Klappentext Clark übernimmt eine Statistenrolle in einem Theaterstück, das an der Smallville Highschool aufgeführt werd...
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Klappentext Clark übernimmt eine Statistenrolle in einem Theaterstück, das an der Smallville Highschool aufgeführt werden soll. So kann er seiner heimlichen Liebe Lana Lang näher sein – auch wenn ihr Freund Whitney ebenfalls mit von der Partie ist. Doch bei den Proben geschehen plötzlich merkwürdige Dinge. Der Hauptdarsteller fällt unter mysteriösen Umständen von der Bühne – oder wurde er doch geschubst? Seine Verletzungen sind so schwer, dass er für das Stück nicht mehr zur Verfügung steht, und das kurz vor der Premiere. Wer soll auf die Schnelle noch seine Rolle übernehmen? Derweil kommt es zu weiteren Anschlägen. Clarks Kräfte sind wieder einmal gefragt...
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Cherie Bennett und Jeff Gottesfeld
Das Böse ist unsichtbar Aus dem Amerikanischen von Catherine Shelton
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:://dnb.ddb.de abrufbar
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2002 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – See No Evil Smallville and all related characters, names and indicia are trademarks of DC Comics © 2003 Das Buch »Smallville – Das Böse ist unsichtbar« entstand parallel zur TVSerie Smallville, ausgestrahlt bei RTL © RTL Television 2003. Vermarktet durch RTL Enterprises
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Anja Schwinn Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-3220-1
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Erstes Kapitel INMITTEN EINER HORDE VON TEENAGERN, die am Ende dieses Schultages die Smallville Highschool verließ, stand Clark Kent vor seinem Schrank und gab seine Zahlenkombination am Schloss ein. Wie immer klemmte der Schrank. Beiläufig tippte er mit dem Zeigefinger gegen die Metalltür, wobei er sich nicht im Geringsten anstrengen musste. Die Tür flog sofort auf. Glücklicherweise haben sie den klemmenden Schrank dem Schüler mit den geheimen Super-Kräften zugeteilt, dachte Clark, während er die Bücher, die er für seine Hausaufgaben benötigte, herausholte. »Hi, Clark!« Sein bester Freund, Pete Ross, winkte von der anderen Seite des überfüllten Ganges zu ihm herüber. Pete musste sich ganz schön strecken, um sich bemerkbar zu machen. Er und Clark waren seit ihrer Kindheit die besten Freunde und Clark wusste, wie sehr es Pete wurmte, dass Clark im letzten Jahr einen gewaltigen Schuss in die Höhe gemacht hatte, während er selbst... nun, eben nicht. »Wie sieht’s aus?«, fragte Clark, nachdem Pete durch die laute Menge endlich zu ihm durchgedrungen war. Pete hielt das dicke Buch, das er unter dem Arm trug, hoch. »Für meine Mathenote jedenfalls nicht sehr gut! Was hältst du davon, wenn wir rüber ins Beanery gehen und dort für den Test lernen? Wenn du es schaffst, Kapitel zehn in meinen Kopf zu bekommen, wirst du mit einem doppelten CaramelMilchkaffee belohnt!« Clark schloss seinen Schrank und warf Pete einen amüsierten Blick zu. »Du solltest vielleicht erst mal Kapitel eins bis neun durchackern. Und deine tägliche Kotfeindosis etwas senken!«
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»Danke für deine tollen Ratschläge! Aber wie wäre es, wenn du deinen Worten Taten folgen lassen würdest? Ich brauche dringend eine Intensiv-Nachhilfe und du bist meine erste Wahl. Abgemacht?« »Ich kann nicht«, sagte Clark, während sie die Halle durchquerten. »Ich habe Lana versprochen, im Theater vorbeizukommen. Sie arbeitet dort an dem Stück, das bald aufgeführt werden soll.« »Okay, eine Verabredung mit Lana übertrifft allerdings definitiv die Aussicht auf Mathe und einen Koffeinrausch«, gab Pete enttäuscht zu. »Es ist keine Verabredung! Sie hat mich lediglich gefragt, ob ich aushelfen kann, weil einige Leute abgesprungen sind.« Pete zuckte mit den Schultern. »Ach Clark, nimm jetzt mal einen Rat von mir an. Nähe ist das Zauberwort, wenn es um Frauen geht! Du wirst mit Lana während der Proben zusammen sein und ihr so genannter Freund Whitney Fordmann wird irgendwo anders sein. Dann wird Lana endlich begreifen, was für ein super Typ du bist. Sie wird Whitney abschießen, du wirst mit ihr zusammenkommen und alles wird gut sein!« Clark sah skeptisch aus. »Seit wann verstehst du so viel von Frauen?« »Das war schon immer so.« Pete legte seine Hand zur Bekräftigung auf die Schulter seines Freundes. »Ich bin vielleicht unfähig zu allem, wozu man einen Taschenrechner braucht, aber in der Psyche der Frauen bin ich zu Hause. Und ich glaube fest daran, dass dieses Wissen mehr wert ist als alles andere!« Er zog seine Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. »Hasta luego, Kumpel!« Clark lachte. Sie hatten die Eingangstür erreicht, wo Pete sich von ihm verabschiedete. Während Clark seinem Freund hinterher sah, kam ihm plötzlich ein Gedanke: Wenn Pete Ross so ein Frauenexperte war, warum hatte er dann keine Freundin?
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Clark stand eine Weile vor dem Auditorium, um sich das große Poster anzusehen, das die Aufführung von Cyrano de Bergerac ankündigte. Unter der Leitung des Theaterdirektors und erfahrenen Schauspiellehrers Mr. Gullet hatten die Schüler der Smallville Highschool schon viele ausgezeichnete Theaterstücke auf die Bühne gebracht. Die Schule war bekannt für ihre guten Inszenierungen. Clark hatte viele von ihnen in Begleitung seiner Eltern gesehen. An das erstes Theaterstück, das er gesehen hatte, erinnerte er sich besonders gut, obwohl er erst acht Jahre alt gewesen war. Peter Pan. Peter war mit Hilfe fast unsichtbarer, dünner Drähte über die Bühne geflogen. Dem jungen Clark war es jedenfalls so vorgekommen, als wäre Peter Pan wirklich geflogen. Und da er schon damals nicht ganz schwindelfrei gewesen war, war ihm allein beim Anblick des schwebenden Schauspielers übel geworden. Eine tolle Erinnerung als Ausgangspunkt für meine Schauspielkarriere, sagte sich Clark trocken, als er den Zuschauersaal betrat. Im Saal herrschte rege Betriebsamkeit. Auf der einen Bühnenseite studierte etwa ein Dutzend Schüler Texte ein. Auf der anderen Seite übten einige Schüler die Kampfszene unter Mr. Gullets Aufsicht. Sie duellierten sich mit Schwertern. Sechs weitere Schüler bauten hinter den Kulissen an einem Balkon und zwei andere waren damit beschäftigt, eine Leiter, die offensichtlich zum Balkon hinaufführen sollte, über die Bühne zu tragen. »Kostümprobe in zehn Minuten, Leute!« Carrie Levin, die Bühnen-Managerin, versuchte den allgemeinen Lärm zu übertönen. Sie musste sich ducken, weil einer der Schwertkämpfer fast mit ihr zusammenstieß. »Jeremy, versuch bitte, dieses Schwert in den Griff zu bekommen, ja? Ich will die Premiere noch lebendig erleben!«
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Warum zum Teufel bin ich hier?, war alles, was Clark denken konnte. Nun, eigentlich konnte er diese Frage sofort beantworten. Zwei Wörter: wegen Lana. Clark erblickte seinen Beweggrund oben auf der Bühne. Sogar in abgewetzten Jeans, einem alten T-Shirt und mit Sägemehl auf der Wange fand Clark sie unaussprechlich schön. Mit ihrem glänzenden rabenschwarzen Haar und ihrem fein geschnittenen Gesicht hätte jeder Junge sie gut aussehend gefunden. Aber Clarks Gefühl für sie ging viel tiefer, als man mit Worten ausdrücken konnte. Und sobald er in ihrer Nähe war, fühlte er sich so unsicher, dass er sowieso kein Wort herausbrachte. Und wenn sie diese Halskette mit dem grünen Meteoritensplitter trägt, kann ich nicht nur kaum sprechen. Dann kann ich mich sogar nicht mehr auf den Beinen halten, grübelte er. Lana lebte bei ihrer Tante, deren Haus sich direkt neben der Farm der Kents befand, wenn man die riesigen Felder zwischen den Häusern nicht zählte. Und doch war es Clark, als lebten sie Millionen Lichtjahre voneinander entfernt. Er war verliebt in sie, seitdem er ihr im Kindergarten auf dem Spielplatz einen Bienenstachel aus dem Fuß gezogen hatte. Was er ihr natürlich nie gesagt hatte. In der letzten Zeit waren er und Lana Freunde geworden. Vielleicht mehr als nur Freunde. Aber Lana war fest mit Whitney Fordmann zusammen, der schon in seinem letzten Schuljahr war. Und Clark hatte, nun, Geheimnisse, die er keinem anvertrauen konnte. Zum Beispiel, dass er übermenschliche Kräfte hatte. Zum Beispiel, dass er mit drei Jahren in einem Raumschiff auf der Erde gelandet war, zusammen mit demselben Meteoritenschauer, der Lanas Eltern getötet hatte. Wie sollte er ihr das begreiflich machen?
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Oben auf der Bühne sah Lana auf, bemerkte Clark und grinste. Sogar über die weite Entfernung hinweg warf ihn dieses Lächeln fast um. Er ging den Gang hinunter und schwang sich auf die Bühne. »Clark! Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, begrüßte ihn Lana herzlich. »Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest!« »He, ich bin ganz heiß darauf, meine Schauspielkarriere zu starten!« Sie lachte. »Lügner!« Er zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Na ja, jedenfalls werde ich mein Bestes geben. Übrigens: Was ist eine Kostümprobe?« »Oh, das ganze Ensemble probiert seine Kostüme an und führt sie Mr. Gullet vor, sodass er sehen kann, ob noch irgendetwas geändert werden muss. Kennst du Jenni Favor aus dem Mathekurs?« Clark nickte. »So ein schüchternes Mädchen mit Sommersprossen, nicht wahr?« »Genau. Sie kann fantastisch nähen. Die meisten der...« »Achtung, Achtung!« Zwei stämmige Jungs schleppten ein schweres, altmodisches Sofa über die Bühne. »Kommt schon, aus dem Weg, bewegt euch!« Clark wich ihnen aus und dachte bei sich, dass er das Sofa und die beiden Jungs mühelos hätte hochheben können, ohne auch nur einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Aber außer seinen Eltern wusste niemand davon. Und er würde es auch niemals jemandem erzählen können. Nicht einmal seinen besten Freunden. Clark verdrängte diese Gedanken. »Es wirkt alles etwas unorganisiert.« »Ich weiß, es sieht im Augenblick so aus, aber ich versichere dir, es gibt eine Methode in diesem Chaos.« Lana reckte den Hals und sah sich nach allen Seiten um. Sie suchte Mr. Gullet, 9
der aber nicht mehr auf der Bühne zu sehen war. »Mr. Gullet wird sich sehr freuen, dich zu sehen. Wenn ich ihn jemals wiederfinde.« Unsicherheit überfiel Clark. »Ich habe null Erfahrung mit so etwas, Lana. Ich bezweifle, dass ich das Talent dazu habe.« Lana lachte ihm aufmunternd zu. »Aus irgendwelchen Gründen glaube ich, dass du ein Naturtalent bist.« »Warum?« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Irgendwie habe ich einfach das Gefühl, dass du anderen Leuten etwas vormachen könntest. Und dass du damit alle täuschen könntest.« Clark wurde rot. Diese Bemerkung traf genau ins Schwarze. Er versuchte, seine Betroffenheit mit einem Scherz zu überspielen. »Mann, dann habe ich ja eine große Karriere als Politiker vor mir!« Lana lächelte, aber ihre Augen blieben ernst. »Es ist nur so ein Gefühl. Du kennst das Sprichwort: Stille Wasser sind tief. Ich glaube, es trifft auf dich zu. Oh, hier ist Mr. Gullet.« Sie lief zu dem Schauspiellehrer hinüber, der vor der Bühne erschienen war, und sprach hastig mit ihm. Mr. Gullet hob seine buschigen Augenbrauen und winkte Clark heran. »So, Mr. Kent, Sie sind also der Superheld, der mein Stück rettet?« »Wer, ich? Nein, das muss ein Irrtum sein«, stammelte Clark. »Ich habe ja noch nie... ich meine, Lana hat mir nur gesagt, dass einige Schauspieler ausgefallen sind und dass daher eine Nebenrolle...« Mr. Gullet lächelte. »War nur ein Scherz. Miss Lang hat mir schon gesagt, dass Sie noch nie Theater gespielt haben. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich versuche, unsere Neulinge nicht zu terrorisieren. Glückwunsch! Sie haben hiermit offiziell die Rolle als Kriecher Nr. 2.«
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»Danke«, sagte Clark. Nach einem kurzen Zögern fragte er: »Gibt es wirklich eine Rolle, die Kriecher Nr. 2 heißt?« »Rostand, der Autor des Stücks, war Franzose«, erklärte Mr. Gullet. »Das bedeutet, wir haben eine gewisse Übersetzungsfreiheit. Sie können sich auch Zweiter Sykophant, was so viel wie unterwürfiger Höfling oder Schmeichler heißt, nennen, wenn Ihnen das besser gefällt.« »Ich bleibe dann doch bei Kriecher Nr. 2.« »Hervorragende Wahl! Nehmen sie sich einen Dialogtext.« Es wird ja wohl nicht so schwer sein, Kriecher Nr. 2 zu spielen, dachte Clark, während Mr. Gullet ihm seinen Text gab. Vielleicht hat Pete Recht. Zusammen mit Lana bei dem Theaterstück mitzumachen könnte eine einmalige Gelegenheit sein. Ich habe wahrscheinlich ziemlich viel Zeit, weil meine Rolle so klein ist. Und wenn die Kulissen einmal fertig sind, wird Lana auch viel Zeit haben. Und so, mit ihrer freien Zeit und meiner freien Zeit... »Mr. Kent?« Mr. Gullets Stimme riss ihn jäh aus seinen Träumen. »Sind Sie noch auf unserem Planeten oder gerade damit beschäftigt, andere Galaxien anzusteuern?« »Hä? Oh, entschuldigen Sie, Sir. Haben Sie etwas gesagt?« »Ich sagte gerade, dass Kriecher Nr. 1 Ihnen Ihre Positionierung zeigen soll – Positionierung bedeutet, wann und wo Sie auf der Bühne sein werden. Sie beide werden in jeder Szene nebeneinander stehen. Das werden Sie doch schaffen, nicht wahr?« »Sicher«, beeilte sich Clark zu sagen. »Gut zu wissen.« Mr. Gullet blickte suchend in den Zuschauerraum. »Mr. Fordmann, würden Sie bitte mal hierher kommen?« Clarks Herz sank, als Whitney hinter einer Kulissenwand hervorkam. Es war Clark nie in den Sinn gekommen, dass Whitney, alias der König von Smallville High, alias Lanas bessere Hälfte, auch bei Cyrano mitmachen könnte. Der 11
Ausdruck auf Whitneys Gesicht verriet ihm, dass auch Whitney überrascht und nicht gerade glücklich war, ihn hier zu sehen. Mr. Gullet gab ihnen einige Anweisungen und schob sie dann beiseite. Widerwillig führte Whitney Clark über die Bühne. »Komm schon, Kent. Du musst dein Gehirn hierfür nicht gerade überanstrengen.« Sie erreichten eine halb fertig gestrichene Holztür. »Durch diese Tür kommen wir in der ersten Szene herein. Seit wann interessierst du dich denn eigentlich für das Theater?« »Komisch, ich wollte dich gerade das Gleiche fragen!« Whitney zuckte die Schultern. »Macht sich gut auf der Bewerbung fürs College.« Klar, dachte Clark sarkastisch. Kann nicht mal zugeben, dass er wegen Lana hier ist. »Jedenfalls«, erklärte Whitney den weiteren Ablauf, »wenn der Fanfarenbläser in der ersten Szene in seine Trompete stößt – zumindest in dem Fall, dass der Typ einen Ton rausbekommt... er hat schlimmes Asthma, musst du wissen – gehen wir an dieser Wand vorbei.« Whitney deutete zum hinteren Teil der Bühne, wo eine Kulissenwand stand, die bereits teilweise grün angestrichen war. »Dann, nachdem Cyrano auftritt...« »Wo zum Teufel ist Jenni Favor?«, donnerte in diesem Moment eine weibliche Stimme. Die Stimme gehörte Dawn Mills, die unangefochtene Königin der Theatertruppe war. In einem tief ausgeschnittenen, smaragdgrünen, bodenlangen Kleid schwebte sie auf die Bühne. Ihr langes, goldenes Haar war hochgesteckt. Dawn und ihr Freund Mike Karn spielten in allen Theaterstücken, die die Schule aufführte, die Hauptrollen. Es war allgemein bekannt, dass sie beide hofften, schon im nächsten Jahr auf der berühmten Schauspielschule Julliard in New York Unterricht nehmen zu können. Beide waren in der 12
Abschlussklasse und Clark hatte keinen von ihnen jemals kennen gelernt. Aber er hatte Dawn als Kim MacAfee in Bye Bye Birdie und als Laura in der Glasmenagerie gesehen. Er fand, dass sie unglaublich begabt war. Vom Zuschauerraum aus hatte sie mit ihren honigblonden Haaren und ihren Katzenaugen immer strahlend schön ausgesehen. Aber jetzt, als sie in der Mitte der Bühne stand und hastig nach Jenni Ausschau hielt, bemerkte er einen bösen Zug um Dawns Lippen. »Könnt ihr das fassen?«, fragte Dawn ihre beiden Freundinnen Missy und Julie. Die drei hingen ständig zusammen, wobei Missy und Julie ihrer Freundin immer nach dem Mund redeten. In dem Theaterstück spielten sie zwei Nonnen. Während Missy und Julie angesichts Dawns Verzweiflung ihre Köpfe in ungläubigem Entsetzen schüttelten, hastete die kleine Jenni zu ihnen herüber. »Hast du ein Problem, Dawn?«, fragte sie ängstlich. »Nein, Jenni. Du hast ein Problem!« Dawn ergriff eine Hand voll des grünen Stoffs, aus dem der Rock ihres Kleides gemacht war. »Ist das ein Witz, oder soll ich tatsächlich diesen Fetzen tragen?« Jennis blasse Haut wurde rot und fleckig. Dann erwiderte sie: »Ähm, also, Mr. Gullet hat mir gesagt, ich soll mir die Kostüme ansehen, die in der Kostümkammer aufbewahrt werden, und mir da etwas aussuchen, was für dich in Frage käme, und da ich ja auch deine anderen Kostüme gemacht habe, dachte ich...« »Tu uns allen einen Gefallen«, fuhr Dawn sie an. »Versuche nicht zu denken. Es ist nicht deine Stärke.« »Wirklich wahr«, stimmte Missy eilfertig zu. Julie nickte beifällig. »Jenni, du musst Folgendes tun.« Dawn sprach übertrieben langsam, als wäre Jenni minderbemittelt. »Geh und suche Gullet. Sag ihm, dass du einen großen Fehler gemacht hast. 13
Frag nach dem Schlüssel für die Kostüm- und Requisitenkammer. Und dann bringst du mir den Schlüssel, damit ich mir etwas Anständiges zum Anziehen aussuchen kann. Schaffst du das?« »Ich... sicher... Ich meine...« Jenni wich vor Dawn zurück, dann drehte sie sich um und rannte davon. Dawn machte ein angewidertes Gesicht. »Und das ist angeblich die beste Kostümdesignerin, die Mr. Gullet bekommen konnte? Warum spiele ich überhaupt noch Theater hier? Das habe ich nicht nötig!« Clark, der die ganze Szene beobachtet hatte, sagte zu Whitney: »Sie ist ganz schön schwierig.« »Dawn ist eine Riesenzicke«, stimmte Whitney ihm zu. »Eine von der verwöhnten, reichen Sorte.« Zusammen verfolgten sie, wie Dawns Freund Mike Karn in seinem Cyranokostüm, allerdings noch ohne die große Nase, die Cyranos Kennzeichen war, die Bühne betrat, Dawn in seine Arme nahm und sie zu küssen begann, als wäre es eine Vorstellung und alle Umstehenden hätten ein Vermögen dafür bezahlt, um Zeugen dieser Zungenakrobatik zu werden. »Sie sind schon wieder dabei«, bemerkte Lana beiläufig, als sie sich zu Clark und Whitney gesellte. Clark starrte die beiden an. Er konnte gar nicht wegschauen. »Holen die denn niemals Luft?« »Nicht, solange sie ein Publikum haben, das ihnen zusieht«, sagte Lana. »Und wie ihr seht, funktioniert es! Und, wie findet ihr beiden euch zurecht?« »Prima«, sagten Clark und Whitney fast gleichzeitig. »Also gut, Kent«, sagte Whitney übellaunig. »Ich erkläre dir den Rest von Akt eins. Alles, was du sagen musst, ist: ›Madame‹.« »Das ist alles?« fragte Clark. »›Madame‹?« »Du bist ein Statist, was hattest du erwartet?«, fragte Whitney. »Und noch eins, Kent.« 14
»Was denn?« »Dieses eine Wort von dir! Versuch, es irgendwie hinzukriegen!«
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Zweites Kapitel DAWN RANNTE DIE GEWUNDENE TREPPE HINAUF, die die prächtige Eingangshalle ihres palastartigen Zuhauses in zwei Teile trennte, und erreichte ihr elegantes, riesiges Schlafzimmer. Wütend warf sie sich auf ihr übergroßes Baldachinbett. Alles war bei der Theaterprobe schief gegangen. Warum musste sie nur mit diesen Amateuren arbeiten? Sie konnte es kaum noch erwarten, das letzte Schuljahr abzuschließen, damit sie dieses lächerliche kleine Kaff Smallville endlich verlassen konnte. Schon längst machte es ihr keinen Spaß mehr, alle Hauptrollen zu bekommen, und es gab ihr auch nichts mehr, dass alle ihr sagten, was für eine wunderbare Schauspielerin sie war. Die Schauspiel-Königin von Smallville zu sein hatte so etwas Provinzielles. In den ersten Jahren auf der Highschool war es aufregend gewesen zu wissen, dass jeder Junge mit ihr ausgehen und jedes Mädchen mit ihr befreundet sein wollte. Aber mittlerweile begann sogar Mike sie zu langweilen. Sie wusste genau, dass sie ihn fest am Haken hatte. Es gab hier keine Herausforderung mehr. Sie verschwendete bloß ihre Zeit. Alle sagten ihr, was für ein Glück sie hatte, dass sie mit dem großen Mr. Gullet arbeiten durfte. Bitte! Ja, er hatte an der Julliard-Akademie studiert. Doch das musste zu einer Zeit gewesen sein, als noch die Dinosaurier die Erde bevölkert hatten. Und abgesehen davon: Wenn Gullet wirklich so gut war, hätte er eine Karriere als professioneller Schauspieler gemacht und würde nicht Schultheaterstücke am Ende der Welt inszenieren. Aufgebracht flatterte sie zu ihrem Kosmetiktisch, setzte sich davor und blickte in den herzförmigen Spiegel, der von einem Dutzend kleiner, rosafarbener Glühbirnchen erhellt wurde. Sie strich ihre Haare zurück und betrachtete sich nachdenklich im 16
Spiegel. Sie versuchte herauszufinden, welchem Hollywoodstar sie am ähnlichsten sah. Missy sagte immer, sie sähe genau wie Gwyneth Paltrow aus. Julie beharrte darauf, dass sie die Doppelgängerin von Kate Hudson sein könnte. Und beide versicherten ihr, dass sie mehr Talent als beide Schauspielerinnen zusammen hätte. »Und sie haben Recht!«, erklärte Dawn ihrem Spiegelbild. Sie ließ ihr Haar wieder über ihre Schultern fallen und ergriff eine Bürste. Gelangweilt begann sie, sich die Haare zu bürsten und ging dabei zum Fenster hinüber, um in den Garten zu sehen. Das Licht des späten Nachmittags warf einen ockerfarbenen Schein auf die Gartenanlage mit ihren beschnittenen Hecken und abgezirkelten Blumenbeeten. Einer der Gärtner beschnitt die Sträucher. Dawn betrachtete seine festen Muskeln. Hm. Appetitlich. Schien schon alt genug für das College zu sein. Vielleicht sollte sie in den Garten gehen und einen kleinen Flirt wagen. Sie strich mit der Hand über ihr Haar und spürte plötzlich etwas Dickes, Klebriges an ihren Fingern. Entgeistert starrte sie auf ihre Hand. Ihre Finger waren komplett mit rotem ChanelLippenstift beschmiert. Sie warf einen Blick auf ihre Bürste. Die Borsten waren scharlachrot. Sie rannte zu ihrem Spiegel. Ihr helles Haar war über und über mit Lippenstiftspuren beschmiert. »Tillie«, murmelte sie finster. Ganz offensichtlich hatte sich ihre widerliche kleine Schwester, die erst im fünften Schuljahr war, schon wieder in ihr Zimmer geschlichen, um mit ihrem Make-up zu spielen. Dawn drehte sich um, um in Tillies Zimmer zu laufen und – stolperte. Sie war auf etwas Hartes getreten, das unter einem der Läufer, die über den ganzen Parkettboden verteilt waren, verborgen lag. Es war eines von Tillies Lieblingsspielzeugen – ein Stein. Andere Kinder spielten mit Barbies oder Stofftieren. Nicht so Tillie. Sie schien sich für eine angehende Gesteinsforscherin zu 17
halten, denn ihre Bücherregale waren voll von Steinen und Mineralien, die sie im Umkreis der Stadt gesammelt hatte. Das nervte Dawn. Aber Tillie hatte dazu noch die Angewohnheit, ihre dämlichen Steine im ganzen Haus zu verteilen. Dawn hob Tillies Stein auf und warf ihn wütend in Richtung Papierkorb, verfehlte ihn aber. Als sie den Stein erneut aufhob, um ihn in den Papierkorb zu werfen, bemerkte sie darin drei ihrer Lippenstifte, die Tillie fast ganz aufgebraucht hatte. Einer davon war der Chanel-Lippenstift, der nun ihr Haar zierte. »Tillie, du bist tot«, stieß sie hervor. Aber bevor sie ihrer kleinen Schwester die Hölle heiß machen konnte, musste etwas mit ihren Haaren geschehen. Sie zu waschen würde eine Ewigkeit dauern. Vielleicht konnte sie die Farbe abwischen? Vorsichtig fuhr sie mit einem Kosmetiktuch über ihre rot gefärbten Strähnen. Aber das schien die Farbe nur noch mehr zu verteilen. Arrgh! Vielleicht konnte sie den Lippenstift wenigstens von ihren Fingern reiben. Sie suchte nach ihrem Bimsstein und konnte ihn nirgendwo entdecken. Das kleine Ekel hatte ihn wahrscheinlich seiner Steinsammlung einverleibt. Mehr als nur genervt griff Dawn wieder nach Tillies dämlichem Stein. Er verbreitete einen schwachen grünlichen Schein um sich. Es sah fast aus, als glühte er. Unwichtig. Sie rieb ihn an den Stellen, die am meisten verklebt waren, über ihre Fingerspitzen. Der Lippenstift verschwand. Dawn lächelte. Dann schnappte sie plötzlich keuchend nach Luft. Ihre Fingerspitzen verschwanden auch.
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Drittes Kapitel VON PANIK ERFÜLLT LIEF DAWN IN IHR BADEZIMMER und ließ kochend heißes Wasser über die Stelle laufen, an der ihre Fingerkuppen einmal gewesen waren. Augenblicklich wurden ihre Fingerspitzen wieder sichtbar. Erleichtert lehnte sich Dawn gegen den Rand des Waschbeckens. Das war einfach zu bizarr. Wie war das möglich? Es konnte sich nur um eine optische Täuschung oder etwas in der Art handeln! Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und griff erneut nach Tillies grünem Stein. Dann legte sie ein Bein über das andere und begann vorsichtig mit dem Stein über ihre Ferse zu reiben. Da klopfte es an der Tür. »Hau ab!«, befahl Dawn in harschem Ton, da sie genau wusste, dass es nur ihre Schwester sein konnte. »Was machst du da drin?«, rief Tillie neugierig. »Das geht dich überhaupt nichts an!« Dawn fuhr fort, über ihre Ferse zu reiben, die daraufhin verschwand wie zuvor ihre Fingerspitzen. Das Gleiche geschah, als sie den Rest ihres Fußes mit dem Stein bearbeitete. »Nimmst du da drin Drogen?«, nervte Tillie weiter. »Ja, das Zeug heißt grüner Stein«, antwortete Dawn giftig. »Und jetzt verschwinde endlich.« Nun hielt sie ihren Fuß unter den Wasserhahn und er wurde wieder sichtbar. Unfassbar! »Wenn du Drogen nimmst, sag ich das Mama!« Tillie trat wütend gegen die Tür. Aber Dawn nahm Tillie nicht mehr wahr. Sie war so aufgeregt, dass sie alles andere um sich herum vergaß. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. Sie hatte gerade entdeckt, wie sie sich unsichtbar machen konnte.
