LEONHARD FRANK
Bruder und Schwester
Roman
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Seht die Lilie an: entspringt nicht Gatte
und Gattin auf einem...
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LEONHARD FRANK
Bruder und Schwester
Roman
1
2
Seht die Lilie an: entspringt nicht Gatte
und Gattin auf einem Stengel? Verbindet
beide nicht die Blume, die beide gebar,
und ist die Lilie nicht das Bild der Un
schuld, und ist ihre geschwisterliche Ver
einigung nicht fruchtbar? Wenn die
Natur verabscheut, so spricht sie es laut
aus.
GOETHE
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4
ERSTES KAPITEL
An einem regnerischen Nachmittag im Herbst des Jahres 1906 saßen Herr und Frau Schmitt, deren Ehe tags vorher geschieden worden war, beim Rechtsanwalt, um die materiellen Dinge zu ordnen. Auch Frau Schmitts Vertreter war da. Die beiden Anwälte brauchten nicht zu kämpfen und nicht zu vermitteln, sondern nur die rechtsgültigen Formulierungen für das Maschinendiktat gemeinsam zu no tieren. Denn die Geschiedenen, denen schon bald nach der Hochzeit fast jedes Wort und oft nur die vermeintlich unzulässige Betonung eines Wortes, ein Blick, eine offene oder geschlossene Zimmertür, irgendwelche Winzigkeiten, wie sie je der Tag bringt, Anlaß zu heftigem Streit geworden waren, machten in den materi ellen Dingen keinerlei Schwierigkeiten, obgleich in dieser Stunde endgültige Ver einbarungen über große Vermögenswerte getroffen wurden. Herr Schmitt, Mitdirektor und europäischer Generalagent der größten amerikani schen Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen, war ein reicher Mann. Er war Deut schamerikaner, Frau Schmitt Russin. Die Anwälte, die bei Punkten von besonders weittragender Bedeutung jeweils Herrn oder Frau Schmitt zuerst noch einmal fragten, ob sie denn auch wirklich ein verstanden seien, und stets die Antwort erhielten, sich nur ganz nach den Vorschlä gen des Herrn Schmitt oder nach den Wünschen der gnädigen Frau zu richten, konnten ihr Staunen über diese nie erlebte Einigkeit in einer Sache, die sonst in der Regel zu den wildesten Orgien der Habsucht führte, nicht ganz verbergen. Angesichts dieses Staunens wechselten die Geschiedenen hin und wieder einen Blick bei beiden begleitet von einem kleinen resignierten Lächeln, in dem das ge genseitige Zugeständnis enthalten war, wenigstens von einem Menschen untadeli ger Gesinnung neun Jahre lang bis aufs Blut gepeinigt worden zu sein. Während die Anwälte, die nicht begriffen, weshalb dieses so großzügige Paar sich überhaupt getrennt hatte, ihre gemeinsame Arbeit in die Maschine diktierten, blickten die Geschiedenen, beide reglos in die Sessel zurückgelehnt, hinaus auf die nassen, schon herbstgelben Bäume und den trüben Spreekanal. Es schien, als woll ten dieses Gelb und dieser Regen, die drückende Leblosigkeit da draußen, der gan 5
ze machtvoll trostlose Nachmittag nie mehr enden.
„Aber eigentlich doch sehr vernünftig! Trotz dieser . . . Generosität schließlich nur
vernünftig!“ flüsterte erstaunt der Anwalt seinem beistimmenden Kollegen zu,
nachdem er den fertigen Vertrag durchgelesen hatte, und reichte ihn gewichtig
Frau Schmitt, deren Blick an Herrn Schmitt vorüberstreifte, fragend, ob sie das le sen müsse. Frau Schmitt konnte mit drei Zahlen charakterisiert werden: Sie war
dreißig, sah aus wie zwanzig und hatte die Schuhnummer 34. Immer und in jeder
Lebenslage war jemand dagewesen, der ihr alle Sorge und Verantwortung abge nommen hatte.
Herr Schmitt unterschrieb das zweite Vertagsexemplar und bat gleichzeitig, noch
eine Vereinbarung über die Kinder beizufügen. Sie hatten sich, auch vor dem
Scheidungsgericht, dahin geeinigt, daß der achtjährige Konstantin beim Vater und
die dreijährige Lydia bei der Mutter bleiben solle, und nun wünschte Herr Schmitt
noch, daß die Mutter sich bereit erkläre, in gar keiner Weise mehr in die Erziehung
des Knaben einzugreifen, da ein Kind nur Schaden nahmen könne, wenn es von
zwei gleichberechtigten Personen beraten werde, die einander so sehr ablehnend
gegenüberstünden und vor allem auch in den Fragen der Erziehung ganz entgegen gesetzter Ansicht seien.
„Also, Lydia kann Ihretwegen falsch erzogen werden! Das ist Ihnen gleichgültig . . .
unerhört!“
„Nein. Aber Sie werde sich doch gewiß nicht auch noch von Lydia trennen wollen.“
„Das muten Sie mir zu?“
Darauf antwortete er nicht. Er sagte: „Außerdem sind Sie ja überzeugt, daß Ihre
Erziehungsmethode gut und richtig ist.“
„Aber Sie sind entgegengesetzter Meinung.“
Alte, tausendfach übereinander gelagerte Erbitterung ließ ihn resigniert lächeln
bei dem Gedanken, daß sie ja niemals und in keiner Sache seine Meinung habe gel ten lassen.
Sie mußte die Hand auf das tobende Herz pressen:
„Ich liebe meine Kinder über alles.“
„Das habe ich nie bezweifelt.“
„Aber Sie tun es ja!“
„Wieso?“ Nun war er doch wieder verblüfft.
„Jawohl! Denn Sie behaupten immer wieder, ich schade den Kindern.“
Soll ich ihr nun zum zehntausendstenmal sagen, daß sie ihre Kinder über alles lie ben und ihnen dennoch Schaden zufügen kann; daß ein Kind Schaden nehmen muß,
wenn alles, aber auch alles, was es tut oder nicht tut, kritisiert wird, dachte er
und schwieg. Er hatte gelernt, daß Schweigen für ihn noch die beste Verteidigung
war.
Erbittert starrten sie aneinander vorbei.
Die Anwälte, die jetzt schon mehr begriffen, formulierten rasch den Nachsatz über
die Kinder, und Frau Schmitt, die noch nie selbstständig etwas ausgeführt hatte,
richtete ihren hilflosen Kinderblick fragend auf Herrn Schmitt. „Hier?“ - „Nein,
hier!“
Und unterschreibe dann doch an der falschen Stelle.
Mit vollendeter Aufmerksamkeit half er ihr in den Mantel und betachtete dabei
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gleichgültig den zarten, weißen Nacken, der ihn vor neun Jahren bezaubert hatte. Zur selben Zeit brachte die alte Kinderfrau, eine Ostpreußin mit wuchtiger Kartof felnase und winzigen, klugen Augen, die schon Frau Schmitts Kindheit betreut hat te, die kleine Lydia zu Bett. Das lange Nachthemd, das in der Taille mit einem Goldfaden abgebunden war, hatte Lydia schon an. Ohne diesen Goldfaden schlief sie nicht ein. Ihr Haar war so schwarz, wie die Seidenfransen eines schwarzen Schals, und die länglichen Riesenaugen, tiefblau, hatten einen flaschengrünen Schimmer. Das Mündchen dachte. Sie streckte die winzige Hand vor, die von der Knieenden gewaschen wurde, und blickte dabei still und dennoch äußerst interessiert hinüber zu Konstantin, der mit Buntstiften ein Gesicht zeichnete. Die Kinderfrau holte das Handtuch, sah im Vorübergehen dem Maler über die Schul tern und erkannte in der gewaltigen Nase mit den winzigen zwei Punkten links und rechts sich selbst. „Du Teufel, du frecher!“ Der Achtjährige, den die Natur schon durch die Gesichtsbildung und wie die Augen denkend blickten, als ernstes Menschenkind gezeichnet hatte, fühlte aus der Tiefe seines Wesens unwiderstehlich den Übermut aufsteigen. Er konnte den Triumph darüber, daß sie sich selbst erkannt hatte, nicht unterdrücken. Lydia blickte unverwandt zu ihm hinüber und hielt dabei das schon gewaschene Händchen immer noch vorgestreckt. Triumph und Übermut des Bruders sprangen so unvermittelt auf sie über, daß dem fest zusammengepreßten lächelnden Mündchen plötzlich ein leiser Jubelton entschlüpfte. Sofort wurde das ganze weiße, von den schwarzen Seidenfransen umrahmte, vollwangige Gesichtchen wieder ernst. Als sie im Bett lag, ganz unbeachtet vom Bruder, verhielt sie sich vollständig still. Sie blickte nur groß hinüber, bis er aufsah. Da ließ sie lockend und kokett die Au genlider flattern. Die Kinderfrau war in der Küche. Nach einer Weile hob Konstantin triumphierend das Papier über den Kopf und zeig te Lydia sein Gemälde. Ohne das geringste Interesse bezeugt zu haben, schloß sie befriedigt die Augen zum Schlafe. Es war, als verheimlichte sie die Genugtuung darüber, daß sie seine Beachtung erreicht hatte. Da trat die Mutter ein, blickte tadelnd ringsum, als ob im Kinderzimmer alles auf dem Kopfe stünde, und rief schließlich: „Tut ein braves Kindchen das?“ Die Kinderfrau stand unterm Türrahmen und schüttelte mißbilligend den Kopf. „Was hat sie denn schon wieder getan? Liegt ja mäuschenstill.“ Die Mutter stürzte vor das Bett ins Knie, in die entgegengestreckten Ärmchen, und riß im Taumel der Liebe ihr Töchterchen an sich. Am nächsten Morgen reiste Herr Schmitt mit seinem Sohne ab, zuerst nach England wo er Konstantin in das Eton College gab, dann auf acht Tage nach New York zur Bilanzsitzung und von dort nach Rußland, wo er die nächsten zehn Jahre zu bleiben gedachte. Herr Schmitt hatte zur Erschließung des russischen und asiatischen Mark tes die Generalagentur nach Petersburg verlegt. Getreu der Abmachung mit dem Berliner Rechtsanwalt, schrieb Frau Schmitt ihrem Söhnchen jährlich nur einen Brief, einen Glückwunsch zum Geburtstag, den Kon stantin in den ersten Jahren mit kurzen Berichten über seine Fortschritte im Boxen 7
und Fußballspiel beantwortete, in Fachausdrücken, die auch die Kinderfrau, die zu Rate gezogen wurde, nicht verstand; später antwortete er überhaupt nicht mehr. Frau Schmitt, in der das Bild des Achtjährigen, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, weiterlebte, bat noch nach sieben Jahren, in ihrem Geburtstagsbrief, als Konstan tin schon ein sportgestählter ernster Jüngling und eben dabei war, die Philosophie Nietzsches mit der Humes zu vergleichen, er solle nur ja gut aufpassen, daß er sei ne Taschentücher nicht immer mir den dummen Farbstiften bekleckse und beim Kirschenessen die Kerne nicht verschlucke. Auf diesen Brief antwortete der Direktor des Eton College, Mr. Schmitt habe das In stitut verlassen, es sei von seinem Vater nach Rußland gerufen worden. Das war im Jahre 1914. Herr Schmitt hatte seinen Sohn zwischen zwei Operationen zu sich kommen lassen. Er benutzte diese Zwischenzeit dazu, Konstantin bei einem be währten Jugendfreunde einzuführen, der sich bereit erklärt hatte, den Jüngling zu adoptieren, falls die zweite Operation unglücklich enden würde. Konstantins Vater starb kurz vor Kriegsausbruch, und der Sechzehnjährige, der ent scheidende acht Jahre der Entwicklung völlig losgelöst von seiner ersten Kindheit verbracht, die Existenz der Mutter schon fast vergessen und auch für den fernen Vater nicht die Gefühle eines Sohnes erworben hatte, konnte an diesem stahlenden Tage keine Trauer empfinden um den Mann im Sarg, hinter dem er in den Friedhof schritt. Bei der Adoption wurden die alten Papiere von der Behörde eingezogen. Konstantin hieß von nun an Berant. Schon im Laufe weniger Wochen, verbracht in der lebendi gen, heiteren Atmosphäre seiner Adoptiveltern, gewann Konstantin mehr Zugehö rigkeits- und Verwandtschaftsgefühl, als er jemals in seinem Leben gekannt hatte. Im Laufe der acht Jahre war in Konstantin eine neuen Welt entstanden, die eines gesunden, unbelasteten Jünglings, der die Gegenwart erlebt und dabei in die Zu kunft blickt. Die alte, ferne Welt seiner frühen Kindheit war verblaßt und allmäh lich versunken und verschwunden. Konstantin war reich. Vom Krankenbett aus hatte Herr Schmitt den Effektenbesitz, seine Geschäftsanteile und sämtliche immobilen Werte in Amerika, deren Verwal tung für Konstantins Adoptivvater zu schwierig gewesen wäre, abgestoßen. Das rie sige Barvermögen war in amerikanischen Banken deponiert. Frau Schmitt hatte seit jenem Nachmittag beim Rechtsanwalt nichts mehr von ih rem früheren Mann gehört. Die Trennung war vollständig. Daß Herr Schmitt gestor ben war, erfuhr sie nicht und hätte sie auch nicht ermitteln können – der Krieg war ausgebrochen, das Leben hatte sich an jenem Tage plötzlich auf die andere Seite gewälzt – und die Schicksale von hunderten Millionen Menschen gestalteten sich an ders. Infolge der russischen Revolution würde auch nach Kriegsende jedes Nachforschen vergebens gewesen sein. Aber Frau Schmitt hatte auch gar nicht den Mut, an ihre tiefe Lebenswunde zu rühren. Nur ein einziges Mal hatte Lydia nach Vater und Bru der gefragt. Sie hatte fassungslos vor der fassungslos in sich zusammenbrechenden Mutter gestanden. Nie wieder hatte das frühreife Kind an die Vergangenheit ge rührt. Im steten Wechsel der Tage und Jahre war für die Mutter allmählich eine neue 8
Welt erstanden, und mit dem Versinken ihres früheren Lebens war auch die Erinne rung an Konstantin verblaßt. Ihre Welt war Lydia. Bei Kriegsausbruch befand sich Frau Schmitt zur Kur in der Schweiz. Sie kehrte nicht nach Berlin zurück. Des Hotellebens überdrüssig, beauftragte sie im zweiten Kriegsjahre ihren Vermögensverwalter, ein Besitztum bei Zürich zu kaufen. Der Garten reichte bis zum Seeufer. Morgens Punkt sieben Uhr öffnete sich die Tür zur Glasterrasse, eine schmale Gestalt in weißem Badecape, ein senkrechter wei ßer Strich mit einem seidenschwarzen Köpfchen, stand im Rahmen, den Blick auf den sonnüberblendeten See gerichtet. Lydia hielt mit der linken das Cape vorne zusammen, straff, daß die zarten For men, die dennoch schon den Bau der Frau verrieten, sich zeichneten, und ließ im Gehen die Rechte noch wie im Traum über die blütenstrotzenden, taunassen Sträu cher gleiten. Es schien, als gewänne ihr Traum der Nacht noch eine Fortsetzung in diesem Gehen durch den morgenstillen Garten. Schon jetzt hatte der leicht ziehende Gang der Elfjährigen, deren Knie beim Schreiten stets etwas gebeugt zu bleiben schienen, sein ureigenstes Gepräge, das später jeden Mann und jede Frau zwingen sollte, den Blick zu heben, um zu sehen, welches Gesicht die Frau habe, die so ging, als sei bei ihr der Sitz der Seele in den Beinen, in den Kniekehlen. Das wiederholte sich jeden Morgen: sowie das Bade häuschen, von dem das Sprungbrett weit hinaus in den See ragte, zwischen den Bäumen sichtbar wurde, ließ Lydia das Cape fallen. Im Garten und auch weithin war niemand. Das dünne nackte Kind zwischen den hohen Blumenstengeln, das im Blick den tiefen, ruhigen Ernst der wahren Schönheit trug, gewann, beflügelt von der Morgenfrische, die äußerste Spitze des Sprungbretts: gereckt – und war ver schwunden. Möwen, einzeln und in Scharen, schwebten, flatterten, zogen Kreise und schrieen, begleiteten schreiend die Schwimmerin, glitten in ruhelosem Fluge hernieder, daß die Flügelspitzen das Wasser und Lydias bewegten Körper berührten. Als sie wieder auf dem Sprungbrett stand, auf der äußersten Spitze, und die Möwen im Kreise flogen, immer knapp an ihr vorüber, ein weißer Kreis flatternder Flügel und schreiender Schnäbel, das tägliche Futter von Lydias Hand erwartend, brach sich das Sonnenlicht in den perlenden Tropfen auf ihrem Körper zu den Farben des Regenbogens. Sie setzte sich nieder, die Kniee angezogen, und begann mit der täg lichen Fütterung. Der Wind der flatternden Flügel streifte ihre Wange. Sooft sie ein Brotstückchen hinausschleuderte, schieen die Möwen auf und haschten es im Flu ge. Die mutigsten schnappten im Kreisfluge das Brot aus Lydias vorgestreckter Hand. Immer im Kreise fliegend und schwebend, rückten die Möwen, nun lautlos, allmäh lich hinaus in die Seemitte, die Fütterung war zu Ende. Lydia stand auf dem Sprungbrett, reglos, den Blick dem Garten zugewendet. Noch war die Brust knabenhaft, und den zarten Leib zierte noch nicht der Schmuck des Frauentums. Sie trug den Traum des Lebens im Auge. „Niesen muß doch jeder Mensch manchmal“, sagte Lydia. Aber die überängstliche Mutter ließ den Arzt holen. Das war für den alten Herrn immer ein Genuß ganz besonderer Art, wenn dieses ernste, schöne Kind mit der Sicherheit und Ruhe einer jungen Dame und zugleich 9
mit dem unwiderstehlichen Charme ihrer elf Jahre die ärztliche Untersuchung für nicht nötig erklärte und die sorgsam gewählten Beruhigungsworte, die er der zit ternden Mutter sagen sollte, selbst bestimmte. „Aber Sie können ja einmal hor chen.“ Folgsam legte er das Ohr nur flüchtig an Lydias gesunde, zarte Brust, und sie blick te gelassen über den schlohweißen Kopf hinweg. An ihrer echten Selbstsicherheit, die der Mensch nur durch mitgeborene Kraft der Seele und makellose Schönheit des Körpers gewinnen kann, war die krankhafte Kri tiksucht der Mutter schon seit Jahren wirkungslos abgeprallt. Schon waren die Rollen vertauscht. Die Dame des Hauses war Lydia, die mit leich ter Hand Atmosphäre und Ablauf des Tages bestimmte, und die Mutter war das Kind, das mit Takt und Feingefühl und einer ins Maßlose gesteigerter Liebe von Ly dia geleitet und behütet wurde. Auf einem Spaziergang am See war die Mutter einst in Entzücken geraten beim An blick eines jungen Dackels und hatte den Wunsch geäußert, so ein Dackelchen zu besitzen; das Tier würde außerdem gewiß auch ein sehr guter Schutz für Haus und Garten sein. Lydia hatte sofort für den Kauf eines Dackels gestimmt, und ihre Spekulation war richtig gewesen. Denn von nun an mußte das junge braune Dackelchen, das schon davonlief, wenn ein Junge nur die Nase durch den Gartenzaun steckte, den Haupt teil der Kritiksucht aushalten. Anfangs zog er den Schwanz ein, kauerte sich ängstlich zusammen und traute sich nicht heraus aus seiner Ecke, wenn er etwas angestellt haben sollte; später ver drehte er nur noch die Augen und machte Stirnfalten, und seit einiger Zeit, seit dem er wußte, daß er überhaupt nichts recht machen konnte, war auch sein Au genverdrehen nicht mehr ganz echt, wenn die Herrin völlig grundlos reif: „Tut ein braves Hündchen das?“ Lydias Mutter hatte ihren Mädchenamen, Leskow, wieder angenommen. Sie lebten zurückgezogen. Zürich, die geruhsame Stadt der alteingesessenen Handwerker, Ho teliers und Möwen, war im zweiten Kriegsjahr Sammelpunkt der Hochstapler, poli tischen Emigranten, Deserteure, Spitzel und Spione aller Länder Europas. Geschäf temacher dunkelster Art, Gaunergesindel jeglicher Prägung, politische Fanatiker und internationale Artisten füllten die Straßen und Kaffeehäuser. An windstillen Abenden, wenn das Leben in der Stadt schon abgeklungen war, wenn die Möwen schon schliefen und das weiße Gebirge in großer Stille in Erschei nung trat, hörte Lydia den fernher dringenden Donner der Geschütze: kaum ver nehmbar schwach und ungeheuer grauenvoll. Konstantin Berant, dessen Adoptivvater im Kriege gefallen war, studierte in Petro grad Nationalökonomie und setzte das Studium auch in den Jahren der Revolution fort. Als er 1920 Rußland verließ, trug er im Blick das unbestechliche, erlittene Wissen eines Mannes, der gesehen und miterlebt hat, wie ein Volk unter ungeheu ren Zuckungen, Kämpfen und Krämpfen in Finsternis und Raserei mit einem Über maß an Opferbereitschaft ein neues Stockwerk der Menschheitsgeschichte aufrich tete. 1921 kehrte Konstantin aus Amerika zurück. Das ererbte Vermögen hatte sich seit 10
her noch vergrößert, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, auch bei einem ver schwenderischen Leben nur einen beträchtlichen Bruchteil der Zinsen zu verbrau chen. Der Fremde von Distinktion, der in Le Havre an Land stieg, stand seit seiner frühen Jugend zum erstenmal vor der Möglichkeit, die andere und schöne Seite des Da seins zu erleben, als ein äußerlich und innerlich vollständig unabhängiger, an Seele und Körper unangetasteter Mann, dessen Wesen durch die miterlebten, großen ge schichtlichen Ereignisse tief geläutert war. Konstantin Berant hatte zu niemand persönliche Beziehungen. Die Frau seines im Krieg gefallenen Adoptivvaters, war an Fleckentyphus gestorben. Es war allein. Er reiste. Er war dreiundzwanzig und hatte keine Pläne, folgte plötzlichen Einfällen, fuhr zunächst nach Paris, dann nach Wien, von Wien in die Schweiz und entschloß sich erst in Zürich, eine planvoll zusammengestellte, auf drei Jahre berechnete Weltreise zu unternehmen. Das internationale Getriebe in Zürich war wie weggeblasen. Verschwunden die Hochstapler und Fanatiker aus aller Welt, wieder in der Welt zerstreut! Zürich war wieder die geruhsame Stadt er alteingesessenen Handwerker, Hoteliers und Mö wen. Konstantin Berant verließ das Reisebüro. Schreiende Möwen schwebten über ihn hinweg, hinaus über den glatten, besonnten See, das Wasser roch frisch, und das ferne, weiß-ruhende Gebirge schien nähergerückt zu sein, so klar und schön war dieser Tag. Es bog in die Bahnhofstraße ein, wo die eleganten Läden sind und diesen Morgen wie in einer Kleinstadt Gemüsemarkt war. Die ganze Straße hinunter stand Korb an Korb, dicht umgeben von prüfenden, feilschenden, kaufenden Hausfrauen. Frau Leskow, die Spinat in rohem Zustand von Salat nicht unterscheiden konnte und dennoch zeitlebens darum kämpfte, als tüchtige Hausfrau zu gelten, unterließ es nie, selbst auf den Markt zu gehen. Die Köchin war mit dem gefüllten Gemüse netz schon heimgegangen. Frau Leskow und Lydia betrachteten die Schaufenster im langsamen Vorübergehen. 1906 hatte die Dreißigjährige wie ein junges Mädchen ausgesehen, jetzt sah die Fünfundvierzigjährige zehn Jahre älter aus als sie war: ein überzarte, durch schwe re Krankheit vorzeitig gealterte Frau. Wenn Lydia heimlich die Mutter betrachtete, hielt sie stets ein sorgloses Lächeln bereit, das ihre tiefe Besorgnis verdecken sollte. Sie war achtzehn und trug im Ge sicht die Züge der unberührten Jugend und großen Schönheit und den mitgebore nen Lebensernst in ergreifender Vermischung. Das war die Zeit, da die Gäste eines Restaurants in Paris, London, Berlin erleben konnten, daß an zwei Tischen zwei Menschen sich plötzlich erhoben, fragend, zö gernd und erblaßt wie Gespenster aufeinander zugingen und mit einem Begrü ßungsschrei einander in die Arme fielen; alte Freunde, Leidensgenossen, durch Krieg und Revolution versprengt, die den andern tot geglaubt und nun in ganz und gar veränderten Lebensumständen wiedergefunden hatten. Mutter und Tochter und der Bruder waren, getrennt noch durch Gemüse kaufende Frauen, einander bis auf wenige Schritte nahe gekommen, da rief auf der anderen Seite der Straße ein eiliger Zeitungsverkäufer das Mittagsblatt aus, Konstantin wandte den Kopf, über 11
querte die Straße und schritt, lesend in der gekauften Zeitung, auf dieser Seite
langsam weiter.
Wäre der Zeitungsverkäufer nur zwei Sekunden später gekommen, dann hätte Kon stantin die Mutter erblickt. Das wäre für ihn ohne jede Bedeutung gewesen – er
wäre nur einer distinguierten alten Dame begegnet.
Aber er hätte Lydia gesehen.
Am Abend desselben Tages begann er die Weltreise, die ihn drei Jahre von Mittel europa fernhielt.
