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Carsten Wippermann · Norbert Arnold Heide Möller-Slawinski · Michael Borchard · Peter Marx Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem
Carsten Wippermann · Norbert Arnold Heide Möller-Slawinski Michael Borchard · Peter Marx
Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt | Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-18004-5
Inhalt
Norbert Arnold Einleitung: Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem – Wege aus der sozialen Ungleichheit ............................................................... 11
Carsten Wippermann, Heide Möller-Slawinski Die Studie: Gesundheit und Krankheit im Alltag sozialer Milieus ............. 25 Hintergrund ..................................................................................................... 25 Zentrale Befunde ............................................................................................. 31 Milieuübergreifende Befunde ............................................................................ 31 Milieuspezi¿sche Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit ....................... 34 Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit – zusammenfassende Darstellung ......................................................................... 38 Milieuspezi¿sche burden of disease .................................................................. 67 Medikation ......................................................................................................... 90 Gesundheitliche Mitverantwortung ................................................................... 95 „Gesundheitssystem“ oder „Krankheitssystem“ ? ............................................ 107 ReÀexivität von Prävention ............................................................................. 108 Zentrale empirische Thesen ............................................................................. 111 Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit .................................................................... 117 GESELLSCHAFTLICHE LEITMILIEUS SINUS B1: „Etablierte“ ................................................................................... Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild ......................................... Einnahme von Medikamenten .........................................................................
119 119 121 122 124 127 129 131
6 Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt .............................................................................. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung .......................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem ..........................................
131 134 135 136 140 141
SINUS B12: „Postmaterielle“ ......................................................................... Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit ............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild .......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung ........................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem ..........................................
146 146 147 149 150 153 155 157 158 160 161 162 165 166
SINUS C12: „Moderne Performer“ ................................................................. Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit und ihre subjektive Wahrnehmung ...................... Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ...................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild ......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung ........................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem .........................................
169 169 170 172 173 176 177 180 180 182 183 184 185 185
TRADITIONELLE MILIEUS SINUS A12: „Konservative“ ........................................................................... 187 Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. 187
7 Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild ......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung ........................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem ..........................................
189 190 192 194 194 195 196 197 198 199 200 201
SINUS A23: „Traditionsverwurzelte“ ............................................................. Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild ......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung .......................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem .........................................
202 202 205 207 207 210 211 212 213 214 216 217 219 219
MAINSTREAM MILIEUS SINUS B2: „Bürgerliche Mitte“ ...................................................................... Kurzcharakterisik und Lebenswelt .................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild .......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung ..........................................
221 221 225 226 227 230 232 233 234 235 235
8 Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... 236 Chancengerechtigkeit ...................................................................................... 238 Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem .......................................... 239 SINUS B3: „Konsum-Materialisten“ .............................................................. Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................ Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild .......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung .......................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem .........................................
241 241 243 243 245 248 249 251 252 253 254 255 257 258
HEDONISTISCHE MILIEUS SINUS C2: „Experimentalisten“ ..................................................................... Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten ....................................... Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................. Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild ......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt .............................................................................. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung .......................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem ..........................................
261 261 262 264 265 268 271 273 274 276 277 278 280 280
SINUS BC3: „Hedonisten“ ............................................................................. Kurzcharakteristik und Lebenswelt ................................................................. Bedeutung von Gesundheit .............................................................................. Zwischen Schicksal und Verantwortung .......................................................... Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten .......................................
283 283 285 286 287
9 Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen ............................................. Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild .......................................... Einnahme von Medikamenten ......................................................................... Vorsorgeuntersuchungen .................................................................................. Zweiter Gesundheitsmarkt ............................................................................... Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung .......................................... Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems .......................................... Chancengerechtigkeit ...................................................................................... Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem ..........................................
290 291 293 294 295 296 296 297 298
Untersuchungsanlage .................................................................................... Stichprobenziehung ......................................................................................... Lebensweltexploration und Milieuidenti¿kation ............................................. Erhebung .......................................................................................................... Auswertung: Qualitativ-ethnographische Hermeneutik .................................. Themen im narrativen Interview .....................................................................
299 300 300 301 302 309
Anhang ............................................................................................................ Legende der Milieukürzel ................................................................................ Impressum ....................................................................................................... Wissenschaftlicher Beirat ................................................................................ Autoren und Herausgeber ................................................................................
313 313 313 314 315
EINLEITUNG: VIELFALT UND SELBSTBESTIMMUNG IM GESUNDHEITSSYSTEM – WEGE AUS DER SOZIALEN UNGLEICHHEIT Norbert Arnold
Gesundheit als gesellschaftliche Herausforderung Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe in einem umfassenden Sinne, die auch die Partizipation an Kultur, Politik, Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Wohlstand und gesellschaftlicher Entwicklung etc. einschließt. Daher hat Gesundheit bei den meisten Menschen einen hohen Stellenwert. So gilt Gesundheit als ein fundamentales Gut, im Verständnis vieler Menschen sogar als eines der höchsten Güter überhaupt. Die hohe Wertschätzung von Gesundheit geht allerdings in vielen Fällen nicht mit einer gesundheitsbewussten Lebensweise einher. Es besteht vielmehr bei vielen Menschen eine erhebliche Diskrepanz zwischen der ideellen Wertschätzung von Gesundheit und der täglichen Lebensführung. Aus gesellschaftlicher Sicht stellt sich Gesundheit als ein wichtiger humanitärer Faktor dar. Darin begründet sich die FürsorgepÀicht des Staates, dessen Aufgabe es ist, geeignete Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Versorgung und die damit verbundenen Fragen der Chancengerechtigkeit zu schaffen. Hinzu kommt, dass Gesundheit ein wichtiger wirtschaftlicher Produktivfaktor ist. Nicht zuletzt hinsichtlich des demographischen Wandels entwickelt sich die Gesundheit der Bevölkerung zu einem der zentralen Wirtschaftsfaktoren, die zur Standortsicherung im globalen Wettbewerb beitragen. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Gesundheitspolitik als eines der zentralen Zukunftsfelder der Sozialpolitik deutlich. Darüber hinaus wächst das Verständnis dafür, Gesundheit zu einer „ressortübergreifenden“ Aufgabe zu machen, die nicht nur die Gesundheitspolitik im engeren Sinne umfasst, sondern auch Forschungs-, Wirtschafts-, Arbeits-, Umwelt-, Familien-, Senioren-, Kommunalpolitik etc. einbezieht. Die Idee „health in all policies“ rückt die grundlegende Bedeutung der Gesundheit sowohl aus der individuellen als auch der öffentlichen Sicht stärker als bisher in den gesellschaftspolitischen Fokus. C. Wippermann et al., Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem, DOI 10.1007/978-3-531-92871-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
Im Gegensatz zu diesen meist einvernehmlichen gesundheitlichen Zielen sind die Wege zu diesen Zielen diskursiv und die konkreten Konzepte und Maßnahmen werden höchst kontrovers diskutiert. Hinzu kommen enorme Sparzwänge, die den gesundheitspolitischen Handlungsspielraum einengen. Auf der individuellen Ebene schränken zudem die unterschiedlichen Lebenswelten und Lebensstile mit ihrer jeweils begrenzten Bereitschaft zu gesundheitsbewusster Lebensführung die politischen und medizinischen Bemühungen um eine bessere Gesundheit ein. So ist es bisher nicht gelungen, den seit langem bekannten Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer sozioökonomischen Schicht und dem Gesundheitszustand zu durchbrechen.1 Die damit verbundene soziale Ungleichheit wird trotz aller Bemühungen nicht geringer, sondern nimmt weiter zu.2 Offensichtlich erreichen viele der Maßnahmen (Gesundheitserziehung, Prävention, gesundheitliche Aufklärung etc.) nicht alle Zielgruppen in ausreichendem Maße. Vor diesem Hintergrund muss gefragt werden, ƒ ƒ
wie die Gesundheitsversorgung weiterentwickelt werden müsste, um sie auch künftig in einer hohen Qualität und zu bezahlbaren Preisen für alle gewährleisten zu können; wie die soziale Ungleichheit bezüglich Gesundheit gemildert werden kann, um ein gesellschaftliches Auseinanderdriften, so wie es in anderen Feldern diagnostiziert wird (arm – reich, bildungsfern – bildungsnah etc.), zu vermeiden;
Vgl. z. B.: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: http://www.bzga.de/themenschwerpunkte/gesundheitlichechancengleichheit/. Robert Koch-Institut (Hrsg.): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in Deutschland entwickelt ? Berlin 2010, 251–265. Lüngen, M. / Siegel, N. / Drabik, A. / v. Tönne, I.: Ausmaß und Gründe für Ungleichkeiten der gesundheitslichen Versorgung in Deutschland. www. boecklerimpuls. de, 2009. Roman Herzog Institut (Hrsg.): Sind Kinder wohlhabender Eltern gesünder ? Gesundheit und Gerechtigkeit in Deutschland. München 2009. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Datenreport 2008. Bonn 2008. Kap. 9.2. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gesundheit und soziale Ungleichheit. APUZ 42 / 2007. Robert Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheit in Deutschland. Berlin 2006, 83–90. Robert Koch-Institut (Hrsg.): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Berlin 2005. Mielck, Andreas: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion. Bern 2005. Lampert, Thomas: Schichtspezi¿sche Unterschiede im Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten. Berlin 2005. Landesinstitut für Öffentliche Gesundheit NRW (Hrsg.): Report on Socio-Economic Differences in Health Indication in Europe. Bielefeld 2003. Jungbaur-Gans, Monika: Ungleichheit, soziale Beziehung und Gesundheit. Wiesbaden 2002. Mielck, Andreas: Soziale Ungleichheit und Gesundheit: Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten. Bern 2000. Helmert, Uwe / Baumann, Karin / Voges, Wolfgang / Müller, Rainer (Hrsg.): Müssen Arme früher sterben ? Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland. Wiesbaden / München 2000. 2 Lampert, Thomas / Mielck, Andreas: Gesundheit und soziale Ungleichheit. Eine Herausforderung für Forschung und Politik. GGW 2008, Jg. 8, Heft 2, 7–16.
1
Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem ƒ
13
wie den individuell unterschiedlichen Gesundheitsinteressen und -bedürfnissen der Menschen, der Pluralität der Einstellungen und Erwartungen bzgl. Gesundheit, besser entsprochen werden kann.
Warum eine Milieu-Studie zur Gesundheit ? Die vorliegende Studie untersucht milieuabhängig die Selbstwahrnehmung bei Fragen, die das Thema Gesundheit beinhalten. Die Konrad-Adenauer-Stiftung will dazu beitragen, die Ursachen für die gesundheitliche Ungleichheit besser – d. h. in einer differenzierenden Weise – zu verstehen 3 und damit die Ziele künftiger Reformschritte im Gesundheitssystem zu schärfen, indem sie die zum Teil sehr heterogenen Interessen und Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen, objektiven Bedarfe und subjektiven Bedürfnisse, Verhaltensmuster und Handlungsmaximen der Menschen vor dem Hintergrund ihrer alltäglichen Lebenswelt gesamthaft in den Blick nimmt. Folgende forschungsleitenden Fragen liegen der Studie zugrunde: 1. 2.
3.
Inwiefern variieren Verhalten, Einstellungen, Bewertungen und Erwartungen von Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus bezüglich Gesundheit und der gesundheitlichen Versorgung in ihren unterschiedlichen Facetten ? Welche Ansatzpunkte bieten diese Differenzen für die künftige Gestaltung des Gesundheitssystems, insbesondere im Hinblick auf eine ef¿ziente und effektive Gesundheitsversorgung sowie hinsichtlich der Fragen von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ? Könnte ein stärker „individualisiertes Gesundheitssystem“ zu mehr Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit bezüglich Gesundheit beitragen ?
Gesellschaftliche Trends: Gesundheitsbewusstsein und Eigenverantwortung Die Bereitschaft der Menschen, selbst Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, ist in allen untersuchten Milieus vorhanden, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit je eigener Auffassung von Eigenverantwortung.4
3 Jungbaur-Gans, Monika: Soziale und kulturelle EinÀüsse auf Krankheit und Gesundheit. In: Wendt, Claus / Wolf, Christof (Hrsg.): Soziologie der Gesundheit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 46 / 2006, 86–108. 4 Vgl.: Ärzte-Zeitung (Hrsg.): Was denken die Deutschen über ihr Gesundheitssystem. Was wünschen sie sich für die Zukunft ? Offenbach 2002.
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Einleitung
Besonders klar und offensiv wird Eigenverantwortung in den gehobenen gesellschaftlichen Milieus gefordert und umgesetzt. Dort wird Gesundheit als ein wichtiges Thema wahrgenommen, das eine hohe Beachtung ¿ndet, zu einer Haltung der SelbstverpÀichtung mit einer Reihe von Eigeninitiativen führt, ohne dass dies in Larmoyanz oder in einer „hypochondrischen Übertreibung“ ausartet. Auch ist die Diskrepanz zwischen dem Anspruch an sich selbst, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, und dem tatsächlich gelebten gesundheitsdienlichen Lebensstil relativ gering. Gesundheit wird nicht nur als ein wichtiges Thema für das eigene Leben und die eigenen Handlungsmöglichkeiten erkannt, sondern es wird – vor allem bei Frauen – in hohem Maße in konkretes Handeln umgesetzt. Hier hat das gute Gesundheitsbewusstsein praktische Konsequenzen. Unterstützt wird dies dadurch, dass die äußeren Lebensumstände ein gesundheitsbewusstes Leben erleichtern: ausreichende ¿nanzielle Ressourcen, hoher Bildungsstand, wenig gesundheitsgefährdende Arbeitssituationen etc. Die gesellschaftlichen Leitmilieus (Etablierte, Postmaterielle, Moderne Performer)5 haben eine reÀektierte Haltung zum Thema Gesundheit – allerdings unterschiedliche Einstellungen und Herangehensweisen. Etablierte wünschen eine Vielfalt von Gesundheitsleistungen, aus denen sie das für sie Passende auswählen können. Von Leistungskürzungen sind sie als meist privat Versicherte kaum betroffen. Sie befürworten insgesamt mehr Wahlmöglichkeiten für Versicherte und Patienten und fordern mehr Wettbewerb unter den Leistungsanbietern. Nach dem Grundsatz „Das Individuum ist das Maß“ befürworten auch die Postmateriellen Vielfalt und Wettbewerb im Gesundheitssystem. Sie wollen den Leistungskatalog individuell gestalten können. Sie fordern bessere Wahlmöglichkeiten je nach den individuellen Gesundheitsbedürfnissen. Auch wenn das marktwirtschaftliche Denken aus grundsätzlichen Überlegungen kritisch bewertet wird, wird der Wettbewerb im Gesundheitswesen akzeptiert. Die gegenwärtige Situation mit dem nur ansatzweise vorhandenen Wettbewerb, z. B. zwischen den Krankenkassen, wird aber als gescheitert betrachtet. Im Gegensatz zur PKV gäbe es in der GKV keine ausreichenden Wahlmöglichkeiten. Dies wird bedauert. Ähnlich gilt dies für das Milieu der Modernen Performer, auch wenn in diesem jungen Milieu Gesundheit (noch) kein dominierendes Thema ist, da man sich (noch) gesund fühlt. Am liebsten hätte man eine Einheitsversicherung, die alles Wichtige abdeckt, ergänzt durch Àexibel – je nach Lebenssituation und Phase im Lebensverlauf – buchbare Zusatzmodule, die jeder individuell nach seinen Bedürfnissen hinsichtlich Umfang und Qualität zusammenstellen kann. In den gesellschaftlichen Leitmilieus wird wahrgenommen, dass man selbst viel für die
5
Überblick über die Sinus-Milieus: S. 29–30.
Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem
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eigene Gesundheit tun kann und sollte. Die eigene Verantwortung für Gesundheit wird betont,6 eine gesunde Lebensführung propagiert. Auch in den traditionellen Milieus (Konservative, Traditionsverwurzelte) ist ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein verbreitet. Das Interesse an Gesundheitsthemen ist groß (nicht nur aufgrund des vergleichsweise hohen Altersdurchschnitts in diesen Milieus). Die eigene Verantwortung für die Gesundheit wird erkannt; jedoch werden die Akteure im Gesundheitswesen – Ärzte, Krankenkassen etc. – stärker als bei den gesellschaftlichen Leitmilieus in die PÀicht genommen. Im Milieu der Konservativen wird Eigenverantwortung für die Gesundheit gesellschaftsweit gefordert: Es gilt als eine moralische PÀicht des Einzelnen, mit seinem Gut „Gesundheit“ verantwortungsvoll umzugehen und das Gemeinwesen nicht durch eine fahrlässige Lebensweise unnötig zu belasten. Insofern ist Eigenverantwortung für Konservative funktional für die Gesellschaft und für das Gesundheitssystem. Allerdings zeigt sich in diesem Milieu ein leicht fatalistischer Zug: Gesundheit und Krankheit werden als ein persönliches Schicksal hingenommen. Akzeptanz des jeweiligen Gesundheits- und Krankheitszustands gepaart mit der Einstellung, „das Beste daraus zu machen“, kennzeichnet die Haltung der Konservativen. Ähnlich sieht es im Milieu der Traditionsverwurzelten aus: Dass man selbst etwas für die Gesundheit tun kann, wird erkannt, und man ist stolz darauf, wenn es gelingt, gesund zu bleiben. Aber das Schicksalhafte an Gesundheit und Krankheit tritt mehr in den Vordergrund: Man muss sich arrangieren; man „muss zufrieden sein“ und will nicht klagen.7 Auch wird die Rolle des Arztes bei der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit stärker betont: Er wird maßgeblich für die Gesundheit verantwortlich gemacht. Das Gesundheitssystem ist hier primär Reparaturbetrieb. Traditionsverwurzelte stehen der Vielfalt und dem Wettbewerb im Gesundheitssystem eher ablehnend gegenüber. Eine gute Rundum-Versorgung wird gewünscht – da bleibt für individuelle Wahlmöglichkeiten kein Platz und es besteht keine Notwendigkeit dazu. In den beiden Mainstream-Milieus (Bürgerliche Mitte, Konsum-Materialisten) ist die Haltung zur Gesundheit sehr deutlich zweigeteilt: Während sich die Bürgerliche Mitte an den gesellschaftlichen Leitmilieus orientiert und dementsprechend Gesundheit wertschätzt, achten Konsum-Materialisten wenig auf Ihre Gesundheit. Sie fühlen sich diesbezüglich als benachteiligt und abgehängt. 6 Vgl.: VFA-Reformmonitor 2010. Meinungsbild der Bürger zur Gesundheitsreform. www.vfa.de. Januar 2010. Danach sind 63 % der Befragten für „mehr Wettbewerb auf allen Ebenen des Gesundheitssystems“. 7 Die defätistische Haltung vieler Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit wird empirisch bestätigt. Laut DKV-Report „Wie gesund lebt Deutschland?“, Kurzvorstellung der Ergebnisse, Pressekonferenz, 10.8.2010, S. 22, stimmen 52 % der Befragten der Aussage zu „Wenn ich krank werde oder sterbe, dann passiert das eben. Ich kann es nicht beeinÀussen“.
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Einleitung
Im Milieu der Bürgerlichen Mitte ¿ ndet man ein hohes Maß an gesundheitlicher Selbstverantwortung. Gesundheit wird dort als ein wichtiges Thema wahrgenommen – nicht nur in Bezug auf die eigene Person und die aktuelle Lebenssituation, sondern auch hinsichtlich der ganzen Familie, besonders auch der Kinder, und vorausschauend auch auf das Alter. Eine gesunde Lebensführung scheint besonders erstrebenswert. Im Milieu der Konsum-Materialisten wird die Möglichkeit, etwas für die eigene Gesundheit tun zu können, kaum wahrgenommen. Dementsprechend ist die Eigenverantwortung für die Gesundheit kaum ausgeprägt. Ganz im Gegenteil: Es dominiert das Gefühl von Ohnmacht. Eigene Krankheiten werden als Teil der allgemeinen sozialen Benachteiligung und Ausgrenzung begriffen ohne realistische Chance auf Veränderung. Das führt häu¿g zu Larmoyanz, Fatalismus, Ergebenheit in das unabwendbare Schicksal und zu Verdrängung – somit zu einer klagenden und passiven Grundhaltung, die in Bezug auf eigene Krankheiten Dissimulation und Indolenz erzeugt. Der besonders ausgeprägte Gesundheitsfatalismus der Konsum-Materialisten geht mit einer Vielzahl von Abwehrargumenten einher, warum nicht mehr für die eigene Gesundheit getan werden könne. Typisch für dieses Milieu ist die Meinung, Gesundheit sei etwas – etwa durch Vererbung – Vorgegebenes. Alles weitere, was man für Gesundheit tun könne, sei zu kostspielig und daher nicht ¿nanzierbar. Die ¿nanziellen Grenzen – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung, aber sicherlich zum Teil auch tatsächlich – enge die Handlungsmöglichkeiten ein. Das Gefühl, sich mehr Gesundheit nicht leisten zu können, geht mit einer allgemeinen Werthaltung einher, die ihren Schwerpunkt gerade nicht auf Gesundheit legt. Gesundheit genießt in diesem Milieu keinen hohen Stellenwert. Trotzdem fühlt man sich hinsichtlich Gesundheit extrem benachteiligt und schiebt dafür die Verantwortung immer anderen zu. Auch wird gesundheitsbewusstes Verhalten von der sozialen Umgebung in diesem Milieu nicht belohnt, so dass Anreizstrukturen fehlen, im Rahmen der – wenn auch begrenzten – Möglichkeiten eigenverantwortlich und gesundheitsbewusst zu leben. Hinzu kommt, dass das Interesse, sich über Gesundheit zu informieren, nur in geringem Maße vorhanden ist. Geeignete Informationsmedien sowie Möglichkeiten für eine ef¿ziente Gesundheitsbildung und -erziehung sind in diesem Milieu nicht vorhanden. Der Wunsch nach Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen, nach Vielfalt der Angebote und Wettbewerb der Anbieter ist bei den Konsum-Materialisten am geringsten ausgeprägt. Trotz des miserablen Kenntnisstandes bezüglich Gesundheit fühlt sich dieses Milieu im Grunde jedoch ausreichend informiert und will auch gar nicht mehr wissen, weil dann Verantwortung übernommen werden müsste – die Grundvoraussetzung, um als informierter Patient und Versicherter in einem durch Vielfalt und Wettbewerb geprägten Gesundheitssystem handlungsfähig sein zu können. In den hedonistischen Milieus (Experimentalisten, Hedonisten) spielen Gesundheitsfragen nur eine untergeordnete Rolle.
Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem
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Zwar werden im Milieu der Experimentalisten die Eigenverantwortung, die eigenen Möglichkeiten, gesund zu bleiben, sowie das Schicksalhafte an Gesundheit und Krankheit realistisch eingeschätzt. Aber zwischen Erkenntnis und Umsetzung klafft in diesem Milieu eine Lücke: Im Lebensalltag ist Gesundheit kaum ein Thema. Die Prioritäten in diesem Milieu mit einem vergleichsweise niedrigen Altersdurchschnitt werden anders gesetzt. Noch geringer ist im ebenfalls jungen Milieu der Hedonisten das Interesse am Thema Gesundheit. Der Frage der Verantwortung für die eigene Gesundheit stellt man sich meist nicht, geht ihr aus dem Weg oder verdrängt dieses „unspannende“ Thema für unbestimmte Zeit auf „später“. Was wird von der Gesundheitspolitik erwartet ? Die Studie zeigt ein verbreitetes Misstrauen gegenüber einer „radikalen Wettbewerbsrhetorik“ im Gesundheitssystem. Die bisherigen Erfahrungen mit dem „angeblich“ vorhandenen Gesundheitsmarkt fallen besonders bei Versicherten und Patienten aus Milieus der unteren Mittelschicht und der Unterschicht negativ aus. Es wird befürchtet, dass mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem nur dazu dienen soll, das Kosten- bzw. Sparproblem zu lösen – und zwar auf dem Rücken der Versicherten. Dieser Argwohn sitzt tief und stellt ein ernsthaftes kommunikatives Hindernis für die Gesundheitspolitik dar, den Ordnungsrahmen im Gesundheitssystem zu modernisieren und dafür breite Akzeptanz zu erreichen. Aus den im Rahmen dieser Studie durchgeführten Interviews werden jedoch die sehr stark divergierenden Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der Versicherten und Patienten deutlich, so dass der gesundheitspolitische Ansatz, die Vielfalt der Gesundheitsangebote zu steigern, um den unterschiedlichen Wünsche, Bedürfnisse und Interessen gerecht werden zu können, eine folgerichtige und eigentlich alternativlose Konsequenz ist. Inwiefern eine Steigerung der Angebotsvielfalt im Gesundheitswesen ohne einen wettbewerblich strukturierten Ordnungsrahmen nach Einschätzung der Befragten möglich ist, lassen die Ergebnisse der Studie offen, zumal die relativ schwach ausgeprägte begrifÀiche Trennschärfe in den Interviews („Vielfalt“, „Wahlmöglichkeiten“, „Wettbewerb“, „Markt“) weitere Differenzierungen in dieser Frage nicht erlauben. Dennoch ist in allen Milieus der Wunsch nach Selbstbestimmung erkennbar, und zwar sowohl als Möglichkeit der Prioritätensetzung je nach den eigenen gesundheitlichen Bedürfnissen, als auch als ein Abwehrrecht gegenüber unerwünschter Einmischung. Sehr unterschiedlich fällt allerdings die Gesundheitskompetenz als Voraussetzung für Selbstbestimmung aus: Sie ist in den Milieus am unteren gesellschaftlichen Rand nur unzureichend vorhanden und bedarf dringend einer Förderung.
18
Einleitung
Eine weitere große Gemeinsamkeit über alle Milieus hinweg stellt der Solidargedanke dar. Dem Grundsatz der Solidarität kommt in allen Milieus eine große Bedeutung zu, wie die qualitativen Interviews der vorliegenden Studie eindeutig belegen. Gefordert wird, Solidarität als wichtigen Leitgedanken im Gesundheitssystem zu erhalten bzw. dort, wo sie derzeit als unzulänglich empfunden wird, wieder herzustellen und zu stärken. Allerdings werden milieuabhängige Unterschiede bzgl. der konkreten Verwirklichung von Solidarität deutlich. Während z. B. die Etablierten eine VersicherungspÀicht für alle und den Ausgleich sozialer Härten als Kernpunkte solidarischen Verhaltens sehen, gibt es bei anderen Milieus Forderungen nach einem „einheitlichen Standard“ in der Krankenversorgung. Besonders die Postmateriellen verstehen sich als die Verfechter von Solidarität, Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit. Allerdings bedeutet Gerechtigkeit und Solidarität hier gerade nicht „Einheitlichkeit“, also identische Leistungen für alle, sondern vielmehr Wahlfreiheit aus einem Katalog von Leistungen. Der Begriff „Gesundheitsreform“ ist negativ besetzt.8 Die Menschen aus allen Milieus äußern Unverständnis darüber, dass es der Politik nicht gelinge, das Gesundheitssystem zu reformieren. Dabei werden durchaus die Schwierigkeiten dieses Unterfangens gewürdigt. Auch wird die Qualität des deutschen Gesundheitssystems in den meisten Milieus nicht unterschätzt; besonders im Vergleich mit anderen Ländern, wird es als gut empfunden.9 Trotzdem bleibt ein tiefes Unbehagen: Die Sorge um Leistungskürzungen und Kostensteigerungen ist über alle Milieus hinweg zu ¿nden, ebenso das tief sitzende Misstrauen, das zur Verfügung stehende Geld werde an der falschen Stelle ausgegeben. Besonders die Mitte der Gesellschaft fühlt sich von der Gesundheitspolitik unter Druck gesetzt. Hier ist die Sorge, dass Gesundheitsleistungen künftig an Qualität verlieren und gleichzeitig die Gesundheitsausgaben deutlich ansteigen könnten, besonders ausgeprägt. Sie fühlt sich als „Opfer“ der Gesundheitspolitik. Aus ihrer Perspektive ist die „Schmerzgrenze“ erreicht. Auch von künftigen Gesundheitsreformen erwarten sie nichts Positives. Sie sind resigniert und enttäuscht. Gerade weil in der Bürgerlichen Mitte Gesundheit ein wichtiges Thema – auch ein Statussymbol – und das Bestreben, die gesundheitliche Situation für sich und 8 Vgl. auch: TK-Meinungspuls Gesundheit 2008. http://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/48292/Datei/1691/forsa_Umfrage_2008.pdf. Der Aussage „Ich bin davon überzeugt, dass diese Reformen positive Auswirkungen auf das Gesundheitssystem hier in Deutschland haben werden“ stimmen 66 % „eher nicht“ bzw. „überhaupt nicht“ zu. 9 Vgl.: Bestmann, Beate / Verheyen, Frank: Patientenzufriedenheit. Ergebnisse einer repräsentativen Studie in der ambulanten ärztlichen Versorgung. WinegWissen 01. Hamburg 2010. VFA-Reformmonitor 2010. Meinungsbild der Bürger zur Gesundheitsreform. www.vfa.de. Januar 2010. Continentale Krankenkasse: Conitentale-Studie 2009: Der EinÀuss des Staates auf das Gesundheitswesen – die Meinung der Bevölkerung. Dortmund 2009.
Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem
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die Familie zu verbessern, sehr ausgeprägt ist, wiegt die Enttäuschung, dass Politik – nach verbreiteter Auffassung in diesem Milieu – nicht das eigene Bestreben unterstütze, besonders schwer.10 Hinsichtlich der Frage der sozialen Ungleichheit ergibt die vorliegende Studie folgendes Bild: Die Menschen in den Milieus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht, besonders jene, die eher modernen und weniger traditionellen Werten anhängen, fühlen sich (in der Selbstbewertung) relativ gesund. Sie sind an Gesundheitsthemen interessiert und über die wesentlichen Gesundheitsfragen auch gut informiert. Sie haben einen ausreichenden Bildungshintergrund und genügend Medienkompetenz, um sich Gesundheitsinformationen zu beschaffen. Sie ordnen auch meistens die Verantwortlichkeiten für die eigene Gesundheit richtig zu, d. h. sie erkennen die eignen Möglichkeiten, etwas für die Gesundheit zu tun, ohne allerdings die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu überschätzen. Sie sind auch in der Lage, ihre Gesundheitsinteressen gegenüber den Akteuren im Gesundheitssystem, z. B. Ärzten, Krankenkassen etc., zu artikulieren und durchzusetzen und tun dies durchaus selbstbewusst. Das Konzept des „mündigen Patienten“ scheint in diesen Milieus am ehesten realisiert zu sein. Gesunde Ernährung, Bewegung und Sport, Prävention usw. gehören meist zum Alltag. Die Compliance ist gut. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wird in diesem Milieus sehr ernst genommen. Schließlich besitzen sie meist auch die ¿nanziellen Ressourcen um in die eigene Gesundheit zu „investieren“. Sie tun dies, in dem sie den Zweiten Gesundheitsmarkt nutzen. Vielfalt und Wettbewerb um Qualität und Preise werden akzeptiert. Die Menschen in den Milieus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht, besonders in jenen, die sich eher den traditionellen Werten verpÀichtet fühlen, tun sich im Umgang mit Gesundheitsfragen tendenziell schwer. Das Interesse an Gesundheitsthemen ist oft gering, ebenso das Informationsbedürfnis. Viele Medien mit Gesundheitsinformationen erreichen diese Milieus kaum. Selbst Fernsehen und Internet, die im Vergleich zu anderen Medien relativ häu¿g genutzt werden, gelingt es nicht, Gesundheitsinformationen für diese Milieus zu vermitteln. Auch kostenlose Broschüren und Zeitschriften, etwa aus Apotheken und Arztpraxen erreichen diese Milieus meist nicht. Auch eine Begegnung „auf Augenhöhe“ mit dem Arzt ist oft nicht möglich aufgrund des sozialhierarchischen Gefälles und aufgrund wechselseitiger Vorbehalte: Nichtanerkennung der Autorität des Arztes und fehlende Compliance auf der einen Seite, Mangel an Empathie, Einsicht und Verständnis für diese Lebenswelten mit ihren begrenzten materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen auf der anderen Seite. Bei den Menschen aus diesen Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Gesundheitsmonitor. Newsletter 3 / 2009, 2. Danach ¿ ndet sich eine skeptische Haltung zur Zukunft des Gesundheitssystems vor allem bei „Angehörigen unterer sozialer Schichten“.
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Einleitung
Milieus ist das Verständnis von Gesundheit und Krankheit oft rudimentär und teilweise falsch. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu beeinÀussen, meist nicht richtig eingeschätzt werden. Ein gesundheitsbewusster Lebensstil wird vielfach nicht gepÀegt, die Möglichkeiten von Prävention werden oft nicht wahrgenommen, oder sie gelten als nicht ¿nanzierbar und nicht machbar angesichts der eigenen Lebensumstände. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit anderen zuzuschieben – dem Arzt, der Kasse, der Gesellschaft, den Lebensbedingungen – ist eine weit verbreitete Haltung. In diesen Milieus ist das Verständnis und Interesse an Gesundheit insgesamt gering. Eigenverantwortung bleibt bei vielen ein nicht realisierter Wunsch. Auch das soziale und kulturelle Umfeld, das gesundheitsbewusstes Verhalten weder fördert noch anerkennt, tragen nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Konsequenzen für das Gesundheitssystem: Vielfalt und Selbstbestimmung stärken Die Ergebnisse der Studie belegen die große Unterschiedlichkeit und Vielfalt von Interessen, Wünschen und Bedürfnissen in Bezug auf Gesundheit in den untersuchten Milieus. Die Studie zeigt, dass die individuelle Haltung zur Gesundheit – trotz aller Gemeinsamkeiten – erhebliche Unterschiede im Detail aufweist, besonders wenn es um die konkrete Umsetzung in eine gesundheitsbewusste Lebensführung geht. Sie belegt, dass die Angebote zur Gesundheit (Informationen, Prävention, Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe, Nutzung des zweiten Gesundheitsmarktes etc.) in sehr unterschiedlichem Maße in Anspruch genommen werden und dass bestimmte Gruppen sie äußerst selten nutzen – weil sie sie nicht kennen oder es vielfache soziokulturelle Barrieren gibt. Die genannten Unterschiede erweisen sich im hohen Maße als milieuspezi¿sch. Es zeigt sich nicht nur eine „vertikale“ Schichtungsdifferenzierung zwischen der sozialen Ober-, Unter- und Mittelschicht, sondern auch innerhalb der Schichten eine „horizontale“ soziokulturelle Differenzierung mit deutlichen Unterschieden zwischen Gesellschaftsgruppen mit eher traditionellen und solchen mit eher modernen Werten und Lebensweisen. Die Ursachen für diese milieuabhängigen Unterschiede liegen nicht nur in unterschiedlichen Formen von Gesundheitsangeboten, sondern vor allem in einer unterschiedlichen Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten (Nachfrage). Unterschiede in den Angeboten resultieren z. B. aus einer Krankenversicherung in der PKV oder in regionalen Versorgungsstrukturen. Da PKV-Versicherte jedoch fast ausschließlich in den gehobenen gesellschaftlichen Milieus zu ¿nden sind, resultieren die meisten Unterschiede – besonders auch in den Milieus der Unter- und der Mittelschicht – offensichtlich aus einem „differentiellen“ Nachfrageverhalten.
Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem
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Dieses individuelle Nachfrageverhalten von Menschen – ohne entsprechende Angebotsvielfalt – wird durch die vorliegende Studie als eine wichtige Ursache für die gesundheitliche Ungleichheit bestätigt. So erweist sich beispielsweise das Interesse an Gesundheitsthemen, das Informationsverhalten, der achtsame Umgang mit der eigenen Gesundheit, der selbstbestimmte und verantwortliche Umgang mit ärztlichem Rat und ärztlichen Anweisungen, die Compliance, die Wahrnehmung von Präventionsmaßnahmen, die Inanspruchnahme des Zweiten Gesundheitsmarktes etc. als milieuabhängig: Oberschichtenmilieus verhalten sich gesundheitssensibler als Unterschichtenmilieus; in modernen Milieus ist die Situation jeweils besser als in traditionellen. In sozial schwachen Milieus summieren sich Benachteiligungen, dies gilt für die Gesundheitschancen genauso wie z. B. für die Bildungschancen. Ungünstige Lebensverhältnisse und Benachteilungen hängen eng zusammen.11 Vor diesem Hintergrund kann die soziale Ungleichheit12 bzgl. Gesundheit als Folge einer „differentiellen“ Nachfrage bei einem im Wesentlichen einheitlichen (und damit wenig den individuellen Bedürfnissen entsprechenden) Angebot verstanden werden. Die (zumindest in der GKV) für alle Versicherten gleichen (bzw. gleichartigen) Gesundheitsangebote gehen offensichtlich nicht genügend auf die Vielfalt der Wünsche und Bedürfnisse auf der Nachfrageseite ein, so dass viele Versicherte und Patienten nicht genügend „passende“ Gesundheitsangebote ¿ nden. Die Folge ist, dass diejenigen, die keine zu ihren Bedürfnissen passenden Gesundheitsangebote ¿nden, ihre Gesundheit nicht im erforderlichen Maße schützen. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird dies als Phänomen der sozialen Ungleichheit wahrgenommen. Der bisher vorherrschende Ansatz im Gesundheitssystem – „gleichartige Angebote für alle“ – verfehlt das Ziel, „gleiche Gesundheit“ (besser: gleiche Gesundheitschance) für alle zu schaffen. Das Scheitern dieses Ansatzes wird umso deutlicher, je differenzierter und vielfältiger sich die Gesellschaft insgesamt entwickelt. In einer pluralen und individualisierten Gesellschaft mit ihrer Vielzahl an unterschiedlichen Lebensstilen und Lebenswelten, wie wir sie in modernen Gesellschaften vor¿nden, muss sich auch in differenzierten Angeboten im Gesundheitssystem (wie auch in anderen Bereichen: z. B. im Bildungssektor) widerspiegeln. Erfolgt diese Anpassung der Angebotsseite an die Differenzierung der Nachfragerseite nicht, kommt es zu Phänomenen sozialer Ungleichheit – und letztlich zu Vgl z. B.: Henke, Stefanie / Römischer, Claudia / Winkler, Christina / Zavarie, Sabine: Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit bei Jugendlichen in München. www.soziologie.uni-muenchen.de. März 2009. AOK-Familienstudie 2010: Routinen und Rituale fördern die Gesundheit der Kinder. http://www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/presse/veranstaltungen/2010/familienstudie_2010_web.pdf. GKV-Spitzenverband: Leitfaden Prävention. Berlin 2010, 11 ff. Lampert, Thomas: Schichtspezi¿sche Unterschiede im Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten. Berlin 2005, 28–31. 12 Vgl.: Helmert, Uwe / Baumann, Karin / Voges, Wolfgang / Müller, Rainer (Hrsg.): Müssen Arme früher sterben ? Soziale Ungleichheit in Deutschland. Weinheim / München 2000, 9. 11
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Einleitung
gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Die bisherigen Maßnahmen zur Minderung der sozialen Ungleichheit13 verlieren unter diesen Bedingungen an Ef¿zienz. Um dem zu begegnen, müssten die gesundheitlichen Angebote stärker als bisher mehr Vielfalt und mehr Wahlmöglichkeiten bieten, so dass die Chance für jeden größer wird, passende Gesundheitsangebote zu ¿nden, die den jeweiligen Gesundheitsbedürfnissen entsprechen. Die Idee, (Chancen-, Teilhabe-) Gerechtigkeit durch Einheitlichkeit zu gewährleisten, ist vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung überholt. Mehr Vielfalt und Wahlmöglichkeiten im Gesundheitssystem kämen den Versicherten und Patienten in allen Milieus (und nicht, wie oft unterstellt wird, nur den sozial gehobenen Milieus) zugute, da sie die milieuspezi¿schen Bedürfnisse zielgruppengenau befriedigen können. Versicherte und Patienten müssen durch mehr Freiräume und mehr Wahlmöglichkeiten im Gesundheitssystem besser als bisher in die Lage versetzt werden, der oft zu hörenden politischen Forderung nachzukommen, auch in Gesundheitsfragen mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Dadurch würde außerdem die überaus kritische Sicht auf „Gesundheitsreformen“, die – wie die Studie belegt – viele Menschen in allen Milieus haben, korrigiert werden können. Versicherte und Patienten erwarten von der Politik mehr Transparenz und „endlich“ Reformen, die über die bisherigen kleinen Schritte hinausgehen, die eher als „Kosmetik“, denn als „echte“ Verbesserungen empfunden werden. Dabei wird erwartet, dass die Interessen der Patienten und Versicherten deutlicher als bisher in den Mittelpunkt rücken und Reformen zu erlebbaren Verbesserungen führen. Menschen in allen Milieus – insbesondere aber Menschen in Milieus am unteren Rand der Gesellschaft sowie zunehmend in der Mitte der Gesellschaft – fühlen sich im jetzigen Gesundheitssystem oft „ohnmächtig“ und den großen Akteuren ausgeliefert. Deshalb begegnen sie den Forderungen der Politik nach mehr „Selbstbestimmung“ und „Eigenverantwortung“ mit großer Skepsis und Kritik – obwohl sie grundsätzlich die Idee, die hinter diesen Begriffen steht, befürworten, zumal in vielen anderen Lebensbereichen die „Souveränität“ des Einzelnen als überaus positiv empfunden wird. Es wird als ein De¿zit gesehen, dass gerade in einem existentiell wichtigen Bereich wie der Gesundheit es bisher nur unzureichend gelingt, die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu schaffen. Auch Begriffe wie (Gesundheits-) „Markt“, „Vielfalt“ und „Wahlmöglichkeiten“ werden deshalb von Menschen kritisch bewertet, weil damit die Sorge verbunden ist, überfordert und übervorteilt zu werden (zumal Situationen oft nicht positiv erlebt werden, in der wohl vom „Gesundheitsmarkt“ und vom „Wettbewerb im Gesundheitssystem“ die Rede ist, diese aber in Wirklichkeit nur rudimentär Vgl.: http://www.bzga.de/themenschwerpunkte/gesundheitlichechancengleichheit/. http://www. gesundheitliche-chancengleichheit.de/.
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Vielfalt und Selbstbestimmung im Gesundheitssystem
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vorhanden sind und nur unzureichend funktionieren). Die Menschen erwarten diesbezüglich Hilfe, die letztlich als „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Gesundheitssystem verstanden wird. Voraussetzung für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ist die Stärkung der Gesundheitskompetenzen und -ressourcen. In allen Milieus ist nicht nur der Wunsch nach Selbstbestimmung verbreitet, sondern auch die Forderung, die Solidarität zu erhalten und zu stärken. Akzeptiert wird also kein Gesundheitssystem ohne Regeln und Kontrolle, das wohl Angebotsvielfalt gewähren, aber die Solidarität gefährden würde, sondern ein reguliertes Gesundheitssystem, das Vielfalt von Gesundheitsangeboten bei guter Qualität und zu bezahlbaren Preisen generiert und gleichzeitig den solidarischen Zusammenhalt sichert. Ein künftiger Ordnungsrahmen des Gesundheitssystems muss also nach der überwiegenden Meinung sozial abgesichert bleiben und gleichzeitig eine größere Angebotsfülle sichern. (Qualitäts-) Standards müssen de¿niert und ihre Einhaltung kontrolliert werden. Dem Staat fällt die Rolle der „Gesundheitsaufsicht“ zu, ohne dass er Versicherte und Patienten „gängelt“. Ein solches „gesellschaftlich verantwortetes individualisiertes Gesundheitssystem“ könnte dazu beitragen, die Qualität der gesundheitlichen Versorgung der Menschen in allen Milieus zu verbessern bzw. zu sichern. Und es würde einen Weg bieten, die soziale Ungleichheit bzgl. Gesundheit zu mindern.
DIE STUDIE: GESUNDHEIT UND K RANKHEIT IM ALLTAG SOZIALER MILIEUS Carsten Wippermann, Heide Möller-Slawinski
Hintergrund
Gesundheit gilt als Fundamentalwert, als ein konditionales, sehr hohes privates und öffentliches Gut in unserer Gesellschaft. Gesundheit ist die Voraussetzung für Lebensdauer und Lebensqualität des Einzelnen. Für die Volkswirtschaft ist die Gesundheit der Bevölkerung – neben Bildung – der wichtigste Produktivfaktor einer Gesellschaft. Daher wird die Gesundheitsversorgung als Teil staatlicher Daseinsvorsorge gesehen. Schon auf der wissenschaftlichen Ebene unterscheiden sich die verschiedenen Versuche, Gesundheit zu de¿nieren, je nach Blickwinkel und Paradigma erheblich. Es gibt keine einheitliche De¿nition des Begriffs Gesundheit. Noch größer werden die Unterschiede, wenn einzelne Menschen oder Gruppen der Bevöl kerung befragt werden. Einstellungen zu Gesund heit und Krankheit, zum Gesundheitsverhalten und zu Erwartungen an das Gesundheitswesen können deshalb nicht isoliert betrachtet werden. Erst der lebensweltliche Kontext, in den Gesundheit und Krankheit eingelassen sind, macht die milieuabhängige Bedeutung verständlich und dokumentiert die Breite des Spektrums sowie die Heterogenität von Verständnissen und Zugängen in der Bevölkerung. Im Gesundheitswesen geht es in erster Linie um das faktische Verhalten des Menschen oder Patienten – wie etwa in Bezug auf Prävention, Arztbesuch, Compliance, Therapie, Versicherungsschutz etc. Noch vor einigen Jahren suchte man die kausalen Ursachen für Erkran kungen sowie Zugänge zum Verhalten (Lebensstil) eines Patienten im Horizont soziodemographischer Merkmale wie Geschlecht, Alter, sozialer Schichtung. Diese Erklärungsfaktoren werden aber der Lebenswirklichkeit einer modernen, kulturell differenzierten Gesellschaft nicht mehr gerecht. Heute wissen wir, dass Menschen gleicher sozialer Lage sehr unterschiedliche Einstellungen und Werte haben – auch zur Gesundheit. Insofern ist die sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Kenntnis von Werten und Lebensstilen wichtig, um das Gesundheitsverhalten der Menschen und hierauf C. Wippermann et al., Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem, DOI 10.1007/978-3-531-92871-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Hintergrund
basierend sinnvolle Strategien für eventuell notwendige Verhaltensänderungen entwickeln zu können. Die verschiedenen Begriffsbestimmungen von „Gesundheit“, die in der Medizin, in der Forschung, im Gesundheitswesen und erst recht im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung in den verschiedenen Schichten und Milieus zu ¿nden sind, zeigen eine große Vielfalt von Ansichten und Erwartungen. Die Diversität ist noch größer, wenn es um die eigene und subjektiv empfundene Gesundheit (und Krankheit) geht. Die verschiedenen Lebensstile lassen darauf schließen, dass in der Bevölkerung die Bereitschaften, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, Gesundheitsrisiken zugunsten von Konsum einzugehen sowie mit einer Krankheit umzugehen, sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Empirische Untersuchungen aus der Public Health-Forschung zeigen, dass der Gesund heitszustand und damit verbunden die Lebenserwartung der Menschen mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht korreliert: Menschen aus unteren Schichten – insbesondere solche mit geringerem Einkommen, niederem Bildungshintergrund oder problematischen Familienverhält nissen – haben im Durchschnitt größere gesund heitliche Probleme und eine deutlich kürzere Lebenserwartung als Menschen aus der gesellschaftlichen Oberschicht. Dazu liegen zahlreiche empirische Forschungsergebnisse vor: Zum Beispiel befassen sich das Statistische Bundesamt (Mikrozensus), das Robert Koch-Institut (Gesundheitsberichterstattung des Bundes), Zentren der empirischen Sozialforschung und Public Health mit entsprechenden Fragestellungen. Die Variabilität des Gesundheitszustandes in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Korrelation mit dem allgemeinen Sozialstatus wird in der politischen Diskussion als sozial ungerecht empfunden. Nach dem aktuellen Kenntnisstand sind die Gründe für die sozialen Unterschiede bezüglich Gesundheit jedoch noch wenig verstanden. Zur weiteren Aufklärung bieten sich eingehende Untersuchungen auf Grundlage des lebensweltlichen Gesellschaftsmodells der Sinus-Milieus an. Dieses bietet eine differenziertere Herangehensweise an diese komplexen Fragestellungen, denn es berücksichtigt nicht nur Merk male der sozialen Lage und Schichtzugehörigkeit (Geschlecht, Ein kom men, Bildung, Beruf, Arbeitswelt, Wohnlage etc.), sondern auch Wertorientierungen (Präferenzen, Interessen, Einstellungen) und Lebensstile (Alltagsroutinen, Rituale, soziale Beziehungen). Die Menschen in den verschiedenen Lebenswelten (Milieus) verfügen über ganz unterschiedliches materielles, soziales und kulturelles Kapital, das prägend ist für das Verständnis von Gesundheit und den Umgang mit Krankheit. In der vorliegenden repräsentativen empirischen Studie wurden dazu die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bevölkerung untersucht zu…
Hintergrund ƒ ƒ ƒ ƒ
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Gesundheit und Krankheit, medizinischer Versorgung, Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen, Bedingungen und Entwicklungen im Gesundheitssystem.
Die Studie ist repräsentativ für die deutsche Bevöl kerung und wurde nach der Methodologie der Triangulation sowie der Grounded Theory durchgeführt (Untersuchungsanlage in Kapitel 4). ƒ
ƒ
Grundgesamtheit der qualitativ-ethnomethodologischen Unter suchung in Form von 120 narrativen mehrstündigen Einzelinterviews sind Männer und Frauen im Alter ab 18 Jahren aus allen sozialer Lagen (Einkommen, Bildung) und sozialen Milieus. Ergänzend dazu wurden fünf bereits vorliegende quantitativ-repräsentative Erhebungen analysiert zur Einstellung zum Stellenwert von Gesundheit, zum aktuellen Krankheitsstand (subjektive Prävalenz, burden of disease), zum Gesundheits- bzw. Krank heitsverhalten, zu Präventionen, zum Infor mationsverhalten sowie zur Krankenver sicherung (gesetzlich, privat, zusatzversichert). Die Stichproben dieser Untersuchungen sind mit 31.179 Fällen „VerbraucherAnalyse 2009“1, 20.165 Fällen der „Typologie der Wünsche Intermedia 2009“ sowie 20.154 Fällen der „Typologie der Wünsche Intermedia 2010“2, 5.030 Fällen (AACC)3 und 2.000 Fällen (Trendmonitor)4 hinreichend groß und gewährleisten empirisch valide Befunde.5
Um das gesamte Spektrum der Einstellungen zu und Erfahrungen mit Gesundheit, Krankheit und dem Gesundheitswesen zu erfassen, wurde der Ansatz der Lebensweltforschung gewählt, der neben soziodemographischen Merk malen auch soziokulturelle Merkmale berücksichtigt und dicht beschreibt. Zugrunde lag der Untersuchung das aus der Lebensweltforschung hervorgegangene Modell sozialer Milieus (auch: Sinus-Milieus). Soziale Milieus konstituieren sich über drei HauptJährlich durchgeführt Markt-Media-Studie der Axel Springer AG und der Bauer Media Group, repräsentativ für die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. In diese Studie ist das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus integriert und steht dem Sinus-Institut für Analysen zur Verfügung. 2 Jährlich durchgeführt Markt-Media-Studien von Burda Community Network, repräsentativ für die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. In diesen Studien ist das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus integriert und steht dem Sinus-Institut für Analysen zur Verfügung. 3 Bevölkerungsrepräsentativ Studie des Sinus-Instituts im Auftrag des BMBF. 4 Bevölkerungsrepräsentativ Eigenstudie des Sinus-Instituts. 5 Die Stichproben der verwendeten Studien haben als Grundgesamtheit die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. Zur Reanalyse wurde die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 18 Jahren berücksichtigt (daher reduziert sich in den Tabellen und Gra¿ ken die Fallzahl geringfügig).
1
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Hintergrund
dimensionen: Lebensstil (Handeln, Verhalten, Routinen, Gewohn heiten), soziale Lage (Einkommen, Bildung, Beruf, Wohnsituation, Alter) und Werte (Kognitionen: Einstellungen, Erfah rungen, Orientierungen). Die Sinus-Milieus sind das Ergebnis von fast vier Jahrzehnten kontinuierlicher sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Sozialstrukturanalyse des Milieumodells basiert auf der Lebensweltanalyse unserer Gesellschaft. Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Grundlegende Orientierungen gehen dabei ebenso in die Analyse ein wie der Alltag in Bezug auf Arbeit, Familie, Freizeit, Beruf, Geld, Konsum, Medien, Kunst und Kultur, Heimat, Politik sowie Gesundheit. Das Milieumodell von Sinus wird im Rahmen einer eigenen Programmforschung jedes Jahr empirisch überprüft und – gemäß dem demographischen und kulturellen Wandel – neu justiert. Pro Jahr werden mehr als vierhundert qualitative narrative Einzelinterviews, etwa hundert mehrstündige Gruppenwerkstätten sowie etwa 100.000 standardisierte Repräsentativinterviews in mehreren unabhängigen Stichproben durchgeführt.
Vor diesem ganzheitlichen Hintergrund lassen sich nicht nur unterschiedliche Alltagskulturen abbilden, sondern auch Lebensverläufe, die milieuspezi¿sch je anders gestaltet bzw. verarbeitet werden. Die folgende Gra¿k illustriert das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus.
Hintergrund
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Hintergrund
Zentrale Befunde
Milieuübergreifende Befunde „Gesundheit ist das Wichtigste im Leben“: Fast jeder der in dieser Studie Befragten artikulierte diesen Satz. Auf Gesundheit will niemand verzichten. Dennoch wird Gesundheit – gerade im Alter – durch Krankheit begrenzt. Das Spektrum reicht von einfachen Be¿ndlich keitsstörungen bis hin zu schweren chronischen Erkrankungen. Umgekehrt gibt es niemanden, der absolut frei ist von Krankheiten. Ein Ziel des Einzelnen ist in der Regel, ein Mehr an Gesundheit im Verhältnis zu Krankheit zu erreichen. Bei Krankheit geht es um Belange, die für jeden Einzelnen die unmittelbare kör perliche, geistige und psychische Be¿ndlichkeit betreffen. Gesundheit ist nicht aufschiebbar, nicht kompensierbar, nicht substituierbar. Gesundheit ist die elementare Grunddisposition für Lebensdauer, für Lebensgestaltung und Lebensqualität des einzelnen Menschen, für seine Partizipation und Chancen in der Gesellschaft. Die Studie zeigt: Diesen Grundsatz haben Menschen in allen Milieus; doch die konkreten Wahrnehmungen, Beurteilungen und praktischen Konsequenzen sind zwischen den Milieus sehr verschieden. Noch gibt es in der Bevölkerung (in allen Milieus) ein pragmatisches Urvertrauen, dass es mit dem Gesundheitswesen immer irgendwie weitergehen wird. Auf der einen Seite befürchtet man aufgrund der eigenen Erfahrungen und der medialen Berichterstattung, dass Krank heit für den Einzelnen immer riskanter wird, das Gesundheitssystem aber immer weniger Kosten übernehmen kann, was den Einzelnen emotional und ¿nanziell noch mehr belasten wird. Auf der anderen Seite wollen die Menschen darauf vertrauen, dass alles doch irgendwie gut gehen wird. Doch dieses Vertrauen ist in den vergangenen zehn Jah ren – so die subjektive Einschätzung bei der Mehrzahl der Menschen – massiv erschüttert und betrogen worden. Der aktuelle zeitgenössische Blick auf das Gesundheitssystem ist von drei Prismen bestimmt: Intransparenz des Systems, Ohnmacht des Einzelnen, Zukunftsangst. Angesichts der überragenden Bedeutung von Gesundheit für den Einzelnen wie auch die Gesellschaft, ist es für die Akzeptanz des Gesundheitssystems besorg niserregend, dass die Menschen heute über mangelnde Transparenz und Heteronomie, einem Gefühl des Ausgeliefertseins bei der Gesundheitsversorgung klagen, massiven Missbrauch und Verschwendung von Geld vermuten, Gesundheitsreformen primär als Wellen neuer Zumutungen wahrnehmen und keine Reform als echte Lösung von Dauer begreifen, sondern als „Flickschusterei“ an einer Materie, die den beteiligten Akteuren selbst über den Kopf gewachsen ist.
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Zentrale Befunde
Die Menschen gehen davon aus, dass zum Funktionieren des Gesundheitswesens eine Viel zahl von Kompetenzen, Organisationen und Unternehmen notwendig sind aus verschiedenen Professionen: Medizin, Pharmazie, Epidemiologie, Krankenkassen, Apotheken, Versicherungswesen, Wirtschaft, Technologie, Informatik, Psychologie, Verwaltung, Recht, Ethik. Es gibt Hausärzte, diverse Disziplinen von Fachärzten, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, ambulante Gesundheitszentren, (Kreis-, Landes-) Krankenhäuser, Universitätskliniken, RehaKliniken, ambulante PÀegedienste u. ä. Nimmt man den sogenannten Zweiten Gesundheitsmarkt hinzu, weitet sich das Feld, kom men Fitness- und Ernährungsindustrie, Gesundheitsratgeber und Gesundheitsverlage mit ihren Produktspar ten, Märkten und Unterneh men hinzu. Gehört haben einige schon von der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung, dem Gemeinsamen Bundesausschuss u. a. Das Gesundheitswesen ist in der Wahrnehmung der meisten Menschen in allen Milieus nur für Experten verstehbar. Aber es besteht auch keine Notwendigkeit, die Funktionsmechanismen des Gesundheitssystems, das Innere und die Verwoben heit dieser komplexen Gesellschafts-Kybernetik zu verstehen. Es reicht dem Einzelnen zu wissen, dass das System funktioniert und ihm im Ergebnis nützt. Genau in Bezug auf diese Kriterien ist die Bevölkerung aber massiv beunruhigt, auch verunsichert und zunehmend misstrauisch. Bei den Menschen entwickelt und festigt sich die Einstellung, dass die aktuelle Gesundheitsversorgung ihren individuellen Präferenzen und ihrem Emp¿ nden von Nützlichkeit längst nicht mehr gerecht wird. Dazu haben in den letzten zwei Jahrzehnten auch die zahlreichen, in immer kürzeren Intervallen diskutierten und umgesetzten Gesundheitsreformen beigetragen. Schon in der Geburtsstunde einer jeden Reform standen ihre Unzulänglichkeit und ihr zeitliches Moratorium fest. Spontan gehen die Menschen aller Milieus weiterhin davon aus, dass im Gesundheitssystem die Experten aus allen benötigten Kompetenzfeldern versammelt sind, die für Schutz, Reliabilität, Solidität und Innovationen sorgen. Fast täglich hat man Berührung mit dem Gesund heitswesen durch Arztbesuch und Apotheke, Medikamente und Präventionen. In diesen Kontakten bestätigt sich die Ahnung, dass dahinter eine gigantische Maschinerie, ein arbeitsteilig operierender Organismus steht. Das müsste zutiefst beruhigen, tat es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik auch, doch das Ver trauen, bei persönlicher Krankheit sowie bei Krankheit von Angehörigen mit den individuellen Bedarfen gut aufgehoben zu sein und blind ver trauen zu können, schwindet immer mehr. Heute dominiert bei den Menschen quer durch alle Milieus die medial vermittelte und auch eigene Erfahrung, dass das Gesundheitssystem kompliziert und (zu) teuer geworden ist, dass der verschlungene Apparat kaum mehr zu ¿nanzieren ist, dass für die Versicherten der Beitragssatz immer weiter steigt und angesichts des demographischen Wandels noch stärker steigen wird, dass die Versorgungssicherheit nach dem Gleichheitsprinzip längst nicht mehr gilt, dass wir heute schon
Milieuübergreifende Befunde
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in einer Zweiklassen-Medizin leben, gar in einer Dreiklassen-Medizin mit dem Segment der Prekären, einem Sammelbegriff für Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Migranten, Flüchtlinge u. a. Nahezu einhellig in den Milieus herrscht die Meinung, dass aus Kostengründen schon jetzt medizinisch notwendige oder sinnvolle Behandlungen nicht mehr übernommen werden. Die Grenze zwischen einer notwendigen und nichtnotwendigen Behandlung erscheint den Menschen oft unscharf, nicht objektiv feststellbar und unterliegt der Expertise von professionellen Gutachtern und der Logik der Versicherungskonzerne – meistens zu Ungunsten des einzelnen Patienten, der hier kaum Macht und Lobby hat. Dies ist ein empfundener Verlust von Sicherheiten und erzeugt bei vielen massive Ängste: Sie fühlen sich ohnmächtig, einem System ausgesetzt, das den Menschen nur noch als Kostenfaktor begreift. Die besorgte Perspektive ist: Menschen werden im Krankheitsfall künftig wohl weiter versorgt, erhalten aber bestenfalls das medizinisch Notwendige, ohne jedoch menschliche Zuwendung, Nähe, Verständnis zu erfahren. Die medizinische Versorgung ist aber nur eine Säule bei der Behandlung und Genesung; genauso wichtig sind menschliche Nähe und verständnisvolle Zuwendung und Zeit des Personals für den Patienten: Eine große Angst ist, dass in Zukunft die Apparatemedizin immer wichtiger wird, dass aber die reale Zeit sinkt, in der sich Ärzte und PÀegepersonal in Praxen und Kliniken dem Patienten zuwenden können. Die Folge ist, dass sich der Kranke mit seinen Ängsten und Nöten immer mehr alleine gelassen fühlt. Dadurch sinkt in einigen Milieus die Compliance, wenn Menschen sich als austauschbare „Kostenfaktoren“ fühlen, deren individuelles Schicksal und Be¿nden letztlich gleichgültig wird. Hier spüren viele Unbehagen und Ungerechtigkeit. Zu fragen ist daher, ob diese fak tische Wirklichkeit einer Zweiklassen-Medizin einer Gesellschaft gerecht wird, die in vielen Bereichen von Pluralität und Multioptionalität geprägt ist. Die Mehrheit der Befragten stöhnte in ihrer ersten Reaktion auf das Gesundheitswesen: „Alles“ sei intransparent, die Versorgung mit besten (neuen) Geräten und Medi kamenten nicht Àächendeckend gewährleistet, so dass nur derjenige eine optimale gesundheitliche Versorgung bekommt, der über hohes Ein kommen und Vermögen, Bildung und soziales Kapital verfügt. Nicht nur bei Älteren, sondern auch bei Jüngeren dominiert die Gewissheit, dass die Zeiten unbekümmerter Versorgungssicherheit vorbei sind. Erst mit Blick auf die USA und andere europäische Länder, noch stärker mit Blick auf Länder in Asien oder der sogenannten Dritten Welt beginnt man, das deutsche Gesundheitssystem zu loben, artikuliert Stolz und Anerkennung angesichts der Pionierkraft Deutschlands zu Beginn der Industrialisierung und in der Gründungszeit der Bundesrepublik, fühlt sich insgesamt beschützt vor großen Epidemien. Der Blick in die Vergangenheit und in andere Länder relativiert das Unbehagen am aktuellen Gesundheitssystem jedoch allenfalls auf einer abstrakten
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Zentrale Befunde
ReÀexionsebene, doch nicht auf der Ebene der im Alltag präsenten Erfahrungen und Unsicherheiten, Kritikpunkte und Ängste. Solches ließe sich als „Jammern auf hohem Niveau“ oder als nostalgisches Zurücksehnen zum Gesundheitssystem der 1970er / 1980er Jahre begreifen und damit abwehren. Es kommt aber darauf an, die Menschen heute ernstzunehmen, sie aus ihrer Erfah rung und Sicht zu verstehen. Und in diesen drücken die Menschen heute aus, dass das aktuelle Gesundheitssystem ihrer Alltagswirklich keit nicht mehr entspricht. Milieuspezi¿sche Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit Der Begriff „Gesundheit“ hat für die Menschen heute nicht mehr dieselbe Bedeutung, sondern spannt ein weites, heterogenes Spek trum auf. Das ist eine Folge des langfristigen soziokulturellen Wandels von Lebensauffassungen und Lebensweisen. Die Bereitschaft, etwas für seine Gesundheit zu tun oder Gesundheitsrisiken einzugehen, ist je nach Milieu anders – und zwar abhängig von Wer ten und Zielen, Lebensauffassungen und Lebensweisen, genutzten Produk ten und gemachten Erlebnissen. Gesundheit ist in jedem Milieu je anders eingebettet, hat eine eigene Bedeutung und Funktion. Entsprechend gibt es eine Vielzahl von Perspektiven auf das Gesundheitssystem. Die Bereitschaft und die Möglich keiten zur Über nahme von (Mit-) Verantwortung sind in den Milieus aufgrund der jeweiligen kulturellen, sozialen und materiellen Ressourcen sehr verschieden. Dies spiegelt sich in unterschiedlicher Sensibilität für gesund heitliche Probleme, in der partnerschaftlichen und familiären Anamnese, in vielfältigen Konzepten des gesunden Lebens, in den Statistiken der Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen und schließlich in hoch unterschiedlicher Compliance bei medizinische Behandlungen. Zur Messung von Gesund heitseinstellungen in der Bevölkerung wurde im Rahmen einer quantitativ-repräsentativen Befragung die Zustim mung zu vorformulierten Aussagen erfragt.6 Die hier exemplarisch ausgewählten 15 Statements decken natürlich nicht das breite Spektrum mit den vielen Tiefendimensionen zu Gesundheit ab, sind aber Indikatoren für wichtige Dimensionen und illustrieren 6 Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009. Um den Grad der Zustimmung zu erfassen, wurde eine 6-stu¿ge Ordinalskala eingesetzt (1 = „stimme überhaupt nicht zu“ bis 6 = „stimme voll und ganz zu“). In der folgenden Tabelle sind die beiden höchsten Zustimmungskategorien (5+6) zusammengefasst. Insofern sind die Prozentwerte nicht absolut interpretierbar, sondern in Bezug auf die vorgegebene Skala relativ zu interpretieren. Würde man die Werte 4+5+6 zusammenfassen, würden die Prozentwerte höher ausfallen, doch das Ranking der Statements bliebe gleich. Die beiden mittleren Kategorien (3 = leichte Ablehnung; 4 = leichte Zustimmung) können nicht als klare Zustimmung gelten (weil eine eindeutige Neutralkategorie fehlt), so dass hier nur die zwei oberen Zustimmungswerte berechnet wurden.
Milieuspezi¿sche Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit
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Klare Zustimmung (Werte 5+6 auf einer 6-stu¿gen Skala)
GESAMT
die unterschiedlichen Zugänge der Menschen zu Gesundheit und Krankheit. Die folgende Tabelle zeigt dazu, dass es statistisch sig ni ¿ kante Unter schiede zwischen einzelnen Milieus gibt. (Überdurchschnittlich hohe Zustimmungswerte sind hervorgehoben). Hedonistische Milieus
Gesellschaftliche Leitmilieus
Traditionelle Milieus
Mainstream Milieus
ETB
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED+
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Preiswertere Medikamente sind oft genauso gut wie teure
49,0
48,0
46,9
47,5
43,1
47,0
53,1
52,5
51,8
39,7
Ich ¿nde, dass sich viele Ärzte nicht ausreichend Zeit für ihre Patienten nehmen
40,6
43,8
37,6
41,9
37,3
36,7
43,6
42,3
42,8
33,9
Bewährte Medikamente verwende ich bei Bedarf weiter, auch wenn ich sie jetzt nicht mehr vom Arzt verschrieben bekomme
40,3
40,0
41,4
44,2
42,8
43,3
41,4
38,5
35,6
32,0
Wenn ich mich mal nicht wohlfühle bzw. krank bin, versuche ich meistens mit Medikamenten, die ich ohne Rezept in der Apotheke bekomme, etwas dagegen zu tun
40,3
43,9
47,4
48,8
40,0
31,3
44,2
35,4
41,7
34,2
Ich bin sehr darauf bedacht, durch mein Verhalten und meine Lebensweise Krankheiten vorzubeugen
36,4
44,8
45,3
39,1
45,7
36,8
34,0
26,1
29,8
26,0
Ich achte auch bei ganz alltäglichen Dingen auf meine Gesundheit
36,0
43,8
44,3
36,4
43,2
39,6
33,7
25,7
27,6
26,6
Ich nehme nur Medikamente ein, wenn ich bereits ohne Erfolg versucht habe, meine Beschwerden mit anderen Hausmitteln zu beseitigen
34,6
35,9
42,9
34,1
38,4
32,7
33,1
29,7
34,9
29,2
Beim Kauf von Medikamenten achte ich ganz besonders 33,8 auf den Preis
34,6
28,5
30,2
26,4
31,6
35,7
37,3
35,4
31,9
36
Zentrale Befunde
Wenn ich zum Arzt gehe, bitte ich ihn meist, mir Medikamente zu verschreiben, die mir bekannt sind oder mit denen ich gute Erfahrungen gemacht habe
33,4
35,5
30,4
30,6
34,4
38,1
35,0
30,8
28,5
27,9
Ich informiere mich häu¿g aus Medien über Gesundheitsfragen
27,8
31,1
30,8
22,5
34,6
36,6
25,5
21,0
19,9
22,4
Ich betreibe aktive Gesundheitsvorsorge, um meine Leistungsfähigkeit zu erhalten
26,1
35,7
32,2
30,3
32,9
24,5
23,0
15,6
21,1
23,1
Ich versuche durch vorbeugende Präparate meine Gesundheit möglichst zu erhalten
23,0
29,1
23,6
20,7
25,9
23,8
22,2
17,9
20,5
22,1
Ich lasse mich lieber in der Apotheke beraten, als dass ich zum Arzt gehe
20,9
27,0
20,9
25,8
19,6
16,7
20,3
16,9
19,8
22,2
Ich verwende bevorzugt homöopathische Präparate
16,5
20,4
38,8
21,1
22,2
13,8
12,3
11,5
19,7
19,8
Wenn ich zum Arzt gehe, habe ich mich zuvor genau über mögliche Behandlungsmethoden informiert
16,3
25,6
15,8
15,8
16,6
12,4
16,4
11,9
13,4
16,8
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren (19.294 Fälle) * Das Antwortverhalten von „Hedonisten“ ist – das zeigen qualitative Kommunikationstests – stets mit großer Vorsicht zu interpretieren. Insbesondere in quantitativ-standardisierten Interviews (wo das erfasst Datum nur ein „Kreuz“ ist), kann das Antwortverhalten nicht relativiert werden (was der Vorteil qualitativer Erhebungsmethoden ist). Hedonisten gehen in eine Befragung zum Teil mit der Einstellung zu übertreiben, sozial erwünschte oder provokante Antworten zu geben. In der Regel überschätzen sie ihr eigenes Engagement und Informationsverhalten.
Bereits auf Basis von Milieusegmenten zeigt sich eine symptomatische Differenz, die auf eine grundlegende Disposition verweist. ƒ
So bekunden die Leitmilieus der Etablierten, Postmateriellen und Modernen Performer das stärkste Involvement (Zuwendung, Einbezogenheit, Engagement) in Bezug auf Information, Selbstachtsamkeit und Prävention ihrer Gesundheit.
Milieuspezi¿sche Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit ƒ ƒ ƒ
37
Das traditionelle Milieusegment der Konservativen und Traditionsverwurzelten zeigt ein leicht überdurchschnittliches Gesundheitsbewusstsein mit dem Schwerpunkt auf Vorbeugung und Vertrauen auf das Bewährte. Die Mainstream-Milieus der Bürgerlichen Mitte und der Konsum-Materialisten betonen vor allem ihre Preissensibilität. Die hedonistischen Milieus der Hedonisten und Experimentalisten zeigen im Vergleich zu anderen Milieus das geringste Gesundheitsbewusstsein.
Liest man diese Einstellungen nicht nur „zeilenweise“, sondern die individuellen Pro¿le der einzelnen Milieus („spaltenweise“), dann deutet sich bereits an, dass jedes Milieu eine spezi¿sche Einstellung und Haltung zur eigenen Gesundheit hat, diese kultiviert und tradiert. Es liegt aber nun in der Natur standardisiert erhobener quantitativer Daten7, dass diese nur graduelle Unterschiede messen (können), nicht aber die spezi¿schen (Be-) Deutungshorizonte, Zugänge und paradigmatischen Perspektiven. Dies leistet – ergänzend und grundlegend – die qualitative Untersuchung. Die sozialwissenschaftlichen Befunde zum Alltagsverständnis von Gesundheit und Krankheit der Bevölkerung sowie zur Perspektive auf das Gesundheitssystem zeigen: Das aktuelle Gesundheitssystem ist nicht kommensurabel mit den milieuspezi¿schen Bedarfen und verliert an der notwendigen Legitimation seitens der (aktuellen und potenziellen) Patienten. Zwar gibt es eine große Wertschätzung der neueren medizinischen Erkenntnisse und Technologien in den Bereichen der Prävention, Diagnose und Therapie. Insbesondere schätzt man für den Patienten „sanftere“ Therapiemethoden und sieht darin einen gewaltigen Unterschied schon im Vergleich zu vor zwanzig Jahren. Ebenso entsprechen die – in manchen Bereichen – möglichen Wahlen zwischen verschiedenen Diagnose- und Therapieverfahren dem normativen Selbstverständnis, hinter das man nicht zurück will. Doch zum einen ist das Vertrauen der Orientierung des medizinischen System auf den (einzelnen) Patienten brüchig. Der Verdacht gewinnt an Bedeutung, dass die (notwendige und geforderte) „Ef¿zienzlogik“ sowie die „Eigenlogik des Gesamtsystems“ Gesundheit mit den verzahnten Teilsystemen Medizin, Technologie, Pharmazie, Technologie, Versicherungswesen u. a. den Patienten oft nur (!) als Ressource betrachten. So sehen sich viele in der Situation, sich zur Vorsorge und Behandlung einem Apparat überantworten zu müssen, dem sie nicht vertrauen und von dem sie ahnen, dass – mit dem Schleier systematischer Intransparenz – Abläufe installiert sind, die nicht im Sinne und Interesse der Patienten sind. 7 Voraussetzung ist Bedeutungsäquivalenz der Fragen und Statements: Jeder Befragte muss die Formulierung in ihrem Sinn absolut gleich verstehen. Das ist die notwendige Voraussetzung, um statistisch auswerten zu können.
38
Zentrale Befunde
Zum anderen ist das tatsächliche Verhalten im Alltag im Sinne eines gesundheitserhaltenden (bzw. nicht die Gesundheit „unnötig“ riskierenden) präventiven Lebensstils in den einzelnen Milieus – auch bei gleichem Alter und Geschlecht – sehr unterschiedlich. Ebenso sind die Bereitschaft zur Vorsorgeuntersuchung sowie die Compliance bei der Therapie milieuspezi¿sch sehr verschieden. Gründe dafür sind bei einigen – auch hier abhängig von der Lebenswelt: (1) persönliche Trägheit; (2) Hürden im Alltag in Form häuslicher, familiärer, beruÀicher Kulturen und Strukturen; (3) aber auch bewusste ReÀexion und Distanz zu der vom Arzt geratenen Therapie. Die folgende Gesellschaftskarte (S. 39) gibt eine Übersicht über das Spektrum unterschiedlicher Vorstellungen von Gesundheit und Weisen des Umgangs mit Krankheit und Gesundheit. Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit – zusammenfassende Darstellung In den Milieus bündeln sich soziale, psychische und somatische Risikofaktoren wie auch Schutzfaktoren in spezi¿scher Weise und mit deutlichen Unterschieden zwischen den Gruppen. Ebenso bündeln sich in den Milieus Faktoren, die die Compliance bei der Behandlung, bei Vorsorge, Früherkennung und Sekundärprävention steuern. Und entsprechend sind auch die Gegebenheiten, die mehr oder weniger institutionelle Hilfestellung, Unterstützung und Versorgung notwendig machen, milieuspezi¿sch. Eine soziopsychologische Lokalisation von Risiko- und Schutzfaktoren lässt wiederum Rückschlüsse zu auf die Prävalenz und Ätiologie von Krankheitsbildern. Im Folgenden wird für jedes Milieu die markante Topograpaphie in Bezug auf den milieutypischen Begriff von Gesund heit, den Umgang mit der eigenen Gesundheit und die Konsequenzen für das Gesundheitssystem skizziert. Eine detaillierte Milieubeschreibung folgt in Kapitel 3. (Im hinteren Teil wird jedes Milieu ausführlich und systematisch beschrieben). Wir beginnen im traditionellen Segment, im Milieu der „Konservativen“ und im Milieu der „Traditionsverwurzelten“. Es folgen die „Konsum-Materialisten“, ein Milieu, das demographisch in der unteren Mittelschicht und Unterschicht gelagert ist (wie ein großer Teil der Traditionsverwurzelten), jedoch deutlich moderner ist in teils unbewusster, teils demonstrativer Traditionsvergessenheit, das mithalten will mit den Entwicklungen der gegenwärtigen Erlebnis- und Mediengesellschaft, jedoch über nur geringes monetäres und kulturelles Kapital verfügt und von der Mitte der Gesellschaft abgehängt wird.
Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
39
40
Zentrale Befunde
Wir skizzieren dann das Milieu der „Postmateriellen“, das zur gehobenen sozialen Schicht gehört. Dieser Sprung von den Konsum-Materialisten zu den Postmateriellen hat einen kulturellen Hintergrund und damit einen spezi¿schen Grund: Diese beiden Lebenswelt stellen innerhalb der ganzen Milieulandschaft die stärksten Antipoden dar, pÀegen „Feindbilder und Stereotypen“ zur Abgrenzung voneinander: Für Konsum-Materialisten sind die Postmateriellen die intellektuellen Besser wisser und nörgelnden Kritiker all dessen, was Spass macht und praktisch ist. Für Postmaterielle sind Konsum-Materialisten der moder ne „Mob“, Menschen, die – anders als das traditionelle Proletariat – rückhaltlos den Verlockungen der Unterhaltungsindustrie folgen, Kritiklosigkeit und Erlebniskonsum zum Lebensprinzip erhoben haben, dabei aber traditionelle Tugenden wie Bescheidenheit, PÀicht, Nachhaltigkeit über Bord geworfen haben. Wir bleiben anschließend im gehobenen Segment der Leitmilieus und gehen zunächst zu den Etablierten, die über das größte materielle Kapital verfügen: Das selbstbewusste Establishment mit ausgeprägten Exklusivitätsansprüchen. Typisch sind Machbarkeitsdenken, ein individualistisches Leistungsethos sowie daran geknüpfte Gerechtigkeitsvorstellungen. Den Etablierten in Bezug auf Leistungswerte und Pragmatismus sehr ähnlich, doch im Lebensalter und soziokulturell jünger ist das Milieu der „Modernen Performer“, das sich als junge unkonventionelle Leistungselite versteht sowie als technologische und ökonomische Avantgarde. Für dieses Milieu ist es wichtig, beruÀich und privat intensiv zu leben, Àexibel, mobil und multioptional zu bleiben (sich keine Optionen nehmen lassen, für alles offen sein, der Erste sein). Wir beschreiben anschließend die Lebenswelt der „Bürgerlichen Mitte“, dem größten Milieu, welches das Zentrum und gleichsam das Herz unserer Gesellschaft bildet. Das Wertespektrum ist weniger pro¿liert als bei Konservativen, Etablierten, Postmateriellen, Modernen Performern; es ist der Versuch, eine harmonische Gleichzeitigkeit der verschiedenen Werte zu leben. Bemerkenswert ist die parallele Adaption von traditionellen, modernen und postmodernen Werten, denen jeweils eine moderate, nicht-extreme Bedeutung zugewiesen wird und die in das bestehende Selbst- und Weltbild integriert werden. Typisch ist in Bezug auf Werte die Maxime der Non-Exklusion. Was aus der Perspektive anderer Milieus als unpro¿liert, schal, langweilig, konturlos erscheint, ist aus Sicht der Bürgerlichen Mitte eine besonders hohe Aufmerksamkeit und Wertschätzung für verschiedene Orientierungen. Es sind auch Dämpfungen extremer Strömungen: Die positiven Aspekte sowohl traditionalistischer Haltungen als auch der exzent rischen Avantgarde werden aufgegriffen, ihre Peaks (als per se negative Aspekte) abgeschnitten. So werden diese Strömungen durch „moderate Adaption“ gesellschaftsfähig. Diese Alltagsphilosophie der aufmerksamen Beobachtung verschiedener Trends und der moderaten Adaption im Allgemeinen wie im Gesundheitswesen ist eine Leistung, die Aufgeschlossenheit und viel Energie erfordert. Man schaut offen in alle Rich-
Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
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tungen und sortiert, welche Trends man in ein zel nen Sphären des alltäglichen Handelns aufgreift. Insofern ist die Bürgerliche Mitte ein echtes Integrationsmilieu, dem eine Schlüsselfunktion zukommt für die Frage, welches Gesundheitssystem mehrheitsfähig und zukunftsfähig ist. Danach folgt die kurze Beschreibung der „Hedonisten“, einem heute keineswegs mehr nur jungen Milieu. Dieses Milieu versteht sich als krude Subkultur, verweigert sich den Konventionen und Normen der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, gefällt sich in Provokationen und ist stark an kruden Erlebnissen orientiert. Es kommt darauf an, hier und heute Spass zu haben, sich nicht um das Morgen zu scheren, sondern intensiv zu leben. Das modernste Milieu der „Experimentalisten“ folgt abschließend: Für dieses Milieu, das sich als kreative und kulturelle Avantgarde der Gesellschaft begreift, bedeutet Lebensqualität, den eigenen „inneren Kern“ zu entdecken und diesem gemäß (intensiv) zu leben: Das geschieht durch das experimentelle Erproben unkonventioneller Stile, durch den virtuos-kreativen Umgang mit Regeln und das Durchbrechen von Tabus, durch geistige und körperliche Grenzerfahrungen und durch den Wechsel von Realitätsebenen. Experimentalisten erleben Verhaltenskodizes und Routinen als Beschränkung in der kreativen Entwicklung eines individuellen Stils, denn diese lassen dem Einzelnen wenig Spielraum zur Selbstentdeckung. Umso klarer ist die Abgrenzung von starren Strukturen, rigidem Sicherheitsdenken und kleinbürgerlichen Idyllen; aber auch von der Fixierung auf beruÀichen Erfolg, Geld und Karriere. Dem setzen Experimentalisten ihr eigenes Leitmotiv entgegen: Entdecken der vielfältigen Aspekte des Lebens (der Welt und des Selbst); Entfalten der eigenen Talente und Möglichkeiten. Lebensziel ist nicht, irgendwo anzukommen und sich dort für den Rest des Lebens auszuruhen (typisch für die Bürgerliche Mitte), sondern immer in Bewegung zu bleiben, denn sonst verliert man das Gefühl zu „leben“. „Konservative“: Mens sana in corpore sano8 Die Einstellung von Konservativen zu Gesundheit und zum Gesund heitssystem wurzelt in der milieutypischen Ich-Identität und Welt perspek tive. Elementar ist für sie eine moralisch und funktional begründete und sozialpolitisch orientierte 8 Diese bekannte, oft populär gebrauchte Formel verwenden einige Konservative, um bewusst auf die kulturhistorischen und philosophisch begründeten Wurzeln eines anthropologischen Prinzips zu verweisen. Dazu kommt, dass es derzeit bei Konservativen eine Konjunktur von Latinismen gibt, zur Offensive gegen modische Trends der Relativierung und Subjektivierung (bei der die aktuelle hedonistische Be¿ ndlichkeit oder der taktische Opportunismus zählen), aber auch als Mittel zur Distinktion gegenüber weniger kulturell und intellektuell Gebildeten.
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Zentrale Befunde
Vision von einer richtigen und gerechten Gesellschaft bzw. einem solchen Gemeinwesen. Daraus leitet sich eine analoge Vision vom richtigen und guten Leben des Einzelnen ab, die die Autonomie des Einzelnen wie auch dessen Verantwortung betont. Bei einigen Konservativen wird das Verhältnis von Ganzem (Gesellschaft) und Teil (Individuum) hierarchisch begründet, bei anderen gleichursprünglich, wieder bei anderen gar in dialektischer Dynamik. Wichtig und instruktiv ist, dass es Konservativen in politischer, kulturhistorischer und sozialphilosophischer ReÀexion um die prinzipielle und praktische Bestim mung von Solidarität und Mitverantwortung geht. Dies ist Grundlage für ihr persönliches Verständnis von Gesundheit und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.9 Konservative haben einen ganzheitlichen, humanistisch geprägten Gesundheitsbegriff – und arbeiten aktiv weiter an einem kompletten und mehrdimensionalen Gesundheitsbegriff. Konservativen geht es um geistige, körperliche und soziale Vitalität; um ein selbstbestimmtes Leben (auch im Alter). Bestimmend ist die Lebens- und Gesund heitsphilosophie der richtigen Dosierung (Maß halten). Genuss und Gesundheit sind untrennbar miteinander verbunden; müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. ƒ
„Ich pÀege einen gewissen Lebensstil, der mich gesund erhält an Körper und Geist.“
Im sozialen Alltag herrscht ein bewusstes, zuversichtliches Ver ständnis von Gesundheit vor, geprägt von Selbstdisziplin und Diskretion: Hier geht es um Sozialhygiene und Distanz. Im Falle einer Krankheit dramatisiert man in den Gesprächen mit Nachbarn, Freunden und (Berufs-) Kollegen i. d. R. nicht den eigenen Gesundheitszustand, sondern bewahrt Haltung. Man will andere nicht mit Details über seine Gebrechen, Zipperleins oder OPs belasten, verbietet sich zu jammern, lamentiert nicht: Larmoyanz und Exposition (gerade mit diesem Thema) widersprächen dem Ich-Ideal. Das hat auch mit Grenzziehung und Distinktion gegenüber anderen zu tun. Dazu kommt eine elementare, intellektuell-kulturpsychologische Motivation: Man will dem Thema „Krankheit“ keinen zu großen Stellenwert einräumen, seine Persönlichkeit, seinen Geist und seine Seele und nicht zuletzt auch seine soziale Umwelt, davon nicht einnehmen und beherrschen lassen. 9 Dabei übersetzen sie ihr Verständnis von Gesundheit auf die Gesellschaft, in (meist latenter) Anwendung von Kants kategorischem Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. (Kritik der praktischen Vernunft, A 54; § 7 Grundgesetzt der reinen praktischen Vernunft). Daraus wiederum begründet sich die Legitimation, sich über das Gesundheitsverhalten anderer ein Urteil zu bilden, es zu kritisieren und in den sozialpolitischen Diskurs zu bringen.
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Bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen haben Konservative eine ausgeprägte Verantwortungsperspektive: Jede Zuwendung an den Einzelnen nimmt diesen in die PÀicht. Das Solidaritätsprinzip der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen hat ein notwendiges Pendant in der Verantwortung des Individuums gegenüber dem Gemeinwesen. Groß sind Verachtung und moralischfunktionale Kritik gegenüber Missbrauch und Sozialschmarotzern im Gesundheitssystem, z. B.: ƒ ƒ ƒ ƒ
„disziplinlose“ Menschen, die sich nicht an die Regeln halten (Beispiel: Diät bei Diabetes); Menschen, die ohne Notwenigkeit ständig den Arzt aufsuchen – oft nur, um sich unterhalten zu lassen; Menschen mit „selbstverschuldeten“ Krankheiten (z. B. Alkohol- und Drogenabhängige, aber nicht nur), die ständig neue Therapien anfangen und wieder abbrechen; „Dauerkurgänger“, die nur mit Blick auf eigene Vorteile das Gesundheitssystem ausnutzen ohne Rücksicht darauf, dass sie damit das System ruinieren.
