetzt zurück – diesmal sogar bis ans andere Ende des Gewölbes. Diese Gelegenheit ließ sich Dorian nicht entgehen. Er packte Gian ni am Arm und rannte mit ihm in die Höhle hinein, die in die Tiefen des Felsens führte. Er lief so lange, bis ihn die Kräfte verließen. Als er stehenblieb, fragte Gianni: »Was ist passiert? Wo sind wir?« Da wußte Dorian, daß der Bann von ihm gewichen war. Er atmete erleichtert auf. Doch schon im nächsten Augenblick sank seine Hoff nung wieder. Hinter ihnen ertönte das Gekreische der Gorgonen. Dorian überlegte nicht lange. Es gab nur eine Möglichkeit, sie sich vom Hals zu schaffen. »Zünden Sie das Feuerzeug an, Gianni!« befahl er. Im Licht der Gasflamme holte er einen der kleineren Sprengsätze aus dem Tor nister und stellte den Zeitzünder auf dreißig Sekunden ein. Er depo nierte ihn in einem Felsspalt und brachte sich mit Gianni in Sicher heit. Sie zählten im Geist mit, und als sie bis fünfundzwanzig ge kommen waren, suchten sie hinter einem Felsvorsprung Deckung. Wenige Sekunden später ertönte die Explosion. »Das wird sie hoffentlich aufhalten, bis wir aus diesem Labyrinth heraus sind«, sagte Dorian. »Da vorn wird es bereits hell!« rief Gianni plötzlich. Tatsächlich! Dorian konnte den schwachen Lichtschein sehen. Doch dann stutzte er. Das Licht wurde heller. »Der Lichtschein kommt auf uns zu«, stellte er fest. Er starrte auf die Ecke, hinter der jeden Augenblick der Träger der Lichtquelle auftauchten mußte. Welche Schrecken würden sie diesmal erwarten? Wenige Augen blicke später wußte er es. Vor ihnen stand Valiora. »Nicht schießen!« sagte sie. »Ich will euch helfen.« Dorian erkannte, daß sie ihnen diesmal in Fleisch und Blut gegen
überstand. Sie war auch nicht nackt, sondern trug eine schwarze Bluse, schwarze Hosen und hochhackige Sandalen. »Vertraut mir«, sagte sie fast bittend und dabei wirkte sie hilflos und leicht verängstigt. »Ich kenne den Weg aus diesem Höhlensys tem. Er führt direkt zum Hafen. Ich bin bereit, euch dorthin zu brin gen.« »Das ist eine Falle«, behauptete Gianni und hob seine Maschinen pistole. »Sie wird stinkende, verwesende Scheusale aus uns ma chen.« »Das kann sie in diesem Augenblick vermutlich gar nicht«, sagte Dorian. Das war keineswegs seine Überzeugung, doch wollte er ver hindern, daß Gianni, dessen Finger locker am Drücker saß, unbeson nen feuerte. So ausgeschlossen war es nicht, daß das Mädchen es ehrlich meinte. »Wir würden Ihnen gern glauben, Valiora, aber wie können wir si cher sein, daß Sie nicht ein doppeltes Spiel mit uns treiben?« Statt einer Antwort begann sie zu rezitieren: »Valiora ist auf Deinen Wegen Ihr Auge blickt aus Stein Sie ist von Asmodi gefangen Kommt Stheno oder Euryale Dir entgegen Wachsen Schlangen aus wildem Wein Und Deine Jugend ist gegangen.« Da wußte Dorian, daß er ihr trauen konnte.
Valiora leuchtete ihnen mit einer alten Petroleumlampe. Die Stollen, durch die sie kamen, waren verwinkelt, manchmal breiter, dann wieder eng; ein Stück weit waren Wände und Decke aus Stein, dann
bestanden sie wieder aus Erde und wurden von dicken, aber mor schen Holzbalken gestützt. Es ging immer bergab. Die links und rechts abzweigenden Seitengänge ignorierte Valiora. Sie legten Kilometer um Kilometer zurück und sprachen kaum miteinander. Dorian hatte viele Fragen, aber er stellte sie nicht. Er wartete darauf, daß Valiora von selbst zu sprechen begann, daß sie ihm die Antworten gab, die er haben wollte. Doch sie schwieg. Nur in einem Punkt verschaffte sie ihm Klarheit. »Ihr wundert euch sicherlich, wie ich zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle sein konnte«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ich dachte schon, daß ich zu spät kommen würde. Als ich entdeckte, daß euch die Greise – alles Opfer der Gorgonen – den beiden Weibsteufeln auszuliefern gedachten, da wollte ich mich sofort auf den Weg ma chen, aber ich hatte nicht gleich Gelegenheit dazu. Er hielt mich auf, und ich mußte warten, bis er seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwandte. Im Augenblick ist er sehr beschäftigt.« Dorian wußte, daß sie Asmodi meinte, aber sie verriet nicht, auf welche Weise sie das Treiben der Greise beobachten konnte, noch warum sie ihnen helfen wollte. Insgesamt waren sie etwa eine Stunde unterwegs gewesen, ehe sie endlich ins Freie kamen. Es war bereits Morgen. Die Sonne tauchte aus dem Meer auf, als sie zwischen Sträuchern den unterirdischen Gang verließen. Sie befanden sich im Atrium eines modernen einstö ckigen Hauses. »Hier wohne ich«, sagte Valiora. »Ihr seid sicher hungrig. Ich bin zwar keine besonders gute Köchin, aber für Schinken mit Ei reichen meine Künste.« Sie redete und benahm sich wie ein gewöhnlicher Mensch. Nichts erinnerte daran, daß sie eine Dämonin war – oder eine von einem Dämon Besessene. Dorian fragte sich, ob sie mit der jungen Frau identisch war, die Seeleute zur Teufelsinsel lockte und sie dann durch Berührung in Untote verwandelte. Wenn man sie so ansah, konnte man das nicht glauben.
Dorian erinnerte sich auch an Olivaros Rat, der gesagt hatte, er sol le Valiora sofort töten. Nun, Gelegenheit dazu hatte der Dämonen killer genug gehabt, aber er brachte es einfach nicht über sich. Er wäre sich wie ein gemeiner, feiger Mörder vorgekommen. Valiora geleitete sie in einen modern eingerichteten Wohnraum und verschwand selbst in der Küche. »Was meinen Sie, Hunter, können wir ihr trauen?« fragte Gianni sofort. »Warum sollte sie uns jetzt verraten, nachdem sie uns gerade das Leben gerettet hat?« erwiderte Dorian. »Ich glaube, daß wir für den Augenblick in Sicherheit sind.« Sie sahen sich um. Die Einrichtung unterschied sich durch nichts von der Einrichtung anderer Häuser, in denen Menschen lebten. Und Valiora – war sie etwa kein Mensch? Doch. Sie war eine ganz normale junge Frau. Aber sie hatte ein furchtbares Geheimnis, und das mußte Dorian erst ergründen, bevor er sich über sie klarwerden konnte. »Ein Fernrohr!« rief Gianni beim Rundgang durch die Wohnung begeistert aus. Dorian kam zu ihm auf die Terrasse, von wo aus man einen her vorragenden Blick auf die Bucht mit dem Hafen und die Stadt hatte. Zwischen den Prunkbauten, die sich vom Strand den Hügel hinauf zogen, waren prachtvolle Grünanlagen, durch die sich Straßen wan den. Menschen trieben sich darauf herum, und ein paar Autos wa ren zu sehen, die in gemächlichem Tempo die Straßen entlangfuh ren. Nichts deutete darauf hin, daß dies ein Nest der Dämonen war. Es hätte sich auch um eine Stadt an der Cote d'Azur, der italieni schen Riviera oder an der Küste Siziliens handeln können. Im Hafen lagen über ein Dutzend Luxusjachten vor Anker; etwas weiter drau ßen schwamm ein Hochseefrachter, der wahrscheinlich zu Chalkiris' Handelsflotte gehörte. Noch weiter draußen, fast schon auf dem of fenen Meer, kreuzten zwei Schnellboote. Auf den ersten Blick konn te man nichts Verdächtiges erkennen, aber wenn man die Szene
durch das Fernrohr betrachtete, merkte man die feinen Unterschiede zu anderen Küstenstädtchen. »Das ist tatsächlich eine Festung«, stellte Gianni fest, der durch das Fernrohr blickte. »Rund um die Siedlung ist ein Stacheldraht zaun gezogen. Bis an die Zähne bewaffnete Wachposten stehen dort. Wahrscheinlich hat man auch Minen gelegt. Und außerhalb des Ha fens kreuzen Kanonenboote. Sehen Sie sich das einmal an, Hunter!« Dorian überzeugte sich davon, daß Gianni in keinem Punkt über trieben hatte. Er stellte zusätzlich noch fest, daß die Wachposten Un tote waren, die man mit konventionellen Waffen nicht töten konnte. »Weg von der Terrasse!« rief Valiora in ihrem Rücken. »Wenn man Sie hier entdeckt, sind Sie verloren.« Dorian wandte sich um. Der verführerische Duft von Kaffee, Eiern und gebratenem Speck stieg ihm in die Nase. Sie stellte das Tablett auf dem Eßtisch ab, und Dorian und Gianni stürzten sich wie ausge hungerte Wölfe darauf. In wenigen Minuten hatten sie alles ver putzt. Satt, zufrieden und müde lehnten sie sich in den Sesseln zu rück. »Sie können sich ausruhen«, sagte Valiora. »Hier wird Sie nie mand finden.« »Das ist zwar ein sehr verlockendes Angebot, aber wir sind hier nicht auf Urlaub«, sagte Gianni herzhaft gähnend. »Wir haben heute abend noch viel vor und müssen daher fit sein.« »Eben«, sagte Valiora. »Deshalb sollten Sie sich ausruhen. Ich wer de Sie noch vor Einbruch der Dunkelheit wecken.« Dorian fielen die Augen zu. Sein letzter Gedanke, bevor er einsch lief war, daß sie ihnen irgendein Schlafmittel in den Kaffee gegeben hatte. Oder hatte sie sie verhext?
Dorian befand sich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlaf. Er sah alles wie durch einen Nebel, so unwirklich, daß er nicht wuß
te, ob es Traum oder Realität war. Er lag auf einem weichen, federn den Untergrund. Vor ihm saß Valiora. »Du hast dir viel vorgenommen«, hörte er sie sagen, und ihre Stimme klang so sanft, als würde sie zu einem schlafenden Kind sprechen. »Aber du wirst deine selbstgestellte Aufgabe bewältigen. Ich fühle es. Du bist anders als alle anderen Menschen, stärker, ent schlossener, und du besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten. Das habe ich sofort gemerkt, als ich dich zum ersten Mal sah. Ich wußte gleich, daß ich mich dir anvertrauen kann. Deshalb habe ich dich be schützt, damit du mir zur Flucht von dieser Teufelsinsel verhilfst. Niemandem sonst würde es gelingen, mich aus Asmodis Gefangen schaft zu befreien. Ich werde dir jetzt alles sagen, was du wissen willst. Du brauchst nicht zu fragen, denn es soll keine Geheimnisse zwischen uns geben. Ich weiß, daß du nur gekommen bist, um mich zu töten. Du wolltest Asmodi damit schaden. Das könntest du auch mit meinem Tod. Aber höre zuerst meine Geschichte und dann ent scheide, ob du mich immer noch töten willst. Ich wurde vor über zweihundert Jahren auf Haiti geboren. Mein Vater war Franzose, meine Mutter eine Eingeborene, eine Sklavin. Mein Vater verstieß mich und wollte mich mit sechzehn Jahren bei einem Voodoo-Ritual opfern, um alle Spuren seines einstigen Fehl trittes zu verwischen. Der Dämon, dem ich geopfert werden sollte, war Asmodi. Er nahm mich, raubte mir die Unschuld, doch er tötete mich nicht. Aus irgendeinem Grund fand er Gefallen an mir. Viel leicht war es meine Jungfräulichkeit oder aber meine reine Seele, die ihn faszinierte. Für einen Dämon, der nur das Böse kennt und nichts anderes kann, als alles Gute zu vernichten, ist es eine besondere Art der Perversion, wenn er an etwas Schönem und Reinem Gefallen findet. So mußt du es sehen, Dorian. Asmodi gab mir sogar ein Pfand, um mir seine Liebe zu beweisen. Er nannte seine Gefühle zu mir natürlich nicht Liebe. Er gebrauchte furchtbare, obszöne Worte, als er mir den Hof machte, aber ich bin sicher, daß er so etwas wie Liebe meinte. Dieses Gefühl ist unge wöhnlich für einen Dämon, und er versuchte es daher vor der
Schwarzen Familie zu verbergen. Asmodi hätte mich gewaltsam nehmen können, doch das wider strebte ihm wohl, denn sonst hätte er nicht versucht, mich ohne die Macht der Schwarzen Magie für sich zu gewinnen. Ich widersetzte mich ihm jedoch. Er brachte mich daraufhin auf diese Insel und ver langte sein Pfand zurück. Ich sagte ihm, daß ich es auf Haiti zurück gelassen und dort gut versteckt hätte. Von da an ließ er mich seine ganze Grausamkeit spüren. Er konnte mich nicht töten lassen, weil er dann fürchten mußte, das Pfand nie wieder zurückzubekommen. Ja, wenn es jemandem in die Hände fiele, der Asmodi schaden woll te, würde der Fürst der Finsternis sogar sein Leben lassen. Deshalb folterte mich Asmodi, damit ich ihm verriet, wo ich das Pfand ver steckt hatte. Dann übergab er mich den Gorgonen Stheno und Eu ryale, die mir mit ihrer Umarmung nicht die Jugend raubten, son dern mich in einen tiefen Schlaf versetzten. Ich konnte meinen Kör per nur noch gebrauchen, wenn Asmodi mich weckte, sonst war ich nur in der Lage, mein metaphysisches Ich auf die Reise zu schicken. Gleichzeitig erwachte in mir eine verhängnisvolle Gabe, die die Gor gonen auf mich übertragen hatten. Ich erschien Seefahrern auf dem Meer und lockte sie auf die Insel. Wenn ich sie dann umarmte, sog ich ihnen das Leben aus, und ihre Körper verwesten. Du hast die Opfer meines metaphysischen Ichs gesehen, Dorian, und auch die vielen Steinstatuen entlang der Küste und im Dschun gel. Jede dieser Statuen ist ein Teil meines Ichs. Bei meinen Wande rungen blieb mein Astralkörper zurück und wurde zu Stein. Wer eine solche Statue berührt, verliert seine Seele und wird zu einem wandelnden Toten. Ich habe mich gegen diese verhängnisvolle Ver anlagung gewehrt, aber es dauerte lange, bis ich sie kontrollieren konnte. Ich plante, mich einem Unseligen, der sich auf diese Insel verirrte, anzuvertrauen, ihm mein Leid zu erzählen und ihn dazu zu bringen, mit mir zu flüchten. Aber sie waren alle zu schwach. Ich mußte warten, bis du kamst. Zum besseren Verständnis muß ich noch etwas hinzufügen. Ich konnte auch durch die Augen der Untoten sehen und sie lenken.
Auf diese Weise sah ich dich zum ersten Mal, als du dich in der Villa des Mafiosi Don Chiusa befandest und ihm vorschlugst, die vier Un toten zu verbrennen. Als du dann auf die Insel kamst, beschloß ich, mich dir anzuvertrauen. Aber ich konnte nicht einfach vor dich hin treten und dir alles erzählen. Das wäre zu gefährlich gewesen. Des halb versuchte ich dir heimlich zu helfen. Du weißt sicher längst, daß ich es war, die die Eintragungen auf deiner Landkarte ergänzte. Ich übermittelte dir auch die Botschaft, die dir sagen sollte, daß ich mit dir bin und dich vor den Gorgonen warnte. Ich wollte auch in der Vollmondnacht den Werwolf von deiner Fährte fortlocken, doch das gelang mir nicht. Zum Glück konntest du ihn vernichten. Als du dann in der letzten Nacht trotz meiner Warnung den Gor gonen in die Falle gingst, sah ich nur noch eine letzte Möglichkeit: ich mußte persönlich eingreifen. Das war aber nur möglich, weil As modi mich zuvor geweckt hatte. Er wollte mich zu der Konferenz mitnehmen, die heute abend mit einem Festbankett beginnt, und mich seinen Geschäftspartnern als seine Frau präsentieren. Ich sollte sein Aushängeschild sein. Doch dazu will ich es nicht mehr kom men lassen. Flieh mit mir, Dorian! Du bist doch meinetwegen auf die Insel gekommen. Nun hast du mich gefunden. Doch es liegt für dich kein Grund mehr vor, mich zu töten, wie du es vorhattest.« Dorian versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln. Das gelang ihm nicht ganz, aber immerhin vermochte er, einige Worte über die Lip pen zu bringen. »Ich werde dich nicht töten … Vali«, murmelte er. »Ich … glaube, daß du selbst ein Opfer Asmodis bist. Aber ihn werde ich zur Stre cke bringen. Mit deiner … Hilfe, Vali.« »Ich tue alles für dich, Dorian, wenn du mich nur von hier fort bringst.« »Sage mir, welches Pfand Asmodi dir gegeben hat!« »Das kann ich nicht. Noch nicht. Erst wenn ich in Sicherheit bin, werde ich es dir anvertrauen. Bringe mich nach Haiti, und du be kommst Asmodis Pfand.«
»Mein Wort, Vali, ich werde dir helfen.« Das waren seine letzten Worte, bevor es wieder Nacht um ihn wurde. Er schlief tief, fest und traumlos.
»Jetzt können Sie zeigen, was in Ihnen steckt, Hunter«, sagte Gianni Chiusa beim Abendessen, das ihnen Valiora zubereitet hatte. Der Mafioso wirkte frisch und strotzte förmlich vor Vitalität. »Während des Schlafens habe ich mir alles bis ins kleinste Detail überlegt«, fuhr er zwischen zwei Bissen fort und grinste. »Ist es nicht seltsam, daß es mir möglich war, sozusagen im Schlaf einen Plan zu entwerfen? Wir werden diesem Chalkiris ordentlich einhei zen, Hunter. Und nach dem Feuerwerk hauen wir in einem der Boo te ab.« Er deutete in die Richtung, in der sich Valiora aufhielt, und fügte vertraulich hinzu: »Natürlich nehmen wir eine Geisel mit. Un sere Flucht wird das reinste Kinderspiel sein. Und noch etwas, Hun ter: Der Don wird nördlich von hier, keine zehn Meilen entfernt, mit seiner Hochseejacht kreuzen. Was sagen Sie dazu?« »Klingt nicht schlecht«, sagte Dorian ohne Begeisterung. »Was ist?« fragte Gianni. »Gefällt Ihnen etwas nicht? Dann hören Sie sich erst einmal meinen Plan an.« Der Mafiosi wischte sich mit der Serviette den Mund ab, erhob sich von seinem Platz und ging auf die Terrasse hinaus. Dorian folg te ihm. Gianni deutete auf die Straße, die vor dem Haus vorbeiführ te. Dort war ein Mini Cooper geparkt. »Das ist Valis Wagen.« Dorian hörte die vertrauliche Abkürzung ihres Namens aus seinem Mund gar nicht gern, doch Gianni fuhr unbekümmert fort: »Wir packen die Sprengladungen in den Wagen und fahren damit zum Hafen hinunter. Vali wird den Wagen steu ern. So wird man nicht so schnell Verdacht schöpfen. Wenn wir an kommen, ist es bereits finstere Nacht. Wir werden nicht auffallen, wenn wir uns ein Ruderboot schnappen. Darauf verstauen wir die
Sprengladung und dann rudern wir zu der hellerleuchteten Jacht hinaus. Dort findet nämlich die Konferenz statt. Vali hat es mir ge sagt. Wir brauchen die Sprengladung nur durch eine Luke zu wer fen, zurückzurudern und mit einem der Motorboote abzuhauen. Die Kanonenboote werden uns passieren lassen, wenn wir ihnen zeigen, wen wir als Geisel an Bord haben. Und von da ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Jacht meines Alten. Wenn die Konferenzjacht in die Luft fliegt, sind wir schon längst in Sicherheit. Was sagen sie dazu?« »Nicht schlecht«, meinte Dorian. Gianni hatte während des Sprechens das Fernrohr auf das Stativ geschraubt und blickte wieder hindurch. »Ah! Ein Teil der Promi nenz ist schon aufgetaucht und begibt sich gerade an Bord. Alles Männer mit klingenden Namen, einflußreiche Geschäftsleute, Diplo maten aus Staaten der Dritten Welt. Bekannte Gesichter, die einem jeden Tag von den Titelblättern der Zeitungen entgegenblicken. Wenn wir sie allesamt in die Luft jagen, wird es ein mächtiges Ge schrei geben, und Chalkiris ist danach ruiniert.« Valiora war ins Zimmer gekommen. Dorian ging zu ihr. Fast hätte er sie in die Arme geschlossen, doch er wußte nicht so genau, ob sie so intim geworden waren, als er sich in Trance befunden und sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählt hatte. So fragte er nur: »Bist du bereit, Vali?« »Wir können fahren.« Gianni verstaute die Maschinenpistole in dem Tornister mit der Sprengladung und warf ihn sich über die Schulter. Dorian besaß kei ne Waffe außer einer kleinen Damenpistole, die Valiora ihm gege ben hatte. Sie verließen das Haus, stiegen in den Mini Cooper, und Valiora fuhr mit ihnen zum Hafen hinunter. Am Kai angekommen, hielt sie im Schatten eines Lagerhauses an, stellte den Motor aber nicht ab. »Der Platz ist günstig«, stellte Gianni fest und blickte zum Steg hinaus, an dem einfache Ruderboote und einige kleinere Motorjach
ten vertäut waren. »Los, steigen wir aus!« »Einen Augenblick«, sagte Dorian und hielt Gianni am Arm zu rück. »Ich möchte dir jetzt sagen, was ich von deinem Plan halte: Es ist ein Scheißplan. Damit kommen wir nie durch. Das Konferenz schiff ist zu gut bewacht. Wir sind tote Männer, noch bevor wir die Sprengladung an Bord geschmuggelt haben, darauf kannst du Gift nehmen, Gianni.« »Willst du plötzlich kneifen?« fragte der Mafiosi drohend, eben falls in das vertrauliche Du verfallend. Dorian hielt plötzlich die kleine Damenpistole in der Hand, um Gianni nicht erst auf dumme Gedanken kommen zu lassen. »Ich möchte nur am Leben bleiben«, sagte er. »Selbst wenn wir entdeckt werden, wird man es nicht wagen, auf uns zu schießen«, versuchte Gianni Dorian zu überreden. »Wir ha ben doch sie.« »Chalkiris wird auf Valis Leben keine Rücksicht nehmen«, erklärte ihm Dorian. »Sie besitzt schon längst nicht mehr seine Gunst. Wir haben überhaupt keine Trümpfe in der Hand, Gianni. Deshalb schlage ich vor, daß wir auf den Sabotageakt verzichten, uns eine andere Geisel nehmen und gleich flüchten.« »Das kann nicht dein Ernst sein, Hunter!« »Doch, Gianni. Wenn du das Konferenzschiff sprengen willst, dann kannst du es tun, aber ohne mich. Ich habe erreicht, was ich wollte.« »Du Hund! Du gotterbärmlicher Verräter!« Dorian entsicherte die Waffe und hielt sie Gianni drohend unter die Nase. »Nur nicht die Nerven verlieren, Gianni!« knurrte er. »Willst du nun auf eigene Faust handeln oder dich uns anschließen?« Gianni atmete schwer. Seine Augen funkelten Dorian haßerfüllt an. »In Ordnung. Ich schaffe es auch allein. Aber du kommst nicht ungeschoren davon, Hunter. Du wirst keine ruhige Minute mehr in
deinem Leben haben. Ich werde dich jagen, und ich werde dich fin den, egal in welchem Winkel dieser Welt du dich verkriechst. Und dann gnade dir Gott!« »Wenn du dein Vorhaben ausführen willst, dann mußt du dich be eilen, Gianni«, sagte Dorian ungerührt. »Und laß dir nicht einfallen, deine Maschinenpistole hervorzuholen. Der Lärm der Schüsse wür de dir Chalkiris' Leute auf den Hals hetzen.« Gianni warf ihm noch einen verächtlichen Blick zu. Dann packte er den Tornister und stieg wutschnaubend aus dem Wagen. Dorian sah ihm nach, bis er hinter der Kaimauer verschwand. Bald darauf hörte er das Geräusch von Ruderschlägen. Dorian sah Valiora an und lächelte zuversichtlich. »Es wird schon schiefgehen.« »Danke, daß du mich nicht im Stich gelassen hast, Dorian.« Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Nur das leise Ge räusch des laufenden Motors war zu hören. »Bist du sicher, daß wir hier nicht umsonst warten?« fragte Dori an. »Die meisten Gäste sind im Süden untergebracht«, antwortete Va liora. »Auf dem Weg zum Konferenzschiff müssen sie hier vorbei kommen.« »Und wie steht es mit der Bewachung?« wollte Dorian wissen. »Hat Asmodi keine Untoten für sie abgestellt?« »Sie haben ihre eigenen Leibwächter.« »Dann bin ich beruhigt.« Hinter ihnen tauchten die Scheinwerfer eines Wagens auf. »Es ist soweit«, sagte Dorian und sprang aus dem Wagen. »Du weißt, was du zu tun hast.« Das amerikanische Cabrio bremste scharf ab, als plötzlich der Mini Cooper in die Kaistraße einbog. Dorian sah, wie die beiden Araber im Fond des Wagens nach vorn geschleudert wurden. Er sprang aus seinem Versteck, riß die hintere Wagentür auf und drückte dem
Araber die Waffe gegen die Schläfe. »Keine Bewegung, oder ich schieße!« sagte er auf Englisch. »Wenn Sie sich ruhig verhalten, geschieht Ihnen nichts. Und sagen Sie Ihren Wachhunden, daß sie die Waffen steckenlassen sollen, wenn sie nicht Ihren Tod verschulden wollen.« Der Araber sagte etwas zu dem Fahrer und dem Mann auf dem Beifahrersitz, der die Rechte schon halb unter seinem Jackett hatte; dieser zog sie daraufhin wieder zurück. »Steigen Sie aus!« forderte Dorian die Wachbeamten auf. Sie gehorchten. »Da hinüber!« Er trieb sie zur Kaimauer, wo Valiora bereits auf sie wartete. Dann führte er seine Gefangenen auf den Bootssteg hinaus. Valiora war vorausgegangen und sprang in das nächstbeste Mo torboot. Dorian wartete, bis es ihr gelungen war, den Motor anzu werfen, dann sagte er zu den Arabern mit einem Wink auf die Jacht: »Einsteigen, meine Herren! Wir machen eine kleine Bootsfahrt. Und ich versichere Ihnen noch einmal, daß Ihnen nichts passiert, wenn Sie sich ruhig verhalten.« Die Araber gingen an Bord. Dorian übergab Valiora die Waffe und löste sie am Steuer ab. Er manövrierte den Kahn zwischen den ande ren Booten hindurch. Als sie das Ende des Bootssteges erreicht hat ten, begann eine Maschinenpistole zu knattern. Dorian blickte zum hellerleuchteten Konferenzboot hinüber und sah eine Reihe von Mündungsfeuern aufblitzen. Ohne lange zu überlegen, brachte er sein Boot auf Höchstgeschwindigkeit. Sie waren noch nicht weit gekommen, als hinter ihnen im Hafen eine furchtbare Explosion stattfand. Dorian blickte zurück. In der Nähe des Konferenzschiffes, das selbst keinen Schaden genommen hatte, schoß eine Flammensäule in den Himmel. »Es hat deinen Begleiter erwischt«, stellte Valiora fest. »Die Sprengladung ist explodiert, bevor er das Konferenzschiff erreicht
hat.« Gianni hatte es also nicht geschafft. Er tat Dorian leid, wenngleich er ihm mit seinem Opfergang geholfen hatte. Erstens brauchte er nun nicht mehr die Rache des Mafiabosses zu fürchten, und zwei tens lenkte Giannis spektakulärer Abgang von seiner Flucht ab. Noch waren sie nämlich nicht in Sicherheit. Plötzlich vernahm Dorian ein zweites Motorengeräusch, und dann geisterte ein greller Scheinwerferstrahl über die dunkle Meeresober fläche und erfaßte ihr Motorboot. Obwohl Dorian von dem starken Scheinwerferlicht geblendet wurde und nichts sehen konnte, wußte er, daß sie eines der Kanonenboote vor sich hatten. Am Steuerrad standen wahrscheinlich Untote. Er hatte das Steuer wieder an Valiora übergeben und ihr aufgetra gen, daß sie die Geschwindigkeit und den Kurs beibehalten solle. Das andere Schiff blieb eine Weile an ihrer Seite. Nach fünf Minuten wurde der Scheinwerfer ausgeschaltet, und das Wachboot fiel zu rück. »Die erste Runde haben wir gewonnen«, sagte Dorian aufatmend. »Du glaubst doch nicht, daß Asmodi dich entkommen lassen wird«, sagte Valiora. »Er wird nichts unversucht lassen, sich für die se demütigende Niederlage zu rächen.« »Mit vereinten Kräften werden wir ihm trotzen«, sagte Dorian zu versichtlich. »Oder glaubst du etwa nicht? Fürchtest du, daß er dich wieder beeinflussen und dir erneut seinen Willen aufzwingen könn te?« »Nein, denn wenn er das könnte, hätte er es schon längst getan. Es sei denn, er will mich in dem Glauben lassen, daß ich frei bin, um mich dann, wenn ich es am wenigsten vermute, zu töten …« »Ich glaube nicht, daß er solche Macht über dich hat.« Sie tat Dori an leid, denn vollständig überzeugt von dem, was er sagte, war auch er nicht.
Vier Stunden nach ihrer Flucht von der Teufelsinsel erreichten sie nach einer nervenzermürbenden Irrfahrt die Jacht Don Chiusas. Die beiden Geiseln ließen sie im Motorboot. Asmodi alias Chalkiris wür de sie schon finden. Don Chiusa verbarg seine Gefühle, als er vom Tod seines Sohnes erfuhr. Dorian schilderte ihm die Ereignisse so, daß der Mafioso zu mindest den Trost hatte, daß sein Sohn den Heldentot gestorben war – und vor allem nicht auf die Idee kommen konnte, daß Dorian ein Verräter war. Obwohl der Don kein Mißtrauen ihm gegenüber zeigte, beschloß Dorian, seine Gastfreundschaft nicht zu lange in Anspruch zu neh men. Er wollte so schnell wie möglich nach Haiti, um an das Pfand heranzukommen, das Valiora von Asmodi erhalten hatte.
Drittes Buch
Der Moloch
von Ernst Vlcek
Der Fürst der Finsternis ließ die beiden Todeskandidaten vorfüh ren und stellte sie vor die Wahl: »Wollt ihr gegen Haie kämpfen oder zieht ihr die Alternative vor?« Die beiden braungebrannten Burschen, die bis auf eine Badehose nackt waren, wechselten einen unsicheren Blick, dann sagte der grö ßere von ihnen: »Wir haben uns für die Alternative entschlossen, Si gnore Chalkiris.« Asmodi verzog seinen fleischigen Mund zu einem spöttischen Lä cheln. »Es ist immer das gleiche. Alle ziehen die unbekannte Gefahr den Haien vor. Dabei sind die Haie viel harmloser. Aber ihr habt eure Wahl getroffen. Ihr kennt die Spielregeln?« Die beiden Sizilianer nickten. Der kleinere von ihnen befeuchtete sich die Lippen und deutete auf das fünfzig Meter lange Becken mit Meerwasser. »Wir sollen versuchen, die Länge des Bassins zu durch schwimmen. Gelingt es uns, dann sind wir frei und bekommen jeder noch zusätzlich fünfhunderttausend Lire.« »So ist es«, bestätigte Anatoll Chalkiris. Er wandte sich von den beiden jungen Männern ab und dem kleinen, etwas rundlich wir kenden Mann im Hintergrund zu. »Kommen Sie, Olivaro! Wir wol len uns das Schauspiel aus einer anderen Perspektive ansehen.« Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Die Fütterung wird für Sie ein unvergeßliches Erlebnis sein.« Olivaro folgte dem Oberhaupt der Schwarzen Familie über eine Treppe in einen unterirdisch gelegenen Raum. Es war eine große, langgestreckte Halle – fünfzig Meter lang und zwanzig breit –, in der moderne geschmackvolle Couchtische und breite, daunengefüll te Lederfauteuils, in denen man fast versank, standen. Der Boden bestand aus spiegelglatt geschliffenem Marmor, die eine Wand auf ihrer ganzen Länge von fünfzig Metern aus dickem Panzerglas. Da hinter war eine exotisch anmutende Unterwasserlandschaft zu se hen, wie man sie im Mittelmeer nur noch selten antraf. Davor nah men die beiden Dämonen schweigend Platz. Olivaro suchte in dem riesigen Aquarium vergeblich nach Fischen.
»Jetzt!« sagte Asmodi. Als hätten die beiden Schwimmer sein Startzeichen gehört, spran gen sie ins Wasser. Für einige Sekunden tauchten sie unter Wasser. Ihre Gesichter waren der Glaswand zugewandt. Ihre Augen waren groß und starr; Angst war darin zu lesen. Asmodi weidete sich an dem Anblick. Unwillkürlich ergriff er Olivaros Hand und drückte sie. Olivaro behagte diese Vertraulichkeit nicht besonders, das war ihm anzumerken, aber er wagte es nicht, Asmodi die Hand zu ent ziehen. »Passen Sie jetzt gut auf!« sagte der Fürst mit vor Erregung leicht zitternder Stimme. Olivaro starrte durch das Glas, konnte aber noch nichts Außerge wöhnliches entdecken. Die beiden jungen Männer hatten bereits zwanzig Meter zurückgelegt. Sie waren ausgezeichnete Schwimmer. Plötzlich kam in den Boden der Unterwasserlandschaft Bewegung. Olivaro hielt unwillkürlich den Atem an, als sich zwischen den Was serpflanzen ein unförmiges Gebilde erhob. Es mußte ein Lebewesen sein, denn es bewegte sich eindeutig aus eigener Kraft, andererseits wiederum besaß es überhaupt keine bestimmte Form. Es hätte ein Riesenkrake sein können oder eine Qualle von bisher nie gesehener Größe, aber Olivaro wußte, daß es etwas anderes sein mußte, etwas ganz und gar Fremdartiges; eine Spezialität Asmodis. Das Ding schwebte langsam zur Wasseroberfläche empor, auf die beiden Schwimmer zu, die nur noch fünfzehn Meter vom anderen Ufer entfernt waren. Der eine von ihnen tauchte während des Schwimmens mit dem Kopf kurz unter, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Entsetzens, als er das riesige Ding sah, das rasend schnell auf sie zuschoß. Asmodi drückte Olivaros Hand fes ter; sie war schweißnaß. Aus seinem halb geöffneten Mund kam ein obszönes Keuchen. Jetzt hatte das Ding die beiden Schwimmer erreicht. Es dehnte sich in die Breite. Die flossenartigen Auswüchse legten sich blitzartig um die beiden Opfer und umschlossen sie. Eine Weile ragten noch die
wild um sich schlagenden Arme aus einer Öffnung; kurz erschien auch der Kopf des einen Burschen. Er wollte nach Luft schnappen, doch da legte sich die quallige Körpermasse über sein Gesicht. Das Ding hatte seine beiden Opfer nun völlig eingeschlossen, tauchte mit ihnen in die Tiefe und verbarg sich hinter den Wasserpflanzen. Oli varo mußte lange warten, bis sich wieder etwas ereignete. Es waren gut zehn Minuten vergangen, als sich eine Öffnung in dem unheim lichen Lebewesen auftat, und aus dieser nach und nach die Gebeine der beiden Männer ausgestoßen wurden. Jetzt verstand Olivaro, was Asmodi mit »Fütterung« gemeint hatte. Asmodi seufzte genüßlich. Sein schweißbedecktes Gesicht wirkte nun entspannt und zeigte einen fast seligen Ausdruck. »Der Moloch ist unersättlich«, sagte er bewundernd. »Er verdaut die Nahrung schneller, als ich sie herbeischaffen kann. Wie hat es Ihnen gefallen, Olivaro?« »Ich bin beeindruckt. Bisher wußte ich noch gar nichts von der Existenz dieses Monstrums, und ich frage mich, warum Sie mich Zeuge seiner Fütterung werden ließen.« »Sie haben recht, Olivaro, das hat einen bestimmten Grund.« As modis Tonfall wurde von einem Augenblick zum anderen wütend. Sein Chalkiris-Gesicht zerfloß für die Länge eines Atemzuges zu ei ner Teufelsfratze. Haßerfüllt stieß er hervor: »Ich wollte Ihnen nur zeigen, welches Schicksal Dorian Hunter erwartet. Sie sollen wissen, daß er kürzlich auf dieser Insel auftauchte und mir ein wichtiges Ge schäft kurz vor dem Abschluß sabotierte. Meine Verhandlungspart ner haben es mit der Angst zu tun bekommen und Hals über Kopf die Insel verlassen. Es kann Monate dauern, bis der Schaden wieder gutgemacht ist.« »Was sind schon Monate für den Fürsten der Finsternis?« »Um den Zeitverlust geht es mir gar nicht. Aber Hunter hat mich vor der Schwarzen Familie bloßgestellt, mich auf meiner eigenen In sel geschlagen. Nun ist das Maß voll! Darüber hinaus hat er auch noch Valiora entführt.«
»An dem Mädchen scheint Ihnen viel zu liegen«, meinte Olivaro wie beiläufig. »Sie ist mein Leben! Ich gebe zu, daß sie mich früher sehr gereizt hat, aber das ist schon längst vorbei. Jetzt muß ich befürchten, daß sie meine Existenz gefährdet. Deshalb muß ich sie zurückholen. Und dabei will ich gleichzeitig den Dämonenkiller töten. Er hat mir nun genug Ärger bereitet.« »Ich verstehe. Sie haben sich sicherlich auch schon überlegt, wie Sie vorgehen werden. Es genügt Ihnen wohl nicht, Hunter einfach zu töten.« »Nein, natürlich nicht«, sagte Asmodi mit satanischem Grinsen. »Da er unsterblich ist, wäre das ein schwacher Trost. Nein, ich will Hunter ein für allemal auslöschen. Und dabei bediene ich mich des Molochs. Es soll eine besonders raffinierte Art der Fütterung dieses unersättlichen Ungeheuers werden.« Olivaro blickte wieder in das gigantische Aquarium. Von dem Monstrum war nichts mehr zu sehen; es hatte sich in sein Versteck zurückgezogen. »Sind Sie über Hunters nächste Schritte informiert?« fragte Oli varo. Asmodi schüttelte den Kopf. »Ich habe mich noch nicht darum ge kümmert, weil ich anderes zu tun hatte. Aber jetzt kann ich mich voll und ganz meinen Racheplänen widmen, und wir werden in ei ner gemeinsamen Seance das Versäumte nachholen. Versuchen wir einmal zu sehen, was Hunter in nächster Zukunft unternehmen wird.« Asmodis Augen waren halb geschlossen, und seine schweißnasse Hand tastete sich wieder zu der Olivaros und umschloß sie fest. »Ich weiß, daß Dorian Hunter nach seiner Flucht von den Mafiosi aufgefischt wurde. Aber er kann ihnen nicht trauen.« Das ChalkirisGesicht drohte bei diesen Worten ständig zu zerfließen, weshalb es so aussah, als würde darin permanent irgendwelche Muskel zucken. »Was also wird Hunter als nächstes tun?«
»Ich sehe eine Jacht«, sagte Olivaro mit ausdrucksloser Stimme; sein Gesicht war jetzt auch entspannt. »Die Jacht kreuzt in der Ägäis. Jeff Parker, einer seiner Freunde, ist an Bord. Parker besitzt auch ein Flugzeug, das auf dem Flughafen von Izmir steht. Dieses Flugzeug hat sich Hunter schon einmal geborgt. Wenn er erfährt, daß Parker so nahe ist, wird er sich mit ihm in Verbindung setzen.« »Kein Zweifel, daß Hunter Parkers Aufenthaltsort herausfindet«, meinte Asmodi. »Von seinen anderen Verbündeten kann er keine Hilfe erwarten. Die sind in London – im Augenblick also unerreich bar für ihn. Ich sehe ganz deutlich, was geschehen wird. Hunter setzt sich von Bord des Mafia-Schiffes mit Parkers Jacht in Verbin dung. Die beiden werden einen Treffpunkt vereinbaren, an dem Hunter auf Parkers Jacht umsteigt. Ja, so wird es sein. Und ich wer de dem nichts in den Weg legen. Sollen sie nur gemeinsam mit Parkers Jacht in See stechen – mit Izmir als Ziel. Hunter will an das Flugzeug heran, um damit nach Haiti zu fliegen.« »Haiti?« In Olivaros Stimme schwang leichtes Erstaunen mit. »Warum Haiti?« »Weil Valiora dort geboren ist«, antwortete Asmodi, und dabei drohte ihn der Haß erneut zu übermannen; er beruhigte sich aber wieder. »Haiti ist Hunters Endziel, aber er wird es nie erreichen, denn noch auf der Fahrt nach Izmir wird ihn sein Schicksal ereilen. Zuerst soll er die Unsterblichkeit verlieren, dann sein Leben. Noch bevor Hunter mit Jeff Parker Verbindung aufnimmt, werde ich mich um diesen kümmern und ihn in meine Pläne mit einbeziehen. Wenn Hunter dann eintrifft, wird alles für seine Opferung bereit sein. Der Moloch wird alle Probleme lösen.« Asmodi öffnete die Augen. Auch Olivaro erwachte aus der Trance. »Wollen Sie mich nicht in Ihre Pläne einweihen, Asmodi?« Der Fürst der Finsternis kicherte hämisch. »Lassen Sie sich überra schen, Olivaro. Aber etwas will ich Ihnen doch noch verraten. Der Moloch besitzt neben einer Reihe verblüffender Fähigkeiten auch eine gehörige Portion Intelligenz. Ich werde Ihnen noch eine Kost
probe seines Könnens geben.« Er hatte nun wieder das Aussehen des Milliardärs Anatoll Chalki ris angenommen. Über die Sprechanlage, die in dem Tisch eingebaut war, gab er den Befehl, einen Hai ins Aquarium zu lassen. »Achten Sie in den folgenden Minuten vor allem auf den Köderfisch.« Olivaro wollte schon fragen, welchen Köderfisch Asmodi denn meinte, da sah er ihn zwischen den Wasserpflanzen auftauchen. Er war einen Meter lang und eine Herausforderung für jeden Hai. In diesem Augenblick kam auch schon der Raubfisch durch eine Schleuse im Hintergrund ins Aquarium geschossen. Zuerst kreuzte der Hai einige Male durch das Becken, dann hatte er den Köderfisch ausgemacht, der scheinbar völlig reglos dahintrieb. Der Hai zögerte nicht lange, sondern stürzte sich wie vom Kata pult geschnellt auf die Beute. Sein riesiges Maul stand offen und zeigte Reihen messerscharfer Zähne. Mit diesen schnappte er nach dem Köderfisch, so daß dieser fast gänzlich in seinem Maul ver schwand. Bis dahin war alles ganz normal abgelaufen. Doch plötzlich pas sierte etwas Seltsames. Eine unheimliche Verwandlung ging mit dem Köderfisch vor. Er zerrann förmlich, und der Teil, der sich im Rachen des Hais befunden hatte, quoll als formlose Masse durch die Kiemen heraus und breitete sich über den Körper des Hais aus. Se kunden später war der Hai in einer zuckenden gallertartigen Masse verschwunden. »Wenn ich die Geschehnisse richtig deute, dann kann der Moloch seine Gestalt verändern und jedes beliebige Aussehen annehmen«, sagte Olivaro beeindruckt. »Sehr richtig«, sagte Asmodi. »Und das ist die stärkste Waffe die ses Ungeheuers. Ich hoffe nur, daß der Moloch seine Freßgier im Zaum hält und sich wenigstens Hunter bis zum Schluß aufhebt. Ir gendwie ist der Dämonenkiller doch etwas Besonderes, finden Sie nicht auch?« Olivaro nickte nur. Er beobachtete, wie sich in der pulsierenden,
formlosen Körpermasse des Molochs eine Öffnung auftat und das Skelett des Haifisches ausgestoßen wurde. Was für ein Ungeheuer! dachte er fasziniert. Gegen diesen Moloch hatte Dorian Hunter keine Chance. Der Dämonenkiller tat Olivaro leid, aber er konnte ihn nicht einmal warnen, weil Asmodis Ver dacht dann sofort auf ihn gefallen wäre.