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ZWEITES KAPITEL
„Schwerer Nebel über London!“ meldete das Schiffsradio. Konstantin Berant, der aus den Tropen kam und nun, nach beendeter Weltreise, in London eine große na tional-ökonomische Arbeit schreiben wollte, entschloß sich von einer Minute zur andern, schon in Triest an Land zu gehen und zuerst einige Tage in Berlin zu ver bringen, wo er den Klimawechsel weniger empfinden würde. An diesem selben Tage wurde auch Lydia Leskow, deren Koffer schon gepackt wa ren, durch eine Nachricht veranlaßt, ihren Reiseplan umzustoßen: sie blieb in Ber lin. Die Mutter, die, um Lydia nicht zu beunruhigen, noch auf dem Sterbebett ge schrieben haben würde, es gehe ihr gerade jetzt besonders gut, war erkrankt und hatte, damit Lydia es nicht erfahre, dringend gebeten, die Heimreise zu verschie ben – der Tapezier arbeite noch in Lydias Zimmern. Konstantin verließ sein Hotel mit der Absicht, im Wagen aus der Stadt hinauszufah ren, und entschloß sich erst am Wagenschlag, nach einem Blick auf den wolkenver hängten Himmel, zum Tee in ein Hotel Unter den Linden zu fahren. Während Lydia den Hut aufsetzte und mit dem Stift die glatten Lippen berührte, deren Rot so zief und leuchtend zum blendenden Weiß der Wangen stand, daß das hingewischte künstliche Rot kaum erkennbar war, ging Konstantin durch die Hotel halle in den Lichthof, der in einen offenen Raum überging, wo die Jazzkapelle vor dem glänzenden Parkettquadrat saß. Als Konstantin, der seinen trainierten, wohlproportionierten Körper in jeder Bewe gung beherrschte, durch den Lichthof schritt und mit kaum bemerkbarer Geste wortlos den Kellner fragte, ob das Tischchen frei sei, machte er den Eindruck eines Mannes, der für jede Annäherung unzugänglich ist. Aus seinem sonngebräunten Ge sicht, scharf, faltenlos und etwas zu mager, kam ein Blick, der ihn von den Men schen wegzurücken schien. Sein Haar, dunkelblond, war auf dem Scheitel von der Sonne etwas heller gebleicht. Konstantin war sechsundzwanzig Jahre alt. Der Ernst seines Wesens ließ ihn älter erscheinen. Lydia stieg die Hoteltreppe herunter, in der Mitte. Bei ihr kam jede Gemütserre gung sofort in ihrem Gang zum Ausdruck. An der Art, wie sie beim Herabsteigen die Kniee hob und den Fuß stellte, in lässigem Tempo, war erkennbar, daß sie nichts Besonderes vorhatte; daß dieser Nachmittag, der für die Abreise bestimmt gewe sen war, dem Zufall gehörte. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid. Der Saum des Unterkleides, das erst in der Mit te der Brust begann, war sichtbar, und oberhalb des Saumes schimmerte das blen dende Weiß der Brüste durch den dünnen Flor. Eine Sekunde blieb sie in der Hotelhalle stehen, horchend auf die Jazzband, deren 13
hackende Töne von weit hinten aus dem Lichthof kamen. Sie hatte noch niemals den Tee im Lichthof genommen. Heute war alles anders. Sie schritt den Tönen ent gegen. Nicht die untadelige Schönheit ihrer Beine, deren Linie wie in Weißglut vollendet vom Knie abwärts flossen zum schmal modellierten Fuß, war das Bedeutsame, son dern daß in diesen Beinen, wenn sie in Bewegung waren, das innerste Wesen Lydias ergreifend zum Ausdruck kam. Die Beine flossen so gerade herab, daß beim Schrei ten nicht zwei Millimeter Luft zwischen den Knieen war, und innen zog von der Wade empor zur Kniekehle diese Linie ihres Frauentums. Es schien so, als bliebe beim Schreiten das beseelte Knie stets etwas gebeugt. Konstantin, der an seine Arbeit dachte und vor sich hin zu Boden blickte, sah zu erst nur diesen erregenden Fluß der Beine, vom Knie abwärts. „Die fortschreitende Vergesellschaftung der Produktionsmittel innerhalb des kapi talistischen Systems“, dieser Titel seines künftigen Werkes, soeben erst erdacht, entschwand ihm, sein Blick ging von den geschliffenen Beinen über die Kniee em por zu den Schenkeln, die sich rund unter der schwarzen Seide zeichneten, und zu der in ihrer Straffheit unbewegten Brust unter dem dünnen Flor; er sah noch die hohe Säule des Halses und dann diesen Kopf, dieses Gesicht, erregend beseelt wie Gang und Kniee, mattweiß, das vom schwarzen Flügel der Tragik allen Menschen daseins noch den letzten inneren Glanz seiner ergreifenden Schönheit zu empfan gen schien. Nur unter dem überraschenden Blau des Auges war ein leiser brauner Schimmer. Die Braue war seidenschwarz. Die allererste Empfindung Konstantins war die eines heftigen Schmerzes in der Herzgegend, dann durchschoß ihn ein heißer Strom, Nacken und Rücken herunter, durch Schultern und Arme, bis in die Fingerspitzen. Er sah weg, langsam, senkte den Blick wieder zu Boden, sah zunächst nicht wieder hin, Die Welle der Ungeduld, dieser Frau noch fremd zu sein, versank wieder in sich selbst. In dieser lebensentscheidenden ersten Minute, da er abgewandten Kopfes wieder vor sich hinsah, formte sich in seiner Seele das Bild ihres Wesens, unverrückbar und für immer. Braucht ja nur den Kopf zu heben, dann kann er das brennende Bild in seinem In nern vergleichen mit ihr. Er tat es nicht. Sie hatte sich abseits niedergelassen, an einem der kleinen Tische, die für Hotelgä ste reserviert waren; war unauffällig gekommen, unbemerkt von den andern, saß plötzlich da und fiel auf. Beim Kommen hatte sie nur Konstantins äußere Erschei nung erfaßt, die Haltung, das etwas strenge Profil. Sie saßen nur einen Meter voneinander entfernt an der Mauer, Lydia mit dem Ge sicht zurück zur Hotelhalle, er mit dem Blick zu ihr, wenn er ihn hob. Kein Tisch war zwischen ihnen. Ganz selbsttätig bestrichen Konstantins Hände den Toast auf beiden Seiten mit Butter. In dem gefühlstiefen und dabei hellen, scharfen Bewußtsein, daß durch Ly dia der Sinn des Lebens sich an ihm erfüllen werde, hob er ganz unabsichtlich, wie aus einem Traum in den Tag zurückgekehrt, langsam den Kopf. Diesen Blick, in dem Grundriß und Art seines Wesens, die ganze Legitimation Kon 14
stantins, seine Hingabe und sein Begehren lebensstark enthalten waren, empfing Lydia wie eine Saat ins unbewachte herz. Er war es, der zuerst die Lider senkte, jetzt, da er den Schuß in ihre Seele abgege ben hatte. Unter dem glatten Spiegel ihres Lebens war erregende Unruhe entstanden, verwan delnd schon die Züge ihres Lebens, ihres Gesichtes, wie ein beginnendes Seebeben den glatten Wasserspiegel schon verwandelt, noch bevor seine Gewalt emporgesto ßen ist. Sie konnte ihn ansehen – er hielt den Kopf abgewandt. Sie konnte nicht widerste hen, die Einheit der männlichen Linien seines Gesichtes mit dem Blick, den sie empfangen hatte, zu vergleichen. Sie fühlte, so wie er dasaß, daß sie in ihm war, sie fühlte triumphierend ihre Macht und zugleich die unwiderstehliche, tief beun ruhigende, beseligende Ohnmacht der Frau, die getroffen ist. Konstantin wußte, daß sie nun sofort aufstehen und gehen werde, und er hob den Blick nicht mehr zu ihr empor. Er sah nur den schmalen Fuß, das enge Spiel der Beine. Erst als sie den ganzen Lichthof schon durchschritten und die Hotelhalle er reicht hatte, blickte er auf und sah, daß sie gesenkten Kopfes ging. Dieser Anblick riß ihn empor. Ihn überkam die Herzensangst, sie aus den Augen zu verlieren – Berlin war groß. In einer Minute wußte er, daß sie in diesem Hotel wohnte, kannte die Zimmernum mer. Konstantin wußte Lydias Blume. Erst im vierten Geschäft fand er die Maréchal-Nil-Rosen. Er schickte den Strauß ohne Karte. Dann fuhr er in sein Hotel, packte, und Minuten später standen seine Koffer in den Zimmern neben ihrem Ap partement. Lydia war durch die dämmerige Hotelhalle gegangen bis zum Ausgang. Sie hatte hinaus in die Sonne geblickt und war umgekehrt und mit der blitzendend Unruhe im Herzen wieder treppauf gestiegen, langsam, die Hand am Geländer. In den Kniekehlen spürte sie, was ihr geschehen war. Im Spiegel auf der Treppe sah sie plötzlich ihr weißes Gesicht und in ihm das Leuten des Triumphes und der Ohn macht einer Frau: das Glück. Unter ihrem eigenen Blick versuchte sie, sich zu fas sen. Hinein in das Zimmer, auf den nächsten Stuhl. Jetzt erst glaubte sie die Klänge der Jazzband zu vernehmen, die sie vorhin überhört hatte, sah den Lichthof mit demd dünnen Springbrunnen, die Tanzenden und klar das Bild Konstantins, das eins war mit dem in ihrem Herzen. Sie sah ihn lange an, die männliche Stirn im Profil, die über die Augen vorgebaut war, das festsitzende Ohr und die haarfreie Stelle hinter dem Ohr, die sie zuerst mit den Lippen berühren würde. „Mir ist etwas geschehen. Es ist mir geschehen.“ Dort, hinter dem Ohr oben, begann die Linie, zog im Schwung herum und wurde beim klar gebauten Hinterkopf zur starken und jungen Nackenlinie. Daß er nach diesem einzigen Blick so abgewandt gesessen hat! Daß er dies getan hat! In scheuer Zärtlichkeit sah sie ihn an. An die Vorzimmertür wurde geklopft. Sie hörte die Stimme ihrer Zofe. Alles war selbstverständlich: daß er Blumen schickte und daß er ihre Blume wußte. Sie nahm den Strauß entgegen, als hätte sie ihn bestellt. Ihn war rot und heiß in den Augen. Ganz allein sein mit ihm! Die Zofe sollte gehen. 15
Mit schwachen Händen gab sie ihre drei Maréchal-Nil-Rosen, die auf dem Toiletten tisch standen, in die Vase zu den seinen.
Sie nahm den Hut ab, als begänne jetzt das Leben. Das seidenschwarze Haar fiel
über das kleine Ohr herab. Da saß sie vor dem Spiegel, zu sehen, ob sie schön sei.
Und hier, vor dem Spiegel, gewann die Frau in ihr die Fassung wieder.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, nahm Konstantin die Gefahr auf sich, takt los zu erscheinen, und zog noch diesen Abend einen Kreis von Aufpassern um Lydia
herum, vom Portier bis zum Zimmermädchen. Lydia durfte keinen Schritt mehr tun
können ohne sein Wissen.
Das war seine große Herzensangst. Ruhelos ging er in dem großen Zimmer auf und
ab.
Sein Sekretär, ein Doktor der Philosophie, der seine umfangreiche Handbibliothek
durch die ganze Welt mitgeschleppt hatte, ein riesiges Wissen besaß und nicht den
kleinsten eigenen Gedanken zu Papier bringen konnte, ordnete die vollgeschriebe nen Notizbücher Konstantins, die Broschüren und statistischen Nachschlagewerke
auf dem zu kleinen Schreibtisch und legte die neuen Kanzleibogen und das Arbeits material zurecht.
„Daraus wird nichts!“
Der Sekretär, der so klug war und manchmal so dumm aussehen konnte, fragte er staunt und stumm. Dabei stieg die dicke Nasenspitze empor. Die Goldbrille war in
das volle Gesicht hineingewachsen.
„Keine zeit mehr! Jetzt nicht! Und wer weiß, wie lange nicht! Gar keine Zeit!“
Da konnte der Sekretär, wie immer, wenn er unzufrieden war, nur die faltige Wes te herunterziehen. Schließlich fragte er: „Und wann fahren wir nach London?“
„London? Ich weiß ja nicht, wohin sie fährt.“
Das konnte er nicht verstehen, die dicke Zungenspitze erschien zwischen den dik ken Lippen, jetzt sah er dumm aus.
„Die Zimmer nebenan sind bezogen worden vor einer halben Stunde“, sagte Lydias
Zofe, während sie das Kleid für den Abend aus dem Schrank nahm.
Lydia wußte sofort, daß jetzt er dort hinter dieser Wand war. Hand am Halse,
horchte sie und vernahm seinen ruhelosen Schritt.
„Sicher ein Engländer oder ein Amerikaner! Sein Sekretär sieht aus wie ein kaltge wordener Kartoffelkloß.“
Ganz unvermittelt fragte Lydia: „Wollen Sie eigentlich noch heiraten, Marie?“
„Doch sicher nicht vor Ihnen!“ Dieses fünfundzwanzigjährige, rotwangige Mädchen,
gut gewachsen und hübsch, faßte alle Dinge des Lebens einfach und praktisch an
und war schwer aus ihrer ruhe zu bringen.
!Man muß nicht gerade heiraten, Fräulein Lydia, es geht auch so heutzutage. Sagen
Sie mir lieber, ob wir heute unten essen.“
„Nein. Ich will in die Oper.“ Daran hatte sie eine Sekunde vorher noch nicht ge dacht.
Es war schon sieben Uhr. Marie, durch nichts zu überraschen, fragte seelenruhig:
„Welches Kleid?“ Wählte die passenden Strümpfe und Schuhe, ein Täschchen und
ging hinunter zum Portier, um die Loge zu besorgen.
Zwei Minuten später klopfte der Portier an Konstantins Tür. „Die Dame von Zimmer
siebzehn fährt in einer halben Stunde in die Oper. Figaros Hochzeit! Ich habe noch
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einen Sitz in derselben Loge.“ Er flüsterte nicht, lächelte nicht diskret; er sprach ganz geschäftsmäßig. Er hatte hundert Mark bekommen. Konstantins Stirn wurde heiß. Ob sie mir diese ganze Spionage nicht doch übelneh men wird? „Natürlich nicht in derselben Loge! Einen Parkettsitz! . . . Aber in der Nähe!“ „Die Dame wollte ja heute mittag um zwölf Uhr abreisen, habe ich noch vergessen, Ihnen zu sagen. Bleibt aber einstweilen.“ Der Portier war Menschenkenner. Aber das hätte er nicht für möglich gehalten, daß dieser lebenssichere junge Fremde, der kein Wort zuviel sprach, so vollständig fas sungslos dreinsehen konnte. Da hätte ich sie ja nicht gesehen, vielleicht nie, im Leben nie gesehen! Konstantin hatte diesen Gedanken und konnte ihn nicht fassen. Urplötzlich brauste das Glück über ihn hin, da es nicht geschehen war. Marie, die immer nur schwarze Kleider trug und am Halskettchen ein Goldkreuz, war mit in der Loge. „Da kommt er, unser Zimmernachbar, aber ohne Kloß.“ Durch den knappen Frack kamen Konstantins gestählter Körper – schulterbreit und beckenschmal -, die mühelos straffe Haltung, das braune Gesicht noch mehr zur Geltung. Lydia vermochte nicht hinzusehen. In der rechten Schläfe, die ihm nahe war, spür te sie, wo er Platz nahm. Zweite Reihe, dicht bei ihrer Loge, die noch etwas näher der Bühne war. Immer noch pochte das Blut in der rechten Schläfe. Ihr erster Gedanke – heißes Ge fühl – war, daß sie zu entblößt sei, ganz schrecklich entblößt sei, Hals, Arme, Schultern – und so weit herunter, schrecklich weit herunter! Was noch übrig war, bedeckte blaßgelber Tüll. Erst als das Haus verdunkelt wurde, wandte er den Kopf. Er blickte nicht mehr weg. Selbst jetzt, im warmen Dunkel der Loge, leuchtete das blendende Weiß. Sie hörten beide nichts. Inmitten der emporstrebenden, immer höher emporstre benden Tonflut, in der himmlische Engels-Chöre selig jubilierten, vernahmen sie nur das dunkle Pochen des Blutes in der Ohrmuschel. Sie wurden beide überrascht von dem plötzlich herabstürzenden weißen Licht des Riesenkronleuchters: Blick in Blick. Die Welle des Schreckens und der Scham, daß er sie so entblößt sah, wich zurück, noch bevor sie Lydias Gefühl ganz erreicht hatte, und sie bot ihm, Blick frei in sei nem Blick, stolz und ergeben ihre ganze Schönheit dar. Seine Augen erstarrten. Nur noch im Herzen sah er ihr Bild. Die Lippen flüsterten: „Sie ist zu schön.“ Und eine dunkle Angst bemächtigte sich seiner. „Ganz hübscher Mann“, sagte anerkennend Marie. Ihr Gesicht schien in der Luft zu schweben, so ging das schwarze Kleid mit dem Dunkel der Loge zusammen. Sie saß etwas weiter hinten. „Aber Sie dürfen nicht hinsehen, nicht hinsehen.“ Lydia legte ihre eiskalte Hand auf Maries Hand. Alles Blut war im Herzen. Warum plötzlich die beengte Brust? War er schon eifersüchtig? Auf die vielen Au genpaare hinter den Operngläsern, die auf ihre Loge gerichtet blieben? Unsinn! Er hat gesehen, erschauernd vor Glück, wie sie im Aufschwung ihres stolzen Wesens sich seinem Blick anheimgegeben hatte. Das war es. Weil sie das für ihn getan hat 17
te! Er war ihr schon zuviel schuldig. Dunkelheit brach herein, in ihr versanken die weißen Schultern und schimmerten unter seinem Blick wieder heraus aus der Dämmerung der Loge. Die Musik setzte ein. In anregender Gesellschaft oder im Straßengewühl oder auch im stillen Zimmer bei besonders fesselnder Lektüre konnte es Konstantin geschehen, daß er sich ganz ohne sein Zutun auf sich selbst zurückzog. Er folgte einem unsichtbaren, stillen Führer. Das war wie ein plötzlich notwendig gewordener Besuch bei seinem verbor gensten Ich. Während, unterbaut und getragen vom Orchester, die Pagen-Arie erklang und Lydia doch nahe, so nahe und in seinem Herzen war, stieg Konstantin traumhaft allein durch fahlgelbes Gebüsch tief hinunter in einen Abgrund. Keine Vegetation mehr. Nur Jahrmillionen alte, fahle Felswände und eine unwirkliche, sonnenlose Stille, in der, weit vorn im Abgrund, eine Equipage stand und am Wagenschlag ein Mann, völlig reglos. Auch Konstantin stand lange reglos und blickte vor zur Equipage. Et was tief Geheimnisvolles geschah dort vorne im Abgrund. Da brach wieder das Licht des Kronleuchters herunter in das Haus. Unter Stimmen geschwirr drängten die Zuschauer hinaus, es war Pause. Konstantin stand plötzlich in der strahlend hellen, von Marmorsäulen getragenen Wandelhalle, umgeben von festlich gekleideten Menschen. Dort ging Lydia, zauberhaft hell, neben ihr der schwarze Schatten mit dem Goldkreuz. Er sah die Unschuld ihrer Brust und nun, da sie vorüber war, den ganzen lebenden Körper unter dem blaßgelben Tüll. Da stand sie an der Säule, berückend das weiße Gesicht, und sah ihm ins Herz. Er konnte hingehen, jetzt konnte er hingehen, ihre Hand nehmen, schweigen oder alles sagen. Die Glocken schrillten langgezogen. Er hörte nichts. Als er wieder emporkam und aufsah, war sie verschwunden, entzaubert die Wandelhalle. Wie gezogen ging er auf die glänzende gelbe Marmorsäule zu, jetzt, da Lydia fort war. Die Luft, die sie atmete, mußte noch dort sein. Hier mußte sie sein. „Hier, nämlich, hat Lydia ge standen.“ Konstantin kam sehr spät nachts in s Hotel zurück. In einer Sektbar des Westens, wo pausbackige, kaum meterhohe Lustpagen farbige Papierkugeln verkauften, die, im Trubel der Tanzenden hin- und zurückgeworfen, Beziehungen anknüpften zwi schen Kokotten und dicken Herren, und der glatzköpfige Stimmungsdirektor zum Jazz den Text mitbrüllte, hatte er gefunden, daß er sehr weit von diesem Leben entfernt sei. Lauschend stand er im Schlafzimmer, durch die dünne Wand getrennt von Lydia, die überwach zu Bett lag, im cremefarbenen Nachthemd, weniger entblößt als in der Oper. Dort und hier, in tiefer Finsternis, pochte ein Herz. Konstantin erwachte früh mit den Worten: „So kann das nicht weitergehen.“ Wie ein Mann, der lange faul war und nun etwas übertrieben energisch, laut und kraft voll das Arbeitsmaterial auf dem Schreibtisch zurechtlegt, entschlossen, sofort mit dem neuen Leben anzufangen, nahm Konstantin sich vor, mit dem Hangen und Ban gen ein Ende zu machen, und sprang energisch heraus aus dem Bett. Als der Sekretär mit einem Buch in der Hand eintrat, stand Konstantin splitternackt im Zimmer, den kraftvoll auseinandergezogenen Muskelspanner quer über der 18
Brust. Der ganze schulterbreite, trainierte Körper war so braun wie das Gesicht, und das Maß der beiden muskelgewölbten Oberschenkel ergab an den höchsten Stellen einige Zentimeter mehr als das Maß des Beckens. Konstantin wußte, wann Lydia morgens ihre Zimmer verließ. In zehn Minuten war er rasiert und kalt abgeduscht, hatte ein dunkelblaues Hemd und die Gürtelhose an und vor sich noch eine ganze Stunde, mit der er absolut nichts zu beginnen wußte. „Ich habe da gestern ein neuerschienenes Werk gekauft: `Antike Wirtschaftsge schichte´. Schon das erste Kapitel `Übersicht über die wirtschaftliche Entwicklung des Orients bis zur Schaffung des griechisch-orientalischen Wirtschaftssystems (bis Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr.)´ ist äußerst aufschlußreich. Ich habe es ge lesen.“ Konstantin, der fix und fertig angekleidet auf der Sessellehne saß, sagte, ohne auf zublicken: „Lesen Sie auch die weiteren Kapitel“, und sah begriffsstutzig den Kell ner an, der mit dem Tablett erschien. !Ach so!“ Er hatte ganz vergessen, daß er noch nüchtern war. „Ich finde, Konstantin, Sie haben sich verändert seit gestern.“ „Das haben Sie bemerkt? Ich gratuliere!“ rief Konstantin strahlend in plötzlich aus brechender Freude. „Und das zweite Kapitel . . .“ „Lieber Stephan! . . .Komm, setz dich und iß.“ Erfüllt von Sympathie, legte er die Hand seinem Philosophen auf die Schulter. Diese Sympathie, die er so unvermittelt manchmal zu fühlen bekam, war es, die den menschenscheuen, vereinsamten Burschen so fest an Konstantin fesselte. Dann sagte er immer du zu mir, dachte der Sekretär, errötend wie ein Mädchen, und griff nach dem Schinkenbrot. Die beiden jungen Männer ließen nichts übrig von dem Frühstück, das für vier nor male Esser gereicht hätte. Angesichts besonders schwieriger Unternehmungen kam Konstantin schließlich im mer zu einem Punkt, wo sein kraftvolles Selbstbewußtsein jedes Schwanken besieg te. So schritt er Unter den Linden hinter Lydia her, klopfte sich im Gehen mit den Handschuhen leise auf die Schenkel und blinzelte sogar manchmal empor zum sei denblauen Himmel, weil dieser Tag so warm und strahlend war. Das denkbar schön ste Verkehrshindernis, dachte er, als er sah, wie der Autobus, ein rollendes Haus, sich mühsam durch das Brandenburger Tor quetschte. Der Tiergarten, ein Riesenpark inmitten eines Riesenstadt, in der jeder Quadrat meter Boden Gold kostet, das köstlichste Vermächtnis der Ahnen Berlins an die Berliner des zwanzigsten Jahrhunderts, die dafür keine Zeit haben, strömte in sei ner stillen alten und ewig neuen Pracht, von sonnüberblendeten Wasserarmen durchzogen, an diesem Frühlingstage eine Frische aus, die ganz und gar eins war mit Konstantins Gemütsverfassung. Vor ihm spazierte Lydia, wie eingehüllt in ihre Schönheit, da sie in so eigener Art den Kopf etwas geneigt hielt. An ihrem Rücken sah er, daß sie fühlte, wie nah er ihr war. Da schritt er neben ihr. „Bitte, erlauben Sie. Mein Name ist Konstantin Berant.“ Das hätte jeder andere sagen können. Sie hob nur kurz, ganz kurz den Blick in sei nen Blick. „Sie sind so braun. Waren Sie in den Tropen?. Ich dachte es schon ge 19
stern.“ Und sie sagt es mir! Welch wunderbares Geständnis! Durch seinen Rücken rieselte der Freudenschauer. „Ja, ich bin drei Jahre in der Welt umhergereist.“ Und dabei dachte er: Wie ihre Stimme müßte eine schwerduftende, große weiße Blüte klin gen, wenn Blumen klingen könnten. Er sah beim Sprechen auf ihr kleines Ohr, das an das seidenschwarze Haar fest an gepreßt und unbegreiflich weiß war in seinen geheimnisvollen Windungen. „Sie sind nur vorübergehend hier? Sie wollten gestern abreisen. Ich habe – bitte, verzei hen Sie -, das habe ich ausgekundschaftet und noch mehr. Alles! Alles Ich nahm mir vor, sofort zu beichten.“ Und als sein nun alles glatt: „Sie sind unbegreiflich schön.“ „Das dürfen Sie nicht sagen, so etwas.“ Mit einem kurzen Blick, der ihm verriet, daß er es durfte. Nur in der Ferne war der leichte Nebel sichtbar über Wasserarm und See. Sie gin gen in der warmen Sonne. Millionenfältig pochte die Stadt, ein helles Brausen. Sie waren gesund und jung, unangetastet beide an Seele und Körper und durch ihr ganzes bisheriges Leben vorbereitet für das große Gefühl, das sie überwältigte, wie das Meer den, der es noch nicht kannte und plötzlich verstummt vor der Herrlich keit und Größe steht. Jeder Schritt, den sie taten, führte tiefer hinein in die heimliche Schlucht, wo vor den Sohlen der Liebenden die Blumen sich neigen und der Dornbusch wartet: das Glück. „Bitte, sagen Sie noch einmal: Ich dachte es schon gestern.“ Und da sie noch schwieg, aufblitzenden Blickes: „Bitte, sagen Sie es noch einmal.“ Sein Herz lauschte. Und Lydia, die wußte, daß diese Worte für ihn nun zum Geständnis ihrer Hinnei gung wurden, sagte wie zu sich selbst. „Ich dachte es schon gestern.“ Da gab sie ihm den vollen Blick, das ganze stolze Gesicht. Eine Sekunde noch hielt er an sich, dann öffnete der Jubel seine Lippen. „Wir sollten in London heiraten, Da geht das alles viel einfacher und schneller als in Deutschland. Keine Formalitä ten . . . Nun ja!“ reif er übermütig, weil ihre Schultern zuckten vor lautlosem, un widerstehlichem Lachen. Sie war nicht überrascht. Sie mußte er sein. Alles war selbstverständlich. Zwischen uralten Bäumen blühten Schneeballenbüsche. Unsichtbar donnerte ein Autobus vorbei. Weiße und gelbe Blumenkelche sproßten vereinzelt aus dem Ra sen. Das sah nun doch ein wenig so aus, als hätte ein Schutzmann sie hineinge steckt, weil sich das so gehörte. Plötzlich blieb Lydia stehen und legte die Hand auf Konstantins Arm. „Dort!“ Sie ben graue Entchen, nicht größer als Spatzen, segelten leise wispernd auf dem schmalen Wasserarm aus dem Schatten der Bäume heraus, gefolgt und beschützt von den zwei Alten, die, Hals und Kopf weit zurückgezogen, zufrieden und stolz miteinander schnatterten. Angesichts dieser Familie sagte Lydia, was jedes junge Mädchen und jede junge Frau gesagt haben würde: „Sehen Sie nur, wie süß und reizend!“ Aber er stand unter dem Starkstrom dieser Hand, die Lydia immer noch auf seinem 20
Arme selbstvergessen liegen hatte, eine Hand, blauweiß und so schmal, daß es ihm unfaßbar schien, wie fünf Finger Platz finden konnten. Die rosigen Nägel waren beinahe halbrund gewölbt, wie winzige Torbogen. Es war erst neun Uhr und ringsum niemand zu sehen. Vorhin schon hatte er ge dacht: Wie ergreifend naiv, daß sie die herrliche Brust so vor sich hinträgt, ein köstliches Geschenk für alle, für jeden der vorübergeht! Der ganze Tiergarten be kam eine blutrote Kuppel. In diesem plötzlich überströmenden Begehren nahm er Lydia an sich. Er hielt sie mit zu großer Kraft und fühlte ihren Widerstand, er lok kerte die Arme, und nun erst, da ihr Widerstand weich in sich selbst verging, fand Mund zu Mund im Gleichklang des Begehrens. Lydia kannte nur den Kuß der Mutter. Auch jetzt noch – sie waren schweigend schon ein großes Stück gegangen – zog von den Knieen und Kniekehlen aus das un bekannte wunderbare Gefühl empor, das ihr die Fassung nahm. „Ich habe Angst vor Ihnen.“ Dennoch wünschte sie in dieser selben Sekunde, die Stelle hinter seinem Ohr, wo der Haaransatz in ausladendem Schwunge herunterlief zum Nacken, mit den Lippen zu berühren. Und dieses Begehren kam aus einer anderen Quelle, von tiefer her, von dort, wo Geben und Nehmen der Liebe und die Liebe selbst geboren wird. „Du hast keine Angst.“ Plötzlich sah er, wie sie sich vom Teetischchen erhob und durch den Lichthof ging. Ihre Beine sind um den berühmten einen Zentimeter zu lang, dachte er hingerissen und schritt wieder unter einer blutroten Kuppel. In ihr pulste die Lust des Lebens und eine neue Heiterkeit, die musizierend den Ernst ihres Wesens durchdrang. Das kam sofort im prickelnden Fluß ihrer Beine zum Ausdruck und an ihrem Munde, der wie ein Wunder einfach und rot ins mattweiße Gesicht gezeichnet war. Ihre Augen blitzten tiefer, als sie, mit ihrem kurzen Blick, angriffslustig sagt: „Wer so unwiderstehlich ist wie Sie, braucht doch überhaupt nichts auszukundschaften.“ „Um so weniger, da ich von Ihnen alles weiß! Alles! Aber die Angst, Sie könnten ohne mein Wissen abreisen! Diese Riesenangst! Was wäre geschehen, wenn Sie ge stern abend Berlin verlassen hätten?“ „Nun, nichts.“ sagte sie und dachte: Was wäre mir geschehen? Zürich, Mutter und sein Bild im Herzen. Sie sah die Möwen fliegen, in der Sonne und an grauen Tagen, sah sich selbst auf der Glasterrasse stehen. Das wäre mir geschehen. Erst als sie seine übermütig klingende Stimme wieder vernehm, wich der Flor von ihren Augen. „So aber wußte ich eine Minute nach Ihnen, daß Sie in die Oper gingen.“ Er wollte, hocherfreut darüber, daß ihm die Einkreisung so vollständig geglückt war, mit den Handschuhen auf seinen Schenkeln schlagen und hielt mitten in dieser Bewegung inne, weil er Lydia an der Marmorsäule stehen sah. „Sie sahen unsagbar schön aus.“ Lydia verstummte ganz und gar, alles in ihr verstummte. Ihr mattweißes Gesicht konnte nicht erröten; nur die Ohren wurden heiß und blieben weiß. Da wollte er ihren Namen sagen und wich förmlich zurück bei der Vorstellung, wie wunderbar es sein müsse, wenn sie selbst ihn ausspräche. Er blieb stehen. In diese Pause hinein antwortete sie: „Lydia.“ Plötzlich ließ er Hände und Arme sinken. „Küß mich noch einmal. Einmal noch, Ly 21