Solches Verhalten stigmatisieren Konservative als höchst unsolidarisch und egoistisch. Der Vorwurf an Menschen und Gruppen aus meist anderen Lebenswelten besteht darin, dass sie die Verant wor tung des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen vergessen haben oder ausblenden. Jene, die solche Leistungen existenziell brauchen (z. B. wirklich Kranke, junge Familien) und für die das Gesundheitssystem als „Organ“ da sein sollte, werden in den Möglichkeiten beschnitten. Hier muss der Staat eingeschliffene Gewohnheiten des Missbrauchs erkennen und mit Härte durchgreifen. Dann ist das Gesund heitssystem wieder ¿ nanzierbar (zukunftsfähig) und solidarisch. Das immer schnellere „Durchschleusen“ von Patienten durch die Praxen von Hausärzten und vor allem von Fachärzten wird moralisch und politisch kritisiert. Der Mensch wird unwürdig zur Ware. Man ist natürlich politisch informiert und ahnt, wie eng die Honorare und Budgets der Ärzte sind: Letztlich sind auch sie Opfer der letzten Gesundheitsreformen. Umso nötiger ist es, sich auf das zu besinnen, was das Gesundheitswesen für die Menschen sein soll. Für sich selbst sind Konservative durchaus anspruchsvoll. Sie gehen immer davon aus, dass sie den Arzt bzw. das Gesundheitssystem „zu Recht“ in Anspruch nehmen und erwarten dann bevorzugte Behandlung – die sie auch oft erhalten. Mit dem Arzt kommunizieren Konservative – aufgrund des ähnlichen Bildungsgrads – in der Regel auf Augenhöhe, von hoch Gebildetem zu vertrautem Fachmann. Meist pÀegen sie eine langjährige Arztbeziehung, die geprägt ist von (wechselseitiger) Loyalität und Vertrautheit. Man wechselt nicht einfach den Arzt, und wenn, dann nur aus gewichtigen Gründen. Die Arzt-Patient-Beziehung ver-
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Zentrale Befunde
pÀichtet beide. Für viele Konservative ist der Arzt auch ihr persönlicher Lebensbegleiter, der nicht nur ihre Krankheitsgeschichte medizinisch kennt, sondern sie bewerten kann vor dem persönlichen, familiären und beruÀichen Hintergrund. Im Fall einer besonderen und schweren Erkrankung, bei der der Hausarzt nicht helfen kann, wenden sich Konservative an einen Experten oder das Krankenhaus mit dem besten Ruf für den jeweiligen Bereich. Viele sind privat krankenversichert oder haben zumindest eine private Zusatzversicherung, womit sie den Anspruch erheben, vor Ort von der jeweiligen Koryphäe einer ambulanten Praxis oder des Krankenhauses versorgt zu werden – mit dem besseren Service in Bezug auf sehr kurze Wartezeiten, neueste Diagnosemöglichkeiten, bessere Medikamente (ohne Betteln), Einzel- bzw. Zweibettzimmer u. a. An die Professionalität und Seriosität haben Konservative hohe Ansprüche; ebenso an Umgangsform und Zeitbudget: Das hat für sie mit Würde und Wertschätzung zu tun. Ihr Gesprächsbedarf mit dem Arzt ist hoch; ein kritisches Hinterfragen und Diskutieren mit dem Arzt über Befunde und Therapiemöglichkeiten ist eine conditio sine qua non. Wenn Unsicherheiten oder Zweifel bestehen, scheut man nicht das Einholen einer zweiten Expertenmeinung – und bespricht das offen mit seinem Arzt. Es geht nicht darum, die erstbeste und naheliegendste Lösung, Therapie oder Kur zu bekommen, sondern um das Sondieren und Abwägen von Optionen. „Traditionsverwurzelte“: Krankheit ist körperliches und soziales Alltagsthema In krassem Gegensatz zu Konservativen ist für Traditionsver wurzelte das alltägliche, ausführliche und detailreiche Reden über Gebrechen und Schmerzen, jüngst erlebte oder anstehende Arztbesuche (eigene, wie von Familienmitgliedern und Nachbarn) ein normales Thema. Die meisten sind nach einem langen Berufsleben heute Rentner, viele haben die Frührente in Anspruch genommen. Die Berufe sind bzw. waren körperlich anstrengend: einfache und quali¿zierte Handwerker und Arbeiter (Männer: Maurer, Landwirt, Schweißer, Schlosser, Dachdecker, Fliesenleger u. ä.; Frauen: Hausfrau, Bäuerin, AltenpÀegerin, Fabrikarbeiterin). Geprägt sind sie von der Berufsnotwendigkeit, körperlich robust sein zu müssen; die dominante Perspektive liegt auf der körperlichen Funktionalität, Gesundheit ist im Unterschied zu Konservativen (und den Leitmilieus) auf die Physis konzentriert. Dabei gilt es als normal, dass es zu „Verschleiß“ kommt: das „Kreuz“ (Bandscheiben), die Gelenke, Muskeln u. a. So führt man auch die klassischen Volkskrankheiten (hoher Blutdruck, Herzund Kreislaufkrankheiten) auf „normalen“ berufs- oder altersbedingten Verschleiß zurück. Die Belastbarkeit des Körpers kommt im Alter und aufgrund des anstrengenden Berufs einfach an seine Grenzen: Irgendwann ist der Körper verbraucht. So hält man sich an das früher schon geltende Gebot, normale Gebrechen einfach
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auszuhalten. Emp¿ndsamkeiten abbauen und Nicht-Klagen ist jene Devise, die man sich selbst verordnet und die man stereotyp (fast) jedem erzählt. ƒ ƒ
„Man muss ja zufrieden sein.“ „Man will ja nicht klagen.“
Ein ritualisierter und sozial elementarer Bestandteil im alltäglichen Reden über die eigenen Krankheiten ist das sozialnormative Prinzip, das eigene Leid aushalten und ertragen zu müssen – aber zugleich das große Bedürf nis zu haben, sich hier jemandem mitteilen zu wollen. Die im Alter ab 50 Jahren verstärkt einsetzenden und nicht mehr zu lösenden Beschwerden haben sie eines gelehrt: Vollständige Gesundheit und Schmerzfreiheit sind im Alter nicht realistisch. Es gilt, die alterstypischen Einschränkungen und ihre Folgen zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Extreme Beschwerden kann man nur lindern und Beeinträchtigungen möglichst hinausschieben. Der Umgang mit Gesundheitsproblemen wird durch eine klassische Rollenteilung bestimmt. Für Gesundheit und Krankheit sind die Frauen zuständig. Männer dürfen keine Schwächen zeigen. Frauen sorgen hier für ihre Männer, die eine Scheu haben, bei „Weh-Wehchen“ gleich zum Arzt zu laufen oder sich in ein Wartezimmer zu setzen. Sie haben mehr als ihre Partnerin auch stilistisch und habituelle Barrieren, sich in dieses für sie fremde Ambiente zu begeben. Schon bei ihren Kindern war es aufgrund der traditionellen Rollenteilung natürlich immer die Frau, die mit den Kindern zum Arzt ging. Und für jemanden, der auch im Rentenalter gern weiter draußen oder drinnen werkelt und dazu „Arbeitsklamotten“ trägt, bedeutet der Arztbesuch, sich „umziehen“ zu müssen. Für viele ist dies Mühsal und lästig, so dass sie lieber den Arzttermin ihrer Gattin gegenüber als unnötig bezeichnen und die Schmerzen aushalten. Hier entwickeln die Frauen oft eine resolute Hartnäckigkeit und zwingen ihren Mann – sofern er Rentner ist – zum Arztbesuch. Erkranken die Frauen, dann sind die Töchter, Schwiegertöchter, Schwestern und Schwägerinnen in der PÀicht. Ausgeprägt ist bei Traditionsverwurzelten der Durchhaltewillen, möglichst lange mit ihrem Ehepartner zusammen zu bleiben und auch im höheren Alter möglichst niemandem zur Last zu fallen. Groß ist die Angst vor PÀegebedürftigkeit. Die jüngere Generation der Traditionsverwurzelten (unter 65 Jahren) ist oft nicht mehr bereit, ihre eigenen Eltern zu pÀegen (was diese von ihnen moralisch und autoritär verlangten) – und sie wollen diese Last ihren eigenen Kindern nicht aufbürden. Dazu kommt, dass ihre eigenen Kinder oft nicht mehr im selben Ort oder in der Region woh nen, sondern weit entfernt. Noch größer ist die Angst von Traditionsverwurzelten vor dem Kranken haus: Dort ist man einsam und stirbt. In ihrer Perspektive ist der Hausarzt die erste Adresse (Nähe, Sicherheit, Geborgenheit, Wärme); dann kommt bei Spezialproblemen der Facharzt (weiter weg, kühler,
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Zentrale Befunde
technischer, komplizierte Geräte) und dann das Krankenhaus (ganz weit weg, anonymer Massenbetrieb, oft Endstation). Traditionsverwurzelte sind in ständiger Sorge, ins Alten- und PÀegeheim zu müssen: Aufgrund der bescheidenen Rente (das bisschen Vermögen hat man oft den eigenen Kindern zum Hausbau oder als Starthilfe gegeben) kann man sich einen Platz in einem komfortablen Heim nicht leisten. Durch Erfahrungen im Bekannten kreis wie auch durch Medienberichte der yellow press hat man von unschönen Geschichten gehört, was die Versorgung betrifft. Aber auch hier greift die Perspek tive von Ohnmacht und Rückzug: als „kleiner Mann“ bzw. „kleine Frau“ sich mit der eventuellen Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung oder dem Leben im Altenheim ab¿nden zu müssen, weil man die Dinge ohnehin nicht ändern kann. Mit Leidenschaft verfolgen Traditionsverwurzelte die täglichen Meldungen in den TV-Nachrichten, lesen regelmäßig die regionale Tageszeitung und bilden sich ein klares einfaches Urteil, was richtig und was falsch ist – meist in enger Orientierung an Äußerungen prominenter Vertreter einer politischen Partei. Sie hegen die Befürchtung, dass es für sie, die jahrelang eingezahlt haben, noch schlimmer werden wird: Leistungen werden eingeschränkt, Zuzahlungen immer höher. Es herrscht Frustration und die Angst, nicht mehr ausreichend versorgt zu werden bzw. sich Gesundheit nicht mehr leisten zu können. Entsprechend klar und einfach ist die Forderung für die Zukunft: Eine medizinische Versorgung, die für alle, unabhängig von ihren ¿nanziellen Möglichkeiten, gleich gut ist. Dabei steht nicht das Gleichbehandlungsprinzip im Vordergrund, sondern die Versorgungssicherheit: Wer nicht viel hat, möchte sicher sein, trotzdem gut versorgt zu werden. Hausarztbesuche haben v. a. für alleinstehende Frauen auch eine wichtige soziale Funktion und sind insbesondere für ältere Frauen ein fester Bestandteil des wöchentlichen Alltags (Wartezimmer als Treffpunkt). Die Arzt-Patient-Beziehung ist sozial-hierarchisch geprägt. Aufgrund der geringeren Bildung, des einfacheren kulturellen Kapitals sowie aufgrund des Berufsprestiges des Arztes, der hier als Autorität gilt, sehen Traditionsverwurzelte eine unüberbrückbare stilistische und semantische Barriere zum Arzt (jemand in einer anderen Welt), die zu durchbrechen ihnen selbst nicht gestattet ist. Umso wertvoller und wertschätzender erleben sie es, wenn der Arzt sie diese Distanz nicht spüren lässt und nicht herablassend, sondern „ganz normal“ mit ihnen redet. Traditionsverwurzelte wollen sich beim Arzt gut aufgehoben fühlen. Sie erwarten Fürsorge und Empathie und sind dann auch gerne bereit, die Überlegenheit des Arztes anzuerkennen. Hier dominiert das überkommene Idiom des Hausarztes, der nicht merken lässt, dass er mehr Bildung hat und „was Besseres“ ist. In Bezug auf die Kom munikation über Diagnose und Therapie ist ihnen ein gutes Erklären wichtig (keine Fachbegriffe, langsam sprechen, wiederholen) und klare, unmissverständliche Handlungsanweisungen z. B. hinsichtlich Medikamenten (was ? wann ? wie oft ? wie viel ?).
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Sie belassen die Verantwortung für die Behandlung der Krankheit beim Arzt; sie wollen „gar nicht immer alles wissen“. Im Alltag behilft man sich mit bewährten Hausrezepten, die man von den eigenen Eltern und Großeltern noch kennt. Bei Medikamenten, deren Dosierung vom Arzt mit Strenge und Autorität vorgeschrieben sind, hält man sich – ängstlich – an die Anweisung. Wo die Ein nahme keine Vorschrift, sondern lediglich eine Empfehlung ist, orientieren sich Traditionsverwurzelte bei der Häu¿gkeit und Menge an ihrer lebenslänglich praktizierten und offenbar bestätigten Erfahrung „viel hilft viel“. Gerne lassen sie aber auch Medikamente wieder weg, wenn sie keine Beschwerden mehr haben (Blutdruck medikamente, Antibiotika). Unhinterfragt und Sicherheit gebend ist die klassische Schulmedizin mit der Autorität des Arztes wie auch der wissenschaftlichen Medizintechnik. Und zugleich ist typisch, dass Traditionsverwurzelte diese Autoritäten in ihrem kleinbürgerlichem Individualismus schlicht ignorieren. Das geschieht in unbeobachteten und unkontrollierten Situationen, wenn sie beispielsweise die verord nete Dosierung eines Medikaments selbständig erhöhen oder heruntersetzen mit der Heilser war tung: „Ein bisschen mehr (bzw. weniger) ist schon besser !“; oder aber – in gegenteiliger Logik – sich über strikte Diätvorschriften in Bezug auf heißgeliebte Nahrungsmittel (Fleisch, Zucker, Kuchen etc.) einfach hinwegsetzen mit dem praktischen Motto: „Das bisschen schadet schon nicht !“ Aber: In den jüngeren Generationen der Traditionsverwurzelten gibt es die für ihre Eltern noch typische Haltung des rückhaltlosen und kritiklosen SichAuslieferns nicht mehr. Auch das Selbstbewusstsein ist gewachsen. Sie haben die Erfahrung gemacht (kommunizieren diese in ihrer Nahwelt und kultivieren diese Perspektive), dass man heute als Rentner nur den einfachen („billigen“) Standard bekommt. Um das zu bekommen, was das Richtige oder Bessere wäre, muss man hartnäckig sein. Ihre Kritik richtet sich auch an eine zu schnelle „Abfertigung“ in mancher Praxis. ƒ
„Ist man Mensch zweiter Güte ? Das haben wir nicht verdient !“
Signi¿ kant und bedeutsam ist hier das Wir-Gefühl: Man ist Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die vergessen, übervorteilt und ohne einÀussreiche politische Lobby ist. Bedeutsam ist auch, dass dieses quantitativ große Segment mit überdurchschnittlich hoher burden of disease sich in einem inneren KonÀikt be¿ndet: Einerseits das Bedürfnis nach wütendem Protest gegen die von ihnen heute erlebte Benachteiligung in Arztpraxen (im Vergleich zu den 1970er bis 1990er Jahren, als noch andere Sitten herrschten), andererseits die wertebasierte Norm, die Dinge zu akzeptieren, sich zu bescheiden und nicht aufzubegehren gegen die herrschende Ordnung.
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Zentrale Befunde
„Konsum-Materialisten“: Krankheits-Akzeptanz durch Schicksal und Gene Bei Menschen in diesem Milieu am unteren Rand der Gesellschaft hat Gesundheit keinen großen Stellenwert. Zu sehr bedrücken andere Sorgen des alltäglichen Zurechtkommens: Geldsorgen, über die Runden kommen, von anderen nicht ausgegrenzt werden, ständig mit bessergestellten Menschen (in Schule, Amt, Bank, Arztpraxis) kom munizieren zu müssen mit der Erfahrung, dass man von diesen mehr oder weniger offensichtlich missachtet oder despektierlich behandelt wird. Umso wichtiger sind Sphären zur Erholung und Entspannung. Im Alltag lebt man mit den Maximen: innerlich hart sein, sich einen Panzer zulegen, sich nicht kom mandieren lassen. Das steht natürlich im Gegensatz zur „Sensibilität“ für sich und seine eigene Be¿ndlichkeit, die Voraussetzung eines gesundheitsorientierten Lebensstils ist. Das normale, voreingestellte Weltbild ist, dass jeder Mensch eine BasisGesundheit hat, die eine gewisse Zeit im Leben „hält“. Andere mit mehr Geld gönnen sich dazu „Wellness-Gesundheit“ („Die muss man sich leisten können“). Jene müssen auch nicht so hart und schwer arbeiten, können sich besseres Essen leisten und sind vom Schicksal nicht so geschlagen. Konsum-Materialisten orientieren sich mental stark an der normativen Kraft des Faktischen und zeigen eine große Ergebenheit in die Umstände, die sie als ihr auswegloses Schicksal erfahren und deuten. Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Adipositas werden lange ignoriert. In keinem Milieu sind Dissimulation und Indolenz so ausgeprägt wie im Milieu der Konsum-Materialisten. Viele verdrängen ihre gesundheitlichen Probleme, nehmen sie nicht zur Kenntnis, wollen nicht krank sein. Man wird erst aktiv und geht zum Arzt, wenn es gar nicht mehr geht: Männer können sich nicht leisten, krank zu sein; halten sich für „unverwüstlich“ (Selbstbild des tough guy). Frauen arrangieren sich resignativ bis lethargisch mit ihrem Leiden, bei sehr schlechter Compliance. Weil sie nicht frühzeitig zum Arzt gehen, werden viele Krankheiten nicht oder zu spät diagnostiziert, was Heilungschancen verschlechtert und Therapien verteuert. Wird eine Krankheit diagnostiziert, setzt bei den Betroffenen zugleich reÀexhaft die Suche nach einer ausweglosen Erklärung ohne Handlungsoption ein: Man habe Eltern oder einen Ver wandten, die dieses auch schon hatten – insofern sei das vererbt: „die Gene“ – und gegen die könne man nichts machen. Daraus speist sich fatalistisch, resignativ und selbstbewusst (jeden Einwand offensiv und vehement abwehrend) die Legitimation, nichts tun und seinen Alltag nicht verändern zu müssen. Das gilt in besonderem Maße für Hinweise in Richtung einer besseren Ernäh rung oder mehr Sport. Man kontert solche Forderungen mit dem moralischen Vorwurf der Arroganz und Sozialignoranz, weil der Mahner keine Ahnung habe, wie wenig Geld zur Verfügung stehe und eine Umstellung ¿nanziell, organisatorisch und sozial nicht möglich sei. Und man deklariert schlichtweg
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den eigenen Lebensstil als „gesund“ – und zwar ex post. So kultiviert dieses Milieu eine Vielzahl von Abwehrargumenten (gegenüber sich und anderen), um das bisherige – oft ungesunde oder gesundheitsriskante – Verhalten fortzusetzen. Hier ist die soziale Dimension von eminenter Bedeutung: Denn in der sozialen Nahwelt des Milieus werden gesundheitsbewusste Einstellungen und Verhaltensweisen nicht belohnt. Im Gegenteil werden sensible Achtsam keit und Emp¿ndsamkeiten als Schwäche decodiert und diskreditiert. Praxis und Alltagskultur sind hingegen: ƒ ƒ ƒ ƒ
Bodytuning: Exzessives Körpertraining mit dem Ziel, schlank und muskulös zu sein (dabei orientiert man sich an medialen Vorbildern); Selbst-Vernachlässigung: Wenig Aufmerksamkeit und Aktivität für Gesundheit; Hoher Genussmittelkonsum, Alkohol, geringe Ernährungskompetenz (FastFood; Convenience-Produkte), Essen als Seelentröster; Tabletten: kritikloser Einsatz von (rezeptfreien) Medikamenten.
Das Thema Gesundheitssystem ist für Konsum-Materialisten ein Feld, an dem für sie besonders deutlich spürbar wird, dass sie von der Gesellschaft abgehängt sind bzw. werden sollen: ƒ ƒ
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Die medialen Schlagzeilen vom „Zweiklassen-System“ und von „Kürzungen im Leistungskatalog“ saugt man zur Bestätigung der eigenen Ohnmacht auf. An den Rezeptionen von Arztpraxen nicht einmal mehr gefragt zu werden, ob man Privatpatient ist, emp¿ndet man als deutliches Signal, dass der Mainstream besser versorgt und man selbst längst abgehängt, unerwünscht und Mensch dritter Klasse ist. Die immer weiteren Beitragserhöhungen der Krankenkasse in den letzten Jahren nimmt man als tiefen Eingriff in das ohnehin knappe Budget – und als bewusste Ausbeutung, Ausgrenzung und Diskriminierung – wahr.
„Prävention“ ist für Konsum-Materialisten ein „Fremdwort“ im um fassenden Sinn. Der Begriff ist kein Bestandteil ihrer alltäglichen Sprache; man weiß nicht, was dieses Wort, dessen Ursprung und Übersetzung man nicht kennt, bedeutet. Und „Vorsorge“ bzw. „Vorbeugung“ ist in diesem Milieu nicht mit Spaß und Freude konnotiert ! Vielmehr verweigert man sich gegenüber Forderungen nach gesundheitsbewusste(re)r Lebensführung. Solche Appelle wirken als weitere Diktate und Zumutungen. Und es sind – wie der Bereich der Bildung – Sphären, auf denen ihnen wieder ihre De¿zite und Mängel gezeigt werden. So reagieren sie meist mit demonstrativer Gleichgültigkeit oder aggressiver Abwehr, mit der Argumentation, dass dem für sie nicht bezahlbare Kosten einer Ernährungsumstellung oder Ausübung sportlicher Aktivitäten entgegenstehen. Nach innen erleben sie häu¿g
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Zentrale Befunde
Frustration, weil sie immer wieder Anläufe unternommen haben, die im Effekt keine Veränderung bewirkten. Erfahrungen, hier wie auf vielen anderen Feldern gescheitert zu sein und „versagt“ zu haben, sind kein Motivator, zu groß ist das Risiko erneut zu scheitern. Statt dessen delegiert man die Verantwortung für die eigene Gesundheit offensiv an andere: Arbeitgeber, Krankenkassen (Bonus-Anreize: mitnehmen, was geht), Ärzte, Staat, Schulen, Kindergärten etc. Vorsorge kann sich aus ihrer Sicht eben nicht jeder leisten. Prävention ist für Bessergestellte exklusive Normalität; für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft mit existenziellen Sorgen hingegen eine Zumutung. Bei andauernder Krankheit hat man schnell die Ursachen und Schuldigen identi¿ziert: Arbeitsbedingungen, Hartz IV, der Staat, Ärzte behandeln nicht richtig und die Krankenkassen zahlen nicht (genug). Somit besteht ein Dilemma: Aufgrund der begrenzten materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen ist dieses Milieu weder dazu befähigt, noch dazu bereit, hinreichende Verantwortung für die eigene Gesundheit (sowie der Schutzbefohlenen) zu übernehmen. Gleichzeitig wollen die Menschen in diesem Milieu nicht ständig „von oben“ diktiert bekommen, was für sie gut ist. Sie schwanken zwischen dem Wunsch nach Autonomie und paternalistischer Fürsorge. „Postmaterielle“: Wer heilt, hat Recht Die Innovationsdynamik und auch die Erfolge der alternativen Medizin einerseits, der KonÀikt (teilweise ideologisch geführt) mit der klassischen Schulmedizin andererseits, hat im Milieu der Post materiellen zu einer ganz spezi¿schen Sicht auf Gesundheit und Krankheit geführt, die sich auf vier programmatische Formeln bringen lässt: ƒ ƒ ƒ ƒ
Das Individuum ist das Maß ! Frauen sind physiologisch anders als Männer – es bedarf einer geschlechtsspezi¿schen Medizin ! Ursachen nachhaltig verändern ! – Kein Kaschieren von Symptomen ! Wer heilt, hat Recht !
Bis auf wenige Ausnahmen hat dieses akademisch und kulturell hoch gebildete Milieu eine sehr hohe Wertschätzung gegenüber der klassischen Medizin mit deren erprobten Diagnoseverfahren und Therapietechniken und eine positive Einstellung gegenüber Innovationen in der Medizinforschung. Zugleich kultiviert dieses Milieu eine mit vielen Argumenten gestützte scharfe Kritik gegenüber dem wissenschaftlich-technologischen Ausschließlichkeitsanspruch der klassischen bzw. konventionellen Medizin. Gegenstand ihrer Kritik ist, dass die klassische Schulmedizin viele neue Diagnose- und Heilformen nicht
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akzeptiert und auch „Versicherungen“10 diese nicht in ihren Leistungskatalog aufnehmen oder bezuschussen, mit dem Argument, deren Wirksamkeit und Nützlichkeit sei wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Dabei sehen Postmaterielle viele Grenzen der klassischen Medizin, die oft nur symptomorientiert (nicht ursachenorientiert) und analy tisch sezierend (separierend, nicht ganzheitlich) vorgeht. Bezahlt wird seitens der gesetzlichen Krankenkassen zwar das „Herumdoktern an Symptomen“, nicht aber die Arbeit und Zeit, den Ursachen nachzuspüren, die meist komplexer sind, weil der Mensch ganzheitlich betrachtet werden müsste. Und viele Kassen verweigern jenen Patienten eine Zusatzversicherung, deren Krankheitsgeschichte künftig einen höheren Aufwand (Kosten) für eine ganzheitliche, auf Naturheilverfahren setzende Behandlung erwarten lassen. Das erscheint Postmateriellen aber paradox und auch unökonomisch, denn langfristig wird sich – für den Patienten wie für die Kassen – nur eine Ursachenbehandlung lohnen. Groß ist die Enttäuschung (und führt zu Frustration über das Gesund heitssystem), wenn Postmaterielle beim medizinischen Facharzt (Spezialisten) waren, und dieser nicht in der Lage war, über den Teller rand seines spezi¿schen Handwerks hinauszuschauen – und den Patienten nicht ganzheitlich diagnostizieren kann. Dafür kann man dem einzelnen Facharzt keinen Vorwurf machen, die Ursachen liegen nach Auffassung der Postmateriellen in einem systematisch falsch strukturier ten Medizinsystem, das auf funktionale, die Disziplinen differenzierende und separierende Arbeitsteilung setzt. So ist der Patient gezwungen, von Facharzt zu Facharzt zu springen – jeder kann mit seiner eingeschränkten Perspektive diagnostizieren und mit seinem Spezialwerkzeug routiniert therapieren. Aber das greift nach Einstellung und Erfahrung von Postmateriellen zu kurz. Ausgeprägt ist der Ideologieverdacht des wissenschaftlich-medizinischen Fortschritts mit dem Feindbild der „Apparate-Medizin“ – wohl wissend, dass es ohne diese Geräte bei vielen Krankheiten nicht geht; wohl betonend, dass auf die wissenschaftliche Erprobung von Medikamenten und Geräten nicht verzichtet werden kann. Hier verheißen alternative Heilformen der Vergangenheit und auch aus anderen Kulturen, das Spektrum der Behandlungs- und Vorsorgemöglichkeiten zu ergänzen. Die Kategorien sind nicht trennscharf und machen deutlich, dass es in diesem Milieu Menschen gibt, die für sich ein (oder zwei) Verfahren entdeckt haben; andere nehmen bewusst das ganze Spektrum sich ständig erweiternder Möglichkeiten mit (kritischem ?) Optimismus in den Blick. Attraktive Stichworte sind: ƒ
Allgemein: Naturheilverfahren, Alternative Medizin, sanfte Medizin, ganzheitliches Heilen, von der Natur lernen;
In der Bevölkerung ist der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss nicht oder kaum bekannt; man adressiert hier Krankenversicherungen.
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Zentrale Befunde Konkret: Bioresonanz, traditionelle chinesische Medizin, Homöopathie, Akupunktur, Naturheilmittel ohne Chemie, Ayurveda, Yoga, Feldenkrais11, Qi Gong, Energetisches Heilen, Klang-Therapie u. v. m.
Man entdeckt Heiler und Heilverfahren aus anderen Kulturen und vergangenen Zeiten12 wieder neu, ist fasziniert, wenn ausgebildete Mediziner und Therapeuten sie in die heutige Zeit „übersetzen“ und – sehr wichtig – an neuere technologische, psychologische und neuronale Erkenntnisse anschließen. Diese Suche zielt auf Natur-Entdeckung, ist Finalisierung der Natur für den Menschen, der im industrialisierten und urbanen Alltag durch Beschleunigung und Mediatisierung bedroht ist, sich von der eigenen Natur zu entfernen und seine Balance zu verlieren. Postmaterielle verstehen ihre Entdeckungsreise der Natur als notwendige „Rück kehr“ zum Ureigenen des Menschen. So entdecken Postmaterielle (vor allem Frauen) für ihre Gesundheit die verschiedenen Kräuter, Algen, Salze, Beeren, Wurzeln, Früchte – überhaupt HeilpÀanzen sowie die Weisen ihrer Verarbeitung (Öle, Tinkturen, Tee, Salben etc.). Getragen ist diese Öffnung für Wege jenseits der technokratischen Medizin von einem tief verwurzelten ganzheitlichen Menschenbild. Wie im Milieu der Konservativen gehen auch Postmaterielle davon aus, dass der natürliche Zustand des Menschen die Einheit von Körper, Geist und Seele ist.13 „Rationalität“ wollen Postmaterielle gerade im Gesundheitsbereich nicht nur als (analytischen) Verstand, sondern als (integrierende) Vernunft begreifen. Vor diesem Hintergrund treten Menschen aus diesem auf Selbstbestimmung, Kritik und Diskursfreude getrimmten Milieu, gerne in Debatten mit ihrem Arzt darüber, was der richtige Ansatz und Weg für sie als „einzigartiges“ Individuum mit einer spezi¿schen Biographie wäre. Sie suchen sich nach Möglichkeit Ärzte, die so denken wie sie selbst, die aufgeschlossen sind für alter native Heilmethoden und hier den anderen Ärzten in der Region (weit) voraus sind. Als wichtigste Präventions- und Therapiesäule gilt die Umstellung der bisherigen „gehetzten und getriebenen“ Lebensweise auf einen gelassenen und spannungsfreien Lebensstil in Balance. Insofern gilt es für sie, an der inneren Haltung zu arbeiten und sich seine familiäre und beruÀiche Struktur, überhaupt seine Typisch ist die Attraktivität eines kombinierten Einsatzes verschiedener alternative Verfahren auch bei Erkrankungen, deren Behandlung bisher der klassischen Schulmedizin vorbehalten war. Beispiel: Bei Schlaganfall der sofortige Beginn von Physiotherapie, Akupunktur und Feldenkrais. 12 Hier vor allem das Hochmittelalter (und auch die Mystik mit dem Bezug der Spiritualität). Prominente Heiler sind etwa Avicenna, Hildegard von Bingen und Paracelsus. 13 Oder anthroposophisch in der Reihenfolge: Leib, Seele, Geist – auf solche Besonderheiten legen manche anthroposophisch orientierte Postmaterielle (überwiegend Frauen) mit dem Habitus intellektueller ReÀexion und Distinktion großen Wert (allerdings sind nicht alle Postmateriellen anthroposophisch orientiert). 11
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soziale und natürliche Umwelt so zu gestalten (bzw. neu zu suchen), dass man in dieser „gesund“ (ganz heitlich in Balance) leben kann. Das hat erhebliche Auswirkungen auf das Berufsfeld: Man ¿ndet in diesem Milieu überdurchschnittlich häu¿g Wissenschaftler, Lehrer und Pädagogen, weniger Banker, Broker, Marketingleiter, Unter neh mensberater großer Agenturen, denn die Möglichkeiten zur Zeitsouveränität sind Postmateriellen sehr wichtig. Natürlich weiß man, dass sich der Markt alternativer Heilverfahren mit enormer Kraft und Dynamik entwickelt, dass hier auch viele Trittbrettfahrer und Scharlatane angezogen werden. Man sondiert kritisch die Anbieter auf diesem Markt, lässt sich von Werbe- und Marketingblasen (vermeintlich) nicht beeindrucken, sondern schaut hinter die Fassade. Maßstab ist „das eigene Gefühl“, was richtig ist. Dieser Markt, der für Postmaterielle kein Markt zweiter Klasse und Güte ist, muss notwendig unscharf sein, denn hier werden die vielen Facetten dessen sichtbar und angeboten, die dazu beitragen können, dass der Mensch „heil“ lebt und nur im Notfall auf die Reparatur medizin angewiesen ist. Groß ist die Kritik an der faktischen Deklassierung alternativer Heilmethoden, obwohl deren Wirksamkeit für sie evidenzbasiert scheint. Vieles davon sollte in einem individuell wählbaren Leistungskatalog der Kassen bzw. einem multioptional zusammenstellbaren Tarif in die Versicherungsleistung aufgenommen werden. Dezidiert und differenzierend ist aber auch die Position, dass nicht alles, was im Bereich der alternativen Heilmethoden und des Zweiten Gesund heitsmarkts angeboten wird, auch eine Sache der Kranken kasse sein müsste. Post materielle sprechen klar das Votum aus, dass der Versicherte bzw. Patient entscheiden soll, was er an Gesundheitsleistungen haben will – und was er dann gegebenenfalls aus eigener Tasche bezahlt. Hier ist zur Güterabwägung eine Transparenz der Kosten unbedingt im Vorfeld notwendig, muss verbindlich sein und eine Kostenänderung muss einfach (!) kommuniziert werden. Der Anteil der Privatversicherten sowie privat Zusatzversicherten ist in diesem Milieu deutlich höher als in anderen Milieus. Aber dennoch sind mehr als 75 % in einer GKV. In der hohen Af¿nität für private Zusatzversicherungen sowie in der privaten Zahlung von alternativen Therapien manifestiert sich die Bereitschaft, für anspruchsvolle Leistungen und besonderen Service auch mehr zu zahlen. Allerdings ist damit auch die anklagende Gegenrechnung verbunden, dass man – gerade in der GKV – viel zu viel zahlt, denn man zahlt einerseits für Leistungen, die man nie in Anspruch nehmen würde; andererseits lassen sich viele Leistungen jener Ärzte, denen man vertraut, nicht über die Kasse abrechnen. Insofern sind Postmaterielle – bei aller prinzipiellen Zustimmung zum Solidaritätsprinzip im Krankenversicherungswesen – der Meinung, dass sie selbst zu viel zahlen und Einsparungen möglich sind. Dieses auf Autonomie programmierte Milieu will differenzieren und selbst entscheiden, wofür es Krankenversicherungsbeträge zahlt.
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„Etablierte“: Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb der Medizinschulen Die meisten Menschen in der Lebenswelt von Etablierten sehen sich beruÀich, kulturell und mental an der Spitze der Gesellschaft. Aufgrund dieser Selbstverortung als Leistungselite sehen sie sich in der Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme. Somit sind ihre Einstellungen und Verhaltensweisen zu Gesundheit, ihre Ansichten und Entwürfe zum Gesundheitssystem niemals nur persönlicher Natur, sondern haben stets eine starke gesellschaftliche und gesundheitspolitische Dimension. Für Etablierte sind zwei Prinzipien für das Funktionieren und die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems not wendig: Innovation und Mitverantwortung. Ungerechtigkeit darf nicht sein, aber Ungleichheit gehört in einer Wettbewerbsgesellschaft dazu. Subsidiarität und Hilfe in Not für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft sowie für vom Unglück Geschlagene, sind wichtig, gelten aber nicht bedingungslos. „Sozialverträglichkeit“ ist für Etablierte ein zweidimensionaler Schlüsselfaktor. Wer seine PÀicht bewusst oder fahrlässig nicht wahrnimmt, der muss die Konsequenzen für sein Handeln selbst tragen. Im Unterschied zu Postmateriellen haben Etablierte meist keine weltanschaulich begründete Präferenz für die klassische oder alter native Medizin. Welche „besser“ ist, muss sich im Wettbewerb zeigen, vor allem aber muss Medizin nützlich und verlässlich sein. Als suspekt gilt Etablierten, was auf subjektivistischer Evidenz beruht, sich im Fahrwasser einer fundamentalistischen Argumentation bewegt und in missionarischem Habitus auftritt. Wer etwa ein Heilverfahren als „absolut“ wirksam stilisiert und jede andere Option reÀexhaft ablehnt, wer sich ganz einer Diagnosebzw. Therapieschule verschreibt, der gerät für Etablierte schnell in den Verdacht des Gesundheitsideologen und gilt als typisch für radikal-alternative Gesundheitsmediziner, die die klassische Schulmedzin verteufeln. Je stärker die Dringlichkeit betont und je heftiger der moralisch-weltanschauliche Impetus ist, desto mehr haben Etablier te den Verdacht, hier werde fundamentalistisch argumentiert. Ebenso groß ist die Ablehnung einer bedingungslosen Reparatur medizin, bei der das Gemeinwesen die Kosten für den verantwortungslosen Umgang Einzelner (oder einzelner Gruppen) mit ihrer Gesundheit bezahlt. Mit kritischer Sensibilität und der Maxime des Weitblicks für das Funktionieren und der Finanzierbarkeit des Ganzen, bewerten sie medizinische und gesundheitsökonomische Forderungen verschiedener Provenienz. Für Etablierte ist die wissenschaftliche Fundierung (Reliabilität und Validität; Wirksamkeit und Nützlichkeit) elementar. Die moderne Schulmedizin genießt bei Etablierten aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer dynamischen, sehr kurzen Innovationszyklen (v. a. in Bezug auf neue Technologien und Medikamente) hohe Wertschätzung. Groß ist das Vertrauen in den medizinisch-technologischen Fortschritt;
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nachhaltig die Forderung, dass in Deutschland die Stuk tu ren für Innovationen verbessert werden müssen, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten. Denn die meisten Nobelpreise für Medizin gehen seit vielen Jahren in die USA – dabei war Deutschland zu Beginn der modernen Medizin weltweit der Vorreiter. Die Alter nativmedizin gilt bei Etablierten dennoch nicht als chancenlos. Etablierte sehen mit interessierter Neugier, dass es seriöse Ansätze gibt, mit wissenschaftlichen Methoden und Kausalitäten die Wirksamkeit alternativer Verfahren nachzuweisen. Hier sehen Etablierte ein sehr großes Potenzial für die Weiterentwicklung der Medizin im Sinne von mehr Gesundheit sowie von mehr gesundheitsökonomischer Ef¿zienz. Ein großes Innovationspotenzial sehen einige Etablierte in der Synthese von moderner Schulmedizin und alternativer Medizin. Der sozusagen voreingestellte Modus von Etablierten ist der optimistische Blick auf scheinbar unlösbare Antagonismen und Blockaden: Im vermeintlich Widersprüchlichen erkennen sie die Chance auf kreative Weiterent wicklung. Ihre Kritik gilt also sowohl der unwissenschaftlichen Alternativmedizin, als auch einer Schulmedizin, die nicht mehr bereit ist zu lernen bzw. festhält am bereits Erwiesenen und im Rahmen überkommener Paradigmen verhaftet bleibt. Analog ihrem hohen Leistungsanspruch und exklusiven Genussniveau erwarten sie vom Gesundheitssystem die besten Leistungen (für sich) in Diagnose, Therapie, Prävention und Rehabilitation. Es ist für sie „logisch“, weil konstitutiv für die Innovationskraft des marktwirtschaftlichen Gesundheitssystem, dass nicht alle gleich behandelt werden können – solches wäre Sozialimus mit der Folge von Stagnation und Verarmung; und das würde den unterschiedlichen Bedürfnissen und Leistungsansprüchen der Menschen nicht gerecht. In der medizinischen Versorgung wollen sie den besten Arzt (die Koryphäe) und die neuesten Geräte, (Ambulanz-) Kliniken und Arztpraxen mit vornehmem Interieur, Hightech-Medizin und besonderem Service. Für Etablierte gilt: Keine Experimente ! Das Beste vom Besten ! So bevorzugen viele eine private Krankenversicherung oder Zusatz versicherung, um die damit verbundenen Privilegien, die sie sich durch harte Arbeit, Intelligenz und ökonomischen Erfolg verdient haben, auch selbstverständlich beanspruchen zu können. Groß ist die Sympathie für ubiquitäre und persuasive Informations- und Kommunikationstechnologien. In der Anwendung – vom intelligenten Haus bis hin zur Gesundheitsüberwachung – wollen sie Avantgarde sein, um als Erste die Bene¿ts nutzen zu können. Weil sie sehr viel unterwegs sind (beruÀich mobil sein müssen), ein enges Zeitbudget haben, nach Zeitsouveränität streben (Statussymbol der upper class), den Anspruch an zeitnahe präzise Informiertheit haben und auch aus Gründen der Distinktion gegenüber anderen, will man sich nicht in das normale Wartezimmer eines Arztes setzen, will schon gar nicht warten. Wartezeiten von mehr als 30 Minuten sind für sie absolut (!) inakzeptabel. Der Arzt muss jemand sein, den sie respektieren, weil er in seinem Fach für herausragende Leistungen steht und Qualitäten hat, die sie bewundern. Er kommt
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aus einer ähnlich vornehmen, intellektuellen oder erfolgreichen Lebenswelt wie sie selbst. Diese Niveaugleich heit muss sich in Habitus und Atmosphäre ausdrücken, ist ein Kriterium für die Auswahl von Praxis und Krankenhaus. Insofern sondieren sie mit scharfem Blick und Urteilskraft die Ärzte in ihrer Region, suchen nach Markenattributen und schätzen gleichzeitig das Understatement des Überlegenen. „Moderne Performer“: Professionelles und genussvolles Optimieren der Gesundheit Ihre Gesundheit reÀektieren und optimieren Moderne Performer als Bedingung der Möglichkeit für ihre eigentlichen anspruchsvollen Ziele: Den berulichen Erfolg steigern (Karriere machen); ein genussvolles und spannendes Leben führen. Insofern ist Gesundheit einerseits ein Investitionsgut, andererseits ein transzendentales kontingentes Gut. Nur wer gesund ist, hat im Wettbewerb überhaupt Chancen – und so besteht für Moderne Performer die basale, binär codierte Differenz von gesund / krank (mit „gesund“ als voreingestelltem normalen Modus). Wer krank ist, ist aus dem Spiel. Wer schlapp gemacht hat und länger ausfällt, ist in Gefahr, überholt und ersetzt zu werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, im Falle einer Krankheit, durch die Medizin so schnell wie möglich „repariert“ zu werden. Jeder hat zwar eine Grunddisposition, aber Gesundheit „hat“ man nicht einfach. Gesundheit ist für Moderne Performer vor allem das Ergebnis einer – mehr oder weniger guten – funktionellen Versorgung der Substanz sowie der modellierenden Arbeit an der äußeren Erscheinung (Design). Beides ist für Moderne Performer wichtig und eingebettet in das Grundbedürfnis und Selbstverständnis, ökonomische und kulturelle Avantgarde mit anspruchsvollem Lifestyle zu sein. „Gesundheit“ zielt zum einen auf: (1) Organisch-mentale Funktionalität, um sich Optionen offen zu halten und im Wettbewerb zu bestehen. Hier wird Gesundheit begriffen als Zusammenwirken von Kör per und Geist14. Das meint, die Anforderungen im Beruf und den Stress aushalten zu können, ohne krank zu werden. (2) Robustheit: Diese zielt auf Optimierung der Denkleistung und Kommunikationsleistung; schnell sein, mobil sein, Àexibel sein, anderen voraus sein – gerade in der Adaption neuer Entwicklungen. (3) Fitness: Im Selbstbewusstsein als dynamische Entrepreneure, als neue unkonventionelle Leistungselite ist es für Moderne Performer unabdingbar, jederzeit Àexibel und mobil, verfügbar und reaktionsbereit zu sein.
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Zum Vergleich: Postmaterielle betonen den Dreiklang der Balance von Körper, Seele und Geist.
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„Gesundheit“ hat für Moderne Performer aber auch eine elementare Designfunktion: Eine gesunde „schöne“ Erscheinung ist Indikator und Symbol für Leistungsfähigkeit und Attraktivität. Gerade im beruÀichen Wettbewerb, aber auch im privaten Freundeskreis, ist Attraktivität nach einem modernen Schönheitsideal eine zwar latente und selten ausgesprochene, aber sensibel wahrgenommene und streng bewer tete Norm. Die OberÀäche ist Spiegel und Ausweis (für die Unterstellung) von Dynamik und Innovationskraft – und in einer Gesellschaft, in der das Image wirksamer ist als die Realität, kommt es darauf an, diese Attribute zu vermitteln. Die Perspektive des Wettbewerbs ist enorm, ebenso der Druck. Schwächen müssen in kürzester Zeit überwunden, Makel kaschiert werden. So ist die Arbeit an der Substanz und am Design motiviert durch den Wettbewerb mit anderen: um Anerkennung und Zugehörigkeit im Bekanntenkreis, um eine höhere Position im Unternehmen, um Aufträge beim Kunden. Gesundheit ist somit eine Investitionsaufgabe: Man muss etwas tun ! In dieser Grundauffassung manifestiert sich ein ausgeprägter Individualismus, der Gesundheit primär als Leistung des Einzelnen begreift und auf Mitverantwortung setzt. Zur Professionalität gehört, sich von Beschwerden und auch von einer schweren Krankheit nicht ausbremsen zu lassen. Insofern ist die zielgerichtete und effektive Arbeit zunächst auch unbedingt am Symptom eine Notwendigkeit für den beruÀichen Alltag, der bei vielen zwölf und mehr Stunden täglich umfasst und auch das Wochenende nicht freihält. Angesichts der extremen Belastung muss man robust und ¿t bleiben, und sich dazu Sphären des Ausgleichs und für das Auftanken der „Akkus“ schaffen: Ausdauer- und Extremsport (oft im Fitness-Center), sich gut ernähren (Vollwertkost und Bioprodukte), den Stress herauslassen durch Besuch von Partys, Events und Raves. Die Suche nach Ausgleich der beruÀichen Extrembelastung erfolgt durch das bewusste Setzen von Reizen anderer extremer Pole in der Freizeit.15 Das Gesundheitssystem betrachten und nutzen Moderne Performer in zwei Formen: Der Erste Gesundheitsmarkt ist für sie eine Repa raturwerkstatt für funk tionale Störungen. Der – sehr viel größere und häu¿ger genutzte – Zweite Gesundheitsmarkt ist für sie dagegen eine Optimierungs- und Tuning-Boutique; eine Einkaufsmall mit einer großen Vielfalt individuell wählbarer Angebote zur Steigerung von Robustheit und Fitness. In der Wahl der Mittel (zur Problemlösung, zur Optimierung) setzen Moderne Performer auch auf dem Ersten Gesundheitsmarkt auf die klassische Medizin und auf neue alternative Medizinangebote. Performer sind ideologiefrei und haben keine Vorbehalte, ihnen geht es um Effekt und Nutzen. Faszinierend sind für sie neue wissenschaftlich-technologische Innovationen bei Diagnose und Operationen; aber Im Unterschied zu Postmateriellen, die eine Gleichzeitigkeit und synchrone Integration mit dem Ziel der jederzeitigen Balance anstreben.
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auch Erkenntnisse aus der Nanoforschung sowie neue persuasive und ubiquitäre Informationstechnologien (etwa zur Gesundheitskontrolle). Groß ist aber auch ihre Neugier auf Ayurveda, TCM und anderen Naturheilverfahren – hier primär mit der Perspektive der Nachhaltigkeit, aber auch weil es mit körperlich-geistigem Genuss verbunden ist. Hinter dieser Gleichzeitigkeit steht die Maxime, sich selbst nichts zu verbauen und zu verbieten (aus „prinzipiellen Gründen“), sondern sich viele Optionen offen zu halten, mehreres wählen zu können – sukzessive, reversibel, gleichzeitig. Das Kriterium ist der „Bene¿t“ und die Maxime, sich niemals ganz nur einer Sache und Methode zu verschreiben, sondern den Neues suchenden, adaptiven Blick für Alternativen und Innovationen zu haben, hier sensibler und schneller als andere zu sein. Im Fall einer Erkrankung haben Moderne Performer den starken Wunsch, gleich zum Spezialisten zu gehen. Sie wollen nicht erst zum Hausarzt, dort eine Stunde (oder länger) warten, um dann doch eine Überweisung zum Facharzt zu bekommen. Der direkte Weg ist ihnen wichtig – gerade aufgrund des engen beruÀichen Zeitbudgets und weil ihnen ihre Freizeit zu kostbar ist. In der Arztwahl haben sie eine große Präferenz für junge Fachärzte, die technologisch – sowohl das Know-how, als auch die Ausstattung der Praxis betreffend – auf dem neuesten Stand sind. Groß sind die Widerstände sowie die stilistischen Vorbehalte gegenüber jenen älteren (postmateriellen) Ärzten, die dazu neigen, die technisierte Medizin fundamental zu kritisieren, eindimensional nur auf behutsame Therapien setzen und die auf keinen Fall nur Symptome bekämpfen wollen, sondern hauptsächlich die Ursachen. „Bürgerliche Mitte“: Robuste Flexibilität und Aktivitäten zur Distinktion Menschen der Bürgerlichen Mitte haben sensible Sensoren für Strömungen und Trends in der Gesellschaft, insbesondere in den gehobenen und modernen Segmenten. Aufgrund ihrer tief verwurzelten Lebensphilosophie, normal zu sein, wollen sie gar nicht Avantgarde sein und waghalsig Neues ausprobieren, wollen die „Nase“ nicht in den kalten Wind stecken und sich solitär („einsam“) auf unbekanntes Terrain begeben. Aber sie wollen modern sein und über nehmen Entwicklungen, die sich in den gehobenen Milieus etabliert haben. Die Imitationen und Adaptionen seitens der Bürgerlichen Mitte sind keine Kopien, sondern ge¿lterte und gefederte Rezeptionen dessen, was sie an den Rändern der Gesellschaft beobachtet. So orientiert sich die Bürgerliche Mitte gleichzeitig an:
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Traditionsverwurzelten16, Konservativen, Etablierten, Postmateriellen, Modernen Performern.
Distanz und Distinktion hingegen kultiviert die Bürgerliche Mitte gegenüber Menschen und Milieus, die eine zentrifugale Kraft haben, (scheinbar) über wenige Leistungsressourcen und Zukunftschancen verfügen und in der Gesellschaft ein negatives Image haben: ƒ ƒ ƒ ƒ
Experimentalisten, Hedonisten, Konsum-Materialisten, DDR-Nostalgische.
Gesellschaftspolitisch und kultursoziologisch besteht die weitere Leistung der Bürgerlichen Mitte darin, die sich in ihr treffenden Span nungen zwischen traditionellen, modernen und postmodernen Denk weisen und Verhaltensmaximen auszuhalten, zu tarieren und gesellschaftsfähig zu machen. Insofern ist die Bürgerliche Mitte ein echtes „Integrationsmilieu“. Diese Disposition der Bürgerlichen Mitte manifestiert sich nahezu unmittelbar im Gesundheitsverhalten und in der Einstellung zum Gesundheitssystem. So steht und sieht sich die Bürgerliche Mitte im Spannungsfeld zwischen dem Wohlfahrtsstaatsmodell mit einem (so empfundenen) patriarchalischen Arzt-PatientVerhältnis und einer markt wirtschaftlichen (neo-) liberalen Individualisierung mit mehr Eigenverantwortung. Einerseits soll das Gesundheitssystem für die Bürgerliche Mitte eine gesicherte Versorgung bieten nach neuestem Stand von Wissenschaft und Technik. Andererseits ist der Bürgerlichen Mitte bewusst, dass ein Vollversorgungssystem für alle nicht mehr ¿nanzierbar ist, dass man sich darauf verlassen kann, im Krankheitsfall gut versorgt zu sein. Es ist eine Frage des individuellen Engagements und der materiellen wie sozialen Ressourcen; „man muss selber etwas dazu tun“. Damit ist nun auch der Gesund heitsbereich eine nicht mehr selbstverständliche, problemlose und risikofreie Sphäre, sondern fordert den Einzelnen heraus. Wer nicht abgehängt werden will, sollte bewusste und strategische Entscheidungen treffen und im Gesundheitsbereich aktiv werden – und zwar dauerhaft. So werden Viele in der Bürgerlichen Mitte kommen aus traditionellen Elternhäusern. Sie wollen zwar nicht „altbacken“ und veränderungsresistent sein wie ihre Eltern, halten aber Tugenden ihrer Eltern für moralisch richtig und lebenspraktisch nützlich.
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Aktivitäten für die eigene Gesundheit und Anbindungen an systems of provision (z. B. Versicherungen) zum materiellen und symbolischen Gradmesser für die aktuelle und zukünf tige Position in der Gesellschaft. Die Gesundheitsreformen der letzten Jahre erinnert und erlebt die Bürgerliche Mitte hingegen als Steigerung immer neuer Zumutungen – ¿nanziell wie auch in Bezug auf die Eigenverant wortung. Anfangs und mit Ausdauer war man bereit, den von außen herangetragenen Appellen bereitwillig, aktiv und zuversichtlich zu folgen. Man war bereit, Anstrengungen in Kauf und Angriff zu nehmen, um mitzu halten (Motiv: nicht abgehängt werden) sowie um die steigenden Gesundheitskosten aufzuhalten und so das Gesundheitssystem langfristig zu erhalten (Motiv: Partizipation und soziale Verantwortung). Doch bis heute erlebt die Bürgerliche Mitte keine Spur von Entspannung und Entlastung – im Gegenteil: Jede neue Ankündigung einer Gesundheitsreform erscheint als Chiffre einer mit neuen Instrumenten und Begriffser¿ndungen ausstaf¿erten Kostenerhöhung. Die Menschen in der Bürgerlichen Mitte werden – nach eigener Angabe – allmählich müde, die medial kolportierten Dispute sich inszenierender Gesundheitsexperten für das eigene und gegen das andere System noch zu verstehen, die Argumente zu wägen und darauf gründend eine eigene Meinung und Präferenz zu entwickeln. Gesundheitsprämie („Kopfpauschale“) – Bürgerversicherung – Gesundheitsfond: Das jahrelange Diskutieren von Gesundheitspolitikern und Lobbyisten über „das richtige System“ wurde zunehmend als ideologischer Grabenkampf wahrgenommen und hat in der Bürgerlichen Mitte den Eindruck zementiert, dass es keine einfache Lösung gibt und jede Lösung für sie schmerzhaft sein wird. Insofern ist der Begriff „Gesundheitsreform“ – wie immer eine solche inhaltlich konkret aussieht – in der Bürgerlichen Mitte negativ präjudiziert. Jede „Reform“ steht unter dem Vorzeichen der Bedrohung. Gerade deshalb sind die Menschen in der Bürgerlichen Mitte überzeugt, dass sie bei Fragen des Gesundheitssystems niemals weghören dürfen, sondern jederzeit gut informiert sein müssen, denn das Gesundheitssystem betrifft sie unmittelbar und eine nächste Reform ist notwendig und wird sicher kommen. Man ist aber auch sicher, dass man sie nicht lieben wird, weil man befürchtet, dass sie nur den Privilegierten der Oberschicht Vorteile bringen wird und gleichzeitig die Ausgaben für den sozialen Ausgleich für die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft das Geld verschlingen werden. Wer vergessen wird und überproportional zahlt, das wird wieder einmal die Mitte sein – so die Erwartung. Gewachsen ist in der Mittelschicht in den letzten Jahren die Abgrenzung nach oben gegenüber Spitzenverdienern und Topmanagern der Wirtschaft, doch hier sieht sich die Bürgerliche Mitte machtlos, zumal der Aufstieg dahin eine heimliche Sehnsucht ist. Jedoch gegenüber Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gibt es den mittlerweile zu Routine und Strategie geronnenen ReÀex zur Abgrenzung: Distinktionen und Kontaktsperren „nach unten“ pÀegen Eltern der Mitte im Be-
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reich der Erziehung, Ernährung und Freizeit ihrer Kinder. In Bildung (ihrer Kinder und ihrer eigenen) zu investieren, ist ein sicheres und probates Mittel, sich von der hedonistischen und konsum-materialistischen Unterschicht abzuheben. Gesundheit ist hier eine zunehmend entdeckte Sphäre – und ein weites, bisher weitgehend unbestelltes Feld – zur Abgrenzung nach unten. Im Wartezimmer des Hausarztes begegnet man immer seltener Menschen aus gehobenen Lebenswelten. Viele aus der Bürgerlichen Mitte fragen sich, zu welchen Ärzten diese gehen und ob sie selbst möglicherweise wichtige Entwicklungen verpasst haben und zurückbleiben. So reÀektiert die Bürgerliche Mitte kritisch ihre bisherige Routine, den bequemen nächstgelegenen Arzt aufzusuchen. Ein erheblicher Teil derer, die sich von der sozialen Unterschicht abheben wollen, sucht zunehmend den „besseren Arzt“ in der weiteren Region auf. Hier orientiert man sich an Empfehlungen von Freunden und Bekannten, auf die man was hält, weil sie in der sozialen Lage und im kulturellen Kapital „weiter“ sind. Allein die Tatsache, nicht zum Arzt von „Jedermann“ zu gehen, sondern es sich zu leisten, zu einem anderen, besonders guten Arzt zu gehen, ist für die Mitte ein Symbol für Status. Dazu gehört auch, dass bestimmte Leistungen nicht von der Kasse übernommen werden, sondern man diese selbst zahlen muss. Denn genau das kann und tut die Unterschicht nicht. Durch die öffentliche Diskussion über die Zweiklassen-Medizin sind die Sensoren der Bürgerlichen Mitte für solche Belege in ihrer Nahwelt geschärft – suchen und sehen dieses fast kon¿rmatorisch bestätigt. So steigert sich spiralförmig der Druck, in Belangen der Gesundheit unbedingt aktiv werden zu müssen – in Informationsbeschaffung, Prävention, Arzt- und Krankenhauswahl, Medikation etc. Man sieht sich an der Kante und will keineswegs zur Gruppe derer gehören, die nur zweitklassige Medizin bekommt. Das hat auch Imagegründe im sozialen Umfeld. So ist die Mitte sensibel und sucht aktiv nach Angeboten und Möglichkeiten in ihrer Nahwelt, etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Insbesondere der für sie neue und noch sehr unübersichtliche Zweite Gesundheitsmarkt wird von der Bürgerlichen Mitte mit zunehmender Geschwindigkeit, Neugier und Nachhaltigkeit entdeckt und erschlossen. „Hedonisten“: Forever Young Hedonisten wollen hier und heute leben, sich nicht um das Morgen sorgen. In ihrem Alltag wollen sie primär Spaß und Unterhaltung – je kruder und krasser, umso besser. In der Gruppe mit Gleichgesinnten und durch Provokationen von Anderen („Normalos“, angepasste Spießer) suchen sie gleichermaßen den emotionalen Kick wie Selbstbestätigung als überlegener Underdog. Es geht um Ausbrechen aus den Zwängen des Alltags: frei sein, ungebunden sein, anders sein. Gleichzeitig haben Hedonisten oft Träume von einem heilen, geordneten Leben
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Zentrale Befunde
(intakte Familie, geregeltes Einkommen, schönes Auto oder Motorrad) – gespeist durch wachsende soziale Ängste. Viele führen deshalb ein regelrechtes Doppelleben: Im Berufsalltag sind sie angepasst (bei meist geringer Identi¿kation mit der beruÀichen Tätigkeit) – in der Freizeit tauchen sie in subkulturelle Gegenwelten ein, die für sie gerade aufgrund ihrer Exzentrik den höheren Stellenwert haben, denn dort ¿ndet „eigentliches Leben“ statt. Dort ¿ndet der Einzelne Sicherheit im Kreis von Gleichgesinnten, fühlt sich nicht domestiziert und gegängelt. Dies ist die lebensweltliche Hintergrundfolie und der Zugang zum Gesundheitsverständnis von Hedonisten. Hedonisten leben nach dem Motto „forever young“. Vor allem der Körper ist belastbares Material für das intensive (Er-) Leben, das stets nach weiteren Erlebnissteigerungen verlangt. Hedonisten haben im Vergleich zu anderen Milieus das geringste Gesundheitsbewusstsein, kaum Sinn für Vorsorge und keinen Zugang zu Prävention. Meist erst im Fall einer ernsthaften Erkrankung werden sie auf das Thema Gesund heit gestoßen – und erleben ihre Krankheit als unerhörten und ungerechten Einbruch in ihr Leben sowie als Angriff auf ihr Lebenskonzept. Dass ihr genuss(mittel)orientiertes Konsumverhalten negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben kann, wird verdrängt oder geleugnet. Oder man wertet es offensiv als eigene innere Stärke, diesen „Gefahren“ zu trotzen und sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Einige wenige stimmen zu, dass ein gesundheitsbewussterer Lebensstil richtig wäre – doch sie verweisen auf die eigene Antriebslosigkeit, Trägheit und Unlust, ihr Leben zu ändern. Je älter ein Mensch wird, desto kränker wird er; „das passiert einfach so“: Groß ist dieser Fatalismus. Doch für Hedonisten gilt dieser Zusammenhang für eine Zeit in sehr ferner Zukunft, sehr weit jenseits dessen, was sie betrifft und was für sie bedeutsam ist. Elementar ist, dass die ganze Gesundheits-KrankheitsSemantik überhaupt nicht Teil der Alltagswelt von Hedonisten ist; solches betrifft aus ihrer Sicht „die Anderen“ (nur im extremen Schicksalsfall jemanden von ihnen). Das Thema „Gesundheit / Krankheit“ ist für sie mit Werten und Verhaltensmaximen konnotiert, die für sie langweilig sind und Spaßräuber. Und damit will man nichts zu tun haben. Aber auch Hedonisten werden krank. Zum Arzt geht man nur im Notfall, um von akuten Schmerzen befreit zu werden, oder um eine Krankmeldung zu bekommen. Es ist eine sehr basale, auf ein konkretes punktuelles Ziel ausgerichtete, wenig differenzierte Erwartung an einen Arzt. Man will ein Attest, eine Krankmeldung oder ein Rezept – aber keine Lebensberatung: Der Arzt versteht einen sowieso nicht. Was für eine Person der Arzt ist, was für eine Gesundheitsphilosophie er vertritt, wie es im Wartezimmer aussieht, ob er viel oder wenig verschreibt – all das ist Hedonisten ziemlich egal und sie gehen nach der Maxime des af¿rmativen Pragmatismus vor: sich aus den ideologischen Überbauten und Appellen, mit denen man womöglich konfrontiert wird, nichts machen, sondern das Nötige in
Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
63
Kauf nehmen (dabei innerlich abschalten und cool sein), um das zu kriegen, was man will. Man ist beim Arzt ohnehin in einer fremden Welt, aus der man schnell wieder raus will. Die Compliance ist sehr gering. Im Arztgespräch akzeptieren Hedonisten äußerlich das hierarchische Gefälle, bewahren sich aber ihre innere Distanz und Coolness – und werten dies als ihre Überlegenheit. Danach folgen sie den Ratschlägen des Arztes nach eigenem Er messen. Gründe sind Gleichgültigkeit und Mangel an Selbstdisziplin, vor allem aber der ReÀex, sich von einer Person, die in jener anderen Welt lebt, nichts vorschreiben zu lassen. Man bewahrt und demonstriert sich so seine Unabhängigkeit und Coolness gegenüber den etablierten Leistungsträgern und gegenüber dem „System“. Nur wenn es auf Leben oder Tod geht, oder wenn lebenswichtige Organe bedroht sind, hält man sich – notgedrungen – an die Vorschriften. Zugleich haben Hedonisten hohe Ansprüche und Forderungen an Ärzte und das Gesundheitssystem: Diese sind für Hedonisten selbst verständlich und unentschuldbar in der Bringschuld. Gleichzeitig will man von ihnen nicht belästigt oder gar bedrängt werden. Empfehlungsschreiben von Ärzten, Krankenkassen und anderen Institutionen, Ratschläge von Ernährungsberatern, Pädagogen und Sozialarbeitern zum Ziel der gesundheitlichen Prävention werden als zwar gut gemeinte, aber lästige Moralpredigt wahrgenommen. Man fühlt sich ohnehin gesellschaftlich als Mensch zweiter Klasse – und kultiviert dieses Selbstbild als subkulturelle Kraft gegen das Establishment, schöpft daraus Identität und Selbstwertgefühl. Mit den Konsequenzen, von der Mehrheit nicht gemocht und respektiert zu werden, lebt man gern. Und so hat man sich daran gewöhnt, dass man auch im Gesundheitswesen beim Hausarzt, beim Facharzt, im Krankenhaus, in der Apotheke allein aufgrund der Kleidung, der Sprache, dem Verhalten als nicht normal gesehen wird. Dort dominieren andere mit ihrer Sprache, Stilistik und Verhaltensregeln – und haben die Macht. Zwei inkompatible Welten begegnen sich und müssen diese Situation des ungeliebten Aufeinandertreffens bewältigen und möglichst schnell hinter sich bringen. Auf Kontinuität und Vertrauen sind diese Berührungen von Hedonisten mit Personen im Gesundheitswesen nicht angelegt, sondern auf punktuelle Lösung. Doch zuvor schon sind die Zugangsbarrieren für den Arztbesuch hoch: Man will sein kostbares Geld nicht für Medikamenten zuzahlungen oder gar die Praxisgebühr ausgeben – zumal man nicht weiß, ob diese Investition ihnen auch was bringt. Hier ¿ ndet – meist vorbewusst – eine Güterabwägung statt. Beim Arzt selbst und schon im Wartezimmer begibt man sich in eine fremde, langweilige, unbehagliche Umgebung, setzt sich dem „Angegafft-werden“ aus. Die anderen Patienten im Wartezimmer machen auf Hedonisten den Eindruck, hier regelmäßig zu sein. Sie bestimmen die Stimmung (sehr ruhig, fast stumm, körperlich zurückgenommen, alle blicken ins Leere oder blättern in einer spießigen Zeit-
64
Zentrale Befunde
schrift), geben den Takt vor und sind der „Platzhirsch“. Hedonisten fühlen sich in dieser Atmosphäre wie in einer Zwangsjacke, ¿nden das Ganze „öde“ und fühlen sich – gerade weil sie meist allein sind – ausgeliefert (das ist der Grund, warum manche den besten Freund oder die beste Freundin als Begleitung mitnehmen). Dazu muss man beim Arzt lange warten, verliert kostbare Zeit für das Eigentliche – und bekommt am Ende oft keine Belohnung, sondern Vorschriften, dies zu tun und jenes zu lassen. Das motiviert nicht und so geht man nur dann zum Arzt, wenn es unumgänglich und nicht mehr auszuhalten ist. Negativ ist das verbale Pauschalurteil der Hedonisten über alle Akteure und Organisationen im Gesundheitswesen. Dieses bildet für Hedonisten ein Panoptikum all dessen, was ihnen an der etablierten Leistungsgesellschaft zuwider ist. Und doch kommt man von der Gesellschaft und dem Gesundheitswesen nicht los – braucht beide unbedingt, um sich an ihnen abzuarbeiten (Quelle ihrer Identität und des Selbstbewusstseins) und um versorgt zu werden. Die Strenge und Härte, mit der sie sich von der Gesellschaft despektierlich beobachtet und stigmatisiert sehen, kehren Hedonisten offensiv gegen die Gesellschaft und das Gesundheitssystem: Einen Fehler darf dieses sich nicht erlauben. Unliebsame Nebenfolgen aufgrund einer Operation (z. B. Einschränkung von Organen, von Mobilität oder gar Fruchtbarkeit) sind für Hedonisten nicht nur eine Nebenfolge, sondern werden als Eingriff in ihre individuelle Tabuzone und damit quasi als Rechtsverletzung bewertet. Ein Beispiel für die milieuspezi¿sche Grenzziehung und offensive Deutung: Bei häu¿g wechselndem Geschlechtsverkehr von Frauen steigt bei ihnen das Risiko von Gebär mutterhalskrebs. Ist eine Frau davon betroffen und muss die Gebärmutter entfernt werden, dann lastet die Frau die ursächliche Verantwortung für diesen Verlust oft nicht sich selbst zu, sondern dem Arzt. Das ist typisch für die selbst verordnete Generaldispens von Hedonisten in Bezug auf ihre Gesundheit. „Experimentalisten“: Zwischen Reparaturmedizin und exotischem Kick Gesundheit ist für Experimentalisten ein Thema, das man versucht, so lange wie möglich zu umgehen. Dieses recht junge Milieu fühlt sich grundsätzlich gesund, ahnt aber, dass Gesundheit in der Zukunft für sie eine große Rolle spielen wird bzw. dass man etwas für sich tun muss, um gesund zu bleiben. Gesund sein bedeutet für Experimentalisten relativ klar und einfach, keine akuten Schmerzen und Beeinträchtigungen zu erleiden, die ihre Lebensgewohnheiten einschrän ken. Sie führen ein abwechslungsreiches, intensives Leben und sind sich der Tatsache bewusst, dass sie häu¿g Raubbau am eigenen Körper betreiben. – Aber genau dieser Raubbau macht ihnen auch Spaß, weil er Mittel und Preis für ihre (wörtlich:) ex-zentrische Form der Selbst- und Welterfahrung ist:
Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit ƒ
ƒ
65
Dies betrifft den beruÀichen Bereich, der häu¿g durch Zeitverträge, schlecht bezahlte Tätigkeiten im kreativ-künstlerischen Umfeld oder andere Formen der unsicheren freiberuÀichen Tätigkeiten gekennzeichnet ist. Typisch sind lange, unregelmäßige Arbeitszeiten (spätes Essen, Übermüdung), wie auch latent vorhandener Dauerstress aufgrund der Ungewissheit, wohin die Reise geht und was „danach“ kommt. Gleichzeitig ist man beÀügelt von der Vorstellung, einen Traum-Job zu haben, der einen erfüllt und auch noch ernährt. Entsprechend fühlen sich Experimentalisten häu¿g in der Zwickmühle: Sie wissen, dass sie verantwortungsvoller mit den eigenen Ressourcen umgehen müssen, aber gleichzeitig nicht den Anschluss verpassen dürfen und wollen (ein unbezahltes Praktikum sausenlassen bedeuet Chancenverringerung für zukünftige Jobs). Neben dem beruÀichen Bereich fordert ihr Privatleben erhebliche Energien. Experimentalisten sind gerne und viel unterwegs, geographisch in ferne Länder oder in unbekanntes (extremes) Terrain jenseits des normalen Mainstream. Einige Experimentalisten betreiben auf ihrer Suche nach Grenzerfahrungen intensiv Extremsportarten – und nehmen das Risiko von Verletzungen in Kauf. Verzichten wollen sie derzeit auf die (inneren und äußeren) Erlebnisse nicht, weil sie darin ihre Identität ¿nden. Im Alltag sind sie sehr häu¿g diskontinuierlich und nachts unterwegs. Dazu gehören laute Clubs, Konzerte und subkulturelle Szenen. Auch Rauschmittel aller Art spielen durchaus eine Rolle; man geht aber davon aus, dass alles „seine Zeit hat“ und diese Phasen irgendwann von allein vorübergehen (sofern nicht vorher aus Krankheitsgründen ein Verzicht erforderlich ist).
Das dominierende Motiv, gar die Randbedingung ist: Die Power der Passion darf nicht gedrosselt werden. So machen die meisten keine Folgenabschätzung ihres Lebensstils – wohl aber haben sie latente Ängste vor Dauererkrankung mit Folgen: nicht arbeitsfähig zu sein, den Arbeitsplatz zu verlieren, Netzwerke zu verlieren, seinen Sport oder seine Passion nicht mehr ausüben zu können etc. Körperliche Beeinträchtigungen spielen eine mindestens genauso große Rolle wie seelischmentale. In diesem Zusammenhang ist auch das Altern ein Angstthema. Trotzdem sind sie getragen von einem sehr großen (Ur-) Ver trauen in die Regenerationskraft ihres Körpers – und das nicht nur für den Augenblick, sondern mit einer Lebensverlaufsperspektive („Wenn ich erst mal ein geregeltes Leben habe, tu ich auch mehr für meine Gesundheit“). Typisch ist eine kompensatorische Reparatur-Haltung: Auf der einen Seite Selbstgefährdung und Selbstausbeutung bis an den Rand der Erschöpfung und danach ein Nix-tun-Wochenende oder eine Woche Meditation. Experimentalisten halten Ausgleich für erforderlich, um wieder Kraft zu schöpfen, wobei der „Aus-
66
Zentrale Befunde
gleich“ eher auf Kontrasterleben zielt und sich weniger an Empfehlungen zur Gesundheit orientiert. Für dieses Milieu ist es sehr wichtig, sich nicht nur in der eigenen Haut wohl zu fühlen, sondern auch eine positive, optimistische, gesunde Ausstrahlung zu haben („Man soll sehen, dass ich mich gut fühle und mit mir selbst im Reinen bin !“). Entsprechend werden aktuelle Emp¿ndlichkeiten und Beschwerden im Bekanntenkreis eher nicht thematisiert, sondern amüsiert als „Wehwehchen“ tituliert. Experimentalisten gehen meist nur zum Arzt, wenn sie sich (akut) schlecht fühlen. Hintergrund für die Distanz ist die Tatsache, dass teilweise das Gefühl besteht „ausgeliefert“ zu sein und ein „Urteil“ zu erhalten, das eine Bedrohung für den aktuellen Lebensstil bedeuten könnte (auf etwas verzichten müssen). Der Arztbesuch ist prospektiv und potenziell der „Tag der Wahrheit“, an dem sich rächt, was man vorher versäumt hat (auch an Prävention). Und in einer Kind-ähnlichen Art will man die Wahrheit gar nicht wissen, denn wenn man sie weiß, muss man etwas tun und das könnte das einschränken, was man am liebsten tut. Sie gehen erst zum Arzt, wenn OTC nicht mehr hilft. Zuerst die Eigentherapie, um eine schnelle Lösung des Problems herbeizuführen – und um nicht ein noch größeres Problem durch den Arzt (gesagt) zu bekommen. Zum Arzt geht man erst, wenn gar nichts mehr geht und man selbst nicht mehr weiter weiß. Dann aber vertraut man dem Arzt als einem studierten Mediziner. So spontan und bedürfnisorientiert wie der Arztbesuch, ist die Erwar tungshaltung: Man erwartet, dass einem „auf Knopfdruck“ geholfen wird. Ein guter Arzt sollte zuhören können und die eigenen Beschwerden ernst nehmen. Wichtig ist eine offene Kommunikation auf Augen höhe, die nicht autoritär oder besserwisserisch daherkommt, schon gar nicht verbal oder habituell eine Kritik am eigenen extremen oder subkulturellen Lebensstil signalisiert, oder gar Ratschläge für ein anderes Leben gibt. Experimentalisten ¿nden in Arztpraxen und Krankenhäusern Massenabfertigungen abstoßend. So sehr sie eine Ad-hoc-Therapie wollen, gilt ihre energische Kritik einer schnellen Symptombehandlung, die nicht zu den Ursachen vordringt und die den Patienten nicht ganzheitlich in den Blick nimmt. Ein Grundvertrauen in die Medizin und Ärzte ist da, auch wenn man keine „enge“, regelmäßige Beziehung pÀegt und will. Man erwartet konkrete Maßnahmen, die schnell helfen. Präventionsappelle nimmt man entgegen, legitimiert sein anschließendes Unterlassen dann mit den aktuellen – mal wieder „unerwartet harten“ – Lebensumständen. Auch wenn man sich immer wieder vornimmt, in die vorbeugende Rückengymnastik zu gehen, holt man dennoch meist einen Massage- oder Einrenktermin, „wenn es wieder soweit ist“. Die Compliance ist letztlich relativ gering und wenn der Arzt eine einschneidende Therapie verordnet, Àüchtet man sich lieber in Kritik und Misstrauen an ihm und dem „Filz der Medizinindustrie“ und vertraut seiner Intuition und der subjektiven Emp¿ndung, was jetzt die richtige Maßnahme wäre.
Milieuspezi¿sche burden of disease
67
Gesunde Ernährung wird als besonders wichtig erachtet. Vor allem Frauen kaufen, wenn bezahlbar und ein Laden in der Nähe ist, gern Bio-Produkte. Doch geregelte Mahlzeiten und eine vollwertige Ernäh rung bekommen Experimentalisten in ihrem Tagesablauf praktisch meist nicht unter. Zugänglich und neugierig sind Frauen aus diesem Milieu im Bereich jener Formen von Prävention und Therapie, die jenseits der klassischen Medizin neue Wege beschreiten: alternative Heilmethoden, traditionelle chinesische Medizin, Ayurveda u. a. Sie haben eine große Lust auszuprobieren, sich selbst dabei zu erleben. Im Unterschied zu Postmaterellen ist das Motiv nicht der feste Glaube an diese Methode, sondern das Ausprobieren einer „exzentrischen“ Technik. Wichtig ist subkulturelle Distinktion: auf keinen Fall das tun, was „Mainstream“ ist und andere machen. Milieuspezi¿sche burden of disease Hochsigi¿ kant sind Unterschiede der milieuspezi¿schen „burden of disease“ (Krankheitslast). Ein Indikator dafür ist die subjektive Prävalenz, ermittelt anhand von 16 abgefragten Krankheiten (s. Tabelle S. 69–73), die summa cum grano als „Volkskrank heiten“ bezeichnet werden können. Diese Liste ist natürlich nicht suf¿zient und es lassen sich viele weitere (vor allem schwere) Krankheiten nennen, die diese Liste sinnvoll ergänzen würden. Ziel dieser Befragung war es, im Rahmen einer Pilot-Repräsentativbefragung zu ermitteln, ob es signi¿ kante Milieuunterschiede in Bezug auf Prävalenzen bei einem relativ breiten Spektrum von Krankheiten gibt. Damit liegen erstmals überhaupt empirisch belastbare Infor mationen vor, die nicht nur die soziale Lage als Erklärungsvariable heranziehen können, sondern auch den Lebensstil sowie Grundauffassungen über Gesundheit. Die folgenden Ausführungen zur burden of disease basieren auf den abgefragten Indikator-Volkskrankheiten bzw. Risikofaktoren und sind auf diesen Geltungsbereich bezogen. Damit unterscheidet sich die hier vorgenommene Messung bewusst von der seitens der WHO vorgenommenen ersten Studie zur Global Burden of Disease17. Zentral an jener Methodik waren zusam menfassende Bewer tungen der Mortalität (Konzept der verlorenen Lebensjahre), der Morbidität (Konzept der disability-adjusted life years) und der gesunden Lebenserwartung (healthy life expectancy) bei wichtigen Krank heitsbildern. Als Datenquellen wurden in der WHO-Studie amtliche demographische und epidemiologische Statistiken, repräsentative Erhebungen an Bevölkerungsstichproben, Ergebnisse von epide miologischen Studien und Expertenbefragungen sowie Murray, C. J. L. / Lopez, A. D.: Global Burden of Disease: A Comprehensive Assessment of Mortality and Disability from Diseases, Injuries and Risk Factors in 1990 and Projected; Hrsg.: World Health Organization, Harvard School of Public Health, World Bank. Harvard University Press, 1996.
17
68
Zentrale Befunde
Modellberech nungen verwendet. Dieses war in der vorliegenden Untersuchung in diesem Umfang nicht möglich. Daher beschränkt sich der hier verwendete Indikator auf die Morbidität, die im Rahmen einer repräsentativen, sehr großen Bevölkerungsstichprobe (13.572 Fälle) über die subjektive Prävalenz der Menschen ermittelt wurde. Die Morbidität besonders in den Blick zu nehmen, hat gewichtige medizinische und gesundheitsökonomische Gründe: In Deutschland und anderen westlichen Ländern ist die Entwicklung der Krankheitslast in den letzten Jahrzehnten charakterisiert durch eine Abnahme der Mortalität in der Bevölkerung bei gleichzeitiger Zunahme der Morbidität. In den Industrienationen hat sich das Krankheitsspektrum mit den demographischen Veränderungen in Richtung chronische Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Diabetes, Adipositas, Erkrankungen des Bewegungsapparates und umweltbezogene Erkrankungen, verlagert.18 Wenn die Industrienationen gefordert sind, auf diese epidemiologischen Veränderungen zu reagieren, dann ist entscheidend, in welchen Segmenten der Gesellschaft die Morbidität bzw. das Morbiditätsrisiko höher ist und wo es geringer ist. Dazu bedarf es eines ganzheitlichen Gesellschaftsmodells, das nicht mehr nur eindimensional soziale Schichten unterscheidet (dies hatte allenfalls noch in der Früh moderne, in der Phase der Industrialisierung eine ausreichende Erklärungskraft), sondern angesichts der Pluralisierung von Lebensformen, Lebensauffassungen und Lebensweisen – mit immer neuen Schüben des Wertewandels in den Etappen der deutschen Nachkriegsgeschichte – eines mehrdimensionalen Gesellschaftsmodells, das diese soziokulturellen und soziodemographischen Strukturen integriert. Dieses leistet das Milieumodell. In den folgenden Tabellen (S. 69–73) sind die milieuspezi¿schen subjektiven Prävalenzen von 16 Krankheiten dargestellt, zunächst in der Gesamtbevölkerung ab 18 Jahren, dann zur Kontrolle des Alterseffekts auch für die 18- bis 30-Jährigen, 31- bis 50-Jährigen, 51- bis 65-Jährigen sowie für die über 65-Jährigen. Deutlich ist zu sehen, dass mit dem Alter die Krankheitslast zunimmt. Dabei verschwinden bei der Kontrolle der Altersvariablen keineswegs die Unterschiede zwischen den Milieus; sie bleiben statistisch signi¿kant. Zugleich aber kommt es im Alterskohortenvergleich zu Ausbreitungen und Verschiebungen der Krankheitslast: zunächst in Richtung moderne Unter- und Mittelschicht (Konsum-Materialisten, Hedonisten, Experimentalisten), sukzessive und verstärkt ab 66 Jahren auch in Richtung gesellschaftliche Leitmilieus (Moderne Performer, Postmaterielle, Etablierte).
The World Health Report 2002: Reducing Risks, Promoting Health Life; World Health Organization 2002.
18
Milieuspezi¿sche burden of disease
69
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Altersgruppe ab 18 Jahren (nach oben unbeschränkt) ETB
%
%
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Rückenschmerzen
37,3 32,1
27,5
19,6
45,1
58,0
52,7
37,6
42,9
26,6
29,4
Bluthochdruck
20,9 15,2
12,7
3,6
27,1
46,3
40,2
16,3
24,5
8,0
15,5
Übergewicht, Fettleibigkeit
14,0
11,0
12,1
7,2
13,2
21,2
13,8
12,6
20,4
11,0
12,6
Magen-Darm-Probleme, Verdauungsstörungen
10,6 10,2
7,7
6,2
11,9
13,1
14,4
10,4
12,6
9,9
10,4
Fettstoffwechselstörungen (Cholesterin)
10,3
6,4
9,0
3,4
14,2
22,6
10,9
6,2
13,4
5,7
9,3
Arthrose
9,9
4,7
6,7
1,9
15,0
25,0
17,8
7,4
9,9
3,6
7,3
Allergien
9,2 10,2
10,4
12,0
8,6
6,0
6,6
7,8
8,2
13,2
10,2
Diabetes
7,0
3,2
3,8
1,4
7,7
17,6
14,0
4,4
9,3
2,4
5,3
Migräne
6,7
5,7
8,0
7,0
5,5
4,8
6,9
7,1
7,8
7,9
6,7
Arthritis
5,6
3,0
3,5
1,2
7,8
15,1
6,9
3,1
6,4
2,3
5,7
Chronischer Kopfschmerz
4,4
5,5
4,2
2,3
5,3
4,6
6,9
4,1
3,9
4,8
4,1
Osteoporose
4,3
2,8
1,9
0,9
5,6
10,4
6,8
2,6
5,4
1,2
5,6
Depressionen
4,0
2,6
2,9
2,8
2,3
4,7
5,4
2,8
5,8
6,5
4,9
Hautprobleme, Neurodermitis
3,6
2,5
5,1
3,5
2,0
3,4
2,8
3,2
3,0
4,8
5,7
Vergrößerung der Schilddrüse, Struma
3,2
2,6
3,2
1,2
3,0
3,6
4,1
3,4
3,8
2,7
4,0
Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, Chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen)
3,0
2,8
2,0
1,4
3,1
3,6
6,9
2,9
2,9
2,6
3,0
Mittelwert über diese 16 Krankheiten
9,6
7,5
7,5
4,7
11,1
16,3
13,6
8,2
11,3
7,1
8,7
Index*
100
78
78
49
115
169
141
86
117
74
91
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren, die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beant worten. (13.572 Fälle) * Index = Prozent im Milieu / Prozent der Bevölkerung * 100 (Beispiel Etablierte: 7,5 / 9,6 * 100 = 781) Interpretation: Index = 100: Anteil in der Teilgruppe entspricht dem Anteil der Gesamtbevölkerung Index > 100: Anteil in der Teilgruppe ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich Index < 100: Anteil in der Teilgruppe ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterdurchschnittlich
70
Zentrale Befunde
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Altersgruppe 18 bis 30 Jahre ETB
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Rückenschmerzen
12,3
6,2
10,8
6,3
20,2
10,3
33,6
18,0
18,3
12,0
14,7
Allergien
10,5
7,5
11,1
10,3
2,8
9,2
13,6
11,4
12,0
10,9
9,9
Übergewicht, Fettleibigkeit
6,6
5,3
5,4
3,1
1,7
4,4
15,1
8,6
11,2
6,2
10,0
Migräne
5,4
6,3
6,0
3,5
4,8
7,0
14,7
5,4
8,0
5,8
5,1
Hautprobleme, Neurodermitis
4,3
3,3
7,1
2,8
1,1
1,6
1,1
5,7
2,6
4,4
5,8
Magen-Darm-Probleme, Verdauungsstörungen
3,9
4,9
3,0
1,8
2,1
0,0
6,2
4,3
5,0
3,8
7,3
Chronischer Kopfschmerz
3,2
3,4
4,5
1,1
3,3
2,0
12,4
3,7
3,0
3,8
3,9
Depressionen
2,6
2,5
1,9
0,5
0,0
2,6
14,2
2,6
4,7
4,2
2,8
Bluthochdruck
1,6
2,9
1,7
0,3
0,0
9,6
0,0
1,1
1,3
2,0
3,6
Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, Chronisch Obstruktive Lungenerkrankungen)
1,5
1,2
0,5
0,7
0,0
4,2
0,0
2,6
2,0
2,0
1,3
Vergrößerung der Schilddrüse, Struma
1,4
1,0
2,5
0,3
0,0
6,4
1,3
0,9
0,7
0,8
5,2
Fettstoffwechselstörungen (Cholesterin)
1,2
0,5
0,8
0,2
0,0
2,2
0,0
0,9
1,0
0,6
5,0
Arthritis
0,7
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
0,3
0,2
0,9
4,2
Arthrose
0,5
0,5
0,0
0,2
0,0
0,0
0,0
0,3
0,5
0,4
2,3
Diabetes
0,4
0,9
0,2
0,3
0,0
0,0
0,0
0,2
0,6
0,5
0,4
Osteoporose
0,1
0,0
0,3
0,1
0,0
0,0
0,0
0,1
0,0
0,0
0,3
Mittelwert über diese 16 Krankheiten
3,5
2,9
3,5
2,0
2,3
3,7
7,0
4,1
4,4
3,6
5,1
Index*
100
83
99
56
64
106
200
118
127
104
146
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung 18 bis 30 Jahre, die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten. (2.779 Fälle)
Milieuspezi¿sche burden of disease
71
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Altersgruppe 31 bis 50 Jahre ETB
%
%
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Rückenschmerzen
29,0 26,5
21,8
29,4
31,0
37,9
26,6
33,2
33,0
30,0
27,0
Allergien
10,8 10,1
11,3
14,1
12,9
10,7
7,1
7,3
8,5
15,9
11,0
Übergewicht, Fettleibigkeit
10,7
11,2
7,8
13,3
16,3
13,3
11,2
14,1
11,4
8,5
7,8
Magen-Darm-Probleme, Verdauungsstörungen
8,6
6,7
7,7
7,7
9,1
9,3
10,9
9,6
8,1
13,5
6,7
Migräne
8,6
6,5
8,5
10,3
4,7
10,6
11,2
7,7
10,9
10,0
7,4
Bluthochdruck
6,8
4,7
5,9
3,5
4,6
15,3
9,1
7,1
9,4
6,9
8,7
Fettstoffwechselstörungen (Cholesterin)
4,2
2,2
4,9
4,9
4,9
3,6
3,4
2,8
6,0
5,1
5,1
Depressionen
4,0
2,2
2,5
3,3
1,7
7,6
8,4
2,3
6,2
7,0
6,3
Chronischer Kopfschmerz
3,9
4,9
3,5
2,6
3,1
5,8
3,6
3,6
3,9
4,4
4,4
Hautprobleme, Neurodermitis
3,3
2,5
4,3
4,0
0,9
3,4
2,0
2,6
2,3
4,8
3,8
Vergrößerung der Schilddrüse, Struma
2,5
1,6
2,2
1,5
1,1
1,2
3,1
3,0
3,9
3,7
2,4
Diabetes
2,0
0,8
1,4
1,4
1,4
1,3
8,7
1,4
4,6
2,0
2,3
Arthrose
1,9
0,7
1,6
1,9
0,2
2,5
1,2
2,6
2,0
2,8
2,5
Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, Chronisch Obstruktive Lungenerkrankungen)
1,6
1,3
2,3
1,1
0,9
1,3
0,3
1,1
1,3
2,9
2,2
Arthritis
0,9
0,2
0,9
1,2
1,4
1,9
0,5
0,4
0,4
1,8
1,7
Osteoporose
0,7
0,3
0,3
0,4
0,0
0,0
2,5
0,3
0,8
1,2
2,3
Mittelwert über diese 16 Krankheiten
6,2
4,9
5,6
5,9
5,7
8,0
7,0
6,0
7,2
7,7
6,4
Index*
100
79
91
96
92
129
112
97
116
124
103
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung 31 bis 51 Jahre, die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten. (5.504 Fälle)
72
Zentrale Befunde
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Altersgruppe 51 bis 65 Jahre ETB
%
%
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Rückenschmerzen
49,2 46,2
42,4
36,8
51,0
51,0
45,5
53,4
55,2
54,4
46,8
Bluthochdruck
32,6 28,7
26,0
17,0
28,4
45,8
42,7
28,9
34,5
25,3
31,9
Übergewicht, Fettleibigkeit
19,5 16,2
16,5
22,9
12,6
21,2
15,6
19,3
25,9
23,8
21,3
Fettstoffwechselstörungen (Cholesterin)
14,8 10,2
14,9
9,5
15,5
20,8
10,8
12,0
17,6
17,3
15,8
Magen-Darm-Probleme, Verdauungsstörungen
13,5 14,7
17,9
Arthrose
10,3
8,3
18,0
12,6
11,6
13,6
12,6
16,2
18,2
4,6
10,4
8,5
8,9
16,3
8,0
9,0
12,0
8,8
12,6
Allergien
8,6 10,8
8,1
11,3
12,2
5,5
6,0
6,4
10,1
12,4
10,9
Diabetes
8,4
4,8
4,9
5,4
7,1
13,8
13,8
6,7
9,5
6,8
8,4
Migräne
7,1
5,6
8,5
6,4
8,3
5,0
6,6
8,7
6,9
6,5
8,2
Depressionen
5,2
3,3
3,9
11,4
2,9
4,6
5,2
3,0
7,4
12,8
7,3
Chronischer Kopfschmerz
5,1
5,0
5,8
7,4
8,1
5,5
3,6
4,2
3,9
11,2
2,0
Arthritis
4,9
2,9
4,0
4,8
4,0
6,6
3,4
4,2
7,1
5,6
5,6
Osteoporose
4,5
3,8
2,8
5,0
6,1
5,0
4,2
4,0
4,9
3,4
6,7
Vergrößerung der Schilddrüse, Struma
4,3
5,7
4,3
4,5
4,2
2,8
2,3
4,3
4,9
6,2
5,8
Hautprobleme, Neurodermitis
3,3
1,7
5,0
3,7
3,5
2,6
1,3
2,8
3,8
6,1
4,4
Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, Chronisch Obstruktive Lungenerkrankungen)
3,0
2,4
1,4
3,8
2,9
4,2
3,3
2,3
3,6
3,0
4,2
Mittelwert über diese 16 Krankheiten
12,1 10,4
10,5
11,0
11,8
13,9
11,6
11,4
14,0
13,9
13,1
Index*
100
86
86
91
97
114
96
94
115
114
108
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung 51 bis 65 Jahre, die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten. (3.205 Fälle)
Milieuspezi¿sche burden of disease
73
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Altersgruppe ab 66 Jahre ETB
%
%
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Rückenschmerzen
59,6 52,0
49,8
53,0
52,4
64,2
70,6
57,6
54,6
56,2
47,9
Bluthochdruck
48,0 41,0
36,0
30,1
43,9
51,5
54,1
51,1
44,2
35,6
43,0
Arthrose
30,2 23,1
39,3
18,5
31,3
31,7
33,9
33,3
22,0
32,5
27,3
Fettstoffwechselstörungen (Cholesterin)
23,4 21,0
32,0
26,5
20,9
26,3
15,0
16,5
24,3
34,6
24,3
Übergewicht, Fettleibigkeit
19,8 19,0
17,3
24,8
15,1
22,2
12,4
12,3
27,1
18,0
20,3
Diabetes
19,0 11,5
21,9
12,4
13,2
21,6
17,5
17,8
19,4
14,4
21,6
Arthritis
18,0 16,4
25,2
18,1
16,0
20,2
12,8
15,0
16,0
15,2
21,6
Magen-Darm-Probleme, Verdauungsstörungen
16,2 20,2
14,9
29,2
14,4
14,4
17,0
19,5
18,0
4,1
19,5
Osteoporose
13,5 12,7
12,3
12,7
9,6
13,9
11,2
12,7
14,2
8,3
26,3
Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, Chronisch Obstruktive Lungenerkrankungen)
6,3 10,7
4,7
17,3
5,0
3,8
12,9
10,7
4,7
2,7
7,4
Allergien
6,0 12,3
10,1
12,1
3,6
5,5
6,4
6,0
4,0
6,4
7,3
Chronischer Kopfschmerz
5,5 10,9
3,2
0,0
4,7
4,1
10,3
6,1
4,4
1,7
6,5
Vergrößerung der Schilddrüse, Struma
4,5
2,0
7,2
0,0
3,7
4,2
6,2
7,5
4,1
0,0
4,4
Migräne
4,5
2,3
6,5
27,6
3,9
3,8
4,8
4,8
4,8
8,7
6,0
Depressionen
3,9
2,5
4,0
8,8
2,6
4,4
3,5
4,5
4,3
7,3
2,1
Hautprobleme, Neurodermitis
3,9
2,8
7,0
8,5
1,5
3,7
4,5
1,3
3,0
4,1
13,5
Mittelwert über diese 16 Krankheiten
17,6 16,3
18,2
18,7
15,1
18,5
18,3
17,3
16,8
15,6
18,7
Index*
100
92
103
106
86
105
104
98
95
88
106
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 66 Jahre, die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten. (2.084 Fälle)
74
Zentrale Befunde
Bemerkenswert ist, ƒ ƒ ƒ
ƒ ƒ ƒ
dass die Milieus der Traditionsverwurzelten und DDR-Nostalgischen in allen Alterskohorten in erheblichem Maße von Krankheiten betroffen sind; dass das Milieu der Konservativen in allen Alterskohorten (auch im hohen Alter) im Vergleich zu den anderen Milieus keine überdurchschnittliche Krankheitsbelastung hat; dass im Milieu der Konsum-Materialisten die Krankheitslast in allen Alterskohorten groß ist (wobei zu berücksichtigen ist, dass aufgrund der milieutypisch hohen Indolenz und Dissimulation die tatsächliche Krankheitslast vermutlich noch viel höher ist); dass auch im Milieu der Hedonisten bereits in jungen Jahren die Krankheitslast erheblich ist (bei unter 30-Jährigen sogar höher als bei Traditionsverwurzelten); dass im Milieu der Experimentalisten ein Krankheitsschub etwa in der vierten Lebensdekade beginnt und dann die Krankheitslast noch höher ist als bei Hedonisten); dass das Milieu der Modernen Performer (mit der Maxime „work hard, play hard“) mit zunehmendem Alter eine erhebliche Zunahme der Krankheitslast erfährt (im Gegensatz etwa zu Konservativen).