»Dorian!« Das braungebrannte Jungengesicht Jeff Parkers strahlte vor Freude. Er ließ die drei Bikini-Mädchen stehen, mit denen er sich auf der Plicht der 30-Meter-Jacht geaalt hatte, und kam mit lan gen Sätzen über den Bootssteg zum Kai gelaufen. Dort fiel er Dorian Hunter regelrecht in die Arme, ohne seine vier Begleiter eines Blickes zu würdigen. »Alter Junge, wie lange haben wir uns schon nicht gesehen!« rief er und drückte Dorians Hand immer wieder so fest, als wollte er sie zerquetschen. »Es muß ja schon fast ein Jahr her sein, seit wir uns in Hollywood getroffen haben.« »Länger als ein Jahr«, sagte Dorian und erwiderte Parkers Hände druck herzlich; sein Lächeln dagegen wirkte etwas gezwungen. »Freust du dich denn nicht?« fragte Parker. Dorians Reserviertheit irritierte ihn. Er trug eine leicht ausgebeulte Leinenhose, Ledersandalen, durch deren Riemen die nackten Zehen hervorsahen, und ein baumwolle nes T-Shirt, das von der Sonne gebleicht war. Man sah ihm nicht an, daß er auf die Vierzig zuging, und seine sportliche, zerknautschte Kleidung ließ auch nicht vermuten, daß er mehrfacher Millionär war. »Doch, ich freue mich, Jeff«, versicherte Dorian ernst. »Ich bin nur etwas müde. Darf ich dir meine Begleiterin vorstellen? Jeff, das ist Valiora. Vali – mein Freund Jeff Parker.« »Dorian hat schon viel von Ihnen geschwärmt, Mr. Parker«, sagte
Valiora in ihrem etwas zu harten Akzent, der aber nicht ohne Reiz war. Ihre Bemerkung dagegen klang wie eine hohle Floskel. »Für Sie bin ich Jeff«, sagte Parker und schüttelte ihre Hand, wäh rend er sie nicht ohne Wohlgefallen betrachtete. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie auch Vali nennen. Auf meiner Jacht geht es nicht besonders formell zu, und Sie werden doch für einige Tage mein Gast sein, Vali?« Er ließ seine Blicke ungeniert über ihre Figur gleiten. Sie war nicht hübscher als die anderen Frauen, die er an Bord hatte, aber doch un terschied sie sich wohltuend von den mehr oder weniger nichtssa genden Gespielinnen. Sie hatte etwas überaus Exotisches an sich und war klein und zierlich, besaß jedoch atemberaubende Propor tionen. Ihre großen, geheimnisvoll dreinblickenden Augen waren fast so dunkel wie ihr pechschwarzes Haar. Dorian lenkte Parker von ihr ab, indem er auf die drei Männer im Hintergrund deutete. »Sie hatten den Auftrag, mich sicher zu deiner Jacht zu bringen. Jetzt müssen sie rasch zu ihrem Don zurück. Aber vielleicht haben sie noch Zeit für einen Drink.« »Nein danke, Signore Hunter«, sagte einer von ihnen in gebroche nem Englisch. »Wie Sie schon sagten, Don Chiusa erwartet uns so fort wieder zurück.« Parker ließ seine Blicke über die drei dezent gekleideten Männer wandern. Als er die Ausbuchtungen unter ihren Achseln sah, wußte er sofort, daß sie bewaffnet waren. »Gehören sie etwa zur Besatzung der Jacht, von der aus du mit mir Verbindung aufgenommen hast? Ich hoffe, daß man dich dort gut behandelt hat.« »Don Chiusa hat es an nichts fehlen lassen«, antwortete Dorian mit einem Seitenblick auf die drei Revolvermänner. »Dennoch bin ich froh, seine besondere Art der sizilianischen Gastfreundschaft nicht mehr länger in Anspruch nehmen zu müssen.« Er wandte sich an die drei Leibwächter. »Richten Sie Don Chiusa meine besten Grüße aus! Leider kann ich nicht sagen, daß ich mir ein Wiedersehen wün sche.«
Die drei Sizilianer verneigten sich leicht, machten kehrt und mar schierten über den Kai zu dem Motorboot, mit dem sie Valiora und Dorian in den Hafen von Chania gefahren hatten. Don Chiusas Jacht war außerhalb der Hoheitszone von Kreta vor Anker gegangen. »Mafiosi?« fragte Parker, während er den drei Männern nachblick te. Und als Dorian nickte, fragte er: »Was hast du mit der Mafia zu tun?« »Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir ein an dermal, Jeff.« »Schön, wie du meinst«, sagte Parker leicht eingeschnappt. Und an Valiora gewandt fügte er hinzu: »Dorian gefällt sich in der Rolle des großen Schweigers. Als wir uns zuletzt in Hollywood trafen, da hat er beinahe eines meiner Filmprojekte zunichte gemacht und dann eine Schönheitsklinik in einen Trümmerhaufen verwandelt. Aber glauben Sie nur nicht, daß er deswegen auch nur ein Wort der Erklä rung an mich verloren hätte.« »Dorian wird seine Gründe gehabt haben«, sagte Valiora. Parker verdrehte die Augen und rief enttäuscht: »Na, ich hätte mir denken können, daß Sie mit ihm unter einer Decke stecken!« Im nächsten Moment lachte er jedoch und fügte hinzu: »Aber lassen wir das. Ihr seid doch nicht gekommen, um uns die Stimmung zu ver derben, oder? Jetzt machen wir uns erst einmal ein paar sorglose Tage.« Er hakte sich bei ihr unter und führte sie auf den Bootssteg. Nach ein paar Schritten hielt Dorian ihn auf. »Bevor wir an Bord gehen, möchte ich noch etwas klarstellen, Jeff. Du hast mir über Funk versprochen, daß du mit uns direkten Kurs auf Izmir nehmen wirst und uns dort dein Flugzeug zur Verfügung stellst.« »Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Parker. »Aber in der Ägäis wimmelt es nur so von Inseln, so daß selbst der kürzeste Weg zu einer Schlangenlinie wird. Doch keine Sorge, ich halte mein Wort. Die versnobte Bagage, die ich an Bord habe, fällt mir ohnehin schon längst auf den Wecker. Ich bin froh, eine Gelegenheit gefunden zu haben, sie loszuwerden. In einer Stunde sind die Formalitäten erle
digt, dann laufen wir aus. Bist du zufrieden, Dorian?« »Danke für dein Entgegenkommen«, sagte er und gab den Weg frei. »Ich möchte dich nur noch bitten, mich deinen Freunden gegen über als Reporter auszugeben.« »Was bist du denn sonst?« »Und ich wäre dir auch dankbar, keine Fragen an mich zu stellen, die ich doch nicht beantworten kann.« »Gut, gut«, sagte Parker ungehalten. »Ich akzeptiere alles. Geheim niskrämerei bin ich von dir ja langsam schon gewohnt. Aber in wel cher geheimen Mission du auch immer unterwegs bist – ich bitte dich, wenigstens für die Dauer unserer Fahrt deine Griesgrammaske abzulegen. Wir sind nämlich nicht auf einer Beerdigung.« Dorian hätte die letzte Bemerkung am liebsten nicht unwiderspro chen gelassen, dann überlegte er es sich aber anders und rang sich zu einem Lächeln durch. »Akzeptiert.« »Na also! Und jetzt mache ich euch erst einmal mit den anderen bekannt. Mich eingeschlossen und die sechsköpfige Mannschaft aus genommen, sind wir vierzehn Leute an Bord. Acht Mädchen und sechs Männer. Die richtige Mischung für eine Kreuzfahrt. Versucht nicht erst, die einzelnen Namen im Gedächtnis zu behalten, ihr wer det die Leutchen schon noch zur Genüge kennenlernen. Jeder mei ner Gäste ist eine eigene unnachahmliche Type für sich.« Als sie über den Verbindungssteg auf die Jacht gehen wollten, tauchte dort plötzlich ein schlaksiger junger Mann von etwa fünf undzwanzig Jahren mit einer rötlich schimmernden Löwenmähne auf. Er hielt eine Hasselblad vor der Brust, sprang, als stünde er auf heißen Kohlen, ständig von einem Bein aufs andere, ging in die Knie und machte die unmöglichsten Verrenkungen, während er pausen los auf den Auslöser drückte. Dabei kam ein kaum verständlicher Redeschwall über seine Lippen. »Willkommen an Bord! Nicht lächeln, sonst verhaut ihr mir die ganze Bildserie! Mädchen, sieh zu den Möwen hinauf! Nicht so sinnlich, eher angewidert! Und du mit dem Walroßbart darfst dir
ruhig ein Grinsen abzwicken! Herrgott, du machst ja ein Gesicht zum Fürchten!« »Damit hätte sich Adrian West vorgestellt«, erläuterte Parker. »Er ist ein Landsmann von dir, Dorian, und hört es gern, wenn man ihm das Prädikat Starfotograf verleiht. Er knipst jeden Blödsinn, aber die Bilder, die er macht, können sich sehen lassen.« »Tag«, sagte Adrian West mit offenem Grinsen und schüttelte Va liora und Dorian kurz die Hand, dann zog er sich auch schon wieder zurück, um zwei Frauen in knapp sitzenden Bikinis Platz zu ma chen, die herankamen und sich besitzergreifend an Jeff Parker schmiegten. Die eine war eine rassige Südländerin, die bei Valioras Anblick so fort Abwehrstellung einnahm, so als sähe sie in ihr eine Rivalin. Die andere war blond und hatte im Verhältnis zu ihrem gertenschlanken Körper einen viel zu großen Busen – fand zumindest Dorian. »Rosalia und Doris«, stellte Parker die Mädchen vor, ohne sich die Mühe zu machen, auch ihre Nachnamen zu nennen. »Sie sind so grundverschieden wie Tag und Nacht, aber jede von ihnen hat ihre unbestreitbaren Vorzüge.« »Hallo!« sagte die glutäugige Rosalia gelangweilt. »Hallo!« kam es über die ungeschminkten Lippen der blonden Do ris, es klang aber schon etwas persönlicher. Sie fügte hinzu: »Jeff hat mir eine Rolle in seinem nächsten Film angeboten. Versprechen Sie mir, daß sie ihn daran erinnern werden, Mr. Hunter?« »Du wirst leider noch eine Weile auf deine Chance warten müs sen«, sagte da eine Männerstimme aus dem Hintergrund. Der Spre cher war mittelgroß, hatte ein markantes, aber für einen Mann etwas zu schönes Gesicht und machte trotz seiner sportlichen Erscheinung einen verweichlichten Eindruck. Er hatte einen südländischen Ak zent, und Dorian tippte darauf, daß er Mexikaner war. Er fuhr in seinem harten und dennoch fast ein wenig geschraubt wirkenden Englisch fort: »Für Doris' Busen muß erst ein eigenes Filmformat er funden werden, besser wäre natürlich gleich ein 3-D-Verfahren.«
»Typisch Tante Pepe«, sagte Doris. »Mußt du unseren neuen Gast gleich zur Begrüßung schockieren, indem du ihm deine Vorliebe für hühnerbrüstige Jünglinge offenbarst?« »Pepe Montez«, stellte sich der Neuankömmling vor und küßte Valiora galant die Hand. Er trug im Gegensatz zu den anderen ele gante Kleidung, ein Jacket aus Seide und eine Seidenhose mit einer genähten Mittelfalte; um seinen Hals war ein Tuch mit aztekischem Muster geschlungen. »Ich höre dieses kindische Geschwätz gar nicht mehr«, fuhr er fort, während er Dorians Hand ergriff. Sein Hände druck war angenehm fest und paßte gar nicht zu seiner Erschei nung. »Wenn man sich nicht allein mit Busen zufriedengibt und et was höhere Ansprüche stellt, wird man von diesen hohlköpfigen Maiden sofort abgestempelt.« Dabei lächelte er entwaffnend. Valiora konnte er mit diesem Lächeln allerdings nicht gewinnen. Parker führte sie zur Plicht, wo sich weitere Passagiere in Liege stühlen räkelten. Namen schwirrten durch die flimmernde Luft, Do rian und Valiora schüttelten Hände, grinsten in nichtssagende Ge sichter, antworteten auf harmlose Bemerkungen in gleicher Weise. »Ah, Sie sind der angekündigte Sensationsreporter!« sagte ein Engländer, der als Clifford Montgomery vorgestellt worden war. Er war fast so groß wie Dorian, aber so dürr wie eine Bohnenstange. Die grellgemusterten Bermudashorts wirkten an ihm so deplaziert wie an einer Spinne. »Dann sind wir ja beinahe Kollegen.« »Sind Sie etwa auch Reporter?« fragte Dorian aus Höflichkeit. »Nun, nicht in dem Sinne …« »Er verdient sich seine Brötchen, indem er im Schmutz anderer wühlt und ihn an die Öffentlichkeit zerrt«, warf eine der Frauen ein, die Parker Fabienne genannt hatte. »Er verspritzt in seiner Klatsch spalte mit jedem Wort mehr Gift als eine Sandviper.« »Fabienne ärgert sich bloß, weil ihr Name noch nie in meiner Ko lumne erwähnt wurde«, meinte Montgomery. »Dabei tut sie alles, um mir Stoff für meine Storys zu liefern. Aber ich frage Sie, Hunter, wen interessieren schon die Orgien einer Fabienne Mercier?«
Dorian wollte sich mit Valiora wieder zurückziehen, aber der spin deldürre Klatschspalten-Kolumnist folgte ihm. »Sie interessieren mich, Hunter«, sprach er auf ihn ein. »Sie haben mich schon interes siert, bevor ich Sie persönlich kennenlernte. Kaum hatte Jeff Ihren Funkspruch erhalten, da hat er sofort alle seine Pläne über den Hau fen geworfen.« »Wir sind nun mal gute Freunde«, sagte Parker an Dorians Stelle. »Ob das der einzige Grund ist?« fragte Montgomery lauernd. »So viel ich weiß, hat Jeff nur einem halben Dutzend Personen die Pari ser Geheimnummer gegeben, über die man jederzeit erfahren kann, wo er zu erreichen ist. Sie müssen die Nummer seiner Privatsekretä rin kennen, sonst hätten Sie ihn nicht gefunden.« »Stimmt«, sagte Dorian nur. »Laß Dorian jetzt in Frieden, Cliff!« bat Parker den Kolumnisten. »Ich möchte ihm und seiner Begleiterin die Kabine zeigen, damit sie sich erst einmal etwas erholen können. Danach könnt ihr euch un terhalten.« »Bis später, Hunter!« »Ein aufdringlicher Kerl«, sagte Parker, während sie über die Treppe aufs Kabinendeck hinunterstiegen. »Er vermutet natürlich, daß du ein Prominenter bist und erhofft sich eine Skandalgeschich te. Wenn ich gewußt hätte, wie lästig er werden kann, hätte ich ihn nicht mitgenommen.« Auf dem Kabinendeck begegnete ihnen ein junger Mann, der ein Mischling sein mußte. Parker stellte ihn als Geronimo vor. Als er über die Treppe nach oben verschwunden war, erklärte Par ker: »Geronimo ist natürlich nur sein Künstlername, aber in seinen Adern fließt tatsächlich Indianerblut. Er entwirft ganz phantastische Stoffmuster mit aztekischem Einschlag. So, das ist eure Kabine. Ich hoffe doch, es geht in Ordnung, daß ich euch eine gemeinsame Ka bine zugeteilt habe?« »Ja, das geht in Ordnung«, sagte Dorian nach einem kurzen Blick
wechsel mit Valiora. Bevor Parker noch die Kabinentür öffnen konnte, ging sie auf, und ein verwahrlost wirkender Mann kam heraus. Er duckte sich, als er warte er Schläge, und murmelte etwas Unverständliches, während er sich zwischen Dorian und Parker vorbeizwängte. »Was war denn das für ein Galgenvogel?« fragte Dorian mißtrau isch. »Einer der beiden Matrosen«, antwortete Parker unbehaglich. »Was sucht er in unserer Kabine?« »Was denn schon? Er hat sie in Ordnung gebracht.« »Der Kerl gefällt mir gar nicht.« »Glaubst du, mir gefällt er? Aber ich bin froh, ihn überhaupt be kommen zu haben.« »Wie meinst du das?« Parker machte eine wegwerfende Handbewegung. »Davon später. Jetzt macht euch erst einmal frisch. Bis ihr an Deck kommt, sind wir längst schon ausgelaufen.« Parker blickte zu Valiora. »Dorian teilte mir über Funk mit, daß Sie keinen Paß haben.« Als sie erschrocken nickte, lächelte er ihr auf munternd zu. »Das bekommen wir schon in Ordnung. Bleiben Sie nur unter Deck, bis die Zollformalitäten erledigt sind.« Die Kabine war geräumig und besaß zwei Luken. Es gab ein brei tes und luxuriöses Doppelbett, einen Kühlschrank mit Bar – an der sich Dorian sofort bediente –, einen Einbauschrank, der die Gardero be eines Fürsten hätte fassen können, und einen Schminktisch, der von drei verschiedenen Marken Antibaby-Pillen bis zu schwarzem Nagellack alles enthielt, um die exklusiven Wünsche einer jeden Frau erfüllen zu können. Als Valiora die Badezimmertür öffnete, gab sie einen Ausruf des Entzückens von sich. Es handelte sich nicht um eine der üblichen en gen Duschkabinen, sondern es gab neben einer gläsernen Badewan ne auch noch extra ein Bidet.
Während Valiora sich ins Bad zurückzog, schaltete Dorian die Ste reo-Anlage ein, lümmelte sich aufs Bett und nippte an seinem Bour bon. Gleich neben dem Bett stand das Schiffstelefon, über das man zu jeder Kabine, zum Kommandostand und selbst zum Maschinen raum Verbindung aufnehmen konnte. Es gab sogar eine Steckdose mit dem Hinweis, daß die Stromspannung an Bord 220 Volt Wech selstrom betrug und man jedes Gerät anschließen könnte. Auf dem Nachttisch lag eine kleine Broschüre mit der Beschreibung der Jacht. Dorian blätterte sie durch. Die Jacht war auf den Namen Jorika getauft worden, 32,5 Meter lang, 6,9 Meter breit und hatte einen Tiefgang von 2 Metern. Sie fuhr unter panamesischer Flagge, und Dorian dachte bei sich, daß Jeff das wohl aus Steuergründen so hielt. Es gab zehn Doppelkabinen, einen großen Decksalon, einen Speisesalon und eine Kombüse, die einen Vergleich mit der Küche eines Herrschaftshauses nicht zu scheuen brauchte. Dorian konnte sich auf den Fotos davon überzeu gen. Die weiteren technischen Daten überflog er nur; sie waren für ihn größtenteils nichtssagend. Valiora kam aus dem Badezimmer, ein Handtuch um den Körper geschlungen. Sie beugte sich über das Bett, küßte Dorian sanft auf den Mund, nahm ihm dabei den Whisky aus der Hand und trank das Glas auf einen Zug leer. »Habe ich einen Mordshunger!« seufzte sie dann. Dorian griff nach dem Telefonhörer, drückte auf die Taste für die Kombüse und sagte in die Sprechmuschel, als am anderen Ende ab gehoben wurde: »Steward, bringen Sie einige Toasts auf Kabine sie ben.« Er hatte kaum eingehängt, als das Telefon summte. Er hob verärgert ab. »Kabine sieben«, wiederholte er. »Hier spricht Kapitän Epsilon Medarchos, Sir«, radebrechte eine tiefe Männerstimme. »Willkommen an Bord, Sir! Sie haben Bestel lung gemacht in Kombüse, Sir?« »Ganz richtig«, sagte Dorian mürrisch. »Stimmt etwas nicht?« »Stimmt etwas viel nicht«, bestätigte der Kapitän. »Würden Sie
mir bitte nochmal sagen? Steward verstehen kein Englisch.« »Hauptsache Sie haben in Cambridge studiert«, meinte Dorian, wiederholte die Bestellung und hängte ein. »Das kann ja noch heiter werden.« Es schmuste mit Valiora etwas herum und ärgerte sich, die Bestel lung aufgegeben zu haben, weil der Steward jeden Augenblick her einkommen mußte, und er sich deshalb nicht so gehenlassen konnte, wie er wollte. Eine Viertelstunde später klopfte es an der Tür. Valiora schlüpfte unter die Decke, und Dorian rief: »Herein!« Die Tür öffnete sich, und der Steward kam mit einem Tablett her ein; das heißt, er wirkte eigentlich eher wie ein Gorilla, den man in ein weißes Jackett gezwängt hatte. Mit den verschlagen dreinbli ckenden Triefaugen, der schiefen Knollennase und dem wulstigen Mund, der halb offenstand und ein gelbes Gebiß mit etlichen Zahn lücken zeigte, sah er zum Fürchten aus, und sein graublauer Teint machte seine Erscheinung auch nicht gerade einnehmender. Er stell te das Tablett mit linkischen Bewegungen auf dem Nachttisch ab und streifte Valiora dabei mit einem undefinierbaren Blick. Schlür fend zog er den Speichel ein, verneigte sich leicht und schlurfte dann aus der Kabine. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloß. »Dieser Mann gefällt mir nicht«, sagte Valiora. »Na, na!« machte Dorian und schubste sie an. »Zugegeben, der Steward ist nicht gerade eine Augenweide, aber daß ausgerechnet du dich von ihm einschüchtern läßt! Schließlich hast du bisher nicht einmal den Teufel selbst gefürchtet.« Valiora rückte ein Stück von ihm ab, warf dann die Decke zurück und ging, nackt wie sie war, zur Tür, um sie zu verriegeln. Sie wirk te ernst und nachdenklich. »Du weißt, daß ich keine Frau bin, die bei jeder Kleinigkeit zu zittern beginnt. Ich habe zu viel Schreckli ches gesehen und durchgemacht. Wenn ich mich auf dieser Welt noch vor etwas fürchten kann, dann nur noch vor Asmodi.« »Du glaubst doch nicht, daß der Steward einer von Asmodis Dä
monen ist? Das ist lächerlich! Asmodi hätte ihn schon vor unserem Eintreffen an Bord bringen müssen, und das würde wiederum vor aussetzen, daß er von unserer Ankunft wußte.« »Ist das so unwahrscheinlich?« Dorian seufzte. »Ich weiß natürlich, daß Asmodi mit Hilfe der Schwarzen Magie Unwahrscheinliches vollbringen kann, aber ge wisse Grenzen sind auch ihm gesetzt. Jeff ist mit diesem Schiff vor drei Wochen von Izmir aus in See gestochen. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß ich der Teufelsinsel einen Besuch abstatten würde. Wie sollte er also wissen, daß wir irgendwann einmal an Bord dieses Schiffes gehen würden?« »Ich weiß aber, daß er uns nicht so ohne weiteres ziehen lassen wird«, sagte Valiora leise. »Das ist auch mir klar. Aber deshalb sollten wir uns nicht selbst verrückt machen. Glaube mir, auf Jeffs Schiff sind wir sicherer als anderswo.« »Das heißt aber noch lange nicht, daß wir in Sicherheit sind. As modi wird uns so lange jagen, bis er uns zur Strecke gebracht hat. Er wird diese Niederlage nicht ohne weiteres hinnehmen. Als der Ste ward vorhin in die Kabine kam, da glaubte ich mit Sicherheit, die Ausstrahlung von etwas Unheimlichem, Dämonischem zu spüren.« »Mir ist dieser Steward auch nicht ganz geheuer«, gab Dorian zu, und er erinnerte sich des unheimlichen Gefühls, das ihn beschlichen hatte, als sie dem Matrosen begegneten. »Aber Jeff hätte ihn wohl nicht eingestellt, wenn er nicht in Ordnung wäre.« »Dein Freund Parker hat überhaupt keine Ahnung von der Exis tenz der Dämonen«, hielt Valiora dagegen. »Das hast du selbst ge sagt.« Dorian seufzte. »So kommen wir nicht weiter, Vali. Alles Reden hat doch keinen Sinn. Ich glaube immer noch, daß wir hier sicherer sind als anderswo. Aber ich verspreche dir, auf der Hut zu sein.« Valiora umarmte ihn leidenschaftlich. »Bring mich sicher nach
Haiti! Dann bekommst du von mir das Pfand, das Asmodi mir gab, und kannst ihn töten.«
Eine halbe Stunde später duschte Dorian und wählte aus den Klei dern, die Parker ihm zur Verfügung gestellt hatte, ein weißes Hemd, eine dunkelblaue Hose und leichte Mokassins. Für Vali fand sich in der Garderobe nichts Passendes, so daß sich Dorian über Telefon mit Parker in Verbindung setzte, der eine Frau runterschickte. Sie hieß Gloria und hatte annähernd die gleiche Figur wie Vali; sie half ihr mit einem Kleid aus. Als sie an Deck kamen, herrschte ausgelassene Stimmung. Kreta lag bereits zwanzig Meilen hinter ihnen. Die Sonne stand tief und würde in einer halben Stunde am Horizont verschwinden. Eine leichte Brise war aufgekommen. Die Girlanden und Lampions, die über die Plicht gespannt waren, schaukelten hin und her. Aus den Lautsprechern drang Tanzmusik; heiße Rhythmen, zu denen drei der Frauen im Stil von Gogo-Girls tanzten. In einer von ihnen er kannte Dorian Doris, die Blonde mit dem üppigen Busen. Die drei Tänzerinnen wurden von den Männern angefeuert, die anderen Frauen gaben sich gelangweilt. Der Steward räumte die leeren Glä ser ab und servierte neue Drinks. »Da sind unsere Ehrengäste!« rief Clifford Montgomery, als Dori an und Vali auftauchten. »Hört mit dem Herumgehopse auf, Mäd chen! Damit könnt ihr sowieso niemanden mehr reizen.« Doris kam seiner Aufforderung nach und ging zu Dorian. Die an deren beiden Frauen gebärdeten sich weiterhin wie in Ekstase. »Darf ich Ihren Freund entführen?« fragte die Blonde in Valis Richtung, ohne sie wirklich anzusehen, und zog Dorian mit sich fort zum Vorschiff, ohne auf eine Antwort zu warten. Dabei kicherte sie. »Fabienne wird eine Mordswut auf mich haben, daß ich ihr zuvor gekommen bin.« »Warum das?«
»Na, haben Sie nicht gemerkt, daß die Kleine ein Auge auf Sie ge worfen hat?« »Da bin ich aber froh, daß Sie mich gerettet haben. Ich bin nämlich schon vergeben.« »Ich habe nicht gesagt, daß ich keinen Gefallen an Ihnen gefunden habe«, hauchte die Blonde. »Sie sind doch nicht prüde?« »Nein, aber ich kann mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts auch harmlose Konversation ohne sexgeladene Untertöne führen.« »Ich bin Ihnen wohl zu aufdringlich«, sagte Doris pikiert und wollte ihm den Arm entziehen. Dorian hielt sie unwillkürlich fest. Er blickte gerade zum Ruder haus hinauf, wo er hinter dem Glasvorbau ein bärtiges Gesicht er blickte. »Ist das Kapitän Epsilon Medarchos?« »Ja«, sagte sie fröstelnd. »Ein unheimlicher Kerl. Bei ihm hat man ständig das Gefühl, daß er einen mit den Blicken verschlingen möchte.« »Und was halten Sie von der übrigen Mannschaft?« Sie preßte sich enger an ihn. »Wenn man einem von ihnen begeg net, dann ist man froh, wenn man einen starken Mann an seiner Sei te hat. Sie haben alle diesen hungrigen, verschlagenen Blick wie der Käpt'n.« »Wenn man Sie so hört, muß man sich unwillkürlich fragen, wie Sie es drei Wochen lang mit dieser Mannschaft ausgehalten haben«, meinte Dorian schmunzelnd. »Drei Wochen?« wunderte sich Doris. »Ich glaube, ich werde keine Nacht ein Auge zubekommen, wenn ich mir vorstelle, daß der Ste ward auf dem Kabinendeck herumschleicht.« Dorian blieb stehen. »Wie meinen Sie das?« »Wie ich es sage. Ich habe Angst vor diesen Männern.« »Aber Sie sind doch schon drei Wochen mit ihnen unterwegs.« »Wo denken Sie hin! Die sind doch erst in Chania an Bord gekom
men, weil … he, Vorsicht!« Dorian hatte sich so heftig herumgedreht, daß er ihr das CocktailGlas aus der Hand geschlagen hatte. Doris blickte an sich herunter. »Was ist denn mit Ihnen los? Jetzt haben Sie mir mein neues Kleid mit Schnaps besudelt. Ich habe es erst heute im Hafen gekauft.« »Ich schenke Ihnen ein neues«, sagte Dorian und eilte zum Heck, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Er fand Parker gerade mit dem Fotografen Adrian West in ein Gespräch vertieft und zog ihn beiseite. »Ist es wahr, daß die Mannschaft erst in Chania an Bord gekom men ist?« fragte er mit gesenkter Stimme. »Ich kann kein Wort verstehen bei diesem Krach«, sagte Parker und deutete in Richtung der Lautsprecher. »Gehen wir in den Salon!« Dort scheuchten sie ein Pärchen auf, das gerade dabei war, sich menschlich näherzukommen. »Ich möchte wissen, ob die Mannschaft erst in Chania an Bord ge kommen ist«, wiederholte Dorian seine Frage. »Ja. Aber wieso fragst du?« wunderte sich Parker. »Wie ist es dazu gekommen?« »Das hört sich ja fast so an, als wolltest du mir Vorwürfe machen«, sagte Parker irritiert. Als Dorian schwieg und ihm nur in die Augen sah, senkte er den Blick. »Als wir im Hafen von Chania anlegten, war alles noch in Ordnung. Wir machten alle einen kleinen Bummel. Als wir zur Jacht zurückkamen, wanden sich unsere Männer in Magenkrämpfen. Alle sieben. Den Käpt'n hatte es am ärgsten erwischt. Was blieb mir an deres übrig, als sie ins Krankenhaus überweisen zu lassen? Die Ärz te diagnostizierten eine Lebensmittelvergiftung und meinten, daß es schon einige Tage dauern würde, bis sie wieder Schiffsplanken un ter die Füße bekämen. Ich mußte also diese sechs Galgenvögel an
heuern. Andere Leute boten sich nicht an.« »Wurden dir Kapitän Medarchos und seine Leute von jemandem empfohlen? Ich meine, konnten sie Referenzen vorweisen?« »Danach habe ich sie nicht gefragt. Ich wußte doch, wie schnell du nach Izmir wolltest. Da habe ich nicht lange gefackelt.« »Es ist fraglich, ob wir Izmir jemals erreichen werden«, murmelte Dorian. »Was redest du da?« Er winkte ab. Es hätte keinen Sinn gehabt, Parker seinen Verdacht mitzuteilen. Vielleicht irrte er sich sogar – er hoffte es –, aber nun er schien es ihm selbst nicht mehr unwahrscheinlich, daß Asmodi seine Hand im Spiel hatte. Bei den Männern der Mannschaft konnte es sich natürlich um harmlose Seeleute handeln, ebenso gut war es aber auch möglich, daß es Untote, von Asmodi beherrschte Sklaven waren, die den Auftrag hatten, Vali und ihn zu töten. »Was machst du denn für ein Gesicht?« fragte Parker verständnis los. »Die paar hundert Meilen bis Izmir werden wir schon schaffen.« In diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei. »Das war auf dem Kabinendeck«, sagte Parker. Dorian war bereits losgerannt. Er erreichte Doris als erster. Sie fiel ihm kraftlos in die Arme. Sie trug nur Unterwäsche. Ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen waren groß und starr ins Leere gerichtet. »Haben Sie geschrien?« fragte er. Jetzt kamen die anderen heran und umstanden sie. »Schnell einen Drink!« Jemand flößte ihr einen Cognac ein. Als sie das Glas leergetrunken hatte, bekamen ihre Wangen wieder etwas Farbe. »Was ist passiert?« wollte Dorian wissen. »Ich bin in meine Kabine gegangen … um mich umzukleiden … weil Sie mir doch das Kleid ruiniert hatten«, berichtete sie stockend. »Ich war gerade aus dem Kleid geschlüpft und wollte ein neues aus
dem Schrank holen, da ging das Licht aus.« »Und deswegen bekommst du gleich einen hysterischen Anfall?« meinte Adrian West spöttisch und brachte seine Hasselblad in Posi tion. Sekundenbruchteile später leuchtete der Blitz auf. Die Blondine winkte ab. »Deswegen doch nicht! Es tauchte plötz lich ein grinsender Totenschädel auf. Er leuchtete im Dunkeln und kam auf mich zu … Ich hatte solche Angst, daß ich nicht wußte, was ich tat. Ich rannte auf den Korridor und schrie.« »Nach deiner Alkoholfahne zu schließen, würde ich dir sogar glauben, daß du weiße Mäuse siehst«, sagte Cliff Montgomery, und einige lachten. Plötzlich sagte eine der Frauen mit zittriger Stimme: »Da! Die Tür der Kabine bewegt sich.« Alle fuhren herum. Die Tür glitt tatsächlich mit unheimlicher Langsamkeit auf – und heraus trat eine Gestalt in einem schwarzen Umhang und mit einem phosphoreszierenden Totenschädel. »Hu!« machte die Erscheinung und nahm die Totenmaske ab. Darunter kam das Gesicht von Pepe Montez zum Vorschein. Adrian West hielt den Augenblick mit seiner Kamera fest. Dem angespannten Schweigen folgte Gelächter, nur Doris stimmte nicht mit ein. »Eines Tages wirst du mit deinen makabren Scherzen zu weit ge hen«, sagte sie verärgert. »Ja, und dann wird dieses riesige Herz auf einmal zu schlagen auf hören«, sagte Pepe theatralisch und griff nach ihrer linken Brust. Doris schlug nach ihm, aber er flüchtete lachend auf Deck. Die an deren folgten ihm grölend. Dorian sah, wie sich Vali Geronimo, dem Mischling mit dem Indianerblut, anschloß und blieb bei Doris. »Ziehen Sie sich etwas an!« sagte er. »Wenn es Sie beruhigt, warte ich solange vor Ihrer Tür.« Sie hatte sich so weit wieder von ihrem Schrecken erholt, daß sie sich auf ihr Image als Sexbombe besann und kokett meinte: »Noch sicherer würde ich mich fühlen, wenn Sie in meiner Kabine auf mich
aufpassen würden.« Er schickte sie mit einem Klaps auf das Hinterteil in ihre Kabine und registrierte, daß sie die Tür nur angelehnt ließ. Er zündete sich eine Zigarette an. »Hat Montez öfter solche makabren Einfälle?« fragte er. »Der!« rief sie mit einer Mischung aus Wut und Spott zurück. »Pepe hat außer Strichjungen nur Unsinn im Kopf. Dabei ist er Besit zer einer gutgehenden Boutiquenkette in Paris. Wußten Sie das?« »Und Sie?« fragte Dorian, nur um das Gespräch in Gang zu halten. »Sie sind doch Deutsche. Wie kommen Sie zu Jeff?« »Er hat mich in Izmir aufgelesen. Einen Monat durch die Ägäis zu kreuzen hat mich eben gelockt. Im großen und ganzen mußte ich meinen Entschluß auch nicht bereuen. Jeff ist ein feiner Kerl, und die anderen …« Sie unterbrach sich. Dorian wartete darauf, daß sie weitersprach, doch sie ließ nichts mehr von sich hören. Das heißt, sie sprach nicht weiter, sondern gab seltsame, unverständliche Laute von sich. Dorian zögerte einen Augenblick. Er war sicher, daß sie ihn nur in ihre Kabine locken wollte, doch als das Röcheln lauter wurde, über legte er nicht lange. Wenn sie nur versuchen sollte, mit ihm ihr Spiel zu treiben, würde er ihr was erzählen. Er riß die Tür auf, da taumelte ihm das Mädchen entgegen. Ihr Ge sicht war von Entsetzen gezeichnet; sie hatte sich die Knöchel in den Mund geschoben und die Zähne darin vergraben, um nicht schreien zu müssen. »Was ist denn nun passiert?« fragte Dorian. »Etwas … Schleimiges hat mich am Hals angefaßt«, stammelte sie, dann brach sie bewußtlos zusammen. Dorian entdeckte an ihrem Hals einen häßlichen Striemen. Die Haut war an dieser Stelle wie von Säure zerfressen. Er legte das Mädchen aufs Bett, dann durchsuchte er die Kabine, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken.
So fand ihn Parker vor. Als er Doris auf dem Bett liegen sah, wollte er sich mit einem diskreten »Oh« sofort wieder zurückziehen, doch Dorian klärte ihn auf. »Ist einer der Passagiere Arzt?« fragte er. »Fabienne Mercier studiert im vierten Semester Medizin«, sagte Parker. »Ich werde ihr sagen, daß sie sich um Doris kümmern soll.« »Jeff!« Dorian hielt den Freund am Arm zurück. »Am besten du erwähnst den anderen gegenüber nichts von diesem Vorfall. Sie würden ja doch wieder nur an einen makabren Scherz glauben.« »Und was glaubst du?« Dorian hob die Schultern. »Ach, da ist noch etwas«, sagte er einer plötzlichen Eingebung folgend. »Versuche doch herauszufinden, wo sich die Mannschaft zum Zeitpunkt des Vorfalles aufhielt!«
Das Fest ging weiter. Dorian hatte sich mit Vali zurückgezogen und ihr von dem Vorfall erzählt und daß die Stammbesatzung durch die se zwielichtigen Gestalten ersetzt worden war. Fabienne Mercier erschien wieder an Deck und meinte lässig, daß sie im Augenblick – und wahrscheinlich auch später, denn sie sei ja kein Psychiater – nichts für Doris tun könne. Sie bestätigte aber Do rian, daß die Halswunde wahrscheinlich durch Säure verursacht worden war, behauptete jedoch im selben Atemzug, daß Doris sie sich bestimmt selbst zugefügt hätte. Parker setzte sich etwas später zu Dorian und Vali und berichtete, daß keiner aus der Mannschaft etwas mit dem Zwischenfall zu tun haben konnte, denn der Smutje und die beiden Matrosen hatten ihre Kojen im Vorschiff ebensowenig verlassen wie der Maschinist den Maschinenraum; das zumindest behaupteten sie – und das Gegen teil war nicht zu beweisen, als Jeff sie mit seinen dürftigen Grie chischkenntnissen befragte. Der Steward und der Kapitän hatten da gegen ein Alibi, das jeder bestätigen konnte. Der Kapitän hatte das
Ruderhaus nicht verlassen, und der Steward servierte auf der Plicht. »Du solltest den Vorfall nicht zu ernst nehmen, Dorian«, meinte Parker mit schwerfälliger Zunge; seine Augen hatten den leicht gla sigen Ausdruck eines Beschwipsten. »Pepes Scherz hat sie ganz aus dem Häuschen gebracht. Sie ist durchgedreht. Ehrlich gesagt, sie neigte schon immer leicht zu Hysterie.« »Du kennst sie doch erst drei Wochen.« Parker kicherte. »Du solltest gar nicht glauben, wie rasch Men schen einander kennenlernen, wenn sie drei Wochen hindurch auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Dorian, du hast gar keine Vorstellung davon, wie sehr mir diese ganze Bande auf die Nerven geht.« »Du hast einen zuviel über den Durst getrunken.« »Klar. Anders lassen sich diese Typen überhaupt nicht ertragen.« »Warum gibst du dich dann mit ihnen ab?« Parker grinste wieder. »Ist dir nicht aufgefallen, daß sie alle – vor nehmlich die Männer – irgendwie mit der Modeindustrie zu tun ha ben? Geronimo entwirft Stoffmuster, Pepe besitzt eine Boutiquen kette, Adrian ist Modefotograf, Domenico Clerici ist Industrie-Desi gner. Er hat mal eine originelle Idee für die Verpackung von Spaghetti gehabt. Davon zehrt er nun schon seit zehn Jahren, aber ich bin sicher, daß er auch in anderen Sparten noch gute Ideen aus dem Ärmel schütteln kann.« »Irgend etwas braut sich zusammen«, sagte Dorian. »Was denn, Junge, was denn?« Dorian schwieg. Er prostete einem der Mädchen zu, das ihm schwankend ihr Glas entgegenhielt. »Willst du es ihm nicht sagen?« fragte Vali Dorian. »Ich meine, Jeff sollte wissen, woran er ist. Schließlich trägt er das Risiko.« »Was soll er mir sagen?« fragte Parker leichthin und tippte ihr mit dem kleinen Finger der Hand, mit der er sein Whiskyglas hielt, ge gen die Brust.
»Morgen, wenn du wieder nüchtern bist, werde ich dir alles erzäh len«, versprach Dorian. »Willst du behaupten, ich sei besoffen?« regte sich Parker auf. Dorian packte ihn am Arm. »Hast du Waffen an Bord?« fragte er, um das Thema zu wechseln. »Ja, natürlich«, sagte Parker, als sei es die selbstverständlichste Sa che der Welt. »Aber ich bin nicht so verrückt, dich heranzulassen. Ein halbes Dutzend Gewehre, von der Schrotflinte bis zur Elefanten büchse. Sie sind in meiner Kabine unter Verschluß. Du glaubst also, ich sei besoffen, was? Na, dann werde ich dir zeigen, wie gut ich noch auf den Beinen bin. Geronimo, deine Gitarre!« Geronimo, der Indianermischling mit dem maskenhaft ausdrucks losen Gesicht, der sich immer still im Hintergrund hielt, war neben Vali und Dorian noch der einzige Nüchterne. »Ja, spiel einen Flamenco, Geronimo!« rief die rassige Rosalia und stampfte mit den Beinen auf. »Olé!« »Jetzt kommt Rosis Spezialität«, flüsterte Pepe Montez Dorian ver traulich ins Ohr; sein Atem bestand aus hochprozentigen Alkohol dämpfen. Geronimo hatte die Gitarre geholt und stimmte sie. Die anderen Gäste hatten zusammen mit dem Steward den Tisch geräumt. Rosa lia Juarez kletterte hinauf. Sie trug ein knöchellanges Frotteekleid. Als Geronimo in die Saiten griff, begann sie zu tanzen. Parker hops te, in die Hände klatschend, um den Tisch herum, was ihn aber nicht lange zufriedenstellte, so daß er kurz entschlossen zu Rosalia hochkletterte. Die anderen gingen begeistert mit, grölten, johlten, jo delten und klatschten, während Parker und Rosi einander wie Stier und Torero umtänzelten. Als Geronimos Rhythmen immer heißer wurden, begann Parker mit ungeschickten Fingern an Rosis Kleid herumzunesteln, trat dabei jedoch neben die Tischplatte und fiel Vali geradewegs auf den Schoß. »Bring mich in meine Kabine, Kindchen«, raunte er ihr schelmisch zu.
Sie blickte zu Dorian, der Jeffs Angebot gehört hatte und ihr zu nickte. Als sie zusammen mit dem wankenden Playboy unter Deck verschwunden war, folgte Dorian ihnen. Er mußte dabei an dem Steward vorbei, der mit einem Tablett gefüllter Gläser neben dem Aufgang stand. Dorian nahm es ihm ab und warf es über Bord. Für einen Moment sah es so aus, als wollte sich der Steward auf ihn stürzen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen Ausdruck; Heißhunger brannte in ihnen. Aber Dorian hielt sich nicht mit ihm auf. Er begab sich aufs Kabinendeck und betrat Parkers Kabine. Parker saß auf dem Bett, eine Hand nach Vali ausgestreckt. Als er Dorian erblickte, grinste er dümmlich. »Entschuldige, alter Junge. Ich …« »Wo sind die Gewehre?« unterbrach Dorian ihn. Parker deutete auf einen Schrank, aber dann zog er die Hand zu rück und sein Gesicht verdüsterte sich. »Hör mal, mach keinen Blöd sinn!« Aber Dorian war bereits beim Schrank und riß ihn auf. Dort stan den sieben Gewehre in einem Gestell, Schachteln mit Munition la gen daneben. Er ergriff eine Schrotflinte mit kurzem Lauf und steck te drei Schachteln mit Patronen in die Hosentasche. »Du solltest dich auch bewaffnen, Jeff. Es wäre gut, wenn diese Nacht niemand allein bleibt.« »Keine Sorge!« meinte Parker grinsend. »Auf meinem Schiff braucht sich niemand einsam zu fühlen. Wenn einer übrig bleibt, dann höchstens Pepe. Aber dann trösten die Frauen einander selbst.« »Du solltest nicht alles für bare Münze nehmen, was Jeff sagt«, wandte sich Dorian an Vali, weil er nicht wollte, daß sie sich von sei nem Freund ein falsches Bild machte. »Glaube nur nicht, daß ich schockiert bin.« Sie deutete auf Parker, der aufs Bett zurückgefallen war und mit seligem Gesichtsausdruck vor sich hindöste. »Wir sollten auch ihn nicht allein lassen.« »Bringt mir Fabienne!« lallte Parker. »Ich habe heute Lust auf eine
Medizinstudentin von adeligem Geblüt.« Dorian schob Vali aus der Kabine und folgte ihr. Er brachte die Schrotflinte in ihre Kabine, dann gingen sie an Deck. Adrian West kam ihnen mit Gloria am Arm entgegen – es war die zierliche Rothaarige, die Vali mit einem Kleid ausgeholfen hatte. »Die Stimmung flaut ab«, meinte Adrian. »Der Höhepunkt wurde erreicht, als Rosi ihren Strip-Flamenco beendete. Jetzt zieht sich alles in die Betten zurück.« An Deck waren nur noch Geronimo, der auf der Gitarre ein schmeichelnde Melodien spielte und dazu summte. Er hatte zwei Mädchen am Hals. Cliff Montgomery schnarchte in einem Liege stuhl und wurde von einer Brünetten, die auf seinem Schoß saß, an den spärlichen Haaren gezupft. Rosalia, splitternackt, tauschte mit einem anderen Mädchen kichernd irgendwelche Frauengeheimnisse aus. Und Domenico Clerici, der Designer mit dem Spaghetti-Knül ler, der in Dorians Alter sein mochte, lief mit nacktem Oberkörper herum, um seine Muskeln zu zeigen. Der Gorilla-Steward räumte auf. Vom Ruderhaus blickte Kapitän Medarchos herunter. »Wo ist Fabienne?« fragte Dorian. »Die hat sich Pepe geangelt«, sagte Rosalia. »Unsere Prinzessin ist um die Aufgabe, Tante Pepe wieder auf den rechten Weg zu brin gen, nicht zu beneiden. Aber wenn Sie Gesellschaft suchen …« »Jeff möchte euch beide bei sich haben«, sagte er und deutete auf Rosi und ihre Gesprächspartnerin. »Zwei auf einmal?« wunderte sich Montgomery und öffnete inter essiert ein Auge. »Das schafft der arme Jeff nie!« Rosi und ihre Freundin verschwanden kichernd unter Deck. Dorian ging zu Geronimo. Der Halbindianer sah ihn an, während er weiterspielte und – summte. »Es wäre gut, wenn heute nacht niemand allein bleibt«, sagte Dori an. Da er sicher war, daß der Mischling keine aufdringlichen Fragen stellte, fügte er hinzu: »Es könnte sein, daß sich diese Nacht etwas
zusammenbraut. Alleinsein könnte gefährlich werden.« »Ich bin versorgt«, meinte Geronimo. »Achten Sie auch auf das Wohlergehen der anderen!« bat Dorian und schlug ihm aufs Knie. Dann kehrte er zu Vali zurück. »Machen wir vor dem Schlafengehen noch einen Rundgang«, bat er sie und führte sie an der Reling entlang zum Vorschiff. Sie schmiegte sich fröstelnd an ihn. »Ist die Nacht nicht herrlich? Könnten dieser Friede und die Ruhe nicht anhalten? Wie schön wäre es, gäbe es keine Dämonen.« »Aber es gibt sie«, sagte Dorian gepreßt und deutete nach vorn, wo am Bug eine dunkle Gestalt hockte. Der Mann mußte der Maschinist oder einer der beiden Matrosen sein, die sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Als er sie er blickte, zog er sich verneigend unter Deck zurück. Er sah dem Ste ward so ähnlich, daß er sein Zwillingsbruder hätte sein können – je denfalls war er nicht minder unheimlich und furchterregend. Er schmatzte vernehmlich, als er an Vali und Dorian vorbeikam, und seiner Kehle entrang sich ein schauriger Seufzer. Nach einer Viertelstunde kehrten Vali und Dorian zum Heck zu rück. Die Passagiere hatten die Plicht geräumt und sich in ihre Kabi nen zurückgezogen; Dorian hoffte, daß sie sie auch von innen ver riegelten. Der zum Fürchten häßliche Steward war mit den Aufräumungsar beiten beschäftigt. Kapitän Medarchos stand im Ruderhaus und nickte den beiden zu. Dorian fragte sich, was wohl passierte, wenn er dem Kapitän oder einem von der Mannschaft eine Schrotladung in den Körper jagte. Ob sie auf diese Weise wohl zu töten waren? Sie betraten die Kabine Nummer sieben. Dorian durchsuchte mit der entsicherten Schrotflinte in der Hand jeden Winkel. Nach zehn Minuten gab er es auf. Wonach suchte er eigentlich? Vali lag schon im Bett. »Dreh das Licht aus! Hast du nicht selbst gesagt, daß wir Mißtrauen und Vorsicht nicht übertreiben sollen,
um uns nicht selbst verrückt zu machen? Komm her! Vergessen wir Asmodi und seine teuflischen Heerscharen.« Wenig später schlüpfte er zu ihr ins Bett. Es war die erste Liebes nacht mit ihr, die er bewußt erlebte. Er erinnerte sich nur schwach an ihr Zusammensein auf der Teufelsinsel, als sie ihn offenbar ver hext hatte. Jetzt war es ganz anders. Und doch wurde der Zauber dieses Augenblicks für beide durch die Gefahr getrübt, die wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte.
Fabienne Mercier hatte es als besonderen Erfolg für sich gewertet, Pepe Montez in ihre Kabine zu bekommen, aber als er dann in ihr Bett fiel und wie ein Sack Mehl liegenblieb, war sie nicht mehr so si cher, daß sie Grund zum Triumphieren hatte. Doch so leicht wollte sie nicht aufgeben. »Pepe! Liebling!« lachte sie verführerisch und kroch mit geschmei digen Bewegungen auf ihn. Sie rümpfte die Nase über seinen pene tranten Parfümgeruch, abhalten ließ sie sich davon aber nicht. War es nicht seltsam? Sie konnte noch so beschwipst, sogar sternhagel voll sein, aber wenn sie an Sex dachte, wurde sie wieder nüchtern, so wie jetzt, als würde dadurch in ihrem Innern ein Schalter umge legt, der eine Maschinerie in Bewegung setzte, die den Alkohol aus ihrem Blut filterte. Diese Maschinerie setzte in ihr aber auch noch ei niges andere in Bewegung. Ihr Verlangen wurde übermächtig. »Pepe!« hauchte sie und begann damit, ihm das Seidenhemd auf zuknöpfen. Er kicherte leise vor sich hin, als sie mit seinen Brusthaaren spielte und darüberblies. Wenigstens ein Zeichen, daß er noch nicht ganz hinüber war. Sie würde ihn schon wieder auf Touren bringen. Daß er eigentlich dem eigenen Geschlecht zugeneigt war, erhöhte den Reiz für sie nur noch. Würde es ihr gelingen, Pepe einzuwickeln? Sie entkleidete ihn nach allen Regeln der Verführungskunst, dabei vergaß sie nie, ihn spüren zu lassen, daß sie ihm ganz nahe war. Bis
her hatte sie ihn aber nur zum Kichern gebracht; kein einziges Mal hatte er nach ihr gegriffen, und als sie einmal seine Hand auf sich legte, blieb diese dort kraftlos liegen. Sie küßte und tätschelte ihn, bis er wenigstens so wach war, daß er Grunzlaute von sich gab. Aber Fabienne gab nicht auf. Sie brachte Pepe schließlich sogar dazu, daß er sie auszukleiden begann. Dabei beschwerte er sich ki chernd, daß man vorhabe, Unsittliches mit ihm zu treiben. Na, we nigstens wußte er, woran er war. Endlich war es soweit, und Fabi enne konnte zu ihm unter die Decke schlüpfen. »Ich bin da kitzlig«, beschwerte er sich und kicherte wieder wie eine willige, aber furchtsame Jungfrau. »Na, na, Pepe-Schatz! Ich tu dir ja nicht weh.« Er entspannte sich. Die Linke hatte er unter ihrem Körper liegen – wo sie auch liegenblieb, so sehr sich Fabienne auch bemühte, ihr durch ihre immer hektischer werdenden Körperbewegungen ir gendwelche Reflexe abzugewinnen. Sie raunte Pepe verführerische Worte zu, ihn immer ungeduldiger und obszöner herausfordernd. Als sie schließlich sein Schnarchen vernahm, begann sie ihn zu be schimpfen. Vor Enttäuschung und Wut hämmerte sie auf ihn ein, doch auch das brachte ihr nicht den gewünschten Erfolg. Er rührte sich zwar, aber nur, um ihr den Rücken zuzuwenden. Seine Hände klemmte er keusch zwischen die Beine. Fabienne resignierte. Sie lag wach da. Mit offenen Augen starrte sie zur Decke. Sie hätte heulen können. Plötzlich spürte sie in ihrem Rücken ein Kribbeln. Kam Pepe? Griff er mit lüsternen Fingern nach ihr? Sie schloß erwartungsvoll die Au gen. Das Kribbeln in ihrem Rücken wurde stärker und stärker. Es schmerzte. Sie machte das Kreuz hohl und atmete schneller. Dann blickte sie zu Pepe hinüber. Er kehrte ihr zwar das Gesicht zu, aber er schnarchte, also schlief er. Der Schmerz in ihrem Rücken wurde heftiger, als würde sie von
tausend Nadeln gestochen. Es war ein Brennen – als ob man sie in siedendes Öl tauchen würde. Und Pepe schlief! Wer oder was griff dann nach ihr? Von Entsetzen gepackt, schleuderte sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sie brachte keinen Laut über die Lippen; die Angst schnürte ihr die Kehle zu, während sie auf den Korridor hin ausrannte und in Jeffs Kabine stürzte. »Jeff! Jeff!« Sie fiel auf ihn und rüttelte ihn. Erst da entdeckte sie, daß er nicht allein im Bett lag. Links und rechts von ihm schauten dunkle Haarschöpfe unter der Decke her vor. Jeff richtete sich auf und knipste automatisch die Leselampe an. Er starrte Fabienne wie ein Gespenst an und blickte dann verständnis los auf die beiden Frauen, die mit ihm im Bett lagen. »Was – was macht ihr mit mir?« fragte er entgeistert. »Jeff … in meiner Kabine …«, keuchte Fabienne. Er sah, daß sie vor Angst zitterte und leichenblaß war. Sofort war er hellwach. »Was ist denn los?« »Ich weiß es nicht genau. Aber es war so schrecklich, so unheim lich. Komm mit und sieh selbst!« Jeff Parker kletterte aus dem Bett. Als er auf den Beinen stand, preßte er die Hände gegen den Kopf. »Hab' ich einen Brummschä del!« stöhnte er und stutzte plötzlich. »Dreh dich mit dem Rücken zu mir, Fabienne!« Sie gehorchte, und er sah, daß sie auf dem Rücken einen dreißig Zentimeter langen, handbreiten Striemen hatte. Die Haut war an der Stelle wie von Säure zerfressen. »Was ist?« Er gab keine Antwort, sondern ging zum Waffenschrank und holte das nächstbeste Gewehr heraus. Er entsicherte es und trat damit auf den Korridor hinaus. Es herrschte Stille. Die Tür zu Fabiennes Kabine stand offen. Er
ging darauf zu. Hinter sich hörte er Fabiennes tapsende Schritte. Sie berührte mit ihrer vom kalten Schweiß feuchten Hand seinen Rücken. Er glaubte, eine unheimliche Drohung zu spüren, als er die Kabine betrat. Er lauschte, konnte aber nichts hören. Kurz entschlos sen knipste er das Licht an. Als er auf das Bett blickte, sah er anstelle von Pepe Montez ein menschliches Skelett dort liegen. Es war blank geputzt – fein säuberlich abgenagt. Fabienne wollte schreien, doch Parker preßte ihr die Hand gegen den Mund. »Du weckst noch alle auf!« herrschte er sie an. Sie deutete mit schreckgeweiteten Augen auf das Skelett, das auf der zerwühlten Decke lag. »Wir kümmern uns morgen darum«, entschied Parker. Er schaltete das Licht aus, schloß die Tür von außen und kehrte mit Fabienne in seine Kabine zurück. »Du kannst bei mir schlafen. Auf eine mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.« Er verfrachtete sie zwischen die beiden anderen Frauen in seinem Bett. Selbst legte er sich auf die schmale und viel zu kurze Couch. Dennoch war er kurz darauf eingeschlafen.