dia.“ Tränen standen unversehens in ihren Augen, und dabei lächelten die Lippen. Mit einer Langsamkeit, die er beseligt auskostete, trat sie dicht an ihn hin und seit wärts etwas hinter ihn, nahm seinen Kopf in beide Hände und berührte die Stelle hinter dem Ohr leicht mit den Lippen. Er bewegte sich nicht. Es war Lydia, die plötzlich Fremdheit, eine innere Entfernung zwischen sich und ihn schob, als sei für sie die Nähe viel zu groß gewesen, Sie sprach von gleichgülti gen Dingen in einem Ton wie zu einem nur zufälligen Partner, und dennoch so le bendig abgestuft, daß er nichts dagegen einwenden durfte. Oberhalb des Herzens, in der Mitte der Brust, wurde der Druck immer schwerer, und er konnte sich nicht wehren. Das war ein tiefer Wesenszug an ihr, sich immer wieder auf sich selbst zurückzuziehen, plötzlich ganz fremd zu werden gegenüber dem, der ihr am nächsten stand, derselbe Charakterzug, durch den Konstantin ge stern in der Oper trotz Lydias Nähe und trotz der Musik in sich versunken war, bis zu völliger Abwesenheit – sie waren Geschwister. Als sie vor dem Hotel anlangten, hatte Konstantin das herzabdrückende Gefühl, von Lydia weiter entfernt zu sein als gestern in der ersten Minute nach ihrer Begeg nung. Vor dem Diner – Konstantin saß seit Stunden wartend in der Halle – kam der Portier geschäftig auf ihn zu. Konstantin nahm ihm das Wort vom Munde, noch bevor es ausgesprochen war. „Ich danke, es ist nichts mehr nötig.“ Er stellte den ganzen Spionageapparat ab. Mochte sie jetzt abreisen. Er tut nichts dagegen. Und wenn ihm das Herz aus der Brust herausspringt. Die Nähe, die sie erlebt hatten, verpflichtete auch sie. Nach dem, was geschehen war, schuldete sie ihm nicht weniger als er ihr. Diese letzten furchbaren vier Stunden der Ungewißheit wird er nie vergessen, diese Qual will er nicht mehr erleben. Vergebens hatte Stephan einen kleinen Berg neuer Zeitungen, ein Dutzend Bro schüren und immer noch und noch ein neuerschienenes Buch herangeschleppt und stets nur einen abwesenden Blick bekommen. „Danke.“ Er hat eine Dame, die im selben Hotel wohnt, bis zur Drehtür begleitet. Sonst nichts. Nicht einmal „Auf Wiedersehen“, nein, „Guten Morgen“ hat sie gesagt. Wenn Konstantin die Zähne aufeinanderbiß, wurden seine Augen größer. Wollte sie ihn nicht? War es nur eine Laune gewesen? Ein flüchtiges Berührtsein? Er wußte al les von ihr. Er hatte sie gesehen, in der ersten Sekunde gesehen. Sie gehörten zu sammen. Das war Schicksal. Aber wenn er sich versehen hat? War das möglich? Dann weiß er in Wirklichkeit natürlich gar nichts von ihr. Alles oder nichts! Dieses Wort bekam plötzlich einen anderen Sinn. Alles oder nichts! An einem Flirt liegt ihm gar nichts, in diesem Falle nicht, ihm wenigstens nicht. Es handelt sich um sein Leben. Gibt sie sich nicht ganz an ihn hin, ganz und gar, dann wird sein ganzes zukünftiges Leben sich anders gestalten. Dann war dies sein Schicksal. Sie mußten einander in der Mitte treffen. Er wird nicht einen Schritt mehr tun als sie. Jetzt nicht mehr! Aber die Minuten wurden dunkle, zähe Ungeheuer. Der Zeiger dieser verfluchten Uhr dort an der Wand rückt nicht. Wann wird er Lydia sehen? Vielleicht heute überhaupt nicht mehr? Und morgen auch nicht? Was tut er dann? Vielleicht war al 22
les aus für sie? „Nein, ich esse später.“ Zögernd folgte Stephan dem Kellner in den Speisesaal. „Ich dachte es schon gestern.“ Die Hoffnung stürzte brausend in ihn hinein. „Küß mich noch einmal.“ Mit süßer Langsamkeit tritt sie dicht an ihn hin. Er fühlt ihre Lippen. Und schon saß er im Schreibzimmer. Da war niemand, nur er und die brau sende Hoffnung, der würgende Zweifel, seine wilde Sehnsucht. „Ich schreibe ihr al les.“ Ihm war heiß, er riß den Rock herunter. Was wolle vorhin der Portier? Was war geschehen? Wo war Lydia? Vielleicht hatte sie ein Telegramm bekommen und mußte abreisen. Er legte den Federhalten wie der hin. Ganz unbewußt schlüpfte er wieder in den Rock und ging hinaus. In der großen Halle saßen nur wenige Gäste. Alle waren im Speisesaal. Der Portier stand am Schlüsselbrett. Zwei Fremde kamen durch die Drehtür herein. Eine hin kende alte Dame gab ihren Schlüssel ab. Ein Telegrammbote kam. Das Telegramm konnte für Lydia sein. Was wollte der Portier ihm sagen? Er ver fluchte seine Voreiligkeit. Soll er hingehen und fragen? „Das darf nicht sein.“ Er überwand das Verlangen, den Portier von neuem in Anspruch zu nehmen.Da wurde er plötzlich ganz ruhig. „Diese ganze Qual darf nicht sein. Ich kann jetzt nichts tun. Ich muß warten. Sie weiß es.“ Er wagte nicht, das Hotel zu verlassen. Sie konnte ihn sehen wollen. Schwere Unru he bemächtigte sich seiner wieder. So vergingen Stunden. Er staunte, die Stunden waren tatsächlich vergangen. Die Halle war schon dämmerig. Der gepeinigte Mann, der dort im Sessel saß, war nicht mehr der lebenssichere junge Fremde von ge stern, der tun und lassen konnte, was er wollte. Sie stieg seelenruhig die Treppe herunter. Er sah sie zuerst, sah zuerst die Kniee, wie sie rhythmisch sich hoben. In ihm verging jedes Gefühl, alles wurde weiß und kalt. Sie wollte zum Portier und ihn bitten, Konstantin rufen zu lassen, da sah sie ihn sit zen. Mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen schritt sie auf ihn zu, gab dem fassungslos Emporschießenden die Hand, mit einem fühlbaren Nachdruck der Fin gerspitzen, und sagte weich lächelnd: „Ich habe meine Marie schon zweimal zu Ih nen hinübergeschickt.“ (Er langte aus seiner Fassungslosigkeit mit einem Riesen sprung wieder bei sich selbst an, so blitzschnell, daß sie nichts bemerkte.) „Aber Sie waren nicht da. Bitte, begleiten Sie mich, ich will Einkäufe machen.“ Sie trug drei seiner Rosen hoch an der Schulter. Alles war weich und heiß, gelöst und wunderbar selbstverständlich. So sahen sie einander an. Eine dunkle Verheißung stand hinter ihrem Blick. Und in ihm schlug die Gewißheit ein: Wenn wir jetzt im Zimmer wären, jetzt, in dieser Minute, sie würde vergehen in meinen Armen. Sie gingen die Linden hinauf. Lydia trug ein anderes Kleid, grüngelb wie Lindenblü ten. Sie hatte sich umgekleidet. Ergriffen von Zärtlichkeit sagte er: „Sie haben sich umgekleidet“, und schob vorsichtig die Hand, nur die Hand zwischen ihren Ober arm und den lebenswarmen Körper. Er fühlte den leichten zustimmenden Druck ih res Armes. So gingen sie, ganz in ihrem Gefühle, umbrandet vom Toben der men schen- und autodurchrasten Stadt, das nicht eindringen konnte in ihren stillen Be zirk. 23
Sie bogen ein in die überfüllte Friedrichstraße, wo Ramschläden - „Jeder Gegen stand 50 Pfennig“ - neben Juwelierschaufenstern sind, hinter denen Millionenwerte liegen. Auch sie erlebten, wie schön und zauberhaft es sein kann, verbunden mit dem, der dem Herzen nah und teuer ist, sich tragen zu lassen von dem symphonischen Brau sen einer menschengefüllten, schaufensterbunten Großstadtstraße. Sie schrieben mit diesem Gang durch die Straßen die erste Zeile in das buch ihres gemeinsamen Lebens ein. Schon waren alle Schaufenster beleuchtet, auch die Fünfzigpfennigbro schen blitzten echt, und die lebensgroße Puppe, ein zweiköpfiger Mann mit einem strahlenden und einem bitterlich betrübten Gesicht, zog unaufhörlich die Rockflü gel seitwärts, zeigte die tintenbeschmutzte Pikeeweste und dann strahlend deren linke Seite, die blütenweiß war, weil in dieser Tasche ein verschlußsicherer Füllfe derhalter steckte. Vor einem Modehaus in der Leipziger Straße blieb Lydia stehen. Beiden gefiel das hellbraune Hütchen. Der elegante junge Herr im Cut antwortete auf Lydias Frage nach dem Preis: „Der Verkaufsraum, meine Dame, ist im zweiten Stock.“ „Können nicht Sie mir Auskunft geben?“ Er antwortete nur mit einer eleganten, knappen Geste zur Treppe hin. „Bitte, im zweiten Stock.“ Beide lächelten ganz gleichzeitig und wandten sich ganz gleichzeitig zum Gehen. „In New York würde dieser Verkäufer ins Irrenhaus gesteckt werden. Er ginge sogar von selbst hinein“, sagte Konstantin und nahm Lydias Arm, eng und fest. Beide fühlten sich merkwürdig neu verbunden, wie nach einem besonders herrlichen ge meinsamen Erlebnis. Auf der anderen Seite brüllte ein rennender Zeitungsverkäufer: „Abendausgabe!“ Konstantin wandte unwillkürlich den Kopf, wie damals vor drei Jahren in der Bahn hofstraße in Zürich. DA fühlte er wieder den leichten Druck von Lydias Arm, die ihm die Freude dieser Tages damit kundgab, sie sah ihn an. „Daß Sie blaue Augen haben! Blau, Lydia, blau! Wo Ihr Gesicht so weiß ist . . . alles so wunderbar weiß ist und das Haar, dein Haar so schwarz!“ Und sie mußte nun wieder in so eigener Art etwas den Kopf neigen, als hülle sie sich ein in ihre Schönheit. Sie waren angelangt vor dem Geschäft, in dem Lydia ihren Einkauf zu machen hat te. „Hier dürfen Sie nicht mit hinein.“ Das sagte sie wie eine Frau, in der schon die Geliebte heimlich verborgen ist. Erst jatzt, da sie schon verschwunden war, sah er im Fenster die winzigen Taschen tücher, die drei handgestickten, seindenleichten Hemdchen, so kurz wie für Kin der, rosa, creme und blau. Auch tragen durfte er dieses winzige Paketchen nicht. Den Papiersack voll schwar zer Paranüsse, die es im Hotel nicht gab, Mariens Lieblingsspeise, hatte sie ihm vorhin selbst in den Arm gelegt. Als sie am Kaufhaus, dessen Riesenfront nie zu enden schien, schließlich doch vor über waren und sich dem Potsdamer Platz näherten, wo die Lichtreklamen blitz ten, eine Nährmittelfabrik durch Laufschrift nur denen ein langes Leben versprach, die täglich Haferschleimsuppe aßen, ein Weltblatt die letzten Telegrammnachrich 24
ten weithin leuchtend dem dunklen Himmel übergab und ein Beerdigungsinstitut behauptete, es begrabe am schnellsten, als hätte auch der tote Berliner keine Zeit, blieb Lydia plötzlich stehen im Gewühl. „Sie haben gestern nachmittag beim Tee im Lichthof – das war erst gestern . . .?“ „Ja, das war erst gestern.“ „. . . da haben Sie etwas getan, was meine Mutter und auch ich immer tun, wenn wir Teetrinken. Es ist ein bißchen unartig. Auch Sie bestrichen den Toast auf bei den Seiten mit Butter. Wie meine Mutter, und wie auch ich schon von Kindheit an. Eine Gewohnheit! Wie merkwürdig! Ich habe Sie genau beobachtet. Ich sah es sonst bei niemand.“ Konstantin hörte nur heraus, daß sie ihn schon gestern beobachtet hatte. Der Klang ihrer Stimme ließ sich in ihm nieder und tönte nach. Er tat die große Frage tie fernst in einem Tone, der ihr die Freiheit der Entscheidung ganz überließ. Und ihre Antwort, bestimmend für immer sein und ihr Schicksal, war nur ein Blick vertrau ensvoller und noch scheuer Hingabe, in der das Wissen um den Ernst ihrer Entschei dung stand. Sie gingen anders als bisher: sie wußten, daß jeder im andern die Heimat gefunden hatte. Gegen seinen Wunsch, möglichst bald zur Trauung nach London zu fahren, wandte Lydia nichts ein, und auf seine Frage, ob sie zusammen zuerst die Mutter besuchen sollten, sagte sie nach kurzer Überlegung, zärtlich und gedankenvoll lächelnd: „Die Mutter wird diesem Ereignis so und so hilfloser gegenüberstehen als ein verirrtes kleines Kind dem Getriebe der Großstadt. So und so wird es ihr nicht recht sein. Ihre Zustimmung würde sie niemals geben.“ Ihn packte der Schrecken. „Warum denn nicht?“ „Ach, nur so! Das kann sie nicht. Auch wenn ich Pflaumen einkaufen will, ist sie da gegen. Sie ist eben dagegen. Das müssen Sie verstehen. Sie hat einen so merkwür digen Ehrgeiz. Die Mutter könnten Sie gewinnen, wenn Sie im richtigen Augenblick zu ihr sagten, sie sei eine hervorragend gute Hausfrau, oder auch, sie scheine sehr viel von Sport zu verstehen.“ Lydias Augen funkelten vor Zärtlichkeit und Lust. Ihre Fröhlichkeit sprang sofort auf ihn über. „Dann kaufen wir also die Pflaumen, ohne zu fragen.“ „Das habe ich immer getan.“ Viele Geschäfte hatten schon geschlossen. Der Strom der Angestellten staute sich vor den Übergängen. Das Gefühl teuerster Verantwortung ergriff Konstantin, als er heimlich von der Seite Lydia ansah, die sich ihm anvertraut hatte und in diesem Gefühle nun geneigten Kopfes ging. Über ihn kam eine Ruhe, gleich der, die manchmal gegen Abend über einem Tal im Hochgebirge liegt, vor dem der Mensch, mitergriffen von der großen Stille, in der kein Halm sich mehr bewegt, sinnend steht, da er nicht weiß, woher dies alles ver klärende Licht jetzt noch kommt. Sie fuhren im Wagen zum Hotel. Beim Aussteigen war Lydia verändert. Ich der Hal le gab sie ihm die Hand, spitzig, zog sie sofort und gleichzeitig auch sich selbst wieder in sich zurück und stieg die Treppe hinauf. Aber diesmal blieb er ruhig. „Ich fahre in einigen Tagen, vielleicht auch schon morgen, nach London. Ich heira te.“ 25
Die plötzliche Eröffnung brachte Stephan nicht im geringsten aus der Fassung, er lebte zu sehr außerhalb der Wirklichkeit. Ob Konstantin heiratete oder nicht, war unwichtig; wichtig war, ob er sein mehrbändiges Werk schrieb, für das im Laufe dreier Jahre die Vorarbeiten sich in einem Dutzend dicker Notizbücher angesam melt hatten. „Ich nehme zunächst einmal nicht an, daß Ihre zukünftige Frau Gemahlin etwas von Statistik und Volkswirtschaft versteht.“ „Nicht anzunehmen!“ „In diesem Falle – lächeln Sie nicht, Konstantin, gemeinsame Interessen fördern das Eheglück – sollten Sie nicht verabsäumen, Ihrer zukünftigen Frau Gemahlin eine populäre Darstellung über diesen Gegenstand als Lektüre zu empfehlen. Dann erst könnten stufenweise die grundlegenden Werke folgen.“ „Und wenn sie sich dafür nicht interessiert, Stephan, liebster Stephan?“ Da sah Stephan erschreckt auf. Offenbar hatte er also doch etwas Unpassendes ge sagt. Er zog die faltige Weste herunter und fand in seiner Verlegenheit unverse hens das richtige Wort. „Die Hauptsache ist, daß Sie glücklich werden. Ich wünsche das, oh, ich wünsche es von ganzem Herzen.“ Lydia, auf dem Wege in den Speisesaal, betrat die Halle, ohne Hut, in einem weiß seidenen, ärmellosen Kleid, das sehr kurz war. Oder hat das Kleid Ärmel? Dachte Konstantin. Die Arme waren so weiß wie die Sei de. Er stellte seinen Freund Stephan vor. Sie fand nicht, daß er aussah wie ein kaltgewordener Kartoffelkloß, seine Augen waren so still wie zwei Sterne, die ne beneinander immer treu an ihrem Platz am Himmel stehen. Da waren noch keine zwei Sekunden vergangen, und Lydia hatte mit dem Instinkt der Frau schon er kannt, daß diesen unbeholfenen Mann nur mütterliche Gefühle beglücken konnten. So war ihr Lächeln. Als sie dann Konstantin ansah, flatterten ihre Augenlider ein wenig, wie damals vor achtzehn Jahren, da sie vom Bett aus als Dreijährige den achtjährigen Bruder ge zwungen hatte, ihr seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. „Wollen Sie später ein wenig zu mir heraufkommen?“ „wie gefällt Ihnen Lydia?“ Da pochte nun doch der Stolz ein wenig mit seinem Glück. Die Reaktionsfähigkeit einer optischen Präzisionswaage war die einer Lastfuhr werkswaage, verglichen mit der Empfindsamkeit Stephans, den dieses Lächeln Ly dias zum Gefangenen gemacht hatte. Wie ihm eine Frau gefalle, hatte ihn in sei nem Leben noch niemand gefragt. Er rückte lange und umständlich die eingewach sene dünne Goldbrille und sah Konstantin so hilflos an, daß der ihm die Antwort schon schenken wollte, als Stephan, der es nicht auf sich sitzen lassen konnte, eine so freundschaftlich gestellte Frage nicht beantwortet zu haben, wohldurchdacht sagte: „Ihre zukünftige Frau Gemahlin ist eine sehr schöne Dame mit zweifellos ausgezeichneten menschlichen Eigenschaften.“ Das sehr große Zimmer war dämmerig und in den Ecken dunkel. Nur über Lydias Gestalt auf der Ottomane lag der gedämpfte Schein einer zwei Meter hohen Steh lampe, deren gelbseidene Halbrundkugel unten mit derselben Seide geschlossen war. 26
Diesen Verschluß öffnete Lydia bei Konstantins eintritt und streckte den plötzlich lichtüberfluteten Arm aus. Schon als sie die Hand wieder sinken ließ und er sich aufrichtete, war zwischen ihnen die mit dem Geheimnis geladene Spannung, die entsteht, wenn Liebeslaute zum erstenmal allein in einem Zimmer sind, dessen vier Wände nun Vertrautheit ermöglichen und fordern. Die Decke war von den Knieen herabgeglitten. Das ärmellose weiße Seidenkleid war so kurz, daß Lydias Knie und noch der Ansatz der aufwärtsziehenden Linien sichtbar blieben, obwohl sie langgestreckt, gerad und brav auf dem Rücken lag. „Wollen Sie rauchen? Ich habe schon alles hergerichtet für Sie.“ Konfekt, Journale, Zigaretten lagen neben den Likörflaschen auf dem Tischchen bei der Ottomane. Er sagte nur zwei Worte: „Danke sehr!“ Aber jedes Wort und jede Geste Konstantins und Lydias gewannen eine tiefere Be deutung, bedeckten nur notdürftig die Spannung, die schon in der nächsten Sekun de durchschlagen werden konnten von der Flamme, in der sie versinken müßten. „Sie können sich den Sessel noch etwas näher rücken . . . Hierher!“ Sie lächelte, und dabei war in ihren Augen die dunkle Frage der Frau, die den Mann noch nicht kennt, und zugleich der hohe Stolz, der Lydias Wesen entsprach, sich ihrer Leiden schaft schrankenlos hinzugeben, wenn sie es einmal tat. Konstantin war ein Mann, seine Augen sahen die mattweißen Schultern, die Arme waren nackt, seine Sinne waren Augen, die auch das andere sehen mußten, und wenn er sich im Sessel vorbeugte, trennten ihn keine zehn Zentimeter von Lydias klaren, weichen Lippen, ein einziger unbewachter Herzschlag konnte diese Zenti meter überbrücken. „Weiß steht Ihnen gut.“ Unter diesem armen Wort fühlte Lydia, daß sie den Blick, der ihm alles gestattet haben würde, nicht mehr zurückhalten konnte, und ließ die Lider sinken. Er stand auf. In seinen Armen würde ihr letzten kleiner Widerstand vielleicht sofort vergangen sein. Aber sie soll nichts, gar nichts mehr überwinden müssen. Das war nicht mit dem Kopf erdacht; es war seine tiefe Zärtlichkeit. Konstantin ging hin und her und blieb stehen, wenn er sprach. Sie setzte sich auf, um ihm näher zu sein, und ihr geöffnetes Herz folgte ihm. „Ich liebe Sie so sehr, Lydia, so sehr, daß ich es Ihnen ganz gewiß, ganz gewiß nie mals und durch nichts werde mitteilen können.“ Er stand weit entfernt, jetzt konnte er sprechen, stand etwas vorgebeugt und hielt die Hände sogar versteckt im Rücken. Oh, er brauchte Hände und Arme nicht! „Wie sehr lieben Sie mich?“ Himmel, wie sie das sagte! Er lehnte gegenüber an der Wand, das Zimmer war groß. „Es ist ja unmöglich. Unmöglich!“ „Wie sehr?“ „Wenn du bei mir stehst, ganz dicht bei mir, reicht dein Scheitel bis zu meinem Mund. So werde ich wachen über dich, jede Sekunde . . . Darf ich etwas sagen?“ „Sie dürfen ja nun alles sagen.“ „Wenn du erblinden würdest, wenn eine Krankheit deine Schönheit zerstören, dich ganz und gar entstellen würde, wenn mir nur noch der Druck deiner Hände bliebe . . .“ 27
„Auch dann noch würdest du mich lieben?“ „Es wäre nichts geschehen . . . Verstehst du mich jetzt, Lydia? Da ging er wieder hin und her, und ihre Augen folgten ihm. So ganz und gar also gehörte ihr sein Herz? Bei jeder Wendung nahm er Lydia wahr, das besternte Gesicht, und beider Lächeln war so gleich, als hätten beide zusammen einen Mund. Sie trat in ihrem Gefühle dicht an ihn hin, ihr Scheitel reichte bis an seinen Mund, und sie mußte denken: Es ist so frisch wie der Wind. Ach, Geliebter! Und doch ist seine Liebe so sanft? Herrlich, so sicher zu wissen, daß er nun hingehen und dieses kostbare warme Le ben dort ganz an sich nehmen kann. Dort lag Lydia, sie wird ihm ihren Stolz schen ken. Das Glück schritt mit ihm mit. Sie atmete tief-ruhig in der Beglückung, und dennoch vibrierte das Herz wie im dunkel eine kleine Kugel aus Silberglas auf dem dünnen Wasserstrahl. „Als elfjähriges Mädchen – es war in Zürich, ich schwamm im See . Dachte ich ein mal: Ich werde niemals einen Geliebten haben, weil ich es nicht ertragen könnte, daß er fortgehen kann von mir. Ich meine es nicht so; ich meine, daß er sich ohne mich fortbewegen kann und ich mich ohne ihn; daß wir nicht ganz eins sind, wirk lich nur ein Wesen sind.“ Er dachte: Sie war elf Jahre, so dünn, ganz dünn, und schwamm im See. Ach, du lieber Himmel, wer hält das aus! Erst nach Minuten – Lydia lag ganz still, die Arme unterm Kopf, und dachte zur Decke empor – wurde es ihm klar, daß die Sehnsucht der Elfjährigen, mit dem Geliebten einstmals so ganz und gar eins zu sein, ja die ewig unerfüllbare Sehnsucht aller Liebenden war. Welch rasende, blinde Wucht der Leidenschaft und Hingabe mußte dann heute in ihr verborgen warten, wenn schon die Elfjährige diese unerfüllbare Sehnsucht kannte. Lydia, die ausgestreckt auf dem Rücken lag, schwebte über der Ottomane horizon tal in der Luft. Sie schwebte. Entzücken im Herzen, schloß sie die Augen und genoß vergehend diese nie empfundene schwerelose Süßigkeit. Ihr Mund öffnete isch weich seinen festen Lippen, der Körper, den er im Taumel fand, bäumte sich ihm offen entgegen, sie glitten hinunter in den Abgrund ihrer besinnungslos wilden Hin gabe, die ihn immer von neuem bis zur Raserei entflammte. Erst gegen Morgen riß er sich los und schlich aus dem Schlafzimmer. Sie lag im Licht der Nachttischlampe auf dem niedrigen Bett, noch ohne Hemd, wie er sie verlassen hatte. Ichre Brüste standen. Sie legte die Hände seitwärts daran, ließ langsam die Finger sinken auf die Spitzen, die er geküßt hatte, und lag reglos. Nur der Leib hatte einen leisen braunen Schimmer, gleich dem unter ihren Augen. Sie hatte nichts verwehrt und in der Überwindung ihrer Scham selbst das letzte noch gegeben und getan. Im Singen ihres Blutes schlief sie ein. Marie schlich durch die Tür. Lydias Fingerspitzen beschützten die Brüste. Noch nie hatte Marie sie so gesehen. Berührt von dem Mysterium, gab sie mit feierlicher Vorsicht die Decke über den makellosen Körper, der tief und regelmäßig atmete, und verlöschte das Licht. Diesen Tag blieb Lydia in ihren Zimmern, es sah sie nicht, und als er am folgenden Tage durch die Halle ging, kam der Portier auf ihn zu und sagte: „Die Dame von Zimmer siebzehn ist abgereist.“
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DRITTES KAPITEL
Das braune Gesicht konnte nicht erblassen, nur die Lippen waren weiß und fragten: „Wohin?“ 29
„Die Dame hat ihr Reiseziel nicht angegeben, und ihre Begleiterin sprach mit dem Chauffeur so leise, offenbar absichtlich, daß ich nichts verstehen konnte.“ Wie er so dastand in der Halle und das Kommen und Gehen sah, ohne etwas zu se hen, glich er dem Mann aus dem Märchen, der am Rande der Wüste steht und ster ben muß, wenn er ein bestimmtes Sandkorn nicht findet. In seiner Erstarrung er schien es ihm unmöglich, Lydia wiederzufinden. Neben dem Lift saß eine Dame, die zu Konstantin herüberblickte, unverwandt und dabei so ergeben und verloren, als hätte sie der Hoffnung, sich ihm jemals nähern zu können, von vornherein und ganz und gar entsagt. Diese Frau, die einer reichen Dresdner Patrizierfamilie entstammte und mit ihrem Gatten, einem früheren diplomatischen Sekretär bei der türkischen Botschaft in Berlin, das letzte Jahr in der Türkei gelebt hatte, war Konstantin im Hotel Tokatli an in Konstantinopel begegnet. Sie war Wochen hindurch jeden Tag mit ihrem ah nungslosen Gatten im Restaurant des Hotels erschienen und hatte stundenlang zu Konstantin hinübergesehen, ohne Erregung, wie eine Hypnotisierte, die willenlos tut, was sie tun muß. Die Dame, die ihre Garderobe aus ersten Häusern bezog und immer unelegant aus sah, da sie es nicht verstand, ein Kleid zu tragen, ging ohne jede Erregung, als sei auch dies im Weltplan für sie vorbestimmt, durch die Halle zu Konstantin, richtete das glanzlose Blau ihrer Augen auf ihn und sagte mit einer Stimme, die so farblos war wie ihr aschblondes Haar: „Die Dame hat zwei Billettte nach Frankfurt am Main gelöst.“ Ein geübtes Ohr hätte den noch leise mitklingenden sächsischen Dialekt herausge hört. Sie war fast so groß wie Konstantin, zweiunddreißig Jahre alt und hatte ein regelmäßiges Gesicht, von der glanzlosen, unbelebten Schönheit, die niemandem auffällt. Ruhig wie sie gekommen war und den Befehl ihres armen Herzens ausgeführt hatte, wandte sie sich um, durchquerte wieder die Halle bis zum Lift, so eigenartig tem peramentlos, als bewege sie sich auch beim Gehen nicht, und fuhr hinauf. Im Zimmer begann sie sofort zu packen, kleidete sich um, bestellte durch das Stu benmädchen beim Portier ein Billett erster Klasse nach Frankfurt am Main, ohne Erregung, wie in Hypnose, mit tragischer Selbstverständlichkeit. „Warum?“ fragte Konstantin, der im Laufgang des Frankfurter Schnellzuges am Fenster stand. Der Mann in ihm wußte genau, warum Lydia abgereist war. Der Mann in ihm hatte während dieser Nacht in brennender Verzückung erlebt, wie Ly dias Stolz zerbrochen und versunken war in ihrer schrankenlos wilden Leidenschaft. Sie hatte mir ihren Stolz geschenkt und hat ihn wieder zurückgenommen. Die Dame von Zimmer siebzehn ist abgereist, Konstantin war ruhig. Die Welt war sehr klein, und die Liebe war allmächtig. Was gab es auf der Welt, das stärker wäre? Selbst nicht der Tod! Diese Nacht hat Lydia ihre Liebe ihm ins Ohr geflüstert. Die Gattin des türkischen Diplomaten trat wieder zurück in ihr Schlafabteil, Kon stantin sollte sie nicht sehen, sie fuhr mit ihm im selben Zug, das war genug. In dieser ruhigen, aschblonden Frau aus Sachsen, die sich den Umarmungen des Gatten jahrelang ohne Gefühl und auch ohne Widerstand gleichgültig wie ein leblo ses Stück Fleisch unterworfen hatte, war zum erstenmal in ihrem Leben ein Gefühl entstanden, dem sie nun folgen mußte. Ihre farblose laue Natur war dieser Kraft 30
erlegen, so unwiderstehlich wie ein chemische Lösung sich verändern muß durch einen bestimmten Zusatz, der ihr plötzlich ganz andere Eigenschaften verleiht. Sie hatte Mann und Kinder, ihre gesellschaftliche Stellung, ihr ganzes bisheriges Leben bedenkenlos hinter sich gelassen und war Konstantin auf das Schiff gefolgt, willenlos von Triest nach Berlin, von seinem Hotel in das Hotel Unter den Linden, ohne Erregung, ohne Hoffnung. Ihr dienendes Herz hatte Konstantins und Lydias Liebe erlitten und ihr befohlen, ihm den Weg zu der Geliebten zu weisen. Dieser schmerzensreiche Dienst an ihm war ihr einziges Glück. Nie hatte sie sich ihm genähert. Wenn auf dem Promenadendeck nur zu dicht bei ihm ein Liegestuhl frei gewesen war, hatte sie lieber auf seinen Anblick verzichtet und sich in großer Entfernung niedergelassen. Konstantin glaubte, dieses Gesicht, den armen glanzlosen Blick irgendwo schon ge sehen zu haben, in Konstantinopel oder auf dem Schiff. Mehr wußte er nicht. Er ging rauchend und ruhig im Laufgang auf und ab, von Stirnwand zu Stirnwand, vorüber an der noch halboffenen Tür ihres Abteils, und sprach zu Lydia, in einem Raume, in dem sich nichts befand, kein einziger Gegenstand, nur sie, ernst und un nahbar in ihrem Stolz. Und als sie ihm antwortete, wichen die Wände und Lydia lautlos zurück, ent schwanden seinem Blick, und in dieser dämmrigen Ferne glomm das giftige Fünk chen des Zweifels wieder auf und zerstörte seine ruhe. Immer weiter hin und her! Der Zug zog seinen eisernen Weg durch die Nacht. Die Frau saß reglos in ihrem Ab teil und lauschte auf den Schritt, der sich entfernte und unterging im Getöse, von dem er sich für ihr lauschendes Herz schon nach Sekunden wieder löste. Auch in einem Zuge, der auf seinen vorbestimmten Weg unbeirrt die Nacht durch zieht, fühlt das lauschende Herz, daß die Geräusche des Lebens und der Arbeit nun verklungen sind, daß die Menschen schlafen in den Häusern. Alles ruht. Selbst der Zug, dem die Nacht nun ganz allein gehört, zieht beruhigter durch die große Stille, nur zwei Augenpaare wachen, und der ruhelose Schritt im Laufgang, der einer an dern gilt, martert und beglückt das Herz. Sie weiß nicht, wie das mit ihr werden, wie das enden soll, sie hat nicht gelebt, jetzt lebt sie und muß erfahren, daß auch ihr kleines Glück nur durch Schmerzen erkauft werden kann. Es gibt nichts umsonst, alles im Leben muß bezahlt werden, früher oder später, und am teuersten ist das Glück. Telephonisch ermittelte Konstantin das Hotel, in dem Lydia wohnte. Er nahm kei nen Wagen – es war neun Uhr, Lydias Zeit, sie konnte ihm begegnen. Suchend ging er die Hauptstraße hinunter und sah in den fünf Minuten mehr freundliche und la chende Menschen, als er in den fünf Tagen in Berlin gesehen hatte. Nach Frankfurt war Lydia gefahren, weil es auf der Strecke nach Zürich liegt. Schon seit einer Stunde saß sie im Schreibzimmer, der Brief an die Mutter gelang ihr nicht. Seit dem Erwachen nach der Liebesnacht hatte sie sich nicht mehr be freien können von dem Erstickungsgefühl, in einen engen, luftlosen Würfel einge schlossen zu sein. An jedem Wort würden die Nerven der Mutter merken, daß et was geschehen war. Was war geschehen? Was hat sie getan? Sofort bedrängten die Vorstellungen sie wieder wie tolle Ungeheuer. Wie schwer das Armen war! 31
Der Gegensatz zwischen ihrem klaren, feinen Stolz und ihrer besinnungslos wilden
Hingabe war zu gewaltig. Auch der größte und stärkste Mensch muß noch wachsen
am Leben; und Lydia, die den Mann und sich noch nicht gekannt hatte, mußte in
der Schule der Liebe zuerst lernen, ihr schönstes Vermögen, dem Geliebten bis zur
völligen Selbstaufgabe zu gehören, in ihren Stolz noch einzubeziehen. Das war
schwer.