Die hier berechnete burden of disease basiert auf Durchschnittsprozenten der Gesamtheit, einer Alterskohorte und eines Milieus. Somit bezieht sich der Indikator auf ein Kollektiv (Abb. S. 75), betrachtet dieses gleichsam als Einheit, berücksichtigt aber nicht, ob sich die burden of disease auf wenige Personen konzentriert oder auf viele verteilt. Das ist aber für die Medizin und Gesundheitsökonomie von erheblicher Relevanz.
Milieuspezi¿sche burden of disease
75
76
Zentrale Befunde
Milieuspezi¿sche burden of disease
77
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
Betrachtet man nun die Kumulation von Krankheitslasten auf der Ebene des Individuums (Abb. S. 76), dann bestätigt und verschärft sich der soeben vorgestellte Befund einer milieuspezi¿schen Differenz. Im Folgenden ist ein Individual-Indikator berechnet, wieder auf Grundlage der 16 abgefragten Krankheiten: Es wurde analysiert, wie hoch der Anteil jener ist, die derzeit von mindestens 3 der abgefragten Krankheiten betroffen sind.
ETB
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
16,4
8,0
28,8
44,6
37,5
19,5
30,2
16,6
21,7
69
33
121
187
157
82
126
70
91
Mindestens 3 von 16 23,9 15,8 Krankheiten gleichzeitig Index
100
66
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren (13.572 Fälle), die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten
Auffällig ist eine Konzentration der Beschwerden im traditionellen Segment der Gesellschaft – insbesondere im Milieu der Traditionsver wurzelten und DDR-Nostalgischen, die offensichtlich Hochrisiko-Milieus sind. Der Altersdurchschnitt in den traditionellen Milieus liegt zwar höher und das Alter erklärt einen Teil der Unterschiede. Die festgestellten Unterschiede lassen sich aber nicht suf¿zient durch die Altersvariable erklären; ebensowenig durch die soziale Lage. Einige Beispiele: ƒ ƒ ƒ
Die Milieus der Konsum-Materialisten und der Hedonisten haben die gleiche soziale Lage und einen ähnlichen Altersauf bau, doch die burden of disease ist bei Konsum-Materialisten im Durchschnitt erheblich größer. Im gehobenen Segment haben Konservative und Etablierte eine ähnliche soziale Lage, aber im moderneren Segment der Etablierten ist die Krankheitslast nur halb so groß. Im soziokulturell modernsten Segment der Gesellschaft haben Moderne Performer eine nur halb so große Krank heitslast wie Experimentalisten – trotz ähnlicher Altersstruktur.
Die Analysen zeigen, dass Alter und soziale Lage als isolierte Variable sowie auch als kombinierte Variable nur unzureichend die burden of disease ursächlich erklären können. Es ist notwendig zu verstehen (!), was die Menschen in den verschiedenen Lebenswelten (= Milieus) mit „gesund / krank“ meinen, was sie
78
Zentrale Befunde
unreÀektiert im Alltag für oder gegen ihre Gesundheit tun, und was sie bewusst zu tun bereit sind. Höhere Krankheitslast bei Frauen
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
In der burden of disease gibt es ein erhebliches Gefälle zwischen Frauen und Männern. Frauen sind sehr viel häu¿ger von einer kumulierten Krankheitslast betroffen als Männer. Das ist ein Befund auf Basis der subjektiven Prävalenz, der sowohl als objektive Krank heitslast interpretiert werden kann, als auch als höhere Sensibilität (und somit Selbstachtsamkeit) sowie als geringere Robustheit. Je nach Deutung hat das erhebliche Konsequenzen für die Ökonomie des Gesundheitssystems, weil diese davon abhängt, welche Verhaltenskonsequenzen Frauen und Männer in Bezug auf Prävention und frühzeitigen Arztbesuch legen. Während der Indikator zwischen Frauen und Männern im Schnitt einen Abstand von 9,7 Prozentpunkten aufweist, schwankt diese Differenz zwischen den einzelnen Milieus doch erheblich. Diese erheblichen Schwankungen gibt es sowohl innerhalb der gesellschaftlichen Leitmilieus (am größten ist das Gefälle bei Etablierten), aber auch im traditionellen Segment (größte Gender-Differenz hier bei den DDR-Nostalgischen). Es gibt nur ein Milieu, in dem Männer eine höhere Krankheitslast haben als Frauen: Konservative. Bemerkenswert ist, dass auch im jungen (post-) modernen Milieusegment der Experimentalisten und Hedonisten Frauen ein deutlich stärkeres Prävalenzgefälle haben als Männer – und dort Männer mit dem Selbstbild des tough guy ihre Krankheiten eher verdrängen und aufschieben.
ETB
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
20,3
9,0
27,5
46,8
46,9
24,2
33,3
20,9
28,5
mindestens 3 von 16 Krankheiten gleichzeitig Frauen
% Index
Männer
% Index
Differenz Frauen – Männer
28,5 22,2 100
78
18,8 10,1 100
54
9,7 12,1
71 12,5 67 7,8
31 6,9 37 2,1
97 30,5 162 í3,0
165 41,0 218 5,8
165 25,8 137 21,1
85 14,7 78 9,5
117 26,3 140 7,0
73 12,3 65 8,6
100 16,7 89 11,8
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren (13.572 Fälle), die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten.
Milieuspezi¿sche burden of disease
79
Mit steigendem Alter nimmt die burden of disease zu. Das Ausgangsniveau bei (jungen) Männern ist deutlich niedriger als bei (jungen) Frauen. Die prozentuale Zunahme der mehrfach Krankheitsbelasteten ist in den Altersdekaden ab 60 Jahren bei Frauen und Män nern nahezu identisch. Doch in den Altersgruppen davor (Segment 30–59 Jahre) gibt es signi¿kante Differenzen. GESAMT
Subjektive Prävalenz:
18–29 Jahre
Gesamt
%
23,9
6,5
9,5
13,1
25,7
38,1
55,8
Frauen
%
28,5
9,9
10,9
16,2
30,5
42,5
59,6
+1,0
+5,2
+14,3
+12,0
+17,1
8,1
9,8
20,7
33,2
50,0
+5,1
+1,7
+10,9
+12,5
+16,8
„Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70+ Jahre
mindestens 3 von 16 Krankheiten gleichzeitig
Veränderung zur jüngeren Alterskohorte Männer
%
Veränderung zur jüngeren Alterskohorte
18,8
3,0
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren (13.572 Fälle), die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten
Ein Blick auf die Altersgruppe 30–59 Jahre ist instruktiv, zumal diese Menschen im Erwerbsalter sind. Interessant ist die kombinierte Betrachtung von Geschlecht und Milieu: Auch in dieser Altersgruppe gibt es ein Gefälle in der Krankheitslast zwischen Frauen und Män nern (6,4 Prozentpunkte). Deutlich stärker jedoch schwanken die Unterschiede: ƒ ƒ ƒ ƒ
zwischen den Milieus: max. Differenz 12,1 % ƒ kleinster Wert = 12,1 %: Moderne Performer ƒ größter Wert = 24,2 %: Konsum-Materialisten zwischen Frauen verschiedener Milieus: max. Differenz 16,8 % ƒ kleinster Wert = 13,1 %: Moderne Performer ƒ größter Wert = 29,9 %: DDR-Nostalgische zwischen Männern verschiedener Milieus : max. Differenz 13,0 % ƒ kleinster Wert = 7,8 %: Etablierte ƒ größter Wert = 20,8 %: Konsum-Materialisten im milieuspezi¿schen Gefälle zwischen Frauen und Männern: ƒ kleinste Differenz = 2,0 %: Moderne Performer; ƒ größte Differenz = 22,0 %: DDR-Nostalgische
Zentrale Befunde
Subjektive Prävalenz: „Ich persönlich bin derzeit betroffen von…“
GESAMT
80
ETB
PMA
PER
KON
TRA
DDR
BÜM
MAT
EXP
HED
13,1
12,1
14,4
19,6
19,4
14,3
24,2
19,1
16,9
mindestens 3 von 16 Krankheiten gleichzeitig GESAMT
% Index
Frauen
% Index
Männer
15,8 11,3 100
19,0 15,6 100
% 12,6 Index
Differenz Frauen – Männer
71 82 7,8
100 6,4
62 7,8
83 17,2 91 9,0 72 8,2
77 13,1 69 11,1 89 2,0
91 16,1 85 11,0 87 5,1
124 21,2 112 17,2 137 4,0
123 29,9 158 7,9 63 22,0
91 16,0 84 12,6
153 27,1 143 20,8
121 23,3 123 14,7
107 18,5 97 15,7
100
166
117
125
3,4
6,3
8,6
2,8
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung 30–59 Jahre (7.793 Fälle), die bereit waren, Fragen zur Gesundheit zu beantworten
Volkskrankheit Depression Depression ist eine weit verbreitete, meist unterschätzte, (zu) spät diagnostizierte und immer noch stigmatisierte Volkskrankheit. Auch bei dieser Volkskrankheit korreliert die Prävalenz mit dem Alter und mit der sozialen Lage. Bei Menschen am unteren Rand der Gesellschaft (geringe Bildung, geringes Einkommen) sind die subjektiven Prävalenzen für Depression deutlich höher als in gehobenen Schichten. Die Milieuanalyse zeigt den notorischen Morbiditäts-Schwerpunkt im unteren traditionellen Segment (Abb. S. 81). Außerdem fällt das geringe Risiko für Depressionen bei den Konservativen auf – wie Traditionsverwurzelte und DDR-Nostalgische ein Milieu mit traditioneller Orientierung und hohem Altersdurchschnitt. Psychosoziale Risikofaktoren für Depression im traditionellen Segment können auf milieutypische Grundorientierungen zurückgeführt werden: Status quo-Orientierung und Anpassung an die Notwendigkeiten als Lebensprinzip; auf soziale Anerken nung bedachte Lebensführung, unbedingte Harmonie bei Freunden, Kollegen, Nachbarn; Geborgenheit im traditionellen Familienverband (der im Alter wegbricht); Angst vor sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung; starkes Sicherheitsstreben (Ordnung und Sauberkeit); Besorgtheit, Misstrauen, Überforderung gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel; Rückzug und Abschottung (heile Welt); Bescheidenheitsethos, Verzichtsmentalität, Verleugnung der eigenen Bedürfnisse (sich aufopfern, es dem Umfeld Recht machen wollen und dafür persönlich jeden Preis zahlen); zunehmende Verschlechterung der ¿nanziellen Ressourcen (kleine Renten). Die Frage ist: Was schützt im traditionellen Segment die Konservativen ?
Milieuspezi¿sche burden of disease
81
82
Zentrale Befunde
Eine Antwort liefern Einsichten in die Lebenswelt und den Habitus: Selbstbewusstsein als klassische Elite der Gesellschaft (Standesbewusstsein), Selbstsicherheit durch ungebrochene Traditionsverwurzelung, Ablehnung von Opportunismus und kritikloser Anpassung (statt es jedem Recht machen zu wollen: unbequem sein; sagen, was man denkt); Bemühen um den Erhalt geistiger und körperlicher Frische (gesunde Ernährung, sportliche Betätigung, Wellness-Urlaube); gutsituierte Verhält nisse, distinguierter Lebensrahmen; unprätentiös, authentisch (über den Dingen stehen). Hoch sind aber auch die Depressions-Prävalenzen in der modernen Unterschicht (v. a. bei Konsum-Materialisten), die bestrebt sind, Anschluss an die Bürgerliche Mitte zu halten, aber verstärkt die Erfah rung machen, vom Mainstream und erst recht von den gehobenen Milieus ausgegrenzt zu werden (Kontaktsperre). Viele be¿nden sich in einer ökonomisch prekären Lage, und ein Teil gibt allmählich seine Sehnsucht und Motivation nach moderatem Aufstieg auf. Gewachsen sind in den letzten 8 Jahren auch die Ängste im urbanen, postmodern orientierten Milieu der Experimentalisten. Hier spielen vor allem düstere Berufsperspektiven eine Rolle („Generation Praktikum“; die Normalität nur befristeter Zeitverträge trotz hoher Bildung), auch Vereinsamung und die Schattenseite des Lebensprinzips des Bohemien. Auffällig ist die relativ geringe subjektive Prävalenz in den gesellschaftlichen Leitmilieus sowie in der Mitte der Gesellschaft. In diesen Milieus mit gehobener Bildung, ausgeprägten Aufstiegs- und Karriereambitionen in der „rush hour“ des Lebens (zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr) sind Arbeitslust und Arbeitsbelastung hoch. Der Arbeitsalltag dringt zunehmend in die private Lebenswelt ein (spät abends, am Wochenende); jederzeitige und kurzfristige Verfügbarkeit für den Job ist die Norm(alität). Der Einzelne hat immer weniger Zeit und Sphären für Rückzug und Unerreichbarkeit. Man darf sich heute im Unternehmen keine Schwäche erlauben und auf keinen Fall erkennen lassen, dass man an der Grenze der Belastung (oder bereits jenseits dessen) ist. Die Schutzfaktoren für die eigene Gesundheit werden in Zeiten ökonomischer Krisen und des unternehmerischen Wettbewerbdrucks zurückgedrängt und haben nurmehr virtuelle Relevanz – aber kom men praktisch nicht mehr zur Geltung. Das gilt insbesondere in Dienstleistungsbranchen wie Informationstechnologien, Medien, Marketing, Werbe- und Kreativagenturen. Der Einzelne ¿ndet immer weniger Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun – es sei denn, er stemmt sich mit Energieaufwand gegen die Logik der Vereinnahmung durch das Unternehmen oder seinen Verantwortungsbereich. Diese Menschen geraten in ein System permanenter täglicher Bewährung. Sie müssen beweisen (bzw. meinen, beweisen zu müssen), dass sie ihren Arbeitsplatz verdienen und verzichten dafür auf vieles (v. a. Freizeit, FreundschaftspÀege, Familienalltag), um die beruÀichen Anforderungen zu erfüllen und zu übertreffen (auch das sehen sie von außen gefordert). Im Unterschied zu Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gibt es in
Milieuspezi¿sche burden of disease
83
diesen Milieus – beruÀich wie privat – die Norm, stark und belastbar zu sein, sich keine Schwächen zu erlauben, nicht zu klagen und seine Schwächen niemandem anzuvertrauen. Dieses Milieu ist stark gefährdet für massive Erschöpfung und die Prävalenz von Depression („burn-out“ ist in diesem Milieu aus Gründen der Außenwirkung die häu¿g verwendete Vokabel für Erschöpfung und Depression). Risikofaktor Adipositas Die Frage nach der subjektiven Prävalenz von Übergewicht (Selbstauskunft zur Punktprävalenz: „Bin derzeit davon betroffen“) auf bevölkerungsrepräsentativer Basis zeigt, dass in Deutschland derzeit 14 % die Selbstwahrnehmung haben, stark übergewichtig zu sein. Dieser Prozentwert liegt deutlich unter dem vom Robert Koch-Institut (RKI) gemessenen Wert des BMI (Body-Mass-Index), der in einer telefonischen Befragung aus Angaben der Körpergröße und des Kör pergewichts errechnet wurde19. Aber auch der Wert des RKI unterschätzt vermutlich den wahren Adipositas-Anteil in der deutschen Bevölkerung. Denn aus der kontrollierten Messpraxis weiß die empirische Sozialforschung, dass die Menschen dazu neigen, ihre Körpergröße zu überschätzen und ihr Körpergewicht zu unterschätzen. Zu wahren (bzw. wirklichkeitsnahen) Werten kommt man somit nur, wenn nicht nach subjektiven Einschätzungen der Körpergröße und des Körpergewichts gefragt wird, sondern diese gemessen werden. Aber auch die subjektiven Selbstprävalenzen sind instruktiv, denn sie illustrieren und stützen die Hypothese, dass Übergewicht auch ein Produkt milieuspezi¿scher Wertprioritäten und Lebensweisen ist. Die Milieuanalyse zeigt (Abb. S. 84), dass das Problem gehäuft in den Milieus der Traditionsverwurzelten, DDR-Nostalgischen und Konsum-Materialisten auf tritt, das heißt, verstärkt im traditionellen Segment und in der Unterschicht sowie der unteren Mitte, allerdings nicht in allen traditionell gesinnten Milieus, auch nicht in allen unterschichtigen Milieus, und auch nicht in allen Milieus mit einem hohen Altersdurchschnitt. Es ist bekannt, dass das Adipositas-Risiko mit zunehmendem Alter steigt und mit zunehmendem Einkommen geringer wird. Aber jenseits von Alter und sozialer Lage steuern offensichtlich auch soziokulturelle Faktoren die Adipositas-Prävalenz.
Vgl. Telefonischer Gesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts, Berlin 2006 (2. Welle; 7.201 Befragte): Signi¿kant sind die Geschlechterunterschiede: Bei Frauen wird „Übergewicht“ (25– < 30 BMI: Body-Mass-Index adjustiert und gruppiert nach WHO-Klassi¿kation) bei 35,5 % identi¿ziert, „Adipositas“ (30 und mehr BMI) bei 19,3 %. Bei Männern wird „Übergewicht“ bei 50,8 % identi¿ziert, „Adipositas“ bei 17,0 % (s. S. 18 ff.).
19
84
Zentrale Befunde
Milieuspezi¿sche burden of disease
85
Signi¿ kante Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt es auch in der Selbstwahrnehmung von Übergewicht und Fettleibigkeit. 12,3 % der Männer und 15,5 % der Frauen sagen, dass sie persönlich von Übergewicht betroffen sind. Die Milieuschwerpunkte bei Frauen und Männern sind weitgehend ähnlich; doch gibt es bestimmte Auffälligkeiten: ƒ ƒ
Im Milieu der Konservativen haben überdurchschnittlich viele Männer die Selbstwahrnehmung von Übergewicht, jedoch unterduchschnittlich viele Frauen. Im Milieu der Experimentalisten ist der Anteil bei den Männern mit subjektivem Übergewicht relativ gering; der Anteil der Frauen jedoch fast doppelt so groß. Das kann in diesem jungen und jugendlichen Milieu damit zu tun haben, dass Frauen eine (über-) sensible, und der Realität nicht entsprechende Selbstwahr nehmung von Fettleibigkeit haben. Im Gegenteil gibt es auf der Grundlage qualititativer Milieubeobachtungen und Milieubefragungen des Sinus-Instituts Grund zur Hypothese, dass hier die Tendenz zu Untergewicht besonders groß ist.
Was sind soziokulturelle Erklärungsansätze für eine überdurchschnittliche Adipositas-Prävalenz ? Greifen wir uns dazu die drei auffälligen Milieus heraus und analysieren die jeweiligen Alltagskulturen im Umgang mit Ernährung: ƒ
ƒ
ƒ
Traditionsverwurzelte: Traditionelle Ernährungsgewohnheiten mit def tiger deutscher Hausmannskost (zu einer Mahlzeit gehören Fleisch und Wurst; Soßen mit Mehlschwitze und viel Sahne), Kaffee und Kuchen als Routine; strenge Essensrituale (typisch ist die Maxime: „Der Teller wird leer gegessen“); gleich zeitig wenig Bewegung (sich nach einem anstrengenden Arbeitstag bzw. Arbeitsleben ausruhen). Notorische Sorgen um die Gesundheit, hoher Ratgeber-Konsum, Expertengläubigkeit. DDR-Nostalgische: Frustration und Entwurzelung sind dominante Gefühle, die mittels Essen kompensiert werden. Regulationsverlust und orale Kompensation sind gepaart mit traditionellen Essgewohn heiten. Ablehnung des modernen, westlichen Schön heitsideals, Stilisierung „proletarischer Leitbilder“ versus Resignation (sich aufgeben). Typisch ist die Maxime: „Man gönnt sich ja sonst nichts“. Konsum-Materialisten: Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit im Umgang mit sich selbst und dem Körper. Oraler Hedonismus, Essen und Trinken und jede Art von Genussmittelkonsum als Seelentröster. Fehlende Ernährungskompetenz und Esskultur, Dominanz des Convenience-Motivs („Fast Food“, „Junk Food“). Generell wenig Aufmerksamkeit für die Gesundheit; Desinteresse und Gleichgültigkeit als Schutz und Abwehrstrategie (sich emo-
86
Zentrale Befunde tional und sozial nicht berühren lassen): Die prototypischen „Couch-Potatoes“ vor dem (neuen Flachbild-) Fernseher oder der Spielekonsole. Dazu kommen (vorgeschobene) Argumente, dass man kein Geld für gutes Essen oder ein Fitness-Studio hat. Andererseits gibt man viel Geld für Fast-Food aus, kocht aus der Konserve und gibt den Kindern in die Schule Süßigkeiten und Kuchen mit („Fresspakete“ zum Verwöhnen – aber auch, weil es einfacher ist). Gewichtsprobleme der Kinder werden nicht wahrgenommen oder verdrängt.
Die innerfamiliäre Anamnese ist aufgrund der Kommunikationskultur und des Lebensstils in der modernen Unterschicht sehr gering; in den gehobenen Milieus der Konservativen, Etablierten und Postmateriellen hingegen stark ausgeprägt. Volkskrankheit Diabetes mellitus Zu Diabetes mellitus (Typ 2) ergibt die soziodemographische Analyse einen Befund ähnlich wie beim Übergewicht: Das Diabetes-Risiko steigt – jenseits der 40 – mit zunehmendem Alter an, und es variiert mit der sozialen Lage, d. h. es ist höher in den unteren Einkommensgruppen. Diese Ähnlichkeit war zu erwarten; denn neben genetischen Ursachen sind die äußeren Hauptrisikofaktoren für Diabetes mellitus Übergewicht, Bewegungsmangel und falsche Ernährung. Aber die Milieuanalyse zeigt ein etwas anderes Bild (Abb. S. 87). Auffällig sind: ƒ
ƒ ƒ
Eine stark überdurchschnittliche Prävalenz bei Traditionsver wurzelten; ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Das ist zum Teil auf das hohe Altersspektrum im Milieu zurückzuführen, doch reicht dies als Erklärung nicht, denn im etwa gleich alten Milieu der Konser vativen ist Diabetes seltener; Keine überdurchschnittliche Betroffenheit der Konsum-Materialisten (immerhin das Milieu mit dem höchsten BMI); Unterdurchschnittliche Prävalenz in der Bürgerlichen Mitte (im Unterschied zum Problem Übergewicht / Fettleibigkeit).
Warum ist die Diabetes-Betroffenheit bei Konsum-Materialisten so gering ? Die Wahrheit könnte banal sein: Viele Betroffene wissen möglicher weise gar nicht, dass sie Diabetes haben, weil sie nicht zum Arzt gehen und die Krankheit nicht diagnostiziert wird. Es gibt in diesem Milieu der Konsum-Materialisten eine hohe Dissimulation und Indolenz: Viele verdrängen ihre gesundheitlichen Probleme, nehmen sie nicht zur Kenntnis, wollen nicht krank sein:
Milieuspezi¿sche burden of disease
87
88 ƒ ƒ
Zentrale Befunde Männer können sich nicht leisten, krank zu sein; halten sich für „unverwüstlich“ (Selbstbild des tough guy). Frauen arrangieren sich resignativ bis lethargisch mit ihrem Leiden, bei sehr schlechter Compliance.
Die tatsächliche Diabetes-Prävalenz im Milieu ist sicher höher als die Befragungsdaten verraten. Eine sehr späte Diagnose und schlechte Compliance erhöhen gerade bei Diabetes mellitus erheblich das Risiko für Folgeerkrankungen und Komplikationen. Dann werden eingreifende – und teure – Behandlungen, wie z. B. Amputationen oder Dialyse, deutlich häu¿ger. Was „schützt“ die Bürgerliche Mitte im Unterschied zu Konsum-Materialisten ? Es ist vor allem die Adaption der Fitness- und Bio-Trends: Groß ist in der Bürgerlichen Mitte das Interesse an Gesundheits- und Ernährungsfragen. Ausgewogene Ernährung, frische naturbelassene Produkte und Bio-Af¿nität spielen hier eine große Rolle. Ebenso wächst die Wellness-Orientierung in den Dimensionen von Lebensqualität, Balance, Harmonie – aber in der Bürgerlichen Mitte ohne weltanschaulichen (ideologischen) Ehrgeiz, sondern moderat, Àexibel, pragmatisch. Volkskrankheit Allergien Ein völlig anderes Milieupro¿l zeigen die subjektiven Prävalenzen zu Allergien (Abb. S. 89): Hier zeigen vor allem Moderne Performer und Experimentalisten, aber auch Postmaterielle und Etablierte eine überdurchschnittliche Sensibilität – also die gesellschaftlich gehobenen Milieus. Menschen aus diesen Milieus lesen einschlägige Magazine, Ratgeber und Zeitungsartikel, in denen die Themen „Allergien, Unverträglich keiten“ thematisiert werden. Das gilt vor allem für Mütter mit kleinen Kindern aus den gehobenen Milieus, die bei bei einer Hautirritation – medial genährt – den Verdacht einer Unverträglichkeit oder gar Allergie haben. Frauen aus den Milieus der Postmateriellen und Experimentalisten haben dazu eine starke Präferenz für Ärzte mit einer Gesundheitsphilosophie, die nicht mehr allein auf die klassische Schulmedizin baut, sondern primär auf alternative „weiche“ Zugänge der Diagnose und Therapie setzt und die den EinÀuss der („verschmutzen“) Umwelt sowie die Reaktion des Organismus auf diese hervorhebt. Gleichzeitig zeigen objektive Messungen des Robert Koch-Instituts, dass die höhere Allergie-Prävalenz bei Menschen mit gehobener sozialer Lage nicht nur auf die erhöhte „Selbstsensibilität“ zurückzuführen ist, sondern faktisch besteht.
Milieuspezi¿sche burden of disease
89
90
Zentrale Befunde
Im Gegensatz dazu haben Traditionsverwurzelte und Konsum-Materialisten die zeitgeschichtlich und lebensweltlich gewachsene Alltagsphilosophie der Robustheit: Allergien muss man sich leisten können – doch sie selbst kämpfen in ihrem Alltag mit so vielen „wirklichen“ Problemen des materiellen und sozialen Überlebens, dass sie sich solche Emp¿ndsamkeiten nicht erlauben können. In der Umkehrung wird diese Einstellung als Tugend und Stärke gedeutet, und macht bei vielen Männern den Kern ihrer männlichen Identität aus: Eine „Anfälligkeit“ für Allergien wird primär als Schwäche gedeutet. Dazu kommt, dass sich die meisten aus diesem Milieu etwa eine Zusatz versicherung für alternative Heilmethoden nicht leisten können; kein Geld ausgeben können und wollen für alternative Therapien, die ihrem eindimensionalen Kausalitätsverständnis von „Reparatur medizin“ nicht entsprechen. Auch zeigen sie wenig Verständnis für mögliche Folgeerkrankungen von Allergien. All dies manifestiert sich in der Haltung, die Wirklichkeit als gegeben hinzunehmen, ein Problem möglichst lange zu ignorieren, es auszuhalten und nicht zu klagen. Medikation Mittel gegen Beschwerden Wir haben die Bevölkerung gefragt, welche Mittel sie bei Beschwerden nehmen – zur Behandlung oder auch Vorbeugung. Glaubt man den Aussagen, dann verwenden Menschen aus dem konservativen und dem traditionsverwurzelten Milieu deutlich häu¿ger Mittel und Medikamente als andere Milieus. Hier gibt es einen Zusammenhang mit dem fortgeschrittenen Lebensalter in diesem Segment. Darauf deuten die überdurchschnittlich verwendeten Mittel gegen Rückenschmerzen, Rheuma, Durchblutungsstörungen, Arteriosklerose, Venenerkran kungen hin. Allerdings erklärt das Alter nicht suf¿zient die höhere Ver wendung von Mitteln gegen Erschöpfung, Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Übergewicht, Wetterfühligkeit, Konzentrationsschwäche und einiges mehr. Die folgende Tabelle zeigt weiter, dass auch die gesellschaftlichen Leitmilieus zum Teil recht unterschiedliche Muster zeigen: Insbesondere die Postmateriellen und die Modernen Performer haben offenbar andere Verwendungsroutinen – und damit eine vermutlich je andere Selbstwahrnehmung und Motivation zur Mittelverwendung.
Medikation
91
„Ich nehme häu¿g oder / gelegentlich Mittel – auch zur Vorbeugung – gegen…“
GESAMT
Bevölkerung ab 18 Jahre ETB
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Erkältungen
34,6
33,8
33,7
38,9
33,0
35,7
35,8
33,6
33,2
29,8
Kopfschmerzen, Migräne
33,4
31,9
35,6
35,2
33,9
32,6
36,4
32,9
33,9
29,7
Schnupfen
31,7
31,8
30,2
36,0
30,0
30,9
31,2
31,9
32,7
31,9
Husten
31,4
30,7
30,4
33,7
28,2
34,1
30,7
30,7
31,8
27,9
Halsschmerzen
27,7
28,8
27,4
32,4
26,6
27,4
28,6
25,2
26,5
24,6
Rückenschmerzen
23,9
21,9
19,2
11,6
28,4
36,8
25,2
23,3
14,7
20,9
Rheuma-, Gelenkschmer15,6 zen, Arthrose
11,9
9,8
5,4
17,7
33,1
11,6
15,0
8,3
13,8
Magenbeschwerden
10,6
10,1
10,9
8,3
13,4
14,9
7,8
9,3
9,9
10,5
Zahnschmerzen
10,6
11,7
11,1
10,6
13,1
7,5
11,1
10,2
11,7
12,8
Schlafstörungen
9,4
7,2
9,6
3,9
12,7
15,9
7,3
10,2
5,5
8,7
Leichte Herz- / Kreislaufstörungen
8,2
5,9
6,6
3,1
12,2
15,4
6,1
8,8
4,2
9,0
Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Schwächegefühl, Leistungsabfall
8,2
5,3
9,5
4,7
9,2
12,3
6,6
8,0
8,1
9,4
Darmträgheit / Verstopfung
7,1
5,5
6,4
4,1
8,3
13,7
5,4
7,1
4,1
7,4
Durchblutungsstörungen
6,9
5,0
6,2
2,0
8,9
13,3
5,1
6,4
3,1
8,5
Blähungen
6,7
5,8
7,9
4,8
7,6
9,3
5,0
6,0
4,9
9,3
Arteriosklerose, erhöhte Blutfette, Cholesterin
6,5
4,9
5,3
2,0
6,5
14,3
4,4
6,6
3,0
6,5
Übergewicht
6,4
5,6
5,6
4,6
5,6
9,1
5,9
6,8
4,4
8,3
Wetterfühligkeit
6,0
4,8
6,8
2,9
8,8
10,2
4,0
5,4
3,7
6,8
Konzentrationsschwäche / Vergesslichkeit
5,8
4,3
6,4
2,3
9,4
10,9
3,5
4,9
4,0
5,9
Unwohlsein nach Alkohol- oder Tabakgenuss / „Kater“
5,7
4,4
3,8
9,2
2,0
2,3
5,7
6,0
8,8
11,4
Tages-Nervosität / innere Unruhe
5,6
4,8
7,8
3,4
7,6
6,6
4,6
4,9
5,4
6,3
Venenerkrankungen, Krampfadern
5,4
3,8
4,8
1,6
7,1
10,4
3,7
5,2
2,9
6,8
Sportlerleiden / Sportverletzungen
5,4
5,6
7,6
10,5
2,8
1,5
5,4
2,4
7,8
9,0
Stimmungstiefs
5,3
4,8
6,5
3,7
6,8
6,1
4,5
4,6
6,0
5,7
Haarprobleme, Haarausfall
4,7
4,4
4,4
3,3
5,5
5,9
3,3
4,8
3,7
7,0
92
Zentrale Befunde
Herpes, Lippenherpes
4,7
6,1
5,0
5,1
2,5
2,2
5,6
3,7
5,2
5,9
Menstruationsbeschwerden, PMS
4,4
4,0
6,9
8,1
3,0
0,7
6,3
3,7
5,5
3,6
Heuschnupfen
4,3
5,5
4,8
6,6
2,5
1,8
4,1
3,0
5,2
6,8
Durchfallerkrankungen, Diarrhöe
3,8
2,9
4,9
2,3
4,5
4,9
3,0
4,4
2,7
4,8
Andere Allergien
3,8
4,0
3,8
5,1
3,2
2,4
3,4
2,5
4,8
6,5
Hämorrhoiden
3,4
3,0
2,9
1,7
3,4
4,6
2,6
3,1
2,9
6,0
Fußpilz
3,3
3,4
2,6
3,0
1,6
3,0
3,4
2,4
2,1
6,1
Inkontinenz, Blasenschwäche
2,2
1,3
1,5
0,7
1,8
4,7
1,2
1,6
1,5
4,3
Ekzeme, Neurodermitis
2,1
1,9
2,6
1,6
1,7
1,2
1,7
1,9
2,5
4,9
Akne
1,6
1,1
1,0
2,5
0,7
0,4
1,3
1,2
3,1
4,6
Andere Pilzerkrankungen
1,5
1,2
1,2
1,3
0,7
1,0
1,4
1,1
1,7
4,2
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren (19.294 Fälle)
„Ich nehme häu¿g oder / gelegentlich Mittel – auch zur Vorbeugung – gegen…“
GESAMT
Frauen ab 18 Jahren ETB
PMA
PER
KON
TRA
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Kopfschmerzen, Migräne
41,2
44,1
43,4
42,6
42,2
37,1
47,2
39,9
44,0
34,0
Erkältungen
38,3
42,5
34,9
39,3
35,7
38,5
40,2
38,3
39,3
31,4
Schnupfen
36,2
38,1
34,7
38,7
34,2
34,8
36,4
36,0
37,4
35,3
Husten
35,7
37,7
32,3
37,2
33,3
39,0
34,7
34,4
35,2
31,9
Halsschmerzen
31,4
35,4
30,1
33,5
31,7
29,8
32,9
28,8
31,5
27,9
Rückenschmerzen
24,8
22,3
21,6
12,3
26,2
36,9
24,1
23,1
16,0
21,6
Rheuma-, Gelenkschmer18,0 zen, Arthrose
14,9
11,5
5,7
15,7
35,7
13,6
16,2
9,1
16,7
Schlafstörungen
12,1
10,7
11,8
4,3
14,9
18,5
9,5
12,9
7,6
10,9
Magenbeschwerden
11,7
11,6
12,4
9,1
14,6
15,5
9,0
9,0
11,3
10,6
Zahnschmerzen
11,2
12,8
12,2
10,7
14,2
7,8
12,5
10,6
13,1
13,7
Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Schwächegefühl, Leistungsabfall
9,6
6,3
12,1
5,6
11,8
13,6
7,3
8,7
9,0
10,3
Leichte Herz- / Kreislaufstörungen
8,8
6,6
7,4
3,3
13,5
15,0
6,5
7,9
6,0
9,9
Darmträgheit / Verstopfung
8,7
6,4
8,1
5,2
10,4
15,9
6,0
8,9
4,8
8,7
Menstruationsbeschwerden, PMS
8,6
8,6
13,7
15,8
5,2
1,1
13,0
6,9
11,1
8,2
Medikation
93
Durchblutungsstörungen
7,8
5,5
7,2
2,7
10,0
13,9
5,5
6,0
4,1
9,0
Wetterfühligkeit
7,4
7,0
8,6
3,6
10,2
11,1
5,4
6,4
5,0
7,2
Blähungen
7,4
6,3
10,0
5,1
10,3
10,2
4,6
6,5
5,7
8,5
Übergewicht
7,4
7,5
6,0
5,2
7,5
9,5
6,6
7,6
5,3
9,6
Venenerkrankungen, Krampfadern
7,2
5,6
6,4
2,3
9,7
12,5
5,4
6,1
3,2
8,5
Tages-Nervosität / innere Unruhe
7,0
6,8
10,2
3,8
9,5
7,5
6,0
6,0
7,2
7,3
Arteriosklerose, erhöhte Blutfette, Cholesterin
6,9
5,3
4,8
2,1
7,1
14,4
3,8
6,9
2,3
7,4
Konzentrationsschwäche / Vergesslichkeit
6,8
5,9
7,2
2,9
9,5
11,7
4,1
5,4
5,0
7,3
Herpes, Lippenherpes
6,6
9,0
5,9
7,0
3,6
2,8
9,1
5,4
7,9
8,5
Stimmungstiefs
6,5
6,7
8,4
4,7
8,7
6,6
5,7
5,0
7,8
6,5
Heuschnupfen
5,0
7,6
6,6
7,3
3,0
2,1
4,8
3,6
6,1
5,9
Andere Allergien
4,6
5,9
4,9
7,0
3,0
2,8
4,4
3,3
5,6
6,9
Haarprobleme, Haarausfall
4,6
4,6
3,9
3,2
5,3
5,0
3,5
4,7
4,7
6,8
Durchfallerkrankungen, Diarrhöe
4,4
3,1
6,5
2,5
6,0
5,5
3,4
4,8
2,7
4,8
Wechseljahre
4,4
5,5
6,8
3,1
7,2
2,6
3,6
5,3
2,9
4,9
Unwohlsein nach Alkohol- oder Tabakgenuss / „Kater“
3,2
2,2
2,1
4,8
0,9
0,7
3,8
2,6
7,4
7,4
Sportlerleiden / Sportverletzungen
3,2
3,7
4,8
6,5
1,6
0,9
2,3
1,3
4,8
7,0
Hämorrhoiden
2,7
2,6
2,2
0,9
3,8
3,8
2,1
1,9
2,3
4,8
Fußpilz
2,6
2,7
2,1
1,9
0,9
2,6
2,6
2,1
1,4
4,6
Inkontinenz, Blasenschwäche
2,5
1,9
1,8
1,0
2,6
4,3
0,9
1,6
1,6
4,8
Ekzeme, Neurodermitis
2,3
1,7
3,0
1,7
2,2
1,1
2,7
1,8
2,6
5,0
Akne
1,7
1,3
1,1
3,0
0,9
0,3
1,4
1,8
4,0
4,4
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Frauen ab 18 Jahren (10.211 Fälle)
„Ich nehme häu¿g oder / gelegentlich Mittel – auch zur Vorbeugung – gegen…“
GESAMT
Männer ab 18 Jahren ETB
PMA
PER
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Erkältungen
30,6
26,2
32,4
38,5
29,5
31,1
31,7
28,1
27,2
28,6
Schnupfen
26,9
26,3
25,7
33,2
24,5
24,6
26,2
27,1
28,0
29,2
94
Zentrale Befunde
Husten
26,7
24,5
28,4
30,0
21,4
26,1
26,9
26,4
28,3
24,8
Kopfschmerzen, Migräne
25,1
21,3
27,6
27,4
22,8
25,3
26,1
24,9
23,8
26,3
Halsschmerzen
23,8
23,1
24,6
31,2
19,7
23,6
24,5
21,1
21,5
22,0
Rückenschmerzen
22,9
21,5
16,9
10,9
31,4
36,6
26,3
23,7
13,4
20,3
Rheuma-, Gelenkschmer13,0 zen, Arthrose
9,4
8,0
5,1
20,2
28,8
9,7
13,7
7,4
11,6
Zahnschmerzen
9,9
10,7
10,0
10,5
11,7
6,9
9,8
9,6
10,3
12,0
Magenbeschwerden
9,4
8,9
9,4
7,4
11,8
14,1
6,6
9,8
8,5
10,5
Unwohlsein nach Alkohol- oder Tabakgenuss / „Kater“
8,3
6,3
5,5
13,9
3,3
4,8
7,6
9,9
10,2
14,6
Sportlerleiden / Sportverletzungen
7,7
7,2
10,4
14,7
4,4
2,4
8,4
3,6
10,8
10,6
Leichte Herz- / Kreislaufstörungen
7,6
5,4
5,8
3,0
10,5
16,1
5,6
9,8
2,4
8,3
Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Schwächegefühl, Leistungsabfall
6,8
4,4
7,0
3,9
5,7
10,3
5,9
7,2
7,3
8,7
Schlafstörungen
6,4
4,1
7,3
3,4
9,8
11,6
5,2
7,1
3,4
7,0
Durchblutungsstörungen
6,1
4,5
5,2
1,2
7,4
12,3
4,6
6,8
2,0
8,1
Arteriosklerose, erhöhte Blutfette, Cholesterin
6,0
4,5
5,8
1,9
5,8
14,2
4,9
6,3
3,7
5,8
Blähungen
5,9
5,4
5,9
4,5
3,9
8,0
5,4
5,3
4,1
9,9
Übergewicht
5,3
4,0
5,2
3,9
3,0
8,4
5,2
5,9
3,6
7,3
Darmträgheit / Verstopfung
5,3
4,8
4,7
3,0
5,4
10,2
4,8
5,0
3,5
6,3
Haarprobleme, Haarausfall
4,8
4,2
4,9
3,3
5,7
7,3
3,1
4,9
2,7
7,2
Konzentrationsschwäche / Vergesslichkeit
4,7
2,9
5,6
1,6
9,2
9,5
3,0
4,4
3,1
4,8
Wetterfühligkeit
4,6
2,9
4,9
2,2
6,9
8,6
2,8
4,2
2,5
6,4
Hämorrhoiden
4,2
3,3
3,7
2,7
3,0
6,0
3,0
4,6
3,4
7,0
Tages-Nervosität / innere Unruhe
4,1
3,1
5,3
2,9
5,0
5,2
3,2
3,6
3,7
5,4
Stimmungstiefs
4,1
3,1
4,6
2,7
4,3
5,2
3,3
4,1
4,3
5,0
Fußpilz
4,1
4,0
3,2
4,1
2,5
3,8
4,2
2,8
2,8
7,2
Heuschnupfen
3,6
3,7
2,9
5,9
1,8
1,3
3,4
2,2
4,3
7,5
Venenerkrankungen, Krampfadern
3,5
2,2
3,2
1,0
3,7
6,9
2,1
4,2
2,6
5,5
Durchfallerkrankungen, Diarrhöe
3,2
2,6
3,2
2,1
2,5
4,1
2,6
3,9
2,8
4,8
Andere Allergien
2,9
2,4
2,6
3,0
3,4
1,9
2,5
1,7
4,1
6,1
Herpes, Lippenherpes
2,6
3,6
4,0
3,1
1,1
1,1
2,3
1,7
2,5
3,9
Gesundheitliche Mitverantwortung
95
Inkontinenz, Blasenschwäche
2,0
0,9
1,1
0,3
0,7
5,2
1,5
1,7
1,4
4,0
Ekzeme, Neurodermitis
2,0
2,1
2,2
1,4
1,1
1,5
0,7
2,0
2,5
4,7
Akne
1,5
1,0
0,9
1,9
0,3
0,7
1,2
0,5
2,3
4,7
Andere Pilzerkrankungen
1,3
0,9
0,8
1,2
0,2
0,9
1,2
1,2
1,0
3,8
Quelle: Typologie der Wünsche Intermedia 2009 Basis: Männer ab 18 Jahren (9.083 Fälle)
Schnelle Wirksamkeit ist wichtiger als natürliche Bestandteile Vor die Alternative schnelle Wirksamkeit versus natürliche Bestandteile gestellt, hat die Mehrheit der Bevölkerung eine klare Präferenz: Für 68 % der Bevölkerung ist es wichtiger, dass ein Medikament vor allem schnell wirkt; hingegen ist es für 26 % wichtiger, dass ein Medikament eher natürliche, pÀanzliche, homöopathische Bestandteile hat (die weiteren 6 % sind unentschieden). Gesundheitliche Mitverantwortung „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or in¿rmity“ (De¿nition von Gesundheit durch die WHO).
Die von der Bevölkerung erlebte Wirklichkeit ist, dass die Verheißung einer absoluten Gesundheit sowie eine medizinische Versorgung ohne Einschränkung nicht erreichbar sind. Die Erwartungen sowohl der Gesellschaft als auch des Einzelnen sind hierauf ausgerichtet und werden immer wieder enttäuscht. Das Gesundheitssystem gerät an die Grenzen der Finanzierbarkeit, mit der Zunahme der Lebenserwartung und den Fortschritten in der Medizin nehmen chronische Erkrankungen zu. Auf der Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma wurde in den letzten Jahren die Übernahme von Mitverantwortung des Patienten zunehmend eingefordert und in diesem Kontext von „Eigenverantwortung“ gesprochen. Es ist aber wichtig, deutlich zu machen, dass der Patient allenfalls eine „Mitverantwortung“ für Vermeidung und Behandlung von Krankheit haben kann. Der Arzt behält selbstverständlich die Verantwortung für die Diagnose, Beratung, Medikation u. a.
96
Zentrale Befunde
Gesundheitliche Mitverantwortung
97
…zwischen Autonomie und Selbstverschuldung Der Begriff der Eigenverantwortung ist allenfalls diffus de¿ niert. Er gewinnt seine Faszination aus dem assoziativen Umfeld des Wunsches nach Autonomie, Selbstbestimmung, Souveränität als Gegenpol zu Krankheit, die per se dauernde oder vorübergehende Beschrän kungen eben dieser Werte bedeutet, sei es auf körperlicher (z. B. Beinbruch = Einschränkung der Mobilität), psychischer (z. B. Depression = Einschränkung der Handlungsfähigkeit) oder sozialer Ebene (z. B. Krankenhausaufenthalt = Beschränkung der Art und Anzahl der sozialen Kontakte). Sowohl der Einzelne wie auch die Gesellschaft insgesamt scheinen sich z. T. von der Verantwortung für den kranken Menschen durch das Argument der „Selbstverschuldung“ zu entlasten. Verbunden mit dem Begriff der Eigenverantwortung wird manchmal suggeriert, dass gesunde Lebensführung tatsächlich jede Krankheit verhindert – ein nicht einhaltbares „Heilsversprechen“. …als ¿nanzielle Beteiligung – Gesundheit als Kostenfaktor Die Diskussion um die Zukunft des Gesundheitswesens wird seit einigen Jahren unter dem Druck von Finanzierbarkeit und Kostenreduzierungen geführt. Zunächst wurden im Rahmen der Gesund heitsreformen auf Seiten der Leistungsanbieter Spar maßnahmen eingeleitet (z. B. Zulassungsbeschränkungen für niedergelassene Ärzte, Reduzierung der Krankenhausbetten, Verlagerung von Behandlungen in den ambulanten Bereich, Einführung der DRGs in das Krankenhausabrechnungssystem, Einfüh rung von Festpreisen bei Medikamenten). Die Ef¿zienz der Gesundheitsdienstleistungen sollte erhöht werden. Gleichzeitig wurden Versorgungsstrukturen zunehmend privatisiert und Gesundheitsausgaben von öffentlichen Haushalten in private Haushalte verschoben. Die höhere Beteiligung an den Kosten (z. B. Zuzahlungen zu Arzneimitteln, zu Kran ken hausbehandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen, Praxisgebühr, Über nah me der Kosten für Brillengestelle, Übernahme der Kosten für nicht-rezeptpÀichtige Medikamente) sollte zu verantwortlicherem Umgang mit den Ressourcen im System und damit zur Kosten kontrolle und Kosten reduzierung beitragen. Die Gesundheitsausgaben stiegen dennoch weiter auf zuletzt 3.070 Euro je Einwohner bzw. 252,8 Mrd. Euro gesamt im Jahr 2007, der Anteil am BIP beträgt nahezu unverändert 10,4 %.20 Private Haushalte tragen 13,5 % dieser Kosten, noch im Jahr 2000 betrug dieser Anteil 10,6 %.21
20 21
Statistisches Bundesamt, 2009. www.destatis.de. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 48: Krankheitskosten. Berlin 2009.
98
Zentrale Befunde
Diese „Verschiebung“ der Kosten in den privaten Bereich hat den Anstieg der Kosten selbstverständlich nicht verhindert. Eine ¿nanzielle Eigenbeteiligung wird im deutschen Gesundheitssystem durch verschiedene Zuzahlungen seit Jahren praktiziert. Entlastet wurden seit dem Jahr 2000 vor allem die öffentlichen Haushalte, deren Ausgaben gesunken sind, während die Ausgaben aller anderen Ausgabenträger gestiegen sind. Die Beschränkung von Leistungen (Beispiele Zahnersatz, frei verkäuÀiche Arzneimittel), die Privatisierung von Leistungen (Einführung der IGe-Leistungen in den Arztpraxen) und Strukturen (Privat praxen), sowie die zunehmende Ungleichbehandlung von Kassen- und Privatpatienten (z. B. Wartezeiten), verstärkten die aktuelle Diskussion um die Zweiklassenmedizin. Ein medizinischer Effekt entsteht insbesondere für die besonders gefährdeten Menschen mit erhöhtem Armutsrisiko – aktuell 13,5 % der Bevölkerung.22 Finanzielle Ressourcen, die für Eigenbeteiligungen verwendet werden, stehen an anderer Stelle (z. B. Ausgaben für bessere Ernährung oder Sportverein) nicht zur Verfügung. Bevölkerungsgruppen mit höherem Einkommen sind eher in der Lage, bei ihren Ausgaben eigene Prioritäten zu setzen. Auch hier ist ein un mit telbarer medizinischer Effekt einer Beteiligung an den Kosten nicht zu erwarten. Es ist zu erwarten, dass Ausgaben für Gesundheit bzw. Behandlung von Krank heit an milieuspezi¿schen Wertesystemen orientiert werden. …als aktive Teilnahme an Prävention von Krankheit Gesunde Lebensführung (Ernährung, Sport, Hygiene…) und Teilnah me an präventiven medizinischen Maßnahmen (z. B. Impfungen) verringern das Risiko für Krankheit. Bekannt sind erhebliche Unterschiede (und auch De¿zite) beim Gesundheitsverhalten abhängig von Alter und Geschlecht, sozialer Lage und soziokultureller Identität. Die Daten zeigen ein weit überdurch schnittliches allgemeines Gesundheitsbewusstsein bei Angehörigen der gebildeteren und etablierteren Milieus, in allen Milieus achten die Männer weniger auf ihre Gesundheit als die Frauen. Gleichzeitig fühlen sich diese Menschen auch deutlich kompetenter in Gesundheitsfragen.
22
Robert Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheit in Deutschland. Berlin 2006, 5.
99
GESAMT
Gesundheitliche Mitverantwortung
ETB
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Ich achte sehr auf meine Gesundheit
22,2
39,0
21,4
21,2
35,4
23,9
21,5
12,5
13,5
22,2
Ich achte sehr darauf, körperlich ¿t zu sein
20,1
37,6
19,3
37,2
20,4
8,8
19,8
10,5
20,6
20,1
Ich achte sehr auf gesunde Ernährung
17,3
32,2
18,9
18,5
27,6
17,4
14,3
8,5
11,5
17,3
Ich nutze gerne Lebensmittel und Getränke, die mit zusätzlichen Inhaltsstoffen angereichert sind (z. B. Omega-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, etc.) und die so einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben („Functional Food“)
5,9
10,9
4,9
8,4
6,4
4,4
5,0
3,3
5,6
5,9
„stimme voll und ganz zu“
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Bevölkerung ab 18 Jahren (29.630 Fälle)
Informations- und Bildungsunterschiede, verschiedene Arbeitswelten und -belastungen, Unterschiede der zur Verfügung stehenden Ressourcen spielen eine erhebliche Rolle in der Beurteilung des persönlichen Stellenwerts von gesundheitsfördernden Maßnahmen und spiegeln gleichzeitig Möglichkeiten und Grenzen der Übernahme von Mitverantwortung im Bereich der Prävention wider. Nicht erreichbar durch das Konzept der Mitverantwortung sind z. B. beruÀiche Risikofaktoren und Umweltbelastungen. Ansatzpunkte gibt es im privaten Bereich. Hier gilt es, wirksame Konzepte zu entwickeln. „Für die Anwendung in Gesundheitsförderung und Prävention erweisen sich Lebensstile als Konstrukte mit großer Nähe zum alltäglichen Leben und zu kon kreten Lebenswelten der Menschen.“23 Vom Robert Koch-Institut wird in der zitierten Studie ein deutlicher Forschungsbedarf vor allem bei der Erhebung alltagsrelevanter Lebensfüh rungsaspekte festgestellt, um auf Basis dieser Daten kon krete Zielgruppen zu de¿nieren und angemessene gesundheitsfördernde Angebote zu ent wickeln.
23
Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Lebensführung und Sport. Berlin 2006.
100
Zentrale Befunde
…als Mitwirkung bei der Früherkennung von Krankheit Bei vielen Erkrankungen führen Vorsorge und Früherkennung zu besseren Behandlungsergebnissen. Hieraus resultieren die entsprechenden Programme (z. B. Kinderuntersuchungen U1–U8, Krebsfrüherkennung). Bekannt ist, dass weniger als die Hälfte der Frauen und weniger als ein Fünftel der Männer an Krebsvorsorgeuntersuchungen teilnimmt. Fragt man die Bevölkerung, ob sie an Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen teilnimmt, bestätigt sich das Gefälle zwischen Frauen und Männern. Vor allem aber werden signi¿kante Unterschiede zwischen den Milieus sichtbar.24
„Ich nehme regelmäßig Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch“
GESAMT
Bevölkerung ab 18 Jahren: ETB
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
stimme voll und ganz zu
25,3
36,5
25,1
18,0
44,1
33,4
27,2
17,5
13,3
13,1
stimme weitgehend zu
36,2
34,9
40,2
31,6
38,9
35,7
37,9
34,7
31,2
39,2
stimme eher nicht zu
25,0
20,2
24,7
28,9
11,3
21,0
21,9
31,3
33,5
32,6
stimme überhaupt nicht zu
13,5
8,4
10,0
21,5
5,7
9,9
13,1
16,5
22,0
15,2
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Bevölkerung ab 18 Jahren (29.630 Fälle)
„Ich nehme regelmäßig Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch“
GESAMT
Frauen: ETB
PMA
PER
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
stimme voll und ganz zu
32,4
47,6
33,2
25,9
49,8
36,7
36,3
22,2
19,8
15,2
stimme weitgehend zu
39,7
35,4
43,9
37,6
38,4
36,8
41,0
40,0
39,0
44,8
stimme eher nicht zu
20,0
11,7
17,1
24,1
7,8
19,2
15,5
27,3
29,2
31,4
7,9
5,3
5,8
12,4
4,0
7,4
7,1
10,5
11,9
8,6
stimme überhaupt nicht zu
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Frauen ab 18 Jahren (15.290 Fälle)
Die folgenden Fragen wurden in der VerbraucherAnalyse 2009 erhoben. Diese Daten liegen milieuspezifisch zur Auswertung vor; jedoch hatte das Sinus-Institut keinen Einf luss auf die Fragenformulierung. 24
Gesundheitliche Mitverantwortung
101
„Ich nehme regelmäßig Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch“
GESAMT
Männer: ETB
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
stimme voll und ganz zu
17,8
27,5
16,7
10,5
35,5
27,6
17,0
12,6
7,7
11,5
stimme weitgehend zu
32,5
34,5
36,5
25,9
39,7
33,9
34,3
29,1
24,6
35,1
stimme eher nicht zu
30,4
27,2
32,6
33,4
16,5
24,2
29,0
35,6
37,2
33,4
stimme überhaupt nicht zu
19,4
10,9
14,3
30,2
8,3
14,4
19,7
22,8
30,6
20,0
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Männer ab 18 Jahren (14.340 Fälle)
Die verschiedenen sozialen Milieus schät zen ihre Kompetenz in Gesundheitsfragen erheblich unterschiedlich ein. Die Befunde zeigen, je höher die Kompetenz in Gesundheitsfragen eingeschätzt wird, desto häu¿ger wird der Arzt aufgesucht und auch bei rezeptfreien Medikamenten um Rat gefragt.
GESAMT
Ausgeprägtes Verhaltensmuster: ETB
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Auch bei rezeptfreien Medikamenten lege ich Wert auf die 16,5 Empfehlung eines Arztes
25,5
13,0
14,7
26,7
20,9
15,3
10,9
10,0
10,8
Bei den meisten leichten Beschwerden gehe ich nicht zum Arzt, sondern hole mir ein Mittel aus der Apotheke
17,3
25,2
16,5
24,9
15,1
10,3
18,9
14,0
20,4
13,2
Beim Kauf von rezeptfreien Medikamenten achte ich auf die Marke
13,4
27,5
11,2
15,5
20,9
14,2
11,4
6,8
8,5
9,4
Ich frage bei rezeptfreien Arzneimitteln oft nach preiswerten Alternativen
14,9
16,0
12,8
16,7
12,7
13,0
14,9
14,4
17,3
13,5
„stimme voll und ganz zu“
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Bevölkerung ab 18 Jahren (29.630 Fälle)
102
Zentrale Befunde
GESAMT
Verhaltenstendenz: ETB
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Auch bei rezeptfreien Medikamenten lege ich Wert auf die 35,4 Empfehlung eines Arztes
44,4
37,1
34,7
34,9
32,3
30,1
30,1
33,6
46,6
Bei den meisten leichten Beschwerden gehe ich nicht zum Arzt, sondern hole mir ein Mittel aus der Apotheke
60,4
71,4
58,0
55,3
66,8
64,1
62,1
54,0
50,8
56,6
Beim Kauf von rezeptfreien Medikamenten achte ich auf die Marke
59,9
68,5
63,1
69,0
50,7
44,2
65,4
57,1
63,8
60,9
Ich frage bei rezeptfreien Arzneimitteln oft nach preiswerten Alternativen
55,1
72,4
56,3
57,8
61,1
53,6
53,6
45,1
45,9
54,7
„stimme voll und ganz zu / „stimme eher zu“
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: VerbraucherAnalyse 2009 Basis: Bevölkerung ab 18 Jahren (29.630 Fälle)
…als Mitarbeit bei der Behandlung von Krankheit Mitverantwortung in diesem Bereich lässt zunächst an die Selbstbehandlung banaler Erkrankungen denken. Dies erfordert die – eigenverantwortliche – Beurteilung des Zustandes „ich bin nicht ernst haft krank“, der Kompetenz „ich weiß, was zu tun ist“ und der Möglich keiten „ich kann das tun, was erforderlich ist“. Die Möglich keit, rezeptfreie Medikamente zu kaufen und die Einführung der Nichterstattungsfähigkeit dieser Medikamente setzt diese Fähigkeit voraus. Angenommen werden darf auch hier, dass diese Fähigkeiten ungleich verteilt sind. Der zweite für den Erfolg einer medizinischen Behandlung höchst wichtige Bereich der Mitarbeit eines Patienten ist die Compliance. Viele Untersuchungen belegen, dass Non-Compliance eines der großen praktischen Probleme der Medizin ist. Die Compliance-Forschung hat gezeigt, dass Non-Compliance weiter verbreitet ist als allgemein angenommen: ƒ
35–40 % aller verordneten Medikamente werden nicht eingenom men (geschätzter volkswirtschaftlicher Schaden in der Bundesrepublik Deutschland jährlich 5–7 Milliarden DM).
Gesundheitliche Mitverantwortung ƒ ƒ ƒ ƒ
103
Die regelmäßige Einnahme selbst lebensnotwendiger Medikamente liegt unter 50 %. Die Non-Compliance bei Hypertonikern beträgt 50–80 %. Diabetikerinnen essen täglich 100–200 kcal mehr als gleichaltrige stoffwechselgesunde Frauen. Die Non-Compliance für Schwangerschaftsgymnastik liegt bei 50 %.25
An diesen Daten aus dem Jahre 1992 hat sich nichts geändert, eine Expertise der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2003 beschreibt: „Unabhängig von Krankheit, Art der Behandlung oder Alter befolgen nur maximal 50 % der Patienten mit chronischen Krankheiten genau den ärztlichen Rat, selbst bei lebensbedrohlichen Erkran kungen. Die daraus resultierenden direkten und indirekten medizinischen Kosten werden in Deutschland auf jährlich bis zu 10 Milliarden Euro geschätzt, sie liegen damit in der Größenordnung der Ausgaben für große Volkskrankheiten wie etwa die koronare Herzkrankheit.“ 26 Auf der wissenschaftlichen Seite besteht ebenfalls an vielen Punkten weiterer Forschungsbedarf, insbesondere bei den EinÀussfaktoren der Compliance und bei der Wirksamkeit Compliance-fördernder Maßnahmen unter den Bedingungen des deutschen Gesundheitssystems. Compliance ist unmittelbar abhängig von einer gelungenen Kommu ni kation zwischen Arzt und Patient. Bekannte Gründe für Non-Compliance sind unvollständige und / oder nicht verstandene Informationen, Widerstände von Seiten des Patienten bestimmte Medikamente einzunehmen (Patientenaussagen: „Cortison ist ungesund“, „Antibiotika zerstören die DarmÀora“, „Betablocker machen impotent“), fehlendes Vertrauen in die Wirksamkeit und schließlich Verdrängung der Krankheit selbst. Zwischen den verschiedenen sozialen Milieus gibt es Unterschiede in der Compliance überhaupt, aber auch Unterschiede für bestimmte Behandlungen. In der qualitativen Befragung genannte Beispiele sind z. B. der Widerstand gegen eine Behandlung mit Antibiotika im Postmateriellen Milieu oder Nichteinnahme von Medikamenten gegen hohen Blutdruck oder Diabetes bei Konsum-Materialisten.
Geisler, Linus: Arzt und Patient – Begegnung im Gespräch. 3. erw. AuÀage, Frankfurt a. Main, 1992. Bührlen, B.: Verbesserung der Arzneimittelversorgung durch Steigerung der Compliance. Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung 2003. 25
26
104
Zentrale Befunde
…und neue Technologien Neue Entwicklungen der Medizintechnik eröffnen ein weites Feld an Einsatzchancen. Zu denken ist hier z. B. an Self-Monitoring und Telemedizin.27 Allerdings erfordern alle Einsatzbereiche moderner Technologien im ambulanten bzw. häuslichen Bereich ein hohes Maß an Compliance und nahezu immer eine intensive Patientenschulung. Selbst unter Studienbedingungen und einfacher Technologie sind Compliance-Probleme bekannt. Der erfolgreiche Einsatz hängt von Fähigkeiten und Einstellungen der Patienten ab.
GESAMT
Ausgeprägte Einstellung: ETB
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Ich ¿nde es gut, wenn der Arzt über alle vorhergehenden Behandlungen Bescheid weiß
37,7
47,2
41,4
41,6
46,7
38,1
43,6
29,6
32,2
19,3
Ich würde mich fremdbestimmt fühlen, wenn mein Gesundheitszustand durch moderne IT dauernd überwacht wird
31,5
24,0
35,5
28,8
43,1
38,6
41,1
26,8
21,0
17,6
Durch die Datenspeicherung sind meine Patientenrechte in Gefahr
23,6
19,2
23,6
20,9
27,3
27,8
30,3
20,1
19,3
15,9
Mir wäre es unangenehm, wenn Ärzte und Apotheker meine gesamte Krankengeschichte einsehen können
15,9
11,8
13,9
15,1
20,4
14,6
18,0
16,0
19,0
15,9
Ich habe nichts gegen einen Chip am Körper, der meinen Gesundheitszustand überwacht
10,3
17,4
6,0
16,0
13,5
8,0
10,5
5,9
12,3
8,8
„stimme voll und ganz zu“
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Erste Ergebnisse aus Modellprojekten sind ermutigend, z. B. Kosteneffektivitätsanalyse einer intensivierten telemedizinischen Betreuung bei Herzinsuf ¿zienz; Janßen, H. / Becker, R. (Institut für Gesundheits- und PÀegeökonomie, IGP, Bremen); Fidorra, K. (St. Vinzenz-Krankenhaus, Limburg); Zucca, F. ( Hochschule Niederrhein, Krefeld); Heuzer, V. (Tau nus Betriebskranken kasse, Frankfurt); Nienaber, C. (Universitätsklinikum Rostock) 2009. 27
Gesundheitliche Mitverantwortung
105
GESAMT
Einstellungstendenz: ETB
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Ich ¿nde es gut, wenn der Arzt über alle vorhergehenden Behandlungen Bescheid weiß
81,2
87,2
84,7
83,2
82,9
79,1
85,7
79,5
78,5
71,0
Ich würde mich fremdbestimmt fühlen, wenn mein Gesundheitszustand durch moderne IT dauernd überwacht wird
64,6
57,5
68,6
55,4
70,3
70,1
74,2
64,5
61,6
50,4
Durch die Datenspeicherung sind meine Patientenrechte in Gefahr
55,2
45,7
55,3
47,9
52,0
60,4
61,3
58,6
53,9
47,8
Mir wäre es unangenehm, wenn Ärzte und Apotheker meine gesamte Krankengeschichte einsehen können
38,8
37,7
34,4
32,9
41,1
33,1
40,4
43,1
46,2
41,5
Ich habe nichts gegen einen Chip am Körper, der meinen Gesundheitszustand überwacht
30,6
41,4
22,4
38,5
24,6
20,6
25,3
28,5
37,5
44,5
„stimme voll und ganz zu / „stimme eher zu“
PMA
PER
KON
TRA
BÜM
MAT
EXP
HED
Quelle: Sinus Repräsentativstudie AACC (Anywhere Anytime Computing and Communication) 2007 Basis: Deutsche Wohnbevölkerung (5.030 Fälle) 4-stu¿ge Skalierung: „stimme voll und ganz zu“ / „stimme eher zu“ / „stimme eher nicht zu“ / „stimme überhaupt nicht zu“.
Privilegierte Schichten in Deutschland sind gesünder und haben eine längere Lebenserwartung als Menschen, die über eine geringere Bildung, weniger Einkommen und einen niedrigeren Berufsstatus ver fügen. Die Gründe liegen in Unterschieden der gesundheitlichen Belastungen (z. B. Arbeitsbedingungen), der Bewältigungsressourcen (z. B. soziale Unterstützung) und Unterschieden in der gesundheitlichen Versorgung (z. B. Arzt-Patient-Kommunikation) und schließlich in Unterschieden im Gesundheitsverhalten28. Die Möglichkeiten, Fähigkeiten und Ressourcen zur Übernahme von Verantwortung für… 28 Mielck, Andreas: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion. Bern 2005.
106 ƒ ƒ ƒ
Zentrale Befunde Prävention, Früherkennung und Behandlung von Krankheit, ¿nanzielle Beteiligung, Nutzung moderner Techniken (Self-Monitoring; Telemedizin)
… sind grundsätzlich begrenzt und stehen den verschiedenen Milieus in unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung. Die De¿zite im Gesundheitsverhalten und bei der Früherkennung und Behandlung von Krank heiten zeigen dringenden Handlungsbedarf. Notwendig erscheint zunächst die Beschreibung von spezi¿schen Zielgruppen unter besonderer Berücksichtigung von Risiko- und Schutz fak toren und spezi¿scher Krankheitslast. Auf der Grundlage de¿nier ter Zielgruppen kön nen zielgruppenspezi¿sche Angebote entwickelt werden. Eine zielgruppenspezi¿sche Stärkung der Kompetenzen und damit auch Fähigkeit zur Übernahme von (Eigen-) Verant wor tung in bestimmten Bereichen kann zu gesundheitsbewussterem Lebensstil, zu besserer Compliance und zu geringerer Krankheitslast beitragen. Grenzen der Mitverantwortung – milieuspezi¿sche Ansichten Weite Teile der Bevölkerung halten es für sinnvoll und angesichts der Finanzsituation der Krankenkassen auch für notwendig, dass sich Menschen zusätzlich krankenversichern sollen, wenn sie bestimmte (genetische) Risikofaktoren haben oder ein gesund heitlich riskantes Verhalten zeigen: z. B. stark Übergewichtige, Extremsportler, Raucher u. a. Dies scheint ein einfacher, gerechter und richtiger Schritt zu sein, das Gesundheitssystem zu entlasten und jene mehr zu belasten, die mehr Leistungen in Anspruch nehmen. Das Prinzip ist Erziehung zu mehr Mitverantwortung. Doch es gibt eine Reihe von Menschen, vornehmlich aus den Milieus der Postmateriellen und der Konservativen, die davor warnen, das Solidaritätsprinzip aufzugeben: Sie argumentieren, dass Gesundheit und Krankheit nach der Logik konsequenter Mitverantwortung nurmehr als „Eigenverschulden“ begriffen werden würde und dann konsequent jene „bestraft“ werden müssten, die durch „Versagen“ krank werden und damit das System belasten. Was aber ist mit jenen, die nicht eigenverantwortlich handeln konnten, weil sie zum Beispiel als Kind in der Obhut von Eltern waren, die sich nicht um ihre Ernährung, Bewegung, Sonnenschutz etc. kümmerten. Sie verweisen auf das Problem selbstgewählter und nicht-selbstgewählter Risiken. Es entstehe das basale Problem der Zuschreibung von Kausalität: Kann eine bestimmte Krankheit monokausal und eindeutig einem bestimmten Verhalten zugeschrieben werden ? Das scheint aus Sicht dieser Milieus kaum möglich, denn viele Krankheiten (v. a. Volkskrankheiten) beruhen auf multifaktoriellen Krankheitsgenesen, die zudem in komplexen, nicht-linearen
„Gesundheitssystem“ oder „Krankheitssystem“ ?
107
Wechselwirkungen stehen. Dies erlaube keine dichotome Zuschreibung von retrospektiver Verantwortlichkeit. Insofern müsse – so die Ansicht einiger Protagonisten aus diesen Milieus – der Begriff der Mitverantwortung entweder inhaltlich präzisiert und von der Bedeutung der Vollkasko-Eigenverantwortung gelöst werden, oder er sollte aufgrund seiner weitreichenden Implikationen aufgegeben und durch den Begriff der „Mitverant wortung“ ersetzt werden. Denn letztlich könne der Einzelne nicht mehr als eine Mitverantwortung tragen. Damit aber seien die Probleme der kausalen Zuschreibung noch nicht gelöst. „Gesundheitssystem“ oder „Krankheitssystem“ ? Insbesondere im Milieu der Postmateriellen, aber auch bei Teilen der gehobenen Milieus drückt sich das Unbehagen mit der aktuellen ¿nanziellen SchieÀage des Gesundheitswesens in einem grundsätzlichen Nachdenken über das System aus. Sie stellen die Frage: „Wir sagen zwar Gesundheitssystem, aber in Wirklichkeit beschäftigt sich das System ausschließlich mit dem Thema Krankheit.“29 Die Bausteine des Systems mit den verschiedenen Teilsystemen seien so aufgestellt und funktional verbunden, dass man nicht mit Gesundheit Geld verdiene, sondern mit Krankheit. Ärzte und Krankenhäuser kommen erst auf ihre Kosten (bzw. machen nennenswerten Umsatz), wenn der Mensch mit einer Krankheit zu ihnen kommt und sich behandeln lässt. Mit gesunden Menschen verdiene man kein Geld. Der Ansatz liege auf der Krankheitsbehandlung, nicht auf der Stärkung von Gesundheit. Das sei ein gut funktionierender, aber letztlich fataler Kreislauf. Dabei wird kritisch reÀektiert, dass sich bei einer Umkehrung der Perspektive die Probleme türmen: Kann ein Arzt die Verantwortung für die Gesundheit eines Patienten übernehmen ? Welche Rolle kann / soll der Arzt (und das Gesundheitssystem) bei der Gesundheitsförderung spielen? Wie können Gesundheitsförderung und Krank heitsvermeidung honoriert werden, so dass sie an die erbrachte und nachweisliche Leistung des Arztes gekoppelt sind ? Mit diesen Fragen weisen die Befragten darauf hin, dass es zu einer paradig matischen Umstellung kommen müsse vom reinen „Reparaturbetrieb“ hin zu einem ganzheitlichen Ansatz mit der Vision der Krankheitsvermeidung und Gesundheitsförderung. ReÀexartig wenden diese Meinungsbildner gegen ihre eigene Vision ein, dass ein Gesundheitswesen natürlich nicht nur auf Prävention setzen dürfe, sondern immer auch „Reparaturbetrieb“ zur Heilung sein müsse („Knochenbrüche, Krebs und anderes: Da muss man behandeln !“). Zitat einer postmateriellen Frau, die als Ärztin tätig ist; ähnliche Aussagen kamen auch von Postmateriellen außerhalb des Gesundheitssektors
29
108
Zentrale Befunde
Jene, die sich mit dieser „Systemfrage“ befassen, interessieren sich für gesundheitspolitische Fragen und informieren sich aktiv über Strukturen und Debatten der Gesundheitsreform. Vor diesem Hintergrund fordern sie systematisch mehr Prävention, so dass sich damit das bestehende Gesundheitssystem in Richtung „Gesundheit“ bewegt, und so das System seinem Namen gerecht wird. ReÀexivität von Prävention Insbesondere Frauen aus dem Postmateriellen Milieu30, die einerseits eine Reform des Gesundheitssystems zu mehr Prävention fordern, zeigen zugleich Unsicherheit und Skepsis gegenüber etablierten medizinischen Früherkennungsuntersuchungen. Ihre Zweifel und auch Ablehnung einiger bestimmter Screenings gründen in den Fragen, ƒ ƒ
ob für den Einzelnen der Nutzen wirklich größer ist als der Schaden, den die Untersuchung selbst erzeugt mit ihren organischen und auch emotionalen, psychischen Folgen (ReÀexivität medizinischer Prävention). ob Screening-Untersuchungen zwar in der Masse die statistische Chance reduzieren, an z. B. einer bestimmten Krebserkrankung nicht zu sterben, dass dieser Effekt aber so klein ist (0,5 bis 1 %), dass am Ende nur wenige davon pro¿tieren. Die Effekte von Früherkennungsuntersuchungen werden erst sichtbar und zählbar relevant, wenn man sie auf die Gesellschaft hochrechnet (Mikro-Makro-Dislink).
Damit schließt sich der Zirkel zum ersten Punkt, denn für den Einzelnen stellt sich die Frage, ob er die mit Screenings verbundenen Risiken eingehen soll, wenn diese nur makromedizinisch (bzw. makroökonomisch) einen Effekt haben. Durch die Teilnahme an Früherken nungsuntersuchungen steigt die Chance, nicht an einer bestimmten Krebsart zu sterben, für den Einzelnen nur geringfügig; gleichzeitig wird bei allen Teilnehmern eine eingreifende Diagnostik durchgeführt. Fragen und Ängste stehen bei den Patienten in einer solchen Situation im Raum: Kommt es zu Fehldiagnosen und auch bei nicht-erkrankten Patienten zu unnötigen Medikamenteneinnahmen und auch Operationen ? Wie sind die physischen und auch psychischen Belastungen und Risiken ? Wenn man zu einer Aber auch einige Frauen und Männer aus anderen gesellschaftlichen Leitmilieus; Meinungsbildner und Multiplikatoren; einige davon mit beruÀichem Bezug zum Gesundheitswesen. Wie groß der Anteil ist, ist repräsentativ nicht gemessen. Schätzungen gehen von 10 bis 15 % in den gesellschaftlichen Leitmilieus der Konservativen, Etablierten und Modernen Performer aus; bei den Postmateriellen von ca. 15–20 %. 30
ReÀexivität von Prävention
109
Früherkennungsuntersuchung geht: Ist es nicht sinnvoll, zum Abgleich weitere Untersuchungen durchführen zu lassen ? Begibt man sich damit in die „Maschinerie der Früherkennungsuntersuchungslogik“ mit den entsprechenden Unsicherheiten und Risiken ? Dazu kommt die Frage nach der Quali¿kation der Ärzte und der Qualität der Instrumente in den Praxen: Denn davon hängt entscheidend die Chance bzw. das Risiko für den Einzelnen ab, dass eine Erkrankung identi¿ziert wird bzw. es nicht zu Fehldiagnosen kommt. Aus eigener Erfahrung weiß man, dass Ärzte nicht alle gleich gut sind und sich vor allem Hausärzte nicht die neueren technologischen Geräte leisten und sich selbst nicht mit den aktuellen Indikatoren vertraut machen können (Kapital- und Kapazitätsproblem): Unausgebildet oder unerfahren in der Diagnose mit neueren Screening-Verfahren oder mit veralteten Geräten und Indikatoren mit einer hohen Fehlertoleranz arbeiten. Das steigert die Unsicherheit bei Vorsorgeuntersuchungen. Die klassische Variante, dann zum Facharzt zu gehen, erfährt ebenfalls Zweifel, weil auch Fachärzte nicht alle gleich gut, manche nicht mehr auf dem neuesten medizinischen Stand und einige schlicht auf den Trend zu Vorsorgeuntersuchungen aufgesprungen sind ohne die notwendige – und kontinuierliche – Investition in Technologie und Know-how. Dies ist keine objektive Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eine objektive Beschreibung von subjektiven Perspektiven. In solcher Weise informiert, aufgeschreckt und verunsichert ist ein Teil der höher Gebildeten durch Berichte in überregionalen Magazinen, Zeitungen, Fachzeitschriften und TV-Sendungen, von denen einige unbedingt zu Früherkennungsuntersuchungen raten, andere aufgrund des geringen Nutzens und der Nebenfolgen auf Distanz gehen oder gar abraten. Einige der in dieser Studie des Sinus-Instituts Befragten informieren sich kontinuierlich über Gesundheit und Gesundheitspolitik, hatten diverse Artikel der letzten Monate aufbewahrt und zum Teil (vermeintlich) detailliertes Wissen über Zahlen und Zusammen hänge. So ist die Unsicherheit da, die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen sei selbst ein Gesundheitsrisiko, über dessen Nützlichkeit selbst die medizinischen Experten uneinig sind und streiten. Denn trotz aller Bedenken halten diese Befragten grundsätzlich fest am Prinzip, dass Früherkennung ein wichtiger Weg ist (siehe vorherigen Abschnitt „Gesundheitssystem“ oder „Krankheitssystem“). Denn nicht nur die Kritiker solcher Ansichten, sondern die Skepiker selbst betonen, dass Vorsorge und Früherkennung grundsätzlich sinnvoll sind und ausgebaut werden sollten. Sie betonen die ReÀexivität der Früherkennungsskepsis. Diese Menschen in den gesellschaftlichen Leitmilieus verweisen auf das „Gesetz der Masse“: Je weniger an Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen, desto höher sind die Risiken, weil wissenschaftliche Forschung und Evaluation nicht verbessert werden können. Je mehr an den Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen, desto mehr wird differenziert, Erfahrung und Erkenntnis gewonnen, mehr in Forschung investiert und dann sinken für den Einzelnen die Risiken (von Fehldiagnosen, un-
110
Zentrale Befunde
nötiger Behandlung, psychischer Belastung) und steigen die Chancen auf präszise Identi¿kation und Chance, nicht an der jeweiligen Krankheit zu sterben. Diese Ambivalenz in der Einstellung zu den aktuellen medizinischen Präventionsmöglichkeiten, die Abwägung der Folgen der Früherkennungsuntersuchungen, aber auch die Abwägung der Folgen des Verhaltens (teilnehmen, nicht teilnehmen) ist Grund für die Unsicherheit, wie man sich selbst hier verhalten soll. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen ƒ ƒ
der Prävention im Alltag: gesundheitsbewusst leben bzw. keine „unnötigen“ Gesundheitsrisiken eingehen, und der medizinisch-technischen Möglichkeiten in Form von konkreten, einmaligen oder regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen (insb. Screenings diverser Krebsarten). Nur auf diese beziehen sich ihre Zweifel, Anfragen und Ambivalenzen.
Gerade weil überall zu Früherkennungsuntersuchungen aufgerufen wird und diese zu einer „Norm“ geworden ist, die keiner mehr hinterfragt und zu einem Massenphänomen geworden sind,31 ist vor allem bei Postmateriellen der Verdacht des Lobbyismus der Gesundheitsindustrie geweckt. An den medizinischen Zweifel an der Wirksamkeit für den Einzelnen und an der Unsicherheit über mögliche Risiken der Screenings schließt sich der ökonomische Generalverdacht an, dass hier ein Teil des „medizinisch-wissenschaftlich-unternehmerischen Gesamtsystems“ am Werk ist, das Folgen für den einzelnen Patienten nicht reÀektiert. Insofern müsste ein „Umbau“ zu einem wirklichen Grundheitssystem“ diese beschriebenen Aspekte berücksichtigen. Dabei geht es diesem Teil der Bevölkerung primär um Aufkärung und Transparenz, um hinreichend informiert selbst abwägen und entscheiden zu können. Es geht ihnen um ihre Autonomie. Ein zweites Argument für mehr Prävention nennen höher Gebildete, die in Sachen Prävention stets die Avantgarde waren, mit Blick auf die untere Mittelschicht und soziale Unterschicht: In diesen Segmenten der Gesellschaft ist das Krankheitsrisiko überdurchschnittlich hoch. Dazu kommt, dass in diesen Schichten das Gesundheitsbewusstsein nur wenig ausgeprägt ist bzw. der alltägliche Lebensstil nicht präventiv ist. Und viele der dort typischen Berufe belasten den Körper stark; diese Menschen sind viel mehr äußeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt als Menschen in Berufen mit akademischem Hintergrund („Das Problem sind die anderen“). Gesundheitsökonomisch wäre es ihrer Auffassung nach rational und notwendig, wenn vor allem diese Menschen vermehrt an Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen. Insofern sollte der Trend hin zu mehr Vorsorge, dem derzeit 31 Im Jahr 2005 gaben die gesetzlichen Krankenkassen für Früherkennungsuntersuchungen 891 Millionen Euro aus; im Jahr 2008 waren es schon 1,21 Milliarden.
Zentrale empirische Thesen
111
vor allem die sozial gehobenen Schichten und weite Teile der Mitte folgen, auch die untere Mittelschicht und die Unterschicht erfassen. Dazu braucht es ihrer Ansicht nach Anreize, niedrigschwellige Angebote und auch – wenn nötig – Druck. Vor diesem Hintergrund sehen sie die medialen Berichte in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen über die Risiken von Vorsorgeuntersuchungen kritisch – nicht in der Sache, sondern in der Wirkung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. Insgesamt – das ist ein deutlicher Befund dieser Studie – haben die Frauen und Männer in allen Milieus nur sehr diffuse Vorstellungen davon, was unter Vorsorge, Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsuntersuchungen und Prävention (Primärprävention, Sekundärpräsention) konkret zu verstehen ist und was die Unterschiede sind. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe oft synonym verstanden und verwendet. Zentrale empirische Thesen Die empirischen Befunde lassen sich auf zehn Thesen bringen: 1.
2.
Es gibt in unserer Gesellschaft ganz unterschiedliche Gruppen (Lebenswelten, Milieus), die man unterschiedlich ansprechen muss, um sie zu erreichen. Die Verständnisse von Gesundheit, die Formen des Umgangs mit Gesundheit und die Zugänge zum Gesundheitswesen sind in den Lebenswelten je andere und oft wenig kommensurabel. Das bisherige Gesundheitssystem, das auf dem Prinzip „einheitlich und gemeinsam“ beruht, müsste viel differenzierter gestaltet werden, um den unterschiedlichen Bedürf nissen, Ressourcen und Erwartungen der Menschen gerecht zu werden. Dabei ist wichtig, Milieus am unteren Rand der Gesellschaft nicht abzuwerten mit dem einfachen Vorurteil, „die wollen alle gar nicht“. Man muss bei diesen zudem unterscheiden zwischen denen, die andere Lebenskonzepte haben, und denen, die die entsprechenden Ressourcen nicht haben. Die Krankheitslast ist in unserer Gesellschaft ungleich verteilt. Besonders groß ist die burden of disease in den traditionellen und modernen Milieus der Unterschicht. Das lebensweltliche Spektrum der Unterschicht (aber auch der Mittelschicht und Oberschicht) ist relativ breit – und somit auch das in diesen Milieus vorhandene materielle, soziale und kulturelle Kapital. So gibt es in jedem Milieu je eigene Barrieren in bezug auf die Prävention, die persönliche und familiäre Anamnese zur Identi¿kation von Krankheiten, die Bereitschaft zum Arzt zu gehen sowie die Compliance bei einer Behandlung. Es ist zugleich wichtig zu sehen, dass viele (auch in den gehobenen Milieus) das Gesundheitssystem nicht rechtzeitig und adäquat nutzen. Vor allem in den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft besteht die Gefahr, dass einige
112
3.
4.