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Und sie musste lediglich eine Dusche nehmen, um wieder sichtbar zu werden. Die Möglichkeiten, die sich ihr damit eröffneten, waren atemberaubend. Tillie trat wieder gegen die Tür, diesmal heftiger. »Oh, Tillie«, flötete Dawn süßlich. »Ich zähle bis drei. Wenn ich dann die Tür aufmache und du immer noch da stehst, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein! Eins... zwei...« Dawn konnte das Zögern ihrer Schwester fast spüren, doch dann vernahm sie Schritte, die sich schnell entfernten. Mit diesem kleinen Kretin würde sie sich später befassen. Während Dawn den grünen Stein betrachtete, kam ihr eine Idee... Sie zog ihre Kleider aus und begann, den unteren Teil ihres Körpers mit dem Stein abzureiben. Ihre Zehen verschwanden. Dann ihre Füße. Die Fußknöchel. Die Beine. Sie kicherte albern, als sie im Spiegel ihren beinlosen Torso betrachtete. Nach und nach verschwand so ihr ganzer Körper mitsamt den Haaren. Unglaublich! Sie war verschwunden! Mit klopfendem Herzen stieg Dawn unter die Dusche. Sobald das Wasser über ihren Körper rann, wurde sie wieder sichtbar. Zu cool! Was konnte sie nun alles anstellen! Zum Beispiel in die Büros der Lehrer eindringen und die Fragebögen für die Tests stehlen. Gut aussehende Typen in der Umkleidekabine beobachten. Ihren Freund ausspionieren. Dawn griff nach der Flasche mit dem Shampoo. Während sie sich den Lippenstift aus den Haaren wusch, begann sie triumphierend zu lachen. Sie konnte nun alles tun, was sie wollte. Und niemand konnte sie aufhalten. Dieser Stein war genau der Richtigen in die Finger geraten! Clark klingelte an Lex Luthors Tür. Unter dem Arm trug er eine Kiste mit biologisch angebautem Gemüse der Kent-Farm, welches Lex regelmäßig geliefert bekam. 20
Lex öffnete die Tür. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug und ein weißes Handtuch hing um seinen Hals. »Clark!« Lex begrüßte seinen Freund herzlich und nahm die Gemüsekiste entgegen. »Wie geht es Smallvilles jüngstem Theaterfreund?« Diese Frage überraschte Clark. »Moment mal, woher weißt du das?« Lex lächelte nur, ohne ihm zu antworten, und stellte die Gemüsekiste auf einem Marmortisch ab. »Komm rein. Das Gemüse kann da stehen bleiben, mein Koch wird es sich später holen.« »Wenn ich dich beim Training gestört habe, kann ich...« Lex schüttelte den Kopf. »Bin gerade fertig geworden. Hast du jemals Kickboxen ausprobiert? Wenn man die Technik drauf hat, kann man einen doppelt so großen Gegner mit einem einzigen gut platzierten Fußtritt zu Boden schicken!« »Ich werde mal drüber nachdenken.« Clark betrat die überwölbte Eingangshalle der Villa der Luthors. Obwohl er schon oft hier gewesen war, haute ihn dieser Anblick immer wieder um. Die beiden hatten sich kennen gelernt, nachdem Clark Lex das Leben gerettet hatte. Lex’ Auto war über ein Brückengeländer hinausgeschossen und Clark hatte dank seiner übermenschlichen Kräfte das Dach von Lex’ gesunkenem Auto aufreißen und Lex aus seinem Unterwassergrab befreien können. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Clark gar nicht gewusst, dass er solch außergewöhnliche Kräfte überhaupt besaß. Diese denkwürdige Begegnung hatte zu einer sonderbaren Freundschaft geführt. Lex, der fünf Jahre älter war als Clark, war der Sohn von Lionel Luthor, einem der größten Unternehmer der Welt. Lionel hatte Lex auf die besten Schulen geschickt und ihm die ganze Welt gezeigt. Aber Clark wusste, dass es keine Liebe zwischen Vater und Sohn gab, was der eigentliche Grund dafür war, warum Lionel seinen Sohn nach
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Smallville verbannt hatte. Offiziell hatte er eine der vielen Düngemittelfabriken von LuthorCorp übernommen. Es könnte kaum zwei ungleichere Freunde geben. Ich bin der Sohn von Jonathan und Martha Kent, dachte Clark. Wir können uns mit dem, was die Farm an Ertrag bringt, kaum über Wasser halten. Ich bin noch nie über Metropolis hinausgekommen. Mal davon abgesehen, dass ich eigentlich von einem anderen Planeten stamme. Mein Vater hat immer gesagt, man kann Lionel nicht trauen. Und jetzt sagt er dasselbe von Lex. Clark hatte die Stimme seines Vaters im Ohr. »Meiner Erfahrung nach fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Ich traue ihm einfach nicht.« Und wieder empfand er diese Aussage als höchst ungerecht. Er wusste ja auch nicht, von welchem Stamm er gefallen war. Und wer wollte schon allein aufgrund seiner Abstammung beurteilt werden? »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Lex, als sie die Bibliothek erreicht hatten. Er nahm zwei blaue Mineralwasserflaschen aus einem kleinen Kühlschrank und reichte eine davon Clark. »Danke.« Clark nahm einen Schluck Wasser. »Also ernsthaft, woher weißt du, dass ich bei der Theateraufführung mitmache?« »Wenn man die Inszenierung produziert und finanziert, möchte man gerne über alles informiert werden.« Lex prostete ihm zu und nahm dann einen Schluck. Wieder war Clark überrascht. »Wie ist es denn dazu gekommen?« »Sagen wir, Beziehungen zur Stadt«, sagte Lex. »Ich spende auch eine neue Scheinwerferanlage. Die, die an eurer Schule benutzt wird, muss aus der Zeit stammen, als Rostand Cyrano geschrieben hat. Übrigens eine gute Wahl, das Stück. Zufällig
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eines meiner Lieblingsstücke.« Lex saß hinter seinem Schreibtisch und bot Clark einen Sitz auf dem Sofa an. »Ich mag das Stück auch«, sagte Clark, nachdem er sich gesetzt hatte. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich darin auftreten möchte.« »Aber wenn die zauberhafte Miss Lang dich bittet, kannst du nicht nein sagen!«, warf Lex ein. »Lässt du mich eigentlich mit Spionen überwachen?« Lex betrachtete ihn amüsiert. »Sollte ich?« »Nein«, sagte Clark schnell. »Ich meine, ich bin nun wirklich nicht interessant.« Er begann, sich unter Lex’ Blick unbehaglich zu fühlen, und ging zum Fenster hinüber, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Hast du jemals Gerard Depardieu als Cyrano gesehen?«, fragte Lex und nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. »Ich werde dir die DVD leihen, du solltest dir den Film einmal ansehen. Du kannst doch Lana dazu einladen!« Clark drehte sich zu seinem Freund um. »Kann ich nicht. Whitney ist...« »Auch beim Theaterstück dabei. Ich hab’s dir gesagt, ich weiß alles. Mit diesem Quarterback wirst du schon fertig, Clark. Fordere ihn doch zum Duell heraus. Auf Leben und Tod! Ich versorge euch mit Schwertern.« Lex’ spöttisches Grinsen verriet Clark, dass er nur Witze machte. Clark lehnte sich gegen die Wand. »Immerhin habe ich nur eine Zeile: ›Madame‹.« Lex nickte. »Akt eins, Auftritt Roxane.« »Wow, so gut kennst du das Stück?« »Überrascht dich das?« Lex betrachtete nachdenklich das kühle, dunkle Blau der Wasserflasche. »Cyrano war einer der besten Fechter in ganz Frankreich. Seine Kampfkunst war unübertroffen. Abgesehen davon, Clark, ist Cyrano de
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Bergerac ein Klassiker. Und mit Klassikern sollte man sich beschäftigen und auskennen.« Clark fuhr sich nervös mit der Hand über das Haar. »Vielleicht sollte ich mich mit dem Stück lieber vom Zuschauerraum aus befassen. In der Probe heute habe ich es sogar geschafft, meine einzige Dialogzeile zu vermasseln. Ich glaube, ich leide unter Bühnenangst und Lampenfieber.« Lex stand auf. »Wenn dem so ist, Clark, musst du deinen Ängsten entgegentreten. Wenn du Angst vor einer Schlange hast, musst du dir eine als Haustier halten. Höhenangst? Dann versuch es mal mit Fallschirmspringen.« Ein freudloses Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich zum Beispiel hatte früher Angst vor meinem Vater.« »Und was hast du dagegen getan?«, fragte Clark. »Ganz einfach. Ich schlage ihn mit seinen eigenen Mitteln. Und dann, Clark«, Lex’ Blick verhärtete sich, »dann vernichte ich ihn.« »Ich hasse Dawn, sie ist so lahm... Und ich wünschte, sie wäre tot!« Tillie Mills sang vor sich hin, während sie ihren neusten Stein polierte. Er hatte eine langweilige braune Farbe, fand sie, genau wie ihre langweiligen braunen Haare und ihre langweiligen braunen Augen. Warum hatte Dawn das goldene Haar und die grünen Augen und überhaupt alles bekommen? Zu Tillie hatte noch niemand gesagt, dass sie schön war oder ein Star werden würde. Manchmal fragte sich Tillie, wie es wohl wäre, eine ältere Schwester zu haben, mit der sie sich verstand, die sie mitnahm, wenn sie etwas unternahm und die ihr ihre Geheimnisse anvertraute. Die Realität sah leider anders aus! Dawn hasste sie. Was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Tillie stellte sich oft vor, ihre ältere Schwester würde einfach aus ihrem Leben verschwinden. Eine herrliche Vorstellung! 24
Dawn musste immer im Mittelpunkt stehen. Für sie gab es nichts Schöneres, als sich anstarren und bewundern zu lassen. Tillie legte ihren neusten Stein in ihr Regal. Ein Stein konnte einen wenigstens nicht beschimpfen oder unglücklich machen. Ein hungriges Knurren rumpelte durch ihren Magen. Was würde sie jetzt am liebsten essen? Erdnussbutter! Ihre Mutter versteckte die Erdnussbutter auf dem obersten Küchenregal, weil sie der Ansicht war, dass Tillie zu fett war. Aber sie kannte das Versteck. Nach dem Tillie die glänzende, absolut perfekt eingerichtete Küche betreten hatte, kletterte sie auf die Arbeitsplatte, sodass sie das Glas mit der verbotenen Erdnussbutter erreichen konnte. Mit ihrer Trophäe in der Hand sprang sie wieder auf den Boden. Gerade als Tillie einen riesigen Löffel voll cremiger Erdnussbutter in ihren Mund schieben wollte, spürte sie, wie ihr jemand auf die Schulter klopfte. Sie drehte sich um. Doch da war niemand. Hm. Dann war es wohl Einbildung gewesen. Sie tauchte den Löffel wieder tief in das Erdnussbutterglas. »Tillie?« Tillie fuhr herum. Die Stimme gehörte eindeutig Dawn. Aber sie konnte Dawn nirgendwo entdecken. Schnell legte sie den Löffel hin. »Wo bist du?« »Das wüsstest du wohl gerne«, sagte Dawn provozierend. »Stiehlst du wieder heimlich Erdnussbutter, Miss Piggy? Kein Wunder, dass du so fett bist!« »Sei bloß still!«, warnte Tillie sie aufgebracht. »Wenn ich dich finde...« »Oh, ich zittere vor Angst.« Dawns Stimme schien in der Küche widerzuhallen. »Ich werde es dir schon zeigen!« Tillie schnappte sich ein Buttermesser aus der Schublade und hielt es wie eine Waffe vor sich. Sie schlich durch die Küche und wartete darauf, dass ihre Schwester endlich aus ihrem Versteck auftauchen würde. 25
Aber von Dawn war keine Spur zu sehen. Wenn sich ihre Schwester tatsächlich in der Küche aufhielt, hatte sie ein wirklich gutes Versteck gefunden. Als Tillie wieder zu dem Glas mit der Erdnussbutter zurückkehrte, wurde ihr plötzlich das Messer aus der Hand geschlagen. Dann wurde sie von unsichtbaren Armen ergriffen und hoch in die Luft gehoben. »Nein, neiiin«, schrie Tillie. Verzweifelt versuchte sie, sich freizukämpfen, aber was auch immer sie festhielt, es trug sie zum Spülbecken hinüber und schaltete den Abfallzerkleinerer ein. »Neiiin! Bitte nicht!«, bettelte Tillie als das unheimliche Etwas ihre Hand nahm und sie näher und näher an den schwarz umrandeten Schlund führte, unter dem sich die scharfen Hackmesser drehten. Plötzlich vernahm sie wieder Dawns Stimme: »Wenn du noch einmal meine Sachen anrührst, du dickes Miststück, dann wird es nicht bei dieser Drohung bleiben! Dann werde ich dein fettes Gesicht in die Maschine stecken!« Wie von Geisterhand schaltete sich nun der Abfallzerkleinerer wieder ab und Tillie fiel auf den Linoleumboden. »D-Dawn?«, stammelte Tillie. »Bist du das, Dawn?« Niemand antwortete. Tillie wischte sich schluchzend die Tränen vom Gesicht und rollte sich dann auf dem Küchenboden zusammen. So blieb sie liegen, unfähig, sich zu bewegen. Ihre ältere Schwester hatte offensichtlich geheimnisvolle Kräfte entwickelt. Und mithilfe dieser Kräfte wollte sie sie vernichten!
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Viertes Kapitel CLARK HÄNGTE SEIN FLANELLHEMD AUF und zog sein T-Shirt über den Kopf. Dann stieg er aus seinen Jeans und streifte die zerlumpten, weiten Hosen über, die Teil des Kostüms von Kriecher Nr. 2 waren. Er war froh, dass er einen Höfling und keinen Musketier spielte. Denn die Musketiere mussten in Strumpfhosen auftreten! Clark schauderte. »Nicht einmal für Lana würde ich Strumpfhosen tragen.« »Clark?« Clark drehte sich überrascht um. Mike Karn hatte ihn gerade angesprochen. Mike Karn alias der Star des Stückes. Clark dagegen war nur ein Statist und dazu einige Klassen unter Mike. Deshalb war Clark ehrlich überrascht, dass Mike überhaupt seinen Namen kannte. »Was gibt’s?«, fragte Clark. Mike war dabei, eine übergroße Prothese über seiner eigenen Nase zu befestigen. »Hör mal, ich brauche jemanden, mit dem ich meinen Dialog üben kann.« »Du meinst...?« Clark deutete erstaunt auf sich selbst. »Dawn hat mir eigentlich versprochen, dass sie mit mir proben würde, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Und ehrlich gesagt, bist du der Einzige, der hier ist. Wenn du also nichts dagegen hättest?« »Kein Problem.« Clark setzte sich rittlings auf einen Stuhl und griff nach dem Drehbuch, obwohl er es eigentlich gar nicht brauchte. Denn Clark, der das Stück in der Nacht zuvor einige Male gelesen hatte, konnte es schon fast auswendig. »An welcher Stelle willst du anfangen?« Mike klopfte mit einer Hand gegen seine Stirn. »Am liebsten würde ich mir einen Speicherchip implantieren lassen! Diese Rolle überfordert mich. Dawns Rolle ist nichts im Vergleich 27
dazu. Und bei ihrem Geltungsdrang bin ich mir sicher, wenn sie Gullet dazu kriegen könnte, eine Frau als Cyrano zu besetzten, wäre sie... au!« Mike griff sich an die Wade. »Hast du einen Krampf?«, fragte Clark. Mike rieb sich das Bein. »Keine Ahnung! Es war, als hätte mich gerade jemand getreten.« »Brauchst du etwas Eis?« Clark wollte gerade aufspringen, aber Mike bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. »Es geht schon wieder. Wir beginnen mit Seite 106. Die Balkon-Szene. Cyrano versteckt sich im Dunkeln und gibt sich als Christian aus, weil er sich nicht traut, Roxane seine Liebe zu gestehen.« Dies war Clarks Lieblingsszene. Schließlich war ihm das Gefühl nur allzu vertraut, wenn man in ein Mädchen verliebt war, das einen anderen liebte. »Ich überspringe Roxanes Text«, fuhr Mike fort. »Wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann sage ich ›Zeile‹ und du sagst mir die ersten zwei Worte der Zeile an, okay?« Clark schlug Seite 106 auf. »Okay.« Mike schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, und begann zu rezitieren: »Weil ich... bis heute gebannt war von Ihrer Augen Strahl! Doch von dem Zauber dieser Nacht berauscht, sprech ich mit Ihnen heut zum ersten Mal! Ja, denn das Dunkel raubte mir dir Scheu...« Er zögerte und öffnete die Augen. »Zeile.« »Jetzt wag ich erst...«, half Clark prompt weiter. »Jetzt wag ich erst... Ich weiß nicht, was ich spreche!«, fuhr Mike fort. »Dies alles... verdammt. Zeile!« »Dies alles – o verzeih’n Sie mir die Schwäche –«, las Clark vor. »Ja, genau.« Mike verzog das Gesicht. »Dies ist für mich...« Clark beendete die Textzeile für ihn. »... so wonnig und so neu!«
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Mike ächzte frustriert. »Warum kann ich mir den Text einfach nicht merken?« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür zur Umkleide. Mike griff nach dem Script, während Clark zur Tür ging, um sie zu öffnen. Chloe Sullivan, eine gute Freundin von ihm, stand mit einem Stift und einem Notizbuch in der Hand vor der Tür. Chloe betrachtete eingehend Clarks nackten, muskulösen Oberkörper. »Oh, da habe ich mir ja genau den richtigen Augenblick ausgesucht«, sagte sie frech. »Was machst du hier?«, fragte Clark, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Chloe stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte an Clark vorbei in den Raum. »Ich bin auf der Suche nach Mike K... oh, da ist er ja!« Sie steuerte an Clark vorbei auf Mike zu und setzte sich neben ihn. Mike war immer noch über das Script gebeugt. Sie wedelte mit ihrer Hand vor seinem Gesicht herum. »Hallo? Ich bin Chloe Sullivan, die Redakteurin des Torch. Du hast mir ein Interview für die Schülerzeitung versprochen. Wir waren für gestern verabredet, erinnerst du dich?« »Ich hab es nicht geschafft«, sagte Mike knapp. »Oh, das hab ich auch gemerkt. Nachdem ich eine Stunde auf dich gewartet habe!« Chloe öffnete ihr Notizbuch und schlug eine Seite mit einer Liste von Fragen auf. »Also, Mike...« »Ja? Dies ist übrigens die Herren-Umkleide, falls du es nicht wusstest«, unterbrach Mike sie. »Talent und eine gute Beobachtungsgabe!«, staunte Chloe. »Was kann man mehr verlangen?« Mike rieb sich den Rücken seiner riesigen Nase. »Chloe, ich will dich nicht versetzen. Aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit für dich.« »Es wird nicht lange dauern, versprochen«, sagte Chloe. »Mr. Gullet hat meinem Freund Pete die Erlaubnis gegeben, 29
während der Probe Fotos zu machen, ich werde also nicht mal Bilder knipsen, sondern dir nur ein paar Fragen stellen.« »Mike, gib besser auf. Sie ist gnadenlos«, riet ihm Clark. »Du hast vergessen hinzuzufügen ›aber auf sehr charmante Art‹«, sagte Chloe zuckersüß. »Also, Mike. Du spielst den Cyrano. Deine Freundin Dawn spielt die Roxane. In dem Stück liebt Roxane aber einen anderen Mann, Christian. Wie gehst du damit um?« Mike zuckte mit den Schultern. »Es ist nur ein Stück! Das gehört dazu, wenn man Schauspieler ist.« »Okay!« Chloe kritzelte die Antwort in ihr Notizheft. »Deine Freundin und du, ihr wollt beide professionelle Schauspieler werden. Was meinst du: Wer von euch beiden hat mehr Talent?« Mike runzelte die Stirn. »Was soll die dämliche Frage?« »Glaubst du, dass sie berühmter werden wird als du?«, setzte Chloe noch eins drauf. »Was wird das denn für ein Interview...?« »Ich habe gehört, dass Dawn öffentlich behauptet hat, mehr Talent als du zu haben. Was sagst du dazu?« Mike stand abrupt auf. »Das Interview ist vorbei!« Chloe erhob sich ebenfalls. »Aber ich habe gerade erst angefangen...« »Mann, ich habe jetzt keine Zeit, mir diesen Mist anzuhören!« Chloe setzte ihren Stift an. »Darf ich dich wörtlich zitieren?« »Komm schon, Chloe, lass ihn in Frieden«, murmelte Clark beschwichtigend. »Er versucht, den Text für seine Rolle zu lernen.« Chloe trat nun zwar den Rückzug zur Tür an, konnte es sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Also wäre es korrekt zu berichten, dass du nur wenige Tage vor der Premiere deinen Text noch nicht kannst?« »Raus!« Mike wurde langsam richtig wütend. 30
»Wiedersehen!« Chloe schlüpfte aus der Umkleide. Mike schlug die Tür hinter ihr zu. »Entschuldige, Clark, ich weiß, sie ist eine Freundin von dir. Aber ich habe momentan wirklich nicht den Nerv...!« »Wenn du gestern zu dem verabredeten Interview erschienen wärst, dann säße sie dir heute nicht auf der Pelle«, bemerkte Clark. Mike kratzte sich am Kinn. »Glaubst du, Dawn hat wirklich gesagt, dass sie mehr Talent besitzt als ich?« Clark zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hat sie es gesagt. Sie hat mir nämlich auch an den Kopf geworfen, dass sie meine Interpretation von Cyrano total ätzend findet.« »Das ist nicht besonders nett.« »Kann man wohl sagen! Sie hat mich völlig fertig gemacht, mir eingeredet, ich könnte die Rolle nicht spielen, weißt du«, vertraute Mike ihm an. »Deswegen bekomme ich auch meinen Text nicht in den Kopf. Ich bin total blockiert. Wahrscheinlich kann sie nicht ertragen, dass meine Rolle größer ist als ihre. Sie muss immer im Mittelpunkt stehen. Ich sage dir, die ist komplett durchgeknallt!« Er starrte an die Decke. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich dir das alles erzähle!« »Ich kann es für mich behalten«, versicherte Clark ihm. »Ja?« Mike setzte sich wieder hin und beugte sich zu Clark herüber. Er senkte seine Stimme vertraulich. »Als Dawn und ich zusammenkamen, war ich hin und weg. Sie hat alles getan, um mich auf sie aufmerksam zu machen. Meine Freunde haben alle gesagt: ,Deine Freundin ist so heiß’. Klar hat mir das gefallen. Aber eines Tages sagt sie mir wie aus heiterem Himmel, dass sie sich mit mir langweilt. Und dann habe ich erfahren, dass sie die Typen schneller abserviert, als man bis drei zählen kann. Sobald Dawn gehabt hat, was sie wollte, ist sie zum Nächsten unterwegs.«
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Clark wusste nicht, was er sagen sollte. »Tut mir Leid, das zu hören. Es sah so aus, als würdet ihr beiden gut zusammenpassen. Ihr wollt beide Schauspieler werden. Vielleicht ist sie etwas schwierig, aber sie ist unglaublich talentiert.« »Schwachsinn«, schnaubte Mike. »Wie mein Onkel in Texas sagen würde: Außen hui, innen pfui.« »Aber sie ist die beste Schauspielerin der Schule!«, protestierte Clark. »Ach, Quatsch«, zischte Mike. »Alles an ihr ist antrainiert und künstlich. Ihre Art. Ihr Talent. Sogar ihre...« Er wölbte seine Hände vor der Brust und machte damit deutlich, was er meinte. »Letztes Jahr hatte Dawn Körbchengröße 75A. Jetzt hat sie 75D. Du kannst dir ja denken, was das bedeutet!« Clark war von Mikes Grobheit abgestoßen. »Wie kannst du nur so über deine Freundin reden? Ich meine, es geht mich natürlich eigentlich nichts an, doch ihr scheint ernsthafte Probleme zu haben. Aber ihr müsstet euch doch irgendwie zusammenreißen können. Du liebst sie schließlich, oder?« »Sie lieben? Ich kann sie nicht ausstehen!« Mike stand vor dem Spiegel und betrachtete seine Cyrano-Nase. »Sobald das Stück aufgeführt worden ist, ist sie Geschichte!« Er sah auf seine Uhr. »Wir müssen los!« Sobald sie den Raum verlassen hatten, erhoben sich plötzlich Mikes Kleider. Sie schwebten hinaus auf den Gang und weiter bis zur Herrentoilette, wo sie ein Bad in der Kloschüssel nahmen. Dawn kochte vor Wut, als sie die Wasserspülung drückte und Mikes Klamotten versenkte. Sie hatte sich vorgestellt, dass es irrsinnigen Spaß machen würde, sich in die Herren-Umkleide einzuschleichen. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass Mike so über sie dachte. Und das auch noch jemandem erzählte, den sie noch nie wahrgenommen hatte. Das würde sie Mike heimzahlen! 32
In ihrem Zorn war ihr jedoch keineswegs entgangen, was für einen großartigen Körper dieser Clark hatte. Und nicht nur das: Obwohl er sie scheinbar kaum kannte, hatte er sie gegenüber den Lügen und Gemeinheiten dieses Idioten Mike verteidigt. In jeder Hinsicht ein beeindruckender Typ! Etwa eine halbe Stunde später saßen Lana, Clark, Chloe und Pete mit dem Rest der Schauspieler und den Bühnenarbeitern im Zuschauerraum. Um Petes Hals hing eine Kamera. Auf der Bühne probten Mike und Dawn die Balkon-Szene. Mr. Gullet stand nur einige Meter von ihnen entfernt und sah sich die Szene aufmerksam an. »Chloe, du hast doch gesagt, dass es nur eine Stunde dauern wird«, stöhnte Pete und sah auf seine Uhr. Chloe zuckte mit den Schultern. »Woher sollte ich wissen, dass die beiden da oben so lange brauchen? Mr. Gullet hat gesagt: Fotos erst nach dieser Szene. Es stört sonst ihre Konzentration.« »Aber es zerstört mein Leben, wenn ich in Mathe durchfalle!« Chloe steckte einen Kaugummi in ihren Mund. »Wenn du nur halb so viel Zeit darauf verwenden würdest zu lernen, wie du rummeckerst, könntest du es mit Stephen Hawking aufnehmen.« »Der ist Physiker«, flüsterte Clark ihr zu. Chloe warf ihm einen würdevollen Blick zu. »Ich weiß!« »Es dauert nicht mehr lange«, munterte Lana Pete auf. »Sie fangen gleich mit einer neuen Szene an!« Pete sah zu Mike hinüber, der gerade zum zehnten Mal in den letzten Minuten seinen Text vergessen hatte. »Da wäre ich nicht so sicher.« Er blickte von Lana zu Clark und dann wieder zu Lana. »Wo ist eigentlich Whitney?«
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»Mr. Gullet hat ihn gebeten, das neue digitale Lichtsystem für die Bühnenscheinwerfer abzuholen«, antwortete Lana. »Es ist an die LuthorCorp-Fabrik geliefert worden.« »Oh!« Pete warf Clark einen bedeutungsvollen Blick zu. »Das heißt also, Whitney ist nicht hier?« Lana klang verblüfft. »Das habe ich doch gerade gesagt.« Pete lehnte sich zu Clark herüber. »Frag sie, ob sie einen Kaffee mit dir trinken geht«, flüsterte er Clark zu. »Während die Konkurrenz weit weg ist, hat Clark Kent freie Bahn!« »Hat er nicht«, flüsterte Clark zurück. »Wir haben noch keine Pause.« Pete verschränkte die Arme vor der Brust. »Dein Problem ist, dass du dich zu sehr an die Regeln hältst!« »Hm, vielleicht.« Clark lehnte sich nach vorne und sah Mike auf der Bühne zu, der mit dem Text der Szene kämpfte. Ich mag den Typ nicht, aber er tut mir trotzdem Leid, dachte er, als Carrie ihm schon wieder soufflieren musste. »Es hätte unsere Arbeit sicherlich erheblich erleichtert, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, Ihren Text zu lernen«, sagte Mr. Gullet so laut, dass jeder im Theater ihn hören konnte. Mike wurde rot. »Ich habe ihn gelernt. Wo war ich?« »Ich liebe dich, bin toll...« Carrie, die Bühnenmanagerin, rief ihm die ersten Worte seiner nächsten Zeile zu. Mike nickte. »Ich liebe dich, bin toll, von Sinnen, nichts, was die Liebste tut, kann mir...« Er stöhnte. »Kann mir was?« »Entrinnen«, flüsterte Clark vor sich hin. Auf der Bühne begann Mike von neuem. Einen Moment später patzte er schon wieder. Im Saal rezitierte Clark die gesamte Textzeile, ohne ins Stocken zu geraten: »Dies Gefühl, das mich hinreißt in Eifersucht und Leidenschaft, ist wahrlich Liebe, hat die Qual und Kraft der Liebe – und verlangt doch nichts für sich.« Pete blickte zu Clark herüber. »Was tust du da? Hast du etwa das Stück auswendig gelernt?« 34