Am nächsten Tag war der Himmel verhangen. Dorian sah es vom Bett durch die Luke. Vali schlief noch, doch sie schreckte hoch, als an die Kabinentür geklopft wurde. Jemand hantierte an der Klinke herum, und dann rief eine Frauenstimme: »Frühstück ist da!« Dorian schlüpfte in seinen Pyjama und öffnete. Draußen stand Do ris mit einem Tablett. Er war froh, sie so munter und frisch zu sehen. »Seit wann spielen Sie Steward?« fragte er lächelnd, als sie an ihm vorbei in die Kabine ging. »Wir Mädchen haben beschlossen, von nun an den Service selbst in die Hand zu nehmen«, sagte sie und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. »Schließlich kann niemandem zugemutet werden, daß er schon am frühen Morgen mit diesem Frankenstein-Monster von ei
nem Steward konfrontiert wird.« »Sind Sie über den Schreck hinweggekommen?« »Am Tag sieht alles anders aus.« Sie fuhr sich mit einem schwa chen Lächeln über die Narbe an ihrem Hals. »Fabienne sagte, daß sie mir ein Schlafmittel gegeben hat. Ich habe wie eine Tote geschla fen. Arme Fabienne!« »Warum?« fragte Vali vom Bett aus. »Pepe hat auch ihr einen Schabernack gespielt«, erzählte Doris. »Jetzt hält sich diese feige Memme versteckt, weil er wohl eingese hen hat, daß er zu weit gegangen ist.« Sie lachte. »Ideen hat Pepe schon! Er legte statt seiner einfach ein Skelett zu Fabienne ins Bett.« Dorian wurde stutzig. »Und Sie sagen, daß er danach nicht wieder aufgetaucht ist?« »Wir werden ihn schon finden. Und dann Gnade ihm Gott!« Nachdem Doris gegangen war, kleidete sich Dorian hastig an, schlürfte dabei seinen Kaffee und kaute die im Backrohr aufge wärmten Hörnchen. Vali folgte seinem Beispiel. Sie wechselten kein Wort. Als Dorian an Deck kam, standen dort Adrian West, die unver meidliche Hasselblad umgehängt, Geronimo, Rosi und Gloria bei sammen und diskutierten. Sie trugen wasserdichte Jacken. »Hat man Montez schon gefunden?« erkundigte sich Dorian. Sie verneinten kopfschüttelnd. »Wir haben schon fast jeden Winkel des Bootes abgesucht«, erklär te Adrian West, »aber von Pepe fehlt jede Spur. Es hätte uns nicht einmal verwundert, wenn er mit dem Beiboot abgehauen wäre. Aber das Boot ist da. Und seine Sachen auch – einschließlich des Skeletts.« »Fabienne hat es sich angesehen und behauptet, daß es ein Men schenskelett sei«, sagte Rosi sensationslüstern. Geronimo stand mit ernstem Gesicht daneben.
»Jeff und Cliff sind im Vorschiff und untersuchen die Mann schaftskojen. Danach wollen sie sich den Maschinenraum vorneh men«, berichtete Adrian West weiter. »Wenn Pepe auch dort nicht ist, sind wir am Ende unserer Weisheit angelangt.« Vali kam an Deck. »Du bleibst bei den anderen«, trug Dorian ihr auf und stieg zum Maschinenraum hinunter. Hier roch es intensiv nach Dieselöl. Die beiden Motoren, von de nen jeder tausend PS entwickelte und je eine Schiffsschraube an trieb, arbeiteten gleichmäßig. Der Maschinist stand an einer Werk bank und drehte an einem Leitungsrohr ein Gewinde. Sein Drillich anzug war sauber, so als wäre er darauf bedacht, sich nur nicht zu schmutzig zu machen. Im künstlichen Licht der Arbeitsleuchte wirk te seine Haut noch grauer als in der Sonne – wie getrockneter Ton, und sie war auch so rissig und spröde. Er sah bei Dorians Erschei nen kurz auf. Der hungrige Blick aus seinen Augen schien Dorian zu durchdringen, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Dorian war aber nicht entgangen, daß seine Anwesenheit den Ma schinisten anscheinend nervös machte; er zitterte wie vor unter drückter Erregung. Dorian sprach nicht, weil der andere ihn – angeblich – ohnehin nicht verstanden hätte. Er sah sich um, durchstöberte alle Winkel, öffnete den Geräteraum und durchsuchte ihn. Er nahm sogar die Abdeckhaube von einem der Motoren. Sein Blick fiel auf das vom Motor betriebene Stromaggregat. Es lieferte den Strom für das ge samte Schiff und diente auch zugleich als Erdung. Es war das glei che Prinzip wie bei einem Auto. Das erkannte Dorian, obwohl er von solchen Dingen eigentlich nicht viel verstand. »He!« rief Dorian dem Maschinisten über den Arbeitslärm hinweg zu. Als dieser aufblickte, winkte Dorian ihn zu sich heran. »Da ist ein Kontakt locker.« Der Maschinist machte ein verständnisloses Gesicht, kam aber der Aufforderung nach. Dorian deutete auf ein Kabel, das seiner Mei
nung nach eigentlich in Ordnung sein mußte, und sagte: »Kaputt. Kontakt schlecht. Kurzschluß.« Der Maschinist schien nicht zu verstehen – oder er stellte sich dumm. Dorian nahm eigentlich ersteres an und kam zu dem Schluß, daß der Mann mindestens so wenig von seinem Beruf verstand wie er selbst. Diese Vermutung wurde bestätigt, als der Maschinist plötzlich nach einem blanken, stromführenden Kabel griff. Doch noch bevor er es überhaupt berührte, zuckte er mit einem Aufschrei zurück und verkroch sich in den hintersten Winkel des Maschinen raums. Er hat vor elektrischem Strom eine panische Angst, dachte Dorian und kehrte einigermaßen zufrieden an Deck zurück. »Nichts«, sagte er, als er die neugierigen Blicke der anderen bei seiner Rückkehr bemerkte. »Ist Parker noch nicht zurück?« »Er ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte Vali. »Dann werde ich nach ihm sehen.« »Warten Sie! Ich komme mit«, bot sich Adrian West an. Dorian bemerkte, daß er sich während seiner Abwesenheit das Blitzgerät geholt hatte. Sie mußten sich beim Gehen an der Reling festhalten, um den Halt nicht zu verlieren. »Bei diesem Seegang wäre es auch möglich, daß Pepe über Bord gegangen ist«, sagte Adrian West hinter ihm. »Meinen Sie nicht auch?« »Alles ist möglich«, sagte Dorian. Er wich Domenico Clerici aus, der mit einer Frau an der Reling stand. Sie beugte sich darüber und war ganz grün im Gesicht. Cleri ci schnitt eine bedeutungsvolle Grimasse. Die Frau stöhnte: »Ist mir schlecht!« »Dann kotz brav weiter!« sagte der Designer zu ihr. Dorian dachte, daß er sich nie mit der Ausdrucksweise dieser
Möchtegern-Jet-Set-Typen würde abfinden können. Er und West er reichten das Vorschiff und stiegen hinunter. Im Bug des Schiffes war ein enger, spitz zulaufender Raum mit sechs Schlafkojen. Davor gab es zwei winzige Kabinen für den Kapitän und den ersten Offizier. Die dritte Tür führte in einen Waschraum mit WC. Parker und Cliff Montgomery befanden sich in dem engen Mann schaftsraum. In drei der Kojen lümmelten die beiden Matrosen und der seiner Aufgaben enthobene Steward. Es stank erbärmlich, wie in einem Raubtierkäfig. »Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob ihr eine Spur von Montez gefunden habt«, sagte Dorian zu seinem Freund. »Ich selbst habe den Maschinenraum durchsucht, aber nichts entdecken können.« »Jeff hat versucht, diese Galgenvögel auszuhorchen«, erklärte Montgomery, der Klatschspalten-Kolumnist. »Der eine Matrose be hauptet, Pepe im Morgengrauen an Deck gesehen zu haben. Jeffs Griechisch ist aber nicht gut genug, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können.« »Blödsinn, Cliff!« protestierte Parker. »Ich sage dir, daß mein Grie chisch besser ist als das seine. Aber das spielt auch keine Rolle mehr. Ich neige immer mehr zu der Ansicht, daß Pepe in seinem Rausch über die Reling gekippt ist. Nachdem er sich den Scherz mit Fabi enne geleistet hatte, wird er an Deck gegangen sein, um frische Luft zu schnappen. Und da hat er den Halt verloren und …« Er ver stummte. Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte Dorian: »Warum hast du denn nicht sofort Alarm geschlagen, Jeff, als du das Skelett ge funden hast?« »Ich wollte niemanden erschrecken«, rechtfertigte sich Parker. »Schließlich hat Pepe schon genug Unsinn angestellt. Ich konnte ja nicht ahnen, daß der Vorfall so tragisch endet.« Er seufzte. »Kommt, gehen wir an Deck! Ich werde Kapitän Medarchos veranlassen, einen Funkspruch durchzugeben. Es ist unsere Pflicht, Pepes Ver schwinden zu melden.«
»Und wenn er dann wieder quicklebendig aus der Versenkung auftaucht?« warf Montgomery ein. »Dann prügle ich ihn höchstpersönlich windelweich«, versprach Parker grimmig. Dorian begleitete Parker ins Ruderhaus. Der Kapitän salutierte un geschickt, als sie sein Heiligtum betraten. »Wir konnten Mr. Montez nirgends finden, Käpt'n«, sagte Parker, »so daß wir annehmen, daß er über Bord gegangen ist. Aus diesem Grund müssen wir sofort eine Meldung durchgeben.« »Das sein sehr bedauerlich. Mr. Montez so viel lustig gewesen. Im mer Scherz gemacht.« »Aber einen zuviel«, meinte Parker niedergeschlagen. »Wir müs sen melden, daß ein Mann über Bord gegangen ist.« »Sie meinen funken, Sir?« fragte Kapitän Medarchos. »Ja.« »Aye, Aye, Sir«, sagte der Kapitän, rührte sich aber nicht von der Stelle und druckste herum. »Was ist denn?« herrschte Parker ihn ungehalten an. »Warum tun Sie nicht, was ich von Ihnen verlange?« »Wir können nicht funken, weil Funkanlage kaputt.« »Was? Warum haben Sie das nicht früher gemeldet?« »Weil ich nicht wollte aufdringlich sein. Sie suchten Mr. Montez, der verschwunden – da ich warten.« »Verdammt!« fluchte Parker. »Sind Sie sicher, daß die Funkanlage kaputt ist?« Der Kapitän nickte. »Macht nicht einmal Piep«, bekräftigte er. Parker warf Dorian einen bedauernden Blick zu. »Da kann man nichts machen. Ich fürchte, nach Izmir wirst du nicht so schnell kommen, Dorian. Ich muß den nächsten Hafen anlaufen und Mel dung erstatten, sonst machen mir die griechischen Behörden die Hölle heiß. In solchen Dingen verstehen sie keinen Spaß.«
»Dafür habe ich Verständnis«, sagte Dorian, ohne den Kapitän aus den Augen zu lassen. »Ich hoffe sogar, daß du dein Vorhaben aus führen kannst. Ich hätte gar nichts dagegen, an Land zu gehen.« Parker klopfte ihm dankbar auf die Schulter und wandte sich wie der an den Kapitän. »Wo sind wir jetzt? Und wie weit sind wir noch vom nächsten grö ßeren Hafen entfernt?« Der Kapitän machte ein unglückliches Gesicht; seine Haut wirkte jetzt noch grauer. »Bedauerlich, Sir, sehr bedauerlich, daß ich sagen muß – alles nicht funktionieren. Geräte für Navigation auch alle ka putt. Ich nichts können machen.« Parker starrte den Kapitän mit verkniffenem Mund an. Dorian, der sein Temperament kannte, rechnete mit einem Wut ausbruch. Doch Parker hatte sich in der Gewalt, wenn er auch inner lich wahrscheinlich kochte. »Na, da kann man nichts machen«, sagte er gepreßt. »Aber es wird Ihnen sicherlich doch nicht schwerfallen, eine der vielen Inseln der Ägäis auf Sicht anzusteuern.« »Werde versuchen, Sir.« »Sie werden meinem Befehl augenblicklich nachkommen!« »Aye, Aye, Sir!« Parker stürmte aus dem Ruderhaus. Dorian folgte ihm. »Was ist los?« fragten die anderen, die die Vorgänge im Ruder haus zwar beobachtet hatten, aber kein Wort verstehen konnten. »Wir fahren den nächsten Hafen an«, sagte Parker kurz angebun den. Niemand hatte dagegen einen Einwand vorzubringen, ganz im Gegenteil, alle schienen irgendwie erleichtert. »Ich möchte dich sprechen«, sagte Parker so leise zu Dorian, daß die anderen es nicht hören konnten. »Ich erwarte dich in zehn Minu ten in meiner Kabine.« Dorian blieb an Deck. Man fragte ihn aus, und er erzählte wahr
heitsgetreu, daß die Funkanlage nicht funktioniere und sie deshalb an Land gehen mußten, um Pepe Montez' Verschwinden zu melden. Vom Ausfall der Navigationsgeräte sagte er nichts. »Jetzt scheint es ernst zu werden«, meinte Vali, als sie allein wa ren. Dorian nickte. »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt ma chen. Aber wir werden nicht unvorbereitet sein, verlaß dich darauf. Jeff hat seinen Glauben an die Mannschaft auch schon längst verlo ren. Wir können mit ihm rechnen.« Dorian wollte mit Vali gerade unter Deck gehen, als ihm beim An blick Adrian Wests eine Idee kam. »Sie haben doch schon eine Menge Fotos geschossen, seit wir an Bord sind«, sagte Dorian zu dem Modefotografen. »Haben Sie auch Bilder von der Mannschaft gemacht?« »Klar«, versicherte Adrian West grinsend. »Die lasse ich mir doch nicht entgehen. Solche Typen bekomme ich nie wieder vor das Ob jektiv. Aber die Fotos sind noch nicht entwickelt.« »Haben Sie denn eine Möglichkeit, die Fotos an Bord zu entwi ckeln?« »Allerdings. Jeff hat mir in meinem Badezimmer ein tolles Labor eingerichtet.« »Dann entwickeln Sie die Bilder und bringen Sie sie in Jeffs Kabi ne!« verlangte Dorian. »Aber schnell! Es könnte wichtig sein.« »Wenn Sie meinen.« »Verlieren Sie keine Zeit!« West begleitete sie hinunter und verschwand in seiner Kabine. Gloria, die ihm folgen wollte, warf er die Tür vor der Nase zu. Dorian betrat zusammen mit Vali Jeffs Kabine. Der Dämonenkiller wußte noch nicht genau, welches teuflisches Spiel mit ihnen getrie ben wurde, aber er war sicher, daß er es bald herausfinden würde. Parker stellte zwei Drinks vor Dorian und Vali hin, das dritte Glas behielt er in der Hand. Sie prosteten einander zu.
»So«, sagte Parker nach dem ersten Schluck, »willst du jetzt nicht mit der Sprache herausrücken, Dorian? Du weißt doch irgend etwas und kennst vielleicht sogar die Hintergründe dieser mysteriösen Vorfälle.« »Es ist schon viel wert, wenn du den Ernst der Lage erfaßt hast, Jeff«, sagte Dorian. »Es steckt viel mehr als der Scherz eines Men schen dahinter. Es geht um Leben und Tod.« »Ich höre. Und weiter«, sagte Parker ernst. »Eigentlich betrifft es nur Vali und mich«, fuhr Dorian fort. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich euch in die Sache mit hineinziehe, dann hätte ich dich nicht um diesen Gefallen gebeten.« »Ich will Fakten hören, keine Entschuldigungen«, entgegnete Par ker. Dorian lächelte. »So gefällst du mir viel besser, denn als Playboy. Glaubst du mir aber auch, wenn ich dir sage, daß sich Montez we der versteckt hält noch über Bord ging? Er wollte mit dem Skelett auch Fabienne keinen Schreck einjagen.« »Woher stammt es dann aber?« Parker wurde blaß. »Du willst doch nicht sagen, daß …« »Das überlasse ich deiner Phantasie, Jeff«, sagte Dorian. »Ich weiß selbst noch nichts Genaues. Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dürfte feststehen, daß Montez ermordet wurde. Jedem an Bord kann dasselbe Schicksal blühen. Für mich besteht kein Zweifel, daß die Mannschaft dahintersteckt.« »Seit wann hast du diesen Verdacht?« fragte Parker. »Seit ich erfuhr, daß du diese Männer in Chania aufgelesen hast. Als deine Stammbesatzung an einer Lebensmittelvergiftung er krankte, hat man sie vorsätzlich vergiftet, um unsere Mörder an Bord bringen zu können. Der Mann, dem ich Vali entführt habe, wird alles daransetzen, um uns zur Strecke zu bringen.« »Aber warum mußte Pepe dran glauben?« wollte Parker wissen. »Diese Frage kann auch ich nicht beantworten«, bedauerte Dorian.
»Möglicherweise wollte unser Gegner uns durch den Mord an Mon tez zeigen, daß er uns aufgespürt hat und uns jederzeit ebenfalls tö ten kann.« »Wenn du so sicher bist, daß Kapitän Medarchos und seine Män ner Killer sind, dann müssen wir etwas gegen sie unternehmen«, sagte Parker. »Wir haben sieben Gewehre und jede Menge Muniti on. Damit sollten wir eine Meuterei im Keim ersticken können. Nöti genfalls schießen wir die Bande über den Haufen. Das wäre Not wehr und besser, als zuzusehen, wie es einem nach dem anderen an den Kragen geht.« »Wer weiß, ob wir ihnen mit den Gewehren überhaupt etwas an haben können«, meinte Dorian. »Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß Gewehrkugeln wirkungslos gegen sie sind.« »Das sind doch Ammenmärchen! Wenn ich dir alles glaube, Dori an, aber …« »Ich wußte schon von vornherein, daß du mir nicht glauben wür dest«, schnitt ihm der Dämonenkiller das Wort ab. »Deshalb verlan ge von mir auch keine weiteren Erklärungen, sondern tue, was ich sage. Verteile die Gewehre an die Männer! Selbst wenn sie bei unse ren Gegnern keine tödliche Wirkung haben, so geben sie den Män nern wenigstens ein Gefühl der Sicherheit. Sie sollen die Mannschaft aber nicht provozieren, damit sie nicht gezwungen wird, die Offen sive zu ergreifen. Je länger wir die Entscheidung hinauszögern kön nen, desto besser ist es. Wir benötigen Zeit, um Gegenmaßnahmen organisieren zu können.« »Du meinst also, daß wir Kapitän Medarchos weitermachen lassen sollen?« wunderte sich Parker. »Obwohl er wahrscheinlich Pepe auf dem Gewissen hat und die Navigationsgeräte zerstörte? Das verste he ich nicht.« »Das brauchst du auch nicht. Glaube mir, ich weiß was ich tue.« »Und du willst mich nicht aufklären?« fragte Parker. »Du wirst die Wahrheit noch früh genug erfahren. Und du wirst sie erst akzeptieren, wenn du das Unglaubliche mit eigenen Augen
siehst.« Es klopfte an die Tür, und gleich darauf kam Adrian West herein gestürzt. Er hielt einige Fotos in der Hand und wirkte aufgelöst und verstört. »Was soll denn das, Adrian?« herrschte Parker ihn an. Dorian beschwichtigte den Freund. »Schon gut. Ich habe West her bestellt. Haben Sie die Fotos entwickelt?« West nickte. »Ja, das habe ich getan, aber sie sind alle nichts ge worden.« »Darf ich wissen, worum es geht?« fragte Parker. »Ich habe West ersucht, die Fotos zu entwickeln, die er von der Mannschaft gemacht hat, und Vergrößerungen herzustellen«, erklär te Dorian und blätterte die Fotos durch. West erklärte zu den einzelnen Bildern: »Da habe ich Kapitän Me darchos und den Smutje geknipst, als sie an Bord kamen. Hier, auf dem Vorschiff habe ich die gesamte Mannschaft aufgenommen, als Jeff sie begrüßte. Das war während der Party, als der Steward ser vierte. Und hier habe ich den Maschinisten beim Abstieg in den Ma schinenraum fotografiert.« Adrian West hielt erschöpft inne, holte Luft und machte eine hilflose Geste. »Ich kann das einfach nicht glauben. Das kann es nicht geben. Es ist mir unerklärlich, wie das passieren konnte.« »Sind die Fotos nichts geworden?« fragte Parker verständnislos. »Das kann doch jedem mal passieren.« Dorian reichte ihm das erste Foto und wiederholte: »Hier hat West den Koch und den Kapitän fotografiert, als sie an Bord kamen.« Parker starrte auf das Foto und sagte: »Blödsinn! Da ist nur der leere Bootssteg zu sehen.« »Dieses Foto machte West, als du die Mannschaft begrüßt hast.« Parker starrte wortlos auf das Bild. Er sah sich selbst, wie er eine Hand ausstreckte, als wollte er sie jemandem zum Gruße reichen – doch es war niemand da.
»Ist das ein Scherz? Eine Fotomontage?« fragte er mit krächzender Stimme, als Dorian ihm das Partyfoto reichte, auf dem der Steward zu sehen sein sollte, aber nicht drauf war. »Das ist der letzte Beweis, daß es sich bei der Mannschaft um Dä monendiener handelt«, sagte Dorian wie zu sich selbst. Parker ließ die Fotos auf den Tisch fallen und starrte Dorian an. Dann blickte er zu Vali, die regungslos dasaß, und dann zu Adrian West, der gerade den zweiten Whisky kippte. »Ihr wollt doch nicht, daß ich das ernst nehme«, sagte Parker hilf los. »Das gibt es nicht, daß man etwas mit den eigenen Augen sieht, aber nicht fotografieren kann.« »Doch, Jeff. Es ist eine Eigenheit der Dämonen, daß sie von sich keine Bilder anfertigen lassen.« Dorian sprach nicht weiter, da er auf dem Korridor Lärm hörte. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und Montgomery stürzte herein. Dahinter drängten sich die anderen in die Kabine. »Ah, hier habt ihr euch verschanzt!« sagte der Klatschspalten-Ko lumnist. »Warum diese Aufregung?« fragte Parker. »Wir befinden uns nur wenige Meilen von einer Insel entfernt«, berichtete Montgomery. »Wir konnten sie deutlich sehen. Sie war zum Greifen nahe. Als wir entdeckten, daß wir daran vorbeifuhren, stellten wir den Kapitän zur Rede. Und weißt du, was er behauptet hat? Er sagte, daß er die Herrschaft über das Schiff verloren hätte.« Jetzt ließ sich vor den anderen nicht mehr verheimlichen, daß von der Mannschaft eine unheimliche Bedrohung ausging. Dorian ver suchte jedoch, die Panik in Grenzen zu halten, indem er die Frauen dazu brachte, sich in zwei durch eine Tür verbundene Kabinen zu rückzuziehen. Vali sollte sich ihnen als beruhigender Pol anschlie ßen. Dorian händigte ihr ein Gewehr aus, obwohl er ebenso wie Vali wußte, daß mit einer Schußwaffe gegen die Dämonendiener nichts
auszurichten war. Geronimo, dessen Ruhe sich auf die Mädchen übertragen sollte, und Domenico Clerici wurden ebenfalls bewaffnet und den Mädchen als Bewacher zugeteilt. Wenn es nach Parker gegangen wäre, hätten die anderen vier Männer die Mannschaft mit Waffengewalt gefangennehmen sollen. Dorian, der wußte, wie undurchführbar dieser Plan war, konnte Jeff Parker jedoch davon abhalten. »Wir müssen methodisch vorgehen und erst einmal unsere Vertei digung organisieren, bevor wir zum Gegenschlag ausholen«, erklär te Dorian. »Die Mannschaft soll bis zuletzt nicht wissen, daß wir über sie Bescheid wissen. Da wir mit den Gewehren wohl kaum et was ausrichten werden, müssen wir nach wirksameren Waffen su chen.« »Wenn Gewehrkugeln nichts nützen – was dann?« fragte Cliff Montgomery verzweifelt. »Zum Beispiel Feuer«, antwortete Dorian. Er wußte aus Erfahrung, daß Dämonen Feuer besonders fürchte ten. Durch die Reaktion des Maschinisten, der dem Stromaggregat gegenüber große Scheu, ja, Furcht gezeigt hatte, glaubte Dorian er kannt zu haben, daß diese Dämonendiener noch eine zweite Achil lesferse besaßen. Er fügte deshalb hinzu: »Und wir können es auch mit Elektrizität versuchen.« »Und wie gedenkst du diese sogenannten Waffen einzusetzen?« fragte Parker. »Gibt es Propangas auf dem Schiff?« fragte Dorian. »Natürlich«, antwortete Parker. »Wir kochen damit, und auch die Warmwasserspeicher werden damit geheizt.« »Wir müssen die Gasflaschen in unseren Besitz bringen«, erklärte Dorian. »Darum werden sich West und ich kümmern. Du, Jeff, ver suchst zusammen mit Montgomery so viele Stromkabel wie nur möglich zu hamstern. Du weißt selbst am besten, wo sie aufzutrei ben sind. Sei aber möglichst darauf bedacht, nicht das Mißtrauen
der Mannschaft zu erwecken!« »Wir können uns aus dem Maschinenraum so viele Kabel wie wir wollen besorgen«, sagte Parker, »aber wie sollen wir das vor dem Maschinisten geheimhalten?« Dorian überlegte kurz, dann sagte er: »Es kann nicht viel schiefge hen, wenn du ihm klarmachst, daß er sich in seine Koje zurückzie hen kann, weil ihr beide ihn für eine Weile ablöst. Falls er sauer rea giert und euch angreift, müßt ihr ihn mit Elektrizität bekämpfen. Ich kann nur wiederholen: Verlaßt euch nicht zu sehr auf eure Gewehre! Am besten, ihr laßt sie zurück.« Parker überlegte kurz, dann händigte er dem Dämonenkiller sein Gewehr aus. Montgomery lehnte seines gegen die Wand. »Du siehst, welches Vertrauen ich in dich habe«, sagte Parker lä chelnd. Dann machte er sich mit Montgomery auf den Weg zum Maschinenraum. Als die beiden weg waren, fragte West: »Haben Sie eine Ahnung, wo die Propangasflaschen lagern?« »Sehen wir mal in der Kombüse nach«, schlug Dorian vor. Als die die Tür zur Kombüse erreicht hatten, hörten sie das durch dringende Gekreische des Müllzerkleinerers. Das Geräusch des Müllzerkleinerers zeigte ihnen, daß der Smutje in der Kombüse war. Damit hatte Dorian nicht gerechnet. West blickte ihn fragend an, und Dorian meinte. »Wir werden ihn einfach wegschicken, ohne ihm Rechenschaft abzulegen.« Dorian stieß die Tür auf und erstarrte. Er sah, wie der Smutje gera de einen Knochen in den Müllschlucker hielt, der von den rotieren den Messer zerstückelt wurde. Zu den Füßen des Koches stand ein Mülleimer. Darin häuften sich weitere Knochen, zusammen mit ei nem menschlichen Totenschädel. Als der Smutje die beiden Eindringlinge erblickte, zuckte er er schrocken zurück. »Was tun Sie hier?« herrschte Dorian den Mann an und hielt die
Schrotflinte im Anschlag. Er trat in die Kombüse, und Adrian West folgte ihm. Dorian fragte sich, warum der Koch Montez' Skelett wohl zu Knochenmehl verar beitete. Oder war es am Ende gar nicht das Skelett von Pepe Mon tez? Der Smutje fühlte sich ertappt und zeigte sein wahres Gesicht. Das heißt, seine Maske zerfloß, sein Gesicht, seine Arme und seine Beine wurden zu zuckenden Tentakeln, sein Körper wurde zu einer form losen Masse. Dorian feuerte die Schrotflinte ab. Die Geschosse schleuderten das Ungeheuer zwar zurück, doch sie konnten ihm nichts anhaben. Es kam wieder näher. Dorian feuerte eine zweite Ladung ab, wurde dann aber von dem Ungeheuer gegen die Wand gedrängt. Als Adrian West sah, daß Dorian mit seiner Waffe nichts ausrich tete, warf er sein Gewehr einfach fort und ergriff seine Hasselblad. Dorian dachte, daß er den Verstand verloren haben mußte, wenn er in dieser Situation ans Fotografieren dachte. Doch da zuckte Wests Blitzlicht bereits auf. Das Ungeheuer gab einen unartikulierten Laut von sich und schloß geblendet die stecknadelkopfgroßen Augen in dem monströ sen Schädel. Als West erkannte, daß er mit seiner Idee Erfolg hatte, betätigte er immer wieder sein Blitzlichtgerät. Das Ungeheuer gebär dete sich wie verrückt und wich vor der blendenden Grelle bis zu dem Propangasherd zurück. Dorian erkannte ihre Chance. »Machen Sie weiter so, West!« rief der Dämonenkiller dem Foto grafen zu und feuerte auf die Propangasleitung, die neben dem Un geheuer aus der Wand kam. Drei der Schüsse zerfetzten die Gaslei tung. Dorian holte rasch ein Streichholzheftchen heraus, entzündete es und warf es in die Richtung der Gasleitung. Eine Stichflamme schoß empor und erfaßte den Rücken des Ungeheuers, das sofort Feuer fing. Es schrie markerschütternd, sackte immer mehr zusam men und wurde zu einem formlosen zuckenden Klumpen, der wie Zunder brannte. Minuten später war nur noch etwas Schlacke und
Asche von der Kreatur übrig. Dorian holte einen Feuerlöscher aus dem Korridor und löschte die Flammen. Nachdem er das Gasrohr provisorisch mit Zeitungspapier zugestopft hatte, klopfte er West mit einem anerkennenden Lächeln auf die Schulter. »Sie haben Ihre Feuerprobe bestanden.« Adrian West versuchte, das Lächeln zu erwidern, was ihm aber nur mit mäßigem Erfolg gelang. Der Schreck saß ihm noch zu tief in den Gliedern. »Kommen Sie!« sagte Dorian und begab sich zu Pepe Montez' Ka bine. Sie war abgeschlossen, aber Dorian besaß einen Schlüssel. Er sperrte auf. Ein Blick auf das Bett genügte ihm; das Skelett lag noch unberührt dort. West, der ihm über die Schulter geblickt hatte, wur de noch blasser, als er es schon war. »Aber … was bedeutet …« Er verstummte. »Sie haben die Zusammenhänge richtig erfaßt«, sagte Dorian düs ter. »Das Skelett, das das Ungeheuer im Müllschlucker verschwin den lassen wollte, stammte nicht von Montez. Es muß also noch je manden von uns erwischt haben.« »Aber vorhin waren wir alle vollzählig«, sagte West, der die Spra che wiedergefunden hatte. »Das wiederum bedeutet, daß einer unter uns ein Ungeheuer ist«, erklärte Dorian. »Ein Ungeheuer, das jede beliebige Gestalt anneh men kann. Jeder – außer uns beiden – kann es sein. Nur wir beide haben uns durch unseren Einsatz gegenseitig bewiesen, daß wir noch wir selbst sind. Es ist unsere Aufgabe, den Doppelgänger zu entlarven.« Es war noch schlimmer gekommen, als Dorian befürchtet hatte. Nun konnten sie nicht einmal mehr einander trauen.
Die Wolkendecke war aufgerissen. Die Sonne brach durch. Das
Meer hatte sich beruhigt. Parker stieg mit einem Gefühl der Beklemmung in den Maschinen raum hinunter. Er sah die Fotos, die Adrian geschossen hatte, nicht als Beweis für irgendwelche übernatürlichen Vorgänge an. Das war lächerlich! Kein vernünftiger Mensch glaubte an solchen Unsinn. Wie hatte Dorian doch gleich gesagt? Dämonen! Sein Verstand wei gerte sich, daran zu glauben. Und doch – als er den Maschinenraum betrat und den Maschinisten betrachtete, packte ihn das Grauen. Er sah den Mann jetzt mit ganz anderen Augen. Er war nicht nur absto ßend häßlich, sondern er hatte auch etwas Unheimliches an sich. Er hantierte ungeschickt an der Werkbank herum, so als hätte er zum ersten Mal mit solcher Arbeit zu tun. Wenn das Licht der Arbeits leuchte auf sein Gesicht fiel, sah seine Haut so aschfahl und unna türlich aus – ja, wie bei einem Toten. Aber der Mann lebte, er beweg te sich. Er blickte jetzt zu Parker und Montgomery hoch. »Als ob er uns mit den Augen fressen wollte«, sagte der Klatsch spalten-Kolumnist schaudernd. Seine Worte drückten genau das aus, was Parker dachte. Die Bli cke des Mannes schienen sie verschlingen zu wollen. Parker sagte in seinem lückenhaften Griechisch: »Du jetzt machen Pause. Dich ausruhen.« Der Maschinist betrachtete ihn nachdenklich. Als Parker ihm mit einem Wink zu verstehen gab, daß er nach oben gehen solle, und ihn weiter mit Worten dazu ermunterte, eine Pause einzulegen, nickte er schließlich, stellte die Drehbank ab und kletterte an Deck. Parker atmete auf. »Das ist ja überraschend komplikationslos ge gangen.« »Ja«, stimmte Montgomery nicht minder erleichtert zu. »Für einen Moment dachte ich, er würde sich auf uns stürzen.« Sie machten sich an die Arbeit. Parker fand in einer Nische, wo nach sie suchten. Neben Ersatzteilen lagen in einem Regal auch zu sammengerollte Kabel. Es waren Kabel fast jeder Stärke vorhanden; einige besaßen Steckkontakte, andere wieder Klemmen, so daß man
sie an den elektrischen Polen des Stromaggregats anschließen konn te. »Mr. Parker, Sir!« Parker zuckte zusammen, als er die tiefe Stimme von Kapitän Me darchos vernahm. Er stand oben an der Treppe zum Maschinen raum und schickte sich eben an herunterzukommen. »Was gibt's, Käpt'n?« fragte Parker, gab Montgomery einen Wink, sich ruhig zu verhalten, und entschloß sich dann, nach oben zu klet tern. »Warten Sie, ich komme zu Ihnen hinauf!« Als Parker dem Kapitän gegenüberstand, versuchte er, sich so ge lassen wie möglich zu geben, obwohl er weiche Knie hatte. »Wie sieht es aus?« fragte er im Plauderton. »Wollen Sie mir melden, daß Sie das Schiff wieder in der Gewalt haben?« »Da nichts zu machen sein, Sir. Steuer nicht gehorchen«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd. »Warum Sie Maschinist fortschicken, Sir? Er was falschgemacht?« Parker winkte lachend ab. »Ich wollte ihm nur eine Ruhepause gönnen. Wir können ihn so lange vertreten, bis er sich ausgeschlafen hat.« Kapitän Medarchos schwieg einige Sekunden, dann sagte er: »Ich auch müde.« »Wollen Sie sich aufs Ohr hauen?« fragte Parker hoffnungsvoll. »Gehen Sie nur in Ihre Kabine! Wenn alle Geräte ausgefallen sind, können Sie im Kommandostand ohnehin nichts mehr ausrichten. Wenn wir Sie brauchen, werde ich Sie rufen.« »Danke, Sir«, sagte Kapitän Medarchos mit ausdrucksloser Stim me und entfernte sich in Richtung des Vorschiffes. Parker starrte ihm leicht verblüfft nach. Dann rannte er aufs Kabi nendeck hinunter, wo seine Gäste gerade auf den Korridor ström ten. Alle redeten durcheinander. Dorian stand inmitten des Men schenknäuels und versuchte sich der bohrenden Fragen durch nichtssagende Antworten zu entledigen.
»Wir haben das Schiff in unserer Hand!« rief Parker seinen Freun den zu. »Der Kapitän und seine Leute sind im Vorschiff.« »Bis auf den Smutje, den habe ich gerade den Flammentod sterben lassen«, erklärte Dorian. »Hast du die Schüsse nicht gehört, Jeff?« Parker schüttelte den Kopf. Das Schicksal des Smutje interessierte ihn seltsamerweise überhaupt nicht, denn er war überzeugt, daß die Mannschaft tatsächlich eine Meuterei geplant hatte – ja, daß es ver mutlich auch noch dazu kommen würde. Aber jetzt konnten sie sich darauf vorbereiten. Und Parker war sogar bereit, Dorians seltsame Anordnungen zu befolgen. »Wo sind eigentlich die Propangasflaschen untergebracht?« erkun digte sich Adrian West. »In der Kombüse konnten wir sie nicht fin den.« »Natürlich nicht, weil die Sicherheitsbestimmungen verlangen, daß Propangasflaschen nicht in Räumen gelagert werden, ihr Land ratten. Das wäre zu gefährlich, weil Propan schwerer als Luft ist. Wenn es ausströmt, breitet es sich zuerst auf dem Boden aus, so daß man es erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Die Gasflaschen sind na türlich an Deck, unter einer Konsole. Ich werde sie euch zeigen.« Während sie die Vorbereitungen für ihre Verteidigung trafen, be obachtete Dorian jeden einzelnen verstohlen, und zwar nicht nur die Männer, denn wenn die Ungeheuer jede beliebige Gestalt annehmen konnten, war es auch möglich, daß eines von ihnen in die Rolle einer der Frauen geschlüpft war. Aber Dorian konnte bei niemandem et was Verdächtiges entdecken. Sie verhielten sich alle so, wie man es unter den gegebenen Umständen von ihnen erwarten konnte. Domenico Clerici gebärdete sich am auffälligsten. Ständig jammer te er und zitterte so vor Angst, daß er praktisch für nichts zu gebrau chen war. Geronimo dagegen war wie immer die Ruhe selbst. Er murrte nicht, stellte keine sinnlosen Fragen, sondern tat, was Dorian von ihm verlangte. »Warum spannt ihr die vielen Drähte?« wollte eine der Frauen wissen. Sie war bisher noch kaum in Erscheinung getreten, und Do
rian wußte nicht genau, ob sie nun Eleonora oder Lisbeth hieß. »Strenge deinen Verstand nicht an, Lisbeth!« riet ihr Montgomery, während er an eine der Propangasflaschen einen Schlauch anschloß, der zwanzig Meter lang war und ein Endstück mit einem Drehver schluß hatte. Als er diesen aufdrehte und sein Feuerzeug an das her ausströmende Propangas hielt, entstand eine meterlange Stichflam me. »Eine Insel!« rief Fabienne Mercier und deutete über die Reling. »Warum steuerst du sie nicht an, Jeff?« Jeff Parker erschien im Ruderhaus. »Kapitän Medarchos hat nicht gelogen, als er sagte, daß das Ruder ihm nicht gehorcht«, rief er ihnen zu. »Wir fahren in schöner Schlan genlinie zwischen den Inseln dahin.« Dorian blickte zu ihm hinauf. War es möglich, daß Parker selbst das Opfer des Ungeheuer geworden war? Diesen Gedanken verwarf Dorian aber sofort wieder; daran wollte er einfach nicht glauben. Eleonora, eine üppige Blonde, die Dorian mit Lisbeth verwechselt hatte, hockte heulend in einem Liegestuhl und wurde von Rosalia Juarez getröstet. Die rassige Flamenco-Tänzerin schimpfte über die Männer, die in ihren Augen alle Schlappschwänze waren. »Statt wie kleine Kinder mit den Drähten herumzuspielen, solltet ihr zu den Gewehren greifen und den Meuterern in ihrem Versteck einheizen. He, Sie, Hunter! Sie bilden sich ein, Köpfchen zu haben, aber in Wirklichkeit kaschieren Sie nur Ihre Feigheit mit hochtrabenden Worten.« »Halt die Klappe, Rosi!« befahl ihr Adrian West. Als Dorian mit dem Fotografen für einen Augenblick allein war, fragte der Dämonenkiller ihn: »Ist Ihnen bei einem etwas Verdächti ges aufgefallen?« »Es könnte jeder sein«, antwortete West nur. Zu dem gleichen Ergebnis war Dorian gekommen. Der Doppel gänger spielte seine Rolle so echt und fehlerlos, daß er nicht leicht
zu entlarven war. Als sie mit ihrer Verteidigungsanlage fertig wa ren, gab Dorian dem Fotografen einen Wink, und dieser verkündete: »So – und jetzt machen wir ein schönes Gruppenfoto.« Aber davon wollte niemand etwas wissen. »Kannst du nicht wenigstens jetzt Ruhe geben!« fauchte Gloria ih ren Freund an, als er von ihr ein Foto schoß. »Das wird ein gelungener Schnappschuß«, sagte West nur und suchte sich mit seiner Hasselblad ein neues Opfer. Dorian beobachtete, daß Doris Reiter ihr Gesicht ständig von West abwandte und auch sonst recht geschickt alles unternahm, um nicht ins Bild zu kommen. Sie benahm sich am verdächtigsten. Und wenn er es sich recht überlegte, so sprachen viele Indizien dafür, daß sie die Doppelgängerrolle spielte. Letzte Nacht hatte sie als einzige al lein in ihrer Kabine verbracht. Da Fabienne ihr ein Schlafmittel gege ben hatte, hätte sie es nicht einmal bemerkt, wenn eines der Unge heuer sie im Schlaf überrascht hätte. West gelang es aber dann doch, sie auf den Film zu bannen. Als nächstes knipste er Rosalia, die ihm dafür beinahe die Augen ausge kratzt hätte. »Und wie soll es nun weitergehen?« fragte Domenico Clerici mit weinerlicher Stimme. »Die Entscheidung könnte in den nächsten Minuten fallen«, sagte Dorian Hunter und blickte zum Vorschiff. Dort tauchte Kapitän Medarchos mit seinen vier Leuten auf. Nur der Smutje, den Dorian und Adrian West verbrannt hatten, fehlte. Die fünf unheimlichen Gestalten kamen langsam und drohend nä her. Dorian und Adrian West wechselten einen schnellen Blick. Sie dachten in diesem Augenblick dasselbe: Hatten sie sich vielleicht ge irrt und einen der ihren zu Unrecht verdächtigt, ein Ungeheuer zu sein? Es sah fast so aus, denn von der Mannschaft fehlte niemand. War der Smutje am Ende gar nicht tot? Konnte man den Ungeheu
ern vielleicht gar nicht mit Strom und Feuer zu Leibe rücken? Dorian konnte diese Überlegungen nicht zu Ende führen, denn als der Kapitän nur noch zehn Meter von ihnen entfernt war, blieb er stehen und sagte mit monotoner Stimme: »Ergebt euch, dann ge schieht euch nichts!« Jetzt waren auch die letzten Zweifler und Optimisten ihrer stillen Hoffnung beraubt. Alle wußten, daß es nun hart auf hart ging. »Sie sind nicht in der Lage, uns irgendwelche Bedingungen zu stellen, Medarchos«, rief Dorian zurück. »Wir sind auf Ihren Angriff vorbereitet. Wir haben längst durchschaut, daß Sie Werkzeuge As modis sind. Kommen Sie doch und holen Sie uns, dann ergeht es Ih nen ebenso wie Ihrem Smutje.« Für einen Moment schien es so, als würde das Gesicht des Kapi täns zerfließen, aber er beherrschte sich. Er sprach nun ohne jegli chen Akzent. »Haben Sie ihren Begleitern auch gesagt, daß wir nur an Ihnen und Valiora interessiert sind, Dorian Hunter?« Er wandte sich an die anderen. »Wir wollen niemandem von euch ein Haar krümmen. Wenn ihr uns Hunter und seine Gefährtin Va liora überlaßt, dann lassen wir euch unbehelligt ziehen. Überlegt euch, was euch lieber ist: Hunter und die Frau zu opfern oder ge meinsam mit ihnen zu sterben.« Als Medarchos ausgesprochen hatte, plapperten alle durcheinan der. Das hysterische Gekreische einiger Mädchen übertönte alles. »Nehmen wir das Angebot doch an!« rief Rosalia. »Sollen wir alle für die beiden büßen? Wer weiß, was die auf dem Kerbholz haben!« »Hunter war mir schon immer suspekt«, stimmte Clerici zu. »Soll er doch die Suppe auslöffeln, die er uns eingebrockt hat! Ich möchte nicht seinetwegen sterben.« Parker sprang vom Ruderhaus herunter und landete vor dem In dustrie-Designer. Er schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. »Denkst du denn nur an dich, du Waschlappen?« herrschte er ihn an. »Erinnere dich daran, was mit Pepe passiert ist. Er war auch un
schuldig. Und wie ihm wird es euch allen ergehen, auch wenn ihr Dorian und Vali ausliefert.« »Über Pepes Schicksal wissen wir überhaupt nichts«, erwiderte Rosi. »Was soll denn mit ihm passiert sein?« »Das Skelett, das wir in Fabiennes Bett gefunden haben«, meldete sich da Vali zu Wort, »ist alles, was von ihm übriggeblieben ist. Den Rest haben Medarchos und seine Männer verschlungen.« Vali hatte es bewußt so drastisch ausgedrückt. Rosi starrte sie mit aufgerissenem Mund und vor Entsetzen geweiteten Augen an. »N-nein«, stammelte sie und schüttelte den Kopf. »Nein – nein …« Vali wandte sich den fünf Gestalten zu, die sich links und rechts von den Deckaufbauten postiert hatten. »Ich weiß jetzt Bescheid. As modi hat mir gegenüber einmal angedeutet, daß er der Meister eines unersättlichen Ungeheuers ist, das eine gewisse Intelligenz und die Fähigkeit besitzt, jede beliebige Gestalt annehmen zu können. Dieses Ungeheuer nannte er den Moloch. Und ihr seid Teile dieses Mo lochs. Ihr werdet auch vor den anderen nicht haltmachen, denn euer Heißhunger treibt euch dazu, alles Lebendige zu verschlingen.« Kapitän Medarchos gab einen unartikulierten Laut von sich und setzte sich in Bewegung. Die Gäste wichen zitternd zurück, allen voran Domenico Clerici. Er versuchte sich hinter den anderen zu verbergen. Ein vor Angst zitterndes Menschenbündel oder ein Un geheuer in der Maske eines Angsthasen? Der Kapitän und seine Leute kamen drohend näher. Als Medarchos das erste Stromkabel, das sich in einer Höhe von einem halben Meter quer über Deck spannte, fast erreicht hatte, rief Dorian: »Strom einschalten!« Parker legte den Hebel um, der den Stromkreislauf herstellte. Medarchos hatte das Kabel ergriffen, um es zu zerreißen. Blitze zuckten aus seiner Hand. Sein Körper erbebte. Die Hand verkohlte und fiel ab. Einige der Gäste schrien auf und flohen auf die Plicht, wo Clerici wie bei einem epileptischen Anfall zuckend am Boden lag
und sich röchelnd übergab. Einer der Matrosen hatte zwei der stromführenden Kabel überstie gen, beim dritten blieb er mit einem Bein jedoch hängen. Er brüllte, als er einen elektrischen Schlag bekam. Seine Beine wurden schwarz und zerflossen. Seine Gesichtszüge lösten sich auf, sein Kopf ver sackte in der formlosen Masse seines Körpers. Dann schrumpfte der Körper zusammen, wurde zu einem unförmigen, gallertartigen Klumpen, der unter den elektrischen Schlägen zuckte und über die Planken auf die Passagiere zuquoll. Medarchos hatte seine Maske fallengelassen, nachdem er an einem Stromkabel auch noch den zweiten Pseudoarm verloren hatte. Selbst seine Kleider waren nicht aus Stoff gewesen; sie waren in dem zu ckenden und Blasen werfenden Klumpen, der sich nun zum Heck des Schiffes wälzte, aufgegangen. Auch die übrige Mannschaft legte keinen Wert mehr auf Maskierung. Sie hatten ihre menschliche Ge stalt aufgegeben und zeigten ihre wahre Natur. Cliff Montgomery starrte entsetzt auf das formlose Gebilde, das einst Kapitän Medarchos gewesen war und sich ihm mit beängsti gender Geschwindigkeit näherte. »Das … sieht aus … wie eine Rie senamöbe!« stammelte er. Dann löste sich aus seiner Kehle ein Schrei. Das Ungeheuer ließ einen Tentakel aus sich herauswachsen und nach vorn schnellen. Im Nu hatte es Montgomerys Bein erreicht und hüllte es ein. Das Ge sicht des Kolumnisten war von Schmerz und Entsetzen gezeichnet. Dorian handelte blitzschnell. Er ergriff eines der für diese Zwecke vorbereiteten Kabel an der Gummiisolierung und hielt das freie Ende an die Körpersubstanz des Molochs, die Montgomerys Bein schon bis zur Wade einhüllte. Die gallertartige Masse verbrannte zi schend und mit bestialischem Gestank. Montgomery schrie noch immer, und als der Moloch sein Bein freigab, sah Dorian zwischen den Lederriemen der Sandalen rohes Fleisch und an manchen Stellen blanke Knochen. Noch einige Se kunden, und die Magensäure des Ungeheuers hätte Montgomerys
Fuß gänzlich absorbiert. Der wie am Spieß schreiende Kolumnist wurde von Vali zur Plicht gebracht und erhielt dort von Fabienne eine Beruhigungsspitze. Wenn es auch herzlos und brutal klang, so hatte dieser Vorfall doch etwas Gutes: Dorian wußte, daß Montgomery nicht der Doppelgän ger sein konnte. Inzwischen ging der Kampf weiter. Eines der amöbenartigen Un geheuer war von Parker in Zusammenarbeit mit Adrian West durch Stromstöße vernichtet worden: Nichts als Asche war von dem Scheusal übriggeblieben. Parker trat mit dem Fuß danach und stieß sie fort. Vali hatte ebenfalls ein Kabel ergriffen und traktierte Kapitän Me darchos – oder das, was von ihm übriggeblieben war –, mit Strom stößen. Das Ungeheuer bäumte sich auf, wich zurück und verstrick te sich dabei in ein Stromkabel. Blitze zuckten auf, als die letzten Reste dieses Fragments unter starker Rauchentwicklung verkohlten. Vali wurde es von dem Gestank, mit dem das Ungeheuer verbrann te, beinahe übel, aber sie biß die Zähne zusammen und überwand ihre Übelkeit und ihren Ekel. »Da!« rief Geronimo und wies in die Höhe. »Auf dem Dach des Ruderhauses!« Dorian sah, wie auf dem Dach des Ruderhauses ein quallenartiges Ungeheuer erschien, das sich auf Adrian West fallen lassen wollte, der genau unter ihm stand. Er gab dem Fotografen einen Stoß, daß er zu den Frauen taumelte. In diesem Augenblick ließ sich das Ungeheuer herunterfallen und landete platschend auf den Planken. Parker sprang entsetzt zurück und warf sein Stromkabel nach der zuckenden Masse. Das Unge heuer wich jedoch geschickt aus und breitete sich blitzschnell in Richtung Plicht aus, wo es sich auf die anderen Menschen stürzen wollte. Dorian hatte einen der Schläuche ergriffen, der an eine Propangas flasche angeschlossen war, öffnete den Drehverschluß und entzün
dete mit seinem Feuerzeug das ausströmende Gas. Eine meterlange Stichflamme schoß auf das Ungeheuer zu, das sich als zentimeter dünner Film über die Planken spannte. Es wollte von der tödlichen Hitze zurückweichen, aber Dorian setzte nach und tilgte es restlos aus. »Die letzten beiden ziehen sich zurück!« rief Jeff Parker triumphie rend. »Da! Seht nur, wie sie rennen!« Die beiden überlebenden Fragmente des Molochs rannten tatsäch lich. Sie hatten jeder zwei Pseudobeine aus ihren Körpermassen aus gefahren und stelzten auf ihnen davon. Kurz darauf verschwanden sie auf der Treppe zu den im Bug liegenden Mannschaftsräumen. »Jetzt sitzen sie in der Falle!« rief Geronimo begeistert, der zum erstenmal seinen Emotionen freien Lauf ließ. »Wir können sie spie lend ausräuchern.« »Wie stellst du dir das vor, Geronimo?« wollte Parker wissen. »Wir können das Schiff nicht einfach in Brand stecken.« »Wozu haben wir das Beiboot?« meinte Geronimo. »Du hast aber leicht reden. Es ist ja auch nicht deine Jacht. Glaubst du, die Versicherung zahlt mir auch nur einen Cent, wenn ich in der Verlustmeldung angebe, daß ich das Schiff anzünden mußte, weil sich an Bord ein Moloch befand?« »Ohne auf Jeff Parkers materialistische Einstellung Rücksicht neh men zu wollen, bin ich auch der Meinung, daß wir einen anderen Weg wählen müssen«, sagte Dorian. »Einer von uns muß aufs Mannschaftsdeck hinuntersteigen. Nur so können wir den Moloch restlos austilgen.« »Das übernehme ich!« bot sich Geronimo spontan an. »Nein, ich werde es tun«, sagte Dorian. »Ich habe mehr Erfahrung im Kampf mit den Dämonen.« Dorian nahm Adrian West beiseite und fragte ihn: »Haben Sie je den fotografiert?« West nickte und fügte mit schwachem Grinsen hinzu: »Außer uns
beiden.« »Dann entwickeln Sie den Film! Wenn ich zurückkomme, möchte ich die Fotos sehen.« West ergriff ihn am Arm. »Glauben Sie denn immer noch, einer von uns könnte …« »Ich möchte mir auf jeden Fall Gewißheit verschaffen.«
West zog sich in seine Kabine zurück und versperrte die Tür von in nen. Er betrat sein als Dunkelkammer eingerichtetes Badezimmer und verschloß auch diese Tür von innen. Er wollte nicht gestört wer den und vor Überraschungen sicher sein. Er nahm den Film aus der Kamera. Seine Hände zitterten leicht, während er den Film in den Entwickler einlegte und dann die Signaluhr einstellte. Die Zeit schlich endlos langsam dahin, und als die Signaluhr end lich abgelaufen war und er die Zwischenwässerung, Fixierung und Wässerung vornehmen und schließlich den Film in den Trocken schrank legen konnte, hatte er drei Zigaretten geraucht. Er war alles andere als ein Kettenraucher, aber die Spannung zehrte so sehr an seinen Nerven, daß er sich künstlich beruhigen mußte. Hoffentlich war der Film etwas geworden. Er hatte noch nicht einmal einen Blick darauf geworfen. Aber es war unsinnig, zu befürchten, daß er ausgerechnet bei diesen Aufnahmen Mist gebaut haben sollte. Das war ihm in seiner langjährigen Praxis noch nie passiert. Er war schließlich kein Sonntagsknipser, sondern Profi. Er hing den Film mit einer Klammer an die Wäscheleine und be festigte am unteren Ende das Gewicht, damit sich der Film nicht ein rollen konnte. Danach ertappte er sich schon wieder beim Rauchen. Dennoch hielt er sich so im Zaum, daß er das Negativ nicht im Licht der Dun kelkammerlampe betrachtete. Zweifellos hätte er auch schon aus dem Negativ erfahren, was er wissen wollte, aber er wollte das Er
gebnis schwarz auf weiß und in Großformat vor sich sehen; er woll te die Wahrheit erst durch die Vergrößerung enthüllt bekommen. Das heißt, wünschte er sich tatsächlich eine Enthüllung? Nein, zu mindest nicht im negativen Sinne. Er fragte sich erneut, wer von den anderen Passagieren das Ungeheuer sein konnte. Er selbst und Dori an Hunter kamen nicht in Frage. Ebensowenig Cliff, der von dem Moloch beinahe aufgefressen worden wäre. Armer Cliff! Und die anderen? Parker, Clerici, Geronimo und auch die Mädchen hatten sich gleich viel oder wenig verdächtig gemacht, einschließlich Valio ra, Hunters Begleiterin. West legte das Negativ in den Vergrößerungsapparat ein, klemmte das Fotopapier unter den Abdeckrahmen und nahm die Scharfein stellung vor. Jeder Handgriff war ihm in Fleisch und Blut überge gangen, war reine Routine, dennoch zitterten seine Hände. Er schal tete die Lampe des Vergrößerungsapparates ein, ohne auf das Foto papier zu blicken. Als die Belichtungsuhr ablief, holte er das Fotopapier aus der Hal terung und legte es ins Säurebad. Er starrte wie gebannt auf das Pa pier, auf dem sich langsam Konturen abzuzeichnen begannen. Das erste Foto hatte er von Valiora gemacht. Die Konturen eines Gesichtes wurden sichtbar. Er ließ einen Seufzer der Erleichterung hören. Valiora war außer Verdacht. Das freute ihn für Hunter. Als nächsten hatte Adrian Domenico fotografiert. Was für ein Waschlappen! Aber seine Angst konnte genauso gut auch gespielt gewesen sein. Adrian konnte es kaum erwarten. Er legte das Fotopapier ins Säurebad und beobachtete das Werden des Bildes. Wieder konnte er aufatmen. Das Foto zeigte Domenicos von Angst gezeichnetes Gesicht. Wer war der nächste? Lisbeth. Sie war eines der fotogensten Mäd chen, das Adrian kannte. Aber dieses Bild, das sich vor seinen Au gen im Säurebad herauskristallisierte, zeigte sie nicht von ihrer bes ten Seite. Doch egal, auch Lisbeth war in Ordnung.