Zentrale Befunde Menschen aus dem Gesundheitssystem passiv „herausfallen“ durch Dissimulation und Indolenz, durch mangelnde Prävention und fehlende Compliance. In den gehobenen modernen Milieus besteht die Gefahr, dass einige Menschen aus dem Gesundheitssystem aktiv in selektiven Bereichen „abwandern“. Weil sie kein Vertrauen mehr in das bestehende Gesundheitssystem haben, weil sie sich aufgrund konkreter Erfah rungen nicht ernstgenommen fühlen und individuell nicht richtig behandelt wissen, weil sie Angst haben, einem (aus ihrer Sicht) intransparenten System mit falscher Logik ausgeliefert zu sein, weil sie im System strukturelle Geschäftemacherei (von Ärzten, Pharmaindustrie, Versicherungen) vermuten und dieses nicht bedienen wollen, distanzieren sie sich innerlich und in ihren Routinen vom Gesundheitssystem. Viele – insbesondere Postmaterielle – ¿ nden in (Varianten) der Alternativmedizin neue Sicherheit. Sie machen die Erfahrung von Heilung, was ihre Wahl der Alter nativmedizin in bewusster Ab- und Ausgrenzung der klassischen Schulmedizin bestätigt. Sie nehmen zwar weiter das klassische Gesundheitssystem in Anspruch (z. B. bei Operationsbedarf), aber ihren Schwerpunkt legen sie auf Anbieter alternativer Gesundheitsleistungen. Dabei sind sie in hohem Maße informiert, wägen kritisch ab und entwickeln kompetent Routinen und Maximen, wenn es darum geht zu entscheiden, ob und wann man zum klassischen Arzt oder zum alternativen Arzt geht. Sie etablieren ein individuelles Parallelgesundheitssystem, das sie im Alltag primär nutzen und für das sie – neben den pÀichtigen Krankenversicherungsbeiträgen – relativ viel Geld ausgeben. Sie nutzen Leistungen der klassischen Schulmedizin oft erst dann, wenn die Alternativmedizin nicht mehr weiter weiß (und es mitunter teuer wird oder gar zu spät ist): Die Schulmedizin als letzte und harte Methode zur Rettung. Sie machen aber auch die Erfahrung, dass die klassische Schulmedizin ihnen nicht hat helfen können und gehen dann – als letzte Rettung – zur Alternativmedizin. Diese Menschen aus bestimmten Milieus erleben die von ihnen gewählte Alternativmedizin als „weiter“ und zukunftsfähig, weil sie ihnen wirklich geholfen hat (wo die Schulmedizin nicht weiter kam), weil sie ganzheitlich arbeitet, auf natürlicher Basis, mit einem bewussten, fundierten und reÀektierten Menschenbild, das die arbeitsteilig ausdifferenzierte Schulmedizin ausblendet oder ignoriert. Die Alltagserfahrung der Menschen in unserer Gesellschaft ist, dass das Zweiklassen-Gesundheitssystem Realität ist. Auch bei jenen, die sich selbst in der „unteren Gesundheitsklasse“ sehen, gibt es kaum Klagen über medizinische Unter versorgung, wohl aber über diskriminierende Versorgung im Sinne der Benachteiligung: Das machen die Menschen fest a) an der Möglichkeit, schnell einen Arzttermin zu bekommen, der den krankheitsbedingten, familiären und berufsbedingten Bedarfen des Patienten entspricht (Flexibilität des Patienten versus Flexibilität des Arztes); b) an der Kürze bzw. Länge der
Zentrale empirische Thesen
5.
6.
7.
113
Wartezeit – zu Hause wie im Wartezimmer; c) an der Zeit, die sich der Arzt für den Patienten nimmt oder nicht nimmt; d) am Engagement des Arztes für die individuellen Belange des Patienten sowie im Sondieren des Spektrums der medizinischen Möglichkeiten sowie im Einsatz vorhandener medizinischtechnischer Geräte (versus standardisier tes Durchschleusen). Es gibt in allen Milieus die Abwehr gegen die Vorstellung einer niedrigen Basisversorgung – insbesondere mit Blick auf jene, die keine ¿nanziellen Mittel einer Zusatzversicherung haben. Groß ist in allen Milieus die Sorge, dass „Basisversorgung“ künftig mit Hartz IV assoziiert ist. Eine Basisversorgung will man daher nur auf dem relativ gehobenen Niveau einer „bürgerlichen“ Basisversorgung, die eine weitgehend lückenlose, sichere und sorgenfreie Versorgung sowie einen gewissen Komfort umfasst. Eine Basisversorgung darf nicht auf die soziale Unterschicht justiert sein, sondern soll auf Bedarfe und Bedürfnisse der gesellschaftlichen Mitte konzipiert sein. Es gibt in der Bevölkerung (mit Ausnahme von prekären Gruppierungen am unteren Rand der Gesellschaft: Konsum-Materialisten, Hedonisten) eine hohe Akzeptanz von mehr Mitverantwortung des Patienten bzw. des Versicherten. Konditional gebunden ist diese allerdings an die Norm, dass mehr Mitverantwortung der Patienten für die Anbieter im Gesundheitssystem keine Entlastung und EntpÀichtung bedeutet. Mehr Mitverantwortung der Versicherten / Patienten darf nicht zu schlechterer Versorgung, nicht zu höheren Beiträgen, nicht zu höheren Behandlungskosten führen. Wer krank ist, erwartet „mehr“ vom Gesundheitssystem: mehr Leistungsübernahmen der Kassen und mehr Menschlichkeit im System. Es gibt zwar eine tief verwurzelte Solidarisierung mit anderen Kranken: Das Schicksal durch Krankheit darf nicht durch medizinische Diskriminierung verschärft werden. Aber die Solidarisierung mit Kranken ist in der Regel ein abstraktes Prin zip. Für sich selbst fordert man eine auf die eigenen Ressourcen und Bedürfnisse zugeschnittene Behandlung. Vor allem die gehobenen (konservativen, modernen, postmodernen) Milieus zeigen im Krankheitsfall Tendenzen sozialer Distinktion. Die Milieus der Mitte sowie der Unterschicht richten sich mental darauf ein, dass die Ressourcen im Gesundheitswesen künftig limitiert sein werden. Groß ist die Sorge, dass Verteilungskämpfe die Solidarität belasten und untergraben könnten. Man will im Gesundheitswesen weiter das Solidaritätsprinzip, andererseits eine bedürfnisorientierte Versorgung, die auch der Investitions- und Leistungsbereitschaft (präventiver Lebensstil, Früherkennungsuntersuchungen, Zusatzversicherungen) des Einzelnen Rechnung trägt. Insofern geht es nach Auffassung der Bevölkerung darum, dass die Regeln und die Kriterien der Verteilung politisch zu bestimmen sind. Krankenkassen dürfen nicht noch teurer werden, sondern müssen ef¿zienter und kundenbedarfsorientierter werden ! Die Steigerung sowohl der Ef¿zienz
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8.
9.
Zentrale Befunde als auch der individuellen Kundenorientierung sind scheinbar gegensätzliche Ziele, aus Sicht der Menschen in allen Milieus aber die zentrale Herausforderung des zukunftsfähigen Krankenversicherungswesens. Die Finanzierbarkeit sieht man a) in der Reduktion „unnötiger Behandlungen“ (auch an die Patienten adressiert); b) in mehr Vorsorge; c) in mehr tatsächlichem Wettbewerb um die Dienstleistung individualisierter Bedürfnisse von Versicherten und Patienten. Die Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Produkten in Deutschland ist nach Auffassung der Bevölkerung hervor ragend. In Bezug auf Medikamente sieht man kein Produktions-, Allokations- und Qualitätsde¿ zit. Groß und frei von jeglichen Zweifeln ist das Vertrauen in die Wirksamkeit und Nützlichkeit von in Deutschland erhältlichen Medikamenten. Dennoch hat „die Pharmaindustrie“ in der Bevöl kerung das Stigma, neoliberalen Wettbewerbsmaximen eher zu folgen als sozialethischen und medizinethischen Grundsätzen. Weitaus mehr als Hersteller von Medizintechnologie und als Kran ken kassen gelten „die großen Pharmakonzerne“ als aggressive Akteure, die im Markt je nach Wettbewerbsumfeld als Preistreiber (bei Monopolstellung) oder als Preisdumper (im engen Markt) auf treten. Die voreingestellte Annahme ist, dass Pharma konzerne gigantische Gewinne machen (zu Lasten der Kranken kassen und Patienten). Aus einer fast resignativen Haltung der Ohnmacht heraus wird die Forderung (eher der Appell) an die Pharmaindustrie formuliert: Wenn es schon große Gewinnspannen gibt, dann sollten die Konzerne einen Teil in Forschung und Ent wick lung von nicht-massenverkäuÀichen Produkten für spezielle Krank heiten investieren. Unbehagen und Ambivalenz dominiert beim Thema der Preis¿ndung bei (innovativen) „Monopol“-Produkten eines Herstellers: Sollen hier weiter die – eigentlich richtigen – Gesetze des Marktes gelten oder soll eine bürokratische staatliche Regulierungsinstanz eingreifen ? Mangelnde Kompetenz und Kultur zum Kompetenzerwerb: Nicht jeder ist bereit oder in der Lage, sich in Gesundheits- und Krankheitsfragen beraten zu lassen. Die Àächendeckende Einnahme von rezeptpÀichtigen wie rezeptfreien Medikamenten steht in diametralem Gegensatz zum Wissen über das, was man ein nimmt und was dabei zu beachten ist. Wer Beratung will, muss eine Frage formulieren können; die Frage wiederum bestimmt die Richtung der Antwort und Qualität der Beratung. Vor allem Menschen in den bildungsfernen Milieus der traditionellen und modernen Unterschicht sind nicht in der Lage, überhaupt die Frage(n) für eine Beratung (beim Arzt; beim Apotheker) zu stellen. Einige trauen sich nicht, weil ihnen die sprachliche Kompetenz fehlt, andere, weil sie mit ihrer Frage nicht als inkompetent erscheinen wollen; sie haben Angst, eine Erklärung nicht zu verstehen und (mehrmals) nachfragen zu müssen, ohne die Gewähr, es dann verstanden zu haben. Hier gibt es
Zentrale empirische Thesen
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erhebliche Sprach- und Verständigungsprobleme – auf beiden Seiten. Das manifestiert sich beispielsweise im Verständnis und in der Kommunikation bezüglich Medikamenten: Die populäre Chiffre „nur natürliche Bestandteile“ hat in weiten Teilen der Bevöl kerung – in allen Milieus – zu der Meinung geführt, dass diese „sowieso gesund“ sind und gelten gar nicht als Medikament mit Nebenwirkungen und möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Wenn etwa ein Arzt fragt, ob der Patient weitere Medikamente nimmt, verneinen dies viele mit bestem Wissen und Gewissen. Das gilt für Nahrungsergänzungsmittel, für Generika, für rezeptfreie Medikamente sowie für sogenannte Hausmittel (wie etwa Johanniskraut gegen Depression). 10. Dominant ist der Befund, dass sich das Gesundheitssystem aus Sicht der Bevölkerung nicht mit Gesundheit beschäftigt, sondern mit Krankheit. Und hier zeigt sich eine paradoxe Alltagseinstellung (oft in ein und derselben Person): Auf der einen Seite besteht die Forderung, dass nur Kranke zum Arzt gehen sollten und die Gesunden (die nicht wirklich Kranken), die Wartezimmer nicht unnötig füllen und die Gesundheitskosten nicht unnötig erhöhen sollten; also die Forderung: Raus aus dem System. Auf der anderen Seite gibt es die Forderung, dass das System einen ganzheitlichen Ansatz haben sollte mit der Vision von Krankheitsbehandlung und Gesundheitsförderung; also die Forderung: Hinein in das System.
Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
Im Folgenden werden die Einstellungen zu Gesundheit und Krankheit sowie zum Gesundheitswesen systematisch für die einzelnen Milieus (Abb. S. 118) beschrieben. Zuerst werden die gesellschaftlichen Leit milieus der Etabierten, Postmateriellen und Modernen Performer beschrieben, die für andere Milieus eine Art Leitbildcharak ter haben beschrieben. Es folgen dann die traditionellen Milieus (im Wertebereich A), die Mainstream-Milieus (Wertebereich B) sowie die hedonistischen Milieus (Wertebereich C). Aus Gründen der Vergleichbarkeit sind die Befunde so dargestellt, dass alle Milieus systematisch mit denselben „Themen-Bausteinen“ beschrieben sind. Dabei werden nach der Methodologie der Triangualtion quantitative und qualitative Daten integriert. ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Kurzcharakteristik und Lebenswelt Bedeutung von Gesundheit Zwischen Schicksal und Verantwortung Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Einnahme von Medikamenten Vorsorgeuntersuchungen Zweiter Gesundheitsmarkt Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Chancengerechtigkeit Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem
C. Wippermann et al., Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem, DOI 10.1007/978-3-531-92871-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
GESELLSCHAFTLICHE LEITMILIEUS
SINUS B1: „Etablierte“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus B1 „Etablierte“ Lebenssituation
x Meist verheiratet mit Kindern im Haushalt x Oft 3- und Mehr-Personen-Haushalte
Bildung
x Überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau x Über zwei Drittel der Milieuangehörigen haben mindestens mittlere Reife
Beruf
x Höchster Anteil voll Berufstätiger im Milieuvergleich x Viele quali¿zierte und leitende Angestellte, höhere Beamte sowie Selbständige, Unternehmer und FreiberuÀer
Einkommen
x Hohe und höchste Einkommensklassen x 40 % haben ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro und mehr (Gesamt: 24 %)* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.942 Euro x 55 % verfügen über ein Kapitalvermögen von 25.000 Euro und mehr (Gesamt: 37 %); hoher Anteil an Wohneigentum
*
Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Etablierten sind die meist hoch gebildete, gut situierte, sehr selbstbewusste Elite der Gesellschaft. Durch ausgeprägte Exklusivitätsansprüche, entsprechende Kennerschaft und Stil grenzen sie sich bewusst von den anderen Milieus ab (Betonung der „feinen Unterschiede“). Im Beruf ist Erfolg für sie selbstverständlich. Um ihre sehr ambitionierten Ziele zu erreichen, werden klare Karrierestrategien verfolgt. Dies geschieht teils über traditionelle Erfolgsorientierung, teils durch Flexibilität und geschickte Anpassung. Die Lebensphilosophie der Etablierten fußt auf Pragmatismus und Realitätsorientierung. Mit dem schnellen technologischen und wirtschaftlichen Wandel (IT-Revolution, Gentechnik, Globalisierung) wird selbstbewusst umgegangen, eine AuÀage immer neuer Variationen alter Angebote trifft aber auf Ablehnung. Finanzielle Unabhängigkeit und hoher Lebensstandard sind erstrebenswerte (und häu¿g erreichte) Ziele für Etablierte. Kunst, Kultur, Reisen, oft auch exklusive
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
Sportarten machen das Leben schöner und gehören zum Lebensgenuss, darüber hinaus sind sie dem gesellschaftlichen und beruÀichen Networking zuträglich. Zudem hat alles, was dem eigenen Well-Being dient, seinen festen Platz in der Lebensführung. Etablierte können sich auf Grund ihrer privilegierten ¿nanziellen Situation Luxus leisten – und reklamieren auch das Recht, ihn zu genießen. Die derzeitige wirtschaftliche Gesamtsituation beeinträchtigt das Milieu kaum, macht aber nachdenklicher in Bezug auf Verant wortlichkeit und Solidarität. Altersaufbau des Sinus-Milieus B1 „Etablierte“
Der Altersschwerpunkt der Etablierte liegt zwischen 34 und 64 Jahren, ein knappes Viertel der Milieuangehörigen ist älter als 60 Jahre. Sie stehen mitten im Berufsleben oder blicken mit Stolz darauf zurück. Etablierte führen ihren Erfolg im Leben primär auf persönliche Leistung zurück. Leistung stellt den Ankerwert der Etablierten dar; es ist die Messlatte, an der sie sich selbst und ihre Umwelt messen. Leistung gepaart mit dem Postulat der Eigenverantwortung bildet das handlungsleitende Credo der Etablierten. Neben dem leistungsbestimmten Beruf hat ein intaktes Familienleben einen hohen Stellenwert für Etablierte. Sie sind überwiegend verheiratet, und in vielen Fällen leben (schulpÀichtige) Kinder im Haushalt der klassischen Kernfamilie. Für „etablierte“ Frauen besteht meist keine ¿nanzielle Notwendigkeit, nach der Geburt der Kinder einer beruÀichen Tätigkeit nachzugehen. Vor allem ältere Frauen des Milieus (Generation 50 plus) haben ihre Berufstätigkeit oft ganz zugunsten der Familie aufgegeben. Dagegen streben viele Jüngere unbedingt die Rückkehr ins Berufsleben an bzw. arbeiten auch wieder. Etablierte Eltern sehen sich als Role Models, als Stütze und Rückhalt und als „Ermöglicher“ einer werteorientierten, hochquali¿zierten Erziehung ihrer Kinder zu selbständigen Individuen. In allen Lebensbereichen gilt die Devise, aktiv zu sein, Initiative und Verantwortung zu übernehmen, sein Bestes zu geben. Dies trifft auch auf sportliche
SINUS B1: „Etablierte“
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Aktivitäten und gesunde Lebensführung zu. Etablierte vertreten eindeutig die Überzeugung, dass man selbst das Leben in die Hand nehmen muss und kann. Sich ins soziale Netz fallen zu lassen ist ebenso verpönt wie Jammern auf hohem Niveau. Es gilt, im Rahmen seiner Möglichkeiten das Optimale zu leisten – damit erwirbt man sich auch den Anspruch auf adäquate „Entlohnung“ und (im Fall der Fälle) auch auf die Solidarität anderer. Bedeutung von Gesundheit Die jugendliche Unbekümmertheit bzw. der unbesorgte Umgang mit dem Thema Gesundheit ist bei den Etablierten einer reÀektierteren und differenzierten Haltung gewichen. Man ist z. T. bereits persönlich von (auch schwereren) Krankheiten betroffen gewesen oder hat dies bei Freunden oder Familienangehörigen miterlebt und schätzt Gesundheit seitdem umso mehr. ƒ
„Mein Bruder hatte Krebs. Da bekommt man dann vor Augen geführt, wie verletzlich man sein kann.“
Gesundheit gilt Etablierten als Garant für Selbstbestimmung, Autonomie und Leistungsfähigkeit, und Gesundheit ist damit ein hohes Gut, dass man pÀegen und schützen muss. Krankheitsbedingte Einschrän kungen der persönlichen Freiheit, des selbstbestimmten Lebens und des beruÀichen Engagements wären für Etablierte nur schwer zu er tragen, und auch die Vorstellung, jemandem zur Last zu fallen oder von der Hilfe anderer abhängig zu sein, ist so unangenehm, dass sie zu gesunder Lebensführung anspornt. ƒ ƒ ƒ ƒ
„Man hat nur eine (Gesundheit), und mit der gilt es sorgsam umzugehen !“ „Das wäre das Schlimmste für mich: nicht mehr frei entscheiden zu können, was ich mache und was nicht.“ „Das wollte ich eigentlich höchst ungern, in meinem Leben durch Krankheit eingeschränkt sein.“ „Ich will niemandem zur Last fallen, schon deshalb lebe ich gesundheitsbewusst.“
Allerdings gehören Gesundheit und gesundheitliche Beschwerden nicht zum alltäglichen Gesprächsstoff. Etablierte sind der Überzeugung, dass das Leben nicht durch die Diskussion möglicher Krank heiten dominiert werden sollte. Außerdem
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
besteht eine recht hohe Toleranzschwelle gegenüber alltäglichen oder undramatischen Erkran kungen. De¿ niert wird die eigene Gesundheit hauptsächlich dadurch, ob man sich subjektiv wohlfühlt und nicht dadurch, ob man kerngesund ist. So beschreiben sich einige der Etablierten als gesund, obwohl sie objektiv an Krankheiten leiden. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass sie diese Krankheit verschweigen möchten, sondern es stützt lediglich die von Etablierten häu¿g gemachte Aussage, dass man sich nicht (zu sehr) von einer Krankheit vereinnahmen lassen darf. Daneben relativiert der Vergleich mit anderen oft die eigenen Beschwerden, und ganz besondere Bewunderung gilt denjenigen, die trotz schwerer oder schwerster Erkrankung Lebensmut und Optimismus ausstrahlen und sich nicht fallen lassen. Insgesamt betrachten die Etablierten ihren eigenen Gesundheitszustand als durchaus zufriedenstellend. ƒ ƒ
„Da ist ein Mitarbeiter, der hat jetzt die dritte Krebserkrankung, der ist immer noch optimistisch, das muss ich wirklich bewundern. Das ist ein Kämpfer.“ „Ich ziehe die Relation zu anderen Fällen und sage zu mir ‚Komm, stell dich nicht so an‘.“
Für Etablierte gehört nicht nur körperliche, sondern auch geistige Fit ness zur Gesundheit. Ein trainierter, wacher Geist bringt Zufrieden heit und Wohlbe¿nden, verhindert psychosomatische Erkrankungen, erhält selbstbestimmtes Handeln und trägt entscheidend zur Lebensqualität bei. Etablierte blicken optimistisch in die Zukunft und möchten ihre Gesundheit auch weiterhin aktiv durch eine gesunde Lebensweise und positive Lebenseinstellung fördern. Zwischen Schicksal und Verantwortung Nach Auffassung der Etablierten ist Gesundheit zur Hälfte eigenes Dazutun (und damit beeinÀussbar, steuerbar – und persönlich zu verantworten) und zur Hälfte „Schicksal“ oder genetische Disposition (und so dem eigenen EinÀuss entzogen). ƒ
„50 % ist auf das eigene Verhalten zurückzuführen, 50 % ist genetisch bedingt.“
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Wichtig ist in allen Fällen die innere Einstellung und der proaktive Umgang mit möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Etablierte propagieren zur Gesunderhaltung einen bewussten Lebensstil, ohne jedoch radikalen Verzicht zu predigen. Es gilt, verantwor tungsbewusst mit dem eigenen Körper umzugehen, ständig an sich zu arbeiten und die Folgen persönlicher Handlungen im Auge zu behalten. Es gibt zwar bei „Wohlverhalten“ keine Garantie auf Gesundheit, und gesundheitliche Gesichtspunkte müssen auch nicht immer über den Lebensgenuss gestellt werden, aber eigenverantwortete Aspekte wie gesunde Ernährung und Bewegung erhöhen eindeutig die Wahrscheinlichkeit gesund zu bleiben. Unter Etablierten ist daher die Auffassung weit verbreitet, dass derjenige, der wider besseren Wissens fahrlässig mit seiner Gesundheit umgeht (hoher Konsum von Alkohol, überhaupt keine Bewegung, übermäßig fett- und zucker reiche Ernährung), im Krankheitsfall nur bedingt mit Mitleid rechnen darf – und auch die Unterstützung durch die Solidargemeinschaft nicht grenzenlos gewährt werden sollte. ƒ
„Sozial ungerecht ist das, wenn die Soldiargemeinschaft für das Fehlverhalten anderer mitbezahlen muss. Und das diejenigen, die sich weiterhin fehlverhalten, überhaupt keine Konsequenz für das Fehlverhalten zu spüren haben.“
Auch eine positive Lebenseinstellung, Zufriedenheit, Willensstärke sowie mentale Agilität sind wichtige Gesundheitsfaktoren für Etablierte. Sie fördern das objektive und subjektive Wohlbe¿nden, im Krank heitsfall beeinÀussen sie die Krankheit und deren Implikationen positiv, sie können u. U. sogar das Leben verlängern und stellen Möglich keiten der für die Etablierten so wichtigen aktiven EinÀussnahme dar. Etablierte streben eine Balance zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit an, nach dem Motto „Mens sana in corpore sano“. ƒ ƒ
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„Negativer EinÀuss ist mit Sicherheit Stress und Unzufriedenheit, das geht irgendwann vom Geistigen auf das Körperliche. Wobei das Körperliche dann nur noch Symptome sind, die Ursachen liegen woanders.“ „Man kann zwar nicht alle Krankheiten besiegen, aber es ist viel die innere Einstellung. Wenn der Wille da ist, die Krankheit zu besiegen, kann man es oft schaffen. Oder man kann oft auch durch Kämpfen etwas mehr Zeit für sich gewinnen.“ „Es hängen viele Krankheiten mit dem Kopf zusammen. Die positive Einstellung gehört einfach zum Leben mit dazu. Die macht es leichter.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Man muss das Leben so einstellen, wie es einem gut tut. Dazu gehören Kopf und Körper. Ich habe inzwischen eine gewisse Lebenszufriedenheit.“
Gleichzeitig nehmen Etablierte durchaus wahr, dass trotz einer gesunden Lebensführung und positiven mentalen Grundhaltung Fak toren existieren, die die Gesundheit der eigenen Kontrolle entziehen. Viele Arten von Krebs, Unfälle, aber auch berufsbedingter Stress sind häu¿g nur begrenzt oder überhaupt nicht beeinÀussbar durch bewusstes, ausgleichendes Verhalten. In diesen Fällen ist das Individuum von persönlicher Verantwortung freigesprochen und hat moralisch Anspruch auf umfassende Unterstützung und Versorgung. ƒ
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„Wenn ich mir vorstelle, ich müsste jetzt noch 21 Jahre in der Taktzahl arbeiten, die es heute gibt, und das Rad wird sich meines Erachtens nicht langsamer drehen, ist irgendwo aber mal die Grenze erreicht, wo man das nicht mehr so wegsteckt. Aber wie will man im Beruf sagen: Das reicht. Meine Grenzen sind erreicht ! ?“ „Es gibt Krebserkrankungen, die passieren einfach, für die kann man nichts. Leukämie z. B., wie will man das provozieren ? Das ist eben Schicksal.“
Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Das Informationsverhalten der Etablierten bezüglich des Themen komplexes „Gesundheit“ ist sehr sachorientiert, nicht emotional. In den meisten Fällen möchte man sich gezielt auf einen Arzttermin vorbereiten oder sucht fundierte, wissenschaftliche Informationen zu einem Themengebiet. Aus Zeitef¿ zienzgründen sowie aus Qualitätsansprüchen wird nicht einfach „querbeet“ gelesen, sondern es werden selektiv bestimmte Medien konsultiert, um dem Bedürfnis, informiert und auf der Höhe der Zeit zu sein (insbesondere in Bezug auf medizinische Entwicklungen, neue Technologien etc.), Rechnung zu tragen. Das ausschlaggebende Kriterium für die Wahl der Informationsquelle ist deren Seriosität. Es wird Kompetenz und Unabhängigkeit erwartet – und nur wenigen Quellen attestiert. Zu diesen gehört natürlich auch der Arzt (sofern man seine Kompetenz er- und anerkannt hat), der qua Funk tion über eventuelle Krankheiten, Vorbeugemaßnahmen und Behandlungen informiert. Als reines Informationsmedium ist das Inter net sehr beliebt; man kann nach Stichwortsuche Fachbeiträge lesen oder aber die Seiten von bekannten, kompetenten medizinischen Zentren (z. B. Deutsches Krebsforschungszentrum in Heidelberg) aufrufen.
SINUS B1: „Etablierte“
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Im Printbereich werden neben einschlägiger Fachliteratur und Fachzeitschriften (z. B. GEO Wissenschaft) auch ambitionierte Tages- und Wochenzeitungen und ihre Beilagen konsultiert (z. B. Frankfur ter Allgemeine Zeitung und dort das Resort „Natur und Wissenschaft“). Mehr oder weniger uninteressant, da häu¿g nicht unabhängig oder aber zu populärwissenschaftlich und in beiden Fällen nicht sonderlich vertrauenswürdig, sind Annoncen der Pharmakonzerne, Krankenkassenzeitschriften oder -anschreiben, Fernsehsendungen (Ausnahme: anerkannte Wissenschaftsmagazine) oder Apotheken-Zeitschriften. ƒ
ƒ ƒ
„Man braucht seriöse, verlässliche Quellen. Im Internet medizinische Zentren, Fachliteratur. Weniger das Fernsehen, weil das dann eher verbraucherwirksam aufgespürt ist und wesentliche Informationen auch nicht immer gesendet werden.“ „Die Krankenkassen sind von der Pharmaindustrie beeinÀusst. Wie auch die Apotheken. Und Werbung und Gesundheit – das Thema Gesundheit passt nicht zu kommerziellen Zielen.“ „Ich bin eigentlich immer gut informiert, sei es aus Fachliteratur, aus den Medien oder von den Ärzten.“
Etablierte nutzen die Informationsquellen, um mit dem Arzt auf Augen höhe kommunizieren zu können – und um die „ärztliche Spreu vom Weizen zu trennen“. Nur der infor mierte Patient kann selbstbewusst auftreten und gegebenenfalls (besonders, wenn er wie das Gros der Etablierten privat versichert oder zusatzversichert ist) Untersuchungen einfordern oder ablehnen. ƒ
„Du kannst ja sagen, ‚nein, will ich nicht‘ oder: ‚bitte begründen Sie mir das mal‘. Und wenn er das nicht nachvollziehbar begründen kann, dann hast du die Freiheit zu sagen ‚das mache ich nicht !‘.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Gemäß dem Postulat der hohen Eigenverantwortung stellen Ernäh rung und Bewegung zwei Grundpfeiler dar, auf denen Etablierte ihre persönliche Gesundheitsvorsorge auf bauen. Eine gesunde, ausgewogene, hochwertige Ernährung (frische Zutaten, viel Obst und Gemüse, viel Wasser, weniger Kohlenhydrate) ist selbstverständlich (auch aus Figur-ästhetischen Gründen), schließt aber kleine „Sünden“ nicht kategorisch aus. Sport und Bewegung werden ebenfalls höchste Bedeutung beigemessen, werden regelmäßig betrieben und sind wichtige Faktoren zum Stressabbau und zur Gewichtskontrolle. Etablierte achten dabei auf eine eher maßvolle Belastung, die den Körper nicht überfordert, wobei sich die Motivationen von weiblichen und männlichen Etablierten unterscheiden: Frauen tendieren zu schonenden Ausdauer- und Ausgleichssportarten (z. B. Yoga, Gymnastik, Rückenschule, Tai-Chi), während Männer doch einen gewissen leistungsbetonten und kompetitiven Ansatz haben (Mountainbike fahren, Tennis, Sportkurse). ƒ
„Für seine Gesundheit muss man auch etwas tun. Das heißt auch, sich bewegen, maßvoll Sport treiben. Kein Sport ist, wenn ich nachher am Baum stehe und mich übergebe.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Also, ich gehe bevorzugt in Kurse, weil ich ungern mit mir selber Sport treibe, Laufband oder so etwas. Ich brauche immer ein paar Leute um mich rum, wo man sich auch ein bisschen messen kann, so nach dem Motto: ‚Den 30-jährigen schaffe ich auch noch‘.“ „Ich bin schon noch so ¿t wie vor 10 Jahren, und ich denke, dass ich das Niveau halten kann. Allerdings muss ich mehr Aufwand betreiben, um Leistung und Fitness zu halten.“
Etablierte vermeiden im Regelfall gesundheitlich bedenkliche Verhaltensweisen (z. B. Rauchen), im Einzelfall wird dies aber bewusst verantwortet und der eigenen Kontrolle unterstellt. Es zeigt sich auch hier das typisch etablierte Verhaltens- und Denkmuster: Ein hoher Wissensstand ermöglicht die korrekte Einschätzung der Gegeben heiten und Gefahren und damit eigenverantwortliches und souveränes Handeln. ƒ ƒ ƒ
„Ich weiß, was mir gut tut und was nicht. Das spüre ich und darauf reagiere ich. Ich möchte nicht auf alles verzichten, was ‚ungesund‘ ist.“ „Ich lasse mir nicht das Glas Wein verbieten, ich genieße das auch, aber bewusst.“ „Man muss die Risiken richtig enschätzen und Maß halten.“
Da für Etablierte auch mentale Fitness entscheidend zur Gesunderhaltung beiträgt, besteht bei ihnen ein ausgeprägtes Bemühen um geistige Anregung. Lesen, sich mit den unterschiedlichsten Themen befassen, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Reisen sind nicht nur notwendig, um im Beruf zu bestehen und sich im Kreise der Peers bewegen und austauschen zu können, sondern erhöhen auch ganz eindeutig persönlichen Lebensgenuss und die mentalen Kapazitäten. Ein vielfach angeregter und dadurch leistungsfähiger Geist ist ein Bollwerk gegen (und Ausgleich für) berufsbedingten Stress, bringt Zufriedenheit und Wohlbe¿nden, verhindert Resignation und Bequemlichkeit und ist damit eine wichtige Präventions- bzw. Gesundheitsvorsorgemaßnahme. ƒ
„Ich brauche physischen Ausgleich und geistige Anregung, sonst fühle ich mich in meiner eigenen Haut nicht wohl und das schlägt sich auf die Stimmung – und die Gesundheit – nieder.“
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Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Etablierte sind in der Regel seltene Arztgänger. Abgesehen von den routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen wird der Arzt nur bei akuten Beschwerden aufgesucht, die sich der Selbstmedikation entziehen. Diese Haltung korrespondiert mit der typisch etablierten hohen Toleranzschwelle für kleinere Beschwerden sowie ihrem ausgeprägten ökonomischen Bewusstsein für verantwortliche Kosten-Nutzen-Rechnungen. Sollte doch ein Arztbesuch anstehen, so informieren sich Etablierte im Vorfeld über die Beschwerden im Internet oder in einschlägiger Literatur, damit sie in vielen Fällen direkt den passenden (Fach-) Arzt aufsuchen können – schließlich ist die Mehrheit dieses Milieus privat krankenversichert. Allerdings ist gerade bei den weiblichen Etablier ten der Hausarzt als Berater bzw. als Behandler durchaus anerkannt, männliche Etablierte bevorzugen den direkten Gang zum Facharzt und sehen im Hausarztmodell eher einen unnötigen Kostenfaktor. ƒ ƒ
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„Ich bevorzuge das Hausarztmodell. Viele Patienten sind nicht in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen.“ „Sie gehen zu einem Hausarzt, der kennt sie. Der weiß über ihren Körper Bescheid, der weiß, was sie für Leiden haben und ich denke, der kann sie dann überweisen, wenn er es für nötig hält, sie woanders hin zu überweisen. Der Hausarzt kennt mich und meine Geschichte, der setzt das Bild zusammen.“ „Wenn mir das Knie weh tut, warum soll ich dann erst zum Hausarzt gehen, der mich zum Orthopäden überweist ? Das heißt, der Hausarzt muss bezahlt werden und der Orthopäde muss bezahlt werden. Als Privatpatient weiß ich, mein Knie tut weh, ich kriege es nicht in den Griff, dann gehe ich zum Orthopäden.“
Die Arztwahl wird in den seltensten Fällen spontan getroffen, zumeist werden Meinungen und Erfahrungswerte im Freundes- oder Familien kreis eingeholt oder am liebsten befreundete Ärzte nach empfehlenswerten Kollegen des entsprechenden Fachgebiets befragt. Der schlussendliche Verbleib als Patient bei einem Arzt ist im Grunde abhängig von drei Faktoren: 1. der Fachkompetenz des Arztes, 2. dem Vertrauen und der persönlichen Sympathie, und 3. der individuellen Behandlung. Etablierte erwar ten höchste fachliche Quali¿kation des behandelnden Arztes; ist sie nicht genügend ausgeprägt, ist dies das absolute K.-o.-Kriterium bei der Arztwahl. Diese Kompetenz umfasst zusätzlich zum reinen Fachgebiet (Koryphäe auf seinem Gebiet) auch eine gewisse interdisziplinäre Aufstellung, d. h. es wird erwartet,
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
dass über den Tellerrand hinausgeschaut wird und Synergie-Effekte erkannt und genutzt werden. Etablierte stufen dogmatisches Festhalten an einer Richtung als bedenklich und kreativitäts- und innovationshemmend ein. ƒ
„Ja, einfach mal den Zweig verlassen. Wenn wir alle so eingefahren denken würden, gäbe es auch keinen Fortschritt.“
BeruÀiche Kompetenz wiederum führt zu Vertrauen, das man haben muss, wenn man sich in die medizinische Obhut eines Arztes begibt. Allerdings sehen sich Etablierte aufgrund ihres Detailwissens als mündige Patienten, die auch Behandlungen und Diagnosen kritisch hinterfragen, vom Arzt ausführlich informiert und als Partner ernst genommen werden möchten. Dementsprechend fordern Etablierte viel Zeit für eine persönliche, individuelle Behandlung ein. Keineswegs toleriert wird eine Abfertigung wie am Fließband, und auch eine Praxisorganisation, die lange Wartezeiten verursacht, ist völlig inakzeptabel für Etablierte. Zudem müssen Arzt und Patient auf einer Wellenlänge liegen; bei Mangel an Sympathie sind Etablierte die ersten, die den Arzt wechseln. ƒ
„Ich fand sein Verhalten unmöglich, denn ich denke, so etwas kann man einfach nicht sagen, und habe dann zu ihm gesagt, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Allerdings nehmen Etablierte auch das Dilemma wahr, in dem sich die Ärzte be¿ nden. Viele Etablierte konstatieren, dass Ärzte besonders durch Vorgaben der gesetzlichen Krankenkassen unterbezahlt sind bzw. nicht leistungsgerecht entlohnt werden. Dies führt zu geringer Motivation, da kein Anreiz für gute Leistung besteht, und die enormen Betriebskosten einer Praxis können nur durch hohe Patientenzahlen und die verstärkte Konzentration auf Privat patienten gedeckt werden, die dann häu¿g als „Milchkühe“ herhalten müssen. Etablierte propagieren daher auch im Hinblick auf Arzthonorare die Maxime: Wer Leistung bringt, soll mehr (und gut) verdienen – speziell, wenn es sich um ein so ausbildungsintensives, anspruchs- und verantwor tungsvolles Berufsfeld wie das des Arztes handelt ! Im Umkehrschluss erwarten Etablierte aber auch, dass sie für das viele Geld, dass sie als Privatpatienten beim Arzt lassen, eine exzellente Versorgung erfahren. Im Licht der Tatsache, dass Etablierte ihre Ärzte sorgfältig auswählen (können) und von diesen häu¿g privilegiert behandelt werden, ver wundert es nicht, dass sich Etablierte im Großen und Ganzen gut aufgehoben und behandelt fühlen bei den Ärzten ihrer Wahl.
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Einnahme von Medikamenten Insgesamt herrscht unter Etablierten eine gewisse Abneigung gegenüber Medikamenten; sie werden nur ungern eingenommen – und auch nur dann, wenn die Notwendigkeit zwingend gegeben ist und überzeugend erklärt wurde. In diesen Fällen hält man sich zumeist an die Anweisungen des Arztes. Jedoch betonen Etablierte auch bei der Medikamenteneinnahme ihre Mündigkeit, Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung und behalten sich im Zweifelsfall vor, Medikamente nicht oder nur eingeschränkt zu nehmen. Diese Non-Compliance wird selbstbewusst dem Arzt gegenüber vertreten. ƒ
„Ich entscheide da selber. Wenn ich jetzt weiß, es ist ein Antibiotikum, dann weiß ich, dass ich das nehmen muss. Aber bei anderen Sachen sage ich auch: ‚Ich nehme das, wenn ich denke, ich brauche es‘. Da bin ich auch dem Arzt gegenüber ganz offen.“
Etablierte haben keine Berührungsängste im Hinblick auf homöopathische Heilmittel, so lange deren Wirksamkeit wissenschaftlich untermauert bzw. erwiesen ist. Allerdings gilt hier noch stärker als für verschreibungspÀichtige Medikamente, dass Etablierte die Einnahme und die Nutzungsdauer selbst bestimmen. ƒ
„Ich glaube, das letzte Medikament, was ich verschrieben bekommen habe, das war pÀanzlich. Wenn man jetzt z. B. ein Antibiotikum verschrieben kriegt, heißt es, das soll man durch nehmen; aber hier gilt für mich, wenn ich merke, dass die Beschwerden abgeklungen sind, dann setze ich es ab und sage: ‚Prima, ist erledigt‘.“
Vorsorgeuntersuchungen Prinzipiell werden medizinische Vorsorgeuntersuchungen von Etablier ten als wichtig und richtig erachtet. Sie bedienen nicht nur den Eigenverantwortungsaspekt in der Gesundheitsvorsorge, sondern stellen auch ein handfestes ökonomisches Plus dar. Die frühzeitige Diagnose bestehender Krankheiten und deren Behandlung bzw. Abwehr erhöht nicht nur die Lebensqualität (und gegebenenfalls auch die Überlebenschancen), sie spart auch große Kosten im Vergleich zu später ansetzenden, langwierigen und auf wändigen Therapiemaßnahmen.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Das bin ich meinem Körper und der Solidargemeinschaft schuldig.“ „Wer Vorsorge macht, geht verantwortungsvoll mit sich um.“ „Je früher man etwas erkennt, desto größer sind die Heilungschancen.“
Etablierte befürworten auch Anreize in Form von Boni, wie z. B. Beitragsrückerstattungen oder höhere Kostenüber nahme (falls ein Zuzahlungsmodell gewählt ist), um verantwortungsvolles Verhalten zu belohnen. Allerdings würden Etablierte Vorsorgeuntersuchungen auch ohne diese Vergütungen wahrnehmen, da sie von der Notwendigkeit überzeugt sind, und es bedarf auch nur bei wenigen Etablier ten der expliziten Aufforderung durch ihre Kranken kasse, an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. ƒ ƒ ƒ
„Ich mache regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen. Das muss einfach sein, so oder so.“ „Ich ¿nde es aber richtig, dass Anreize geschaffen werden.“ „Nach dem Motto – es gibt für dieses Jahr diese Untersuchungen. Wenn die gemacht werden, dann gibt es ein Incentive.“
Insgesamt ist ein eindeutig geschlechtsspezi¿sches Verhalten hinsichtlich Umfang und Häu¿gkeit der Vorsorgeuntersuchungen festzustellen. Frauen nehmen deutlich mehr Check-ups wahr als Män ner. Die jährliche Krebsvorsorge beim Gynäkologen, der regelmäßige Gesundheitscheck beim Hausarzt oder Internisten und ab einem gewissen Alter Darmspiegelungen beim Proktologen gehören ganz selbst verständlich zum Inventar der persönlichen Gesundheitsvorsorge. Auch der Zahnarzt wird routinemäßig aufgesucht – wobei sich zum gesundheitlichen Aspekt ein ästhetisch-sozialer gesellt: Schlechte Zähne wirken abstoßend und sind unvereinbar mit dem Stilgefühl und der gesellschaftlichen Position Etablierter. ƒ
„Ich gehe regelmäßig zum Zahnarzt und lasse meine Zähne nachgucken, denn: das sieht man !“
Etablierte Männer sind bei der Vorsorge zurückhaltender. Zwar wird die Notwendigkeit auch von ihnen gesehen, der Gang zum Arzt dann aber häu¿g doch nicht angetreten. Die Motive dafür liegen weniger in der Bequemlichkeit oder in dem Glauben begründet, Krankheiten könnten sie nicht treffen, sondern in sehr tiefsitzenden Ängsten vor der Diagnose (besonders bei Prostata- oder Hodenkrebs) bzw. dem Widerstreben gegen bestimmte Untersuchungsweisen (Darmspiegelung, Prostatauntersuchung). Die physische Komponente, das „Angefasst-Werden“ er-
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zeugt Reaktanzen; zu Untersuchungszwecken würden sich diese Männer lieber einer hohen Strahlendosis im CT aussetzen als einer „Leibesvisitation“. ƒ
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„Es gibt so manche Vorsorgeuntersuchungen, wie Darmspiegelung oder Prostatauntersuchung, die habe ich noch nicht über mich ergehen lassen, die ¿nde ich einfach unangenehm! Ich meine, die könnten mich durch eine Röhre schieben, das ist ja egal, aber so, das ¿nde ich nicht so glücklich. Aber vielleicht ist die Technik in 5 oder 10 Jahren ja weiter.“ „… CT. Da können die die Bildchen in Scheiben schneiden noch und nöcher. Ich meine, da sieht man ja alles sehr genau. Das ist körperlich nicht unangenehm, man sieht alles, das wär für mich ok. Aber diese Leibesvisitationen, das erachte ich als unangenehm.“
So stellen bei gesunden männlichen Etablierten jährliche Blutuntersuchungen und regelmäßige Zahnarztbesuche den Status quo der praktizierten Vorsorge dar. ƒ
„Also, ich lasse einmal im Jahr mein Blut untersuchen. Sind die Blutwerte in Ordnung, dann spricht auch nichts dafür, dass irgendetwas im Körper nicht in Ordnung ist.“
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Zweiter Gesundheitsmarkt Da Etablierte überwiegend privat versichert sind, könnten sie theoretisch viele Leistungen in Anspruch nehmen, die bei gesetzlich Versicherten nicht oder nur restriktiv von ihrer Kasse übernommen werden. Zu diesen Leistungen gehören z. B. Akkupunktur, aber auch Massagen und bestimmte Physiotherapien sowie Kuren oder alternative Heilmethoden. Jedoch orientieren sich Etablierte auch bei der Inanspruch nahme dieser Gesundheitsleistungen an Eigenverant wor tung und Notwendigkeit. Medizinisch angezeigte Massagen und Physiotherapien werden befür wortet, in Anspruch genommen und es wird erwartet, dass die (Privat-) Kasse sie als notwendige Leistung übernimmt. Sollten diese Behandlungen aber „nur“ dem eigenen Wohlbe¿ nden dienen, so sind Etablierte bereit, dafür selbst zu zahlen. Auf Kuren, die nicht zu akuten Rehabilitationszwecken durchgeführt werden, verzichten Etablier te zumeist und bevorzugen exklusive Wellness-Urlaube, die sie als Privatsache betrachten und aus eigener Tasche ¿nanzieren. ƒ
ƒ ƒ
„Also, bei weiteren Gesundheitsleistungen halte ich nur dann etwas davon, wenn es wirklich nötig ist. Ich denke, nicht nach jeder Operation muss direkt ein Kuraufenthalt anstehen. Wenn ich jetzt am Rücken operiert wurde und ich muss zur Reha, dann ist das für mich selbstverständlich. Aber es muss keine Kasse werben für eine Mutter-Kind-Kur.“ „Wenn ich denke, ich müsste mich mal massieren lassen und habe nichts, nur weil es schön ist, dann muss ich es auch bezahlen. Genauso, wie ich für meinen Aufenthalt im Wellness-Hotel selber zahle.“ „Wellness für die Seele, warum sollte das die Allgemeinheit bezahlen ? Mein Mann, der schwere Rückenprobleme hat, der muss zum Physiotherapeuten, da sehe ich ein, dass das bezahlt wird. Logisch ! Alles, was sein muss, sollte bezahlt werden. Aber Lifestyle ist nicht Sache der Krankenkasse.“
Etablierte sind bereit, in die eigene Gesundheit zu investieren in Form von YogaKursen, Fitness-Programmen, Sport und gesunder Ernäh rung. Nahrungsergänzungsmittel oder andere chemische Präparate werden abgelehnt, da für Etablierte eine gesunde, ausgewogene Ernährung dasselbe leistet. Entsprechend besteht auch eine gewisse Af¿nität zu und Akzeptanz von Ernährungscoaching im etablierten Milieu – Professionalität des Anbieters und Qualität des Programms vorausgesetzt. Auch stehen Etablierte neuartigen Methoden und Heilpraktiken offen gegenüber, wenn sie die Qualität der medizinischen Versorgung erhöhen, wissenschaftlich fundiert sind und die Lebensqualität für den Patienten steigern. Von einigen
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dieser Leistungen wissen sie, dass die privaten Krankenkassen sie übernehmen, ansonsten sind Etablierte auch bereit, bei Bedarf die Kosten selber zu tragen. ƒ
„Wenn ich diese Heilmethoden medizinisch brauche, dann sollten sie bezahlt werden. Und falls sie doch nicht bezahlt werden, oder wenn ich das nur für mich selber brauche, weil es mir gut tut, dann kann ich es auch selber bezahlen.“
Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Die Etablierten sind vergleichsweise wenig betroffen von Einschränkungen im aktuellen Gesundheitssystem. Viele von ihnen sind privat versichert bzw. zusatzversichert und haben bislang noch keine Leistung verweigert bekommen. Die Zufriedenheit mit der eigenen Versorgung ist dementsprechend hoch. Auch bewerten Etablierte die deutsche Gesundheitsversorgung im internationalen Vergleich allgemein als gut, was aber nicht von harscher Kritik an fortschreitender Verschlechterung und zunehmender „Zweiklassen-Medizin“ abhält. Dies heißt allerdings keineswegs, dass Etablierte eine „Einheitskasse“ mit „Einheitsleistungen“ als Ideal erachteten, sondern abzulehnende „Zweiklassen-Medizin“ bedeutet für sie, dass notwendige Leistungen bei den gesetzlichen Krankenkassen immer häu¿ger aus Kostengründen verweigert werden bzw. durch suboptimale Maßnahmen ersetzt werden. ƒ
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„Also, das Gesundheitssystem in Deutschland ist – wenn ich es mal vergleiche mit anderen europäischen Ländern, gerade in Südeuropa – auf einem sehr hohen Niveau. Was nicht funktioniert, ist die Finanzierung dieses Systems.“ „Insgesamt ist das deutsche System eines der besten der Welt. Jeder ist versichert und hat Anspruch auf medizinische Versorgung. Es ist viel moderner als z. B. in England. Und doch haben wir zunehmend ein Zweiklassen-System, in dem Kassenpatienten bestimmte Behandlungen nicht bekommen, weil das Budget des Arztes ausgeschöpft ist.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Mein Vater war halt immer freiwillig gesetzlich versichert, der wollte nicht in die Private, heute bereut er es. Es ist so, dass der Arzt nicht mehr die Medikamente verschreiben kann, die er vorher noch verschreiben durfte. Er muss dann ein anderes Medikament verschreiben, was er vielleicht schlechter verträgt. Und wenn man das Medikament haben will, was man vorher gehabt hat, was man gut verträgt, dann zahlt man es aus der eigenen Tasche.“ „Vor allem betrifft dies die Kassenpatienten, die für Operationen teilweise schon ins Ausland gehen müssen, weil man im öffentlichen Sektor sagt: ‚Ach, Operation ? Ist doch nicht so schlimm ! Musste mal ’n halbes Jahr warten‘.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Etablierte konstatieren eine fortschreitende Verschlechterung der im Grunde sehr guten medizinischen Versorgung in Deutschland aufgrund des falschen Einsatzes der ¿nanziellen Ressourcen, wobei sie allerdings eine gravierende Kluft zwischen privatem und gesetzlichem Krankenkassensektor wahrnehmen. Die Basisversorgung von Privatpatienten ist derzeit auf hohem Niveau gewährleistet, und eine noch weitergehende „Premiumbehandlung“ kann jederzeit hinzugekauft werden. Dies bedient und erfüllt die Erwartungen von Etablierten, denn ihrer Meinung nach haben sie sich durch Leistung die entsprechenden ¿nanziellen Mittel und damit das Recht erarbeitet, die beste medizinische Versorgung zu erwarten und zu erhalten, die es gibt, denn: Leistung und Gegenleistung müssen stimmen. ƒ
„Und dann kann man seinen Beitrag gestalten, indem man sagt, diese Zusatzleistung ist mir etwas wert. Das ist wie beim Auto. Ich kann mir den Basis-Golf kaufen oder ich sage, ich hätte noch gerne die Lederausstattung, was dann ungefähr die Chefarztbehandlung und das Einbettzimmer ist, oder ich lasse es. Aber ich kann im Grunde genommen aus einem Katalog wählen: Wie viel ist mir meine Gesundheit monatlich wert ? Oder wie viel Komfort ist sie mir im Krankheitsfall wert? Und wenn ich viel zahle, kann ich auch viel erwarten.“
In den Augen der Etablierten ist auch das Prinzip der privaten Krankenkassen richtig. Beitragssätze errechnen sich entsprechend der Risikogruppe, d. h. gesundheitsbewusstes Verhalten wird belohnt und unverantwortliches Verhalten ¿nanziell abgestraft. Und da die meisten Versicherten einen Selbstbehalt in ihrer Versiche-
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rung haben, gehen Etablierte zudem davon aus, dass unnötige Arztbesuche von vorneherein vermieden werden. Aus all diesen Gründen ist es auch den privaten Kassen möglich, ihren Standard zu halten und mit den erwirtschafteten Mitteln auszukommen. ƒ ƒ ƒ
„Es gibt bei den Privaten Anreize, sich auch gesund zu verhalten. Z. B. Beitragserstattung, wenn man keine Rechnungen einreicht.“ „Wenn ich meine Privatkasse richtig viel Geld koste, dann werden die mich irgendwann anders eingruppieren und dann werde ich gemäß meinem Risiko mehr bezahlen müssen. Da zahlt halt jeder nach seinem Risiko.“ „Also bei einem Selbstbehalt von 500 Euro, dann bezahlt man die ersten 500 Euro erst einmal selbst. Man geht eigentlich dann zum Arzt, wenn man meint, man müsste wirklich zum Arzt gehen.“
Nur bei Etablierten, die bereits mit schweren Krankheiten konfrontiert waren, und bei den weiblichen Milieuangehörigen regen sich leichte Zweifel hinsichtlich der unbedingten Koppelung von Kostenverursachung und Beitragssatz. Hier wird differenziert zwischen nicht selbst verschuldeten gesundheitlichen oder altersbedingten Beeinträchtigungen auf der einen und selbst zu verantwortenden Beschwerden auf der anderen Seite; dies sollte sich auch in der Anpassung der Beiträge widerspiegeln. Im Prinzip aber stellen Etablierte weder die Zweiteilung in private und gesetzliche Gesundheitsversorgung in Frage, noch ¿nden sie es anstößig, dass man für höhere Beitragssätze auch die optimale Versorgung erwarten kann. Was sie aber beklagen, ist, dass die solide und gute Basisversorgung der gesetzlich versicherten Patienten kostenbedingt so gelitten hat, dass es ethisch und medizinisch langsam nicht mehr zu vertreten ist. ƒ ƒ
„Es gibt häu¿g keine adäquate Nachsorge nach der OP für Kassenpatienten. Das weiß ich von einer, die wollten sie nach 3 Tagen nach Hause schicken – mit Drainage im Bauch. Das ist unverantwortlich.“ „Kassenpatienten zahlen mittlerweile einen nicht unerheblichen Teil selbst. Wenn man dazu in der Lage ist, ist es ja schön, aber nicht jeder ist dazu in der Lage und bei jemandem, der vielleicht etwas weniger Geld hat, der ist dann in diesem System im Alter gekniffen, weil er dann nur noch das bekommt, was der Arzt ihm laut oberer Ordnung oder Regel noch verschreiben darf.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Die Versorung in den gesetzlichen Kassen darf nicht noch schlechter werden, das ist am äußersten Rand angekommen.“
Etablierte sehen vielerlei Gründe für diese Negativent wicklung. An erster Stelle wird die falsche Finanzierungspolitik genannt. Gesetzliche Krankenkassen dürfen nicht selbst bestimmen, welche Beitragssätze sie zur Kostendeckung erheben. Und die erhobenen Beiträge versickern dann in Verwaltung, Gebäuden, Lobbyvereinigungen, über Àüssigen Programmen und inadäquaten Werbe- und Kommunikationsmitteln. Diese Misswirtschaft ist den leistungs- und ökonomiebewussten Etablierten ein besonderer Dorn im Auge. Einen zweiten wichtigen Punkt stellen die unangemessene Preispolitik der Pharmakonzerne sowie der indirekte Vertrieb von Medikamenten über Zwischenhändler, die ebenfalls verdienen wollen, dar. Aber auch das unverantwortliche Verhalten mancher (Kassen-) Patienten stößt bei Etablierten auf unverhohlene Ablehnung. Jegliche Art von Bedien-Mentalität wird scharf kritisiert. Hier fordern Etablierte Eigenverant wortung im Umgang nicht nur mit der eigenen Gesundheit, sondern auch mit öffentlichen Geldern ein: Jeder sollte sich darüber im Klaren sein, dass sich die Gesellschaft oder „der Staat“ aus den einzelnen Bürgern zusammensetzt und dadurch im Endeffekt „staatliche“ Gesundheitsleistungen immer von allen bezahlt werden müssen. ƒ
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„Was nicht funktioniert, ist die Finanzierung dieses Systems. Ich kann nicht Hightech-Medizin erwarten und auf der anderen Seite dem Volk suggerieren, dass man 5-köp¿ge Familien mit nur einem Arbeitnehmerbeitrag, der vielleicht auch noch in der Niedriglohngruppe ist, ¿nanzieren kann.“ „Wir sind ja seltsamerweise das Land in Europa, was in Relation mit am meisten in das Gesundheitswesen investiert. Wenn man sich dann aber die PÀegesituation in Krankenhäusern oder den Schwesternnotstand anschaut und vergleicht das mit skandinavischen Ländern, die weniger einzahlen, dann muss man sagen: Es ist ja nicht zu wenig Geld da, es versickert irgendwo oder wird falsch verteilt.“ „Also, eine Sickergrube ist mit Sicherheit die Verwaltung, also die vielen Verwaltungsstellen. Sickergruben sind mit Sicherheit auch die ganzen Lobby vereinigungen. Und ich kann es auch nicht einsehen, warum ein Medikament in Deutschland immer 30 % teurer sein soll als in Frankreich.“ „Bin ich aber Kassenpatient und habe meine 10 Euro Eintrittsgeld bezahlt, dann geh ich halt so oft dort hin, wie ich will, ich habe ja die 10 Euro bezahlt.“
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„Alles, was umsonst ist, wird in Anspruch genommen, ob ich es brauche oder nicht. Man muss einfach mit dem Geld der Allgemeinheit bewusster umgehen. Dieses Bewusstsein ist nicht ausreichend gegeben.“
So be¿nden sich die gesetzlichen Krankenkassen trotz der gewaltigen Summen, die in das System Àießen, in einer ¿nanziell klammen Lage. Daran haben auch die zahlreichen Reformen der letzten Jahre nichts geändert, im Gegenteil. Für Etablier te stellen sie reines Stückwerk dar und führen in die völlig falsche Richtung: Einheitsmedizin auf niedrigem Niveau. ƒ
„Es ist ein Irrglaube zu glauben, dass wir nach all diesen Reformen das heutige Niveau halten. Das Niveau wird sinken, für alle, und für die heutigen Kassenpatienten ist es ja schon gesunken.“
Etablierte kritisieren die für gesetzlich Versicherte inzwischen üblichen Wartezeiten (sowohl in Praxen als auch auf notwendige Operationen und Behandlungen) und die suboptimale Medikamentenzuteilung. Auch die knappe Zeit, die ein Arzt für seine Patienten aufwendet, wird als medizinisch bedenklich und menschlich untragbar erachtet. Allerdings gestehen Etablierte, dass sie das Verhalten der Ärzte nachvollziehen können. Eine persönliche, zeitaufwändige Behandlung sprengt das Budget eines Arztes, da er nach den von den Kranken kassen vorgegeben Honoraren eine große Zahl von Kassenpatienten „durchschleusen“ muss, um Kostendeckung zu erreichen – von Verdienst gar nicht zu sprechen. ƒ
„Man muss heute in manchen Praxen erleben, dass gar keine Zeit mehr da ist, weil die Ärzte das Wartezimmer voll haben und sagen ‚Ich muss Masse machen, um auf meine Kosten zu kommen‘, also 5 Minuten pro Patient und dann der Nächste. Nimmt er sich mehr Zeit für den Patienten, ist er der barmherzige Samariter, weil er dafür nicht einen Euro mehr bekommt.“
An dieser Stelle tangieren die Vorgaben der gesetzlichen Kranken kassen auch den Privatpatienten. Ärzte führen häu¿g kostenintensive, jedoch in vielen Fällen nicht zwingend notwendige Behandlungen und Untersuchungen bei Privatpatienten durch, um Pro¿t zu erzielen. Daher ist es für Etablierte auch so wichtig, gut informiert zu sein, um gegebenenfalls Behandlungen ablehnen und durch Überprüfung der Liquidation die Behandlung des Arztes wenigstens im Nachhinein auf unangemessene Untersuchungen abklopfen zu können.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Manche Ärzte neigen dann dazu, wenn sie einen Privatpatienten mal haben, ihre ganze Maschinerie aufzufahren, nach dem Motto: ‚Da kommt einer, an dem verdiene ich mal wieder was‘. Das mag ich nämlich dann auch nicht. Ich kann das zwar verstehen, aber im Grunde genommen schädigt er mich und meine Kasse.“
Insgesamt beobachten Etablierte, dass im Gesundheitssektor das Bewusstsein für Eigenverantwortung der Einzelnen gestärkt werden müsste, marktwirtschaftliche Regeln häu¿g nicht greifen (s. Verwaltungsapparat), die Entlohnung der Beteiligten keineswegs nach dem Leistungsprinzip geschieht (je besser und quali¿zierter die Leistung, desto höher die Entlohnung), ein enormer ärztlicher brain drain in Richtung höher dotierten Posten im Ausland zu verzeichnen ist, und dass dringende Themen wie AltenpÀege, Krankenhäuser und Kran ken haus¿nanzierung oder Personalmangel halbherzig und konzeptlos angegangen werden. Chancengerechtigkeit Etablierte unterscheiden stark nach Gerechtigkeit und Gleichheit im Gesundheitssektor. Obwohl die De¿nition von „Gerechtigkeit“ für sie „ein weites Feld“ darstellt, wird diese prinzipiell im Sinne von guter, solider Basisversorgung für alle Versicherten de¿ niert, eingefordert und befürwortet. Jeder soll Zugang zu allen notwendigen Behandlungen und Medikamenten haben; allerdings erwarten Etablierte auch, dass jeder hierzu etwas beiträgt: sowohl ¿nanziell als auch durch gesundheitsbewusstes Verhalten. Aber wie oben bereits ausgeführt, sehen viele Etablierte die Chancengerechtigkeit in Deutschland vor allem für gesetzlich Versicherte durch systemimmanente Faktoren gefährdet. ƒ ƒ
„Ich bin der Meinung, dass gerechte Leistungen im derzeitigen System bald nicht mehr ¿nanzierbar sind.“ „Das System muss reformiert werden, aber richtig.“
Gleichheit dagegen wird von vielen Etablierten weder festgestellt noch angestrebt. Das Stichwort „Einheitsmedizin“ ist für sie im sprichwörtlichen Sinne ein rotes Tuch. Gemäß der Devise, dass jeder Mensch anders ist und andere Bedürfnisse hat, plädieren sie dafür, dass man selbst erworbene ¿nanzielle Vorteile auch in über die Basisversorgung hinausgehende Leistungen umsetzen darf in Leistungen, die anderen nicht unbedingt offenstehen, weil sie aus dem Katalog des „Notwendigen“ herausfallen und separat erworben werden müssen.
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„Der Standardtarif bei der Privaten ist beispielsweise Zweibettzimmer und nicht Chefarztbehandlung – ein Oberarzt kann das in der Regel genauso gut. Wenn ich sage, dass ich aber Chefarztbehandlung will und ein Einbettzimmer, dann kostet das extra. Das ist wie die Automatikklimaanlage beim Wagen: Du kannst eine manuelle haben oder du zahlst eben mehr. Weil du versicherst dich für den Fall der Fälle, dass du diese Leistung in Anspruch nehmen kannst. Und das ist mein gutes Recht.“
Zudem vertreten Etablierte die Auffassung, dass notwendige Innovationen, d. h. der medizinische Fortschritt, nur durch die Einnahmen aus dem Privatpatientensektor ¿ nanziert und ermöglicht werden kann, was später auch dem gesetzlich versicherten Patienten zugute kommt. ƒ
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„In der Regel ist es ja so, der Privatpatient zahlt grundsätzlich den 2- oder 3-fachen Satz. Warum? Weil der Privatpatient letztendlich die Maschinerie für den Gesetzlichen mit bezahlt. Ohne die Privat patienten könnten sich manche Praxen und Krankenhäuser die Maschinerie gar nicht leisten.“ „Medizinischer Fortschritt kostet nun mal Geld. Und wir alle wollen von diesem medizinischen Fortschritt pro¿tieren.“
Allerdings relativieren gerade weibliche Etablierte und Etablierte, die bereits eine schwere Krankheit überstanden haben, das unbedingte Primat der Individualisierung und der monetären Differenzierung. Sie erkennen ein Dilemma im Àießenden Übergang von unvermeidbarer, aber vertretbarer Ungleichheit zu inakzeptabler Ungerechtigkeit und betonen, dass im Zweifelsfall eine optimale gesundheitliche Versorgung nicht allein vom Geldbeutel abhängig sein darf. ƒ ƒ
„Es darf Menschen mit geringerem Einkommen Zugang zu Maßnahmen nicht nur wegen ¿nanzieller Probleme versperrt bleiben.“ „Für mich nehmen sich die Ärzte mehr Zeit … ich bin der Überzeugung, dass meine Krebserkrankung, wenn ich Kassenpatient wäre, eventuell nicht diagnostiziert worden wäre – oder zu spät.“
Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Etablierte haben sehr dezidierte Vorstellungen von und Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem, und sie sehen primär die Politik, aber auch die Hauptak-
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teure (Kassen, Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaunternehmen) in der PÀicht, sich endlich zu sinnvollen Reformen durchzuringen. Etablierte befürworten die Beibehaltung der Teilung in gesetzliche und private Krankenversicherung, streben aber eine Reform vor allem des gesetzlichen Parts unter Anwendung von Privatkassenprinzipien an. ƒ ƒ
„Der Handlungsbedarf ist der, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung der Geist der Privaten einziehen muss.“ „Und ich würde nicht versuchen, die Privatkassen kaputt zu machen, sondern ich würde die gesetzlichen Kassen wieder in die Freiheit entlassen. Weg von diesem Gesundheitsfond… Also, jede Kasse wird wieder in die Selbstständigkeit entlassen und kann sich die privatwirtschaftlichen Züge wieder angedeihen lassen.“
Wichtigstes Kriterium ist dabei, dass eine VersicherungspÀicht für jeden besteht; d. h. jeder muss sich versichern und zahlt seinen Beitrag – auch Kinder und nichtarbeitende Ehepartner. Etablierte sind der Meinung, dass es nicht ¿ nanzierbar und auch nicht moralisch vertretbar ist, dass nur ein Familienmitglied einzahlt, aber alle pro¿tieren. Sollten diese Beitragszahlungen zu sozialen Härten führen (deren De¿ nition Etablierten häu¿g schwerfällt), so ist der Staat in der PÀicht, diese durch Zuschüsse auszugleichen. Eine völlige Über nahme der Beiträge wird im Regelfall abgelehnt, da befürchtet wird, dass staatliche Leistungen, die nicht sofort spürbar etwas kosten, den Empfänger weder für kostenbewusstes Verhalten sensibilisieren noch dazu anhalten. ƒ ƒ ƒ
„Ich sage mal einen Zuschuss, weil wenn es dann wieder eine staatliche Leistung ist: ‚Alles, was nichts kostet, ist nichts wert‘…“ „Jeder zahlt seinen Beitrag. Natürlich muss man irgendwie gucken, dass man soziale Härten ausgleicht, aber nur einer zahlt und alle sind mit drin, das funktioniert nicht.“ „Idealerweise besteht eine VersicherungspÀicht und jeder – wie bei der Haft pÀicht auch – muss sich versichern und jeder zahlt dafür seinen Beitrag… Es gibt ja immer noch Schichten, die es wirklich nicht bezahlen können – die mag es immer geben – für den Fall wäre dann der Sozialhaushalt da, um da das, was fehlt, beizuschießen. Für die, die es sich wirklich nicht leisten können.“
Neben dieser der „Gesundheitsprämie“ vergleichbaren Beitragserhebung plädieren Etablierte für Beitragsbemessungen nach Risikogruppe auch in den gesetzlichen
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Kassen. Dafür möchten sie nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand berücksichtigt sehen, sondern explizit auch gesundheitsförderndes, verantwortungsvolles bzw. unverantwortliches, gesundheitsschädigendes Verhalten. In der Quintessenz bedeutet dies, dass in die aktuellen Beiträge neben den Kosten, die heute tatsächlich entstehen, auch bereits mögliche zu künftige Kosten des individuellen Verhaltens eingerechnet werden. ƒ ƒ
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„Es müssen nicht alle den gleichen Preis zahlen, sondern jeder nach seinem Risiko.“ „Es ist in der Regel so, wenn du Neukunde werden willst, dann musst du Gesundheitsfragen beantworten, und wenn du nicht alles mit topgesund angeben kannst, dann musst du der Krankenkasse auch die Genehmigung erteilen, dass die eine Arztanfrage einholen. So läuft das bei den Privaten. Und dann machen die eine Arztanfrage und dann überlegt sich die Kasse: ‚Zu welchem Risikoaufschlag nehme ich dich als Kunde ?‘“ „Wer sich jeden Tag ohne Sonnencreme 5 Stunden in die Sonne legt und hinterher Brandblasen hat und dadurch irgendwann Hautkrebs provoziert, der muss dafür aber auch einen entsprechend höheren Beitrag leisten.“ „Wenn jemand bei 1,60 Meter 90 Kilo wiegt, und das schon im jungen Alter, d. h. wenn er so viel wiegt, was meinen Sie wird der in den nächsten Jahren Gesundheitskosten produzieren, die die Solidargemeinschaft tragen muss, nur weil er sich fehlverhält?! In der Privatkasse – wenn er überhaupt genommen werden würde – müsste der einen so horrenden Beitrag zahlen, dass er sich überlegen würde, ob er wirklich so viel essen will.“
Auch erwarten Etablierte von einem zukünftigen Gesundheitssystem höhere Transparenz der Abrechnungen für die gesetzlich Krankenversicherten. Diese sollten, wie die Privatversicherten auch, Rechnungen für ärztliche Leistungen nach Hause geschickt bekom men, damit sie über prüfen können, ob die abgerechneten Leistungen tatsächliche erbracht wurden. Zudem erhoffen sich Etablierte einen gewissen Auf klärungseffekt bei den Versicherten, was die Kostenverursachung bzw. Verhältnismäßigkeit bei Arztbesuchen bedeutet. ƒ
„Jeder Private bekommt eine Abrechnung, die bekommt der Gesetzliche nicht. Und dann kann ja der Arzt im Grunde genommen Leistungen aufschreiben, die er vielleicht nicht erbracht hat, das kontrolliert ja keiner. Das kann der Arzt bei einem Privatpatienten schlecht, weil der dich nicht behandeln kann und du bist nicht dagewesen.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
Etablierte würden im Gesundheitssektor auch ein streng leistungsbezogenes und an unternehmerischen Prinzipien ausgerichtetes Entlohnungssystem einführen. Ärzten, die sich durch Kompetenz auszeichnen, sich die notwendige Zeit nehmen, sich weiterbilden, die Budgets der Krankenkassen nicht unnötig strapazieren und ihre Praxis wirtschaftlich angemessen betreiben, sollten auch besser bezahlt werden. Das gleiche gilt für Krankenhäuser, denen Konzentration auf Qualität und wirtschaftliches Arbeiten nahegelegt wird. Dies beförderte ihre Attraktivität unter Patienten, und durch „natürliche Selektion“ blieben über die Zeit nur hochwertige Dienstleister übrig, die optimale Qualität für den ihr angemessenen Preis erbrächten. Zugleich sind Etablierte der Überzeugung, dass durch diese Maßnahmen der brain drain ins Ausland gestoppt werden könnte und in ländlichen Gebieten die Versorgung – dank adäquater Bezahlung der Ärzte – gewährleistet bliebe. ƒ
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„Qualität hat auch seinen Preis. Ein guter Arzt hat auch seinen Preis. Aber wenn ich jedem Arzt, egal ob er was kann, immer das Gleiche zahle, das kann nicht sein. Dann haben wir irgendwann einen Einheitslohn. Wir wollen aber eigentlich doch alle nach Leistung bezahlt werden. Und wenn Ärzte sich weiterbilden, dann haben sie auch verdient, mehr zu verdienen.“ „Mehr unternehmerische Freiheiten… Das Krankenhaus weiß, was sie für die Leistungen, die sie erbringen, bekommen, was es kosten darf, und dann muss das Krankenhaus wirtschaften. Wenn das Krankenhaus aber einen guten Ruf hat, weil es gute Ärzte hat, spielen sie das locker wieder ein, weil dadurch dann auch die Patienten kommen. Und Krankenhäuser, die schlecht wirtschaften und einen schlechten Ruf haben, werden halt irgendwann vom Markt verschwinden, wie das bei jedem normalen Unternehmen auch ist. Jeder kleine Privatunternehmer, der schlecht wirtschaftet, verschwindet vom Markt. Und so ist das im Gesundheitswesen dann auch.“ „Patienten sollten nicht mehr als Patient, sondern als Kunde gesehen werden und der Arzt sollte als Dienstleister gesehen werden. Und Kundenzufriedenheit kann man messen. Danach können dann auch die Honorare festgelegt werden.“
Das größte Einsparungspotenzial sehen Etablierte eindeutig in der Verwaltung der Krankenkassen. Es ist ihnen völlig schleierhaft, warum sich in Zeiten knapper Kassen noch jede Krankenkasse in jeder Region Dependancen leistet. Fusionen, Abbau des Apparats vor Ort und mehr Online-Optionen würden in den Augen der Etablierten viel Geld für die eigentlichen Aufgaben der Krankenkassen freisetzen.
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„Ich weiß nicht, warum jeder Landkreis seine Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen braucht mit Geschäftsführer, Verwaltung etc. Gut, dass schafft alles Arbeitsplätze, aber was da an Geld versickert, das ist Wahnsinn.“
Im Pharmabereich plädieren Etablierte für mehr Wettbewerb sowohl auf dem heimischen wie auf dem internationalen Markt, damit die „völlig überhöhten“ Preise für Medikamente und andere medizinische Produkte reduziert werden können und der EinÀuss der Lobbyisten eingedämmt wird. ƒ ƒ ƒ
„Gerade Medikamente, Verbandsmaterialien in Krankenhäusern und Medi zintech nik sind sehr teuer. Es sind häu¿g Monopole oder es gibt keine richtige Konkurrenz.“ „Die Pharmalobbyisten würden sich die Hacken tot laufen, wenn es mehr Wettbewerb auf dem Pharmamarkt gäbe.“ „Ein Medikament, was normalerweise 450 Euro kostet, was ja schon recht teuer ist, habe ich auf Nachfrage als Re-Import von der deutschen Apotheke für 360 Euro bekommen, was immer noch viel Geld ist. Aber da ist schon eine gewaltige Spanne drin.“
Wenn alle diese Maßnahmen ergriffen worden sind, sehen Etablierte die Möglichkeit, mit den vorhandenen Geldern allen Versicherten eine Basisversorgung auf hohem Niveau zukommen zu lassen (alle Vor sorgeuntersuchungen, Facharztbehandlung, freie Arztwahl, Zahnarztbehandlung, einen höheren Anteil an den Zahnersatzkosten, alle nötigen – und gut verträglichen – Medikamente, alle notwenigen Apparatu ren und Operationen im Krankenhaus und die optimale, schonendste Behandlungsmethode).