»So in etwa«, gab Clark zu. »Wie viel davon?« »Äh... so ziemlich das Ganze.« Lanas Augenbrauen hoben sich. »Sehr beeindruckend, Clark!« Clark freute sich über das Kompliment. »Ich bin mir sicher, dass es viel schwieriger ist, sich an die Zeilen zu erinnern, wenn man da oben unter Druck steht.« Ein Wutausbruch von Mr. Gullet lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne. Mike hing schon wieder. »Mr. Karn, wo liegen die Schwierigkeiten?« »Seine ›Schwierigkeiten‹ liegen darin, dass er unfähig ist«, sagte Dawn heftig. »Wie soll ich mich unter diesen Umständen richtig entfalten?« »Sie machen jetzt beide eine Pause«, sagte Mr. Gullet. »Mike, holen Sie sich das Script. Ich will, dass Sie es für den Rest der Probe in den Händen halten. Die Premiere ist in zwei Tagen. Ich weiß genau, dass Sie Ihren Text eigentlich drauf haben!« Pete stieß Clark an. »Du kannst ihn besser!« Mike schlurfte von der Bühne. Dawn warf ihre Haare gereizt in den Nacken und ging zu ihren Freundinnen Missy und Julie hinüber, die nicht weit entfernt von Clark im Zuschauerraum saßen. Er konnte jedes Wort ihrer Unterhaltung verstehen. »Ist das zu glauben?«, regte Dawn sich gerade auf und warf ihr Haar erneut in den Nacken. »Als wäre es zu viel von ihm verlangt, seinen Text zu lernen.« »Dass du dich mit diesem Amateur rumärgern musst«, stimmte ihr Missy zu. »Du hast diese kleinen Schulaufführungen wirklich nicht nötig, Dawn«, pflichtete Julie ihr bei. »Wie Recht ihr habt!« Dawn rieb leicht ihre Schlafen. »Von der Aufregung bekomme ich Migräne. Ich habe etwas dagegen in meiner Umkleide. Bis später.« 35
Dawn ging und Pete ließ sich verzweifelt in seinen Sitz sinken. Er schloss seine Augen. »Wie soll ich Fotos machen, wenn die Stars alle weg sind? Bitte weckt mich, wenn sie wieder auftauchen.« Chloe rammte ihm ihren Ellbogen in die Seite. »Au!« Er hielt sich die Stelle, die sie getroffen hatte. »Womit habe ich das verdient?« »Eine sanfte Erinnerung, dass du zum Arbeiten hier bist. Iss halt irgendwas.« »Zu Befehl«, brummte Pete. »Aber wenn dieser Penner so weitermacht, sitzen wir hier noch bis zum nächsten Millennium.« »Vielleicht solltest du die Rolle spielen, Clark«, grübelte Chloe. »Du scheinst den Text zu kennen. Und von dir bekäme ich wenigstens ein halbwegs anständiges Interview.« Lana betrachtete Clark neugierig. »Wie hast du den Cyrano so schnell auswendig lernen können?« Clark zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist irgendwie... von selbst passiert.« Er beobachtete, wie Mike mit dem Script in der Hand wieder die Bühne betrat. Lautlos sagte er seinen Text auf, verzweifelt bemüht, ihn endlich im Gedächtnis zu behalten. Für einen Augenblick stand Mike bewegungslos auf der Bühne. Doch im nächsten Augenblick flog er, wie von einer unsichtbaren Kraft gestoßen, kopfüber in den Orchestergraben. Clark rannte, so schnell er konnte, den Gang hinunter und stürzte sich ebenfalls in den Orchestergraben. Er war zur Stelle, bevor Mikes Kopf auf den Betonboden aufschlagen konnte. Aber Clark kam zu spät, um Mikes Bein zu retten. Es gab einen deutlich hörbaren Knacks, als das rechte Schienbein des jungen Schauspielers in einen Klappstuhl krachte. Gleich darauf ertönte ein ohrenbetäubendes Schmerzgeheul, an dem Mikes Schauspielkunst allerdings nicht den geringsten Anteil hatte. 36
Fünftes Kapitel »MIKE, LIEBLING, HALT DURCH. Es wird alles wieder gut.« Dawn hielt Mikes Hand, während die Sanitäter ihn vorsichtig auf eine Transportbahre hoben. »Ich fahre mit in die Notaufnahme. Dawn, Sie bleiben hier.« Mr. Gullet gab seine Anweisungen. »Mike, ich habe Ihre Eltern angerufen. Sie werden Sie im Krankenhaus schon erwarten.« Im Theater war es ungewöhnlich still, als Mr. Gullet den Sanitätern hinaus zum Krankenwagen folgte. Alle waren starr vor Schreck. Plötzlich tauchte Dawn wieder auf und versetzte alle in Unruhe. »Hat jemand gesehen, wie das passiert ist?«, fragte sie. Sie wandte sich an die kleine Jenni. »Hast du was gesehen?« Jenni zuckte hilflos mit den Schultern. »Es sah aus, als wäre er gestürzt. Es war während der Pause...« »Ich weiß, dass es während der Pause passiert ist, dämliche Kuh«, unterbrach Dawn sie in schneidendem Tonfall. »Ich war ja nicht hier, weil ich Pause hatte und in der Umkleide war.« Jennis Unterlippe begann zu zittern. Lana nahm sie in Schutz. »Ich verstehe deine Aufregung ja, Dawn. Aber Jenni kann nichts dafür.« Dawn stiegen die Tränen in die Augen. »Du hast ja Recht. Entschuldige, Jenni. Ich bin so durcheinander. Es ist mir egal, was Mr. Gullet gesagt hat. Ich muss einfach wissen, wie es Mike geht.« Damit rannte sie aus dem Zuschauerraum. Pete war beeindruckt. »Wow! Sie muss den Typen wirklich lieben. Mein Gott, man kann sich nie sicher sein! Da hat man die Hauptrolle im Theaterstück und eine heiße Freundin. Alles ist in Ordnung. Und im nächsten Augenblick – bam! – ist man hilflos wie ein kleines Kind.«
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Chloe spähte in den Orchestergraben. »Also, ich bin der Meinung, dass das hier kein normaler Unfall war. Es sah eher nach Material für die ›Wand des Übernatürlichen‹ aus.« Die »Wand des Übernatürlichen« war eine riesige Collage, die Chloe in dem Raum neben dem Büro des Torch aufgehängt hatte. Sie enthielt Zeitungsartikel und Fotos von jedem seltsamen und unerklärlichen Ereignis in Smallville. Und davon gab es eine ganze Menge in Smallville! »Ach, Chloe«, seufzte Pete. »Du siehst mal wieder Gespenster. Der Typ war unaufmerksam, weil er die Nase im Script hatte. Da hat er eben das Gleichgewicht verloren und ist gestürzt. Guter Rettungsversuch übrigens, Clark. Du hast das schnellste Reaktionsvermögen in ganz Kansas!« »Ich stand direkt am Orchestergraben, das war alles«, sagte Clark. Chloe drückte nachdenklich die Spitze ihres Kugelschreibers gegen ihr Kinn. »Also, wenn Mike nicht plötzlich von Selbstmordgedanken überfallen wurde – was verständlich wäre, wenn man bedenkt, dass er von seinem Text vielleicht drei Zeilen auswendig kann und bald Premiere ist –, ist er nicht einfach ›gestürzt‹«, beharrte sie. »Irgendetwas hat ihn gestoßen.« Lana sah belustigt aus. »Chloe, in dieser Gegend passieren ja des Öfteren komische Sachen, aber in diesem Fall geht wohl deine Fantasie mit dir durch!« »Vergiss nicht, wir sind hier in Smallville«, gab Chloe zu bedenken. »Hier sind schon oft unerklärliche Dinge geschehen!« »Jedenfalls gibt es jetzt noch ein Problem«, sagte Lana. »Es gibt keine zweite Besetzung für den Cyrano.« Clark war überrascht. »Warum nicht?« »Wir haben sowieso nur wenige Jungs für das Stück zusammenbekommen«, erklärte Lana. »Und niemand wollte so eine große Rolle wie die von Cyrano umsonst auswendig lernen.« 38
»Jetzt wissen wir, dass es in diesem Fall keineswegs umsonst gewesen wäre«, warf Pete ein. »Ist das ätzend.« Mark Warsaw, ein guter Freund von Mike, der Christian spielte, mischte sich nun ein. »Wir hängen am besten gleich ein Plakat auf: ›Das Stück fällt aus‹!« »Wir können das Stück nicht einfach... ausfallen lassen«, stieß Carrie hervor. »Wir haben seit Monaten hart dafür gearbeitet.« »Na ja, ohne Cyrano kann man schlecht Cyrano aufführen«, erwiderte Mark genervt. »So ein Mist!« Während alle darüber diskutierten, was jetzt geschehen sollte, kehrten Dawn und Mr. Gullet zurück. Dawns Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. »Gefährten, Römer, Theaterfreunde«, rief ein erschöpft aussehender Mr. Gullet laut, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Als Erstes die gute Nachricht: Mike hat nichts Schlimmeres als ein gebrochenes Bein. Doch nun zu unserem Problem: Wie ihr alle wisst, haben wir keine zweite Besetzung für seine Rolle. Deshalb bin ich offen für jeden auch nur halbwegs intelligenten Vorschlag, wie wir das Stück retten können.« Er ließ seine Augen über die Gruppe wandern. »Hat jemand eine Idee? Niemand? Haltet euch bloß nicht zurück!« Niemand sagte ein Wort. »Vielleicht könnte jemand die Rolle ablesen«, schlug Carrie halbherzig vor. »Und bevor irgendjemand was sagt: Ich weiß, die Idee ist schwachsinnig. Cyrano kann sich nicht duellieren, während er den Text in der Hand hält.« »Vielleicht könnten Sie die Rolle spielen, Mr. Gullet«, schlug Jenni leise vor. »Bitte! Er ist alt genug, um mein Opa zu sein«, rief Dawn aus. »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber das überschreitet meine Schmerzgrenze!« »Nun, vielen Dank für die Blumen, Miss Mills«, sagte Mr. Gullet. »Ich brenne wirklich nicht darauf, den Cyrano zu 39
spielen, aber wenn wir niemanden für die Rolle finden, dann muss ich wohl...« »Er kann die Rolle«, platzte es aus Pete heraus. Er zeigte auf Clark. »Sh-h!«, zischte Clark. Pete ließ nicht locker. »Hey, Mikes Missgeschick könnte dein Durchbruch sein!« »Sehr taktvoll, Pete«, murmelte Chloe. Pete wandte sich an Mr. Gullet. »Ich versichere Ihnen, Mr. Gullet, Clark Kent kann die Rolle im Schlaf!« Mr. Gullet drehte seinen Kopf zu Pete. »Und Sie sind?« »Pete Ross, Sir.« »Und ich wüsste nicht, dass Sie an dem Theaterstück beteiligt sind, oder?« »Ich mache die Fotos für den Torch«, gab Pete zurück. »Aber fragen Sie Clark. Er kann die Rolle!« Der Direktor sah Clark an. »Nun, Mr. Kent?« Clark fühlte sich so hilflos wie ein Nachttier, das plötzlich in blendendes Scheinwerferlicht geraten war. Wo sind nur Peter Pans unsichtbare Flugdrähte, jetzt, wo ich sie so gut gebrauchen könnte, dachte er. Ich wäre schneller hier raus als... Plötzlich spürte er Lanas Hand auf seinem Arm. »Du kannst den Text, Clark«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich habe es doch gehört.« »Ich bin kein Schauspieler, Lana.« »Ich glaube, das kannst du laut sagen«, sagte eine ihm wohl bekannte Stimme scharf. Whitney. Er ist also wieder zurück. Perfekter Zeitpunkt!, dachte Clark. Lana betrachtete ihren Freund. »Kannst du denn den Text, Whitney?« Whitney verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein. Aber wie Kent selber sagt: Er kann nicht spielen.« Diese Bemerkung machte Clark wütend. Es war eine Sache, wenn er sich selbst kritisch beurteilte, aber eine ganz andere, 40
sich von Whitney kritisieren zu lassen. »Was ich meinte, war, dass ich keine Erfahrungen habe«, sagte er deshalb nach einer kurzen Pause. »Nicht, dass ich es nicht könnte.« »Können Sie die Rolle von Cyrano oder können Sie sie nicht?«, hakte der Direktor nun nach. Clark holte tief Luft. »Ich kann sie«, gab er zu. »Könnten Sie dann vielleicht mal den Anfang von Cyranos berühmtem Monolog zum Besten geben? Die Stelle, nachdem der junge Mann ihn wegen der Größe seiner Nase beleidigt hat.« Clark räusperte sich und begann zu rezitieren: »Das war etwas mager. Fällt Ihnen nichts mehr ein? – Mir vielerlei, und auch die Tonart lässt sich variieren! Ausfallend: ›Trüg ich diese Nasenmasse, ich ließ sie sofort mir amputieren.‹ Freundlich: ›Trinkt sie nicht mit aus ihrer Tasse?‹...« »Sehen Sie, er kann die Rolle!«, rief Pete enthusiastisch. »Und ich glaube, Mikes Kostüme würden ihm passen«, setzte Carrie eifrig hinzu. Der Direktor nickte, dann streckte er Clark langsam seine Hand entgegen. Er schüttelte sie herzlich. »Gut, gut, Mr. Kent. Glückwunsch. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass Sie unser Retter in der Not sind!« Oh, nein, das kann nicht sein?, dachte Clark entsetzt. Panik stieg in ihm auf. »Warten Sie! Ich meine, es muss doch noch eine andere Lösung geben...« »Wir brauchen keine andere Lösung«, verkündete Mr. Gullet. Er wandte sich an die versammelte Gruppe. »Alle mal herhören: Hier sehen Sie unseren neuen Cyrano de Bergerac, Mr. Clark Kent.«
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Sechstes Kapitel »SAG DAS BITTE NOCH MAL, CLARK«, bat Martha Kent. Kurz zuvor war Clark in die Küche gestürmt, wo sie das Abendessen vorbereitete, und hatte irgendetwas von dem Theaterstück gestottert und dann etwas wie »Und ich musste natürlich den Mund aufreißen« hervorgestoßen. Clark lehnte sich gegen den Küchentisch. »Also noch mal: Der Hauptdarsteller des Stücks ist während der Probe gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen.« Martha rührte in der Spaghettisoße, die auf dem Herd köchelte. »Geht es ihm gut?« »Ich glaube, ich habe ihn vor Schlimmerem bewahrt«, berichtete Clark. »Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Niemand ist bei meiner Rettungsaktion etwas Komisches aufgefallen.« Er vergrub den Kopf in beiden Händen. »Was soll ich bloß tun? Wie bin ich da nur reingeraten?« »Wo reingeraten?« Martha begann, Salatblätter zu waschen. »Ma, nun hör mir doch zu. Lana hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass sie für das Theaterstück noch einige Leute für kleine Statistenrollen brauchen. Also bin ich zur Probe gegangen, um eine dieser Rollen zu übernehmen. Und jetzt spiele ich die Hauptrolle. Cyrano de Bergerac. Ich bin Cyrano. Und in drei Tagen ist Premiere!« Martha wandte sich erstaunt ihrem Sohn zu. »Du machst Witze!« »Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?« »Aber... ich habe Cyrano im College gesehen. Es ist eine der schwierigsten Rollen, die je für das Theater geschrieben worden sind. Und du hast noch nie in deinem Leben Theater gespielt. Wie soll das funktionieren?« »Genau das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären.« 42
»Wie kam es denn nun genau dazu?«, wollte sie wissen. »Und während du es mir erzählst, kannst du deine überschüssige Energie gerne beim Gemüseschneiden abreagieren.« Sie reichte ihrem Sohn ein Messer und ein Schneidebrett. »Schuld an allem hat nur mein verflixtes Gedächtnis«, fing Clark an, während er das Gemüse mit blitzartiger Geschwindigkeit zerhackte. Seine Hand mit dem Messer verschwamm dabei zu einem undeutlichen Farbwirbel. »Ich hatte nicht einmal vor, die Rolle auswendig zu lernen. Es ist einfach wie von selbst passiert. Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie ich wieder aus der Sache rauskomme, Ma!« »Es sieht dir nicht ähnlich, einfach aufzugeben, Clark.« »Aha!«, fuhr Clark auf. »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber das kann man ja wohl kaum als aufgeben bezeichnen. Man kann nichts aufgeben, was man nicht schon versucht hat. Und ich werde es nicht versuchen!« Clark bemerkte, dass seine Mutter das Gesicht spöttisch verzog. »Bitte nicht das ›Clark, du machst nur Ausflüchte‹Gesicht, Ma«, sagte er. »Das ist keine Flucht. Das ist eine berechtigte Panikattacke.« Martha lächelte, während sie begann, die Arbeitsfläche abzuwischen. »Meine Angst scheint dir Spaß zu machen, nicht wahr?«, erkundigte sich Clark. »Natürlich nicht, Clark.« Martha drehte sich zu ihrem Sohn um. »Ich musste nur gerade daran denken, was für ein Lampenfieber ich immer vor Konzerten hatte. Ich war die zehnte Flöte im Schulorchester. Aber du... ich habe dich noch nie in einem derartigen Zustand gesehen. Du benimmst dich ja wie jeder andere normale Mensch.« »Na toll«, stöhnte Clark, »vielen Dank für deine aufmunternden Worte.«
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»Mr. Gullet hätte dir die Rolle nicht gegeben, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass du das schaffst«, versicherte Martha ihm. »Nein. Er hat es gemacht, weil er keine andere Wahl hatte.« Clark überkam plötzlich die Vorstellung, vor einem riesigen Publikum versteinert auf der Bühne zu stehen und kein Wort herauszubekommen. Er schluckte. »Was ist, wenn ich das ganze Stück ruiniere. Was ist, wenn...« »Hallo, alle zusammen«, begrüßte Jonathan Kent seine Frau und seinen Sohn. »Das Öl im Traktor ist gewechselt.« Er küsste seine Frau und tauchte dann einen Löffel in die Spaghettisoße, die leise auf dem Herd brodelte. »Jonathan!«, protestierte Martha, aber auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. Er schlürfte genießerisch. »Köstlich. Clark, ich habe fünfzehn Minuten gebraucht, um den Trichter für das Öl zu finden. Wenn du also die Güte hättest, das nächste Mal wieder alles dorthin zu bringen, wo es hingehört...« Doch Clark hörte ihm kaum zu. Der Öltrichter war so ziemlich das Letzte, was er momentan im Sinn hatte. »Unser Sohn hat Neuigkeiten«, sagte Martha. »Erzähl es ihm, Clark.« Und Clark erzählte seine Geschichte zum wiederholten Male. Als er fertig war, fiel ihm auf, dass sein Vater amüsiert zu sein schien. »Ich wusste nicht, dass du dich fürs Theater interessierst, Sohn.« »Tu ich auch nicht«, platzte Clark heraus. Als ihm auffiel, wie lächerlich das klingen musste, sagte er schnell: »Ich meine, ich mag das Stück sehr. Ich habe nur nie darüber nachgedacht... ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie...« »Lana ist bei den Bühnenbildnern«, fügte Martha erklärend hinzu. »Aha«, sagte Jonathan, breit grinsend. Er kannte die Gefühle seines Sohnes für das Mädchen aus der Nachbarschaft. »Also, 44
dann würde ich sagen, du solltest das Ganze als eine gute Gelegenheit betrachten.« »Eine gute Gelegenheit, mich lächerlich zu machen«, fing Clark erneut an, sich zu beklagen. »Sieh mal, ich habe so das Gefühl, dass ich dein Problem verstehe«, sagte sein Vater sanft. »Als Schauspieler kannst du deine übernatürlichen Kräfte nicht einsetzen, nicht wahr? Du kannst dich dabei nur auf deine... menschlichen Fähigkeiten verlassen. Was für dich bedeutet, ein Risiko einzugehen. Etwas, was du, wenn du ehrlich bist, nicht gewohnt bist. Zumindest nicht so wie andere Menschen.« Clark spürte, wie ihm der Atem im Hals stecken blieb. Sein Vater hatte Recht. Genau das war sein Problem. Es ist wirklich erstaunlich, wie oft mein Vater genau weiß, was in mir vorgeht, noch bevor ich es selbst weiß, dachte Clark. »Ich glaube, du hast Recht«, gab er zu. Seine Mutter umarmte ihn. »Ich persönlich glaube, dass du alles kannst, wenn du es nur willst, mein Schatz.« »Sogar das?« »Sogar das!«, sagte Martha überzeugt. »Eins weiß ich genau: Man kann nur auf eine einzige Art versagen. Wenn man aufgibt, ohne es zumindest einmal versucht zu haben!« »Dem kann ich nur beipflichten«, warf Jonathan ein. Clark seufzte. Das stimmte ja alles. Aber sie hatten gut reden. Sie würden ja auch auf keiner Bühne stehen und das ganze Stück ruinieren. Doch er war dankbar für ihre Unterstützung. »Es könnte alles noch viel schlimmer sein!« »Seid gegrüßt«, platzte in diesem Moment Chloe unerwartet herein. Sie schnüffelte in der Luft. »Was riecht hier denn so köstlich?« »Hol dir einen Stuhl, Chloe«, erwiderte Martha gutmütig. »Du scheinst telepathische Kräfte zu besitzen, wenn es darum geht zu wissen, wann bei uns Pasta-Abend ist.« 45
»Ich habe meine Spione«, sagte Chloe und zog die Augenbrauen bedeutungsvoll in die Höhe. »Und außerdem machen Sie die beste Spaghettisoße weit und breit, Mrs. Kent.« »Oh, vielen Dank. Ich fühle mich geschmeichelt. Kannst du vielleicht gerade den Salat auf den Tisch stellen?« Chloe brachte die Salatschüssel zum Tisch und setzte sich. »Hat Ihnen Clark schon erzählt, dass er kurz vor seinem Durchbruch zum Star steht?« Martha schmunzelte. »Nicht mit diesen Worten!« Chloe wandte sich an Clark. »Ich habe mir gedacht, wenn ich heute Abend noch ein schnelles, aber bemerkenswert tiefgründiges Interview mit dir führe – du weißt schon, das große Exklusivinterview –, kriege ich es noch in der Nummer unter, die zum Premierentag erscheint. Diese Geschichte ist der Stoff, aus dem Legenden gemacht werden!« »Oder ein vernichtend schlechter Ruf«, murmelte Clark. Chloe fischte sich eine Möhre aus der Salatschüssel und knabberte daran. »Sieh es doch so, Clark: Was hast du bisher außerhalb des Unterrichts unternommen? Du hast es vielleicht drei Tage mit Football versucht, bist aber nie in die Mannschaft gekommen. Du hast noch nicht einmal Blut gespendet, als der Blutspende-Wagen da war. Vielleicht stellt sich heraus, dass das Theater deine wahre Bestimmung ist. Die Chance, auf die du immer gewartet hast!« Clark wechselte einen Blick mit seinen Eltern. Wenn Chloe nur wüsste, dachte er. »Oh, ich hab was Interessantes mitgebracht.« Chloe zog einen Briefumschlag aus ihrem Rucksack und reichte ihn Clark. »Das sind die Fotos, die Pete von der Probe heute Nachmittag gemacht hat. In nur einer Stunde entwickelt, hier in unserer Drogerie. Sie sind zwar ziemlich schlecht, aber...« »Chloe, ich war dort. Ich habe alles gesehen. Muss ich mir die Fotos wirklich anschauen?«, fragte Clark genervt.
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»Oh ja, dafür gibt es einen ziemlich guten Grund«, beharrte Chloe. Sie lehnte sich zu Clark, während er pflichtbewusst die Fotos durchsah. »Warte, halte mal. Das ist Mike, kurz bevor er zu seinem Todessprung ansetzt. Okay, und jetzt sieh dir das nächste Foto an.« Clark betrachtete das Bild. Pete hatte in dem Moment auf den Auslöser gedrückt, als Mike in den Orchestergraben gestürzt war. Chloe tippte mit ihrem Finger leicht gegen das Foto. »Und?« »Was und?« Chloe sah verzweifelt aus. »Und, sieht es nicht etwa so aus, als würde ihn etwas stoßen?« Jonathan lächelte, während er ein paar Gläser auf den Tisch stellte. »Spielst du wieder Detektivin, Chloe?«, zog er sie auf. »Sieh dir einmal genau Mikes Körper an«, insistierte Chloe, ohne auf Jonathans Bemerkung einzugehen. »Er knickt mit den Knien ein, siehst du? Als würde ihm jemand von hinten in die Kniekehlen treten.« Clark gab ihr die Fotos zurück. »Da ist aber niemand zu sehen, Chloe.« »Niemand, den wir sehen können«, korrigierte Chloe. »Abendessen«, rief Martha. Sie trug eine riesige Schüssel mit dampfenden Spaghetti zum Tisch. Chloe steckte die Fotos wieder in ihre Tasche, während sich die Kents an den Tisch setzten. »Du kannst zumindest einmal versuchen, nicht gleich von Anfang an auszuschließen, dass hier etwas Seltsames vorgeht, Clark«, fügte Chloe hinzu. »Das ist alles, worum ich dich bitte.« »Das Seltsamste, was ich mir im Augenblick vorstellen kann, ist, dass ich Liebesszenen mit Dawn Mills spielen werde«, sagte Clark und reichte die Spaghettischüssel an Chloe weiter. »Das ist etwa so wie Natalie Portmann als Roxane und Tom Green als Cyrano.« 47
Während sie aßen, fuhren Clarks Eltern und Chloe damit fort, ihn aufzumuntern und zu ermutigen. Schließlich ergab sich Clark in sein Schicksal. Er würde versuchen, sein Bestes zu geben und hoffen, dass es gut genug war. Als Chloe hereingekommen war, hatte sie die Küchentür, die nach hinten herausging, leicht angelehnt gelassen. Sie waren alle zu sehr mit dem Abendessen beschäftigt gewesen, um zu bemerken, dass sich die Tür kaum merklich ganz langsam ein bisschen weiter geöffnet hatte. Und selbst wenn sie es gesehen hätten, hätten sie geglaubt, dies sei der Wind, der über die weiten, flachen Ebenen von Kansas wehte. Sie konnten ja nicht ahnen, dass Dawn Mills neben dem Kühlschrank stand und sie beobachtete. Clark hatte sie gerade mit Natalie Portmann verglichen. Sie lächelte selbstzufrieden und gratulierte sich zu ihrem guten Geschmack. Es war richtig gewesen, Clark zu Hause aufzusuchen, um herauszufinden, was für ein Typ er war. In der Umkleide hatte sie schon gesehen, dass sich hinter seinem jungenhaften, leicht alltäglichen Äußeren ein ziemlicher Kraftprotz verbarg. Und er war offensichtlich klug genug, sie für ihr großes Talent zu bewundern. Aber auf diesem Weg erfuhr sie von Chloes Theorie. Glücklicherweise glaubte Clark nicht an einen Stoß in den Orchestergraben. Erstaunlich, was für eine gute Beobachtungsgabe diese Chloe hatte. Schließlich wusste Dawn selbst am besten, dass sie auf Mikes Kniekehlen gezielt hatte, als sie ihn mit aller Kraft in den Orchestergraben gestoßen hatte. Während die Kents und Chloe Pasta aßen, schlenderte Dawn näher zum Tisch und beobachtete, wie Chloe Clark ansah. Es war kaum zu übersehen, dass diese kleine Laus eine Schwäche für ihn hatte. Abschätzend betrachtete Dawn ihre Konkurrentin. Chloes Haar war eine Katastrophe, ihr Körper
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mittelmäßig, ihr Gesicht langweilig und ihre Second-HandKlamotten... die waren doch schon seit Jahren out. Dawn lächelte selbstzufrieden und dachte noch mal an ihre perfekte Vorstellung am Nachmittag. Wie überzeugend hatte sie wegen Mikes tragischem Unfall geweint! Tja, das war wohl echtes Talent! Nun, Mike hatte genau das bekommen, was er verdient hatte. Mit ihm war sie fertig. Dawn wusste, was sie jetzt wollte. Sie wollte Clark Kent. Und Dawn Mills bekam immer, was sie wollte. Immer.