Sie erstarrte zu einer lebensgroßen Figur aus dünnem Glas, die bei der leisesten
Berührung zersplittern muß:
„Ich bitte Sie, mich nicht zu verfolgen.“
„Lydia, was tun Sie?“
„Ich bitte Sie, mich sofort zu verlassen.“
„Was tun Sie mir, Lydia? Sie haben nicht mehr das Recht, mich fortzuschicken.
Jetzt nicht mehr!“
Das hätte er nicht sagen dürfen. In ihren Augen stand der kalte Wahnsinn. „Ich
wünsche nicht mehr, Sie zu kennen.“
Das Beil war auf ihn niedergesaust, er wandte sich um und ging hinaus. Nie wird er
diesen Ton der Verachtung und des Abscheues vergessen können.
Lydia machte einen Schritt und noch zwei Schritte und hatte den Sessel erreicht.
Von irgendwoher kam süße Wärme, und jetzt erst loderte die Genugtuung in ihr
auf. Die schreckliche wunde war verschwunden, war nie gewesen. Alles strömte.
Sie konnte nicht denken; sie konnte die Treppe hinaufsteigen und sich hinlegen.
Alles strömte. Wunderbar erlösende Müdigkeit kam über sie. Der See erglänzte.
„Nein, es ist warm, die Sonne scheint.“ Sie stieg im weißen Badecape die Stufen
der Glasterrasse hinunter. Nackt und dünn flog die Elfjährige durch den morgenfri schen Garten. Wie weich und kühl das Wasser war!
Sie schwamm auf dem Rücken – schwebt über der Ottomane, Verzückung im Her zen, ihr Mund öffnet sich weich für seine Lippen.
Er wandte sich um und ging hinaus.
Da fuhr sie empor vor Entsetzen und starrte, beide Hände an den Wangen, Marie
an, die ins Zimmer trat.
„Was ist Ihnen, Fräulein Lydia?“
„Er ist fort.“
„Er sagte mir, daß er gleich wiederkäme. Er will nur erst die Rosen holen. Aber Sie
müssen jetzt ins Bett, dann ist alles gut.“
Behutsam legte Lydia den Zeigefinger auf die Lippen: „Sst!“ Konstantin schleicht
auf den Zehen zu ihr ans Bett. „Mein Geliebte!“
Aber hinter ihm tritt Marie ins Schlafzimmer, sie hat ihr schwarzes Kleid an. „Fräu lein Lydia, jetzt müssen Sie aufstehen, es ist schon drei Uhr. Sie haben fünf Stun den geschlafen.“
Erst als Lydia schon sprach, erwachte sie: „Ich habe mich doch eben erst hinge legt.“ Sofort sah sie ihn, wie er im Schreibzimmer vor ihr gestanden hatte. „Ich
wünsche nicht mehr, Sie zu kennen.“ Sah, wie sein Gesicht mager wurde unter die sem Wort, wie seine Lippen erblaßten, sie waren nur noch ein weißer Strich.
Dieser weiße Strich in seinem braunen Gesicht war schrecklich, ihr tat das Herz
weh vor Zärtlichkeit. Warum hat sie ihm das angetan? Warum nur? Ihr war ja so
gut! Ach, Geliebter! Ihr ganzes Leben gehört ja ihm, er soll kommen, soll gleich
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kommen. „Marie, liebste Marie, gehen Sie hinunter zum Portier, ich lassen Herrn Berant bitten, in der Halle auf mich zu warten.“ Da saß sie schon vor dem Toilettentisch und prüfte das klare Augen, das klare Ge sicht. Im Spiegel sah sie ihr Glück. Er wird böse sein. Ein wenig Angst hat sie. Aber auch die Angst war gut. Sie war gar nicht mehr stolz. Sie wird ihm übers Gesicht streichen, mit den Fingerspitzen wird sie über seine Lippen streichen, ganz leise, dann werden sie wieder rot. „Der Portier sagt, ein Herr dieses Namens wohne nicht im Hause.“ Ihr Herz machte einen kleinen Ruck und war geschlossen, die Riesenangst konnte nicht hinein. Das war ja gar nicht so arg, er war in einem anderen Hotel abgestie gen. Er wird wiederkommen. Die Szene im Schreibzimmer rückte ins Licht. Er wird nicht wiederkommen. ER ist abgereist. Konstantin wird nie mehr wiederkommen. Sie wurde überflutet von schwerer Angst. Jetzt war ihr alles gleich. Es gab keine Scham vor Konstantin, keine Scham mehr vor Marie. „Fragen Sie, bitte, fragen Sie in den Hotels, in jedem Hotel, gehen Sie schnell, meine gute Marie, nehmen Sie den Wagen. Überall!“ Marie, die Lydia an jenem Morgen so behutsam zugedeckt hatte und alles wußte, ließ sich, wo sie stand, an dem kleinen Tischchen nieder, auf dem das Telephon buch lag, blätterte und sagte dabei: „Ho . . . Ho . . .“, nahm das Hörrohr ab und verlangte die Nummer des Hotels, dessen Name mit dem Buchstaben A begann. Von einer Welle der Hoffnung wurde Lydia ins Schlafzimmer getragen. Alles spürte sie immer in den Kniekehlen, das Glück und die Angst, sie mußte sich setzen. Im merzu drückte sie ihre Hände, wie jemand, der vor einer unabwendbaren Operati on auf Leben und Tod steht und vor Angst und Machtlosigkeit schon von Sinnen ist. Sie sah die Szene im Schreibzimmer, hörte ihre Worte, die seine Liebe hingerichtet hatten. „Laß ihn wiederkommen.“ Sie war nicht gläubig, wieder und wieder sagte sie: „Laß ihn wiederkommen.“ Im Nebenzimmer telephonierte Marie, buchstabierte seinen Namen „B wie Brot . . . Ja, Berant!“ Pause. Lydia lauschte und mußte erfahren, wie lang eine halbe Minute sein kann. „Danke schön!“ rief Marie und verlangte eine neue Num mer. Neue Machtlosigkeit wurde von neuer Hoffnung besternt. Da tat sich die tieferlebte Liebesnacht auf, wunderbar heimlich. Ihre Hände ruh ten, Sie gab sich seinen Liebkosungen hin und erwiderte sie, vernahm die geflü sterten Worte. Die Vorstellungen wölbten sich wie ein Dom der Gefühle über Lydia, und in ihrem Herzen erhob sich klar und tiefbeglückt der Stolz, sich dem Geliebten so ganz und gar geschenkt zu haben. Wie sie hinausging zu Marie, neigte sie wieder in so eigener Art den Kopf, als hülle sie sich ein in ihre Schönheit. Sie hatte sich wiedergefunden auf einer höheren Ebene. Ihre Lippen berührten Maries Mange: „Nimm einen Wagen.“ Während Marie von Hotel zu Hotel fuhr, ging Konstantin durch die Staßen, erlei dend das Los des Liebenden, der in der Umarmung mit eherner Gewißheit wußte, daß die Geliebte ihm für das ganze Leben gehört und nun die ungeheure Last der vernichtenden Gewißheit schleppt, daß er sie für immer verloren hat. „Ich wün sche nicht mehr, Sie zu kennen.“ Dieses Wort ging mit ihm mit. In Frankfurt am Main gerät jeder Fußgänger unfehlbar zur Hauptwache, wie im Ber 33
liner Westen zur Gedächtniskirche. Schon zum drittenmal sah er nun dieses alte Caféhäuschen, das inmitten eines Platzes steht, umgeben von einer Reihe kleinster Tische, an denen die Gäste dicht beisammen in der Sonne saßen. Sieben Staßen und Gassen münden auf den Platz, eine alte Kirche, Jahrhunderte alte Hütten, mo derne Geschäfts- und Büropaläste verkünden gleichermaßen den Geist ihrer Zeit und dieser Stadt, in der sich Tradition, Unternehmungslust und das Tempo des zwanzigsten Jahrhunderts lebendig mischen in den Menschen und im ganzen Stadt bild. Ziellos ging er eine breite Straße hinunter, aus einem riesigen Zeitungsgebäude rannten die Austräger heraus. Konstantins Bewußtsein war gespalten, auch diesmal wieder wandte er den Kopf, als er den Ruf vernahm, und gleichzeitig befand er sich Unter den Linden in Lydias Schlafzimmer. Auch er erlebte die Liebesnacht wieder, suchte Hoffnung und Glück in seiner vor stellungskräftigen Erinnerung und fand nur vernichtende Pein, denn Lydias verach tungsvolles Wort übertönte ihre geflüsterten Liebesbeteuerungen. Drei Lastautos, mit Rollen Druckpapiers beladen, fuhren an ihm vorbei, er verließ das zwanzigste Jahrhundert und befand sich Sekunden später im Mittelalter. Nur in Marseille hatte er solche Gassen gesehen, düster, kaum zwei Meter breit, in denen Katzen am irisierenden Abwasser des Rinnsteins entlang huschten, stuben bleiche Gesichter alter Frauen hinter trüben Fensterscheiben geistern und die fet ten Huren in grellgrünen und rosa Hängekleidchen lockend unter den Haustüren stehen. Eine hob Kleid und Hemd bis über die riesige Hängebrust empor „Komm rein! Drei Mark!“ Unter seiner Erstarrung funktionierte das Bewußtsein, das alles notierte. Ange sichts dieses grauenvollen Plakats der Not und der Verworfenheit bewegte sich e ÿwNot l'jKpüM
braucht. Aber sie sagt einen langen Satz, sie macht eine Liebeserklärung daraus.
Durch das ganze Zimmer hörte er das Knistern der lebenden Seide im Kamm.
Vielleicht muß er sie vorbereiten, im Laufe von Wochen behutsam darauf vorberei ten, sie aushorchen, in Erfahrung bringen, welche Meinung sie, ohne zu wissen,
daß sie persönlich beteiligt ist, über die Geschwisterliebe hat? Soll er ihr irgendei ne erfundene Geschichte erzählen und sie dann fragen, was sie an Stelle dieser
Frau tun würde? Jedenfalls braucht er Zeit. Er muß allein sein mit ihr. Ganz allein!
Unauffindbar! Die Mutter konnte ja jede Minute wieder anrufen oder morgen ins
Zimmer treten.
Lydia wandte sich um zu ihm. „Jetzt dachte ich die ganze Zeit darüber nach, war um du so still bist, und konnte den Grund nicht finden. Wie merkwürdig!“
„Ich mache dir einen Vorschlag.“
„Das tun wir!“ sagte sie bereitwillig und schob dabei mit leichten Händen die Haar welle zurecht.
„Wir machen eine Autoreise und übernachten immer da, wo es uns gerade gefällt.“
„Das wird wunderbar sein . . . wir übernachten, du und ich . . . Glaubst du nicht,
Konstantin, daß es uns beinahe schon ein bißchen zu gut geht? . . . Du bist doch
auch sehr glücklich! Ich weiß es.“
„Da ich dich habe, Lydia, dich!“
„Ist es doch selbstverständlich, meinst du . . . Ach, Konstantin!“
Er schickte Stephan nach Zürich zurück mit dem Auftrag, im Laufe der nächsten
Wochen das statistische Material für den zweiten Band zu sammeln.
Der würde vielleicht nie geschrieben werden. Denn der Kampf konnte tödlich en den. Für Konstantin gab es nur zwei Möglichkeiten: mit Lydia zu leben wie bisher,
oder mit ihr in den Tod zu gehen.
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SECHSTES KAPITEL Sie waren unabhängig von Zeit und Ort. Fahrtrichtung und das jeweilige Tagesziel wurden ausschließlich nach der Beschaffenheit der Straßen gewählt. Nur das euro päische Automobilhandbuch, das die besten Fahrstraßen des Kontinents angibt, wußte, wo sie jeweils waren. Keine Nachricht konnte sie erreichen. Ganz Europa wurde zur Insel Robinson Crusoes. Sie waren unauffindbar. An den großen Luxushotels wischten sie vorüber. Lydia staunte über Konstantins ro mantische Gelüste: Ihn zog es, wenn die Sonne sank, nach einsamen Bauernhöfen, oder er fand immer doch noch eine Mühle in einem abgelegenen Waldtal, wo es ebenfalls kein Telephon gab und das handgewebte Leinen in den Betten im Ver gleich zu Lydias seidenglatter Haut rauh war wie ein Reibeisen. „Immerhin besser, als im Wald zu übernachten“, sagte Lydia in gut gespielter Ver drossenheit, als der Bauer gestand, daß er nur ein einziges Gastbett habe. Jeden Tag schrieb sie nach Zürich mehrere Karten, die gleich bunten fremden Vö geln in der Hand die Mutter flogen. An den Poststempeln sah die Mutter, wo Lydia tags vorher geweilt hatte, und an den jeweiligen Worten erkannte sie, daß ihr Kind immer noch glücklich war, immer noch ahnungslos war. Die karten – aus der Schweiz, aus Italien, aus Deutschland, Österreich und die letz ten wieder aus Italien – lagen zu einem Stoß gesammelt auf dem Tischchen im klei nen Louis-Seize-Salon, den die Mutter auch bei strahlender Sonne tagsüber nicht mehr verließ. Dieser Stoß Ansichtskarten enthielt ablesbar Lydias Frauenglück, das für die Mutter das bare Entsetzen war. Sie lebte in einem Abgrund grauenvollster Vorstellungen, dem sie keine Sekunde des Tages und der langen, langen Nacht entrinnen konnte. Die Mutter war machtlos, sie konnte nicht mehr leben und konnte noch nicht ster ben. Die Befürchtung, zu sterben, bevor sie Lydia aufgeklärt hatte, bewog sie, hin und wieder einen Bissen hinunterzuwürgen, der, in einem Wurm verwandelt, die Speiseröhre wieder herauskroch. Für die Mutter bedeutete die körperliche Vereini gung der beiden die nie wieder gutzumachende grauenvollste Schändung Lydias, die auf Erden möglich war. Sie glaubte Lydia zu kennen, sie war überzeugt, daß Ly dia ohne Zögern in den Tod gehen werde, gleich ihrer Mutter. Dies war der Punkt, dem Konstantins gefährlichste Überlegung galt: Wenn die Mut ter, die einzige Mitwisserin, rechtzeitig sterben würde! Er war ein Mann von geisti gem Gewicht und ausgeprägtem Verantwortungsgefühl und schreckte dennoch nicht zurück vor der Frage, ob es ihm verstattet sei, einen Menschen zu töten, wenn dadurch ein Glück von seltenstem Glanz gerettet und beschirmt werden könnte. Aber er kann es Lydia doch nicht verschweigen, daß er ihr Bruder ist! Die Einsicht, 75
daß diese Lüge ein Leben lang fortgesetzt zerstörend wirken müsse, enthob ihn der Notwendigkeit, jene gefährliche Überlegung zu Ende zu denken. Getrieben zu dieser äußersten Überlegung hatte ihn Lydias Verhalten. Wenn er, um ihre Stellungnahme zu diesen Dingen zu erforschen, von sexualpathologischen Be ziehungen gesprochen hatte, waren ihre Abscheu und ihr Ekel so elementar gewe sen, daß die leiseste Hoffnung, sie könne nach Preisgabe des Geheimnisses weiter mit ihm leben wie bisher, nur eine arme Selbstbelügung gewesen wäre. Die Wochen verflogen im Liebestaumel. Konstantins Lage glich der des armen Man nes, der durch eine Laune des Schicksals eine kurzbefristete Zeit als verschwende rischer Millionär leben darf und gierig dem Dasein entreißt, was ihm zu entreißen ist, ehe die Faust der Armut ihn wieder packt. Das war ein gefährlicher Zustand, und Konstantin wußte es. Aber seine Liebe und die Angst seines Herzens warne stärker als alles. Den letzten und gefährlichsten Versuch, Lydia vorzubereiten, wollte er in Triest wagen, das sie in einer halben Stunde erreichen mußte. Er hatte eine Geschichte ersonnen in Form eines Verhandlungsberichtes und sie als angeblich stattgefundene interessante Gerichtsverhandlung durch ein Korrespondenzbüro an die Triester Zei tung versenden lassen. „Diesmal will ich aber ins erste Hotel. Ich will ein gutes breites Bett und ein Ka chelbad. Vielleicht bleiben wir ein paar Tage in Triest, dann schreibe ich der Mut ter endlich wieder einmal einen langen Brief, und wir warten ihre Antwort ab. Ich muß doch wissen, wie es ihr geht. Telegraphieren werde ich erst gar nicht. Tele gramme hat sie jetzt genug bekommen.“ Bei einem Tempo zwischen achtzig und neunzig Kilometern braucht derjenige, der den Wagen im Scheinwerferlicht durch die Nacht steuert, nicht sofort zu antwor ten. Für ihn soll es nicht links, nicht rechts und keine Höflichkeit geben, sondern nur die unbekannte Straße vor ihm mit ihren hundert Zufallsgefahren. Konstantin hatte Zeit, seine Antwort gut zu überlegen. Das Blut war ihm ins Gesicht geschossen. Er beugte sich vor, horchend scheinbar auf ein nicht vorhandenes Motorgeräusch. Die heutigen Zeitungen werden meinen Verhandlungsbericht gebracht haben. Sie wird ihn lesen. Wie ihre Stellungnahme dann auch sein wird – ich muß ihr endlich alles sagen. Was dann kommt . . . dann . . . ? Er richtete sich auf, verminderte das Tempo. „Gut, bleiben wir in Triest, bis die Antwort der Mutter da ist!“ Der Wagen nahm die letzte Steigung, sie hatten die Höhe von Triest erreicht. Er stellte die Scheinwerfer ab. Diese tausend Lichtpunkte dort unten im klaren Nacht blau waren Stadt und Meer. Nicht zu erkennen, wo die Häuser endeten und Meer und Hafen mit den Schiffslichtern begannen: ein glitzerndes Geschmeide auf blau em Sammet. „Schön!“ sagte Lydia. „Da unten sind Sterne. Der Himmel auf Erden!“ „Sehr schön!“ . . . Dort unten wird es ihr geschehen. Merkwürdig, wie ruhig er war! Und doch so schwer das Herz. Plötzlich sagte Lydia in weicher Schwermut leise vor sich hin: „Mein Schiff gleitet in ein Tal, in dem ich allein sein muß.“ Trotz des Wagengeräusches hatte er diesen Satz gehört. Er war so eingenommen 76
von dem, was gesagt werden mußte, daß er, im Erfühlen ihrer Gemütsstimmung, die ganz die seine war und im Tonfall schwer zum Ausdruck kam, plötzlich glaubte, sie ahne, was ihr bevorstand. „Du mußt allein sein?“ „Lange, lange allein!“ Lydia fühlte sich Mutter, sie hatte in der ersten Liebesnacht empfangen. „Warum allein, meine Lydia, warum?“ „Das kann ich dir nicht sagen.“ Noch war nichts zu sehen. Und Lydia hatte sich den Entschluß abgerungen, sich ihm nicht mehr zu zeigen, wenn sie die Gestalt zu verlieren begann, und vorher sollte er überhaupt nichts erfahren. Der Wagen stand beinahe. „Mir kannst du etwas nicht sagen, Lydia, mir?!“ Da sah sie ihn still an, losgelöst den Blick von ihrem Geheimnis, das sie ganz erfüll te. Das erstemal, daß sie nicht ganz bei ihm war. Eine Stunde später saßen sie, gebadet und umgekleidet, im Freien beim Kaffee. Auf dem Platze spielte die Musik, das Volk war da. Der Duft des Meeres durchzog die laue Luft. Heimlich betrachtete Lydia Konstantins Gesicht, das in der Grund form ohne Tadel, aber in der letzten Zeit noch mehr abgemagert war. Gerade die sen Schönheitsfehler liebte sie am meisten, weil er ihrem Herzen weh tat. Konstantin hatte während der acht Wochen in Zürich den ganzen ersten Band sei nes Werkes geschrieben. In seinem Gesicht stand die riesige Arbeitsleistung. Ein Fünfjähriger, braunäugig, schön und zerlumpt, strich zwischen den kleinen Ei sentischen durch, den blick unverwandt zu Boden gerichtet, und erschien nach Be endigung seiner Reise durch alle Cafés und um den Platz einige Minuten später im mer wieder. Er beachtete nichts und niemand, war vollkommen abwesend. Sie konnten nicht erraten, was er suchte. Aber wer so hingegeben sucht, muß endlich finden, dachte Konstantin, dem diese zähe Zielbewußtheit unwillkürlich zum Vorbild wurde. Er streckte dem Knaben eine Lire hin. Der nahm sie, machte zwei verlegene Rückwärtsschritte, wandte sich um und suchte weiter. Der Zeitungsverkäufer kam, viele kauften, auch Konstantin legte das Geldstück auf den Tisch. Er war so ruhig, als läge eine geliebte Hand über seinen Augen. Zwischen kleinen Offizieren und dunkelhäutigen Mädchen ging eine alte Italienerin vorüber, auf dem Arm das Enkelkind, das sich schon ganz selbstständig aufrecht hielt, lebhaft gestikulierte, und doch noch so winzig wie ein Säugling war. Lydia hielt den Atem an, so bang wurde ihr. „wie kleine das Kind ist! Wie schreck lich klein!“ „Die Italiener sind klein von Wuchs“, sagte Konstantin. Er war ein geübter Zei tungsleser, mit dem ersten Streifblick hatte er seinen Verhandlungsbericht gefun den. Ruhig reichte er Lydia die Gerichtsrubrik und begann den Wirtschaftsteil zu lesen. Sie sah verstört dem winzigen Kindchen nach und nahm dabei die Zeitung. Aber er ist ja groß und stark, dachte sie mit einem heimlichen Blick auf Konstantins ge neigten Kopf, und gesund sind wir auch. Ganz gesund! „Wer unter euch ohne Schuld ist . . . Vor dem Gericht in Merzburg, einer kleinen deutschen Stadt, mußten sich gestern ein junger Arbeiter und dessen Schwester wegen blutschänderischen Verkehrs ver 77
antworten. Bei der Vernehmung ergab sich folgende Vorgeschichte: Die Mutter, eine Dienstmagd, mußte ihr uneheliches Söhnchen gleich nach der Geburt in Pflege geben und konnte sich jahrelang um das Kind nicht kümmern. Erst nach der Verhei ratung mit dem Vater des Kindes – sie hatte unterdessen noch ein Mädchen geboren – konnte sie den Sohn ins Haus nehmen. Die Geschwister waren von Anfang an un zertrennlich, in tiefster Zuneigung zueinander wuchsen sie auf. Diese große Liebe nahm später auch erotische Formen an. Als der Vater dahinterkam, wies er den Sohn aus dem Hause. Das Mädchen flüchtete zu ihrem Bruder. Da die beiden sich nicht trennen konnten und auch keine Möglichkeit mehr sahen, miteinander zu le ben, beschlossen sie, sich im Wald vor der Stadt das Leben zu nehmen. Der Revol ver versagte. Sie kehrten in die Stadt zurück und kauften eine neue Waffe. Unter dessen war die Flucht des Mädchens entdeckt worden. Polizei suchte den Wald ab und konnte die Tat unter Gewaltanwendung verhindern. Der Richter war so ergriffen von der Einfachheit, mit der die Geschwister von ihrer Liebe sprachen, daß er sie, unter Anwendung des geringst zulässigen Strafmaßes, nur zu zwei Monaten Gefängnis verurteilte.“ „Wie traurig das ist! Hast du das gelesen?“ Sie reichte ihm die Zeitung. „Ja“ Nun pochte sein Herz doch stärker. „Glaubst du, daß diese Geschichte wirklich vorgekommen ist?“ „Wenigstens könnte sie vorgekommen sein. Sexuelle Beziehungen zwischen Ge schwistern sind ja viel häufiger, als die Öffentlichkeit weiß. Nur sind sie meistens besonders häßlich, nur körperlich, und rein äußerlich durch übergroße Armut, durch enges Zusammenwohnen verursacht.“ „Aber diese beiden müssen besonders liebenswerte Menschen sein. Zwischen ihnen bestand ja schon viele Jahre lang eine tiefe seelische Beziehung, eine zärtliche und große Liebe, wie sie unter Geschwistern ja eigentlich immer sein sollte, aber meistens nicht ist, und erst auf dieser Grundlage entstand dann das körperliche Be gehren. Das mutet eigentlich ganz einfach an, ganz folgerichtig . . . Aber vielleicht gibt es da noch unbekannte Dinge . . . unheimliche, schreckliche Dinge . . .“ Das war die Wahrheit, so empfand Lydia, das sah er ihr an. Zwar blieb ein ungelö ster dunkler Rest. Aber den würde sie mit seiner Hilfe vielleicht überwinden, wenn es um alles ging. Erst jetzt, da die ungeheure Spannung plötzlich nachließ und die Hoffnung mächtig einzog, fühlte er die Last, die er in diesen Wochen getragen hat te. „Was werden diese Geschwister tun, wenn sie das Gefängnis verlassen dürfen?“ Lydia antwortete sofort und ohne Besinnen: „Sie sollen ins Ausland, irgendwohin, wo niemand etwas weiß.“ „Ja und dann? Aber dann?“ Er sah sie an. „. . . Ich weiß es nicht. Sie sind Bruder und Schwester . . . Aber sie wollten doch sterben! Deshalb sollten sie . . . ich glaube, deshalb sollten sie zusammen leben dürfen!“ Und wie zur Verteidigung ihrer Meinung setzte sie schnell hinzu: „Für die ses Mädchen ist doch der Bruder der liebenswerteste Mann, der einzige Mann auf dieser Welt. Und umgekehrt. Sie lieben nun einmal einander . . . Mir tun diese zwei Menschenkinder leid. Was sollen sie tun?“ „Was würdest du tun, Lydia, an der Stelle dieses Mädchens?“ Sofort wandte sie sich ab von dem ganzen Problem, leicht und glatt, sie zuckte lä 78
chelnd die Schultern. „Ich? Ich kann mich doch gar nicht hineindenken.“
„Sag, was würdest du tun, wenn ich dein Bruder wäre?“
Nichts zuckte in ihr, nicht die leiseste Fernmeldung berührte ihr Gefühl. „Was soll
ich da sagen? Das kann ich doch gar nicht wissen.“
„Ich glaube ja auch nur, es würde dich interessieren, dich da einmal hineinzuden ken, weil das doch ein einzigartiger, der allerschärfste Prüfstein deiner Liebe
wäre, wenn du in dieser Lage dich entscheiden müßtest.“
Sie sah in heiter an, strahlend vor tönendem Glück. „Ach, ich würde auch dann
deine Geliebte bleiben.“
„Sehr angestrengt hast du dich aber nicht!“
„Wie sollte ich! Deinen Prüfstein brauche ich nicht. Und es ist doch auch ganz un möglich, mir dich als meinen Bruder zu denken . . . Aber du? Was würdest du tun?“
Die Farbe seiner Augen veränderte sich. Lydia kannte das. Erschauernd gab sie ihm
seinen Blick zurück.