Rosi, Gloria … Adrian fiel ein Stein vom Herzen. Als nächstes kam Parker an die Reihe. Er war makellos auf den Film gebannt, genau wie die anderen. Adrian fand sogar, daß es die besten Fotos waren, die er je gemacht hatte. Wenn das alles vorüber war, würde er sie mit einem Bericht an seine Agentur schicken und viel Geld scheffeln. Das nächste Foto hatte Adrian von Geronimo gemacht. Nicht min der gebannt als bei den vorangegangenen Malen starrte er in die Entwicklungsschale, wo sich auf einem harmlos auszusehenden Stück Papier ein schreckliches Geheimnis zu enthüllen begann. Er hatte sofort geahnt, daß mit Geronimos Bild etwas nicht stimmte, doch er wollte es bis zuletzt nicht wahrhaben – bis sich auf dem Bild statt des Halbindianers ein schleimiges, gallertartiges Ungeheuer zeigte. Er starrte ungläubig darauf. Das verstand er nicht. Bisher war es nicht möglich gewesen, eines dieser Ungeheuer auf den Film zu bannen. Wieso gerade diesmal? Diese Frage war aber unwichtig, an gesichts der Erkenntnis, daß Geronimo das Ungeheuer war – der stille, stets zurückhaltende Geronimo. Während Adrian noch in das Säurebad starrte, bewegte sich das Ungeheuer auf dem Bild plötzlich. Ein Tentakel zuckte daraus her vor, traf Adrians Gesicht und hüllte es rasend schnell ein. Sein Ent setzensschrei wurde bald darauf von der gallertartigen Masse er stickt, die ihm in den offenen Mund quoll.
Als die anderen, durch den Schrei alarmiert, zu Adrian Wests Kabi ne kamen, mußte Parker sie erst mit einem Nachschlüssel öffnen. Die Badezimmertür ließ sich nicht aufmachen, da der Schlüssel von innen steckte. Sie brachen die Tür mit einem Brecheisen auf. Ihnen bot sich ein grauenhafter Anblick. Vor dem Tisch mit dem Vergrößerungsapparat türmte sich ein mannsgroßes, gallertartiges Gebilde, das konvulsivisch und wie in Ekstase zuckte, und in dem
es wie in einem verdauenden Magen rumorte. Als sich das Mons trum den Eindringlingen zuwandte, ließ es säuberlich abgenagte Knochen auf den Boden fallen; mehr hatte es von Adrian West nicht übriggelassen. Während die anderen flüchteten, stellte sich Dorian dem Unge heuer entgegen. Er hatte eine 25-Liter-Propangasflasche auf den Rücken geschnallt, die mit einem Leitungsschlauch verbunden war. Dorian entzündete das dem Endstück entströmende Gas und ver nichtete das Ungeheuer in der fauchenden Lohe, bevor es sich in die Kabine flüchten konnte. Bedauerlicherweise wurde durch die Flam men auch die Laboreinrichtung zerstört, und die von West entwi ckelten Beweisfotos verbrannten. Dorian hatte die Gaszufuhr so weit gedrosselt, daß aus der Schlauchmündung nur eine wenige Zentimeter lange Flamme züngelte. So stieg er zum Mannschafts raum hinunter. Bevor er unter Deck verschwand, blickte er noch ein mal zu den anderen zurück. Parkers Gesicht war hinter der Heckscheibe des Kommandostan des zu sehen. Er hatte wieder das Ruder übernommen, wenngleich er wissen mußte, daß seine Bemühungen vergeblich sein würden. Vali winkte schwach. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Ge ronimo stand neben ihr und hatte ihr die Hand kameradschaftlich auf die Schulter gelegt. Dahinter drängten sich die Mädchen, der in wenigen Stunden um Jahrzehnte gealterte Domenico Clerici mitten unter ihnen. Nur Fabienne Mercier und Doris Reiter fehlten; sie hiel ten auf der Plicht bei dem bewußtlosen Clifford Montgomery Wa che. Dorian hielt die Gasflamme vor sich, während er unter Deck klet terte. In dem leicht flackernden Licht sah er den leeren Vorraum, in dem es vier Türen gab. Außer dem leisen Fauchen des entströmen den Gases war kein Geräusch zu hören. Der Dämonenkiller öffnete die erste Tür. Dahinter lag die Duschkabine mit dem WC. Der Raum war leer. Hinter der zweiten Tür lag die Kapitänskajüte. Auch sie war leer, das konnte Dorian mit einem einzigen Blick feststellen. Er
öffnete sogar den Kleiderschrank und war darauf gefaßt, daß sich der Moloch auf ihn stürzen würde, doch geschah nichts dergleichen. Auch die Kabine des ersten Offiziers war verlassen. Blieb nur noch der Mannschaftsraum. Er trat die Tür auf und ließ eine meterlange Stichflamme in den dahinterliegenden Raum schießen, um sich ge gen Überraschungen abzusichern. Aber der Moloch unternahm kei nen Angriff. Dorian wagte sich in die Mannschaftsunterkunft. Er richtete die Gasflamme gegen jede Koje, doch in ihrem Schein konnte er außer den zerwühlten Decken nichts entdecken; nicht einmal ein faust großes Stück der Körpermasse des Molochs zeigte sich. Die beiden Fragmente des Monstrums schienen wie vom Erdboden verschwun den. Dorian überlegte, wo sie sich versteckt halten konnten, kam aber zu keinem Ergebnis, denn es gab keinen Winkel, den er nicht untersucht hatte. In Luft konnten sich die Ungeheuer jedoch nicht aufgelöst haben, ebensowenig wie sie geflüchtet sein konnten. Sie waren im Vorschiff unter Deck verschwunden und noch nicht wie der aufgetaucht. Also mußten sie noch hier sein. Während Dorian seinen Gedanken nachhing, starrte er zufällig auf eine der Decken in den Kojen; und da war ihm plötzlich, als hätte sich die Decke bewegt. Natürlich! Konnte der Moloch nicht jede beliebige Gestalt und Form annehmen? Wenn er schon lebende Menschen so naturgetreu im Aussehen nachahmen konnte – ja, sogar imstande war, ihren Charakter nachzuahmen –, dann mußte er noch leichter tote Gegen stände imitieren können. Die Lösung war so einfach, und doch traf die Wahrheit den Dämonenkiller wie ein Blitz. Ohne lange zu über legen, drehte er den Schlauchverschluß bis zum Anschlag auf. Eine Feuerlohe schoß heraus. In die Decken kam plötzlich Leben. Sie rotteten sich zusammen, bis sie dicke Klumpen bildeten, und versuchten durch die Flammen wand auszubrechen. Aber der Dämonenkiller war auf der Hut. Die zuckende, sich win
dende Körpermasse des Ungeheuers brannte wie Zunder. Einmal hatte es den Anschein, als wollte der Moloch menschliche Gestalt annehmen. Dorian glaubte für einen Moment, die Gesichtszüge ei nes Kindes – eines Mädchens zu erblicken. Aber er ließ sich dadurch von seinem Zerstörungswerk nicht abhalten. Dann hatte er es geschafft. In den verrußten, angesengten Kojen, an den Wänden und auf dem Boden blieben nur noch schlackeartige Reste zurück. Der Moloch war besiegt. Um ganz sicherzugehen, bearbeitete Dorian auch noch die ande ren Räume des Vorschiffs mit dem Flammenstrahl, doch es fanden sich nirgends mehr Reste des Molochs. Der Dämonenkiller kehrte an Deck zurück. Er berichtete den ande ren von dem Erfolg, konnte ihre enthusiastische Freude jedoch nicht ganz teilen. »Was ist denn mit dir?« fragte Jeff Parker, als sie das Glas hoben, um auf ihren Sieg zu trinken. »Du scheinst gar nicht davon begeis tert, daß wir den Moloch vernichtet haben?« »Doch, doch«, sagte Dorian müde. »Ich kann nur nicht glauben, daß wir damit auch Asmodi besiegt haben. Für meinen Geschmack ging alles zu glatt und zu leicht.« »Na, hör mal!« sagte Parker. »Wenn das leicht gewesen sein soll, dann möchte ich wissen, was du unter einer schwereren Aufgabe verstehst.«
Der Abend dämmerte. Die Jacht trieb in einem Teil der Ägäis, in dem die Inseln weniger dicht beieinander lagen. Dennoch war be schlossen worden, alle halbe Stunde eine Leuchtrakete abzuschie ßen, um vielleicht die Aufmerksamkeit in der Nähe kreuzender Schiffe auf sich zu lenken. Der Motor lief weiterhin anstandslos, aber jeder Versuch, die Jacht zu steuern, schlug fehl. Das war ein Beweis mehr für Dorian, daß
das Schiff immer noch mit Schwarzer Magie gelenkt wurde. Der Ausfall sämtlicher Geräte war jedoch nicht auf die Schwarze Magie zurückzuführen. Der Moloch mußte in der Gestalt von Kapitän Me darchos und seiner Mannschaft in einem Anfall alle Navigationsge räte zertrümmert haben. Obwohl versichert worden war, daß vom Moloch keine Gefahr mehr drohte, wagte sich niemand zurück in die Kabinen. Nur den noch immer bewußtlosen Montgomery hatte man unter Deck ge bracht. Fabienne und Geronimo waren bei ihm. Sie sollten alle Stun de abgelöst werden. Als nächste waren Domenico Clerici und Doris Reiter zur Betreuung Montgomerys eingeteilt. »Es ist Zeit für eine Leuchtrakete, Jeff«, sagte Dorian um Viertel nach neun. Parker schoß die Rakete ab. Minuten später war sie verglüht. »Verdammt!« fluchte Rosi. »Man sollte doch meinen, daß irgend jemand unsere Notsignale bemerkt. Wir sind doch nicht auf dem Mond.« »Ich habe Hunger«, sagte Lisbeth plötzlich. »Das ist ein gutes Zeichen«, meinte Vali lächelnd. »Ich finde auch, daß wir langsam wieder zum normalen Leben zurückfinden sollten. Wer begleitet mich in die Kombüse, um ein paar Brote zu machen?« »Losen wir einfach aus«, schlug Rosi vor. Sie losten. Die Wahl traf Rosi und Eleonora. »Ich begleite euch«, sagte Gloria. »Ich muß irgend etwas tun, um mich abzulenken.« Dorian konnte sie gut verstehen. Der Verlust von Adrian mußte sie hart getroffen haben, wenn sie es äußerlich auch nicht zeigte. »Sie wollten heiraten«, sagte Vali, als die drei Mädchen unter Deck verschwunden waren. »Wer? Gloria und Adrian?« fragte Parker. »Ja, Gloria hat es mir anvertraut. Das war aber noch, bevor das Unheil über uns kam.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Valis Worte hatten sie wieder an das vorangegangene Grauen erinnert. Sie konnten reden und den ken, was sie wollten – irgendwie kamen sie immer wieder auf das unvermeidliche Thema. »Ist es nicht seltsam, Dorian, daß Sie und Vali verschont blieben, obwohl die Attacken eigentlich Ihnen galten?« meinte Lisbeth. Dorian schwieg. »Das habe ich mich ebenfalls schon gefragt«, sagte Parker beipflichtend und schränkte sofort ein: »Das soll kein Mißtrauen ge gen dich sein, Dorian. Bei Gott, nein! Aber irgendwie ist die Frage berechtigt, warum der Moloch nie etwas gegen euch unternahm, ob wohl ihr selbst zugebt, daß er auf euch angesetzt war.« »Es wird wohl so sein, daß er sich uns als Hauptspeise aufheben wollte«, antwortete Dorian. »Das ist ein ziemlich geschmackloser Scherz«, regte sich Clerici auf. »Dabei war es gar nicht scherzhaft gemeint«, rechtfertigte sich Do rian. »Ich glaube, den Grund zu kennen, warum Vali und ich vom Moloch vorerst verschont blieben. Was mich betrifft, bin ich sogar ganz sicher. Der Moloch konnte mich nicht einfach töten, denn das hätte Asmodi überhaupt nicht geholfen.« »Kannst du das nicht deutlicher erklären?« fragte Parker. »Können schon, aber wollen tue ich es nicht«, erwiderte Dorian. »Du würdest mir bestimmt nicht glauben.« »Früher einmal hätte ich dir bestimmt nicht geglaubt«, sagte Par ker, »aber nach allem, was ich erlebt habe, kann mich nichts mehr überraschen.« »Meinst du? Na, dann halt dich fest! Ich bin unsterblich.« »Ich glaube eher, daß Sie verrückt sind«, sagte Domenico Clerici. Und Lisbeth fügte hinzu: »Diesen Verdacht hatte ich schon lange.« Doris Reiter erhob sich. »Komm, Domenico! Für uns wird es Zeit, daß wir Geronimo und Fabienne ablösen.«
Clerici wurde unruhig. Er beleckte sich die Lippen, seine Augen wanderten unruhig hin und her. Es war ihm anzumerken, daß es ihm gar nicht behagte, unter Deck zu gehen, aber er überwand seine jämmerliche Angst dann doch und folgte der Blondine. »Ist es wahr, was du vorhin gesagt hast?« nahm Parker den Faden wieder auf. Ungläubig und mit einer gewissen Scheu wiederholte er das Wort Unsterblichkeit. »Die gibt es, Jeff«, sagte Dorian ernst. »Ich habe schon im fünf zehnten Jahrhundert gelebt, unter anderem Namen zwar und in ei nem anderen Körper, aber ich besitze die Erinnerung an dieses Le ben. Und ich habe in den folgenden Jahrhunderten noch viele Leben gelebt. Man könnte diese Art der Unsterblichkeit Seelenwanderung nennen. Wenn Asmodi meinen Körper tötet, wandert meine Seele in einen anderen Körper. In dem Moment, in dem das Leben aus mei nem Körper weicht, wechselt mein Ich in den eines neugeborenen Kindes über, das gerade das Licht der Welt erblickt. Deshalb kann mich Asmodi nicht einfach töten. Er muß mir zuerst die Unsterblich keit nehmen, will er mich endgültig vernichten.« »Und wie könnte dieser Asmodi das tun?« fragte Parker mit leich tem Widerwillen. Dorian zuckte die Achseln. »Mit Hilfe der Schwarzen Magie wird er schon einen Weg finden. Aber leicht mache ich es ihm nicht.« Parker betrachtete ihn kopfschüttelnd, voll ungläubigen Staunens. »Phantastisch! Jetzt wird mir erst manche deiner seltsamen Hand lungen verständlich. Du hast einmal gesagt, du seist ein Jäger. Heißt das, daß du Dämonen jagst?« »So könnte man es nennen, Jeff«, bestätigte Dorian. »Und ich wer de erst ruhen, wenn ich sie ausgerottet habe. Als nächster steht As modi auf meiner Abschußliste. Er weiß das und versucht, mir zu vorzukommen.«
Die drei Frauen betraten die Kombüse mit einer gewissen Scheu. Zwar waren die Spuren des verkohlten Ungeheuers beseitigt, das in der Gestalt des Kochs über Dorian und Adrian West hergefallen war, aber der Ruß überall erinnerte immer noch an diesen schreckli chen Vorfall. »Hört ihr meinen Magen knurren? Ich habe seit heute morgen noch nichts gegessen – und auch da nur ein paar Bissen. Eleonora, sieh du mal im Kühlschrank nach, was es da an Eßbarem gibt! Glo ria, machst du Kaffee? Ich schneide schon das Brot.« Eleonora förderte aus dem Kühlschrank allerlei Konservendosen zutage: Haifischflossen, Hummer, Austern und anderes mehr. Sie breitete alles auf der Arbeitsfläche aus. Rosi übernahm die Zusam menstellung. »Öffne diese Dose, diese, diese und die da! Was ist da noch im Kühlschrank? Die Mayonnaise brauchen wir natürlich auch. Und Eleonora, Liebes, auch das Glas mit den Wachteleiern.« »Hör auf! Mir wird schlecht«, rief Gloria und barg das Gesicht in den Händen. »Beeile dich mit dem Kaffee!« sagte Rosi noch und wandte sich dann der Brotschneidemaschine zu. »Stell dich nicht so ungeschickt mit dem Dosenöffner an, Eleonora! Man könnte meinen, du kämst aus der Steinzeit und hast so ein Ding noch nie gesehen. Entschuldi ge, Gloria.« Die rothaarige Frau hörte nicht hin. Sie durchsuchte einige Schrän ke, bis sie die Kaffeemühle fand, füllte den Trichter mit Kaffeeboh nen und drückte den Auslöseknopf. Es passierte aber nichts. Natür lich! Wie konnte das Gerät auch funktionieren, wenn es nicht an die Steckdose angeschlossen war. Sie wollte zur Steckdose, da passierte etwas Ungeheuerliches, das ihr das Blut in den Adern gerinnen ließ. Sie schrie. Eleonora und Rosi wirbelten herum. Sie sahen, wie sich von der Kaffeemühle eine schleimige, pulsierende Masse zu Glorias Gesicht vorarbeitete und sich blitzschnell darüber ausbreitete.
Bevor die beiden anderen Frauen ihren Schreck überwunden hat ten und einen Laut von sich geben konnten, stürzte über ihnen die Kombüse ein, und sie waren wie in einem brodelnden, zuckenden Magen eines Riesentieres gefangen.
Domenico Clerici betrat mit Doris Reiter die Kabine. »So, eure Stun de ist um«, sagte er zur Begrüßung. »Wie geht es Cliff?« »Den Umständen entsprechend«, meinte Geronimo. Er saß am lin ken Bettrand des Bewußtlosen. »Es ist nicht so schlimm, wie es an fangs ausgesehen hat.« »Na, hör mal!« protestierte Clerici und wiegte den Kopf. »Es ist schlimm genug, daß er sein Leben lang ein Krüppel bleiben wird. Ich habe seinen Fuß gesehen. Der ist hin.« »Ich verstehe mehr davon«, sagte Fabienne, »und ich sage dir, es ist nicht so arg.« »Hört auf damit!« fuhr Doris Reiter dazwischen und zündete sich eine Zigarette an. »Ich mag nicht, daß ihr in Cliffs Gegenwart von ihm wie von irgendeinem Objekt sprecht. Wir können dem Himmel danken, daß es uns nicht ebenfalls erwischt hat.« »Hör auf, den Himmel anzurufen!« fuhr Geronimo sie an. »Was ist denn in dich gefahren?« fragte Doris verblüfft und als sie keine Antwort bekam, fragte sie: »Wollt ihr beiden denn nicht nach oben gehen? Eure Krankenwache ist um.« »Wir bleiben gern noch ein Weilchen, um euch Gesellschaft zu leisten«, sagte Geronimo. »Das ist prima.« Clerici war erfreut. »Ich bin für jede Gesellschaft dankbar. Mit Doris ist ja nichts mehr anzufangen. Die ist wie umge wandelt.« »Ja, Pepes makabre Scherze sind ihr in die Knochen gefahren«, meinte Geronimo. »Laßt Pepe aus dem Spiel! Ist euch denn gar nichts heilig?«
»Hör endlich auf, so zu sprechen!« schrie Geronimo wütend. Doris Reiter erstarrte unwillkürlich. Sie hatte Geronimo noch nie – noch nie! – so aus sich herausgehen sehen. »Doris ist erst so umgewandelt, seit sie die Narbe hat«, behauptete Fabienne. »Sie glaubt, sie ist für ihr Leben gezeichnet. Dabei kann ich ihr helfen, dieses scheußliche Mal an ihrem Hals loszuwerden.« Doris drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und wandte sich der Tür zu. »Wenn euch nichts anderes einfällt, als auf mir herum zuhacken, dann gehe ich lieber.« »Das ist deine Wache«, sagte Geronimo und versperrte ihr den Weg. Fabienne erhob sich ebenfalls. »Ehrlich, Doris, es gibt eine Mög lichkeit, wie du deine Narbe verschwinden lassen kannst. Du weißt, daß ich auch so einen häßlichen Striemen am Rücken hatte? Paß auf!« Mit einigen schnellen Handgriffen entledigte sich Fabienne ihres Kleides. Darunter trug sie nichts. Sie wandte ihren nackten Rücken Doris zu. Darauf war keine Narbe zu sehen. Die Haut war glatt und ohne Makel. »Wie ist das möglich?« wunderte sich Doris. »Ganz einfach«, antwortete Fabienne. »Aber was würdest du erst sagen, wenn du siehst, daß Cliff wieder ganz normal gehen kann? Ihr glaubt es nicht? Cliff, steh auf!« Clerici verfolgte mit offenem Mund, wie sich Cliff plötzlich im Bett aufrichtete, die Decke zurückwarf und herausstieg. Er kam um das Bett herum. Und da sah Clerici das Unfaßbare: Seine Füße waren beide heil. Der Fuß, der bis auf die Knochen zerfressen gewesen war, wies nicht einmal eine Narbe auf. Jetzt wurde es Clerici langsam unheimlich. »Ich glaube …«, be gann er, verstummte aber, als von draußen ein schriller Schrei zu ih nen drang. »Was … war das?« stammelte er. »Wir müssen sofort nachsehen.«
Clerici war froh, Gelegenheit gefunden zu haben, das Zimmer ver lassen zu können. Die drei Freunde benahmen sich furchterregend seltsam. Geronimo stand immer noch vor der Tür und versperrte sie mit seinem breiten Körper. »Was da draußen passiert, ist nicht so wichtig. Bevor ihr hinaus dürft, müßt ihr noch geheilt werden.« Plötzlich begriffen Doris und Clerici, was Geronimo damit meinte. Geronimo, Fabienne und Cliff hatten sie umzingelt und näherten sich ihnen geifernd und schmatzend.
Der Schrei mußte von einer der Frauen aus der Kombüse kommen. Dorian Hunter, Jeff und Valiora liefen augenblicklich los. Lisbeth sah, daß die anderen beiden Frauen in ihren Liegestühlen einge schlafen waren; die Decken hatten sie sich bis zum Kinn hochgezo gen. Allein wollte sie nicht an Deck zurückbleiben. Deshalb ent schloß sie sich, den anderen zu folgen. Doch als sie die erste Stufe betrat, waren Dorian, Jeff und Vali bereits auf dem Kabinendeck ih ren Blicken entschwunden. Lisbeth blieb plötzlich auf dem Treppenteppich kleben. Sie blickte an sich herunter und sah, daß der Teppich Blasen warf und ihre Schuhe hinaufquoll. Sie wußte, was das zu bedeuten hatte, und wollte um Hilfe schreien, doch noch bevor sie einen Laut über die Lippen brachte, klatschte ihr etwas ins Gesicht. Sie fiel nach hinten und drehte sich dabei um die Achse. Und da sah sie, wie sich die Decken, in die die beiden schlafenden Mädchen gehüllt waren, ver formten, und wie sich auch die Liegestühle veränderten, sich em porwölbten und die beiden Frauen einschlossen. Das waren Lisbeths letzte Eindrücke. Danach umhüllte Dunkelheit gnädig ihren Geist.
Dorian erreichte die Tür der Kombüse und wollte sie aufstoßen,
doch sie war verschlossen. Er rannte zweimal vergeblich dagegen, und Parker hämmerte wie verrückt auf das Holz ein. »Rosi! Gloria! Eleonora! Aufmachen!« Von drinnen kam kein Laut. Parker hämmerte wieder gegen die Tür, ohne etwas damit zu erreichen. »Was kann nur geschehen sein?« wandte er sich an Dorian. Der gab keine Antwort. Parker packte ihn am Kragen. »Der Moloch ist doch tot, Dorian? Wir haben ihn erledigt, oder? So sag doch etwas!« Dorian löste sich aus Parkers Griff. Jetzt war Vali an der Tür. »Rosi! Eleonora! Gloria! Wenn ihr mich hören könnt, so gebt doch Antwort!« Dorian und Parker verharrten reglos und lauschten. »Mir war, als hätte ich etwas gehört«, meinte Vali unsicher. Sie lauschten wieder, und jetzt glaubten sie alle drei eine schwache Frauenstimme zu hören. Gleich darauf wurde ein Schlüssel im Schloß herumgedreht, dann ging die Tür auf. Rosi blickte ihnen verstört entgegen. Sie hatte zerzaustes Haar, ihr Gesicht wies rote Flecken auf. »Mann, o Mann!« stöhnte sie. Dorian schob sie zur Seite und stürmte in die Küche. Die beiden anderen Frauen wirkten nicht minder aufgelöst. Brötchen und Kon servendosen lagen herum. Ihr Inhalt war über den Boden verstreut. Dorian trat bei jedem Schritt auf Kaffeebohnen. »Hier sieht es ja aus wie nach einem Kampf«, stellte Parker fest. »Was ist passiert?« »Du sagst es«, stöhnte Gloria, die am Boden kniete und die Brot scheiben aufklaubte. »Das war wahrlich ein Kampf.« Eleonora lehnte erschöpft an der Wand. »Wollt ihr denn jetzt nicht endlich mit der Sprache herausrücken?« fuhr Parker die Frauen an.
»Es ist alles meine Schuld«, erklärte Gloria. Sie erhob sich und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es ist auch meine Schuld«, behauptete Rosi. »Ich hätte darauf Rücksicht nehmen sollen, daß du mit den Nerven herunter bist.« »Wir sind alle nur noch Nervenbündel«, sagte Eleonora. »Beinahe hätten wir uns gegenseitig umgebracht.« »Ihr hättet euch beinahe umgebracht?« echote Parker. »Ja, um alles in der Welt, warum denn?« »Es begann eigentlich alles ganz harmlos«, berichtete Rosi. »Ich habe die Brote geschnitten, Eleonora hat die Konservendosen geöff net und Gloria den Kaffee gemahlen. Ich plapperte munter drauflos, um uns bei Laune zu halten. Irgendwann sagte ich ein falsches Wort. Ich möchte es nicht wiederholen, um alte Wunden nicht noch mals aufzureißen. Jedenfalls begann Gloria auf einmal zu heulen. Ich näherte mich ihr von hinten und legte ihr eine Hand auf eine Schulter. Da drehte sie durch.« »Ich weiß nicht mehr, was in mich gefahren war«, sagte Gloria. »Als mich Rosi berührte, erfaßte mich Panik. Ich dachte … Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Ich hatte nur furchtbare Angst und wehrte mich.« »Sie drosch wie ein Berserker auf mich ein«, berichtete Rosi weiter. »Wußte gar nicht, daß unsere zierliche Gloria solche Kräfte entwi ckeln kann. Zu allem Übel mischte dann auch noch Eleonora kräftig mit.« »Ich griff ein, um die beiden zu trennen«, rechtfertigte sich Eleono ra. »Gloria benahm sich wie eine Furie. Ich dachte, wenn ich sie nicht zurückhalte, bringt sie Rosi noch um.« »Na, und so kam es halt zur schönsten Keilerei«, endete Rosi. Eine Weile herrschte Schweigen. Jeff mußte unwillkürlich grinsen. Da brach auch bei den Frauen der Bann, und sie begannen schallend zu lachen. Sie umarmten einander und küßten sich. Der Dämonenkiller stand regungslos daneben. Vali versuchte,
einen Blick von ihm zu erhaschen, aber er schien sie überhaupt nicht zu bemerken. »Ich glaube, euch tut der Küchendienst nicht gut«, sagte Parker und klopfte Rosi aufs pralle Hinterteil. »Los, geht euch an Deck er holen! Vali und ich werden den Laden schon schaukeln. Das nächste Mal laßt uns nicht so lange zappeln und öffnet die Tür. Wir waren in Sorge um euch und dachten, weiß Gott was passiert ist.« »Begleiten Sie uns?« fragte Rosi Dorian. »Wir könnten ein wenig Trost von einem Mann vertragen.« »Tröstet euch mit Geronimo«, erwiderte Dorian. »Er wird inzwi schen wieder an Deck sein. Ich komme nach.« »Wohl auf Jeff eifersüchtig, was?« meinte Eleonora spöttisch. »Was machst du denn für ein Gesicht, Dorian?« fragte Parker. »Bist du sauer, daß sie sich so aufgeführt haben? Mein Gott, die ha ben eben etwas schwächere Nerven als du.« »Jetzt sind sie aber wieder recht munter.« »Weil sie Dampf abgelassen haben.« »Irgendwie erschienen sie mir aber zu sehr verändert.« »Dorian hat recht«, sagte Vali und öffnete die Wandschränke einen nach dem andern. Parker blickte von ihr zu Dorian. »Ich habe dich vorher etwas ge fragt, als wir noch auf dem Korridor standen, Dorian. Ich wiederho le meine Frage: Bist du sicher, daß wir alle Teile des Molochs ver nichtet haben?« »Mir wäre wohler, wenn ich das wüßte. Aber besser, wir rechnen mit dem Schlimmsten.« »Mein Gott! Hört das nie auf?« »Es beginnt erst richtig«, sagte Vali mit seltsam veränderter Stim me. Sie stand vor einem Schrank mit Küchengeschirr. Dorian und Par ker kamen zu ihr, als Vali gerade einen Topf herausholte und auf die
Arbeitsplatte stellte. Parker wurde blaß, als er den Inhalt erblickte: Es war ein Totenschädel. Vali holte noch zwei weitere Töpfe heraus. In jedem lag ein Toten schädel. »Rosi, Gloria und Eleonora«, sagte Parker dumpf. Dorian öffnete den Mülleimer und schloß ihn sofort wieder. Ihm wurde fast übel, als er daran dachte, wie lebendig die drei Mädchen noch vor kurzem gewesen waren, und jetzt … »Wie ist denn das möglich?« fragte Jeff Parker verzweifelt. »Wir haben doch die Besatzung erledigt. Oder ist dir in der Mannschafts unterkunft ein Fragment des Molochs entwischt, Dorian?« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf. »Ich erfuhr in der Mann schaftsunterkunft aber etwas, das eigentlich naheliegend war, wir aber bis dahin nicht bedacht hatten. Der Moloch kann auch tote Ge genstände nachahmen.« »Ja, das liegt auf der Hand.« »Eben. Und deshalb müssen wir damit rechnen, daß jeder Teil auf diesem Schiff auch ein Teil des Molochs sein könnte.« »Du meinst, das sei nicht mehr meine Jacht, sondern …« Dorian unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Nein, so schlimm ist es wieder nicht. Denn wir haben schon einige Male die Feuerprobe gemacht, bei der sich der Moloch hätte entlarven müs sen. Möglich aber, daß das Schiff mit der Körpermasse des Molochs hier und da überzogen ist.« »Dann sind wir alle verloren.« »Die anderen betrifft es vielleicht gar nicht mehr«, meinte Dorian. »Es könnte sein, daß keiner der anderen mehr am Leben ist und je der von einem Doppelgänger ersetzt wurde. Wir dürfen keinem mehr trauen.« Parker blickte Dorian in die Augen. »Können wir wenigstens ein ander vertrauen? Wie willst du wissen, daß ich nicht auch schon ein Teil des Molochs bin? Und wie kann ich bei dir sicher sein?«
»Ich vertraue dir und Vali. Denn würde ich das nicht tun, dann könnte ich gleich aufgeben.« »Aber wie soll es weitergehen?« »Zuerst müssen wir die uns bekannte Gefahr eliminieren.«
»Es ist weder Zeit für das Notsignal«, sagte Dorian, als er an Deck zurückkehrte. Außer dem bewußtlosen Montgomery, Doris und Clerici waren alle auf der Plicht versammelt. »Das hat doch alles keinen Sinn«, sagte Fabienne niedergeschla gen. »Es ist wie verhext, daß niemand auf unsere Notsignale rea giert.« »Nur nicht den Kopf hängen lassen«, meinte Dorian und feuerte eine rote Leuchtrakete ab. Sie schoß mit einem Feuerschweif in den Nachthimmel. Ihr roter Schein hüllte die Jacht in gespenstisches Licht. Dorian betrachtete die Männer und Mädchen, die mit großen Augen zu der grellen Lichtquelle hinaufsahen. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß sich etwas verändert hatte; er konnte aber bei kei nem etwas Verdächtiges bemerken, und so war es ihm auch nicht möglich zu sagen, ob die Veränderung alle betraf. Er war aber si cher, daß zumindest Gloria, Rosi und Eleonora nicht mehr sie selbst waren. Die unheimliche Atmosphäre mußte wohl ihnen zuzuschrei ben sein. Er hatte sich mit Jeff Parker und Vali abgesprochen. Jeff war scho ckiert gewesen und hatte Dorians Methoden abgelehnt. Auf seine Mithilfe mußte verzichtet werden. Aber mit Vali konnte Dorian rechnen; sie war bereit, ihn in jeder Beziehung zu unterstützen. »Ich habe mich schon damit abgefunden, daß wir so lange kreu zen, bis die Treibstofftanks leer sind«, bemerkte Fabienne. »Ich fin de, wir sollten nicht länger Trübsal blasen und das Beste aus unserer Lage machen.« »Das meine ich auch«, sagte Rosi und schnalzte mit den Fingern.
»Amüsieren wir uns! Geronimo, hol deine Gitarre!« Dorian blickte zu Gloria. Noch vor einer Stunde hätte sie sich kein Lächeln abringen können, jetzt ließ sie sich von Rosi anstecken und wiegte sich in den Hüften. »Ja, Geronimo, mach ein bißchen Musik!« forderte sie. »Wenn ihr wollt.« Die Mädchen zerrten ihn lachend aus dem Liegestuhl und schubs ten ihn die Treppe hinunter. Es dauerte nicht lange, da kam er mit seiner Gitarre wieder. »Einen Flamenco! Rosi soll ihre Spezialität zeigen.« Der Tisch wurde abgeräumt. »Los, Hunter, helfen Sie uns, die Gasflaschen wegzuräumen!« ver langte Lisbeth. »Wir brauchen sie ohnehin nicht mehr.« Dorian und Geronimo trugen die schweren Gasflaschen beiseite. Die 25 Liter-Flasche mit den Schultergurten nahm Dorian an sich und spielte damit herum. Vali und Jeff kamen mit Tabletts an Deck, auf denen sich Brötchen türmten. »Was ist denn hier los?« wunderte sich Vali. »Es scheint fast so, als wolltet ihr ein Fest feiern.« »Erraten!« rief Gloria. Vali wollte das Tablett auf den Tisch stellen, aber Eleonora wehrte ab. »Nicht dort hin! Das ist Rosis Parkett. Stell die Brötchen auf den Boden! Wer denkt denn jetzt ans Essen?« Dorian bemerkte, daß Geronimo nach und nach alle elektrischen Kontakte entfernt und die Drähte zusammengerollt hatte. Nur noch zwei der Kabel mit den Isolationsgriffen, die direkt an den Genera tor angeschlossen waren, führten Strom. Sie lagen zusammengerollt neben dem Aufgang zum Ruderhaus. War es Zufall oder Absicht, daß den beiden Kabeln niemand zu nahe kam? Geronimo griff in die Saiten. Rosi sprang auf den Tisch und stampfte auf.
»Ich finde, Gloria und Eleonora sollten Rosi Gesellschaft leisten«, rief Dorian. »Ja«, stimmte Vali zu. »Nachdem ihr euch so in die Wolle gekriegt habt, solltet ihr die Versöhnung ordentlich begehen.« Fast alle stimmten begeistert zu. Nur Parker, der Dorians Absicht kannte, versuchte die drei Mädchen auseinander zu halten. »Miesmacher!« sagte Gloria und stieß Parker vor die Brust, der sie am Arm vom Tisch wegziehen wollte. »Partybremse«, meinte Eleonora lachend und schob ihn aus dem Weg. »Eßt!« forderte Vali die anderen auf. Jetzt standen alle drei Frauen auf dem Tisch. Eleonora und Gloria ahmten Rosis Haltung nach, die die Arme angewinkelt hatte, den einen in Hüfthöhe, den anderen über dem Kopf. Als Geronimo zu spielen begann, stampfte Rosi auf, ließ ihre Fin ger schnalzen und drehte sich mit kurzen, knallenden Steppschrit ten im Kreis. Eleonora und Gloria schauten ihr jede Bewegung ab und versuchten, es ihr gleichzumachen. Parkers Blick pendelte unruhig zwischen ihnen und Dorian hin und her. Er sah, wie sein Freund mit dem Gasschlauch spielte. Nie mand achtete darauf. Rosi begann mit rhythmischen Bewegungen ihr Kleid zu öffnen. Eleonora und Gloria machten es ihr nach, wenn auch nicht so ge konnt. Dorian dachte: Eine günstige Gelegenheit für die drei Dämonen, die Kleider abzulegen. In der Kombüse hatten sich die Kleider nicht ge funden, also mußten die Ungeheuer sie tragen. Vali klatschte in die Hände und wich dabei unauffällig in Rich tung der abseits liegenden Propangasflaschen zurück. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet. Parker hatte sie vorher noch nicht rau chen gesehen. Als sich ihre Blicke kreuzten, machte er mit dem Kopf verzweifelt
verneinende Bewegungen. Er wollte sie von dem Wahnsinn abhal ten, den sie vorhatte. Aber Vali reagierte überhaupt nicht. Die drei Frauen auf dem Tisch trugen nur noch Büstenhalter und Slips. Dorian zündete sich auch eine Zigarette an und blies den Rauch provozierend in Parkers Richtung, der ihm flehende Blicke zuwarf. Der Dämonenkiller war darüber verärgert. Jeff, dieser Idiot, konnte ihm noch den ganzen Plan vermasseln. Wenn die Frauen auf dem Tisch etwas bemerkten, dann war es mit dem Überraschungsef fekt vorbei. Und gerade darauf baute sich sein Plan auf. Nur so konnte er die Satansbrut entlarven. Er hoffte immer noch, daß nie mand außer den drei Frauen betroffen war. Sie legten jetzt unter den Begeisterungsrufen Geronimos und der anderen Mädchen die Büstenhalter ab. Parker lehnte wie erstarrt an der Wand des Ruderhauses. Geronimo schlug immer schneller in die Saiten seiner Gitarre. Vali hatte die Glasflaschen erreicht und setzte sich auf eine. Es war kein Zufall, daß einer der Leitungs schläuche in ihrer Reichweite lag. Dorian hatte die Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und paffte scheinbar andächtig. Er hantierte am Gasverschluß des Schlauches herum. Das leise Zischen des ausströmenden Gases ging im allge meinen Lärm unter. Die drei tanzenden Frauen legten auch ihre Dessous ab: Geronimo spielte den letzten Akkord. Alle – außer Dorian und Vali – applau dierten. Die drei Frauen auf dem Tisch fielen sich in die Arme. Obwohl sie sich ziemlich verausgabt hatten, zeigten sie keine Anzeichen von Er schöpfung. »Wie hat es Ihnen gefallen, Dorian?« fragte Rosi herausfordernd und wippte aufreizend mit ihren Brüsten. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und hielt sie an die Schlauchöffnung. Noch bevor sich das Gas entzündete und eine mächtige Stichflamme hervorschoß, mußte Rosi das Zischen gehört haben. Sie schrie auf, wollte ausweichen und vom Tisch springen.