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Siebtes Kapitel DAWN HÖRTE DAS WASSER DER DUSCHE im Badezimmer rauschen, während sie sich in Clarks Zimmer umsah. Sie stellte sich vor, wie Clark tropfnass unter der Dusche stand. Aber so gerne sie sich das auch angesehen hätte, im Augenblick hatte sie Wichtigeres zu tun. Wenn sie und Clark zusammen sein würden, würde sie seinen Anblick noch oft genug genießen können. Und sie würden ein Paar werden. Da hatte sie keine Zweifel. Aber sie durfte nicht dauernd abschweifen. Schließlich war sie hier, um möglichst viel über Clark herauszufinden. Sie griff sich ein paar Bücher aus dem Regal. Blue Highways. Sie erinnerte sich vage daran, diesen Titel schon einmal im Bücherregal ihrer Eltern gesehen zu haben. Don Quichote. Von dem Buch kannte sie immerhin die Musical-Version, Man of La Mancha. Fast hätten sie es letztes Jahr in Smallville mit dem Schultheater aufgeführt. Sicherlich hätte sie die Dulcinea gespielt. Wer die Nachtigall stört. Sie hatte den Schwarzweißfilm im Fernsehen gesehen. Im unteren Regal fand sie mehrere Zeitschriften. Spin; Faszination der Wissenschaft. Etwas, das sich The Edge nannte. Sie blätterte es durch und stellte fest, dass es sich um ein hippes Musikmagazin handelte. Sie hörte immer noch Wasser laufen und wandte sich deshalb Clarks Musik-Sammlung zu. Sie ging die CD-Hüllen durch. Viel Bob Marley, Radiohead und Papas Fritas, uralte Sachen wie Santana und die Beatles und alles von Dave Matthews bis zu den Barenaked Ladies – der Typ hatte einen ziemlich breit gefächerten Musikgeschmack. Sie öffnete den CD-Spieler. Bob Marleys Greatest Hits lag darin. Dawn rümpfte die Nase. Reggae war so langweilig.
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Als Nächstes widmete sie sich seinem Schrank. In ihm waren jede Menge Hemden, die nur halb auf Bügeln hingen, zu finden. Auf dem Boden des Schranks lagen diverse Turnschuhe und Jeans. Außerdem fand sie ziemlich viele Pullover, von denen die meisten blau oder rot waren. Sie hielt ihre Nase an einen von ihnen. Er roch gut. Nach ihm. Die Dusche lief immer noch. Dawn genoss das Gefühl, in Clarks Zimmer herumzustreifen und alles zu erforschen, ohne gesehen werden zu können. Sie stöberte in Ecken herum, in denen ein Typ normalerweise Sachen vor seinen Eltern verstecken würde – unter seinem Bett, im hinteren Teil des Schrankes, ganz unten in der Schublade mit seiner Unterwäsche. Doch sie fand nichts Aufregendes. Keine Pornoheftchen. Keine versteckten Drogen oder Alkohol. Noch nicht einmal ein Päckchen Zigaretten. Der Typ schien keinerlei Laster zu haben. Nun machte sie sich an Clarks Computer zu schaffen. Er hatte einen von diesen »Flug durchs All«-Bildschirmschonern. Gedankenlos drückte sie eine Taste, woraufhin die Startseite von Clarks Internet-Provider aufblinkte. Sie erstarrte. Was wäre, wenn Clark jetzt zurückkäme und bemerkte, dass sein Bildschirmschoner verschwunden war? Er könnte auf den Gedanken kommen, dass jemand in seinem Zimmer gewesen war! In diesem Moment hörte sie, wie das Wasser abgedreht wurde. Obwohl sie wusste, dass sie unsichtbar war, suchte sie sofort nach einem Versteck. Schließlich kauerte sie sich an die Außenseite von Clarks Bett. Sie spähte zu dem Computer hinüber und betete, dass der Bildschirmschoner wieder auf dem Monitor erschien. Clark näherte sich. Sie konnte hören, wie er ein ReggaeStück vor sich hinsummte. Dann betrat er sein Zimmer. Um
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seine Hüften hatte er – leider – ein Handtuch geschlungen, mit einem zweiten trocknete er sich die Haare ab. Dawn spähte an ihm vorbei auf den Computermonitor und hoffte, dass Clark nicht darauf blicken würde. Eine Sekunde, bevor er sich doch zum Computer umdrehte, erschien der Bildschirmschoner wieder. Dawn atmete erleichtert auf. Es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Luft angehalten hatte. Clark erstarrte. Da war doch ein Geräusch! War da jemand in seinem Zimmer? Er hatte das Gefühl, als wäre irgendetwas oder irgendjemand dicht neben ihm im Zimmer. Er überprüfte den ganzen Raum mit seinem Röntgenblick, aber es war nichts zu sehen. Nichts. »Komisch«, murmelte er vor sich hin und warf die nassen Handtücher in einen Wäschesack, der an der Rückseite seiner Tür hing. Dawn wich den Geschossen aus. Nun kam sie doch noch auf ihre Kosten. Während Clark eine Trainingshose überstreifte, drückte sich Dawn gegen die Wand, damit sie nicht mit ihm zusammenstieß. Er konnte sie zwar nicht sehen, würde sie aber spüren. Außerdem tropfte Clark immer noch ein bisschen. Wenn sie mit dem Wasser in Berührung käme, würde sie wieder sichtbar werden. Und das wäre nicht in ihrem Sinne. Sie beobachtete, wie Clark ins Bett stieg und die Lampe auf seinem Nachttisch ausmachte. Sie fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie jetzt einfach zu ihm ins Bett kriechen würde. Sie konnte der Vorstellung kaum widerstehen. Nach einer Weile hörte sie Clark ruhig und tief atmen. Er war also eingeschlafen. Langsam und vorsichtig schlich sie zu seinem Bett und blickte ihn an. Er lag auf dem Rücken; einer seiner Arme lag quer über seinem Kopf. »Du wirst mir gehören, Clark Kent«, sagte sie leise.
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Das, was sie nun vorhatte, war gewagt. Aber es war ihr egal. Dawn beugte sich hinunter und hauchte Clark einen sanften Kuss auf die Lippen. Dann ging sie in die Nacht hinaus. Wegen einer Lehrerkonferenz endete der Unterricht am nächsten Tag schon früher, was den Bühnenbildnern die Gelegenheit gab, vor der Probe noch einige letzte Verbesserungen an den Kulissen fertig zu stellen. Clark nutzte die freie Zeit, um in der Cafeteria noch etwas an seinem Text zu arbeiten. Er hatte an diesem Morgen bereits Mr. Gullet getroffen, der ihm ein Script mit einem vereinfachenden Standortsystem gegeben hatte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Kent, Sie müssen nicht gleich alles auf einmal auswendig können«, hatte der Schauspiellehrer ihn ermutigt. »Dies ist eine Ausnahmesituation und die anderen Schauspieler werden Sie alle unterstützen. Versuchen Sie einfach nur, Ihr Bestes bei der Probe heute Nachmittag zu geben.« Clark wusste genau, dass er sich auf sein Gedächtnis verlassen konnte. Ihn beunruhigte etwas ganz anderes. »Stopp«, befahl er seinen rasenden Gedanken, in der Hoffnung, dass er so seine quälende Angst verbannen konnte. »Konzentrier dich!«, feuerte er sich weiter an. Er schlug die Balkon-Szene auf. »One love, one heart, let’s get together and feel alright...« Hinter ihm sang leise ein Mädchen. Wenn es irgendein anderes Lied gewesen wäre, hätte Clark es nicht wahrgenommen. Aber es handelte sich um Bob Marleys Hymne »One Love«. Er drehte sich neugierig um. Hinter ihm stand Dawn und wippte im Takt der Musik, die aus ihren Kopfhörern drang.
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»Hallo, Clark«, sagte sie fröhlich. Sie stellte den Ton leiser und schob den Kopfhörer herunter. Dann sah sie sein Script. »Gehst du noch mal die Positionierungen durch?« Er nickte. »Vielleicht schaffe ich es dann wenigstens, nicht mit allen auf der Bühne zusammenzustoßen.« Sie glitt anmutig auf den Stuhl ihm gegenüber. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versicherte sie ihm. »Ich helfe dir bei jedem Schritt. Das Wichtigste ist, dass du ganz und gar Cyrano bist. Wenn du das schaffst, ist alles andere halb so wild. Du musst dir nur bewusst machen, dass du der Star bist!« Während sie auf ihn einredete, hatte Dawn ihre Hand leicht auf seinen Unterarm gelegt. Clark war nicht so überzeugt von dem, was sie sagte, ging aber nicht näher darauf ein. Er wies mit dem Kinn auf ihren Diskman. »Du bist ein BobMarley-Fan?« »Ein ganz großer!«, vertraute sie ihm an. »Ich habe alle seine CDs und einige seltene Aufnahmen, die mir mein Cousin aus Jamaika mitgebracht hat. Warum?« »Ich liebe seine Musik«, sagte Clark. »Höre ihn den ganzen Tag. Er war wirklich ein Kämpfer für den Frieden, deshalb bewundere ich ihn.« Dawn nickte zustimmend. »Oh ja! Da war übrigens ein guter Artikel über ihn in der letzten Ausgabe von The Edge. Das ist ein ziemlich obskures Magazin. Ich kann es dir einmal leihen, wenn du...« Clark unterbrach sie fassungslos. »Warte mal. Woher kennst du denn The Edge?« Dawn zuckte mit den Schultern. »Ich interessiere mich eben sehr für Musik! In Smallville bekommt man das Magazin aber nicht.« »Ich weiß«, erwiderte Clark. »Meine Eltern bringen es mir manchmal aus Metropolis mit.« »Du scheinst ja nette Eltern zu haben.« Stöhnend ließ sie den Rucksack von ihrer Schulter gleiten. »Dieses Ding wiegt eine 54
Tonne.« Ein schweres Buch fiel aus dem Rucksack auf den Tisch. Clark las den Titel. Don Quichote. Cervantes. Das war doch nicht möglich! Sein absolutes Lieblingsbuch! Dawn bemerkte, dass er es betrachtete. »Ich habe es schon so oft gelesen, aber alle paar Monate hole ich es wieder heraus. Es handelt von...« »Ich weiß, wovon es handelt. Ich liebe dieses Buch!« »Ohne Witze?« Sie beugte sich zu ihm vor und blickte ihn mit ihren katzenhaften, smaragdgrünen Augen tiefgründig an. »Also Clark, es sieht so aus, als hätten wir mehr als nur das Schauspielen gemeinsam.« »Ja«, stimmte Clark zu. »Erstaunlich.« Sie legte den Kopf schüchtern zur Seite. »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich zu direkt bin, aber...« Dawn geriet ins Stocken und lachte dann verlegen. »Alle halten mich für selbstbewusst. Wenn ich auf der Bühne stehe, mag das ja auch zutreffen. Aber wenn ich einen Jungen wirklich mag... ich sag es am besten geradeheraus, Clark«, fuhr Dawn fort. »Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, habe ich diese... ich weiß nicht... diese innere Verbundenheit mit dir gefühlt.« »Bestimmt wegen meinem heißen Kostüm«, witzelte Clark, um sein Erstaunen zu überspielen. Dawn lachte. »Nein, ernsthaft.« Sie ergriff seine Hand. »Ich glaube, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat.« »Was ist mit Mike?« Dawn sah für einen Moment so aus, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. Dann fing sie sich. »Oh, der.« Sie zog ihre Hand zurück und zauberte dann rasch einen Ausdruck tiefster Besorgnis auf ihr Gesicht. »Das war ja so schrecklich gestern, nicht wahr?« Clark nickte. »Ich habe heute Morgen im Krankenhaus angerufen, um mich zu erkundigen, wie es ihm geht. Sein Bein ist an zwei Stellen gebrochen, aber sie entlassen ihn schon heute. Doch das weißt du sicher schon alles.« 55
»Klar«, sagte Dawn schnell. Sie hatte sich natürlich weder nach Mike erkundigt, noch die leiseste Ahnung, wie es ihm ging. Ihrer Meinung nach hatte dieser Armleuchter Glück gehabt, dass er mit dem Leben davongekommen war. »Es ist wirklich schlimm, dass uns ausgerechnet diese Tragödie zusammenbringt, Clark«, sagte sie heftig. »Aber... nun ja, wir können ja beide nichts dafür.« »Uns zusammenbringt... auf der Bühne, meinst du?«, fragte Clark verwirrt. »Exakt«, schnurrte sie. »Ich weiß, dass du nervös bist. Es wird dir helfen, wenn du irgendetwas in deiner Rolle findest, was dir bekannt ist. Etwas, was du auch fühlst.« Clark sah sie verständnislos an. »Nimm zum Beispiel die Balkon-Szene. Bist du schon einmal verliebt gewesen, Clark?« »Ich... bin mir nicht sicher.« »Dann benutze deine Fantasie. Schließ deine Augen.« Sie langte wieder über den Tisch, um seine Hand zu ergreifen. »Ich kann dir helfen, vertrau mir. Aber du musst deine Augen schließen, damit du dich konzentrieren kannst.« »Du bist der Profi.« Obwohl es Clark albern vorkam, schloss er die Augen. »Okay. Du bist Cyrano. Der größte Fechter, der jemals auf Erden gelebt hat. Und auch sehr redegewandt. Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstsicherheit, wenn es um dein Äußeres geht. Wegen deiner riesigen Nase. Kannst du dir das vorstellen?« »Ich versuche es«, sagte Clark. »Ich bin Roxane, das Mädchen, das du liebst. Aber du hast nie den Mut gehabt, mir das zu sagen. Weil ich von Männern umschwärmt werde. Was mir langsam langweilig wird. Wonach ich wirklich suche, ist ein Mann, der mit Worten umgehen kann. Deshalb verliebe ich mich in Christian, einen fantastisch aussehenden Typen, der mir die unglaublichsten, 56
aufregendsten Briefe schreibt. Was ich aber nicht weiß, ist, dass in Wirklichkeit du die Briefe für ihn schreibst. Er ist nämlich ein hirnloser Idiot. Wie würdest du dich fühlen?« Clark dachte einen Moment nach. »Schrecklich«. »Gut«, ermutigte ihn Dawn. »Jetzt nehmen wir uns die Balkon-Szene vor. Du versteckst dich darin unter meinem Schlafzimmerfenster. In der Dunkelheit gibst du dich als Christian aus. Du gestehst mir in den wunderbarsten Worten, wie sehr du mich liebst. Ist das nicht wunderschön?« »Eigentlich ist es ziemlich tragisch.« Clark öffnete seine Augen. »Aber du fängst an, Gefühle zu entwickeln, und das ist der wichtige Punkt am Schauspielern«, erklärte Dawn. »Clark, ich bin immer für dich da, wenn du meine Hilfe brauchst. Tag und Nacht. Vielleicht könnten wir nach der Probe...« »Clark?« Lana kam mit einem Becher Kaffee auf ihn zu. »Hallo, Lana.« Wie immer versuchte er, in ihrer Gegenwart normal und natürlich zu klingen. Aber er war sich nicht sicher, ob ihm das gelang. »Und, wie geht es mit dem Cyrano voran?«, fragte sie. Clark hielt ihr das Script entgegen und zuckte mit den Schultern. »Ich versuche, mein Bestes zu geben.« »Ich glaube ganz fest an dich, Clark. Du wirst großartig sein.« Dawn beobachtete, wie die beiden sich innig anlächelten. Dieses Mädchen war ein anderes Kaliber als diese Chloe. Und Clark sah dieses Mädchen auf eine höchst alarmierende Art und Weise an. So hatte Dawn ihn noch nie gesehen. Ihr Konkurrenz-Warnsystem stand auf höchster Alarmstufe. Sie warf ihre blonde Mähne über die Schultern und fragte herablassend: »Und du bist...?«
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»Oh, entschuldige«, sagte Clark hastig. »Ich hätte euch vorstellen sollen... Lana Lang, dies ist Dawn Mills. Dawn, Lana.« Dawn betrachtete Lana nochmals prüfend. Exotisch und zierlich. Gut aussehend, wenn man auf diesen Typ stand. »Bist du nicht Whitney Fordmanns Freundin?«, fragte sie kühl. »Interessant, dass ich dafür bekannt bin«, sagte Lana belustigt. »Bist du es nun oder nicht?«, fragte Dawn eisig. Doch Lana nahm einen Schluck Kaffee und fragte dann: »Wie geht es Mike? Das war wirklich schrecklich, was ihm gestern passiert ist!« »Ja, der arme Mike!«, schnappte Dawn. »Hör mal, Linda, wir waren gerade mitten in der Textprobe.« »Ich heiße Lana«, korrigierte Lana leicht gereizt. »Hm-hm. Verkaufst du nicht die Programme für das Stück oder so etwas?« »Ich gehöre zu den Bühnenbildnern.« »Solltest du dann jetzt nicht im Theater sein, um eifrig an den letzten Feinheiten zu basteln?« »Ich bin hier, um Kaffee für alle zu holen«, erklärte Lana und wies über ihre Schulter zur Getränketheke, wo die Bedienung gerade zwei Kartonlagen mit Fertigkaffees auffüllte. Sie wandte sich wieder an Clark. »Ich wollte dir etwas vorschlagen: Wenn du möchtest, könnte ich heute Abend vorbeikommen und mit dir die Dialoge üben.« »Gerne!«, rief Clark begeistert. »Ich denke, dass er die Dialoge besser mit mir üben sollte«, mischte sich Dawn ein. »Schließlich bin ich seine Bühnenpartnerin. Aber wirklich nett von dir, das Angebot«, fügte sie hastig hinzu. »Ehrlich gesagt, fühle ich mich viel angespannter, wenn ich mit dir probe, Dawn«, sagte Clark. »Aber...« 58
»Ich versuche es heute Abend mal mit Lana. Morgen wird es dann schon viel besser gehen, du wirst sehen«, fuhr Clark fort. »So verschwende ich nicht deine Zeit. Gute Idee, Lana.« »Also gut«, stimmte Dawn zu, obwohl sie innerlich vor Wut kochte. Aber es war sicherlich nicht nützlich, wenn sie das jetzt offen zeigte. Und außerdem hatte sie entscheidende Vorteile: Die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, würde ihr sicher auch in dieser Angelegenheit weiterhelfen. Und was diese Lana-Schnalle anging: halb so wild! Okay, sie hatte diese »seelenvolle-Augen-ich-bin-ein-verletzlichesVögelchen«-Nummer drauf. Sie erinnerte Dawn sogar an eine Rolle, die sie einmal in dem Stück Die Glasmenagerie gespielt hatte, nur dass die Figur in dem Stück gehinkt hatte und nicht so hübsch wie Lana war. Aber sooo hübsch war Lana auch wieder nicht. Wahrend Clark und Lana eine Uhrzeit für ihre Textprobe ausmachten, rasten die Gedanken nur so durch Dawns Hirn. Völlig undenkbar, dass ihr dieses rehäugige Nichts Clark vor der Nase wegschnappen würde. Niemals! Nach dieser Erkenntnis fühlte Dawn sich schon viel besser. Und sie lebte geradezu auf, als sie sich all die wundervollen und fiesen Möglichkeiten ausmalte, mit denen sie Lana fertig machen konnte.
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Achtes Kapitel DAWN SAH CLARK TIEF IN DIE AUGEN. »Und, wie fühlst du dich?« »Als würden Zwerge in meinem Magen herumhüpfen«, antwortete Clark. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Mach dir keine Sorgen, du wirst wundervoll sein.« Sie standen, bereits kostümiert, im Theater und warteten auf den Beginn der Probe. Mr. Gullet hatte ihnen gesagt, dass einige Szenen extra für Clark geprobt werden würden und dass es danach einen kompletten Durchgang mit Licht und Bühnentechnik geben würde. »Denk nur immer daran, was ich dir gesagt habe«, riet ihm Dawn. »Versuch dir vorzustellen, dass du wirklich in mich verliebt bist. Das kann doch nicht allzu schwer sein«, fügte sie kokett hinzu. »Im Augenblick kann ich mir außer Panik gar nichts vorstellen.« Clark fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Das sind wohl die Nerven, hm?« Dawn nickte. »Warum holst du dir nicht was zu trinken? Es ist noch Zeit genug.« »Gute Idee. Bin gleich zurück.« Während Clark zum Wasserspender schlenderte, kamen Dawns Freundinnen Missy und Julie herübergeschlendert. Die drei Mädchen beobachteten Clark, wie er sich über den Wasserspender beugte. »Eine Augenweide«, seufzte Dawn genießerisch. »Findet ihr nicht auch?« »Absolut«, stimmte Julie zu. Dawn sah Missy an. »Und was meinst du?«, fragte sie in scharfem Tonfall. 60
Missy zögerte. Sie hatte es satt, sich ständig bei Dawn einzuschleimen. Aber mit Dawn befreundet zu sein, hatte entscheidende Vorteile. Sie war reich, wundervoll und im sozialen Gefüge der Smallville Highschool sehr einflussreich. Wenn Dawn nicht der Star des Schultheaters wäre, wäre sie Cheerleader geworden, keine Frage. Sie gab die besten Parties, trug die hippsten Klamotten und nahm ihre Freunde mit, wenn sie mit ihren Eltern nach Hawaii verreiste. Aber sie war auch ein Raubtier, das in der einen Minute mit einem spielte und, wenn sich ihre Laune änderte, einen in der nächsten Minute verschlang. »Er ist süß«, sagte Missy schließlich zustimmend. »Aber du hast doch Mike!« »Bitte«, winkte Dawn ab. »Das ist vorbei. Könnt ihr euch das vorstellen: Er glaubt wirklich, ein guter Schauspieler zu sein.« Julie und Missy wechselten einen Blick. Dawn war fertig mit Mike Karn? »Er hatte nie auch nur andeutungsweise dasselbe Niveau wie du, Dawnie«, versicherte Julie ihr schnell. »Was läuft zwischen dir und diesem Clark?« »Nichts«, antwortete Dawn. »Noch nichts. Aber sobald ich es will, wird er an meinem Haken zappeln.« »Du bist so böse«, sagte Missy grinsend. Dawn grinste ebenfalls. »Und ich bin gut darin.« »Plätze einnehmen«, rief Carrie laut, während sie die Bühne überquerte. »Balkon-Szene.« Dawn verabschiedete sich von ihren Freundinnen. »Bye-bye, das ist mein Aufruf.« »Warte mal, Dawnie«, rief Missy. »Wir gehen doch noch nach der Probe zur Maniküre, oder?« »Ach ja.« Sie betrachtete stirnrunzelnd ihre Fingernägel. »Aber diese French Manicure ist so langweilig. Ich glaube, ich
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nehme wieder den Nagellack, den ich früher hatte, egal, was Mr. Gullet sagt.« Dann lief sie schnell die Stufen zum Balkon hoch, während Clark wieder die Bühne betrat. Sie warf ihm vom Balkon aus eine Kusshand zu. Er winkte halbherzig zurück. Er war schon wieder durstig, obwohl er eben erst vom Wasserspender zurückkam. Das war doch nicht möglich! Lana trat auf ihn zu. »Alles in Ordnung?« »Abgesehen davon, dass ich vor Angst fast durchdrehe, schon.« »Jeder macht das in den letzten zehn Minuten bevor es losgeht durch«, sagte Lana. »Die meisten Jungs hätten das nicht auf sich genommen, nicht einmal dann, wenn sie die Rolle schon auswendig gelernt hätten.« Clark bemerkte, dass sie Whitney, der hinter den Kulissen mit Mark Warsaw herumblödelte, einen Blick zuwarf. »Wenn man bedenkt, worum es geht, finde ich das echt klasse, Clark!« »Vielen Dank. Das baut mich zumindest ein kleines bisschen auf.« Lana lächelte. »Ich würde dir ja ›Hals- und Beinbruch‹ wünschen, aber nach dem, was Mike passiert ist, wünsche ich dir lieber viel Glück.« Er nickte und überquerte die Bühne, um seinen Platz unter dem Balkon einzunehmen. In Gedanken vergegenwärtigte er sich noch einmal die Szene. Er war Cyrano. Er war verliebt in Roxane, traute sich aber nicht, ihr zu sagen, was er für sie empfand. Nur in der Dunkelheit wagte er es, ihr seine Liebe zu gestehen. »Wir sind so weit, Cyrano, wie ist es mit Ihnen?«, rief Mr. Gullet. Er hatte sich auf einem Sitz in der ersten Reihe niedergelassen. Clark brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Mr. Gullet ihn meinte. Er nickte. Das war alles, wozu er momentan im Stande war.