„Nehmen wir einen Baum als Beispiel, einen Apfelbaum in voller Blüte . . . Siehst
du ihn. Lydia?“
„Gut! Den in unserm Garten! Ich sehe ihn.“
„Der Baum würde nur einen Blütenzweig mehr haben. Einen mehr!“
Lydia hörte nur das Wörtchen „mehr“ heraus. „Also liebst du mich jetzt weniger!
Nicht so unsagbar wie ich dich liebe! Jetzt weiß ich´s. Du hast es eben selbst ge sagt.“
„Möchtest du nie zu beweisen haben, daß du mich so rückhaltlos liebt wie ich
dich!“
„O ja! Ich möchte es beweisen . . . Ich sterbe sofort,, wenn du es willst.“
Das ist wahr, dachte er und sagte ernst: „Ich auch!“
Er war zufrieden mit der Wendung, die Lydia dem Gespräch gegeben hatte. Sie
wird sich erinnern an dieses arme Liebespaar, dessen Schicksal ihr zu Herzen ging,
sie war nicht mehr ganz unvorbereitet. Mehr zu sagen, wagte er nicht an diesem
Abend.
Bis Lydias Brief Zürich erreichte und die Antwort der Mutter hier war, würden drei
Tage vergehen. Seine Liebe wird ihm die Sekunde nennen und die Worte geben für
Lydias Herz. Drei Tage Zeit!
Aber am folgenden Morgen, kurz vor sieben Uhr, stürzte das Stubenmädchen, ohne
anzuklopfen, in Konstantins Zimmer, das durch das Bad von Lydias Räumen ge trennt war. Die gnädige Frau sei ohnmächtig geworden, sie liege auf dem Teppich.
Lydia hatte den Abend vorher, als sie während des Umkleidens wenige Minuten al lein gewesen war, von ihrem Zimmer aus telephonisch ein Telegramm mit ihrer
Adresse an die Mutter aufgegeben, entgegen ihrer Absicht, und diesen Morgen um
dreiviertel sieben die Drahtantwort fast gleichzeitig mit einem telephonischen An ruf aus Zürich erhalten. Beides wußte Konstantin bei seinem Eintritt sofort: das Te legramm lag halb unterm Bett, der Telephonhörer pendelte noch schwach.
Lydia lag entblößt. Er zog den Morgenrock über sie zusammen, vorsichtig und scheu
wie ein Fremder, und richtete sich wieder auf. Er rührte sich nicht mehr, er störte
nicht die Wohltat der Ohnmacht.
Sie wird erwachen, und dann wird der Untergang aus sich selbst herausrollen und
das neue Leben.
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Neben ihm stand eine riesenhaft dunkle Gestalt – das Schicksal, das eine kleine Ge stalt an der Hand hielt: die Frucht seines bösen Tuns, Lydia, die ahnungslose Schwester, wochenlang mißbraucht zu haben im Liebestaumel. Aber die Frucht des Bösen verging unter der Wucht des Schicksals: er hat es Lydia aus Liebe verschwie gen und getan. In ihm war schwere Ruhe: die stille, reife Todesbereitschaft, die hier allein noch das Schicksal vielleicht besiegen könnte. Sie hob die Lider, wie aus Schlaf erwachend. Nichts sonst bewegte sich an ihr. Der Blick, auf ihn gerichtet, was starr, fremd, wie aus einem andern Leben. Da schlug das Bewußtsein in ihr Gefühl, mit ungeheurer Wucht. Blitzschnell stützte sie sich hinten auf die Hände und schnellte gleichzeitig in Sitzstellung empor, im Blick grenzenloses Entsetzen. In derselben Stellung rückwärts tastend, entfernte sie sich unter konvulsivischen Zuckungen des ganzen Körpers von Konstantin und schrie, den entsetzt zurückweichenden Blick unverwandt auf ihn gerichtet, schrie mit voller Lungenkraft. Er verstand: „Gehen Sie! Gehen Sie!“ Plötzlich warf sie sich empor, floh durch das ganze Zimmer. In die Ecke gedrückt, beide Hände an die Wangen geschlagen. „Gehen Sie!“ Die Stimme überschlug sich. Angesichts dieses auf die letzte Spitze getriebenen Entsetzens hatte er das Wort nicht; er senkte den Kopf und ging langsam und gebeugt auf die Tür zu. Schwankend fiel Lydia in sich zusammen, auf die Kniee, und stürzte ohnmächtig vornüber. Die Stirn schlug hart auf. Das war möglich, hingehen konnte er jetzt und sie aufheben, aufs Bett legen, nas ses Handtuch auf die Stirn – nein, erst die Haare aus der Stirn streichen, jetzt das nasse Handtuch auflegen, sich niedersetzen. Sein tun folgte von selbst dem Den ken. Sie schlug die Augen wieder auf, sah ihn auch, tat nichts, sprach nicht. Er rückte etwas weg, daß sie ihn nicht sähe, sah zu ihr hin. Nichts geschah. Minuten vergingen, eingeschoben zwischen Tod und Leben, Minu ten, in denen das Schicksal vom Dasein der beiden Besitz ergriff. Er sah, daß sie nicht dachte, nicht fühlte, nicht litt. Die Augen waren offen., Sie drehte sich zur Wand wie ein Mensch, der allein im Zimmer ist. Er blieb hocken. Ihr Körper bewegte sich manchmal ein wenig. Davon wußte sie nichts. Er hatte wenig Gedanken, Seine Gefühle nahmen die Gestalt von flachen Land schaften an, sie drehten sich, weil die Erde sich dreht, schoben sich langsam inein ander und vorbei, kehrten wieder. Das war weder gut noch unangenehm; das war so, wie es war. So hilft sich offenbar ein auf den Tod verletztes hoffnungsloses Herz. Das war also nun dich ein Gedanke, dünn und schwach im Vergleich zu den großen weiten Landschaften, von denen der Gedanke sich für eine Sekunde losge löst hatte. Im Zimmer war nichts, rührte sich nichts. Totenstille. Kein Lebewesen. Es war Wil le im Zimmer. Lydia war wie entzweigerissen vor Erschöpfung. Alles war gleich, und nicht einmal das. Sie kann ja nicht einmal empfinden, daß alles gleich ist. Ein braunes Tönen! Aber der Körper war jung und gesund, er kam in diesem Handicap zwischen sich 80
und der erschöpften Seele besser weg, er verhandelte schon mit ihr. Das braune Tönen endete. Natürlich, allein kann er ja das Geschäft nicht machen. Sie sah zwei Makler, die miteinander stritten. Ja, sie trinken Kognak, und noch einen Kognak. Sie sah genau die dicken, gerippten Kognakgläschen. Aber jetzt ist wieder nur ein Makler da. Sitzt allein am Tisch. Nichts zu machen! Das braune Tönen setzte wieder ein. Sie kann sich also nicht helfen und wieder aufrichten. Ihr fehlt jedes Mittel. Sie ist ein mittelloser Mensch. Eine mittellose Handlungsgehilfin . . . Wieso Handlungsgehilfin? Da fühlte sie in der Brust ein kleines Knacken, wie wenn in einer Maschine etwas sich wieder einhakt, das ausgehängt war, sie richtet sich auf. Das Leben was wie dergekehrt in den Blick. Das sah zurück. War sie denn tot gewesen? Die zwei Makler waren weit weg. Weit! Sie waren nur noch eine Erinnerung. Eine schwarze seidene Strähne hing von der Stirnmitte herunter, gewellt um den Nasensteg herum, und weiter herunter bis zum Mundwinkel, die feingebogene glän zende Spitze bewegte sich im Atem. Ihre Hand strich die Strähne zurück, dabei flatterten auch die Lider, sie atmete einmal tiefer, die Zunge befeuchtete die Lippen, die Hand glitt die Wange strei chelnd wieder herunter aufs Bett. Mit dieser Reihe zusammengehörender Bewegun gen tat sie einen Schritt ins Leben zurück. Es war wieder ein wenig Wille im Zimmer. Das bemerkte Konstantin sofort. Auch er nahm, ohne sich zu rühren, die Zügel sei nes Willens wieder auf. Er hatte seit seinem Eintritt noch kein Wort gesprochen, Soll er „Lydia“ sagen? Sie sitzt aufrecht und blickt! Aber ihm wurde sofort klar, daß auch das Wort „Lydia“ ein gefährliches Wort war. Welche Unmöglichkeit, ihr übers Haar zu streichen! Lydia ließ sich langsam, und dieser Bewegung offenbar schon ganz bewußt, ins Kis sen nieder und blickte zur Decke. Sie versteckte ihre bloßen Arme nicht; sie zog nur den Spitzenrand des Hemdes über die etwas entblößte Brust hoch, das hätte sie auch getan, wenn Konstantin noch ihr Geliebter gewesen wäre. Sie lag an der Grenze des Lebens, sie war dem Beilhieb nicht ausgewichen, sie hat te sich seiner Wucht widerstandslos preisgegeben und konnte jetzt versuchen, ohne Fehlschritt und Flickwerk in breiter Linie ihre Auferstehung zu beginnen, all mählich, Schritt für Schritt zurückzukehren in ein Dasein, wie es ihr noch verstat tet war. Seitdem Bewußtsein und Wille Lydia wieder zu eigen waren, herrschte eine ganz andere Stimmung im Zimmer, obwohl beide auch jetzt schwiegen und sich nicht bewegten. Jetzt würde ihm beim leisesten Annäherungsversuch sein Todesurteil gesprochen werden. Denn Lydia, das fühlte er mit steigender Herzensangst, emp fand nichts mehr in bezug auf seine Person, auch nicht Entsetzen oder Haß und Ab scheu, in denen die Liebe noch versteckt sein konnte, sie hatte für ihn einfach kein Interesse mehr. Aber kann denn eine große, echte Liebe in einer Viertelstunde vergehen, sterben, aus dem Gefühlsleben herausgeätzt werden? Welches Glück, wenn sie ihn verach ten würde! Dann könnte er kämpfen, seine Liebe würde ihm das Wort geben. Aber Lydia läßt ihm keine Chance, sie stellt sich nicht als Gegner. 81
Der Mensch wird größer an seinem Schicksal, selbst wenn er daran stirbt, und grö ßer noch, wenn er es trägt. Konstantin nahm Abschied vom Glück. In seiner Brust kristallisierte sich etwas, ein Gefühl, das unter eigenem Gesetze stand, jenseits je der Spekulation und Hoffnung. Er wird warten, unbeirrbar, glücklos, ohne Hoffnung und dennoch immer bereit! Und wenn er Jahre und Jahre warten muß! Das wird sein Leben sein. Mitleid mit der erschöpften Geliebten ergriff ihn, als er sah, wie ihre schwarzen Wimpern sanken und sich sanft hineinschmiegten in den tiefbraunen Halbring unter den Augen. Noch zuckten die Lider, als der Erschöpfungsschlaf schon nahte. Er at mete im Tempo ihres Atems, damit keine Gegenbewegung das Nahen des Schlafes störe. Als er sie in den Schlaf mit hineingeatmet hatte und schon der Schatten des Trau mes über ihre Stirn strich, erlaubte er sich nicht mehr, am Bett zu sitzen und die Abwesende anzusehen, er nahm sich kein Recht, das er nicht mehr besaß. Vor dem Fenster war das Meer. Weit draußen im Hafen lag ein Überseedampfer, tief zur Seite geneigt, der auf hoher See in Brand geraten und vollständig ausge brannt war. Nun versuchten tausend Hände, das noch aus allen Luken rauchende hilflose Riesenwrack vor dem Sinken zu retten. Das Stubenmädchen klopfte, vorsichtig und ängstlich. Schnell und unhörbar hatte er das Zimmer überquert, er sprach nur mit der Hand und setzte sich dann vor die angelehnte Tür als Wache. Ihm wollten die Tränen hochsteigen, weil er dies noch durfte. Stunden vergingen. Die Ereignisse dieser Woche, von der Sekunde an, da ihm die Mutter alles gesagt hatte, kreisten um ihn herum, in einem anfangs unentwirrbaren Durcheinander von Vorstellungen, und klärten sich erst allmählich zu der Tatsache, die anerkannt und hingenommen werden mußte: daß Lydia vollkommen interesse los war. Gelähmt starrte er die weiße Wand an. Beim ersten Geräusch, das er vernahm, stand er auf. Aber als er ins Zimmer trat, war Lydia schon frisiert und angekleidet, sogar die Bettdecke war glatt gestrichen. Sie mußte mindestens schon seit einer halben Stunde auf sein. So versunken war er gewesen. Ihr Blick streifte ihn,sie sah sofort weg und ordnete, offensichtlich ganz gedanken los, nur um sich zu sammeln, ihren Toilettentisch. Noch einmal streifte ihn ein Blick tiefster Verstörtheit. Aber das war nicht mehr die Lydia, die entkräftet und interesselos auf dem Bett gelegen hatte. Mit der durch Zeit und Schlaf wiederge wonnenen Lebenskraft war in ihr auch die Frau wieder erstanden, die liebte, mehr als alles auf der Welt und mehr als ihr Leben den Mann liebte, der ihr Bruder war. Sie war am Morgen einem Überraschungssieg des Schicksals erlegen und hatte dafür bezahlt mit Erschöpfung bis zur Ohnmacht und minutenlanger Geistesgestörtheit. Erst jetzt begann der Kampf, der schwere, qualenreiche, herzabdrückende, in dem sie den Beweis erbringen konnte, daß ihre Liebe stärker war als selbst das Schick sal, der Beweis, den erbringen zu dürfen sie noch den Abend vorher so sehr ge wünscht hatte. An ihrer Rückenlinie, ihrer Haltung, wie sie vor dem Toilettentisch stand, untätig, den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, erkannte er sofort alles. Diesmal durchstieß sie den Damm, den der Mann plötzlich aufsteigenden Tränen noch entgegenzustel 82
len vermag. Glück und Hoffnung überrannten ihn, Er befand sich in der Situation eines vom Glück überraschten Mannes, der seine totgeglaubte Geliebte unverhofft am Leben findet. Die schon nicht mehr für möglich gehaltene Wendung erfüllte ihn mit so stürmischer Hoffnung, daß er in diesem Augenblick glaubte, schon gesiegt zu haben in dem Kampf, der erst beginnen sollte. Die allzu plötzlich wiedergekehrte Hoffnung trug ihn zu weit vor. In dem Tone, der sie sonst so tief beglückt hatte, sagte er: „Lydia! Meine Lydia!“ Das genügte, um den Widerstreit der Gefühle mit wuchtigster Gewalt in hr hochzu reißen. Sie drehte sich um, wieder mit diesem fassungslosen innerlichen Zurück weichen, und mußte die Hände auf die Tischkante stützen. Ein Blick, ein Gesichts ausdruck sagen mehr, als Worte zu sagen vermögen. „Zurück! Zurück!“ flüsterte er und entfernte sich unwillkürlich auch räumlich von ihr. Wie er dann noch einmal zu ihr ging, einen Stuhl für sie zurechtstellte und sich sofort wieder zur Wand begab, kam klar zum Ausdruck, daß dies keine Vertraulich keit, sondern nur eine Handlung der Besorgnis war, die jeder Mensch für jeden tun durfte. Dennoch nahm sie einen anderen Stuhl. Sie beschuldigte ihn nicht, das sah er. Kein Haß und auch kein Vorwurf. Sie blieb beim Kern der Sache. Schon während des Ankleidens hatte sie alles durchdacht und wie ein guter Arzt, der sichergehen will, zuerst einmal alles ausgeschaltet, was auszuschalten war. Widerstände moralischer Art gab es für sie nicht in der Liebe, und das Gesetz, die Geschwisterliebe verbietet und bestraft, bestand für sie nicht. Selbst wenn es dazu käme: Welches Glück, im Gefängnis zu sitzen und dabei im Herzen einig und verei nigt sein zu können mit dem Geliebten, wie jenes Liebespaar! Das waren keine Hin dernisse, die zu beseitigen gewesen wären. Noch aus ihrer Studierzeit wußte Lydia, daß die Geschwisterliebe nicht nur bei primitiven Völkern erlaubt war, sondern auch bei den Griechen der Antike als wesentlicher Bestandteil ihrer Hochkultur ge golten hatte. Die Frage, ob dieses unheimliche, grauenvolle Etwas, das übermäch tig in ihr war, vielleicht nur ein Resultat der jetzigen viertausendjährigen Kultur sei, vermochte sich nicht zu beantworten. Aber sie glaubte sich gerade in diesem Punkt frei von den Bindungen der Kultur: sie zog auch dieses letzte Häutchen weg und saß nun da und blickte auf den Kern, der darunter war. Sie sah ihn nicht, und dennoch war er übermächtig da. Die Fische, deren Gehörorgane ungleich weniger entwickelt sind als die des Menschen, verneh men noch Töne unter einer bestimmten Tiefen- und über einer bestimmten Höhen grenze, die vom Menschen mit seinen hochentwickelten Gehörorganen nicht mehr wahrgenommen werden. Er hörte die Töne nicht, und dennoch sind sie da und klin gen, er hat keinen Zugang zu ihnen. Lydia wußte nicht, sie wußte nicht, was es war, es war da, war in ihr, übermäch tig, und sie hatte keinen Zugang zu ihm. Die Vorstellung, sich dem Bruder, ihrem Bruder körperlich hinzugeben, war unfaßbar grausig, und es nicht und nie mehr zu tun mit dem Geliebten, war unfaßbar und der Tod. Die zwei Größen standen einan der gegenüber, ausgestattet mit gleicher Macht und Gewalt. Nur einmal, noch in Rußland, war Konstantin einem Menschen begegnet, der Minuten vor einer unab wendbaren Operation auf Leben und Tod in so großer Not und Machtlosigkeit un 83
aufhörlich sich die Hände gepreßt hatte wie jetzt Lydia. Dieser Anblick riß ihn aus einander. Er konnte nicht helfen. Ein Mann kniet nicht hin. Es hat keinen Sinn. Konstantin kniete hin. „Ist es nicht schön, ist es nicht wunderbar, daß du nun auch meine Schwester bist!“ Ihr Blick erstarrte vor Grauen. Aber hier waren Zaghaftigkeit und Vorsicht jetzt falsch. Er hatte den Mut. Seine Liebe war groß und einfach. „Schon damals liebte ich dich, Lydia, ich liebte dich schon damals mehr als die El tern und alles. Vielleicht weißt du es nicht mehr, du warst drei Jahre. Schon da mals warst du für mich das Süßeste auf Erden. Es ist ja so einfach, Lydia, so ein fach!“ Denn das war klar: Das Schicksal daß sie Geschwister waren, konnte nur der Gipfel reinster Seligkeit sein, der überhaupt auf Erden möglich war. Oder der Tod! Dazwi schen gab es nichts. „So einfach, Lydia, so wunderbar einfach! . . . Wir lieben ein ander, du, meine Schwester, meine Geliebte, wir lieben einander, du und ich. Wie könnte es anders sein! Es ist nichts. Es ist einfach. Ganz einfach!“ So kniete er, wie damals vor der Liebesnacht im Mainstädtchen, als beide vorein ander hingekniet waren in heiterer Unschuld, wie Kinder im Spiel. Die große Gewalt ihrer Liebe riß Lydia in seine Arme, sie wollte hin zu ihm, hin, gar nicht daran denken, was war, blind hin zu ihm! Und konnte nicht. Wenn zwei im Zimmer sind und einer will zwischendurch allein sein, dann geht er auf und ab. Lydia ging, sie war ganz allein im Zimmer. Ihm war jede ihrer Bewegungen teuer, und er kannte jede. Nie war Lydia auf und ab gegangen, das war keine ihrer Gebärden, das war und wirkte fremd und gar nicht zu ihr gehörig. Sie suchte außer sich selbst, weil sie innerhalb ihres Wesens ratlos, ganz im Banne der zwei gleich großen Mächte war. Schon nach einigen Malen kehrte sie zu sich zurück, saß auf demselben Stuhl und drückte machtlos wieder ihre Hände. Das mußte er mitansehen, machtlos. Sie stellte den Kopf schief wie ein Kind, das zu einem Erwachsenen emporsieht, und fragte in herzzerreißendem Tone, als halte sie das Wunder, daß er nein sagen werde, für möglich: „Sie sind mein Bruder?“ Das Wunder geschah nicht. „Das ist dasselbe, das ist für uns ja ganz dasselbe. Du bist eine Frau, und ich bin dein Geliebter . . . Lydia, komm zu dir! Es ist nichts.“ Aber das Wort erreichte sie nicht. Seine Verzweiflung gab ihm eine Idee. „Wie könnten ja auch ganz von neuem be ginnen. Wir beginnen von neuem. Wir haben einander soeben erst kennengelernt, auf der Reise, jeder hat soeben erst erfahren, wer der andere ist. Sie erlauben mir, mit Ihnen zu speisen und spazierenzugehen. Ich begleite Sie bei Ihren Einkäu fen. Vielleicht machen wir eine Dampferfahrt. Wir sprechen von allem möglichen. Allmählich lernen wir einander näher kennen. Sie gewähren mir selbstverständlich nichts. So etwas braucht ja meistens sehr viel Zeit. Natürlich werbe ich um Sie, ich sehe Sie manchmal an. Vielleicht ist Ihnen das nicht unangenehm später, nachdem Sie mich näher kennengelernt haben und wissen, wie ich bin und wer ich bin. Zeit macht viel. Vielleicht nehmen Sie mich als Ihren Geliebten. Vielleicht! . . . Aber so weit sind wir ja noch gar nicht. Noch lange nicht! Wir haben einander soeben erst 84
kennengelernt.“ Es war die verzweiflungsvolle Ratlosigkeit, die ihn hoffen ließ, sein Vorschlag sei durchführbar. Lydia hatte alles gehört. Ihr Ohr hatte gehört. In ihr entstand der absonderliche Gedanke: Einen Überseedampfer kann man nicht an einen auf den Wellen schau kelnden Flaschenkork antauen. Und dennoch: Da sie sich nicht trennten, mußte in den folgenden Stunden ihr Zu sammensein die äußere Form seines Vorschlages haben: Zwei Fremde, elegant und distinguiert, die durch die Straßen von Triest gingen, sich in ein Café setzten, alles stehen ließen, was der Kellner brachte, und fast immer schwiegen. Es war schwer, einer Frau näherzukommen, der man alles sagen durfte, nur das eine nicht, daß sie schön ist. Und es war gefährlich zu sagen: „Essen Sie doch! Ein Mann muß essen.“ Denn sie blickt dabei, und die Liebe tönt. Das kam ganz von selbst: Da sie aufstand und nach den Handschuhen griff, ging auch er zur Tür. Nebeneinander stiegen sie die Treppe hinab und überquerten, be gleitet von dem sehr beweglichen, geschäftig strahlenden Direktor, die Hotelhalle. Die weiße Sonnenflut schlug ihnen entgegen. Da war der Hafen, war das Meer, war eine Bank, auf der in bequemster Lage junge Burschen lungerten, die nicht einmal Zigaretten hatten und sich offensichtlich dennoch sehr wohl fühlten. Ihre Unterhal tung war überlaut und von Lachen durchsetzt, sie boxten einander in die Rippen, verstummten manchmal ganz plötzlich, und dann brach der Strom der Lebensfreu de unvermittelt wieder durch. In Italien gibt es noch viele, die nichts tun und doch leben. Das kommt vom Klima. Was kann einem Burschen zwischen fünfzehn und zwanzig viel geschehen, wenn vor ihm das flach hingebreitete Meer in der Sonne gleißt und über ihm der Himmel in seiner makellosen vibrierenden Bläue sich selbst genießt! Hinter ihm ist die Stadt, wo gearbeitet wird, da fällt auch für ihn etwas ab. „Bella Signora, molto bella!“ sagte einer, als Konstantin und Lydia vorüber waren, und bekam vom anderen einen kameradschaftlichen Stoß in die Rippen. Sofort be gann eine von Geschrei und Gelächter durchsetzte Prügelei. Selbst Lydia, die im Zimmer stundenlang in der untersten Spitze eines Trichters ge gen ein dunkles Phantom angekämpft hatte, konnte sich der Wirkung des sonnen bunten Glanzes dieser südlichen Stadt nicht ganz verschließen. Der Wechsel war zu scharf. Noch lebte sie, ihre Sinne nahmen auf. Wenn alles auch nur an der Oberflä che blieb und in ihr auch nur ein Gefühl der Wehmut erzeugen konnte – noch lebte sie! Es war das erstemal, daß Bruder und Schwester spazierengingen. Das war anders als bei ihren früheren Spaziergängen, wo das Glück des einen sich dem andern mit geteilt hatte in ununterbrochenem Hin und Her, blitzschnell, gleich dem schon nicht mehr sichtbaren Schiffchen der Nähmaschine, das den Faden spendet, der Stoff mit Stoff verbindet. Und war auch anders, als wenn ein Mann auf der Reise eine schöne Frau kennengelernt hat und den ersten Spaziergang in der Ankunfts stadt mit ihr macht, werbend um ihre Gunst, wie Konstantin in seiner Ratlosigkeit vorgeschlagen hatte. Der Reisegefährte konnte den Arm seines Dame berühren, um sie ungefährdet über 85
den Fahrdamm zu geleiten; Konstantin durfte das nicht wagen, seine Hände waren für Lydia weißglühend. Und wie hätte er, gleich jenem Reisegefährten, wagen kön nen, von der Stilreinheit, der Schönheit eines romantischen Hauses zu sprechen und seinen Worten den Unterton der Werbung mitzugeben! Es war schon gefährlich genug, als er besorgt fragte: „Nicht zu leicht angezogen?“ Früher hätte sie geantwortet, eng an ihn hin: „Mir ist warm.“ Jetzt senkte sie, ge peinigt von Liebe und maßloser Qual, nur den Kopf und schwieg. Himmel und Meer, die Sonne und das Leben der Straße und des Cafés, wo sie im Freien saßen, verschwanden. Sie gingen weiter, durch die Stadt, die nicht da war: Zwei Menschen, die einander begehrten und erfahren hatten, daß sie Bruder und Schwester waren. Genau, mit allen Einzelheiten, erinnerte Lydia sich später der Straßenecke, wo sie den Entschluß faßte, von Konstantin heimlich zu flüchten, um allein zu sein mit ih rem unabwendbaren Schicksal: die drei verkratzten winzigen Bartischchen auf dem Pflaster und der Kellner, der gerade die blaue Siphonflasche hob, den Daumen schon auf dem Drücker. In derselben Sekunde, da der durstige Gast sein Glas der blauen Flasche entgegen gehoben hatte, war ihr klar geworden, daß ein weiteres Zusammenleben mit Kon stantin sinnlos und unmöglich sei; sie mußte fort, heimlich und unauffindbar blei ben, um allmählich die einzige Gnade, die ihr vielleicht noch verstattet sein wer de, zu gewinnen: Wunschlosigkeit. Konstantin, der Lydias Gedanken und Gefühle subtilster Art früher oft vorher ge wußt hatte, ahnte nichts. Denn sie und er waren Fremde geworden und mehr als Fremde. Sekunden nach dem schwersten Entschluß, den eine Liebende zu fassen vermag, wurden ihre Kniee weich, sie schwankte seitwärts und warf den Oberkörper nach hinten, um nicht auf das Gesicht zu fallen. Er fing sie auf. Sekunden, unvergleichliche Sekunden lag sie in den Armen des Geliebten, auch dann noch, als sie wieder bei sich war und es nicht vermochte, sich loszureißen von der strömenden Beseligung, die stärker war als Schicksal und alles auf der Welt. Noch im Aufstöhnen, das schon dem wiederkehrenden Grauen entsprang, fand ihr Körper zu seinem. Sie schnellte zurück, lief drei schnelle Schritte von ihm weg, schamüberflutet und von Grauen zugleich. Aber nichts, was geschehen ist, kann rückgängig gemacht werden. Diese Sekunden wogen schwer. „Heim!“ sagte sie abgewandten Blickes. Und während Konstantin im Glücksfieber der Hoffnung sich nach einem Wagen umsah, stand eine Frau da, die es nicht er warten konnte, zu fliehen von dem Geliebten, ihrer schwersten Aufgabe entgegen, Liebe und Begehren und jeden Wunsch an das Leben in sich abzutöten. Aber sie wußte, daß sie das nur vermochte, wenn sie sich selbst tötete. Tat sie das nicht – Lydia war einundzwanzig -, dann blieben auch Liebe und Grauen, jenes grauenvolle, bloßgelegte Etwas in seiner unheimlichen Gefühlskraft, das auf Erden von niemand erforscht und beseitigt – das nur zersetzt werden konnte durch die größere Kraft eines anderen Gefühls. Die Liebe hatte eine Aufgabe. „Und das Kind? Dieses entsetzliche Kind in meinem Leib?“ 86
Es war zuviel.