Doch da erreichte sie schon die Feuerlohe und verzehrte ihren ma kellos scheinenden Körper. Eleonora und Gloria suchten hinter ihr Schutz und wollten nach hinten flüchten. Aber dort stand bereits Vali – wie ein Racheengel mit dem Flammenschwert. Sie richtete den Feuerstrahl auf Gloria, der es gelungen war, vom Tisch zu springen. Eleonora kam nicht dazu, den Tisch zu verlassen. Die Flammen hatten sie und Rosi eingekreist und fraßen sie auf. Parker sah ent setzt, daß die Frauen ihre Gestalt beibehielten. Dorian hat sich geirrt, dachte er erschüttert. Das waren keine Frag mente des Molochs, sondern Rosi, Gloria und Eleonora wie sie leib ten und lebten. Und Dorian verbrannte sie bei lebendigem Leib. Er kannte er denn nicht seinen Fehler? Warum hörte er mit diesem Wahnsinn nicht endlich auf? Und Vali? Warum kam nicht wenigs tens sie zur Vernunft? Jeff Parker wurde schwindelig. Er mußte sich an der Wand stüt zen. Seine Knie wurden weich, sein Magen rebellierte. Dorian konn te in seiner Besessenheit nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, zwischen Gut und Böse, zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn. Er mordete unschuldige Menschen! Doch plötzlich sah Parker, wie mit den Frauen eine Verwandlung vorging. Und er erkannte, daß er sich geirrt hatte, nicht Dorian. Die Körper zerflossen. Der Moloch hatte sich bis zuletzt in der Gewalt gehabt, um seine Gegner zu täuschen. Doch jetzt wurde der Schmerz, den ihm das sengende Feuer verursachte, zu groß. Er ver suchte in seiner Verzweiflung, wenigstens Teile von sich zu retten, indem er seine wahre Gestalt annahm. Er wurde ein schleimiges, zu ckendes und formloses Ungeheuer, das über den Tisch floß und so versuchte, der Flammenwand zu entrinnen. Aber Vali und Dorian waren auf den Posten. Sie ließen den Mo loch nicht entkommen. Sie verbrannten den letzten zuckenden Klumpen und ließen die Asche von den fauchenden Flammen in alle Winde verstreuen.
Die Vernichtung der Molochfragmente, die Rosis, Eleonoras und Glorias Rolle gespielt hatten, war aber nicht alles, was der Dämo nenkiller bezweckt hatte. Er wollte mit seiner Aktion auch heraus finden, ob es noch weitere Doppelgänger gab. Dorian hoffte, daß diese beim Anblick ihrer brennenden Artgenossen die Fassung ver loren und sich verrieten. Schließlich konnten sie nicht wissen, ob Dorian über sie Bescheid wußte und auch ihnen zuleibe rücken wür de. Und der Dämonenkiller hatte mit dieser Überraschungstaktik Erfolg. »Achtung!« schrie Parker, als er sah, wie die Gesichter zweier an derer Frauen zerflossen. Es war ein abscheulicher Anblick, wie sie zu wie von Lepra zer fressenen Fratzen wurden, in denen die Sinnesorgane versanken, um in der pulsierenden Masse aufzugehen. Alles lief so unheimlich rasch ab, daß Parker keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er wußte aber jetzt immerhin, daß Dorian mit seiner Maßnahme recht gehabt hatte. Jede Rücksicht war hier fehl am Platz. Er wollte sich nach einem stromführenden Kabel bücken, als sich von hinten eine Hand um seine Mitte legte, die sich weich und schleimig anfühlte. Er stürzte nach vorn und befreite sich aus dem Griff, bevor der Moloch durch die Kleider bis zu seiner Haut vordringen konnte. Als er einen Sicherheitsabstand geschaffen hatte, drehte er sich um. Auf der Treppe stand Cliff Montgomery. Dahinter kamen Dome nico und Doris. Sie hatten sich alle verändert, waren nur noch Kari katuren ihrer selbst. Cliff war nicht mehr die dürre Bohnenstange, sondern ein formloses Monstrum mit zwei schlenkernden Tenta keln. Doris' üppige Brüste waren zu geifernden Schlünden gewor den, die nach ihm schnappten. In ihrem verschwimmenden Gesicht zuckte es, aus ihren Augen tropfte eine Flüssigkeit. Aber das waren keine Tränen; es war Säure, die jegliche organische Masse zersetzte und absorbierte. Magensäure. »Ihr auch?« stammelte Parker und wich zurück. Als er sich umdrehte und sich einer Front von Schauergestalten
gegenübersah, da wußte er, daß alle seine Freunde Opfer des Mo lochs geworden waren. Parker wollte in die Richtung ausweichen, in der sich Dorian befand, doch Lisbeth – oder das, was sie nun war – verstellte ihm den Weg. Er mußte zur anderen Seite ausweichen, wo Vali immer weiter von den Ungeheuern zurückgedrängt wurde. Vali zog ihn am Arm an sich vorbei, damit sie für ihren Feuerstrahl freie Bahn hatte. Montgomery sprang hinter den Deckaufbauten hervor: Montgo mery mit den beiden Tentakeln, Montgomery mit dem heilen Fuß, der zuvor vom Moloch halb aufgefressen worden war. Jetzt war sein Körper aufgeblasen wie eine Puppe. Er begann sich auszudehnen, wurde breiter und immer flacher. Vali wollte die Flamme auf ihn richten, doch diese wurde immer kleiner, fiel in sich zusammen und erlosch schließlich ganz. Als sie an Montgomery vorbeiblickte, sah sie, wie Geronimo den Schlauch aus der Mündung der Propangasflasche riß. Jetzt waren Parker und Vali den Ungeheuern hilflos ausgeliefert. Dorian befand sich auf der anderen Seite, durch die Deckaufbauten von ihnen getrennt; er konnte ihnen nicht zu Hilfe kommen. Ent setzt sah Vali, wie sich die schleimige Masse über das Ruderhaus schlängelte, um ihnen in den Rücken zu fallen. Sie schienen endgül tig verloren.
Als die Ungeheuer die Masken fallen ließen, schulterte Dorian die Gasflasche und zog sich an der Reling entlang zurück. Er durch schaute die Absicht der Ungeheuer, ihn von Vali und Parker abzu drängen, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Er fürchtete im Grunde nicht für sich, denn erstens konnte er sich seiner Haut immer noch erwehren, und zweitens war er unsterblich. Er konnte diesen Körper zwar verlieren und so seine Identität als Dorian Hun ter einbüßen, aber sein Ich würde in einem neuen Körper erwachen. Allerdings befriedigte ihn die Vorstellung an ein Weiterleben nach
dem Tode nicht. Wenn es irgendwie ging, wollte er Dorian Hunter bleiben. Oder war dies genau das, worum es Asmodi wirklich ging? Wollte der Fürst der Finsternis ihm mehr nehmen als nur seine Identität? Wenn er bloß diesen Körper hätte töten wollen, hätte er dies schon längst tun können; schon in der Sekunde, als Dorian das Boot betrat und noch keine Ahnung von der Gefahr hatte, die auf ihn lauerte. Aber wenn Asmodi vorhatte, ihn ein für allemal zu töten, wie wollte der Fürst der Finsternis das anstellen? Dorian wich bis zum Vorschiff zurück. Dort sah er Vali und Parker von der anderen Seite herankommen. Sie waren von Geronimo, Montgomery und Fabienne umringt. Diese drei waren die einzigen, die ihr menschliches Aussehen teilweise behalten hatten. Die ande ren waren in sich zusammengefallen und hatten sich zu einem einzi gen monströsen Gebilde zusammengeschlossen. Dorian überlegte, ob es ihm gelingen würde, sich bis zum Beiboot durchzuschlagen, doch hatte er diesen Gedanken noch nicht vollen det, als er sah, wie das Beiboot zerfloß. Es verleibte sich dem Moloch ein. Er schauderte. Wenn er zusammen mit Vali und Parker in dem Beiboot geflüchtet wäre, dann wären sie erst recht rettungslos verlo ren gewesen. Überall lösten sich jetzt größere und kleinere Klumpen und streb ten der Hauptmasse des Molochs zu. Dorian sah, daß jede Planke, das Geländer der Reling und die Wände der Deckaufbauten mit ei nem dünnen Film aus der Körpermasse des Molochs überzogen wa ren. Jetzt, da die Tarnung nicht mehr nötig war, holte das Monstrum seine Teile zu sich. Sie vereinigten sich zu einem wahrhaft monströ sen Gebilde. Der Moloch wurde immer größer und größer, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Das Ungeheuer hockte auf den Deckauf bauten und schien auf Dorian herabzustarren, obwohl keinerlei Seh organe zu erkennen waren. Es hatte inzwischen eine Größe von drei Metern erreicht und war mindestens ebenso breit. Seine Körpermasse befand sich in ständi
ger Bewegung. Es schien Dorian, als müßte er sich gewaltsam dazu zwingen, sich nicht auf ihn zu stürzen, um ihn zu verschlingen. Warum tat der Moloch das nicht? Worauf wartete er noch? »Dorian!« schrie Vali plötzlich verzweifelt. Geronimo packte sie von hinten und stieß sie nach vorn. Parker wollte ihr zu Hilfe kommen, aber Montgomery beförderte ihn mit einem Schlag zu Boden. Dorian durchschaute noch nicht, warum sich der Moloch nicht be reits auf die beiden gestürzt hatte. Sicherlich wurde damit ein be stimmter Zweck verfolgt. Während Vali und Parker auf den Planken kauerten, veränderte Geronimo seine Gestalt. Dorian wartete gespannt, was dabei heraus kommen würde. Oben auf dem Ruderhaus hockte die Hauptkörper masse des Molochs. Dorian blickte wieder zu Geronimo hin, dessen Körper weibliche Formen anzunehmen begann. Dorian verstand den Sinn dieser Ver wandlung noch nicht. Er dachte fieberhaft nach, konnte sich aber nicht vorstellen, was Asmodi damit bezweckte. Da durchbrach ein Laut die gespenstische Stille. Dorian glaubte zu träumen. Doch dann wiederholte sich der Laut. Es war das Tuten ei nes Frachters – zumindest vermutete Dorian, daß es sich um ein Frachtschiff handelte. Und das bedeutete die Rettung. Er blickte aufs Meer hinaus und sah in der Dunkelheit Positions lichter. Sie kamen näher. »Haltet aus!« rief er seinem Freund und seiner Gefährtin zu, die die Schiffssirene ebenfalls gehört haben mußten, sich aber nicht rüh ren konnten, weil sie an allen Seiten von dem Moloch eingekreist waren. Er hoffte nur, daß Vali und Parker so lange am Leben blie ben, bis das Schiff sie entdeckte. Um die Aufmerksamkeit des Schif fes auf die Jacht zu lenken, schickte Dorian eine hohe Flammensäule in den Himmel. Als er wieder zu Vali und Parker hinblickte, stellte er fest, daß Ge
ronimo die Metamorphose beendet hatte. Dort stand jetzt eine Frau in altertümlichen Kleidern. Sie war unglaublich hübsch; das Gesicht so edel wie das einer Gräfin. Dorian wunderte sich, warum er gerade diesen Vergleich gesucht hatte, doch er war passend. Die Frau hatte etwas Aristokratisches an sich. Sie trug eine reich bestickte Marlotte, wie man sie im sechzehn ten Jahrhundert oder früher getragen haben mochte. Über ihren Schultern wölbten sich große Ärmelpuffe. Die Frau kam Dorian ir gendwie bekannt vor, obwohl er sicher war, sie vorher noch nie ge sehen zu haben. Er überlegte fieberhaft, wen sie darstellen sollte, kam aber zu keinem Ergebnis. Während die Fremde völlig reglos dastand, verwandelten sich auch Fabienne und Montgomery. Zuerst hatte es den Anschein, als wollten sie ihre menschliche Gestalt ganz aufgeben, um sich der Hauptmasse des Molochs einzuverleiben, doch nachdem sie auf eine Größe von etwa einem Meter zusammengeschrumpft waren, nah men auch sie wieder menschliche Gestalt an. Kinder! durchzuckte es Dorian. Und irgendwie wußte er, daß diese Prozedur etwas Entscheidendes, Endgültiges herbeiführen sollte. Aus Fabienne und Montgomery waren ein Mädchen und ein Jun ge geworden. Auch sie trugen eine Tracht, die dem ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert entstammen mochte, und wie die Frau ka men ihm auch die beiden Kinder vertraut vor. »Nicolas!« hauchte da die Frau mit wehmütiger und von Schmerz gezeichneter Stimme. »Papa!« sagten das Mädchen und der Junge wie aus einem Mund. Da begriff Dorian die Zusammenhänge, und die Wahrheit traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war die Frau des Baron Nico las de Conde, das Mädchen und der Junge waren ihre Kinder. Und der Baron de Conde war niemand anderes als er selbst gewesen. Vor Dorians Augen verschwamm alles, die Wirklichkeit verzerrte sich, und er stürzte in einem Wachtraum mehr als vierhundertfünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit. Die Erinnerung an die schreckli
chen Erlebnisse war so deutlich, als sei alles erst gestern geschehen. Dorian liebte und bedauerte die Frau und Kinder des Barons wie seine eigene Familie. Deshalb war der Schmerz in ihm unsagbar groß, als der Moloch nun ihre Gestalt annahm. Das Ungeheuer wollte ihn aber nicht nur verhöhnen, dahinter steckte viel mehr. Es war eine Teufelei, wie nur Asmodi sie mit Hilfe der Schwarzen Magie aushecken konnte. Ein Teufelskreis, in den Dorian eindringen mußte, ob er nun wollte oder nicht. Er hatte diese Frau und die beiden Kinder schon einmal getötet – und nun mußte er es wieder tun. Es gab keine Alternative, denn die drei, von denen Dorian wußte, daß es Teile des Molochs waren, bedrohten Vali und Jeff Parker. Wenn Dorian nicht einschritt, würden sie seine Gefähr ten in Stücke reißen. Und doch zögerte er. Damals war er unsterblich geworden, indem er – ohne es zu wissen – seine Frau und seine Kinder zum Tode ver urteilt hatte. Nun stand diese Unsterblichkeit auf dem Spiel! Wenn er die Frau, das Mädchen und den Jungen erneut tötete, dann hob er möglicherweise auch die Wirkung der magischen Kraft auf, die ihm das ewige Leben brachte. Er wußte nicht, ob es wirklich so war, aber nur so ergab das Verhalten des Molochs einen Sinn. Er rang lange mit sich und seinem Gewissen, bevor er sich dazu entschloß, das Andenken an die Toten den Lebenden zu opfern. Und so stellte er sich dem Moloch mit fauchender Gasflamme entge gen. Er mußte sich vor Augen halten, daß es sich nicht wirklich um seine Frau und seine Kinder aus seinem Leben als Nicolas de Conde handelte, und dennoch krampfte sein Magen sich zusammen, als er die drei Gestalten in den Flammen einen stummen Totentanz auf führten sah, wie er gespenstischer nicht sein konnte. Aber als dann die Kräfte des Molochs nachließen, und er nicht mehr das Aussehen der von Dorians einst geliebten Geschöpfe beibehalten konnte und zu einer zuckenden, zischenden Masse zerfloß, die lichterloh wie Zunder brannte – da überkam Dorian eine teuflische Lust, diese Brut der Hölle auszurotten, brennen zu sehen, bis nichts mehr da
von übrig war als ein paar schwarze, verkohlte Klumpen. Aber konnte deshalb auch Asmodi triumphieren? War sein schlimmster Feind jetzt so sterblich und leicht verwundbar wie jeder andere Mensch? Dorian wußte es nicht. Erst wenn er das nächste Mal starb, würde er herausfinden, ob es für immer war, ob seine Seele dann nicht mehr in einen anderen Körper überwechseln würde. »Was ist denn nur passiert?« fragte Jeff Parker verständnislos. »Mir ist, als sei ich aus einem Alptraum erwacht.« »Der Alptraum beginnt erst jetzt«, behauptete Dorian und schickte einen Flammenstrahl zu den Deckaufbauten hinauf, wo sich die Res te des Molochs zusammenballten. Das Ungeheuer war rasend vor Hunger und Wut. Zu lange hatte es seine Begierden schon zügeln müssen. Nun konnte es ihnen end lich freien Lauf lassen und seinen Heißhunger an den drei schutzlo sen Menschengeschöpfen stillen. »Wir müssen nur so lange durchhalten, bis das andere Schiff hier ist«, rief Dorian seinen Gefährten zu. »Ziehen wir uns zum Heck zu rück. Dort können wir uns besser verteidigen und dem Moloch noch am ehesten trotzen.« Während Dorian den Moloch mit dem Feuerstrahl in Schach hielt, liefen sie die Reling entlang zur Plicht. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, schrie Dorian den anderen zu: »Öff net die Hähne der Gasflaschen und werft sie in den Maschinenraum hinunter!« »Wäre es nicht besser, wir würden gemeinsam versuchen, das Un geheuer zu vernichten?« fragte Parker. »Sieh dir dieses Monster an!« sagte Dorian. »Das können wir auch nicht mit vereinten Kräften besiegen.« Der Moloch hatte sich über die gesamte Schiffsbreite ausgedehnt und bildete einen vier Meter hohen Wall. Immer wieder schossen aus der pulsierenden Körpermasse Tentakel hervor. Dorian konnte
die Angriffe des Molochs bisher immer wieder abwehren, doch wußte er, daß er auf verlorenem Posten stand. Irgendwann würde er unaufmerksam sein, und der Moloch würde die Situation scho nungslos nutzen. »Dorian! Das Beiboot!« rief Vali in diesem Moment. »Es gibt kein Beiboot«, stieß Dorian hervor und bestrich die vor rückende Masse des Molochs mit dem Flammenstrahl, so daß das Ungeheuer wieder zurückweichen mußte. »Das Beiboot war nur eine Attrappe und in Wirklichkeit ein Teil des Molochs.« Er hörte, wie Parker eine Gasflasche in den Maschinenraum hin unterschleuderte. »Nein, das Beiboot ist noch da!« widersprach Vali. »Es hängt an ei nem Seil und wird von der Jacht mitgezogen.« »Ist das wahr?« Er konnte es nicht glauben. Und doch, wenn Vali es sagte, mußte es stimmen. Wahrscheinlich war das Beiboot ur sprünglich an seinem Platz gewesen, dann aber von den Doppelgän gern zu Wasser gelassen worden. »Das war die letzte Flasche«, sagte Parker. »Dann holt das Beiboot ein!« befahl Dorian. »Wir müssen blitz schnell überwechseln, wenn die Jacht in die Luft fliegt.« »Du willst meine Jacht sprengen?« rief Parker entsetzt. »Nur so können wir den Moloch vernichten«, erwiderte Dorian und wich weiter zurück. »Holt das Boot ein! Schnell! Viel Zeit haben wir nicht mehr.« »Wir haben es gleich geschafft«, keuchte Parker. »Und was dann?« »Haltet das Tau kurz! Das Boot muß ganz nahe sein, damit wir runterspringen können.« Draußen auf dem Meer blitzte etwas auf, dann erhellte ein gebün delter Lichtstrahl die Dunkelheit. »Auf dem anderen Schiff setzen sie Suchscheinwerfer ein«, sagte Vali. »Ich möchte die Gesichter sehen, wenn sie den Moloch entde cken.«
»Geschafft!« rief Parker. »Hast du ein Messer?« fragte Dorian. »Klar.« »Dann springt! Ich komme gleich nach. Werft schon den Außen bordmotor an! Wenn ich bei euch bin, dann kappe das Tau, Jeff!« Dorian hörte in seinem Rücken, wie Vali und Parker über die Re ling kletterten und gleich darauf den Aufprall eines Körpers auf dem Beiboot, dem sofort ein zweiter folgte. Seine Aufmerksamkeit hatte nur für einen Augenblick nachgelassen, doch das wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Dem Moloch war auf der lin ken Seite der Durchbruch gelungen. Dorian sah gerade noch, wie sich die zuckende Masse auf ihn stürzen wollte, und richtete den Flammenstrahl auf das Ungeheuer. Es wich zurück. Teile von ihm fingen Feuer und setzten die Planken in Brand. Dorian sah entsetzt, wie sich das Feuer zum Maschinenraum hin weiterfraß. Wenn auch nur ein Funke hinunterfiel, würde das entströmende Propangas Feuer fangen. Ohne lange zu überlegen, warf Dorian den Gasbehälter von sich. Der Schlauch ringelte sich wie eine flammenspeiende Schlange über den Boden. Er sprang über die Reling. Noch bevor er im Beiboot landete, setzte das Tuckern des Außen bordmotors ein. Parker hatte das Tau bereits gekappt. Dorian wurde zurückgeschleudert, als das Boot anruckte. Als er sich wieder erho ben hatte und zur Jacht zurück blickte, stand das Heck im Licht des Suchscheinwerfer. Vali gab einen Aufschrei von sich und klammerte sich instinktiv an Dorians Arm fest. »Mein Gott!« entfuhr es Parker. »Laß es nicht geschehen!« Dorian wußte, was er meinte. Die Ausläufer des Molochs hatten die Reling erreicht und quollen nun über die Bordwand hinunter. Wenn nur ein Teil dieses Ungeheuers das Meer erreichte und unter tauchte, dann waren sie verloren, denn sie hatten außer Parkers Messer keine Waffe, und damit konnten sie gegen dieses Ungeheuer nichts ausrichten.
»Laß es nicht geschehen!« wiederholte Parker wie im Gebet. Dann kam es zur Explosion. Der Moloch war noch einen Meter über der Wasseroberfläche, als aus der Jacht eine Stichflamme in die Höhe schoß. Die Bordwand wurde auseinandergerissen. Mit den Trümmerstücken des Schiffes stoben auch die brennenden Fragmen te des Molochs nach allen Richtungen auseinander. Asmodis Unge heuer war nicht mehr.
Sie wurden im Morgengrauen von einem türkischen Frachter aufge griffen. Jeff Parker erzählte dem Kapitän eine Geschichte, die recht plausibel klang und die er sich auch schon in Hinblick auf die Ver handlungen mit der Versicherung zurechtgelegt hatte: Er hätte sich mit Freunden auf einer Kreuzfahrt befunden, die Mannschaft fiel aus, so daß man eine Ersatzmannschaft anheuern mußte, durch de ren Versagen es dann zu einer Überhitzung der Dieselmotoren und zur Explosion gekommen war. Außer ihm und seinen beiden Beglei tern hätte niemand die Katastrophe überlebt. In Izmir blieben Vali und Dorian so lange an Bord des Frachters, bis Parker mit gefälschten Pässen erschien, so daß sie ganz offiziell mit Parkers Privatflugzeug nach Haiti fliegen konnten.
Viertes Buch
Das Dämonenauge
von Neal Davenport
»Ich will nicht verbrennen!« schrie George Calbot. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wälzte sich wild auf dem Bett hin und her. Die Augen hatte er weit aufgerissen. »Nein! Ich will nicht sterben!« Er bäumte sich auf und ballte die Hände zu Fäusten. Schwester Debra hatte noch nie ein so von Angst und Entsetzen gezeichnetes Gesicht gesehen. »Beruhigen Sie sich, Mr. Calbot!« rief sie. Sie drückte auf die Notruftaste, und Sekunden später betrat Dr. Ann Burton das Krankenzimmer. Sie trug einen bodenlangen Kittel, eine Haube und eine Gesichtsmaske. Mit einem Blick sah sie, was los war. Der Patient stieß schrille Schreie aus. Er hatte einige der Schläuche abgerissen, die ihm Blut, Traubenzucker und Imuran zu führten. Die beiden Nasenschläuche hatte er durchgebissen. »Er fing plötzlich zu toben an«, sagte Schwester Debra. »Rufen Sie augenblicklich Dr. Harvey und Dr. Richardson!« ord nete die Ärztin an. Calbots Bewegungen wurden langsamer. Mit Mühe konnte die Ärztin seinen Mund öffnen und die durchbissenen Schläuche entfer nen. Der Patient rang verzweifelt nach Luft. Blitzschnell schob sie das Sauerstoffgerät näher ans Bett heran, packte den Schlauch und schob ihn in Calbots rechtes Nasenloch. Das Gerät pumpte nun Luft in Calbots Lungen, und sein Körper entkrampfte sich etwas. Seine Hände zitterten, und er wollte etwas sagen. »Ruhig bleiben, Mr. Calbot«, sagte die Ärztin. Er schloß die Augen. Harvey und Richardson stürmten ins Zimmer. Sie waren wie Ann Burton gekleidet. »Gott sei Dank hat er sich beruhigt!« sagte Harvey. »Wir müssen sofort alle Schläuche wieder anschließen.« Calbot tobte erneut heftig. »Er darf sich jetzt nicht bewegen!« schrie Richardson. »Halten Sie ihn fest, Dr. Burton!«
Die Ärztin drückte den Tobenden aufs Bett zurück, und die Kran kenschwester half ihr dabei. Harvey und Richardson arbeiteten schweigend. Calbot versuchte weiter um sich zu schlagen. Unver ständliche Laute kamen über seine Lippen. Harvey verstärkte die Zufuhr von Blut, Aldurin und Kalium. Erleichtert atmeten die Ärzte auf, als sich Calbot endlich beruhigte und einschlief. »Was war los?« fragte Harvey. »Er hat plötzlich geschrien«, sagte Debra. »Er tobte wie ein Ver rückter. Sein Gesicht verzerrte sich. So etwas habe ich noch nie gese hen. Er schrie, daß er nicht verbrennen wolle.« »Alpträume?« fragte Richardson. »Möglich«, antwortete Harvey. »Aber wir haben ihm so viele Be täubungsmittel verabreicht, daß er normalerweise schlafen sollte.« »Bei Calbot ist einiges seltsam«, meinte Dr. Burton. »Erinnern Sie sich daran, daß er bei der Herztransplantation für einige Sekunden erwachte und zu schreien begann? Dann ging das Licht aus, und sei ne Hirntätigkeit setzte acht Sekunden lang aus.« »Hm«, sagte Harvey nachdenklich. »Er schrie etwas von einem Dorian Hunter. Und wir sollten mit dem Trommeln aufhören. Er müßte Dorian Hunter suchen.« »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Richardson. »Vor einigen Wochen wurde hier in London ein gewisser Dorian Hunter verdäch tigt, einige Leute bestialisch ermordet zu haben. Es hat sich zwar sei ne Unschuld herausgestellt, aber er blieb verschwunden.« Harvey hob die Schultern. »Das hat alles nicht viel zu bedeuten. Viel wichtiger ist jetzt, daß Calbot auf keinen Fall noch einmal zu to ben beginnt. Ab sofort bleibt einer von uns mit der Schwester im Zimmer. Diesmal ist es noch gutgegangen, aber wenn er sich noch mals die Schläuche herausreißt …« Richardson und Ann Burton nickten. »Ich bleibe«, sagte die Ärztin. Harvey kontrollierte ein letztes Mal den Herzschlag und Blut
druck des Patienten und verließ dann mit Richardson das Zimmer. Ann Burton setzte sich neben das Bett. Sie blickte George Calbot an. Er war etwa fünfzig Jahre alt, ein einfacher Dockarbeiter, dem vor wenigen Stunden das Herz entfernt und durch ein neues ersetzt worden war. Er war mittelgroß und hatte breite Schultern, aber jetzt war er abgemagert und sein Gesicht bleich und eingefallen. Während die Schwester sich den Schweiß von der Stirn wischte, überprüfte Dr. Burton die Meßgeräte. Calbot war jetzt in einen tiefen Schlaf gefallen. Jede Stunde mußten Blutproben für das Labor ent nommen werden, und alle zwei Stunden wurde seine Lage verän dert, um einer Lungenentzündung vorzubeugen. Für Ann Burton war eine Herztransplantation nichts Neues mehr; sie hatte bei fünf Operationen assistiert. Zwei Stunden später schlug Calbot die Augen auf. Sein Blick war starr. Er versuchte zu sprechen, doch die Schläuche, die durch seine Nase in den Rachen führten, erschwerten den Versuch. Nur unver ständliche Laute kamen über seine Lippen. Es dauerte einige Sekun den, bis er einen klaren Gedanken fassen konnte. Vor sich sah er eine geisterhafte Gestalt, ganz in Weiß; nur die dunkelblauen Augen waren zu sehen. Ich bin tot, dachte er. Die Gestalt sagte etwas. Calbot war müde. Er verstand die Worte, begriff aber ihren Sinn nicht. »Haben Sie mich verstanden, Mr. Calbot?« Er schüttelte den Kopf. »Die Operation ist gelungen.« Welche Operation? fragte er sich. Er erinnerte sich an Trommeln, an eine Schlange, an Brandgeruch, an eine Suche in dunkler Nacht, Stimmen und Geschrei. Und dann war er verbrannt. Er bewegte sich und begann abermals um sich zu schlagen. »Beruhigen Sie sich, Mr. Calbot!« sagte die weiße Gestalt. Eine zweite kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam drückten sie den Toben
den aufs Bett zurück. »Alles wird gut, Mr. Calbot. Sie haben ein neues Herz. So beruhi gen Sie sich doch!« Ein neues Herz? Er gab seinen Widerstand auf. Und dann erinnerte er sich: an seine langjährige Krankheit, die ihn gezwungen hatte, sei nen Beruf aufzugeben, die Schmerzen, seine Einwilligung zur Ope ration. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Er mußte einen Mann töten. Er schloß die Au gen und versuchte sich zu erinnern. »Dorian Hunter«, sagte er un deutlich. Dr. Burton und die Krankenschwester wechselten einen raschen Blick. Calbot schlief wieder ein.
Die Zeit, in der die Presse über eine Herzoperation berichtete, war seit vielen Jahren vorüber. Calbots Fall allerdings brachte es durch die seltsamen Umstände zu einer Meldung in einigen Presseagentu ren. Routinemäßig rief Terry Carr von U.P.I. im Royal Hospital Chelsea an und ließ sich mit Dr. Frank Harvey verbinden, der die Transplantation geleitet hatte. Carr war bei U.P.I. für medizinische Gebiete zuständig. Er war recht gut bei den Ärzten des Spitals be kannt. Er mußte einige Minuten warten, bis er endlich mit Dr. Har vey sprechen konnte. »Gibt es irgendwelche Komplikationen, Doktor?« fragte er, nach dem er die Begrüßung hinter sich gebracht hatte. »Keine. Der Puls geht normal. Nur ein gelegentliches Flimmern der Herzvorhöfe. Keine Abstoßungszeichen.« »Sieht also ganz so aus, als würde sich Calbots Körper nicht gegen das neue Herz wehren.« »Sie sagen es. Ich bin sehr zufrieden. Ich kann nur hoffen, daß kein Rückschlag kommt.«
»Und wie verhält sich der Patient?« »Er schläft. Nur einmal fing er zu toben an. Sprach ziemlich wirr.« »Was sagte er da?« fragte Carr uninteressiert. »Er erwähnte einen Namen. Dorian Hunter. Er …« »Dorian Hunter? Sind Sie sicher, daß er diesen Namen genannt hat?« »Ganz sicher. Aber das hat wohl nichts zu sagen.« »Hm, vielleicht haben Sie recht. Ich werde wahrscheinlich noch einmal persönlich bei Ihnen vorbeisehen.« Carr legte auf und steckte sich eine Zigarette an. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten, der ihm und allen ande ren Reportern gesagt hatte, daß sie ihm melden sollten, wenn ir gendjemand auf den Namen Dorian Hunter stoßen würde. Er rief seinen Boß an. Nur zehn Minuten später wußte Trevor Sullivan, der Observator Inquisitor, daß George Calbot während der Herztransplantation Do rian Hunters Namen erwähnt hatte und machte sich sofort auf den Weg. Der Bentley blieb vor dem Spital in der Royal Hospital Road ste hen. Trevor Sullivan und Coco Zamis stiegen aus. Es war ein heißer Juliabend. Seit zwei Wochen stöhnte London unter unerträglicher Hitze. Der Himmel war wolkenlos, und es bestand keine Hoffnung auf eine baldige Abkühlung. »Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen«, sagte Sullivan, als sie das Spital betraten. Er war ein kleiner, schmächtig wirkender Mann. Sein Gesicht war durchschnittlich und sein Alter schwer zu schätzen. Er trug einen einfachen Sommeranzug, der wie angegos sen saß. Coco Zamis war ungewöhnlich groß, gutaussehend und hätte je derzeit als Fotomodell arbeiten können. Das pechschwarze Haar fiel glatt über ihre Schultern. Das Gesicht mit den dunkelgrünen Augen war überaus anziehend. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Sommer
kleid, das ihre aufreizenden Rundungen betonte. Obwohl sie Do rians Geliebte war, hatte auch sie seit geraumer Zeit nichts mehr von ihm gehört. Die Ereignisse um die Schwarze Familie hatten sein Ver trauen in die Inquisitionsabteilung des Secret Service erschüttert. Er hatte sich abgesetzt, ohne Coco oder Sullivan über seine Pläne in Kenntnis zu setzen. Sullivan blickte auf die Uhr. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Der Portier verstellte ihnen der Weg. »Wir sind angemeldet – bei Dr. Harvey.« Der Portier nickte. »Dr. Harvey erwartet Sie. Erster Stock, Zimmer 145.« Sie stiegen die breite Treppe hoch, die in den ersten Stock führte. Es war ruhig. Eine Krankenschwester kam ihnen entgegen und zeig te ihnen den Weg. »Ich fürchte, daß wir umsonst gekommen sind«, sagte Coco. »Ich kann mir nicht vorstellen, was dieser George Calbot mit Dorian zu tun haben soll.« »Ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll«, sagte Sullivan, der als Observator Inquisitor der Inquisitionsabteilung vorstand. »Aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen. Ich habe übrigens kein Ver ständnis dafür, daß Hunter sich nicht meldet. Er muß doch wissen, daß er rehabilitiert ist.« Coco schwieg. Sie hatte wenig Lust, dieses Thema mit Sullivan zu diskutieren. Sie hatten es in den vergangenen Wochen einige Male durchgesprochen. Der Korridor schien endlos lang zu sein. Coco verabscheute den Krankenhausgeruch, der sich schwer auf ihre Lungen legte. Endlich hatten sie die Tür erreicht, auf der in Goldbuchstaben Dr. Frank Har vey stand. Der O. I. klopfte an. Sekunden später wurde die Tür ge öffnet. »Kommen Sie herein!« sagte Harvey. Trevor Sullivan kannte er schon seit einigen Jahren, Coco sah er
das erstemal. Er warf ihr einen bewundernden Blick zu, den sie aber nicht beachtete. »Tut mir leid, daß wir Sie stören, Doktor«, sagte der O. I. »Das ist meine Mitarbeiterin, Coco Zamis.« Harvey nickte Coco zu und deutete auf eine Sitzgarnitur in der Ecke des kleinen Zimmers. Sie setzten sich. »Mir ist völlig unverständlich, was der Geheimdienst mit George Calbot zu tun hat«, sagte Harvey. »Ich muß gestehen, daß ich mehr als überrascht war, als Sie mich anriefen.« »Das kann ich mir denken.« Sullivan lächelte. »Erzählen Sie mir al les, was Sie über George Calbot wissen.« Harvey griff nach einer Karteikarte. »Calbot ist fünfzig Jahre alt. Bis vor zwei Jahren war er Dockarbeiter. Er mußte seine Arbeit auf geben, da er einen Herzfehler hatte. Bei der Untersuchung ergab sich, daß er an geschädigten Herzkranzgefäßen, Nierenversagen, Lungenstauungen und beginnender Wassersucht litt. Ich untersuch te ihn vor einigen Wochen selbst. Der Befund der Angiokardiogram me war erschreckend. Der größte Teil des rechten Herzkammermus kels war zerstört, das Herz riesenhaft vergrößert und in der Funkti on eingeschränkt. Es pumpte nur noch drei Liter Blut pro Minute. Normal sind etwa fünfzehn Liter. Ich könnte Ihnen noch eine Reihe von anderen Gebrechen aufzählen. Nur eine Herztransplantation war möglich. Wir schickten Calbot nach Hause. Er wurde bald dar auf ohnmächtig und zu uns eingeliefert. Es sah ziemlich böse aus. Überraschenderweise erholte er sich nach einigen Tagen, doch uns war allen klar, es konnte sich nur um eine vorübergehende Besse rung handeln. Calbot war rettungslos verloren. Schließlich willigte er ein, daß wir eine Herztransplantation durch führen durften. Heute war es soweit. Wir setzten ihm das Herz eines jungen Mannes ein, der am Morgen bei einem Autounfall ums Le ben kam.« »Erzählen Sie weiter«, sagte Sullivan, als Harvey schwieg. Der Arzt sah müde aus. Sein jungenhaftes Gesicht war bleich, und
die blauen Augen schimmerten trübe. Er strich sich langsam mit der rechten Hand über das kurzgeschnittene, blonde Haar. Dann steckte er sich eine Zigarette an. »Kurz nach fünfzehn Uhr begannen wir mit der Operation. Alles verlief ganz normal. Ich hatte eben Lungen arterie und Aorta durchtrennt und schob einen Katheder in die Ko ronar-Gefäße, da kam es zu einem ungewöhnlichen Vorfall. Calbot war betäubt, doch plötzlich öffnete er die Augen und begann zu schreien. Es waren nur zwei Sätze: Hört mit dem Trommeln auf! und Ich muß Dorian Hunter suchen. Dann schloß er die Augen wieder, und wir konnten mit der Transplantation fortfahren. Plötzlich ging das Licht aus. Die Notaggregate schalteten sich ein. Wir konnten später nicht feststellen, wie es zu dem Stromausfall gekommen war. Es war nur der Operationssaal davon betroffen gewesen. Calbots Hirntätigkeit kam für acht Sekunden zum Stillstand. Für diese Zeit war er klinisch tot.« »Hm«, machte der O. I. nachdenklich. »Das ist allerdings recht seltsam. Gab es schon früher solche Vorfälle bei Transplantationen?« »Niemals. Wir haben die Transplantation erfolgreich abgeschlos sen und den Patienten ins Zimmer 150 gebracht. Kurz vor neunzehn Uhr kam es zum nächsten Vorfall. Calbot fing plötzlich zu toben an. Dabei hatte er so viele Betäubungsmittel in sich, daß ein Elefant ru hig geschlafen hätte. Aber er tobte und schrie. Er wolle nicht ver brennen, schrie er, und daß er nicht sterben wolle. Schließlich beru higte er sich und schlief ein. Etwas später erwachte er erneut und sagte nur einen Namen: Dorian Hunter.« Coco hatte die Augen halb geschlossen. »Haben Sie eine Erklärung für diese Vorfälle, Doktor?« fragte der O. I. »Nein«, sagte Harvey und drückte seine Zigarette aus. »Mögli cherweise starke Alpträume.« »Das glaube ich nicht«, sagte Coco fast unhörbar. »Was soll es dann sein?« fragte Harvey verärgert. Sullivan warf Coco einen strengen Blick zu. »Können wir den Pati
enten sprechen?« »Nein«, sagte Harvey entschieden. »Wir müssen mit ihm sprechen«, sagte Coco entschlossen und stand auf. »Wenn es sein muß, warte ich so lange, bis es möglich ist.« Sie wechselte mit dem Arzt einen bösen Blick. »Ihr Dickkopf wird Ihnen nichts nützen. Ich bin der Arzt. Und ich sage, daß …« »Bitte! Glauben Sie mir, es ist äußerst dringend, daß ich mit Calbot spreche.« Ihr Lächeln konnte Berge versetzen. Harvey knabberte an den Lippen, stand auf und griff nach dem Telefon. »Wie geht es Calbot?« fragte er in die Muschel. Er hörte ei nige Zeit zu. Schließlich sagte er: »Gut. Sollte er aufwachen, dann geben Sie mir sofort Bescheid.« Er legte den Hörer auf und sah Coco an. »Zufrieden?« »Danke. Sie sind sehr freundlich.«
Sie mußten mehr als zwei Stunden warten, bis Harvey endlich den Anruf bekam, daß Calbot bei Bewußtsein sei und sprechen könne. Coco und der O. I. schlüpften in lange weiße Umhänge und setz ten sich sterile Hauben und Gesichtsmasken auf, dann erst durften sie das Krankenzimmer betreten. Calbot lag auf dem Rücken. Sein Gesicht war weiß. Die Nasen schläuche waren entfernt worden. Er öffnete die Augen und starrte die vermummten Gestalten an. Seine Erinnerung war zurückge kehrt. Er wußte, wo er sich befand, und war glücklich, daß er jetzt ohne Anstrengung atmen konnte. Nur seine Brust schmerzte. Coco setzte sich ans Bett und studierte Calbots Gesicht. Sein Blick flacker te. Er blinzelte unentwegt. »Wie fühlen Sie sich?« »Danke«, sagte Calbot leise. »Ich kann wieder atmen, und das ist herrlich.«
Coco nickte. »Während der Operation haben Sie einen Namen er wähnt.« »Einen Namen?« »Ja. Sie sagten, daß Sie Dorian Hunter suchen müßten.« »Dorian Hunter?« Er schloß die Augen. Die Erinnerung an die un heimlichen Geschehnisse in einer fremdartigen Welt, die er für das Totenreich gehalten hatte, kehrten zurück. Die Menschen waren schwarz gewesen und hatten eine seltsame Sprache gesprochen, aber es war wohl nichts anderes als ein Traum gewesen. Anderer seits war ihm alles so real vorgekommen. »Kennen Sie Dorian Hunter, Mr. Calbot?« »Ich glaube schon«, sagte er unsicher, »aber ich bin mir nicht si cher. Alles vermischt sich. Ich war in einem Land, weit weg. Es war exotisch.« »Und dort haben Sie Hunter kennengelernt? Können Sie ihn mir beschreiben?« Calbot nickte und schloß die Augen. »Er ist groß«, sagte er lang sam, fast zögernd. »Mindestens ein Meter neunzig. Sein Haar ist dicht. Schwarz. Er trägt einen Schnurrbart, dessen Spitzen nach un ten gezwirbelt sind.« Coco blickte den O. I. an. Die Beschreibung stimmte. »War Hunter allein?« »Er war in Begleitung. Ein anderer Mann war bei ihm. Ich glaube, er hieß Parker. Und eine junge Frau. Sie war sehr hübsch und nann te sich Vali.« »Erzählen Sie!« drängt Coco.
Zuerst hörte George Calbot das Trommeln. Es schien aus unendli cher Ferne zu kommen; dumpf, gleichmäßig, primitiv und monoton. Es wurde immer lauter und eindringlicher. Er erinnerte sich wieder an den Operationssaal, die Ärzte und Krankenschwestern in den
weißen Kitteln, den durchdringenden Geruch, seine Angst und die Schmerzen. Er versuchte die Augen zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Hysterisches Geschrei und das rhythmische Stampfen nack ter Füße vermischten sich mit dem Lärm der Trommeln. Er hatte Angst. Die Operation ist mißlungen, schoß es ihm durch den Kopf. Er war in Irland geboren und ein gläubiger Katholik. Ich bin im Fegefeu er, dachte er. Er lag auf dem Rücken, spürte seinen Körper, konnte sich aber nicht bewegen. Das Trommeln und Schreien dröhnte schmerzhaft in seinen Ohren. Brandgeruch hing in der Luft und legte sich schwer auf seine Lungen. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen, und diesmal gelang es ihm. Langsam hob er die Lider. Er lag neben ei nem hochlodernden Holzfeuer, um das halbnackte dunkelhäutige Gestalten tanzten. Sie wiegten sich in den Hüften und warfen im Rhythmus der Trommelschläge den Kopf in den Nacken. Der Feuer schein blendete ihn, und er schloß die Augen. Nun konnte er auch die Hände bewegen. Er krallte die Finger in den weichen Boden, öff nete die Augen zu einem schmalen Spalt, und langsam gewöhnten sich seine Augen an den Feuerschein. Wo bin ich?, fragte er sich. Das Fegefeuer hatte er sich immer an ders vorgestellt. Eine der Gestalten erregte seine Aufmerksamkeit. Es war ein hü nenhafter Schwarzer, der einen weißen Lendenschurz trug. Sein Oberkörper war mit Erdfarben beschmiert, und über den Kopf hatte er eine Holzmaske gestülpt, die mit grellen Farben ange malt war. In der rechten Hand hielt er eine Kupferglocke, die er hef tig schüttelte. Um seinen Hals lag eine dünne Schlange, die erregt den Kopf hin und her bewegte. Im Hintergrund erblickte Calbot zwei rotgekleidete Frauen, zwi schen denen sich ein Korb befand. Der Mann mit der Maske blieb plötzlich stehen und hob die Hände. Das Trommeln verstummte. Eine junge Schwarze, nur mit einem bodenlangen Rock bekleidet, brach vor dem Feuer zusammen. Sie wand sich auf dem Boden und
wälzte sich auf den Rücken. Weißer Schaum stand vor ihren wulsti gen Lippen, und ihr Körper zuckte krampfartig. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, wühlte mit ihren Händen in den krausen Haa ren und schrie nochmals. Der Mann mit der Maske blieb vor ihr ste hen. Die Schlange ringelte sich um seinen linken Arm. »Mein Mann ist in meinen Körper gekommen«, schrie die Frau. Calbot wunderte sich, daß er die Sprache verstand. Im Klang äh nelte sie dem Französischen, war aber mit anderen Sprachelementen vermischt. Der Maskierte hob einen Arm, und die Schlange wand sich nun um sein Handgelenk. Der häßliche Schädel und die gespaltene Zun ge näherten sich der Frau. »Ich spüre, daß er in mir ist!« schrie sie. »Er wird mir einen Sohn schenken.« Die Trommeln fingen erneut zu schlagen an. Schreie wurden aus gestoßen, und die Menge tanzte wieder. Die Trommler ritten auf den riesigen Trommeln, die aus den Schäften von Gummibäumen geschnitzt waren. Darüber waren Ziegenhäute gespannt, die mit den Handballen bearbeitet wurden. Der Mann mit der Holzmaske stand mit gespreizten Beinen über der tobenden Frau. Die Schlange stieß zu und verbiß sich in ihrer linken Brust. Die Frau heulte vor Entzücken auf. Der Maskierte sprang schließlich zur Seite, und die Frau wimmerte leise. Ihr ver zerrtes Gesicht entspannte sich, und ihre Bewegungen wurden lang samer. Einmal bäumte sie sich noch auf, dann blieb sie ruhig liegen. Calbot setzte sich auf. Die Tanzenden erstarrten, dann fielen sie zu Boden und berührten mit den Stirnen den Boden. Der Mann mit der Holzmaske kam langsam näher. Die hochlodernden Flammen ließen die grelle Maske gespenstisch erscheinen. Hinter den Augenschlit zen funkelten dunkle Augen. »Es ist geschafft«, sagte der Mann. »Ich bin Loa Marassa, der größ te Papa-loa. Du bist von den Toten auferstanden, Edoux. Und du hast eine große Aufgabe zu erfüllen.«
Calbot stand schwankend auf. Er wollte sprechen, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Langsam blickte er an sich herunter und erschrak. Er hatte den Körper eines Eingeborenen und trug einfache Leinenhosen, geflochtene Schuhe und ein grelles Baumwollhemd. Fassungslos starrte er seine gewaltigen schwarzen Fäuste an. Er schloß die Augen. Er war ein einfacher Mann und konnte sich nicht erklären, was mit ihm geschehen war. Irgendwann hatte er einmal etwas von Seelenwanderung gelesen. Vielleicht war er während der Operation gestorben, und seine Seele war in den Körper des Einge borenen geschlüpft. »Sieh mich an, Edoux!« sagte Loa Marassa. Mit Edoux bin wahrscheinlich ich gemeint, dachte Calbot und öffnete die Augen. »Steht auf!« schrie der Papa-loa, und die anderen gehorchten. »Edoux ist ein unsterblicher Zombie. Meine Beschwörung war er folgreich. Damballa hat meine Rufe erhört und den toten Körper be seelt.« Er streckte eine Hand aus, und die Schlange biß Calbot in die rech te Wange. Er spürte keinen Schmerz. Erschrocken zuckte er zurück. »Der Biß der Schlange kann dich nicht töten, Edoux«, sagte Loa Marassa. »Du kannst nicht sprechen. Du bist stumm. Damballa hat dich für eine wichtige Aufgabe auserwählt. Du mußt die Loa Valiora aus den Klauen ihres Entführers befreien. Sie befindet sich bei Dori an Hunter, den du töten wirst. Hast du mich verstanden, Edoux?« Calbot nickte, obwohl er den Kopf hatte schütteln wollen. Eine unsichtbare Kraft hatte von seinem Körper Besitz ergriffen. Es schien ihm, als würde er keinen eigenen Willen mehr besitzen und von einer fremden Macht beherrscht werden. »Du gehst zum Flughafen Bowen Field in der Nähe von Port-auPrince«, sagte Loa Marassa. »Dort nimmst du die Spur auf. Sie wird dich zur Loa Valiora führen. Du mußt sie befreien. Damballa will es. Und du wirst Dorian Hunter töten. Geh, Edoux!« Der Zauberer voll führte mit beiden Händen kreisende Bewegungen, immer rascher.