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Mr. Gullet gab nun seine Anweisungen: »Wir fangen an der Stelle an, wo Christian stolpert und Cyrano verborgen im Dunkeln anfängt zu sprechen. Roxane, gib Cyrano das Stichwort.« Dawn schloss für einen Moment ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie die Rolle der Roxane ganz verinnerlicht. »Warum so träg sind Ihre Worte?« Clark schluckte. Das Theater war so schrecklich still. Und sein Mund war so trocken. Er wusste, dass er dran war. Er kannte seinen Text. Er ging so... ging so... »Weil durch nächtlichen Flor...«, soufflierte Carrie von der Seite. Richtig, dachte er. ›Weil durch nächtlichen Flor...‹, so geht’s weiter. »Weil durch nächtlichen Flor...«, begann er leise. So würde ihn niemand verstehen können. Er wiederholte die Textzeile. »Weil durch nächtlichen Flor...«, röhrte er. Ups. Viel zu laut. Danach breitete sich Stille aus. Die Sekunden verstrichen. »Dein Einsatz, Cyrano«, rief Carrie von der Seite. »Ja!« Clark räusperte sich laut. »Sich jedes Wort tasten muss nach Ihrem Ohr.« »Die meinen finden leichter ihren Weg«, antwortete Dawn. »Erklimmen Sie den Balkon!« »Nein!«, sagte Clark. »Nein, dieser Stunde sag ich Dank, wo wir so lieblich miteinander flüstern, und uns nicht sehn. Ist es nicht wie ein Raum –« »Traum«, korrigierte Carrie. »Die Zeile heißt: ›Ist es nicht wie ein Traum‹.« »Richtig«, sagte Clark. »Klar, er steht ja draußen«, fügte er nervös hinzu. Niemand lachte über seinen Witz, also fuhr er fort: »Ist es nicht wie ein Traum? Wir sind uns nah und ahnen uns doch kaum.« »Nicht sehn?«
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»Nein, was mein Innerstes erbangt und hofft; vergeig ich noch – ich meine – verschweig ich noch«, stammelte Clark unsicher. »Weil ich... weil ich...« Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern. Sein Gehirn war vollkommen leer. Er konnte sich an nichts erinnern. Er hörte, wie die anderen Schauspieler und die Bühnenbildner hinter der Bühne zu tuscheln anfingen. Er wusste genau, was sie sagten: »Es hat keinen Sinn, Clark wird das ganze Stück ruinieren.« Und dann stieg das Bild von Lana vor ihm auf. Wie sie mitbekam, dass er versagte. Was sie dabei fühlte. Scham. Enttäuschung. Und Whitney. Schadenfreudig. Grinsend. »Weil ich... bis heute gebannt war«, rief ihm Mr. Gullet aus dem Zuschauerraum zu. »Ich hatte gestern den Eindruck, dass Sie Ihren Text beherrschen, Mr. Kent.« Clark sah in den Zuschauerraum. »Ich kann den Text, Sir. Ich bin nur nervös.« »Also gut, Clark. Das ist verständlich. Versuchen Sie bitte, sich zu konzentrieren.« Clark nickte. Er kniff die Augen zusammen. Wenn er die Worte, die er vor seinem inneren Auge sah, bloß ablas, würde es vielleicht besser gehen. Er holte tief Luft und begann zu rezitieren: »Von Ihrer Augen Strahl doch von dem Zauber dieser Nacht berauscht sprech ich mit Ihnen heut zum ersten Mal.« Er riskierte einen fragenden Seitenblick auf Mr. Gullet. »Das waren drei Sätze, Mr. Kent«, erläuterte der Direktor. »Ein Punkt am Ende eines Satzes bedeutet, dass man eine Pause macht, bevor man den nächsten Satz beginnt. Normalerweise jedenfalls.« Clark nickte. »Okay. Ich weiß. Entschuldigen Sie. Es ist nur so, dass...« »Und außerdem: Was sollte dieser Seitenblick auf mich? Sie sind Cyrano. Für Cyrano gibt es keinen Zuschauerraum.« 64
»Oh...« »Stellen Sie sich eine unsichtbare vierte Wand auf der Bühne vor. Eine, durch die Sie nicht hindurchsehen können. Das Publikum ist dahinter. Was bedeutet, dass Sie mich nicht sehen können. Was bedeutet, dass Sie keinen Augenkontakt mit irgendjemand im Publikum aufnehmen werden. Niemals! Klar?« »Ja, Sir.« Die Stimme des Direktors wurde freundlicher. »Ich weiß, dass Sie nervös sind, Clark. Und wir sind alle ein bisschen angespannt hier. Es wäre aber schon hilfreich, wenn Sie etwas mehr Leidenschaft in Ihre Stimme legen könnten. Oder ist Ihnen dieses Gefühl nicht bekannt?« Clark wurde rot. »Ich versuche, es besser zu machen, Sir. Wirklich!« »Wunderbar. Ich bin gespannt!« Sie begannen von neuem. Mehr schlecht als recht gelang es Clark, irgendwie durch die Szene zu kommen. Er war grauenhaft. Eine Katastrophe. Endlich war die Szene vorbei. Clark stand auf der Bühne und fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Ich wünschte, es gäbe ein Loch auf der Bühne, genau hier, wo ich stehe. Ich würde so gerne darin verschwinden, dachte er niedergeschlagen. »Zehn Minuten Pause«, verkündete Mr. Gullet düster. Clark trottete von der Bühne. Niemand sprach mit ihm. Er ging in den Zuschauerraum und ließ sich auf einen Sitz in den hinteren Reihen fallen. »Hi.« Dawn setzte sich neben ihn. Ihr Gesicht drückte tiefes Mitgefühl aus. »Ich weiß, dass ich alles versaut habe«, sagte er. »Es tut mir wirklich Leid, Dawn.« Sie berührte leicht seinen Bizeps. »Ich kann mir vorstellen, wie nervös du bist«, sagte sie beruhigend. »Das ist schon in 65
Ordnung. Wenn wir alles nochmal durchgehen, wird es schon besser gehen. Und morgen wirst du fantastisch sein. Du wirst sehen.« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben.« Ihre Smaragdaugen fixierten ihn. »Du musst mir vertrauen, Clark. Mit meiner Hilfe wirst du es schaffen. Wir sollten wirklich heute Abend zusammen üben.« »Aber Lana...« »Die kleine Lana hämmert an den Kulissen herum«, unterbrach ihn Dawn. Sie legte ihren Zeigefinger auf Clarks Lippen. »Aber ich bin deine Roxane. Wer von uns beiden wird dir wohl besser helfen können?« »Ich glaube, Lana«, antwortete Clark, ohne zu zögern. »Sie hat genauso wenig Ahnung vom Theaterspielen wie ich. Mit dir zu proben ist... irgendwie einschüchternd.« »Du musst wissen, was das Beste für dich ist, Clark.« Als sie aufstand, beugte sie sich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir werden später noch genug Zeit für uns haben.« Clark sah ihr verstört hinterher, als sie den Gang hinunterging. Was meint sie nur damit?, fragte er sich. »Interessant, das Mädchen«, riss ihn eine bekannte Stimme aus seiner Verwirrung. Clark fuhr herum und erkannte Lex, der lässig an einer der Flügeltüren stand, die aus dem Zuschauerraum hinausführten. »Irgendetwas an ihr erinnert mich an Glenn Close in Fatal Attraction. Kennst du den Film?« Clark schüttelte den Kopf. »Jedenfalls kein Film für ein Rendezvous«, sagte Lex und schlenderte auf Clark zu. »Dies ist also die Probe.« »Was machst du hier?«, fragte Clark. Lex ließ sich auf den Sitz neben Clark fallen. »Ich hab es dir doch schon erzählt. Ich bin der Sponsor des Stücks. Und ich dachte mir, ich schau mir einmal an, wie es vorangeht mit meinem kleinen Projekt.« 66
Clark stöhnte. »Sag mir bloß nicht, dass du alles mitbekommen hast!« »Okay, ich sag’s nicht.« Clark sank noch tiefer in seinen Stuhl. »Klasse. Großartig. Ich bin sicher, du bereust jetzt jeden Cent, den du in dieses Stück investiert hast.« »Ich bin eher an guten Beziehungen hier in der Stadt interessiert als an einem Broadway-Hit, Clark.« »Sei ehrlich, Lex: Wie schlecht war ich?« »Monumental schlecht.« »Danke.« Lex beugte sich zu Clark vor. »Es gibt allerdings Hoffnung.« »Das bezweifle ich.« »Ernsthaft. Ich glaube, ich kann dir helfen.« Clark sah ihn zweifelnd an. »Du willst mir beim Schauspielern helfen können?« Lex lächelte fein. »Die Schauspielerei ist eine Kunst, die ich im Laufe meines Lebens vervollkommnet habe. Hast du noch nie gehört, dass die ganze Welt eine Bühne ist?« »Im Augenblick wäre ich ganz froh, wenn ich in eine Welt verschwinden könnte, in der Bühnen nicht existieren«, seufzte Clark unglücklich. »Tut mir ja Leid, dich bitter enttäuschen zu müssen, mein Freund, aber wenn du nicht zufällig Zugang zu Informationen hast, die der Rest der Welt nicht hat, ist dies die einzige Welt, die wir haben. Daher schlage ich vor, wir beide machen das Beste daraus. Ich bin mir sicher, dass du das kannst, Clark.« »Kannst du mir Gründe für diese Annahme nennen?« »Nenn es die Intuition eines klugen Freundes, wenn du willst«, schlug Lex vor. »Komm zu mir, wenn du hier fertig bist. Dann erklär ich dir alles.« Er stand auf. »Sieh es einmal so, Clark. Du hast meinen Hintern schon ein paar Mal gerettet. Jetzt ist es an mir, mich zu revanchieren.«
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Das Nagelstudio Pretty Nails hatte vor etwa einem Monat auf der Hauptgeschäftsstraße von Smallville eröffnet. Die vietnamesischen Besitzer und Betreiber des Geschäfts verlangten weniger als die Hälfte des Preises für eine Maniküre als die alteingesessenen Kosmetikstudios von Smallville. Damit machte das Nagelstudio ein gutes Geschäft. Man konnte sich auch die Beine epilieren lassen oder auf die Sonnenbank legen und dabei laute Rockmusik hören. Dawn und ihre Freundinnen waren hier inzwischen Stammkundinnen, die jede Woche zur Maniküre kamen. Die Warnungen vor zu starker Sonneneinstrahlung und Hautkrebs ignorierend, hatten sich die drei Mädchen auch angewöhnt, regelmäßig ins Solarium zu gehen, um das ganze Jahr über eine schöne, frische Bräune zu haben. Etwa eine Stunde nach der Theaterprobe betraten die drei Mädchen gemeinsam das Nagelstudio. »Ehrlich gesagt, war Clark während der ganzen Probe grottenschlecht«, sagte Missy, während sie den Freundinnen die Tür aufhielt. »Mit Mike würde das besser für dich laufen!« »Das stimmt nicht«, widersprach Dawn sofort. »Clark Kent hat ein reines, unverbrauchtes Talent.« »Bist du dir da sicher?«, fragte Julie vorsichtig. »Wer versteht mehr vom Schauspielern, du oder ich?«, sagte Dawn schnippisch. »Du, Dawnie«, versicherte Julie schnell. »Vielleicht wird er ja besser.« »Er wird.« Dawn betrachtete zerstreut das große Sortiment an Nagellacken, die Tran, die Besitzerin des Nagelstudios, auf der Ladentheke ausgestellt hatte. »Dawn«, rief Tran. Sie saß an ihrem Arbeitstisch und behandelte gerade eine Kundin. »Ich habe eine neue Lieferung Blue Moon bekommen. Aus Metropolis!« Sie hielt eine kleine Flasche mit silbrig-blauem Nagellack hoch.
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Dawn gab Tran ein Zeichen ihres Einverständnisses. Sie hatte das erste Mal in der Vogue über Blue Moon gelesen. Und nachdem Tran ihr versicherte hatte, dass die Farbe genau zu ihrem Teint passte, hatte Dawn keinen anderen Nagellack mehr benutzt. Er war zu ihrem Markenzeichen geworden. »Dawn, Mr. Gullet hat doch gesagt, dass du keinen blauen Nagellack tragen darfst, solange das Stück aufgeführt wird«, wandte Missy ein. »Was soll er machen? Mich rausschmeißen?«, fragte Dawn herablassend. »Außerdem ist er viel zu beschäftigt mit den letzten Vorbereitungen, um überhaupt zu bemerken, dass ich farbigen Lack trage.« Tran war mit ihrer Kundin fertig, also setzte sich Dawn nun an ihren Maniküretisch. Während Tran ihre Nägel pflegte, bekamen auch Missy und Julie ihre Maniküre. Anschließend wollten sie alle ins Solarium. »Und, hast du schon was von Julliard gehört?«, fragte Missy Dawn. Dawn hatte an einem Vorsprechen in Metropolis teilgenommen, um in der anspruchsvollen New Yorker Schauspielschule aufgenommen zu werden. Es nagte an ihr, dass sie immer noch keinen Antwortbrief bekommen hatte. »Ich hätte schon was gesagt, wenn ich von denen gehört hätte«, sagte sie giftig. »Wir sind uns alle sicher, dass du aufgenommen wirst«, beeilte sich Julie, ihr zu versichern. Missy nickte. »Du wirst bestimmt ein großer Star.« Dawn lächelte ihren Freundinnen zu. »Ihr könnt dann später meinen Fan-Club organisieren.« »Was für eine Farbe?«, fragte die Maniküre Missy. »Keine.« Missys Blicke glitten hinüber zu Dawn. »Du kannst es dir vielleicht leisten, Mr. Gullet nicht zu gehorchen, Dawn. Aber du bist auch der Star.« »Für mich auch keinen farbigen Lack«, bat Julie ihre Maniküre. 69
Dawn lachte höhnisch: »Ihr seid vielleicht Feiglinge!« Julies und Missys Maniküre war schnell beendet. Danach führte sie eine andere Angestellte in das Solarium. »Kabine eins ist fertig, Mädels«, sagte sie und öffnete die Tür. »Eure Freundin bekommt Kabine zwei, wenn sie fertig ist.« Als Tran mit Dawns Maniküre fertig war, klingelte ihr Mobiltelefon. Sie nahm den Anruf an, dann sprach sie auf vietnamesisch weiter. Sie legte ihre Hand auf das Telefon und sagte zu Dawn: »Halt deine Nägel unter die Speziallampe, damit sie schneller trocknen. Ich bin gleich wieder bei dir.« Dawn las in einem Klatschmagazin, während sie den Nagellack unter der Lampe trocknen ließ. Als er trocken war, telefonierte Tran immer noch. Es hörte sich laut und heftig an. »Tran«, rief Dawn ungeduldig. Tran legte wieder ihre Hand über das Telefon. »Mein Freund hat ein Protokoll bekommen, weil er mit meinem Auto zu schnell gefahren ist. Die Polizei sagt, die Papiere sind nicht in Ordnung. Aber...« »Interessiert mich nicht. Ich habe es eilig.« Tran nahm einen Schlüssel aus einer Schublade und reichte ihn Dawn. »Du bist eine Stammkundin. Geh einfach in Kabine zwei, okay?« »Danke, Tran.« Dawn ließ den Schlüssel an ihrem Finger baumeln und ging in den hinteren Teil des Ladens zu ihrer Kabine. Vorsichtig schloss sie sie auf, um sich ihre frisch lackierten Nägel nicht anzustoßen. Während sie sich auszog, schoss ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Sie fragte sich, worüber Missy und Julie redeten, wenn sie allein waren. Dawn lächelte. Es war für sie ein Leichtes, das herauszufinden. Sie nahm den schimmernden grünen Stein aus ihrer Tasche und rieb sich damit über die Füße und Waden. Der Stein tat wie immer seine magische Wirkung. Schon bald war sie vollkommen unsichtbar, inklusive ihrer frisch lackierten 70
Fingernägel. Sie warf einen Blick in den Spiegel an der Wand der Kabine. Sie war nicht mehr zu sehen. »Cool«, sagte Dawn selbstzufrieden. »Jetzt wollen wir mal sehen.« Sie lief den Gang hinunter und schlüpfte in Kabine eins. Missy und Julie lagen beide auf ihren Sonnenbänken, ihre Augen hatten sie mit schützenden Sonnenbrillen bedeckt. Sie unterhielten sich sehr laut, um die dröhnende Musik zu übertönen. »... hast du den Gesichtsausdruck auf ihrem Gesicht gesehen, als ich ihr gesagt habe, wie talentiert sie ist?«, sagte Julie gerade. »Oh, und das Beste war, als ich ihr gesagt habe, dass sie besser als Gwyneth Paltrow aussieht!« »Und mehr Talent hat!«, juchzte Julie. »Und sie hat dir das alles abgekauft!« Sie platzten beide vor Lachen heraus. Dawn konnte es nicht fassen. Sie redeten doch nicht über sie? Sie mussten jemand anderes meinen. Genau. So musste es sein. »Dawn ist so extrem künstlich«, fuhr Missy fort. »Sie benimmt sich total übertrieben und pathetisch!« »Du hast ja so Recht!« Julie ahmte Dawns übertriebenen Tonfall nach und hatte offensichtlich großen Spaß dabei. Und Übung darin. »Ich hab es so satt, mich bei ihr einzuschleimen«, sagte Missy. »Sie kennt nur sich selbst: Seht mich an, ich bin sooo hübsch, ich bin sooo talentiert, ich, ich, ich. Weißt du, wenn Dawn nicht so tolle Sachen und so ein cooles Auto hätte, würde sowieso niemand mit ihr rumhängen.« Dawn erstarrte. Diese... diese Hexen! Verräterinnen. Machten einen auf beste Freundinnen und lästerten hinter ihrem Rücken über sie. Sie waren genauso schlimm wie dieser Bastard Mike. Nein, noch schlimmer. Liebe war flüchtig. Aber auf seine besten Freundinnen musste man sich ja wohl verlassen
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können. Diese doppelzüngigen Nattern hatten eine schreckliche Strafe verdient. Sie sollten büßen, und zwar nicht zu knapp! Dawn schlich zu Missys Sonnenbank. Der Schalter, an dem man die Intensität der Ultraviolett-Bestrahlung regeln konnte, war auf Stufe drei gestellt. Die Einstellungsmöglichkeiten gingen bis Stufe zehn. Direkt daneben befand sich die Zeitschaltung. Eine Messingplakette war darüber befestigt, auf der stand: »Achtung! Stellen Sie die Intensität nicht länger als fünf Minuten auf eine Stufe über ›fünf‹. Lebensbedrohliche Verbrennungen können die Folge sein. Pretty Nails haftet nicht für falschen Gebrauch der Sonnenbänke.« Dawn drehte den Schalter auf Stufe zehn. Dann setzte sie den Zeitschalter von fünfzehn auf sechzig Minuten. Schließlich zog sie einen Schnürsenkel aus Missys Turnschuh, schlang ihn um die Griffe der Sonnenbank und verknotete ihn fest. Missy konnte es unmöglich gelingen, die Sonnenbank ohne fremde Hilfe zu öffnen. Danach manipulierte sie Julies Sonnenbank genauso. »Bye-bye, Mädels«, summte sie schadenfroh. »Bleibt nicht zu lange unter der Bank!« »Hast du was gesagt, Julie?«, rief Missy. »Nein«, schrie Julie zurück. Dawn gelang es nur mit Mühe, ein höhnisches Lachen zu unterdrücken. Bevor sie die Kabine verließ, drehte sie den Lautstärkeregler der Anlage in der Kabine so weit auf, wie es ging. Nur kein Risiko. Sie wollte absolut sicher gehen, dass niemand die Schmerzensschreie ihrer so genannten Freundinnen hörte, während sie bei lebendigem Leib gebraten wurden.
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Neuntes Kapitel ALS CLARK BEI LEX LUTHOR KLINGELTE, öffnete ihm eine hübsche junge Frau in Jeans und einem T-Shirt, auf dem The Beatles stand. »Hallo«, sagte sie locker. »Oh, ich meine, Guten Abend«, korrigierte sie nach einer kurzen Pause. »Hallo, ich bin Clark Kent...« »Ja, richtig, er erwartet dich.« Sie bat Clark herein und führte ihn durch die Eingangshalle. »Mr. Luthor ist unten in der Waffenkammer. Hier entlang, bitte.« Sie gingen zusammen durch die Halle. Obwohl Clark meistens in Lex’ Bibliothek empfangen wurde, wenn er zu Besuch war, war er auch schon ein paar Mal in der Waffenkammer gewesen. Es handelte sich dabei um eine gewölbte Halle, in der zahllose Kriegsgeräte aus vielen Jahrhunderten ausgestellt waren. Einige von ihnen waren ein Vermögen wert. Es gab Schwerter, Armbrüste, Musketen, antike Pistolen, Hellebarden und sogar einige Rüstungen zu sehen. Lionel Luthor sammelte alle diese Waffen und benutzte die Waffenkammer als Lagerraum. »Ich habe deinen Namen nicht verstanden«, sagte Clark. »Ich habe ihn gar nicht genannt«, erwiderte das Mädchen. »Ich heiße Tatiana. Ich habe ein Blumengeschäft. Mr. Luthor hat mich engagiert, damit ich seine Pflanzen pflege. Der Butler hat heute frei und das Zimmermädchen ist im Badezimmer, deshalb hat sie mich gebeten, die Tür zu öffnen, falls du kommst, bevor sie fertig ist. Dieses formelle Benehmen bin ich nicht gewöhnt.« »Ich bin mir sicher, Lex macht das nichts aus.« »Jedenfalls ist er für mich Mr. Luthor, nicht ›Lex‹.«
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Tatiana und Clark stiegen die Treppe hinunter und betraten die Waffenkammer. Lex wartete dort schon auf Clark. »Willkommen in der Höhle des guerre.« »Das heißt Krieg auf Französisch«, übersetzte Tatiana. »Wie ich sehe, hast du das Glück gehabt, eine hübsche Begleitung zu bekommen«, bemerkte Lex. »Das Zimmermädchen ist wohl wieder indisponiert?« Tatiana nickte. »Nun, und auf mich warten die Orchideen. Wenn es also sonst nichts mehr für mich zu tun gibt...« »Doch, es gibt etwas.« Lex polierte den Griff seines Schwertes. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Ihre Ehrlichkeit eine Ihrer Charaktereigenschaften ist, für die ich Sie am meisten schätze?« »Sie meinen wohl, dass ich sehr direkt bin«, korrigierte sie. »Das sagen zumindest die Leute.« »Genau.« Lex lächelte charmant. »Also, sagen Sie mir ganz direkt, Tatiana: Wenn jemand, der mich noch nie gesehen hat, Sie bitten würde, mein Äußeres in einem Wort zu beschreiben, was würden Sie sagen?« Sie zögerte. »Das geht aber eigentlich über mein Arbeitsfeld hinaus.« »Tun Sie mir den Gefallen«, bat Lex. »Sie wissen, dass ich exzentrisch bin.« Tatiana zuckte mit den Achseln. »Glatzköpfig. Tut mir Leid, aber Sie haben gefragt.« »Ja, das habe ich. Danke, Sie können jetzt gehen.« Sie schüttelte den Kopf über Lex’ sonderbare Anwandlungen und verließ die Waffenkammer. »Findest du nicht, dass Ehrlichkeit erfrischend ist, Clark?« »Erfrischend wie ›Ich bin schrecklich als Cyrano‹? Willst du mich so auf die Wahrheit vorbereiten?«, mutmaßte Clark. »Ja«, stimmte Lex zu. »Und nein.« Er ging zu einer Wand hinüber, an der einige Schwerter in verschiedenen Größen hingen. »Welche Waffe wählst du, Clark? Säbel oder Degen?« 74
Mit großer Sorgfalt griff er nach einem Schwert mit einem verzierten und gravierten Griff und reichte es Clark. »Hier. Eine Klinge, die eines Cyrano würdig ist.« Clark ergriff das Schwert und ließ es ein paar Mal durch die Luft sausen. Die leichte Klinge bog sich mit einem sirrenden Geräusch hin und her. »Die Bühnenschwerter haben keine echten Klingen«, bemerkte er. »Was von Vorteil ist, da ich noch nie in meinem Leben gefochten habe.« »Sogar als der Degen einen Stopfen auf der Spitze hatte, habe ich mich kaum getraut, ihn zu bewegen, aus Angst, jemanden zu verletzen. Mr. Gullet hat zwar versucht, mir ein paar Bewegungsabläufe zu zeigen, aber ich sah mit dem Ding in der Hand wie ein Idiot aus«, erinnerte sich Clark schaudernd. »Wie ist es denn gelaufen, nachdem ich gegangen bin?«, wollte Lex wissen. »Kannst du dir vorstellen, dass ich noch schlechter war als vorher?« Lex zog eine Grimasse. »So schlimm, hm? Stell dich mal in Duell-Position.« Clark kam sich albern vor, aber er versuchte es. »Da müssen wir dran arbeiten«, kommentierte Lex seinen Versuch. »Videoaufzeichnungen können sehr hilfreich sein, weißt du. Dann kannst du deine Fehler selbst sehen und korrigieren.« »Ich kann sie mir ganz gut vorstellen, danke!« »Ich gebe dir eine meiner Videokameras mit. Dann kannst du zu Hause damit üben.« »Ist es nicht schon ein bisschen zu spät dafür?«, fragte Clark düster. »Nachdem du mir gute Ratschläge erteilt hast – welche auch immer –, treffe ich mich mit Lana, um meine Dialoge zu üben. Morgen Nachmittag ist dann noch eine zusätzliche Kostümprobe – extra angesetzt für den Typ, der das ganze Stück ruinieren wird: für mich. Und dann... nun, dann kommt das 75
dicke Ende. Mein Name wird in die Annalen der Smallviller Theatergeschichte eingehen unter der Rubrik: extrem untalentiert!« »Es gibt für alles ein erstes Mal, Clark. Wir üben jetzt zuerst das Fechten. Lass dich von der Leichtigkeit der Klinge nicht täuschen. Sie kann tödlich sein. Du musst dich immer unter Kontrolle haben. Das ist das Wichtigste. Du beginnst so...« Lex stellte das linke Bein vor und erhob die rechte Hand mit dem Degen schräg hinter seinem Körper. »Dann kommt der Angriff...« Lex ließ den Degen in Clarks Richtung vorschnellen. »Ein Ausfall, der Kraft bekommt, indem du dich mit dem hinteren Fuß abdrückst und so deinem Gegner entgegenwirfst – leichter erklärt als getan.« Lex schoss auf Clark zu, der schnell einen Schritt zurücktrat. »Das Gefecht – das ist die Grundlage des Duells, immer hin und her. Und natürlich der Treffer: Du musst deinen Gegner an einer der Treffflächen berühren.« Lex stoppte mit seiner Degenspitze unmittelbar vor Clarks Brust. »Dabei sagst du touché.« »Ich muss doch nur einen Bühnenkampf hinbekommen, Lex. Du weißt schon, nur gespielt.« Lex beachtete seinen Einwurf nicht. »Ein Duell ist eigentlich eine verfeinerte Form von psychologischer Kriegsführung. Und von Physik. Auf jede Aktion folgt eine entsprechende Reaktion.« Wieder schoss er mit seinem Degen auf Clark zu. Clark ging instinktiv ein paar Schritte zurück. Lex grinste. »Siehst du?« Clark war fassungslos. »Du hast mich gebeten vorbeizukommen, um mir das Fechten beizubringen? Was hat das mit dem Stück zu tun?« »Du spielst Cyrano de Bergerac, den größten Fechter, der jemals gelebt hat.«
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»Welchen Unterschied macht es schon, wie ich mein Bühnenschwert in der Hand halte, wenn ich den Rest nicht hinbekomme?« »Es geht nicht um dich, Clark«, sagte Lex. »Es geht um einen Typen mit dem Namen Cyrano.« Clark hielt Lex den Degen entgegen. »Damit du es gleich weißt: Es ist nett von dir, dass du mir helfen willst, aber ich glaube nicht, dass mein Problem darin liegt, dass ich nicht fechten kann.« Lex bedeutete Clark, dass er seinen Degen in der Hand behalten sollte, steckte seinen eigenen hingegen zurück in die Scheide. »Clark, wenn du Cyrano jemandem beschreiben müsstest, der ihn nicht kennt, wie würdest du ihn – kurz und treffend – beschreiben?« Clark seufzte. Es war offensichtlich, dass Lex nicht lockerlassen würde. »Große Nase. Was soll das Ganze, Lex?« Lex lächelte. »Ich habe dir schon mal von meinem ersten Ausflug nach Smallville erzählt, nicht wahr? Ich erinnere mich so deutlich daran, als wäre es erst gestern gewesen.« Er ging zu einem Fenster hinüber und blickte hinaus, als könnte er in die Vergangenheit sehen. »Mein Vater und ich kamen in einem Privathubschrauber an. Ich hatte solche Angst. Er hat mich für meine Schwäche gehasst. Wie er so ziemlich alles an mir hasste. Meine Ängste. Mein Asthma. Mein knallrotes Haar.« Clarks Magen drehte sich um. Er kannte diese Geschichte nur zu gut! Jeden Tag lastete seine Schuld schwer auf ihm. Warum musste ihn Lex daran erinnern? »Mein Vater hatte irgendwelche Verträge zu unterzeichnen. Als wir endlich dem Hubschrauber entkommen waren, sah ich mich ein bisschen um«, fuhr Lex fort, immer noch aus dem Fenster starrend. »Es war ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Ich lief durch ein Maisfeld. Die Stauden waren so dick, dass sie wie Baumstämme aussahen. Ich erinnere mich