Im Hotel brachte er selbst das Nervenberuhigungsmittel, das sie einnehmen sollte,
um schlafen zu können. Sie nahm es vor seinen Augen in den Mund und schluckte es
nicht hinunter. Sie legte sich nieder. Er ging in sein Zimmer. Das Bad war dazwi schen. Sie erhob sich sofort – in wenigen Minuten war der Coupékoffer gepackt -,
kaufte im Reisebüro des Hotels ein Billett nach Berlin und saß zwanzig Minuten
später im rollenden Zug.
Ihre Berechnung, daß Konstantin im Hotel ohne Schwierigkeiten ermitteln werde,
wohin sie gefahren war, stimmte. Der nächste Zug nach Berlin ging erst abends. Sie
fuhr nur bis zur Grenze und stieg in den Gegenzug, der nach Triest zurückfuhr.
Einmal noch, nur den Bruchteil der Sekunde, da die zwei Begegnungszüge kurz vor
Triest mit einem einzigen Knall aneinander vorbeiflogen, waren sie einander nahe.
Lydia wußte es. Die Augen starrten zum Fenster. Der Zug war schon vorüber.
Längst vorüber.
In Triest ging sie vom Bahnhof direkt zum Dampfer und fuhr auf eine Insel im Adria tischen Meer.
SIEBTES KAPITEL Die Mutter hatte Lydia, ohne sie mit ein paar Worten vorzubereiten, sofort alles gesagt, telephonisch, durch die Lebensgeräusche der Erde hindurch, in einem Ton, als wären beide bei einem Erdbeben versunken und nun verschüttet in einer Tiefe, wo nichts anderes mehr möglich war als der Tod. Sie hatte am Apparat in Zürich die Wirkung ihrer Worte in Triest miterlebt, bis zu Lydias Schrei vor der Ohnmacht. Ihre Aufgabe, die letzte, war erfüllt. Lydia wird sterben. Vielleicht war sie schon tot. Die Mutter war alt und nicht mit Konstantin verbunden gewesen in glücklicher Liebe. Der Tod verstand sich von selbst. Ihr Selbstmord schloß ein Leben qualvoller Unruhe ab, beständigen Wartens auf das Glück, das die Zukunft bringen sollte. In dem Augenblick, da Hoffnungen sich er füllt hatten, waren diese Wirklichkeiten nichts mehr wert gewesen und sofort von neuer Hoffnung auf die Zukunft abgelöst worden. Die Gegenwart hatte der Mutter nie gehört, sie war nie zufrieden und glücklich gewesen. Glück ist eine Eigen schaft. Daß Lydia von dieser beständig laufenden Mühle unbegründeter Qualen nicht erfaßt und zerstört worden war, verdankte sie nur der besonders großen Seelenkraft, die schon die Elfjährige befähigt hatte, das Schwarz und Weiß des Lebens zu sehen und auseinander zu halten und mit zauberhaft taktvoller Überlegenheit der Mutter eine Mutter zu sein. Gleich vielen Menschen die glauben, dem andern dienen und helfen zu können, wenn sie auf eigenes Glück verzichten, und dabei ganz vergessen, daß nur der hel fen und geben kann, der selbst hat, war die Mutter unter Verzicht auf eigenes Glück zeitlebens eine arme nutzlose Dienerin am Lebensglück ihres Kindes gewe sen, das Lydia sich selbst in jeder Phase aus eigener Kraft erobert hatte. Nun, da Lydias Glück auf so schaurige Weise zertrümmert und nie und durch nichts 87
wieder herstellbar war, hatte der Tod das Billett in der Hand, das ihm durch alle Kontrollen hindurch ungehindert Zutritt zur Mutter verschaffte. Jeder Mensch stirbt so, wie er gelebt hat. Die Mutter, die Spinat von Salat nicht unterscheiden konnte und dennoch wünschte und auch glaubte, gut kochen zu kön nen, diese Frau, die ihre tatsächlich vorhandenen wertvollen Eigenschaften zeitle bens ungenützt gelassen und die ungleich wichtigeren Dinge über den unwichtigen des Augenblicks stets ganz vergessen hatte, vermochte in ihrer letzten Minute vor dem Sterben, über dem erfolglosen Bemühen, die Tabletten aus dem Glasröhrchen herauszuholen, selbst den Tod zu vergessen. Sie konnte das Wattepfröpfchen nicht entfernen, auf die Idee, ein Streichholz oder eine Haarnadel zu Hilfe zu nehmen, kam sie nicht, mit dem Fingernagel gelang es nicht; sie suchte einen harten Gegenstand, mit dem sie das Röhrchen zerschlagen könnte und vergaß in der Sekunde, da es ihr mit Hilfe eines Blumenvase gelang, vor Befriedigung darüber alles andere. Sie starb, wie sie gelebt hatte. Erst als die Wirkung der Tabletten begann, als die armen ungeschickten Hände nicht mehr zitterten und der nahende Tod ihr Gesicht mit dem Heroismus eines freiwillig Sterbenden verschönte, geschah in ihr die große Wendung: Sie stand mit Lydia entrückt auf einer wunderbar unwirklichen Höhe und erkannte in blitzender Rede und Gegenrede, daß ein ungewöhnliches Schicksal dem Getrof fenen das Recht verleihe, ungewöhnlich zu handeln, selbstherrlich, unter eigenen Gesetzen diesem Schicksal zu begegnen und es zum Glück zu wenden. Einmal noch, mit dem letzten Blick, sah sie Lydias Gestalt in strahlendem Glanze, das stille, verklärte Gesicht, das dem heranschreitenden Bruder zugewandt war, und versank im Nichts. Zur selben Zeit kam Konstantin in Berlin an. Schon als er vom Bahnhof auf den be lebten Platz trat, um ins Hotel zu fahren, fühlte er, daß Lydia nicht in Berlin war. Er fühlte es. Und drei Tage später wußte er es, nachdem er in sämtlichen Polizei revieren, wo die Meldeformulare aller neu angekommenen Reisenden zusammen laufen, erfolglos nachgeforscht hatte. Die Welt ist klein im zwanzigsten Jahrhundert, und Menschen, die einander unver hofft in einer Weltstadt sehen, wundern sich nicht mehr darüber; aber die Welt ist groß und hat Schlupfwinkel ohne Zahl, wenn ein Mensch sich verstecken will. Kon stantin hätte mit ebensoviel und ebensowenig Aussicht auf Erfolg nach Osten oder Westen wie nach Süden oder Norden Berlin verlassen können. In seiner Ratlosigkeit fuhr er nach Zürich, obwohl er wußte, daß überall auf der Welt doch noch eher et was über Lydias Aufenthalt zu erfahren sein würde als gerade dort. Denn auch sie wird sich sagen, daß er versuchen werde, in Zürich zu erfahren, wo sie war. Aber dort kann er erinnerungsträchtige Stellen aufsuchen, wo er mit Lydia gewesen war. Er fand eine Tote. Stephan und Lydias Zofe hatten alles besorgt, die Mutter war schon aufgebahrt. Lange stand Konstantin bei ihr und sah ihr Gesicht an, das so friedvoll war, als hät te die Mutter im Sterben eine Grenze überschritten, die zu überschreiten ihr im Leben unmöglich gewesen sei. Als er von der Beerdigung zurückkam und durch die verwaisten Zimmer ging, ohne Zweck, immer hin und her, und dann auf einem Stuhl saß, starrend vor sich hin, 88
ganz erfüllt von der Bitternis, als Bote des Schicksals zerstörend in dieses Haus ein gebrochen zu sein, die Mutter unter die Erde und Lydia in einen Abgrund des Leides getrieben zu haben, unauffindbar wo auf der Welt, wurde ihm klar, daß jetzt nur noch die Liebe, die Lydia mit ihm verband, dieses ewig unerforschliche Geheimnis des Herzens, als Gegner des Schicksals antreten könne im Kampf um Leben und Glück. Er selbst kann nichts mehr tun, nichts; er kann nur noch warten darauf, ob in Lydia die Liebe siegt. Er wird warten. Und wenn er ein Leben lang warten muß. Und konnte doch keine Minute warten. Ihn trieb die Unruhe Tag und Nacht umher und aus dem Hause und fort aus Zürich, durch die Kurorte Europas, wo wenigstens das millionstel Prozent Zufall ihm zu Hilfe kommen konnte, Lydia zu finden. Es kam vor, daß er in Ägypten Menschen wiedersah, denen er Wochen vorher in Nizza begegnet war. Die Frau des türkischen Diplomaten sah er in Ostende. Der Oberkellner erzählte unaufgefordert, sie habe ein Verhältnis mit dem Eintänzer des Hotels. Das sei ja nichts besonderes; aber daß sie es so ungeniert zeige vor al len Gästen des Hotels, sein doch merkwürdig bei einer so auffallend schönen und auch sonst so charmanten Frau, die doch offenbar den besten Kreisen angehöre. Die Direktion werde dem Eintänzer kündigen, der sei doch für alle Damen da. Das war die letzte Begegnung zwischen Konstantin und der Sächsin, er sah sie nie wieder. Am selben Tag fuhr er nach Zürich zurück. Bei seiner Ankunft stand ein Möbelwagen vor der Villa des englischen Zoologiepro fessors. Das Haus hatte den Besitzer gewechselt. Der Professor soff in Indien. Auch ein gesunder Mensch mit den Kraftreserven der Jugend kann in einem halben Jahr altern. Konstantin sah aus wie ein Vierzigjähriger und war erst siebenund zwanzig. Lebte Lydia noch? Lebte sie überhaupt noch? Alles war möglich, auch daß sie sich das Leben genommen hatte, gleich ihrer Mutter. Er wußte nichts und hatte kein Mittel, etwas zu erfahren und etwas zu verhindern. Kein Gefangener war so macht los wie er, einmal am Tag öffnete sich auch für den Gefangenen die Zellentür zum Rundgang im Hof. Schon der Neunjährige war einmal, als ihn die Kinderfrau verse hentlich ins Zimmer eingesperrt hatte, aus dem Fenster gestiegen und vom dritten Stock aus am Blitzableiter hinuntergeklettert, weil er es nicht ertragen konnte, machtlos eingesperrt zu sein. Und noch als Erwachsener hatte es Konstantin jahre lang vermieden, im Lift zu fahren, der steckenbleiben konnte zwischen den Stock werken. Nichts war für ihn so unerträglich wie Machtlosigkeit. Er war im Zickzack durch Europa gerast, wie ein gefangenes Tier im immer selben Zickzack durch den Käfig. Seine Augen hatten den Glanz verloren, sein Gemüt war krank, unter dem Brustbein saß der Druck, der Tag und Nacht nicht wich. Stephan einzuweihen und um Rat zu fragen, wagte er nicht, und Stephan war einsichtsvoll genug, zu schweigen. Stundenlang saß Konstantin auf der Glasterrasse. Da war der Garten, da der große Apfelbaum, dessen Blüten schon zu überreifen Früchten geworden waren, da die weiße Bank, wo er mir Lydia gesessen hatte, dort, zwischen Zweigen der See. Und er saß hier, und die Machtlosigkeit drückte und drückte, und seine Kraft fraß sich selbst auf. Noch einmal stieß die verzehrende Unruhe ihn hinaus und durch die Winterkurorte Europas. Zermürbt und mit fliegenden Nerven kehrte er zurück, auf dem Nacht 89
tisch lag der Revolver. Ob sie acht Tage in ihre Heimat nach St. Gallen reisen dürfe, fragte Lydias Zofe wenige Minuten nach dem Einlauf der Abendpost, und da er nickte, packte sie, Ly dias Wunsche folgend, nur einen kleinen Handkoffer, löste eine halbe Stunde spä ter im Hauptbahnhof Billett und Schlafwagenkarte und fuhr nach Triest und von da mit dem Dampfer auf die Insel im Adriatischen Meer. Den Brief an ihre Zofe hatte Lydia einem Kapitän anvertraut, mit der Bitte, ihn erst in Schanghai, wohin die Fahrt ging, abzusenden. Ihr Friede hänge vom Schwei gen der Zofe ab, hatte sie zur weiteren Sicherung geschrieben, und die letzte be stand darin, daß die Zofe eine Frau war und zur Frau hielt, obwohl sie es kaum über sich brachte, Konstantin dieser vergiftenden Machtlosigkeit zu überlassen. Das Bild des Gepeinigten verfolgte sie noch im Schlaf: sie stand hinter dem Laden tisch einer Bäckerei, zwischen Bergen frischen Brotes, er kam herein, hager, einge fallen, dem Verhungern nahe und bat, mit in sich verbissenem lippenlosem Mund, um ein Brot, das zu Lydias Brief wurde, und rief schnell: „Essen Sie! Es ist noch warm.“ Aber er schoß. Sie fuhr empor und lauschte entsetzt auf das plötzlich endende Knallen: der Zug hatte eine Eisenbahnbrücke passiert. Sie schlief nicht mehr. Marie war ein vorurteilsloses, couragiertes Mädchen, in des sen Kopf und Gemüt die Notwendigkeit des Lebens sich grad und einfach ordneten. Aber auch sie kannte Lydias übergroße bange Liebe für die Mutter. Mit dem Tastge fühl ihres treuen Herzens suchte sie, wie die Nachricht vom Tode der Mutter Lydia an besten mitzuteilen wäre, und fand die Form nicht. Sie erlebte Lydias fassungslo ses Leid zehnmal im voraus. Darüber verging die Nacht. Vor sieben Monaten waren Konstantin und Lydia im Wagen von Zürich abgefahren, heiter und in ungetrübtem Glück. Das Zerwürfnis zwischen den beiden konnte die Zofe nicht verstehen und auf keinen Fall gutheißen. Das wird sich auch wieder ge ben. Was kann da schon sein! Dummheiten! Aber die Nachricht vom Tode der Mut ter konnte Lydias Zusammenbruch und Tod bewirken. Am liebsten wäre sie umgekehrt und hätte Konstantin gesagt: Mach du das! Du kannst das besser, du kannst zu ihr sagen: Hast ja mich noch! Nun ja, ist doch wahr! Ihn liebte sie doch! Und wie! Und wie! (Das Motorboot, das die Gäste vom Dampfer zur Insel bringt, näherte sich schon dem Ufer.) Aber ich, wie soll ich ihr helfen! Was kann ich ihr denn sagen: Daß man auch für seine Mutter nicht mehr als alles tun kann. Aber das hab ich ihr früher schon hundertmal gesagt, und es hat nicht so viel genützt. Nicht so viel! Marie und das Personal wußten nicht, daß die Mutter sich das Leben genommen hatte. „Herzschlag“, hatte Stephan im Einverständnis mit dem Hausarzt gesagt, um Lydia wenigstens den Grund zu der Selbstbeschuldigung zu entziehen, daß die Mut ter infolge eines schweren Gemütsdepression über die lange Trennung Selbstmord begangen habe. Nur Angehörige des internationalen Publikums, die trotz ihres Reichtums den Sinn für Harmonie und Stille noch nicht verloren hatten, besuchten die Insel. Marie wur de von einem zehnjährigen italienischen Mädchen abgeholt und weit ab vom Hotel zur einzigen Privatvilla geführt, die auf der anderen Seite der Insel versteckt hin ter einem Bambuswäldchen stand, mit der Front zur offenen See. 90
Mannshohe Kakteen, wild gewachsen, und immergrüne Bäume und Büsche mit Blü ten, riesig und fremd, uralte Palmen, dazwischen deutsche Nußbäume, ordneten sich auch hier, wie auf der ganzen Insel, selbstherrlich zu einem Garten, in dem das Rotwild, nie gejagt, im Abendfrieden äste und der Fasan den bewachsenen Weg furchtlos überschritt: das Wirklichkeit gewordene Paradies, wie es das Kind sich nach der Schulfibel vorstellt. Kein Grund zum Staunen, wenn Adam und Eva, noch nicht vertrieben, plötzlich zwischen Büschen hervorgetreten wären. Das Meer schwieg. Eine Feuerstraße, gezogen mit dem großen Lineal der Natur, verband das Ufer mit dem Horizont, der die Sonnenscheibe berührte. Links und rechts dieser Straße lagen Meer und Insel schon im dunkelgrünen Frieden. Lydia erhob sich mühelos vom Liegestuhl, der auf den Klippen stand. Das langsame und ziehende Vollenden ihrer Bewegungen wurde mehr durch die Last des Gemütes verursacht als durch die körperliche Verwandlung der Hochschwangeren. Lydias Schönheit war durch Leid geadelt und erhöht. Noch trug sie das Unerträgli che und schwieg. So stand der Kampf, in dem sie mit jedem Tag und jeder Stunde dem Tod näherkam, während in ihrem Leib ein neues Leben wurde. Wie ein Erdteil das Naturgesetz, nach einem hohen Tag in der Nacht versinken zu müssen, nicht besiegen kann, so vermochte Lydia das Grauen nicht zu besiegen, das zutiefst verbunden war mit der Vorstellung, die Geliebte des Bruders gewesen zu sein. Dennoch kämpfte sie, denn auch die Liebe ließ sich nicht besiegen. In diesem Kampf zwischen zwei gleichstarken Mächten mußte am Ende die Kämpfe rin erliegen, wenn nicht das Leben selbst in großer Art die Hand hob, den Kampf beendend zugunsten des Lebens. Maries Erschütterung beim Erblicken Lydias wich sofort wieder der Pein, ihr jetzt auch noch den Tod der Mutter mitteilen zu müssen, sie fand den Ton der Vertraut heit und sprach so viel und wirr von nebensächlichen Dingen der Wirtschaft, ohne vorher ein Wort über das Befinden der Mutter gesagt zu haben, daß Lydia mit dem geschärften Instinkt eines Leidgewohnten die Antwort, die sie bekommen werde, schon ahnte. Sie setzte sich zur Zofe an den Tisch. „Was ist geschehen, Marie?“ Und da das Mädchen den Kopf auf die Arme fallen ließ und in Schluchzen ausbrach: „Ist meine Mutter tot?“ Lydia sah nur am Scheitel, daß die Schluchzende nickte. Wohl wurde alles grau in ihr, und ein Zug schwerer Bitternis entstand in ihrem Gesicht; aber der Schlag konnte nicht wirken, das neue Unglück fand keinen Zutritt, es war kein Raum in ih rem Innern. Denn sie konnte den Kampf um ihre Liebe auch jetzt nicht unterbre chen, die Spannung war zu groß. Die Bitternis galt nicht dem Faktum selbst, daß die Mutter tot war, sondern der Tatsache, daß die Liebesbeziehung mit Konstantin nun auch noch den Tod der Mut ter verursacht hatte. Dieses Ereignis selbst hatte kein Gewicht, es erzeugte in Ly dia nur die Empfindung, als tränke sie ein Flüssigkeit von stärkster Farbe, die über raschenderweise ohne jeden Geschmack war. Nur um Maries Gefühle nicht zu verletzen, ließ sie sich Einzelheiten berichten. Sie hörte zu, ihr war alles starr und grau. Aber sie wußte, daß der Schmerz um die Mutter, der sie mit übergroßer Liebe zugetan gewesen war, noch kommen und sein Recht verlangen werde, wenn ihm der Tod nicht zuvorkam. Sie war ihm nahe. Das 91
Glück war zu groß gewesen, zu tief der Sturz ins Leid, aus dem sie keinen Ausweg fand. „Aber die Mutter sah anders aus, ganz anders, und so zufrieden wie nie im Leben.“ Neue Tränen sprangen aus Maires Auge. Als sie wieder sehen konnte, war Lydia nicht mehr im Zimmer. Sie ging ihren nächtlichen Weg am Strand, die zwei Gewalten gingen mit ihr. Die Nacht war hell. Strauch und Baum hatten den Grundton ihrer Farben noch behal ten, und selbst die Konturen ferner Baumgruppen schmiegten sich weich an den Himmel. Das Meer war größer in der hellen Nacht. Sie setzte sich auf ihre Bank, die am Rande der hohen Klippe stand. Ihr Kopf fiel vor Erschöpfung in den Nacken. Es war zuviel. Sie brauchte Hilfe, eine Hand. An lehnen an Konstantin. Die kraftlosen Lippen zuckten. Die Liebe, die kein Mittel scheut, benutzte diese Kampfpause, um die Erschöpfte zu verführen. Lydia lehnte sich hin an Konstantin, der neben ihr auf der Bank saß. Es gab kein Grauen, denn Konstantin war nicht ihr Bruder. Er erklärte ihr genau, weshalb er ihr Bruder gar nicht sein könne. „Würden wir sonst einander so grenzenlos lieben? Unmöglich!“ Das war überzeugend. „Da ich dich liebe. Konstantin, kannst du ja gar nicht mein Bruder sein . . . Wie wunderbar einfach das ist!“ Sie überließ sich dem strömenden Gefühl in seinen Armen, sie küßte die haarfreie Stelle hinter seinem Ohr. Jeder Widerstand verging. Auch in dieser Minute gestohlenen Glücks fand Lydias Wesen seine Gebärde, da sie in ihrer schönen und so eigenen Art den Kopf ein wenig neigte, ein wenig seit wärts, und den vor ihr knieenden Geliebten ansah, mit einem Frauenblick, in dem das Glück die Scham besiegte. „Ich wollte mich dir ja gar nicht zeigen.“ Sie legte seine Hand auf ihren Leib, damit er die Bewegungen des Kindes fühle. „Noch zwei Monate wollte ich dich nicht sehen, mein Geliebter. Aber wer hält das aus!“ sagte sie glatt heraus und gab damit dem Gespräch die Wendung zur Einfachheit und Wärme. Seine tastende Hand fand das Kind, er hielt dabei den lauschenden Blick in ihrem Blick. „Es bewegt sich. Jetzt bewegt es sich.“ „Ist das schön?“ Sie sah die Freude in seinen Augen. „Wen wirst du mehr lieben – das Kind oder mich?“ Da war es wieder, ihr zauderndes Lächeln, das er mit den Lippen einfing und in Glück verwandelte. Widerstandslos versank sie unter seinem Kuß, und in der Hingabe wurden ihre Au gen tränennaß, Liebe und übergroße Sehnsucht siegten in der Maske der Selbstbe lügung. Aus dem schwarzen Nichts hervor schoß fernher eine dünne, unerträglich weißglühende Linie auf Lydia zu – hochgerissen in die plötzlich wiederkehrende grauenvolle Vorstellung, dem Bruder gehört zu haben, stieß sie ihn von sich und fiel zusammen am Rande der hohen Klippe. Sie wußte, daß sie nur die aufgestützte Hand wegzuziehen brauchte, um zwanzig Meter tief hinunterzustürzen. Der Kampf zwischen den zwei gleichstarken Gewalten hatte wieder begonnen. Daß dieses dunkle Etwas nicht faßbar, nicht zerlegbar, in seinem Ursprung und Ge 92
halt nicht zu erklären war, verlieh ihm die überwältigende Macht. Es war einfach da, ungeheuer mächtig da: ein Gefühl des Grauens, unvergleichlich stärker noch als Ekel und Abscheu. Ein Gefühl! Da halfen Kopf und Worte nicht. Er war ihr Bru der, und sich ihm hinzugeben war unmöglich. Dennoch hat sie es getan, sie hat es ja soeben getan! Aber sie hat sich dabei selbst belogen, daß er nicht ihr Bruder sei . . . Soll doch einmal wagen, sich ihm als Schwester hinzugeben, sich dem Bruder, dem Bruder hinzugeben! Soll es doch tun, wenn sie kann, der Hand des Bruders ihre Brust zu überlassen und ihren Mund sei nem Kuß! Er beugte sich über sie. In krasser Entschlossenheit gab sie dem Bruder Brust und Mund. „Nimm! Nimm! Nimm! . . . Tier! Du Tier! Zerstörst mich! . . . Zerstöre mich!“ Und wenn sie sterben muß vor Grauen – sie hielt sich hin. Der Kopf hielt dabei Wa che, damit die Lüge sich nicht wieder einschleichen konnte. Geschüttelt von Grau en, gab sie in wilder Umarmung dem Bruder den Kuß zurück. Wie einen Ort des Verbrechens verließ sie die Klippe: ein anderer Mensch noch als Minuten vorher. Der Weg durch den Wald zur Villa war dunkel. Sie war allein. Ihr Gefühlsgebilde hatte sich verändert, die Kräfteverteilung war anders geworden, sie hatte ihrer Liebe die todesbereite Entschlossenheit zugesellt, dem Grauen zu trotzen, der Kampf war realer geworden. Sie hat es getan, es war geschehen. Schadenfreude beschleunigte ihren Herz schlag. Sie wußte nicht, was nun sein werde. Es war auch ganz gleich! Der Tod blieb ihr immer noch. Selbst ihre Bewegungen waren anders geworden, schneller, bestimmter: Eine Frau im Kampf, entschlossen und bereit, um ihrer Liebe willen in Ekel und Verachtung vor sich selbst zu vergehen. Das Kind? Gleichgültig! Sie wird es zur Welt bringen. Am folgenden Morgen traf sie die Vorbereitungen zur Abreise nach Berlin in die Kli nik. Mittags fuhren sie. Das Grauen reiste mit. Lydia saß auf dem Verdeck neben Marie. Der Bauchredner, der im Rundfunk-Laut sprecher steckte, erfreute einen Teil der Passagiere; die andern flüchteten zur äu ßersten Spitze des Schiffes und ertrugen lieber die Sonnenglut. Lydia hörte nichts. „Das schadet Ihnen aber sehr, wenn Sie nicht essen. Gestern abend nichts, heute kein Frühstück und Mittag wieder nichts! Das Kind kümmert sich nicht darum, das kümmert sich um gar nichts, es nimmt sich die besten Säfte der Mutter, das Kind findet schon, was es braucht; aber das geht eben dann alles an Ihnen herunter, wenn Sie nicht nachhelfen.“ „Woher weißt du denn das so genau, Marie?“ „Ich hatte ein Kind, bevor ich zu Ihnen kam“, sagte sie so einfach, als hätte sie ge sagt: Ich hatte ein Kind. „Da begreift man schon manches . . . Nur eines versteht man nicht, nämlich, daß plötzlich ein Kind da ist und schon alles hat, fix und fertig mit Zehen, Augen, Fingernägeln. Also, das ist einfach unbegreiflich und ein Wun der.“ „Und wenn der Mutter schwer ums Herz ist, während sie es trägt? Wirkt auch das nicht auf das Kind?“ Hat sie es wirklich gefragt? Wirklich? Staunend über das Interesse, das sie spürte, 93