»Geh und führe deine Aufgabe aus, Edoux!« Calbot ging um das Feuer herum, dann verschwand er in der Dun kelheit. Er wandte sich nicht um. Ein unbestimmbarer Zwang trieb ihn voran. Er versuchte vergeblich, sich dagegen aufzulehnen. Er sollte Dorian Hunter töten, von dem er heute das erste Mal gehört hatte, und die Loa Valiora mußte er befreien, wer immer das auch sein mochte. Nach wenigen Minuten erreichte er einen schmalen Feldweg. Er fing zu laufen an. Einmal kam er an einem kleinen Dorf vorbei. Ein alter Mann blickte auf, senkte aber sofort den Blick und bekreuzigte sich. Eine Stunde später blieb er vor dem Flughafengebäude stehen. Er ging am Abfertigungsgebäude vorbei und verschmolz mit der Dunkelheit. Hundert Meter weiter überkletterte er mühelos einen Zaun. Geduckt schlich er über eine Landepiste und näherte sich ei nem Hangar, dessen Tor offenstand. Einige Männer arbeiteten im Hangar. Calbot starrte eine schneeweiße DC-9 an. Er schloß die Augen und schnupperte wie ein Hund. Mehr als eine Minute blieb er ruhig ste hen, dann drehte er sich um und verließ rasch den Flughafen. Er lief durch schmale Straßen und überquerte Plätze. Port-au-Prince lag hinter ihm. Calbots Gedanken waren völlig konfus. Immer wieder kämpfte er gegen den unheimlichen Zwang an, der seinen Körper weitertrieb, aber seine verzweifelten Bemühungen führten zu kei nem Erfolg. Er rannte eine breite, unbeleuchtete Straße entlang, die zu einem feudalen Bungalow führte. Einige Fenster waren erleuch tet, ein mannshoher Maschendrahtzaun säumte das Grundstück ein. Calbot blieb stehen, preßte sich gegen den Stamm einer Königspal me und beobachtete das Haus. Vor dem Tor standen zwei Farbige. Sie unterhielten sich leise und rauchten. Calbot wartete mehr als zehn Minuten, dann setzte er sich in Bewegung. Lautlos wie eine Katze rannte er auf das Haus zu. Vor dem Zaun blieb er stehen. Noch hatten ihn die beiden Männer nicht entdeckt. Vorsichtig schlich er näher. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von den
Wächtern. Einer der Männer wandte plötzlich den Kopf und erblick te ihn. Calbot rannte los. Mit zwei gewaltigen Sprüngen stand er vor den beiden. Einer der Männer zog aus dem Gürtel eine Pistole. Cal bot ballte die rechte Faust und schlug zu. Der Mann versuchte dem Schlag auszuweichen, reagierte aber zu spät. Die gewaltige Faust traf seinen Kehlkopf. Der Mann riß die Augen auf und fiel gegen das Tor. Die Pistole entfiel seiner kraftlos gewordenen Hand. »Hilfe!« schrie der zweite Mann. Mehr konnte er nicht sagen, da sich Calbots Hände um seinen Hals legten und zudrückten. Seine Augen quollen aus den Höhlen, als Calbot den Druck verstärkte. Bewußtlos brach der Mann zusam men. Calbot öffnete das Tor. In diesem Augenblick flammte ein Schein werfer auf. Der scharfe Lichtstrahl wanderte auf das Tor zu und er faßte ihn. »Stehenbleiben!« schrie eine tiefe Stimme. Er achtete nicht darauf. »Stehenbleiben, sonst schieße ich!« Der Lichtstrahl folgte ihm. Der erste Schuß krachte. Die Kugel bohrte sich in Calbots Brust. Er taumelte, doch er spürte keinen Schmerz. Die zweite Kugel traf ihn oberhalb der Nasenwurzel. Die Wunde schloß sich augenblicklich; nicht ein Tropfen Blut quoll her aus. »Das ist ein Zombie!« schrie der Mann hinter dem Scheinwerfer. »Ein Untoter! Niemand kann ihn töten.« Calbot stürmte auf das Haus zu. Er entriß dem Mann den Schein werfer und schlug ihn damit nieder. Ein zweiter Mann wollte die Flucht ergreifen, doch Calbot erwischte ihn an der Schulter. Er hob den Mann hoch und warf ihn gegen die Wand, dann betrat er das Haus. Zwei Männer und eine junge Frau kamen ihm entgegen. »Ein Zombie!« Die Frau hatte den Ruf ausgestoßen. Sie war klein und zierlich; ein
Mischling mit einem voll erblühten Körper und dem unschuldigen Gesicht eines Kindes. Ihre Augen, fast so dunkel wir ihr pech schwarzes Haar, waren weit aufgerissen. Einer der Männer reagierte blitzschnell. Er war hochgewachsen und trug einen Schnurrbart, dessen Enden nach unten gezwirbelt waren. »Rasch, Vali und Jeff!« rief er. »Zurück ins Zimmer!« Calbot lief auf die Gruppe zu, doch er kam um eine Sekunde zu spät. Die Tür schloß sich vor seiner Nase. Calbot sprang dagegen. Das Holz knirschte. Er trat einige Schritte zurück und nahm Anlauf. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Tür. Krachend sprang sie auf, und Calbot flog in das dahinterliegende Zimmer. Er richtete sich auf. Der Raum war leer. Er durchquerte ihn, blieb vor einer Tür ste hen, die ebenfalls abgesperrt war, und brach auch diese auf. Wieder war er zu spät gekommen; das Zimmer war leer, eines der Fenster stand offen. Calbot stieg aufs Fensterbrett. Fünfzig Meter vom Haus entfernt standen das Mädchen und der Mann, der Jeff genannt wurde. Vom zweiten Mann war nichts zu sehen. Calbot sprang zu Boden und lief auf die beiden zu. Nach einigen Schritten blieb er stehen und wand te den Kopf herum. Der zweite Mann kam eben um das Haus gelau fen. In der rechten Hand hielt er eine Flasche. »Paß auf, Dorian!« rief die Frau. Das muß dieser Dorian Hunter sein, dachte Calbot. Er wandte sich um. Hunter war nur noch wenige Schritte entfernt. Er hob die Hand, und die Flasche flog durch die Luft. Calbot duckte sich, doch die Flasche krachte ge gen seinen Kopf. Er hörte den Knall, dann hüllte ihn eine Stichflamme ein. Er stieß einen entsetzten Schrei aus. Seine Hose fing zu brennen an. Er versuchte die Flammen zu löschen. Hunter schleuderte einen Plastiksack nach ihm, der Calbots Schulter traf. Das Plastiksäckchen platzte, und es stank nach Benzin, das über seinen Körper rann und den Flammen reich lich Nahrung bot. Calbot warf sich zu Boden und wälzte sich hin und her. Ich will nicht verbrennen, dachte er. Ich will nicht sterben.
Die Krankenschwester wischte behutsam den Schweiß von George Calbots Stirn. Er atmete rasch. »Ein seltsamer Traum«, sagte er schwach. »Allerdings«, meinte Coco, die genau wußte, daß es kein Traum gewesen war. »Jetzt reicht's aber«, sagte Harvey ungehalten. »Sie müssen jetzt schlafen, Mr. Calbot.« Coco und der O. I. standen auf. Sie gingen aus dem Krankenzim mer und blieben auf dem Gang stehen. Coco nahm die Haube und die Gesichtsmaske ab. »Was halten Sie von dieser Geschichte?« fragte Sullivan. »Dorian schwebt in höchster Gefahr.« Ihr Gesicht war bleich. Sie schob sich das Haar aus der Stirn und schlüpfte aus dem Kittel. »Calbot ist ein Medium. Er kann jederzeit den Körper eines anderen Toten beseelen.« »Sie glauben, daß an Calbots Traum etwas Wahres …« »Es war kein Traum«, sagte Coco fest. »Sie nehmen also an, daß sein Geist einen Toten zum Leben er weckt hat? Das kommt mir doch sehr unwahrscheinlich vor.« »Wie gut wissen Sie über Voodoo Bescheid?« »Nur sehr wenig«, gab der O. I. zu. »Voodoo ist eine Religion, die die früheren Sklaven aus Dahomey nach Haiti gebracht haben und die jetzt auch viele christliche Ele mente enthält. Calbot erwähnte Damballa, den Schlangengott. Au ßerdem sprach er von einem Papa-loa; das ist ein männlicher Pries ter. Ich vermute, daß er zu einem Zombie gemacht worden ist. Und ich bin überzeugt, daß Dorian sich zusammen mit Jeff Parker und Valiora auf Haiti befindet.« Harvey verließ das Krankenzimmer und blieb vor Coco und dem
O. I. stehen. »Ein unheimlicher Traum, den uns Calbot da erzählt hat«, sagte der Arzt. Er sah Coco an, und sein Lächeln starb. »Sie glauben doch nicht, daß daran auch nur ein Funke …« »Calbot weiß über zu viele Dinge Bescheid, die er einfach nicht wissen kann«, sagte Coco. »Miß Zamis«, sagte Harvey, »wir leben im 20. Jahrhundert. Ver gessen Sie das nicht!« Coco gab darauf keine Antwort. Es war sinnlos, mit Harvey zu diskutieren. Sie hatte auch nicht die Absicht, ihn zu überzeugen, daß Calbots Erzählung kein Traum war.
Dorian Hunter blieb vor der verkohlten Leiche des Zombies stehen. Die Flammen waren gelöscht worden. »Das war knapp«, keuchte Jeff Parker und wandte sich schau dernd ab. Er spürte, wie seine Magennerven zu rebellieren began nen. »Wir sind kaum zwei Stunden hier, und schon wieder passie ren unerklärliche Dinge. Der Kerl hätte uns alle töten können. Du aber hüllst dich einfach in Schweigen! Ich will endlich wissen, was gespielt wird!« Hunter legte eine Hand auf Parkers Schulter. Gemeinsam gingen sie zum Haus zurück. »Tut mir leid, Jeff. Ich kann es dir nicht erzäh len.« »Hat es etwas mit Vali zu tun?« Hunter nickte. Einer der Schwarzen, den Parker verpflichtet hatte, kam ihnen ent gegen. Dorian nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln, und fragte: »Ist jemand ernsthaft verletzt worden, Dembu?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe den Zombie erkannt«, sagte er leise. »Es war Edoux. Er ist vor einigen Tagen gestorben. Seine Leiche wurde gestern geraubt.« Dembus Englisch war überra schend gut.
»Glauben Sie an Voodoo?« Dembu nickte. Dorian wußte über Voodoo Bescheid. Er hatte einige Berichte von Forschern gelesen, die behauptet hatten, daß es tatsächlich gelungen sei, Tote zum Leben zu erwecken. Er hatte diese Berichte skeptisch aufgenommen, da er dem primitiven Zauberer nicht diese Fähigkei ten zutraute, aber es war durchaus denkbar, daß irgendein Mitglied der Schwarzen Familie, das über gewaltige magische Kräfte verfüg te, dahintersteckte. »Ich glaube, ich weiß, wer Edoux in einen Zombie verwandelt hat«, sagte Dembu fast unhörbar. Er blickte sich rasch um, dann beugte er sich zu Hunter vor und sagte leise: »Loa Marassa. Er ist der mächtigste Papa-loa der Insel. Er verfügt über unglaubliche Kräfte. Er vollbringt Wunder, und viele Leute beten ihn als neuen Gott an … Ich will Ihnen helfen, Sir.« Hunters Mißtrauen erwachte. »Wie soll das vonstatten gehen?« »Ich werde Ihnen erklären, weshalb ich Ihnen helfen will. Es ist wegen der Loa Valiora.« Hunter runzelte die Stirn. Er wußte, was Loa bedeutete; es hieß Heilige oder Heiliger. »In meiner Familie verehren wir besonders die Loa Valiora«, er zählte Dembu weiter. »Wir haben ein Bild von ihr zu Hause. Und die Frau, die bei Ihnen ist, Mr. Hunter, sieht wie ihre Zwillings schwester aus. Und auch sie heißt Valiora.« Hunter nickte nachdenklich. Vali war vor mehr als zweihundert Jahren von Haiti verschwunden. Möglicherweise wurde sie seit ih rem Verschwinden unter den Einwohnern als Heilige verehrt. »Hier sind Sie nicht mehr sicher«, sagte Dembu. »Sie müssen fort von hier.« Jeff Parker schüttelte unentwegt den Kopf. Das Gespräch zwischen Hunter und Dembu kam ihm unwirklich vor. Bis jetzt war Voodoo nichts anderes als eine Touristenattraktion für ihn gewesen; daß
mehr dahinterstecken konnte, hatte er nicht geglaubt. »Und wo sollen wir Ihrer Meinung nach hingehen?« »In mein Dorf.« »Warum sind wir hier nicht sicher?« schaltete sich Parker ein. »Der Loa Marassa könnte jederzeit wieder einen Toten erwecken«, raunte Dembu. »Der kann uns aber auch in Ihrem Dorf aufspüren.« »Ich werde mir Ihren Vorschlag überlegen«, sagte Hunter. »Ich werde mit Vali darüber sprechen.« Dembu verbeugte sich. »Schaffen Sie die Leiche fort!« sagte Parker, und Dembu nickte. Sie traten ins Haus. Vali saß im Wohnzimmer. Sie wandte ihnen den Rücken zu. »Laß uns allein, Jeff«, bat Hunter. Parker wollte eine unwillige Antwort geben, überlegte es sich aber, hob die Schultern und verzog das Gesicht. Er ärgerte sich, daß er sich von Hunter hatte überreden lassen, nach Haiti zu fahren. Wütend verließ er das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Vali wandte den Kopf. Sie kam Hunter verändert vor. Seit ihrer Ankunft auf Haiti war sie schweigsam geworden. Sie schien völlig abwesend zu sein. Als sie das Flugzeug verlassen hatte, war sie für wenige Minuten fröhlich wie ein kleines Mädchen gewesen, doch als sie Port-au-Prince erreichten, hatte sich ihre Freude gelegt. Mit großen Augen hatte sie die Veränderungen registriert. Vor zweihun dert Jahren war die Stadt noch ein winziges Dorf gewesen. Hunter setzte sich neben sie. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, das ihr Haar und die dunklen Augen wunderbar zur Geltung brachte. Die Hände hatte sie im Schoß verschränkt. Gleichgültig blickte sie Hun ter an. »Vielleicht kannst du mir eine Erklärung für das Auftauchen des Zombie geben, Vali?«
»Keine Ahnung«, sagte sie leise. »Sicherlich steckt Asmodi dahin ter.« »Das nehme auch ich an. Sagt dir der Name Loa Marassa etwas?« Sie schüttelte den Kopf. »Marassa heißt Zwilling. Das würde be deuten, daß er entweder einen Zwillingsbruder hat oder aber zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten gesehen wurde.« »Ich habe mit einem der Eingeborenen gesprochen. Er sagte, daß wir in sein Dorf kommen sollen. Dort seien wir sicher.« »Das glaube ich nicht. Wir sind nirgends sicher.« Das war auch Hunters Meinung. »Du hast mir versprochen, daß du mir, sobald wir auf Haiti sind, sagen würdest, welches Pfand du von Asmodi hast.« »Ich kann es jetzt noch nicht sagen. Es ist nicht der richtige Zeit punkt dafür.« »Du mußt es mir sagen«, drängte er und griff nach ihren Händen. »Mit dem Pfand können wir Asmodi erledigen, und der Schrecken hat endlich ein Ende.« Sie entzog ihm ihre Hände und stand auf. »Ich habe den Eindruck, daß du gar nicht interessiert bist, Asmodi auszuschalten«, sagte er hart. Er sprang auf, packte Valis rechten Arm und zog sie an sich. »Das stimmt nicht.« Ihre Stimme klang schrill. Ihre Augen waren weit aufgerissen und flackerten geheimnisvoll. »Ich stehe auf deiner Seite und ich will mich rächen. Zweihundert Jahre lang war ich As modis Gefangene. Wie kannst du da sagen, daß ich nicht daran in teressiert bin, ihn zu vernichten?« »Dann sag mir, wo das Pfand steckt!« fauchte er. »Wir müssen von hier fort«, sagte sie und riß sich los. »Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir in Dembus Dorf fahren. Wo liegt es?« »Das habe ich ihn nicht gefragt. Ich werde ihn holen.« Er verließ das Zimmer und trat in den Garten hinaus. Die Männer,
die Jeff Parker als Leibwächter verpflichtet hatte, waren eben dabei, ein Grab für den Zombie zu schaufeln. Hunter winkte Dembu her an, der die Schaufel fallen ließ. »Kommen Sie bitte mit ins Haus.« Vali stand vor dem Fenster. Sie drehte sich langsam um. Dembu sah sie verlegen an, senkte rasch den Kopf und bekreuzig te sich. »Was soll das?« fragte Vali überrascht. »Dembus Familie verehrt eine Heilige ganz besonders«, erklärte Dorian und beobachtete sie dabei ganz genau. »Sie nennen diese Heilige Loa Valiora. Dembus Familie hat ein Bild dieser Heiligen. Sie könnte deine Zwillingsschwester sein.« Valis Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Sie atmete rascher. »Eine Heilige? Ich werde …« Verlegen brach sie ab. Hunter grinste. Er konnte sich ihre Gedanken vorstellen. Es mußte ein eigenartiges Gefühl sein zu erfahren, daß man als Heilige ver ehrt wurde. »Wo liegt Ihr Dorf, Dembu?« »In der Nähe von Leogane.« Er hielt noch immer den Blick gesenkt und wagte nicht, Vali anzusehen. »Wir fahren hin«, sagte sie.
Zwanzig Minuten später waren sie mit dem Jeep unterwegs, den Jeff Parker gemietet hatte. Es war weit nach Mitternacht. Dembu saß hinter dem Steuer. Neben ihm hatte Jeff Parker Platz genommen, während Vali und Dorian auf den Rücksitzen saßen. Bis Leogane ka men sie rasch vorwärts. Die Straße war relativ gut ausgebaut. Nach einigen Kilometern überholten sie einen bunt gestrichenen Autobus, der voll mit Eingeborenen war. Kein Auto kam ihnen entgegen. Dembu war ein guter Fahrer, der alles aus dem Jeep herausholte.
Anfangs hatten sie einige belanglose Worte gewechselt, doch seit ei nigen Minuten schwiegen sie; jeder hing seinen Gedanken nach. Der Dämonenkiller warf Vali gelegentlich einen Blick zu. Die junge Frau war von ihm abgerückt. Sie war abweisend und kalt wie ein Fisch. Hunter rief sich noch einmal alles ins Gedächtnis, was er über Vali wußte. Es war nicht viel. Ihre rasche Einwilligung, in Dembus Dorf zu fahren, hatte ihn stutzig gemacht. Er dachte an Olivaros War nung und seinen nachdrücklichen Hinweis, Vali sofort zu töten, und beschloß, sie nicht aus den Augen zu lassen. »In wenigen Minuten sind wir in Leogane«, sagte Dembu. Links und rechts von der Straße standen Kokospalmen. Der Him mel hatte sich bedeckt. Vom Meer her wehte ein leichter Wind, der immer stärker wurde. Jeff Parker brummte. Ihm paßte die Fahrt überhaupt nicht, aber seine Abenteuerlust hatte letztlich gesiegt. Er war neugierig, was sie erwarten würde, und er wollte endlich wis sen, weshalb Hunter nach Haiti gekommen war. Die ersten Häuser von Leogane tauchten auf. Kein Mensch war auf den Straßen zu se hen. Die kleinen Häuser waren dunkel. Im Zentrum waren noch ei nige Lokale geöffnet. Touristen unterhielten sich lautstark auf dem Hauptplatz. »Ich habe Hunger«, sagte Parker. »Gibt es um diese Zeit noch et was zu essen?« »Nein«, sagte Dembu. »Um diese Zeit nicht mehr. Aber bei mir zu Hause bekommen Sie Essen.« Er fuhr rasch weiter. Sie ließen Leogane hinter sich. »Jetzt wird die Straße ganz schlecht«, warnte er. »Sie müssen sich festhalten.« Hunter hatte in seinem Leben schon einige schlechte Straßen gese hen, aber so eine noch nie. Die Räder des Jeep drehten alle paar Mi nuten durch. Manchmal mußten er und Parker den Wagen sogar an schieben, um ihn aus den gewaltigen Furchen herauszubekommen. Sie benötigten fast eine Stunde, bis sie das Dorf erreichten. Es be stand aus zwei Dutzend primitiven Holz- und Ziegelhäusern. Vor
einem der Häuser hielt Dembu den Wagen an. »Das ist das Haus meiner Eltern«, sagte er stolz. Parker unterdrückte eine spöttische Bemerkung. Sie stiegen aus. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen, und der Mond stand hoch am Himmel. Er spendete genügend Licht. »Ich verständige meinen Vater«, sagte Dembu und ging ins Haus. »Ich wette, daß es drinnen von Wanzen und Läusen nur so wim melt«, sagte Parker mißmutig. »So eine blödsinnige Idee, mitten in der Nacht in dieses Drecksnest zu fahren.« »Du übertreibst mal wieder gewaltig«, meinte Dorian und lud das Gepäck aus. Vali blickte sich mit blitzenden Augen um. Sie war in so einem Dorf aufgewachsen. Jetzt bin ich wirklich nach Hause gekommen, dachte sie zufrieden. Sie fühlte sich gelöst und heiter. Dembu kehrte in Begleitung eines alten Farbigen zurück, der Lei nenhosen und ein weißes Hemd trug. Sein Gesicht war faltig und das Kraushaar weiß. »Das ist mein Vater. Er ist einverstanden, daß Sie bei uns bleiben.« Hunter trat auf den Alten zu und streckte seine rechte Hand aus. »Das ist nett von Ihnen«, sagte er freundlich und lächelte gewin nend. Der Mann drückte Hunters Hand, dann fiel sein Blick auf Vali, und seine Miene veränderte sich. Er riß die Augen auf. »Herr im Himmel!« Er sprach Kreolisch, dieses seltsame Gemisch aus Franzö sisch, Spanisch und Afrikanisch. »Die Loa Valiora!« Er warf sich zu Boden, bekreuzigte sich und zitterte vor Aufregung am ganzen Leib. »Steh auf«, sagte Vali. »Ich bin keine Heilige. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut.« Er rappelte sich hoch, wagte aber noch immer nicht, das Mädchen anzusehen. Dembu führte sie ins Haus. Es war überraschend sauber. Die Mö bel waren einfach, wahrscheinlich selbst gezimmert. Es gab kein
elektrisches Licht. Dembu hielt eine Petroleumlampe in der rechten Hand. Er betrat einen Raum, in dem ein gewaltiger Tisch und einige Sessel standen. Vor einer Wand blieb er stehen und hob die Lampe hoch. Der flackernde Lichtschein fiel auf ein großes Bild, das in ei nem roten Holzrahmen steckte. Dorian kam neugierig näher. Es gab keinen Zweifel, das Bild stellte Vali dar. Das gleiche Haar, die glei chen Augen, der gleiche volle Mund und die gleiche kleine Nase. »Sieht tatsächlich so aus, als hätte Vali für den unbekannten Maler Modell gesessen«, ließ sich Parker vernehmen. »Wie alt ist dieses Bild?« »Unsere Familie hat es seit mehr als fünfzig Jahren in Besitz«, sag te Dembu. Parker lachte. »Dann ist es natürlich unmöglich, daß Vali das Mo dell war. Vielleicht ihre Mutter?« Vali starrte das Bild verzückt an und neigte sich vor, doch plötz lich zuckte sie zurück. Sie erkannte den Ohrring, der vom rechten Ohr herabbaumelte. Es war ein Silberreifen mit einer ungewöhnli chen Verzierung. Eine Schlange wand sich um ein Auge. Sie kannte diesen Ohrring. Sie hatte ihn vor zweihundert Jahren getragen. »Ich zeige Ihnen nun die Zimmer«, sagte Dembu. Hunter war das Zusammenzucken Valis nicht entgangen. Er be trachtete das Bild eingehender, doch ihm fiel nichts Besonderes auf. »Was hast du?« fragte er Vali leise. »Der Ohrring«, sagte das Mädchen. »Ohrring?« fragte Hunter verwundert. »Ich sehe keinen Ohrring.« »Aber ja!« sagte Vali. »Am rechten Ohrläppchen.« Hunter trat näher ans Bild heran, doch so sehr er sich auch bemüh te, er sah keinen Ohrring. »Du mußt dich irren«, sagte er. »Da ist kein Ohrring auf dem Bild.« »Ich irre mich nicht«, erklärte Vali laut und fragte die anderen: »Seht ihr den Ohrring?« Parker schüttelte den Kopf, und Dembu trat erschrocken zurück.
»Ihr müßt ihn sehen!« sagte Vali schrill. »Ein Silberring mit einer Verzierung.« Hunter blickte wieder Vali an. Ihr Gesicht war verzerrt. »Du kennst das Bild besser als wir alle, Dembu«, stellte Hunter fest. »Siehst du einen Ohrring?« Er schluckte. »Nein«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ich sehe kei nen. Aber …« Er schwieg und stellte die Lampe auf den Tisch. »Was?« »Es ist seltsam«, sagte Dembu stockend. »Es gab schon andere Leute, die diesen Ohrring zu sehen glaubten, und das war immer ein schlechtes Omen. Danach geschah stets etwas Schreckliches.« »Aberglaube«, schnaubte Parker verächtlich. »Jetzt sehe ich den Ohrring nicht mehr«, sagte Vali verwundert. »Er ist verschwunden.« Dembu bekreuzigte sich, zitterte und murmelte unverständliche Gebete. Es dauerte einige Minuten, bis er sich von seinem Schrecken erholt hatte. Dann zeigte er ihnen die Zimmer. Sie waren winzig. Betten gab es keine, nur Strohsäcke. Parker hatte Hunger. Dembu versprach ihm, etwas Eßbares zu bringen. Dorian und Vali blieben in ihrem Zimmer. Die Tür war nicht abzu sperren. Dorian schloß das Fenster und zog den Vorhang vor. Dem bu hatte eine Lampe gebracht und auf einem Tisch abgestellt. Dori an schob die Strohsäcke nebeneinander. Sie kleideten sich aus und krochen unter die dünnen Decken. Hunter löschte die Lampe. Vali schmiegte sich an ihn. Ihr weicher nackter Körper weckte sei ne Lust. »Ich brauche dich, Dorian«, flüsterte sie mit bebender Stim me. »Halt mich fest und laß mich nie mehr los!« Ihr Körper glühte. Ihr verzweifeltes Verlangen verdrängte Dorians düstere Gedanken, aber die Vereinigung ihrer Leiber löste die Span nung nicht. Valis Kopf lag an seiner Schulter. Sie war eingeschlafen, aber Dori an lag wach. Er lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen, griff nach
den Zigaretten und steckte sich eine an. Der Vorfall mit dem Ohr ring kam ihm in den Sinn, aber er kam zu keinem neuen Ergebnis. Schließlich drückte er die Zigarette aus und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er konnte kaum eine Stunde geschlafen haben, als er hochschreck te. Im Zimmer war es dunkel, doch die Tür stand offen. Er tastete nach Vali. Der Strohsack war leer, die Decke zurückgeschlagen. Er stand auf, schlüpfte in seine Hose und trat auf den Gang hinaus. In diesem Augenblick kam ihm Vali entgegen. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie ging an ihm vorbei, und Dorian folgte ihr. »Vali«, sagte er leise, doch sie hörte ihn nicht. Sie öffnete die Haustür und trat auf die Straße. Vor dem Haus blieb sie stehen und hob den Kopf. Die Hände preßte sie in den Nacken und starrte den Mond an. Dorian trat neben sie, legte die rechte Hand um ihre Hüften und zuckte zurück. Ihr Körper fühlte sich eisig an. »Vali, was ist mit dir los?« Er bekam keine Antwort. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Der Mond spiegelte sich in ihren Augen. Sie wirkte wie in Trance. Einige Minu ten lang blieb sie stehen, dann seufzte sie leise, drehte sich herum und verschwand im Haus. Sie betrat ihr Zimmer, legte sich auf den Strohsack und zog sich die Decke über den Körper. Dorian legte sich neben sie. »Vali«, sagte er wieder und berührte sie. Jetzt fühlte sich ihr Körper nicht mehr kalt an. Sie brummte im Schlaf. Er zog seine Hand zurück. Was hatte das nun zu bedeuten? Sie war im Haus umhergegangen. Bei wem war sie gewesen? Sie hatte wie hypnotisiert gewirkt. Steckte da auch Asmodi dahinter? Es wurde langsam hell. Seine Lider waren bleiern, und er fühlte sich unendlich müde.
Coco Zamis war mit dem O. I. in die Jugendstilvilla in der Baring Road gefahren. Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, einige Bücher zu Rate gezogen und alles über Voodoo und Seelenwande rung gelesen. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, Dorian zu helfen. Sie hatte dem O. I. vorgeschlagen, sie nach Haiti fliegen zu lassen, doch er hatte abgelehnt. Er schien überzeugt zu sein, daß Dorian sich selbst helfen konnte. Außerdem wollte er sich nicht einschalten, da er nicht wußte, weshalb sich der Dämonenkiller in Haiti aufhielt. Und das Eingreifen des Secret Service konnte unter Umständen alles zerstören. Ruhelos wanderte sie im Zimmer auf und ab. Sie war sicher, daß innerhalb der nächsten Stunden George Calbots Geist wieder einen Toten auf Haiti beseelen würde, und sie ahnte, wer dahintersteckte. Es konnte nur Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, sein. Nur ein besonders mächtiger Dämon war in der Lage, den Geist eines Lebenden über Tausende von Kilometern zu versetzen. Sie war ziemlich sicher, daß Asmodi von Calbots Geist während der wenigen Sekunden Besitz ergriffen hatte, in denen seine Gehirntä tigkeit zum Stillstand gekommen war. Sie fertigte einige Dämonenbanner an, die sie um Calbots Bett auf stellen wollte. Möglicherweise gelang es ihr, die Verbindung zwi schen Calbot und Asmodi so zu unterbrechen. Der O. I. hatte veranlaßt, daß im Spital ein Zimmer für sie reser viert worden war. Sie packte die Dämonenbanner ein, und einer der Exekutor-Inquisitoren fuhr sie ins Krankenhaus. Dr. Harvey wehrte sich mit Händen und Füßen, als Coco die selt samen Dämonenbanner in Calbots Zimmer aufstellen wollte, aber als sie ihn leicht beeinflußte, gab er sofort nach. George Calbot schlief friedlich. Sein Zustand war überraschend
gut. Er hatte die Herztransplantation ausgezeichnet überstanden. Coco befestigte die Dämonenbanner rund um das Bett und legte einen unter Calbots Polster. Dann verließ sie das Krankenzimmer. Sie hatte das Nebenzimmer bekommen. Dort legte sie sich aufs Bett und versuchte zu schlafen, was ihr nach einiger Zeit auch gelang. Kurz vor fünfzehn Uhr wurde sie von einer Krankenschwester ge weckt. »Mr. Calbot ist jetzt wach, Miß Zamis.« Sie schlüpfte rasch in den Kittel, legte die Gesichtsmaske an und betrat Calbots Zimmer. Er lag entspannt auf dem Rücken. Sein Ge sicht hatte Farbe bekommen, seine Augen leuchteten. »Wie geht es Ihnen, Mr. Calbot?« erkundigte sich Coco. »Mir geht es gut«, sagte er fröhlich. »Die Fortschritte sind ungewöhnlich«, sagte Dr. Harvey, der neben Coco stand. »Das neue Herz funktioniert anstandslos. Bisher stellten wir noch keine …« Calbot schloß die Augen. Er stöhnte und hob die Hände. Dann riß er die Augen wieder auf. »Was ist los?« fragte Coco entsetzt. »Ich fühle mich so seltsam«, murmelte er. »So als würde jemand in meinem Hirn sein. Stimmen. Ich höre Stimmen, die immer lauter werden. Ich …« Er schwieg. Sein Herz schlug normal weiter, doch sein Gehirn arbeitete nicht mehr. Nur eine gerade Linie zeigte sich auf dem Monitor, der seine Gehirnströme anzeigte. Eigentlich hätte Calbot tot sein müssen. »Ich begreife das nicht«, keuchte Harvey verständnislos. »Das kann es einfach nicht geben.« Coco schloß die Augen. Sie wußte, was das zu bedeuten hatte. Cal bots Geist hatte sich von seinem Körper gelöst. Wahrscheinlich beseelte er in diesem Augenblick einen Toten auf Haiti. Die Dämonenbanner, die sie aufgestellt hatte, waren zwecklos gewesen. Es gab für sie keine Möglichkeit zu helfen.
Dorian fühlte sich müde und völlig zerschlagen. Gemeinsam mit Dembus Familie nahmen sie das Frühstück ein. Dembu hatte vier Brüder und zwei Schwestern, die alle festlich ge kleidet waren. Es gab gesüßten Maisbrei und dazu wurde Kakao ge trunken. Dembus Familie schaute immer wieder verstohlen auf Vali, die so tat, als würde sie die heimlichen Blicke nicht bemerken. Dori an hatte ihr von ihrem seltsamen Verhalten während der Nacht be richtet, doch sie hatte sich nicht daran erinnern können. Dembu kam dem Dämonenkiller verändert vor. Das schwarze Ge sicht des jungen Mannes war aufgedunsen, die dunklen Augen la gen tief in den Höhlen, und seine Hände zitterten, während er den Maisbrei appetitlos löffelte. »Wir gehen jetzt in die Kirche«, sagte er, und dabei blickte er Vali offen an. »Wir kommen mit«, erwiderte sie. »Die Kirche ist im nächsten Dorf.« Er schwitzte stark. »Danach fin det ein Hahnenkampf statt.« Valis Augen leuchteten auf. »Das will ich unbedingt sehen.« Auch Dorian war einverstanden. »Der Hahn ist Revels ganzer Stolz«, erklärte Dembu. »Er trainiert jeden Tag vor der Arbeit mit ihm. Er nennt ihn Marcel. Heute soll er seinen ersten Kampf bestreiten. Das ist ein großer Tag für meinen Bruder.« Dorian nickte. Ein Hahnenkampf war für die einfachen Bauern Haitis eine der wenigen Abwechslungen und Aufregungen in ihrem monotonen Leben. Sie gingen zwanzig Minuten lang, bis sie das Nachbardorf erreicht hatten. Es war etwas größer als Dembus Dorf. Aus allen Nach bardörfern strömten die Eingeborenen zusammen. Dorian Hunter und Jeff Parker, aber vor allem Vali erregten einiges Aufsehen. Die Kirche war ein einfacher Bau mit wenigen Bänken und einem
primitiven Altar. Dorian hielt sich während der Messe im Hinter grund der Kirche auf. Der Priester, ein junger Farbiger, las die Messe. Er hielt eine ziem lich lange Predigt, deren Inhalt Dorian nur bruchstückweise ver stand, während Parker kein Wort mitbekam. Dorian war kein gläu biger Mensch, aber er fand es ergreifend, mit welcher Inbrunst diese armen Leute beteten und sangen. Die Menschen wurden getröstet durch die Worte des Priesters; die meisten hatten kaum genug zum Leben. Nach der Messe versammelten sich alle auf dem Hauptplatz des Dorfes. Sie lungerten um den Kampfplatz herum, klatschten, tran ken Tafia und aßen mit Honig bestrichene Maisfladen. Dembu ver fiel zusehends. Er sah krank aus und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Revel, sein Bruder, konnte seine Aufregung kaum zügeln. Dorian blickte Revels Hahn an. Der Kamm des Tieres war abge schnitten, und die Federn am Hals und an den Schenkeln ausge zupft; die Sporen waren zugespitzt. Der Hahn, gegen den Marcel kämpfen mußte, war ein alter, er probter Kampfhahn, siegreich in einem Dutzend harter Kämpfe. Auf einem Stuhl saß der Schiedsrichter, der auch die Wetten annahm. »Ich wollte schon immer einen Hahnenkampf sehen«, sagte Parker fasziniert. Die Menge schrie durcheinander. Revel löste die Kapuze von Mar cels Kopf, und der Hahn wollte in seine Hand hacken. Er hob den Hahn hoch und leckte die Sporen ab zum Beweis, daß sie nicht mit Gift beschmiert waren. Dann führte er Marcel einige Male auf dem Kampfplatz hin und her. Marcel wollte sich augenblicklich auf sei nen Gegner stürzen. Er sträubte sein Gefieder und gab seltsame glucksende Laute von sich. Die Wetteinsätze waren nicht hoch. Es wurden nur wenige Lour des auf Marcel gesetzt, während sein Gegner, der von seinem Besit zer Claude genannt wurde, das Vertrauen der Eingeborenen besaß.
Revel trank einen Schluck Schnaps, dann besprühte er seinen Hahn damit. Danach rieb er die dünne Leine und die Sporen des Hahnes mit Fett ein. Dann war es endlich soweit. Der Schiedsrichter gab das Zeichen, und der Kampf begann. Die Spannung hatte den Höhepunkt erreicht. Alles schrie wild durcheinander. Der Lärm erinnerte an Donnergrollen. Federn flogen durch die Luft. Dorian wandte sich ab. Er fand an Hahnenkämpfen genauso we nig Spaß wie am Stierkampf. Jeff Parker und Vali sahen jedoch faszi niert zu. Alkoholdunst und Schweißgeruch hingen in der Luft. Die Hähne hackten wie verrückt aufeinander ein. Revel führte sich wie ein Wahnsinniger auf. Er lag auf dem Boden und hielt die Leine in der Hand, an der sein Hahn festgebunden war. »Mach ihn fertig, Marcel, mein Liebling!« brüllte er. Marcel schien die Worte seines Herren gehört zu haben. Er sprang ein Stück zur Seite, und sein Gegner folgte ihm. Diese Gelegenheit nützte Marcel. Sein Kopf schnellte vor, und mit einem einzigen Schlag tötete er Claude. Revel führte einen Freudentanz auf. Der getötete Hahn wurde von seinem Besitzer in einen Sack gestopft. Tränen hingen in den Augen des Mannes. Claude war sein ganzer Stolz gewesen; der Held vieler Schlachten, der ihm einiges Geld gebracht hatte. Vali und Jeff schrien begeistert mit der Menge mit. Jeff hatte vor Spannung rote Wangen bekommen. Gläser mit Tafia wurden herumgereicht. Alle tranken und waren vergnügt. Dorian hatte Dembu beobachtet. Der junge Schwarze hatte sich in den Schatten einer Königspalme gesetzt. Immer wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Was ist mit Ihnen los, Dembu?« erkundigte Dorian sich besorgt. Dembu hob den Blick. »Ich fühle mich so müde. Und mir ist übel. Ich muß etwas Schlechtes gegessen haben.«
»Sie gehören ins Bett. Wir werden einen Arzt rufen.« »Das ist nicht möglich, Mr. Hunter. Weit und breit gibt es keinen Arzt. Ich werde schon wieder gesund werden. In ein paar Stunden geht es mir sicher besser. Ich muß einen Schnaps trinken.« Sein Gesicht war grau und eingefallen. Mühsam stand er auf und stürzte einen Schnaps hinunter. Dann wankte er einige Schritte zur Seite und übergab sich. »Wir müssen Dembu zurückbringen«, sagte Dorian zu Vali. »Der Bursche ist krank.«
Dembus Zustand hatte sich nicht gebessert. Auf dem Weg nach Hause war er zusammengebrochen, und sie hatten ihn tragen müs sen. Er lag jetzt in seinem Bett und phantasierte. Immer wieder schreckte er hoch und verlangte nach Wasser. Das Mittagessen war in bedrückender Stille eingenommen wor den. Eine von Dembus Schwestern wachte an seinem Bett. Dorian erkundigte sich nach dem Kranken. Innerhalb der letzten Stunde hatte sich sein Zustand verschlimmert. Die grau gewordene Haut war schlaff geworden, und die Augen waren glanzlos. Er sieht wie vom Tod gezeichnet aus, dachte Hunter. Aber wie war es möglich, daß ein Mensch innerhalb weniger Stunden so verfiel? Dembus Vater holte einen Papa-loa. Es war ein alter Mann, der vor Dembus Bett stehenblieb und lang sam den Kopf schüttelte. »Er ist von Dämonen beherrscht. Jede Hilfe kommt zu spät.« »Gibt es wirklich keine Hilfe?« fragte Dembus Mutter ängstlich. »Keine«, sagte der Papa-loa und verließ das Zimmer. Alle sahen ihm schweigend nach. »Er braucht dringend einen Arzt«, sagte Parker. »In der ganzen Umgebung gibt es keinen«, sagte Dembus Vater.