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ganz deutlich daran, dass ich glücklich war, weil ich der Nähe meines Vaters entkommen war.« Er drehte sich wieder zu Clark um. »Und dann, Clark, erlebte ich das Einzige in meinem Leben, was noch entsetzlicher als mein Vater war. Dieser Meteorit, der hinter mir auf die Erde aufschlug... in einem Feuerball explodierte und eine riesige Druckwelle auslöste. Als es vorbei war, lag ich in diesem Kornfeld. Ich konnte nicht sprechen, mich nicht bewegen. Und ich war vollkommen kahl geworden. Für immer. Ich war gerade mal neun Jahre alt.« Clark nickte kaum merklich. Er wich Lex’ Blick aus. Wenn ich ihm doch nur die Wahrheit sagen könnte, dachte er. Dass ich zusammen mit diesem Meteoritenhagel auf die Erde gekommen bin. Ich wünschte, ich könnte ihm einfach sagen: ›Es ist meine Schuld, was dir an diesem schrecklichen Tag passiert ist, Lex. Was jedem damals passiert ist. Ich bin dafür verantwortlich!‹ »Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass diese Kahlköpfigkeit zu meinem Markenzeichen wurde und mein ganzes Leben fortan beherrschte«, fuhr Lex fort. »Ungefähr so, als hätte man die größte Nase der Welt. Deshalb habe ich mich immer mit Cyrano verglichen. Er ist intelligent, witzig und talentiert und doch wird er immer nur aufgrund seines Äußeren beurteilt. Das macht ihn unsicher. Ich frage mich, Clark, was ist deine Besonderheit, deine Schwäche?« Clark versuchte natürlich zu klingen: »Ich bin eigentlich ganz normal.« »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Lex kam langsam auf Clark zu. »Du bist genauso außergewöhnlich wie Cyrano und ich, nur eben auf eine Art, die man nicht sehen kann.« Clark lachte nervös. »Ich weiß nicht, was du meinst!« Lex stand jetzt ganz dicht vor ihm. »Ich werde deine Geheimnisse schon herausbekommen, Clark. Es ist nur eine Frage der Zeit. Aber zurück zu mir.« Er grinste und fasste sich 78
an die Glatze. »Ich habe schon früh gelernt, bessere Witze darüber zu machen als alle anderen, genauso, wie Cyrano es mit seiner großen Nase tut. Am Anfang des Stückes beleidigt der Vicomte Cyrano wegen seiner Nase und Cyrano fordert ihn daraufhin zum Duell. Während sie kämpfen, erfindet Cyrano viele clevere und witzige Bemerkungen über seine Nase, die dem Vicomte hätten einfallen können, wenn er geistreich und kreativ gewesen wäre. Das ist ziemlich entwaffnend. Cyrano gewinnt das Duell nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch. Genau wie du morgen Abend.« »Schöne Interpretation, Lex, aber davon werde ich kein guter Schauspieler.« Lex zog seinen Degen aus der Scheide und nahm wieder Fechtposition ein. »Deinen Degen, Clark!« »Lex, das ist wirklich...« »En garde!«, verkündete Lex und überprüfte seine Haltung. Dann stürzte er sich auf Clark, der instinktiv seinen Degen hob, um sich zu schützen. Mit einem metallischen Klang kreuzten sich die Klingen. »Lex, komm schon, lass...« »Weiter nichts? Das war etwas mager. Fällt Ihnen nichts mehr ein?«, improvisierte Lex, während er einen neuen Angriff unternahm. Clark parierte instinktiv. Lex gab nicht nach, und so blieb Clark keine andere Wahl, als weiterzumachen. »Mir vielerlei, und auch die Tonart ließ sich variieren! Ausfallend: ›Trüg ich diese Glatzenmasse, ich ließe sie sofort mir fest bedecken‹!«, fuhr Lex fort, während er Clark wieder und wieder angriff. »Spöttisch: ›Eine gute Rennbahn für die Schnecken!‹ Beschreibend: ›Ihr Kopf sieht ja gleich aus, von vorne wie von hinten‹!« Lex focht immer aggressiver und die Stahlklingen trafen immer heftiger aufeinander. Clark parierte Lex’ Attacken und versuchte, Lex mit eigenen Ausfällen zurückzutreiben. 79
Und es gelang ihm: Lex wich zurück. Heftig kämpfend durchquerten sie die Waffenkammer. »Hilfreich: ›Spannen Sie ein Schutzdach drüber; weil sonst im Sonnenschein sie braten muss.‹«, begann Lex wieder. Die Klingen gaben seinen Worten den Takt an. »Oder: ›Ziehen Sie einen Hut darüber, weil sie sonst nass wird von des Regen Fluss.‹« »Sehr clever«, brachte Clark keuchend hervor. »Ich bin noch lange nicht fertig«, sagte Lex und parierte einen von Clarks Angriffen. Er holte mit dem Degen aus. »Habe ich schon erwähnt, dass es beim Fechten eine Berührung gibt, die bedeutet, dass man tot ist? Oder willst du lieber echtes Blut sehen?« »Die Berührung reicht mir«, antwortete Clark. Lex nickte kurz, dann verstärkte er seinen Angriff. »Dergleichen hätten Sie zu mir gesagt, wenn Sie Gelehrsamkeit und Geist besäßen; jedoch von Geist, dem Himmel sei’s geklagt, ist keine Spur in Ihren Schädelwänden; Ihr Kopf ist nicht gelehrt und doch so leer!« Blitzartig stieß Lex seine Klinge unter Clarks Kinn. Dort verharrte sie für einen kurzen Moment. Aber bevor Lex begreifen konnte, wie ihm geschah, hatte sich Clark so schnell herumgeworfen, wie er konnte, und das Nächste, was Lex fühlte, war, wie Clarks Degenspitze auf seine Halsschlagader gerichtet wurde. »Gut, Lex«, sagte Clark. »Wirklich! Touché!« »Danke.« Lex blinzelte auf die Spitze von Clarks Degen hinab. »Du bist ein Naturtalent im Fechten. Ich bin froh, dass wir uns nicht dafür entschieden haben, bis aufs Blut zu kämpfen.« Clark zog seine Degenspitze vom Hals seines Freundes weg und Lex richtete sich auf. »Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was du mir mit dieser Aktion sagen willst.«
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Lex nahm zwei der Handtücher mit eingesticktem Monogramm, die griffbereit über einer Ritterrüstung lagen, und warf Clark eines davon zu. »Nun, zum einen hast du hiermit bewiesen, dass du sehr wohl fähig bist, überzeugend zu kämpfen.« »Das Einzige, wovon du mich überzeugt hast, ist, dass du deinen Beruf noch einmal überdenken solltest. Vielleicht solltest du diese Sache mit dem Unternehmen lassen und Bühnenautor werden!« Lex lachte, fuhr sich mit dem Handtuch über den Nacken und schlang es sich dann um den Hals. Er zog zwei blaue Mineralwasserflaschen aus einem kleinen Kühlschrank, der hinter den Holzvertäfelungen in die Wand eingelassen war. »Ich habe diese Kühlschränke überall installieren lassen. Eine meiner kleinen Eigenheiten.« Er reichte Clark eine Flasche. »Pass auf, Clark, es ist so. Du kennst Cyranos Schwäche. Ich habe dir meine gezeigt. Deine mag versteckt sein. Aber sie ist da. Versuch dir vorzustellen, dass sie für die ganze Welt sichtbar ist, auch für das Mädchen, das du liebst. Stell dir vor, auch sie könnte deine Schwäche sehen... was auch immer es ist.« Bilder stiegen vor Clarks geistigem Auge auf. Regierungsbeamte zerrten ihn mit einer an seine Schläfe gehaltenen Pistole von seinen Eltern fort. Eine Daily Planet-Schlagzeile: Smallville-Alien bestätigt: Es gibt Leben im All! Er hinter Gittern, eingesperrt und angestarrt wie ein Tier im Zoo... Clark schauderte. »Ah, ich sehe schon, ich habe deinen Nerv getroffen.« Lex beobachtete ihn. Dann hängte er sein Schwert wieder an die Wand. »Wenn du nur eine Sache lernst in deinem Leben, dann lass es diese sein: Beim Schauspielern geht es darum, seine Seele hinter der Schutzwand einer anderen Person zu verstecken. Und das, mein Freund, ist das Ende meiner Lektion für heute.«
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»Nun, sie war sehr interessant, so viel kann ich immerhin sagen«, sagte Clark. Er hielt Lex seinen Degen hin. »Behalte ihn«, bat Lex. »Als Glücksbringer. Die Legenden besagen, dass manche Schwerter magische Kräfte haben. Eigentlich glaube ich ja nicht an Magie. Oder an Glück. Aber auf die Gefahr hin, dass ich zu sentimental werde, Clark Kent...« Er blickte Clark fest in die Augen. »Ich glaube an dich.«
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Zehntes Kapitel ETWA EINE STUNDE SPÄTER baute Clark Lex’ Videokamera im Heuschober auf. Das Zimmer, das er sich dort eingerichtet hatte, wurde von den Kents das »Loft« genannt. Ich glaube kaum, dass es etwas nützen wird. Aber in meiner Lage muss ich wohl alles versuchen, dachte er beklommen. Nachdem er von seinem Treffen mit Lex nach Hause gekommen war, hatte er etwas von der übrig gebliebenen Pizza gegessen, während seine Eltern ihn nach der Theaterprobe gefragt hatten. Er hatte es nicht über das Herz gebracht, ihnen zu erzählen, wie schlecht er wirklich gewesen war, aber Martha und Jonathan hatten gespürt, dass die Probe nicht wirklich gut gelaufen war. Sie hatten ihm versichert, dass es nicht so wichtig war, ein perfekter Schauspieler zu sein. Das Wichtigste war, dass er sein Versprechen hielt. Das war etwas, worauf sie stolz sein konnten. Meine Eltern freuen sich so darauf, zur Premiere zu kommen und mich spielen zu sehen. Aber was sie auch sagen, es wird für sie eine Riesenenttäuschung sein, wenn sie sehen, wie schlecht ich wirklich bin, dachte er bei sich. Nun, die Videokamera war installiert und bereit. Und auch Clark war so bereit, wie er es nur sein konnte. Er sah auf die Uhr. Lana hätte längst da sein müssen. Aber wer konnte es ihr übel nehmen? Er nahm einen tiefen Schluck Wasser aus der Flasche, die er mit hochgenommen hatte. Warum war er bloß so durstig? Draußen hörte er ein Pferd wiehern, gefolgt von Lanas Stimme, die besänftigend auf das Tier einredete. Trotz seiner Sorgen musste er lächeln. Seine Mutter nannte dies sein Doofie-Lächeln; ein Lächeln, das nur dann auf seinem Gesicht erschien, wenn Lana in der Nähe war. Nun, er konnte den Spott seiner Mutter verkraften. Er hatte genau dasselbe Doofie83
Lächeln manchmal auf dem Gesicht seines Vaters gesehen, wenn er seine Frau betrachtete. Schritte auf der Holzleiter, die nach oben in sein Loft führten, kündigten Lanas Ankunft an. »Ich dachte schon, du hättest mich versetzt«, sagte er, als sie in der Öffnung auftauchte. »Aber nein. Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Eine von Nells Freundinnen hat uns heute Abend ihr Pferd in Pflege gegeben, weil sie auf eine Geschäftsreise nach Metropolis geht. Ich bin mit dem Pferd hergeritten, was mit einigen Problemen verbunden war.« »Ach, halb so wild«, versicherte Clark ihr. »Sie heißt Yvonnette. Klingt ja niedlich, aber bei ihrem Temperament wird sie wahrscheinlich nicht den Titel der beliebtesten Stute im Stall gewinnen.« Lana bemerkte die Videokamera. »Was ist denn das? Spielst du ›Versteckte Kamera‹, Clark?« »Oh, Lex hat mir die Kamera geliehen. Damit soll ich unsere Probe aufnehmen. Er glaubt, dass mir das hilft. Ich bin ihm ja dankbar dafür, aber weiterhelfen wird mir das nicht.« »Lex gibt dir Ratschläge für deine Rolle?« »Ich war heute Nachmittag in der Villa der Luthors«, erklärte Clark, »und habe die Duell-Szene mit ihm geübt.« »Ich verstehe.« Lana trat hinter die Kamera und betrachtete Clark durch den Sucher. »Ich fühle mich irgendwie schuldig, Clark. Schließlich ist es meine Schuld, dass du jetzt diesen Ärger hast.« Clark schlenderte hinüber zu seinem Teleskop, das am Fenster stand. Er hatte damit schon vorher die Sterne beobachtet. Es gab so viele von ihnen in dieser Galaxie. Manchmal kam es ihm fast so vor, als würden sie nach ihm rufen. Er wünschte, er und Lana könnten einfach mit einem riesigen Satz hinauf in den Himmel springen und fliegen und fliegen und fliegen bis... 84
»Du kannst nicht vor deinen Ängsten davonlaufen, Clark«, sagte Lana weich. »Wohin du auch immer gehst, sie werden dir dorthin folgen.« Bizarr. Als könnte Lana seine Gedanken lesen. Er drehte sich zu ihr um. Ihr Gesicht war immer noch halb von der Videokamera verborgen. »Du bist so klug«, sagte er leise. Sie hob die laufende Kamera von ihrem Stativ. »Das hat meine Tante einmal zu mir gesagt. Ich glaube allerdings, dass das eine dieser kleinen Weisheiten ist, die leichter gesagt als getan sind. Du bist übrigens sehr fotogen, Clark.« Er wand sich unbehaglich unter dem Auge der Kamera. »Kannst du sie nicht abschalten, bis wir mit dem Proben anfangen?« »Warum?« »Ich komme mir wie ein Käfer unter einem Mikroskop vor, deshalb.« »Entschuldige.« Lana ließ die Kamera sinken. Sie sah nachdenklich aus. »Mir kam nur gerade der Gedanke... dass ich mich oft so fühle, als würden mich alle Leute anstarren. Du weißt schon: Sie sehen mich immer als das arme Mädchen, deren Eltern in dem Meteoritenschauer umkamen. Aber jetzt gerade, als ich dich betrachtet habe, mit der Kamera... es war schön, einmal selbst zu beobachten und nicht immer nur beobachtet zu werden.« Clark verstand sie vollkommen. Konnte es ihr aber nicht sagen. Ich muss mein Inneres ja auch immer vor den anderen verstecken. Der Gedanke, dass niemand jemals die Wahrheit über mich erfahren darf, ist allgegenwärtig. Was für ein einsames Leben, dachte er traurig. »Clark? Alles in Ordnung?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Klar.« »Welche Szene willst du proben?«
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Clark dachte für einen Moment nach, während er sich in der Scheune umsah. »Der Heuschober hier oben ist fast wie ein Balkon. Wenn ich nach unten in die Scheune gehe und du hier oben bleibst, können wir die Balkon-Szene üben.« »Prima.« »Gut.« Er nahm ihr die Kamera ab, befestigte sie wieder auf dem Stativ und richtete sie so aus, dass sie ihn aufnehmen würde, wenn er unten stand. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Die Balkon-Szene war die romantischste Stelle im ganzen Stück! Wie war er bloß auf den Gedanken gekommen, dass es leichter sein würde, eine Liebesszene mit Lana zu spielen als mit Dawn? Allein die Tatsache, dass ich nichts für Dawn empfinde, nimmt mir viel Druck. Aber all diese Dinge zu Lana zu sagen... Er beendete diesen Gedankengang lieber nicht. Als er sich von der Kamera abwandte, stieß er mit einer Hand die Wasserflasche um. Sie fiel zu Boden, woraufhin sich das Wasser auf dem ganzen Boden verteilte. »Mist«, sagte Clark und wurde rot. »Hab ich dich getroffen?«, fügte er hinzu, als er sah, dass ein Ärmel ihrer Jeansjacke nass geworden war. »Nicht so schlimm«, beruhigte sie ihn. »Ich bin nicht aus Zucker.« »Okay. Dann gehe ich jetzt mal runter. Hast du ein Script mitgebracht oder soll ich dir meins geben?« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ehrlich gesagt... kann ich die Szene auswendig.« »Du kannst die Szene auswendig?«, wiederholte er überrascht. Lana war verlegen. »Ja. Nachdem ich bei all den Proben dabei war, habe ich sie einfach plötzlich auswendig gekonnt, ohne es wirklich zu wollen.« Sie standen sehr nahe nebeneinander. Wieder einmal war er überwältigt von ihrer Ausstrahlung. Für ihn war sie das 86
schönste Mädchen der Welt. Würde er ihr jemals sagen können, wie er sich fühlte, wenn er ihr nahe war? »Beim Schauspielern geht es darum, die eigene Seele hinter der Schutzwand einer anderen Person zu verstecken, Clark.« In diesem Moment verstand er plötzlich mit jeder Faser seines Selbst, mit allem, was er von sich wusste, und mit allem, was er nicht von sich wusste, was Lex damit gemeint hatte. Cyranos Worte kamen ihm in den Sinn. »Ist’s nicht wie ein Traum? Wir sind uns nah und ahnen uns doch kaum«, murmelte er. Ihre Blicke begegneten sich. Es war nichts und doch alles zwischen ihnen. Clark konnte einen LKW mit einer Hand hochheben. Er konnte durch das Feuer gehen, ohne dass die Flammen ihm irgendetwas anhaben konnten. Aber jetzt spürte er plötzlich eine Kraft in sich, die alle anderen, die er bisher gekannt hatte, übertraf. Endlich sprach Lana Roxanes Worte: »Nicht sehn?« Clark drehte sich um, nahm zwei Sprossen auf einmal, während er die Leiter hinunterstieg und stellte sich dann in den Schatten. Er sah zu Lana hinauf. Das Mondlicht schimmerte in ihrem Haar. Er rief ihr zu: »Nein, was mein Innerstes erbangt und hofft, verschweig ich noch.« »Warum?« »Weil ich... bis heute gebannt war...« »Wie?« »Von Ihrer Augen Strahl! Doch vom Zauber dieser Nacht berauscht, sprech ich mit Ihnen heut zum ersten Mal«, sagte Clark. Er fühlte die Wahrheit dieser Worte tief in seinem Inneren. Er war Cyrano und zugleich Clark. »Ich liebe dich, bin toll, verrückt, von Sinnen... Dies Gefühl, das mich hinreißt in Eifersucht und Leidenschaft, ist wahrlich Liebe, hat die Qual und Kraft der Liebe...«
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Plötzlich erklang vor der Scheune lautes Gewieher. Es war Yvonnette, die mit ihren Hufen stampfte und Clark so in die Gegenwart zurückbrachte. Oh, Gott, ich habe Lana gerade gestanden, dass ich sie liebe. Aber es waren ja Cyranos Worte. Sie hat nichts gemerkt. Hoffe ich jedenfalls, dachte er. Draußen wieherte das Pferd erneut. Clark räusperte sich. »Soll ich nach dem Pferd sehen, Lana?« »Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht«, rief Lana herunter. »Sie ist nur ganz schön schreckhaft. Tut mir Leid, dass dich ihr Lärm ablenkt.« »Ist schon in Ordnung.« Clark kratzte sich an der Wange. »Ich hatte den Eindruck, dass das... schon besser war.« »Besser?«, wiederholte Lana. Lachend kletterte sie die Stufen hinunter und umarmte Clark. »Du warst phantastisch!« Clark konnte es kaum glauben. »Ich... wirklich?« »Wirklich!« »Es war ganz komisch. Plötzlich habe ich alles, was Lex mir vermitteln wollte, verstanden.« »Also, es war unglaublich«, sagte Lana begeistert. »Als ob du jedes Wort, das du gesagt hast, ernst gemeint hast. Es wirkte so echt.« Genauso ist es ja auch. Mit einer schauspielerischen Glanzleistung hatte das gerade weniger zu tun, dachte er. Fast hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen. Aber er hatte nicht einmal das Recht, so etwas auch nur zu denken. Lana liebte einen anderen Mann. Genau wie Roxane eben Christian und nicht Cyrano liebte. Er durfte ihr seine Liebe nicht gestehen. Musste versuchen, nur über das Stück zu sprechen. Betont munter schlug Clark sich auf den Schenkel: »Wenigstens bin ich scheinbar kein ganz hoffnungsloser Fall!« Mühelos hob er sie hoch in die Luft. Sie mussten beide lachen, als er sie wieder auf dem Boden absetzte. Seine Arme 88
lagen immer noch um ihre Taille. Noch nie in seinem Leben hatte er sich etwas mehr gewünscht, als sie jetzt küssen zu können. Sein Gesicht näherte sich ihrem Gesicht. Sie hob ihr Kinn und öffnete die Lippen. Draußen wieherte Yvonnette wieder laut. Sie fuhren auseinander, plötzlich verlegen. »Irgendwas stimmt nicht mit diesem Pferd«, sagte Lana stirnrunzelnd. Sie gingen nach draußen und fanden das Pferd genau da vor, wo Lana es gelassen hatte. Es war locker an den altmodischen Pflock gebunden, der vor der Scheune stand. Bei Lanas Anblick beruhigte sich Yvonnette sofort. »Was ist los, Mädchen?«, fragte Lana und strich beruhigend über den dunklen, seidigen Hals des Pferdes. Clark sah sich um. »Ich frage mich, was sie so nervös gemacht hat.« »Vielleicht ist sie auf irgendetwas getreten«, überlegte Lana, während sie fortfuhr, Yvonnette zu streicheln. »Du hast wirklich nicht die beste Veranlagung, Yvonnette. Oder fühlst du dich nur einsam?« Sie blickte auf die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr. »Wow, ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät ist. Ich muss nach Hause.« »Ja, klar. Lana, Moment mal! Vielen Dank für alles.« Clark musste grinsen. »Also, dass klingt etwas lahm, aber ich meine es wirklich ernst...« »Gern geschehen«, unterbrach ihn Lana. »Aber ich habe immer gewusst, dass du es kannst.« Clark fühlte sich erleichtert und voller Hoffnung. »Ich fange tatsächlich an, an mich selbst zu glauben. Ich glaube, ich gehe wieder rein und übe noch etwas.« »Vergiss nicht zu schlafen, Clark«, neckte ihn Lana. »Schließlich bist du auch nur ein Mensch!« Clark unterdrückte ein Lächeln. »Ich werde es beherzigen. Gute Nacht!« 89
Elftes Kapitel LANA SAH CLARK HINTERHER, als er zur Scheune zurückging. Er war und blieb ihr ein Rätsel. Sie kannte ihn fast ihr ganzes Leben lang und doch gab es Momente, in denen er ihr völlig fremd war. Zum Beispiel, wenn er wie nebenbei Whitneys Leben rettete und danach keine Anerkennung dafür haben wollte. Nun, nach dem Stück morgen Abend, wenn Clark auf die Bühne hinaustrat, um sich zu verbeugen und ihm alle applaudierten, würde er sich nicht mehr vor der Anerkennung verstecken können, die er verdiente. Sie konnte es kaum fassen, wie viel besser er seit der Probe am Nachmittag geworden war, durch die er wie benebelt gestolpert war. Aber mit ihr war er... überwältigend gewesen. Lana ging die ganze Zeit ein Gedanke nicht aus dem Kopf: War er so viel besser gewesen, weil sie und nicht Dawn die Roxane gespielt hatte? Hatte Clark nicht nur seine Rolle gespielt, sondern hatte er seine Worte ernst gemeint? Oder war das nur ein Wunschgedanke, weil sie selbst es ernst gemeint hatte? Sie hatte das Gefühl, dass Clark sie mit anderen Augen sah als alle anderen Menschen. Und die Lana Lang, die sich in seinen wundervollen Augen spiegelte, war die Lana Lang, die sie sein wollte. Das Pferd schnüffelte an ihrem Hals. »Ich weiß, Yvonnette. Ich habe einen Freund, der mich liebt und den ich liebe. Und sein Name ist nicht Clark Kent. Genug geträumt. Zeit, nach Hause zu gehen.« Als Lana die Zügel von dem Pfosten löste, wieherte Yvonnette wieder und begann unruhig zu tänzeln. »Hey, Mädchen. Alles ist in Ordnung. Wir reiten jetzt nach Hause«, sprach Lana beruhigend auf sie ein. Aber das Pferd wieherte wieder, warf den Kopf unruhig hin und her, als wäre etwas in 90
der Nähe, wovor es Angst hatte. Lana starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts Ungewöhnliches sehen. »Da ist niemand außer uns«, beruhigte sie das Tier. »Alles ist in Ordnung, Kleine.« Sie stellte ihren Fuß in den Steigbügel, zog sich hoch und schwang ihr Bein über den Rücken des Pferdes. Aber bevor ihr Fuß den anderen Steigbügel erreicht hatte, bäumte sich das Pferd auf und stellte sich auf seine Hinterbeine. »Whoa!«, rief Lana erschrocken und zog die Zügel an. »Ruhig, Mädchen!« Das Pferde schnaubte und stampfte unruhig auf dem Boden, aber Lana konnte es endlich ein wenig in den Griff bekommen. »Du bist ja launischer als Dawn Mills«, sagte sie zu Yvonnette, dann schnalzte sie mit der Zunge und gab dem Pferd einen leichten Schlag mit den Zügeln. Aber Yvonnette bewegte sich nicht von der Stelle. »Hey, so langsam reicht es mir«, erklärte Lana dem Pferd mittlerweile leicht gereizt. »Es gibt so eine Art Partnerschaft zwischen unseren beiden Gattungen, und die geht so: Ich gebe dir ein Signal und du...« Plötzlich schlug das Pferd wild aus und begann zu buckeln und sich aufzubäumen. Lana konnte sich nur mit größter Mühe im Sattel halten. Neben der Scheune stand Dawn. Ihr rechter Fuß pochte etwas schmerzhaft, aber nun ja, wenn man einem großen Pferd ein paar Mal ordentlich in die Flanken trat, tat einem der Fuß schon mal weh. Aber diesen Schmerz nahm sie gerne in Kauf. Zusehen zu können, wie Lana hilflos mit dem Pferd kämpfte, erfüllte sie mit bitterer Genugtuung. Jetzt musste sie nur noch dafür sorgen, dass Clark Lana nicht zur Hilfe eilen konnte. Denn das würde er ohne Zweifel versuchen, wenn er mitbekam, was draußen los war. Rasch schloss sie die Scheunentüren und verriegelte sie mit einem riesigen Holzstück, das sie im Heuhaufen gefunden hatte. Sie schob es 91
quer durch die Türgriffe. Völlig unmöglich, dass Clark die Türen von innen aufbekam. Und es würde eine Weile dauern, bis er einen anderen Ausgang gefunden hatte. Bis dahin würde das Pferd Lana schon längst abgeworfen und sie zu einem blutigen Fleischklumpen zertrampelt haben. »Hilfe!«, schrie Lana, die immer noch verzweifelt versuchte, sich auf Yvonnettes Rücken zu halten. »Clark, hilf mir!« In diesem Augenblick hörte Clark ihre Schreie. Er rannte zum Fenster des Heuschobers und sah das wild gewordene Pferd, das versuchte, Lana abzuschütteln. So schnell er konnte, kletterte er die Leiter hinunter, raste durch die Scheune und versuchte die Tür aufzustoßen. Doch sie bewegte sich kaum. Er rüttelte fester. Nichts tat sich. »Das kann nicht sein! Es befindet sich doch gar kein Schloss an der Scheunentür!«, dachte er verwirrt. Aber egal. Er hatte jetzt keine Zeit zum Nachdenken. Er trat einen Schritt zurück und rammte dann seine rechte Schulter gegen die Doppeltür. Sie zersplitterte krachend. Auf der Außenseite stürzte Dawn zu Boden. Sie konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken, als einige rasiermesserscharfe riesige Holzsplitter ihren Kopf nur knapp verfehlten. »Ich kann sie nicht halten, Clark, hilf mir!«, schrie Lana. Als Yvonnette sich erneut aufbäumte, flog Lana in hohem Bogen vom Pferd. Clark machte einen riesigen Satz nach vorne, um sich schützend zwischen Yvonnettes gefährliche Hufe und Lanas Rücken zu werfen. Ein Huf traf seinen Nacken, aber er spürte ihn kaum. Er schlang seine Arme um Lana und brachte sie und sich in einen sicheren Abstand zu dem rasenden Pferd. Sie retteten sich unter einen Baum. Immer noch hielten sie sich eng umschlungen. Clark spürte, wie Lana in seinen Armen zitterte. Ihr Herz schlug heftig gegen seine Brust. Er strich ihre Haare beiseite und blickte ihr ins Gesicht. Es war mit Staub bedeckt. »Alles in Ordnung?«, fragte er sanft.
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Sie nickte, dann löste sie sich vorsichtig aus seiner Umarmung. Erschöpft lehnte sie sich gegen den Baumstamm. Auch Clark richtete sich auf. »Was war los, Lana?« »Ich weiß nicht. Yvonnette ist völlig ausgetickt. Es war, als würde jemand das Pferd angreifen. Aber ich habe niemanden gesehen. Gott, Clark, wenn du nicht gekommen wärst...« Ihre Stimme erstarb. Er verstand auch so, was sie sagen wollte. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie jetzt vielleicht tot. Sie fuhr sich durchs Haar. »Wie hast du das gemacht?« »Ich bin irgendwie – weißt du – unter dem Pferd durchgeschlüpft.« »Du bist durchgeschlüpft?« Sie sah ihn ungläubig an. Er nickte lahm. »Nun, wie auch immer. Alles, was ich sagen kann, ist: vielen Dank! Du hast Whitney einmal das Leben gerettet. Und jetzt hast du wahrscheinlich auch mein Leben gerettet.« Whitney. Immer wieder Whitney! Er konnte den Namen nicht mehr hören. »Bleib hier und ruhe dich etwas aus«, sagte er zu Lana. »Ich hole das Pferd.« Yvonnette war in die Maisfelder galoppiert, hatte dann aber kehrtgemacht und trottete jetzt wieder auf sie zu. Sie schien sich nun beruhigt zu haben. Clark näherte sich der Stute vorsichtig und sprach beruhigend auf sie ein. Sie ließ es zu, dass er ihre Zügel nahm und folgte ihm lammfromm zu dem Pfosten, wo er sie wieder anband. Clark strich dem Pferd über den schweißnassen Hals. Irgendetwas beunruhigte ihn. Pferde gehen nicht ohne Grund durch, dachte er bei sich. Er warf einen Blick auf den Trümmerhaufen, der einstmals die Scheunentür gewesen war.