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
SINUS B12: „Postmaterielle“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus B12 „Postmaterielle“ Lebenssituation
x Häu¿g Haushalte mit kleinen Kindern (Verheiratete oder Patchwork-Familien) x 4- und Mehr-Personen-Haushalte sind deutlich überrepräsentiert
Bildung
x Hohe bis höchste Formalbildung x Höchster Anteil von Personen mit Abitur oder Hochschulabschluss im Milieuvergleich
Beruf
x Quali¿zierte und leitende Angestellte sowie Beamte und FreiberuÀer x Häu¿g pädagogische, wissenschaftliche, soziale und medizinische Berufe
Einkommen
x Gehobenes Einkommensniveau x 47 % haben ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro und mehr (Gesamt: 24 %)* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 3.056 Euro x 48 % verfügen über ein Kapitalvermögen von 25.000 Euro und mehr (Gesamt: 37 %); überdurchschnittlicher Immobilienbesitz
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Postmateriellen zeichnen sich durch ihre liberale Grundhaltung, durch Weltoffenheit, Toleranz und Multikulturalität aus. Sie denken in globalen Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten. Aufgrund ihrer Aufgeschlossenheit und ihrer hervorragenden Ausbildung sind sie meist erfolgreich im Beruf. Die Postmateriellen haben großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Krisenhafte Entwicklungen sehen sie als Herausforderung, die es anzunehmen gilt. In ihrem Den ken und ihren Projekten wollen sie der Gesellschaft immer einen Schritt voraus sein. Zwar wird die allgemeine Verunsicherung in der Gesellschaft auch in diesem Milieu sehr sensibel wahrgenommen. Sich selbst sehen die meisten Postmateriellen aber in einer privilegierten Situation, was sie nicht verbergen. Mit dieser Haltung wollen sie ein Zeichen setzen gegen unangemessenes, habituell gewordenes Klagen über die Zeitläufte. Anders als die Etablierten haben sich die Postmateriellen auch in härteren Zeiten die genussorientierte „toskanische“ Grundhaltung bewahrt – Aufgeschlos-
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senheit für das Schöne, für Luxus, Unterhaltung und Kultur einerseits, Networking mit Gleichgesinnten andererseits. Geblieben ist die Freude an hochwertigem Konsum, gewachsen ist das Bedürfnis nach Luxus. Dinge, die das Leben verschönern (Kunst, Kleidung, Wohnung, Garten), gehobene Artikel des täglichen Bedarfs (zum Beispiel bei Lebensmitteln), edel essen gehen und reisen sind – auch – Entschädigung für die vielfältigen Stresssituationen im beruÀichen und privaten Alltag. Auf der Suche nach Entschleunigung sind sie sehr empfänglich für Entlastung durch Service. Altersaufbau des Sinus-Milieus B12 „Postmaterielle“
Wie bei den Etablierten sind auch in diesem Milieu die mittleren Altersgruppen überrepräsentiert. Der Schwerpunkt liegt zwischen 30 und 55 Jahren. Wenig mehr als ein Fünftel der Milieuangehörigen ist über 60, nur 15 Prozent sind unter 30. Der Alters-Median liegt bei 44 Jahren. Bedeutung von Gesundheit Für Postmaterielle ist Gesundheit ein hoch reÀektiertes und eminent wichtiges Thema mit breitem Bedeutungsspektrum. Gesundheit heißt nicht nur Abwesenheit von Krankheit oder physischen Einschrän kungen und damit Befähigung zum selbstbestimmten, ungehinderten Erleben und Einsatz des „Körpers“ (Leistungsaspekt); Gesundheit beinhaltet auch psychisches und „soziales“ Wohlbe¿ nden. Gesundheit ist nicht „teilbar“: Körper, Geist und Seele müssen sich in Balance be¿nden; ist eine dieser Dimensionen gestört oder wird ihr zu wenig Beachtung geschenkt, krankt auf Dauer der gesamte „Organismus Mensch“. Um dem Thema Gesundheit gerecht zu werden, muss im Grunde das gesamte Lebensumfeld und die individuellen Lebensbedingungen ins Blickfeld gerückt bzw. berücksichtigt
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werden. Gesundheit tangiert damit alle Lebensbereiche und es kommt ihr umfassende Bedeutung für ein zufriedenes, selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu. ƒ
„Gesundheit ist nicht nur die körperliche Gesundheit. Psyche und soziales Umfeld sind genauso wichtig, um sich gesund zu fühlen.“
Diese ganzheitliche Sicht erfordert auch bei der Beurteilung der eigenen Gesundheit eine komplexe Analyse, die in der Praxis jedoch von Postmateriellen häu¿g zur Vereinfachung zunächst auf die physische Ebene fokussiert wird. Post materielle benennen ihre (körperlichen) Erkrankungen und Beschwerden präzise ohne zu dramatisieren; sie bezeichnen ihren Gesundheitszustand in den meisten Fällen als durchaus gut, und auch in den Fällen, in denen ernste Krankheiten prävalieren (z. B. Krebs, schwere Wirbelsäulenprobleme, chronische Krankheiten), wird versucht, durch positive mentale Einstellungen die Lebensqualität zu erhöhen und die Krankheit nicht zur alles bestimmenden Determinante im Leben werden zu lassen. Postmaterielle verfügen über vielfältige Strategien im Alltag zur Vermeidung oder zur Bewältigung von gesundheitlichen Schwierigkeiten, und sie nutzen diese gezielt. ƒ ƒ
„Mein Gesundheitszustand ? 8 auf der Skala bis 10. Die Schmerzen beeinträchtigen mich, es tut eben weh. Aber damit kann ich umgehen. Ansonsten bin ich kerngesund.“ „Gesundheit ist eben auch Kopfsache. Geht es mir mental gut, wirkt sich das auch positiv auf meinen Körper aus.“
Auch das Lebensalter ist ein wichtiger Faktor in der Betrachtung. Je älter die Postmateriellen werden, desto größer wird ihr Respekt vor altersbedingten Einschränkungen und desto ausgeprägter wird gesundheitsbewusstes Verhalten. Der Tenor liegt dabei auf der Akzeptanz von natürlichen Gegebenheiten und dem ganzheitlichen, proaktiven Umgang mit der entsprechenden Situation. ƒ ƒ
„Ich habe da schon ziemlich Respekt davor, dass nicht mehr alles so geht wie früher. Damit muss ich anfangen zu leben und mich entsprechend darauf einstellen.“ „Es liegt an einem selbst, auch mit altersbedingten Beschwerden in einem geistig stabilen Zustand leben zu können und damit umgehen zu können.“
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Zwischen Schicksal und Verantwortung Für ein so individualistisch-emanzipatorisches und gleichzeitig solidarisches Milieu wie die Postmateriellen gehört Eigenverantwor tung zu der Grundausstattung, die jedes Individuum haben sollte, und dies nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus gesellschaftlichen Gründen. ƒ ƒ ƒ
„Es liegt zuallererst an mir zu gucken, dass es mir gut geht und dass ich meine Gesundheit erhalte.“ „Was passiert heute ? ‚Schrei sofort nach dem Staat‘. Die Eigenverantwortung ist gestorben, das muss in einem sozial verträglichen Maße wieder geändert werden.“ „Die Leute bei ihrer gesellschaftspolitischen sozialen Verantwortung packen. Es ist ja eben auch eine soziale Verantwortung, die wir alle haben, das System nicht ins Nirwana explodieren zu lassen.“
Natürlich nehmen Postmaterielle eine Vielzahl von Aspekten wahr, die das komplexe Zusammenspiel der Gesundheitsfaktoren stören und dadurch „Gesundbleiben“ dem EinÀuss und der ursächlichen Verantwortung des Einzelnen entziehen. Nicht nur schädliche UmwelteinÀüsse und Stress, sondern auch genetische Veranlagung, Unfälle, zwischen menschliche Belastungen oder auch einfach nur „unerklärlicher Zufall“ können jede noch so reÀektiert-gewissenhaften Lebensweise konterkarieren. ƒ ƒ
„Erbkrankheiten, Veranlagungen – das kann man nicht beeinÀussen, das ist sozusagen Pech, mit dem man leben muss.“ „Du lebst in einer bestimmten Umgebung und kannst nicht unbedingt fort.“
Aber nach Meinung der Postmateriellen ist es dennoch möglich, durch bewusstes Verhalten viele Krankheiten zu vermeiden oder zumindest das Risiko an ihnen zu erkranken, signi¿kant einzuschränken. Jeder Einzelne ist aufgerufen, seine gesamte Lebensweise zu überdenken und gegebenenfalls anzupassen bzw. zu verbessern. Hier wird allerdings nicht einem genussfeindlichen Verzicht das Wort geredet, sondern Postmaterielle setzen auf mündige, aufgeklärte, informierte Bürger, die alle Lebensbereiche in ein gesundheitsbewusstes Verhalten einbeziehen, sich der Konsequenzen ihres Handelns wohlbewusst sind, verantwortliche Entscheidungen treffen und ihrem eigenen Körpergefühl trauen. Dies beinhaltet auch ein ständiges Hinterfragen alter „Gewissheiten“ und Routinen (z. B. im Ernährungsbereich), die Abkehr von ideologischen Glaubenssätzen oder allzu einfachen Lösungsvorschlä-
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gen und die Aufforderung, sich im gesellschaftlichen Bereich für die Verbesserung äußerer Gegebenheiten und Strukturen einzusetzen, die gesundheitsrelevant sind. ƒ
„Wir werden doch auch in unserem Bildungssystem dazu erzogen, analytisch und kritisch zu denken. Also nicht schwarz / weiß oder ja / nein, sondern: Hier ist eine Information, denke darüber nach und bilde Dir eine Meinung. So sollte das auch in Gesundheitsdingen sein.“
Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Postmaterielle haben ein stark ausgeprägtes Informationsbedürfnis. Es ist ihnen äußerst wichtig, über ihren Körper und die damit verbundenen gesundheitlichen Belange Bescheid zu wissen. Wenn Probleme auftreten, sind sie die ersten, die umfassende Recherchen über die relevanten Themen anstellen, und sie möchten sich auf keinen Fall „blind“ in ein Arztgespräch begeben. Es werden immer mehrere Quellen konsultiert und jeder Aspekt von möglichst vielen Seiten beleuchtet. Dabei gehen Postmaterielle in der Regel recht undogmatisch vor und zeigen sich offen für die unterschiedlichsten medizinischen Richtungen, d. h. sie suchen nicht gezielt nach Informationen einer bestimmten „Schule“, sondern streben eine möglichst große Bandbreite von Meinungen an. Zu Recherchezwecken wird besonders gern auf das Internet zurückgegriffen. Postmaterielle sind versierte und kompetente Nutzer dieses Mediums und halten sich auch für befähigt, die erhaltenen Informationen auf Seriosität und Zuverlässigkeit zu ¿ltern. ƒ ƒ
„Ich informiere mich viel im Internet. Und wenn ich zum Arzt gehe, dann bin ich eben schon vorinformiert und dann kann der mir auch nicht jeden Unsinn erzählen.“ „Das Internet ist dafür schon ganz gut, diese Unmengen an Informationen, die man sich anlesen kann. Gut, man kann sich auch viel Mist anlesen, das hat auch seine Nachteile. Das hängt auch wieder davon ab, inwieweit man sagen kann, dass dies nun Blödsinn ist, was da steht. Das ist natürlich auch wieder ein Bildungsfaktor, damit man sich da nicht schnell etwas aneignet, was nicht den Tatsachen entspricht.“
Desweiteren spielen Freunde und Bekannte eine wichtige Rolle bei der Informationsbeschaffung. Der Austausch von Erfahrungen und Meinungen hilft sowohl
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bei der Arztwahl wie auch bei Ursachenforschung, Symptomklärung und beim Abwägen des „Für und Wider“ verschiedener Behandlungsmethoden. Der Arzt gilt nur bedingt als zuverlässige Informationsquelle. Ärzte, die das Vertrauen ihrer postmateriellen Patienten erworben haben, sind angesehene Berater und ihr Rat hat großes Gewicht; den anderen werden auch schon Eigeninteresse, Desinteresse oder schlichtweg mangelnde interdisziplinäre Kompetenz unterstellt. Die Info-Blätter beim Arzt stehen zudem im Ruf, eher kommerziellen denn rein informatorischen Zwecken zu dienen; dies wird auch im Vergleich zur Praxis in anderen Ländern so benannt. ƒ
„Also, wenn ich mir überlege, was die Ärzte in Australien für ausführliche Informationsblätter hatten ! Da stand alles drin über das, was ich hatte und was das so nach sich ziehen könnte. Was hier so in den Arztpraxen rumliegt, da habe ich eher das Gefühl, dass es eher darauf abzielt etwas zu verkaufen als zu beraten.“
Das „lese-af¿ne“ Milieu der Postmateriellen informiert sich aber auch in seriösen Tages- oder Wochenzeitungen und in Fachmagazinen und anderer Fachliteratur über gesundheitliche Themen. Das Fernsehen spielt eine eher untergeordnete Rolle in diesem Zusammenhang; Postmaterielle assoziieren mit ihm massentaugliche und weniger fundiert-spezi¿sche Informationen. Allerdings stellt dieses Medium für Postmaterielle die Möglichkeit dar, auch ein breiteres Publikum hinsichtlich gesundheitlicher Aufklärung zu erreichen. ƒ ƒ
„Ich weiß nicht, was über die Medien läuft, weil ich hier kein Fernsehen gucke. Ich weiß auch nicht, was so in Werbespots läuft. Aber fast alle haben eine ‚Glotze‘ und darüber erreicht man die Leute.“ „Fernsehen ist ein ziemlich starkes Medium, in dem man nicht nur ständig Konsum angedreht kriegt, der einen krank macht, sondern in dem man umgekehrt vielleicht mal informiert wird, was einen krank macht, oder wie man den Lebensstil umstellen kann.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Postmaterielle betreiben ihre persönliche Gesundheitsvorsorge sehr aktiv. Erstes Augenmerk wird immer auf die Ernährung gelegt. So verwenden Postmaterielle nach Möglichkeit frische, hochwertige, gern aus kontrolliert ökologischer Erzeugung stammende Produkte zur Zubereitung von ausgewogenen Mahlzeiten, die allerdings auch geschmacklich anspruchsvoll sein und sich durch Vielfalt auszeichnen müssen. Postmaterielle sind bereit, für gesunde Ernährung auch gutes Geld auszugebe („Man ist, was man isst“), sind aber kritische Konsumenten und setzen prinzipiell auf fundierte Informationen und nachprüfbare Qualität („Bio ist nicht gleich Bio“). Sie sind der festen Überzeugung, dass durch eine wirklich sinnvolle Ernährung viele „Volkskrankheiten“ wie Allergien oder Stoffwechselerkrankungen (Diabetes, Adipositas, etc.) wenn schon nicht vollständig verhindert, so doch verringert werden können. Unter Postmateriellen ¿nden sich im Milieuvergleich auch die meisten Vegetarier oder Menschen, die sich z. B. makrobiotisch ernähren, aber Postmaterielle sind in den wenigsten Fällen rigorose „Gesundheitsapostel“, die sich keine genussbedingten kleinen Sünden durchgehen ließen oder niemals vom „Speiseplan“ abwichen. Es ist eher das „Fehlverhalten“ in Form von nicht nachhaltig produzierten Produkten, die ein latent schlechtes Gewissen ver ursachen. Und besonders bei Kindern legt man zwar höchsten Wert auf
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eine gesunde Ernährung, lässt aber durchaus auch Spielraum für deren Bedürfnis nach „Süßigkeiten und gelegentlich einer Portion Pommes“, denn: Verordneter kompletter Verzicht ist kontraproduktiv, da er zu Reaktanzen und psychischem Unbehagen führt; zudem sollen die Kinder in diesem sehr freiheitsliebenden Milieu schon früh an Eigenverantwortung herangeführt werden. ƒ
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„Als Kind hatte ich verschiedene Lebensmittelallergien und Heuschnupfen. Heute habe ich damit keine Probleme mehr, vielleicht liegt das auch an der recht konsequenten Vermeidung von minderwertigen Nahrungsmitteln mit vielen E’s und P’s.“ „Das muss jeder für sich selber raus¿nden und passend umsetzen. Es ist auch wichtig, wenn man etwas praktiziert, dass man sich dabei wohlfühlt.“
Außerdem propagieren Postmaterielle Bewegung und Sport zur Gewichtskontrolle, zur Steigerung der allgemeinen körperlichen Fitness und als Ventil für berufs- und / oder familienverursachten Stress. Es werden verschiedene Ausdauer-, aber auch Leistungssportarten betrieben. Postmaterielle sind nicht per se dem Leistungsgedanken abhold, sie verfolgen ihn aber nicht aus extrinsischen Gründen, sondern weil sie für sich testen möchten, was sie ihrem Körper zutrauen können und wo ihre Grenzen liegen (Selbsterfahrung); zudem sind Yoga oder andere asiatische Sportarten wie Thai Chi als Training für Körper und Geist sehr beliebt. Postmaterielle Frauen scheinen auch eine gewisse Af¿nität zu spezi¿schen Sportkursen und quali¿zierten Fitness-Angeboten zu haben. ƒ
„Ich mache Sport, habe einen Vertrag im Studio. Und da nutze ich das Rücken-¿t. Und wenn es jetzt etwas Spezielles für meine Halswirbel gäbe, dann würde ich das auch nutzen.“
Postmaterielle lehnen in den meisten Fällen bewusst gesund heitsschädliches Verhalten, wie z. B. Rauchen oder höheren Alkoholkonsum, ab; das Glas Wein oder auch einmal eine kleine „Kalorienbombe“ zum Dessert gehören aber zu den „sonnigen Seiten des Lebens“ dazu und werden sich gestattet. Angehörige dieses Milieus versuchen auch aktiv, den beruÀichen Stress zu reduzieren, scheitern aber in vielen Fällen durch äußere Vorgaben an der kompletten Umsetzung. Zur Kompensation bemühen sie sich, wenigstens ihr Privatleben zu „entschleunigen“ und ihren Arbeitsplatz unter gesundheitsrelevanten Aspekten umzugestalten (z. B. ergonomisches Mobiliar, Filter an Geräten, etc.). Zusätzlich zu diesen allgemein verbreiteten Vorsorgemaßnahmen verwenden viele Postmaterielle im täglichen Leben auch gesundheitsfördernde HeilpÀanzen
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(wie Kräutertees, Algen, Beeren, Wurzeln oder ähnliches) und achten auf ein angenehmes, stimulierendes (Wohn-) Umfeld, das der Seele gut tut und zudem möglichst schadstofffrei gehalten wird. Bauökologie ist ein relevantes Thema, aber auch die Wohnung als Rückzugsraum zur Entspannung und zur Regeneration der psychischen Kräfte hat hohe Bedeutung. Überhaupt sehen Postmaterielle in der geistigen Anregung sowie in bewussten „Auszeiten“ eminent wichtige Aspekte, die sich auch direkt auf das körperliche Wohlbe¿nden auswirken. ƒ
„Meine Wohnung ist mein kleines Rückzugsgebiet, oder meine kleine Insel, auf die man sich zurückziehen und wohlfühlen kann. Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich ständig mit anderen Kulturen, anderen Sprachen zu tun habe. Das kann manchmal ziemlich anstrengend sein und da ist es mir wichtig nach Hause zu kommen, mich gut zu fühlen.“
Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Postmaterielle gehören nicht zu den Menschen, die schnell und ohne triftigen Anlass den Arzt aufsuchen. In vielen Fällen wird selbst recherchiert, welche Beschwerden aufgetreten sind und welche Behandlungsmethoden und Heilmittel angezeigt wären bzw. welche Alternativen zur Verfügung stehen. Falls sich die Beschwerden der Selbstmedikation entziehen, Unklarheit über die Diagnose besteht oder es die Art der Erkrankung unumgänglich macht, wird von Postmateriellen selbstverständlich professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Hier steht an erster Stelle der (vertrauenswürdige, „gleichgesinnte“) Hausarzt oder auch Facharzt (Gynäkologe, Internist), mit dem man sich auf einer Wellenlänge fühlt und gute Erfahrungen gemacht hat. Bei der originären Arztwahl erkundigen sich Postmaterielle zunächst im persönlichen Umfeld nach empfehlenswerten Ärzten; auch be¿nden sich häu¿g Ärzte im Verwandten- oder Bekanntenkreis und bilden den ersten Anlaufpunkt oder können an entsprechende Kollegen weiterverweisen. Im Endeffekt geben für Postmaterielle folgende (ineinandergreifende) Punkte den Ausschlag für das Vertrauen in und den Verbleib bei einem Arzt: 1. Der Arzt muss den Patienten ernst nehmen und auf Augenhöhe mit seinem Klienten (nicht „Bittsteller“ oder „unwissender Befehlsempfänger“) kommunizieren. Dazu gehört auch, dass der Meinung und dem Körpergefühl des Patienten bei Diagnose und Behandlung Beachtung geschenkt und nicht als „unwissenschaftlicher, laienhafter Unsinn“ beiseite gewischt wird. 2. Der Arzt muss sich Zeit nehmen, zuhören und ganz individuell auf den Patienten und seine Vorgeschichte eingehen. Krankheiten und Behandlungsmethoden müssen umfassend erläutert und begründet, Alternativen erwogen
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und Konsequenzen dargelegt werden. Es soll nicht an Symptomen herumgedoktert, sondern profunde Ursachenbekämpfung geleistet werden. Der Arzt muss den „gesamten“ Menschen auf dem Radar haben und über das reine Fachgebiet hinausblicken. Interdisziplinäre Aufstellung, im Zweifelsfall Konsultationen mit anderen Fachärzten oder Rücksprache mit dem Hausarzt und auch die Anwendung unterschiedlicher Methoden aus unterschiedlichen medizinischen „Schulen“ sind für Postmaterielle essentielle Aspekte, die aber von den wenigsten Ärzten erfüllt werden. Die Wechselbereitschaft unter Postmateriellen ist dementsprechend hoch, bis sie den Arzt ihres Vertrauens gefunden haben. ƒ
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„Ich habe gesagt, da stimmt irgendetwas nicht, das tut ständig weh. Das hätte man alles genauer untersuchen können, wenn man mich ernst genommen hätte. Statt dessen bin ich wie ein Hypochonder behandelt worden. Die sprechen einem ab, dass man selber irgendwie etwas blickt mit seinem Körper.“ „Dieses eigene Körpergefühl hat unser Gesundheitssystem wegerzogen. Und so gehen die Ärzte auch mit einem um. Ich bin jetzt nicht gerade auf den Mund gefallen, aber selbst mir passiert immer wieder, dass ich dann klein und still bin. Man wird immer irgendwie ein bisschen wie blöd behandelt.“ „Der Arzt muss Menschenkenntnis haben, erklären können, auf Patienten eingehen. Jede Lebenssituation ist eben anders.“
Postmaterielle erwarten von Ärzten nicht, dass sie unfehlbar sind oder auf alles eine Antwort haben – im Gegenteil, sie hegen eher ausgesprochene Aversionen gegen (Halb-) Götter in Weiß und deren Habitus. Was sie aber erwarten, ist, dass „Nicht-Wissen“ oder Unsicherheiten nicht vertuscht, sondern offengelegt und im Diskurs mit anderen Kapazitäten geklärt werden. ƒ
„Das lehne ich völlig ab, dass Ärzte an einem ‚rumdoktern‘, obwohl es offensichtlich nicht besser wird. Offensichtlich scheut man sich dann auch, einen anderen Rat einzuholen. Das ist so etwas, wo ich denke, das Konsultieren untereinander funktioniert nicht richtig. Oder wollen die sich nicht in die Karten schauen lassen wegen Angst vor Entdeckung von Fehlern ? Das kollegiale Untereinander oder das Konsultieren sollte ausgeprägter sein, bei Gesundheit ist nicht alles monokausal, da hängt das eine mit dem anderen zusammen.“
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„Ärzte können heutzutage nicht mehr alles wissen und müssen ein bisschen übergreifendes Denken an den Tag legen. Einerseits die Spezialisierung und andererseits mag das eine mit dem anderen zusammenhängen.“
Postmaterielle sind auch Patienten, die aufgrund ihres hohen Wissenstandes Behandlungen selbstbewusst einfordern oder ablehnen. Dabei gelangen sie gerade im Bereich der für Postmaterielle attraktiven alternativen Medizin oft an die Grenzen des Systems: Sind sie privat versichert (oder zusatzversichert), stehen ihnen viele dieser Methoden ohne größeren ¿ nanziellen Aufwand zur Verfügung; bei den mehrheitlich gesetzlich Versicherten bedeutet es ein Kampf mit Arzt und Krankenkasse um Anerkennung und Verschreibung von erwünschten Leistungen bzw. einen beträchtlichen ¿ nanziellen Mehraufwand (s. Zweiter Gesund heitsmarkt). Hier erwarten Postmaterielle von ihrem Arzt, dass er auch alternative Wege sucht, wenn Kassen etwas nicht verschreiben wollen oder können, um die nach ihrer Meinung optimale Behandlungsmethode zu gewährleisten. Und last but not least wünschen Postmaterielle eindeutig eine Arztpraxis, in der das gesamte medizinische Personal freundlich („menschlich“) und das Ambiente in jeder Hinsicht ansprechend ist, d. h. dass sich der Patient dort weitestgehend „wohlfühlt“ (soweit dies in einer Praxis möglich ist). Einnahme von Medikamenten Postmaterielle sind sehr zurückhaltend bei der Einnahme von „konventionellen Medikamenten“. Sie lehnen diese zwar nicht kategorisch ab, müssen aber von der Notwendigkeit und der „Überlegenheit“ dieser Therapieform überzeugt sein. So kämen nur wenige postmaterielle Krebspatienten auf den Gedanken, die Chemotherapie zu verweigern, um ausschließlich auf alternative Therapien umzusteigen. Aber es wird immer gesucht und erwogen, wo diese anderen Heilverfahren besser (oder zumindest genauso) geeignet sind, um den Köper möglichst schonend und ganzheitlich zu behandeln, wie auch um Maßnahmen der Schulmedizin zu begleiten und zu unterstützen. Der Natur des Menschen nahe kommende und ihr Rechnung tragende Heilmittel werden als gleichberechtigt angesehen; jedes Medikament hat sein spezi¿sches Anwendungsgebiet und sollte auch dort ideologiefrei eingesetzt werden. Tendenziell versuchen Postmaterielle, kleineren Beschwerden mit gut verträglichen natürlichen Heilmitteln zu begegnen, diese auch zur Vorbeugung und unterstützenden Behandlung schwererer Erkrankungen einzusetzen, und nur im Fall strenger medizinischer Indikation auf die „chemische Variante“ zurückzugreifen, die dann allerdings akzeptiert und auch konsequent angewendet wird.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Ich habe Brustkrebs. Da vertraue ich lieber auf den neuesten medizinischen Stand und mache alles, was notwendig ist.“ „Man muss nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen. Warum den Körper belasten, wenn’s eindeutig auch sanfter geht ?“ „Das muss man als ganzheitliches System betrachten, und da geht es um mehr als nur schnelle Wirkung bzw. das Abstellen von Symptomen.“
Postmaterielle „kombinieren“ vorzugsweise Schulmedizin mit alter nativen, natürlichen oder aus anderen Kulturen übernommenen Heilverfahren, die durch den heutigen Stand der Wissenschaft in ihrer Wirksamkeit und Relevanz oftmals bestätigt sind. So wollen sie dem ganzheitlichen Aspekt der Gesundheit gerecht werden, und sie vertreten dies auch selbstbewusst gegenüber ihrem Arzt. Insgesamt würden Postmaterielle sich wünschen bzw. streben es an, dass das Therapieren mit Medikamenten vermieden oder zweitrangig werden könnte durch früher ansetzende Gesundheitsaufklärung und daraus resultierende gesundheitsbewusste Lebensweisen. Vorsorgeuntersuchungen Postmaterielle nehmen ganz selbstverständlich an Vorsorgeuntersuchungen teil. Prävention hat einen sehr hohen Stellenwert; es gilt, Krankheiten schon im Vorfeld zu vermeiden bzw. frühzeitig entgegenzusteuern. Wie in allen Gesundheitsaspekten sehen Postmaterielle auch hier die ganzheitliche Ursachenforschung und -bekämpfung als Maß aller Dinge. Auch in diesem Milieu gilt, dass Frauen sich stringenter an als richtig erkannte Normen halten. Krebsvorsorge beim Gynäkologen, Blutbild, allgemeiner Gesundheitscheck und Zahnarztbesuch werden gemacht und sollten laut Milieuangehörige notfalls auch verpÀichtend sein bzw. von den Kassen mehr „belohnt“ werden, denn: Vorsorge bedeutet höhere Lebenserwartung und allgemeine Kostensenkung. Hier ähneln die Auffassungen durchaus denen der leistungs- und kostenbewussten Etablierten. Aber auch die männlichen Postmateriellen gehören im Milieuvergleich eher zu den Aktiveren im Vorsorgebereich (Krebsvorsorge, Blutbild, Zahnarzt). ƒ
„Es wäre richtig und wichtig, dass alle Basisuntersuchungen, die für mich wichtig sind, gefördert und bezahlt werden. Zum Beispiel auch diese Brustkrebsgeschichte, die ich jetzt leider erst mal selber zahlen muss.“
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Über die Ausgestaltung dieser Vorsorgeuntersuchungen wird jedoch gestritten. So bemängeln postmaterielle Frauen, dass schonendere oder wirkungsvollere Untersuchungsmethoden (z. B. Ultraschalldiagnostik zusätzlich zu Gewebeabstrichen beim Gynäkologen) nicht vorgesehen sind bzw. aus dem Leistungskatalog herausfallen und selbst zu tragen sind. Auch werden Befürchtungen geäußert, dass in Zukunft gerade an der Vorsorge gespart wird, was vor allem die sozial schwächeren Schichten trifft. Für Postmaterielle ist dies der völlig falsche Weg. ƒ
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„Dass ich für meinen Ultraschall selber zahlen muss, ¿nde ich den größten Quatsch. Das ist eines der größten Vorsorgeinstrumente in der Gynäkologie. Was soll uns der Abstrich noch bringen ? Wenn ich irgendwelche Myome, Polypen oder sonst was habe, dann geht das nur über Ultraschall.“ „Mammogra¿e oder die Darmspiegelung muss ich demnächst auch selber tragen – das sind alles Vorsorgemaßnahmen. Da spart man jetzt daran, stellt nicht mehr so viele Dinge fest, dann sterben die Leute dran – hat man auch gespart – zynisch gesagt.“ „Das wird größere Folgekosten mit sich bringen, als was man jetzt einspart. Und gerade in sozial schwachen Familien geht das nicht, ¿nde ich unmöglich.“
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Zweiter Gesundheitsmarkt Postmaterielle bewerten die Unterscheidung in Ersten und Zweiten Gesundheitsmarkt als willkürliche Unterteilung. Für sie ist nicht nur die klassische „Schulmedizin“ mit ihren Diagnose- und Heilverfahren es wert, in den Kanon der von den Versicherungen zu tragenden Leistungen aufgenommen zu werden, sondern auch zahlreiche alternative, ganzheitliche Behandlungsansätze. Diese Methoden und Heilmittel werden als ef¿ zient, wirksam und im Endeffekt kostengünstig angesehen, da sie die Ursachen von Erkrankungen angehen und nicht nur die Symptome kurieren. Im Prinzip bedeutet das, dass diejenige Methode „Recht“ hat, die heilt, und die sollte auch Bestandteil der (kassenärztlichen) Leistungen sein. ƒ
„Man sieht ja auch, dass die Menschen heute viel mehr auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten sind, weil das Bewusstsein dafür jetzt mehr existiert als früher, und dass es mehr in die Leistungen aufgenommen wird, weil es einfach wirkt und Kosten spart.“
So bestehen Postmaterielle durchaus auf Physiotherapie, Bioresonanz, Homöopathie, Akkupunktur und Naturheilmittel ohne Chemie, wenn sie von deren Wirksamkeit überzeugt sind. Wie bereits im Kapitel Medikamenteneinnahme beschrieben, versuchen sie, diese Anwendungen über ihren Arzt verschrieben zu bekommen, im Zweifelsfall übernehmen sie aber auch selbst die Kosten. Hier setzt ein wichtiger Kritikpunkt der Postmateriellen an: Sie beklagen, dass sie nicht die Möglichkeit haben, Àexibel einen Katalog von Behandlungsmethoden zu wählen und über ihre Versicherung zu „bezahlen“, der ihnen wichtig ist, und dafür auf andere Leistungen zu verzichten, die sie nicht in Anspruch nehmen würden bzw. die ihnen weniger wichtig sind. ƒ
„Man muss die Leute zu einem mündigeren Verhältnis führen, so dass man sich entscheiden kann, was man tun will. In der Regel gibt es ja mehr Alternativen als nur eine Pille. Und da sollte ich die Möglichkeit haben zu entscheiden, was mir wichtig ist und wofür ich eigentlich bezahle.“
In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass Postmaterielle keineswegs die Übernahme aller Leistungen für alle Versicherten fordern; dies würde jedes Gesundheitssystem sprengen. Statt dessen plädieren sie für individuelle Wahlmöglichkeiten, und sie betonen auch, dass viele „Wellness“-Angebote (Yoga, Ayurveda, Klang-, Farb- oder Bachblütentherapien etc.) sicher der Gesundheit dienlich sind (und von ihnen gern wahrgenommen werden), dies aber in den Be-
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reich Eigenverantwortung bzw. Privatsache fällt und damit aus eigener Tasche zu zahlen ist. ƒ
„Man versucht viel auf der Wellnessschiene, Yoga oder andere Anwendungen, aber da bin ich selbst gefragt.“
Trotz ihrer grundsätzlichen „Af¿nität“ zu Leistungen des sogenannten Zweiten Gesundheitsmarkts werden eine Vielzahl der IGe-Leistungen von Postmateriellen aber als reiner „Zuverdienst“ der Ärzte klassi¿ziert: Hier ist wieder der informierte, mündige Patient gefragt, der über den Sinn oder Unsinn solcher medizinischer Maßnahmen entscheiden muss. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Postmaterielle haben zwiespältige Gefühle, was die aktuelle Gesundheitsversorgung betrifft. Einerseits sind sie durchaus der Meinung, dass sich in Deutschland die medizinische Versorgung im Hinblick auf Diagnoseverfahren, Operationstechniken und Therapiemethoden im weltweiten Vergleich auf hohem Niveau be¿ ndet. Gerade im Bereich der klassischen „Schulmedizin“, aber auch in der Alternativmedizin stehen den Menschen prinzipiell hervorragende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Und Post materielle haben bislang noch keine „Unterversorgung“ direkt am eigenen Leibe erlebt. ƒ
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„… zum Beispiel bei der Entwicklung von Medikamenten und das Miteinbinden von Erfahrungen aus anderen Ländern. Neue Operationsformen mit besseren Erfolgschancen und die Forschungsarbeiten sind in Deutschland schon gut.“ „Dass man noch freie Arztwahl hat, ¿nde ich gut. Es wird nicht gesagt, du bist bei der und der Krankenkasse und das sind unsere Kooperationsärzte. Ich habe es nicht im Kopf, wie es in anderen Ländern ist, aber ich glaube, uns geht es hier schon noch relativ gut mit unserem Gesundheitssystem.“ „Wenn ich aus dem Ausland wiederkomme, kann ich nur sagen, uns geht es ganz schön gut.“
Andererseits konstatieren Postmaterielle ganz dezidiert die Entwicklung zu einer Zweiklassen-Medizin. Aufgrund der maroden Finanzlage des Systems wie auch zweifelhafter Priorisierungen werden den Kassenpatienten der Zugang zu Leistungen erschwert bzw. sukzessive unmöglich gemacht. Wie oben beschrieben,
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müssen im Bereich der ganzheitlichen Medizin die Kosten von den Patienten meist komplett selbst übernommen werden, und auch bei der konventionellen Versorgung stehen Kassenpatienten häu¿g weder die optimalen Behandlungsmethoden und Materialien zur Verfügung, noch werden so wichtige Bereiche wie Sehhilfen oder PÀegeversorgung im Krankenhaus und Zuhause adäquat übernom men bzw. teilweise bereits ausgeschlossen. Nur wer sich zumindest privat zusatzversichert, kann damit rechnen, nach den individuell besten und präferierten Optionen behandelt zu werden. Ganz besonders deutlich wird dies im Bereich der Zahnmedizin, wo Postmaterielle befürchten, dass soziale Klassenunterschiede schon bald wie in ärmeren Ländern „den Menschen ins Gesicht geschrieben stehen könnten“. ƒ ƒ
„Bei Kassenpatienten ist Zahnbehandlung eigentlich eine minderwertige Versorgung mit dem Schlechtesten.“ „Pro Zahn 70 bis 80 Euro Zuzahlung bei Füllungen, ganz zu schweigen von Kronen oder anderen aufwändigen Zahnersatzgeschichten. Da kann man schon Angst bekommen, wenn man sich dann als Kassenpatient das minderwertigste Material aussuchen muss, was wahrscheinlich auch nicht so lange hält.“
Und auch gerade im Bereich „Frauenmedizin“ stellen Post materielle eine gravierende Verschlechterung der Versorgung bzw. inadäquate Angebote für ihre individuelle Lage fest. So werden Vorsorgeleistungen gekürzt, Schwangerschaftsbetreuungen heruntergefahren und alternative oder speziell auf Frauen ausgerichtete Behandlungsmethoden gar nicht erst in den Leistungskatalog aufgenommen. ƒ ƒ
„Und auch im Frauenbereich ist viel verlagert worden auf das spätere Alter, bevor dann gezahlt wird.“ „Die angebotenen Leistungen bei ‚Frauenmedizin‘ sind nicht unbedingt die, die ich in Anspruch nehmen würde. Da wären mir andere wichtiger.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Nach Auffassung der Postmateriellen hat sich der Gesundheitssektor heutzutage zu einem weiteren „Industriezweig“ entwickelt, der (eben auch) harten marktwirtschaftlichen Überlegungen Rechnung tragen muss. Dies widerspricht zwar ihrer grundsätzlichen Auffassung von Gesundheit und Heilen (ganzheitlich, dem Menschen dienend, nicht kommerziell), wird aber weitgehend als Realität akzeptiert – wenn auch nicht ausgesprochen goutiert.
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„Es ist auch ein Industriezweig – so muss man das ganz klar sehen.“
Postmaterielle konstatieren nüchtern, dass das Gewinnstreben vieler Akteure ungebrochen ist bzw. der „Rattenschwanz derer, die an Gesundheit verdienen“ nicht kleiner geworden ist, Geräte, Forschung, Medikamente und Leistungen (wie in allen Lebensbereichen) immer teurer werden, und dass auch das Verhalten der Patienten (unnötige Arztbesuche, „Rundumversorgungsmentalität“) einen immensen Kostenfaktor darstellt. Die ¿nanzielle Lage der Kassen ist daher äußerst angespannt, die Zeit- und Leistungsbudgets der Ärzte sind am Limit angekommen, die Ausbalancierung von Wirtschaftlich- und Finanzierbarkeit auf der einen Seite und Solidarität sowie sozialer Sicherheit auf der anderen ist aus dem Gleichgewicht geraten. Sollte nicht bald gegengesteuert werden, wird die bereits entstehende Zweiklassen-Medizin sich exponentiell verstärken und zu unerträglichen Auswirkungen für viele Ältere und die sozial Schwächeren führen. ƒ ƒ
„Gut, die ganzen Geräte sind Dinge, die auch teurer werden. Forschung wird teurer, Entwicklung von neuen Technologien wird teurer. Grundsätzlich wird alles teurer. Und wer will da nicht alles verdienen !“ „Kennen Sie den Film ‚Aufstand der Alten‘? Lief als 3-Teiler im ZDF. Den zeige ich meinen Berufsschülern immer. Ich ¿nde, der ist überhaupt nicht ¿ktiv, der ist völlig realistisch. Das ist ein Film, der selbst den härtesten Schüler erst mal schweigen lässt, und es ist in meinen Augen die absolute Realität, die vielleicht nicht so schnell kommen wird, aber sie wird kommen, wenn wir nicht schnell etwas dagegen tun.“
Als Ursache für die Misere des Gesundheitssystems werden von Postmaterielle mehrere Aspekte benannt. Ganz explizit verweisen sie dabei auf die jahrelang „anerzogene“ Unmündigkeit der Patienten, denen der Staat alles bezahlt und dadurch letztendlich Eigenverantwortung und kritischen Diskurs „abtrainiert“ hat. Kostenlose Leistungen werden eben auch unreÀektiert in Anspruch genommen, viele Arztbesuche waren und sind überÀüssig, und es ergeben sich bislang keinerlei Konsequenzen für offensichtliches und klar erkannt und benanntes „gesundheitliches Fehlverhalten“, obwohl dies im Endeffekt der Solidargemeinschaft schwer schadet. Zudem ist den meisten Patienten im Rahmen ihrer vom Staat und vielen Ärzten betriebenen „Entmündigung“ nicht nur das Urteilsvermögen, sondern auch das eigene Körpergefühl abhanden gekommen, sodass die Verunsicherung heute umso größer ist, wenn durch neue Zuzahlungsregeln den Patienten auferlegt wird, selbst über die Wichtigkeit und Notwendigkeit von Maßnahmen zu entscheiden.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Durch diese Unmündigkeit, und dadurch, dass man bezahlen muss, hat es zu einer noch größeren Verunsicherung geführt.“ „Wenn sie sehen, dass bspw. jemand seit zwei Jahren in Behandlung ist und keine Besserung eintritt und sie dann Alternativen vorschlagen (medikamentös, behandlungstechnisch, in der Lebensweise), wenn sich dem verweigert wird, müsste dann von Krankenkassenseite auch kommen, dass dies ein Kostenfaktor ist und sie diesen nicht ständig tragen können.“
Als genauso fatal bewerten Postmaterielle, dass Gelder an den falschen Stellen ausgegeben werden: überbordende Verwaltungskosten, fehlende Koordination der Maßnahmen, diskussionswürdige Priorisierungen, anfechtbare Leistungsübernahmen und -verweigerungen (mit entsprechenden Folgekosten), überteuerte Medikamente und medizi nische Hilfsmittel. Systemimmanente Fehler werden nicht behoben, sondern auf dem Rücken der Patienten ausgetragen, was in Folge bedeutet, dass die Leistungen schrumpfen und die Beiträge steigen. Auch der angestrebte größere Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen wird als gescheitert betrachtet. Es besteht keine echte Wahlmöglichkeit hinsichtlich Flexibilität von Beitragssätzen oder Leistungskatalog. Und auch die Politik als Regulativ hat nur zweifelhaf ten EinÀuss, da sie – mit Blick auf vierjährige Legislatur perioden und den damit verbundenen „kurzfristigen Horizont“ – zu sehr interessensabhängig und mutlos ist. Zudem unterstellen Postmaterielle vielen Politikern, dass ihnen mündige Bürger (und damit auch mündige Patienten) gar nicht ins Konzept passen. ƒ
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„Und mit diesem angeblichen Gesundheitsfonds, mit dem Angleichen der Krankenkassenbeiträge, soll der Wettbewerb gefördert werden. Dennoch ist es bisher so, dass die Beiträge steigen und die Leistungen schrumpfen und die Menschen dadurch kränker sind und die Ausgaben gestiegen sind.“ „Da fühle ich mich kontrolliert und in meiner Eigenentscheidung eingeschränkt.“
Zwar gehen für Postmaterielle die Reformen, die auf mehr Eigenverantwortung zielen und eine Abkehr von der Rundumversorgung bedeuten, in die richtige Richtung, aber sie blenden den sozialen Aspekt der gesundheitlichen Solidargemeinschaft zu stark aus; die Konzepte lassen zu viele „außen vor“ – und es wird bemängelt, dass die individuelle Wahlfreiheit hinsichtlich Qualität und Umfang der Versorgung nicht allen Versicherten, sondern nur den privilegierten Besserverdienern in privaten Krankenkassen geboten wird.
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Chancengerechtigkeit Postmaterielle sind starke Verfechter von Solidarität und sozialer Sicherheit im Gesundheitssystem, d. h. dass unbeschadet des Postulats der Eigenverantwortlichkeit für gesunde Lebensführung und reÀektierte, sinnvolle Nutzung der medizinischen Versorgung jeder Mensch – gesichert durch die Solidargemeinschaft – grundsätzlich Anspruch auf eine individuell angepasste, dem neuesten Stand der Medizin entsprechende und undogmatisch aus allen „Schulen“ ausgewählte Behandlung hat. Postmaterielle meinen im Sinne von Gerechtigkeit nicht „die gleichen (d. h. identischen) Leistungen“ für alle, sondern jedem die Wahlfreiheit unter gleichen Leistungen. Im heutigen System konstatieren sie aber schon länger das Prinzip, dass manche (aufgrund ihrer ¿ nanziellen Möglichkeiten) eben doch „gleicher“ sind als andere und das Solidarprinzip in diesem ethisch sensiblen Bereich nicht mehr greift. ƒ
„Es sollen die, die viel einzahlen in die Krankenkasse, sich auch die individuellen Leistungen aussuchen können, die sie wünschen. Aber das darf nicht im Unkehrschluss bedeuten, dass derjenige, der nur ein Minimum einzahlen kann, nicht auch die bestmögliche medizinische Versorgung bekommt.“
Dieses Solidarprinzip setzt verantwortungsbewusste, sozial verpÀichtete Bürger voraus, die die Solidargemeinschaft tragen und nicht unnötig strapazieren, und beinhaltet im Zweifelsfall aber auch gewisse Sanktionen gegenüber unkooperativen Versicherten, die wider besseren Wissens sich unverantwortlich verhalten und so der Solidargemeinschaft willentlich schaden. ƒ
„Von den Kassen müsste dann auch eine Art Mahnung kommen, wenn den Aufforderungen des Arztes nicht entsprochen wurden – mit genauer Kostenaufstellung der Folgekosten etc. Also muss man die Leute auch ein bisschen daran erinnern, dass sie soziale Verantwortung haben und nicht so tun können, als bekäme man ständig alles bezahlt. Wir können nehmen, müssen aber auch geben.“
In diesem Kontext sind Postmaterielle auch starke Kritiker der Zweiteilung des Gesundheitssystems in privat und gesetzlich Versicherte. In ihren Augen „entziehen“ sich viele Besserverdiener ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, indem sie sich aus dem solidaritätsgeleiteten System der gesetzlichen Krankenkassen in das privilegierte System einer ¿ nanziellen Elite verabschieden. Das derzei-
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tige Gesund heitssystem krankt eben auch an dem AbÀuss wichtiger Gelder aus dem Solidaritätssystem, und Postmaterielle machen hier eine andere Rechnung auf als z. B. Etablierte: Gerechtigkeit im Gesundheitsbereich de¿niert sich nicht über „Wer viel zahlt, hat Anspruch auf mehr als andere“, sondern über „Wer viel verdient und dadurch viel zahlt, hat Anspruch auf viel – aber gleichzeitig auch die VerpÀichtung, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und die zu unterstützen, die weniger privilegiert sind“. Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Postmaterielle erwarten von einer Optimierung des Gesund heitssystems vor allem die Stärkung des mündigen, diskursfreudigen und gut informierten Patienten. Dies ist nicht nur die Aufforderung an den Einzelnen, seine Einstellungen und Lebensweisen zu überprüfen und höheres Engagement und Eigenverantwortung einzubringen, sondern auch explizit ein Appell an Ärzte, den mündigen Patienten zuzulassen, und an Krankenkassen und Politik, diesen in Planungen und Ausgestaltung einzubeziehen. ƒ ƒ
„Verbesserung ? Indem wir verantwortlicher mit uns umgehen, uns besser informieren und uns nicht darauf verlassen, dass ‚die‘ das schon irgendwie machen. Und unabhängiger vom System sein.“ „Die Politik sollte mal mehr in die Realität gehen, als das von der OberÀäche her zu bestimmen. Die ‚Verbraucher‘ sollten mehr miteinbezogen werden, ihre Sicht, ihre Erfahrungen, ihr Gefühl.“
Hierzu gehört auch, dass das Kostenbewusstsein der Menschen gestärkt und den Patienten durch Offenlegung der Liquidationen klar gemacht wird, was Konsultationen und die einzelnen Behandlungen kosten. Es ist höchste Transparenz gefordert, und zwar nicht nur im Hinblick auf das, was die Kasse zahlt und was nicht, sondern alle relevanten Kosten sollen für den „Klienten“ aufgeschlüsselt werden. ƒ
„Das ist auch ein Faktor, der dazu beiträgt, dass einem mal die realen Kosten klar werden. Ist eine Bewusstseinsförderung, die der Bevölkerung klar macht, was eigentlich was kostet in solch einem Gesundheitssystem.“
Flankiert werden muss die wohl in Zukunft unumgängliche verstärkte ¿nanzielle Belastung der Patienten (wobei die sozial verträgliche Umsetzung höchstes Augenmerk verlangt) durch quali¿zierte Angebote und Unterstützung zur Entscheidungs-
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¿ndung, denn reines „Zahlen-Müssen“ schafft noch keinen informierten Patienten; die Auswahl, welche Leistungen relevant und gut für den einzelnen Patienten sind, fordert aber gerade besser informierte Patienten. Postmaterielle reklamieren auch eine strukturelle Reform der Krankenkassen. Hierzu zählen sie die Verschlankung des Verwaltungsapparats sowie überschaubarere Strukturen und klare Zuständigkeiten. Zudem sollte der Lobbywirtschaft entschieden entgegengetreten werden, und auch die „exorbitanten“ Gewinnspannen im Pharmasektor gehören laut Postmaterieller unbedingt auf den Prüfstand. Postmaterielle sehen auch möglicherweise Optimierungspotenzial im Hausarzt oder der Krankenkasse als „Bündelstelle“ von wichtigen Informationen, die nicht dem gläsernen Patienten, sondern wirklich als Instrument optimaler Versorgung dienen soll. ƒ
„Die letzte Instanz ist also die Krankenkasse. Wie viele Informationen diese bekommt, weiß ich nicht – mag sein, dass diese dann mehr Informationen braucht, um so eine kontrollierende, überwachende Einheit darstellen zu können, die jetzt nicht gleich mit Restriktionen oder Limitationen kommt, sondern erst mal beratend eingreifen kann.“
Zu den absolut notwendigen Verbesserungen im System steht für Postmaterielle die Hinwendung zur ganzheitlichen Ursachen- und Abkehr von der reinen Symptombekämpfung in der Medizin. Hierunter fällt, dass grundsätzlich der „ganze Mensch“ mit seiner Historie und seinen Lebensumständen in gesundheitliche Betrachtungen einÀießen und der Leistungskatalog der Krankenkassen von der derzeitigen einseitigen Priorisierung der Schulmedizin abrücken sollte, d. h. dass auch alternative Heilmethoden im Rahmen eines individuell zusammenstellbaren Leistungskatalogs anerkannt und frei wählbar sein sollten. All diese Maßnahmen würden den Heilerfolg signi¿kant erhöhen und im Endeffekt Kosten sparen. Postmaterielle plädieren auch für eine verstärkt interdisziplinäre Aufstellung der Ärzte. „Fachidioten“, die Kory phäen auf ihrem Gebiet sind, aber bei der übergreifenden Bewertung und Behandlung von Ursachen versagen bzw. sich scheuen Kollegen zu konsultieren, sollten der Vergangenheit angehören. Spezialisierung ist zwar (lebens-) notwendig, bedarf aber immer auch der Rückkoppelung an die anderen Bereiche. Und schließlich sollte Vorsorge, Prävention und Aufklärung hinsichtlich gesunder Lebensführung im Gesundheitssystem maximale Aufmerksamkeit geschenkt werden. In diese Bereiche muss umfassend (und für den Versicherten kostenfrei) investiert werden, Einsparungspotenziale ergeben sich dadurch an anderer Stelle, weil nicht mehr so viel Geld in Therapiemaßnahmen gepumpt werden muss. Aufklärung und Vermittlung präventiver Maßnahmen muss von
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allen relevanten Beteiligten (Krankenkassen, Ärzten, Elternhaus, Schule, Politik) betrieben werden, gerade auch schon im Kindes- und Jugendalter, da damit erwiesener maßen langfristig Erfolge erzielt und Kosten gespart werden können. Bildung ist für Postmaterielle auch hier ein Schlüsselwort in der Debatte. ƒ ƒ
„Prävention und Aufklärung kann erst mal nur über Bildung gehen. Letztendlich ist es ein Schulauftrag – Bildungsministerium.“ „Oder man muss vielleicht ein neues Fach benennen. Früher hat man das Gemeinschaftskunde genannt. Oder man vermittelt es blockweise.“
Insgesamt ist die Re-Solidarisierung bzw. Re-Sensibilisierung der Gesellschaft das Gebot der Stunde für dieses Milieu. Jeder muss und kann seinen Beitrag leisten (¿nanziell, individuell und sozial angepasst sowie verhaltenstechnischer Art), damit z. B. auch im Alter oder unter sozial Schwächeren keine begründeten Ängste aufkommen müssen, dass Gesundheit (und notfalls auch das Überleben) im Prinzip eine Sache des Geldbeutels ist.
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SINUS C12: „Moderne Performer“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus C12 „Moderne Performer“ Lebenssituation
x Ganz überwiegend ledig – mit und ohne Partner; viele leben noch im elterlichen Haushalt x Aber auch junge Familien; vergleichsweise hoher Anteil Alleinerziehender
Bildung
x Hohes Bildungsniveau, zwei Drittel haben mindestens mittlere Reife x Etwa ein Drittel ist noch in Ausbildung
Beruf
x Viele Schüler und Studenten (oft mit Nebenjobs) x Unter den Berufstätigen hoher Anteil (kleinerer) Selbständiger und FreiberuÀer (Start-ups) sowie quali¿zierte Angestellte – häu¿g im Bereich EDV / Multimedia
Einkommen
x Hohes Niveau der Haushaltsnettoeinkommen (gutsituierte Elternhäuser) x Bei den Berufstätigen in der Regel gehobenes eigenes Einkommen (2.000 Euro und mehr)* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.687 Euro
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Modernen Performer sind die junge, unkonventionelle Leistungselite. Sie führen ein intensives Leben. Multioptionalität, Flexibilität und Ehrgeiz sind die Mischung, mit der sie ihre beruÀichen wie privaten (z. B. sportlichen) Leistungsgrenzen erproben. Eine gewichtige Rolle spielt „das eigene Ding“, die Verbindung von materiellem Erfolg und lustvollem Leben. Mobilität und Flexibilität sind bei den Modernen Performern überdurchschnittlich ausgeprägt. Dennoch vermitteln sie zur Zeit den Eindruck, als wollten sie einen Gang zurückschalten, nachdenken, Wurzeln suchen. Die Modernen Performer haben eine hohe Frustrationstoleranz und Ausdauer bei der Verfolgung von Zielen. Misserfolge in der New Economy haben sie nicht resignieren lassen. Nach einer Phase der Neuorientierung stehen heute mehr und mehr Performer wieder auf eigenen Füßen, begründen realitätsnähere Start-ups und verdienen „richtig Geld“. Gesellschaftliche Normen und Konventionen werden für die eigenen Bedürfnisse dekliniert. Experimente mit unterschiedlichen Lebensstilen, das Inte-
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grieren von EinÀüssen aus anderen Kulturen und Szenen geben den Rahmen für ein intensives, abwechslungsreiches Leben. Konsum spielt bei den Modernen Performern – nach wie vor – eine große Rolle. Aber sie sind wählerischer, kritischer geworden. Pseudo-Innovationen, Neuerungen, deren Nutzwert nicht sofort ersichtlich ist, ¿nden keine Gegenliebe. Altersaufbau des Sinus-Milieus C12 „Moderne Performer“
Die Modernen Performer sind das jüngste Milieu in Deutschland. Der Altersschwerpunkt liegt unter 30 Jahren. Etwa ein Fünftel der Milieuangehörigen ist zwischen 30 und 40. Der Alters-Median liegt bei 30 Jah ren. Bedeutung von Gesundheit und ihre subjektive Wahrnehmung Als gut gebildete Menschen mit viel Kontakt zu anderen Ländern und Kulturen, bedingt durch Beruf und private Reisen, verbinden Moderne Performer mit dem Begriff „Gesundheit“ zunächst die medizinische Versorgung und das Gesundheitssystem in Deutschland, die sie als vergleichsweise positiv wahrnehmen. Inhaltlich bedeutet Gesundheit dann für sie seelische Gesundheit und wird assoziiert mit Ausgeglichenheit, Glück, Zufriedenheit, die man durch Bewegung, Sport sowie ausgewogener Ernährung erlangt und sich erhält. Da sie im Durchschnitt jüngeren Alters sind, oftmals noch Studenten, spielen gesundheitliche Probleme eine untergeordnete Rolle, werden eher mit dem Altern verbunden und für sich selbst auch erst im Alter er wartet. Bei Krankheiten denken sie weniger an kleinere Gebrechen oder Erkältungen, sondern an schwerwiegende Krankheiten, wie beispielsweise Krebs und Aids. Die eigene gesundheitliche Situation schätzen die Performer meist als sehr gut ein. Der Bekanntenkreis umfasst wenig ältere Menschen, womit der Kontakt zu Krankheit nicht gegeben ist. Auch ist Gesundheit bzw. Krankheit kein Gesprächsthema.
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„Krankheit hat für mich was mit dem Alter zu tun, also das ist, was mir ganz spontan einfällt, dann sind das irgendwie so ganz schlimme Bilder, also das ist dann immer gleich ganz krank. Krankheit ist für mich Krebs, in der Dimension eher. Krankheit hat für mich viel mit Elend, mit Verlust von Lebensqualität zu tun.“
Viele Menschen dieses Milieus sind beruÀich sehr ehrgeizig und geraten dadurch häu¿g in Stresssituationen. Auch Rückenleiden treten in Folge von Schreibtischtätigkeiten vermehrt auf. Jedoch nehmen sie auf solcherlei Beschwerden keine Rücksicht und betrachten sie nicht als Grund, ihr (Berufs-) Leben zu ändern, da ihnen dieses – so wie es ist – Befriedigung und damit positives seelisches Be¿nden verschafft, was wiederum der Gesundheit zuträglich ist. Auch wenn sie sich der Risiken für die Gesundheit bewusst sind, bleiben die Performer ihrem intensiven Lebensstil treu, der geprägt ist von hoher Mobilität, Stress und ungeregelten Tagesabläufen – solange es keine konkreten Beschwerden oder Einschränkungen gibt. Sie sind sich bewusst, dass sie meist mehr für ihre Gesundheit tun könnten, allerdings bleibt dafür wenig Zeit, und man möchte die kleinen Laster wie Partys, Zigaretten oder gelegentlichen Alkoholkonsum nicht missen, da ein Verzicht darauf als eine Einschränkung der eigenen Lebensqualität wahrgenommen würde. Und solange man bewusst und in Maßen genießt, sieht man darin kein großes Problem. ƒ
„Also ich rauche zum Beispiel, und ich habe zum Beispiel gar keine Lust aufzuhören. Wenn ich eine rauche, dann rauche ich sie echt gerne. Und dass ich mir damit schade, weiß ich natürlich auch, aber das ist zum Beispiel ein Risiko, was ich bewusst trage.“
Chronische Krankheiten sind eher die Ausnahme. Wenn sie davon jedoch betroffen sind, lassen sich die Modernen Performer dadurch nicht so leicht entmutigen. Man sieht die Erkrankung als Herausforderung, das Leben dennoch so gut wie möglich zu meistern, und behält die positive Lebenseinstellung bei. Mitunter kann eine solche Krank heit auch der Auslöser sein, eine unbefriedigende beruÀiche Situation anzugehen und wird als Signal für einen Neuanfang gesehen. Etwaige kör perliche Einschränkungen werden akzeptiert, Nebenfolgen und Erfordernisse für den Alltag, wie eine spezielle Ernäh rung oder Behandlungen, gewissenhaft und diszipliniert umgesetzt. Man will sich davon jedoch nicht unterkriegen lassen, verfällt nicht in Resignation oder Selbstmitleid, sondern blickt nach vorne und steckt sich neue Ziele – typisch für die positive Grundhaltung in diesem Milieu.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Ich bin nie krank. Ich fühle mich ziemlich unverwüstlich.“ „Ich hatte das damals so formuliert, dass meine Schubladen voll sind, und ich nicht weiß, wo ich diese Krankheit hinstecken soll. Ich glaube schon, dass die Krankheit viel Raum bei mir einnimmt, und dafür muss ich Platz schaffen, und mir auch ein positives Umfeld zum Leben suchen. Oder was dafür tun, man ist ja immer selber dafür verantwortlich.“ „Zum Beispiel mein Freund, der wird nie krank. Der sagt halt einfach ‚Ich werde nicht krank‘.“
Zwischen Schicksal und Verantwortung Den EinÀuss des Lebensstils auf die Gesundheit betonen Moderne Performer ausdrücklich, es werden sowohl negative als auch positive Faktoren wahrgenommen, und man ist sich des eigenen Verhaltens in Bezug auf seinen Gesundheitszustand sehr wohl bewusst. Maßnah men ergreift man jedoch nur, wenn diese nicht als Einschrän kungen wahrgenommen werden – oder wenn Veränderungen unabdingbar sind. Mehr Bewegung, gesunde, ausgewogene Ernährung, der Verzicht auf Genussmittel und die Vermeidung von Stress gelten als probate Mittel, um Erkrankungen zu vermeiden – und werden doch oft mit einem zwinkernden Auge beiseitegeschoben. Schließlich ist man jung und der Meinung, noch Einiges wegstecken zu können. Wenn es dann allerdings doch zu Erkrankungen kommt, wird die Schuld zuerst bei sich selbst gesucht; man ist sich der Versäumnisse sehr wohl bewusst und nun auch bereit, etwas zu ändern, wenn es denn hilft. Auch wenn die Krankheit andere Ursachen hat, steht der Alltag auf dem Prüfstand und wird gegebenenfalls modi¿ziert. Schuldzuweisungen ¿nden nicht statt, stattdessen vergleicht man die eigene Situation mit der von anderen und realisiert, dass es vielen anderen schlechter geht. ƒ
„Ein gutes Körperbewusstsein zu haben, das hilft, gesund zu bleiben, und deswegen glaube ich, dass man die Gesundheit jetzt nicht nur durch Medikamente oder so beeinÀussen kann, sondern auch durch Sport, durch Einstellung. Psychosomatischer EinÀuss ist sowieso bei allen Erkrankungen immer ein ganz großes Thema.“
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„Ich mag das Wort Schicksal nicht. Ich ¿ nde, Schicksal ist Vorbestimmung, das bedeutet, man kann da nichts gegen tun. Es ist einfach ‚Pech gehabt‘, glaub ich tatsächlich, und ich muss das akzeptieren. Ich nehm’s einfach so hin.“ „Ich glaube, dass man für bestimmte Prozesse im Körper nichts kann, also so wie meine Krankheit jetzt funktioniert, da kann ich nichts für, die wurde mir genetisch mitgegeben, aber ich bin schon selber dafür verantwortlich, inwieweit die verläuft. Also ich kann viele Dinge dafür tun, dass sie positiv verläuft, und ich kann viele Dinge dafür tun, dass sie negativ verläuft. Also für mich ist die Eigenverantwortung schon sehr hoch, was Krankheiten angeht.“
Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Aufgrund der höheren Bildung sind Moderne Performer in der Lage, Nachrichten kritisch wahrzunehmen und zu hinterfragen. Grundsätzlich herrscht ein überdurchschnittliches Wissen über das Gesundheitssystem, das allerdings als intransparent wahrgenommen wird, weshalb der Wunsch nach besserer Information geäußert wird, gerade auch bezüglich Vorsorgeuntersuchungen. Schließlich könnten durch geeignete Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen viele Erkran kungen verhindert werden und dadurch viel Leid er- und Geld gespart werden. Zudem stoßen komplexere Themen wie Stamm zellforschung und deren ethische Grenzen auf Interesse. Da Gesundheitsprobleme in diesem Milieu aber allgemein eine untergeordnete Rolle spielen, ¿ndet wenig aktives Informieren statt, man möchte dieser Materie möglichst wenig Zeit opfern. Trotz des Wunschs nach mehr Information wandern (uninteressante) Materialien oft ungelesen in den Müll. Wenn ein bestimmtes Thema jedoch das Interesse geweckt hat, möchten sich Moderne Performer gezielt informieren. Im Falle einer Erkrankung wollen sie genau wissen, wie sie sich am besten verhalten. Als Medium nutzen sie vermehrt das Internet, achten dabei aber sehr auf Seriosität der besuchten Websites und fragen den Arzt, der ihre Wissensbedürfnisse wegen Zeitmangels jedoch häu¿g nicht ausreichend befriedigen kann und dessen Entscheidungen sie stets kritisch hinterfragen. In akuten Fällen werden zudem Bücher und Fachliteratur zu Rate gezogen, bei interessanten Themen auch Fernsehsendungen geschaut. Allgemeine Ratgeber, wie Apotheken-Zeitschriften, stoßen hingegen auf wenig Resonanz, da die meisten Inhalte persönlich nicht relevant sind und solchen Zeitschriften auch ein Werbeinteresse unterstellt wird.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Natürlich kann ich jetzt sagen, ich werd viel zu schlecht informiert, ja, aber die Informationen stehen mir auch zur Verfügung, ich kann ins Internet gehen, ich kann die Krankenkassen wahrscheinlich sogar selber fragen, ich kann Parteiprogramme durchlesen – ich muss nur aktiv werden.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Moderne Performer sind sich bewusst, dass es viele Möglichkeiten der Prävention gibt, gerade als Ausgleich zu ihrem oft intensiven Lifestyle. Solange diese jedoch als unangenehm oder einschränkend wahrgenommen werden, werden sie selten genutzt. Ein Verzicht auf ungesunde Hobbys und Laster oder auch nur eine Reduzierung kommt nur im Falle akuter Probleme in Frage. Die wichtige Rolle der Ernährung ist bekannt, und so machen viele Moderne Performer die Not zur Tugend – und erklären „gutes Essen“ zu ihrem Hobby, welchem im ungeregelten Alltag jedoch nicht immer nachgegangen werden kann. Dennoch verfolgen viele die aktuellen Trends in der Forschung und ernähren sich bewusst, also mit wenig und magerem Fleisch, viel Salat – auch die Vorliebe für exotische Gerichte trägt zum Abwechslungsreichtum bei. Als Ausgleich zur Arbeit im Büro treiben viele Sport, der sowohl der körperlichen Betätigung als auch der PÀege sozialer Kontakte dient. „Ungeliebte“ Übungen wie Gymnastik und Jogging werden hingegen ver nachlässigt. Dass das viele Sitzen am Schreibtisch dem Rücken schadet, weiß man, zu einem Besuch der Rückenschule kann man sich jedoch nicht so recht durchringen. Um Schmerzen vorzubeugen oder Abhilfe zu schaffen, gönnt man sich lieber hin und wieder eine Massage. ƒ ƒ
„Mit Walking tu ich mich immer noch ein bisschen schwer, weil ich meinen inneren Schweinehund nicht überwinden kann.“ „So lange die Notwendigkeit nicht da ist, dann tut man die Dinge auch nicht. Es tangiert einen erst, wenn man sich eine Verbesserung oder Erleichterung verschaffen kann.“
Ärztliche Vorsorgemaßnahmen sind für die Modernen Performer selbstverständlich: regelmäßige Zahnarztbesuche und bei den weiblichen Modernen Performern der Besuch beim Gynäkologen. Auch die Krebsvorsorge wird ernstgenommen. Weitere Untersuchungen sind jedoch erst für „später“ geplant. Am liebsten bekäme man einen genauen Plan, was wann untersucht werden soll, um diese Maßnahmen so schnell wie möglich und ohne sich intensiv damit befassen zu müssen, erledigen zu können. ƒ
„Man könnte mir auch gerne ein Kärtchen schreiben – Sie sind jetzt 45. In dem Jahr müssen Sie zu der und der Vorsorge. Am liebsten wäre mir, wenn das Kärtchen gleich die Eintrittskarte zur Vorsorge wäre.“
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„So wie du alle zwei Jahre mit deinem Auto zum TÜV gehst, sonst kannst du nicht mehr fahren. Warum geht man mit sich selber nicht zum TÜV ? Weil man nicht muss. So lange alles okay ist, nimmt man diese ‚time bandits‘ nicht auf sich.“
Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Für Moderne Performer bedeuten Arztbesuche die Ausnahme. Da sie mittleren bis jüngeren Alters sind, ist ihr Gesundheitszustand meist gut; und wenn es zu leichteren Erkrankungen kommt, hilft man sich lieber selbst, als gleich einen Arzt aufzusuchen. Der beruÀiche Ehrgeiz trägt ebenfalls dazu bei, sich nicht eben mal krankschreiben zu lassen. Darum gehen die Menschen dieses Milieus durchweg nur zum Arzt, wenn es unumgänglich ist. Die Zeit in Praxen wird als „verlorene“ Zeit gewertet, weshalb auch Vorsorgeuntersuchungen, die als wichtig erachtet und darum gewissenhaft absolviert werden, so schnell und zielgerichtet wie möglich durchgeführt werden sollen. ƒ
„…dass ich es hasse, zum Arzt zu gehen, also das sind für mich Zeitdiebe.“
Die Auswahl des Arztes erfolgt äußerst gewissenhaft und basiert auf Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis und dem Ruf des Arztes. Ist eine zufriedenstellende Wahl einmal getroffen, bleiben Moderne Performer zumindest dem Hausarzt in aller Regel auch treu. ƒ
„Ärzte und Friseure werden selten gewechselt.“
An diesen stellt man die Anforderung, dass er seine Patienten ernst nimmt, ehrlich ist und sich um einen kümmert. Durch ihre soziale Nähe zum Arzt gelingt es Modernen Performern durchaus auch, Über weisungen für Anwendungen oder Eingriffe zu bekommen, die die Kran kenversicherung normalerweise nicht übernimmt. Grundsätzlich spielt der Hausarzt eine weniger wichtige Rolle als in anderen Milieus, erst im Falle chronischer oder schwieriger Krank heiten steigt seine Bedeutung im mentalen Bereich. Denn von ihm wird, im Gegensatz zum Facharzt, verlangt, dass er sich Zeit nimmt, alle nötigen Infor mationen vermittelt und Interesse für die Probleme zeigt.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Meine Hausärztin ist auch eher so für das ‚Wohlfühlen‘ da, von der ich dann auch einfach mal Massagen bekomme, oder die meine Reha durchgeboxt hat oder auch meine Therapie unterstützt, die das angeregt hat, dass sowas von der Krankenkasse bezahlt wird. Das ist eine Eigenschaft, die ich an ihr sehr schätze, die ich bei anderen Ärzten oft sehr vermisse: Sie sagt mir, wenn sie nicht weiter weiß. Dann verweist sie mich an Fachärzte.“
Wenn der Hausarzt sich bei speziellen, seltenen Krankheiten nicht gut auskennt, hat man Verständnis – nicht jedoch bei Fachärzten, von denen man das Wissen einfordert. Moderne Performer bevorzugen grundsätzlich den direkten Weg zum Spezialisten, die Über weisungspÀicht und der damit verbundene Mehraufwand werden als störend und unnötig angesehen. ƒ ƒ
„Wenn ich ein Hautproblem habe, will ich zum Hautarzt und nicht erst zum Hausarzt.“ „Ich möchte zum Arzt gehen, ohne daran gebunden zu sein, mir vorher noch eine Überweisung zu holen.“
Moderne Performer begegnen Medizinern aufgrund der eigenen guten Bildung auf Augenhöhe, haben Verständnis für deren Probleme (wenig Zeit, viel Stress), stellen aber auch hohe Anforderungen an den Arzt. Wichtig sind vor allem Faktoren wie ein gutes und aktuelles Fachwissen, eine gute technische Ausstattung und eine saubere und gepÀegte Praxis. Das zwischenmenschliche Verhältnis ist wegen der nur sporadischen (und dann möglichst kurzen) Besuche zweitrangig, allerdings impliziert es das milieutypische Selbstverständnis, dass die Patienten Wert auf eine Behandlung als Kunde, nicht als Bittsteller legen. Im Krankheitsfall möchten sie intensiv beraten und informiert werden, merken jedoch an, dass dies aufgrund überfüllter Wartezimmern in den seltensten Fällen möglich ist. ƒ
„Ich ¿nde, Ärzte sollten ’ne gewisse Arroganz verlieren, und den Patienten als Kunden sehen, weil sie verdienen durch mich. Sie haben nett zu mir zu sein, sie haben mir zuzuhören, sie kriegen mein Geld im Endeffekt. Ich ¿nde, das sollten die Ärzte nicht vergessen, Ärzte sind Dienstleister. Ich ¿nde, ganz oft hat man das Gefühl, dass sie von ihrem hohen Ross nicht runterkommen, nur weil sie ’nen weißen Kittel tragen.“
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Entscheidungen der Ärzte werden kritisch hinterfragt, beispielsweise durch eigene Recherchen im Internet. Schließlich werden an Ärzte die gleichen perfektionistischen Maßstäbe angelegt wie an sich selbst. Für fehlerhafte Diagnosen zeigen Moderne Performer kein Verständnis, genauso wenig wie für fehlende Absprachen zwischen Ärzten und mangelnde Information. Bei Unzufriedenheit wird auch ein Arzt wechsel in Betracht gezogen. ƒ ƒ
„Wenn man mir ’ne Fehldiagnose stellt, reagier ich da auch sehr energisch drauf. Weil ich mir denke, das ist die PÀicht von dem Arzt und sein Job, einfach sich zu bemühen.“ „Ich habe gemerkt, dass Ärzte sehr eingefahren sind in ihrem Verhaltensmuster, so dass ganz oft diese ‚Berufsblindheit‘ auftritt. Ich habe selber die Initiative ergreifen müssen, habe eigenständig irgendwelche Untersuchungen veranlasst, weil mein Hausarzt mich absolut hängen gelassen hat.“
Grundsätzlich wird jedoch die ärztliche Versorgung in Deutschland sowohl qualitativ wie auch quantitativ als positiv und ausreichend empfunden. Den Ärzten wird vergleichsweise hohes Vertrauen entgegengebracht und gutes Fachwissen attestiert. ƒ
„Der Facharzt ist ein Experte, er ist gerade ein Experte, was meine Krankheit angeht, und ich bin ihm da mittlerweile auch unheimlich dankbar, dass er das so schnell gefunden hat. Ich würd‘ ihm nicht mehr erzählen, dass ich unglücklich bin, aufgrund meines dicken Gesichts, des Kortisons; das interessiert ihn nicht. Er sieht das Blutbild, er sieht die Krankheit, aber er sieht nicht mich als Mensch. Am Anfang war das problematisch, weil ich natürlich mit Nebenwirkungen zu kämpfen hatte, mittlerweile weiß ich, was ich an ihm habe.“
Die Situation in Krankenhäusern wird allerdings deutlich negativer bewertet. Die Atmosphäre und Einrichtung dort werden genauso kritisiert wie die Arroganz und Distanz mancher Ärzte sowie überlastete und desinteressierte Schwestern, wobei man für die Situation von Assistenten, PÀegekräften und Krankenschwestern viel Verständnis zeigt und eine bessere Bezahlung und Entlastung fordert.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Krankenhäuser sind schlecht. Also nicht von ihrer Behandlung, aber ich ¿nde, Krankenhäuser machen eher krank, ich ¿ nde die Atmosphäre da unglaublich anstrengend. Ich fand, die ganzen 12 Stunden im Krankenhaus rumzugammeln, zwischen den ganzen mega-kranken Leuten, fand ich ganz schrecklich, ich wollte unbedingt nach Hause, weil ich habe das Gefühl, im Krankenhaus ist so ’ne ganz schlechte Stimmung, und alles riecht ganz komisch, es riecht nach krank, und die Schwestern huschen an einem vorbei, und keiner ist wirklich da. Es geht alles so schnell, wie am Fließband.“
Einnahme von Medikamenten Medikamente spielen in diesem Milieu keine große Rolle. Viele Performer sind relativ jung und bei guter Gesundheit, chronische Krankheiten sind selten. Im Falle einer Erkrankung werden zunächst Hausmittel ausprobiert, oder aber man informiert sich selbst über angemessene und preisgünstige Medikamente. Ein Arztbesuch erfolgt nur, wenn er offensichtlich nicht mehr zu vermeiden ist. In diesem Fall erwarten sie von ihrem Arzt allerdings das Medikament mit dem bestmöglichen Wirkstoff und wollen nicht mit einem Ersatz abgefunden werden, weil das Arzneimittel-Budget des Arztes erschöpft ist. Im Falle einer schwerwiegenden oder chronischen Krankheit werden die verschriebenen Medikamente sehr gewissenhaft eingenommen, regelmäßige Arztbesuche sind dann selbstverständlich und auch der Tagesablauf wird den Notwendigkeiten angepasst. Schließlich werden körperliche und geistige Gesundheit als wichtige Faktoren für Glück und Zufriedenheit wahrgenommen. Vorsorgeuntersuchungen Moderne Performer zeigen den Blick fürs Ganze: Die Bedeutung von Vorsorgeuntersuchungen und Präventionsmaßnahmen wird ausdrücklich betont – allerdings zeigen sie auch hier eine persönliche Distanz zu Erkrankungen. Sie argumentieren weniger aus eigener Erfahrung oder persönlicher Betroffenheit heraus, sondern vielmehr sehen sie die Bedeutung für die Gesellschaft ganz allgemein. Viele verlangen, dass die Krankenkassen sämtliche Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen unterstützen sollten, weil sie dadurch später viel Geld für teure Therapien und Behandlungen sparen könnten. Ein anderer Vorschlag ist ein Bonussystem, ähnlich dem der privaten Krankenversicherungen, das Vorsorgemaßnahmen honoriert.
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„Jeder sollte alle 2 Jahre die Möglichkeit haben, ein großes Blutbild machen zu können. Das muss ich selbst bezahlen. Das ¿nde ich unmöglich.“ „Je früher man das erkennt und je früher man eingreift, umso weniger Kosten haben die Krankenkassen bei schlimmen Schäden.“
Selbst für junge Moderne Performer ist der regelmäßige Zahnarztbesuch selbstverständlich, bei Frauen zusätzlich der beim Gynäkologen. An weitere Maßnahmen denken die Modernen Performer bereits, die jüngeren verschieben aber vieles auf „später“, wie z. B. den Besuch von Rückenschulen oder Prostatauntersuchungen, hingegen nehmen die älteren Menschen dieses Milieus viele Angebote wahr. Kritisiert wird mangelnde Transparenz; bessere und klarere Informationen durch Krankenkassen und Ärzte werden eingefordert. Moderne Performer wollen genau wissen, was wann warum zu tun ist – allerdings mit möglichst geringem Zeitaufwand und ohne sich intensiv damit beschäftigen zu müssen. Es geht eher darum, das Gewissen zu beruhigen. Ein „Vorsorgezentrum“ wäre eine gute Alternative und auch Anreiz, die notwendigen Vorsorgeuntersuchungen umfassend, und eben auch auch zeitsparend, zu absolvieren. Kritisiert wird, dass mittlerweile verschiedene Vorsorgeuntersuchungen privat bezahlt werden müssen, wie zum Beispiel der Ultraschall bei der Krebsvorsorge und die professionelle Zahn reinigung. ƒ
„Ich gehe in einen Raum, da nehmen sie mir Blut ab. Dann gehe ich den nächsten Raum und mache Ultraschall, im nächsten EKG, im letzten sitzt der Arzt und gibt mir den Befund oder er schickt ihn mir innerhalb von 14 Tagen zu.“
Auch Impfungen werden von den Modernen Performern als Vorsorge betrachtet und sie beklagen den Informationsmangel seitens der Krankenkassen über neue Impfstoffe wie zum Beispiel die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs für junge Mädchen. Vorsorgemaßnahmen seitens der Unternehmen werden ausdrücklich befürwortet, schließlich hätten auch Arbeitgeber eine Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Außerdem wird die Einstellung von Schuluntersuchungen und -impfungen bedauert. Den Blick über den Tellerrand zeigen die Performer auch, wenn sie beispielsweise speziell für Frauen muslimischen Glaubens eine bessere Aufklärung fordern, da diese beispielsweise kaum zum Frauenarzt gingen.
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Zweiter Gesundheitsmarkt Kuren und Physiotherapien spielen aufgrund des guten Gesundheitszustandes bei den meisten (noch) keine Rolle. Wenn diese jedoch verschrieben werden, werden sie auch wahrgenommen und genossen. Abgelehnt werden hingegen Nahrungsergänzungsmittel. Es herrscht die Einstellung vor, dass man mit ein wenig Obst und bewusster Ernährung leicht genügend Vitamine und Nährstoffe aufnehmen kann. ƒ
„Man kann ja durch Ernährung ganz viele Vitamine, B-Vitamine, Eisen, alles aufnehmen, man muss nicht unbedingt so ’ne Vitamin-C-Tablette morgens nehmen, man kann auch Obst essen.“
Wer einmal krank ist, greift durchaus auf nicht-verschreibungspÀichtige Medikamente zurück, da ein kurzer Gang in die Apotheke schneller erledigt ist als ein Arztbesuch. Durch gezieltes Informieren im Vorfeld ¿ndet man oft geeignete und günstige Mittel. Massagen werden gerne in Anspruch genommen, und wenn sie nicht verschrieben werden, durchaus auch aus eigener Tasche bezahlt. Allerdings ist in diesem Milieu die Forderung weit verbreitet, dass die Krankenkassen vor allem solche Anwendungen, die der Prävention dienen, übernehmen sollten, da diese im Endeffekt zu Behandlungseinsparungen und in Folge zu geringeren Kosten führen würden.
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Wenn im Falle von schweren Krankheiten gewisse Leistungen (wie bestimmte, teurere Nahrungsmittel) nicht übernommen werden, zeigen Performer dafür Verständnis und beklagen sich kaum – aufgrund ihrer durchweg recht guten ¿nanziellen Stellung sind die Mehrkosten zu verkraften. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Die Gesundheitsversorgung in Deutschland wird durchweg als sehr positiv bewertet, insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern. Die Ärzte gelten als gut ausgebildet, und auch ihre Erreichbarkeit wird nicht kritisiert – nicht zuletzt wegen der eigenen hohen Flexibilität und Mobilität. Sie befürworten eindeutig das Solidaritätsprinzip. ƒ ƒ
„Derjenige, der mehr verdient, kann natürlich auch viel mehr bezahlen, als derjenige, der nichts verdient, und dass es da eben eine prozentuale Verteilung geben sollte, aber jeder dann die gleiche Leistung bekommt.“ „Ich ¿nde es auch okay, dass derjenige, der mehr verdient, vielleicht aus eigener Tasche schon noch was draufzahlt.“
Die Praxisgebühr ruft teilweise Empörung hervor; sie wird allerdings weniger aus ¿nanzieller Not, sondern vielmehr aus Prinzip abgelehnt. ƒ
„Warum muss der Arzt 10 Euro abkassieren. Du musst was bar bezahlen. Das ist wie im Mittelalter.“
Viele Performer kritisieren die Orientierung an der Marktwirtschaft und den damit einhergehenden Preiskampf, sehen Einsparungen an den falschen Stellen. Andere glauben jedoch, dass durch die Kon kur renzsituation die Preise sinken und die Versorgung besser werden wird. Bemängelt wird außerdem die fehlende Transparenz im System. Performer wollen bessere, klare Informationen bezüglich optimaler Vorsorge, Leistungen von Krankenkassen und gegebenenfalls Krank heiten, von denen man betroffen ist. Zudem kritisieren manche das Kontingent für Medikamente, die meisten haben damit aber noch keine direkte Erfahrung gemacht.
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Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Die meisten Modernen Performer haben bisher wenig direkte Erfahrung mit dem Gesundheitssystem gemacht, da es sich dabei um ein junges, gesundes Milieu handelt, in dem auch nur relativ wenige bereits eine Familie gegründet haben. So wird der international „gute Ruf“ der medizinischen Versorgung in Deutschland betont. Es herrscht der Konsens, dass in Deutschland zu viel gejammert und das System zu sehr kritisiert wird. ƒ
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn man tatsächlich krank ist und Hilfe der Ärzte in Anspruch nehmen muss, dass man die auch bekommt.“
Bemängelt werden einzelne Faktoren wie überfüllte Wartezimmer, woraus lange Wartezeiten für den Patienten und Zeitdruck für die Ärzte resultieren, die dann im Einzelfall nicht genügend auf den Patienten eingehen und ihn nicht ausreichend informieren können. Auch Krankenhäuser genießen generell kein hohes Ansehen, und Versicherungen gelten als zu bürokratisch und unÀexibel. Wichtiger als die Nähe und schnelle Erreichbarkeit, ist Modernen Performern die Qualität und Ausstattung der Arztpraxis, diese muss auf dem neuesten Stand von Forschung und Technik sein. Eine dramatische Verschlechterung der Versorgung erwarten sie nicht. Sie rechnen aber durchaus mit einer weiteren Verringerung der Leistungen der GKV und damit, dass das Solidaritätsprinzip aufgeweicht und Privatversicherte zunehmend bevorzugt behandelt werden. Interessanterweise zeigen Moderne Performer, die ja selbst zu den ¿ nanziell besser Situierten gehören, die Befürchtung, dass Ärmere sich zukünftig nicht die gleichen Behandlungen werden leisten können. Eine wachsende Relevanz der Prävention und eine größere Eigenverantwortlichkeit wird erwartet und befürwortet. Um den Einzelnen mehr in die PÀicht zu nehmen, thematisieren sie eine (¿ nanzielle) „Belohnung“ für Vorsorge und eine höhere Belastung für „Sorglose“. ƒ ƒ
„Ich habe Angst, dass die Diskrepanz zwischen privater und gesetzlicher (Krankenkasse) zu groß wird.“ „Naja ich hab’ schon Angst davor, dass sich Gesundheit halt irgendwann nicht mehr jeder leisten kann.“
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Chancengerechtigkeit Durch die Teilung in privat und gesetzlich Versicherte wird eine Zweiklassengesellschaft wahrgenommen, eine Chancengleichheit ist nicht mehr wirklich gegeben, was die Modernen Performer stark kritisieren. Für eine unterschiedliche Behandlung aufgrund besserer ¿nanzieller Möglichkeiten wird – auch von gesetzlich Versicherten – durchaus Verständnis gezeigt. Wer mehr einzahlt und die Versorgung zu größeren Teilen selbst zahlt, soll auch mehr bekom men und schneller behandelt werden. Aber: Dieser Einstellung vorausgesetzt, ist, dass die medizinische Grundversorgung aller Versicherten außer Frage steht und auf gutem Niveau erfolgt. Niemand darf mangels ¿ nan zieller Möglichkeiten eine notwendige Behandlung oder Medikamente nicht bekommen. Ebenfalls kritisiert wird die fehlende Chancengerechtigkeit, da einem die Wahl zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung verwehrt bleibt. Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Moderne Performer haben verschiedene Ideen, können aber realistisch einschätzen, dass viele davon nicht umzusetzen sind. Eine Ideallösung könnte man demnach so zusammenfassen: Es gibt eine Gesetzliche Krankenversicherung, in die alle einzahlen, und die alle grundsätzlichen Leistungen und Vorsorgemaßnahmen abdeckt. Alle wichtigen Behandlungen einschließlich Therapien und Medikamenten sollen allen Versicherten gleichermaßen zur Verfügung stehen. Für weitere Zusatzleistungen und individuelle Wünsche, wie zum Beispiel Chefarztbehandlung oder Einzelzimmer im Krankenhaus, soll die Möglichkeit bestehen, sich privat zusatzzuversichern. Eigenverantwortung muss stärker gefordert und gefördert werden: Diejenigen, die sich aktiv um den Erhalt ihrer Gesundheit kümmern, zum Beispiel durch gesunde Lebensweise, ausreichende Bewegung und Einhaltung der Vorsorgeuntersuchungen, sollen von einem Bonussystem pro¿tieren. Als Anreize können ¿ nanzielle Nachlässe der Versicherungsbeiträge oder auch besondere Behandlungsmethoden außerhalb des üblichen Leistungskataloges wie Massagen, Kuren oder Wellness etc. dienen. Ein solches System wird im Vergleich zu Strafen fürs „Nichtstun“ präferiert. Auch die wichtige Rolle der Forschung wird stets her vorgehoben. Die Pharmaunternehmen müssen „wohltätiger“ werden. Ein Ansatz für eine bessere Versorgung im Krankenhaus sehen die Performer in einer besseren Bezahlung und Aufgabenverteilung für PÀegekräfte.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Zum Beispiel, wenn man halt sagt, ich rauche nicht, ich lebe gesund, ich bin nicht übergewichtig, mein BMI ist in Ordnung, und ich mache Sport, dass man mich belohnt dafür, oder dass man sagt, ‚gut, Sie zahlen den Mindestsatz.‘ Und wenn ich dann halt sag, ja ich rauche, ich mach kein’ Sport, ich ess’ voll ungesund, dass man dann sagt, ‚gut, Sie sind Risikopatient. Sie zahlen ein bisschen mehr.‘ Vielleicht sollte man dann ein Punktesystem machen, Beitragsreduzierung. Dass man halt belohnt wird, wenn man gesund lebt.“ „Im Moment sind diese Pharmakonzerne irgendwelche Riesen, unmoralische Ungeheuer. ‚Forschung ist die beste Medizin.‘ Den Tenor ¿ nd ich total gut. Aber wenn wir in der Vorlesung irgendwie hören, dass gewisse Krankheiten tatsächlich medikamentös behandelt werden könnten, aber die Pharma¿rmen sagen, ‚so, es gibt viel zu wenig Leute, die diese Medikamente brauchen, und die Forschung rechnet sich da nicht, weil wir kriegen das nie rein.‘ Und das ¿nd ich so furchtbar, das darf nicht sein.“
Nicht zuletzt deshalb fordern sie mehr Klarheit und Übersichtlichkeit, einen besseren InformationsÀuss (vor allem übers Internet) und einen Abbau der Bürokratie. Die Kommunikation zwischen den Ärzten muss ebenfalls verbessert und erleichtert werden. Als eine weitere zentrale Aufgabe wird die bessere Umsetzung von Vorsorgeuntersuchungen angesehen. So sollen auch Unternehmen und Schulen in die PÀicht genommen werden, außerdem spricht man sich für Vorsorgezentren aus, wo schnell alle nötigen Untersuchungen durchgeführt werden können. Einiges spricht also dafür, dass Moderne Performer nicht ausschließlich auf mehr Eigenverantwortung setzen – in Sachen Vorsorge wollen sie am liebsten einen klaren Plan, wie wann vorzugehen ist. Durch mehr „Zwang“ (wie durch Maßnahmen des Unternehmens und der Schulen) bzw. am liebsten durch mehr Anreize, ¿ele es einem selbst auch leichter, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden, um gesünder zu leben und mehr Vorsorge zu betreiben, obwohl man sich gesund und vital fühlt. Verantwortlich für mögliche Veränderungen sind laut diesem Milieu vor allem die Politik und die Kranken kassen, aber auch Ärzte, Patienten und Versicherte – jeder müsse seinen Teil dazu beitragen, um die gute medizinische Versorgung in Deutschland zu erhalten und zu verbessern.
TRADITIONELLE MILIEUS
SINUS A12: „Konservative“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus A12 „Konservative“ Lebenssituation
x Ganz überwiegend verheiratet oder verwitwet x Meist 2-Personen-Haushalte (ohne Kinder)
Bildung
x Akademische Abschlüsse sind überrepräsentiert x Aber auch Volksschulabschlüsse mit quali¿zierter Berufsausbildung
Beruf
x Hoher Anteil von Personen im Ruhestand, nur ein Drittel ist noch (zeitweise) berufstätig x Typische (ehemalige) Berufe: höhere Angestellte und Beamte sowie Selbständige
Einkommen
x Mittleres bis gehobenes Einkommensniveau; durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.835 Euro x Teilweise größere Vermögen: 22 % verfügen über ein Kapitalvermögen von 25.000 Euro und mehr (Gesamt: 16 %)* x Höchster Anteil an Wohneigentümern im Milieuvergleich (71 % vs. 42 % bei Gesamt)
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Das Milieu der Konservativen nimmt eine gehobene Position in der mittleren bis oberen Mittelschicht ein. Es sind die Repräsentanten des alten deutschen Bildungsbürgertums, die Verteidiger der Werte, Traditionen und der guten alten Ordnung. Ein humanistisch geprägtes PÀichtethos und das Bewusstsein für das kulturelle, nationale Erbe stärken ihr Elitebewusstsein, das teilweise rechtskonservativ-chauvinistische Züge trägt. Konsummaterialismus, Spaßgesellschaft und die Amerikanisierung des Lebensstils lehnen sie ab. Finanziell sind die Konservativen mehrheitlich gut abgesichert. Sie pÀegen einen distinguierten Lebensrahmen und schätzen gepÀegte Umgangsformen. Immaterielle Werte und Ziele stehen im Vordergrund. Sie interessieren sich für klassische Kunst und die Hochkultur (Theater, Oper, Museen), unternehmen Kulturreisen und verfolgen (besorgt) das Zeitgeschehen in Politik, Wissenschaft und
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Wirtschaft. Ihr Interesse an den letztgenannten Themen Àacht jedoch zusehens ab, weil sich der Bezug zum eigenen Leben immer weniger erschließt. Heute sind viele Konservative im Ruhestand, nach einer er folg reichen, verantwortungsbewussten Berufskarriere. Geblieben ist ihr gesellschaftliches Verantwortungsgefühl. Konservative nehmen gerne EinÀuss auf die Geschehnisse, seien es kulturelle, politische oder soziale Bereiche, das „Loslassen“ fällt ihnen eher schwer und so zeigen sie auch im Pensionsalter noch häu¿g die Bereitschaft zur Über nahme ehrenamtlicher Aufgaben – wenn auch oftmals in redu zier ter Form, um nicht mehr die volle Last der Verantwortung über nehmen zu müssen. Zwar kann auch das Ehrenamt selbst zu einer Belastung werden, dies wird jedoch zumeist durch die gesellschaftliche Anerkennung aufgewogen, welche als Ansporn dient, gesundheitliche Beeinträchtigungen leichter zu akzeptieren. Nicht zuletzt um weiterhin genau diese verantwor tungsvolle Rolle in der Gesellschaft übernehmen zu können, bemühen sich Konservative in starkem Maße um den Erhalt geistiger und körperlicher Vitalität. Ihr Faible für Kultur und (Studien-) Reisen kommt dem stark entgegen, können Urlaubsaktivitäten und Reiseziele doch entsprechend geplant und so als Teil einer gesunden Lebensführung verstanden werden (z. B. Wellness-Urlaube, sportliche Betätigung, gesunde Ernährung). Altersaufbau des Sinus-Milieus A12 „Konservative“
Der Altersaufbau des Milieus weicht, wie die Übersicht zeigt, deutlich von dem in der Grundgesamtheit ab. Drei Viertel der Milieuangehörigen sind über 50 Jahre alt. Der Altersschwerpunkt liegt über 60, der Alters-Median liegt bei 63 Jahren. Das Milieu hat so gut wie keinen „Nachwuchs“ mehr; nur 3 % der Milieuangehörigen sind unter 30. Konservative sind überwiegend verheiratet oder ver witwet und leben häu¿g in Zwei-Personen-Haushalten. Kinderreiche Familien mit mehr als drei Kindern sind eher selten anzutreffen. Gleichwohl existiert eine ausgeprägte Sorge um das Wohlergehen der eigenen Familie, und als Großeltern übernimmt man gerne und
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freudig die Aufgabe, sich um das Wohl und Fort kommen der Enkelkinder zu kümmern. Dies kann durchaus im Sinne des Generationenvertrags verstanden werden, sind es doch im Krankheits- oder PÀegefall zumeist die nächsten Angehörigen und nachfolgenden Generationen, die sich un mittelbar um einen kümmern. So sorgt man sich, trotz zumeist vorhandener ¿nanzieller Absicherung und entsprechender Rückstellungen doch vereinzelt um die eigene Altersversorgung und eine ggf. nicht den persönlichen Wünschen entsprechende PÀege. Dies beruht auch auf eigenen Erfahrungen mit PÀegebedürf tigen in der Familie. Insgesamt blickt man mit Stolz zurück auf das eigene Leben und bislang Erreichtes, zeigt sich alles in allem zufrieden mit der aktuellen Lebenssituation und schaut mit Zuversicht auf das, was die Zukunft noch bringen mag. Bedeutung von Gesundheit Aufgrund ihres höheren Altersdurchschnitts sind Konservative häu¿ger mit Krankheiten und körperlichen Beschwerden konfrontiert und benennen dies im persönlichen Gespräch auch exakt so. ƒ ƒ
„Je älter man wird, umso wichtiger wird die Gesundheit, das ist einfach so.“ „Man bekommt im Alter schon das eine oder andere Wehwehchen, da muss man gar nicht drumrum reden.“
Auch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis gewinnt das Thema Gesundheit und Be¿ndlichkeit an Relevanz und Àießt in die Gespräche mit ein – ohne jedoch zwangsläu¿g dominantes und alles beherrschendes Thema zu werden. Dies spiegelt den Anspruch, die Disziplin und Selbststeuerung der Konservativen wider, die Dinge positiv zu betrachten und selbst im Krankheitsfall keine Überdramatisierung des eigenen Gesundheitszustands zuzulassen. Auch diejenigen, die eine Krankheitssymptomatik aufweisen, versuchen, eine optimistische Grundhaltung nach außen zu transportieren. Man schätzt sich glücklich, „dass man noch so ¿t ist für sein Alter“ und freut sich, den vielfältigen Aufgaben, die auch im Alter an einen herangetragen werden, auf hohem Niveau gerecht werden zu können. Seien es die gemeinsamen Aktivitäten mit dem Partner, die Ver pÀichtungen im Ehrenamt oder die Betreuung der Enkelkinder – Konservative zeigen ein hohes Maß an Zufriedenheit.
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Zwischen Schicksal und Verantwortung Konservative betrachten Gesundheit als zentralen Teil des Gesamtlebenskonzepts, für das man selbst die Verantwortung zu tragen und – in Abhängigkeit des persönlichen Lebensstils – die Konsequenzen zu ziehen hat; man macht sich sein persönliches gesundheitliches Schicksal zu eigen. Gesundheit beruht demnach zu einem nicht unerheblichen Anteil auf einer gesunden Lebensführung, die trotz des im Milieu häu¿g anzutreffenden puritanisch-lustfeindlichen Verständnisses jedoch nicht zwingend im Widerspruch zu Genuss stehen muss. Im Gegenteil: Distinguierter Genuss hat durchaus seinen Stellenwert und festen Platz im Alltag. Zwar schränkt man sich möglicherweise in bestimmten Fällen und bei bestimmter Symptomatik bezüglich der Ernährung etwas ein (es muss nicht täglich Fleisch und Wurst gegessen werden), aber meist wird der Nahrungsmittelkonsum – auch jener von Genussmitteln – nicht grundsätzlich und radikal umgestellt. Das liebgewonnene, gute Glas Rotwein am Abend wird so lange nicht als Bedrohung oder Angriff auf die eigene Gesundheit erlebt, so lange es bei dem einem oder auch mal zwei Gläsern bleibt. Ein demonstratives sich einschränken in Bezug auf Ernährung oder ein „übertriebenes Sportverhalten“ kommt für Konservative zumeist nicht in Frage. Gesundheit ist auch und gerade, in „gesunder Balance“ zu leben, nach Ausgewogenheit zu streben und Extreme zu ver meiden. ƒ ƒ
„Als Gesundheitsapostel, also jemand, der übertrieben viel Sport macht oder fast schon militant dies und jenes nicht isst, würde ich mich nicht bezeichnen.“ „Wie so oft im Leben, macht es das Mittelmaß aus. Man sollte einfach nichts übertreiben, egal in welche Richtung. Das ist für mich der Schlüssel für Gesundheit.“
Sieht man sich jedoch gezwungen, Genuss in stärkerem Maße einzuschränken, so trägt man dies mit der gebotenen Fassung. Interessant ist die Argumentation, mit der Konservative ihr Verhalten dann erklären: Verzicht in Form von weniger Rauchen, einem geringeren Alkoholkonsum oder fettreduzierter Ernährung, wird dann nicht aus der De¿zitperspektive im Sinne einer tatsächlichen Einschränkung beschrieben, sondern häu¿g als bewusstere – auch kalorienbewusstere – Ernährungsweise benannt, die sogar eine interessante kulinarische Erfahrung bedeuten kann.
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„Wir essen jetzt häu¿ger Gemüse, probieren auch mal ganz neue und gewagte Rezepte aus. Nicht immer dieses ‚Fleisch ist ein Stück Lebenskraft‘. Und dabei stoßen wir auf ganz tolle Entdeckungen.“ „Ich bin durchaus auch offen für neue Koch- und Ernährungsideen. Aber natürlich werde ich meine Küche nicht komplett umstellen und plötzlich nur noch vegetarisch kochen. Das Altbewährte hat durchaus seinen Stellenwert.“
Jenseits einer gesunden Lebensführung und positiven mentalen Grundhaltung existieren gleichwohl Faktoren, die die Gesundheit ohne eigenes Dazutun (negativ) beeinÀussen können. So gibt es Krankheitsbilder, die sich in der Wahrnehmung des Milieus auch bei einer noch so gesunden Lebensführung nicht vermeiden lassen – dazu gehören Krebserkrankungen. Gesundheit ist also trotz der Erkenntnis, selbst in hohem Maße mitverantwortlich zu sein, aufgrund z. B. genetischer Disposition oder eines Schicksalsschlags in Form eines Unfalls mit schweren Folgen, nicht immer direkt beeinÀussbar. Unabhängig davon, inwieweit man selbst die eigene Gesundheit in Händen hält: Dinge, die sich nicht beeinÀussen lassen, muss man tapfer ertragen. Dass man über seinen Gesundheitszustand selbst bei schwerwiegenden Krankheiten klagt, ist im Milieu der Konservativen kaum vorstellbar und entspräche auch nicht dem Selbstbild von Disziplin, Selbstbeherrschung und (selbstverordnetem) Optimismus. So wird Zufriedenheit als wesentlicher Faktor für die Gesunderhaltung bzw. Gesundwerdung beschrieben. Diese erreicht man mit innerer Ausgeglichenheit, Akzeptanz unveränderbarer Gegebenheiten (z. B. altersbedingte oder schicksalhafte Erkrankungen), sowie mit Ehrgeiz und dem Willen, aus einer nicht zufriedenstellenden Situation herauszukommen oder zumindest das Beste daraus zu machen. ƒ
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„Als ich nach der OP im Krankenhaus lag, wollte ich gar keinen Besuch von meinen Freundinnen. Ich wollte meine Ruhe. Ich wollte das alles mit mir selbst ausmachen. Ich wollte nicht dauernd darüber sprechen, dass der Krebs so schlimm ist. Ich hatte eine OP hinter mir und wollte jetzt nach vorne schauen.“ „Wenn man sich hängen lässt, wird es ja auch nicht besser. Meine Devise ist daher eher etwas Selbstbeherrschung.“
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Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Konservative zeigen sich insgesamt sehr an (sozial-) politischen Fragestellungen interessiert. Es entspricht der Gewohnheit des Milieus, sich detailliert mit unterschiedlichsten Themen und Fragestellungen, so auch dem Thema Gesundheit und Gesundheitspolitik – auch jenseits der individuellen Be¿ndlichkeit in gesamtgesellschaftlicher Perspektive –, auseinanderzusetzen. Als Milieuangehörige mit stark bildungsbürgerlichem Hintergrund ist es nicht nur üblich, zur Verfügung gestellte Informationen (passiv) zu rezipieren, sondern diese ganz bewusst und aktiv nachzufragen. Das bedeutet, dass über die z. B. seitens der Krankenkassen oder Apotheken zur Verfügung gestellten Informationsbroschüren hinaus Infor mationen und Materialien gezielt „eingefordert“ werden, z. B. im Rahmen des Besuchs entsprechender Veranstaltungen, Diskussionsrunden etc. Auf diese Weise und durch die Lektüre medizinischer Fachbücher der eigenen kleinen Hausbibliothek, sowie im ver tiefenden Gespräch mit dem Arzt, wird das individuelle Informationsbedürf nis gestillt. ƒ
„Wenn es etwas komplizierter wird, nehme ich mir meinen Pschyrembel zur Hand. Damit komme ich meist ganz gut klar.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Dienten Sport und Fitness (z. B. Radfahren, Bergwandern, Schwim men, Gymnastik) früher, während der Berufstätigkeit, als Ausgleich und der Balance von Körper und Geist, so hat sich deren hoher Stellenwert im Alter zugunsten des Aspekts der Prävention und der Behandlung altersbedingter Beschwerden verschoben. Im Kontext von Prävention sprechen Konservative häu¿g von leichten sportlichen Betätigungen wie Radfahren, Spazieren gehen etc. Es geht nicht darum, an seine Leistungsgrenzen zu gehen, oder womöglich sich selbst und anderen etwas zu beweisen, sondern vielmehr darum, sich etwas Gutes zu tun, sich körperlich auf angeneh me Weise „¿t zu halten“ und seine Gesundheit zu erhalten. Bedeutender als sportliche Erfolge zu erzielen ist es, das bisher hohe Maß an Aktivität und Beschäftigung zu reduzieren, das Tempo insgesamt etwas zu verringern. Neben leichter Bewegung spielt auch das Thema Ernährung eine Rolle, wobei dieses zumeist keinen grundsätzlichen Wandel, sondern eher leichte Modi¿kationen im Sinne einer Reduktion erfährt. Mindestens ebenso wichtig wie die physische ist die psychische Konstitution. Ob es das ausgeprägte Interesse an Kunst und Kultur, am Zeitgeschehen, an Literatur, Musik, dem Schachspiel oder regelmäßigem Austausch per Brief oder in Form persönlicher Treffen mit Freunden und Gleichgesinnten ist: Für Konservative gibt es vielfältige Arten, sich intellektuell zu fordern. Physische und mentale Ausgewogenheit und Balance durch moderate Bewegung, gesunde Ernährung und geistige Aktivität sind somit der Schlüssel zu guter Gesundheit. ƒ ƒ
„Hochleistungssport betreibe ich keinen, mein Mann und ich gehen regelmäßig spazieren, manchmal auch mal zwei Stunden lang.“ „Für mich ist Gesundheit v. a. auch geistige Fitness, im Kopf ¿t sein. Klar habe ich meine Beschwerden am Knie, wenn ich radfahre oder zu lange laufe. Aber hier oben, das ist es doch, was letztlich zählt.“
Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Im Gegensatz zu Traditionsverwurzelten lässt sich das Arzt-Patient-Verhältnis bei Konservativen als ein Verhältnis auf Augen höhe beschreiben. Konservative sind überwiegend gut informiert, kritisch, anspruchsvoll und diskussionsfreudig. Sie fragen nach, lassen sich Befunde und Therapieansätze en detail erklären, wägen ab. Wenn es ratsam erscheint, konsultieren sie einen zweiten Experten.