»Der nächste ist in Port-au-Prince. Aber heute ist Sonntag, da kann man keinen erreichen. Und außerdem würde auch keiner kommen, da wir kein Geld haben.« »Ich habe Geld genug«, sagte Parker ungeduldig. »Es ist zwecklos, Mr. Parker. Und wenn es Ihnen tatsächlich gelin gen sollte, einen Arzt zu rufen – er würde zu spät kommen. Sehen Sie doch selbst, der Tod steht an Dembus Bett.« Vali stand neben der Tür. Sie hatte die Augen halb geschlossen und starrte den Sterbenden an. Ein zufriedenes Lächeln lag auf ih rem Gesicht. Während Dembu sichtlich weiter verfiel, schloß sie die Augen immer mehr. Dembu bäumte sich auf. Sein Atem kam rasselnd. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf Vali. Sie schloß die Augen, und in die sem Augenblick fiel Dembu zurück. Seine Hände verkrampften sich über der Brust, und dann hörte er zu atmen auf. »Er ist tot«, sagte sein Vater. Sein Körper wurde von Krämpfen ge schüttelt. Er setzte sich auf das Bett und drückte seinem Sohn die Li der zu. Vali schlug die Augen wieder auf und starrte den Toten gleichgül tig an. Dann verließ sie rasch das Zimmer. Dorian folgte ihr und packte sie am Arm. Sie wehrte sich, als er sie aus dem Haus führte. »Raus mit der Sprache!« zischte der Dämonenkiller wütend. »Was hast du mit Dembus Tod zu tun?« »Nichts!« fauchte sie. »Ich habe beobachtet, wie du Dembu angeblickt hast. Was hast du mit ihm angestellt? Du hast ihn verzaubert!« »Laß mich los! Du redest Unsinn. Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun.« »Ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen«, sagte Dorian gefähr lich ruhig. »Dorian, ich schwöre dir, daß ich nichts mit seinem Tod zu tun habe. Du mußt mir glauben.«
»Ich würde dir gern glauben, aber ich kann es nicht. Du hast heute nacht unser Zimmer verlassen. Du warst irgendwo im Haus. Bei Dembu wahrscheinlich. Du hast ihn verhext.« »Wie hätte ich das anstellen sollen?« »Da fragst du mich zuviel«, sagte Hunter grimmig. »Aber mögli cherweise verfügst du über Kräfte, von denen ich nichts ahne. Oder du bist ein Werkzeug Asmodis. Ich will jetzt endlich die Wahrheit hören, Vali. Ich lasse nicht mehr locker, bis ich alles von dir erfahren habe.« Sie hatte die Hände vor der Brust gekreuzt und blickte Hunter böse an. »Sprich endlich!« »Schrei nicht mit mir! Du kannst mich nicht dazu zwingen, daß ich spreche.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Da irrst du dich gewaltig.« Seine Stimme klang so kalt und unpersönlich, daß Vali überrascht aufblickte. Sein Gesicht hatte sich verändert. Der gnadenlose Jäger in ihm kam zum Vorschein. Es war rasch dunkel geworden. Der Himmel hatte sich blutrot ge färbt. Aus dem Haus klang der Trauergesang von Dembus Familie. Jeff Parker trat aus dem Haus. »Was macht ihr da?« »Laß uns allein, Jeff!« »Ich denke nicht daran«, sagte Parker und kam näher. »Ich will hier fort. Und das ist mein letztes Wort. Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich fahre nach Port-au-Prince. Und in drei Stunden fliege ich ab. Irgendwohin. Mir hängt diese verdammte Insel zum Hals raus.« Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, nach Port-au-Prince zu fahren, dachte Hunter. Hier konnten sie nichts mehr erreichen. »Gut. Wir fahren mit.« »Ich bleibe«, sagte Vali. »Du kommst mit.«
»Nein. Ich muß zur Mama-loi Jorubina.« »Wer zum Teufel ist das?« fragte Parker. »Eine Zauberin, die etwas hat, das für Dorian und mich sehr wich tig ist.« Parker schnaubte verächtlich. »Mir reicht es jetzt. Überlegt es euch. Entweder ihr kommt mit mir, oder ich lasse euch hier.« Endlich hatte Dorian den ersten Hinweis von Vali erhalten. »Wo können wir die Mama-loi Jorubina finden?« »Sie wohnt in der Nähe Bainels. In den Bergen.« »Und wie kommen wir dorthin?« »Zu Fuß. Mit dem Auto kann man nicht hinfahren. Es gibt keine Straße.« »Wie weit ist es entfernt?« »Zwanzig Kilometer.« »Jetzt ist es dunkel«, stellte Dorian fest. »Es hat keinen Sinn, daß wir heute noch aufbrechen. Wir sollten wirklich nach Port-au-Prince fahren.« »Ihr könnt ruhig fahren«, sagte Vali. »Ich mache mich auf die Su che nach der Zauberin.« Parker seufzte. »Deine Freundin, Dorian, ist reichlich dickköpfig, wie mir scheint. Laß sie hier. Komm mit mir nach Port-au-Prince, und wir werden die Stadt auf den Kopf stellen.« Dorian schüttelte den Kopf. »Ich begleite dich, Vali.« »Ihr seid beide verrückt«, stellte Parker sachlich fest. »Euch ist nicht zu helfen. Ich hole mein Gepäck und …« Aus dem Haus ertönte ein entsetzlicher Schrei. »Was war das?« fragte Parker überrascht. Der Dämonenkiller rannte zum Haus und öffnete die Tür. Wieder hörte er den Schrei und auch noch andere entsetzte Stim men. Die Schreie kamen aus dem Totenzimmer. Vor dem Zimmer blieb er stehen. Dembus Familie umringte das Bett, auf dem der
Tote lag. Und Dembu bewegte sich. »Er erwacht zum Leben«, murmelte Hunter. »Er wird zu einem Zombie.« Dembu richtete sich auf. Seine Augen waren noch immer geschlos sen. Er schwang die Beine auf den Boden und stand unsicher auf. Hunter rannte aus dem Haus. »Rasch!« rief er Parker zu. »Zum Jeep! Dembu ist zu einem Zom bie geworden. Und es ist wohl völlig klar, auf wen er es abgesehen hat.« Parker sprintete los. Vali folgte ihm. Der Zombie trat aus dem Haus. Parker schwang sich hinter das Lenkrad und startete den Jeep. Do rian und Vali sprangen gerade noch rechtzeitig hinein. Parker braus te los. Staub und Steine wurden durch die Luft geschleudert. »Wohin soll ich fahren?« »Geradeaus«, sagte Dorian. »Hoffentlich ist da die Straße besser.« Parker schaltete die Scheinwerfer ein. Die Straße war tatsächlich etwas besser, und sie kamen relativ rasch vorwärts. Hunter holte seine Bleistiftlampe hervor und knipste sie an. Der dünne Lichtkegel fraß sich durch die Nacht. Der Zombie war nicht zu sehen. Sie ver ließen das Dorf. Die Straße stieg steil an. Immer wieder leuchtete Dorian zurück. Parker steuerte den Wagen fluchend über unzählige Schlaglöcher, bis er nach einigen Minuten Fahrt in einem Loch festsaß. Hunter sprang aus dem Wagen. »Das dauert eine Ewigkeit, bis wir den Jeep hier herausbekom men«, sagte er. »Wir müssen zu Fuß weiter.« »Das sind ja heitere Aussichten«, knurrte Parker ungehalten. »Der Zombie kann uns jeden Augenblick eingeholt haben. Und was dann?« Eine gute Frage, dachte Hunter. Soweit er wußte, gab es nur zwei
Möglichkeiten, einen Zombie zu erledigen: mit Feuer oder einem Schwert, mit dem man dem Untoten den Schädel abschlug. Sie hatten im Augenblick weder das eine noch das andere zu ihrer Verfügung. Seine einzige Waffe war ein Taschenmesser, das ihm nicht viel helfen würde. »Wir müssen weiter. Schau im Werkzeug kasten nach! Vielleicht findest du eine Taschenlampe.« Parker öffnete den Kasten und kramte darin herum. Er fand wirk lich eine Taschenlampe und einen Satz Batterien, den er rasch ein steckte. »Jeff, du gehst vor!« befahl der Dämonenkiller. »Hinter dir geht Vali, und ich bilde den Abschluß.« Parker schaltete die Taschenlampe ein. Sie gingen die Straße ent lang, die immer steiler anstieg. Gelegentlich blieben sie stehen und lauschten. Kein Geräusch war zu hören. »Vielleicht haben wir uns geirrt«, sagte Parker nach einiger Zeit, »und der Zombie hat es gar nicht auf uns abgesehen.« »Das glaube ich nicht«, schaltete sich Vali ein. »Kennst du eine Möglichkeit, wie man einen Zombie ausschalten kann, Vali?« »Nein«, sagte sie. »Nur Feuer hilft.« Fünf Minuten später konnten sie nicht mehr weiter. Ein gewaltiger Steinberg versperrte ihnen den Weg. Sie verließen die Straße und stiegen eine ausgewaschene Wand hoch. Während des Aufstiegs rief sich Dorian alles ins Gedächtnis, was er über Voodoo-Zombies wußte. Es war nicht viel. Sie waren nur bei Dunkelheit lebensfähig, wenn man bei ihrem Dasein überhaupt von Leben sprechen konnte. Bei Anbruch des Tages sackte der belebte Körper zusammen und rührte sich nicht mehr. Und angeblich konn te ein Toter nur einmal belebt werden. Sie mußten also bis zur Mor gendämmerung am Leben bleiben, dann drohte ihnen keine Gefahr mehr. Doch das war eine lange Zeit. Sie kamen nur sehr langsam voran. Immer wieder mußten sie rie
sigen Steinbergen ausweichen. Da kam Dorian eine Idee. Er mußte eine Stelle finden, wo er einen Steinschlag auslösen konnte. Sie blie ben wieder stehen und lauschten. Von ihrem Verfolger war nichts zu hören. Parker hatte einige Zeit böse vor sich hin gemurmelt, sich aber jetzt mit den Gegebenheiten abgefunden. Vali schwieg. Je höher sie stiegen, desto kühler wurde es. Alle drei trugen Jeans und dünne Hemden. Der hochstehende Mond spendete genügend Licht. Nur gelegentlich knipsten sie die Taschenlampen an. Hunters Mißtrauen gegenüber Vali hatte sich verstärkt. Er war ziemlich sicher, daß sie Dembus Tod verschuldet hatte. Die Frage war nur, ob sie es bewußt getan hatte, oder ob sie von Asmodi be einflußt worden war. Keine der beiden Möglichkeiten fand Hunter angenehm. Mehr und mehr wurde ihm bewußt, daß er in eine Falle gelockt worden war; in eine Falle, die Vali darstellte. Sie hatte sich in sein Vertrauen geschlichen, und er hatte ihr geglaubt. Doch sie war ein Werkzeug Asmodis. Dann überfielen ihn wieder quälende Zwei fel. Sie hätte ihn schon unzählige Male töten können, wenn das ihre Aufgabe war. Endlich erreichten sie eine Stelle, die für sein Vorhaben ideal ge eignet war. Vor ihnen lag eine gewaltige Schutthalde, die sie umge hen mußten. Schon nach wenigen Schritten lösten sich Dutzende von Steinbrocken, die in die Tiefe polterten. Sie mußten eine Steinlawine auslösen. Diese würde den Zombie verschütten. Die Steine konnten ihn zwar nicht töten, aber eine or dentliche Ladung würde verhindern, daß er ihnen folgte. Sie umgin gen das Felsgeröll und mußten eine steile Felswand hochklettern, was ihnen bei ihrer Ausrüstung einige Schwierigkeiten verursachte. »Da kommen wir nie hoch«, sagte Parker. »Wir müssen, Jeff. Ich gehe vor.« Hunter steckte sich die Taschen lampe zwischen die Lippen. Die Wand war wesentlich einfacher zu bezwingen, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Er fand genü gend Halt und kam recht rasch voran. Vali hatte auch keine beson
deren Schwierigkeiten, während Parker ganz gehörig ins Schwitzen kam. Zwanzig Minuten später blieben sie atemlos in einer Mulde liegen. Hunter und Parker rauchten eine Zigarette. »Hört mir zu«, sagte Dorian und drückte die Zigarette aus. »Ich habe einen Plan, wie wir den Zombie aufhalten können.« »Da bin ich aber gespannt«, sagte Parker. »Rechts neben uns liegt eine Schutthalde. Wir werden uns einige große Steine suchen, die wir dann hinabwälzen, falls der Zombie auftaucht.« Jeff Parker pfiff anerkennend. »Du bist doch ein heller Bursche.« Sie sprangen in die Schutthalde, die gut und gern dreihundert Me ter lang war. Vali leuchtete Dorian und Jeff mit der Taschenlampe. Die Männer fanden einen Ast, der sich als Hebel verwenden ließ. Dann suchten sie nach größeren Steinen. Zehn Minuten später hatten sie ein Dutzend Steine aufgestapelt und ruhten sich einige Minuten aus. »Der Zombie wird uns sicherlich gefolgt sein«, meinte Parker. »Vermutlich«, sagte Dorian. »Aber wir haben einen Vorsprung. Wir lassen die Steine rasch hintereinander auf ihn zu rollen. Irgend einer wird ihn treffen und mitreißen.« »Warten wir ab und beten wir«, sagte Parker leise. Dorian blickte auf die Uhr. Es war nach eins; noch einige Stunden, bis es hell wurde. Das Warten zehrte an ihren Nerven. Kein Geräusch war zu hören. Die Stille wirkte fast bedrückend. Endlich rührte sich etwas. Schritte näherten sich. Sie standen auf. Dorian packte den Ast und schob ihn unter einen Stein. Die Schritte kamen näher. Steine krachten auf die Geröllhalde. Dorian stieß Jeff an, der sofort reagierte und die Taschenlampe einschaltete. Sekunden später erfaßte der scharfe Strahl die Gestalt
des Zombies. Der Untote kam langsam näher. Er war noch etwa dreißig Meter entfernt. Der Dämonenkiller preßte die Lippen zusammen, atmete tief durch und drückte den Ast zu Boden. Der Stein setzte sich langsam in Bewegung und wurde immer schneller. Er raste auf den Zombie zu. Dorian stand schon neben dem nächsten Stein. Vali übernahm die Taschenlampe. Der Zombie war zur Seite gesprungen und dem ersten Stein aus gewichen. Auch der zweite Stein traf ihn nicht, doch der dritte traf seinen linken Fuß und brachte ihn zu Fall. Dorian sprang wie ein Verrückter von Stein zu Stein. Er keuchte vor Anstrengung. Schweiß rann über seine Stirn und tropfte in seine Augen, doch er hatte keine Zeit, ihn abzuwischen. Der Zombie konnte nicht mehr ausweichen. Zwei Steine erwisch ten ihn fast gleichzeitig. Er wurde mitgerissen, und das Geröll kam in Bewegung. Eine gewaltige Staubwolke bildete sich. Hunderte von Steinbrocken zerrten den Untoten mit, rissen ihn in die Tiefe, wo sie ihn vollständig bedeckten. Der Strahl der Taschenlampe verlor sich in der Dunkelheit. Ein ohrenbetäubendes Grollen hing in der Luft. Der Berg war in Bewegung geraten. Immer mehr Gestein stürzte ins Tal. Es dauerte Minuten, bis der Steinschlag zu Ende war. »Geschafft!« brüllte Parker begeistert. »Da sind einige Tonnen zu Tal gerutscht. Daraus wird er sich nicht so schnell befreien können.« Hunter nickte. »Wie weit ist es noch bis zu dieser Zauberin, Vali?« »Ich kann es wirklich nicht sagen, Dorian, aber es kann nicht mehr weit sein.« »Dann statten wir ihr doch einfach einen Besuch ab.« Hinter der Mulde lag ein weitgestrecktes Hochplateau, während hinter der Geröllhalde Steilwände aufragten. Das Plateau war völlig verkarstet. Nach wenigen Schritten sahen sie plötzlich ein blaues Licht, das gespenstisch über den Boden huschte. »Was ist das?« fragte Parker verwundert. »Sieht ja wie ein Elms
feuer aus.« Immer mehr Flammen züngelten über den Boden. Und sie kamen näher. Die Flammen loderten höher und sammelten sich. »Das ist eine magische Flamme!« schrie der Dämonenkiller. »Wir müssen uns teilen.« »Und was soll man gegen die Flammen unternehmen?« »Man muß ihnen auszuweichen versuchen.« »Danke für diesen intelligenten Tip.« Die gebündelte Flamme, die jetzt mehr als drei Meter hoch war, schoß auf sie zu. Jeder rannte in eine andere Richtung. Die Flamme raste an ihnen vorbei und machte nach einigen Metern kehrt. Sie verfolgte Parker, der wie von allen Teufeln gehetzt davonrannte. Schließlich ließ die Flamme von ihm ab und verfolgte Vali. Dorian blieb stehen. Seine Gefährten konnte er nicht mehr sehen; sie waren zu weit entfernt. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er sprang überrascht einen Schritt zur Seite. »Keinen Laut!« zischte ihm eine bekannte Stimme zu. »Olivaro?« fragte Dorian fassungslos. »Erraten.« »Stecken Sie hinter diesem Freudenfeuer?« »Ja«, sagte der Dämon. »Ist aber völlig harmlos. Mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte Parker und Valiora von Ihnen trennen.« »Und weshalb, wenn ich fragen darf?« »Das sollte Ihnen doch auch schon langsam klargeworden sein, Sie hoffnungsloser Narr.« Dorian preßte die Lippen zusammen. Der Ton, in dem Olivaro mit ihm sprach, gefiel ihm überhaupt nicht. »Nehmen Sie endlich Vernunft an, Dorian! Sie stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten. Ich sagte Ihnen schon einmal, daß Sie Va liora töten müssen, aber Sie haben es nicht getan. Asmodi ist über je den Ihrer Schritte informiert. Er hat Ihnen eine Falle gestellt, aus der
Sie nicht entkommen können. Ich weiß leider nicht, wie diese Falle aussieht, aber er ist siegessicher. Angeblich gibt es keine Möglichkeit für Sie zu entwischen. Es bleibt Ihnen nur eine einzige Chance: Tö ten Sie Vali augenblicklich! Sie ist Asmodis Werkzeug.« »Ich kann sie nicht töten«, sagte Hunter. »Aber wenn sie ein Werk zeug Asmodis ist – sie hätte doch schon unzählige …« »Quatsch!« unterbrach ihn Olivaro brutal. »Ich bin über Ihr Erleb nis mit dem Moloch informiert, aber das wurde doch nur aus einem Grund inszeniert, und den können Sie sich sicherlich denken.« Hunter nickte. »Ich sollte meine Unsterblichkeit verlieren.« »Richtig«, sagte Olivaro. »Jedenfalls war das Asmodis Ziel, und er ist davon überzeugt, daß er es erreicht hat. Wenn Sie sterben, müs sen Sie von nun an davon ausgehen, daß es ein endgültiger Tod sein wird. Nehmen Sie endlich Vernunft an und folgen Sie meinem Rat schlag! Es gibt nur eine Rettung: Sie müssen Vali töten.« »Und gerade das kann ich nicht.« Olivaro seufzte resigniert. »Dann lassen Sie sie wenigstens nicht aus den Augen. Und hüten Sie sich, ihr irgend etwas von Ihren Plä nen zu berichten. Und auf keinen Fall sagen Sie etwas von meinem Auftauchen! Ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen aus eigener Kraft aus diesem Schlamassel herauskommen. Würde ich Ihnen hel fen, fiele unweigerlich der Verdacht auf mich. Und das muß ich ver meiden. Asmodi darf auf keinen Fall wissen, daß ich auf Ihrer Seite bin.« »Ich verstehe«, sagte Hunter. »Vali erwähnte, daß sie ein Pfand von Asmodi hat. Wer dieses Pfand besitzt, der kann damit den Herrn der Finsternis vernichten, sagt sie.« »Davon weiß ich nichts«, behauptete Olivaro. »Aber ich erinnere mich an ein Gespräch mit Asmodi. Er war wie von Sinnen, daß es Ihnen gelungen war, Valiora zu entführen. Ich stellte beiläufig fest, daß ihm sehr viel an ihr liegen müsse, und er antwortete mir, sie wäre sein Leben. Früher hätte sie ihn sehr gereizt, aber das wäre schon längst vorbei. Jetzt müßte er befürchten, daß sie seine Existenz
gefährdet. Deshalb müßte er sie zurückholen. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß er die Wahrheit sprach. Ich habe dieses Thema nicht mehr angeschnitten, da ich Angst hatte, ihn mißtrauisch zu machen, aber eines steht eindeutig fest: Er hat eine sehr enge Beziehung zu Vali. Und er ist über jeden Ihrer Schritte informiert.« Hunter seufzte. »Es muß mir gelingen herauszubekommen, wo das Pfand steckt.« »Hoffentlich schaffen Sie es, Dorian. Und noch etwas: Den Zombie haben Sie ausgeschaltet. Vorerst wenigstens. Von ihm droht im Au genblick kaum Gefahr, was sich aber bald ändern kann. Es ist auch nicht nur der Zombie, der hinter Ihnen her ist. Einige Anhänger Loa Marassas trachten Ihnen ebenfalls nach dem Leben. Es sind fanati sche Burschen, die vor nichts zurückschrecken.« »Danke für die Warnung«, sagte der Dämonenkiller. »Wer ist die ser Loa Marassa?« »Das habe ich noch nicht herausbekommen. Auf jeden Fall ist er ein treu ergebener Diener Asmodis. Wenn nicht …« »Sie meinen, daß hinter Loa Marassa Asmodi stecken kann?« »Das wäre möglich«, gab Olivaro zu. »Ich muß gehen. Das Feuer wird Ihnen Ihre Gefährten wieder zuführen.« »Noch eine …« Hunter brach den Satz ab, da Olivaro bereits verschwunden war. Die Flamme raste noch immer über das Plateau. Sie verfolgte Par ker und trieb ihn in Hunters Richtung, dann ließ sie von ihm ab, zog sich zurück, dehnte sich aus und zuckte wie ein Blitz über die Hoch ebene. Sie veränderte die Farbe, wurde grellweiß und schien zu ex plodieren. Für Sekunden wurde das Plateau in taghelles Licht ge taucht. Vali war nur hundert Meter entfernt. Sie kauerte hinter einem mannshohen Stein und schien völlig erschöpft zu sein. Das Licht er losch. »Komm mit, Jeff!« rief Hunter. »Wir müssen Vali holen.«
Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Dämonenkiller wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Der Mond stand nun tief; sein Licht verwandelte die Hochebene in eine Alptraumlandschaft. Vali stand auf und kam den beiden langsam entgegen. Sie warf sich Hunter in die Arme. »Diese unheimliche Flamme hat mich berührt. Eine eisige Kälte ging von ihr aus. Sie glitt über mich hinweg und ließ mich dann in Ruhe, aber mir ist noch immer entsetzlich kalt, und ich bin hunde müde.« Hunter dachte an Olivaros Warnung. Loa Marassas Anhänger wa ren hinter ihnen her. »Wir müssen weiter«, drängte er. »Du mußt uns den Weg zur Mama-loi Jorubina zeigen.« »Können wir nicht eine kurze Rast einlegen?« keuchte Jeff Parker. »Die Hetzjagd hat mich ganz schön fertiggemacht.« Dorian blickte seine Begleiter an. Es hatte wohl wenig Sinn, wenn sie jetzt weitergingen. Allerdings wußte er nicht, wie nahe die Ver folger schon waren. »Gut«, sagte er schließlich. »Fünf Minuten.« Sie setzten sich. »Hoffentlich erwarten uns nicht noch einige so hübsche Überra schungen wie die Flamme«, brummte Parker. »Eines muß dir der Neid lassen, Dorian, es ist immer etwas los, wenn man mit dir zu sammen ist.« Dorian antwortete nicht. Er blickte sich ununterbrochen um. Nichts rührte sich. Kein Geräusch war zu hören.
Der Übergang von der Nacht zum Tag vollzog sich fast unmerklich. Seit dem Erlöschen der unheimlichen Flamme war mehr als eine Stunde vergangen. Sie waren rasch vorwärts gekommen und nicht behelligt worden, aber Hunter war sicher, daß irgendwo Loa Maras
sas Männer auf sie lauerten. Sie ließen das Plateau schließlich hinter sich und stiegen in einen Bergsattel, der sanft in die Tiefe führte. Der Mond war nur noch un deutlich zu erkennen. Es wurde heller. Parker war etwas zurückge blieben, und Hunter hatte endlich Gelegenheit, mit Vali zu spre chen. »Erzähle mir etwas über die Mama-loi Jorubina!« bat er. »Sie ist uralt«, sagte Vali leise. »Niemand weiß, wie alt sie wirklich ist.« »Willst du damit sagen, daß du sie vor zweihundert Jahren schon kanntest?« »Ja. Schon damals war sie sehr alt. Und ich gab ihr Asmodis Pfand zur Aufbewahrung.« »So ist das also. Und jetzt möchte ich endlich wissen, welches Pfand dir Asmodi gab.« Vali zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte sie fast unhörbar: »Ein Auge.« »Was?« Dorian blieb vor Überraschung stehen. »Ja. Asmodi gab mir eines seiner Augen als Pfand.« Hunter hatte schon einiges mit Dämonen erlebt und vieles über sie gehört und gelesen, aber die Vorstellung, daß Asmodi eines seiner Augen als Pfand gegeben hatte, kam ihm zu unglaublich vor. »Und wo soll sich dieses Auge befinden?« »Es wurde in eine Statue eingepflanzt. Es ziert den Kopf einer wertvollen Figur, die den Schlangengott Damballa darstellt.« Dorians Gedanken wanderten im Kreis. Er konnte das eben Gehör te nicht glauben. Niemals würde sich Asmodi von einem seiner Au gen trennen. Die Gefahr, daß es in die Hände seiner Feinde geriet, war zu groß. Weshalb sollte Asmodi so ein großes Risiko auf sich nehmen? Da mußte wesentlich mehr dahinterstecken. »Und du bist sicher, daß diese Zauberin noch am Leben ist?«
»Ja. Als ich auf der Teufelsinsel gefangen war, konnte ich meinen Geist von meinem Körper lösen, und da gelang es mir auch, nach Haiti zu kommen. Ich sah die Zauberin und die Statue. Das Auge befand sich im Schlangenschädel. Ein riesiges, blutrotes Auge, das wie ein kostbarer Rubin leuchtet.« Dorians Erregung wuchs. Wenn das stimmte, konnte er tatsächlich Asmodi vernichten. Er brauchte nur das Auge zu verbrennen, und der Herr der Finsternis würde sterben. Aber augenblicklich bekam er Zweifel. Olivaro hatte ihm gesagt, daß Asmodi über jeden seiner Schritte informiert war. Er mußte also schon längst in Erfahrung gebracht haben, daß er hinter dem Pfand her war. Wahrscheinlich hatte Asmodi das Auge schon in Sicherheit gebracht. Möglicherweise war auch Valis Erzählung erfunden. Aber das würde sich bald herausstellen.
»Das Gehirn arbeitet wieder!« rief Dr. Harvey verblüfft aus. Deut lich waren die Zacken auf dem EEG-Monitor zu erkennen. »Sein Geist ist wieder zurückgekehrt«, sagte Coco. George Calbot atmete ruhig. Sein körperliches Befinden war aus gezeichnet. Das neue Herz schlug völlig normal. Sein Gehirn hatte aber einige Stunden nicht gearbeitet. Während der vergangenen Stunden, die mit quälendem Warten ausgefüllt gewesen waren, hatte sich Coco eingehend mit Dr. Har vey unterhalten. Er hatte einige andere Ärzte zu Rate gezogen, die den Tatsachen fassungslos gegenüberstanden. Er selbst hatte sich zuerst geweigert, an die Möglichkeit einer Metempsychose zu glau ben. Aber jetzt war er fast davon überzeugt, daß Coco recht hatte und eine Seelenwanderung vorlag. Calbot bewegte sich unruhig. Die Zacken wurden kräftiger. Schließlich schlug er die Augen auf. Er atmete rascher. Es dauerte ei nige Sekunden, bis ihm bewußt wurde, wo er sich befand. »Gott sei
Dank!« sagte er stockend. »Gott sei Dank!« »Was ist geschehen?« fragte Coco. »Wieder die Träume?« Sie hat ten beschlossen, Calbot gegenüber nur von Träumen zu sprechen und ihm die schreckliche Wahrheit zu verheimlichen. »Ja«, stöhnte er. »Es war ein entsetzlicher Traum. Einfach fürchter lich!« »Erzählen Sie!« forderte ihn Harvey auf. »Der Traum war ähnlich dem vergangenen. Ich befand mich im Körper eines Farbigen. Als ich die Augen aufschlug, standen einige Leute um mich herum. Ich lag in einem Bett. Und da war wieder der Zwang, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Ich habe das Haus verlassen. Ich mußte Dorian Hunter töten und das Mädchen befrei en. Aber sie sind mit einem Jeep geflohen. Ich habe mich gegen den Zwang gewehrt, doch er trieb mich immer weiter. Schließlich errang ich einen Teilerfolg: Der Körper gehorchte mir, und ich blieb stehen. Es war ein fürchterlicher Kampf. Ich weiß nicht, wie lange er dauer te, aber ich war zu schwach. Die fremde Macht hat mich besiegt. Ich nahm die Verfolgung wieder auf. Der Jeep ist steckengeblieben, und Hunter und seine Gefährten sind in die Berge geflohen.« Calbot schwieg eine Minute lang. Coco wischte den Schweiß von seiner Stirn. »Schließlich habe ich die drei eingeholt«, erzählte er weiter. »Es war auf einer Geröllhalde. Sie haben Steine in meine Richtung ge wälzt. Einigen konnte ich ausweichen, die anderen haben mich ge troffen und in die Tiefe geworfen. Der Fall dauerte unendlich lange. Tausende von Steinen bedeckten meinen Körper. Ich versuchte mich zu befreien, aber es war unmöglich. Und dann war der Traum zu Ende … Gibt es denn keine Möglichkeit, diese fürchterlichen Träu me zu verhindern, Doktor?« »Wir werden uns bemühen«, sagte Harvey. »Versuchen Sie jetzt wieder einzuschlafen, Mr. Calbot.« »Nein!« er heftig. »Ich will nicht schlafen! Ich habe Angst vor die sen Träumen. Ich will wach bleiben. Ich halte diese Träume nicht
mehr aus. Sie sind so real – so furchtbar. Ich will nicht mehr träu men.« »Wir werden alles daransetzen, daß Sie keine Alpträume mehr ha ben, Mr. Calbot.« Coco betrat ihr Zimmer. Sie wußte, daß Calbot im Augenblick kei ne Gefahr drohte. Erst bei Einbruch der Dunkelheit in Haiti konnten die unheimlichen Kräfte wieder aktiv werden. Sie setzte sich aufs Bett, nahm die Gesichtsmaske ab und rauchte eine Zigarette. Dorian war der Gefahr wieder entronnen. Der Gedanke, daß sie ihm nicht helfen konnte, quälte sie, und sie überlegte, ob sie einfach auf eigene Faust nach Haiti fliegen sollte. Ihre Hilflosigkeit brachte sie zur Raserei. Und immer wieder stahlen sich zwei Fragen in ihr Hirn: Weshalb hielt sich Dorian auf Haiti auf? Und wer war die junge Frau in sei ner Begleitung? Seit Dorians Verschwinden hatte sie sich bemüht, sich über ihre Gefühle zu ihm klarzuwerden. Ihr Verhältnis würde sich ändern. Zuviel war geschehen, zuviel, was nicht mehr gutzumachen war. Sie legte sich erschöpft aufs Bett und schloß die Augen.
Der Dämonenkiller wunderte sich, daß nichts von Loa Marassas Männern zu sehen war. Hatte ihm vielleicht Olivaro doch geholfen und die Männer verjagt? Oder waren sie zurückgerufen worden? Die Sonne war durch die Dunstwolken gebrochen. Ein leichter Wind wehte vom Meer her, das blau unter ihnen lag. »Wie lange müssen wir noch gehen?« fragte Parker, der bereits Blasen an den Füßen hatte. »Nur noch wenige Minuten«, sagte Vali. Sie stiegen weiter den Berg hinunter.
Plötzlich blieb Jeff überrascht stehen. Vor ihnen standen ein halbes Dutzend Holzpfähle, auf die Totenschädel gespießt waren. Jeder der Totenschädel war mit einer anderen Farbe angestrichen worden. Die Augenhöhlen waren mit Lehm verschmiert. »Das ist ja ein nettes Begrüßungskomitee«, bemerkte Parker sar kastisch. »Soll das vielleicht ein Hinweis sein, daß unsere Schädel demnächst auch auf solchen Pfählen stecken werden?« »Das soll nur eine Warnung sein«, sagte Vali. »Und ein Beweis für die Macht der Zauberin. Wer sich Ihr widersetzt, muß sterben.« Parker setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm und zog seine Schuhe aus. Er schlüpfte aus den Socken und starrte die Blasen an den Fersen an. »Wißt ihr was?« fragte er und massierte seine Füße. »Geht mal vor! Ich komme später nach. Ich suche mir einen hübschen Bach, in dem ich meine Füße kühlen kann.« »Feigling!« Dorian grinste. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich wirklich keine Lust, dieser Zauberin einen Besuch abzustatten. Sie hat für meinen Geschmack einen zu makaberen Humor.« Er deutete auf die Totenschädel, die in der Sonne glänzten. »Keine Widerrede!« sagte Dorian entschieden. »Du kommst mit. Die Zauberin ist Vali gut gesonnen. Du brauchst keine Angst um dein edles Haupt zu haben.« Parker verzog mißbilligend das Gesicht und schlüpfte in Socken und Schuhe. »Gut«, seufzte er und stand wieder auf. »Gehen wir uns also die Zauberin ansehen. Hoffentlich ist sie jung und hübsch. Aber wie ich mein Glück kenne, ist sie eine alte stinkende Vettel mit fauligem Atem und zahnlosem Mund.« Valis Gesicht war angespannt, als sie weitergingen. Dorian war hundemüde. Seine Augen brannten, und jeder Schritt war eine Qual. Er sehnte sich nach einem Bad, einem ausgiebigen Essen und einem weichen Bett. Aber all das würde ihn kaum erwar
ten. Ein schmaler Weg schlängelte sich zwischen Felsbrocken hin durch. Dorian blickte auf die Uhr. Es war nach vier Uhr morgens. Vali blieb stehen. »Wir sind da.« Dorian folgte ihrem Blick. In einer Talsenke standen fünf sehr ein fache Hütten, die relativ weit auseinanderlagen. Kein Mensch war zu sehen. Die Reste eines Feuers verglimmten; ein dünner Rauchfa den stieg in den wolkenlosen Himmel. »Sieht ja nicht sehr einladend aus«, nörgelte Parker. Zehn Minuten später blieben sie vor dem ersten Haus stehen. Ein fremdartiger, durchdringender Geruch hing in der Luft. Zögernd gingen sie weiter. Vor den glosenden Holzscheiten blie ben sie erneut stehen. Neben dem Feuer sah Dorian einige Blutla chen, die noch nicht ganz in den festgestampften Sandboden einge sickert waren. Er unterdrückte den Wunsch, einfach Hallo zu rufen. Parker blickte sich mißtrauisch um. Er hatte das Gefühl, von Dut zenden von Augen beobachtet zu werden. Plötzlich wurden die Türen von vier Häusern geöffnet, und zwan zig junge Farbige traten ins Freie. Ihre Oberkörper waren nackt und glänzten ölig. In den Händen hielten sie große Macheten. Geduckt kamen sie näher. Gegen diese Übermacht haben wir keine Chance, schoß es Dorian in den Sinn. »Ich sehe für unsere Köpfe üble Zeiten nahen«, murmelte Parker in einem Anflug von Galgenhumor. Die Männer blieben einige Schritte vor ihnen stehen. Ihre Mache ten funkelten in der frühen Morgensonne; die Gesichter der Schwar zen waren ausdruckslos. Aus der fünften Hütte klang gedämpftes Trommeln. Die Tür wurde von unsichtbaren Kräften geöffnet. Lang sam setzten sich die Männer in Bewegung. Dorian und seinen Ge fährten blieb keine andere Wahl: Sie mußten mitgehen. Langsam schritten sie auf die Hütte zu. Die Schwarzen rückten immer näher. Vali betrat als erste die Hütte. Dorian und Jeff folgten ihr. Kaum
waren sie eingetreten, da schloß sich die Tür wieder. Ein betäuben der Duft hüllte sie ein. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Die Hütte schien nur aus einem fensterlosen Raum zu bestehen. Die Wände waren mit kunstvoll geknüpften Teppichen geschmückt. In der Mitte stand ein runder niedriger Tisch, um den Sitzkissen aufge schichtet waren. Auf dem Tisch stand ein fünfarmiger silberner Ker zenleuchter. Die Kerzen waren armdick und rot. Aus den Schatten löste sich plötzlich eine Gestalt, die langsam nä her kam. Das Licht der flackernden Kerzen fiel auf das Gesicht der Gestalt. Dorian hatte schon viele alte Frauen gesehen, aber so ein Gesicht hatte er noch nie erblickt. Es sah wie ein Schrumpfkopf aus. Der Kopf konnte kaum größer als eine Grapefruit sein. Hunderte von Falten überzogen das Gesicht, das die Farbe brüchig gewordenen Pergaments hatte. Das schlohweiße Haar war zottelig und fiel wie ein Schleier über die schmalen Schultern. Dominierend in diesem abstoßenden Gesicht waren die großen Augen, die wie schwarze Edelsteine funkelten und voller Leben waren. Der Körper der Alten wurde von einem scharlachroten Umhang bedeckt, der reichlich mit Zaubersymbolen bestickt war. Die Hexe blickte zuerst Dorian an. Er glaubte, von ihren dunklen Augen aufgesogen zu werden. Sie starrte ihn einige Sekunden an, dann wandte sie sich Parker zu, schloß die Augen und trat einen Schritt zur Seite, bis sie Vali genau gegenüberstand. Jetzt erst merkte Dorian, wie klein die Hexe war. Ihre faltigen Hände glitten aus dem Umhang und hoben sich langsam. »Du bist doch gekommen, Valiora«, sagte sie auf kreolisch. Ihre Stimme klang rauh wie das Krächzen eines Papageis. »Ja, Mama-loi Jorubina.« »Es ist lange her«, sagte die Alte. »Zu lange. Mein Gedächtnis ist schwach geworden. Und ich bin müde. Zu müde.« »Erinnerst du dich nicht mehr?« fragte Vali drängend.
»Woran, mein Kind?« »An das Pfand, das ich dir zur Aufbewahrung gab.« »Ach ja«, sagte die Mama-loi. »Daran erinnere ich mich. Du willst es wiederhaben?« Vali nickte. »Ja, deshalb bin ich hier.« »Du kommst zu spät, Valiora. Ich habe das Pfand nicht mehr.« »Aber das ist nicht möglich! Ich weiß, daß …« Die Alte schüttelte den Kopf. »Es wurde mir gestohlen. Gestern.« Sie bückte sich, und ihr Kopf verschwand unter dem Tisch. Sekun den später richtete sie sich wieder auf. In der rechten Hand hielt sie eine Statue, die sie auf den Tisch stellte. »Sieh selbst, mein Kind!« Vali trat zwei Schritte vor, dann zuckte sie zurück. Eine Schlange wand sich ein Tischbein hoch, kroch auf die Tischplatte und schlän gelte sich um die Statue. Die Schlange war einen halben Meter lang und rotbraun. Ihre Augen glühten rubinrot, ihre Zunge zischelte hin und her. Ein halbes Dutzend anderer Schlangen folgten ihr in wil dem Durcheinander und schnürten die Statue ein. Dorian kam näher. Die Schlangen zischten lauter. Er ließ sich aber nicht davon beeindrucken. Die Statue war ungewöhnlich kunstvoll ausgeführt. Sie stellte einen hockenden hünenhaften Mann dar, des sen Kopf ein Schlangenschädel war. Das Götzenbild war aus Gold und mit kostbaren Edelsteinen verziert. Der Schlangenkopf hatte zwei Rubinaugen. Und über den Augen befand sich eine große Öff nung. Die Hexe streckte ihre rechte Hand aus und berührte die leere Au genhöhle. »Hier saß das blutrote Dämonenauge. Das magische Auge des Dä mons. Fast zweihundert Jahre lang ruhte es in dieser Statue, und gestern wurde es gestohlen.« »Wer hat es gestohlen?« fragte Hunter auf französisch. Die Alte blickte ihn an. »Marassa, den man zu Unrecht Loa nennt. Er ist ein gemeiner Schurke. Ein dummer Emporkömmling, der sich
mit den bösen Mächten der Unterwelt verbündet hat. Aber ich wer de ihn vernichten und das Auge zurückholen.« Dorian sah wieder die Statue an. Valis Erzählung von dem Dämo nenauge schien zu stimmen. Parker trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er hatte kein Wort der Unterhaltung verstanden, und die Schlangen erhöhten sein Wohlbefinden in keiner Weise; dazu kamen noch der durchdringen de Geruch und die Hitze in der Hütte. »Ihr seid meine Gäste«, sagte die Hexe. »Ihr seid müde und hung rig. Außerdem wäre es wohl wenig ratsam weiterzugehen, denn überall lauern Marassas Leute, die euch töten wollen. Bei mir seid ihr sicher.« Sie wandte den Kopf und blickte eine kleine Trommel an. Sekun den später klopften unsichtbare Hände auf die Bespannung. Die Tür glitt auf, und ein hochgewachsener Mann betrat die Hütte. Er ver beugte sich respektvoll, und die Zauberin erteilte ihm einige Befeh le. Dann zog sie sich in den Hintergrund des Raumes zurück und war nicht mehr zu sehen. Sie verließen die Hütte. Die Farbigen umringten sie wieder. Sie wurden zu einer abseits gelegenen Hütte gebracht, die drei Fenster hatte. Die Einrichtung war unglaublich primitiv: einige Kästen, wa ckelige Stühle, Tische und Feldbetten. Vali verlangte nach Wasser, und ein Mann brachte eine Kanne. »Was hat die alte Hexe gesagt?« fragte Parker neugierig. »Wir sind ihre Gäste«, sagte Dorian. »Sehr schmeichelhaft. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ich wäre jetzt viel lieber in einem guten Hotel und würde mich verwöhnen lassen. Hier gefällt es mir nicht besonders.« »Es bleibt uns aber keine andere Wahl, Jeff. Die Alte sagte, daß Marassas Leute überall lauern und uns töten wollen. Hier sind wir für einige Zeit sicher.« »Du hast recht. Aber was mich noch interessiert: Was ist mit dieser
Statue los? Und was wollte Vali von der Alten?« Dorian sah Vali an, die eben dabei war, Wasser in eine Schüssel zu schütten. Sie wusch sich das Gesicht. »Dir ist sicher aufgefallen, daß die Statue eine Öffnung hatte?« Parker nickte. »Darin befand sich ein kostbarer Stein, der Vali gehört. Er wurde gestohlen.« Dorian hatte sich zu dieser Version entschlossen, da er Jeff nicht ununterbrochen hinhalten wollte. »Ein ungewöhnlich großer Rubin«, log er weiter. »Er ist äußerst wertvoll.« »Hm, das erklärt einiges. Aber warum hast du mir nicht schon frü her erzählt, daß ihr hinter einem Stein her seid?« »Es war besser, daß nur wenige davon wußten.« »Das finde ich enttäuschend, Dorian. Mir als altem Freund hättest du es sagen sollen.« Dorian nickte zustimmend und verkniff sich mit Mühe ein Lachen. Zwei Eingeborene betraten die Hütte. Sie stellten zwei Tabletts auf einen Tisch. Parker kam neugierig näher. »Mann, das sieht gut aus!« sagte er und setzte sich. »Ich muß meine Meinung über diese Hexe revidie ren. Sie ahnte genau, was der alte Parker will.« Der Dämonenkiller setzte sich neben Jeff. Die Männer verließen die Hütte. Der Kaffee war heiß und stark. Das Brot schmeckte seltsam, aber nicht unangenehm. Es gab kalten Braten, Käse und aromatisch schmeckende Butter, dazu ein halbes Dutzend schmackhafter Früch te. Alle drei konzentrierten sich aufs Essen. Eine halbe Stunde später waren sie gesättigt. Sie rauchten und blieben träge sitzen, dann for derte die Müdigkeit ihren Tribut. Sie krochen auf die Feldbetten, nachdem sie die Vorhänge vor die Fenster gezogen hatten. Dorian schlief tief und traumlos. Kurz nach achtzehn Uhr erwach te er. Parker schlief noch immer, während Vali schon auf war. Sie
saß reglos wie eine Statue auf einem Stuhl und kehrte Dorian den Rücken zu. Er setzte sich geräuschlos auf und beobachtete sie. »Vali!« sagte er schließlich, doch das Mädchen reagierte nicht. Er stand auf und streckte sich. Obwohl er mehr als zwölf Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich seltsam müde. Er ging um den Tisch herum und blieb vor Vali stehen. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Die Augen hatte sie offen, doch ihr Blick war starr; sie schien durch ihn hindurchzublicken. Dorian zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Ihre Hände lagen flach auf der Tischplatte. Sie befand sich in einem tran ceähnlichen Zustand. Er lehnte sich zurück und steckte sich eine Zi garette an. Einige Fliegen summten in der Hütte, und leise Stimmen waren zu hören. Er berührte Valis Hände. Sie waren eiskalt. Er schüttelte sie, doch sie wachte nicht auf. Schließlich trat er an eines der Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und blickte hinaus. Vor dem Fenster saß ein Farbiger, und an der Tür standen zwei weitere. Alle waren bewaffnet. Das sieht eher aus, als wären wir Gefangene und keine Gäste, dachte Hunter. Er warf Parker einen Blick zu, der zusammengerollt wie ein Igel dalag und leise schnarchte. Vali bewegte sich schließlich. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich mit beiden Händen die Augen. »Bist du schon lange auf?« fragte Dorian. Sie zuckte erschrocken zusammen. »Nein, erst seit einigen Minu ten. Ich wollte dich und Parker nicht aufwecken.« Dorian entschloß sich nicht zu sagen, daß sie sich wieder in einem tranceartigen Zustand befunden hatte. »Hast du die Wachposten vor der Hütte gesehen?« »Ja«, sagte sie. »Ich wollte mit der Zauberin sprechen, doch sie lie ßen mich nicht zu ihr. Wir dürfen die Hütte nicht verlassen. Die Mama-loi wird nach Einbruch der Dunkelheit mit uns sprechen.« »Wir sind also praktisch Gefangene«, stellte der Dämonenkiller
fest. »Was die Alte wohl mit uns vorhat?« »Sie ist eine Freundin. Sie ist auf unserer Seite.« »Da bin ich nicht sicher.« Er ging langsam in der Hütte auf und ab. »Ich glaube ihr nicht. Diese Geschichte mit dem Dämonenauge kommt mir sehr seltsam vor. Erzähle mir ganz genau, wie du zu dem Pfand gekommen bist.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Asmodi gab mir das Auge.« Dorian lachte spöttisch. »Das nehme ich dir einfach nicht ab. Wie ging das vor sich? Holte Asmodi ganz einfach das Auge heraus und überreichte es dir?« »Du brauchst gar nicht spöttisch zu werden«, fauchte Vali. »Ich will endlich die Wahrheit wissen«, sagte er wütend. »Nichts als die Wahrheit. Du tischst mir eine Menge unglaublicher Geschich ten auf. Ich glaube, du hast mich von Beginn an belogen. Und ich war so naiv und bin auf deine Erzählungen hereingefallen.« »Ich habe nicht gelogen!« »Ich möchte jetzt wissen, wie die Übergabe des Auges vonstatten ging.« »Ich kann es nicht sagen, Dorian. Ich möchte dir gern alles erzäh len, aber es ist nicht möglich. In mir ist eine Sperre von Asmodi er richtet worden. Ich kann nicht über die Geschehnisse von damals sprechen. Ich weiß, wie man ihn vernichten kann, und ich werde ihn töten. Du mußt mir vertrauen, Dorian.« Er blickte das Mädchen zweifelnd an. Wieder erinnerte er sich an Olivaros Warnungen. Vali war mit starken Banden an den Fürsten der Finsternis gekettet. »Versuche die Sperre zu überwinden!« drängte er. »Ich kann nicht«, sagte Vali schwach. »Ich versuche es immer wie der, aber es ist nicht möglich.« »Und was sollen wir nun tun?« »Warten«, sagte Vali. »Die heutige Nacht wird die Entscheidung bringen. Ich spüre es. Heute ist Vollmond, und die Konstellation der
Gestirne ist günstig.« »Ich will nicht mehr warten«, brummte der Dämonenkiller. »Ich will endlich handeln. Wir werden einen Fluchtversuch unternehmen und versuchen, diesen Marassa aufzuspüren.« »Und wie stellst du dir die Flucht vor? Wir sind unbewaffnet. Je der Fluchtversuch ist sinnlos und bringt auch nichts ein. Wir müssen nur warten. Alles wird sich von selbst erledigen. Es wird zum Kampf zwischen Jorubinas und Marassas Leuten kommen.« »Woher weißt du das?« fragte Hunter mißtrauisch. »Ich weiß es«, sagte sie fest. Parker war durch ihre Unterhaltung aufgewacht. Er stand auf und gähnte ungeniert. »So lange habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Was ist los? Ihr seht so aus, als würdet ihr jeden Augenblick aufeinander losgehen. Habt ihr wieder mal gestritten?« »Nein«, sagte Hunter. »Wir hatten nur eine kleine Meinungsver schiedenheit.« Die Tür wurde geöffnet, und zwei hünenhafte Männer traten ein. Sie brachten ihnen das Abendessen. »Ich will mit der Mama-loi sprechen«, sagte Hunter. »Sie wird dich bei Einbruch der Dunkelheit rufen lassen«, sagte ei ner der beiden und stellte eine große Schüssel und einen Teller auf den Tisch. Er verbeugte sich, und sie zogen sich zurück. Parker hob den Deckel von der Schüssel. »Was ist das?« fragte er überrascht. »Dörrfleisch mit Bananen«, sagte Vali. »Riecht gar nicht übel«, stellte er fest und klatschte sich zwei Schöpflöffel voll auf den Teller. »Und schmeckt ausgezeichnet«, ge stand er, nachdem er gekostet hatte. Dorian hatte keinen Appetit. Lustlos aß er einige Bissen. Auf ei nem Teller lagen einige würzige Hefekuchen mit Rosmarin und Fisch. Er aß ein Stück und trank ein Glas Limonade dazu. Immer wieder blickte er auf die Uhr. Er war von einer unglaublichen Unru
he erfüllt. Das Warten machte ihn nervös. Schließlich stellte er sich an eines der Fenster. Die Schatten wurden immer länger. In einer Stunde würde die Sonne untergegangen sein. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurde vor den Hütten ein rie siges Feuer entfacht. Einige Minuten später betraten drei Schwarze die Hütte. Einer hielt in der rechten Hand einen Stock, um den sich eine dicke Schlange wand. Er streckte den Stock aus und bedeutete Hunter, daß er mitkommen sollte. Der Dämonenkiller stand langsam auf. Er warf Vali und Parker einen flüchtigen Blick zu, dann folgte er dem Mann. Um das hochlodernde Feuer saßen ein Dutzend Farbige, die Schnaps aus kleinen Tonkrügen tranken. Hunter wurde zur Hütte der Zauberin gebracht. Sie saß vor dem Tisch, und Schlangen ringel ten sich auf ihrem Schoß. Diesmal trug sie einen schwarzen Um hang, und ihr Gesicht und die Hände waren mit magischen Zeichen bemalt. »Setz dich!« sagte sie. Dorian ließ sich auf einem Sitzkissen nieder. »Ich muß mit dir sprechen.« Ihre Hände liebkosten die Schlangen leiber. »Worüber?« »Über Valiora. Sie ist verändert. Ihr Geist wird von einer fremden Macht beherrscht. Sie ist ein armes, bedauernswertes Geschöpf. Ma rassas Medium.« »Bist du ganz sicher?« »Es gibt keinen Zweifel. Sie wird über uns alle Unglück bringen.« Hunter beugte sich vor. »Welche Rolle kommt dir zu, Jorubina? Auf welcher Seite stehst du? Und was weißt du alles?« Die Hexe lächelte, und dabei sah ihr Gesicht noch unheimlicher aus. »Vor langer Zeit war ich sehr mächtig. Aber meine Macht wur de immer schwächer. Meine Anhänger zerstreuten sich in alle Win de. Einige liefen zu Marassa über. Ich sah diesem Treiben lange un
tätig zu, aber jetzt muß ich handeln. Ich muß den Kampf gegen Ma rassa aufnehmen. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät. Du wirst mir helfen. Aber es ist unbedingt notwendig, daß ich Valiora von ih rer Besessenheit befreie.« Dorian ahnte, wie die Hexe Valiora behandeln wollte. Sie würde sie töten, und das konnte er nicht zulassen. »Das kommt nicht in Frage.« »Es gibt keine andere Möglichkeit.« Ihre Stimme klang wie das Kreischen einer Kreissäge. »Sie muß unbedingt von dem Dämon be freit werden, der sie beherrscht.« Hunter sprang auf. »Da habe ich aber auch noch ein Wort mitzu sprechen!« »Meine Entscheidung ist gefallen«, sagte sie. »Niemand kann mich umstimmen. Valiora muß sterben.« Sie klatschte in die Hände, und die Tür glitt auf. Zwei riesige Män ner stürzten in die Hütte. »Nehmt ihn gefangen!« befahl die Mama-loi. Hunter reagierte augenblicklich. Aus der Drehung heraus schoß seine rechte Hand vorwärts. Die Handkante prallte mit voller Wucht gegen die Kehle des rechts von ihm stehenden Mannes, der bewußt los zu Boden fiel. Der zweite packte Hunter an der Schulter und riß ihn zurück. Der Dämonenkiller versetzte ihm mit dem linken Ellbo gen einen Stoß gegen die Leber und duckte sich. Jetzt war keine Zeit für einen fairen Kampf. Mit dem rechten Fuß versetzte er dem Hü nen einen Tritt in den Unterleib. Mit zwei Sprüngen erreichte Dorian die Tür. Den Farbigen, der ihm entgegenkam, stieß er zur Seite und sprang ins Freie. Ohne zu überlegen, wandte er sich nach links. Er lief um die Hütte der Zau berin herum und verschwand in der Dunkelheit. Hinter sich hörte er erregte Schreie. Er wollte einen Bogen schla gen und von der anderen Seite zurückkommen, rannte an einer Fels wand entlang und blieb hinter einem Steinbrocken stehen. Als zwei
Farbige vorbeikamen, duckte er sich. Einer trug eine Fackel in der Hand, der andere eine riesige Machete. Sie gingen vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er wartete einige Sekunden, dann lief er weiter. Vorsichtig näherte er sich den Hütten. Einige der Anhänger der Hexe standen ums Feu er und schnatterten erregt. Vor jeder Hütte waren Wachtposten auf gestellt. Fünf Minuten später stand der Dämonenkiller hinter der Hütte, in der sich Vali und Jeff befanden. Als erstes mußte er den Posten aus schalten. Die Hütte war noch fünfzig Meter entfernt. Er legte sich auf den Boden und robbte heran. Plötzlich drang ein lauter Schrei aus der Hütte. Es war Vali, die schrie. Der Posten wandte Dorian jetzt den Rücken zu. Er blickte durch das Fenster in das Innere der Hütte. Wieder schrie Vali. Hunter sprang auf und stand mit drei gewaltigen Sprüngen hinter dem Mann. Den Judogriff, den er anwandte, hatte er Hunderte von Malen geübt. Ohne einen Laut von sich zu geben, wurde der Farbige ohnmächtig. Die Machete entfiel seiner Hand. Vorsichtig legte Dori an den Mann zu Boden. Dann packte er das riesige Messer und blickte durch das Fenster. Parker wurde von zwei Farbigen festgehalten. Sie drängten ihn in eine Ecke. Er wehrte sich verzweifelt. Zwei weitere Männer hatten Vali gepackt. Vor ihr stand ein kleiner Kupferkessel, in dem glühen de Kohlestücke lagen. Eine Schlange glitt über den Boden. Einige Schritte vor Parker richtete sie sich auf. Der häßliche Schädel beweg te sich hin und her. Die Zauberin stand hinter der Schlange und machte beschwörende Gesten. Die Schlange richtete sich immer hö her auf. Die Männer ließen Parker los. Er stand wie erstarrt da, nur seine Augen bewegten sich. Die Hexe wandte sich Vali zu. Sie schloß die Augen und wiegte sich in den Hüften. Die Arme hatte sie vor der schlaffen Brust ge kreuzt. Ihre Lippen bewegten sich. Valis Gegenwehr erlosch. Die
junge Frau schloß die Augen. Ihre Wimpern zitterten; sie atmete flach. Einer der Männer schnitt ihr eine Haarsträhne ab, die er in einen winzigen Lederbeutel steckte. Danach schnitt er Vali mit einem scharfen Rasiermesser einige Nagelstücke ab, die er zu der Haarlo cke warf, ritzte dann Valis rechten Daumen mit dem Messer und hielt den Beutel unter die Wunde. Blutstropfen fielen hinein. Ein zweiter Mann hielt eine spitze Eisenstange in den Kupferkessel, in dem sich die glühende Kohle befand. Die Zauberin murmelte wei terhin geheimnisvolle Beschwörungen. Der Dämonenkiller schätzte seine Chancen ab. Im Augenblick be fanden sich außer der Hexe nur zwei der Farbigen in der Hütte. Der eine von ihnen zog die Eisenstange aus den Kohlen. Ihre Spitze glühte. Die Zauberin öffnete die Augen und blickte Vali an. »Stich ihr die Augen aus!« schrie sie so laut, daß es Hunter hören konnte. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit: Er mußte das Fenster ein schlagen. Klirrend zerbarst eine Scheibe. Er öffnete die Verriegelung und stieß das Fenster auf. Mit einem Satz stand er auf dem Fenster brett und sprang in die Hütte. Der Mann mit der glühenden Eisenstange ging auf ihn los. Dorian parierte den Stoß, schlug ihm die Flachseite der Waffe gegen den Kopf und packte die völlig überraschte Zauberin. »Hinaus mit dir!« schrie Dorian den zweiten Farbigen an. »Sonst schlage ich deiner Herrin den Schädel ab.« Der Mann riß die Augen entsetzt auf. »Geh!« sagte die Mama-loi mit zittriger Stimme. Hunter steckte den Lederbeutel ein, in dem sich Valis Haarsträhne befand. Vali erwachte langsam aus ihrer Erstarrung. Von den Vor gängen der letzten Minuten hatte sie nichts mitbekommen. Dorian hielt die Zauberin am Hals fest. Er drückte stärker zu, und ihre Augen wurden trübe. Wütend riß er sie herum und blieb vor
Parker stehen. Die Schlange bewegte sich noch immer. Ihre roten Augen schienen Jeff hypnotisiert zu haben. Hunter bückte sich, und die Machete zuckte wie ein Blitz durch die Hütte. Er hatte gut ge troffen. Der Schlangenschädel fiel zu Boden, und der kopflose Leib krümmte sich wie ein Wurm an einem Angelhaken. Parker strich sich verwundert über die Augen und schüttelte den Kopf. »Du hast alles zerstört!« fauchte die Hexe. »Ich werde euch töten lassen.« »Wir nehmen dich mit, Jorubina«, sagte der Dämonenkiller. »Kei ner deiner Anhänger wird uns angreifen, denn das wäre dein Tod.« Die Alte kicherte, und Hunters Hand drückte fester zu. »Du wirst mich nicht töten. Dazu bist du zu feige.« »Wir verlassen jetzt die Hütte. Du wirst deinen Leuten sagen, daß sie uns in Ruhe lassen sollen. Hast du mich verstanden?« »Ich denke nicht daran«, sagte die Alte stur. »Ich werde ihnen sa gen, daß sie euch töten sollen.« »Das werde ich zu verhindern wissen«, sagte Hunter kalt. »Jeff, nimm die Machete!« Parker packte die Waffe, und Hunter drückte seine linke Hand auf Jorubinas Mund. Die Alte wehrte sich heftig und schlug verzweifelt mit den Armen um sich. »Öffne die Tür, Vali!« Jorubinas Anhänger standen in einem Halbkreis um die Hütte. Sie heulten wütend auf, als sie sahen, wie sich die Hexe vergeblich be mühte, Dorian Hunters Umklammerung zu entkommen. »Eure Herrin ist in meiner Gewalt! Wenn ihr uns angreifen solltet, breche ich ihr das Genick.« Die Gesichter der Männer waren von Haß und Wut verzerrt. »Zieht euch zurück!« schrie der Dämonenkiller. Sie zögerten. »Ich zähle bis drei«, sagte Hunter grimmig. »Eins …«
In die Gruppe kam Bewegung. Langsam zogen sie sich zurück. Hunter trat vor die Hütte. Vali und Jeff folgten ihm. Lautes Ge brüll war zu hören. Schwarze Gestalten, nur mit Lendentüchern be kleidet, kamen rasch näher. Ihre Gesichter und Körper waren mit grellen Farben beschmiert. In den Händen trugen sie Macheten oder Äxte. Die Alte biß Hunter in die Hand, doch er lockerte seinen Griff nicht. »Das sind Marassas Leute«, sagte Vali. Ein unglaublich brutaler Kampf entwickelte sich zwischen den beiden Voodoogruppen. »Das ist unsere Chance«, rief Hunter. »Sie sind so sehr miteinan der beschäftigt, daß wir fliehen können.« Er nahm seine Hand vom Mund der Alten. »Ich lasse dich frei, Jorubina«, sagte er. »Du bist uns auf der Flucht nur hinderlich.« Er gab ihr einen Stoß, und sie taumelte auf die kämpfenden Ge stalten zu und stieß einen schrillen Schrei aus. Dann feuerte sie ihre Leute an. Im Augenblick hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich um Hunter zu kümmern. »Los!« sagte der Dämonenkiller. Sie wandten sich nach rechts und liefen an einer Hütte vorbei. Ein mal blieb Hunter kurz stehen und sah zurück. Der Kampf ging wei ter. Sie rannten, so rasch sie konnten. Ein schmaler Pfad schlängelte sich in die Tiefe. Nach einigen Minuten war nichts mehr vom Kampflärm zu hören. »Ich kann nicht mehr«, keuchte Vali nach einer halben Stunde. Sie ließ sich einfach zu Boden fallen und blieb liegen. »Wir sollten uns lieber ein Versteck suchen«, sagte Parker. »Wir wissen nicht, ob noch weitere Anhänger Marassas unterwegs sind, und wir haben keine Waffen. Wenn sie uns einholen, sind wir verlo ren.«
Hunter nickte nachdenklich. Jeffs Vorschlag schien ihm recht ver nünftig zu sein. »Vielleicht finden wir eine Höhle, in der wir uns verstecken kön nen«, meinte Parker. »Bleib du bei Vali, Jeff! Ich suche die Felswand ab.« Er holte seine Taschenlampe hervor, die er kurz aufblitzen ließ, und kletterte die Wand hoch, fand aber kein geeignetes Versteck. Er probierte es an einer anderen Stelle und hatte mehr Glück. Drei Me ter über dem Pfad entdeckte er einen schmalen Einschnitt in der Wand, der sich nach wenigen Metern verbreiterte. Es war zwar kei ne Höhle, aber als Versteck ausgezeichnet geeignet, da man das Loch vom Pfad aus nicht sehen konnte. Rasch kehrte er zu Vali und Jeff zurück. »Ich habe ein passendes Versteck gefunden. Kommt mit!« Sie kletterten die Wand hoch und krochen in die Felsspalte. »Versucht zu schlafen!« sagte Hunter. »Und kein Wort mehr! Man hört jedes Geräusch Hunderte von Metern weit.« Parker und er lehnten sich mit den Rücken gegen die Wand, wäh rend sich Vali auf den Boden legte. Jeff schlief nach einigen Minuten ein. Vali änderte immer wieder ihre Stellung. Das Liegen auf dem harten Boden war alles andere als angenehm. Dorian ließ sie nicht aus den Augen. Er hatte einige Fragen an sie zu richten, konnte aber seine Neugier nicht befriedigen. Eine halbe Stunde lang blieb alles ruhig. Dann waren Schritte und leise Stimmen zu hören. Vali setzte sich auf und blickte Dorian be sorgt an. Die Schritte kamen näher. Es mußten mindestens ein halb es Dutzend Männer sein, die an ihrem Versteck vorbeigingen. Die Schritte entfernten sich jedoch wieder langsam. Dorian dachte abermals an Olivaros Warnung, daß Asmodi über alle ihre Schritte unterrichtet war. Wenn das stimmte, dann bot das Versteck auch keinen Schutz.