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Und Scheunentüren schließen sich auch nicht von selbst. Vor allem, wenn sie nicht mal einen Riegel haben. »Du starrst die Scheune an, als ob du durch sie durchsehen könntest«, bemerkte Lana, die zu ihm herüberkam. »Ist alles in Ordnung mit dir?« »Mir geht es gut, Lana. Hast du irgendetwas Komisches bemerkt, als du vorhin zu Yvonnette gingst?« Sie schüttelte den Kopf. »Nur, dass Yvonnette sich seltsam benommen hat. Warum?« »Ich weiß nicht«, sagte Clark nachdenklich. »Aber vielleicht gibt es einen Grund dafür, warum sich das Pferd so erschreckt hat, Lana. Auch wenn wir nichts gesehen haben.« »Wie kann ich das verstehen?« Clark drehte sich zu ihr um. »Ich habe das Gefühl, dass das, was dir passiert ist, kein Unfall war!«
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Zwölftes Kapitel DAWN BERÜHRTE CLARKS WANGE leicht mit der Hand und sprach zärtlich Roxanes Worte: »Sie waren’s! Und ich erriet es nicht! Warum schwiegen Sie seit vielen Jahren? Sie liebten mich!« »Mein ganzes Herz ist auch im Tode dein«, antwortete Clark. »Und alle Glut, die liebend ich dir zolle, flammt noch in meiner Augen letztem Strahl.« Gott sei Dank! Das war’s. Ich habe die Generalprobe durchgestanden. Und ich war gar nicht mal so schlecht, dachte Clark erleichtert. Hinter der Bühne ließ ein Techniker langsam den Vorhang sinken, während sich Clark und Dawn immer noch in die Augen sahen. Mr. Gullet hatte ihnen gesagt, dass sie die Abschlusspose beibehalten sollten, bis der Vorhang sich ganz geschlossen hatte. Aber plötzlich schlang Dawn ihre Arme um Clark und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Clark konnte sich nicht bewegen, ohne aus seiner Rolle auszubrechen. Er war in der Situation gefangen. Sobald der Vorhang gefallen war, befreite sich Clark aus Dawns Umarmung. Warmherziger Applaus brandete im Theater auf. Die ganze Truppe jubelte, pfiff und rief wieder und wieder Clarks Namen. Während er sein Gesicht von der Cyrano-Gumminase befreite, kamen mehrere Jungs auf ihn zugelaufen und schlugen ihm auf die Schultern; einige der Mädchen umarmten ihn. »Ich schwöre bei Gott, Kent, ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass du das noch irgendwie hinkriegen würdest«, gab Mark Warsaw zu, als er herzlich Clarks Hand schüttelte. Sogar Whitney grummelte ein »Gute Arbeit, Kent.« »Hervorragend, Mr. Kent!«, rief Mr. Gullet ihm begeistert zu. 95
Hervorragend? Ein solches Kompliment von Mr. Gullet? Clark war fassungslos. In diesem Moment wurde ihm plötzlich bewusst, dass er es ohne seine übermenschlichen Kräfte geschafft hatte. Er hatte es sich erarbeitet, wie jeder ganz normale Mensch. »Hey, und was ist mit mir?«, fragte Dawn den Direktor mit einem Schmollen. »Exzellent!«, lobte Mr. Gullet auch sie. »Ihr seht einen glücklichen Direktor vor euch!« Dawn schmiegte sich an Clark und hauchte mit verführerisch dunkler Stimme: »Wir waren so heiß zusammen! Ich muss dich wohl inspiriert haben!« Aber Clark beachtete sie gar nicht. Seine Augen hingen an Lana, die zu ihnen herüberkam. Dawns Gesicht wurde rot vor Wut. Wenn sie letzte Nacht erfolgreich gewesen wäre, würde Lana ihr jetzt nicht mehr in die Quere kommen! »Glückwunsch, euch beiden«, sagte Lana freundlich. »Ihr ward großartig. Und heute Abend vor dem Publikum wird es noch besser laufen.« Dawn hängte sich bei Clark ein. »Das liegt wohl daran, dass ich endlich meinen Traumpartner gefunden habe. Wo wir gerade von Partnern sprechen: Weißt du, wo Whitney steckt? Du solltest ihn besser mal suchen gehen!« Lana entgegnete kühl: »Ich glaube, dass ein Mädchen, deren beste Freundinnen gestern mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus eingeliefert worden sind, sich nicht auch noch meinen Kopf zerbrechen muss.« »Ich bin zutiefst besorgt wegen Missy und Julie«, sagte Dawn. Ihr Griff um Clarks Arm wurde noch fester. »Aber als professionelle Schauspielerin muss ich meine persönlichen Sorgen unterdrücken, wenn ich auf der Bühne stehe.« Sanft, aber nachdrücklich befreite sich Clark von ihr. Er machte sich nichts aus Dawn. Natürlich bewunderte er ihr Talent, aber es gefiel ihm überhaupt nicht, dass sie sich so an 96
ihn heranschmiss. Als Dawn und Lana so nebeneinander standen, sah er mit einem Mal den Unterschied zwischen den beiden ganz deutlich. Beide sahen sehr gut aus, aber unter Lanas Oberfläche verbarg sich etwas, das Dawn nie besessen hatte: eine Seele. Während Dawn wieder nach seinem Arm griff, streifte ihn ein Gedanke. Ein Gedanke, der mit Dawn zu tun hatte. »Entschuldigt mich«, sagte Lana gerade. »Ich muss los.« »Was machst du später?«, fragte Clark sie noch schnell. »Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.« »Ich bin sicher, es kann warten, was auch immer es sein mag«, sagte Dawn. Ihre Stimme klang schrill. Lana ignorierte sie. »Ruf mich später an, Clark. Ich bin zu Hause.« Während Lana fort ging, kamen Chloe und Pete auf ihn zu. Chloe umarmte ihn herzlich. »Clark, du warst ja gerade eben wie ausgewechselt«, verkündete sie. »Es war überwältigend.« Clark grinste. »Danke.« »Wirklich, Clark«, stimmte Pete ihr zu. »Ich wusste nicht, dass du dieses Talent in dir hast.« »Anders als ihr beiden«, mischte sich Dawn wieder in die Unterhaltung ein, »war ich von Anfang an sicher, dass er es kann. Clark ist ein sehr leidenschaftlicher und emotionaler Typ!« Chloe ließ sich nicht beeindrucken. »Mal langsam, Mädchen! Clark steht nicht auf deiner Liste!« Pete lachte schadenfroh. Dawn starrte Chloe wütend an, die ihre Aufmerksamkeit aber schon wieder Clark zugewandt hatte. »Ernsthaft, Clark. Ich bin mir sicher, dass das hier deine Bestimmung ist. Du könntest Filmstar werden, oder eine Fernsehkarriere starten, oder...« »Ihr könnt jetzt alle gehen«, wurden sie in diesem Moment von Carrie unterbrochen. »Mr. Gullet ist überglücklich und deshalb wird er die letzten Anmerkungen auf heute Abend 97
verschieben. Bitte seid alle eine halbe Stunde vor dem ersten Vorhang da. Und seid pünktlich!« Dann wandte sie sich an Pete. »Mr. Gullet hat gesagt, du kannst jetzt hinter der Bühne deine Fotos machen, wenn du noch willst.« »Er will«, antwortete Chloe an Petes Stelle. »Vielen Dank, Frau Diktatorin – ich meine, Redakteurin«, sagte Pete. Er verschwand mit Carrie. »Nun, Clark... wie wär’s, wenn wir uns heute Nachmittag treffen würden?«, fragte Dawn mit verführerischer Stimme. »Du wirkst so angespannt, aber ich kenne ein Mittel, das dich sicherlich entspannen wird. Komm doch zu mir. Meine Eltern gehen mit meiner Schwester ins Kino. Wir sind ganz alleine. Du verstehst...« »Ich bin schon verabredet, Dawn«, sagte er ohne Umschweife. »Mit Chloe.« Chloe zeigte auf sich. »Das bin ich.« Dawns Augen verdunkelten sich. »Gut. Kein Problem. Dann sehen wir uns eben heute Abend.« Sie stürmte von der Bühne, wobei sie einige Leute wütend zur Seite stieß. »Oh Mann, dieses Mädchen ist die reinste Plage«, bemerkte Chloe. »Du liegst damit vielleicht richtiger, als uns lieb sein kann«, murmelte Clark. »Ich will nur schnell dieses Kostüm loswerden, dann müssen wir zum Redaktionsbüro gehen. Ich möchte dir etwas zeigen.« Chloe zuckte mit den Achseln. »Klar. Aber willst du nicht wissen, was mit Julie und Missy passiert ist?« »Sicher will ich das wissen. Gib mir fünf Minuten.« Clark lief zur Herren-Umkleide und war froh, diese leer vorzufinden, da er so seine Kleider bedeutend schneller wechseln konnte. Schließlich schnappte er noch seinen Rucksack und war sofort wieder zurück bei Chloe.
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»Wow, ein fliegender Wechsel«, kommentierte Chloe, während sie zum Büro der Schülerzeitung gingen. »Du warst ja gerade mal sechzig Sekunden weg!« Clark wiegelte ab. »Ach, weißt du, in diesen Dingen sind Jungs einfach schneller als Mädchen. Also, du wolltest mir von Missy und Julie erzählen.« »Ja. Ich bin im Krankenhaus gewesen. Die gute Nachricht ist, dass sie überleben werden. Aber sie sind sehr schwer verletzt«, berichtete Chloe. »Beide Mädchen haben Verbrennungen zweiten Grades überall an ihren Körpern. Wirklich überall! Das kann man sich kaum vorstellen«, fuhr Chloe fort, während sie das Büro des Torch betraten. »Julie hat mir erzählt, dass jemand ihre Sonnenbänke von außen verschlossen hat. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus und hat das Nagelstudio geschlossen. Ich finde, das sieht ziemlich nach Vorsatz aus.« Clark trommelte nachdenklich mit seinem Finger auf die Tischplatte. »So langsam fängt all dies an, einen Sinn zu machen. Erinnerst du dich daran, was du über Mikes Unfall gesagt hast? Dass das ein Fall für deine ›Wand des Übernatürlichen‹ ist?« Chloe setzte sich auf einen Tisch ihm gegenüber. »Ja, wieso?« »Nun, ich glaube, dass du Recht haben könntest. Gibt es hier einen Videorecorder?« Chloe deutete in Richtung des Raumes, in dem sich ihre Collage befand. »Da drinnen. Warum?« »Komm mit.« Clark zerrte sie in den Raum. Er nahm eine Videokassette aus seinem Rucksack. »Was ist da drauf?«, wollte Chloe wissen. »Eine Aufzeichnung von gestern Nacht. Von mir und Lana.« In Chloes Augen trat für einen kurzen Moment ein verletzter Ausdruck, aber es gelang ihr, ihre Gefühlsregung zu
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überspielen. »Mal langsam, Clark. Das muss ich nicht unbedingt sehen!« »Wir haben für das Stück geprobt«, stellte Clark richtig. »Ach so!« Chloe atmete erleichtert auf. »Hab ich mir schon gedacht. Und warum sollte ich mir eure Proben ansehen?« »Wir sehen sie uns gemeinsam an. Ich habe das Band auch noch nicht gesehen. Unser Videorecorder ist kaputt.« Clark erzählte Chloe in allen Einzelheiten, was am Abend zuvor geschehen war: Wie unruhig Lanas Pferd gewesen war, als Lana versucht hatte aufzusteigen. Als hätte Yvonnette etwas gesehen, was Lana und er nicht sehen konnten. »Also doch!«, rief Chloe zufrieden. »In Smallville geht ein Gespenst um!« »Chloe, meiner Meinung nach handelt es sich nicht um einen Geist!« »Das denkst du«, sagte Chloe. Ihre Augen leuchteten auf. »Okay, vielleicht können wir es... das Phantom des Zuschauerraums nennen, das auch Lana angegriffen hat. Und du meinst, dass du dieses Phantom auf dieser Kassette aufgenommen hast? Kann man einen Geist filmen?« »Die Antwort auf beide Fragen ist: Ich weiß es nicht, aber wir werden es gleich herausfinden.« Clark schob die Kassette in das Videogerät und drückte den Startknopf. Das Bild erschien und zeigte Clark, der vor Lanas Ankunft nervös in seinem Heuschober hin und her lief. »Ganz nett, der Typ«, sagte Chloe. »Kannst du mich vorstellen?« Kurze Zeit später erschienen Clark und Lana auf der Bildfläche. Sie unterhielten sich. Das Bild begann zu wackeln, als Lana die Kamera nahm, um sie auf Clark zu richten. Chloe verdrehte die Augen. »Dagegen ist jede Kongressdebatte aufregend.« »Das Problem ist, dass ich selbst nicht genau weiß, wonach ich suche. Lass uns mal ein bisschen vorspulen.« 100
»Oh, das macht es bestimmt erheblich leichter – wenn wir ohnehin nicht wissen, wonach wir suchen sollen«, witzelte Chloe. Clark konnte Chloe natürlich nicht sagen, dass er aufgrund seiner übermenschlichen Fähigkeiten auch während das Band vorgespult wurde jedes Detail erkennen konnte. Dadurch würden sie viel Zeit sparen. Als Clark darauf beharrte, zuckte Chloe mit den Schultern und ließ das Band vorlaufen. Die Bilder flogen flackernd vorüber. »Stop«, befahl Clark. Er glaubte etwas gesehen zu haben. »Lass es ein Stück zurücklaufen.« Chloe spulte die Kassette so lange zurück, bis Clark ihr bedeutete anzuhalten. Auf dem Bildschirm erschien jener Moment, in dem Clark aus Versehen die Wasserflasche umgestoßen hatte. »Guter Treffer«, lobte Chloe spöttisch, während das Band wieder lief. »Cyrano de Bergerac ist ja sehr geschickt.« »Noch mal zurück«, sagte Clark und schaute konzentriert auf den Bildschirm. »Und jetzt wieder vor in Slow Motion. Halt, hier anhalten!« Chloe drückte den Pause-Knopf. »Und jetzt?« Clark starrte regungslos auf den Bildschirm. »Sieh doch!« »Ich schaue doch die ganze Zeit!« Doch alles, was Chloe sehen konnte, war Clark, der ziemlich verlegen aussah, weil er Lana gerade mit Wasser bespritzt hatte. »Und, Clark? Was soll ich mir jetzt genau ansehen?« »Das!« Clark griff nach einem Bleistift, der auf dem Schreibtisch lag, und zeigte damit auf den Bildschirm. »Genau hier.« Chloe starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Auf Clarks linker Seite, vielleicht zwanzig Zentimeter über dem Boden, war etwas sehr Sonderbares auszumachen. Selbst Chloe fiel es schwer zu glauben, was sie da sah. »Hm... das sieht aus wie... ein menschlicher Finger«, überlegte Chloe laut. »Der über dem Boden schwebt.« 101
»Da hast du völlig Recht. Es ist ein Finger«, bestätigte ihr Clark. Chloe wurde blass. »Ein abgehackter Finger? Das ist ja wie in einem schlechten Horrorfilm!« »Das ist Dawn«, verkündete Clark, der immer noch wie gebannt auf den Bildschirm starrte. »Ich glaube, dass sie hinter all diesen Anschlägen steckt. Irgendwie hat sie eine Möglichkeit gefunden, sich unsichtbar zu machen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Nur dieser Finger ist übrig geblieben.« Chloe schüttelte den Kopf. »Puh. Das klingt ein bisschen zu verrückt, sogar für mich. Und wie genau bist du denn darauf gekommen?« Er deutete wieder auf den Bildschirm. »Siehst du diesen silbrig-blauen Lack auf dem Fingernagel? Das ist die Farbe, die Dawn trägt. Sie hat ihn zumindest heute bei der Probe getragen. Was bedeutet...« Clark sprang auf. »Komm mit!« Chloe hatte Mühe, ihm zu folgen, als er aus den Büroräumen stürzte. »Wo gehen wir hin?« »Wir müssen Dawn finden«, antwortete Clark, während sie zurück zum Theatersaal rannten. »Wir müssen sie stoppen, Chloe. Bevor es zu spät ist!« Clark und Chloe rannten den Flur entlang. Vor dem Redaktionsbüro erklang ein unheimliches Lachen, das aus dem Nichts zu kommen schien. Dawn holte tief Luft. Sie waren alle so dumm! Gab es denn niemanden, der ihrer wirklich würdig war, der kein Lügner oder Heuchler war? Zuerst war sie wütend gewesen. Wie konnte es Clark wagen, diese dumme, kleine Ziege zu bevorzugen. Es war für sie ein Leichtes gewesen, den beiden unbemerkt bis zum Büro des Torch zu folgen. Dann hatte sie die Damentoilette aufgesucht, um sich mit Hilfe ihres Steins unsichtbar zu machen. Als sie zurückgekehrt war, hatte sie die Türen des Büros weit offen vorgefunden, so dass sie ohne Probleme zu dem hinteren Raum 102
hatte vordringen können, wo die beiden sich das Video ansahen. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihr Finger in der Nacht zuvor nass geworden war, als Clark die Wasserflasche umgestoßen hatte. Wie ein Schwachkopf hatte er sich benommen, wie immer, wenn diese unsägliche Lana in seiner Nähe war. Dawn ärgerte sich immer noch darüber, dass es ihr in der Nacht zuvor nicht gelungen war, Lana aus dem Weg zu räumen. Und nun hatte Clark also die Wahrheit herausgefunden und war auf der Suche nach ihr. Dawn vermutete, dass er zuerst hinter der Bühne nachschauen würde. Und danach würde er wohl zu ihr nach Hause kommen. Sie lachte wieder. Sie wohnte nicht weit von der Schule entfernt. Sie würde vor Clark dort sein. Was machte es schon, dass er die Wahrheit kannte? Er wusste ja nicht, dass sie ihn belauscht hatte. Und deshalb war sie im Vorteil. Er würde zu ihr kommen? Um so besser! Sie würde auf ihn warten. Bald würden sie alleine sein, sie und Clark. Für immer.
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Dreizehntes Kapitel DER TÜRKLOPFER AN DER EINGANGSTÜR des prächtigen Anwesens der Mills hatte die Form eines goldenen Engels. Clark klopfte ungeduldig. »Komm schon, komm schon«, murmelte er atemlos. Endlich öffnete sich die Tür. Ein junges Mädchen mit Sommersprossen und einem Pferdeschwanz stand vor ihm. Sie hielt eine Lupe und einen faustgroßen Stein in der Hand. »Hallo«, sagte Clark. »Ich bin Clark Kent. Ich spiele zusammen mit deiner Schwester in dem Theaterstück.« »Oh ja, ich habe schon von dir gehört. Ich bin Tillie. Dawns Schwester. Hast du jemals einen Quarz unter der Lupe gesehen? Er hat coole Farben!« Sie reichte ihm den Stein mitsamt der Lupe. »Tut mir Leid, aber ich habe dafür jetzt keine Zeit. Ich muss dringend mit Dawn sprechen«, sagte Clark drängend. »Ist sie hier?« »Ja. Sie ist oben in ihrem Zimmer. Weißt du eigentlich, dass meine Schwester magische Kräfte besitzt?« »Dawn?« Tillie nickte und ihre Augen leuchteten auf. »Mann, stell dir vor, es kommt heraus, dass sie in Wirklichkeit vom Teufel besessen ist! Das wäre toll!« Ein Auto bog in die Einfahrt ein und ein ungeduldiges Hupen erklang. Tillie verdrehte die Augen. »Meine Eltern. Wir gehen essen, bevor wir ins Theater gehen, um uns das Stück anzusehen.« Sie trat nahe an Clark heran und sagte mit verschwörerischer Stimme und einem ernsten Ausdruck in den Augen: »Deine letzte Chance. Ich würde an deiner Stelle verschwinden.« »Ich riskiere es«, sagte Clark.
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Tillie zuckte mit den Schultern. »Selbst schuld!« Sie rief mit ohrenbetäubender Lautstärke in das Haus hinein: »Dawn! Cyrano ist hier!« Dann wandte sie sich wieder Clark zu. »Die Treppen hoch. Keine Sorge, ich erkläre meinen Eltern, wer du bist.« »Danke.« Das ungeduldige Hupen erklang wieder, diesmal lauter und heftiger. »Okay, okay, ich komme ja schon«, schrie sie. »Jetzt regt euch doch nicht so auf!« Sie ließ Clark eintreten und lief dann zum Auto hinunter. Clark sah sich um. Eine große Treppe führte in die zweite Etage. Während Clark nach oben hastete, überlegte er schnell, was er tun sollte. Chloe kümmert sich darum, dass Lana nichts passiert. Also bleiben nur Dawn und ich. Ich muss sie dazu bringen, aufzuhören, bevor sie noch mehr Schaden anrichtet. Er erreichte das Ende der Treppe. »Dawn?«, rief er. »Clark?« »Wo bist du?« »In meinem Zimmer. Den Flur entlang.« »Welche Tür?« Auf diese Frage bekam er keine Antwort. Die Tür des ersten Raumes stand offen. Er warf einen Blick hinein. Es war offensichtlich Tillies Zimmer, was anhand der Boy-Group-Poster an der Wand und der riesigen Sammlung von Steinen und Mineralien nicht schwer zu erraten war. Er öffnete die nächste Tür. Dahinter befand sich eine Art Gästezimmer. An der nächsten Tür hing eine gerahmte Titelseite des Daily Planet. Als Überschrift stand dort: »Dawn Mills bekommt einen Oscar!« Offensichtlich handelte es sich um eine Fotomontage. Clark klopfte. »Dawn?« Sie antwortete nicht. Vorsichtig öffnete er die Tür und sah sich um. An den Wänden hingen die Plakate der Theaterstücke, 105
in denen Dawn mitgespielt hatte. Dann erblickte er einen Kosmetiktisch, auf dem sich unzählige Fläschchen und Kosmetiktöpfchen befanden. Das Fenster stand offen und die zarten Spitzenvorhänge bewegten sich in der leichten Brise. Einige Kleider lagen auf dem Baldachinbett verstreut, als hätte Dawn sich mehrmals umgezogen. Aber sie selbst war nicht zu sehen. Was nichts zu sagen hatte. Sie konnte sich schließlich unsichtbar machen. Woher sollte er also wissen, ob sie hier war oder nicht, solange sie nichts sagte? Sein Röntgenblick nützte ihm nichts. Keine seiner Kräfte nützte ihm jetzt etwas. »Dawn, kannst du mich hören?« Er kam sich albern vor, so in die Leere zu sprechen, aber er musste herausfinden, wo sie sich aufhielt. Also fuhr er fort: »Ich weiß, was hier vorgeht, Dawn. Ich muss mit dir reden.« »Clark?« Er fuhr herum. Die Stimme kam von draußen. Er ging zu dem offenen Fenster und sah hinaus. Hinter dem Haus lag ein schöner Garten mit einem riesigen, nierenförmigen Swimmingpool. Der Gedanke traf ihn wie ein Blitz: Vielleicht hat das Wasser, das ich gestern umgestoßen habe, ihren Finger sichtbar gemacht? Wenn dem so wäre, müsste ich sie irgendwie in diesen Swimmingpool kriegen, damit das Wasser sie wieder sichtbar macht, überlegte er fieberhaft. »Ich komme runter, Dawn«, rief er und suchte mit den Augen den Garten ab. Er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie irgendwo dort unten war. »Schön«, rief sie mit verführerischer Stimme. »Ich erwarte dich.« Schnell wie der Blitz rannte er hinunter in den Garten. »Clark«, flüsterte Dawn mit rauchiger Stimme. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
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Er stand am Rand des Swimmingpools, auf der Seite, an der das Wasser tief war. Dawns Stimme schien aus der Richtung des Badehauses zu kommen, das auf der anderen Seite des Pools stand. Wenn er sie nur sehen könnte... »Hör mir zu, Dawn. Ich weiß, dass du dich unsichtbar machen kannst.« »Ich habe mich nicht in dir getäuscht«, sagte Dawn. »Ich wusste, dass du klüger bist als alle anderen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel Macht man hat, wenn man unsichtbar sein kann, wann immer man will. Übrigens: Habe ich schon erwähnt, dass ich völlig nackt bin? Du kannst es gerne überprüfen. Du kannst mich zwar nicht sehen, aber fühlen...« Wow, dachte Clark nervös. Er versuchte, das Bild, das vor seinem inneren Auge auftauchte, zu verbannen und sich auf das Problem zu konzentrieren, das er lösen musste. Ihre Stimme klang, als wäre sie ihm näher gekommen. Einen Augenblick dachte er daran, in den Pool zu springen und dabei so viel Wasser wie möglich zu verspritzen. Vielleicht würde es ihm so gelingen, sie zu durchnässen. Aber es war zu riskant: Was, wenn er sie nicht traf und sie davonlief? Dann hätte er die Chance vertan, sie doch noch zur Vernunft zu bringen. »Warum machst du dich nicht wieder sichtbar und wir setzen uns hin und reden in Ruhe?«, schlug er vor. »Okay«, stimmte Dawn zu. »Aber wie ich bereits gesagt habe: Ich bin nackt. Also ist es nur fair, wenn du dich auch ausziehst. Als Vertrauensbeweis sozusagen. Einverstanden?« »Oh...« Clark richtete seinen Röntgenblick auf das Badehaus und sah, dass darin Badesachen hingen. »Was hältst du davon, wenn wir Badesachen anziehen?« »Dummer Junge«, schnurrte sie. »Warum sollten wir das tun?« Ihre Stimme klang jetzt wieder weiter entfernt. Sie kam nun von der Seite des Pools, auf der sich das Sprungbrett befand. Es verwirrte ihn, dass sie ständig ihre Position 107
veränderte. Er musste dafür sorgen, dass sie nicht aufhörte, mit ihm zu sprechen. »Wie machst du das, Dawn? Dich unsichtbar machen?« »Magie«, sagte Dawn sanft. »Und ein magisches Mädchen wie ich verdient einen magischen Typen wie dich! Findest du nicht auch?« »Dawn, es ist bis jetzt nichts Gutes dabei herausgekommen. Du hast einige Leute schwer verletzt. Mike. Missy und Julie...« »Sie haben nur ihre gerechte Strafe erhalten. Sie haben mich verletzt. Alle lügen mich an und sprechen hinter meinem Rücken schlecht über mich. Glaubst du etwa, ich wüsste das nicht?« Ihre melodische Stimme wurde zu einem Kreischen. »Sie tun so, als wären sie meine Freunde, aber sie können mich nicht einmal leiden.« »Das ist nicht in Ordnung«, gab Clark zu. »Aber Gewalt ist nicht die richtige Antwort.« »Gewalt ist nicht die richtige Antwort«, ahmte Dawn ihn nach. Dann lachte sie boshaft. »Mein lieber Clark: Mike, Missy und Julie sind nichts anderes als menschlicher Abfall. Und den muss man entsorgen.« »Das meinst du nicht ernst, Dawn.« »Das meinst du nicht ernst, Dawn«, äffte sie ihn wieder nach. »Mein lieber Clark, du bist nicht nur talentiert, du bist auch noch nett und ernsthaft und aufrichtig. Und du hast einen ganz schön knackigen Hintern. Was kann ein Mädchen mehr wollen?« »Dawn, wir können gern befreundet sein«, sagte Clark fest. »Aber mehr empfinde ich nicht für dich.« »Ich weiß, wer zwischen uns steht«, zischte Dawn. »Aber deine kleine Miss Rehauge, die ach so sensible Lana Lang, passt nicht zu dir. Wäre es mir nur gelungen, sie fertig zu machen!« Ihm wurde übel, als er sie dies so beiläufig sagen hörte. Jetzt war sie anscheinend wieder in der Nähe der Gartenmöbel. 108
»Du brauchst Hilfe, Dawn.« »Nein, Clark. Ich brauche dich. Als ich dich heute nach der Generalprobe geküsst habe, habe ich gespürt, dass du genauso fühlst.« »Dawn...« »Versuch nicht, dagegen anzukämpfen, Clark.« Sie schien jetzt bei dem Picknicktisch aus Zedernholz, der sich einige Meter vom Badehaus entfernt befand, angelangt zu sein. Clark hatte das Handtuch und das Wasserglas auf dem Tisch gar nicht bemerkt. Er wurde erst darauf aufmerksam, als plötzlich ein Zipfel des Handtuchs in das Wasser getaucht wurde. Dann schwebte es in die Luft. »Du willst mich.« Dawns Stimme war ein verführerisches Flüstern. Das Handtuch bewegte sich sehr langsam. Clark beobachtete verblüfft, wie Dawns Schlüsselbeine langsam sichtbar wurden. Sie hingen wie kleine, fleischfarbene Vogelflügel in der Luft. »Begreifst du es nicht, Clark?«, fuhr Dawn fort. »Ich bin eine großartige Schauspielerin. Ich kann jedes Mädchen sein, von dem du je geträumt hast.« Dann hörte er eine perfekte Imitation von Lanas Stimme: »Ruf mich später an, Clark. Ich bin zu Hause.« Das Handtuch bewegte sich nun unter Dawns Schlüsselbeinen hin und her und enthüllte die obere Hälfte ihrer Brüste. »Mal langsam, Mädchen. Clark steht nicht auf deiner Liste, okay?« Auch Chloes Stimme konnte Dawn perfekt nachahmen. Es war das Seltsamste, was Clark je gehört und erlebt hatte. »Ich habe nie daran gezweifelt, dass du sehr talentiert bist, Dawn«, sagte er. »Ich wollte dir bloß helfen.« Plötzlich sah er, wie die Hautstreifen, die Dawn gerade sichtbar gemacht hatte, wieder zu verblassen begannen. Er war verwirrt. »Machst du dich jetzt wieder unsichtbar?«
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»Nein!« Dawns Stimme klang panisch. »Was geschieht mit mir? Was zum Teufel geschieht hier?« Clark näherte sich langsam dem Ort, von dem ihre Stimme kam. »Dawn, bleib stehen. Ich kann dir helfen.« »Nein!« Sie klang jetzt hysterisch. »Bleib ganz ruhig, Dawn.« Er streckte seine Hand dorthin aus, wo er sie vermutete. »Nimm meine Hand! Wir gehen zusammen rein. Du kannst dich anziehen und wir überlegen dann, was wir tun sollen. Okay? Dawn?« Er wartete eine Ewigkeit mit ausgestreckter Hand in der Hoffnung, jeden Augenblick Dawns Hand in der seinen zu spüren. Aber es geschah nichts. Dawn raste in das Haus und dann die Treppen hinauf in ihr Badezimmer. Wie hatte sie wieder unsichtbar werden können, ohne den grünen Stein zu benutzen? Sie drehte den Wasserhahn voll auf und hielt ihre Arme unter den Strahl. Das Wasser lief über sie. Nichts passierte. Keuchend vor Angst fiel sie auf die Knie. Das Stück begann in drei Stunden. Bis dahin musste sie wieder sichtbar werden. Sie musste! Sie lief unter die Dusche und drehte dort das Wasser auf. Sie konnte sehen, wie es von ihrem Körper abperlte. Aber ihr Körper wurde einfach nicht mehr sichtbar! Oh Gott, sie konnte es nicht mehr umkehren. Würde sie nun für immer unsichtbar und alleine sein? Das wäre, als würde sie gar nicht existieren. Es war das Schrecklichste, was sie sich vorstellen konnte. Und dann begriff sie plötzlich, wie das Ende der Liebesgeschichte von Dawn und Clark aussehen musste. Alles, was geschehen war, alle Demütigungen, die sie hatte ertragen müssen, konnten nur zu einem Ende führen. Clark war der Einzige, der die Wahrheit kannte. Wenn auch er unsichtbar wäre, würde sie niemand mehr trennen können. Sie gehörten zusammen. Sie waren Seelenverwandte für alle Ewigkeit. 110
Sie rannte zurück in ihr Zimmer und sah nach draußen. Clark stand immer noch dort, beim Pool. Sie rannte zu ihrem Schrank und ergriff einen breitrandigen Hut, den sie auf ihren unsichtbaren Kopf setzte. Dann schlüpfte sie in ein Kleid, das ihr zu groß war, und ging wieder zurück zum Fenster. Sie zog den Hut tief in ihr unsichtbares Gesicht. Clark war immer noch da. Es erinnerte sie an die Balkonszene. Sie war Roxane, er Cyrano. Es war Schicksal. Sie lehnte sich leicht aus dem Fenster: »Cyrano?« Er sah zu ihr auf. »Dawn?« »Warum versteckst du dich im Dunkeln, wo ich mich doch so sehr danach sehne, dein Gesicht zu sehen?«, zitierte sie aus dem Stück. »Bleib dort, Dawn. Bitte. Geh nicht fort. Wir fahren ins Krankenhaus. Alles wird wieder in Ordnung kommen.« »Mein Cyrano«, murmelte sie. Er rannte los. Nur Sekunden später erreichte er Dawns Zimmer. Aber als er dort eintraf, lagen der Hut und das Kleid schon wieder auf dem Bett. »Ich weiß, dass du Angst hast, Dawn«, rief er leise. »Aber bitte, lass mich dir helfen!« »Du magst mich«, flüsterte Dawn verträumt. Ihre Stimme kam nun aus der Richtung ihres überladenen Kosmetiktisches. »Ich weiß, dass es so ist.« »Ja.« »Ich wusste es«, rief sie aus. »Armer Clark. Und du glaubst jetzt, dass wir nie zusammen sein können. Aber ich habe viel Macht. Ich kann auch dich unsichtbar machen. Denk darüber nach.« »Nein, Dawn.« »Du kannst dir nicht vorstellen, wie wundervoll es ist. Wir können überall hingehen, wo wir wollen, können tun, was wir wollen. Nichts wird unsere Liebe erschüttern können.«
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»Dawn, ich liebe dich nicht.« Clarks Worte hingen in der Luft. »Aber ich mache mir Sorgen um dich. Und ich werde dir helfen. Wir gehen zur Polizei und du kannst ihnen erzählen...« »Ich biete dir alles, die größte Macht des Universums, und du sagst, dass du mich nicht liebst?«, kreischte Dawn. Sie war außer sich. Tränen flossen über ihre Wangen. »Du bist genauso falsch wie die anderen. Geh doch zur Hölle!« Plötzlich erhob sich ein großer Stein von ihrem Kosmetiktisch und flog in Clarks Richtung. Er fing ihn aufund hatte das Gefühl, in brennende Glut zu greifen. Er schrie auf und ließ den Stein fallen. Als er auf dem Boden aufprallte, zersprang er in zahllose Stücke. Clark fühlte sich plötzlich so schwach, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Alles drehte sich um ihn. Er fiel auf die Knie. Einer der Steinsplitter lag direkt vor ihm. Er glühte grünlich. Meteoritengestein! »Hilf mir«, keuchte er. Er begriff jetzt die schreckliche Lage, in der er sich befand. »Bitte.« Dawn begriff nicht im Mindesten, was da gerade mit Clark geschah. Es war ihr auch egal. Sie war ganz und gar mit sich selbst beschäftigt. »Mir vorzustellen, dass ich dir vertraut habe«, rief sie weinend und wischte sich die Tränen von ihrem unsichtbaren Gesicht. »Du bist genauso gemein wie alle anderen. Alle, die bei dem Stück mitmachen, verdienen es zu sterben!« »Nein!« Clark versuchte aufzustehen. Aber seine Beine knickten immer wieder weg. »Dawn«, stieß er hervor. »Bitte!« »Ja, bettle soviel du willst«, zischte Dawn verächtlich. Sie ging zur Tür. Er lag zusammengekrümmt auf dem Boden und konnte sie nicht aufhalten. »Ich sehe dich später, im Theater. Aber du wirst mich nicht sehen. Niemand wird mich sehen!« Das Telefon klingelte. Clark ächzte. Es hörte gar nicht auf zu läuten. Irgendjemand rief wieder und wieder an, aber Clark 112
schaffte es nicht, das Zimmer zu durchqueren und das Telefon abzuheben, jedes Klingeln schmerzte wie ein glühender Pfeil in seinem Kopf. Vor Schmerz wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel in die Öffnung eines dunklen Abgrundes. Ich darf nicht... ohnmächtig werden. Ich muss... hier weg, dachte er verzweifelt. Mit all seiner Willenskraft versuchte er, den Schmerz zu überwinden. Aber die Bewusstlosigkeit lockte ihn mit dem Versprechen, dass alle seine Qualen bald ein Ende haben würden. »Nein. Ich gebe nicht... auf!« Heftig nach Atem ringend, zwang er sich dazu, seine nähere Umgebung zu untersuchen. Er lag auf dem polierten Holzboden von Dawns Zimmer. Zahllose Stücke des grünen Meteoritensteins lagen überall auf dem Boden zerstreut. Und diese würden ihn töten, wenn er nicht bald eine Fluchtmöglichkeit fand. Auf Dawns Nachttisch klingelte erneut das Telefon. »Sie rufen vom Theater aus an«, wurde Clark mit einem Mal klar. »Sie müssen langsam in Panik geraten, weil Dawn und ich noch nicht da sind. Wenn ich bloß an das Telefon käme.« Aber das Telefon hätte auch genauso gut auf dem Mond sein können – er konnte es nicht erreichen. Er war ja sogar zu schwach, um die Steinstücke wegzuschieben. Vor Anstrengung keuchend drehte er den Kopf. Diese winzige Bewegung ließ ihn fast besinnungslos werden vor Schmerz. Aber er konnte endlich einen Blick auf die Uhr werfen. Es war 19.30 Uhr. Die ersten Zuschauer werden langsam im Theater eintreffen. Dawn ist wahrscheinlich auch schon da. Lana und alle anderen sind in Gefahr. Wenn ich hier nicht bald wegkomme, wird ihnen etwas Schlimmes passieren, dachte er.