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Konservative sind häu¿g privat krankenversichert. Als solche tragen sie zwar unmittelbar die Kosten einer Zweitkonsultation, sind aber trotz Kostensensibilität in schwierigen Situationen der Ansicht, sich selbst und ihrer Gesundheit das Einholen einer solchen Zweitexper ten meinung schuldig zu sein. ƒ
„Wenn man hinterher die Rechnung bekommt, wird einem schon manchmal etwas schwummrig und man fragt sich, war das wirklich alles nötig ?“
Dies spiegelt ein gewisses Anspruchsdenken zum einen in Bezug auf die eigene Gesundheit, zum anderen aber auch in Bezug auf den Arzt wider. Die Erwartungshaltung ist, dass sich der Arzt angemessen Zeit nimmt und auf die individuellen Fragen und Bedürfnisse eingeht. Man möchte sich nicht „durch die Praxis geschleust fühlen“, sondern das gute Gefühl haben können, mit seinen Be¿ ndlichkeiten, Unsicherheiten, Fragen auf ein Gegenüber zu stoßen, das die Notwendigkeit individueller Gespräche und Beratung erkennt und entsprechend professionell agiert. Häu¿g hat man seinen Arzt schon seit langer Zeit, so dass ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis existiert. In Bezug auf Fachärzte vertraut man sich, insbesondere in (ambulanten) Kliniken, gerne dem Chefarzt persönlich an. Damit einher geht, neben dem Aspekt der Distinktion, das Bestreben, sich nicht unbedingt in die Hände sehr viel jüngerer Ärzte zu begeben. Lebenserfahrung, ein breites fachliches Know-how und die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Bedürfnisse und Situationen einzulassen, wird eher Gleichaltrigen zugeschrieben denn jungen (Fach-) Ärzten. Neben aller fachlichen Kompetenz zeichnet einen guten Arzt aber insbesondere Empathie und Freundlichkeit aus. Diese Erwartungshaltung erstreckt sich im Übrigen auf das gesamte Praxisteam, zu dem man häu¿g ein persönliches Verhältnis hat. Namentlich begrüßt zu werden, ist für Konservative hierbei ein „Muss“. Einnahme von Medikamenten Die Einnahme von Medikamenten erfolgt in aller Regel strikt nach Vorgabe des Arztes. Man hält sich an die Medikation des Fachmanns, da dieser „schon weiß, was er tut.“ Gerade bei und nach schweren Krankheiten, wie z. B. einer Krebserkrankung, hält man sich akribisch an die Anweisungen des Fachmanns. Hier eigenmächtig „auszuprobieren“ wird als eine Art „Russisches Roulette“ bezeichnet.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Wenn der Arzt sagt, ich soll das Medikament nehmen, bis die Packung leer ist, dann mache ich das auch. Er ist der Fachmann, da muss ich mich schon drauf verlassen können.“ „Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, ob ich das Medikament brauche oder nicht. Es gibt Umstände, da nimmst du das einfach und machst keine Experimente.“
Bei nichtverschreibungspÀichtigen Präparaten lässt man sich vom Apotheker beraten oder studiert den Beipackzettel. Auch hier ¿ ndet kein allzu „lockerer“ Umgang in Bezug auf die Medikation im Sinne von „ich weiß selbst, wie viel mir gut tut“ statt. Ergänzend zu den „klassischen Medikamenten“ werden von Frauen des Milieus auch homöopathische und naturheilkundliche Präparate genutzt. Vorsorgeuntersuchungen Medizinische Vorsorgeuntersuchungen betreiben Konservative im Rahmen des von den Krankenkassen übernommenen Umfangs. Der Logik des Milieus entsprechend werden diese sehr ernst genommen und als verbindlich angesehen: Gesundheit als persönliche Verant wortung und PÀicht, der man sich nicht entziehen darf und sollte, um Folgeschäden und Folgekosten zu vermeiden. Bemerkenswert ist, dass gerade Männer an dieser Stelle Nachbesserungen einfordern, entspricht es doch eigentlich nicht ihrer konser vativ-chauvinistischen Grundhaltung, sich mögliche Schwächen einzugestehen und sich mit diesen konfrontieren zu lassen. Sie gehen lieber weniger als mehr zum Arzt. Permanente Arztbesuche, sofern es sich nicht um etwas wirklich Ernstes handelt, werden vielmehr als Kostenfaktor (für einen selbst, die Gesellschaft, das Gesundheitssystem) betrachtet. Hier zeigt sich die milieutypische Gesamtperspektive, der Blick für das große Ganze und das für Konservative so wichtige Thema (Eigen-) Verantwortung. Andererseits verhindert ein rechtzeitiger Gang zum Arzt möglicher weise Schlimmeres im Sinne von Folgekosten und -implikationen, so dass ein gewisser Pragmatismus vorherrscht.
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Zweiter Gesundheitsmarkt Konservative haben einen eher verhaltenen Umgang hinsichtlich Dienstleistungen des Zweiten Gesundheitsmarktes, nicht alles wird freudig nachgefragt. Zwar kommen OTC-Produkte, wie z. B. bestimmte Nahrungsergänzungsmittel (Vitaminpräparate), durchaus zum Einsatz. Auch nimmt man gerne Massagen oder Physiotherapien in Anspruch, gönnt sich ab und an einen Saunabesuch oder fährt z. B. einmal im Jahr zu einer betreuten Apfel-Fastenkur in den Südschwarzwald. Aber all diese Angebote fokussieren nicht auf Krankheit, sondern auf Gesundheit, haben zumeist das Wohlbe¿nden im Blick. „Klassische Kuren“ und Aufenthalte in Rehabilitationskliniken ¿nden hingegen selbst nach schweren Krankheiten nur bedingt statt. ƒ
„Nach meiner OP (Krebspatientin) hatte ich keine Lust mehr auf irgendwelche Kliniken und Ärzte. Ich wollte das Gefühl von Krankheit überwinden und mich nicht hängen lassen. Und am besten ging und geht es mir bei meiner Familie. Spazierengehen und entspannen kann ich auch hier, dafür muss ich nicht extra in Kur fahren.“
Möglicherweise spielen auch hier kostenrationale Überlegungen eine Rolle. Denn Konservative erachten solcherlei Leistungen nicht als zwingend für das Leistungspaket von Krankenkassen. Nur wirklich kranke Menschen sollten derlei Leistungen in Anspruch nehmen können, so ihr Verständnis. Ein Missbrauch von Kurleistungen durch Personen, die keinen wirklich dringenden Bedarf haben, ist in ihren
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Augen verantwortungslos denjenigen gegenüber, die auf eine solche Maßnahme tatsächlich dringend angewiesen sind und denen schlimmstenfalls eine Kostenübernahme seitens der Krankenkassen verweigert wird. Dies erleben sie als ein Dilemma des derzeitigen Kassensystems: Einerseits können sie strengere Reglementierungen nachvollziehen, andererseits sehen sie in bestimmten Fällen und bei bestimmten Krankheitsbildern die Notwendigkeit erweiterter kassenärztlicher Leistungen. Ebenfalls der Logik des Sparens verpÀichtet, nutzen Konser vative (Frauen) alternative medizinische Leistungen, wie z. B. TCM. Neben einer gewissen Faszination für fernöstliche Gesundheitsansätze, einer schonenden Komplementierung des westlich geprägten, schulmedizinischen Gesundheitsangebots und der hochwillkom menen Tatsache, dass dabei „der ganze Mensch“ im Mittelpunkt der Behandlung steht, sehen sie hier tatsächliche Sparpotenziale für die Krankenkassen. Oftmals könnten die gleichen Effekte erzielt werden, ohne dass gleich die gesamte Apparatemedizin eingesetzt werden müsse, ist ihr Fazit. Insofern gehen Konservative künftig auch von einer stärkeren Etablierung ganzheitlicher Methoden aus. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Insbesondere im internationalen Vergleich bescheinigen Konservative der Gesundheitsversorgung in Deutschland eher gute Noten. Für viele Befragte des Milieus bewegt sich die Versorgungsqualität auf einem hohen Niveau, für einen Teil auf dem Niveau einer sehr soliden Grundversorgung. ƒ
„Wenn ich da an andere Länder denke, stehen wir schon ganz gut da. Bei uns muss keiner verbluten oder erst stundenlang Papierberge ausfüllen, bevor ihm geholfen wird.“
Allerdings beklagen Angehörige des Milieus die wahrgenommene Tendenz, dass Gesundheit immer mehr zu einer Ware wird, für die ein bestimmter Preis zu bezahlen ist. Geprägt durch ihre Familienorientierung sehnen sie sich latent nach der Familie als kleinster Keimzelle der Gesellschaft und als Kerninstitution, die Kranke und PÀegebedürftige auffängt. ƒ
„Die häusliche PÀege in der Familie sollte eigentlich der Normalfall sein, das ist meines Erachtens immer noch das Beste. Erst im Notfall, wenn es keinen familiären Rückhalt gibt, ist der Staat gefordert und hat die PÀicht, eine gute Grundversorgung zu leisten.“
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Ebenso äußern sie ihren Wunsch nach Ärzten, die aus idealistischen, humanitären und weniger aus materialistischen Gründen ihrer Berufung nachgehen. Auch wenn Konservativen durchaus klar ist, dass ein solches System kaum mehr in die Zeit einer auch von ihnen befür worteten Hightech-Apparatemedizin passt, so wird diese Sehnsucht dennoch deutlich und spiegelt sich vornehmlich bei Frauen des Milieus z. B. in der Suche nach alternativen Heilmethoden und als „menschlich“ bezeichneten Ansätzen wider. Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Losgelöst von der reinen Versorgungsqualität wird das Gesund heitssystem in einem abstrakteren Sinne häu¿g als reformbedürftig und deutlich verbesserungswürdig erlebt. Dies meist ungeachtet der Tatsache, ob man selbst privat oder gesetzlich krankenversichert ist. Die Hauptproblematitk des Gesundheitssystems wird dabei entkoppelt von einem Gerechtigkeitsdiskurs betrachtet: Konservative bewerten das Gesundheitssystem im Großen und Ganzen mehrheitlich als gerecht. Eine systematische Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen in der Gesundheitsversorgung sehen sie häu¿g nicht. Anstelle der Frage der Zweiklassen-Versorgung geht es ihnen vielmehr um die Aufrechterhaltung des Status quo von Gesundheitsleistungen bei gleichzeitig zunehmender Schwierigkeit der Finanzierbarkeit des Gesamtsystems. Insbesondere Personen, die persönlich Erfahrungen mit Rationierungsmaßnahmen gesammelt haben, benennen hier konkrete De¿zite, die das Gesundheitssystem in ihren Augen aufweist. ƒ ƒ
„Sind wir mal ehrlich, es ist heute schon schwieriger als früher, bestimmte Leistungen zu erhalten.“ „Das ist ein einziger ineffzienter, zeitaufwändiger Hürdenlauf, bis man eine Behandlung bekommt.“
Oftmals wird das Gesundheitssystem als „ewige Baustelle“ bezeichnet und von einer systemimmanenten Misswirtschaft, mangelnder Transparenz und ungenügenden Kontrollmechanismen gesprochen. Angefangen von Krankenhäusern, die nach maximaler Auslastung streben (und somit im Sinne vermuteter hoher Behandlungskosten inef¿zient wirtschaften), über einen als überdimensioniert wahrgenommenen Verwaltungsaufwand und Bürokratismus (u. a. durch die Vielzahl von Krankenkassen, aber auch deren konkrete Arbeitsweise) bis hin zu einem übertriebenen Anspruchsdenken der
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Bevölkerung, selbst für kleine Erkrankungen das Maximum an Behandlung zu fordern, reichen die von Konservativen genannten Kritikpunkte. ƒ ƒ ƒ
„Das ist meines Erachtens ein riesengroßer Wasserkopf, der sich viel zu viel mit sich selbst beschäftigt.“ „Ich habe für die Glaspaläste der Krankenkassen wirklich keinerlei Verständnis.“ „Wozu brauchen wir so viele unterschiedliche Krankenkassen? Wie sollen denn da Synergien entstehen ?“
Aber auch die wahrgenommene Monopolstellung der Pharmaindustrie, welche in ihren Augen fast konkurrenzlos die Preise auf dem Markt diktieren kann, sowie damit einhergehende, als „undurchsichtig“ wahrgenommene VerÀechtungen und InteressenkonÀikte, werden als problematisch benannt. ƒ
„Naja, die Pharmalobby und die Mediziner, das ganze System aus Ärzten, Pharma und Krankenhäusern, das ist doch irgendwie undurchschaubar und kaum noch zu kontrollieren.“
Insgesamt machen sich die Angehörigen dieses Milieus ein vergleichsweise differenziertes und mehrdimensionales Bild von den Problemen des Gesundheitssystems. Dabei legen Privatversicherte ein stärker ausgeprägtes Kostenbewusstsein sowie einen stärker wahr nehmbaren Realitätssinn an den Tag. Während gesetzlich Versicherte die Vorstellung äußern, bereits mittels etwaiger Einblicke auf Abrech nungen „Druck“ ausüben und Kosten effektiv senken zu können, zeigen sich Privatpatienten tendenziell etwas abgeklärter und konstatieren, mangels eigenem Fachverstand keine angemessene Beur teilung der medizinischen Leistungen und damit einhergehender Kosten vor nehmen zu können. Auch argumentieren sie harscher gegenüber sogenannten „Krankmachern“, welche das Solidarprinzip ausnutzen und dem Gesamtsystem Schaden zufügen. Chancengerechtigkeit Konservativen ist bewusst, bestimmte z. T. recht umfangreiche Privilegien aufgrund ihrer gesicherten ¿nanziellen Situation zu genießen. In aller Regel privatversichert, werden ihnen sowohl schnellere Terminvergaben beim Arztbesuch als auch beispielsweise Einbettzimmer und Chefarztbehandlung im Falle eines Krankenhausaufenthaltes zuteil. Als Privatpatient einen höheren Komfort zu genießen
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halten sie jedoch zumeist nicht für einen Verstoß gegen die Chancengerechtigkeit, auch wenn sich eine Bevorteilung in der konkreten Situation möglicherweise befremdlich anfühlen mag. Gleichzeitig herrscht aber eine gewisse Ratlosigkeit vor und gilt die normative Kraft des Faktischen: Es werde wohl immer wohlhabende und weniger wohlhabende Menschen in der Gesellschaft geben, diese Divergenz sei in Maßen gerechtfertigt und erlaube in der Konsequenz daher auch eine Sonderbehandlung ¿nanzkräftigerer Personengruppen. ƒ ƒ
„Ja, es stimmt schon, Kassenpatienten werden benachteiligt, das ist so. Aber wie kann man das lösen ? Es können sich nun mal nicht alle privat versichern lassen.“ „Ich fühle mich da schon manchmal etwas unwohl, wenn ich nach zwei Minuten dran komme, während Andere schon viel länger warten. Oft kriegt man das ja auch gar nicht so mit, weil es zwei Wartezimmer gibt. Die Frage ist nur, was kann man da tun ? Ich hab’ darauf auch keine Antwort.“
Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Als eine der dringlichen politischen Aufgaben in Bezug auf das Gesundheitssystem sehen Konservative die Stärkung von Eigenverant wortung. Menschen, die sich wider besseren Wissens gesund heitsgefährdenden Risiken (z. B. hoher Alkoholoder Tabakkonsum etc.) aussetzen, „Blaumacher“, die (ermöglicht durch suboptimale Kontrollsysteme) die Solidargemeinschaft belasten und Personen, denen das Maß in Bezug auf eine adäquate Behandlung verloren gegangen zu sein scheint, werden von Konservativen durchaus kritisiert. Hier sehen sie die Notwendigkeit von Aufklärungsarbeit, die bereits bei Kindern und Jugendlichen ansetzen sollte. Die Schärfung des Bewusstseins für die Eigenverantwortlichkeit des Individuums gegenüber dem eigenen Gesundheitszustand könne gar nicht früh genug beginnen. Und dennoch: Eine Differenzierung der Mitglieder der Solidargemeinschaft nach Lebensstil und Lebenswandel, d. h. als Konsequenz eine etwaige Bevorteilung Gesunder durch niedrigere Beitragssätze bzw. im Umkehrschluss eine negative Sanktionierung von Risikogruppen in Form der Reduzierung von Leistungsansprüchen bewerten Konservative als wenig human. Hier zeigt sich die dem Milieu eigene Ambivalenz von Leistungsdenken und Eigenverantwortung einerseits versus der VerpÀichtung eines humanistischen Menschen- und Gesellschaftsbilds andererseits. Eine Debatte und Kultur des gegenseitigen Beschuldigens jedenfalls erachten Konservative als wenig hilfreich.
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SINUS A23: „Traditionsverwurzelte“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus A23 „Traditionsverwurzelte“ Lebenssituation
x Meist 1- bis 2-Personen-Haushalte x Höchster Anteil allein Lebender und Verwitweter im Milieuvergleich
Bildung
x Überwiegend Hauptschule mit abgeschlossener Berufsausbildung x Nur 7 % haben Abitur oder Studium
Beruf
x Hochster Anteil von Ruheständlern im Milieuvergleich x Früher: kleine Angestellte und Beamte, Arbeiter, Facharbeiter und Bauern
Einkommen
x Meist kleine bie mittlere Einkommen: 65 % haben ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen unter 2.000 Euro (Gesamt: 46 %)* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 1.882 Euro x Überdurchschnittlicher Anteil an Wohneigentümern
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Traditionsverwurzelten sind die sicherheits- und ordnungsliebende Kriegs- und Nachkriegsgeneration, geprägt von traditionellen Werten wie PÀichterfüllung, Sparsamkeit, Sauberkeit und Ordnung. Diese Normen waren zunächst überlebensnotwendig, wurden dann zu vorgelebten Tugenden und sind heute wieder Basis des Alltags. Konformismus und Sicherheitsstreben, Orientierung an gängigen Konventionen und traditionellen Moralvorstellungen prägt den Lebensstil des Milieus: Sich zufrieden geben, Bescheidenheit und Anpassung an die Notwendigkeiten. Das Gros der Milieuangehörigen, meist Pensionäre und Sozialrentner, lebt in bescheidenen, wenn auch nicht ärmlichen Verhältnissen. Aufgrund der milieutypischen Sparsam keit haben viele ein gewisses Polster aufgebaut, von dem sie im Alter zehren können.
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Altersaufbau des Sinus-Milieus A23 „Traditionsverwurzelte“
Die Traditionsverwurzelten sind das älteste Milieu in Deutschland mit einem Schwerpunkt in der Kriegs- und ersten Nachkriegsgeneration. Drei Viertel der Milieuangehörigen sind über 60, 47 % sind über 70. Der Alters-Median liegt bei 70 Jahren. Aufgrund des hohen Altersschwerpunkts ist auch der Frauenanteil im Milieu hoch. Knapp zwei Drittel der Milieuangehörigen sind Frauen. Je älter sie werden, um so wichtiger werden den Traditionsverwurzelten Familie, Freunde und Bekannte im unmittelbaren Umfeld. Diese geben Halt und Wärme, ebenso wie die beliebten Heile-Welt-Inszenierungen im Wohnbereich. Schutzwälle aus Gardinen, Hecken, Zäunen unterstreichen den Rückzug aus der Welt des Sittenverfalls und der lockeren Moral. Ihre Interessen kreisen eng um die eigenen vier Wände, die Familie, die eigene Gesundheit. Fernsehen, Basteln, Gartenarbeit füllen die freie Zeit, gelegentlich auch kleinere AusÀüge und Kaffeefahrten, die man inzwischen aber aus ¿ nanziellen Gründen einschränkt. Trotz ähnlicher Grundorientierung bilden Traditionsverwurzelte und Konservative zwei getrennte in sich geschlossene Lebenswelten mit je anderer Wertorientierung, anderem Lebensstil und vor allem einer unterschiedlichen sozialen Lage. Die objektiven materiellen und kulturellen Ressourcen, die beiden Milieus zur Verfügung stehen, unterscheiden sich deutlich voneinander. Viele Männer im Milieu sind durch lebenslange körperliche Arbeit – Norm ist der Volksschulabschluss und anschließende Lehre – im Alter körperlich an ihren Grenzen gelangt: Ob Maurer, Fliesenleger, Metzger o. ä., die Arbeit hat ihre Spuren hinterlassen. War der Körper jahrzehntelang vor allem belastbares „Material“ und eine bestimmte Leidensfähigkeit schlicht normal, so spüren diese Männer im Alter die Folgen des berufsbedingten körperlichen Raubbaus.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Auch noch etwas, dass ich so verbraucht worden bin in der Landwirtschaft. Die Schule, die kam hinten an. Ich habe Hausaufgaben gemacht abends nach getaner Arbeit. Also nach der Schule haben wir gegessen, dann ging’s auf Feld. In den Ferien war ich nur auf dem Feld. Abends ist gefüttert und der Stall gemacht worden. Dann haben wir zu Abend gegessen und dann habe ich Hausaufgaben gemacht. Das war halt damals so. Meine Mutter hat da mit drin gesteckt in dieser Landwirtschaft. Die hat mitgeholfen und ich hab da nie aufgemuckt.“
Traditionsverwurzelte Frauen waren in der Regel nicht erwerbstätig, sondern haben sich als Hausfrauen pÀichtbewusst um die Kindererziehung, die PÀege von älteren Angehörigen und die Erledigung des Haushalts gekümmert, oft über die eigenen körperlichen Grenzen hinweg. Eigentum – ein eigenes Haus gebaut zu haben – ist für Traditionsver wurzelte der sichtbare Ausdruck, dass sich die viele Arbeit im Leben gelohnt hat, man sich und der nachfolgenden Generation einen bleibenden Wert erschaffen konnte. Die Familie ist der zentrale Mittelpunkt des Lebens: Die Sorge um die eigenen Kinder hört für Traditionsverwurzelte nie auf. Im Alltag (ohne Arbeit) kreisen die Gedanken um das beruÀiche, das familiäre Wohlergehen der Kinder und Enkelkinder. Leben die Enkelkinder in der Nähe, wird ihnen viel Zeit gewidmet, häu¿g betreut man sie in den Ferien oder nach der Schule. Es ist für das Verständnis des Milieus wichtig, dass eigene Bedürfnisse und Ansprüche zurückgestellt werden. So wird auch kompensiert, dass man in der Kindheit der eigenen Kinder aufgrund der Arbeit zu wenig Zeit hatte, sich diesen wirklich zu widmen. ƒ ƒ ƒ
„Wichtig im Leben ist ein gutes Verhältnis innerhalb der Familie.“ (Mann) „Die Familie ist mit der Hauptpunkt.“ (Mann) „Es dreht sich letztendlich alles um die Kinder und jetzt die Enkelkinder natürlich.“
Mit steigendem Alter werden die Gesundheit und die Erhaltung von Gesundheit immer wichtiger – um dieses Thema dreht sich letztlich der Alltag. Die ausführliche Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit und den eigenen Beschwerden nimmt einen großen Raum ein. Auch ist das Thema „Gesundheit“ in größeren Runden im Freundes- und Bekanntenkreis äußerst beliebt: Kaum eine Gesprächsrunde, die das Thema nicht tangiert. Hier kann jeder etwas beisteuern, fühlt sich auch entlastet im Austausch mit anderen und kann sich so versichern, dass es einem selbst doch vergleichsweise noch ganz gut geht.
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Auch unter Ehepartnern ist Gesundheit ein wichtiges Thema. Morgens beim Frühstück tauscht man sich über die eigene aktuelle Be¿ndlichkeit aus: Wie geht es mir, wie geht es dir heute ? Das tägliche Zurechtkommen mit der eigenen Gesundheit ist dabei genauso von Belang wie die längerfristige Perspektive. Die meist jahrzehntelange Bindung zum Ehepartner hat in diesem letzten Lebensviertel häu¿g eine neue Qualität bekommen: Die Ver trautheit, dem anderen wirklich authentisch spiegeln zu können, wie die eigene Be¿ndlichkeit ist, spielt eine große Rolle, auch das unausgesprochene Einvernehmen, nicht (mehr) viele Worte zu benötigen, um sich auszutauschen. Gleich zeitig ist das Ehepaar auch ein „Team“ im Kampf gegen das Älterwerden: Gemeinsam fühlt man sich den Herausforderungen des Alters und den aktuellen und drohenden Krankheiten besser gewappnet; es fällt leichter, mit einem Partner aktiv zu bleiben. Die Vorstellung, sich für den Partner anzustrengen, damit man die letzten Lebensjahre möglichst lange zusam men erleben kann, spielt eine große Rolle. ƒ ƒ
„Das ist auch Egoismus“ (Mann). „Und zufrieden sind meine Frau und ich, wenn wir irgendwas geleistet haben. Das macht uns zufrieden.“
Gesundheit ist mit das höchste Gut im Leben der Traditionsver wurzelten und die Voraussetzung für ein möglichst selbstbestimmtes Altern. Der eigene Partner, die eigene Familie ist das Netz, das einen trägt, wenn man älter wird: Hier fühlt man sich aufgehoben und verstanden, kann auf die Solidarität des Anderen zählen. Bedeutung von Gesundheit Das Gros der Menschen im Milieu der Traditionsverwurzelten ist über 60 Jahre alt – gesundheitliche Einschränkungen, auch chronische Krank heiten sind nicht (mehr) die Ausnahme, sondern die Regel. Eine Vielzahl der Traditionsverwurzelten im Rentenalter hat chronische Erkran kungen, wie Arthrose, Herz-Kreislauferkrankungen etc., die das Leben begleiten und auch mehr oder weniger einschränken. Auch der Tod ist in diesem Milieu nichts Abstraktes, Fernes: Der Verlust des eigenen Partners, von Verwandten und Freunden begleitet das Leben. Die völlige Gesundung – das Fehlen von „Zipperlein“, „Altersgebrechen“, von Schmerzen – ist nicht mehr erreichbar: Jede / jeder trägt sich mit diesen als natürlich empfundenen Begleiterscheinungen des Alters herum: „Das ist halt so, wenn man älter wird“, ist die Einstellung. Beschwerden sind also der Preis des Älterwerdens: ohne diese geht es nicht. Man arrangiert sich damit und versichert sich, dass man zufrieden ist, wenn es
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einem gut genug geht, sein eigenes Leben führen, seinen Hobbies noch nachgehen zu können. Hier zeigt sich auch die milieutypische Genügsamkeit: Nicht jammern und klagen, wenn die gesundheitlichen Umstände nicht mehr so gut sind, sondern sich damit arrangieren. Auch: sich nicht gehen lassen und sich nicht aufgeben. Diese innere Haltung verordnen sich viele Traditionsverwurzelte. Sie ist immens wichtig und dient der psychischen Stabilität. Dazu kommt der im Milieu häu¿g anzutreffende tiefe religiöse Glaube, der in Krisensituationen, bei Krankheiten oder Verlust des Partners eine Stütze ist. Ältere Traditionsverwurzelte über 70 Jahre, die sich subjektiv guter Gesundheit erfreuen, zeigen auch eine ausgeprägte Dankbarkeit, dass es ihnen im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen so gut geht. Diesen Zustand zu bewahren, und damit auch die eigene Freiheit, Unabhängigkeit und Lebensfreude, ist besonders wichtig. Dabei ist nicht (mehr) die Langzeitperspektive im Blick, vielmehr wird von Tag zu Tag geschaut, wie das eigene Be¿nden ist, was unternommen werden kann und was man auch mal verschiebt, weil einen Schmerzen stärker plagen. Ein guter Tag ist der, an dem man (einigermaßen) schmerzfrei und beweglich ist. ƒ ƒ
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„Ich freue mich über jeden schmerzfreien Tag. Gesundheit ist das wichtigste im Leben.“ „Ja gut. Das erste ist natürlich mal, dass die Gesundheit speziell mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird. Also das hörst du ja bei Geburtstagen, dass sich jeder einfach nur Gesundheit wünscht. Und ich pÀege dann immer so den Satz ‚ich wünsch dir, dass du gesund bleibst‘, oder, wenn jemand was hat, ‚gesund wirst‘. Alles andere füge ich dann oft dazu. Und das ist ja auch in den allermeisten Fällen so. Alles andere hast du ja, sage ich dann immer.“ „Gesundheit ist das allerwichtigste.“
Es ist für dieses Milieu ungemein wichtig, anderen, auch den eigenen Kindern, nicht „zur Last zu fallen“. Dies beinhaltet für viele Traditionsverwurzelte ein Dilemma: Die Zustände in PÀege- oder Senioren heimen schätzen sie selbst als sehr schlecht ein; gleichzeitig möchte man die PÀege aber nicht den engen Anverwandten zumuten. Viele, vor allem die Frauen im Milieu, haben selbst ihre Eltern oder Schwiegereltern zu Hause gepÀegt und wissen, dass dies mit einer hohen physischen und psychischen Belastung einhergeht. Heute, wo viele jüngere Frauen berufstätig sind, wollen sie sich selbst niemandem zumuten.
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Zwischen Schicksal und Verantwortung Für den Erhalt der eigenen Gesundheit, so die dominante Einstellung, kann man einiges tun. Allerdings wirkt die genetische Disposition als begrenzender Faktor. So werden Gesundheit und Krank heit, aber auch etwa Übergewicht, in Teilen pauschal „den Genen“ zugeschrieben: Es ist Veranlagung, wenn in einer Familie bestimmte Erkran kungen gehäuft auftreten. ƒ ƒ ƒ
„Ich sage mal, zu dreißig Prozent ist es Veranlagung, zum großen Teil kann man selbst etwas für die Gesundheit tun.“ „Erstens mal die Gene, denke ich mal. Weil man hat es dann doch schon mal mit in die Wiege gelegt bekommen.“ „Man sieht das ja an jenen, die nichts tun für sich. Die kommen dann die Treppe eben nicht mehr hoch.“
Dennoch: Die Notwendigkeit, selbst etwas für die eigene Gesundheit zu tun, aktiv an deren Erhaltung zu arbeiten, wird voll und ganz gesehen, z. B. durch Ernährungsumstellung oder sportliche Betätigung. Hierbei zeigt sich dann der milieutypische Fleiß und Durchhaltewillen. Jene, die sich ganz gezielt bewegen – Wandern gehen, Rad fahren, Gymnastik kurse besuchen – verweisen stolz auf ihre Leistung. Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Sendungen im Fernsehen sowie die kostenlosen Zeitschriften aus der Apotheke sind die wesentlichen Kanäle, über die sich das Milieu – und hier stärker die Frauen als die Männer – zu gesundheitlichen Themen informiert. Auch die Fernsehzeitung ist eine willkom mene Informationsquelle, da hier der Stoff nicht allzu sachlich vermittelt wird. Vornehmlich sind es Infor mationen rund um die Erkrankungen, an denen man selbst oder ein Angehöriger leidet. Im Fernsehen interessieren v. a. die Erfahrungsberichte anderer Menschen: die wissenschaftliche Information ist eher ergänzend. Information heißt in diesem Milieu durchaus auch: Erfahrungsaustausch.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Also da bin ich der Meinung, man muss sich selber informieren. Man darf sich nicht auf den Arzt verlassen. (…) Man muss sich selber mit dem befassen, was man hat. Wie ich jetzt vorhin schon mal angedeutet habe: diese Mundpropaganda. Also du hast irgendwas (…), und da hört sich speziell meine Frau dann rum. So hat ihr der Arzt bei der Magenspiegelung gesagt, dass sie so viel Magensäure im Magen hat. Und dann hat sie von einer Person gehört, die hat da eine Tablette gekriegt von ihrem Arzt und seit dieser Zeit ist das weg (…). Und dann ist sie zum Arzt hin gegangen. Die [Tabletten] mussten verschrieben werden; dann hat sie dem Arzt das gesagt und er sagte ‚ja, die kann ich dir verschreiben‘. Aber das kommt letztendlich nicht vom Arzt. Manchmal, sogar relativ oft würde ich meinen, sondern du musst sagen, ich habe das und das und habe das und das gehört. Könnten wir das auch oder so ? Manche Ärzte wollen das natürlich nicht so, so bevormundet werden.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Während des oft körperlich anstrengenden Arbeitslebens war in der Regel keine Zeit und Energie für Sport. Viele holen dieses De¿ zit auch im Alter nicht mehr auf, andere entdecken die Lust an der Bewegung für sich und machen mit dem Partner Radtouren oder gehen wandern. Häu¿g ist der Eintritt in das Rentenalter der Zeitpunkt, ab dem mehr und bewusster etwas für die Gesundheit getan wird. Dies liegt zum einen daran, dass der Tag neu ausgefüllt und strukturiert werden muss, zum anderen daran, dass die Erhaltung der eigenen Gesundheit persönlich deutlich wichtiger wird. Kulturellintellektuelle Hobbies, wie der Besuch von Museen, Schach spielen oder Lesen sind im Milieu der Traditionsverwurzelten kaum vorhanden. So liegt es nahe, dass Hobbies mit körperlicher Betätigung, häu¿g im Verein oder Freundeskreis, eine größere Rolle spielen: Wandern, Gymnastik, Rad fahren, Schwimmen etc. Dazu gehört auch, sich selbst zu über winden, um im fortgeschrittenen Alter davon zu pro¿tieren. ƒ
„Ich habe ja an für sich vorher nie Sport gemacht, das muss ich sagen. Ich habe eben immer nur geschafft. Das war mein Sport, die Arbeit.“
Während es in einer Partnerschaft oft leichter fällt, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, klagen alleinstehende, verwitwete Traditionsverwurzelte häu¿g darüber, dass sie niemanden (mehr) haben, der sie z. B. auf Spaziergänge begleitet, mit dem man zusam men am Gym nastikkurs teilnehmen könnte. Alleine fällt es zunehmend schwer, sich aufzuraffen, um etwas zu unternehmen. Die Einbindung in ein starkes soziales Netz (Freunde, Familie, auch die Dorfgemeinschaft) kann hier sehr hilfreich sein. Eine weitere Strategie von Frauen des Milieus ist es, mehr auf sich selbst zu achten. PÀichten werden schon mal auf den anderen Tag verschoben, was früher – in der Logik des Milieus – undenkbar gewesen wäre. Diese neue Haltung resultiert aus den Erfahrungen, die sie gesammelt haben, als sie selbst Angehörige gepÀegt haben: Eine solch anstrengende, auszehrende Zeit kann man nur gut und gesund überstehen, wenn man die eigene Be¿ndlichkeit nicht aus dem Blick verliert. Fast stereotyp betonen Traditionsverwurzelte die Rolle der Ernährung für die Gesundheit. Die Erkenntnis ist da, dass die Ernäh rungsweise, die sie von früher kennen – mit vielen tierischen Produkten, viel Fett, also einem insgesamt hohen Kaloriengehalt – heute nicht mehr zeitgemäß und für einen Menschen, der sich deutlich weniger bewegt, nicht sinnvoll ist. Anlass, die Ernährung umzustel-
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len, ist oftmals eine Erkrankung, auch schwerwiegende Vorkommnisse, z. B. ein Herzinfarkt. ƒ ƒ
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„In der Ernährung zum Beispiel, dass wir weniger Fleisch essen. In der Relation zu früher, essen wir vielleicht noch ein Viertel an Fleisch und Wurst. Was man so von früher von den Eltern her gewohnt war.“ „Nachdem mein Mann seinen Herzinfarkt hatte, vor drei Jahren, haben wir das radikal umgestellt. Wir essen kaum noch Kuchen, überhaupt wenig Süsses und viel weniger Fleisch und Fett. Wenn man mal weiß, wie viel Fett zum Beispiel in Salami drin ist, dann verzichtet man freiwilllig darauf.“ „Und da ernähren wir uns schon fettarm. (…) Der Körper braucht immer weniger.“
Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Die meisten Traditionsverwurzelten im milieutypischen Alter sind erkrankungsbedingt auf die kontinuierliche Einnahme von i. d. R. verschreibungspÀichtigen Medikamenten angewiesen. Arztbesuche erfolgen daher regel mäßig. Auch die Motivation, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, ist hoch. In der Eigenperspektive unterscheiden Traditionsver wurzelte zwei „Basistypen“ von Menschen: Jene, die bei den kleinsten Beschwerden und daher insgesamt sehr häu¿g zum Arzt gehen, und jene, die so selten wie möglich, entweder im Akutfall oder zur Vorsorge, eine Arztpraxis aufsuchen. Der erste Typus ist häu¿g alleinstehend, denn der Arztbesuch hat auch eine wichtige soziale Funktion. Bei der Wahl des Hausarztes hat aus diesen Gründen das Vertrauensverhältnis oberste Priorität: Sich gut aufgehoben wissen, ernst genom men zu werden, ist extrem wichtig. Das persönliche Gespräch und die langjährige Beziehung sind wesentliche Bestandteile eines guten Arzt-Patient-Verhältnisses: Man kennt sich. Viele haben „ihren“ Hausarzt schon seit langem, man begleitet sich gegenseitig im Älterwerden. Er kennt die Familiengeschichte und damit auch Details, die man einem Fremden, auch einem fremden Arzt, nicht mitteilen würde. Die Nähe zur Arztpraxis und damit verbunden die Möglichkeit, dass dieser im Notfall auch einen Hausbesuch macht, sind ebenso wichtig. Ein guter Arzt nimmt sich Zeit. Ärzte werden oft nach Empfehlungen im Freundes- oder Verwandtenkreis ausgewählt und aufgesucht. Bei der Kommunikation mit dem Arzt kommt es in hohem Maß auf Verständlichkeit an: Ein guter Arzt erklärt medizinische Begriffe und Zusammenhänge in einer leicht verständlichen Sprache. Fremdworte, aber auch schnelles Erklären, werden oftmals als Arroganz
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inter pretiert. Hier zeigen sich die lebensweltliche Distanz zu Akademikern und die Angst vor jenen gebildeten Menschen, die sich anders ausdrücken können. Da der Patient aber auf den Arzt angewiesen und vom ihm abhängig ist, ist es ihm sehr wichtig, dem folgen zu können, was er sagt. Hier muss sich der Arzt dem Patienten anpassen – nicht umgekehrt. ƒ ƒ ƒ
„Unseren Hausarzt kennen wir schon seit mehr als dreißig Jahren. Irgendwann ging der Vater in Rente, dann hat der Sohn die Praxis übernommen, da sind wir geblieben.“ „Ein guter Arzt nimmt sich Zeit.“ „Der Arzt ist auch nur Mensch, der macht auch Fehler.“
Zufrieden mit ihrem Arzt sind jene Traditionsver wurzelte, die das Gefühl haben, die Gesundheitsleistung zu erhalten, die sie für not wendig oder angemessen erachten. Ob es um Krankengymnastik oder Massagen geht oder um bestimmte Medikamente. Hier sind die Erfahrungen durchaus unterschiedlich: Einige Traditionsverwurzelte klagen, dass ihnen vom Haus- oder Facharzt mit Hinweis auf das begrenzte Budget seit einiger Zeit Leistungen „verweigert“ werden oder bestimmte Medikamente nicht mehr verschrieben werden können. Darauf reagieren sie teilweise mit Verständnis, denn Sparen muss sein und ist notwendig, um das System aufrecht zu erhalten, aber gleichzeitig besteht die latente Sorge, dass andere sehr wohl diese Dinge und Leistungen erhalten, z. B. wenn sie privat versichert sind. Haus- und Fachärzte werden möglichst selten gewechselt. Aber: Auch Traditionsverwurzelte wechseln den Arzt, wenn sie sich nicht gut aufgehoben fühlen, wenn sie Diagnosen oder ein bestimmtes Vorgehen im Krankheitsfall nicht nachvollziehen oder mittragen können. Trotz vieler positiver Äußerungen ist das Verhältnis zum Arzt keines auf Augenhöhe. Der Arzt ist als Akademiker ein Experte. Der traditionsverwurzelte Patient kann sich schnell unterlegen fühlen: Sprache, Ausdrucksweise, Habitus, auch die Gestaltung der Praxis sind Ausdruck des Gefälles zwischen dem studierten Arzt und dem Patienten. Je kleiner der Arzt diese Kluft werden lässt, umso größer ist die Chance, dass sich der Patient dieses Milieus in der Praxis gut aufgehoben fühlt. Einnahme von Medikamenten In der Logik des Milieus gilt es, so wenige Medikamente wie nötig einzunehmen und sich bei Beschwerden durch Hausmittel selbst zu kurieren. Wird die Einnahme von Medikamenten aber notwendig, hält man sich genau an den Rat und die
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Anweisung des Arztes. Regelmäßige Kontrollbesuche beim Arzt dienen auch dazu, sich zu vergewissern, wie mit der Medikation weiter zu verfahren ist und, dass bei Einnahme mehrerer Medikamente, „alles richtig eingestellt ist“. Im Krankheitsfall werden zunächst Hausmittel angewendet, bevor der Arzt aufgesucht wird. Erst, wenn es nicht anders geht, muss man eben auch „richtige“, vom Arzt verordnete Medikamente einnehmen. Gleichzeitig sind die meisten Traditionsver wurzelten bereits aufgrund chronischer Erkrankungen auf regelmäßige Medikamente angewiesen und wollen dieses Spektrum nicht zu sehr „ausdehnen“: Hierbei spielt auch eine Rolle, dass man selbst nicht den Überblick verlieren will und Herr der Dinge sein möchte. Viele Medikamente werden nicht freiwillig eingenommen, sondern sind z. B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen schlichtweg überlebenswichtig, daher hält man sich genau an die Anordnungen zur Ein nah me dieser Medikamente. Hier wirkt die Autorität des Arztes. Allerdings: Sofern ein Medikament nicht lebensnotwendig ist, orientieren sich Traditionsverwurzelte bei Häu¿gkeit und Menge der Dosierung an ihrer lebenslänglichen Praxis und Erfahrung „viel hilft viel“. Hier kultivieren Traditionsverwurzelte einen kleinbürgerlichem Individualismus. Das geschieht in unbeobachteten und unkontrollier ten Situationen, wenn sie beispielsweise die verordnete Dosierung eines Medikaments selbständig erhöhen oder heruntersetzen mit der Heilser war tung: „Ein bisschen mehr (bzw. weniger) ist schon besser !“; oder aber – in gegenteiliger Logik – sich über strikte Diätvorschriften in Bezug auf heißgeliebte Nahrungsmittel (Fleisch, Zucker, Kuchen etc.) einfach hinwegsetzen mit dem Motto: „Das bisschen schadet schon nicht !“ Ein besonderes Terrain bietet hier der Markt des OTC. Aus Sicherheitsgründen und weil sie persönliche Beratung benötigen, gehen Traditionsverwurzelte selbstverständlich in die Apotheke (weniger zur Drogerie), aber hier besorgt man sich „seine“ bewährten Mittel für das Herz, den Kreislauf, den Magen, die Verdauung, den Schlaf etc. Vorsorgeuntersuchungen Vorsorgeuntersuchungen sind ein PÀichtprogramm, an dem man selbstverständlich – hier wird die Autorität der Ärzte auch nicht angezweifelt – teilnimmt. Die Akzeptanz und der Sinn dieser Untersuchungen werden in keiner Weise in Frage gestellt. Es dient dem Verständnis, wenn man weiß, dass Gesundheit ein wesentliches, fast unvermeidbares Thema bei Begegnungen im Verwandten- und Bekanntenkreis ist: Die Nennung einer Krankheit erzeugt nahezu reÀexhaft längere Diskussionen, da jeder etwas beitragen kann. Hier tauscht man sich über Diagnosen, über Verläufe von Krankheiten, über Behandlungen und eben auch über Vorsorgeuntersuchungen
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aus. Im Zusammenhang mit Krebserkrankungen kommt automatisch die Sprache auf jene Fälle, die tödlich endeten, weil Vorsorgeuntersuchungen versäumt wurden: Die Person x (oder man selbst) würde vermutlich nicht mehr leben, wäre man nicht regelmäßig zum Arzt gegangen. ƒ ƒ
„Und dann frage ich mich: wenn die nicht zur Vorsorge gegangen wären, wären sie vermutlich nicht mehr da. Das ist die einzige Chance.“ „Das sind feste Punkte, die werden bei uns abgehandelt.“
Zweiter Gesundheitsmarkt Für Traditionsverwurzelte spielen Nahrungsergänzungsmittel eine nachgeordnete Rolle. Sie setzen auf eine gesunde und bewusste Ernährungsweise, nach Möglichkeit mit Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten – auch, um Geld zu sparen. Greift man zu Nahrungsergänzung, dann werden „Komplettlösungen“ favorisiert: Alle wichtigen Vitamine in einer Tablette. ƒ
„Also so Nahrungsergänzungsmittel hatten wir auch mal eine Zeitlang gemacht, sogar teilweise sowas wie das Optovit, das hat mir der Apotheker zum Beispiel empfohlen.“
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„Und wenn ich dort in die Apotheke komme, dann haben wir immer ein bisschen Gespräch. Und dann sagt er, über den Winter, so über diese Zeit, wo man sich leichter erkältet oder so die Sonne fehlt, ‚nehm doch mal so eine Kapsel“. So was hab ich auch mal probiert. Aber in der Regel sind wir der Meinung, wenn wir uns aus dem eigenen Garten Salat, Gemüse, Obst, also wenn wir das alles, so von jedem etwas, also nicht extrem [essen], dann reicht das für den Körper. Also da geben wir sozusagen nichts aus.“
Anders ist das bei nicht-verschreibungspÀichtigen Medikamenten. Dem bekannten Apotheker aus dem Dorf vertraut man bei Prophylaxe-Präparaten „um gesund über den Winter zu kommen“, oder gegen Symptome wie etwa Wechseljahresbeschwerden, oder um Rückenschmerzen zu mildern. Zwar ist dieses sparsame Milieu darauf bedacht, die Ausgaben in diesem Bereich möglichst gering zu halten, aber es ist interessant, dass in schweren Erkrankungsfällen oder bei einem subjektiv hoch empfundenen Leiden durchaus auch große Summen für freiverkäuÀiche Medikamente oder Behandlungen bezahlt werden. Das ist insofern bemerkenswert, da es noch vor 10 oder gar 20 Jahren absolut unwahrscheinlich gewesen wäre, solche in Relation zum Haushaltseinkommen hohen Summen für sich selbst auszugeben. ƒ
„Bei meiner Frau, da machen wir jetzt schon Jahre diese sogenannte Mistelkur. Und die kostet 170 Euro und ich sag mal die reicht 1 ½ Monate. Das sind drei Mal sieben, das sind 21 Spritzen. Jeden zweiten Tag; also es sind 42 Tage. Ja sehen Sie, das kommt hin. Für 1 ½ Monate kostet das 170 Euro und das machen wir natürlich, weil es für sie ein gutes Gefühl ist. Das nimmt meine Frau wegen der Krebserkrankung. Da gibt es Leute, die schwören drauf und da gibt’s auch Studien, die das belegen. Die Schulmedizin ist da eher zurückhaltend. Und das ist dann halt etwas, sie hat dann das Gefühl – und das denke ich jetzt – sie tut was. Allein das zu wissen, ‚ich tu da was dagegen, dass da nichts mehr kommt‘. Und das ist halt diese Angst, die ihr im Nacken sitzt.“
Verordnete Kuren, Physiotherapien oder Massagen werden gerne in Anspruch genommen. Man sieht in ihnen einen großen Nutzen zur effektiven Regeneration und um während der Maßnahme alte Gewohn heiten zu ändern. Auch ist eine Kur für die oft nicht sehr reisefreudigen Traditionsverwurzelten mit einem willkommenen Ortswechsel und neuen Anregungen verbunden.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Wir fahren jetzt Anfang September zusammen zwei Wochen nach Bad Füssing. Also das ist auch mit ein Thema Gesundheit. Ich denke mal da sind die Thermen im Wasser, die tun uns gut und diese Massagedüsen. Vielleicht lassen wir uns noch vom Arzt die ein oder andere Massage verschreiben.“
Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Es ist ein spannender Befund, dass der Einzelne subjektiv das Gefühl hat, medizinisch gut versorgt zu werden – gleichzeitig jedoch das Gesund heitssystem in Deutschland als grundlegend krank und reformbedürftig wahrnimmt. ƒ
„Wir haben doch – ich weiß es jetzt nicht genau, das hört man ja immer wieder – eine der besten Gesundheitsversorgungen oder die beste Medizin der Welt. Das ist doch ein Glück in unserem Land leben zu dürfen und zu können.“
Traditionsverwurzelte betonen sehr stark die Not wendigkeit zu sparen, fürchten aber, dass Sparmaßnahmen der Gesundheitspolitik und der Krankenkassen auf den Schultern der Kassenpatienten ausgetragen werden, während (weiterhin) Gelder anderswo verschwendet werden. Bemängelt wird in diesem Zusammenhang die allzu große Bürokratie, die unnötig viele Gelder verschlingt. Ein weiteres Beispiel ist der Arzneimittelsektor: Unverständlich ist z. B., dass viele verschreibungspflichtigen Medikamente im Ausland signifi kant günstiger sind. Auch machen viele Traditionsverwurzelte die Erfahrung, dass ihnen seit langem verschriebene und gut vertragene Medikamente nun verweigert und durch gleichartige Arzneimittel anderer Hersteller ersetzt werden. Hier beobachtet man sensibel, dass diese teilweise nicht ganz so gut verträglich sind und es besteht eine große Angst davor, dass diese Medikamente – trotz gegenteiliger Beteuerung der Akteure – nicht so wirksam sind. ƒ
„Mein Mann z. B., der muss ungefähr zehn Medikamente einnehmen seit seinem Herzinfarkt. Er hat jetzt einige, die sind nun von einer anderen Firma, und bei dem Blutverdünner, den hat er dann einfach nicht mehr so vertragen.“
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„Man hört ja auch, z. B. im Fernsehen, dass diese Tabletten nicht so gut gepresst sind. Was weiß ich, ob die nicht weniger wirksam sind. Und dann sind wir die Versuchskaninchen.“
So wird etwa auch der zunehmende Wettbewerb der gesetzlichen Kranken kassen kritisch betrachtet: Mehr Kassen bedeuten auch einen proportional größeren Verwaltungsaufwand und dadurch einen höheren Geldbedarf. Die Sorge ist groß und wird im Milieu sehr pauschal geäußert, dass die gesundheitliche Versorgung in Zukunft eher schlechter werden wird. Sparsamkeit ist im Milieu der Traditionsverwurzelten eine typische Tugend: Genau wird kontrolliert, welche Leistungen den (gesetzlich) Versicherten ohne zusätzliche Kosten zukommen und welche Kosten entstehen z. B. durch Rezeptgebühren, Zuzahlungen im Krankenhaus, bei verordneten Massagen oder Physiotherapie. So begrüßen es Traditionsverwurzelte einhellig, dass seit kurzer Zeit für manche ihrer verschreibungspÀichtigen Medikamente keine Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung stark ausgeprägt, dass die Bürger immer häu¿ger und mehr zur Kasse gebeten werden, wenn es um ihre Gesundheit geht. Ein Trend, der in ihren Augen anhalten und sich sogar noch verstärken wird. Lange Wartezeiten sind Traditionsverwurzelten ein Dorn im Auge: Als vergleichsweise häu¿ge Arztbesucher beklagen sie massiv, dass ihnen durch lange Wartezeiten viel Zeit verloren geht. Bemängelt wird die Praxis, Privatpatienten schneller mit Terminen zu versehen und diese auch nicht so lange warten zu lassen. ƒ ƒ
„Ich ¿nde es nicht gerecht, wenn man als Privatversicherter – da gehöre ich ja auch dazu – von heute auf morgen einen Termin bekommt, und als normal Versicherter musst du wochenlang warten.“ „Privat bekommt man sofort einen Termin. Als Kassenpatient wartet man manchmal wochenlang, z. B. für einen Termin fürs MRT. Dann kommt man sich schon vor wie das Letzte.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Das Gesundheitssystem wird als ungenügend bewertet: Dies kritisieren insbesondere jene, die aufgrund von Alter und Krankheit häu¿ger zum Arzt gehen, auch häu¿ger Krankenhausaufenthalte erlebt haben und insgesamt mehr Leistungen in Anspruch nehmen mussten und müssen. Am schlechtesten geht es – so die Wahrnehmung – im Gesundheitssystem jenen Menschen, die alt und hilÀos sind, die keine Angehörigen haben, die sich um sie kümmern.
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Probleme des Gesundheitssystems entstehen durch die begrenzten Budgets für Ärzte. ƒ
„Aber diese Begrenzung von Möglichkeiten ¿ nanzieller Art, das wirkt sich dann auch auf uns Patienten aus, denke ich. Also es gibt ja Ärzte, auch in Goldbach, die machen teilweise ihre Praxis zu. Die sagen, ‚wir haben jetzt drei Tage zu, weil unser Budget ist schon lange alle, schon lange verbraucht‘. Und die machen die Praxis zu ! Ich nenne jetzt keinen Namen, aber das hat man jetzt hier schon erfahren; die Praxis ist drei Tage zu nächste Woche. Aus dem Grund, dass sie nicht für nichts schaffen wollen. Und das ¿nde ich auch in Ordnung. Wer will schon für nichts eine Leistung bringen ?“
Große Sorge besteht davor, dass aus Kostengründen der Hausarzt in seiner Funktion durch „Gesundheitszentren“ abgelöst wird. Hier ist es vor allem die Angst vor der Anonymität, vor wechselnden Mitarbeitern der Zentren und letztlich davor, nur eine „Nummer“ zu sein und nicht mehr als Mensch mit seinen Sorgen und Nöten wahrgenommen zu werden. Das Sparpotenzial solcher Zentren wird nicht gesehen: Da hier eine Vielzahl von Ärzten tätig sei, müsse man als Patient jedes Mal von neuem seine Krankheitsgeschichte erzählen, was zeitauf wendig und damit teuer wäre. Kaum ein Traditionsverwurzelter, der nicht mehrere Krankenhausaufenthalte erlebt hat. Die Erfahrung ist häu¿g, dass insbesondere Menschen ohne Angehörige oder regelmäßige Besuche nur unzureichend „versorgt“ werden: Sie liegen sich z. B. häu¿ger wund, erhalten weniger zu Trinken, müssen auf Untersuchungen länger warten etc. Der Schluss daraus: Menschen, die einen stationären Krankenhausaufenthalt erleben, brauchen Angehörige als Netz: Diese erkämpfen das notwendige „Mehr“ an Behandlung und Zuwendung, was eigentlich normaler Standard sein müsste. ƒ
„Gucken Sie mal in den Krankenhäusern, wie viele Patienten da eine Schwester betreuen muss; was die für einen Durchlauf haben. Das ist schade, dass die Menschlichkeit so zu kurz kommt, denke ich. Denn alle, die dort behandelt werden, sind ja irgendwo in Not, bedürfen eines Zuspruches und einer Zuwendung. Von Altenheimen und PÀegeheimen ganz zu schweigen“
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Die Verantwortung für die schlechten Bedingungen im Krankenhaus sowie in der AltenpÀege übernimmt – so die Wahrnehmung der Traditionsverwurzelten – niemand. Sie wird jeweils an andere Akteure delegiert: Die Krankenkasse ist schuld, wenn eine bestimmte Leistung nicht erbracht werden kann. Die Kasse sagt, der Arzt sei schuld, wenn er diese nicht verschreibt usw. Dies führt dazu, dass nur derjenige überhaupt eine sinnvolle Behandlung erfährt, der hartnäckig, unbequem ist und immer wieder an den Entscheidungsstellen nach hakt. Chancengerechtigkeit Traditionsverwurzelte nehmen sehr stark wahr, dass Privatversicherte bestimmte attraktive Leistungen erhalten, die dem „gewöhnlichen“ Kassenpatienten nicht gewährt werden – und dies, obwohl sie beiden Gruppen gleichermaßen zustehen. ƒ
„Ja wichtig ist mir halt dann, dass weniger Betuchte sich das sozusagen leisten können zum Arzt zu gehen. Dass aufgrund von Sparmaßnahmen die Gesundheit halt auch nicht auf der Strecke bleiben soll.“
Traditionsverwurzelte befürchten massiv, dass ältere und alte Menschen in Zukunft vom Gesundheitssystem (weiter) benachteiligt werden. Dies betrifft zum einen die Reduktion von Leistungen für diese Personengruppe, zum anderen die menschliche Zuwendung und PÀege in Krankenhäusern und auch Seniorenheimen. Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Traditionsverwurzelte sind fest überzeugt, dass sich die ¿nanzielle Lage im Gesundheitssystem weiter verschlechtern wird. Sie fänden es unter dem Aspekt der Gerechtigkeit fair, wenn jene Menschen, die entweder einem riskanten Hobby mit hohem Verletzungsrisiko nachgehen oder aber jene, die ein gesundheitsschädliches Verhalten zeigen (durch Rauchen, Alkohol, ernährungsbedingtes Übergewicht etc.) in Zukunft auch stärker an den Kosten für das Gesundheitssystem beteiligt würden. ƒ
„Dass das die Gesellschaft mitträgt, ¿nde ich irgendwo nicht so richtig in Ordnung.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Das ist dann irgend so eine Bösartigkeit, wo einer mit seiner Gesundheit frevelt. Und das ist das Rauchen, das ist der Alkohol, das ist irgendwas Nichts-tun für Herz und Kreislauf. Da gibt’s ja auch so Schmarotzer die sagen ‚ich mache gar nichts‘. Das bewahrt einen ja nicht vor Krankheiten, aber ich denke es ist ein Unterschied, ob ich was für meinen Kreislauf getan habe oder ob ich dann irgendwas dran habe an den Herzkranzgefäßen Bei solchen Sachen ¿nde ich gehört ein Risikoaufschlag drauf gemacht für die Beiträge oder für Arztkosten oder sowas.“
MAINSTREAM MILIEUS
SINUS B2: „Bürgerliche Mitte“ Kurzcharakterisik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus B2 „Bürgerliche Mitte“ Lebenssituation
x Ganz überwigend verheiratet x 3- und Mehr-Personen-Haushalte, kinderfreundliches Milieu
Bildung
x Quali¿zierte mittlere Bildungsabschlüsse (Hauptschule bzw. mittlere Reife mit anschließender Berufsausbildung)
Beruf
x Einfache / mittlere Angestellte und Beamte sowie Facharbeiter x Überdurchschnittlicher Anteil von Teilzeitbeschäftigten und Hausfrauen x Vergleichsweise hoher Anteil von Beschäftigten im öffentlichen Dienst
Einkommen
x Mittlere Einkommensklassen (Schwerpunkt: bis 3.000 Euro monatliches Haushaltsnettoeinkommen) x Etwa ein Fünftel gehört zu den Besserverdienenden (monatliches Haushaltsnettoeinkommen über 3.000 Euro)* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.277 Euro
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Bürgerliche Mitte ist der statusorientierte Mainstream. In gut gesicherten Verhältnissen zu leben, ist das Ziel der meisten Milieuangehörigen. Je unsicherer die Zeiten, desto stärker versucht man, sich durch Leistung, Zielstrebigkeit und Anpassung zu behaupten und beruÀich erfolgreich zu sein. Andererseits realisiert man aber auch die Grenzen solcher Anstrengungen. Durch die wirtschaftlichen und politischen Reformen brechen immer mehr gewohnte Sicherheiten und bislang wahrgenommene Wohlstandschancen weg. Aus dem milieutypischen Streben nach Balance von Arbeit und Freizeit, nach einem harmonischen privaten Umfeld von gleichgesinnten, wohlsituierten Freunden, hat sich mehr und mehr die Tendenz zu RealitätsÀucht und Abschottung entwickelt: Cocooning („sich einigeln“) in verschärfter Form. Trotz hoher Leistungsbereitschaft, Anpassung und Flexibilität fühlt sich die Bürgerliche Mitte als eigentliche Verliererin der wirtschaftlichen und politischen
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Entwicklung – Eigenheimzulage, kostenloses Studium für die Kinder, Krankenversicherung, Altersvorsorge, alles gekürzt oder gestrichen. Angesichts der Massenentlassungsschübe auch pro¿tabler Unternehmen sieht das Milieu seine Zukunft bedroht. Altersaufbau des Sinus-Milieus B2 „Bürgerliche Mitte“
Wie bei Etablierten und Postmateriellen sind auch im Milieu der Bürgerlichen Mitte die mittleren Altersgruppen am stärksten besetzt. Der Schwerpunkt liegt zwischen 30 und 60 Jahren. Nur ein Fünftel der Milieuangehörigen ist über 60 und nur ein knappes Fünftel unter 30. Der Alters-Median liegt bei 45. Bei der Bürgerlichen Mitte handelt es sich um ein stark familienorientiertes Milieu mit breitem Altersspektrum. In vielen Fällen leben Kinder im schulpÀichtigen Alter im Haushalt. Die Bürgerliche Mitte kennzeichnet der Wunsch, in materiell und emotional gesicherten Verhältnissen zu leben und Spannungen zu vermeiden. Gesicherte Verhältnisse bedeuten zum einen die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Viele Milieuangehörige sehen sich in der heutigen Zeit im Berufsleben einem sich verstärkenden Druck ausgesetzt, dem sie die Spitze dadurch nehmen wollen, dass sie sich auf „Besitzstandswahrung“ als Angestellte in soliden, mittleren Positionen beschränken und auf ausgeprägte Aufstiegsambitionen verzichten. Zum anderen gehört zum Gefühl der Sicherheit der Halt, die Harmonie und Geborgenheit in der Familie. Dabei steht das Wohlergehen der Kinder im Mittelpunkt. Der Alltag der Bürgerlichen Mitte fokussiert dementsprechend gleichberechtigt auf Berufsleben und Zeit mit der Familie. Es bestehen klare Strukturen und Routinen: gemeinsame Mahlzeiten, vertraute und verlässliche Arbeitszeiten, verschiedene (altersabhängige) Aktivitäten mit den Kindern. In vielen Fällen sind die Familien zur Sicherung des Lebensstandards und zur Befriedigung von Konsumwünschen auf die Berufstätigkeit der Mutter angewiesen. Allerdings erachtet die Bürgerliche Mitte es als ideal, die Kinder über einen längeren Zeitraum selbst zu betreuen und die Erziehung nicht in frühen Jahren an Fremde zu delegieren.
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Die Rollenverteilung im Haushalt ist eher traditionell: Im häu¿g gelebten Zuverdienermodell ist die Frau teilzeitbeschäftigt und über nimmt das Gros der häuslichen Ver pÀichtungen. Dies wird von vielen Frauen als Belastung empfunden, was nicht selten zu einem Gefühl der Überforderung führt und sich negativ auf die Gesundheit auswirkt. Menschen der Bürgerlichen Mitte meiden nach Möglichkeit Konfrontationen und KonÀikte und versuchen deshalb, sich mit Partner und Mitmenschen weitestgehend zu verständigen. Dies dient dem Selbstschutz und der Sicherung der psychischen Stabilität, die als Basis für die persönliche Gesundheit gesehen wird. Zur Gesunderhaltung gehört auch die PÀege sozialer Kontakte, die allerdings aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der Familie häu¿g zu kurz kommt. ƒ ƒ
„Ich würde mich gerne häu¿ger mit meinen Freundinnen treffen, aber dafür habe ich meist keine Zeit.“ „Mein Kalender ist praktisch voll, in der Regel hat einer von beiden immer einen Termin. Entweder Sport, Unterricht oder Verabredungen, für mich bleibt da häu¿g keine Zeit.“
Das Thema Gesundheit ist bei der Bürgerlichen Mitte integrativer Bestandteil einer bewussten Lebensführung. Allerdings versucht man, nicht zu streng mit sich ins Gericht zu gehen und die Sorge um die Gesundheit nicht zu stark in den Vordergrund zu stellen. Der ständige Gedanke, ob das eigene Verhalten richtig und „gesund“ ist, wird als unnötiger Druck empfunden. Die Bürgerliche Mitte betont den Zusammenhang von physischer und psychischer Gesundheit. Dies wird als ein sich gegenseitig bedingendes System gesehen. ƒ
„Vielleicht hat mir mein Körper schon viel gesagt, wo ich nicht zugehört habe.“
Einstellungen und Lebensweisen, die vor Jahren nur den nachhaltig ausgerichteten Lebensstil der Postmateriellen prägten, sind jetzt auch in der breiten Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine bewusste, ausgewogene Ernährung, Stressvermeidung, seelisches Gleichgewicht gelten als erstrebenswert in der eigenen Lebensführung. Man fühlt sich dabei nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch seiner Familie gegenüber verantwortlich. Allerdings klaffen Anspruch und Wirklich keit bei der Bürgerlichen Mitte oftmals weiter auseinander als bei den Postmateriellen. Spannungen und Berufsängste lassen sich im Alltag eben doch nur schwer vermeiden und werden als (Co-) Determinanten diverser Krankhei-
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ten identi¿ziert, z. B. Krebserkrankungen, Rückenleiden, aber auch die generelle Anfälligkeit für Infektionen wie Erkältungen oder Grippe. Als wichtige Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben gilt unter Menschen der Bürgerlichen Mitte eine gewisse Lebenszufriedenheit. Die eigenen Ansprüche bleiben dabei in der Regel realistisch, jedoch statusorientiert. Denn wenn auch der Schwerpunkt für Zufriedenheit auf der emotionalen Ebene liegt (Erziehungserfolge und das Wohlergehen der Kinder haben höchste Priorität), so verliert die Bürgerliche Mitte materielle Aspekte nie völlig aus den Augen, da diese zur Abgrenzung „nach unten“ unerlässlich sind und vor dem Absturz in ein wie auch immer geartetes Prekariat schützen (z. B. kostenintensive Ausbildung als Bollwerk gegen sozialen Abstieg bzw. Garant für Statuserhalt oder -verbesserung). ƒ ƒ ƒ ƒ
„Das wichtigste sind meine Kinder. Wenn es ihnen gut geht, geht es mir auch gut. Umgekehrt genauso.“ „Die Kinder sind das Allerwichtigste, und wenn man ihnen eine gute und umfassende Ausbildung ermöglichen will, braucht man gewisse ¿nanzielle Ressourcen.“ „Erstmal braucht man ¿nanzielle Sicherheit, dann hat man mehr Möglichkeiten, z. B. in der Ausbildung.“ „Man muss seine Kinder fördern. Dazu gehört auch die Musikschule und andere Dinge, die alle Geld kosten.“
Wie in allen Belangen möchten Menschen der Bürgerlichen Mitte auch hinsichtlich einer gesunden Lebensweise nicht übertreiben und keinesfalls über das Ziel hinausschießen. Eine asketische Lebensweise, die zu einem Gefühl des Mangels und der Entbehrung führt, wird als kontraproduktiv erachtet, da auf diese Weise die innere Zufriedenheit verloren geht. In Folge dessen werden (in Maßen !) auch Verhaltensweisen und Gewohnheiten toleriert, die einer gesunden Lebensweise augenscheinlich widersprechen: der Genuss von Süßigkeiten, gelegentlicher Alkoholkonsum oder auch einmal Fast Food und Convenience-Produkte. ƒ ƒ
„Ich esse jetzt nicht nur Bio und Vollkorn, ich verzichte auch nicht auf Schokolade. Ich will mich ja nicht total einschränken, das kann ja auch nicht gesund sein.“ „Wenn man mal unterwegs bei McDonald’s isst, dann ist es auch nicht schlimm.“
Es wird Sport getrieben, allerdings freizeitorientiert und ohne höhere Ambitionen. Beliebt sind Fahrradfahren, Joggen, Inline-Skaten, Walking oder Schwimmen.
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Mitgliedschaften in Sportvereinen haben häu¿g einen eher geselligen denn wettkampfsportlichen Charakter, und obwohl teilweise auch Mitgliedschaften in Fitness-Studios bestehen, so sind die tatsächlichen Besuche dort höchst unregelmäßig. In der Bürgerlichen Mitte hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Bewegung unerlässlich ist für die Gesundheit, aber man möchte sich weder quälen noch überfordern. Oft wird Sport getrieben, um abzuschalten und aus den festen Strukturen des Alltags ein Stück weit herauszutreten; er dient somit sowohl der mentalen Erholung als auch der Steigerung der Fitness und Leistungsfähigkeit. Bedeutung von Gesundheit Entsprechend der lebensweltlichen Orientierung wird Gesundheit in der Regel nicht nur „passiv“ durch das Fehlen von Krankheit, sondern auch „aktiv“ über die körperliche Fitness und psychische Belastbarkeit de¿niert. Man ist gesund, wenn man für die Herausforderungen des täglichen Lebens gerüstet ist. ƒ ƒ
„Gesundheit heißt, sich ¿t zu fühlen, mobil zu sein, nicht eingeschränkt sein. Alles tun können, was einem der Alltag abverlangt.“ „Die Seele ist die Basis für alles andere; wenn man sich nicht gut fühlt und unzufrieden ist, dann wird man auf Dauer auch krank.“
Obwohl das Thema „Gesundheit“ für Menschen der Bürgerlichen Mitte von hoher Bedeutung ist, versucht man sich im Alltag von negativen Gedanken und Ängsten frei zu machen. Eine aktive Auseinandersetzung ¿ndet daher häu¿g erst im akuten (Krankheits-) Fall statt: Das milieutypische Streben nach Harmonie manifestiert sich in der Einstellung, sich nicht mit Problemen zu belasten, bevor sie überhaupt in Erscheinung treten. Gesundheit bedeutet Erhalt der eigenen Leistungsfähigkeit, die man benötigt, um einerseits seinen Beruf voll ausüben zu können und um andererseits noch genügend Kraft für die familiären PÀichten zu haben. Der Anspruch an die körperliche Fitness ist dabei pragmatisch und an den tatsächlichen Belastungen ausgerichtet; dennoch besteht in der Realität häu¿g eine Diskrepanz zwischen Ambitionen und Status Quo. Aktivitäten, die der Gesundheit und der körperlichen Fitness förderlich wären, werden immer wieder vernachlässigt, da einerseits am Ende eines schweren Arbeitstages oft die Motivation fehlt, und andererseits einfach keine Zeit für persönliche Aktivitäten bleibt, weil die Kinder in der Planung Vorrang haben. In vielen Fällen wird die Bedeutung von Gesundheit oder Krankheit von „bürgerlichen“ Eltern nicht auf sich selbst, sondern auf die Kinder projiziert. Ihnen gilt zuallererst die Aufmerksamkeit, wenn es um Vermeidung bzw. Vorbeugung von
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Krankheiten / Erhalt der Gesundheit geht. Sich selbst und die eigene Gesundheit sehen sie oftmals als zweitrangig an. Menschen der Bürgerlichen Mitte versuchen, auch im Krankheitsfall nicht zu resignieren. Chronische Krankheiten werden z. B. als „lästige Nebensache“ deklariert, an die man sich gewöhnt hat und die in den Alltag integriert wurde. Krankheiten zählen zu denjenigen Dingen, die das Leben nicht zu sehr belasten dürfen (Verlust der inneren Balance); es wird ihnen daher keine zentrale Rolle in der Lebensgestaltung zugestanden. Subjektiv fühlt man sich denn auch weitgehend gesund; der eigene Gesundheitszustand wird von den meisten Milieuangehörigen sogar als gut bewertet. ƒ ƒ
„Das mit dem Herz sind eben so Sachen, damit kann man eigentlich gut leben, bin ja dennoch gesund !“ „Ich habe halt dieses Problem mit dem Knie, aber ich bin ja trotzdem gesund, ich fühle mich gut. Darauf kommt es ja an.“
Zwischen Schicksal und Verantwortung Generell sieht sich die Bürgerliche Mitte in Bezug auf die eigene Gesundheit in hohem Maße selbst verantwortlich, da mannigfaltige Möglichkeiten existieren, durch persönliches Verhalten die Gesundheit zu fördern bzw. Krankheiten auszulösen. So wird von Menschen der Bürgerlichen Mitte als Ursache vieler Krankheiten eine falsche Lebensführung benannt. Um sich gesund zu halten und wohl zu fühlen, streben sie daher eine ausgewogene Ernährung, sportliche Betätigung und die Vermeidung von Stress und Überlastung an. Auch ausreichend Schlaf und die Einhaltung von Essenszeiten und Tagesstrukturen, d. h. ein Leben in geordneten, vorhersehbaren Bahnen, geben Sicherheit und Halt und stellen wichtige Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Krankheiten dar. ƒ ƒ ƒ
„Wir versuchen einen möglichst geregelten Tagesablauf einzuhalten. Das sind dann einfach Rituale, die beruhigen und wichtig sind.“ „Auch für die Kinder brauchen wir einfach klare Strukturen, an die sich alle halten. Zumindest, dass wir alle einmal am Tag zusammen essen und dass man sich auch an bestimmte Essenszeiten gewöhnt.“ „Die Ursachen liegen doch schon im Kindesalter. Wenn man als Kind schon immer falsch isst und dick wird, dann kann das im späteren Leben nicht gut gehen.“
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Allerdings konstatieren Menschen der Bürgerlichen Mitte, dass besonders in dem Altersspektrum, in dem sie sich be¿ nden, einseitige Belastungen sowie zunehmender Stress bei der Arbeit und im Haushalt Risikofaktoren sind, auf die sie nur bedingt EinÀuss haben. Es existieren Zwänge bzw. äußere Umstände (wie die allgemeine wirtschaftliche Situation oder auch die latente Arbeitsplatzunsicherheit), die weder selbstverschuldet noch selbstgewählt sind – auch wenn natürlich der milieutypische Wunsch, zumindest den Status quo des eigenen Lebensstandards zu halten und seinen Kindern weiteren sozialen Aufstieg zu ermöglichen, hier sein ScherÀein zum Stressaufbau beiträgt. ƒ ƒ ƒ
„Ich musste eine Zeit lang täglich vier Stunden im Zug sitzen und dann noch 8 Stunden im Büro arbeiten. Das war der Horror, auf Dauer wäre ich daran kaputt gegangen.“ „Die Belastung im Job ist momentan ziemlich hart. Man kann innerlich einfach nicht zur Ruhe kommen.“ „Ich habe jetzt häu¿g wechselnden Schichtdienst. Das ist auf Dauer eine krasse Belastung, aber dagegen kann ich momentan nichts machen. Ist nun mal mein Job.“
Darüber hinaus betrachtet die Bürgerliche Mitte bestimmte Krank heiten als genetisch bedingt und daher als weder beinÀuss- noch vermeidbar. Dies relativiert zwar den eingangs erwähnten Stellenwert der Eigenverantwortung, bezieht sich aber nur auf einen eher kleinen Teil der möglichen Krankheiten. Desweiteren fallen Unfälle in die Kategorie „nur bedingt beeinÀussbare Risiken“, und mit zunehmendem Alter gelten bestimmte Erkrankungen als unvermeidbares „Schicksal“, das man einfach tragen muss. Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Die Bürgerliche Mitte zeigt ein insgesamt überdurchschnittliches Interesse an Themen rund um die Gesundheit, wobei es aber eher die Frauen sind, die sich aktiv infor mieren. Viele Männer meiden die Auseinandersetzung, da sie Berichte über Erkrankungen, aber auch über „gesunde Lebensweisen“, als Bedrohungsszenario bzw. unverhältnismäßige Belastung emp¿nden. Es besteht in der Bürgerlichen Mitte ein genereller Bedarf an objektiver, unabhängiger Information. Man schaut sowohl Berichte und Reportagen im Fernsehen und liest auch Artikel in Zeitschriften. Allerdings wird an mancher Stelle kritisiert, dass die Berichterstattung zu Gesundheitsthemen im Fernsehen oftmals entweder nicht seriös (Privatsender mit kommerziellen Interessen) oder zu stark
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auf eine ältere Zielgruppe ausgerichtet ist. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen genießt aber prinzipiell einen Vertrauensvorschuss. ƒ ƒ
„Dem Fernsehen kann man auch nur bedingt trauen, da sind immer verschiedene Interessen mit im Spiel.“ „Manche Ratgebersendung sind ganz interessant. Die geben auch ganz praktische, nützliche Tipps.“
Bei konkretem Informationsbedarf wird im Internet recherchiert oder die Beratung der Krankenkasse in Anspruch genommen, wobei der persönliche, vertrauensvolle Kontakt der anonymen Information vorgezogen wird. Dennoch gewinnt das Internet als zusätzliches Informationsangebot zunehmend an Bedeutung. Als erster Einstieg wird eine bestimmte Krankheit oder ein Leiden „gegoogelt“, die konkrete Recherche konzentriert sich dann aber vor allem auf Wikipedia oder Diskussionen in Patientenforen. Einen noch höheren Stellenwert als die Informationen aus den Medien haben für Menschen der Bürgerlichen Mitte die Erfahrungen im Freundes- und Bekanntenkreis. Von ihnen erhofft und erwartet man sich die objektivsten und persönlich relevantesten Informationen. Auch der Arzt gilt als grundsätzlich vertrauenswürdige und kompetente Informationsquelle, da er der Fachmann und zudem am besten mit der persönlichen gesundheitlichen Verfassung vertraut ist. Allerdings hängt diese Bewertung sehr stark vom Arzt-Patient-Verhältnis ab. In vielen Fällen wird ein Mangel an Empathie und Fürsorge beklagt. ƒ
„Ich spreche am ehesten mit Freunden über deren Erfahrungen, das ist einfach am nächsten und da ist auch das Verständnis da.“
Zu den eher selten genutzten Informationsquellen gehören die Zeitschriften der Krankenkassen und der Apotheken. Häu¿g besteht nur ein geringer Bezug zu den behandelten Themen, die als Angebote für ältere Zielgruppen betrachtet werden. Auch Informationsveranstaltungen der Krankenkassen werden nur vereinzelt besucht, dann aber als sinnvolle und interessante Möglich keit wahrgenom men, sich zu einem bestimmten Thema zu informieren und sich mit „Leidensgenossen“ auszutauschen. ƒ
„Man kann auf solchen Veranstaltungen auch ein eigenes Feedback geben, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse mitteilen. Man fühlt sich da verstanden und hofft, dass auch etwas passiert.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Entsprechend dem langfristig planenden Lebensstil der Bürgerlichen Mitte hat der Erhalt der Gesundheit einen hohen Stellenwert, und vorbeugende Maßnahmen spielen dabei eine besondere Rolle. Dies ist man nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Kindern schuldig. Menschen der Bürgerlichen Mitte setzen sich intensiv mit dem Thema auseinander und sehen vielfältige Präventionsmöglichkeiten. Die im Milieu angestrebte stabile psychische Grund konstitution gilt als zentrales Element zur Vermeidung von Krankheiten. Ein Zustand innerer Ruhe und Ausgeglichenheit hat Schutzfunktion, und um diesen Zustand herbeizuführen, werden bestimmte Rituale gepÀegt. Hierzu gehören feste Essenzeiten oder bestimmte Termine, die regelmäßig eingehalten werden (z. B. Verabredungen mit Freunden oder Freizeitaktivitäten wie der Sonntagsspaziergang). Auch die Schlafenszeiten variieren nicht stark; sie markieren den Abschluss eines wohlstrukturierten Tages und bilden die Grundlage für den Start in den neuen. Zudem wird eine gesundheitsbewusste Ernährung als wichtige Basis für die persönliche Gesundheit gesehen. Familien der Bürgerlichen Mitte versuchen – soweit es die Arbeitsbelastung zulässt – zumindest eine Mahlzeit täglich frisch zu kochen. Dabei wird auf eine abwechslungsreiche, hochwertige Auswahl an Zutaten
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geachtet. Um den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Familie Rechnung zu tragen ist man aber bereit, von einem strikten „Speiseplan“ auch einmal abzuweichen und geschmackliche Aspekte über ernährungsphysiologische zu stellen. Grundsätzlich bemüht man sich, weniger Fleisch und Fett und dafür mehr Obst und Gemüse zu essen, kann dies allerdings nicht immer konsequent einhalten. Das Vermeiden von Übergewicht gilt als weitere wichtige Präventionsmaßnahme. Allerdings merken Menschen der Bürgerlichen Mitte oft selbstkritisch an, dass sie eine stringent gesunde Ernäh rungsweise noch nicht gefunden haben. Aus Stress oder Überforderung geborene falsche Essgewohnheiten, die anschließend durch Diäten oder kurzfristige Ernährungsumstellungen wieder ausgeglichen werden, bewirken bei so manchen ein Jo-Jo-artiges Ab- und Zunehmen. Dies in den Griff zu bekommen stellt eine besondere Herausforderung für die Bürgerliche Mitte dar, da sie sich der Konsequenzen ihres Handelns sehr bewusst ist. In diesem Zusammenhang wird auch die Einschrän kung bzw. die Vermeidung von schädlichen Genussmitteln wie Tabak oder Alkohol propagiert, was aber individuell unterschiedlich stark befolgt wird. ƒ ƒ
„Alkohol habe ich ganz stark reduziert. Ich könnte auch ganz aufhören. Aber nach der Arbeit zur Entspannung ein Glas Rotwein ist einfach auch gut für die Seele und das ist mindestens genauso wichtig.“ „Mein Mann isst jetzt viel mehr Obst und Gemüse und hat auch schon 10 Kilo abgespeckt, er fühlt sich jetzt auch viel besser.“
Auch der Vorbeugung bzw. Linderung von berufsbedingten Erkran kungen wird hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre Lebens- und Berufssituation prädestiniert die Milieuangehörigen z. B. für Rücken leiden. Maßnahmen wie eine korrekte Sitzhaltung, ausgleichende Bewegung und Training der Rückenmuskulatur sind hilfreich, setzen aber in vielen Fällen erst bei beginnenden Beschwerden ein. Dann jedoch bemüht man sich, ein rückenfreundlicheres Leben zu führen. Der Besuch einer Rückenschule würde – auch als reine Präventionsmaßnahme – von vielen sofort wahrgenommen, wenn eine Kostenüber nahme durch die Kassen gewährleistet wäre. Sport bzw. Bewegung ist ebenfalls integraler Bestandteil der Gesundheitsprävention in der Bürgerlichen Mitte. Vor allem Freizeitsport wie Radfahren, Gymnastik, Schwimmen oder Laufen wird betrieben, um sich ¿t und gesund zu halten und zu fühlen; man trainiert seltener im Fitness-Center oder in speziellen Kursen.
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Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Die Verhaltensweisen bezüglich des Arztbesuchs weisen in der Bürgerlichen Mitte zwei unterschiedliche Grundmuster auf. Ein Teil der Bürgerlichen Mitte vermeidet nach Möglich keit den Gang zum Arzt. Er gilt als Eingeständnis einer schwereren Erkrankung – ein Gedanke, der lieber verdrängt wird. Zudem besteht ein Zusammenhang zum häu¿g unbefriedigenden Arzt-Patient-Verhältnis. Lediglich die als notwendig erkannten Vorsorgeuntersuchungen werden in diesen Fällen regelmäßig wahrgenommen. Für den anderen Teil der Bürgerlichen Mitte gilt der Arzt als wichtiger, persönlicher Berater in Gesundheitsfragen. Arztbesuche sind diesen Fällen wesentlich häu¿ger und ¿nden aus geringeren Anlässen statt. Bereits bei kleineren Erkrankungen bzw. den ersten Anzeichen einer Krankheit wird Hilfe, Unterstützung und professioneller Rat gesucht, um die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. In der Bürgerlichen Mitte ist der Wunsch nach einem vertrauensvollen Verhältnis zum Arzt stark ausgeprägt. Man möchte sich auf ihn verlassen können und ein Gefühl der Sicherheit emp¿nden. Wenn dies nicht der Fall ist, wird der Arzt gewechselt. ƒ ƒ
„Ich möchte meinem Arzt vertrauen können, ich muss mich ja praktisch auf ihn verlassen.“ „Der eine Arzt hat nie richtig zugehört und einfach irgendwas verschrieben. Dann habe ich gewechselt.“
Als ideal für das Arzt-Patient-Verhältnis gilt ein offener und ehrlicher Umgang miteinander. Probleme sollten klar und deutlich angesprochen werden und der Arzt sollte sich einer klaren, verständlichen Sprache bedienen. Menschen der Bürgerlichen Mitte erwarten, dass sie auf Augenhöhe mit dem Arzt kommunizieren können. Eine herablassende Art, die dem Patienten vermittelt, dass er nicht ernstgenommen wird, trifft auf starke Ablehnung, auch wenn die unzweifelhaft höhere Kompetenz des Arztes in Gesundheitsfragen generell nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern schlichtweg erwartet wird. Weitere wichtige Beurteilungskriterien sind Erfahrung und Kompetenz. Dazu gehören vor allem Kenntnis und Anwendung moderner Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, aber auch die generelle Offenheit gegenüber natürlichen Behandlungsweisen. Viele Milieuangehörige konsultieren auch Heilpraktiker, da deren Therapien als ganzheitlicher und schonender wahrgenommen werden. Andere wünschen dagegen eine schnelle, effektive Therapie, um sich möglichst bald wieder den Herausforderungen des Alltags stellen zu können. Herbei spielt die Wahl der richtigen Medikation eine wichtige Rolle, aber im derzeitigen System
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haben viele Menschen der Bürgerlichen Mitte das Gefühl, als Kassenpatient aus Budgetgründen nicht das bestmögliche Medikament verschrieben zu bekommen. ƒ
„Ich habe früher Infusionen gegen meine Ohreninfektion bekommen, jetzt sagt mein Arzt, dass das nicht mehr bezahlt wird.“
Die Bürgerliche Mitte konstatiert bei vielen Ärzten auch einen eklatanten Zeitmangel, der es ihnen unmöglich macht, auf die Bedürfnisse der Patienten individuell einzugehen. Das Gefühl, eher oberÀächlich untersucht und behandelt zu werden, greift immer mehr Raum, und die Behandlung wird in zunehmenden Maße als reine Symptombekämpfung nach standardisiertem Muster empfunden. Einen Arzt zu ¿nden, der den persönlichen Anforderungskriterien entspricht, gestaltet sich oft als Problem. Es fehlen Möglichkeiten sich zu orientieren, da objektive Informationsquellen zur Wahl des Arztes meist fehlen. Gerade im städtischen Raum fällt es schwer, aus dem relativ großen Angebot den „richtigen, besseren“ Arzt auszuwählen. Daher ist räumliche Nähe häu¿g zentrales Auswahlkriterium, was aber zunehmend als unzureichend eingestuft wird. ƒ
„Ich wüsste nicht, wen ich da fragen sollte. Ich gucke einfach, wer gerade in der Nähe ist.“
Einnahme von Medikamenten Die Einstellung zu Medikamenten ist in der Bürgerlichen Mitte stark abhängig von der gesundheitlichen Situation sowie den unterschiedlichen Grundhaltungen und Lebenssituationen. Menschen der Bürgerlichen Mitte versuchen, tendenziell mit wenigen und dann möglichst schonenden Medikamenten auszukommen. Bevorzugt werden natürliche Präparate mit geringen Nebenwirkungen. Um auf stärkere Medikamente verzichten zu können, unter nimmt die Bürgerliche Mitte hohe Anstrengungen, Krankheiten zu vermeiden bzw. sie im Frühstadium zu erkennen und zu bekämpfen. Zudem ist die Angst vor medikamentöser Abhängigkeit groß, daher verwendet man Medikamente eher restriktiv. Bei Menschen mit chronischen Erkrankungen, die eine regelmäßige Medikation erfordern, sind Medikamente allerdings ein fester Bestandteil ihres Lebens. Den Anweisungen und Empfehlungen des Arztes wird meist vertraut und entsprochen. Hier besteht hohes Vertrauen zu den Medikamenten: Sie werden als unvermeidbar und die Lebensqualität garantierend angesehen.