wartete Lydia auf Antwort. „Ach, diese Dummheiten, die gehen ja gar nicht bis zum Kind. Das hat andere Sor gen. Um diese Dummheiten kümmert die Natur sich nicht bei ihrer Arbeit. Aber schaden kann Fröhlichkeit natürlich nie.“ Gewiß nicht! dachte Lydia. Aber man muß ja nicht gleich fröhlich sein wollen. Die se über Nacht gewonnene Festigkeit, die ihre Ursache fühlbar in dem wunder hat te, das sich in ihrem Leibe vollzog und sich unwiderstehlich in ihrem ganzen Körper ausbreitete, stärkend und wohltuend, war auch schon sehr gut. Am liebsten würde sie das unerforschlich dunkle Etwas eine Zeitlang gar nicht mehr beachten, sondern sich nur dieser wohltuenden neuen Lebensfestigkeit über lassen, obgleich gerade die es ihr vielleicht ermöglichen könnte, dem Grauen kraftvoller zu begegnen. Die Liebe und die Sehnsucht nach Konstantin hielten sich listig im Hintergrund und überließen das Kampffeld der Natur. Die arbeitete machtvoll an ihrem Werk, das in zehn Tagen fertig sein mußte, kümmerte sich nicht um das Grauen und arbeitete damit zugleich für die Liebe. Hebammen und Pflegeschwestern, rosig und immer lächelnd, schwirrten durch die Klinik, jeden Tag und jede Nacht wurden einige Kinder ans Licht befördert, unter Schmerzensschreien, die durch die gepolsterten Türen drangen; geisteskrank ge wordene Väter standen in den Gängen umher, lernten das Warten, ihre Fragen wurden von der Hebamme immer mit demselben Lächeln beantwortet; junge Müt ter, entkräftet, weiß wie die Betten, in denen sie lagen, lauschten beseligt dem ersten Wimmern der Neugeborenen, hier wurde gelitten, gehofft und geboren, und alles Denken und Fühlen, jedes Interesse, jedes Lächeln galt demselben Gegen stand. Dieser Stimmung, die das ganze Haus erfüllte, konnte auch Lydia sich nicht entziehen. Die Natur war am Werk und war stärker als das Grauen. Nur in den Pausen zwi schen den Wehen kroch es hervor; aber die Bitternis, sich nicht freuen zu können auf das Kind, verging im reißenden Schmerz der neuen Wehe. Im weißgestrichenen Kreißzimmer standen nur eine weißüberzogene Ottomane, ein weißer Instrumententisch und ein weißer Waschtisch. Auch Lydia was weiß und Ärzte und die Hebammen waren weiß. Alles weiß. Nur die Schmerzen hatte starke Farben, alle Farben, durch die hindurch Lydia manchmal noch ein Lächeln schick te, um sich und den andern ihre Tapferkeit zu beweisen. In diesem kleinen Zimmer, das so harmlos und adrett aussah, war schon viel gelit ten worden. Schon manche Frau hatte sich hier drei Tage und drei Nächte in We hen gewunden. Manchmal ging es schnell. Den Tag vorher war eine Frau vorgefah ren, um in der Klinik zu gebären, und als sie aus dem Auto herausgehoben wurde, hielt sie ihr Kind schon in den Händen. Lydia lag vierundzwanzig Stunden in Wehen, sie wollte niemand mehr etwas bewei sen, auch der Hebamme gelang ihr Berufslächeln nicht mehr, und der Arzt überleg te schon, ob er mit dem Eingriff noch warten könne, ohne Lydia zu gefährden. Es kam die Minute, da von der schnellen Entschlußfähigkeit und der sicheren Hand des Arztes Tod und Leben von Mutter und Kind abhingen. Lydia wurde in den Ope rationssaal getragen: ein einziger wildester Schmerzensschrei, so lang wie der Atem reichte, wurde durch den Gang getragen. 94
Angesichts des Todes und des Lebens schämt der Mensch sich nicht; Lydia schrie. Sie schrie mit der ganzen Kraft, die sie noch hatte, und sie hatte doch schon keine mehr. Ihre Kraft hatte der Schmerz aufgebraucht. Aber sie lebte noch, sie schrie noch, sie suchte im wütenden, glühenden Schmerz nach einer anderen Kraftquelle, da sie selbst schon ganz entkräftet war, sie schrie: „Für dich, Konstantin, für dich!“ Sie entlieh Kraft bei ihm, Sie schrie, während der Schmerz sie zerriß: „Für dich! Für dich!“ Sonst wäre sie gestorben. Instrumente blitzten. Befehle. Schnelle Handreichungen. Schweißtropfen rollten am Gesicht des Arztes herunter, und über die rosigen Wangen der Hebamme, die seit zwanzig Jahren täglich Kinder zur Welt kommen sah, rollten die Tränen. Die Gefahr war groß, der Arzt fluchte, ein Frauenkörper bäumte sich und verzuckte erst, als der Arzt, ein Gegner der Narkose bei Geburten, angesichts dieser Schmer zen schließlich dennoch die Narkose gab. „Bist du da, Konstantin? Bist du da? . . . Du bist da!“ Die Hebamme hielt das Kind in den zitternden Händen. Eine Stunde nach der Ent bindung durfte Marie ins Zimmer, sie schlich, erstarrend vor dem Anblick, mit Un terbrechungen ans Bett. Lydias Lider waren schon geschlossen, die Haare schweiß verklebt. Das ganze Gesicht, grau und fleckig, zuckte, und der kraftlos geöffnete Mund wimmerte im flackernden Atem: ein zerstörter Mensch, dem zuviel gesche hen war. Aufweinend stürzte Marie in die Kniee und flüsterte kleine Liebesworte, immer neue, immer wieder, als wollte sie Lydia beschwörend ins Leben zurückrufen, und drückte dabei ihre Lippen immer wieder auf die schweißnasse Hand. Die Narkose wirkte noch etwas nach: das konnten nur Konstantins Lippen sein. „Für dich, Konstantin, nur für dich!“ wimmerte der zuckende Mund, der das Wort „Kon stantin“ nur silbenweise formen konnte. „Bleib bei mir! Bleib bei mir!“ Sie lebte noch nicht wieder aus eigener Kraft. Ihre Lider hoben sich. Das war ein Blick, den Marie nie vergaß. Der Mund verzog sich klagend wie der eines weinenden Kindes. „Was hat man mir getan?“ Marie konnte nur die feuchte Hand küssen. „Jetzt ist es vorüber.“ „Bleib bei mir, Konstantin, mein Konstantin!“ „Ja, ich bleib da.“ „Für dich! Für dich!“ Und Konstantin ahnte nicht, was hier für ihn geschehen war und noch geschah und für ihn ertragen werden konnte von seiner Frau, weil sie ihn liebte. Die nächsten Tage durfte Lydia sich nicht bewegen. Ihr Gesicht wurde wieder ein Menschengesicht. Aber sie schien noch nicht zu denken, nichts zu empfinden, es war zu schwer gewesen. Für die Handreichungen dankte sie nur mit abwesendem Blick. Für das Kind, das in der Zimmerecke in einem Körbchen lag, hatte sie anfangs überhaupt kein Interesse, und als sie nach einigen Tagen wieder etwas zu Kräften gekommen war, empfand sie nur Widerwillen und Abscheu. Sie weigerte sich, ihm die Brust zu geben, die Milch mußte ihr entzogen und dem Kind mittels der Flasche gereicht werden. Konstantin war ihr nahe, diese Nähe war ihr Besitz. Sie hatte das das haltbare ge sunde Gefühl, sich Konstantin verdient zu haben. Und sie wird ihren Besitz gegen 95
die ganze Welt verteidigen und auch gegen das Grauen, wenn es wiederkommen sollte. Wenn nur dieses entsetzliche Kind nicht wäre! Sie hatte es noch nicht angesehen. Als der Arzt zu ihr kam und in seinem berufsmäßigen Optimismus frisch und leben dig rief: „Na, was sagen Sie jetzt zu Ihrem Jungen, ist doch prachtvoll, was?“ lä chelte sie höflich. Und als er das Kind heraushob und es zu ihr legen wollte, wich sie abwehrend zurück und schloß die Augen. „Aber hören Sie mal! So ein reizender Kerl! Ein tadelloser Junge, sag ich Ihnen!An dere Frauen wären überglücklich . . . Wem sieht er eigentlich ähnlich?“ Marie war überglücklich, sie wich Tag und Nacht nicht vom Körbchen. „Augen, Stirn und Kopfform, die Form des Köpfchens sind von seinem Vater, auch die Haa re, die blonden Härchen!“ Das hörte Lydia, sie wandte sich um, sah aber das Kind auch jetzt nicht an; sie bat den Arzt um ein bestimmtes Buch, ein wissenschaftliches Werk, dessen Titel sie nicht genau nennen konnte. „Können Sie haben, es steht in meiner Bibliothek . . . Ja, da müssen wir ihn eben mit der Flasche aufziehen. Schade! Muttermilch wäre besser für ihn, und Sie haben genug davon. Na, wie wär´s? . . . Sehen übrigens glänzend aus. Die ganze Schön heit ist wieder da.“ „Das ist gut, Herr Doktor, das ist sehr gut . . . Kann ich das Buch gleich haben?“ „Aber Sie dürfen am Tag nur zwei bis drei Seiten lesen! Sie müssen noch Ruhe ha ben.“ Das versprach Lydia und las das dicke Werk in einem Zug. Am Abend wußte sie, daß bei einem Kind aus demselben Blut die Eigenschaften der Geschwister sich verdop peln. Sie sagte vor sich hin: „Im großen und ganzen ist das also so: Haben Bruder und Schwester dieselbe Krankheit, dann erscheint sie verstärkt, verdoppelt in ih rem Kind wieder. Das ist die Gefahr. Aber auch die guten Eigenschaften verdoppeln sich.“ Sie strich mit der Hand über das Buch. „Krank sind wir einmal nicht. Wir sind ganz gesund.“ Dann dachte sie an die guten Eigenschaften, die sich in dem Kind verdop peln würden. Sie fand bei Konstantin sehr viele gute, wundervolle Eigenschaften. Darüber schlief sie ein. Er war bei ihr. Nachts war das Kind nicht bei Lydia im Zim mer, es wurde immer erst morgens hereingebracht und von Marie gewaschen, frisch gewickelt und wieder schlafen gelegt. Die Stimme hatte Lydia noch nicht ge hört. Das Kind war besonders still und schlief zweiundzwanzig Stunden am Tag. Nichts war vorbereitet gewesen. Marie ging fort, um die kleinen Hemdchen, Woll schuhe und Jäckchen zu besorgen. Lydia hatte gut und lange geschlafen und sich im Spiegel dann selbst davon über zeugt, daß der Arzt recht hatte; ihr Aussehen entsprach ganz ihrem angenehmen Körpergefühl. Sie gefiel sich, und sie hatte an diesem Morgen das körperlich spür bare Empfinden, reich zu sein an Lebenskraft, sie war so ruhig und ausgefüllt und so sicher, als brauchte sie nur Ja zu sagen, damit das Leben wieder neu begänne. Sie stand vor einem neuen Anfang und leistete sich den Genuß, noch nicht anzufan gen. Ein schlechtes Gefühl wegen des Kindes braucht sie also nicht zu haben. Das hat ganz gute Eigenschaften mitbekommen. Interesse hat sie zwar nicht für das Kind, 96
aber auch keinen Abscheu mehr. Abscheu hat sie eigentlich nicht. Es ist ihr ganz gleichgültig. Sie griff wieder nach dem Handspiegel und zupfte ihr Haar zurecht, das schon ge waschen war. Das Auge war klar. Das wäre also erledigt, das mit dem Kind. Jetzt kann sie sich wieder um die Hauptsache kümmern. Sie braucht ihm nur zu schrei ben oder zu telegraphieren, oder ihn telephonisch anzurufen – er war doch sicher in Zürich -, sie kann auch noch warten. Viele Möglichkeiten! Sie kann auch zu ihm fahren. Sie war reich, sie hat die Wahl. Wie eine Frau, die einen ganzen Schrank voll neuer Kleider besitzt. Es war so schön zu wählen, recht lange zu wählen. Sie spielte mit den vier Möglichkeiten wie mit vier großen, ungefaßten Edelsteinen. Hinfahren, plötzlich zu ihm ins Zimmer treten – hinein in seine Arme und kein ein ziges Wort sagen! . . . Und das Grauen, da er doch ihr Bruder ist? Wieso war das Grauen nicht mehr da? Sie hat doch nichts dagegen getan! . . . Ach, wenn er jetzt da wäre, der Geliebte, wenn er jetzt da wäre! Wie würde sie sich von ihm küssen lassen! Oder hatte sie doch etwas dagegen getan, damals auf der hohen Klippe? Da hatte sie sich in Gedanken dem Bruder hingegeben und war nicht vergangen vor Grauen, nein, nicht vergangen. Siegt die Liebe über alles, wenn der Liebende mutig ist? Sie will gar nicht mehr darüber nachdenken. Dieses Gefühl der Festigkeit und ruhigen Sicherheit war wunderbar, wie wenn ein goldener ring in ein Glas Wasser fällt und sofort auf den Grund sinkt. Wie anders war sie! Sie fühlte die Veränderung ja in al len Gliedern. Ganz ruhig und sicher, viel fester stand sie im Leben. Konstantin und sie waren natürlich allein auf der Welt, ganz allein; aber dafür war das Glück auch viel, viel größer, es war heimlich. Sie schloß die Augen. Zuerst drang das dünne Weinen des Kindes, obwohl sie es hörte, gar nicht in ihr Bewußtsein, so hingenom men war sie von der Fülle des Gefühls, zu dem auch dieses dünne Weinen gehörte. Erst als es stärker und kläglicher wurde, schlug sie die Augen auf und lauschte. Tags zuvor, in einer guten ruhigen Stunde, hatte Marie plötzlich gesagt: „Herr Kon stantin ist in einem furchtbaren Zustand. Ganz eingefallen! Er sieht zehn Jahre äl ter aus. Unbegreiflich, daß Sie ihm das antun!“ da war die listige Liebe ins Mitleid geschlüpft und hatte sich in dieser Maske breit niedergelassen in Lydias Herz. Jetzt schlüpfte die Mutterliebe ins Mitleid und erreichte auf diese Weise Lydias Herz. Sie wandte den Kopf. Dort, in der Ecke, stand ein fahrbares, weiß überzogenes Körbchen, sie konnte nicht hinsehen, der Rand war zu hoch. Nichts anderes mehr war auf der Welt als dieses klägliche dünne Weinen. Sie lauschte bewegt. Immer neue Wellen des Mitleids stürzten stürmisch durch sie durch, bis die Liebe wie eine Blüte aufsprang in ihrem Herzen. Vielleicht hat es Hunger? Marie war nicht da. Das kam alles scheinbar ganz von selbst – wie das Grauen scheinbar ganz von selbst vergangen war: Sie stand auf. Drei Schritte bis zum Körbchen, zögernd noch, ein wenig ängstlich, wie man sich dem ganz großen Glück nähert. Dann sah sie es, das wohlgeformte Köpfchen im Profil, das kläglich und vorwurfsvoll verzogene Mündchen. Zwei Hände, bebend und noch ungeschickt, hoben das Kind allzu sorgsam heraus. Das Herz schlug hoch, heiße Augen blickten. Tausend Einzelheiten, jede unbegreif lich zauberhaft, kann man nicht auf einmal sehen. Sie mußte etwas sagen. Sie mußte! „Ach, mein süßes, süßes, süßes Kindchen! Ach, mein Purzelchen!“ Sie trug 97
ihre Beute ins Bett. Das war nun doch des Unbegreiflichen zuviel! Kaum hatte sie das Hemd über die Brust zusammengestreift, drängte das Mündchen stürmisch heran und griff zu, sto ßend und saugend. Daß es das schon konnte! Daß es das schon konnte! Täuschte sie sich? Oder war das Wirklichkeit? Sie täuschte sich nicht: Die wunder bar geschnittenen kleinen Blauaugen blickten beim Saugen zwischendurch zu ihr hoch, verständnisinnig, als sagten sie: Jetzt ist alles richtig. Es war zuviel! Das Glück der ganzen Welt lag in ihrer Brust. Wie sollte da noch ein Gedanke, ein Bedenken entstehen können! Es gab kein Grauen auf der Welt; es gab nur Glück und Frieden, wunderbaren Frieden. Wie sie die Augen schloß, klingelte ein Glöckchen in ihr, ein Wiesenabhang, blu menübersät, tat sich in ihr auf. Sonne, weißgekleidete kleine Mädchen. Sie lausch te diesem tiefen, einfachen Frieden, sie gab sich der rinnenden Süße des saugen den Mündchens hin. „Glück!“ flüsterte sie. „Glück!“ Aber da eine Mutter an ihrem Kind unvergleichlich viel mehr zu entdecken hat als Kolumbus nach dem Betreten Amerikas, mußte sie die Augen wieder öffnen und sich überzeugen, daß ihr Kind Ohren hatte, die fest angepreßt waren, und Finger nägel, winzig, rosig und gewölbt. „Ja, Härchen hat es auch schon.“ Und wenn sie ganz scharf hinsah, konnte sie auch Augenbrauen entdecken. Und mußte die Augen doch wieder schließen, als die unruhige kleine Hand rück sichtslos gegen die Milchgefüllte Brust stieß, denn dies war wieder zuviel des Glücks. Marie, die leise eintreten wollte, schlich wieder hinaus auf den Flur. „Jetzt wird alles gut.“ Sie wunderte sich nicht, als Lydia am Nachmittag um Papier und Feder bat, sie wußte, an wen der Brief ging. Schon die Anschrift war schwer. „Lieber Konstantin?“ Nein! So einfach ging das nicht. Lydia mußte erleben, daß es etwas ganz anderes war, nur in der Vorstellung mit Konstantin glücklich zu sein, als zum ersten Male durch einen Brief wieder die direkte Verbindung mit ihm herzustellen. Das war schon eine Art Wirklichkeit, und die wog schwer. Eine Schar vordrängender, verschiedenartigster Gefühle wollte mitgeteilt und erklärt und viel Unerklärliches wollte in Worte gefaßt werden. Auch war sie nicht mehr die Frau, die vor sechs Monaten, sechs Menschenleben, Konstantin verlassen hatte. Viel hatte sich seither ereignet. Sie war durch einen Abgrund der Finsternis gezogen, machtlos ausgeliefert den Tollwut-Ungeheuern der menschlichen Seele. Und nun lag sie da in der Sonne, befreit und bereit, und ver mochte den Brief nicht zu beginnen mit dem einfachen Wörtchen: „Mein Geliebter!“ Unterdessen saß Konstantin wie seit Monaten untätig am Schreibtisch in Zürich und wartete und dachte und starrte die Maserung der Schreibtischplatte an. ER kannte schon jede Ader des Holzes. Er dachte und dachte, er dachte an Lydia. Er neigte den Kopf tief auf die Schreibtischplatte, in deren Maserung er an einer bestimmten Stelle das Gesicht der Geliebten hineinsehen konnte. Lydia griff nach einem frischen Briefbogen. Sie schloß die Augen und sprach mit Konstantin, das war wunderbar, da konnte sie leicht sagen: „Mein herrlicher Ge liebter!“ Und seine Antwort war beseligend. Als sie aber von neuem den Brief be gann: „Mein Geliebter!“ war diese Anrede ganz unmöglich. 98
Da gab sie dem Glück resolut die Feder in die Hand und überließ es ihm, den Brief zu schreiben. Aber als sie ihn durchlas, schien er ihr eine Verfälschung zu sein. Der Unterbau des Leides fehlte. Sie kann ja die Anrede weglassen. Sie braucht überhaupt nicht zu verraten, wie glücklich sie jetzt war. Sie wird zunächst einfach nur erzählen, was sie in den sechs Monaten erlebt, gedacht und erlitten hat. Das war leichter als hinzuschrei ben: „Mein Konstantin!“ Wie soll das erst werden, wenn sie ihn wiedersieht? Bei dieser Vorstellung inner halb der Vorstellung überflog sie der kalte Schauer, und Angst nahm ihr den Atem. Kann sie es nicht? Ist es ihr nicht möglich, in der Wirklichkeit seine Geliebte zu sein, die Geliebte des Bruders zu sein? Schon vor der nur vorgestellten Wirklichkeit schrak sie zurück? Wie wird es dann erst in der Wirklichkeit selbst sein? Wie wird es ihr ergehen? Was wird geschehen? Sie erbebte bis auf den Grund ihrer Seele wie ein stolzes keusches Mädchen vor der Hochzeitsnacht. „Ich habe Sie in Triest verlassen, weil . . .“ Sie kam nicht weiter. Ganz gleich, was sie schrieb – die Tatsache allein, daß sie an ihn schrieb, war gleichbedeutend mit ihrer Bereitschaft, wider mit ihm zu sein. Das wird er sich sagen, wenn er einen Brief von ihr bekäme. Oder soll sie ihm mitteilen, daß sie ihn nie wiedersehen werde? Dann braucht sie ja gar nicht zu schreiben! . . . Aber er tut ihr doch so leid, so schrecklich leid. Er soll ja in einem entsetzlichen Zustand sein. Zehn Jahre älter! . . . Wenn sie ihn nur einmal, nur ein einziges Mal, wenn sie ihn sehen könnte! Noch zu dick? Sie stand sofort auf, schlüpfte in den Morgenmantel und ging hinaus, um sich zu wiegen. Nur die Hüfte! Nur die Stelle über der Hüfte war noch etwas zu dick. Sie prüfte ge wissenhaft. Mindestens noch zwei Kilo muß sie abnehmen. Jedenfalls darf er sie noch nicht sehen. Ihre Adresse darf er also auf keinen Fall er fahren und auch nicht den Ort, wo sie war. Sonst käme er sofort. Sie muß erst ab nehmen. „Sie wußten doch schon vier Wochen früher als ich, daß Sie mein . . .“ Sechs zusammengeknüllte Briefbogen lagen schon auf der Bettdecke. „Obgleich Sie wußten, daß . . .“ „Mein Herr! Wie konnten Sie sich erlauben, mir vier Wochen lang zu verschweigen . . .“ Sofort fühlte sie, daß dies die Form war, in der sie an ihn schreiben konnte. Vor würfe! Denn er hat schlecht, ja, er hat sogar gemein an ihr gehandelt. Sie redete sich in Zorn hinein. Und da, plötzlich flog die Feder. Mit dem Hinschreiben der einfachen klaren Wahrheit, „Ich liebe dich, komm zu mir!“ hätte sie ihm ihren vielgestaltigen Gemütszustand nicht übermitteln können; in dem Gestrüpp der Vorwürfe, aus dem manches versteckte Liebeswort hervor blitzte wie Erdbeeren aus grünem Blattgewirr, vermochte sie die zusammengeball ten, aufgespeicherten Erlebnisse dieses halben Jahres noch am ehesten zu schil dern und sich vom Herzen zu schreiben. Schon hatte sie, am Schluß des Briefes, die Feder angesetzt zu dem Satz, daß nun unglücklicherweise auch noch ein Kind da sei, da erschrak sie in Ehrfurcht vor dem teuren Wesen. Versündigung! Das darf sie nicht schreiben. Das nicht! Das Kind war 99
kein Unglück; das Kind war ja das unfaßbar große Glück. Von ihm schrieb sie lieber gar nichts. Sie adressierte den Brief an eine Bekannte in Frankfurt am Main, die ihn weitersen den sollte. Marie trug ihn durch das gewundene Stiegenhaus hinab, über die ver schneite sonnige Straße zum Briefkasten. Sie horchte auf das Geräusch, als er hin einfiel. Auf dem Hauptpostamt abgestempelt und sortiert – unter Millionen einer! Er ging nicht verloren, er machte seinen Weg durch die Hände der Bekannten nach Zürich, während Konstantin am Schreibtisch saß, angeschraubt, blicklos starrend in den öden Garten, dessen schwarze, nasse Äste nach dem Reglosen griffen und mit ihm verwuchsen. Versteckt zwischen Zeitschriften, einem Dutzend Reklameschreiben und dicken Automobilkatalogen kam er an. Stephan drehte das dünne, längliche Briefchen oft und immer wieder um, wog es in der Hand, roch daran, er fühlte et was. Das Format! Dieses Format! Ein Geschäftsbrief war das nicht. Und welcher Mann benutzt ein so langes Format, bei dem der Bogen dreimal gefaltet werden muß! Stephan kannte Lydias Handschrift nicht. Aber Konstantin kannte sie. Das war ein Blick, den Stephan nie vergessen sollte: Konstantin schnellte zurück wir vor einem plötzlich gezückten Messer, der Brief fiel zu Boden. Japaner springen beim Baden aus eiskaltem Wasser in dampfend heißes, die können das. Konstantin konnte das nicht. Der Brief mußte zuerst noch einmal tausend Kilometer zurück und sich dann erst langsam wieder nähern. Unterdessen hatte Stephan ihn aufgehoben und Konstantin gereicht, er legte ihm dabei die Hand auf die Schulter, sprach aber kein Wort; nur sein freundschaftliches Herz sprach aus seinem Blick. Fragend, ob das möglich sei, sah er Stephan an. Ein Irrtum hätte ihn getötet. Ste phan trug sein stilles Gesicht aus dem Zimmer, als Konstantin den Brief ungeöffnet auf den Schreibtisch legte. Allmählich näherte sich der Brief. Welche Minuten und welche Stelle auf der Welt waren wert, Zeugen zu werden? Mußte er erst hinaus in den Garten und sich drei mal vor dem Leben verbeugen, bevor er den Brief las? Jetzt kam der Brief an, er kam an, dort lag er, lang und schmal. Zu lesen bräuchte er ihn gar nicht. Ganz gleich, was darin steht: Erstens lebte sie noch, und zweitens hatte sie an ihn geschrieben. Er weiß,oh, er weiß, was das be deutet. Ermorden müßte er denjenigen, der es wagen würde, ihm für ein Wort aus diesem Briefe die Schätze er Welt anzubieten. Denn er muß jedes Wort, jedes einzelne Wort tausendmal lesen. Der Angler braucht ruhe, sonst fängt er keine Fische . . . Daß sie ihren Stolz überwunden hatte! Ihren unbändigen Stolz! Daß sie geschrieben hatte! Plötzlich wollten Tränen hoch, und alles war blau verschleiert, während er las. „Mein Herr!“ Er lächelte verzückt, und dabei stieß ihn das unterdrückte Weinen. „Ach, Lydia, stolzes Wesen!“ Und wie wird er seinen Antwortbrief beginnen? „Mein Lydia, teure Gemahlin!“ „Wie konnte Sie sich erlauben mir vier Wochen lang zu verschweigen, daß Sie mein 100
Bruder sind! Gemein! Sie sind gemein!“ Ihn wollte das Glück zersprengen. Er mußte sprechen, er brauchte jemand. „Ste phan, Stephan, sie beschimpft mich.“ Er riß das Fenster auf und schrie hinaus in den Garten: „Sie beschimpft mich, hörst du, Stephan, sie beschimpft mich.“ „So?“ sagte Stephan und sah nicht klug aus. „Sie schreibt, ich sei gemein“, flüsterte er, durchweht von Zärtlichkeit, und riß sie zu sich, schützend in seine Arme. Mit beiden Händen hielt er ihren Kopf fest an sich, er fühlte ihren Atem und ihre flatternden Wimpern berührten seine Handflä che. Jetzt nicht mehr, jetzt hat sie das Auge geschlossen, jetzt ruht sie, jetzt kann er weiterlesen. Eine Stelle hatte Lydia durchgestrichen, und dann hieß es: „Sie kamen zurück aus Zürich, wo Sie alles erfahren hatten, und trieben dieses schamlose Spiel mit mir, als ich außen auf dem Balkon stand. Oh, wie gemein Sie sind!“ War aber doch noch lesbar, der durchgestrichene Satz hatte genauso gelautet wie der nachfolgende, nur hatte zuerst „Du“ geschrieben - „Du kamst zurück nach Zü rich . . .“ Das „Du“ war besonders energisch vernichtet. Und schon beim nächsten Satz war ihr Herz wieder mit dem Wörtchen „Du“ durch gegangen: „Das werde ich Dir nie vergessen.“ Aber er brauchte diesen Beweis nicht, er brauchte keinen Beweis mehr, er wußte alles. Zum Schluß teilte sie ihm mit, daß es keine Zweck habe, sie in Frankfurt zu su chen, wenn ihm das etwa einfallen sollte, denn sie sei woanders. Aus dem verfallenen Mann erhob sich ein Siebenundzwanzigjähriger, der nicht wußte, wohin mit seinem Glück und seiner überschüssigen Lebenskraft. Etwas muß te geschehen! Arbeiten konnte er nicht. Jetzt nicht! Aber es mußte etwas gesche hen. Zunächst las er drei Tage lang den Brief. Er wußte ihn auswendig. Er las und las. Jeder Buchstabe, jeder Haken war ihm teuer. In der Vorstellung, beim Lesen, sah er Lydia in Triest. Etwas mußte geschehen. Er fuhr nach Triest. Dort nämlich war er zuletzt mit Lydia gewesen. In Triest setzte er sich ans Steuer seines Wagens, der sechs Monate in der Hotelga rage gestanden hatte, und fuhr ihn heim, in rasendem Tempo durch Nacht und Wald, ohne Unterbrechung hinein in den aufsteigenden Morgen, sechsundzwanzig Stunden lang auf der Landstraße hin wie ein Geschoß: ein vom Glück Besessener, der Kraft verschwenden mußte, um den Verstand nicht zu verlieren. Und dann wurde in der Villa gearbeitet wie in einer Fabrik. Untätig sitzen und war ten konnte er nicht, die Unruhe hätte ihn aufgefressen. „Nur mit ruhe fängt man Fische, der Angler braucht Ruhe“, sagte er sich zwischendurch immer wieder. Die Schreibmaschine klapperte wochenlang bis in den frühen Morgen hinein. Lydia war dabei, Tag und Nacht.