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Was war das? Hatte er unten gerade jemanden gehört? Clark versuchte, um Hilfe zu rufen, aber über seine blutleeren Lippen kam nur ein schwacher Lufthauch. Plötzlich erschien Tillie in der Türöffnung und starrte ihn an. »He! Was machst du denn hier?« Dann wurde sie blass. »Oh, mein Gott, Dawn hat versucht, dich umzubringen, nicht wahr?« »Nein, ich hab mir nur den Knöchel verstaucht«, log er. »Hilf... mir.« »Das ist alles?« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Mann, du bist ja eine noch schlimmere Heulsuse als die Hexe höchstpersönlich! Ich habe mir auch schon mal den Knöchel verstaucht, weißt du, daran stirbt man nicht.« »Ich muss... zum Theater«, ächzte Clark. »Das tut mir aber Leid. Wir sind nur hier, um Dawns Blumen abzuholen. Dawn will, dass ihr unsere Eltern jedes Mal einen riesigen Blumenstrauß schenken, wenn sie eine Premiere hat. Und für jeden Vorhang einen.« Tillie lehnte sich nachdenklich an den Türrahmen und überdachte die Situation. »Allerdings kann die Vorstellung ja gar nicht anfangen, solange du hier bist, nicht wahr? Dawn würde ausrasten. Das wäre gut.« »Du musst mir helfen... diese...« Clark konnte kaum auf die Meteoritenstücke deuten, die um ihn herumlagen. »He! Das ist mein Stein!«, schrie Tillie auf. »Wer hat ihn zerbrochen? Das war einer meiner besten!« Sie sammelte die Stücke auf. Sofort begann Clark sich besser zu fühlen. »Tillie!«, rief eine gereizte Stimme von unten. »Wir sind schon spät dran. Wie lange brauchst du denn noch, um auf die Toilette zugehen?« Tillie lief aus dem Zimmer und antwortete ihrem Vater: »Pa! Komm doch mal hoch. Da ist ein Typ in Dawns Zimmer.« Aber noch bevor Tillie zu Ende gesprochen hatte, war Clark schon aus dem immer noch geöffneten Fenster gesprungen. Er machte einen eleganten Überschlag in der Luft und landete dann so sicher wie eine Katze auf seinen Füßen. 114
»Dawns Eltern werden denken, dass Tillie sich das nur ausgedacht hat«, überlegte Clark. »Ich muss jetzt so schnell wie möglich ins Theater, um Dawn aufzuhalten.« Noch während sich dieser Gedanke in seinem Kopf formte, war er schon auf dem Weg zur Smallville Highschool.
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Vierzehntes Kapitel »HIER IST ER!«, schrie Carrie, als sie Clark durch den Bühneneingang kommen sah. Die Neuigkeit verbreitete sich sofort. Verärgerte sowie erleichterte Bemerkungen begleiteten Clark auf seinem Weg zu Mr. Gullet. Er fand den Direktor in der Requisitenkammer. »Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, was Sie Ihren Kollegen zumuten, wenn Sie derartig auf sich warten lassen?«, donnerte Mr. Gullet wütend. Clark öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber der Direktor erhob seine Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Egal, ich will keine fadenscheinigen Entschuldigungen hören. Sehen Sie zu, dass Sie in Ihr Kostüm kommen. Wissen Sie, wo Miss Mills steckt?« Clark zögerte. Was sollte er sagen? Dass Dawn eine Möglichkeit gefunden hatte, sich unsichtbar zu machen, diesen Zustand aber nicht mehr rückgängig machen konnte? Dass sie versucht hatte, ihre Freunde und Lana zu töten? Dass sie sich wahrscheinlich im Theater befand, um ihren Rachefeldzug fortzusetzen, und dass es unmöglich war, sie aufzuhalten, weil sie unsichtbar war? Dass alle in Gefahr waren und die Vorstellung deshalb besser nicht stattfinden sollte? »Mr. Kent?«, wiederholte Mr. Gullet ungeduldig. »Können Sie sich bitte noch in diesem Leben dazu entschließen, sich umzuziehen?« Wenn ich ihm die Wahrheit sage, werden alle denken, ich sei verrückt geworden, wurde Clark klar. Sie würden die Vorstellung nicht absetzen. Sie würden nur versuchen, mich daran zu hindern, Dawn aufzuhalten. Es gab nur eine Möglichkeit. »Mr. Gullet, ich...«, begann Clark. »Clark!« Lana lief auf ihn zu. Sie trug Dawns Kostüm für den ersten Akt und hielt ein Cyrano-Script in ihrer Hand. »Ich 116
wusste, dass du uns nicht hängen lassen würdest. Chloe hat mir erzählt, dass du Dawn suchen gegangen bist«, fuhr sie hastig fort. »Mr. Gullet hat mich gebeten, die Roxane zu spielen, falls Dawn nicht auftaucht. Hast du sie gefunden?« »Genau die gleiche Frage habe ich ihm schon gestellt, aber keine Antwort erhalten!«, warf Mr. Gullet ein. »Ich habe... sie nicht gesehen«, sagte Clark vorsichtig. Er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte. Dawn war sicher schon dabei, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Der Direktor wandte sich an Lana. »Sie werden wohl die Roxane spielen müssen.« Lana wurde grau im Gesicht. »Oh mein Gott! Das hat man nun davon, wenn man den Text auswendig kann.« Sie schluckte heftig und versuchte dann, sich zusammenzureißen. »Ich bin nur so wahnsinnig aufgeregt! Aber wenn ich heute schon mein unerwartetes Theaterdebüt geben muss, bin ich wenigstens froh, dass ich mit dir zusammen auf der Bühne stehe, Clark.« Das durfte doch nicht wahr sein! Es war schlimm genug, dass alle auf der Bühne und im Publikum wissen würden, dass Clark Kent gekniffen hatte. Alle enttäuscht hatte. Aber jetzt würde er auch noch die Gelegenheit versäumen, auf der Bühne Lanas Partner zu sein. Clark hörte, wie draußen ein Donner grollte. Das Wetter war umgeschlagen. Nun, das passte zu seiner Stimmung. Er wandte sich an den Direktor. »Es tut mir Leid, Mr. Gullet. Ich weiß, Sie werden es nicht verstehen, aber ich... kann nicht spielen.« »Was meinen Sie damit, Sie können nicht spielen?«, bellte der Direktor zornig. »Natürlich können Sie. Alle zählen auf Sie!« »Es tut mir Leid, Sir, ich kann nicht.« Der Direktor raste vor Wut. Lana war fassungslos. Aber er konnte sich jetzt nicht damit aufhalten, darüber nachzudenken.
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Seine Gedanken waren bereits bei Dawn. Was würde sie tun? Was hatte sie schon getan? »Sie haben also unüberwindliches Lampenfieber, Mr. Kent?«, fragte Mr. Gullet. Seine Stimme bebte vor Wut. »So etwas Ähnliches, Sir.« Clarks Augen glitten nach oben, hoch in die Bühnenkonstruktionen, wo ein schwerer Scheinwerfer leicht in der Luft schwankte. Als hätte sich seine Aufhängung gelockert. War das Dawn? Er musste dort hinauf und nachsehen. Er wandte sich an Lana. »Ich wünschte, ich könnte es dir erklären.« Man sah ihr die Enttäuschung an. »Das wünsche ich mir auch, Clark.« Himmel, warum musste es ausgerechnet so kommen? Als hätte sich alles gegen ihn verschworen! Wie sehr sehnte er sich danach, in ihren Augen nicht als der Loser dazustehen, für den sie ihn jetzt halten musste. Wie sehr wünschte er sich, sie mit seiner Vorstellung des Cyrano zu beeindrucken und sich Hand in Hand mit ihr unter donnerndem Applaus zu verbeugen! Aber es sollte nicht sein. »Es tut mir so Leid«, sagte er sanft. »Ich muss gehen.« Clark kroch hoch über der noch leeren Bühne über die Verstrebungen, an denen die Scheinwerfer und Kulissentafeln angebracht waren. Das aufgeregte Stimmengewirr aus dem Zuschauerraum und das Trommeln des Regens auf dem Dach drangen an seine Ohren. Er erreichte die schweren Aufhängungen der Bühnenscheinwerfer aus massivem Stahl und überprüfte die Schrauben. Kein Zweifel, sie saßen alle locker! Schnell zog er sie mit der bloßen Hand an und fragte sich dabei, ob Dawn ihn in diesem Augenblick beobachtete. »Dawn?«, flüsterte er. »Bitte, hör mir zu. Ich weiß, dass du diesen Leuten nicht wirklich etwas antun willst! Dawn?« Keine Antwort. Clark sah, wie Carrie unten panisch über die Bühne lief. Was würden sie tun? Die Premiere ausfallen 118
lassen? Nein, wahrscheinlich würde Mr. Gullet die Rolle des Cyrano übernehmen. Er richtete seinen Röntgenblick auf das Publikum hinter dem Vorhang. Er konnte seine Eltern erkennen. Seine Mutter trug ihr bestes schwarzes Kleid. Sein Vater, den er nur in Jeans und Flanellhemd kannte, trug einen Blazer. Sie sahen so aufgeregt und stolz aus. Sie würden so enttäuscht sein... Er riss sich von diesem Anblick los und konzentrierte sich wieder auf das, was er zu tun hatte. Seine Eltern würden es verstehen, wenn er es ihnen erklärte. Aber sie würden die Einzigen sein. Er überprüfte die schweren Leinwände, die über Holzrahmen gespannt waren und die im Lauf der Aufführung als Hintergrundkulissen auf die Bühne heruntergelassen werden sollten. Sie wurden von Seilen und von Sandsäcken als Gegengewichten gehalten. Clark betrachtete die Seile und war nicht überrascht, als er sah, dass sie offensichtlich angeschnitten worden waren. An manchen Stellen waren sie schon so dünn, dass sie bald reißen würden. Dann würden die schweren Sandsäcke nach unten stürzen, todbringend für alle, die auf der Bühne standen. So schnell er konnte, verknotete Clark die Seile über den riskanten Stellen neu. Zumindest für diesen Abend würden sie halten. Die Lichter im Saal begannen zu verlöschen und das Publikum verstummte. Clark sah, wie die Schauspieler und Statisten ihre Positionen auf der Bühne einnahmen: Edelleute, Soldaten und Dorfbewohner. Der Vorhang hob sich über einer lebhaften Szene, in der die Leute über die unglaublichen Fechtkünste des berühmten Cyrano de Bergerac und die unvergleichliche Schönheit der jungen Roxane sprachen. Wo ist Dawn?, fragte sich Clark. Er folgte den Verstrebungen bis zum Ende. Er ließ seinen Röntgenblick nach unten über die Requisiten- und
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Kostümkammer schweifen. Jetzt, nachdem das Stück begonnen hatte, lagen sie verlassen da. Doch da nahm er plötzlich etwas wahr! Im hinteren Teil des Raumes drehte sich ein Schleifstein. Die harmlosen Bühnenschwerter, die Cyrano und die anderen Männer in den späteren Szenen des Stückes verwenden würden, standen aufgereiht neben der Schleifmaschine. Plötzlich sah Clark, wie eines der Schwerter durch die Luft schwebte, bis seine Spitze gegen die Schleifmaschine stieß. Funken begannen zu sprühen. Dawn. Sie verwandelte die harmlosen Bühnenrequisiten in tödliche Waffen! Clark richtete sich auf, dann sprang er mit einem Satz auf das Dach der Requisitenkammer. Er hatte einen solchen Schwung, dass er mit den Füßen durch die Decke stieß und auf dem Arbeitstisch neben der Werkbank mit dem Schleifstein landete. »Gib auf, Dawn, es ist vorbei!«, rief er. Dawns Stimme kam aus dem Nichts. »Guter Auftritt, blöder Text. Sag, solltest du nicht bereits auf der Bühne stehen? Lana wird ja so sauer sein!« Plötzlich schwirrte eines der geschliffenen Schwerter auf ihn zu. Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung fing er es in der Luft auf. Seine Hand umfasste die rasiermesserscharfe Klinge. »Was... wie zum Teufel hast du das gemacht?«, stotterte Dawn verblüfft. Clark machte, einen gewaltigen Satz und landete vor der Tür der Requisitenkammer. Es gab keine Fenster in diesem Raum. Wenn er zwischen Dawn und dieser Tür bleiben konnte, könnte er sie so daran hindern, den Raum zu verlassen. »Ich werde es nicht zulassen, dass du alle in Gefahr bringst, Dawn.« Sie lachte. »Du brauchst wirklich einen neuen Texter, Clark. So redet doch kein normaler Mensch!«
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»Ich meine es ernst, Dawn. Ich lasse dich hier nicht mehr raus.« »Verstehst du es denn immer noch nicht?«, fragte Dawn, jetzt mit einer etwas sanfteren Stimme. »Niemand wird mich jemals wieder sehen!« »Ich bin mir sicher, dass es Ärzte gibt, die dir helfen können«, erwiderte Clark. »Niemand kann mir helfen. Ich werde für immer alleine sein. Von all den Leuten, die mir das Herz gebrochen haben, hast du mich am meisten verletzt!« Plötzlich schwebte ein Nagelschussgerät in der Luft. Clark wusste, dass man es dafür verwendete, um Nägel in Holz zu treiben, weil es viel stärker als ein Hammer war. »Nicht...«, begann er. »Halt den Mund!«, schrie Dawn aufgebracht. Das gefährliche Gerät schwebte näher heran und spuckte seine tödliche Ladung aus. Die spitzen Nägel prallten jedoch an Clarks Brust, Armen und Gesicht ab und fielen auf den Boden, ohne dass sie ihn im Mindesten verletzt hätten. »Was ist hier los?«, kreischte Dawn. Sie schnappte sich ein Schweißgerät und drehte das Gas auf – sofort konnte Clark sehen, wie die heiße blaue Flamme zischend in die Luft schoss. Die Flamme kam näher. Er wusste zwar, dass sie ihn nicht verbrennen konnte, aber seine Kleider würden Feuer fangen. Und es gab so viel leicht entflammbares Material in der Requisitenkammer! Wenn es anfing zu brennen und das Feuer sich bis zu dem überfüllten Zuschauerraum ausbreitete... Aus dem Augenwinkel heraus sah Clark etwas rechts von ihm an der Wand hängen. Er griff hinter sich und fand den Türknauf aus Metall. Er riss ihn los und warf ihn mit einem einzigen, schnellen Schwung kraftvoll gegen die Wand. »Wenn ich jetzt treffe...« Er hatte getroffen. Sein improvisiertes Projektil landete krachend in dem tragbaren Feuerlöscher, den er an der Wand 121
gesehen hatte. Der harte Aufprall des Türknaufs riss eine Öffnung in die Metallumhüllung des Feuerlöschers. Da das Gerät unter Druck stand, platzte der komprimierte Schaum, der sich darin befand, mit fast explosiver Wucht hervor. Die schäumende Fontäne traf Dawn und besprühte ihren Körper von oben bis unten mit Schaum. Sie war jetzt als eine schaumflockige Silhouette zu erkennen. Endlich war sie wieder sichtbar. »Arrgh! Was hast du getan? Es brennt in meinen Augen«, schrie Dawn. Clark ergriff ein großes Stück Stoff und stürzte sich damit auf sie. Er riss sie zu Boden und wickelte sie in den Stoff. Endlich war es vorbei.
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Fünfzehntes Kapitel CLARK STAND UNTER DEM VORDACH DER SCHULE und beobachtete, wie die Sanitäter Dawn in den Krankenwagen schoben. Er musste fast schreien, um den heftigen Regen zu übertönen: »Ist alles in Ordnung mit ihr?« »Ihre Körperfunktionen sind alle normal«, versicherte der Krankenpfleger Clark, während er die Tür des Krankenwagens zuzog. Der Regen rann in Strömen über seinen gelben Anorak. »Vielen Dank für den Anruf, Clark. Wir werden uns gut um sie kümmern. Versprochen.« Er ging um den Krankenwagen herum, stieg ein und fuhr dann davon. Clark sah den Lichtern des Wagens nach, der in der stürmischen Nacht verschwand. Für einen Augenblick blieb er noch stehen und fragte sich, ob er Lana oder den anderen jemals wieder in die Augen sehen konnte. Lana. Vielleicht konnte er auf sie warten und sie nach dem Stück abholen. Das war immerhin besser als gar nichts. Er ging schnell zurück ins Theater, schlüpfte in den Zuschauerraum und blieb im Gang stehen. Lana war auf der Bühne. Sie trug Roxanes Kostüm des letzten Aktes, ein schlichtes weißes Kleid. Ihr rabenschwarzes Haar war zu einem einfachen, schweren Zopf geflochten, der über ihren Rücken herabhing. Sie sah umwerfend aus. »Dies Gefühl«, flüsterte er, »das mich hinreißt in Eifersucht und Leidenschaft, ist wahrlich Liebe, hat die Qual und Kraft...« Es handelte sich um die Szene im Kloster, kurz vor dem Ende des Stücks. Gleich würde Cyrano auftreten, tödlich verletzt, die Wunde aber vor seiner geliebten Roxane verbergend. Endlich würde sie begreifen, dass er es war, den sie die ganze Zeit geliebt hatte und der sie liebte. Eine Nonne trat auf. »Madame«, sagte sie zu Roxane. »Herr von Bergerac.« »Ich wusst es ja!«, antwortete Roxane. 123
Und jetzt kommt Mr. Gullet als Cyrano von rechts, dachte Clark. Cyrano betrat die Bühne von rechts. Er war geschwächt von der Kampfverletzung, die er zu verbergen versuchte. Aber es war nicht Mr. Gullet. Es war Whitney. Whitney? »Oh schönster Tag von vielen, vielen Tagen.« Whitney küsste Lanas Hand. »Cyrano«, sagte Lana zärtlich. »Clark.« Clark drehte sich um, als er spürte, wie eine Hand ihn an der Schulter berührte. Es war Lex. »Du musst ja eine wirklich interessante Geschichte zu erzählen haben«, murmelte Lex. »Mr. Gullet hat mir in der Pause erzählt, dass du ›gekniffen‹ hast. Ich zitiere ihn wörtlich. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das nicht stimmt.« Clark deutete auf die Bühne. »Warum steht Whitney jetzt als Cyrano auf der Bühne?« »Whitney hat die Rolle von Cyrano heimlich auswendig gelernt. Konnte es wahrscheinlich nicht ertragen, dass du ihm in Lanas Augen etwas voraus hast, schätze ich. Theater als Werpisst-am-weitesten-Wettbewerb.« Clark schüttelte den Kopf. Lex betrachtete den Freund aufmerksam. »Also, Clark. Sagst du mir, warum du nicht da oben stehst?« »Ich kann nicht.« Lex lächelte, fragte aber nicht weiter nach. »Wenn es dich tröstet: Whitney war grottenschlecht. Ihm fehlt die Seele für Cyrano.« »Danke«, war alles, was Clark herausbrachte. Sie sahen sich zusammen die letzte Szene des Stücks an. Lana legte ihre Hand gerade zärtlich an Whitneys Wange. »Sie
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waren’s! Warum nur schwiegen Sie in all den Jahren? Und ich erriet es nicht! Sie liebten mich!« »Mein ganzes Herz«, antwortete Whitney, »ist auch im Tode dein.« Genau wie Dawn bei der Generalprobe hielt sich Whitney nicht an Mr. Gullets Szenenanweisungen für das Schlussbild: Er nahm Lana in seine Arme und küsste sie. Während der Vorhang fiel, sank auch Clark das Herz in die Hose. Das Publikum brach in donnernden Applaus aus. Der Vorhang hob sich wieder. Jetzt stand die ganze Truppe auf der Bühne, um sich zu verbeugen. In der Mitte der Bühne standen Lana und Whitney, Hand in Hand. Sie verbeugten sich wieder und wieder. Auch die anderen Schauspieler applaudierten ihnen. »Bravo«, riefen die Zuschauer und erhoben sich. »Bravo!« Es reichte. Clark wollte nichts mehr sehen. Er ließ den neugierigen Lex stehen und verließ wortlos das Theater. Er ging durch die menschenleeren Gänge und trat hinaus in die regnerische Nacht. War es sein Schicksal, dass er niemals Beifall für irgendetwas bekam? Würde er sein ganzes Leben damit verbringen, das Leben anderer Menschen zu retten und doch immer einsam bleiben? »Clark?« Es war sein Vater, der aus dem geöffneten Fenster des Pickups nach ihm rief. Der Wagen hielt neben ihm. Martha saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete ihren Sohn besorgt. »Na«, sagte Clark niedergeschlagen. »Seid ihr früher gegangen? War wohl nicht ganz das, was ihr erwartet hattet, hm?« »Ich weiß nicht, was heute Abend passiert ist, Clark«, sagte sein Vater. »Aber ich kenne meinen Sohn. Aus welchem Grund auch immer du nicht dort oben warst, es hatte nichts mit dir zu tun, sondern mit etwas, das du tun musstest.« Clark nickte und bemühte sich, den dicken Kloß, der ihm im Hals saß, herunterzuschlucken.
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Seine Mutter lehnte sich zu dem offenen Fenster hinüber. »Ist alles in Ordnung, Clark?« »Ja, Ma«, sagte er. »Jetzt ja.« Jonathan lächelte. »Steig ein, Sohn.« Martha öffnete die Beifahrertür für Clark. »Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß.« Sein Vater zögerte. Clark sah, wie seine Mutter schließlich eine Hand auf seinen Arm legte. »Kein Problem, Clark. Wenn du das willst«, sagte sie. Jonathan nickte. »Wir sehen uns zu Hause.« Der Wagen fuhr davon. Während er in der Nacht verschwand, wurde der Regen wieder stärker. Clark zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Während er durch die Nacht wanderte, beruhigten sich seine Gedanken etwas. Aber seine Seele blieb rastlos und einsam.
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