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„Milde“ OTC-Medikamente ¿nden häu¿g Verwendung, besonders, wenn sie schnelle Abhilfe bei geringeren Beschwerden schaffen und man sich somit eine zusätzliche Belastung erspart. Hier legen Menschen der Bürgerlichen Mitte eine ausgeprägt pragmatische Haltung an den Tag. Vorsorgeuntersuchungen Die Bürgerliche Mitte zeigt sich proaktiv bei der Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen. Darunter fallen zahnärztliche Untersuchungen sowie die Krebsvorsorge beim Gynäkologen bzw. Urologen, aber auch hautärztliche Untersuchungen, internistische Check-ups und im weiteren Sinne auch die Teilnahme an Asthmabzw. Herz-Kreislauf-Programmen. Ausschlaggebend für die Nutzung ist die innere Überzeugung, dass Vorsorge ein Gebot der Vernunft und der Verantwortlichkeit ist. Empfehlungen der Krankenkasse und Bonusprogramme bieten darüber hinaus einen zusätzlichen Anreiz, sind aber nicht primär verhaltensbestimmend. Es gilt zudem in einigen Fällen als absolut unverständlich, dass bestimmte Vorsorgeuntersuchungen nicht von der GKV übernommen werden, obwohl sie langfristig vor schwer wiegenden Krankheiten schützen und den Kassen viel Geld sparen könnten (z. B. die J2-Untersuchung bei Jugendlichen im Alter von 17–18 Jah ren, die nur noch als sogenannte individuelle Gesundheitsleistung zur Verfügung steht).
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Zweiter Gesundheitsmarkt Die Bürgerliche Mitte erwartet grundsätzlich, dass Leistungen, die für die Behandlung einer Krankheit notwendig sind, auch von den Kran ken kassen übernommen werden. Individuell zu zahlende Leistungen werden daher eher skeptisch gesehen und selten in Anspruch genom men. Allerdings wird in diesem Zusammenhang kritisiert, dass bestimmte medizinisch durchaus angezeigte Leistungen wie Massagen und Krankengymnastik heute häu¿g aus dem Leistungskatalog herausfallen. Insgesamt spielen aber IGe-Leistungen eine eher untergeordnete Rolle und der Kenntnisstand diesbezüglich solcher Angebote ist eher gering. Wenn sie doch mit Leistungen des Zweiten Gesundheitsmarkts ver traut sind, so erachten viele Menschen der Bürgerlichen Mitte diese als recht teuer. Dies stellt – neben dem Zeitaspekt – die wichtigste Barriere dar, solche Angebote zu nutzen. Prinzipiell wird Interesse an vielfältigen Angeboten geäußert (vom YogaKurs über psychologische Hilfestellung bis hin zu Sport- und Gymnastikangeboten). In der Realität werden sie aber eher (noch) selten genutzt. ƒ ƒ
„Ich wollte eigentlich eine Rückenschule machen, aber das ist einfach zu teuer, das sprengt momentan den Rahmen.“ „Grundsätzlich könnte man schon noch mehr machen, wenn man gesundheitsbewusst ist. Aber da kommt natürlich auch noch der Faktor Zeit ins Spiel.“
In einigen Fällen zahlen Milieuangehörige Leistungen von Heilpraktikern selbst, wenn sie als zielführender und schonender als die klassische Schulmedizin beurteilt werden. Dies geht aber oft mit dem Wunsch einher, dass diese als wirksam erlebte Behandlungsmöglich keiten Kassenleistung sein sollten. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Die Gesundheitsversorgung wird trotz teilweise heftiger Kritik als im internationalen Vergleich immer noch gut angesehen. Die erwartete Funktion wird erfüllt, was bedeutet, dass allen Patienten im Bedarfsfall eine ausreichende Versorgung zur Verfügung steht. ƒ
„Es gibt natürlich Kritikpunkte, aber alles in allem können wir hier auch ganz froh sein, wenn man sich andere Länder anschaut.“
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Insgesamt gelten das medizinische Know-how, die Geräteausstattung und die Medi kamente als modern und „High Standard“, aber die Bürgerliche Mitte beschleicht mehr und mehr das Gefühl, dass die Leistungskürzungen im Bereich der GKV in Zukunft nicht mehr kompensiert werden können und sie als Kassenpatienten im Krankheitsfall nur mit den notwendigsten und nicht den besten und effektivsten Therapiemöglichkeiten zu rechnen haben. Menschen der Bürgerlichen Mitte beurteilen die zukünftige Ent wick lung des Gesundheitssystems also eher skeptisch. Als zusätzliches Problem wird die zunehmende Überalterung der Gesellschaft wahrgenom men, was zu höheren Ausgaben im Gesundheitssektor führt, während gleichzeitig die Zahl der Beitragszahler sinkt. Dies verschärft die Diskrepanz zwischen steigenden Kosten bei verminder ten Einnah men und dem Wunsch nach optimalen Leistungen bei gleichbleibenden Beiträgen. Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Das grundlegende Prinzip des Gesundheitssystems wird in der Bürgerlichen Mitte weder umfassend verstanden noch explizit hinterfragt. Man betrachtet dieses System als ein abstraktes, komplexes und hochgradig intransparentes Gebilde. Die Gesetzeslage wird zudem durch immer neue Regulierungen verkompliziert, und über die Kosten, die Verteilung der Ausgaben und den Leistungskatalog bestehen bei Menschen der Bürgerlichen Mitte kaum fundierte Kenntnisse. ƒ
„Ich weiß momentan überhaupt nicht mehr, was ich für Leistungen im Anspruch nehmen kann und was nicht. Ständig ändert sich irgendwas, auch was die ganze Bürokratie angeht, es muss immer mehr beantragt werden. Da blickt kein Mensch durch.“
Zur Behebung der immer wieder – auch medial – beklagten Finanzierungsmisere im Gesundheitssektor werden von der Bürgerlichen Mitte zwar Einsparmöglichkeiten grundsätzlich für möglich gehalten, allerdings existiert keine einheitliche Linie im Milieu. Viele Menschen machen hohe Ärztehonorare und überteuerte Medikamente für die derzeitige ¿nanzielle Krise verantwortlich, andere kritisieren eher die hohen Verwaltungskosten und das Überangebot an Krankenkassen, die im Grunde identische Leistungen anbieten. Worüber allerdings Konsens besteht, ist die Feststellung, dass sich die Einsparungen der letzten Jahre langsam und schmerzlich bemerkbar machen und als kontinuierlicher Reformprozess gegen die Mitte der Gesellschaft wahrgenommen werden. Menschen in der Bürgerlichen Mitte bemängeln, dass sie immer
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höhere Beiträge für immer weniger Leistungen zahlen. Das ständige Kürzen des Leistungskatalogs hat für sie die Schmerzgrenze erreicht, und sie erleben den Gesundheitssek tor als „Kampf des Patienten gegen die Institutionen“, d. h. notwendige Leistungen wie Kuren, Reha-Maßnahmen oder optimale Therapien, müssen „hart erstritten“ werden. Menschen der Bürgerlichen Mitte sehen sich als Opfer, auf deren Rücken die InteressenskonÀikte der unterschiedlichen Akteure (Ärzte, Krankenkassen, Pharmakonzerne und Politiker) ausgetragen werden. Wer am Ende zahlt, sind sie. ƒ
„Alle wollen sich die Taschen vollmachen, und am Ende zahlen es die Patienten mit höheren Beiträgen.“
Besonders die Pharmakonzerne stehen im Kreuzfeuer der Kritik: Ihnen wird unterstellt, sich auf Kosten der Patienten zu bereichern und durch ihre starke politische Lobby sinnvolle Reformen zu verhindern. Die Preise für Medikamente gelten als zu hoch, vor allem im Vergleich zum Ausland. ƒ
„Ich habe auch nicht die Hoffnung, dass sich etwas ändert, dafür haben die Pharmakonzerne zu viel politischen EinÀuss.“
Aber es hagelt auch Kritik an denjenigen Menschen, die gesund heitliche Beeinträchtigungen durch persönliches Fehlverhalten selbst verursachen, deren Kosten aber von der Solidargemeinschaft mitgetragen werden müssen – also auch durch die Beitragszahler, die gesundheitsbewusst leben. Insofern reklamiert die Bürgerliche Mitte ein höheres Maß an Eigenverantwortung, was sich auch in den Beiträgen bemerkbar machen könnte. Als vermeidbare Risikofaktoren gelten z. B. Rauchen, Alkoholkonsum, gefährliche Sportarten sowie durch falsche Ernährung und zu wenig Bewegung verursachtes Übergewicht. Hier ähneln sich Bürgerliche Mitte und Etablierte in ihrer Auffassung, dass grob fahrlässiges Fehlverhalten durch höhere Beiträge bestraft, eine gesunde Lebensweise dagegen belohnt werden sollte. Grundsätzlich wird das Konzept einer solidarischen Versicherung aber nicht in Frage gestellt. Die Bürgerliche Mitte äußert eher Kritik daran, dass Besserverdiener und Selbständige sich diesem Prinzip entziehen und sich privat versichern können.
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Chancengerechtigkeit Die Bürgerliche Mitte ist zu großen Teilen in den gesetzlichen Krankenkassen pÀichtversichert und emp¿ndet das derzeitige Kran ken kassensystem als ein Zweiklassen-System mit entsprechend unter schiedlicher Versorgung. Privatpatienten erfahren nicht nur keine Einschränkung des Leistungskatalogs (ihnen stehen alle Behandlungsmethoden, Apparate und Medikaments zu Verfügung), sondern auch einen deutlich besserer Service als Kassenpatienten (kürzere Wartezeiten und schnellere Terminvergaben), und es wird mit ihnen generell freundlicher und zuvorkommender umgegangen. Als gesetzlich Versicherter hat man häu¿g das Gefühl, als notwendiges Übel angesehen und schnell abgefertigt zu werden, was allerdings nicht allein den Ärzten, sondern dem gesamten System angelastet wird. Von den Einnahmen aus Honoraren, die die gesetzliche Kranken kassen zahlen, kann keine Praxis überleben. ƒ ƒ
„Gegenüber Privatpatienten verhalten sich die Ärzte doch ganz anders, da sind sie viel höÀicher und haben mehr Zeit.“ „Von Kassenpatienten kann doch heute kein Arzt mehr leben.“
Als zusätzlich ungerecht emp¿ndet die Bürgerliche Mitte, dass Privat patienten gegenüber Kassenpatienten oftmals nicht höhere Beiträge bezahlen müssen (private Versicherungsprämie für die Kategorie „jung, männlich, gesund“). Die Bemessungsgrenze für den Wegfall der VersicherungspÀicht gilt dabei als nicht nachvollziehbar. Hier wird von der Bürgerlichen Mitte, die viele Familien haben, wenig reÀektiert und berechnet, wie hoch bei ihnen eine private Krankenversicherung für alle Familienmitglieder wäre. Kassenpatienten erhalten nach Ansicht der Bürgerlichen Mitte nur eine Grundversorgung. Wahlmöglichkeiten, Rücksicht auf individuelle Bedingungen gebe es nicht. Die Versorgung für Kassenpatienten wird daher zwar als ausreichend, aber nicht als ideal empfunden, da ihnen die besten Therapie- und Behandlungsmethoden nicht offenstehen bzw. selbst bezahlt werden müssen. ƒ
„Die Versorgung ist zwar generell gegeben, aber wirklich zufrieden bin ich damit nicht.“
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Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Als am dringlichsten von Nöten wird eine stärkere Regulierung der unterschiedlichen Interessen im Gesundheitssystem eingestuft, da das bisherige System bzw. alle bislang verwirklichten Reformen nach Ansicht der Bürgerlichen Mitte immer zu Lasten der gesetzlich versicher ten Patienten gingen. Zwar traut man die Verwirklichung von manchen dabei anstehenden Aufgaben im Prinzip den Krankenkassen zu (Pharmakonzerne und Ärzte zu Zugeständnissen zu zwingen), aber auch die Krankenkassen sind selbst Akteur und Interessensverband „im großen Spiel“, daher wird in letzter Instanz der Politik die Aufgabe zugewiesen, endlich für Gerechtigkeit, Interessensausgleich, ¿ nan zielle Stabilisierung des Systems und Patientenschutz zu sorgen. Menschen der Bürgerlichen Mitte fordern zudem, dass am Standard der Versorgung für gesetzlich versicherte Personen keine weiteren Abstriche gemacht werden bzw. die Versorgung wieder an Qualität gewinnt. Um dies zu er reichen, plädiert man für die Rücknahme einiger Reformen, die in Wirklichkeit Rückschritte bedeuteten. Vor allem Zuzahlungen und Budgetobergrenzen für Ärzte sind der Bürgerlichen Mitte ein Dorn im Auge, da sie dazu führen, dass notwendige Behandlungen nicht mehr Kassenleistung sind und statt dessen zum Privileg Besserverdienender und zu Einnahmequellen für Ärzte mutieren. Um mehr Bewusstsein für Gesundheitsvorsorge zu schaffen und die Menschen dazu zu animieren, ihr Verhalten entsprechend umzustellen, wird eine stärkere Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens auch durch ¿nanzielle Anreize angedacht. Zudem sollten Vorsorgeuntersuchungen wie auch Schulungen und Kurse zu „gesünderem“ Verhalten (Rückenschule, Ernährungsberatung, Fitnessund Kraft training) offensiver beworben und unterstützt werden. Eine stärkere Betonung und Belohnung der Eigenverantwor tung wird begrüßt, da dies der Selbstwahrnehmung als besonders gesundheitsbewusstes Milieu entspricht und man erwartet, davon pro¿tieren zu können. Zudem wird in vielen Fällen eine „Einheitskasse“ gefordert, in die alle einzahlen müssen. Die Ausnahmeregelung für Beamte, Selbständige und Besserverdiener ist für viele Menschen der Bürgerlichen Mitte nicht nachvollziehbar. Durch mehr Beitragszahler könnten ihrer Anschauung nach die Finanzierung und die Qualität des Systems gesichert und die Beiträge stabil gehalten werden. Weiteres Verbesserungspotenzial wird in der zur Zeit noch höchst restriktiven Übernahme von Natur- und alternativer Heilverfahren gesehen. Das Festhalten an der reinen Schulmedizin gilt als nicht mehr zeitgemäß, und es wird eine Öffnung gegenüber alternativen Therapien gewünscht, so deren Wirksamkeit nachgewiesen ist. In Bezug auf die Kostenstrukturen hofft die Bürgerliche Mitte auf mehr Transparenz. Ausgaben sollten offengelegt und der gesamten Bevölkerung zugäng-
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lich gemacht werden. Dies könnte auch die Wahl der Krankenkasse erleichtern. Zudem gilt das derzeitige Angebot an Krankenkassen als völlig unübersichtlich und unnötig umfangreich. Eine deutliche Ver ringerung der Anzahl wird von vielen als sinnvoll erachtet, da dadurch die Verwaltungskosten drastisch reduziert werden könnten. In einigen Fällen wird zudem eine bessere Beratung in Gesundheitsbelangen gewünscht, wobei unklar bleibt, von wem diese Aufgabe übernommen werden kann. Sowohl bei Krankenkassen als auch bei Ärzten werden häu¿g Eigeninteressen vermutet, die im Widerspruch zu den individuellen Wünschen und Interessen des Patienten stehen.
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SINUS B3: „Konsum-Materialisten“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus B3 „Konsum-Materialisten“ Lebenssituation
x Überdurchschnittlicher Anteil Geschiedener / getrennt Lebender x Auch Single-Haushalte sind leicht überrepräsentiert
Bildung
x Meist Haupt- / Volksschulabschluss mit oder ohne Berufsausbildung
Beruf
x Knapp die Hälfte der Berufstätigen sind Arbeiter / Facharbeiter; auch einfache Angestellte sind deutlich überrepräsentiert x Überdurchschnittliche Arbeitslosenrate
Einkommen
x Untere bis mittlere Einkommensklassen (Schwerpunkt: unter 2.500 Euro monatliches Haushaltsnettoeinkommen) x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.063 Euro* x Hoher Anteil laufender Kredite
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Das Leben der Konsum-Materialisten ist geprägt von materiellen Bedürfnissen und dem ständigen Erleben fehlender Ressourcen, um diese zu verwirklichen. Wünsche orientieren sich an den Konsum-Standards der Mittelschicht, die meist aber die eigenen ¿nanziellen Möglichkeiten übersteigen. Dies führt zu eigengeneriertem Druck, dem man häu¿g nicht standhalten kann, was wiederum eine kontinuierliche psychische Belastung bedeutet. Eine realistische, reÀektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Situation und den tatsächlichen Problemen ¿ndet kaum statt. Stattdessen Àüchtet man sich in Schuldzuweisungen und Kompensationsstrategien wie übermäßigen Zigarettenund Alkoholkonsum. In der Regel besteht nur eine kurzfristige Lebensplanung. Die beruÀiche Situation ist in vielen Fällen von prekären Arbeitsverhältnissen bzw. Arbeitslosigkeit geprägt. Aufgrund des niedrigen Ausbildungsniveaus üben die Berufstätigen überwiegend einfache Tätigkeiten aus, die als monoton und belastend empfunden werden. Der Lebensfokus der Konsum-Materialisten liegt mehr auf dem Moment und dem Tag, als dass längerfristige Lebensstrategien ent wickelt werden. Viele Milieuangehörige erleben explizite Ohnmachtsgefühle und sind der Auffassung, dass sie ihr Schicksal nicht selbst beeinÀussen können. Daher setzen sie sich eher kurzfristige Ziele: ein Auto, Möbel, Bekleidung oder eine Reise.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit
Das Milieu der Konsum-Materialisten hat im Milieuvergleich die schlechteste soziale Lage. Das soziodemographische Pro¿l zeigt, dass viele Milieuangehörige in wenig privilegierten Verhältnissen leben. Altersaufbau des Sinus-Milieus B3 „Konsum-Materialisten“
Der Altersaufbau des Konsum-materialistischen Milieus weicht nur wenig von der in der Grundgesamtheit ab. Die Altersgruppen über 50 Jahre sind leicht überrepräsentiert. Nur 18 % der Milieuangehörigen sind unter 30. Der Alters-Median liegt bei 46 Jahren. In diesem Milieu gibt es mehrheitlich keinen klar geregelten Tagesablauf. Gemeinsame familiäre Aktivitäten ¿nden sehr unregelmäßig statt, gemeinsame Mahlzeiten sind die Ausnahme. Es wird ein Laissez-faire-Prinzip gelebt, das allerdings vor allem fehlender Motivation und geringer Planungssicherheit geschuldet ist. Arbeiten im Haushalt werden oftmals als große Belastung empfunden, worunter Sauberkeit und Ordnung leiden. In der Freizeit spielt Unterhaltung eine herausragende Rolle. Es wird viel Zeit vor dem Fernseher verbracht, und auch das Internet gewinnt als Unterhaltungsmedium an Bedeutung. Sofern Sport getrieben wird, dient er der sozialen KontaktpÀege und der Ablenkung, aber auch, um Erfolgserlebnisse zu verbuchen, die Konsum-Materialisten im Alltag häu¿g versagt bleiben. Bei einem Teil des Milieus (meist Frauen und Männer ab Mitte zwanzig bis Mitte dreißig) ist ein ausgeprägter Körperkult zu konstatieren. Man möchte seinen Körper gestalten, sei es durch Fitnesstraining bzw. Bodybuilding oder aber auch durch Tätowierungen und Piercings. So kann man sich der Aufmerksamkeit anderer versichern, hat das Gefühl, endlich „wahrgenommen“ zu werden und erlangt auch Anerkennung unter seinen Peers.
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Bedeutung von Gesundheit Gesundheit wird mit physischer Gesundheit gleichgesetzt, und dieser wird im Alltag nur marginal Beachtung geschenkt. Aufgrund der verfah renen materiellen und beruÀichen Situation sowie aus einer ausgeprägten Underdog-Mentalität heraus, haben Konsum-Materialisten das Gefühl, an keiner weiteren Front kämpfen zu können und messen körperlichen Beschwerden erst dann Bedeutung bei, wenn sie nicht mehr zu ignorieren sind. Im Krankheitsfall bagatellisieren Konsum-Materialisten Beschwerden zunächst, was bei den Geschlechtern unterschiedlich motiviert ist: Männer präsentieren nach außen gerne eigene Stärke und körperliche Robustheit, Krankheiten passen nicht ins Selbstbild. Frauen hingegen fühlen sich aufgrund der familiären und beruÀichen Situation „verpÀichtet“, gesund zu bleiben. Krankheit bedeutet eine zusätzliche Belastung, die man „nicht auch noch brauchen kann“. Trotzdem ergreifen Konsum-Materialisten selten aktive Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustands oder ändern nur in den seltensten Fällen ihr Verhalten. Stattdessen verdrängt bzw. ignoriert man Beschwerden, was oft dazu führt, dass sich gesundheitliche Probleme im Laufe der Zeit verstärken, z. B. Rückenbeschwerden chronisch werden oder Übergewicht kontinuierlich ansteigt. Dies treibt die Abwärtsspirale weiter an: Gesundheitliche Probleme – nicht dem Normbild des gesunden, leitungsfähigen und attraktiven Menschen entsprechen (können) – beruÀiche und gesellschaftliche Außenseiterstellung – Frustration und Resignation – weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Zwischen Schicksal und Verantwortung Der eigene Gesundheitszustand wird überwiegend als „höhere Gewalt“ empfunden. Hier zeigt sich der typische Fatalismus und die Verdrängungslogik des Milieus: Eigene Möglichkeiten der EinÀussnahme auf die persönliche Gesundheit werden negiert oder kleingeredet. Zwar sind die Zusammenhänge zwischen eigenem Verhalten (z. B. ungesunde Ernährung, hoher Genussmittelkonsum) und gesundheitlicher Verfassung den Milieuangehörigen grundsätzlich bewusst, vor sich selbst und vor anderen werden jedoch die zahlreichen Faktoren betont, die sich ihrer Kontrolle entziehen. ƒ ƒ ƒ
„Gesundheit kommt und geht, da kann man selber nicht viel machen.“ „Ich könnte ja auch plötzlich vom Auto überfahren werden.“ „Das Leben ist so bestimmt, wie es läuft.“
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Teilweise werden auch handfestere körperliche Einschränkungen und Beschwerden (Schmerzen in den Venen, Verspannungen im Nacken, psychische Beschwerden, Rückenschmerzen, etc.) als „normal“ hingenom men und nicht als krankhaft oder Ausdruck einer Krankheit eingestuft, damit keine persönlichen Konsequenzen gezogen werden müssen. Konsum-Materialisten suchen dementsprechend auch eher nach Beispielen, die das eigene Verhalten rechtfertigen und die eigene Machtlosigkeit demonstrieren, als dass man tatsächlich versucht, Ursache und Wirkung von individuellem (Fehl-) Verhalten zu erkennen und aktiv dagegen anzugehen. Diese Logik ist äußerst simpel (und wird auf viele Lebensbereiche übertragen): Eigene Verantwortung und entsprechende Handlungsoptionen können umgangen werden, da sie im Endeffekt „irrelevant“ sind. Häu¿g bedarf es erst schwerstwiegender (unguter) Erfahrungen, um die Verhaltensweisen zu ändern. ƒ ƒ ƒ
„Manche leben immer total gesund und kriegen dann trotzdem Krebs.“ „Es macht doch keinen großen Unterschied, wie du lebst.“ „Wer weiß, ob das überhaupt was bringt, wenn man sich ständig einschränkt.“
Nach Meinung der Konsum-Materialisten sind äußere Bedingungen schuld, wenn die Gesundheit leidet – oder aber ganz abstrakt „die Gene“. In Bezug auf die äußeren Bedingungen werden insbesondere die Belastungen am Arbeitsplatz, z. B. durch Schichtarbeit oder schwere körperliche Tätigkeiten, als Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen identi¿ziert. Bei Frauen betrifft dies auch „sitzende Tätigkeiten“, die im Lauf der Zeit Fehlhaltungen produzieren. Diesen Beschwerden vorbeugende, den Rücken stabilisierende Maßnahmen ergreifen sie jedoch nicht, und wenn Rückenschmerzen sich tatsächlich manifestieren, werden eher die Symptome als die Ursachen bekämpft, was naturgemäß weniger zeitaufwändig und mühsam ist – und weniger Selbstdisziplin erfordert. ƒ ƒ
„Mein Beruf ist einfach nicht gesund. Ich muss den ganzen Tag sitzen und hab keine Bewegung, aber da kann ich nichts dran ändern. Ich muss einfach das Geld verdienen.“ „Ich hab mir schon vor Jahren meinen Rücken kaputt gemacht. Musste immer schwer schleppen, die Stockwerke rauf und runter. Das war klar, dass das irgendwann auf die Knochen geht.“
Häu¿g wird Geldmangel als Grund für die eigene, eher problematische Lebensweise angeführt. Das Argument, sich eine ausgewogene, gesunde Ernährung gar
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nicht leisten zu können, erübrigt jegliche weitere Auseinandersetzung mit dem Thema. Dabei ist der ¿nanzielle Aspekt meistens nur vorgeschoben, denn beim Einkauf orientieren sich die meisten Konsum-Materialisten nicht unbedingt an den günstigsten Produkten, sondern primär an Convenience-Faktoren. Dass gesunde Ernährung nicht teuer bzw. teurer als die derzeitige Ernährung sein muss, ist vielen auch einfach nicht bewusst. Ihr Wissensstand bezüglich gesunder Ernährung ist niedrig und das Thema hat insgesamt einen eher geringen Stellenwert. ƒ ƒ ƒ
„Bei mir scheitert es einfach auch am Geld, ich muss einfach immer gucken, was am günstigsten ist. Da kann ich nicht immer frische Sachen kaufen.“ „Ich esse, was mir schmeckt, ich mach da keine große Sache draus.“ „Wenn ich von der Arbeit komme, habe ich auch nicht mehr die Kraft, noch groß was zu kochen. Das muss dann schon schneller gehen.“
Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Obwohl in diesem Milieu gesundheitliche Probleme durchaus existieren, besteht meist nur ein sehr eingeschränktes Informationsbedürfnis. Bei akuten Beschwerden konsultiert man vor allem den Arzt bzw. den Apotheker. Zeitschriften der Krankenkassen und Apotheken-Zeitschriften werden dagegen kaum gelesen. Zu den Themen, aber auch zu der Sprache bzw. Stilistik dieser Medien, hat man nur geringen Zugang und Bezug. Primär-Medium im Milieu ist das Fernsehen: Sollten hier zufällig Berichte zum Thema Gesundheit laufen, könnte es sein, dass die Milieuangehörigen sie sich auch ansehen (Interesse an Thema und Auf machung vorausgesetzt), aber sie werden nicht gezielt ausgewählt. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Gesundheitssendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, im Milieu aber private Sender favorisiert werden; es ergeben sich also kaum Schnitt punkte. Das geringe Informationsbedürfnis zum Thema Gesundheit liegt auch darin begründet, dass durch höheren Wissenstand das eigene Fehlverhalten stärker ins Bewusstsein träte: Vermeidung ist bequemer und stärkt die eigene Logik. ƒ
„Ich schaue mir das schon an, wenn es gerade läuft, aber es ist nicht so, dass ich mir das extra aussuche. Es ist nun mal kein Thema, das ich die ganze Zeit vor mir haben möchte“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Wenn die einem erzählen, was man alles machen soll. Das kann doch kein Mensch alles befolgen. Da kriegt man ja total Angst.“
Außerdem fühlt sich das Milieu im Grunde ausreichend informiert. Nur in Einzelfällen wird bei akuten Beschwerden im Internet recherchiert, um nach Möglichkeiten der Selbstmedikation zu suchen, damit ein Arztbesuch vermieden werden kann. Das Internet ist aber nicht primär Informations-, sondern Kommunikationsmedium. Es stellt die Möglichkeit dar, sich in Foren und Chatrooms mit Menschen gleicher Problemlage auszutauschen.
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Aktive Gesundheitsvorsorge spielt im Milieu der Konsum-Materialisten kaum eine Rolle. Der Lebenswandel ist meist nicht darauf ausgerichtet, gesund zu bleiben oder vernünftig mit seinem Körper umzugehen. Beschwerden oder Erkrankungen, die mit steigendem Alter korrelieren, werden schlicht und einfach als natürliche Begleit umstände des Lebens wahrgenommen, die sich nicht vermeiden lassen. Bekenntnisse zur Bedeutung eines gesunden Lebensstils – mit Sport und gesunder Ernährung – bleiben zumeist Lippenbekenntnisse und zeigen wenig Auswirkungen auf das tatsächliche Verhalten. Sollten doch Anstrengungen unternommen werden, mehr Sport zu treiben oder eine Diät zu halten (nicht etwa, die gesamte Ernährung umzustellen !), so verlaufen diese nach ein paar Wochen meist wieder im Sande, was zu zusätzlicher Frustration führt. Auch bei der Begründung für fehlende (eigene) aktive Gesundheitsvorsorge werden ¿nanzielle Engpässe ins Feld geführt: sportliche Aktivitäten gelten Konsum-Materialisten als zu kostspielig, da sie diese an Mitgliedsbeiträgen in Vereinen, teurer Ausrüstung und Bekleidung oder Gebühren für ein Fitness-Studio festmachen. Auch vermissen sie in ihrem Umfeld ein „Zugpferd“, jemanden, der sie er muntert, unterstützt und bei der Stange hält. In Konsequenz fühlen sie sich für den eigenen Gesundheitszustand nur bedingt verant wortlich und verschanzen sich hinter ihren „begrenzten Möglich keiten“ und den „vielen unbeeinÀussbaren Faktoren“. Diese Abwehrhaltung wurde über viele Jahre aufgebaut und ist von außen kaum zu durchbrechen. Die Argumente, die das eigene Verhalten, sprich die eigene Antriebslosigkeit rechtfertigen, sind stereotyp und langlebig. ƒ ƒ ƒ ƒ
„Ich würde gerne mehr Sport machen, aber das kann ich mir nicht leisten. Mitgliedsbeiträge, Schuhe und alles, was dazu gehört.“ „Ich weiß, dass ich mehr Bewegung bräuchte, wegen meinem Gewicht, aber ich kann meinen inneren Schweinehund nicht immer überwinden.“ „Ich würde ja gerne Massagen und Krankengymnastik machen, aber das zahlt ja keiner.“ „Ich brauche jemanden, der mich zieht, von alleine klappt das nicht.“
Anreize für eine aktive Gesundheitsvorsorge müssen von außen an Konsum-Materialisten herangetragen werden, etwa durch Bonuszahlungen der Krankenkassen, wenn an bestimmten Programmen teilgenommen wird. Hier zeigt sich einerseits die unterschwellige Einsicht vieler Milieuangehöriger, dass sie Hilfe benötigen, da sie sich nicht selbst aufraffen und ihr Verhalten ändern werden. Gleichzeitig wird auf diese Weise aber das Thema Prävention endgültig nach außen delegiert und die eigene Verant wortung noch weiter reduziert.
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Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Insgesamt sind in diesem Milieu, dessen Altersmedian bei 46 Jahren liegt, Arztbesuche relativ selten, obwohl aufgrund der Lebensweise gesundheitliche Probleme teilweise früher als in anderen Milieus auftreten, was einen Arztbesuch eigentlich unumgänglich machte. Auch chronische Krank heiten, die regelmäßige Arztbesuche erforder ten, spielen bei Konsum-Materialisten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es wird aber lange überlegt und abgewogen, ob ein Arztbesuch wirklich notwendig ist. Ein wichtiges Argument, diesen Gang möglichst lange aufzuschieben, ist die Praxisgebühr. ƒ
„Manchen sind 10 Euro egal, wir können davon einen ganzen Tag leben und essen.“
Grundsätzlich geht man lieber zu einem Arzt, den man schon länger kennt; im besten Fall besteht eine langjährige Beziehung zum Hausarzt. Die Hemmschwelle, einen „fremden“ Arzt aufzusuchen, ist hoch. Hier wird gerne argumentiert, dass der Gang zum Facharzt sehr zeitaufwändig sei und die Probleme oftmals nicht löse. Dahinter stecken jedoch eher Minderwertigkeitskomplexe: Konsum-Materialisten befürchten, gerade in einer fremden Praxis nicht ernstgenommen und abschätzig behandelt zu werden, da sie sich außer Stande fühlen, auf Augenhöhe mit dem Arzt zu kommunizieren und Respekt einzufordern. Zudem möchten sie sich auch so weit wie möglich eine schonungslose Benennung des Ursache-Wirkungs-Prinzips ihrer gesundheitlichen Beschwerden ersparen. Und last but not least ist der Arzt wieder jemand, der qua höherer Autorität ihnen vorschreibt, was zu tun ist – einerseits gut, da dadurch Verantwortung delegiert wird, andererseits schlecht, da gefühlsmäßig wieder bloß persönliche De¿zite und Mängel aufgezeigt und Zumutungen diktiert werden. In Bezug auf Arztbesuche lassen sich bei den Konsum-Materialisten zwei unterschiedliche Strategien feststellen. Ein kleinerer Teil des Milieus geht relativ häu¿g und bereits bei unbedeutenderen Anlässen zum Arzt. Man benötigt Hilfe, da man sich nicht in der Lage sieht, seine Krankheit selbst in den Griff zu bekommen. Zudem spielt auch der Wunsch nach einer Arbeitspause durch Krankschreibungen eine Rolle, da die persönliche Arbeitsbelastung in vielen Fällen als sehr hoch empfunden wird. ƒ
„Manchmal geht es einfach nicht mehr. Dann geh ich zum Arzt und lass mich krankschreiben.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Früher war das mit dem viel einfacher, einen gelben Zettel zu bekommen. Jetzt stellen sie sich ganz schön an.“
Der größere Teil des Milieus versucht, Arztbesuche soweit es geht zu vermeiden. Sie gelten als Eingeständnis der eigenen Schwäche, der Tatsache, dass man eine Krankheit hat, die man alleine nicht bewältigt. Der Besuch beim Arzt wird als grundsätzlich unangenehm empfunden, was sowohl daran liegt, dass man der Konfrontation mit menschlicher Verletzlichkeit beim Arzt nicht aus dem Wege gehen kann, als auch an der großen Distanz zu dieser Berufsgruppe. ƒ
„Ich hasse es, zum Arzt zu gehen. Wirklich nur im Notfall. Ich habe immer das Gefühl, dass ich noch kränker bin, wenn ich da hingehe. Und dann auch noch diese ganzen anderen kranken Leute.“
Arztbild und Beurteilung des Arztes ist stark abhängig vom persön lichen Verhältnis. Konsum-Materialisten erwarten von einem Arzt, dass er einerseits eine Respektsperson ist, der man sich sicher anver trauen kann, und andererseits das soziale Gefälle ignoriert und den persönlichen, offenen Kontakt zum Patienten pÀegt. Die Probleme des Patienten sollen unvoreingenommen betrachtet und behandelt werden; wichtig ist zudem eine verständliche Kommunikation. Eine „abgehobene“ Sprache mit vielen Fachtermini wird als herablassend und arrogant empfunden: Man hat das Gefühl, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Konsum-Materialisten wünschen sich neben dem oben erwähnten Respekt eine gründliche und aufmerksame Untersuchung. In vielen Fällen konstatieren sie jedoch, dass sie höchstens als Patienten zweiter, wenn nicht sogar dritter Klasse behandelt werden und der Arzt sich nur oberÀächlich mit ihren Beschwerden auseinandersetzt. Hier korrelieren subjektive Minderwertigkeitsgefühle mit objektiven Erfah rungen. ƒ ƒ
„Wenn ich krank bin, dann möchte ich auch entsprechend behandelt werden. Mir wollte ein Arzt einmal gar nicht glauben, dass ich krank bin. Der hat mich gar nicht ernst genommen.“ „Er muss sich mit meinen Problemen auch auseinandersetzen und nicht kurz draufgucken und irgendwas verschreiben.“
Vom Arzt werden klare Anweisungen erwartet. Er ist eine Autorität, deren Kompetenz nicht in Frage gestellt wird. Man begibt sich in seine Hände und delegiert dadurch eigene Verantwortung. Ärztliche Anweisungen werden, so weit es sich
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einrichten lässt, auch befolgt. An die Grenzen der Compliance stoßen die Patienten aber immer dann, wenn bestimmte schädliche Gewohnheiten oder Lebensweise abgestellt werden sollen, z. B. fettreiches Essen, Rauchen, Alkohol. ƒ ƒ
„Ich will, dass der Arzt mir sagt, was ich tun soll, damit ich gesund werde. Er ist der Experte und muss es wissen.“ „Der Arzt sagt, ich sollte weniger rauchen, aber das ist nicht so einfach.“
Einnahme von Medikamenten Eine regelmäßige oder langfristige Einnahme von Medikamenten ist bei vielen Patienten (noch) nicht nötig. Im Fall einer akuten Erkrankung gelten Medikamente aber als wichtigste Therapie; sie helfen schnell, wirksam, bekämpfen die Symptome und erfordern keine Verhaltensänderung. Es besteht im Gegensatz zur äußerst schlechten Compliance bei erforderlichen Verhaltensänderungen im Rahmen einer Therapie eine ausgeprägte Compliance im Hinblick auf die Medikamenteneinnahme: Das Vertrauen auf und in die verschriebenen Medikamente ist hoch. Konsum-Materialisten haben nur geringe Vorbehalte gegenüber einer Medikation im Krankheitsfall. Eventuelle Nebenwirkungen werden in Kauf genommen und nicht weiter bedacht, man vertraut dem Rat und der Verschreibung des Arztes relativ unkritisch. Medikamente bedeuten das „Allheilmittel“, sie „reparieren“ die Gesundheit – und alles ist wieder gut. Für manche Patienten bedeutet die Verordnung eines Medikaments auch ein Signal an Angehörige, den Arbeitgeber oder die Kollegen, dass es einem wirklich schlecht geht und man Schonung braucht. Die vorbeugende Einnahme von Medikamenten ist – im Gegensatz zur symptombedingten – aber eher untypisch. ƒ ƒ ƒ
„Der wird sich schon was dabei gedacht haben, wenn ich das so lange einnehmen muss.“ „Gute Medikamente sind entscheidend. Darauf kommt es ja an. Wäre ja schön, wenn es von alleine weggehen würde, aber…“ „Es kommt schon vor, dass der Arzt sagt, ich soll das Asthmamittel dreimal täglich nehmen, aber dann geht es mir schon besser und ich hab das Gefühl, ich brauch es nicht mehr so. Aber wenn es dann doch wieder schlimmer wird, dann nehme ich es schon.“
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Vorsorgeuntersuchungen Konsum-Materialisten nehmen nur sporadisch an Vorsorgeuntersuchungen teil. Sie sind nicht bewusstseinspräsent, und in der Regel bedarf es einer direkten Aufforderung durch die Krankenkasse oder zumindest des dringenden Rates eines Arztes, damit man diese Maßnahmen in Anspruch nimmt. Die Eigenmotivation ist gering, zumeist ist ein zusätzlicher ¿nanzieller oder materieller Anreiz notwendig. ƒ
„Ich habe von meiner Kasse 80 Euro zurückbekommen. Das hat sich schon gelohnt.“
Auch wird von manchen Milieuangehörigen die Nützlichkeit von Präventionsmaßnahmen in Frage gestellt. Andere vertreten zudem die Ansicht, dass manche Krankheiten sich ohnehin nicht abwenden lassen und, dass man es früh genug selbst merkt, wenn man betroffen ist. Zudem ist eine Vorsorgeuntersuchung immer auch mit der Angst verbunden, dass tatsächlich eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert werden könnte – ein Gedanke, den man möglichst verdrängen möchte. ƒ
„Wenn ich etwas habe, dann merke ich das schon.“
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Zweiter Gesundheitsmarkt Grundsätzlich besteht in diesem Milieu nur eine geringe Bereitschaft, für Gesundheitsleistungen selbst aufzu kommen. Dennoch lässt es sich für die quasi ausschließlich gesetzlich krankenversicherten Konsum-Materialisten in vielen Fällen nicht vermeiden, ihre nicht verschreibungspÀichtigen Arzneimittel komplett selbst zu übernehmen. Hierzu gehören insbesondere Kopfschmerztabletten, aber auch Nasensprays oder Salben bei Verletzungen. In diesem Zusam men hang wird kritisiert, dass Medikamente, die früher Kassenleistung waren, heute selbst bezahlt werden müssen. Für weitere Leistungen wird nur selten Geld ausgegeben. Zwar wären Massagen und Physiotherapien zur Behandlung von Blessuren oder Rückenproblemen häu¿g erwünscht, es mangelt aber an den ¿nanziellen Ressourcen und auch der Bereitschaft, dafür zu zahlen. Konsum-Materialisten beklagen, dass die medizinische Notwendigkeit dieser Maßnahmen (wie auch der von Kuren) von den Kranken kassen in vielen Fällen negiert wird und daher auch keine Kostenübernahme statt¿ndet. ƒ ƒ
„Bei meinen ständigen Nackenschmerzen wären Massagen natürlich super, aber die Kassen zahlen das ja nicht mehr und ich kann mir das einfach nicht leisten.“ „Ich habe schon etliche Male ein Kur beantragt, weil das das einzige ist, was mir mit meinen Rückenbeschwerden helfen könnte. Aber die Kasse hat es immer wieder abgelehnt.“
IGe-Leistungen sind wenig bekannt, werden aber auch bei Bekanntheit höchst selten in Anspruch genommen. Lediglich in Ausnahmesituationen lässt man bestimmte Vorsorgeuntersuchungen durchführen, z. B. wenn man zu einer bestimmten Risikogruppe gehört (Hautkrebs in der Familie, erlittene Fehlgeburten), und die schmerzliche ¿nanzielle Belastung durch einen gravierenden Mehr wert der Leistung aufgewogen wird. Im Grunde wird aber erwar tet, dass wirklich notwendige Behandlungen oder Untersuchungen von den Krankenkassen bezahlt werden. Insofern besteht gegenüber diesen Leistungen nur ein geringes Interesse. ƒ
„Ich hatte zwei Fehlgeburten und habe anschließend häu¿ger Ultraschalluntersuchungen machen lassen. Aber für die Kasse spielte das keine Rolle, die zahlen nur eine bestimmte Anzahl, den Rest musste ich selbst übernehmen.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Wenn es wirklich notwendig wäre, dann würde die Kasse das auch bezahlen.“
Aufgrund der hohen Kostensensibilität und der sehr begrenzten ¿nanziellen Mittel des Milieus spielt das Spektrum der von gesetzlichen Kassen nur in Ausnahmefällen bezahlten alternativen Medizin und Heilmethoden kaum eine Rolle. Zudem müssen für Konsum-Materialisten Medikamente im Sinne von „Reparatur“ schnell und zuverlässig Symptome beseitigen. Ganzheitliche Heilmethoden, die z. B. eine längere Behandlung beim Heilpraktiker erfordern, erachtet dieses Milieu als wenig zielführend und zieht sie daher auch nicht in Erwägung. Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Grundsätzlich besteht hohes Vertrauen in die allgemeine Qualität der Versorgung. Die Behandlungsmöglichkeiten, die der aktuelle Stand der Medizin in Deutschland bietet, werden als sehr gut empfunden, auch wenn Vergleiche mit anderen Gesundheitssystemen meist fehlen. Die Versorgung mit notwendigen Medikamenten und moderner Apparatur stehe bei Bedarf zur Verfügung. Auch sind KonsumMaterialisten der Meinung, dass es für die meisten Krankheiten auch adäquate Therapien gibt. Dieses Milieu hat hohes Vertrauen in die Fortschrittlichkeit der Medizintechnik und in die Wirksamkeit der Medikamente. ƒ ƒ
„Da können wir uns hier schon ganz gücklich sein. Man kriegt praktisch jede Krankheit in den Griff, zumindest fast jede.“ „Unsere Medizin ist schon sehr fortschrittlich.
Für den Notfall fühlt man sich ausreichend abgesichert. Eine schnelle Versorgung beim Arzt oder – in schlimmeren Fällen – im Krankenhaus gilt als gewährleistet. Die Ausstattung in den meisten Kranken häusern wird als modern und umfassend empfunden und vermittelt ein hohes Maß an Sicherheit. Lediglich in Bezug auf die Ausstattung mit ausreichend Personal wird Kritik geäußert. Konsum-Materialisten haben schlechte Erfahrungen mit gestressten Krankenschwestern und PÀegern sowie schlechter persönlicher Betreuung als Patient gemacht. Harte Kritik wird an der derzeitigen Zusammenstreichung des Leistungskatalogs und an den zunehmenden Zuzahlungen geübt. Zwar ist das Vertrauen in die Qualität der eigenen Versorgung dadurch noch nicht vollends untergraben, aber viele Konsum-Materialisten fühlen sich gegenüber Privatpatienten benachteiligt und verzeichnen eine signi¿kanten Rückgang von Leistungen, die durch die
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gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Dazu gehört, dass bestimmte Medikamente nicht mehr verschrieben, Krankengymnastik und Massagen wesentlich seltener verordnet und teilweise auch bestimmte Behandlungsmethoden und Untersuchungen ver wehrt werden. Die Zuzahlungen werden ebenfalls als eine Belastung empfunden, die dieses ¿nanzschwache Milieu härter trifft als andere. Die Praxis- und Rezeptgebühren gelten dabei als besonders schmerzlicher Posten. ƒ ƒ
„Man bekommt immer weniger. Massagen, Salben, Hustenmittel muss man jetzt alles selbst zahlen. Das wird immer schlechter.“ „Ich frage mich schon, warum ich noch krankenversichert bin, ich muss eh immer was dazu zahlen oder die Kosten für manches ganz tragen.“
Zudem konstatieren Konsum-Materialisten, dass sich Ärzte für sie nicht mehr genug Zeit nehmen (können). Die Konsultation mutiere immer stärker zu einem „Durchschleusen“, und der Arzt greife zunehmend auf „Standardtherapien“ zurück, ohne sich mit der individuellen Situation des Patienten auseinanderzusetzen. Auch werden lange und längere Wartezeiten bei Fachärzten wahrgenommen, wobei dies von manchen Konsum-Materialisten jedoch als „Qualitätsindiz“ für einen guten Arzt gewertet wird. ƒ ƒ
„Der guckt einen kurz an, fragt ‚was haben sie ?‘ und verschreibt dann einfach irgendwas. Fertig. Dass er einen mal richtig untersucht und sich etwas überlegt, was für einen das Beste ist, gibt es nicht mehr.“ „Ich muss schon häu¿g lange warten; aber wenn gar keiner im Wartezimmer wäre, dann hätte ich auch nicht das Gefühl, dass ich da gut aufgehoben bin.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Das Gesundheitssystem ist für Konsum-Materialisten ein sehr abstrak tes Konstrukt. Zusammenhänge und strukturelle Interdependenzen werden kaum erkannt oder differenziert bewertet. Grundsätzlich argwöhnen Konsum-Materialisten aber, dass Geld an der falschen Stelle ausgegeben wird und deshalb die Versorgung leidet. Das Prinzip der Finanzierung der Kassen bleibt nebulös. Man betrachtet zumindest die gesetzlichen Krankenkassen als ein staatlich ¿nanziertes Modell, nicht als eines, das sich selbst aus Beiträgen der Mitglieder trägt. Zwischen Steuerabgaben und weiteren Lohnneben kosten (z. B. Krankenkassenbeiträgen) wird
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kaum unterschieden, bzw. es wird davon ausgegangen, dass der Staat bei Bedarf ohnehin Steuer mittel zuschießt. Dies ist gepaart mit einer kritischen Haltung gegenüber der Politik im Allgemeinen. Konsum-Materialisten fühlen sich als benachteiligte Randgruppe, die keine Lobby in Berlin hat und unter Reformen am stärksten leidet. Der Reformbegriff ist in diesem Milieu höchst negativ besetzt. Er wird mit Kürzungen, Leistungsverweigerungen, Belastungen assoziiert. Ein persönlicher Bedarf an Reformen wird kaum gesehen. Nach dem Motto „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ begnügt man sich mit dem Status quo und fürchtet sich vor Veränderungen. ƒ ƒ
„Wir können ja doch nichts machen, es wird einfach überall gekürzt, das ist bei der Gesundheit genauso.“ „Eigentlich ist es ja im Moment ganz in Ordnung. Wenn sie wieder Reformen machen, wird es am Ende nur schlimmer.“
Konsum-Materialisten weisen aber auch Krankenkassen und der Pharmaindustrie die Schuld an der sich verschlechternden Situation zu. Die Krankenkassen verschwendeten unnötig Geld für Bürokratie und Verwaltung, die Pharmaindustrie bereichere sich durch überhöhte Preise und verdiene dadurch Milliarden auf Kosten der Krankenversicherten. Diese schwerwiegenden Missstände gelten als unauÀösliches Dilemma, da beiden Akteuren ein großer EinÀuss auf die Politik zugeschrieben wird und Änderungen daher kaum zu erwarten sind. ƒ ƒ
„Die Leute in den Chefetagen machen sich die Taschen voll und die Pharma¿rmen machen Milliardengewinne. Und die kleinen Leute bezahlen am Ende und kriegen weniger Leistungen.“ „Die Kassen und Pharmakonzerne und Politiker stecken doch alle unter einer Decke. Die werden sich ja nicht gegenseitig bekämpfen.“
In Bezug auf den Stellenwert von Eigenverantwortung nehmen Konsum-Materialisten eine paradoxe Haltung ein. Zum einen kritisieren sie Patienten, die wegen jeder Kleinigkeit den Arzt aufsuchen und somit die Kassen in unnötigem Maße belasten, zum anderen möchten sie selbst möglichst keinerlei Einschränkungen bei der Wahl des Arztes erfahren. Die Notwendigkeit von eigenverantwortlicherem Verhalten wird daher zwar prinzipiell gesehen, die praktische Umsetzung aber verweigert. Dies korrespondiert mit dem grundsätzlichen Dilemma der Konsum-Materialisten: Dem kaum aufzulösenden Widerspruch zwischen dem Wunsch, selber
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zu entscheiden, nicht alles „diktiert“ zu bekommen, und der aus ihrer sozialen und materiellen Situation heraus entwickelten Lebensstrategie, Verantwortung und Versorgung zu delegieren. Aspekte von Vorsorge und gesundheitsbewusstem Verhalten ¿nden nur über materielle Anreize Eingang in die Lebenswelt von Konsum-Materialisten. Sie betrachten dies auch als „faire Lösung“, da durch gesundheitsbewusstes Verhalten der Patienten die Kassen Geld sparen und dann an richtiger Stelle wieder ausgeben können. Es ist ihnen also weder ein grundsätzliches Bedürfnis, noch können sie sich aus reiner Einsicht zu einer gesundheitsbewussten Lebensführung durchringen; die inneren und äußeren Barrieren, die überwunden werden müssen, sind hoch, und ¿nanzielle Anreize scheinen derzeit der einzig gangbare und erfolgsversprechende Weg zu sein. ƒ
„Wenn man einen Anreiz hätte, wäre es schon interessant. Z. B. ein nettes Geschenk oder einfach niedrigere Beiträge oder eine Vergütung.“
Chancengerechtigkeit Konsum-Materialisten üben heftige Kritik an der sich verschärfenden Ungerechtigkeit des Systems. Sie identi¿ zieren sich mit der Rolle als Patienten zweiter Klasse und bemängeln die Bevorzugung nicht nur von Privatpatienten, sondern auch von Patienten, die sie einer höheren gesellschaftlichen Schicht als ihrer eigenen zuordnen. In diesem Zusammenhang werden zunächst die längeren Wartezeiten erwähnt, und dies sowohl in Bezug auf Terminvergabe wie im Wartezimmer. Auch stößt negativ auf, dass Ärzte sich für Privat patienten mehr Zeit nehmen, sich intensiver mit ihnen auseinandersetzen und sie respektvoller behandeln. Aber der gravierendste Vorwurf besteht darin, dass zunehmend nur derjenige, der über die nötigen ¿nanziellen Mittel verfügt, auch wirklich optimal versorgt wird und dadurch eine ungleich höhere Chance auf Gesundung erhält. ƒ ƒ
„Für Privatpatienten ist immer mehr Zeit. Die müssen auch nie so lange warten. Die werden ganz anders behandelt.“ „Wer sich viel leisten kann, der kann sich auch Gesundheit leisten – wer kein Geld hat, bleibt krank, weil er sich sein Gesundwerden nicht leisten kann.“
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Zudem verstärkt sich bei Konsum-Materialisten der Eindruck, immer nur die günstigsten Medikamente verschrieben zu bekommen, unabhängig von der individuellen Verträglichkeit. Auch die eingeschränkte Auswahl an Behandlungsmöglichkeiten wird kritisiert, da es häu¿g andere und bessere Therapien gibt, die allerdings nicht von der Kasse übernommen werden. Konsum-Materialisten gehen davon aus, dass zunächst die Reichen von den Fortschritten der Medizin pro¿tieren, und erst danach die Ärmeren. Zudem befürchtet man, dass diese Schere noch weiter auseinandergeht und hauptsächlich die Kassenpatienten von weiteren Leistungskürzungen betroffen sein werden, nicht die Privatpatienten. ƒ
„Es wird doch immer weiter gespart, für die kleinen Leute ist doch immer weniger Geld da. Dann wird hier gekürzt und da gekürzt. So ist das doch immer.“
Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Konsum-Materialisten erwarten von einem künftigen Gesundheitssystem vor allem, dass es keine weiteren Verschlechterungen der bestehenden Versorgung gibt. Durch den demogra¿schen Wandel und die damit verbundenen Probleme stehen laut Konsum-Materialistischem Milieu die Chancen dafür aber nicht gut. Grundsätzlich haben Konsum-Materialisten hohe Erwar tungen an den Leistungskatalog eines Gesundheitssystems – ganz gleich ob derzeitig oder zukünftig. Gedanken zur Finanzierbarkeit werden sich dabei nicht gemacht, sondern „an die in der Politik“ delegiert. Oben auf der To-do-Liste steht, dass die neuesten und besten Behandlungsmethoden allen Patienten zugute kommen sollen und eine Rundum-Versorgung mit allen medizinisch notwendigen bzw. erfolg versprechenden Leistungen zu garantieren ist. Lediglich kosmetische Eingriffe werden als unnötig bzw. persönliche Angelegenheit gesehen, für die jeder selbst verantwortlich ist. ƒ ƒ ƒ ƒ
„Man sollte einfach alles bekommen, was notwendig und das Beste für einen ist.“ „Jeder sollte alle Möglichkeiten bekommen können, die nötig sind.“ „Wenn es für eine Krankheit eine Therapie gibt, dann muss die dem Patienten auch bezahlt werden.“ „Wenn da einer kommt und straffere Haut haben möchte, dann soll er dafür gefälligst selber zahlen.“
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Sehr stark ausgeprägt ist bei Konsum-Materialisten das Bedürfnis nach mehr Gerechtigkeit im Gesundheitssystem, nach einem Standard, der für alle Menschen gilt. ƒ
„Jeder muss die Chance haben, die bestmögliche Behandlung zu bekommen. Es kann doch nicht angehen, dass das nur Reiche bekommen und die anderen kriegen nur die zweite Klasse.“
Auch die Verringerung bzw. der Abbau von Bürokratie sowohl bei den Krankenkassen als auch in Krankenhäusern und Arztpraxen wird eingefordert. An vielen Stellen haben Konsum-Materialisten die Erfah rung gemacht, dass Prozesse sehr kompliziert und personalintensiv ablaufen (z. B. Antragstellung auf Leistungen, Aufnahme von personenbezogenen Daten, Formulare etc.). Dies bindet Ressourcen, die besser verwendet werden könnten. Viele Konsum-Materialisten fordern zudem, dass Zuzahlungen und Praxisgebühren wieder rückgängig gemacht werden, da sie eine unverhältnismäßige Belastung der ärmeren Bevölkerung darstellen. Grundsätzlich möchten Konsum-Materialisten ein Anreiz-System installiert sehen, um gesundheitsbewusstes Verhalten zu belohnen. Dazu gehören Beitragsrückzahlungen oder Vergünstigungen bei Inanspruch nahme von Vorsorgeleistungen oder Aufgabe von gesundheitsschädlichem Verhalten wie auch die ¿nanzielle Unterstützung bei sportlichen Aktivitäten in Sportvereinen oder Fitness-Studios. ƒ
„Es wäre auf jeden Fall gut, wenn man für gesundes Verhalten auch belohnt wird. Das wär fair. Wenn einer glaubt, die ganze Zeit auf seine Gesundheit pfeifen zu können, dann hat er halt Pech gehabt.“
HEDONISTISCHE MILIEUS
SINUS C2: „Experimentalisten“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus C2 „Experimentalisten“ Lebenssituation
x Gut die Hälfte ist (noch) ledig, entsprechend auch viele Single-Haushalte x Viele Milieuangehörige leben noch im elterlichen Haushalt
Bildung
x Gehobene Bildungsabschlüsse (mittlere Reife, Abitur) x Ein Viertel der Milieuangehörigen ist noch in Ausbildung (Schüler, Studenten, Azubis)
Beruf
x Unter den Berufstätigen ¿nden sich häu¿g einfache bis quali¿zierte Angestellte, kleinere Selbständige und FreiberuÀer x Aber auch Arbeiter sind wie im Durchschnitt der Bevölkerung vertreten (Jobber)
Einkommen
x 11 % haben (noch) kein eigenes Einkommen; 35 % verfügen nur über ein persönliches Nettoeinkommen von weniger als 750 Euro (Gesamt: 24 %)* x Auch die Haushaltsnettoeinkommen liegen unter dem Gesamtmittel x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.029 Euro
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Experimentalisten sind locker, tolerant und offen gegenüber anderen Lebensformen und Kulturen. Individualismus, ungehinderte Spontaneität, Experimentierfreude und die Suche nach Grenzerfahrungen sind der Rahmen, in dem sie ihre Gefühle und Sehnsüchte ausleben. Damit gehen sehr ich-bezogene Lebensstrategien einher: möglichst ohne einschränkende VerpÀichtungen, unkonventionell, ohne einengende Normen, jeweils der aktuellen Be¿ndlichkeit folgend. Nach einer Phase der Verunsicherung durch die wirtschaftliche Krise nehmen sie erneut Fahrt auf, wollen sich wieder ungehindert spontan entfalten, intensiv leben, aussteigen, vielleicht sogar auswandern. Der Lebensstil der Experimentalisten ist non-konformistisch, sie lieben Provokationen und sehen sich als Lifestyle-Avantgarde. Erfolg, Status und Karriere
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standen nie im Fokus, auch wenn sie in den letzten Jahren phasenweise wichtiger wurden. Materielle Einbußen und weniger Job-Chancen haben die ¿ nanzielle Situation des Milieus beeinträchtigt. Diesen Realitätsschock haben viele Experimentalisten inzwischen jedoch verdrängt. Milieutypischer Optimismus, Vitalität und Kreativität lassen sie wieder Neues erproben. Die Experimentalisten sind Multimedia-Kinder. Intensiv nutzen sie alle einschlägigen Angebote und gehören zu den Early Adoptern aller kom munikativen Neuerungen. Gleichzeitig interessieren sie sich für Musik, Kunst und Kultur, für entsprechende Filme und Bücher, für exotische Szenen, Welten und Kulturen. Auf der sozialhierarchischen Lagedimension hat das Milieu der Experimentalisten seinen Schwerpunkt in der unteren Mitte. Hinsichtlich des Bildungsstandes nimmt es eine gehobene Position ein, das Ein kom mensniveau in dieser jungen Lebenswelt, in der viele noch in Ausbildung sind, liegt unter dem Durchschnitt. Altersaufbau des Sinus-Milieus C2 „Experimentalisten“
Die Experimentalisten gehören zusammen mit den Modernen Perfor mern, zu den jüngsten Milieus in Deutschland. Der Altersschwer punkt liegt deutlich unter 40 Jahren. Zwei Drittel der Milieuangehörigen sind unter 40. Der Alters-Median liegt bei 34 Jahren. Bedeutung von Gesundheit Gesundheit bedeutet für dieses extrem mobile und experimentierfreudige Milieu zuallererst Lebensqualität, denn Lebensqualität de¿niert sich für sie über die Möglichkeit, alles tun zu können, was sie möchten, und in ihrer Lebensweise nicht eingeschränkt zu sein. Im Umkehrschluss wird „Krankheit“ auch mit „gehandicapt sein“ gleichgesetzt, mit dem Verlust von allem, was das Leben lebenswert macht.
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„Gesundheit ist Lebensqualität. Krankheit hemmt einen, ja fesselt einen.“ „Gesundheit heißt Wohlfühlen. Keine Schmerzen, keine defekte Körperfunktionen. Wenn man krank ist und leiden oder in seinem Bett liegen muss, da kann man sein Leben eigentlich vergessen.“
Das physische Wohlbe¿nden kommt in der gesundheitlichen Prioritätenskala somit an erster Stelle, aber auch die „geistige Gesundheit“ wird von vielen Experimentalisten als sehr wichtig erachtet, wobei sie unter geistigem Wohlbe¿nden Stimulation, Offenheit und Ausgleich verstehen, wie auch eine positive Ausstrahlung, Energie und Übereinstimmung mit persönlichen Vorstellungen im Leben. Geistige Krankheiten werden häu¿g als hoch beängstigend empfunden, da sie sich nicht wie viele körperlichen Leiden „auf Knopfdruck“, d. h. schnell und ef¿zient, beheben lassen. ƒ
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„Was mir sofort in den Kopf schießt, ist geistige Gesundheit. Ich glaube, dass man über den Geist sehr viel regeln kann, auch Gesundheit. Wenn man sich psychisch wohlfühlt, ist man ausgeglichen, hat Energie, wird weniger krank.“ „Geistige Krankheiten (Depressionen oder Schizophrenie zum Beispiel) sind wirklich ernsthafte, langfristige Krankheiten, die einschränken, die Angst machen.“
Die Experimentalisten sind jedoch ein relativ junges Milieu; daher wurden viele von ihnen bislang noch nicht mit schwereren Erkran kungen konfrontiert, und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „Gesundheit“ konnte so häu¿g noch umgangen werden. Insgesamt beurteilen Experimentalisten ihren Gesundheitszustand dann auch als gut. Krankheit und Beschwerden werden mit dem Älter werden assoziiert, eine Lebensphase, die von der ihren noch sehr weit entfernt scheint. Für einige hat der intensive Lebensstil jedoch bereits gesundheitliche Konsequenzen, und auch im Fall von verhaltensunabhängig auftretenden Erkrankungen wird die sonst gern gepÀegte Vogel-Strauß-Politik obsolet: Die Situation zwingt zur ReÀexion (die dann auch durchaus statt¿ndet!), aber die Umsetzung von als richtig erkannten Verhaltensweisen und -veränderungen hat einem schweren Stand im Alltag. Manche ziehen die Veränderungen konsequent durch, aber bei vielen scheitert es letztendlich doch an den persönlichen Lebensumständen und der eigenen Unwilligkeit, auf Dinge zu verzichten.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Auf seine Gesundheit sollte man schon Acht geben. Das ist doof, wenn das ein Raucher erzählt und es ist ein Laster, das ich hasse, aber ich kann darauf noch nicht verzichten.“ „Gesundheit beschäftigt mich nur deswegen, weil ich halt öfter mal Sachen habe. Ich habe was mit dem Magen… eigentlich beschäftige ich mich ungern damit, und ich kann mich auch noch nicht dazu durchringen, jetzt anders zu leben oder meinen stressigen Job aufzugeben.“ „Ich habe gemerkt, dass ich mich seit 2, 3 Jahren vernachlässigt habe und mehr Party gemacht habe mit Trinken und allem drum und dran. Da war ich 5 bis 6 Mal im Jahr krank und habe mich gefragt, woher das kommt. Jetzt mache ich Sport, und ich merke es schon, wenn ich morgens aufstehe, dass ich früher aus dem Bett komme, nicht mehr so zerschlagen bin und mehr Lebensenergie habe, gewisse Dinge auch anzupacken.“
Ein „gesundes Leben“ wird von vielen Experimentalisten auf die Zukunft verschoben, für das Heute zählt Abwechslung und Intensität; Selbsterfahrung und das Ausleben von Bedürfnissen hat Priorität über Selbstschutz. ƒ
„Mit 30 möchte ich so nicht mehr leben, aber mit 24 ist das in Ordnung.“
Zwischen Schicksal und Verantwortung Dieses bildungsstarke Milieu weiß durchaus um die Interdependenzen zwischen persönlichen Verhaltensweisen und Gesundheit, versucht dies im Alltag aber auszublenden. Prinzipiell sind Experimentalisten der Meinung, dass man zu einem erheblichen Teil selbst für seine Gesundheit verantwortlich ist. Durch gesunde Ernährung, Sport, Vorsorge und eine positive mentale Einstellung kann jeder seine Gesundheit beeinÀussen und etliche Krank heiten vermeiden bzw. seine Widerstandskräfte stärken. Auch werden explizit Alkohol-, Tabak- und (speziell in diesem Milieu) Drogenkonsum, ungesunde Ernährungsweisen, ungeschützter Geschlechtsverkehr und „extremes“ Freizeitverhalten (Partys bis in die Morgenstunden, unregelmäßiger Schlaf, Extremsportarten) als Faktoren benannt, die als „Raubbau“ an der eigenen Gesundheit gesehen werden – und werden dennoch in der „jetzigen Phase des Lebens“ von vielen betrieben und durchaus auch genossen.
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„Ich rauche zu viel, viel Streß, zu wenig geregelter Tagesablauf, nicht genug Schlaf, natürlich ist das nicht gesund.“ „Ich denke, dass viel auch soziokulturell und Erziehung ist und auch Eigenverantwortung. Es gibt immer irgend einen Sport, den man treiben kann.“ „Hab’ auch schon öfters gekifft, auch schon mal Extasy genommen. Das ist bestimmt nicht gesund, macht aber Spaß.“ „Ich nehme Drogen so alle 2 Monate mal, auch wenn ich merke, dass das den Körper sehr belastet. Man verdrängt die Folgen einfach …“ „Wenn jemand Krebs hat und Chemotherapie macht und geistig dabei ist und nicht aufgegeben hat, der kann mehr bewirken als jemand, der schon aufgegeben hat.“
Gleichzeitig identi¿zieren Experimentalisten eine Anzahl äußerer Faktoren, die nicht vom Individuum beeinÀussbar sind und dennoch gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Hierzu gehören Stress im Job und unregelmäßige Arbeitszeiten, genetische Faktoren, Unfälle (die nicht im Zusammenhang mit gefährlichen Freizeitaktivitäten stehen), Uninformiertheit und Unwissen aus bildungstechnischen Gründen. ƒ ƒ
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„Leute, die zu sehr gestresst sind, bekommen des öfteren Wehwehchen.“ „Man kann jetzt nicht sagen, dass Leute aus niederen Bildungsschichten prinzipiell weniger gesund sein müssen. Aber ich denke, dass ein gewisser Bildungsstand mit gewisser Reife schon dafür zuträglich ist, dass man darauf achtet, wie es einem geht.“ „Na ja, wenn ich mir meinen Bruder mit seiner genetisch bedingten Immunschwäche angucke… ich glaube nicht, dass er da was dafür kann. Ich denke, dass es durchaus genetische Faktoren gibt.“
Experimentalisten verfügen im Grunde über eine realistische Einschätzung gesundheitlicher EinÀussfaktoren und versuchen auch nicht, eigene Verantwortung für die Vermeidung von gesundheitlichen Problemen zu negieren oder anderen zuzuschieben. Man verdrängt sie stattdessen einfach bzw. vertagt sie auf später. Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Experimentalisten haben ein vergleichsweise geringes Informationsbedürfnis. Dies mag daher rühren, dass man nicht auch noch mit (wissenschaftlichen) Belegen für das eigene (Fehl-) Verhalten konfrontiert werden möchte bzw. wenig Interes-
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se an Erkenntnissen über mögliche Krank heiten und deren Folgen hat. Solange Experimentalisten nicht akut von gesundheitlichen Problemen betroffen sind, legen sie kaum aktives Informationsverhalten an den Tag und konsumieren Informationen eher „en passant“ in Tageszeitungen oder Zeitschriften. Sollte doch gezielt nach Informationen gesucht werden, so bedient man sich vorzugsweise des Internets. Allerdings achten Experimentalisten dabei auf seriöse Inhalte. Anschreiben der Krankenkassen landen meist ungelesen im Papierkorb, Apotheken-Zeitschriften oder Ratgebersendungen im Fernsehen stoßen auf großes Desinteresse und zuweilen auch strikte Ablehnung, da entweder „Massenverdummung“ oder aber interessensabhängige Information unterstellt wird. Ärzte und Apotheker gelten für die meisten Experimentalisten prinzipiell als „Fachleute“ und damit als nützliche Informationsquellen; allerdings wird bei diesen eine unterschiedliche Ausprägung von Kompetenz wahrgenommen. Zudem konsultiert man Ärzte wirklich nur dann, wenn der Leidensdruck so groß ist, dass sich ein Arztbesuch nicht mehr vermeiden lässt. ƒ ƒ ƒ
„Ich kümmere mich eigentlich gar nicht um das Thema, schnappe nur manchmal zufällig etwas in der Tageszeitung auf.“ „Ich würde nie die Apotheken-Umschau lesen oder Ratgeber im Unterschichtenfernsehen bei RTL II ansehen.“ „… gilt für die Apotheken-Umschau; wer sich wie bezahlen lässt für die kleinen Sonderberichte, die eigentlich redaktionell bestimmt sind, obwohl sie natürlich trotzdem gesponsert sind, was aber nicht erkennbar ist. Böse. Das ¿nde ich ¿es.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Experimentalisten wissen um vielfältige Wege der persön lichen Gesundheitsvorsorge, aber nur ein geringer Teil des Milieus setzt dieses Wissen auch stringent in die Tat um. Mehrheitlich dominiert ein anderes Verhaltensmuster: Zunächst wird exzessiv und lustbetont einem „ungesunden Leben“ gefrönt (feiern, rauchen, kiffen, trinken) und danach versucht man, den „Schaden“ durch kurzfristige, manchmal radikale Maßnahmen wieder „auszugleichen“. ƒ
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„Ich habe viele Zipperleins, gehe auch nicht immer sehr pÀeglich mit mir um. Ich habe so zwei Seiten. Mal mache ich Wellness und mal gehe ich ein bisschen zu viel feiern. Das muss ich dann wieder ausgleichen, was ich da an Zerstörung an mir anrichte.“ „Das Fasten wird von Jahr zu Jahr etwas mehr, so 7–8 Tage, wo ich dann komplett nichts esse. Das ¿ nde ich schon ganz cool. Wenn man das gemacht hat, ist man ja so komplett raus aus allem, keine Feiern, man konzentriert sich voll auf seinen Körper und da fängt man erst wieder an, gesund zu leben.“
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Explizit genannte Möglichkeiten zum Ausgleich schädlicher Verhaltensweisen und zur Gesundheitsvorsorge sind für Experimentalisten eine gesunde Ernährung und sportliche Betätigung. Alternierend zum (Alltags-) Kantinen- oder Fast-FoodEssen werden Lebensmittel auf dem Wochenmarkt eingekauft oder Bioprodukte im Supermarkt erstanden. Allerdings müssen diese Nahrungsmittel nicht nur gesund, sondern auch geschmacklich anregend sein. Experimentalisten distanzieren sich innerlich von jeglicher „moralischen VerpÀichtung“ oder gesellschaftlichem Druck zu „politisch korrektem Verhalten“. Sie wissen selbst um den Wert von gesunder Ernährung und möchten nicht von anderen dazu belehrt oder gedrängt werden. ƒ
„Ich ¿ nde, dass muss man selbst entscheiden. Bei Bio gibt es ein paar Sachen, die schmecken einfach besser; es gibt auch Sachen, da ¿nde ich es Geldrausschmeißerei. Die Biowelle nervt.“
Zudem verfügen Experimentalisten aufgrund ihrer Lebenssituation (häu¿g Studenten oder in kreativen, aber nicht hoch dotierten Berufen) oft nicht über die ¿ nanziellen Mittel, ausschließlich höher preisige Lebensmittel zu erstehen. So gönnen sie sich selektiv und situationsabhängig besondere „Genüsse“ und gleichen dies durch Verzicht auf andere Dinge aus. ƒ
„Wenn man auf die Qualität der Produkte Wert legt, ist es wirklich teurer. Man schmeckt ja auch den Unterschied, gerade auch bei Käse, ob man da einen teuren oder billigen holt. Ich habe so meine Genussprodukte, wie z. B. frische Erdbeeren, aber das schlägt dann so auf den Preis, dass es für’s normale Essen dann nicht mehr reicht. Ich setzte meine Prioritäten je nach Appetit.“
Auch werden häu¿g „äußere Umstände“ ins Feld geführt, wenn es um mangelhafte Umsetzung von als richtig erkannten Verhaltensweisen geht. Dies betrifft nicht nur das Essverhalten, sondern ganz speziell auch die beruÀiche Situation. Man kann (und will) im Job nicht „kürzer treten“ (oder sich gar beruÀich umorientieren), daher müssen auch hier negative EinÀüsse wie Stress durch andere Strategien ausgeglichen werden. ƒ
„Ich würde gerne kochen, esse auch gerne lecker und gesund, auch gerne leichte Sachen wie Fisch, aber ich besitze nur zwei Herdplatten in einer total chaotischen WG.“
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Ich habe halt durch meinen stressigen Job Magenprobleme und Rückenprobleme und muss deshalb oft zum Arzt gehen. Deswegen versuche ich halt mich gut zu ernähren und auch Sport zu machen.“ „Stressabbau durch weniger Arbeiten ? Das kann ich nicht, da habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe auch Angst meinen Job zu verlieren, wenn man zu viel fehlt.“
Sportliche Betätigung ¿ ndet bei Experimentalisten hohen Anklang sowohl als Präventionsmaßnahme wie auch als Erlebnisfaktor. Abgesehen von den Grenzerfahrungen in Extremsportarten, die gesundheitlich eher ein zusätzliches Gefahrenpotenzial bergen, fördern Sportarten, wie Joggen, Radfahren oder Ballsportarten, sowohl die Gesundheit wie auch das Körperbewusstsein und fungieren als Ventil für den Alltagsstress. Aber auch im Sportbereich reagieren Experimentalisten sehr sensibel und ablehnend auf gesellschaftliche „Mainstream-Trends“ und Kommerzialisierung. Und sie weisen auch selbstkritisch auf den „inneren Schweinehund“ hin, der ihr Bemühen um sportliche Betätigung immer wieder sabotiert. ƒ
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„Aber mir gehen auch Leute im Fitness-Studio auf den Nerv, da würde ich nie reingehen. Fitness ist für mich kein Sport und kann es auch niemals ersetzen. Es gab immer Trends. Viel ist auch einfach Werbung, ein riesen Markt, da verdienen ein Haufen Leute eine Menge Geld mit.“ „Und ich denke, dass jemand der viel Sport treibt, eine anderes Körperbewusstsein hat. Körpergefühl ist generell wichtig für die Gesundheit.“ „Ich müsste, würd’ auch Spaß machen, bin aber einfach zu faul.“
Experimentalisten schätzen und praktizieren „mentale“ Gesundheitsvorsorge, z. B. in Form von Meditation (weniger im klassischen Verständnis der „Selbstüberwindung“ als dem milieutypischen Wunsch nach erweiterten Erfahrungen folgend). Es ist ihnen sehr wichtig, mit sich und ihrem Leben zufrieden zu sein. Für sie fördert das Konzentrieren auf sich selbst und das Ausleben eigener Bedürfnisse per se die Gesundheit; „Egozentrik“ ist somit Bestandteil der Gesundheitsvorsorge. ƒ
„Ich kann nur zufrieden sein, wenn ich mir genug Zeit für mich nehme und genau das tue, wonach ich mich fühle.“
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„Mit 15 habe ich mal so ein bisschen in den Buddhismus reingeschnuppert. Und das habe ich auch praktiziert, vielleicht weil es cool war. Aber trotzdem habe ich dabei erfahren, wie gut das tatsächlich ist. Wenn ich heute wirklich in diesen meditativen Zustand komme, dann ist es einfach ein fantastisches Gefühl.“
Im Großen und Ganzen dominiert unter Experimentalisten die Einstellung, dass man in Bezug auf Gesundheitsvorsorge nichts über treiben und sich nicht zu viele Gedanken machen sollte. Für die Mehrheit gilt, im Hier und Heute zu leben und sich nicht jeden Spaß zu nehmen. Vorsorge und Prävention sind in vielen Fällen die Reak tion auf zutage getretene gesundheitliche Konsequenzen des eigenen Lebensstils, und mit zunehmenden Alter erfordern zunehmende Beschwerden auch von Experimentalisten eine erhöhte Aufmerksam keit und verstärkte Maßnahmen zur Gesunderhaltung bzw. Schadensbegrenzung. ƒ ƒ ƒ
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„Mit der eigenen Einstellung geht’s los. Man darf sich nicht zu viele Gedanken machen. Relax.“ „Man muss nicht übervorsichtig sein, man kann schon viel experimentieren.“ „Da hatte ich einen Hörsturz und eine Magenschleimhautentzündung, die dann chronisch wurde, und seitdem muss ich halt immer mehr auf mich achten und da ist es auch mit dem Rauchen immer weniger geworden. Wenn man halt so Sachen hat, fängt man mehr an, darauf zu achten.“ „Je mehr ich mich um mich kümmere, desto besser geht es mir auch. Das war mir früher nicht wichtig, da war ich jung und es war mir egal. Inzwischen ist es mir nicht mehr egal.“
Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Experimentalisten gehen sehr ungern und auch nur dann zum Arzt, wenn es sich nicht länger hinausschieben lässt, weil sich eine Erkran kung als schwerwiegend und nicht selbst behandelbar herausstellt – oder aber schnelle Abhilfe aus beruÀichen Gründen angezeigt ist bzw. eine of¿zielle Krankschreibung benötigt wird. Diese Zögerlichkeit, einen Arzt aufzusuchen, speist sich aus verschiedenen Quellen. Einerseits sind Experimentalisten im Schnitt recht jung; viele der sie betreffenden Krankheiten können tatsächlich undramatisch selbst kuriert werden, und Experimentalisten haben oft vielfältige eigene Strategien bei Beschwerden. Andererseits spielen auch tiefsitzende Befürchtungen vor der möglichen Diagnose
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(mit unangenehmen und unerwünschten Folgen für ihren Lebensstil) eine nicht unwesentliche Rolle. Zudem pÀegen Experimentalisten eine kritische Distanz zu Ärzten. Sie erkennen in vielen durchaus den „Fachmann“, den Experten an, sehen aber auch so manchen nur mäßig kompetenten Vertreter dieser Zunft und unterstellen in einigen Fällen unumwunden Scharlatanerie. ƒ ƒ ƒ
„Ich gehe nur zum Arzt, wenn etwas chronisch oder lebensbedrohlich wird.“ „Ich gehe wahnsinnig ungern zum Arzt. Die können oft gar nicht richtig helfen, das hätte ich auch allein gekonnt.“ „Man sollte Ärzten differenziert gegenüberstehen und nicht alles blind glauben, was sie sagen. Die machen auch Fehler.“
Die Empfehlung von Freunden hat großes Gewicht bei der Arztwahl, ansonsten pÀegen Experimentalisten das „Trial-and-Error“-Prinzip. Grundsätzlich suchen Experimentalisten einen Arzt, zu dem sie Vertrauen haben können, der sie ernstnimmt und mit dem sie gegenseitiger Respekt verbindet. Sie möchten weder belehrt noch „betüddelt“ werden. Ein „guter“ Arzt muss kompetent sein und einen guten Ruf haben, er sollte zudem freundlich sein, sich Zeit nehmen, den „ganzen Körper“ sehen, die individuellen Probleme verstehen und gemeinsam mit dem Patienten eine Lösung ¿nden. Gerade der Kommunikation kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Experimentalisten haben oft das Gefühl, dass der Arzt ihnen nicht richtig zuhört und Lösungen oktroyiert, die sie weder als angemessen noch als erwünscht betrachten. So stellt denn auch bei vielen Experimentalisten der Hausarzt die bevorzugte Anlaufstelle dar, weil dieser ihnen am ehesten das Gefühl vermittelt, nicht nur „einen Job zu machen und den Patienten möglichst schnell abzuhaken“. Was nicht bedeutet, dass sie von Hausärzten nicht auch ganz selbstverständlich hohe fachliche Quali¿kation und innovative Methoden erwarten. Wie in vielen anderen Bereichen, sind Experimentalisten in gesund heitlichen Belangen sehr Technik-af¿n, aber sie fordern ebenso ganzheitliche Herangehensweisen und interdisziplinäres Know-how. ƒ
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„Das perfekte Verhältnis ist schwierig in der heutigen Zeit. Ich glaube, dass viele Ärzte unter einem unglaublichen Stress stehen. Aber einfach ernstgenommen zu werden ist schon wichtig. Das ist eigentlich das Wichtigste. Ein Vertrauensverhältnis und Respekt.“ „Ich ¿nde Ärzte eigentlich ziemlich erschreckend. Die hören einem nie zu. Ich habe immer das Gefühl, die wollen einen schnell wieder loswerden.“
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„Viele Ärzte versuchen, einen eher abzufertigen und nicht gründlich drüber nachzudenken. Es gibt aber auch andere Ärzte, die sich wirklich Gedanken machen, auch mit neuen Methoden arbeiten und weites Wissen in verschiedenen Bereichen haben.“
Experimentalisten haben dabei durchaus Verständnis für die sehr anstrengende Situation von so manchem Arzt. Sie konstatieren allerdings auch hier einen Unterschied zwischen engagierten Medizinern, die unterschiedslos für alle Patienten gleichermaßen und mit Zeit zur Verfügung stehen und sich dabei fast aufreiben, und solchen, die durch schnelles Durchschleusen und ohne größeres Involvement ihr Geld machen. ƒ
„Mein Arzt ist ein Mensch, der keine Termine macht, für niemanden. Man geht da hin und die Patienten werden nach Dringlichkeit behandelt. Bei ihm sieht man halt, wie voll so ein Wartezimmer ist, und er ist schon jemand, der sich gegenüber Kindern auch mehr Zeit nimmt und auch älteren Leuten. Aber man sieht ihn unglaublich gestresst durch die Gegend rennen, weil ihm die Arbeit über den Kopf wächst. Der hat mal locker seinen 12-Stunden-Tag, und das jeden Tag. Und Termine und Hausbesuche macht er nur samstags, zusätzlich. Als Landarzt, wo die meisten Ärzte weggezogen sind und man ein riesen Einzugsgebiet hat, ist es schwierig.“
Einnahme von Medikamenten Experimentalisten sind hochaktiv in der Selbstmedikation. Falls es sich bei ihren Beschwerden nicht um gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen handelt, spielen sie deren Bedeutung herunter und behandeln ihre „Wehwehchen“ mit OTCProdukten. Schmerzmittel, Erkältungsmittel, allergiehemmende Mittel, aber auch Naturheilmittel werden bei Bedarf in Eigenregie genommen. Experimentalisten zeigen keine spezielle Vorliebe für eine bestimmte medizinische „Schule“; erlaubt ist, was (schnell) hilft – und nicht die ¿nanziellen Möglichkeiten übersteigt bzw. zu sehr belastet. Von aufwendigeren oder teureren (aber medizinisch notwendigen) Therapien erwarten Experimentalisten, dass sie von ihrer Krankenkasse übernommen werden; dafür geht man dann auch zum Arzt, um ein entsprechendes Rezept zu erhalten.
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Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit „Ich hatte bisher selten so Schwierigkeiten gehabt, dass ich zum Arzt gehen musste. Bei Kleinigkeiten gehe ich nicht, weil ich mich selber medikamentieren kann.“
Experimentalisten kaufen selten Nahrungsergänzungsmittel; ihren häu¿g praktizierten ungesunden Ernährungsstil versuchen sie lieber durch zeitweise „gesunde Ernährung“ mit Bio- oder anderen qualitativ hochwertigen Lebensmitteln auszugleichen. ƒ
„Statt Vitaminpräparate esse ich lieber frisches Obst und Gemüse.“
Die Compliance mit ärztlichen Anweisungen bei der Medikamenteneinnahme ist stärker ausgeprägt als die Compliance mit Anweisungen, die das allgemeine Gesundheitsverhalten betreffen: In akuten Krankheitsfällen wird zumindest bis zum Abklingen der Beschwerden das verordnete Präparat (mehr oder weniger) regel mäßig eingenommen, während Prophylaxemaßnahmen wie Rückenschule oder Aufgabe bestimmter Verhaltensweisen doch eher der eigenen Beurteilung unterstellt werden. ƒ ƒ
„Im Umgang mit Medikamenten würde ich wahrscheinlich die Anweisungen des Arztes befolgen. Ansonsten würde ich mich eventuell an die Anweisungen eines Arztes halten.“ „Jeder weiß selbst, was für ihn am besten ist.“
Vorsorgeuntersuchungen Experimentalisten nehmen im Milieuvergleich am seltensten an Vorsorgeuntersuchungen teil, wobei die weiblichen Milieuangehörigen noch deutlich häu¿ger von diesen Angeboten Gebrauch machen als ihre männlichen Pendants. Da viele Experimentalisten vorzugsweise wenig Gedanken an zukünftige Gesundheit und mögliche Krankheiten verschwenden bzw. dieses Thema erfolgreich verdrängen, sind Vorsorgeuntersuchungen etwas, mit dem man sich laut eigener Aussage vielleicht in zehn Jahren beschäftigen wird. Dabei ist es nicht so, dass Experimentalisten nicht die Wichtigkeit und Richtigkeit von diesen Untersuchungen anerkennen, sie haben lediglich in ihrem derzeitigen Leben noch keine Relevanz und keinen Raum.
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„Wenn ich vierzig bin, kann und werde ich darüber nachdenken.“
Ändern könnte (und würde) sich diese Einstellung, wenn im engeren Familienoder Freundeskreis entsprechende Krankheiten auftreten oder man bei sich selbst Symptome feststellen würde. Experimentalisten sind auch der Meinung, dass Vorsorgeuntersuchungen von den Krankenkassen besser kommuniziert werden müssten. Sie schlagen Kampagnen vor, die mehr auf junge Leute zugeschnitten sein sollten, um deren Aufmerksamkeit zu erlangen und zum Mitmachen anzuregen. Hier würden sich Plakate und Spots mehr anbieten als Postsendungen, da erstere von Experimentalisten stärker wahrgenommen werden – und nicht wie die Krankenkassenzeitschriften gleich im Abfall verschwinden. ƒ ƒ ƒ
„Ich fühle mich ¿t und gesund, da hatte ich bislang noch kein Interesse an Vorsorgeuntersuchungen. Aber falls ich das mitkriegen würde, dass einer meiner Freunde… das würde mich doch zum Nachdenken anregen.“ „Die meisten Leute – wenn die so wie ich ticken – werden es erst dann einsehen, wenn sie halt dann Zipperleins haben, um die sie sich kümmern müssen, wenn der Körper es von einem verlangt.“ „Sie (die Krankenkassen) sollten Anzeigen im Fernsehen schalten. Plakate.“
Ein weiterer Grund für die Unterlassung von Untersuchungen ist die generelle Unlust, einen Arzt aufzusuchen. Nicht nur hat der Besuch beim Arzt keinen „Funfaktor“, man fürchtet auch unterschwellig die Konfrontation mit unangenehmen Wahrheiten und Konsequenzen. ƒ
„Man muss ja, wenn man über 30 ist, eigentlich zur Krebsvorsorge. Das schiebe ich schon die ganze Zeit vor mich her, weil ich keine Lust habe, da auch noch hinzugehen. Wer weiß, was der dann wieder ¿ndet.“
Nur der Zahnarzt wird von Experimentalisten regelmäßig aufgesucht. Dies mag in vielen Fällen nicht unbedingt und direkt einer gewissen Eitelkeit geschuldet sein, aber die richtige Selbstdarstellung (jung, unangepasst, in Form, mit sich im Reinen) lässt sich eben einfacher erzielen, wenn man auch sorglos „seine Zähne zeigen kann“. Zudem spielt der ¿nanzielle Aspekt eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wenn das Bonus-Heft nicht gut geführt ist, bedeutet es erhebliche Mehrkosten bei zahnärztlichen Leistungen, die man – im Gegensatz zu so mancher
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anderer ärztlichen Behandlung oder Prophylaxemaßnahme – tatsächlich in Anspruch nehmen möchte. ƒ
„Die Zähne sind mir wichtig, auch aus ästhetischen Gründen. Und Zahnschmerzen sind echt der Horror.“
Zweiter Gesundheitsmarkt Jenseits der Selbstmedikation mit OTC-Produkten nehmen Experi mentalisten eher selten Angebote des sogenannten Zweiten Gesundheitsmarktes in Anspruch. Dafür lassen sich unterschiedliche Gründe ins Feld führen: Zum einen werden die Leistungen nicht (oder nur sehr eingeschränkt) von den gesetzlichen Krankenkassen über nom men. Damit ist die Finanzierbarkeit für Experimentalisten eine hohe Hürde, die sie mangels ausgeprägten Interesses nicht über winden (möchten). Zum anderen ist die regelmäßige Teilnahme an Angeboten (beispielsweise Rückenschulen, Muskelrelaxation, Stressbewältigung, Bewegungstherapien) sehr zeitintensiv und verlangt auch Disziplin und Kontinuität. Dies ist mit der Lebensweise von Experimentalisten häu¿g schlecht kompatibel. Verordnete, von der Kran ken kasse übernommene Leistungen wie Reha-Maßnah men nach Bandscheibenvorfall, Unfällen oder bei berufsbedingten Haltungsschäden werden zwar begrüßt, aber in vielen Fällen nicht konsequent durchgeführt.