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ACHTES KAPITEL
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Der Bote mit der roten Tasche an der Seite sprang vor der Villa ab und schob sein Rad in den Garten, der maifeucht in der frühen Morgensonne lag. Konstantin nahm selbst das Telegramm entgegen, ging ins Haus und bat, seine Koffer zu packen, er verreise auf längere zeit. Dann erst öffnete er das Telegramm, das nur den Namen der Insel im Adriatischen Meer enthielt. Sein Gefühl glich einem mächtigen Chorgesang aus dem eine Jubelarie hell empor steigen wollte. Um sich zu bewegen nach dieser getragenen Melodie hätte er Schlittschuhe an den Füßen haben und weitausgreifende Bogen langsam fahren müssen. Er bewegte den Oberkörper, als er durchs Haus ging, ein wenig in dieser Weise, damit die Jubelarie nicht zu frühzeitig anhub. Wie leicht, wie schön und wunderbar plötzlich das Warten war – für den, der wuß te, daß die Erfüllung sicher kam und dann mit Sicherheit ein ganzes Leben währen werde! Zuerst einmal dieses köstliche Warten genießen! Im Geist zog er auf Papier zwei horizontale Bleistiftlinien, einander entgegen und aneinander vorüber: Lydia ent gegen und zuerst einmal an ihr vorbei, wie sie an ihm, und dann erst in steiler Hö henschleife mit ihr zusammen in einem blauen beseligenden Immer. Dieses Glück war nicht in brennenden Liebesnächten auszuschöpfen, in die tiefsten Geheimkammern führten nur die kleinen Täglichkeiten. Schon ein Blick enthielt das Ganze. Lydia nahm diese Dichtigkeit vorweg. In gehobener Ruhe bereitete sie sich auf das Wiedersehen vor. Sie wußte, daß kein Wort der Erklärung nötig sein werde. Es gab kein Hindernis mehr. Und auch des Stolzes bedurfte sie nicht mehr. Das Schicksal hatte eine lebensgefährdende Tatsache geschaffen, die durch die große Gewalt der Liebe in Glück verwandelt worden war. Dennoch pochte das Herz in Scheu vor dem großen Wiedersehen stärker und überließ sich zwischendurch immer wieder der pochenden Sehnsucht nach dem Wiedersehen. Sie trug ihre Sehnsucht nach dem Geliebten hinüber ins Kinderzimmer, zu dem kleinen Mann, drei Monate alt, der schon lachen konnte und dabei die Beinchen in die Strecke stoßen mußte, um die allerhöchste Tonlage erreichen zu können. Hier zeigte es sich, daß zwei ganz verschiedene Arten des Glücks zu gleicher Zeit in einem Herzen Raum finden. Sie mußte ihn hochheben und das Köpfchen an ihre Wange drücken. „Mein Kind, ach, mein Kind!“ Und es war ihr gegeben, die unnennbare rieselnde Süße dieses Glückes zu erleben und dabei gleichzeitig Konstantin, der vor ihr stand, anzusehen, strömenden Herzens. Wenn sollte sie danken? Wem? Wem? Sie mußte hinknieen und dem Schicksal dan ken, das es gefügt hatte, daß der Geliebte ihr Bruder, der Bruder ihr Geliebter war. Was würde geschehen sein, wenn sie zusammen aufgewachsen wären, Tag um Tag einander gesehen hätten, zugetan einander dann vielleicht nur wie Bruder und Schwester? Sie will daran nicht denken. Undenkbar, nicht die Geliebte Konstantins zu sein! Das Schicksal hatte es anders gefügt, ihm gebührte unauslöschlicher Dank. Der Weg von Zürich nach Triest war weit. Sehr weit! Aber es lagen Schienen. Am Schalter erhält man für Geld die Karte, dann rollt der Zug an, er gewinnt sein Tem po, der Kontrolleur kommt. „Bitte!“ „Danke!“ Und auch dabei saust der Zug wei ter, nach jeder Melodie, die ihm unterlegt wird. Konstantin summte verschiedene, und alle sang der Zug mit. 103
Es war nicht gleichgültig, welches Kleid sie wählte, on nein! Nichts war unwichtig. Gelb! Es konnte aber auch weiß sein. Ganz schlicht weiß! Mädchenweiß! Niemand, auch nicht der schärfste Beobachter kann ihr anmerken, daß sie Mutter war. Auch die zwei Kilo warne weg. Sie darf sich nur ja nicht einbilden, daß ihm etwas entgehe. Sie hatte ja auch sei nerzeit fälschlich geglaubt, er bemerke die Schliff ihrer Nasenflügel nicht. Ihm ent ging nichts. Natürlich muß sie mit so großer Sorgfalt Toilette machen, daß sie aus sieht, als wäre sie in einer Minute fertig gewesen. Und wie wird es sein, wenn sie ihn sieht, wiedersieht? Wenn er auf sie zukommt? Wie wird ihr sein? „Poch, poch, poch!“ antwortete das Herz. Furchtbar war dieser Aufenthalt an der Grenze. Eine Stunde Aufenthalt. Aber ei gentlich doch sehr schön, in der Halle auf und ab und ans Büfett zu gehen und nichts zu essen. Denn wer kann da essen! Doch über alle Maßen schön, das Warten! Schließlich war auch diese Stunde um, und nun flog der Zug wieder pfeilgrad durch das ebene Land. Der Eisenbahnverwaltung eine Postkarte senden: „Besten Dank für die D-Zug-Ver bindung zwischen Zürich und Triest? . . . Das gehr nun wohl doch nicht. Es geht nicht.“ sagte er zum Fenster hinaus zu den zurücksausenden Telegraphenstangen. Er muß überhaupt ruhiger werden, viel ruhiger. Aber in der großen Sekunde des Wiedersehens wird er sicher ganz ruhig sein, das weiß er . . . Lydia ist ihr Name, Daß die Menschen das nicht wissen, merkwürdig, das der Name des Glücks Lydia ist! Und wenn sie schwarz tragen würde? Das alte schwarze Seidenkleid, in dem er sie vor einem Jahr das erstemal gesehen hatte im Lichthof des Hotels? . . . Haare schwarz, Augen blau und die Haut, ihre Haut war weiß und ohne Tadel. Sehr weiß! Vor dem hohen Spiegel prüfte sie gewissenhaft und kritisch ihre Gestalt, strich her unter, wandte sich, ging auch einige Schritte – und wieder auf den Spiegel zu. Ihre Augenlider flatterten: sie war zufrieden. Erst jetzt schlüpfte sie in das alte schwar ze Kleid. Das paßte wie vor einem Jahr. Von der Brust wird er allerdings etwas zuviel sehen, weil doch oben nur dünner, schwarzer Flor ist. Daß er nur ja nicht glaubt, sie wolle ihn damit locken! . . . Oder ist es vielleicht gerade richtig, wenn er das glaubt? Ist ja übrigens sein Eigentum, sie hat ihm ihre Brust ja geschenkt, damals auf der Autofahrt in das kleine Städtchen. Aber das war in einem früheren Leben . . . Jetzt ist er schon auf dem Dampfer, in drei Stunden ist er da . . . Ja, das war in einem früheren Leben. Ein Jahr der Liebe und des Leides, schweren, schweren Leides lag hinter ihr. Was jetzt kam, war etwas anderes. Sie muß mit dem Finger über die Au genlider der Natur streichen, sanft und beschwörend, und dann soll die Natur die Lider öffnen und soll zusehen, war in ihrem Namen geschieht, sie selbst, die das Gute und das Böse schafft und unentwirrbar ineinander verstrickt, soll Zeuge sein. Nur sie! Denn außer ihe ist keine Instanz. Wir werden auf einer entrückten Hoch ebene leben, wo niemand ist und niemals jemand sein wird, fühlte Konstantin, als er in das kleine Motorboot stieg, das die Reisenden vom Dampfer, der nach Vene dig weiterfuhr, übernahm und zur Insel brachte. Das Schicksal kann uns nichts mehr anhaben, wir haben es besiegt, das Schicksal, das uns zusammenführte, um uns zu zerstören. Besiegt! 104
Vielleicht kommt er gar nicht mit diesem Dampfer . . . Dann kommt er mit dem nächsten. Wie ruhig sie war! Da sah sie ihn, er stand am Motorboot, und er sah Lydia am Ufer, losgelöst von der Umgebung, Sie war ihm in Gebärde und Erscheinung so vertaut, als hätte er erst vor einer halben Stunde eine Motorbootfahrt unternommen und kehre jetzt zu ihr zurück. Beide neigten den Kopf – sie in ihrer eigenen Art, er sah es. So ging Lydia zur Bootstreppe, auf der er emporstieg. Sein Anblick vertiefte in ihr noch die große Ruhe, wie es auch ihm geschah. Sie reichten einander die Hand. „Sie sind so braun!“ Ihr Lächeln paßte dazu. „Ich bin in der Welt umhergefahren, ich war in Ägypten.“ Das war fast derselbe Dialog wie vor einem Jahr bei der ersten Begegnung im Ber liner Tiergarten, und er hatte auch diesmal eine tiefere Bedeutung. Dann sprachen sie nicht mehr, sie gingen über den Platz, er sah sich sogar um. An einer leisen Wendung Lydias bemerkte er, daß sie rechts abbiegen wollte, vor über am Hotel. Einstimmend in die Melodie des Gleichklangs der Gefühle, bog er mit ihr ab auf den Waldweg. Vereinzelte töne des Klaviers klangen vom Hotel herüber, Tonlichter, weich und schwebend, gleich den Sonnenflecken auf dem Waldboden. Er mußte eine lange Rosenrute, dicht besetzt mit blassen Blüten und dicken Sta cheln, die vom Dornbusch losgeschnellt waren und den weg überquerte, vorsichtig zur Seite biegen, öffnete so das Tor zur Natur, das Lydia durchschritt. Das war ein Blick. Sie gingen weiter, jeder für sich und mit dem andern, ganz in dem Gefühl verdien ten Glücks. Sie hätte plaudern können. Sie konnten schweigen. Die Herzen spra chen miteinander. Dazwischen hin und wieder nur ein Streifblick über Haar und Stirn und über die teure Gestalt, neue Nahrung für den Dialog der Herzen: Zu Hause, in unserem Garten, küßte ich einen Baum, der in der Dämmerung deine Gestalt annahm. So maßlos war meine Sehnsucht. „Wieviel Zimmer hat die Villa?“ Niemals werde ich dir sagen können, wie sehr ich dich liebe, mein Konstantin. Nie mals! „Acht. Sie haben ein sehr schönes Arbeitszimmer.“ Wenn ich es sagen könn te, wäre meine Liebe ja nicht so unermeßlich groß. „Auf den Garten hinaus?“ Wie sie schreitet! Wie köstlich sie den Fuß setzt! „Auf Garten und Meer!“ Und das Herz sagte: Er leuchtet. Oh, wie ich ihn liebe! „Die Küche ist im Souterrain.“ Das war nun doch ein wenig so, wie Konstantin in Triest vorgeschlagen hatte: Zwei Menschen, nebeneinander durch den Wald, deren Mund von äußeren dingen sprach, und dabei verschenkte sich das Herz. Die Span nung war ungeheuer, und nur die Gewißheit, nun für immer einander zu gehören, machte die Spannung erträglich. Sie näherten sich dem Ufer, wo die Villa stand. Schon schlang das Meer ein blaues Band durch das Blättergrün. „Hier wohnen wir.“ Ein Weißes Haus, langgestreckt und niedrig wie ein heimliches Fort, rundum ge schützt und fast ganz verdeckt von schweren Büschen. Aber er sah auf Lydias deu tenden Zeigerfinger, weil die Spitze sich so schön nach oben bog und rosa war, durchleuchtet von der Sonne. Vor ihm ging sie durch das bewachsene Tor. Zwischen dem schwarzen Haar und 105
dem Rand des schwarzen Kleides war der weiße Nacken, leicht gebogen, als beuge sie ihn vor dem Herrn ihres Herzens. Und jetzt, da sie vor ihm durch den Garten schritt, lebendig bewegt in der Hüfte, sah er wieder den erregenden Fluß ihrer Beine und diese Kniekehlen, die ihn genau vor einem Jahr gefangen hatten. Unter der Tür blieb sie stehen: „Ich wünsche Ihnen Glück in diesem Hause.“ Ihr Lä cheln verging im Ernst, sie sah ihn lange an mit einem Blick, in dem das Schicksal beider sich vollendete. Das war wie ein stummes Gebet, das Lydia mit einem wei chen Frauenlächeln beschloß. Sie gingen ins Haus, beide fühlten, wie bedeutsam das war. Wie einem teuren Gast zeigte sie ihm die Räume: unten vier – er spürte Lydias gestaltende Hand, die auch ein Hotelzimmer in Minuten wohnlich machen konnte -, oben die Schlafräume und sein Arbeitszimmer. Überall Blumen. „Jetzt muß ich Ihnen etwas sagen, es war mir vorher nicht möglich . . . Ich bin nicht mehr allein.“ Sie sprach wie zu einem Freund des Hauses, de schon früher manchmal zu Gast gewesen und von der Vergrößerung der Familie noch nicht un terrichtet war. Aber er verstand nicht. „Ich habe ein Kind.“ Wieder dieser Blick, der mitten aus dem Schicksal kam. Ihm war, als hätte jemand gesagt, es gäbe etwas auf der Welt, was es auf der Welt nicht geben konnte. Nur im Traum sind derartig unmögliche Dinge ohne weiteres möglich. Aber er träumte nicht. „Was? Was?“ Auch der geistvollste Mensch kann dumm aussehen, wenn er verblüfft ist. Es gelang Lydia, der Lächeln zu unterdrücken. „Ein Knabe! Er ist schon drei Monate alt.“ Sie war ernst geworden, denn die Ehrfurcht wohnt neben dem Ernst. Zuerst bekam er einen Schlag gegen das Herz: im Bruchteil einer Sekunde empfand er Lydias Odyssee der Leiden. Dann kam aus einer fernen, fernen Empfindungsecke ein ganz neues, neuartiges Glück herangetollt. Lydia sah die junge Freude aus sei nen Augen springen. „Das ist doch nicht möglich. Ein Kind? Ein Kind?“ Es gibt eben doch ein Zuviel auf der Welt, da muß der vom Glück Überschüttete nach Luft schnappen wie ein Ertrinkender. „Ich zeige es Ihnen.“ In ihren Augen leuchtete klar eingestanden der Stolz. „Gut, sagte er – auch das klang komisch – und löste sich zögernd vom Türpfosten los. Zögernd folgte er ihr durch den Flur. Aber sie war es schon gewohnt, ins Kinderzimmer zu eilen, sie kam schneller an und mußte auf ihn warten. Ihr Lächeln führte ihn hinein und vor das Körbchen, überzogen mit blauem Mull. Zuerst sah er nur ein Ärmchen, das sich lebhaft bewegte. Zu fassen ist das natür lich nicht. Zu fassen ist das nicht . . . Ein Wunder ist eben nicht zu fassen, dachte er, um sich zu beruhigen. Aber das ge lang ihm nicht. Dieses neuartige Glück hatte sich noch keine Wege gebahnt, auf denen es ungehindert Konstantins Herz erreichen könnte. Er beugte sich hinab, sah in die blauen Augen und dann in dieser Stellung zu Lydia empor. „Es lacht“, sagte er erstaunt. „Es lacht mit allen.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, er nahm die Fingerchen in die Hand, betrachte te die winzigen Nägel, fünf Fingernägel, wohlgeformt. 106
Das Kind empfand das Berühren als Liebkosung, es quietschte hoch auf aus reiner Daseinsfreude und brach damit dem neuen Glück urplötzlich einen Weg in Konstan tins durchströmtes Herz. Er konnte nicht sprechen. Als sie eine Wendung türwärts machte, folgte er nur zö gernd, und noch im Flur schlich er auf den Zehenspitzen. „Ich kann das natürlich nicht so schnell begreifen . . .“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“ Lydia reichte ihm die Hand, sie wollte ihm Zeit lassen. „Wir essen um zehn, wenn es Ihnen recht ist.“ Er ließ ihre Hand nicht los. „. . . Und ich danke Ihnen auch.“ Der Schmelz ihres Lächelns half ihm über seine Verwirrung hinweg. Er konnte nichts anderes tun, als im Zimmer gehen, sich hinsetzen, Faust auf den Tisch drücken, aufstehen, umhergehen. Schließlich preßte er die Stirn gegen die Wand, ganz sinn- und zwecklos. Jemand bekommt Geschenke, viele Geschenke, und will das Paket mit einer Schnur zusammenhalten. Die Schnur ist zu kurz, geht immer wieder auf. So erging es ihm: die Gefühle waren zu stark, Glück und Freude zu groß, es gelang ihm nicht, das al les zu fassen und zusammenzuhalten. Er mußte aus dem Haus. Während er am Strand hinschritt, schnell und weit ausgreifend, als hätte er keine Sekunde zu verlieren, übernahm Lydia in schöner Besonnenheit die Regierung ihres Herzens, hier und dort den namenlosen Ansturm der Gefühle glättend zu über glänzter Ruhe, die es ihr verstatten sollte, diesen Abend am Tisch zu sitzen, allein mit dem Geliebten, der ihr Bruder war. Es kann doch nicht um das ganze Adriatische Meer herumrennen! Aber zurück ins Zimmer? Unmöglich! Er setzte sich am Strand auf einen Stein. Auch das half nicht, das Glück war da und wollte erlebt sein. Etwas mußte er tun! Er ließ den Glücklichen sitzen auf dem Stein, stieg aus ihm heraus – ein zehnjähriger Junge – und schleuderte flache handliche Steine ins Meer, so weit hinaus, wie Geschicklichkeit und Kraft es ermöglichten. Er hatte ein Ziel: auf der leicht gekräuselten Wasserfläche war weit draußen ein glatter, glänzender Streifen, den wollte er erreichen. Ihm wurde warm, er zog den Rock aus. Der Ehrgeiz packte ihn. Er war ganz bei seinem Spiel. Der Glückliche hockte auf seinem Stein und bemühte sich, sein Glück zu fassen. Unterdessen kleidete Lydia sich an, sie wählte ein tief ausgeschnittenes weißes Abendkleid. Das Spiegelbild gefiel ihr, sie war sehr zufrieden darüber, daß die wei ße Seide und die weiße Haut den Streit nicht entscheiden konnten, wer weißer sei. Immer, wenn irgend etwas dem Zustand der Vollkommenheit zu nahe kam, fuhr Ly dia mit einem ursprünglichen Wort dazwischen. Sie sagte zu ihrem Spiegelbild: „Heutzutage muß man sich anziehen, um ausgezogen zu sein . . . Aber er wird sich auch mit dem Blick nicht nehmen, was ich ihm nicht gebe . . . Oder doch?“ Sie legte den Lippenstift wieder weg, gab aber dann dem roten Mund schließlich doch einen Hauch davon. Mit einem letzten Blick prüfte sie das Ganze. Auch das Herz war gefaßt. Konstantin hatte sich wieder vereinigt mit dem auf dem Stein und war in gemäßig terem Tempo mit ihm heimgegangen. Er schlüpfte ins Haus, aus den Kleidern, ins Bad, in den Smoking und stand dann noch eine Weile am Fenster vor der großen Ruhe des abendroten Meeres. 107
Marie reichte die Speisen. Bei Tisch sprach Lydia immer nur mit Blicken zu Marie, die diese Sprache gut verstand. Beide waren vorbereitet auf die unvergleichliche Einzigartigkeit dieser Stunde. Nun saß sie ihm gegenüber, seine Gemahlin, seine Schwester, die Mutter seines Kindes, in Wirklichkeit aber eine junge Dame von ma kelloser Schönheit, an die er keinerlei Rechte der Vertraulichkeit besaß. Sich so zu verhalten in Blick und Wort, riet ihm das weise Herz. Lydia hatte diesen dunkelgebräunten Herrn im Smoking, um dessentwillen sogar der Schmerz über den Tod der Mutter an ihr vorbeigegangen war, zu Tisch geladen. Nicht mehr und nicht weniger. Noch nicht einmal das Anfangsstadium einer neuen Beziehung. Die Welt konnte zusehen, wie Lydia, deren innere Skala die Haltung und den Adel einer großen Frau und noch die natürliche Hingabefähigkeit eines einfachen Mäd chens umspannte, am Tische saß mit Konstantin, der ihr Bruder war und noch nicht wieder ihr Geliebter. Es war, wie sie dasaß -unnahbar schöner Mittelpunkt der Welt, den hohen Hals aus dem Nacken heraus leicht gebogen, die Schultern sichtbar abgesetzt und die straf fe Brust von der Seide straff gefaßt und im spitzen, tiefen Ausschnitt preisgegeben -, unvorstellbar, daß diese erlesen strenge Schönheit sich einem Mann gewähren könnte. Sie wechselten nur kleine Worte. In den sechs Monaten des Alleinseins hatte jeder dem andern tausend- und aber tausendmal alles gesagt. Der Kaffee war im Salon serviert, auf dem kleinen Tischchen neben der Ottomane, auf die Lydia sich niederließ. Konstantin hätte das ganze Zimmer überqueren müs sen, er lehnte gegenüber an der Wand. Plötzlich – sie verständigten sich mit einem kurzen Blick – wurde beiden bewußt, daß ihre gegenwärtige innere und auch räumliche Situation ähnlich war der in dem Hotelsalon Unter den Linden vor einem Jahr, an dem Abend, da Lydia schwebend vor Glück auf der Ottomane gelegen und ihm dann in ihrer großen Art die erste Lie besnacht geschenkt hatte. Dennoch, und trotz Lydias siegreichem Kampf gegen den unerforschlichen Rest, den sie durch ihren Frauenmut zersetzt hatte, waren sie in dieser Stunde weiter voneinander entfernt als vor einem Jahr. Denn die Tatsache, daß sie Geschwister waren, entrückte sie auf eine gefährliche und zauberhafte Ebene, auf der das Lie besspiel unbekannten, selbstherrlichen Grenzen unterstand. Wieder mußte Lydia erfahren, daß ein in der Wirklichkeit mit dem Bruder gewechselter Liebesblick un vergleichlich schwerer wog als schrankenlose Hingabe in der Vorstellung. Sie rührte sich nicht. Mit dem Instinkt des Liebenden fühlte Konstantin, daß Lydia den Schritt über die Grenze, in ein neues Zusammen mit ihm, nur allein tun konnte. Worte konnten da nicht helfen, und eine stumme Liebkosung von seiner Hand konnte für Lydia eben sogut zu dem Beweis der Unmöglichkeit werden, der ihren Tod bedeutet hätte. Lange Minuten lag sie vollkommen reglos, starr wie eine Tode und schön. Er durfte nicht wagen, einzugreifen. Selbst als sie aufstand und wort- und blicklos das Zimmer verließ, folgte er ihr nicht und rührte er sich nicht. Er vernahm fernes Türengehen. Es war schon nach zwölf, alles schlief. Lydia stand im Kinderzimmer vor dem Körb 108
chen. Sie sah das schlafende Kind lange an. Ihr starrer Gesichtsausdruck hatte sich nicht geändert. Sie wußte wohl, daß erst durch das Werden des Kindes in ihrem Leib diese gesunde Lebensfestigkeit in ihr entstanden war, die es ihr ermöglicht hatte, den Geliebten zu sich zu rufen. Aber den nächsten und entscheidenden Schritt mußte sie allein tun, niemand und nichts auf der Welt konnte ihr dabei helfen. Nur das Maß ihrer Seelengröße, das nicht kleiner sein durfte als ihre Liebe, war entscheidend. Sie stand, wie sie starr und blicklos vor dem Körbchen stand, allein auf eisigkalter Höhe. Im halbverdunkelten Salon – nur die hohe Stehlampe neben der Ottomane brannte – lehnte Konstantin reglos an der Wand, gespannt in jedem Nerv, wie angesichts ei ner großen Gefahr, die durch eine leiseste Bewegung von ihm zur Katastrophe wer den müßte. Auch jetzt, da sie in ihrem Schlafzimmer auf dem Bettrand saß und sich entkleide te, bebend in den Knieen, konnte sie, in der Vorstellung, den Bruder zu sich rufen und ihm den Mund geben. Aber die Wirklichkeit war starr. Konstantin vernahm ein leises Knacken, er sah wie die Klinke herabgedrückt wur de. Die Tür öffnete sich. Das Nachthemd reichte bis zu den Füßen. Weiß und starr kam sie herein, eine wan delnde Tote. Da war er bei ihr. Als er ihr Gesicht sah, im Schein der Lampe, dieses Gesicht, führte das Mitleid Kon stantins Hand, die das Licht abdrehte Er spürte einen leichten Druck gegen seine Brust, dem er nachgab, Lydia richtete sich auf und drehte das Licht wieder an. Den Schmelz der Hingabe über dem Gesicht und im Mundbezirk ein schmerzgebundenes Lächeln, das in Weichheit eingebettet war, schlang sie, Blick in Blick, die Arme um seinen Hals und nahm ihn zu sich.
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