George Calbot hatte einige Stunden lang tief und traumlos geschla fen. Die Ärzte waren fassungslos, denn sein neues Herz arbeitete nicht nur völlig normal, sondern darüber hinaus hatte sich die Ope rationswunde geschlossen, war völlig verheilt. Sie hatten alle Infusi onsschläuche entfernt. Dr. Harvey und eine Gruppe von Spezialisten hatten die Untersu chungsergebnisse studiert und standen vor einem Rätsel. Nach allen Erfahrungen, die man bisher mit Herztransplantationen gemacht hatte, waren die Ergebnisse unmöglich. Kein Mensch konnte sich in nerhalb so kurzer Zeit von so einer schweren Operation erholen. Calbot hatte Appetit. Er aß Huhn mit Reis und verlangte lautstark nach einem Glas Bier, was ihm aber nicht bewilligt wurde. An seine unheimlichen Träume dachte er nicht mehr. So wohl hatte er sich seit vielen Jahren nicht mehr gefühlt. Er hatte keine Schmerzen, und ein neues Leben lag vor ihm. Seine Frau und die Kinder hatten ihn wie ein Wunder angestarrt. Er las in einem Kriminalroman, der ihn langweilte. Nach einigen Minuten legte er ihn zur Seite. Vergnügt dachte er an die Zukunft, schloß die Augen und gab sich ganz seinen Träumereien hin. Er würde wieder arbeiten können; wahrscheinlich nicht mehr im Ha fen, aber darauf kam es nicht an. Wichtig war, daß er nicht mehr auf seine armselige Rente ange wiesen war. Plötzlich spürte er ein leichtes Ziehen in der Nackengegend. Dann stach etwas in seine Schultern. Der Schmerz wurde immer stärker. »Schwester«, sagte er rasch, »ich fühle mich so seltsam. Rufen Sie bitte Dr. Harvey!« Sein ganzer Körper schien mit einem Mal in Feuer getaucht zu sein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wand er sich hin und her. Dr. Harvey und Coco betraten das Krankenzimmer. »Ich habe Schmerzen, Doktor«, sagte Calbot. »Überall. Mein gan
zer Körper schmerzt.« Coco blieb neben dem Bett stehen. Sie hatte das Nebenzimmer be halten und einige Male nach Calbot gesehen. Sein Gesundheitszu stand hatte sie mißtrauisch gemacht. Sie ahnte, was die rasche Hei lung zu bedeuten hatte. Bis jetzt hatte sie gehofft, daß sie sich irrte, aber als sie ihn nun ansah, wußte sie, daß ihre Vermutung stimmte. Calbot streckte seine Arme aus. Sie wurden durchsichtig. »Helfen Sie mir, Doktor!« schrie er verzweifelt. Die Luft über dem Bett flimmerte. Calbots gesamter Körper wurde durchscheinend. Eine Hitzewelle strömte auf Coco und Harvey zu. Dann löste sich Calbots Körper auf. Er verschwand. Coco starrte das leere Bett an und ballte die Fäuste. Jetzt ist es As modi gelungen, dachte sie. Er hat Calbots Körper nach Haiti geholt.
Calbot glaubte zu explodieren. Ein gewaltiger Sog hatte ihn erfaßt, der ihn durch eisige Kälte riß. Er fand sich in einer Felsspalte wie der. Sein Körper war unsichtbar, ebenso wie das Nachthemd, das er trug. Ihn fröstelte. Er lehnte an einer Felswand, und fremde Gedan ken drangen auf ihn ein. Dann hatte er plötzlich keine Angst mehr und wurde ruhig. Er wußte, was er tun mußte. Die Stimme in seinem Inneren gab ihm die Befehle. Die Stimme war weich und einschmeichelnd. Er veränderte seine Stellung und ging drei Schritte vorwärts, dann blieb er stehen und streckte den Kopf vor. Etwas von ihm entfernt saß Jeff Parker. Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Er schlief. Neben Parker lehnte Dorian Hunter an der Wand, und vor ihm kniete Vali, die sich in den Hüften wiegte und leise sang. Es war ein einschmeichelnder Singsang, der aus un verständlichen Worten bestand. Sie griff in Hunters Tasche, holte ein kleines Taschenmesser heraus und klappte die Klinge auf. Hunter hatte die Augen geschlossen. Sein Gesicht war entspannt.
Valis linke Hand glitt sanft über Hunters Gesicht. Sie strich durch sein Haar. Mit dem Taschenmesser schnitt sie ihm einige Haare ab. Ihr Gesang wurde jetzt etwas lauter. Die Haare stopfte sie in einen winzigen Beutel, der vor ihr lag. Hunter hatte sich nicht bewegt. Er rührte sich auch nicht, als Vali seine rechte Hand auf ihre Schenkel legte. Sie beugte sich weiter vor, bis ihre schwarzen Haare auf sein Gesicht fielen. Calbot kam einen Schritt näher. Sie schnitt mit dem Taschenmesser kleine Stücke von Hunters Fin gernägeln ab und warf sie in den Beutel. Anschließend schob sie das Taschenmesser zurück in Hunters Tasche und schloß den Beutel. Langsam stand sie auf. Sie wandte sich nach links, und für einige Se kunden blieb sie verschwunden. Dann kehrte sie zurück und setzte sich neben Hunter. Calbot zog sich zurück. Er hatte genug gesehen. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Wieder waren die fremdartigen Gedanken in seinem Hirn. Sie flüsterten ihm freundliche Dinge zu, und er entspannte sich. Die Befehle waren klar und deutlich. Er würde danach handeln, obwohl er den Sinn der Anordnungen nicht verstand. Es konnten Minuten oder Stunden vergangen sein, als er Stimmen hörte. Neugierig beugte er sich vor. Hunter war erwacht. Er stand eben auf und legte den rechten Zeigefinger auf den Mund. Er ging an Vali vorbei. Sie wollte ihm folgen, doch durch Gesten bedeutete er ihr, sitzen zu bleiben. Die Stimmen waren lauter geworden. Hunter verschwand hinter einem Felsvorsprung. Zwei Minuten später kam er zurück. »Marassas Leute haben uns entdeckt«, sagte er leise. Er griff nach der Machete und weckte Parker auf, der unwillig brummte. »Aufste hen, Jeff! Mehr als zehn Männer sind eben dabei, zu uns heraufzu klettern.« Parker sprang auf. »Sehen wir nach, wohin diese Felsspalte führt«, sagte er.
Hunter nickte. »Geht vor! Ich bilde den Abschluß. Macht rasch! Sie können jeden Augenblick da sein.« Parker lief los, und Vali folgte ihm. Calbot drückte sich in eine Felsnische. Die drei kamen an ihm vor bei. Hunter blickte sich immer wieder um. Nach einigen Sekunden waren sie nicht mehr zu sehen. Dann kamen die Farbigen. Einige trugen Fackeln, und alle waren mit Messern ausgerüstet. Calbot zählte die Männer. Es waren genau dreizehn; allesamt große, kräftige Gestalten. Er wartete, bis sie verschwunden waren, dann ging er rasch die Felsspalte entlang, blieb aber nach einigen Schritten wieder stehen. Seine Finger glitten über den Fels. Nach wenigen Sekunden hatte er gefunden, wonach er suchte. Einen kleinen Lederbeutel, in dem sich Haare und Fingernägel befanden. Er steckte den Beutel unter die rechte Achsel und spürte die eisige Kälte, die nach ihm griff. Sein Körper explodierte wieder, doch diesmal spürte er keine Schmerzen. Der Sog riß ihn in undurchdringliche Schwärze. Einige Sekunden lang vernahm er noch die fremde Stimme, dann war die Verbindung abgerissen. Er schlug die Augen auf. Ein seltsames, aber nicht unangenehmes Ziehen war in seinen Gliedern. Er lag wieder in seinem Bett im Krankenhaus. Coco und Harvey waren überrascht aufgesprungen. Das sind meine Feinde, dachte er. Ich darf ihnen nichts erzählen. »Weshalb starren Sie mich so verwundert an?« »Können Sie sich nicht erinnern, Mr. Calbot?« Harveys Stimme zit terte vor Erregung. »Woran?« fragte Calbot überrascht. »Sie hatten Schmerzen, und Sie haben nach mir gerufen. Als ich …« »Sie müssen sich täuschen, Doktor«, sagte Calbot fröhlich und zog die Decke bis hoch ans Kinn. »Ich habe keine Schmerzen. Ganz im Gegenteil. So prächtig habe ich mich schon lange nicht mehr ge
fühlt.« Die Krankenschwester war auf einen Stuhl gesunken. Sie starrte Calbot ungläubig an. Sie hatte geglaubt, verrückt zu werden, als er sich plötzlich in Nichts aufgelöst hatte. Und nun war er zurückge kommen. Das ging über ihren Verstand. Sie schüttelte den Kopf und konnte nur mit Mühe ein hysterisches Kreischen unterdrücken. Coco und Harvey wechselten einen Blick. Der Arzt war bleich. »Sie sehen gar nicht gut aus, Doktor.« Calbot grinste. »Als hätten Sie einen Geist gesehen.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte der Arzt. »Nochmals, Mr. Calbot, woran können Sie sich erinnern?« »Was soll diese Frage, Doktor? Ich habe in diesem Krimi gelesen. Ein fades Ding. Ich habe ihn zur Seite gelegt, die Augen geschlossen und daran gedacht, daß ich bald wieder arbeiten kann. Und als ich die Augen öffnete, standen Sie und Miß Zamis vor mir und sahen mich höchst seltsam an.« »Er kann sich nicht erinnern«, sagte Harvey fast unhörbar. Ich habe sie getäuscht, dachte Calbot zufrieden. Der Meister wird zufrie den sein. Unauffällig holte er den Lederbeutel unter seiner Achsel hervor und schob ihn unter das Kopfkissen. »Ich halte das nicht mehr aus«, keuchte die Krankenschwester. Sie sprang auf, riß die Tür auf und stürzte auf den Gang hinaus. Harvey folgte ihr. »Vielleicht informieren Sie mich einmal, was hier los ist, Miß Za mis«, sagte Calbot. Sie zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Sie waren ver schwunden, Mr. Calbot. Mehr als eine Stunde lang. Versuchen Sie sich zu erinnern! Sie hatten Schmerzen. Erinnern Sie sich daran?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin müde. Lassen Sie mich allein! Ich will schlafen.« Er blickte wie ein trotziges Kind drein.
Coco sah ihn forschend an. Sie spürte die fremdartige Ausstrah lung, die von ihm ausging, und beschloß, ihn nicht aus den Augen zu lassen.
Nach hundert Metern wurde die Felsspalte breiter, und der Boden stieg sanft an. Zweihundert Meter weiter ragte plötzlich eine unbe zwingbare Steilwand vor ihnen auf. »Jetzt sitzen wir in der Falle«, knurrte Parker. »Das verdanken wir dir, Vali«, sagte Hunter wütend. »Mir?« fragte sie erstaunt. »Ja, dir. Asmodi ist es irgendwie möglich, durch dich alles zu se hen, was wir unternehmen. Ich bin sicher, daß er über jeden unserer Schritte Bescheid wußte. Aber es ist zwecklos, jetzt darüber zu spre chen. Ich habe einen gewaltigen Fehler begangen, als ich dir vertrau te.« »Ich schwöre dir, Dorian, daß ich …« »Halt den Mund!« sagte er brutal. Die Verfolger kamen langsam näher. Sie bildeten einen Halbkreis um die drei. »Jeder Widerstand ist sinnlos«, sagte einer von ihnen. Er trat einen Schritt vor und hob seine Machete. »Wirf die Waffe weg!« Hunter wußte, wann er verloren hatte. Bei einem Kampf mit die sen riesigen Kerlen mußte er unterliegen. Es war besser, sich gefan gennehmen zu lassen und auf eine Chance zu warten. Er ließ die Machete fallen und sah Vali an, die seinen Blick erwi derte. Ihr Gesicht war verändert. Ihre Augen glänzten spöttisch im Schein der Fackeln, dann lächelte sie zufrieden. Die Voodooleute fesselten Hunter und Parker die Hände. Zwei Männer wichen nicht von ihrer Seite. Nur Vali konnte sich frei be wegen. Sie kehrten zu den fünf Hütten zurück. Von Jorubina und ih
ren Leuten war nichts zu sehen, doch der Boden war an vielen Stel len mit Blut getränkt. Hunter konnte sich lebhaft vorstellen, was ge schehen war. Marassas Leute waren als Sieger aus dem erbitterten Kampf hervorgegangen. Vor dem hochlodernden Feuer waren zwei Pfähle in den Boden gerammt worden. Parker wurde von zwei Farbigen in eine Hütte gezerrt, während der Dämonenkiller mit feuchten Lederriemen an einen der Pfähle gebunden wurde. Mehr als fünfzig Schwarze standen um das Feuer und ließen Hunter nicht aus den Augen. Einige Männer trugen drei Trommeln aus einer Hütte und stellten sie hinter Hunter ab. Die Chancen, daß sie aus diesem Schlamassel herauskamen, stan den schlecht. Dorian hatte nur einen Trumpf in der Hand, und der konnte möglicherweise ins Auge gehen. Dumpf dröhnten die Trommeln. Es klang wie das Schlagen eines gewaltigen Herzens. Zwei Männer traten aus Jorubinas Hütte. Einer hielt die Statue, die den Schlangengott Damballa darstellte, zwi schen den Fäusten. Das Götzenbild wurde vor Hunter auf den Bo den gestellt. Die zwei Rubinaugen glühten. Das Trommeln wurde lauter. Dorian starrte die Figur an. Die leere Augenhöhle füllte sich langsam. Ein schleimiges Etwas drehte und wand sich darin und wurde zu einem großen roten Auge, das ihn böse anfunkelte. Er wollte den Blick abwenden, doch die magische Anziehungskraft des Auges war stärker. Für Minuten versank die Welt um ihn; nur das Auge, das ihn lähmte, existierte. Die Männer begannen zu tanzen. Verzückt sprangen sie um das Feuer herum. Endlich konnte Dorian seinen Blick von dem Auge losreißen. Er fühlte sich wie gerädert und suchte nach Vali, konnte sie aber nir gends erblicken. Die Farbigen sangen und klatschten sich auf die nackten Schenkel. Sein Blick fiel auf Jorubinas Hütte. Ein hünenhafter Mann trat aus der Tür. Er trug einen roten Lendenschurz. In der rechten Hand hielt er einen abgeschlagenen Kopf. Er kam rasch näher.
Ihm folgte Vali, die einen roten Umhang trug. Ihre Füße waren nackt. Der Hüne blieb einige Schritte vor Dorian stehen. Seine Haut war tiefschwarz, der Körper wohlproportioniert. Sein Haar war extrem kurz geschnitten und wirkte wie eine dunkle Kappe. Sein Gesicht war einnehmend. Er hob den rechten Arm. Das weiße lange Haar der Hexe hatte er sich um das Handgelenk gewunden. Es war ein schauerlicher An blick. Der abgeschlagene Kopf der Jorubina baumelte hin und her. Die Augen der Toten waren weit aufgerissen. »Ich bin Loa Marassa«, sagte er und deutete eine spöttische Ver beugung an. Sein Englisch war akzentfrei. Er lächelte, schleuderte den Kopf in die Flammen, bückte sich dann und hob etwas Sand auf, den er zwischen den Händen zerrieb und zu Boden rieseln ließ. Langsam kam er einen Schritt näher und blieb breitbeinig stehen. »Du hast mich in verschiedenen Masken gesehen, Hunter, aber ich bin sicher, du weißt, wer vor dir steht.« Hunter nickte und sagte: »Asmodi.« »Erraten. Bis jetzt gelang es dir immer, mir zu entkommen, Hun ter. Diesmal aber gibt es keine Rettung für dich. Du wirst sterben, und diesmal wirst du nicht wiedergeboren werden. Es war nicht leicht, herauszufinden, durch welchen Zauber mein Vorgänger dir die Unsterblichkeit verlieh, und wie ich sie dir wieder nehmen könnte, aber es ist mir gelungen. Du warst ein Narr, daß du es mit mir aufnehmen wolltest. Ich bot dir an, deinen sinnlosen Kampf auf zugeben, doch du wolltest nicht hören. Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit, Hunter. Ich habe deinen Tod lange geplant. Niemand kann dir helfen. Ich werde dich nicht persönlich töten; das wird eines meiner Medien tun, ein Mann namens George Calbot. Er befindet sich in London in einem Spital. Und er ist eben dabei, die letzten Vorberei tungen zu treffen. Diesmal bin ich kein Risiko eingegangen.«
George Calbot stellte sich schlafend. Er wußte, daß er nicht allein im Zimmer war. Coco Zamis und eine Krankenschwester befanden sich bei ihm, doch sie störten ihn nicht. Er wälzte sich auf die Seite. Seine rechte Hand tastete nach dem Lederbeutel. In wenigen Minuten würde er handeln und dem Wunsch seines Herrn nachkommen. Er war sich der Kräfte bewußt, die in seinem Körper ruhten und zum richtigen Zeitpunkt wirksam werden würden. Coco wurde unruhig. Sie spürte, daß die fremdartige Ausstrah lung stärker wurde. Calbot war gefährlich. Er war nicht mehr er selbst, sondern sein Körper wurde von einer dämonischen Macht beherrscht. In den vergangenen Minuten hatte sie, von der Kranken schwester unbemerkt, einige Beschwörungen durchgeführt, damit aber keinen Erfolg gehabt. Calbot hatte etwas Fürchterliches vor. Aber was? Es mußte etwas mit Dorian zu tun haben. Sie erwartete, daß sich Calbot wieder auflöste, doch nichts derglei chen geschah. Er drehte sich jetzt auf den Rücken und schlug die Augen auf. Er lächelte gelöst. Cocos Gedanken verwirrten sich unter seinem Blick. Nur mit Mühe konnte sie die Augen offenhalten. Plötzlich war sie unendlich schläfrig. Ihre Lider schienen aus Blei zu bestehen. Sie schloß die Augen und schlief augenblicklich ein. Calbot setzte sich auf. Die Krankenschwester war ebenfalls einge schlafen. Sie lag halb über einem winzigen Tischchen. Er schlug die Decke zur Seite und stand auf. Vor einem fahrbaren Instrumentenschrank blieb er stehen, zog die Lade auf und holte eine Lanzette heraus. Zufrieden trat er ans Waschbecken. Ein Stück Seife lag in der Schale. Er nahm die Seife und setzte sich aufs Bett. Mit der Lanzette schnitzte er an der Seife herum. Er arbeitete rasch. Innerhalb von wenigen Minuten hatte er eine menschenähnliche Figur geformt. Deutlich waren die Beine und Arme zu erkennen. Der Kopf war etwas groß ausgefallen, aber das störte Calbot nicht. Er zog den Lederbeutel unter dem Kopfkissen hervor und öffnete
ihn. Vorsichtig bohrte er in den Kopf der Figur ein Loch und drück te die dunkle Haarsträhne hinein. Dann verschmierte er das Loch, steckte die Fingernagelstücke in die Hände und stellte die Statue aufs Fensterbrett. Er hatte Zeit. Noch war es nicht soweit. Er ballte die rechte Hand zur Faust. In wenigen Minuten würde er damit zuschlagen. Und in Tausenden von Kilometern Entfernung würde Dorian Hunter sterben.
Die Lederriemen trockneten und schnitten schmerzhaft in Hunters Arme und Beine ein. Asmodi und Vali hatten sich von ihm abge wandt. Der Fürst der Finsternis mußte vor seinen Anhängern eine Show abziehen. Einer der Männer reichte ihm einen roten Hahn, den er auf den Boden setzte. Das Tier verhielt sich völlig ruhig. Vali reichte ihm eine Handvoll Mais. Damit zog er um den Hahn einen magischen Kreis, den sogenannten Vaiver. Danach packte er eine Schüssel, auf der Bananenstücke und Ignamen lag. Er stellte die Schüssel vor den Hahn. Die Schwarzen hatten zu tanzen aufgehört. Eine unnatürliche Stille lag über dem Platz. Alle starrten gebannt auf den Hahn. Das Federtier blickte unwillig die Schüssel an. Dann kreischte es empört und plusterte sich auf. Die Menge heulte wü tend auf. Der Hahn hatte sich geweigert, die Opfergabe zu fressen. Die Geister waren unversöhnlich. Asmodi packte den Hahn an den Beinen und sprang auf Hunter zu. Blitzschnell drehte er dem Hahn den Hals um und riß ihm die Zunge aus. Vali fing das Blut in einer Schale auf. Asmodi warf den toten Hahn in die Flammen, steckte einen Finger in die Schale und schmierte das Blut über Dorians Gesicht. Die Schwarzen tanzten wieder und schlugen auf die Trommeln. Sie brüllten wie verrückt, und ihre Bewegungen wurden wilder. »Die Stunde der Abrechnung ist gekommen, Hunter«, sagte As modi. »Hat dir Vali dein Pfand zurückgegeben?« fragte der Dämonenkil
ler. Asmodi lachte. »Wir haben noch Zeit, Hunter. Vielleicht erzähle ich dir eine Geschichte, die dich interessieren wird.« »Mich interessieren deine Geschichten nicht, Asmodi«, sagte Dori an wütend. »Ich will mit Vali sprechen.« »Ich halte dich nicht auf.« Asmodi lächelte. »Du hast mich belogen, Vali«, sagte Hunter laut. »Du hast mir lau ter Lügen aufgetischt. Du hast mir versprochen, daß du mir helfen wirst. Du wolltest mir das Pfand geben, das dir Asmodi vor langer Zeit anvertraute. Sein Auge. Aber ich glaube, an dieser Geschichte ist kein Wort wahr.« »Du irrst dich«, sagte Vali. »Ich wollte dir wirklich helfen. Aber ich war von Asmodi beeinflußt. Und das mit dem Auge stimmt. Aber ich kann es ihm nicht zurückgeben.« Asmodi fing schallend zu lachen an. »Es ist zu komisch, Hunter. Du hast so verzweifelt nach dem Pfand gesucht, das ich Vali gege ben hatte, und dabei war es dir in jeder Sekunde so nahe!« Hunter starrte den Dämon verständnislos an. »Sieh mich an, Hunter!« sagte Asmodi. Der Dämonenkiller blickte in das dunkle Gesicht. Das rechte Auge Asmodis veränderte sich, wurde größer und strahlte. Dann wechsel te es die Farbe. Es war blutrot geworden. »Und jetzt sieh Vali an!« Dorian wandte den Kopf. Vali lächelte, und ihr linkes Auge verän derte ebenfalls die Farbe. Es wurde auch blutrot. »Vali hatte die ganze Zeit mein Pfand bei sich, Hunter. Ich habe ihr das Auge eingesetzt. Du hättest sie nur töten müssen, dann wäre auch ich gestorben. Ich wußte stets, was du tust. Durch mein Auge konnte ich alles sehen.« »Und was ist mit dem Auge, das sich in der Statue des Schlangen gottes befindet?«
»Das ist nur eine Imitation, mit der ich die Jorubina täuschte. Aber das alles liegt schon so lange zurück. Erinnerst du dich noch daran, wann wir uns das erstemal trafen?« Der Dämonenkiller nickte. »Das war 1713 in Wien.« »Richtig. Da wurde ich das Oberhaupt der Schwarzen Familie. Doch meine Macht war nicht richtig gefestigt. Ich mußte in der Welt herumreisen und Verbündete suchen, die mir treu ergeben waren. 1789 kam ich nach Haiti. Das Land war noch unter französischer Herrschaft, aber unter den Sklaven brodelte es. Sie machten sich die Devise der Französischen Revolution zu eigen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese Worte waren in aller Munde. Und ich will nicht verschweigen, ich war einer der Hauptinitiatoren. Ich beein flußte Toussaint, der sich später L'Ouverture nennen ließ. Ich agierte im Hintergrund, und Toussaint führte meine Anweisungen durch.« Asmodis magisches Auge leuchtete stärker. Das andere Auge schloß er. Vor Hunters Augen flimmerte es. Das rote Auge wurde immer größer. Er warf durch Asmodis Auge einen Blick in die Vergangen heit.
Asmodi nannte sich Marassa, und zwar aus gutem Grund. Er hatte die Absicht, die primitiven Schwarzen zu beeindrucken. Er wollte zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten auftauchen. Dazu brauch te er aber ein Medium, das ihm treu ergeben war. Kurz nach seiner Ankunft im März 1789 hatte er sich mit einer ur alten Schwarzen angefreundet, die als die mächtigste Zauberin der Insel galt und von allen ehrfurchtsvoll Mama-loi Jorubina gerufen wurde. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er sich in das Vertrauen der Alten eingeschlichen hatte. Er brachte ihr einige einfache Zaubertricks bei, die sie ziemlich beeindruckten.
Haiti gefiel Asmodi ausgezeichnet. Er beschloß, die Insel zu sei nem Hauptquartier zu machen. Hierher konnte er sich immer zu rückziehen, sich vor seinen Feinden verstecken und in Ruhe seinen dunklen Geschäften nachgehen. Sein nächster Plan sah vor, daß sich die schwarzen Sklaven und Mulatten gegen die Franzosen erhoben. Er wußte, daß dieser Auf stand Jahre dauern würde. In Cap Francais, der damaligen Hauptstadt Haitis, mischte er sich unter die Farbigen. Er beeinflußte einen Franzosen, der ihn bei sich als Haussklave aufnahm. Nach einigen Tagen hatte er einen Farbi gen gefunden, den er für geeignet hielt, seinen Plan durchzuführen. Er hieß Toussaint, war Kutscher und ein unglaublich häßlicher Kerl, aber er war intelligent und konnte lesen und schreiben. So oft es nur möglich war, traf Asmodi mit Toussaint zusammen und infizierte ihn mit dem Gedankengut der Französischen Revolution. Und diese Gedanken fielen bei Toussaint auf fruchtbaren Boden. Für die Weißen war das Leben lustig und luxuriös. Die Wirtschaft florierte. Die Hauptstadt war eine elegante Metropole, die das »Paris der karibischen See« genannt wurde. Aber der Reichtum der Wei ßen gründete sich auf der harten Arbeit der Sklaven. Sie sahen die Paläste der Weißen, ihre Feste und ihr angenehmes Leben. Innerhalb weniger Wochen brodelte es unter den fünfhunderttausend Sklaven der Insel. Es kam zu den ersten Ausschreitungen, die ersten Paläste wurden niedergebrannt. Natürlich meinten die Weißen, die Revolution sei nur für sie ge macht. Töten können wir auch, dachten die Farbigen und mordeten und verwüsteten die Insel. Asmodi war mit seinem Werk zufrieden, doch der Aufstand dau erte zu lange. Er zog sich zur Mama-loi Jorubina in die Berge zu rück, und da kam es zu einer für sein späteres Leben entscheiden den Begegnung. Er lernte Valiora kennen. Sie war sechzehn Jahre alt. Ein bildhübsches Mädchen mit üppigen, festen Brüsten und lan gen Beinen. Valis Vater war ein reicher französischer Plantagenbesit
zer und ihre Mutter eine Farbige, die auf Haiti geboren war. Vali war von der Jorubina erzogen worden und verfügte über ver borgene magische Kräfte. Zu ihrer körperlichen Schönheit gesellte sich außergewöhnliche Intelligenz. Vielen der Schwarzen war das Mädchen unheimlich. Valis Grausamkeit war bekannt und berüch tigt. Asmodi beobachtete sie. Vali war genau die Partnerin, die er brauchte. Nach wenigen Tagen war sie seine Geliebte. In ihren Ar men fand er eine nie gekannte Zufriedenheit. Für ihn war es klar, daß er sich nie mehr von ihr trennen würde. Er weckte ihre schlum mernden Kräfte und weihte sie in seine Pläne ein, berichtete ihr über die Schwarze Familie und verriet ihr, daß er deren Oberhaupt war. Mit Valis Hilfe wollte er seine Macht ausbauen. Sie war von dieser Idee begeistert. Willig ließ sie sich von Asmodi lenken, der sie zu immer größeren Grausamkeiten antrieb. Im Kampf gegen die Weißen kämpfte sie immer an erster Stelle. Was noch sanft an ihr gewesen war, verlor sie in diesen Wochen. Dann kam der Zeitpunkt, an dem Asmodi die Insel verlassen mußte. Er wollte nach Europa, wo er dringend gebraucht wurde. Am Tag sei ner Abreise feierte er Hochzeit mit Valiora. Die Mama-loi Jorubina traute sie in einer unheimlichen Zeremonie. Es war eine Nacht, wie geschaffen für eine Dämonenhochzeit. Der Himmel war schwarz, und ununterbrochen zuckten Blitze durch die Nacht. Nur einige der engsten Vertrauten Asmodis nahmen an den Fest lichkeiten teil. Nach Dämonensitte mußte er der Braut einen Teil sei nes Körpers überlassen, der untrennbar mit dem ihren verbunden wurde. Er wollte ihr sein linkes Auge geben. Die Gäste zogen sich in eine Hütte zurück, nur die Alte blieb bei Asmodi und Vali. Sie wandte ihnen den Rücken zu und murmelte die Zauberformeln. Asmodi hielt Valis Hände in den seinen. Er mußte seine ganze Kraft aufbieten, um den Tausch der Augen zu bewerkstelligen. Doch es gelang.
»Wir sind jetzt eins«, sagte er. »Untrennbar verbunden bis zu un serem Ende. Einige meiner Kräfte sind auf dich übergegangen. Ich werde immer mit dir in Verbindung treten können und durch das Auge alles sehen. Du kannst so wie ich die Gestalt verändern, und während meiner Abwesenheit wirst du meine Stelle einnehmen.« Asmodi schickte die Jorubina zu den Gästen. Er blieb mit Vali vor der Hütte stehen. »Nimm jetzt meine Gestalt an!« Vali nickte. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Ihr Kör per zerfloß und wurde zu einem halbdurchsichtigen Etwas, das rasch die Form änderte. Es dauerte kaum eine Minute, dann hatte sie Asmodis Gestalt an genommen. Sie war sein genaues Ebenbild. Niemand hätte sie un terscheiden können. »Gut gemacht«, lobte er. »Verwandle dich wieder in deine eigene Gestalt!« Zufrieden trat er mit Vali in die Hütte ein. Am nächsten Morgen verschwand Asmodi, und Vali nahm seine Stelle auf Haiti ein. Niemand merkte den Unterschied. Er konnte sich jederzeit mit ihr in Verbindung setzen und ihr Ratschläge ertei len, egal an welchem Punkt der Erde er sich aufhielt. In den folgenden Jahren kehrte er immer wieder für einige Tage nach Haiti zurück. Es gelang ihm, seine Macht innerhalb der Schwarzen Familie so zu festigen, daß niemand seine Herrschaft an zuzweifeln wagte. 1804 wurde auf Haiti die Unabhängigkeit proklamiert. Asmodi hatte wieder einen Sieg errungen. Er nahm Vali mit und brachte sie auf die Teufelsinsel. Die Mama-loi Jorubina wollte nicht, daß Vali die Insel verließ. Sie fürchtete um ihre eigene Macht. Da spielten ihr Vali und Asmodi eine Komödie vor. Asmodi bot ihr an, das Pfand, das er Vali gege ben hatte, bei ihr zu hinterlassen. Sie vollführten eine seltsame Zere monie, während der eine Imitation des magischen Auges in ein bau
chiges Glas gezaubert wurde, das die alte Hexe unter Beschwörun gen in die Statue des Schlangengottes einsetzte. Bis zu ihrem Ende hatte die alte Zauberin geglaubt, daß sie tat sächlich eines von Asmodis Augen im Besitz hätte und er sie des halb nicht angreifen könnte.
Das rote Auge flimmerte nicht mehr. Hunter kehrte in die Gegen wart zurück. Es dauerte einige Sekunden, bis er das eben Erfahrene verarbeitet hatte. Vali warf ihren Umhang ab. Sie war völlig nackt darunter und reihte sich in den Kreis der Tanzenden ein. Asmodi klatschte in die Hände. Einige Sekunden später war ein Brausen zu hören. Aus dem Nichts materialisierte sich Olivaro. Sein Gesicht war schmal. Die dunkelbraunen Augen standen weit ausein ander. Die Nase war klein und der Mund zu groß und voll für das schmale Gesicht. Sein Haar war kurz geschnitten, gewellt und dun kelbraun. Er trug einen weißen Leinenanzug. »Es ist soweit«, sagte Asmodi. »In wenigen Augenblicken wird uns Hunter für immer verlassen.« Olivaro nickte. Seine Augen bewegten sich nicht. »Asmodi«, sagte Dorian laut, »wenn Vali stirbt, dann mußt auch du sterben?« »Du sagst es«, bestätigte der Herr der Finsternis. »Wir sind un trennbar miteinander verbunden.« »Ich ahne, wie ich sterben soll.« »Das nützt dir nichts, Hunter. Auch wenn ich es wollte, könnte ich den Lauf der Dinge nicht mehr beeinflussen.« »Vali hat versucht mich in Trance zu versetzen, und ich tat so, als ob ich hypnotisiert sei, aber ich war es nicht. Ich merkte alles. Ich weiß, daß sie mir einige Haare abgeschnitten hat, die sie zusammen mit einigen Fingernagelstücken in einen Lederbeutel tat, den sie in
einer Felsritze versteckte.« »Stimmt.« Asmodi grinste. »Diese Gegenstände befinden sich jetzt in London. Ein gewisser George Calbot hat dort eine Figur aus ei nem Stück Seife gebastelt und ihr die Haare und Fingernägel einge setzt. Er wird die Figur mit der Faust zerschlagen, und in diesem Augenblick wird dein Körper vernichtet sein.« Der Dämonenkiller fing haltlos zu lachen an. »Bist du verrückt geworden, Hunter?« Vali verließ die Tanzenden und blieb neben Asmodi stehen. »Und was geschieht, Asmodi, wenn ich meine Haare und Finger nägel gegen die von Vali ausgetauscht habe?« fragte Hunter lau ernd. »Das ist unmöglich!« sagte Vali. »Das hätte ich gemerkt.«
George Calbot starrte die Figur an. Gelegentlich wandte er den Blick ab. Coco und die Krankenschwester schliefen noch immer. Von den beiden drohte keine Gefahr. Dann hörte er Schritte und stand rasch auf. Die Tür wurde geöffnet, und Dr. Harvey trat ins Zimmer. »Was ist denn hier los?« fragte der Arzt überrascht. Calbot blickte ihn durchdringend an. Harvey verlor die Kontrolle über seinen Körper. Er taumelte ins Zimmer und fiel zu Boden. In diesem Augenblick erwachte Coco aus ihrem totenähnlichen Schlaf. Mit einem Blick erkannte sie, was los war. Sie sah die aus Sei fe geformte Figur mit den Haaren und Fingernägeln. Ich muß Calbot aufhalten, dachte sie. Er darf die Figur nicht vernichten. Sie schloß die Augen, um so Calbots hypnotischem Blick zu entge hen. Blindlings ergriff sie einen Stuhl und warf ihn in Calbots Rich tung. Der Stuhl traf. Calbot taumelte einige Schritte zurück und prallte gegen die Wand. Coco öffnete einen Augenblick die Augen und rannte auf das Fenster zu. Ihre rechte Hand griff nach der Sta tue.
Calbot richtete sich auf und packte Cocos rechtes Bein. Er riß sie zu Boden. Coco hatte die Seifenfigur umklammert. Sie atmete schwer und wälzte sich zur Seite. Dabei achtete sie darauf, daß sie die Figur nicht beschädigte. Calbot knurrte wütend. Er trat mit dem rechten Fuß nach ihr und traf sie in den Bauch. Coco krümmte sich vor Schmerzen. Calbot war wie von Sinnen. Er kniete neben Coco nieder und woll te ihr die Statue entreißen, doch sie kämpfte wie eine Löwin. Dr. Harvey stand schwankend auf. »Helfen Sie mir!« brüllte Coco. Der Arzt ging auf Calbot los, der ihm aber einen brutalen Schlag gegen den Kehlkopf versetzte. Harvey kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an und fiel über das Bett. Calbot packte Cocos rechtes Handgelenk und drehte es herum. Sie wich seinem Blick aus. Er setzte sich einfach auf sie, entriß ihr die Fi gur, sprang auf und stellte sie aufs Fensterbrett. Dann holte er mit der geballten Faust aus. »Nicht!« brüllte Coco und packte Calbots Bein. Doch sie kam zu spät. Die Faust zermalmte die Statue. Sie war flachgedrückt wie ein Pfannkuchen. In diesem Augenblick stieß George Calbot einen schrillen Schrei aus. Eine unsichtbare Kraft zerschmetterte seinen Schädel und zer drückte seinen Körper.
Das Trommeln war verstummt. Asmodi hob die Hände, und die Tänzer erstarrten mitten in der Bewegung. »Es ist soweit!« zischte der Fürst der Finsternis. Der Dämonenkiller schloß die Augen. In wenigen Augenblicken würde sich entscheiden, ob seine Vermutung richtig gewesen war. Ein lautes Krachen zerriß die Stille, und Hunter öffnete die Augen.
Ein armdicker Blitz zuckte über den Himmel und raste zu Boden. Doch er traf nicht Hunter, sondern Vali. Ihr Körper wurde in grelles Licht getaucht, ihre Haare fingen zu brennen an, ihr schönes Gesicht und ihr aufreizender Körper verkohlten innerhalb weniger Sekun den. Ein Häufchen Asche war alles, was von ihr übrigblieb. Asmodi war zu Boden gefallen. Er krümmte und wand sich. Mit dem Tod seiner Gefährtin erlosch auch sein Leben. Noch einmal ver suchte er aufzustehen, doch seine Kräfte reichten nicht dazu aus. Hilflos wie eine Schildkröte lag er auf dem Rücken; die Beine und Arme ruderten durch die Luft. Allmählich wurden seine Bewegun gen langsamer. Das glühendrote Auge verblaßte. Sein Körper zuckte noch einmal, dann blieb er reglos liegen. Seine Gestalt veränderte sich. Ein schwächliches Männchen lag vor Hunter. Ein kleiner Mann mit einem viel zu großen, kahlen Kopf. Das Gesicht war faltig und der Leib ausgemergelt. Die Haut warf Blasen, und das Fleisch löste sich auf. Eine halbe Minute später lag ein Skelett vor dem Dämonenkiller, das zu Staub zerfiel.
Ein starker Wind war aufgekommen, der Valis und Asmodis Asche in alle Himmelsrichtungen zerstreute. Die Schwarzen hatten die Flucht ergriffen. »Asmodi ist tot«, sagte der Dämonenkiller. Olivaro kam langsam näher. »Schneiden Sie die Fesseln durch!« forderte Dorian ihn auf. »Wie haben Sie das geschafft, Hunter?« Der Dämonenkiller rieb seine Beine und Handgelenke. Seine Fin ger zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete. Er inhalierte den Rauch tief und sprang hin und her. Nach einiger Zeit verschwand das steife Gefühl aus seinen Gliedern. »Wir wurden von der Jorubina gefangengenommen«, berichtete er. »Sie hat Vali verhext. Sie befand sich in Trance und merkte nicht,
was um sie herum vorging. Ein Farbiger schnitt ihr eine Haarsträhne und einige Fingernagelstücke ab und ließ etwas Blut darübertrop fen. Er steckte die Reliquien in einen kleinen Lederbeutel, den ich später unbemerkt an mich nehmen konnte. Vali hatte keine Ahnung davon. Uns gelang die Flucht, und da merkte ich, daß sie mich ver zaubern wollte. Ich ging auf ihr Spiel ein. Sie schnitt mir Haare und Fingernägel ab. Ich ahnte, was sie damit bezweckte, denn ich weiß ganz gut über Voodoo Bescheid. Sie hat das Säckchen versteckt. Da tauchten Asmodis Leute auf, und ich wollte kein Risiko eingehen. Ich habe die Lederbeutel vertauscht. Vali hat davon nichts bemerkt.« »So war das also«, sagte Olivaro. »Ohne Ihre Warnungen wäre es nicht dazu gekommen. Dann wäre ich jetzt tot.« »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, sagte Olivaro. »Sie ha ben Asmodi getötet, und ich kann nun seinen Platz einnehmen. Ich bin der neue Fürst der Finsternis, das neue Oberhaupt der Schwar zen Familie. Als Magus VII. werde ich die Schwarze Familie zu nie gekannter Macht führen.« »Aber ich dachte, daß Sie …« »Ich sagte Ihnen schon mehrmals, Hunter, daß Sie ein Narr sind. Sie haben mir einmal geholfen, ebenso wie ich Ihnen. Wir können Freunde bleiben, aber nur, wenn Sie in Zukunft die Hände von der Schwarzen Familie lassen und sich ein anderes, weniger gefährliches Betätigungsfeld suchen.« »Ich habe sie falsch eingeschätzt!« sagte der Dämonenkiller. »Ich habe Ihnen vertraut, aber Sie sind um nichts besser als Asmodi!« »Sie können mich nicht beleidigen«, sagte Olivaro. »Überlegen Sie sich mein Angebot. Entweder bleiben wir Freunde – oder ich werde Sie töten. Ich kenne Ihre Schwächen. Mir können Sie nicht entkom men. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ich verschwinde jetzt. Ich habe viel zu erledigen.« Olivaro verbeugte sich spöttisch, dann löste er sich in Luft auf.
Der Dämonenkiller starrte in die Flammen. Durch Olivaros Verrat war er wieder um eine Erfahrung reicher. In Zukunft würde er nie mandem mehr trauen. Er warf die Zigarette zu Boden und ging zur Hütte, in der Parker gefangen war, der keine Ahnung von den tat sächlichen Ereignissen hatte und sie vielleicht auch nie erfahren würde. Hunters Kampf gegen die Dämonen würde weitergehen. Er dach te nicht eine Sekunde daran, Olivaros Angebot anzunehmen. Er hat te geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Seine unheimlichen Brüder waren tot, und es war ihm gelungen, das Oberhaupt der Schwarzen Familie zu töten. Olivaro wollte Asmodis Stelle einnehmen, doch der Dämonenkil ler war sicher, daß auf den Posten noch andere Dämonen lauerten. Wahrscheinlich würde es zu einem Machtkampf innerhalb der Schwarzen Familie kommen. Und das konnte Hunter ausnützen. Er betrat die Hütte. Parker war an einen Stuhl gebunden. »Dein Anblick erfreut mein Herz«, sagte er. »Ich fürchtete schon, daß ich dich nie mehr sehen würde.« »Unkraut vergeht nicht.« Hunter grinste und schnitt die Fesseln durch. »Was ist geschehen?« fragte Parker neugierig. »Das werde ich dir später erzählen, Jeff. Jetzt verschwinden wir erst einmal schleunigst von hier.« »Und wohin soll die Reise gehen?« »Nach London.« »Acapulco wäre mir lieber«, brummte Parker. Sie verließen die Hütte, kamen am Feuer vorbei und machten sich an den Abstieg. Der Dämonenkiller senkte den Kopf. Er war müde, aber eine Ru hepause konnte er sich nicht leisten. Der gnadenlose Kampf gegen die Dämonen mußte weitergehen.
Vorschau
Die Vampirin Esmeralda von Ernst Vlcek, Neal Davenport u. a.
Der Dämonenkiller hat sein Ziel erreicht: Asmodi, der Herrscher der Schwarzen Familie, ist tot. Aber damit ist der Kampf nicht vorbei. Dorians Hoffnung, die Schwarze Familie werde ohne Oberhaupt auseinanderfallen und zur leichten Beute werden, zerschlägt sich. Schon bewirbt sich ein Nachfolger um den Thron: ausgerechnet Oli varo, den Dorian lange Zeit als seinen Freund betrachtete und von dem er so schändlich hintergangen wurde. Olivaro beruft eine Dämonenversammlung auf dem Teufelshügel ein, die ihn zum neuen Fürsten ernennen soll. Doch nicht alle Dämo nen sind auf seiner Seite – deshalb hat er eine Gefangene mitge bracht, deren Opferung die Kritiker überzeugen soll: Coco Zamis, die Gefährtin des Dämonenkillers …