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„Wellness scheitert am Geldbeutel und an der Bequemlichkeit.“ „Auch in dem Augenblick dann daran zu denken, meine Übungen zu machen. Ich versuche, das immer mehr zu machen. Aber das zu verinnerlichen ist halt sehr schwer.“ „Da gibt es auch solche Kursangebote, wo man auch günstiger Rückenschule machen kann. Aber manchmal sind die so zu bekloppten Zeiten – ich bin ja keine Hausfrau.“
Prinzipiell gilt: Experimentalisten erwarten, dass medizinisch notwendige Maßnahmen von den Kassen getragen werden; darüberhinausgehende Angebote (Massagen, Yoga, Ayurveda oder Rückengymnastik) treffen zwar besonders bei Frauen auf grundsätzliches Interesse, werden aber als Wellness-Angebote wahrgenommen, sind der Eigen¿nanzierung unterworfen und werden somit höchstens zeitweilig und als „besondere Erfahrung“ genutzt. ƒ
„Ich gönne mir im Winter zwei bis dreimal eine Massage. Wäre öfter natürlich toll, oder auch Ayurveda, mal was krass anderes, aber da hab’ ich zu wenig Zeit und Geld.“
Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Insgesamt beurteilen Experimentalisten die aktuelle Gesundheitsversorgung in Deutschland als gut bis sehr gut. Nur vereinzelt wird von Erfahrungen berichtet, dass Leistungen verweigert wurden oder Ärzte falsch oder ungenügend behandelt haben. Grundsätzlich wird sowohl die technische Ausstattung wie auch die Quali¿kation der Ärzte als (überdurchschnittlich) gut wahrgenommen. Auch betonen Experimentalisten immer wieder, dass in Deutschland (im Gegensatz zu Ländern wie den USA) Krankheit nicht gleich den ¿nanziellen Ruin bedeutet. Das System wird bislang (zumindest auf der medizinisch-technischen Seite) den eigenen Bedürfnissen gerecht. ƒ ƒ
„Wir haben doch ein überdurchschnittlich gutes System.“ „Ich habe wenig persönliche Erfahrungen, aber wenn mal was war, wurde mir geholfen.“
Allerdings sehen auch Experimentalisten eine immer stärkere Ent wicklung Richtung Zweiklassen-System. In den gesetzlichen Kassen werden bei steigender ¿nan-
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zieller Belastung der Versicherten die Leistungen verringert, und die Befürchtung greift Raum, dass es in Zukunft verstärkt auf die persönliche ¿ nanzielle Lage ankommt, ob man Zugang zu den Praxen von guten Ärzten und mehr als nur die absolute Basisversorgung erhält. ƒ
„Ist doch schon heute so: Wer Geld hat, kann sich die besseren Ärzte und die bessere Versorgung leisten. Heute beinhaltet auch die Grundversorgung noch alles Notwendige, aber wie das in ein paar Jahren aussehen wird, möchte man sich lieber nicht so genau vorstellen.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Viele Experimentalisten haben sich bislang noch keine weitergehenden Gedanken zum bestehenden Gesundheitssystem gemacht, da die persönliche Betroffenheit derzeit relativ gering ist. Wie zuvor bereits beschrieben, sind die meisten mit der allgemeinen Versorgung auch für gesetzlich Versicherte zufrieden und der Ansicht, dass diese immer noch einen recht hohen medizinischen Standard hat und meist ausreichend zur Verfügung gestellt wird. Spontan sehen Experimentalisten jedoch Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, d. h. beim medizinischen Personal (Ärzte und PÀeger) sowie den Verwaltungsangestellten der Kassen. Für beide Gruppen fallen Stichworte wie schlechte Erreichbarkeit, Überlastung, Zeitmangel, Unfreundlichkeit, Abgestumpftheit, Überheblichkeit, In kompetenz. Mit Ausnahme der Inkompetenz und Überheblichkeit betrachten Experimentalisten diese Eigenschaften aber nicht als von den genannten Akteuren (allein) verschuldet, sondern bewerten sie als Konsequenz der sich verschlechternden ¿nanziellen Situation. ƒ
„Und dann noch eine unfreundliche, inkompetente Frau, die überhaupt keine Ahnung hatte von meinem Fall. Eigentlich hatte ich das Gefühl, da sitzt so eine von einer Zeitarbeits¿rma eingekaufte Frau, die dann halt jetzt grade mal einen Fall bearbeitet. Die war ganz furchtbar unfreundlich und zickig – das hatte ich früher nie. Da kriegt man schon das Gefühl, dass da mit aller Gewalt gespart wird.“
Bei näherer Beschäftigung mit dem Thema konstatieren Experimentalisten, dass wirtschaftliche Aspekte immer mehr im Vordergrund der Gesundheitsversorgung stehen. In Konsequenz stellen sie fest, dass man immer mehr darauf achten muss, welchen Arzt man wählt, da die Ärzte, die „wirtschaftlich“ denken, immer weniger
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gründlich und gut behandeln (können). Auch befürchten Experimentalisten, dass es im bestehenden System aus Finanznot dazu kommen könnte, dass die freie Arztwahl abgeschafft wird, was im schlimmsten Fall hieße, dass man nur gegen Barzahlung behandelt wird, wenn man zu einem ganz bestimmten Arzt möchte. ƒ
„Es gib jetzt schon genug Ärzte, die nur noch Privatpatienten behandeln. Wenn ich dann in Zukunft zu dem Arzt möchte, der mir wirklich hilft, muss ich das vielleicht selber zahlen.“
Die marode Finanzlage, die Experimentalisten aber nur zu Teilen nachvollziehen können („Wo bleiben denn all die Gelder ?“), hat steigende Beiträge und Zuzahlungen bei sinkenden Leistungen zur Folge. Dies kreiden Experimentalisten auch der wuchernden Bürokratie, dem Papierkrieg in Arztpraxen und Krankenhäusern und dem daraus resultierenden Zeitverlust an. Ihre Wahrnehmung ist: Das deutsche Gesundheitssystem ist kompliziert, ändert sich ständig, es besteht wenig Planungsicherheit, und besonders die Ärzte und PÀeger können sich nie darauf verlassen, dass bestehende eingeübte Routinen auch längerfristig anwendbar sind. Zuständig für die Stabilisierung und Ausgestaltung des Gesundheitssystems ist für Experimentalisten die Politik; sie schafft die Rahmenbedingungen und wäre aufgerufen, regulierend einzugreifen. Allerdings fürchten Experimentalisten im derzeitigen System den EinÀuss von Lobbyisten und Pro¿teuren, die in der Vergangenheit sinnvolle Reformen immer wieder verhindert haben und zum aktuellen Reformchaos beitragen. Aber auch jeder Einzelne trägt durch sein Verhalten zur Konsolidierung oder aber Verschlechterung der derzeitigen Situation bei. Experimentalisten sehen durchaus den Aspekt der Eigenverantwortung, auch wenn sie ihn im persönlichen Verhalten häu¿g ausblenden (können) – im heutigen System hat es für sie ja noch keine Konsequenzen. ƒ ƒ
„Da müsste die Politik viel konsequenter und autonomer sein. Aber alles geht eher in Richtung Wahlkampf. Da sitzen Leute in den Gremien, die nur nach politischen Meinungsschwankungen entscheiden.“ „Zuständig sind alle: Politiker, Finanzexperten, Krankenkassen. Aber auch die Patienten, die Versicherten. Krankenversicherung ist eben eine Versicherung, und die muss immer die Masse auffangen. Aber dann müssten die Einzelnen eben auch dafür sorgen, dass sie nicht so extrem krank werden.“
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Chancengerechtigkeit Die Bewertungen der Chancengerechtigkeit rangieren von „scheint einigermaßen gegeben zu sein und zu funktionieren“ bis hin zu „gibt es nicht, es wird immer Leute geben, die ihren Vorteil suchen und ¿nden“. Experimentalisten haben sich in vielen Fällen zu diesem Thema noch keine erschöpfenden Gedanken gemacht, die Antworten spiegeln zumeist ein „Bauchgefühl“ wider. Konsens in den Aussagen ist aber, dass das Gesundheitssystem ein Solidarsystem ist (und bleiben soll), in dem es Besserverdienenden nicht möglich sein darf, sich vollständig zu entziehen. Hier ähneln die Auffassungen denen der Postmateriellen: Nicht nur Eigentum, auch „Eigenkapital“ verpÀichtet, und wer mehr verdient, muss auch stärker herangezogen werden. In einem so sensiblen Bereich wie Gesundheit verlangen Experimentalisten, dass absolute Gleichberechtigung herrscht, kein Klassensystem. Für sie ist es ethisch untragbar, dass mangelnde ¿nanzielle Ausstattung über etwas so im wahrsten Sinne des Wortes „Lebenswichtiges“ wie Gesundheit entscheiden könnte. ƒ
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„Dass es Patienten erster und zweiter Klasse gibt, ¿nde ich nicht in Ordnung. Das sollte für alle gleich sein, ¿nde ich. Dass Menschen mit weniger Geld weniger in den Topf geben können, ist doch normal, die haben einfach nicht mehr Geld. Es müsste halt mehr Gemeinschaftssinn sein.“ „Ich würde ja dieses Privatpatientdingsbums am besten streichen. Das ¿nde ich ein ziemlich ungerechtes Verhältnis, dass da Menschen bevorzugt behandelt werden, während andere da immer weniger Leistung kriegen für ihr Geld. Die Beiträge sollte man einkommensgerecht machen. Und die Behandlung darf sich nicht unterscheiden.“
Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Obwohl Experimentalisten selbst häu¿g einem exzessiven Lebenswandel frönen und nicht gerade die Speerspitze der Prävention und der Vorsorge darstellen, betonen sie bei den Erwartungen an ein zukünftiges Gesundheitssystem die Unerlässlichkeit der Stärkung von gesundheitlicher Aufklärung und präventiver Maßnahmen. ƒ
„Wichtig wäre, dass bereits in der Schule die Kinder richtig erzogen werden, teilweise brauchen auch die Eltern dafür Unterstützung. Man müsste bereits bei Kindern früher ein Bewusstsein für Gesundheit wecken.“
SINUS C2: „Experimentalisten“ ƒ
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„Man sollte den Kindern in der Früherziehung in der Schule schon beibringen, dass der Körper ein Tempel ist, den man gut pÀegen sollte. Und dass sich das wie ein roter Faden durch das Leben der Menschen zieht. Und nicht wie in Amerika, wo sie den McDonalds in die Schule mit einbauen.“
Hier gehen ihre Anregungen auch über die üblichen schulischen Maßnahmen hinaus und beziehen das Freizeitverhalten der Kinder explizit mit ein. Solidarisches Verhalten, wie es Experimentalisten im Gesundheitsbereich vorschwebt, lässt sich in ihren Augen am besten bei Sport und Spiel ohne Zwang und mit Spaß lernen und leben, was späteres Verhalten beeinÀusst und damit positive Auswirkungen auf die Gesundheit hat. ƒ
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„Ich ¿nde z. B. Sportprogramme für kleine Kids eine großartige Sache, gerade auch durch Mannschaftssportarten viel zu fördern. Soziale Kompetenzen werden sich auch irgendwann wieder auf die Gesundheit niederschlagen.“ „So wie in Schweden. Da hast du mehr das Gefühl, dass es ein Gemeinschaftsland ist. Alle für alle.“
Von einem zukünftigen Gesundheitssystem erwarten Experimentalisten, dass die freie Arztwahl bestehen bleibt und alle notwendigen Behandlungen übernommen werden. Dazu zählen Notfallmedizin, optimale Behandlung aller Krankheiten mit den anerkannt besten Mitteln, Zahnbehandlung „nach gutem Standard“, Vorsorge (!) und Rehabilitationsmaßnahmen. Kosmetische Behandlungen (z. B. Zahnaufhellungen) oder Wellness-Angebote müssen im Leistungskatalog nicht enthalten sein, könnten aber über Bonus-Programme (für gesundheitsbewusstes Verhalten) vergünstigt angeboten werden. Experimentalisten fordern auch eine Abkehr von der „Massenabfertigung“. Stattdessen sollte eine auf den Einzelfall abgestimmte Behandlung und Vergütung vorgenommen werden, d. h. den Ärzten muss genügend Zeit zur Verfügung stehen, sich mit dem Patienten auseinanderzusetzen und ihm auf die individuell bestmögliche Art und Weise zu helfen. In diesem Zusammenhang plädieren Experimentalisten auch für eine angemessene Entlohnung von Ärzten und PÀegepersonal, um die Motivation zu steigern. Zudem muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Ärzte keine BWL-Ausbildung absolviert haben und daher bei ef¿zienter Praxisverwaltung gegebenenfalls Hilfestellung benötigen (die allerdings nicht qualitativ zu Lasten der Patienten gehen darf).
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Experimentalisten erkennen dabei sehr wohl, dass die Finanzierung des Systems problematisch ist, und nennen einige Möglichkeiten, das Dilemma zu entschärfen. Da nach ihrer Auffassung jeder so viel zahlen soll, wie er kann (d. h. nach Vermögen), müssen alle Gelder (auch die der Besserverdienenden) in einen Topf Àießen, um die Solidargemeinschaft zu ¿nanzieren. Private Krankenkassen wären damit obsolet, und den gesetzlichen Kassen ständen viel höhere Beträge zur Verfügung. ƒ
„Ich würde die Privatversicherung auÀösen und mehr Gerechtigkeit für alle schaffen. Dieses Zweiklassen-System auÀösen, und dadurch mehr Leistung für alle schaffen und dadurch den Ärzten mehr Spielraum lassen.“
Zudem wird nach Auffassung der Experimentalisten zu viel Geld für das Falsche ausgegeben, sie wünschen sich eine bessere Verteilung der Gelder: Reduzierung des aufgeblähten Verwaltungsapparates und der Bürokratie, aber auch Vermeidung von überÀüssigen oder inadäquaten Behandlungen. Bei den Kassenleistungen braucht es einen „Mittelweg“; alles, was hilft, sollte gezahlt und bei Über Àüssigem eingespart werden. Hier betonen Experimentalisten ironischerweise auch die Eigenverantwortung der Patienten; der Einzelne sollte mehr auf die Gesundheit achten, um Kosten zu vermeiden oder zu ver ringern, und notfalls sonst mit (¿nanziellen) Konsequenzen konfrontiert werden. Niedrigere Beiträge stehen nicht auf der Wunschliste der Experimentalisten, da sie von deren Finanzierbarkeit bei gleich zeitigem Erhalt der Qualität der medizinischen Versorgung nicht überzeugt sind. ƒ
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„Da gibt es Überlegungen, dass z. B. Raucher einen höheren Beitragssatz zahlen. Es ist vielleicht gemein, aber eigentlich kann ich es verstehen. Ein Raucher, der dann vielleicht Lungenkrebs hat, kostet die Krankenkasse viel Geld, mehr als er wahrscheinlich jemals an Leistungen erbracht hat.“ „Ich ¿nde nicht, dass die Beiträge unbedingt sinken müssen. Ich will ja für mein Geld was geboten kriegen. Mir ist viel wichtiger, dass meine Versorgung stimmt, und da kann ich was für zahlen.“
Schlussendlich plädieren Experimentalisten dafür, die Pro¿teure des Gesundheitssystems („Pharmariesen“, Lobbyisten) zu entmachten und stattdessen die Fachkompetenz in den verschiedenen (politischen) Gremien zu stärken.
SINUS BC3: „Hedonisten“
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SINUS BC3: „Hedonisten“ Kurzcharakteristik und Lebenswelt Soziale Lage des Sinus-Milieus BC3 „Hedonisten“ Lebenssituation
x Viele Ledige und Alleinerziehende x Auch 3- und Mehr-Personen-Haushalte sind leicht überrepräsentiert
Bildung
x Kein deutlicher Schwerpunkt im Niveau der Formalbildung, aber vergleichsweise viele ohne Schulabschluss x Überdurchschnittlicher Anteil an Schülern und Azubis
Beruf
x Überwiegend einfache aber auch mittlere / quali¿zierte Angestellte und Arbeiter / Facharbeiter (Handwerker) x Leicht überdurchschnittliche Arbeitslosenquote
Einkommen
x Ein Drittel der Milieuangehörigen hat kein oder nur ein sehr geringes eigenes Einkommen x Die Haushaltsnettoeinkommen liegen schwerpunktmäßig zwischen 2.000 und 3.000 Euro* x Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen: 2.414 Euro
* Quelle: Finanzmarktdatenservice 2008
Die Hedonisten sind meist auf der Suche nach Fun und Action und Unterhaltung. Unterwegs zu sein, auszubrechen aus den Zwängen des Alltags, frei und unabhängig zu sein, anders als die „Spießer“, ist das Ziel. Auch in schwierigen Zeiten wollen sie sich ihren Spaß nicht nehmen lassen: Krisenbewältigung durch Verdrängung, wie im Milieu der Experimentalisten. Die Zahl derjenigen, die ein regelrechtes Doppelleben führen – zwischen Angepasstheit im Berufsalltag und Abtauchen, über die Stränge schlagen in der Freizeit –, wächst. Insgesamt nimmt die Leistungsbereitschaft im Milieu ab. Trotz oder gerade angesichts schwindender Job-Chancen und Hartz IV-Dämpfern wollen viele eher von der „Stütze“ leben als sich bei der Arbeit herumkommandieren zu lassen. Die Hedonisten leben nach wie vor im Hier und Jetzt, lassen sich treiben, sehen was kommt. Anders als die Konsum-Materialisten geben sie ihr Geld spontan und unkontrolliert aus, ihre Bereitschaft einen Kredit aufzunehmen, ist gewachsen. Lebensplanung und Zukunftsvorsorge ¿nden kaum statt. Typisch für die Hedonisten ist ihr expansiver, outdoor-orientierter Lebensstil. Schnelle Autos und Motorräder faszinieren sie. „Krasse“ Szenen, Klubs und Fangemeinden sind das Umfeld für gemeinsame Aktivitäten. Darüber hinaus inter-
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essieren sie sich für alles, was unterhält: Fernsehen, Kino, Video, Computerspiele, Musik, Sport, Disco- und Kneipenbesuche. Das Milieu hat seinen Lage-Schwerpunkt in der modernen Unterschicht. Das soziodemographische Pro¿l zeigt keine dramatischen Abweichungen von den Verhältnissen in der Grundgesamtheit. Altersaufbau des Sinus-Milieus BC3 „Hedonisten“
Im Hedonistischen Milieu, noch in den 1990er Jahren ein klassisches Jugendmilieu, ¿nden sich heute jüngere und mittlere Altersgruppen bis 50 Jahre. Nur noch ein Drittel der Milieuangehörigen ist unter 30. Der Alters-Median liegt bei 38 Jahren. Bei den Hedonisten handelt es sich um ein aktives Milieu, das Langeweile scheut und ständig auf der Suche nach intensiver Abwechslung ist. VerpÀichtungen und Verbindlichkeiten werden als Belastungen angesehen, die man nach Möglichkeit meidet. Hedonisten versuchen vielmehr, sich ein Optimum an Optionen offen zu halten und langfristige Entscheidungen bezüglich der persönlichen Zukunft (beruÀich oder familiär) zu umgehen. Gesellschaftliche Konventionen und Normen spielen in diesem Milieu kaum eine Rolle; sie werden als Einengung empfunden, der man sich widersetzt. In Konsequenz fällt es Hedonisten schwer, einen Platz für sich in der Gesellschaft zu ¿nden. Die ¿ nanzielle Lage ist meist angespannt, in der Regel wird dies als wichtigste Einschränkung im Leben empfunden. Andere Grenzen werden dagegen kaum akzeptiert. Eine Ausnahme bildet hier nur der beruÀiche Alltag, in dem sich Hedonisten meist ohne innere Identi¿kation mit den Job arrangieren und sich anpassen, in der Freizeit aber fühlt man sich frei, zu tun oder zu lassen, was man möchte. Die materiellen Ansprüche sind dabei nicht ausgeprägt; teure Marken oder Konsumgüter spielen keine herausragende Rolle. Wenn man sich etwas leisten kann, tut man es, wenn nicht, kann man damit leben. Hedonisten de¿nieren sich nicht über Konsum: Status ist praktisch irrelevant, es ist viel wichtiger, Geld für die Freizeitgestaltung zu haben.
SINUS BC3: „Hedonisten“
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Die Sozialisation verläuft über die Gruppe, bestimmte Kreise oder Subkulturen, in denen man sich bewegt. Hedonisten orientieren sich an den Lebensweisen des nahen Umfelds und entwickeln daraus individuelle Lebenskonzepte und Strategien. Die Tagesabläufe sind gewollt unregelmäßig; man verabscheut einen klassischen, ritualisierten Alltag und behält sich eine gewisse Spontaneität vor. Eine Anpassung an den Mainstream wird zwar abgelehnt, latent existieren aber Wünsche nach Sicherheit, Geborgenheit und gewissen Strukturen bzw. sie werden für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Gemeinsame Unter nehmungen (Partys, sich bei Freunden treffen, in Bars und Kneipen gehen) sind zentrale Elemente der Freizeitgestaltung, aber auch sportliche Betätigung oder eher entspannende Tätigkeiten wie Kochen spielen eine zunehmend wichtigere Rolle. Die Milieuangehörigen sehen sich häu¿g in einer „Übergangsphase“ – auch wenn diese meh rere Jahrzehnte dauern kann. Auf der Suche nach intensiven Erlebnissen und starken Reizen ist die Lebensweise kaum auf den Erhalt der Gesundheit ausgerichtet, mit den körperlichen Ressourcen wird relativ sorglos umgegangen, das Bewusstsein dafür ist schwach ausgeprägt. Stattdessen setzen sich Hedonisten bewusst „schädlichen EinÀüssen“ wie exzessiven Partys, Alkohol, Rauchen oder auch andere Drogen aus. Auch in Bezug auf die Ernährung will man sich nicht festlegen, sondern reagiert situativ und unkonventionell. Gesundheitsbewusstsein bzw. eine gesunde Lebensführung steht in krassem Widerspruch zum Freiheitsdrang und zum Bedürfnis der Hedonisten sich auszuleben. Man schiebt allerdings auch die Gedan ken daran konsequent zur Seite oder leugnet falsches Verhalten. Viele Hedonisten emp¿nden einen starken Leistungsdruck, dem sie sich nicht gewachsen fühlen und auf den sie daher mit Verweigerung reagieren. Materielle Sicherheit, langfristige Perspektiven oder klare Ziele fehlen, was unterschwellig zu Zukunfts- bzw. Versagensängsten führt und durch besonders provozierendes und unangepasstes Verhalten kompensiert wird. Falls Arbeitsverhältnisse bestehen, spielen häu¿g auch die beruÀichen Belastungen eine gesundheitlich relevante Rolle. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse, unregelmäßige Arbeitszeiten wie auch fehlende Planungssicherheit und oft körperlich anstrengende Tätigkeiten in der Industrie, im Handwerk oder auf dem Bau fordern ihren Tribut. Bedeutung von Gesundheit Da altersbedingte Krankheiten bei Hedonisten bislang nur eine marginale Rolle spielen, ist das Bewusstsein für die Einschränkungen durch Krankheit schwach ausgeprägt. Solange man von Krankheiten verschont bleibt, ist der Themenkom-
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plex Gesundheit und Bedeutung von Gesundheit irrelevant. Viele Hedonisten nehmen (physische) Gesundheit einfach als gegeben an; teilweise wird sogar mit latentem Stolz darauf verwiesen, dass einem die eigene Lebensweise bisher nicht geschadet hat und man gegen schädliche EinÀüsse offensichtlich resistent ist. ƒ
„Wenn der Körper funktioniert, wenn alles gut ist, dann denke ich gar nicht drüber nach.“
Der akute Krankheitsfall kommt fast einer persönlichen Beleidigung gleich, da die egozentrische Spaßsuche einen funktionierenden Kör per voraussetzt und jegliche Einschränkung durch Krankheit als Spaßbremse wahrgenommen wird. Der milieutypische Umgang damit bietet zwei Varianten: entweder wird die Krankheit als „vorübergehendes“ Leiden kategorisiert, das es einfach auszusitzen gilt, oder aber man erwartet, dass ein kurzer (und ungeliebter) Gang zum Arzt schnelle, „reparative“ Hilfe bringt. Als Krankheiten treten unter Hedonisten vor allem Erkältungs- und Atemwegserkrankungen auf, die aber meist unkompliziert verlaufen. Gravierender und langfristiger sind dagegen orthopädische Schäden am Rücken oder Knie, die aufgrund von Fehl- oder Überbelastung bei der Arbeit, beim Sport und teilweise auch als Folge von Unfällen auftreten. Als chronische Beschwerden nennen Hedonisten zudem Allergien und Asthma. Diese Leiden werden zwar als besondere Bürde oder Einschränkung gesehen, aber da Vermeidung im Vorfeld oder rehabilitative Therapien nach „Schadenseintritt“ viel Selbstdisziplin und auch Verhaltensänderungen verlangen, ziehen Hedonisten es häu¿g vor, auch hier entweder den starken Mann zu markieren und die Beschwerden herunterzuspielen, oder aber nur die Spitzen dieser Beschwerden medikamentös zu bekämpfen. Zwischen Schicksal und Verantwortung Der Frage, ob Gesundheit persönlich beeinÀussbar ist, wird von Hedonisten nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Prinzipiell ist ihnen bewusst, dass eine gesunde Lebensweise das Risiko von Krankheiten zumindest verringert, aber Handlungskonsequenzen hat diese Einsicht nicht; sie wären zu ermüdend und wenig spaßbesetzt. Zudem betonen Hedonisten den Stellenwert genetischer Veranlagungen. Dies relativiert die eigene Verantwortung, indem dieser die Anfälligkeit für bzw. die Auswirkungen von vererbten Krankheiten entgegengestellt werden. Man hat also quasi Dispens, wenn etwas mit der Gesundheit schief läuft.
SINUS BC3: „Hedonisten“
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Eine intrinsisch motivierte Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit ¿ndet kaum statt. Es muss von außen an Hedonisten herangetragen werden, aber wer immer dies tut, hat zunächst mit dem Vorwurf der inakzeptablen Einmischung und lebensweltfernen Belehrung zu kämpfen. Auf einer zweiten Ebene erwarten Hedonisten jedoch, dass zum Schutz der Gesundheit das eigentlich verhasste „System“ Anstrengungen unternimmt. Eigener Verantwortung kann man auch hier entgehen, indem auf mangelnde Informationen bezüglich gesundheitsschädlichen Verhaltens verwiesen wird oder drastischere Aufklärungskampagnen verlangt werden nach dem Motto: „Keiner dieser Klugscheißer (alternativ: Klugschwätzer) hat bislang richtig rübergebracht, was das eigentlich alles bedeutet und was man machen kann“. ƒ ƒ
„Es gibt nicht genügend Aufklärung, z. B. über die Folgen von Alkoholkonsum und Rauchen.“ „Ich ¿nde diese krassen Warnhinweise wie diese Bilder in England schon ganz richtig. Man muss den Leuten schon zeigen, was passieren kann.“
Ein weiterer schädlicher, laut Milieuangehörige nicht selbst zu verantwortender EinÀuss auf die Gesundheit ist der zunehmende (¿nanzielle und zeitliche) Druck im beruÀ ichen bzw. Ausbildungsleben. Körperliche und seelische Belastung am Arbeitsplatz, unregelmäßige Arbeitszeiten bei den für Hedonisten typischen Aushilfstätigkeiten und Nebenverdienstverhältnissen sowie die konstante materielle Unsicherheit stellen Faktoren dar, die nach Auffassung der Hedonisten eigene Anstrengungen hinsichtlich Gesunderhaltung ohnehin obsolet machen. ƒ
ƒ ƒ
„Ich arbeite nebenbei noch in einer Bar. Das geht dann auch mal bis 4 Uhr oder noch später. Ist zwar ein bisschen anstrengend, aber dafür sind da viele coole Leute… aber man merkt schon, dass das einen mit der Zeit etwas fertig macht.“ „Ich hab praktisch keine Wahl, wenn ich nicht arbeite, kann ich mein Studium nicht ¿nanzieren.“ „Wenn ich am Ende des Monats nicht weiß, wovon ich Lebensmittel kaufen soll, dann ist das schon heftig. Das ist irgendwie beklemmend.“
Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Informationen zum Thema Gesundheit stehen Hedonisten nach eigenem Bekunden prinzipiell offen gegenüber, aber in der Realität werden sie nur selten abgerufen.
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Fundierte Analysen, die Themen und die derzeit wahrgenommene Art der Darstellung gehen meist an den Bedürfnissen des Milieus vorbei und werden eher als Belastung oder Zeitverschwendung empfunden, denn als Hilfe. Was vor allem weibliche Hedonisten jedoch immer wieder äußern, ist ein diffuses Bedürfnis nach mehr Informationen über „gesundes Alltagsverhalten“. Zwar sind sie sich gängiger schädlicher Verhaltensweisen durchaus bewusst, aber insbesondere in Bezug auf gesunde Ernährung besteht hohe Verunsicherung. Man wünscht sich mehr Orientierung im Warenangebot und klare Konzepte zur Zusammenstellung einer sinnvollen Diät. ƒ ƒ
„Wichtig ist mir gute Ernährung. Da könnten die Krankenkassen mehr Informationen bieten.“ „Man kann dazu eigentlich nie genug wissen. Ich möchte schließlich gesünder leben.“
Es steht zwar zu bezweifeln, dass derartige Empfehlungen auch stringent umgesetzt würden, aber sie stellten zumindest Benchmarks dar. Unbestreitbar hingegen ist: Die Attraktivität von Info-Material und damit der leichtere Zugang zum Thema Gesundheit steht und fällt mit der Auf machung. Spießige, belehrende, zu verkopfte Infor mationsmaterialien sind kontraproduktiv, da sie bestehende Verweigerungshaltungen im Milieu verstärken. Gesundheitssendungen im Fernsehen werden von Hedonisten kaum gesehen, die Informationsmaterialien der Krankenkassen nicht gelesen. In ihrer Wahrnehmung haben diese Angebote keine Relevanz, da sie nach einhelliger Meinung im Milieu für ältere Menschen konzipiert sind, die bereits an Krankheiten leiden. ƒ
„Da sehe ich immer alte, kranke Leute. Das ist nicht so meine Welt.“
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Gesundheitsvorsorge – Präventionsmaßnahmen Das Thema Gesundheitsvorsorge bezieht sich aus Sicht der Hedonisten weniger darauf, etwas aktiv für seine Gesundheit zu tun (Sport treiben, Ernährung umstellen), als darauf, schädliche EinÀüsse zu vermeiden (unregelmäßiger Tagesablauf mit sehr unterschiedlichen, häu¿g kurzen Schlaf phasen, Konsum schädlicher Genussmittel, Drogenmissbrauch). Am häu¿gsten äußern Hedonisten die (meist vage) Absicht, Alkohol-, Zigaretten- und Cannabiskonsum wie auch die Einnahme von Partydrogen (Exctasy, MDMA, Amphetamine) einschränken zu wollen. ƒ ƒ ƒ
„Ich denke häu¿g daran, wie lange ich noch so leben werde. Man tut seinem Körper auch viel an. Nach einem harten Wochenende brauche ich inzwischen bis Dienstag oder Mittwoch, um mich vollständig zu erholen.“ „Früher habe ich häu¿ger und auch viel mehr Alkohol getrunken, auch das Rauchen habe ich reduziert.“ „Ich müsste mal mehr Ordnung in meinen Alltag kriegen, nicht immer so spät schlafen gehen. Dieser unregelmäßige Schlaf laugt ganz schön aus.“
Einen hohen Stellenwert bei der Gesundheitsvorsorge hat für Hedonisten das subjektive Emp¿nden von Zufriedenheit. Wenn sie ihr Leben so leben können, wie
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sie wollen, ist dies für Hedonisten trotz objektiv schädlicher Verhaltensweisen ein Schutz gegen Krankheiten. ƒ ƒ
„Am wichtigsten ist, dass ich mit mir im Reinen bin. Ich muss zufrieden sein, mit dem was ich tue, das ist für mich wichtiger als ständig zu verzichten.“ „Feiern, Ausgehen gehört für mich für ein glückliches Leben mit dazu. Das, was dabei frei wird, schützt mich auch vor Krankheit.“
Als Konsequenz entwickelt sich eine gewisse Schizophrenie im Umgang mit der eigenen Gesundheit. Auf der einen Seite will man gesund bleiben, um den eigenen Lebensstil beibehalten zu können, auf der anderen Seite ist genau dieser Lebensstil der Gesundheit höchst abträglich. Aufgelöst werden kann dieser Widerspruch nur dadurch, dass man „sich ausleben“ und das Spaß- und Zufrieden heitsprinzip zur wichtigsten Gesundheitsdeterminante und Präventionsmaßnahme erhebt und eigene Kompensationsstrategien für die inkludierten schädlichen Verhaltensweisen entwirft. So geht man nach einem durchgefeierten Wochenende Joggen oder treibt anderweitig Sport, und die zeitweise ausschließliche Ernährung durch Fastfood und Fertiggerichte soll in Phasen extensiven Gemüsekonsums ausgeglichen werden. Was aber keineswegs akzeptiert und befolgt wird, sind Vorgaben oder Verhaltensregeln, die andere für sie entwerfen. Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Arztbesuche werden nach Möglichkeit vermieden, und besonders bei kleineren Krankheiten ist die Schwelle für den Arztbesuch sehr hoch. Krankheit und Arztbesuch sind bei Hedonisten auffallend negativ konnotiert. ƒ ƒ
„Ich bin nicht der Typ, der wegen jeder Kleinigkeit gleich zum Arzt rennt.“ „Ärzte und Krankenhäuser haben für mich immer etwas Negatives.“
Eine gezielte Auswahl des behandelnden Arztes ¿ndet nicht statt. Von einem Arzt wird grundsätzlich nur erwartet, dass er die Beschwerden, die den Arztbesuch nötig machten, durch die richtige Therapie kuriert. Belehrungen, Ratschläge oder selbst die Diskussion der Ursachen werden weder erwartet noch goutiert. Die (medikamentöse) Behandlungsweise zweifeln Hedonisten aus Mangel an Vergleichsmöglichkeiten oder eigenem Fachwissen nicht an, was zählt, sind schnelle und umfassende Ergebnisse.
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Man sieht sich selbst nicht in der Position eines Experten, daher hält man sich mit seinem Urteil über die ärztliche Kompetenz auch zurück – vorausgesetzt, sie erfüllt ihre Bringschuld, d. h. sie heilt den Patienten. ƒ ƒ ƒ
„Ich könnte nicht beurteilen, was ein guter Arzt ist. Wie sollte ich das auch wissen ?“ „Ich habe eigentlich bisher gute Erfahrungen gemacht. Die haben mein Knie nach meinem Unfall schnell und richtig gut hingekriegt.“ „Die Ärzte sind bei uns sehr gut ausgebildet, studieren Ewigkeiten, ist auch ein richtig schweres Studium. Wenn ich was hatte, dann wurde mir auch immer geholfen.“
Die Ansprüche, die Hedonisten im menschlichen Bereich an Ärzte richten, sind im Vergleich zu anderen Milieus eher gering. Ein part nerschaftliches Verhältnis wird nicht erwartet, da die Lebenswelt des Arztes als Lichtjahre von der eigenen entfernt wahrgenommen wird. Die Beziehung zum Arzt ist demzufolge recht distanziert: Hedonisten fühlen sich in Arztpraxen „out of place“. Trotz grundsätzlichem Respekt vor der Ausbildung und Kompetenz des Arztes wollen sie sich aber nicht sang- und klanglos der ihnen fremden Welt unterordnen und legen ein dementsprechend besonders unangepasstes Verhalten an den Tag. Im Idealfall pÀegt der Arzt einen locker-zwanglosen Umgang mit seinen Patienten und bedient sich einer auch für Laien verständlichen Sprache. Es ist wichtig zu verstehen, welche Diagnose gestellt wird und welche Folgen dies hat, wobei es dabei weniger um medizinische Details als um klare Therapieanweisungen (keine weitergehenden Ratschläge !) geht. ƒ
„Ich brauche keine Fachbegriffe, Hauptsache ist, ich weiß was ich habe oder was mit mir los ist.“
Für weibliche Hedonisten haben allerdings auch die Freundlichkeit und Verbindlichkeit des Arztes eine gewisse Bedeutung. Für sie soll er eine Vertrauensperson verkörpern, und sie lehnen – im Gegensatz zu ihren männlichen Gegenparts – auch eine Kontinuität in der Beziehung zum behandelnden Arzt nicht kategorisch ab. ƒ
„Die [Ärzte] sollten schon freundlich sein, die sind manchmal ganz schön gestresst.“
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Einnahme von Medikamenten Medikamente stellen für Hedonisten die wichtigste Stütze innerhalb eines Behandlungskonzeptes dar, weil sie für den Behandlungserfolg maßgeblich verantwortlich sind. Die Wahl der richtigen Medikation gilt dabei als eine zentrale Aufgabe des Arztes. ƒ
„Es kommt ganz drauf an, was der Arzt für Medikamente verschreibt. Dazu muss er natürlich erstmal die richtige Diagnose stellen.“
In den meisten Fällen ist die Haltung gegenüber Medikamenten relativ offen und unkritisch. Nebenwirkungen werden in Vergleich zum jeweiligen Nutzen gesetzt und relativiert. Was vor allem zählt, ist der möglichst schnelle Heilungserfolg. Ein Anspruch an eine besonders schonende Therapie besteht kaum. So ist auch das Vertrauen in die Schulmedizin stärker ausgeprägt als in Naturheilverfahren, da insbesondere bei schwereren Erkrankungen deren Wirksamkeit von Hedonisten angezweifelt wird. Allerdings ist die Compliance – so es sich nicht um wirklich schwer wiegende Erkrankungen handelt – suboptimal. Hedonisten ¿nden es schwierig, die nötige Selbstdisziplin aufzubringen, Medikamente regelmäßig und nach Anweisung (!) einzunehmen. Mögliches Therapieversagen aufgrund mangelnder Compliance wird aber selten selbstkritisch betrachtet; es ist einfacher, dem Arzt anzukreiden, er habe die falsche Medikation gewählt. Ambivalente Einstellungen bestehen zum Umgang mit Schmerzmitteln. Hedonisten halten sie bei akuten Schmerzen zwar für nötig, befürchten bei längerfristiger Anwendung aber Abhängigkeit. Ähnlich verhält es sich mit anderen Medikamenten, die ein Sucht- oder Abhängigkeitspotenzial bergen (z. B. Schlafmittel, Nasensprays u. a.), da zum Teil bereits negative Erfahrungen gemacht wurden. ƒ ƒ
„Ich hatte einen Arzt, der mir solche starken Schmerzmittel verschrieben hat, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte. Ich habe dann später herausgefunden, dass das Opiate waren.“ „Ich bin richtig süchtig nach Schnupfenspray, ich habe sonst die ganze Zeit geschwollene Nasenwände.“
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Vorsorgeuntersuchungen Vorsorgeuntersuchungen bei Ärzten werden in den wenigsten Fällen in Anspruch genommen. Zum einen fühlen sich viele Hedonisten hierfür noch zu jung, zum anderen ist es eine weitere, von außen an sie herangetragene Reglementierung, die wenig spaßbesetzt ist. Hedonisten halten Krankheiten prinzipiell erst einmal für etwas, das sie nicht betrifft (oder betreffen kann), und setzen sich mit der Möglichkeit der eigenen Erkrankung erst dann auseinander, wenn sie tatsächlich davon betroffen sind. Das Kopf-in-den-Sand-Prinzip aus anderen Lebensbereichen wird nahtlos auf die Gesundheit übertragen. ƒ ƒ
„Das ist für mich noch kein Thema. Vielleicht wenn ich älter bin.“ „Vielleicht will ich auch gar nicht wissen, ob ich irgendeine Krankheit habe. Ich fühle mich gut, das ist das Wichtigste.“
Lediglich Termine, die zum Beispiel in Verbindung mit einem Bonusheft oder anderen ¿nanziell geförderten Maßnahmen stehen, werden tendenziell eingehalten. Verbesserte Leistungen oder sinkende Beiträge bei Berufstätigen bieten die Art von Anreiz, die in einem Milieu, das selbst im Krankheitsfall die Praxisgebühr als zu überlegende und auf ihre Notwendigkeit abzuklopfende „Investition“ betrachtet, die einzig zielführende ist. Der Besuch des Zahnarztes hat sich auf diese Weise bereits im Bewusstsein der Hedonisten veran kert. Aber auch eine ¿nanzielle Belohnung von gesundem Verhalten (Fitnesstraining, sonstiger Sport, gute Ernährung, Verzicht auf gesundheitsschädliche Genussmittel) könnte motivieren. ƒ ƒ ƒ
„Ich habe ein Bonusheft. Da werden dann alle Untersuchungen eingetragen, man bekommt auch Vergünstigungen und mehr bezahlt.“ „Ich gehe immer zum Zahnarzt, die anderen Sachen sind bei mir noch nicht aktuell.“ „Es wäre gerechter, wenn man als Sportler weniger zahlt als Raucher.“
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Zweiter Gesundheitsmarkt Der Zweite Gesundheitsmarkt ist Hedonisten kein Begriff. Zudem besteht in diesem Milieu eine ausgeprägte Skepsis bezüglich der Sinnhaftigkeit bzw. der Notwendigkeit, „eigenes“ Geld für die Gesundheit auszugeben. Hedonisten vertreten grundsätzlich die Einstellung, dass medizinisch notwendige Behandlungen von den Kassen übernommen werden müssen, und sehen weitergehende Leistungen als Luxus oder als nicht unbedingt notwendigen Zusatz zur relevanten Versorgung an. Die ohnehin schon geringe Ausgabebereitschaft wird durch ihre angespannte ¿nanzielle Situation noch weiter verstärkt. ƒ ƒ
„Das verstehe ich nicht ganz, wofür sollte ich selber zahlen ? Dafür habe ich doch die Krankenkasse.“ „Ich habe für Wellness und solche Sachen kein Geld. Wäre zwar schön, aber ich kann es mir einfach nicht leisten.“
Lediglich bei kleineren Leiden wird in OTC-Medikamente investiert, wenn sich dadurch ein Arztbesuch vermeiden lässt. Bei Erkältungen oder Kopfschmerzen greifen Hedonisten zu rezeptfreien, kostengünstigen Generika. Als grundsätzlich sinnvolle Investition in die eigene Gesundheit gilt zudem der Sport. Allerdings möchten Hedonisten auch hier möglichst wenig Geld ausgeben. Die klassischen, ¿nanziell erschwinglichen Vereine treffen mit ihren festen Trainingszeiten auf milieutypische Vorbehalte, angesagte Fitness- und Wellness-
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Center sind dagegen zu teuer. Hedonisten bevorzugen daher kostenlose Aktivitäten wie Basketball oder Fußball auf Freiplätzen, Joggen oder auch das Training zu Hause. ƒ
„80 Euro für ein Fitness-Center kann ich mir nicht leisten, wer weiß, wie oft ich da überhaupt hingehen würde.“
Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Die Sicherheit der medizinischen Versorgung wird von den Hedonisten als in Deutschland gegeben betrachtet. Sie sind überzeugt, im Krankheitsfall kompetent und adäquat versorgt zu werden. Dies gilt vor allem für Krankheiten, die sich der Selbstmedikation entziehen, sowie für Unfälle und Notfälle. ƒ ƒ
„Wenn was passiert, dann bekomme ich hier auf jeden Fall Hilfe. Da können wir uns hier nicht beklagen.“ „Ich glaube, wir können ganz zufrieden sein. Das sieht in anderen Ländern ganz anders aus.“
Auch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung werden als guter Standard empfunden. Eine Bewertung der tatsächlichen Leistungen ¿ndet allerdings nicht statt, Vergleiche zwischen Krankenkassen werden nicht gezogen. Unterschiede zwischen den Kassen gelten als unwesentlich und vernachlässigbar. Die Wahl der Kasse ist demzufolge auch eher zufällig, in den meisten Fällen hält man sich an diejenige, die aus dem Freundes- oder Familienkreis bekannt ist. ƒ ƒ
„Ich habe bisher nicht erlebt, dass die Kasse etwas nicht bezahlen wollte.“ „Ich kenne die Unterschiede zwischen den Kassen viel zu wenig. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich bei der Barmer bin.“
Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Eine Bewertung des Gesundheitssystems fällt Hedonisten sehr schwer. Es gilt als ein abstraktes Gebilde, über das man sich kaum Gedan ken macht und von dem man daher auch keine klare Vorstellung hat.
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Solange alle nötigen oder vom Arzt empfohlenen Behandlungen wie bisher bezahlt werden und man sie sich nicht mühsam erkämpfen muss, sind die persönlichen Ansprüche an das System erfüllt. Es wird schlicht als staatliche bzw. öffentliche Aufgabe empfunden, für die Gesundheit der Menschen im Land zu sorgen; wie dies im einzelnen geschieht, ist für Hedonisten irrelevant. Eine tiefere Auseinandersetzung mit Einzelheiten und Funktionsweisen wie auch die Finanzierung interessieren nicht. ƒ ƒ
„Mit diesem Thema habe ich mich noch nie befasst. Solange es funktioniert und die Behandlungen bezahlt werden, ist für mich alles in Ordnung.“ „Warum es so viele Kassen gibt, habe ich noch nie verstanden. Würde nicht eine reichen ? Ist aber auch egal.“
Die Beiträge werden als ein fester Gehaltsabzug wahrgenommen, der häu¿g nicht klar von Steuern und anderen Sozialabgaben abgegrenzt werden kann. Da es in vielen Fällen zudem keine festen Beschäf tigungsverhältnisse mit regelmäßigen Gehaltsabrechnungen gibt, sind die Beiträge zur Krankenversicherung kaum greifbar oder bewusstseinspräsent. ƒ
„Ich habe keine Ahnung, was ich für die Krankenversicherung zahle. Das wird einfach abgezogen.“
Chancengerechtigkeit Die Hedonisten sind sich einer unterschiedlichen Verteilung materieller Güter und Privilegien in der Gesellschaft bewusst. Menschen, die mehr verdienen, können sich in vielen Bereichen des Lebens einfach mehr leisten, und das gilt auch für den Gesundheitssektor. Hedonisten gehen aber davon aus, dass alle notwendige Leistungen ungeachtet der Person bezahlt werden, sei es von der Krankenkasse oder vom Sozialamt. Nur darüber hinausgehende oder spezielle Behandlungen fallen aus dem Leistungskatalog heraus und stellen einen Luxus dar, den sich nur die Privilegierten leisten können. Dies wird allerdings nicht generell für ungerecht gehalten, und man fühlt sich dadurch weniger an den Rand gedrängt, als das in anderen Lebensbereichen der Fall ist. Auch wenn die fast ausschließlich gesetzlich versicherten Hedonisten konstatieren, dass Privatpatienten schneller und „besser“ behandelt werden, wird dies überwiegend akzeptiert. Es wird damit gerechtfertigt, dass jemand, der mehr be-
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zahlt, auch bessere Leistungen erwarten kann. Ihnen selbst ist das aber keinen höheren ¿nanziellen Einsatz wert. ƒ ƒ ƒ
„Es ist ja klar, dass sich Reiche mehr leisten können.“ „Wenn ich mehr zahle, dann will ich natürlich auch bessere Leistungen bekommen.“ „Mir ist es egal, ob ich im Krankenhaus alleine oder zu dritt liege. Hauptsache, die Versorgung stimmt. Aber wenn einer das zahlen will, bitte.“
Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Bezüglich möglicher Verbesserungen fehlt es den Hedonisten an Vorstellungskraft. Da die Leistungen generell als ausreichend angesehen werden, besteht kaum Bedürfnis nach Veränderungen. Das aktuelle System gilt als zuverlässig und ausreichend. Lediglich einzelne Reformen werden zwar als Verschlechterung, nicht aber als gravierend empfunden. Selbst die Zuzahlungen werden kaum in Frage gestellt. In Ermangelung einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Thema und aufgrund fehlender Vergleichsmöglichkeiten wird der Status quo als zufriedenstellend beurteilt. In der Summe können die Hedonisten als die unkritischste Gruppe im Milieuvergleich angesehen werden.
Untersuchungsanlage
Zum Thema „Gesundheit“ wurden aktuelle repräsentative Bevölkerungsbefragungen, bei denen die Milieuzugehörigkeit mit erhoben wurde, ausgewertet: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Typologie der Wünsche Intermedia 2009 mit 20.165 Befragten; Hrsg. Media Market Insights GmbH; Typologie der Wünsche Intermedia 2010 mit 20.154 Befragten; Hrsg. Media Market Insights GmbH; VerbraucherAnalyse 2009 mit 31.179 Befragten; Hrsg. Axel Springer AG und Bauer Media Group; Sinus-Trendmonitor 2008 mit 2.000 Befragten; AACC (Anytime Anywhere Computing and Communication) mit 5.030 Befragten.
In diesen Studien wurden für ein breites Spektrum von Volkskrankheiten subjektive Prävalenzen abgefragt, Einstellungen zu Gesundheit, zu Gesundheitsverhalten, zum Gesundheitssystem, zu neuen Technologien im Gesundheitsmarkt u. a. Desweiteren wurde das Verhalten in Bezug auf OTC, Versichertenstand (PKV, GKV), Arztbesuche, Kauf und Einnahme von Medikamenten, Ausgaben u. a. erfragt. Die oben genannten Stichproben sind jeweils repräsentativ für die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 18 Jahren. Die Stichprobenziehung erfolgte nach dem ADM-Mastersample bundesweit als geschichtete Zufallsstichprobe. In all diesen Studien war zugleich der Milieuindikator integriert, so dass für jeden Befragten die Milieu zugehörigkeit erhoben wurde und für die einzelnen Themen milieuspezi¿sch analysiert werden konnten. Diese quantitativen Daten dienen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als ergänzende Informationen. Den Kern der Studie bilden Daten aus der qualitativethnomethodologischen Untersuchung in Form von narrativen Einzelinterviews. Dieser qualitative Zugang ist notwendig, um wirklich zu erfassen und zu begreifen, was die Menschen unter Gesundheit verstehen und welchen Zugang sie zum Gesundheitswesen haben. Die Erhebungsform und Auswertung der qualitativen Daten wird nun etwas ausführlicher beschrieben.
C. Wippermann et al., Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem, DOI 10.1007/978-3-531-92871-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Stichprobenziehung Die Ziehung der Stichprobe für die qualitativen Einzelexplorationen erfolgte zufällig in verschiedenen Regionen Deutschlands. An zuvor zufällig ausgewählten Sample Points (z. B. Kreis, ein Stadtteil) wurde zunächst eine Haushaltsstichprobe gezogen. Ein Teil der Haushalte wurde nach dem Random Route-Verfahren ausgewählt, ein anderer Teil über einen telefonischen Zufallsgenerator auf der Grundlage von Adressdatenbanken. Die Auswahl der zu befragenden Person im Haushalt erfolgte anschließend über das Last-birthday-Verfahren: Nennung aller für das Interview grundsätzlich in Frage kommenden Personen (Ausschluss von unter 18-Jährigen; von Nicht-Deutschen; von Personen, die z. B. aufgrund einer Erkrankung für ein Interview nicht zur Verfügung stehen können). Dieses Vorgehen wurde gewählt, um sicherzustellen, dass in der qualitativen Stichprobe eine systematische Klumpung vermieden wird. Die qualitative Gesamtstichprobe betrug 120 Fälle, die gleichverteilt in allen Milieus erhoben wurden, jeweils zur Hälfte Frauen und Männer, sowie subjektiv Gesunde und Kranke. Ziel dieser Anforderungen war nicht, für die Teilgruppen spezi¿sche Befunde ermitteln zu können (dazu ist die Stichprobe zu klein), sondern um sicherzustellen, dass es keine systematische Verzerrung gibt, z. B. einen FrauenBias oder einen Kranken-Bias. Das vorab de¿nierte Ziel dieser Grundlagenstudie ist die Analyse von milieuspezi¿schen (!) Einstellungen und Verhaltensmustern in Bezug auf die eigene Gesundheit und das Gesundheitssystem.32 Lebensweltexploration und Milieuidenti¿kation Die Identi¿kation der Milieuorientierung für jeden einzelnen Befragten erfolgte im Rahmen einer qualitativen Einzelexploration. In etwa 30 bis 45 Minuten des teilstrukturierten Interviews erzählte der Befragte zu verschiedenen Aspekten seines Alltagslebens: seiner sozialen Lage (Alter, Bildung, Beruf, Erwerbsbiographie, Familienstand, materielle Verhältnisse etc.), seinen Werten und Maximen (Einstellungen und Präferenzen), sowie zu seinem Lebensstil (Routinen, Gewohnheiten, Raum- und Zeitmuster im Alltag). Ziel dieses Interviewteils war zu verstehen und zu erkennen, zu welcher Lebenswelt (welchem Milieu) der / die potenzielle Befragte gehört. Dazu war es ebenfalls wichtig festzuhalten, in welcher räumlichen und ästhetischen Umgebung er bzw. sie lebt: So wurde (mit Einverständnis des / der Befragten) die Wohnung nach einem zuvor de¿nierten Drehbuch fotogra¿ert. DieNicht möglich ist aufgrund der beschränkten Fallzahl eine milieuspezi¿sche Genderanalyse. So sinnvoll und wertvoll eine solche wäre, konnte diese im gegebenen Rahmen nicht mit der erforderlichen Validität geleistet werden und bleibt somit Folgestudien vorbehalten. 32
Erhebung
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se Wohnbilder sind wertvolles Datenmaterial, zum einen für die Interpretation (Deutung und Prüfung) dessen, was im Gespräch gesagt wurde, zum anderen um Informationen über die Alltagsästhetik sowie über das kulturelle Kapital zu bekommen. Teil des lebensweltlichen Interviews war es somit auch, mit dem Befragten über seine Wohnung, seinen Geschmack zu sprechen sowie darüber, warum er die Wohnung so eingerichtet hat, was ihm bestimmte Dinge und Arrangements subjektiv bedeuten. Erst nach dieser Lebensweltexploration und der Milieuidenti¿kation seitens der Sinus-Forscher wurde bestimmt, ob der Befragte zum Stichprobenplan passt und nun wirklich zum Thema Gesundheit und Gesundheitssystem befragt werden soll. Dazu wurde ein gesonderter Interviewtermin vereinbart, der ca. 2 Wochen später stattfand. Erhebung Zwei Wochen vor der Befragung bekam dazu jeder Proband ein leeres „Tagebuch“ mit der Aufgabe, dieses bis zum Interview termin inhaltlich zu füllen für die vorgegebenen Themen: ƒ ƒ ƒ ƒ
„Das bedeutet meine Gesundheit für mich“. „Das tue ich für meine Gesundheit“. „Meine Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem“. „Das für mich ideale Gesundheitssystem“.
Hier waren die zu Befragenden frei und gehalten, die Mittel (Text, Fotos, Collagen, Handzeichnungen) selbst zu wählen. Insofern ist dieses Erhebungsinstrument instruktiv zum Verstehen der (milieu-) spezi¿schen Perspektiven und Zugänge. Es folgte die eigentliche narrative und biographische Einzelexploration mit einer Dauer von jeweils 2,5 bis 3,5 Stunden. Das Interview fand in der Privatwohnung des / der Befragten statt. Das Interview wurde digital aufgezeichnet. Nach dem Interview fertigte der Interviewer ein Gedächtnisprotokoll (Memo) mit seinen Beobachtungen an sowie mit den Informationen, die nicht im eigentlichen Interview gesagt wurden (sondern z. B. bei der Begrüßung, während des Fotogra¿erens der Wohnung oder bei der Verabschiedung). Die vier Datenquellen: (1) Digital aufgezeichnete und dann transkribier te Interviews, (2) Fotomaterial, (3) die Dokumentationen sowie (4) die Memos der Interviewer wurden von Soziologen, Psychologen und Semiologen des Instituts Sinus Sociovision analysiert.
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Auswertung: Qualitativ-ethnographische Hermeneutik Die in narrativen Interviews, Tagebüchern und Hausbesuchen gewonnenen Daten wurden nach der Methodologie der interpretativen Sozialforschung ausgewertet, wie sie exemplarisch Honer (1989) und Soeffner / Hitzler (1994) beschrieben haben.33 Methodologisch ist das Verfahren eine sozialwissenschaftlich-hermeneutische Rekonstruktion von Alltag. Kern dieser Ethnographie ist es, die subjektive Alltagswirklichkeit und die Strukturen der Lebenswelten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verstehen. „Verstehen“ ist ein ebenso banaler wie schillernder Begriff. Als Verfahren der modernen Wissenschaft hat er seinen methodologischen Ursprung in der Phänomenologie (Husserl, Schütz, Luckmann, Mannheim) und Ethnomethodologie (Gar¿nkel, Glaser , Strauss, Corbin).34 Dazu zwei Vorbemerkungen: 1.
Verstehen ist zunächst grundsätzlich jeder und jener Vorgang, der einer Erfahrung und einem Handeln Sinn gibt. Jedes (bewusste) Handeln ist ein Akt der Konstruktion von Wirklichkeit, denn er ist ein Sinn-Schöpfungsakt; jeder Gedankenprozess, der dieses Handeln zu verstehen sucht, ihm (s)einen Sinn verleiht bzw. zuschreibt, ist entsprechend eine Re-Konstruktion. Das Selbstverstehen bezieht sich auf die subjektiven, je eigenen Erfahrungen, denen Ego seinen Sinn gibt. Das Selbstverstehen ist also kontinuierlich und vollständig möglich. Fremdverstehen ist demgegenüber ein Vorgang, bei dem wir einer Erfahrung den Sinn verleihen, dass sie sich auf ein Ereignis in der Welt bezieht, dem ein anderer bereits einen Sinn verliehen hat. Damit ist Fremdverstehen die Rekonstruktion der Konstruktion der Wirklichkeit eines anderen, geschieht immer nur in Auffassungsperspektiven, ist nur diskontinuierlich und partiell möglich. Solches Selbst- und Fremdverstehen ist keine Er¿ndung der Sozialwissenschaften, sondern ist für die Menschen Alltagsroutine und macht Gemeinschaft / Gesellschaft möglich. Es beruht auf einem alltäglichen, allgemein-menschlichen Vermögen (Habermas spricht von pragmatischen Universalien). Über die Mechanismen des alltäglichen Verstehens machen wir uns normalerweise keine Gedanken; das Verstehen
Vgl. im Überblick und zur Einordnung anderer qualitativer Methodologien: Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Stuttgart 2007, 134 ff. Honer, Anne: Einige Probleme lebensweltlicher Ethnogra¿e. Zur Methodologie und Methodik einer interpretativen Sozialforschung. Zeitschrift f. Soziologie 18 (1989). Soeffner, Hans-Georg / Hitzler, Ronald: Hermeneutik als Haltung und Handlung. Über methodisch kontrolliertes Verstehen. In: Schröer, Norbert (Hrsg.): Interpretative Sozialforschung. Auf dem Weg zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie. Opladen 1994, 28–55. 34 Gar¿nkel, Harold: Studies in Ethnomethodology. Chicago 1967. Glaser, Barney G. / Strauss, Anselm L.: The Discovery of Grounded Theory. Chicago 1967. Strauss, Anselm L. / Corbin, Juliet: Grounded Theory Research. Zeitschrift f. Soziologie 19 (1990), 418 ff. 33
Auswertung: Qualitativ-ethnographische Hermeneutik
2.
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geschieht intuitiv. Davon zu unterscheiden ist das sozialwissenschaftliche Verstehen: Wissenschaftlich wird der Prozess des Verstehens dadurch, dass sich die Forscher ihre Vorannahmen, Regeln und Perspektiven bewusst machen, sich nicht auf ihre spontane, diffuse Intuition verlassen, sondern kontrolliert anhand der ¿ xierten Daten jederzeit belegen können, warum sie zu einer bestimmten Sinn-Rekonstruktion, einem bestimmten Befund lebensweltlicher Orientierung kommen. Die Provokation der neueren Hermeneutik in den 1960er und 1970er Jahren bestand in der Behauptung, dass es keine erkennt nislogische Differenz zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Interpretation gibt, dass die sozialwissenschaftliche Hermeneutik keinen prinzipiellen Überlegenheitsanspruch gegenüber dem alltäglichen Verstehen reklamieren kann – und zwar aufgrund des Arguments, dass die Kompetenzen für intuitives Alltagsverstehen und für wissenschaftlich kontrolliertes Verstehen identisch sind. Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang von Theorie und Erfahrung: also von Hypothesen, Thesen, Befunden einerseits; Beobachtungen, Transkripten, Memos anderer empirischer Daten andererseits. Dieser hermeneutische Zirkel, der in der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant seinen Ursprung hat, zentrales Paradigma der Wissenssoziologie (Gadamer, Mannheim), der Phänomenologie und Ethnomethodologie (Gar¿nkel) ebenso ist wie der neueren Systemtheorie (Luhmann) und der neueren Wissenschaftstheorie (Lakatos), lässt sich wie folgt beschreiben: Man kann Regeln (Theorien) nicht anwenden, wenn nicht zuvor über die empirischen Tatsachen, die darunter zu fassen sind, befunden ist. Diese Tatsachen können aber nicht vor Anwendung einer Regel als relevante Fälle festgestellt werden. Fazit: Man nimmt empirische Daten immer schon notwendig und selektiv im Lichte einer Theorie wahr. Insofern spricht man auch von der wechselseitig reÀexiven Beziehung von allgemeinen Regeln und Anwendungsfällen.35 Dieser hermeneutische Zirkel ist erkenntnislogisch unhintergehbar, und insofern liegt diesem ein erkenntnistheoretischer Zirkel (Kant) zugrunde. Für die sozialwissenschaftliche Forschung bedeutet dies, dass ein paradigmatischer Erkenntnissprung nur möglich ist, wenn man aus dem einen, gewohnten Zirkel aussteigt und einen neuen, alternativen Zirkel initiiert – bzw. in einen anderen einsteigt.36 Damit sind zwei methodologische Kernaussagen verbunden:
Darin liegt eine bewusste Abgrenzung von der deduktiven Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie wie sie z. B. Popper vertreten hat. 36 In der sozialwissenschaftliche Lebensweltforschung von Sinus Sociovision heißt das praktisch: Das Institut überprüft ständig in der Programmforschung, ob es zum aktuellen, of¿ ziell gültigen Milieumodell ein alternatives Milieumodell gibt, das besser zu den Daten passt bzw. ob alternative Ansätze und Paradigmen (anstelle von „Milieus“) zur Strukturierung der Daten besser geeignet sind. 35
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ƒ
Wenn empirische Befunde von der paradigmatischen Perspektive abhängig sind, wenn das zugrunde liegende Modell die Wahrnehmung und Beobachtung vorstrukturiert, verhindern die theoretische Evidenz jene Beobachtungen, für die das Paradigma „blind“ ist bzw. die mit den Kategorien nicht kompatibel sind. Man steht notwendig immer in irgendeinem hermeneutischen Zirkel – sonst wäre Erkenntnis überhaupt nicht möglich. Insofern geht es wissenschaftlich darum, sich der Art der ver wendeten Theorie und der damit verknüpften Erkennt nisgrenzen bewusst zu sein. Insofern ist die Verwendung des Sinus-Milieumodells zur Exploration lebensweltlicher Orientierungen von Jugendlichen eine bewusste Entscheidung für diese bestimmte Perspektive. Diese ist natürlich nicht suf¿zient und exhaustiv (keine Perspektive, kein Modell, keine Theorie ist das), aber sie liefert Befunde und neue Ansatzpunkte für einen geschärften Blick auf die Wirklichkeit von Menschen.
Dieses Projekt zielte darauf, das Selbst- und Fremdverstehen zu rekonstruieren. Insofern ist das sozialwissenschaftliche Inter pretieren ein Verstehen zweiter Ordnung: die Rekonstruktion der Rekonstruktion der alltäglichen Konstruktionen von Menschen. Solch empirische Milieuanalyse zielt darauf, den Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Handlungshorizont der Menschen verschiedener Lebenswelten vergleichend zu rekonstruieren. Und solche sozialwissenschaftliche Rekonstruktion der Lebenswelt arbeitet notwendig exemplarisch. Dahinter steht die plausible Annahme, dass Menschen nicht unvergleichbare Einzelwesen (Unikate) sind, sondern soziokulturell geprägte, vergesellschaftete und vergemeinschaftete Wesen. Der Einzelne ist Manifestation und Spiegelbild dessen, was wir als „typisch“ bezeichnen. Wir befassen uns daher mit jedem einzelnen Fall intensiv, weil an diesen Repräsentanten sichtbar, messbar, verstehbar wird, was Menschen bewegt. Insofern ist qualitative Lebensweltforschung per se Fallanalyse und zielt auf das Typische. Es geht bei der Analyse um drei Aspekte, (1) den Fall in seiner Besonderheit (Idiosynkratie, Individuierung), (2) den Fall als typische Manifestation des Sozialen, (3) die Vergleichbarkeit der empirisch gewonnenen Typen: Nähe und Distanz der einzelnen Fälle zu den Idealtypen sowie zwischen den Typen.37
Der Idealtypus hat gegenüber der Empirie, d. h. gegenüber jedem einzelnen Fall, der ja Grundlage seiner Begründung ist, insofern systematisch unrecht, weil er das Besondere im Einzelfall nur unzulänglich wiedergibt. Andererseits verhilft er dem Einzelfall zu seinem „Recht“ als einzigartigem Fall, weil der Idealtypus nicht beansprucht, dem einzigen Fall gerecht zu werden. So wird erst durch den (Ideal-) Typus das Besondere, Einzigartige des Falles sichtbar. 37
Auswertung: Qualitativ-ethnographische Hermeneutik
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Der endgültige Befund baut sich auf durch einen sukzessiven und rekursiven Prozess von Einzelfallanalysen, Fallvergleichen und Typvergleichen. Hier schließt die von Sinus Sociovision eingesetzte Methode hermeneutischer Datenanalyse an die „Grounded Theory“ an: die erkennt nistheoretisch begründete und forschungspraktische Verschränkung von Datenerhebung und Theorieformulierung. Die Forschungsabschnitte der Datenerhebung und Datenauswertung sind nicht zeitlich disjunkt getrennt. Es gibt nicht erst die Phase der Erhebung, die abgeschlossen werden sein muss, bevor mit der Auswertung begonnen wird. Vielmehr überlappen sich beide Phasen zeitlich, sind inhaltlich aufeinander bezogen, sodass sie einen Prozess darstellen. Wesentliches Moment ist das theoretical sampling, d. h. das sukzessive Ziehen der Stichprobe nach Maßgabe der zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Hypothesen und Befunde sowie der sich daraus ergebenden neuen Fragen. Dabei fangen wir schon früh nach den ersten Explorationen an zu schreiben. Die Befunde werden in Form von Thesen formuliert (also nicht numerisch codiert) und im Fortgang von neuen Fällen so lange modi¿ziert (reformuliert, ergänzt, konditioniert etc.), bis die These bzw. der Teilbefund zu den Daten passt, konsistent ist und ein klares Bild ergibt. Das ist ein Prozess und bedarf zahlreicher Durchläufe, bis der Befund „gesättigt“ ist, sich die Kern-Struktur durch weitere Fälle nicht mehr ändert und nur noch durch OberÀächen-Facetten ergänzt wird. Voraussetzung für diese sozialwissenschaftlich kontrollierte Hermeneutik ist das „Datum“: Lebensäußerungen der Befragten müssen diskursiv vorliegen, müssen ¿xiert und reproduzierbar sein. Nach der Methodologie der Triangulation setzen wir dabei mehrere Arten von Instrumenten zur Gewinnung von Daten ein. Denn jedes einzelne Instrument hat seine Grenzen und blinde Flecken. Beispielsweise hat das Interviewgespräch Grenzen in der Verbalisierungskompetenz des Probanden und es lässt vorbewusste sowie emotionale Bewusstseinsinhalte nicht (authentisch und messbar) zum Ausdruck kommen. Daher setzten wir verschiedenartige, einander ergänzende Instrumente ein, die folgende ¿xierte Daten erzeugten: ƒ
ƒ ƒ
Tagebücher zu den vorgegebenen Themen: Hier schrieben, malten und klebten die Probanden alles auf, was ihnen dazu ein¿el. Sie hatten dabei keinen Zeitdruck und konnten sich die Zeiten, Situationen und (inneren und äußeren) Stimmungen selbst aussuchen. Insofern haben diese Materialien ein hohes Maß an Authentizität. Wörtliche Transkripte von narrativen Einzelinterviews: Hier ergab etwa ein 2,5-stündiges Interview einen zwischen 80 und 130 Seiten (eng beschriebenen) Text als Grundlage der Analyse. Memos der Interviewer: Unmittelbar nach dem Interview haben die Interviewer ihre Eindrücke aus dem Interview aufgeschrieben in Form von Memos.
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Untersuchungsanlage Hier sind vor allem jene Beobachtungen und Ereignisse festgehalten, die im auditiven Interview (bzw. dem Transkript) nicht festgehalten sind (z. B.: Körperhaltung und Habitus des Befragten). Diese Texte sind ein Datum sui generis. Wohnbilder der Probanden: Diese Wohnbilder haben – wie die Hausarbeiten – keinen voyeuristischen Zweck, sondern jedes Wohnbild ist ein empirisches Datum, das es zu dechiffrieren und mit anderen via Fallvergleich auf Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zu untersuchen ist. Beschreibungen und Erläuterungen zur Wohnung sind ergänzende Daten, die zur Interpretation der Alltagsästhetik herangezogen werden. Dazu gehörten auch Hinweise mit Bezug auf eine aktuelle Erkrankung und den Lebensstil. Vorliegende quantitative Repräsentativdaten: Zur statistischen Näherung des Themas wurden bereits vorhandene Repräsentativbefragungen mit Fragen zur „Gesundheit“ ausgewertet. Weil die Milieuanalyse zentrales Ziel dieser Studie ist, wurden deshalb nur jene Befragungen ausgewertet, bei denen auch die Milieuzugehörigkeit ermittelt war. Hier lieferte vor allem eine Repräsentativbefragung mit 20.000 Fällen wert volle Strukturdaten.
Die Auswertung der qualitativen Daten ist die eigentliche Herausforderung. Interpretation und Analyse ist nicht das solitäre Vergnügen eines einzelnen Sozialforschers von Sinus Sociovision, sondern Arbeit und Arbeitsteilung im Team. Diese durch inÀationären Gebrauch mittlerweile fast diskreditierte Rede „im Team“ hat im Forschungsprozess dieser Studie eine methodologische Grundlegung, die auf zwei gegensätzlichen Anforderungen an den Forscher beruht: ƒ
Vertrautheit: Herstellung von gegenseitigem Vertrauen zwischen dem Forscher und seinem Informanten. In der interpretativen Sozialforschung herrscht eine begründete Skepsis gegenüber der Qualität von Daten, die von anderen übermittelt werden. Wir können nicht fraglos davon ausgehen, dass der Informant unter anderen Umständen (anderer Interviewer, anderer äußerer Rahmen, andere innere Stimmung) das Gleiche mitteilen würde. Wir wissen auch nicht, ob das, was er erzählt, wirklich authentisch ist, ob er schlichtweg den Interviewer anschwindelt bzw. ihm „irgendwas“ erzählt. Wichtig ist daher die Herstellung von gegenseitigem persönlichen Vertrauen zwischen dem Forscher und seinem Informanten. Voraussetzung dafür ist Nähe: Der Interviewer muss dem Befragten in seiner Erscheinung signalisieren, dass er nicht „zu weit weg“ ist und die realistische Chance besteht, dass im zeitlich begrenzten Interview der Befragte dem Interviewer seine Perspektive vermitteln kann.38
38 Der Mangel an Vertrautheit stellt methodentheoretisch ein Validitätsproblem dar. Die interpretative Sozialforschung bietet dazu zwei Vorschläge an, die idealtypisch sind, in einem zeitlich begrenzten
Auswertung: Qualitativ-ethnographische Hermeneutik
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Lebensweltliche und demographische Nähe erhöht die Chance auf Akzeptanz, Offenheit und Authentizität. Insofern ist es Aufgabe des Interviewers, sich auf jedes einzelne Interview gesondert vorzubereiten. Das erfordert, sich in Bezug auf Kleidung und Habitus einzupassen, so dass sich der Befragte nicht daran stößt. Der Interviewer darf kein „Reiz“ sein. Gleichzeitig muss der Interviewer natürlich und authentisch wirken, darf sich nicht verstellen, weil Befragte solches sofort identi¿zieren und durch ein krudes Antwortverhalten sanktionieren – insofern ist eine gezügelte, moderate Anpassung nötig. Fremdheit: Nähe kann den Blick auf das Selbstverständliche verstellen. Insofern ist eine zweite methodologische Anforderung, dass der Ethnograph der eigenen Gesellschaft als ein Fremder begegnen sollte. Der Ethnologe fremder Naturvölker ist zu Beginn per se und existenziell in der Position des Fremden, von der aus er Nähe und das Verstehen des Selbstverständlichen anstrebt. Der Ethnograph der eigenen Gesellschaft dagegen hat eine umgekehrte Ausgangsposition und muss sich jene Fremdheit künstlich selbst auferlegen. Er muss in andauernder Selbstkontrolle zumindest so tun, als ob er ein Fremder wäre. Er muss sich immer wieder sagen, dass er die „Sprache des Feldes“ tatsächlich nicht ohnehin und selbstverständlich beherrscht. Er muss in nächster Nähe jene Fremd heit überhaupt wieder entdecken, gegen den eigenen spontanen ReÀex des „ist schon klar“ andenken und permanent spontane Verständlichkeiten wieder in Zweifel ziehen.39 Das Staunen und Sich-Wundern sind dazu wichtige Techniken.
Es ist evident, dass solche Anforderungen eine Person überfordern würden. Daher war das Forscherteam arbeitsteilig zusammengesetzt. Einige Forscher übernahmen die Interviews und die existenzielle Position der Nähe; andere Forscher übernahmen die existenzielle Position des Fremden und Staunenden. Ausgangsmaterial sind die ¿xierten Daten. Der Auswertungsprozess ist in 7 Phasen gegliedert:
Projekt wie diesem aber nicht realisierbar sind: (1) Interviewer und Befragter treten in einen langandauernden persönlichen Kontakt miteinander (Denzin, Norman K.: The research art in sociology: A theoretical introduction to sociological methods. London 1970); (2) Herstellung von Vertrautheit durch kontinuierliche Begleitung im Alltag rund um die Uhr in allen sozialen Kreisen mit praktischer Teilnahme am Geschehen. Ziel ist die existenzielle Perspektivenübernahme (Wolf, Kurt Heinrich: Surrender and Catch. Dordrecht / Boston 1976. Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Weinheim 1988. Honer, Anne: Einige Probleme lebensweltlicher Ethnogra¿e. Zur Methodologie und Methodik einer interpretativen Sozialforschung. Zeitschrift f. Soziologie 18 (1989)). 39 LoÀand, John: Feldnotizen. In: Gerdes, K. (Hrsg.): Explorative Sozialforschung. Einführende Beiträge aus Natural Sociology und Feldforschung in den USA. Stuttgart 1979, 110–120.
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2. 3.
4.
5.
6.
7.
Untersuchungsanlage Jeder Forscher liest jedes einzelne Transkript unabhängig von den anderen Forschern. Für das Lesen eines Falles gilt die Vorschrift des sukzessiven Lesens: Man liest vom Anfang bis zum Ende, darf keine Textpassagen überspringen und nicht selektiv lesen. Der Text ist als einheitliche Gestalt zu begreifen. Der in die Erzählung vom Befragten eingelassene und im Transkript manifestierte Sinn erschließt sich in seiner Originalität nur durch konsequent iterativ-sequenzielle Analysen der einzelnen Passagen. Zu Beginn des Textes eröffnet sich ein breiter Sinn-Horizont mit einer Vielzahl alternativer Deutungen. Diese gilt es zu formulieren (auf den Begriff zu bringen)40, beim weiteren Lesen zu überprüfen, zu modi¿zieren, auszuwählen, immer wieder zu formulieren und letztlich (zum Ende hin) auszuwählen. Austausch der einzelnen Forscher über den Bedeutungshorizont, die Hypothesen und Befunde für den einzelnen Fall. Aufdecken von Widersprüchen und Inkonsistenzen: Dabei ist der Text selbst die Korrekturinstanz (und nicht „haltlose“, intuitive Annahmen). Die Thesen werden in den Mühlen der deutenden Rekonstruktion immer wieder modi¿ziert und refor muliert. Solches Drechseln an der Perspektive geschieht so lange, bis die Thesen zu den Daten „passen“ und eine analytisch konsistente Rekonstruktion ergeben (wobei empirische Widersprüche durchaus möglich sind und Teil des Befunds sein können). Sukzessiver Fallvergleich: Dieser Vergleich von Fällen mit ihren jeweiligen Befunden geschieht a) zwischen Fällen innerhalb eines Milieus mit der Frage: „Was ist typisch bzw. das gemeinsame Band ?“; b) zwischen Fällen verschiedener Milieus mit den Fragen: „Was sind Gemeinsamkeiten ? Wo liegen Differenzen und Barrieren ?“ Vergleich mit Daten anderer Milieustudien: In dieser Phase gehen wir über das Daten material dieser Studie hinaus und ziehen Daten anderer qualitativer und quantitativer Milieustudien heran. Hier eröffnen wir bewusst einen zweiten hermeneutischen Zirkel. Abstecken des Spektrums innerhalb eines Milieus (Milieustruktur) und Zusam mentragen der verschiedenen Facetten (OberÀächen, Manifestationen): Formulierung von vorläu¿gen „dichten Beschreibungen“41, Identi¿kation von Lücken und Inkonsistenzen. Spiegelung dieser dichten Milieubeschreibungen mit neuen Fällen aus der Stichprobe (theoretical sampling). Befragung neuer Fälle und vergleichende Analyse dieser Fälle, bis eine empirisch gesättigte und dichte Beschreibung vorliegt.
40 Hier arbeiten wir nicht mit numerischen Codes, sondern mit Text(baustein)en in Form von Hypothesen. 41 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1987.
Themen im narrativen Interview
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Themen im narrativen Interview In den narrativen, ethnomethodologisch angelegten Interviews ging es um folgende Themen: Wert der Gesundheit im Vergleich zu anderen Werten und Gütern ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Wird Gesundheit eine große Bedeutung zugemessen ? Sorgt man sich um die eigene Gesundheit, die Gesundheit der Familie, anderer naher Angehöriger ? Genießen andere Werte und Güter eine höhere Priorität ? Wie konkurriert Gesundheit mit anderen Werten und Gütern ? Wie ist der Umgang mit Gesundheitsrisiken durch lebensstilbezogene Faktoren ? Gibt es eine grundsätzliche Bereitschaft, etwas für die eigene Gesund heit zu tun ? Welche gesundheitsfördernden Aktivitäten haben eine hohe, welche eine geringe Priorität ? Bleibt der Wert, den man Gesundheit beimisst, nur ein Lippenbekenntnis oder werden Folgerungen für die eigene Lebensweise gezogen ?
Wahrnehmung von Gesundheit ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Wird Gesundheit als eine Eigenschaft aufgefasst, die man selbst und aktiv beeinÀussen kann, oder wird sie als Schicksal empfunden, das man hinnehmen muss ? Welchen externen Faktoren aus der Lebensumwelt wird der größte EinÀuss auf die eigene Gesundheit zugemessen ? Macht Arbeit krank ? Wie werden Arbeit und ihre Auswirkungen auf die eigene Gesundheit empfunden ? Welche Rolle spielt die Ernährung? Wird Ernährung als ein möglicher Beitrag für die eigene Gesundheit wahrgenommen ? Wie sind die Einstellungen zu Genussmittel und Drogen ? Welche Rolle spielen Sport und Bewegung ? Welche gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen herrschen vor ? Welche werden als solche wahrgenommen ? Wird die eigene Gesundheit als eine Bereicherung des Lebens, der Lebensqualität empfunden ?
Zugang zur Gesundheitsversorgung ƒ ƒ
Gibt es ein Informationsinteresse in Bezug auf die eigene Gesundheit ? Aktiv: Wie informiert man sich über Gesundheit ?
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Untersuchungsanlage Passiv: Fühlt man sich ausreichend informiert ? Von wem werden Gesundheitsinformationen erwartet? Krankenkassen? Arzt? Apotheken ? Staat ? … ? Wie wird die eigene Kompetenz bewertet, Informationen auswer ten zu können ? Wie wird die eigene Kompetenz eingeschätzt, den eigenen Gesundheitszustand bewerten zu können ? Wie wird das Verhältnis zu Ärzten eingeschätzt ? Sollte aus der persönlichen Erfahrung heraus das Arzt-Patient-Verhält nis verändert werden (paternalistisches Arztbild, Selbstbestim mungsrecht des Patienten, informed consent) ? Wer ist für die eigene Gesundheit verantwortlich ? Wie wird die Situation in Krankenhäusern empfunden ? Wie wird die Arzneimittelversorgung wahrgenommen ? Welche Erfahrungen gibt es mit Unternehmen ? Werden Informationen der Krankenkassen wahrgenommen ? Wie ist das Verhältnis zu einzelnen Kassen ? Gibt es individuell empfundene Hürden beim Zugang zum Gesund heitssystem ?
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Aus welchen Anlässen werden Leistungen im Gesundheitswesen in Anspruch genommen ? Wie ist das Prinzip der Subsidiarität verankert ? Wie wird es im täglichen Leben und wie im Falle einer Erkrankung wahrgenommen ? Werden Leistungen geplant, spontan konsumiert ? Wie werden Ratschläge, Beratungen, Empfehlungen wahrgenom men und umgesetzt ? Wie wird die Inanspruchnahme von anderen Gruppen der Bevölkerung wahrgenommen ?
Bereitschaft zur Mitverantwortung ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Wer ist für die Gesundheit verantwortlich ? Welche Rolle kommt dem eigenen Verhalten zu ? Werden gesundheitsschädliche Verhaltensweisen als solche erkannt ? Wird etwas für die eigene Fitness getan ? Ernährung ? Sport ? Besteht die Bereitschaft, solche Verhaltensweisen zu ändern – auch wenn damit Einschränkungen oder ein Verlust an individuell empfundener Lebensqualität oder Lebensfreude einhergeht ?
Themen im narrativen Interview ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
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Werden Vorsorgemaßnahmen, Impfungen, Gesundheitsberatung etc. genutzt? Unter welchen Voraussetzungen werden freiwillige Angebote oder Empfehlungen, z. B. Impfungen, Kindergesundheitsuntersuchungen usw., genutzt ? Hält man sich an den Rat der Ärzte, der Apotheken etc. ? Haben gesundheitsrelevante Informationen Folgen für die eigene Lebensführung ? Wie groß ist die Bereitschaft / wie groß sind die ¿nanziellen Möglich keiten, in die eigene Gesundheit zu investieren ? Besteht die Bereitschaft zugunsten der Gesundheit auf andere Konsumgüter zu verzichten ? Wenn ja, auf welche ? Welche Hindernisse gibt es – trotz entsprechender Erkenntnis –, einen gesundheitsbewussten Lebensstil zu führen (Geldmangel, Zeitmangel, Desinteresse, Verlust an Lebensfreude, Fatalismus etc.) ? Wie müssten Präventionsmaßnahmen gestaltet werden, damit sie auf Interesse stoßen ? Welcher Grad von Verbindlichkeit, VerpÀichtung oder Anreizen ist hierbei notwendig ?
Bewertung der gesundheitlichen Versorgung ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Wie wird das Gesundheitssystem in Deutschland bewertet? Patientenorientiert? Qualität auf hohem medizinischen Niveau ? Patientenfreundlich ? „Human“ ? Gibt es Erfahrungen mit Gesundheitssystemen anderer Länder ? Welche Leistungen müssten auch in Zukunft solidarisch ¿nanziert werden ? Welche Leistungen könnten privat übernommen werden ? Wie werden die letzten Reformschritte im Gesundheitswesen empfunden ? Wird mehr Wettbewerb / Markt im Gesundheitswesen als Vor- oder Nachteil angesehen ? Welche sind die individuell empfundenen Vor- und Nachteile ? Welche Erwartungen / Befürchtungen werden mit der künftigen Entwicklung verbunden ? Wie werden neue Innovationen im Gesundheitswesen empfunden ? Besteht die Bereitschaft, neue, innovative Ansätze zu nutzen ? Pharma ? Diagnose- und Therapiemethoden ? Neue Strukturen ? Werden Innovationen eher als Chancen oder eher als Risiken wahrgenommen? Wo werden ethische, rechtliche, soziale Grenzen gesehen, die nicht überschritten werden sollten ? Wo liegen die großen Herausforderungen der Medizin ? Was wird aus der jeweiligen Lebenssituation heraus als besonders wichtig angesehen ? Was wird aus der jeweiligen individuellen Perspektive als besonders wünschenswert im Gesundheitssystem gesehen (niedriger Beitragssatz, umfassende kurative Versorgung, Prävention, Vollkasko-Versorgung etc.) ?
ANHANG
Legende der Milieukürzel ETB PMA PER KON TRA DDR BÜM MAT EXP HED
Sinus B1 Sinus B12 Sinus C12 Sinus A12 Sinus A23 DDR AB2 Sinus B2 Sinus B3 Sinus C2 Sinus BC23
„Etablierte“ „Postmaterielle“ „Moderne Performer“ „Konservative“ „Traditionsverwurzelte“ „DDR-Nostalgische“ „Bürgerliche Mitte“ „Konsum-Materialisten“ „Experimentalisten“ „Hedonisten“
Impressum Autoren: Dr. Carsten Wippermann, Projektleitung Sinus Sociovision Heide Möller-Slawinski Projektmitarbeiter, Sinus Sociovision: Christina SchefÀer Tanja Merkle Katja Wippermann Medizinische Beratung: Dr. Silke Frohmüller; PatientConsult (Heidelberg)
C. Wippermann et al., Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem, DOI 10.1007/978-3-531-92871-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Anhang
Wissenschaftlicher Beirat Die Konzeption, Durchführung und Auswertung der Studie wurde von einem Wissenschaftlichen Beirat begleitet. Die Herausgeber danken den Beiratsmitgliedern für den fachlichen Rat bei der Erstellung der Studie. Die Mitglieder: Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke Lehrstuhl für Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie, Technische Universität Berlin Prof. Dr. Monika Jungbauer-Gans Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftssoziologie, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Bärbel-Maria Kurth Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Robert Koch-Institut, Berlin Prof. Dr. Elisabeth Pott Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln Prof. Dr. Anke Rahmel Hochschule Aalen, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Gesundheitsmanagement; OPINIO Forschungsinstitut, Mannheim Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover Prof. Dr. Dr. h. c. Peter C. Scriba Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, Berlin Prof. Dr. Hans-Konrad Selbmann Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Universität Tübingen Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer; Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen
Autoren und Herausgeber
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Autoren und Herausgeber Dr. Norbert Arnold Leiter des Teams Gesellschaftspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung, der Konrad-Adenauer-Stiftung. Studium der Biologie und Philosophie an der Universität Gießen; anschließend in der molekularbiologischen Forschung an den Universitäten Gießen und Zürich tätig. Seit 1993 Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung mit den Schwerpunkten Forschungs-, Bio- und Gesundheitspolitik. Dr. Michael Borchard Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Studium der Politikwissenschaft, Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an der Universität Bonn. Danach wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesarchivs, freier Mitarbeiter der Politischen Abteilung des Bundeskanzleramtes und Leiter des Referats „Reden, Textdokumentation, Fragen des gesellschaftlichen Wandels“ in der Thüringer Staatskanzlei. Peter Marx Leiter des Bereiches Market Access und Mitglied des Country Management Forums bei der P¿zer Deutschland GmbH. Studium der Volkswirtschaftlehre mit den Schwerpunkten Monetäre Makroökonomie, Konjunkturtheorie, Umwelt- und Ressourcenökonomik an der Universität Siegen. Nach dem Studium Referent für Grundsatzfragen und Marktanalysen beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Seit 1998 in verschiedenen Positionen bei der P¿zer Deutschland GmbH in den Bereichen Public Affairs und Gesundheitspolitik tätig. Ab 2001 in leitenden Funktionen der Bereiche Healthcare Management, Policy Affairs und Market Access tätig. Koautor und Mitherausgeber von Publikationen zu den Themen Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie und Innovationen. Heide Möller-Slawinski Studienleiterin in der Sozialforschung bei Sinus Sociovision. Studium der Kunstgeschichte, Englischen Philologie und Politischen Wissenschaften an der Universität Heidelberg und der San Jose State University (SJSU), Kalifornien. Nach dem Magisterabschluss modulares Aufbaustudium im Bereich Kulturmanagement an der FernUniversität Hagen. Seit 1995 bei Sinus Sociovision, Schwerpunkt internationale Milieuforschung, Gender-Forschung, Gesundheit und Migration. Prof. Dr. Carsten Wippermann Professor für Soziologie für soziale Arbeit an der der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Abteilung Benediktbeuren. Davor von 2001 bis 2010
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Anhang
im Sinus-Institut (Heidelberg) Direktor der Abteilung Sozialforschung. Studium der Soziologie, Philosophie und Theologie an der Universität Bamberg und an der Theologisch-Philosophischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt.