Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 242
Brennpunkt
Vergangenheit
Atlan und Fartuloon auf Arkon - als
Augenzeugen einer...
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Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 242
Brennpunkt
Vergangenheit
Atlan und Fartuloon auf Arkon - als
Augenzeugen einer Legende
von H. G. Ewers
Das Große Imperium der Arkoniden kämpft um seine nackte Existenz, denn es muß sich sowohl äußerer als auch innerer Feinde erwehren. Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Imperiums schwer zu schaffen machen. Die inneren Feinde Arkons sind die Herrschenden selbst, deren Habgier und Korruption praktisch keine Grenzen kennen. Gegen diese inneren Feinde ist der junge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, bereits mehrmals erfolgreich vorgegangen. Selbst empfindli che Rückschläge entmutigen ihn nicht und hindern ihn und seine Helfer nicht daran, den Kampf gegen Orbanaschol III. den Diktator und Usurpator, mit aller Energie fort zusetzen. Gegenwärtig ist Atlan allerdings nicht in der Lage, an diesem Kampf mitzuwirken, da er, sowie ein paar Dutzend seiner Gefährten von der ISCHTAR im Bann AkonAkons, des Psycho-Tyrannen, stehen, gegen dessen Befehle es keine Auflehnung gibt. Akon-Akon, der mit Atlans und Fartuloons Hilfe den »Stab der Macht« in Besitz nehmen konnte, treibt die von ihm beherrschte Gruppe von Männern und Frauen durch einen neuen Transmittersprung weiter ins Ungewisse und Unbekannte. Der Kristallprinz und Fartuloon werden dabei zu Augenzeugen einer Legende – denn sie geraten in den BRENNPUNKT VERGANGENHEIT …
Brennpunkt Vergangenheit
3
Die Hautpersonen des Romans:
Caycon und Raimanja - Ein Liebespaar, das zur Legende wird.
Allan und Fartuloon - Der Kristallprinz und sein Erzieher werden zu Augenzeugen der
Vergangenheit.
Akon-Akon - Das »wache« Wesen.
Tarmin cer Germon - Biogenetiker von Akon.
Orthrek - Spezialist des Energiekommandos.
DIE LEGENDE VON CAYCON UND RAIMANJA Es geschah in der dunklen Zeit, als das Große Imperium nur als Idee in den Köpfen einiger vorausschauender Männer existierte, daß sich Caycon und Raimanja in Liebe zu sammenfanden. In dem Chaos, das damals auf Arkon herrschte, wurde ihre Liebe har ten Bewährungsproben ausgesetzt, denn ihre Familien standen sich in offener Feindschaft gegenüber. Caycon war der jüngste Sohn der Akon da-Familie, die im Großen Befreiungskrieg, der zur Loslösung vom Mutterimperium ge führt hatte, eine führende Rolle gespielt hat te und die neue Kolonie im Kugelsternhau fen Urdnir regierte. Raimanja dagegen ge hörte zur Sulithur-Familie, die die Oppositi on anführte und die politischen Ziele der Akonda-Familie erbittert bekämpfte. Es blieb nicht bei den Auseinandersetzungen der Redner im Regierungshaus. Oft be kämpften sich Anhänger beider Familien mit der Waffe in der Hand, und manchmal tob ten tagelang erbitterte Straßenkämpfe. Unter diesen Umständen konnten Caycon und Raimanja nicht darauf hoffen, die Ein willigung ihrer Familien zur Eheschließung zu erlangen. Als sie dennoch zusammenzo gen, wurden sie aus ihren Familien ausge stoßen. Sie begannen ihr gemeinsames Le ben nur mit den Besitztümern, die sie am Leibe trugen. Freunde halfen ihnen, sich ei ne Hütte zu bauen. Als Raimanja schwanger wurde, wurde das Paar eines Nachts von Fremden überfal len, gefangengenommen und in den Welt raum entführt. Was dort mit ihnen geschah, liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte
verborgen. Aber es steht fest, daß dem Lie bespaar später die Flucht aus dem Raum schiff der Fremden gelang. Sie flohen nach Perpandron, wo Raimanja nach Ablauf der Zeit einen Sohn gebar. Dieser Sohn war ein waches Wesen, das zurückkehren und große Dinge vollbringen wird, wenn seine Zeit ge kommen ist …
1. Ich spürte den Entzerrungsschmerz der Rematerialisation kaum, denn er wurde von einem anderen Schmerz überlagert. Mein rechtes Schienbein war heftig gegen ein Hindernis geprallt. Rings um mich wurden Schreie und Ver wünschungen laut. Ich streckte unwillkür lich die Hände aus, um nach einem Halt zu tasten, denn neben den Schmerzen hatte ich nur eine andere Wahrnehmung: völlige Fin sternis. Was war das für eine Transmitterstation, in der uns Dunkelheit und Hindernisse er wartet hatten? Nach und nach schalteten meine Gefähr ten ihre Handscheinwerfer ein. Helle Licht kegel durchschnitten die Finsternis und war fen Schlaglichter auf geborstenes, flechten überzogenes Mauerwerk. Bleiche Schling pflanzen wucherten um zwei Kegelstümpfe aus Metallplastik; nur die Oberteile mit den Abstrahlpolen für die Energiesäulen des Torbogentransmitters lagen frei. Ich hob den Kopf und blickte nach oben. Sicher hatte auch diese uralte Transmitter station einst eine kuppelförmige Decke be sessen. Sie war längst verschwunden, durch äußere Einflüsse zerstört, wie die gezackten Ränder bewiesen. In der Öffnung schimmer
4 ten Sterne. Ich sah einige Konstellationen, erkannte sie aber nicht. Der Planet, auf dem wir angekommen waren, mußte in einem mir unbekannten Raumsektor liegen. »Wo sind wir?« fragte Karmina Artha min. »Keine Ahnung«, erwiderte Fartuloon. »Jedenfalls ist es ein Wunder, daß der Transmitter in diesem Trümmerhaufen über haupt noch funktioniert und uns unsere Stofflichkeit wiedergegeben hat.« Mein Pflegevater blickte Akon-Akon herausfor dernd an. »Du hast mit unserem Leben ge spielt, Junge!« Akon-Akon erwiderte Fartuloons Blick nicht. Er starrte düster vor sich hin, ein Jun ge noch und doch das Wesen, das uns alle beherrschte. Sein edles Gesicht, seine stolze Haltung und sein schulterlanges silberfarbe nes Haar wiesen ihn als Arkoniden von ho her Herkunft aus. Außergewöhnlich an ihm waren nur die großen Augen – und die selt samen Sternsymbole auf den Innenseiten seiner Hände, die schwach rötlich leuchte ten, soweit sie für mich sichtbar waren. Ich wußte nicht, was ich von dem Jungen halten sollte, den wir aus seinem gläsernen Turm Perpandron herausgeholt und zum Le ben erweckt haben. War er wirklich jenes mysteriöse »wache Wesen«, das in der arko nidischen Mythologie eine so große Rolle spielte? Es schien so, denn sein Geist war außergewöhnlich »wach«, wenn man damit seine Fähigkeit bezeichnen wollte, uns alle durch seine geistigen Kräfte zu beherrschen. Praktisch waren wir seine Sklaven, denn keiner von uns konnte etwas tun, was er nicht wollte. Mehrfach schon hatten wir ver sucht, uns seinem Einfluß zu entziehen. Es war uns immer wieder mißlungen. »Warum gehen wir nicht hinaus?« fragte Ra. Der Barbar rollte die Augen und deutete unternehmungslustig nach oben. »Wir werden hier den Tag abwarten müs sen«, sagte Akon-Akon mit dumpfer Stim me. Ich glaubte, Resignation herauszuhören, und blickte den Jungen verwundert an. Auch
H. G. Ewers andere Mitglieder unserer achtunddreißig köpfigen Gruppe mußten etwas gemerkt ha ben, denn mehrere Scheinwerferkegel rich teten sich gleichzeitig auf Akon-Akon. Im grellen Lichtschein sah ich, daß sein Gesicht angespannt wirkte, so, als lauschte er in sich hinein. Einmal bewegte er lautlos die Lippen. Seltsamerweise blinzelte er nicht, obwohl ein Lichtkegel genau in sein Gesicht stach. Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Wie gebannt stand ich da und sah, wie sich Akon-Akons Hände plötzlich so fest um den geheimnisvollen Kerlas-Stab krampften, daß die Knöchel weiß hervortra ten. Als ich den Blick wieder von dem Stab lösen wollte, merkte ich, daß das nicht ging. Immer stärker wurde meine Aufmerksam keit von diesem Gebilde aus einer unbe kannten Legierung gefesselt, das einem Kreuz mit kurzer, nach außen spitz zulau fender Querstrebe glich und oben einen Ringgriff besaß. Allmählich versank alles um mich herum. Ich sah nur noch den schwarzen Metallstab und die Hände des Jungen. Nein, eigentlich sah ich die Hände nicht, sondern nur ihre Umrisse! Die Hände selbst, ihr Fleisch und ihre Knochen, waren durch sichtig geworden. Aber die rötlich leuchtenden Sternsymbole waren geblieben. Einge rahmt von den nebelhaft angedeuteten Um rissen der Hände schimmerten sie, schienen den Kerlas-Stab wie einen losen Sternenhau fen zu umgeben. So wie die Wasser des Flusses unaufhalt sam dahinströmen und ihre Spuren hinter lassen, so strömt auch die Zeit …! Woher kamen mir solche Gedanken? Hat te ich sie irgendwann von Fartuloon gehört oder in einer alten Schrift gelesen? Oder hat te jemand in der lautlosen Sprache des Gei stes zu mir gesprochen? So wie das Wasser der Meere verdunstet und zu seinem Anfang zurückkehrt, so steigt der Geist aus seinem Flußbett auf oder aus seinem tiefen Meer oder aus dem Gefängnis
Brennpunkt Vergangenheit des Körpers und weht zurück zu den Spuren, die vor ihm entstanden … Nein, ich war sicher, daß ich so etwas noch nie zuvor gehört oder gelesen hatte. Et was sprach in mir, wollte mir etwas mittei len. Aber was? Die Wahrheit über Caycon und Raiman ja! Was bedeutete das? War es etwa AkonAkon, der mit seinen Gedanken zu meinen Gedanken sprach? Wieder versuchte ich, meine Aufmerk samkeit von den Sternsymbolen und vom Kerlas-Stab zu lösen – und wieder vergeb lich. Dabei merkte ich, daß ich den Stab nur noch als verschwommenen Nebelfleck sah. Nur die Sternsymbole waren noch klar er kennbar – und es war so still geworden, als wäre ich allein in der uralten Transmittersta tion. Aber ich hörte nicht einmal meinen eige nen Atem. War ich dann überhaupt noch? Plötzlich verwischten sich die Sternsym bole, dann füllten sie mein Blickfeld aus. Aber sie stellten nicht mehr die gleichen Sternbilder dar, sondern andere, solche, die mir von Karten her vertraut waren. Und doch war etwas daran anders. Sie schienen merkwürdig verschoben, so, als ob sie nicht zu meiner Zeit gehörten. Ich hatte das Empfinden, als würde ich in eine unendliche Tiefe fallen – oder zu un endlichen Höhen aufsteigen. Das Gefühl da für, ob es ein Steigen oder Fallen war, ließ mich plötzlich im Stich. Doch dann kam ich mit einem Ruck zum Stehen. Ich sah, daß ich mich auf der Oberfläche eines bewohnten Planeten befand – und ich ahnte, wie dieser Planet hieß und was ich zu sehen bekommen würde. Und daß ich – oder vielmehr mein Geist – weit in die Vergangenheit geschleudert wor den war …
* Caycon duckte sich, als ein schwerer ge panzerter Fluggleiter um die Straßenecke
5 bog, an der er stand. Der Gleiterpilot mußte wahnsinnig sein, so dicht über dem Boden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke zu rasen. Dann erblickte Caycon die bewaffneten Männer, die in dem Gleiter hockten. Sie kümmerten sich nicht um ihn, sondern späh ten zu dem großen Kuppelbau hinüber, der ungefähr dreihundert Schritt vor ihnen am rechten Rand der Straße stand, in die der Gleiter soeben eingebogen war. Es war der Kuppelbau, in dem die Regierung der Arko niden, der Freien, residierte. Caycon ahnte, was geschehen würde – und er wußte, daß es nicht in seiner Macht lag, etwas zu verhindern. Das hätten nur die Führer der beiden Familien, in deren Hän den die Führung von Regierung und Opposi tion lagen, verhindern können. Aber Caycon wußte aus Erfahrung, denn er war der jüng ste Sohn der regierenden Akonda-Familie, daß keine der verfeindeten Gruppen zurück stecken würde. Er trat hinter die Hausecke zurück und spähte vorsichtig um sie herum. Der gepanzerte Gleiter jagte mit schrill summendem Feldantrieb auf den Kuppelbau zu. Aus seiner Unterseite schob sich die Kuppel eines Raketenwerfers. Als er auf gleicher Höhe mit dem Hauptportal des Re gierungsgebäudes war, Schossen in kurzer Folge eine Reihe flammender Projektile aus der Werferkuppel. Gleichzeitig feuerten die Bewaffneten im Gleiter mit Strahlenkarabi nern. Im Innern des Kuppelbaus explodierten die Raketen mit fürchterlichem Krachen. In der Außenwand bildeten sich Risse, aus de nen Glut und Rauch schlug. Das Hauptportal verformte sich, dann hörte es auf zu existie ren. Der Gleiter mit den Attentätern schoß da von. Aber bevor die Kuppel verwüstet war, hatte sich aus einer Öffnung ihrer Außenhül le eine strahlende Feuerkugel gelöst. Sie ra ste unaufhaltsam hinter dem Gleiter her, hol te ihn in wenigen Augenblicken ein – und verwandelte ihn in einen expandierenden
6 Feuerball. Der Krach der Explosion schmetterte durch die Straße. Die Druckwellen ließen Glassitfenster zerbröckeln, und glühende Trümmerstücke durchschlugen die Wände von Häusern. Danach war es einige lange Augenblicke totenstill – dann gellten panische Schreie der Angst, des Entsetzens und der Schmerzen auf. Einige Männer verließen die Häuser und starrten zu dem zerstörten Kuppelbau hinüber. Caycon überwand seine Erstarrung. Er verließ seine Deckung und lief auf den Kup pelbau zu, um nachzusehen, ob es darin noch Lebende gab, denen noch zu helfen war, oder Sterbende, denen man ihre letzten Atemzüge etwas erleichtern konnte. Doch er mußte vor der Glut kapitulieren, die aus dem Innern der Ruine strahlte und ihm die Brauen versengte, als er sich zu na he heranwagte. Caycon fragte sich, ob zur Zeit des Anschlags jemand aus seiner Fami lie in dem Gebäude gewesen war. Er wußte es nicht, denn er hatte jeden Kontakt zu den Akondas verloren, seit man ihn wegen sei ner Verbindung mit einem Mädchen, das der führenden Familie der Gegenseite ent stammte, ausgestoßen hatte. Er wich weiter zurück, als einige Lösch trupps mit heulenden Sirenen eintrafen, es kortiert von Prallfeldgleitern voller bewaff neter Polizisten. Während aus den drehbaren Schaumkanonen der Löschgleiter Unmen gen von Löschschaum in die glühenden Trümmer geschossen wurden, bildeten die Polizisten einen Ring und trieben die Zu schauer zurück. Caycon hatte Hemmungen, sich als Mitglied der Akonda-Familie auszu weisen, was er ja auch nicht mehr war. Nur die Blutsbande bestanden noch. Da ihn kei ner der Polizisten erkannte, mußte er wohl oder übel mit den übrigen Zuschauern wei chen. Kurz darauf sanken einige Flugpanzer der Tartoos vom Himmel. Die Tartoos waren Soldaten der Privatarmee, die die AkondaFamilie unterhielt. Sie galten als fanatische
H. G. Ewers Kämpfer. Gerüchte wollten wissen, daß in den Tartoo-Kasernen gefangene Angehörige der Sulithur-Familie gefoltert worden seien. Caycon hatte früher, als er noch nicht aus gestoßen war, seinen Vater danach gefragt. Sein Vater hatte die Gerüchte als gezielte Verleumdungen des politischen Gegners zu rückgewiesen. Caycon war mit der Antwort zufrieden gewesen. Er hatte sich auch nicht vorstellen können, daß die Familien, die die Hauptlast des Kampfes gegen die Akonen getragen hatten, nach dem gemeinsam errun genen Sieg mit derart verwerflichen Metho den gegeneinander kämpften. Im Lauf der folgenden Zeit aber waren ihm Zweifel an den Worten seines Vaters gekommen. Caycon sah fast täglich die grausamen Folgen der polarisierten Gegen sätze. Das Volk, das in dem langen Befrei ungskrieg unermeßliche Opfer gebracht hat te und sich anschickte, sich die Natur seiner neuen Heimatwelt Untertan zu machen, er schöpfte einen guten Teil seiner Kraft in po litischen Auseinandersetzungen, die zu ei nem Machtkampf ausgeartet waren. Dabei hätte noch so viel friedliche Arbeit geleistet werden müssen. Die Städte auf Ar kon waren nicht viel mehr als mit primitiven Mitteln aufgebaute Ansiedlungen, bestehend aus einem winzigen Stadtkern und darum herum gruppierten regellosen Anhäufungen von Häusern, Hütten und Zelten, in denen die Kolonisten hausten, die erst vor kurzem von den im Krieg verwüsteten Welten ge kommen waren. Die Energieversorgung der Städte wurde mit den Fusionskraftwerken von Raumschiffen garantiert, die während der Kämpfe so schwer beschädigt worden waren, daß sich eine Instandsetzung nicht gelohnt hätte. Die intakten Einheiten der Raumflotte durchstreiften den riesigen Ku gelsternhaufen Urdnir, um das künftige Aus breitungsgebiet der Arkoniden abzusichern und um festzustellen, ob in ihm Völker leb ten, die Arkon gefährlich werden konnten. Als Caycon sich abwandte, um wieder seiner Wege zu gehen, vertraten ihm zwei Männer den Weg. Sie trugen Zivil, aber er
Brennpunkt Vergangenheit erkannte in ihnen zwei Männer, die für die Akonda-Familie arbeiteten. Ihre harten Ge sichter verrieten, welche Art von Arbeit sie auszuführen pflegten. Will meine Familie mich umbringen las sen? fragte sich Caycon unwillkürlich. Aber nicht hier! sagte er sich dann. »Was wollt ihr?« fragte er laut. »Dich zu jemanden bringen, der mit dir reden will«, antwortete einer der Männer. Für einen Augenblick ließ er eine kleine In jektionspistole sehen. »Kommst du freiwil lig mit, oder soll ich nachhelfen?« erkundig te er sich. Caycon vermutete, daß die Injektionspi stole mit einer Droge gefüllt war, die ihr Op fer willenlos machte. »Ich komme mit«, sagte er. Die beiden Männer nahmen ihn in die Mitte. Es sah aus, als begleiteten ihn zwei gute Freunde. Sie brachten ihn zu einem un auffällig aussehenden Gleiter und stiegen mit ihm auf die Rückbank. Auf dem Vorder sitz saß ein dritter Mann; er schien jedoch nur die Funktion eines Piloten zu haben, denn er sprach während des ganzen Fluges kein Wort. Nach einer halben Stunde landete der Gleiter zwischen zwei mächtigen Mauerrui nen auf einem kargen Grasboden. Caycon kannte die Gegend. Sie wurde von den Ar koniden »Etset Secinda« genannt, die Stadt der Sieben, weil die Grundrisse aus der Luft das Bild einer in sieben Bezirke gegliederten ehemaligen Stadt boten. Die ersten Koloni sten hatten die riesigen Mauerruinen als Gletscherablagerungen aus einer früheren Eiszeit bezeichnet. Spätere Kolonisten wur den stutzig, weil zwischen den Gesteins schichten eine bröselige Metallmasse austrat und lange Rostspuren auf die Wände zeich nete. Man untersuchte die Gebilde etwas ge nauer und fand Schmelzspuren. Danach kam man zu der Ansicht, daß hier vor sehr langer Zeit eine mächtige Stadt gestanden hatte, die von einer in großer Höhe gezündeten schwe ren Atombombe zerstört worden war. »Aussteigen!« befahl einer der beiden
7 Männer. Caycon gehorchte. Draußen sah er sich aufmerksam um. Er erkannte die Gegend, in dem der Gleiter gelandet war, als den Tem pelbezirk. Aus den Schatten der Felsmauer zur Lin ken trat eine hochgewachsene Gestalt, die in die Kombination eines Raumfahrers geklei det war. Auf der linken Brustseite prangte das Symbol eines Dreifachen Mondträgers, des Kommandanten eines Schweren Schlachtschiffs. Als der Mann bis auf etwa dreißig Schritt herangekommen war, erkann te Caycon Kuranth, seinen ältesten Bruder. Kuranth trug das Symbol des Dreifachen Mondträgers zu recht. Er hatte im Großen Befreiungskrieg, der vor zwölf Jahren been det worden war, zuletzt die ROOR-NAKH kommandiert und sich in der Schlacht im Ophuus-Sektor besonders ausgezeichnet. Kuranth kam bis auf drei Schritt heran und musterte das Gesicht seines jüngeren Bruders. »Ich freue mich, dich zu sehen, Caycon«, erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Tatsächlich?« erwiderte Caycon höh nisch. »Du triffst dich mit mir auf neutralem Boden, wo keiner das Gastrecht des anderen genießen kann.« Kuranth machte eine abwehrende Hand bewegung. »Man muß immer die Spielregeln beach ten«, sagte er. »Wie ich hörte, lebst du in ei ner primitiven Hütte und ernährst dich mehr schlecht als recht von der Jagd.« »Nicht ich lebe dort, sondern es ist das Heim, in dem meine Frau Raimanja und ich wohnen«, entgegnete Caycon. »Getraust du dir nicht einmal, ihre Existenz anzuerken nen?« »Du bist stolz wie alle Akondas«, erwi derte Kuranth. »Deshalb hoffe ich noch im mer, daß du deinen Fehler einsiehst und in den Schoß der Familie zurückkehrst. Du wärst uns willkommen. Bedenke, was du al les leisten und werden könntest – als Mit glied der Akonda-Familie – und welches kümmerliche Leben du jetzt zu führen ge
8 zwungen bist. Oder haben die Sulithurs dich etwa unterstützt?« »Die Familie meiner Frau besteht aus ebensolchen Starrköpfen wie unsere Fami lie«, erklärte Caycon. »Anstatt zusammen zuarbeiten, richtet ihr die junge Kolonie mit eurem Streit noch zugrunde, Kuranth. Ich will nicht mitschuldig werden. Außerdem lieben Raimanja und ich uns.« »Liebe!« sagte Kuranth verächtlich. »Was ist schon Liebe! Eine Ausrede für sentimen tale Naturen. Es schadet dem Ansehen unse rer Familie, daß du dich mit einer Tochter des Gegners eingelassen hast.« »Wenn es euch schadet, dann schadet es den Sulithurs genauso«, entgegnete Caycon. »Außerdem sind deine Worte über die Liebe unglaubwürdig. Oder war es nur Sentimen talität, die dich dazu brachte, Gahsinja zu lieben, die als Kommandantin eines Raum schiffs den Tod fand?« In Kuranths Gesicht zuckte es. Der Mund öffnete sich wie zu einem Stöhnen. Doch dann preßte Kuranth die Lippen zusammen. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich verstehe dich ja, Bruder, aber ich un terwerfe mich freiwillig den Beschlüssen des Familienrats – und du solltest es auch tun. Was wäre unsere Welt, wenn wir nicht zusammenhielten?« »Was ist unsere Welt jetzt?« fragte Cay con bitter. »Heute wurde das Regierungsge bäude zerstört. Viele Arkoniden starben sinnlos. Wie lange soll es so weitergehen? Bis wir so geschwächt sind, daß Akon uns wieder in sein Reich einverleiben kann?« Kuranths Augen blitzten zornig. »Die Akonen wissen nicht, wo wir sind«, entgegnete er. »Und wenn sie es wüßten, würden sie es nicht wagen, auch nur eines ihrer Raumschiffe nach Urdnir zu schicken. Ich erkenne, du bist unbelehrbar. Vielleicht ändert sich das. Aber warte nicht, bis es zu spät ist. Die Geduld der Familie ist nicht un erschöpflich.« Er drehte sich um und ging. Nach einiger Zeit tauchte er wieder in den Schatten der Mauerruine unter.
H. G. Ewers Die beiden Männer, die außer Hörweite gewartet hatten, traten wieder neben Cay con. »Wir bringen dich zurück«, sagte der, der bisher immer gesprochen hatte.
* Ich konnte hören und sehen, aber ich spürte die Strahlen der heißen Arkonsonne nicht und spürte auch nicht den Wind, der die Zweige der Bäume bewegte. Es war ein seltsames, nie gekanntes Gefühl, körperlos zu schweben. Aber nach dem ersten Staunen stellte sich das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, ein, denn ich war nicht in der Lage, über mich selbst zu verfügen. Es schi en, als wäre mein Geist – oder mein Be wußtsein, oder in welcher Form ich hier exi stierte – durch unsichtbare Bande an den Ar koniden Caycon gefesselt. In der ersten Zeit wurde meine Aufmerk samkeit durch die Ereignisse so beansprucht, daß ich nicht dazu kam, mich analytisch mit dem auseinanderzusetzen, was mit mir ge schehen war. Als Caycon mit dem Gleiter zur Stadt zurückgeflogen wurde und ich un sichtbar mitflog, nahm ich mir die Zeit dazu. Mein Geist hatte sich aus meinem Körper gelöst und war in die Vergangenheit ge schleudert worden, soviel begriff ich, nicht zuletzt dank der inneren Stimme, die mich darauf vorbereitet hatte. Ich durfte nur nicht darüber nachdenken, wie so etwas möglich gewesen war. Es mußte irgendwie mit dem Kerlas-Stab zusammenhängen. Vielleicht waren die Kräfte, die meinen Geist in die ferne Vergangenheit meines Volkes ge schickt hatten, aus ihm gekommen. Aber wie konnte die Vergangenheit, die ich bisher immer für tot gehalten hatte, wiederbelebt werden? Und wenn sie wiederbelebt worden war, was war dann mit der Zukunft, die mei ne Gegenwart gewesen war, geschehen? Vergangenheit und Zukunft konnten doch nicht nebeneinander existieren! Oder doch? »Die Zukunft existiert noch nicht«, sagte jemand.
Brennpunkt Vergangenheit Verwirrt sah ich mich um – wenn man das, womit ich meine Umgebung »optisch« erfaßte, sehen nennen konnte. Aber außer dem Piloten, Caycon und den beiden Män nern befand sich niemand im Gleiter, und von diesen vier Personen hatte niemand die Lippen bewegt. Außerdem, wie hätten sie hören können, was ich nur gedacht hatte? Sie ahnten ja überhaupt nichts von meiner Anwesenheit. »Natürlich nicht, mein Junge. Spürst du meine Gegenwart nicht?« Im gleichen Augenblick durchfuhr es mich wie ein Stromstoß. Da war etwas ge wesen, das ich nicht hatte definieren können – und es war noch immer da. Und jetzt, da ich mich darauf konzentrierte, es wahrzu nehmen, spürte ich es. Fartuloon! »Du bist also auch hier«, dachte ich. Plötzlich spürte ich ätherische Bewegung und etwas, das sich wie ein Wispern anfühl te. »Sind noch mehr hier außer uns?« »Anscheinend sind wir alle hier«, erwi derte Fartuloon. Ich konnte nur spüren, daß er es war, der zu mir »sprach«, da die Ver ständigung stimmlos erfolgte. »Aber offen bar muß man sich seelisch nahestehen, wenn man sich in diesem Zustand erkennen und verständigen will.« »Das ist alles Wahnsinn«, erwiderte ich. »Wie können wir hier sein, wenn die Zu kunft noch nicht existiert und es uns damit auch noch nicht gibt? Wir können ja nicht einmal geboren sein!« »Es gab die Zukunft – unsere Gegen wart«, antwortete Fartuloon. »Sie hörte auf zu existieren, als wir auf diese Zeitebene ka men. Aber sie muß zwangsläufig so entste hen, wie wir sie kennen, sonst hätten wir sie nicht so erleben können.« »Ich kann mir das alles nicht vorstellen«, erwiderte ich. »Wie können wir – wenn auch nur als geistige Gebilde – existieren, wenn wir noch nicht geboren wurden?« »Weil wir uns auf der existenten Zeitebe ne befinden«, erklärte Fartuloon. »Außerdem sprechen die Tatsachen für sich.
9 Dir bleibt nichts anderes übrig, als sie zu ak zeptieren, auch wenn du sie nicht verstehst.« »Vielleicht träumen wir nur«, gab ich zu rück. »Der Kerlas-Stab könnte uns hypno tisch in einen tiefen Schlaf versetzt haben und einen Traum suggerieren.« »Theoretisch wäre das denkbar, aber ich halte es für unwahrscheinlich«, entgegnete mein Pflegevater. »Aber konzentrieren wir uns wieder auf die Geschehnisse, denn der Gleiter setzt zur Landung an. Sicher ist es wichtig für uns in unserer zukünftigen Ge genwart, daß wir alle Informationen sam meln, die sich uns hier anbieten.« Ich mußte Fartuloon beipflichten. Erneut richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den jungen Arkoniden namens Caycon …
2. Caycon stieg aus dem Gleiter. Er blickte nicht zurück, sondern ging zielstrebig die Hauptstraße hinunter. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Aufräumungstrupps dabei, die schaumbe deckten Trümmer mit Traktorstrahlen aus einanderzuziehen. Nur noch wenige Leute sahen zu. Die meisten Arkoniden hatten an dere Sorgen genug, um sich länger als nötig um ein Attentat zu kümmern. In erster Linie mußte der Lebensunterhalt bestritten wer den. Da es noch keine Fabriken für Syntho nahrung gab, hing die Ernährung in erster Linie von dem Ertrag ab, den man dem Bo den abrang. Folglich arbeiteten die meisten Kolonisten in der Landwirtschaft. Glückli cherweise waren auf dem Planeten, den man Arkon genannt hatte, große Herden von Wildrindern entdeckt worden, die sich zäh men ließen. Die ersten Züchtungsversuche waren überraschend erfolgreich verlaufen. Aber Caycon hatte keine Aussichten, Vieh oder Land zugeteilt zu bekommen. Über beides verfügten ausschließlich die beiden verfeindeten Familien. Seine Familie würde ihm nichts zuteilen, weil er mit einer Sulithur zusammenlebte – und Raimanjas Familie versagte ihr jede Hilfe, weil sie
10 einen Akonda liebte. So blieb Caycon weiter nichts übrig, als von der Jagd zu leben, die immer schwieriger wurde, weil auch andere Männer jagten und dadurch das Wild in der Nähe der Städte immer knapper wurde. Zwar trug Raimanja ihr Teil bei, indem sie Beeren und Pilze sammelte, aber Beeren und Pilze gab es nur zu bestimmten Jahreszeiten. Caycon bog nach links in eine Gasse ab. Hier gab es einige kleine Läden, die weder den Akondas noch den Sulithurs gehörten. Entsprechend begrenzt war das Warenange bot. Vor einem der Schaufenster blieb Cay con stehen. Er musterte die ausgestellten Waffen. Es handelte sich ausschließlich um ein- und zweihändige Schußwaffen, die Pro jektile mit chemischen Treibladungen ver schossen. Andere Waffen waren nicht für den freien Verkauf zugelassen, deshalb hat ten sich einige technisch begabte Männer auf die Herstellung von Feuerwaffen nach alten historischen Vorbildern spezialisiert. Caycon betrat den Laden. Hinter der The ke saß der alte Ghodem auf einem Stuhl. Er hatte ein verwüstetes Gesicht und künstliche Arme und Beine. Seine natürlichen Glied maßen waren bei der Explosion seines Raumjägers auf der Strecke geblieben. Er hatte nur überlebt, weil der Raumjäger in der Atmosphäre eines Planeten geflogen war, als er von einem Energiestrahl getroffen wurde. »Ich grüße dich, Ghodem!« sagte Caycon. Das verwüstete Gesicht hellte sich auf. »Ich grüße dich, Caycon!« sagte Ghodem. »Wie geht es dir und Raimanja?« »Man schlägt sich durch«, antwortete Ca ycon. »Das Wild wird immer knapper, teils durch die Abschüsse und teils durch die Ro dung von immer mehr Land. Aber wie sol len wir sonst zu Nahrung und Kleidung kommen?« »Ja, es ist schlimm«, erwiderte Ghodem. »Wenn es den großen Familien so dreckig ginge wie uns, würden sie vielleicht Ver nunft annehmen, aber so …« »Auch so kann dieser Zustand nicht lange bestehen bleiben«, meinte Caycon. »Irgend etwas muß geschehen. Ghodem, ich brauche
H. G. Ewers nichts weiter als zwei Schachteln Munition für meine Büchsflinte, aber ich kann dir zur Zeit nichts zahlen. Ich muß erst ein paar Ruords schießen und die Felle verkaufen.« Ghodem seufzte. »Eigentlich habe ich mir vorgenommen, meine Waren nur noch gegen Barzahlung abzugeben. Die meisten Jäger haben Schul den bei mir, und wenn das so weitergeht, kann ich bald nichts mehr einkaufen. Aber bei dir will ich noch einmal eine Ausnahme machen.« Er erhob sich und bewegte sich etwas steifbeinig auf ein Regal zu. Die Prothesen waren keine technischen Meisterleistungen, da die hochwertigen Schwingquarze zur Steuerung der Bioelektronik nur für die Feu erleitsysteme der Kampfraumschiffe ver wendet wurden. So mußten sich die Prothe senhersteller mit minderwertigem Ersatzma terial begnügen. Ghodem fischte zwei Schachteln mit Mu nition, eine mit Langgeschossen und eine mit Schrotpatronen, aus dem Regal und leg te sie vor Caycon auf die Ladentheke. »Das macht fünf Merkons, mein Junge.« »Fünf Merkons?« fragte Caycon er schrocken. »Das letztemal habe ich dafür nur vier Merkons bezahlt.« »Inzwischen haben die Hersteller ihre Preise erhöht«, sagte Ghodem. »Aber es wird ja alles teurer. Mit unserer Wirtschaft geht es bergab.« »Hoffentlich wird dann auch für Rohfelle mehr gezahlt«, erwiderte Caycon. »Ich hof fe, daß ich dir in zwei Tagen das Geld brin gen kann, Ghodem.« Ghodem lächelte. Es wirkte bei seinem entstellten Gesicht wie das Grinsen eines Dämons. »Dann wünsche ich dir viel Glück bei der Jagd, Caycon!« »Danke, Ghodem!« sagte Caycon. Er verstaute die Munition in den Beinta schen seiner Allzweck-Kombination, dann verließ er den Laden. Außerhalb der Stadt stand die Hütte, die er mit Raimanja bewohnte. Dort befand sich
Brennpunkt Vergangenheit auch sein Jagdgewehr, denn es war verbo ten, die Stadt bewaffnet zu betreten. Nur die Kampfgruppen der verfeindeten Familien wagten es, gegen das Verbot zu verstoßen, oft mit fatalen Folgen für beide Seiten – und manchmal auch für Unbeteiligte.
* Raimanja wartete unter der Tür der Hütte, als Caycon nach Hause kam. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, erklärte sie ohne Vorwurf. Caycon berichtete ihr von dem Attentat auf die Regierungskuppel und der erzwun genen Unterredung mit Kuranth. Raimanja lächelte schmerzlich und hoff nungsvoll zugleich. »Vielleicht ändert sich das in absehbarer Zeit, Caycon«, sagte sie. Als sie seinen fra genden Blick bemerkte, ergriff sie seine Hand und legte sie auf ihren Leib. »Wir bei de, Caycon, lassen uns von unseren Familien auseinanderhalten, du bist ein Akonda und ich bin eine Sulithur. Aber unser Kind wird beides in einem sein, ebenso vom Blut der Akondas wie der Sulithurs, und dadurch werden Blutsbande geschaffen, die die Akondas und die Sulithurs zusammenführen können.« Caycon fühlte, wie eine Welle der Freude in ihm aufstieg. Nach kurzem Stocken arbei tete sein Herz schneller. Er holte tief Luft. »Du bist …?« »Schwanger, ja. Ich habe es heute ge merkt. Wir werden ein Kind bekommen, Ca ycon.« Impulsiv umarmte Caycon Raimanja, küßte sie und strich ihr übers Haar. »Ich bin sehr glücklich«, flüsterte er ihr ins Ohr. Plötzlich spürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Seine Haltung versteifte sich. Raimanja merkte es und schaute ihm ins Gesicht. »Was hast du plötzlich, Caycon?« fragte sie besorgt.
11 »Es ist nichts«, versuchte Caycon auszu weichen. Doch er merkte, daß es zu spät da zu war. »Was wird mit unserem Kind ge schehen?« fragte er. »Wir müssen die Schwangerschaft melden, wie das Gesetz es befiehlt, und das bedeutet auch, daß man uns das Kind nach der Geburt wegnehmen wird, um es so zu erziehen, daß es sich unserem Volk später stärker verpflichtet fühlt als sei nen Eltern, die es nie bewußt kennenlernen wird.« Raimanja wurde bleich. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, flüsterten ihre blassen Lippen. »Caycon, ich will mein – unser – Kind nicht hergeben!« »Alle Eltern müssen ihre Kinder herge ben, Raimanja«, erwiderte Caycon tonlos. »Wahrscheinlich ist das sogar besser so. Darin wird es künftig keine familiären Ban de mehr geben und folglich auch keine Fa milien mehr, die sich gegenseitig bekämp fen.« »Das ist kein Argument, Caycon – und das weißt du«, gab Raimanja zurück. »Wenn es keine Familien mehr gibt, werden sich an dere Gruppierungen bilden. Das Gesetz über die staatliche Erziehung der Kinder ist eben so sinnlos wie grausam. Ich sehe nicht ein, daß ich unser Kind nur austragen und gebä ren darf – und es dann für immer aus den Augen verlieren soll. Lieber will ich mit dir fliehen. Auf Arkon gibt es noch genug uner forschte Gegenden, in denen die Kolonisati onspolizei uns nicht findet.« Caycon führte Raimanja zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz. »In der Wildnis leben, heißt, in den Ver hältnissen von Primitiven leben«, sagte er. »Selbst dann, wenn ich einen gewissen Vor rat an Munition kaufen könnte, würde er nicht lange reichen. Danach müßte ich mit der Steinschleuder und mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen. Wir müßten uns in Felle kleiden, unsere Mahlzeiten über offenem Feuer zubereiten – und wir würden unserem Kind nichts von den Annehmlichkeiten der Zivilisation bieten können. Überlege dir, ob
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du das wirklich willst.« Raimanja erschauderte. »Aber was können wir sonst tun, um un ser Kind nicht zu verlieren?« fragte sie rat los. »Wir dürfen vor allem nichts überstür zen«, erklärte Caycon. »Außer uns weiß nie mand, daß du schwanger bist, und vorläufig wird man dir auch nichts ansehen können. Wir haben mindestens noch vier Monate Zeit, um uns etwas einfallen zu lassen.« Er wußte, daß sich das Problem auch in vier Monaten nicht würde lösen lassen, aber für den Augenblick war er froh, daß sie die Entscheidung hinauszögern konnten. »Uns wird ganz bestimmt etwas einfal len«, sagte Raimanja und versuchte ein hoff nungsvolles Lächeln. »Aber du mußt hung rig sein, Caycon. Komm, laß uns essen, be vor du zur Jagd aufbrichst!« Sie stand auf und ging zum Elektroherd. Der Tisch war bereits gedeckt, und Raiman ja stellte eine Schüssel mit geschmorten Pil zen auf den Tisch. Dazu gab es Brot, das sie selbst gebacken hatte. Caycon hatte schon zu lange kein richtiges Brot mehr gegessen, als daß er sich noch daran störte, daß es zur Hälfte aus gemahlenen stärkehaltigen Baum früchten gebacken war. Den leicht bitteren Nachgeschmack bemerkte er kaum. Nach der Mahlzeit schnallte sich Caycon das gebraucht erworbene Flugaggregat auf den Rücken, nahm sein Jagdgewehr und ver abschiedete sich von Raimanja. Draußen startete er und nahm Kurs nach Norden, wo es in nicht zu weiter Entfernung noch unbe rührte Wildnis gab.
* Es war wie verhext. So verzweifelt Cay con auch suchte, an diesem Tage schienen alle Ruords in ihren Höhlen geblieben zu sein. Schon überlegte er sich, ob er nicht einen der zahlreichen durch die Wildnis streifenden Triaps schießen sollte, damit Raimanja und er wenigstens Frischfleisch bekämen, da entdeckte er das Yilld.
Yillds waren Riesenreptilien, halb Schlan gen, halb Drachen, und so selten, daß von hundert Jägern höchstens einer einmal in seinem Leben einem begegnete. Ihre Haut war so kostbar und begehrt, daß für eine ein zige rund neunhundert Chronners gezahlt wurden – und ein Chronner war immerhin zehn Merkons wert. Dennoch verpaßte Caycon die günstige Gelegenheit, das Yilld zu erlegen, als es sich auf einem glatten Felsblock sonnte. Zu sehr war er von seinem Anblick fasziniert, und als er seine Scheu davor überwand, ein so herrliches und seltenes Tier zu töten, hatte das Yilld ihn entdeckt und war beinahe laut los zwischen den nächsten Felsblöcken un tergetaucht. Caycon packte sein Gewehr fester und eil te dem Tier nach. Noch immer plagten ihn Skrupel, aber seine finanzielle Lage war so verzweifelt, daß er die Bedenken beiseite schob. Wenn er das Yilld erlegte und seine Haut verkaufte, hatten Raimanja und er für einige Monate ausgesorgt. Dann konnte er sich genug Munition kaufen, um so viele Ruords zu schießen, denn oft hatte er Hun derte dieser kleinen Pelztiere gesehen und nur noch eine Patrone im Lauf gehabt. Caycon kletterte auf einen der höchsten Felsbuckel, um Ausschau nach dem Yilld zu halten. Für einen Augenblick sah er die in allen Farben schillernde Haut zwischen zwei Felsblöcken, dann war sie wieder ver schwunden. Caycon schaltete das Flugag gregat ein und steuerte in die Richtung, in der er das Yilld gesehen hatte. Das Tier konnte ihm nicht mehr entkommen, denn rund zweihundert Schritte weiter versperrte eine beinahe senkrechte Felswand ihm den Fluchtweg. Aber sein altes Flugaggregat spielte ihm einen Streich. Es stotterte plötzlich, so daß Caycon an Höhe verlor. Er kannte diese Mucken gut genug, um damit fertig zu wer den. Der Fehler lag an der elektronischen Steuerung des Luftansauggeräts. Der Öff nungsquerschnitt verringerte sich manchmal selbsttätig. Caycon hatte deshalb eine selbst
Brennpunkt Vergangenheit gebaute Manuellschaltung angebracht, die er mit Hilfe eines Kunststoffseils betätigen konnte. Nachdem er ein paarmal kräftig an dem Seilgriff gezogen hatte, normalisierte sich die Arbeit des Flugaggregats wieder. Als er wieder an Höhe gewonnen hatte, sah er das Yilld, wie es über einen besonders hohen Felsbuckel huschte. Zehn Schritt wei ter ragte die Felswand auf. Dort würde die Flucht des Tieres enden. Caycon steuerte den letzten Felsbuckel an und landete auf ihm. Aber von dem Yilld war weit und breit nichts mehr zu sehen. Der Grund dafür lag auf der Hand. Es mußte in der Höhle verschwunden sein, dessen recht eckiger Eingang sich am Grunde der Fels wand befand. Caycon stieß eine Verwünschung aus. Wenn die Höhle sich verzweigte, würde die Jagd nicht nur sehr viel schwerer, sondern auch gefährlich werden. Ein in die Enge ge triebenes Yilld sollte sich aus einem scheuen Tier in eine blindwütige angreifende Bestie verwandeln. Deshalb überlegte Caycon sich genau, wie er vorgehen wollte. Er fürchtete sich zwar nicht, aber da er nun die Verant wortung für Raimanja und sein ungeborenes Kind trug, mußte er alles tun, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten. Da ihn das Flugaggregat in der Höhle nur behindert hätte, schnallte er es ab. Er ließ es einfach auf dem Felsbuckel liegen, stieg hin ab und schaltete den Handscheinwerfer ein, der in einer Magnethalterung auf dem Brust teil seiner Kombination befestigt war. Indem er das Gewehr schußbereit in Hüfthöhe hielt, drang er langsam in die Höhle ein. Er zuckte zusammen, als er ein hartes Flattern hörte und von einem Luftzug ge streift wurde. Ein Vogel war durch den Lichtkegel aufgeschreckt worden und flüch tete ins Freie. Caycon blieb stehen und dreh te sich langsam, damit der Lichtkegel die nä here Umgebung vollständig ausleuchtete und das Yilld ihn nicht überraschte. Von dem Tier war nichts zu sehen, aber da die Höhle sehr tief in den Fels führte, würde es sich bestimmt weiter hinten ver
13 krochen haben, Caycon ging vorsichtig wei ter, umrundete ein kreisförmiges Loch und gelangte rund hundert Schritt weiter an den Abschluß der Höhle. Verblüfft ließ er den Lichtkegel umher wandern. Das Yilld konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Aber es war nir gends zu sehen. Es kann nur durch das Loch entwischt sein! überlegte Caycon. Er kehrte um und blieb neben dem Loch stehen. Die Öffnung durchmaß etwa vier Schritt. Als Caycon niederkniete, die Lampe in die linke Hand nahm und in das Loch leuchtete, erblickte er einen senkrecht ver laufenden Schacht, dessen Wände so glatt waren, als wären sie mit Desintegratoren aus dem Fels geschnitten worden. Tief unten glaubte Caycon den Boden des Schachtes an einem Lichtreflex zu erkennen. Das Yilld konnte nur über die einen halben Schritt breite Rampe entkommen sein, die sich in zahlreichen Windungen an der Schachtwand hinabschraubte. Caycon über legte, ob er sein Flugaggregat holen sollte, entschied sich aber, ebenfalls die Rampe zu benutzen. Er hängte sich das Gewehr am Riemen über die Schulter und begann mit dem Abstieg. Der Schacht endete in einem Felskorridor. Caycon leuchtete nach oben und schätzte die Höhe auf neunzig Schritt. Er befestigte die Lampe wieder in der Brusthalterung und drang in den Felskorridor ein. Nach unge fähr hundert Schritt stieß er auf ein zweites Loch, das dem ersten völlig glich. Er leuch tete hinein und sah, daß es wiederum die Öffnung eines Schachtes war. Caycon ahnte, daß das Yilld auch diesen Schacht benutzt hatte. Dennoch folgte er dem Felskorridor bis zu seinem Ende, und erst, als er wußte, daß das Yilld sich dort nicht verbarg, kehrte er zu dem Loch zu rück. Auch hier gab es eine spiralförmige Ram pe. Caycon zweifelte unterdessen nicht mehr daran, daß er sich in einem künstlich ange legten Höhlensystem befand. Die Natur hät
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te vielleicht einen Schacht mit einer spiral förmigen Rampe schaffen können, aber nicht zwei, noch dazu so nahe beisammen. Ein leiser Schauder überlief den jungen Mann, als er sich vorzustellen versuchte, daß es auf Arkon schon einmal eine Kolonie ge geben hatte. Oder: Arkon war die Heimat welt eines ausgestorbenen Volkes gewesen. Fragte sich nur, warum es ausgestorben war und warum es solche Höhlen angelegt hatte. Um sich gegen Angriffe aus dem Weltraum zu schützen? Am Grunde des zweiten Schachtes fand Caycon wieder einen Felskorridor. Er war schmal und rechtwinklig wie der erste, mit glatten Wänden und einer Decke, die das Licht so ähnlich wie Glassit reflektierte. Plötzlich stand Caycon im Eingang einer Halle. Er leuchtete sie mit der Lampe aus. Die gegenüberliegende Wand war so weit entfernt, daß sie das Licht kaum noch reflek tierte, aber Caycon schätzte die kuppelför mige Halle so groß, daß darin bequem ein Beiboot von fünfzig Schritt Durchmesser Platz gehabt hätte. In der Wandung befan den sich rechteckige Öffnungen, die Ein mündungen von weiteren Korridoren. Von dem Yilld war nichts zu sehen. Den noch zögerte Caycon, und nicht nur, weil es zu viele Korridore gab, in denen das Tier untergetaucht sein konnte, sondern vor allem deshalb, weil er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
* War das wirklich der Planet, der jetzt Ar kon genannt wurde und viel später, wenn zwei gleich große Planeten auf die gleiche Umlaufbahn gebracht worden waren, Arkon I heißen würde? Ich war mir mit einemmal gar nicht mehr so sicher. Fartuloon hatte mir nie davon er zählt, daß auf Arkon I jemals Spuren einer Zivilisation gefunden worden seien, die un tergegangen war, längst bevor das Imperium gegründet wurde. Das Höhlensystem, in das Caycon eingedrungen war, hätte doch nie-
mals in Vergessenheit geraten können. Oder doch? Caycon hatte sich unterdessen entschlos sen, seine Suche nach dem Riesenreptil fort zusetzen, obwohl er wissen mußte, daß die Aussichten, das Tier noch aufzuspüren, sich stark verringert hatten. Es konnte sich in dem Korridor verbergen, den er als letzten untersuchte und entkam vielleicht nach oben, während er gerade einen der anderen Korridore durchstreifte. Während ich – beziehungsweise mein Geist – dem jungen Mann folgte, als wäre ich mit unsichtbaren Seilen an ihn gefesselt, überlegte ich, ob ich Einfluß auf die Ge schehnisse jener Epoche nehmen könnte. Die Unvernunft der herrschenden Familien erzürnte mich so, daß ich Ihnen am liebsten eine Lektion erteilt hätte. »Das wäre genauso unvernünftig wie die Handlungsweise der verfeindeten Familien«, teilte Fartuloon mir mit. »Außerdem, wie sollten wir in unserer Zustandsform Einfluß auf die Geschehnisse nehmen?« »Du hast recht«, gab ich zu. »Dennoch är gert es mich, daß man sich zerstritten hat, obwohl man nur in gemeinsamer Anstren gung die Schwierigkeiten der jungen Kolo nie meistern kann. Weißt du nichts über die se Epoche und wie der Streit der Familien beendet wurde? Er muß schließlich irgendwann beendet worden sein, sonst hätte das Große Imperium nicht entstehen können.« »Es gibt keine Aufzeichnungen aus dieser Epoche«, erwiderte mein Pflegevater. »Auch keine Legenden – außer der von Caycon und Raimanja?« forschte ich weiter. »Legenden helfen uns nicht weiter, mein Junge«, gab Fartuloon zurück. Ich hatte das Gefühl, als wollte mein Pfle gevater mir etwas verschweigen. Es war zu offenkundig, daß ihm das Thema nicht be hagte. Da ich seine Gefühle respektierte, wechselte ich zudem anderen Thema über, das mich interessierte. »Weißt du, warum kein arkonidischer Hi storiker und auch kein anderer Wissen schaftler jemals die Spuren der untergegan
Brennpunkt Vergangenheit genen Zivilisation erwähnte, die es doch ge geben hat, wie wir sehen können?« erkun digte ich mich. »Ich weiß es nicht, aber ich denke mir, daß die Generationen, die auf die von Cay con folgten, das Wissen über solche Funde unterdrückten und vielleicht sogar absicht lich die Spuren zerstörten. Bedenke, daß die damaligen Arkoniden, auch nachdem sie ih re innere Zerstrittenheit überwunden hatten, mit gewaltigen Schwierigkeiten kämpfen mußten. Es ist verständlich, daß sie unter solchen Umständen ihre neue Heimat; von der aus sie ein Imperium aufzubauen ge dachten, nicht mit einer untergegangenen Zi vilisation teilen mochten, die vielleicht mächtiger war als die ihre.« Das leuchtete mir ein. Außerdem war es immer deprimierend, vor den Zeugen einer großartigen Zivilisation zu stehen, die trotz ihrer gewaltigen Leistungen schließlich un tergegangen und in Vergessenheit geraten war. So etwas führte, zwangsläufig zu der Überlegung, daß alle Zivilisationen vergäng lich waren und damit auch die eigene. Für ein Volk, das sich gerade eine Zivilisation beziehungsweise ein Sternenreich aufbauen will, können solche Überlegungen gefähr lich werden, weil sie den Elan hemmen. Ich beendete meine Grübeleien, als Cay con einen Saal von gewaltiger Ausdehnung erreichte. Seltsamerweise konnte ich den Saal in seiner ganzen Ausdehnung »überblicken«, obwohl der Jäger nur das sah, was vom Lichtkegel seines Handschein werfers angestrahlt wurde. Alles das, was Caycon nicht sah, war für mich von einem düsteren Nebel erhellt. Der Saal war nicht rund, sondern vier eckig und mochte 200 mal 250 Schritt mes sen. Genau in der Mitte stand etwas, das ei nem Tisch ähnelte. Das Material schien selbsttemperierender Kunststoff zu sein, et was, an dem wir zu meiner Zeit erst experi mentierten. Aus dem gleichen Material wa ren die sieben Stühle, die an einer Längssei te des Tisches standen. Hinter den sieben Stühlen standen die Statuen fremdartiger Le
15 bewesen. Meiner Meinung nach mußte es sich um die Statuen von Tieren handeln. Nach einer Weile erschienen mir einige der dargestellten Tiere gar nicht mehr so sehr fremdartig, beispielsweise die Statue, die einem unserer arkonidischen Parkrinder ähnelte, aber irgendwie anders proportio niert war. Caycon hatte sich in den Saal hineinge wagt und stieß einen Schrei aus, als der Lichtkegel seines Handscheinwerfers auf den Tisch die Stühle und die Tierstatuen fiel. Er war offenbar nicht nur überrascht, son dern auch erschrocken. Es dauerte einige Zeit, bis er es wagte, näher an die Dinge her anzugehen und sie zu berühren. Er zuckte zusammen, als ein dünnes Pfei fen ertönte. Ich konnte mir das Geräusch nicht erklären, bis ich bemerkte, daß Cay cons Haar von Windstößen gezaust wurde. Verständlich, daß der Jäger erschrocken war, denn bis in diese Tiefen durfte eigent lich kein Luftstrom dringen. Caycon hatte danach offenkundig genug von diesem für ihn unheimlichen Ort. Er kehrte um, verzichtete darauf, weiter nach dem Yilld zu suchen und stieg in die Außen welt zurück. Entmutigt schnallte er sich sein Flugaggregat wieder auf den Rücken und startete. Ich war gespannt darauf, wie es weiter ging, denn hätten Caycon und Raimanja in ihrer Zeit nicht eine bedeutende Rolle ge spielt, wäre niemals eine Legende um sie entstanden …
3. Caycon war niedergeschlagen. Er gab sich selbst die Schuld daran, daß ihm die wert vollste Jagdbeute seines Lebens entgangen war, weil er im entscheidenden Moment ge zögert hatte. Warum er aus der riesigen Halle geflohen war, konnte er sich hinterher nicht mehr so recht erklären. Schließlich war es nicht un denkbar, daß ein künstlich angelegtes Höh lensystem über Lüftungssysteme verfügte,
16 die mit der Außenwelt in Verbindung stan den: Als Caycon merkte, daß er über eine klei ne Herde Triaps hinweggeflogen war, wurde ihm bewußt, daß er unter Schockwirkung stand. Die Erlebnisse in dem Höhlensystem schienen ihn doch stärker beeindruckt zu ha ben, als er zuerst angenommen hatte. Er betätigte die in der Gürtelschnalle sei ner Kombination untergebrachte Steuerung und kehrte in weitem Bogen zurück, bis er die Triaps wieder erblickte. Die Tiere wühl ten grunzend und schnaubend im weichen Boden einer Waldlichtung. Das Röhren des Flugaggregats schien sie nicht zu stören. Caycon landete rund hundert Meter von ihnen entfernt zwischen hohen Bäumen. Er schaltete das Flugaggregat aus, nahm sein Gewehr von der Schulter und entsicherte einen der beiden Kugelläufe. Danach pirsch te er sich lautlos an die Triaps heran. Am Rand der Lichtung blieb er stehen. Die Tiere waren leicht beunruhigt. Sie hatten die mächtigen Schädel hochgereckt und schnüffelten mit ihren Rüsselnasen. Ihre kleinen nackten Schwänze waren jedoch nicht erhoben, sondern wedelten eifrig hin und her, ein Zeichen, daß die Triaps ihn nicht gewittert oder gehört hatten, sondern nur instinktmäßig wachsam waren. Langsam legte Caycon das Gewehr an, zielte auf ein mittelgroßes weibliches Tier und drückte ab. Der Schuß krachte unnatür lich laut und brachte die üblichen Geräusche des Waldes schlagartig zum Verstummen. Das getroffene Tier knickte ohne einen Laut in den Vorderbeinen ein, dann legte es sich auf die Seite. Seine Beine bewegten sich in dem Kampf, der den ganzen Körper durch lief, dann entspannten sie sich. Die übrigen Tiere stoben erschrocken davon. Caycon lud den abgeschossenen Lauf nach, hängte sich das Gewehr wieder über und trat auf die Lichtung. Unterwegs zog er sein Jagdmesser. Es war ein gewöhnliches Messer mit scharfgeschliffener Stahlklinge. Ein Vibratormesser wäre zu kostspielig ge wesen, vor allem, weil die Energiemagazine,
H. G. Ewers die von Zeit zu Zeit erneuert werden muß ten, zu teuer waren. Neben dem Triap kniete Caycon nieder. Die Kugel hatte es genau ins Herz getroffen. Es war sofort tot gewesen. Caycon weidete es fachmännisch aus. Er war gerade fertig damit, als ihn sein Instinkt warnte. Blitz schnell ließ er das Messer fallen und machte eine ruckartige Bewegung mit der Schulter, über der das Gewehr hing. Die Waffe glitt ihm in die Hände. Gleichzeitig hatte sich Caycon umgedreht, so daß er den Waldrand hinter sich ins Blickfeld bekam. Die beiden Ongtrees, die sich, tief auf den Boden geduckt, halb über die Lichtung ge schlichen hatten, sprangen auf und griffen sofort an. Ongtrees waren geschmeidige Raubkatzen, die an das Leben im Dschungel angepaßt waren. Wahrscheinlich befand er sich in ihrem Revier und wurde von ihnen weniger als Beute denn als Eindringling an gesehen, der getötet oder vertrieben werden mußte. Ihre Taktik war so einfach wie vollkom men. Sie griffen ihn in einer Zangenbewe gung von zwei Seiten an. Caycon zielte und schoß auf das von links heranstürmende Tier. Er sah noch, daß die Kugel es zurück schleuderte, dann schnellte er hoch und roll te sich über den Triap, um dem zweiten Tier zu entgehen. Der zweite Ongtree landete halb auf dem toten Triap, fauchte und schnellte sich her um. Mit dem nächsten Sprung konnte er Ca ycon nicht verfehlen. Aber der Jäger war schneller. Er schoß, als die Raubkatze die Muskeln zum Sprung spannte. Das Tier kam noch hoch, dann brach es über dem Triap zusammen. Rasch lud Caycon die beiden leergeschos senen Kugelläufe nach, dann sah er sich um. Aber außer den beiden Ongtrees war kein Raubtier zu sehen, und diese beiden waren tot. Caycon atmete auf. Er überzeugte sich da von, daß die beiden Ongtrees tatsächlich tot waren, denn mancher Jäger hatte schon sein Leben oder seine Gesundheit eingebüßt,
Brennpunkt Vergangenheit weil er eine Raubkatze für tot hielt und dann, als er sie abhäuten wollte, angefallen wurde. Während Caycon anschließend die beiden Ongtrees abhäutete, besserte sich seine Lau ne. Die Ongtree-Felle würden ihm minde stens dreißig Chronners bringen. Morgen konnte er seine Schuld bei Ghodem beglei chen und außerdem noch verschiedene Din ge einkaufen, die Raimanja und er bitter nö tig hatten. Die beiden Häute rollte Caycon zusam men und verstaute sie in dem Jagdsack, der unter seinem Flugaggregat befestigt war. Den ausgeweideten Triap befestigte er mit Gurten an der Lastenhalterung vor seinem Bauch. Danach startete er und beschleunigte vorsichtig, um das alte Aggregat nicht zu sehr zu belasten. Anderthalb Stunden später drosselte er das Flugaggregat und setzte zur Landung an. Er runzelte die Stirn, als er den schweren ge schlossenen Gleiter entdeckte, der am Rand der Lichtung schwebte, auf der die Hütte stand. Hatte Raimanja vielleicht Besuch von einem Mitglied ihrer Familie bekommen? Caycon landete neben der Hütte, schnallte den Jagdsack und den Triap los und ging auf die Tür zu. Sie öffnete sich vor ihm. Ein hochgewachsener breitschultriger Mann stand in der Öffnung. Er trug den Funkhelm und die hellblaue Uniformkombination der Kolonisationspolizei. »Komm nur herein, Caycon!« sagte er und grinste aufmunternd. Mit gemischten Gefühlen trat Caycon ein. Raimanja saß in der Wohnküche auf einem Stuhl. Drei weitere Polizisten standen mit verschränkten Armen vor ihr. Caycon sah, daß Raimanja geweint hatte. »Was geht hier vor?« erkundigte er sich schroff. Der hinter ihm eingetretene Polizist ver setzte ihm einen derben Stoß in den Rücken, so daß Caycon drei Schritte nach vorn stol perte. »Auch noch frech werden, was?« fragte er höhnisch.
17 Caycon fuhr herum, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich protestiere gegen diese Behand lung!« schrie er. »Wir sind keine Verbre cher, sondern freie Bürger.« »So?« erwiderte der Polizist lauernd. »Dann verrate uns mal, wie ihr das nennt, gegen das Gesetz zur Anmeldung von Schwangerschaften zu verstoßen!« Caycon schaute sich nach Raimanja um. Als sie nickte, wußte er, daß es zwecklos war, alles abstreiten zu wollen. Die Dämo nen mochten wissen, wie die Polizei von Raimanjas Schwangerschaft erfahren hatte, aber sie wußten nun einmal davon. »Wir hätten es morgen gemeldet«, erklär te er. »Heute ging es nicht mehr, weil ich zur Jagd mußte.« »Morgen wäre es auch nicht gegangen – und übermorgen auch nicht«, höhnte der Po lizist. »Vielleicht erst in vier Monaten, wenn es sich nicht mehr verbergen ließ, wie? Oder hättet ihr euch dann dem Gesetz entzogen?« Caycon wurde blaß. Wieder schaute er sich nach Raimanja um. Sie schüttelte dies mal den Kopf. Folglich hatte sie nichts über ihr Gespräch verraten. Aber woher wußte die Polizei dann über alles Bescheid? Es gab nur eine Antwort darauf. Die Polizei mußte über eine verborgene Abhöranlage alles mit gehört haben. Das konnte aber nur bedeuten, daß sie alle erwachsenen Arkoniden über wachte, wahrscheinlich mit Ausnahme der führenden Familien. »Das ist ungeheuerlich!« entfuhr es ihm. »Warum haben wir gekämpft und unbe schreibliche Opfer gebracht, um unabhän gig, frei, zu sein, wenn wir uns in unserer neuen Heimat bespitzeln lassen sollen!« »Sei vorsichtig mit solchen Äußerungen, Caycon!« drohte der Polizist, der bisher al lein gesprochen hatte. »Sie könnten als An stiftung zum Aufruhr ausgelegt werden.« »Das ist mir egal«, entgegnete Caycon trotzig. »Mir auch«, sagte der Polizist. »Wir neh men deine Freundin mit zur Zwangsuntersu chung und Registrierung. Wahrscheinlich
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müssen wir sie wegen Fluchtgefahr inhaftie ren, aber darüber entscheidet der Richter. Du kannst hier bleiben. Allerdings wirst du dich, genau wie deine Freundin, vor Gericht verantworten müssen.« Caycon merkte, daß er vor Zorn zitterte. »Ihr wollt Raimanja verschleppen!« schrie er außer sich. »Das lasse ich nicht zu!« Seine Faust schoß vor und landete im Ge sicht des vor ihm stehenden Polizisten. Der Mann taumelte zurück, ging aber nicht zu Boden. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Wut. »Dich machen wir fertig!« erklärte er. Als er kam, nahm Caycon die Arme zur Deckung hoch. Er vergaß, daß hinter ihm drei weitere Polizisten standen und merkte es erst, als je ein Mann einen Arm von ihm packte und auf den Rücken drehte. Der Poli zist vor ihm holte aus …
* Als Caycon aus dem Dunkel der Bewußt losigkeit auftauchte, hatte er das Gefühl, aus tiefem Wasser an die Oberfläche zu steigen und dort gegen einen Schiffsrumpf zu sto ßen. Sein Schädel schmerzte, als fänden im Innern ständig kleine Explosionen statt. Erst nach längerer Zeit ebbten die Schmerzen soweit ab, daß Caycon halbwegs klar denken konnte. Er bemerkte, daß es dunkel war und er auf einem Fußboden lag. Als sich seine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten, konnte er im blassen Licht der Sterne, das durch die Fenster fiel, die Umris se der Möbel erkennen. Er stellte fest, daß er sich in der Wohnküche der Hütte befand. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Po lizisten zurück und an das, was geschehen war. Die Polizisten hatten ihn brutal zusam mengeschlagen und Raimanja fortge schleppt. Nur flüchtig dachte er daran, die Polizisten wegen schwerer Körperverletzung anzuzeigen. Es hätte keinen Sinn gehabt, da er Widerstand geleistet hatte. Aber das war ihm auch nicht so wichtig. Wichtig war nur,
daß Raimanja verschleppt und zwangsweise medizinisch untersucht worden war. Wahr scheinlich hatte man sie anschließend in eine Zelle des nächsten Polizeireviers gesperrt. Langsam stemmte Caycon sich hoch. Alle Knochen taten ihm weh, aber er biß die Zäh ne zusammen, stand auf und wankte in das kleine Badezimmer nebenan. Dort ließ er das Waschbecken voll kaltes Wasser laufen und steckte den Kopf hinein. Das ließ den Kopfschmerz bis auf ein erträgliches Maß abklingen. Caycon rieb sich das nasse Haar behutsam mit einem Handtuch ab, dann kehrte er in die Wohnküche zurück, schalte te das Licht ein und setzte sich. Seine Rip pen und die Magengegend schmerzten noch höllisch. Nach einiger Zeit stand Caycon wieder auf, füllte sich einen Becher mit kaltem Wasser und schluckte drei Schmerztabletten. Danach setzte er sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Es erschien ihm unerträglich, daß Rai manja bis zur Geburt des Kindes eingesperrt bleiben sollte. Sie würde das psychisch nicht verkraften und ein Trauma entwickeln, das sich letzten Endes schädlich auf das Kind auswirken mußte. Es würde schließlich ihr und sein Kind bleiben, auch wenn man es ihnen bald nach der Geburt wegnahm. Und das war das andere, was ihm uner träglich erschien. Das Gesetz über die staat liche Erziehung aller Kinder – ohne Kontakt mit den Eltern – stammte noch aus der Zeit des Großen Befreiungskrieges. Da war es aus mehreren Gründen sinnvoll gewesen. Einmal deshalb, weil die Frauen und Män ner, die auf den Kampfschiffen Dienst taten, immer in Lebensgefahr schwebten. Sie kämpften besser, wenn sie wußten, daß we nigstens ihre Kinder nicht gefährdet waren, weil sie entweder auf Schiffen lebten, die sich von allen Kampfhandlungen fernhielten oder auf Planeten, deren Koordinaten streng geheim waren. Zum anderen hatten die Kin der so erzogen werden müssen, daß sie keine andere Bindung kannten als die an die Ge samtheit.
Brennpunkt Vergangenheit Diese Gründe existierten nicht mehr. Den noch wurde das Gesetz beibehalten, mit der Begründung, daß das Volk der Arkoniden immer bereit sein müsse, Überfälle der Ako nen abzuwehren und daß die Erziehung zur ausschließlichen Bindung an den Staat die beste Voraussetzung für die Erhaltung der Kampfbereitschaft sei. Caycon glaubte, daß diese Begründung nur ein Vorwand war. Die Akonen waren so schwer geschlagen worden, daß sie froh sein mußten, daß die Arkoniden sie in Ruhe lie ßen und sich eine neue Heimat gesucht hat ten. Wenn es eine ernsthafte Bedrohung für Arkon gab, dann resultierte sie aus der Zu spitzung der innenpolitischen Spannungen und letztlich aus der Unvernunft jener, die die Gesetze machten. Caycon streckte die Finger auf der Tisch platte, dann ballte er die Fäuste und starrte grimmig darauf. Er hatte erkannt, daß die Arkoniden die schlechten Gesetze nicht hin nehmen durften, sondern sich wehren muß ten. Er suchte im Trivideogerät nach der Ab hörschaltung, fand sie und machte sie un brauchbar. Danach sah er sich um. Sein Jagdgewehr lag auf dem Boden. Er hob es auf, entlud es und holte die Tasche mit dem Waffenreinigungsgerät. Danach nahm er das Gewehr auseinander und fing an, es so sorgfältig zu reinigen und einzufet ten. Als er die Haustür gehen hörte, sprang er auf und griff nach seinem Jagdmesser. Aber es war nur sein Freund Sajogh, der herein schaute. »Was ist los? Wie siehst du aus? Wo ist Raimanja?« wollte Sajogh wissen. Caycon legte das Messer auf den Tisch und bat seinen Freund herein. Sajogh war zwei Jahre älter als er und hatte im letzten Kriegsjahr als Ortungshelfer auf einem Kreuzer gedient, der allerdings keine Feind berührung mehr gehabt hatte. Als Sajogh saß, berichtete ihm Caycon, was geschehen war. Sajogh hörte ihm auf merksam zu. Sein Gesicht verdüsterte sich dabei. Als Caycon endete, sah er mißbilli
19 gend auf. »Und du glaubst, mit deinem Jagdgewehr die Regierung stürzen zu können?« fragte er. »Nein, aber ich kann zumindest Raimanja befreien und dann mit ihr fliehen«, entgeg nete Caycon heftig. »Das schaffst du nicht«, erklärte Sajogh. »Auf dem Revier sind immer mindestens vier Polizisten. Sicher, du hast das Überra schungsmoment auf deiner Seite, aber wenn es zum Kampf kommt, verlierst du. Außer dem würde man, falls ihr entkommen könn tet, euch mit Gleitern verfolgen. Ihr kämt nicht weit.« »Aber wir können uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen!« begehrte Caycon auf. Sajogh dachte nach. Als er den Kopf wie der hob, wirkte sein Gesichtsausdruck ent schlossen. »Du hast recht, Caycon, wir dürfen uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen. Aber wir dürfen auch keine Polizisten töten. Sicher, sie haben dich brutal zusammenge schlagen, aber wenn wir nur einen von ihnen töten, hetzen uns die anderen so lange, bis sie uns haben.« »Wir?« fragte Caycon hoffnungsvoll. »Du würdest mir helfen?« »Ich werde dir helfen, wenn es mir ge lingt, Patech, Hromer und Lasker zum Mit machen zu bewegen. Du kennst sie; sie wa ren wie ich als Helfer auf dem Kreuzer NA HOLK. Wir haben uns in dem Durcheinan der bei Kriegsende Waffen beschafft und mitgenommen, Paralysatoren. Damit können wir die Polizisten ausschalten, ohne jeman den zu töten – und wer käme schon darauf, uns zu verdächtigen? Niemand weiß, daß wir Paralysatoren versteckt halten. Die Poli zei wird an einen Terroranschlag der Oppo sition denken. Da Raimanja zur Familie des Oppositionsführers gehört, liegt der Ver dacht doch nahe, daß ihre Familie sie befreit hat, nicht wahr?« Caycons Augen funkelten. »Ja, so muß es gehen, Sajogh. Laß uns so fort aufbrechen!«
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Sajogh hob die Hände. »Immer langsam, Caycon! Ich werde jetzt gehen und mit unseren Freunden sprechen. Du packst inzwischen alles, was ihr beide braucht, um in der Wildnis zu überleben – und um dort ein Kind zur Welt zu bringen. Besorge dir medizinische Handbücher und Medikamente, Verbandszeug, Munition und so weiter. Ich werde einen Gleiter beschaf fen, denn ihr könnt ja nicht zu Fuß fliehen. Wenn unsere Freunde mitmachen, Überfäl len wir heute nacht das Revier und holen Raimanja heraus. Danach kehren wir hierher zurück. Ihr flieht mit dem Gleiter, und wir anderen setzen uns bei mir zu einer Partie Kekach zusammen. Meine Frau wird bestäti gen, daß wir den ganzen Abend und die hal be Nacht dort zugebracht haben. Alles klar soweit, Caycon?« »Alles klar, Sajogh«, sagte Caycon. »Ich danke dir, mein Freund.«
* Ich hatte vergeblich versucht, mich Cay con oder Sajogh bemerkbar zu machen. Es war einfach nicht möglich. Auch der Ver such, in Caycon zu schlüpfen, mißlang. Ich vermochte nicht näher als bis auf einen Schritt an ihn heranzukommen: Möglicher weise war sogar diese Annäherung nur scheinbar. Aber auf keinen Fall konnte ich in ihn hinein und eventuell sein Bewußtsein zurückdrängen oder mit ihm Kontakt auf nehmen. »Es wäre sowieso ein Fehler gewesen«, teilte Fartuloon mir mit. »Wenn wir die Ver gangenheit beeinflußten, würde das zu ei nem Paradoxon führen.« »Ich habe einmal gelesen, daß Zeitpara doxa unmöglich seien«, entgegnete ich. »Folglich könnten wir keines herbeiführen.« »Das kommt darauf an, wie man ein Para doxon definiert«, erklärte mein Pflegevater. »Das absolute Zeitparadoxon kann es nie mals geben, denn es würde sich nach dem Gesetz der Negation durch seine Verwirkli chung selber aufheben. Aber es gibt immer
die Möglichkeit einer sehr großen Annähe rung an ein absolutes Paradoxon. So bei spielsweise die Verwirklichung des Unwahr scheinlichen durch Manipulierung der Di mension der Zeit. Wenn wir Caycon nicht so handeln ließen, wie er von sich aus handeln würde, würden wir wahrscheinlich niemals Akon-Akon begegnen und folglich niemals hierher kommen, um Caycon zu beeinflus sen.« »Was ich schon sagte«, erwiderte ich. »Zeitparadoxa sind unmöglich, weil ihr Zu standekommen ihre Ursachen eliminieren würde, womit sie eben nicht zustande kämen.« »Aber das muß nicht so sein«, gab Fartu loon zurück. »Wenn wir Caycons Hand lungsweise nur modifizieren, so daß AkonAkon geboren würde und wir ihm begegne ten, so könnte doch durch die Modifikation etwas verändert werden, das vielleicht ent scheidenden Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung Arkons nimmt. Beispielsweise so, daß das Große Imperium seine Blütezeit viel früher erreicht hätte und beim Auftau chen der Maahks stark genug gewesen wäre, um die Wasserstoffatmer abzuschrecken und den Methankrieg zu vermeiden.« Ich versuchte, mir das vorzustellen, geriet aber auf immer mehr Variationen, die mich so verwirrten, daß ich beschloß, dieses The ma fallenzulassen. »Also gut«, teilte ich meinem Pflegevater mit. »Beschränken wir uns aufs Beobachten. Ich bin gespannt, wie die Geschichte weiter geht und ob das Paar tatsächlich nach Per pandron entführt wird und von wem.« »Ich habe eine bestimmte Vorstellung, wer es entführen wird«, erwiderte Fartuloon. Mehr verriet er allerdings nicht, obwohl ich ihn drängte. Schließlich gab ich es auf. Wenn Fartuloon über etwas nicht sprechen wollte, konnte er so schweigsam sein wie ein Stein.
4. Tekla von Khom fuhr hoch, als einer der
Brennpunkt Vergangenheit Ortungsschirme einen Reflex anzeigte, wie er für ein größeres Raumschiff charakteri stisch war. »Vielleicht haben wir sie endlich gefun den, Perc!« rief er dem Schiffskommandan ten zu. Perc von Aronthe blickte den Wissen schaftlichen Kommandanten gelassen an. »Vielleicht haben wir ein Raumschiff von ihnen gefunden, Tekla«, erwiderte er. »Das muß aber nicht bedeuten, daß sie sich tat sächlich in diesem Kugelsternhaufen nieder gelassen haben.« »Der Kurier, den wir verhörten, sagte die Wahrheit«, entgegnete Tekla von Khom. »Er konnte gar nicht anders. Die Welt der Abtrünnigen muß ungefähr im Zentrum des Kugelsternhaufens sein, den der Kurier Urd nir nannte.« »Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein«, meinte der Kommandant. Er wandte sich an seinen Ersten Piloten. »Folgen Sie dem anderen Schiff in sicherem Abstand und messen sie die Transition an, wenn es springt.« »Wenn wir sie orten, müßten sie dann nicht auch uns orten?« warf Segos, ein Wis senschaftler, ein. »Unsere neuen Hypertaster haben eine größere Reichweite als ihre«, erklärte Perc von Aronthe. »Und wenn sie ebenfalls neuartige Hyper taster entwickelt haben?« fragte Segos. »Dann werden wir in Urdnir sterben«, er widerte der Kommandant fatalistisch. »Wir können nicht alle Wenn und Aber berück sichtigen, Segos. Wenn unser Vorhaben mißlingt, werden die Abtrünnigen uns in ei nigen hundert Jahren unterwerfen, denn sie besitzen die Aggressivität von Barbaren.« »Wenn unser Plan fehlschlägt, werden wir dafür sorgen, daß die Abtrünnigen uns nie mals finden können«, warf Tekla von Khom selbstbewußt ein. »Die, die sich Arkoniden nennen, mögen die besseren Kämpfer sein, aber wir haben die besseren Wissenschaftler. Wir werden ihnen immer überlegen blei ben.«
21 Der Ortungsreflex des anderen Raum schiffs verschwand vom Ortungsschirm, als es zur Transition ansetzte. Gleich darauf schlugen die Strukturtaster aus. Perc von Aronthe beugte sich vor, um die angezeigten Koordinaten besser ablesen zu können. »Transitionsziel ist tatsächlich das Zen trum des Sternhaufens«, stellte er fest. »Erster Pilot, programmieren Sie eine Tran sition mit einer Zielpunktabweichung von acht Lichtstunden. Dann warten Sie die nächste Erschütterung im Zielgebiet ab und drücken auf den Knopf. Auf diese Weise werden die Strukturtaster der Abtrünnigen unsere Ankunft für ein Raumecho der ande ren Strukturerschütterung halten. So etwas kommt schließlich vor.« Er hob grüßend die Hand, als ein anderer Mann die Hauptzentrale betrat. »Ich denke, Sie werden bald Arbeit be kommen, Orthrek«, sagte er. Der Mann, der Orthrek genannt worden war, kam langsam näher, dann setzte er sich in den Kontursessel neben dem Komman danten. Seine Bewegungen wirkten so ge schmeidig wie die einer Raubkatze, und sei ne Augen verrieten eine wache Intelligenz und eine kompromißlose Härte. »Ich habe alles vorbereitet, Komman dant«, erwiderte er. »Meine Einsatzgruppe wird ihre Mission erfüllen, wenn Sie uns zum Ziel bringen.« »Strukturerschütterung!« meldete der Er ste Pilot und drückte gleichzeitig die Akti vierungstaste für das Sprungprogramm. Da das Raumschiff mit rund neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit flog, wurde das Programm ohne Verzögerung realisiert. Für die Besatzung des Schiffes wurde al les ausgelöscht – einschließlich ihrer eige nen bewußten Existenz. Als es zurückkehrte, verzogen sich die Gesichter unter dem Ein druck des Entzerrungsschmerzes, der nach jeder Wiederverstofflichung auftrat. Perc von Aronthe ließ sich als einziger Mann in der Hauptzentrale nichts davon an merken. Leicht ironisch beobachtete er, wie
22 die anderen Männer ihre Nacken massierten. Dann wandte er sich an den Ersten Piloten. »Gut gemacht«, erklärte er. »Ich nehme an, die angemessene Strukturerschütterung stammte von einem Raumschiff, das den Zielsektor verlassen hat. Andernfalls hätten wir die Erschütterung der Entstofflichung vorher anmessen müssen.« »Positiv, Kommandant«, erwiderte der Erste Pilot. Perc von Aronthe schaltete den Interkom zur Ortungszentrale durch. »Wir sind in der Nähe einer sehr großen blauweißen Sonne herausgekommen«, sagte er. »Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das Zielsystem. Ich bitte um Durchtastung mit allem, was wir haben.« »Verstanden, Kommandant«, kam es aus dem Interkomlautsprecher. »Wir tasten das System durch.« »Die blauweiße Sonne liegt fast genau im Zentrum des Kugelsternhaufens«, bemerkte Tekla von Khom, nachdem er die Anzeigen des automatischen Astrogators abgelesen hatte. »Eigentlich unklug von den Abtrünni gen, wenn sie sich längere Zeit verborgen halten wollen. Wer immer in einem Stern haufen nach ihnen sucht, fängt beim Zen trum an und geht allmählich nach außen. Wir hätten es ebenso gehalten, wenn wir nicht vorher eines ihrer Schiffe geortet hät ten.« »Diese Barbaren sind zu stolz, um sich ir gendwo in einem Kugelhaufen zu ver stecken«, warf Orthrek ein. »Für ihre Menta lität kommt nur das Zentrum eines solchen Gebildes in Frage, denn sie halten sich für den Nabel des Universums.« »Zweifellos werden sie von hier aus ein Imperium aufbauen wollen, das nach und nach den gesamten Kugelsternhaufen in sein Herrschaftsgebiet einverleibt«, sagte Perc von Aronthe. »Das wache Wesen wird dafür sorgen, daß dieses Imperium sich als unsere Kolonie betrachtet«, erklärte Orthrek. Die Ortungszentrale meldete sich. »Die blauweiße Sonne wird von sieben-
H. G. Ewers undzwanzig Planeten umlaufen. Nummer vier ist ein Riesenplanet. Sehr unwirtlich. Dennoch haben die Mentaltaster Impulse von intelligenten Lebewesen aufgefangen, die auf ihm leben.« »Abtrünnige?« fragte der Kommandant. »Nein, es sind Impulse eines fremdartigen Volkes, das nicht mit uns verwandt ist«, kam die Antwort. »Aber auf dem dritten Pla neten leben Abtrünnige. Es müssen zirka hunderttausend Arkoniden sein.« »Nennen Sie diese Barbaren nicht Arko niden!« schrie Perc von Aronthe. »Es sind Abtrünnige! Aber nur hunderttausend? Es müssen Millionensein!« »Wahrscheinlich lebt der große Teil der Abtrünnigen noch auf ihren Raumschiffen«, sagte Tekla von Khom. »Ihre Raumflotte hatte ja längst nicht die Verluste wie unse re.« »Kein Wunder«, meinte Perc von Aron the. »Die Abtrünnigen hatten schließlich die meisten und besten Kampfschiffe unserer Flotte in ihren Besitz gebracht. Sonst hätten sie keine Chance gegen uns gehabt.« »Dann ist ihre Raumflotte unterwegs«, er klärte Orthrek. »Ich nehme an, sie erkundet bereits systematisch diesen Kugelsternhau fen, um festzustellen, welche bewohnten Planeten als erste unterworfen werden kön nen, damit Milliarden unterdrückte Intelli genzen den Abtrünnigen helfen, ihr geplan tes Imperium noch schneller aufzubauen.« »So wird es sein«, sagte Tekla von Khom. »Es wird höchste Zeit, diese Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken. Perc, wie weit können wir an den Planeten der Ab trünnigen herangehen?« »Wenn sie kein Schiff im Raum haben – und das scheint der Fall zu sein –, dann bis auf eine Lichtstunde.« »In Ordnung«, erwiderte der Wissen schaftliche Kommandant. »Das ist dicht ge nug, um den Spezifikator einzusetzen und unter hunderttausend Abtrünnigen die Per son herauszufinden, die für unsere Zwecke am besten geeignet ist.« Perc von Aronthe gab seinem Ersten Pilo
Brennpunkt Vergangenheit ten einen Wink. »Kurz beschleunigen und dann Schleichfahrt herangehen!« befahl er.
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auf
* Das Schiff landete gegen Mittag. Caycon eilte hinaus, als er das Dröhnen der Antigravtriebwerke und das Brausen der verdrängten Luftmassen hörte. Er sah, daß es ein Schwerer Kreuzer war, der auf dem provisorischen Landefeld in der Nähe der Stadt niederging. Schillernde Flecken auf der Außenhülle zeigten die Stellen an, die in den Kämpfen des Großen Befreiungskrieges von Schutzschirmdurchbrüchen ange schmolzen worden waren. Caycon wußte, daß für das angekommene Schiff ein anderes Raumschiff starten wür de. Es befand sich stets ein großes Schiff in der Kreisbahn um Arkon – beziehungsweise stand eines auf dem Planeten selbst. Mehr war zum Schutz der Kolonie nicht erforderlich, denn die Akonen ahnten nicht, wo die Arkoniden sich niedergelassen hat ten. Als Caycon in die Hütte zurückkehrte, schaltete sich das Trivideogerät ein, das in keinem Haushalt der Kolonie fehlte. Die Re gierung hatte diese Geräte kostenlos verteilt, weil sie alle ihre Anweisungen und Mittei lungen über Trivideo verbreitete. Es wurden auch Kurse über Agrotechnik, über die Be sonderheiten des ökologischen Systems von Arkon und über praktische und theoretische Raumflugprobleme ausgestrahlt, die die Bürger nach eigenem Gutdünken einschalten konnten. Wurden amtliche Bekanntmachun gen verbreitet, schalteten die Behörden die Geräte fernsteuertechnisch ein. Diesmal gab das Amt für Raumfahrt die Namen der weiblichen und männlichen Bür ger bekannt, die sich zwecks Ausbildung be ziehungsweise Auffrischung ihrer Kenntnis se innerhalb von zwei Tagen an Bord des gelandeten Schweren Kreuzers melden muß ten. Sie würden für die Dauer von minde stens einem halben und höchstens einem
ganzen Arkonjahr die Hälfte der Schiffs mannschaft stellen und eine Hälfte der bis herigen Besatzung ablösen. Die abgelösten Frauen und Männer waren ebenfalls Reser visten oder Rekruten. Sie würden für zwei Jahre zivilen Tätigkeiten nachgehen und da nach wieder aufgerufen werden, sich an Bord eines Raumschiffs zu melden. Auf die se Weise wurde jeder gesunde Erwachsene in die Lage versetzt, notfalls als vollwertiges Besatzungsmitglied eines Raumschiffs zu dienen. Auf einem der beiden inneren Plane ten waren die ersten neugebauten Raum schiffswerften in Betrieb genommen wor den. Sie produzierten zwar erst dreißig Schiffe jährlich, aber die Produktion sollte innerhalb der nächsten zehn Jahre auf hun dertfünfzig gesteigert werden. Caycons Knie wurden plötzlich so weich, daß er sich setzen mußte. Er gehörte zu den wenigen Männern seines Jahrgangs, der noch nie eingezogen worden war und mußte bei jeder Schiffslandung damit rechnen, an Bord gerufen zu werden. Wenn sein Name diesmal genannt wurde, würde sein Plan, Raimanja zu befreien und mit ihr in die Wildnis zu fliehen, undurchführbar werden. Caycon hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, sich dem Flottendienst zu entziehen. Das war eine Pflicht, die jeder Arkonide deshalb erfüllte, um das Überleben seines Volkes zu sichern. Aber die Sendung ging vorüber, ohne daß Caycons Name genannt worden wäre, und Caycon war beinahe zornig darüber, denn er mußte annehmen, daß die Verwaltung ver anlaßt hatte, seinen Namen in der Positronik des Amtes für Raumfahrt zu löschen, weil man ihn für unwürdig hielt, Dienst in der Raumflotte zu tun. Wäre der Gedanke an Raimanja und das werdende Leben in ihr nicht gewesen, Caycon hätte sich auf der Stelle darüber beschwert. So aber überwand er seinen Groll und fuhr fort, alles zusammenzusuchen und ein zupacken, was notwendig war, um die erste und schwerste Zeit in der Wildnis zu über stehen. Er hoffte, daß das grausame Gesetz
24 in absehbarer Zeit für ungültig erklärt wur de, so daß er mit Raimanja und dem Kind in die Zivilisation zurückkehren konnte. Als es dunkelte, erschien Sajogh mit sei nen drei Freunden. Sie trugen Bündel bei sich, und als sie sie aufrollten, kamen schwere Paralysatoren zum Vorschein. Es waren insgesamt fünf Lähmwaffen, so daß auch Caycon eine bekam. Lasker, der Älteste der Gruppe, verteilte schwarze Gesichtsmasken, die über die Köp fe gestreift wurden und nur Mund, Ohren und Augen frei ließen. »Wir werden nicht alle zusammen zum Revier fliegen«, erklärte er. »Das würde so fort Verdacht erregen. Deshalb trennen wir uns nachher und fliegen einzeln aus ver schiedenen Richtungen zum Ziel. Damit wir gleichzeitig dort eintreffen, werden wir un sere Chronographen vergleichen und einen Zeitpunkt festlegen.« Er blickte in die Gesichter der Freunde. »Es muß alles sehr schnell gehen«, sagte er. »Da nur Patech, Hromer und ich im Bo denkampf ausgebildet sind, werden nur wir drei ins Revier stürmen. Sajogh und Caycon bleiben draußen und halten uns den Rücken frei. Sobald wir mit Raimanja aus dem Re vier kommen, springen wir in den Gleiter und fliegen hierher. Caycon und Raimanja müssen dann ihr Gepäck verladen und sofort weiterfliegen.« »Und wir fliegen dann zu mir«, ergänzte Sajogh. »In Ordnung«, erwiderte Lasker. »Zeitvergleich!« Sie verglichen ihre Armbandchronogra phen, dann versteckten sie die Paralysatoren in die langen Beintaschen ihrer Kombinatio nen, steckten die Masken ein und brachen auf. Draußen bedeutete Lasker jedem, wie er fliegen sollte, so daß sie alle zur gleichen Zeit aus verschiedenen Richtungen beim nächsten Polizeirevier eintrafen. Der Flucht gleiter war bereits in der Nähe des Reviers geparkt. Anschließend starteten sie. Caycon hatte die Richtung zum Lande-
H. G. Ewers platz des Raumschiffs zugewiesen bekom men. Er sollte aber nur die Hälfte der Strecke zurücklegen und danach umkehren. Da die vereinbarte Flughöhe zweihundert Meter betrug, konnte Caycon das hell er leuchtete Raumschiff deutlich sehen. Mit ei nemmal spürte er so etwas wie Heimweh – Heimweh nach den Sternen, die während der Kindheit sein Zuhause gewesen waren. Im Unterschied zu anderen Kindern waren die der beiden mächtigsten Familien nicht ohne Kontakt mit den Eltern und Geschwistern aufgezogen worden, sondern hatten mit ih ren Müttern und den jüngeren Schwestern auf einem geheimen Planeten gewohnt, der der betreffenden Familie gehörte. Sehr oft aber waren sie vom Flaggschiff des Famili enoberhaupts abgeholt und für längere Zeit mit in den Weltraum genommen worden, so daß sie mehr zwischen den Sternen als auf ihren Planeten daheim gewesen waren. Es war im Grunde genommen eine schöne Zeit gewesen, und Caycon hätte viel darum gegeben, wenn er mit Raimanja in einem Raumschiff wegfliegen könnte. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um die sen Traum aus seinen Gedanken zu ver scheuchen und sich ganz auf das zu konzen trieren, was unmittelbar vor ihm lag. Er kontrollierte fortwährend seinen Chro nographen, und als der vereinbarte Zeitpunkt gekommen war, wendete er und flog zu dem Teil der Stadt, in dem sich das zuständige Polizeirevier befand. Unterwegs mußte er gegen Skrupel ankämpfen, die ihm plötzlich kamen. Aber dann sagte er sich, daß ja je mand damit anfangen mußte, sich gegen ein grausames Gesetz zu stellen, das noch dazu von den Herrschenden wie selbstverständ lich ignoriert wurde. Wieder kontrollierte er seinen Chronogra phen. Er beschleunigte etwas, damit er pünktlich am Ziel eintraf. Als er die erleuch teten Panzerglasfenster des Reviers sah, ging er allmählich tiefer. Da er und seine Freunde ohne die vorgeschriebenen Positionslichter flogen, sah er die Freunde, die links und rechts von ihm kamen, erst ziemlich spät. Er
Brennpunkt Vergangenheit winkte kurz, dann zog er sich die Maske über den Kopf, nahm den Paralysator, entsi cherte ihn und setzte zur Landung an. Plötzlich flackerte es vor und über dem freistehenden Gebäude des Reviers, eine Si rene durchschnitt mit markerschütterndem Geheul die Stille. Ein Energieschirm! dachte Caycon er schrocken. Sie haben das Revier in einen Energieschirm gehüllt! Aber warum? Sie können uns doch noch gar nicht gesehen ha ben! »Zurück!« hallte eine Stimme durch die Nacht. Laskers Stimme. Beinahe hätte Caycon zu spät reagiert. Er mußte steil hochziehen, um nicht gegen den Energieschirm zu stoßen. Aber er dachte nicht daran, so schnell aufzugeben. In der Nähe des Reviers befand sich eine verlasse ne Baustelle. Caycon landete dort und ging hinter einem Transport-Strahlprojektor in Deckung. Als die ersten beiden Polizisten aus dem Revier stürmten und durch eine Struktur lücke im Energieschirm steuerten, schoß er. Die Polizisten zeigten keine Wirkung. Sie flogen nach links und rechts und feuerten mit Thermostrahlern in die Baustelle. Hinter Caycon entstanden zwei glühende und bro delnde Krater. Jemand stieß von oben auf Caycon heran, packte ihn an den Schulterkreuzgurten und schrie: »Sie haben Schutzschirme, du Narr! Los, weg von hier!« Aus der Dunkelheit flog ein eiförmiger Gegenstand heran, explodierte mit dumpfem Knall und hüllte alles in undurchdringlichen Nebel. Caycon begriff, daß einer seiner Freunde die Nebelbombe geworfen hatte, um ihm den Rückzug zu ermöglichen. Er schaltete sein Flugaggregat ein und stieg senkrecht nach oben, weil das die einzige Möglichkeit war, Hindernissen auszuwei chen. Irgendwo unter ihm krachten die Energie entladungen von Blasterschüssen. Die Poli zisten glaubten offenbar an einen Überfall
25 von Terroristen und rechneten deshalb gar nicht mit der Möglichkeit, daß sich die An greifer so schnell zurückzogen. Über der Nebelwolke, die inzwischen ein ganzes Viertel einhüllte, erkannte Caycon, daß Hromer ihn herausgeholt hatte. Seine Freunde kreisten in der Nähe und gaben durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihnen folgen sollten. Der Gleiter mußte aufgege ben werden. Sie flogen mit Höchstgeschwindigkeit aus der Stadt heraus, gingen dann bis dicht über die Wipfel der Bäume und kehrten in wei tem Bogen zu Caycons Hütte zurück. Dort landeten sie. »Wir trennen uns gleich wieder, bevor die Suchkommandos ausschwärmen«, erklärte Lasker. »Der Anschlag auf das Regierungs gebäude muß der Anlaß für die Polizei ge wesen sein, ihre Reviere mit Schutzschirm generatoren auszustatten.« »Aber woher wußten die Polizisten, daß wir das Revier angreifen wollten?« fragte Caycon. »Sie wußten es bestimmt nicht vorher«, antwortete Sajogh. »Automatische Detekto ren müssen unsere Paralysatoren angemes sen und Alarm gegeben haben. Damit war unsere Aktion aussichtslos geworden. Du hättest dich ebenfalls gleich zurückziehen sollen, Caycon. Wir haben noch einmal Glück gehabt, aber noch einmal mache ich nicht mit. Tut mir leid für dich und Raiman ja. Versuche, dich mit den Tatsachen abzu finden.« Er machte eine Handbewegung zu seinen Freunden. »Kommt!« Caycon blickte ihnen nach, bis sie von der Dunkelheit verschlungen worden waren, dann riß er sich die Maske vom Kopf. Er entfernte das Energiemagazin aus dem Para lysator, holte einen Spaten und vergrub die Waffe und die Maske im Wald. Das Ener giemagazin legte er in die Abstellkammer der Hütte. Da es ein Allzweckmagazin war, das auch in mehrere Arbeitsgeräte eingesetzt werden konnte, war sein Besitz nicht verbo
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ten. Dennoch rechnete Caycon damit, daß die Polizei ihn verdächtigen, festnehmen und verhören würde. Er setzte sich an den Tisch in der Wohnküche und wartete …
* Ich war etwas verwirrt. Niemals hatte ich damit gerechnet, daß ich – beziehungsweise mein Geist oder Bewußtsein – von einem Augenblick zum anderen über viele Licht jahre hinweg in ein akonisches Raumschiff und später wieder zurück nach Arkon ver setzt werden würde. Immerhin war ich froh darüber, etwas mehr über die Vorgeschichte des Großen Imperiums zu erfahren. Die erste Regierung auf Arkon und die Opposition erwiesen mit ihrer erbitterten Rivalität dem Volk zwar keinen guten Dienst, aber wenigstens schien die Rivalität vor der Raumflotte haltzuma chen. Die Flotte war anscheinend ausge zeichnet organisiert und wurde von der Ge samtheit aller Arkoniden getragen. Was mich ebenfalls stark interessierte, war der Grund für den Abfall der Akonen vom akonischen Imperium, die sich dann Arkoniden nannten. Dafür hatte ich noch keine konkreten Anhaltspunkte erhalten. Möglicherweise hatte es in der Raumflotte des akonischen Imperiums eine Revolte ge geben, denn nur so konnten die Arkoniden den größeren Teil dieser Flotte in ihre Ge walt gebracht haben. Aber die Ursachen für den Befreiungskrieg mußten tiefer und wei ter zurück liegen. Vielleicht stammten die heutigen Arkoniden von einem akonischen Siedlungsplaneten, hatten sich von der Mut terwelt unterdrückt gefühlt und ihre Loslö sung vorbereitet, indem sie ihre besten Söh ne und Töchter in die akonische Raumflotte geschickt hatten. Im Krieg mußte ihre Sied lungswelt verwüstet worden sein, sonst hät ten sie keine neue suchen müssen. Auf jeden Fall mußte der Befreiungskrieg auf beiden Seiten furchtbare Opfer gefordert haben. Rechtfertigte die Erreichung des Zie-
les alle die Opfer? Ich zweifelte plötzlich daran, ob ich weiter gegen Orbanaschol kämpfen durfte, während das Große Imperi um sich kaum der Maahks erwehren konnte. Mußte mein Kampf gegen den Diktator nicht letzten Endes zu einer Aufspaltung meines Volkes und zu einem neuen Bruder krieg mit zahllosen Opfern führen? Ich teilte meine Bedenken gedanklich meinem Pflegevater mit. »Ich verstehe dich«, erwiderte Fartuloon. »Aber zu Orbanaschols Sturz ist kein Bru derkrieg notwendig. Erstens hat er sich durch seine Gewaltherrschaft längst vom Volk isoliert, und zweitens wollen wir nicht die Macht Arkons, sondern nur Orbana schols persönliche Macht untergraben und nur ihn und seine engsten Komplizen von dem Sockel stoßen, auf den sie sich selbst gestellt haben. Nein, Atlan, wir werden es nicht zu einem Bruderkrieg kommen las sen.« Ich fühlte mich etwas beruhigt. Dennoch waren noch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Aber bevor ich meine Überlegungen in die ser Richtung fortsetzen konnte, wurde ich abermals in das Schiff der Akonen geschleu dert …
5. »Näher können wir nicht herangehen, oh ne geortet zu werden«, sagte Perc von Aron the. »Unser Schiff ist zu groß, um zwischen den Tasterimpulsfronten durchzuschlüpfen, die die Umgebung des Planeten der Abtrün nigen absuchen.« Tekla von Khom setzte sich vor das Ein gabepult der Bordpositronik. »Lassen Sie mir die Ergebnisse der Frem dortungsmessungen durchgeben, Perc«, bat er. »Ich werde dann die raumzeitlichen In tervalle berechnen und ein Annäherungspro gramm für ein kleines Beiboot ausarbeiten.« »Ich soll mit einem programmgesteuerten Beiboot auf dem Planeten der Abtrünnigen landen?« fragte Orthrek entrüstet. »Was glauben Sie denn, wie oft ich mich schon an
Brennpunkt Vergangenheit Objekte herangeschlichen habe, die ihre Umgebung mit Ortungsimpulsfronten ab suchten?« »Niemand bezweifelt Ihre Tüchtigkeit, Orthrek«, entgegnete Perc von Aronthe. »Aber diejenigen Einsatzagenten des Ener giekommandos, die während des Krieges beim Anschleichen an feindliche Objekte abgeschossen wurden, waren sicher nicht weniger tüchtig als Sie. Dennoch betrug die Ausfallquote siebenundzwanzig Prozent. Unsere Mission ist zu wichtig, um ein Risi ko einzugehen, das wir vermeiden können.« »Es widerstrebt mir einfach, wie ein Frachtgutstück in einem Boot zu sitzen und mich von einem Programm ans Ziel bringen zu lassen«, erklärte Orthrek. »Sie werden auf diesem Planeten ausrei chend Gelegenheit erhalten, Ihre Tüchtigkeit zu beweisen«, warf Tekla von Khom ein. »Bedenken Sie, daß sie das nicht können, wenn sie vor der Landung geortet und abge schossen werden.« Orthrek machte eine Handbewegung, die halbherzige Zustimmung ausdrückte. Perc von Aronthe ließ sich weitere Meß ergebnisse überspielen. »Sie haben ein einziges raumtüchtiges Großkampfschiff auf ihrem Planeten«, sagte er verwundert. »Die anderen sechzig Raum schiffe, deren Energieversorger wir auffan gen, scheinen halbe Wracks zu sein, die als Energieversorger für die winzigen Städte dort dienen.« »Aber wir empfangen starke Energie echos von einem der beiden inneren Plane ten«, sagte Segos. »Die Auswertung besagt, daß dort Raumschiffswerften in Betrieb sind. Die Abtrünnigen verstärken demnach ihre Raumflotte.« »Eines Tages wird das alles uns zugute kommen«, meinte der Kommandant des Schiffes. Er schaltete seinen Interkom zur Ortungszentrale durch. »Hat der Spezifika tor noch immer kein brauchbares Ergebnis geliefert?« »Soeben überprüft er eine Person, die er schon einmal überprüft hat, Kommandant«,
27 antwortete der Ortungsoffizier. »Das bedeu tet, daß er diese Person in die engere Wahl gezogen hat.« »Danke!« erwiderte Perc von Aronthe. »Sobald die Entscheidung gefallen ist, geben Sie mir die Details durch.« Niemand sprach, bis sich der Ortungsoffi zier über Interkom meldete. »Die Entscheidung ist gefallen«, berichte te er. »Für die Schaffung eines wachen We sens erscheint eines der Kinder in der erfor derlichen Entwicklungsstufe herausragend geeignet. Durch Mentalüberlagerungsselek tion wurde die männliche Komponente er mittelt. Sie ist von der weiblichen Kompo nente konstant fünf Kilometer entfernt, hat sich während des ersten Prüfverfahrens der weiblichen Komponente genähert, sich dann aber wieder auf Konstantpunkt zurückgezo gen. Die weibliche Komponente dagegen bewegt sich niemals weiter als drei Meter nach allen Richtungen.« »Sie befindet sich in einer Gefängniszel le!« rief Orthrek. »Das kompliziert die An gelegenheit.« »Woher wollen Sie wissen, daß die weib liche Komponente sich in einer Gefängnis zelle befindet?« fragte Segos. Orthrek lächelte selbstbewußt. »Zu meiner Ausbildung gehörte unter an derem Verhaltungspsychologie«, antwortete er. »Die Bewegungen der weiblichen Kom ponente sind typisch für die Verhaltensweise von Häftlingen. Außerdem entnehme ich den Bewegungen der männlichen Kompo nente, daß sie versuchte, die weibliche Kom ponente zu sprechen oder zu befreien und daß sie sich nach dem Scheitern dieses Ver suchs in ihre Behausung zurückgezogen hat und über die Situation nachdenkt.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Segos. »Aber ich verstehe den Spezifikator nicht. Eine Verbrecherin als Trägerin des wachen Wesens!« »Es kommt nicht auf das Psychogramm der Erzeugerkomponenten an, sondern auf das Genetogramm des Embryos«, warf Te kla von Khom ein. »Ob die weibliche Kom
28 ponente ein Verbrechen begangen hat oder nicht, ist für uns völlig unerheblich.« »Für mich nicht«, erklärte Orthrek. »Es bedeutet nämlich, daß ich die weibliche Komponente gewaltsam aus ihrem Gefäng nis holen muß – und das dürfte nicht ohne Aufsehen abgehen.« »Solange niemand dort unten darauf kommt, daß die weibliche Komponente in den Weltraum entführt wurde, braucht uns das Aufsehen, das ihre Befreiung hervorru fen wird, nicht aufzuregen«, sagte Tekla von Khom. »Und wenn Ihr Beiboot nach dem von mir erarbeiteten Programm gesteuert wird, kann niemand an eine Entführung in den Weltraum denken.« Er schaltete eine Interkomverbindung zur Funkzentrale und sagte: »Was hat die Funküberwachung gege ben?« »Es wurde tatsächlich ein Überfall auf ein Polizeirevier verübt«, antwortete der Fun koffizier. »Allerdings glauben die zuständi gen Stellen an das Attentat einer zur Opposi tion gehörenden Terroristengruppe. Regie rung und Opposition scheinen sich nicht nur mit Worten zu bekämpfen, sondern stehen sich, bildlich gesprochen, bewaffnet hinter Barrikaden gegenüber.« »Das haben sie von ihrer angeblichen Freiheit«, triumphierte Segos. »Die Abtrün nigen sind Wirrköpfe, die unfähig sind, selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen. In unserem Imperium ginge es ihnen besser.« Orthrek lächelte ironisch, wurde jedoch ernst, als Segos ihm einen fragenden Blick zuwarf. »Wollen Sie das etwa bestreiten, Or threk?« fragte der Wissenschaftler. »Keineswegs«, erwiderte Orthrek. Tekla von Khom lächelte ebenfalls iro nisch. »Als Agent des Energiekommandos weiß Orthrek eben, daß es nirgends gewaltlose Auseinandersetzungen gibt, Segos«, erklärte er. »Nur finden sie manchmal hinter künstli chen Nebelwänden statt.« »Ich muß Sie auffordern, Diffamierungen
H. G. Ewers des Energiekommandos zu unterlassen, Te kla von Khom!« sagte Orthrek steif. Tekla von Khom wurde ein wenig blasser, und das ironische Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, aber seine Stimme klang ar rogant, als er entgegnete: »Ich habe nicht behauptet, vom Energie kommando zu sprechen, Orthrek. Versuchen Sie bitte nicht, mir etwas zu unterstellen. Meine Familie ist einflußreich genug, um mich gegen ungerechtfertigte Anschuldigun gen zu schützen.« Eine Weile maßen sich beide Männer mit Blicken, dann machte Orthrek eine einlen kende Geste und sagte: »Wir haben eine Mission zu erfüllen, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen uns allen verlangt. Widmen wir uns also den nächsten Schritten unserer Aufgabe.« »Einverstanden«, erwiderte der Wissen schaftliche Kommandant. »Das Programm ist fertig.« »Danke!« sagte Orthrek. »Dann werde ich mit meiner Gruppe starten, und zwar so, daß wir zu einer Zeit in der Nähe des Verweil punkts der männlichen Komponente landen, in der es dort Nacht ist.«
* Der Fremde stand so überraschend im Zimmer, daß Caycon zuerst dachte, er hätte sich aus dem Nichts materialisiert. Er blieb nur deshalb nicht bei dieser Annahme, weil er eine wissenschaftlich fundierte Bildung besaß und wußte, daß derlei Dinge unmög lich waren. Im ersten Augenblick hielt er den Frem den für einen Polizisten, denn schließlich er wartete er ja die Polizei. Doch dann sah er, daß der hochgewachsene breitschultrige Mann keinen Funkhelm und keine sichtbare Waffe trug. Er war in eine Kombination von dem gleichen Zuschnitt wie die seine geklei det. Nur das Material schien anders zu sein. Es schimmerte irgendwie kostbar, ohne zu leuchten. Wahrscheinlich war es von hervor ragender Qualität.
Brennpunkt Vergangenheit Der Mann musterte Caycon aufmerksam, aber ohne erkennbare Gefühlsregung. Die Haut seines Gesichtes war straff und ge bräunt, die Augen blickten kalt, und um den Mund lag die Andeutung eines grausamen Zuges. Als einige Zeit vergangen war und der Fremde ihn immer noch musterte, ohne et was zu sagen, hielt Caycon die beinahe kör perlich schmerzende Anspannung der Ner ven nicht mehr aus. »Wer sind Sie?« stieß er hervor. »Wollen Sie mich verhaften und wie Raimanja ein sperren? Na, schön, ich habe versucht, sie zu befreien, und ich bin bereit, die entsprechen de Strafe auf mich zu nehmen. Die Familie Akonda wird nicht intervenieren. Eines Cay cons wegen, der sich mit einer Sulithur ein gelassen hat, rührt man keinen Finger.« In das Gesicht des Fremden kam Bewe gung. Es entspannte sich etwas, ohne freundlich zu wirken. »Ich heiße Orthrek«, erklärte er. »Warum verwendest du mir gegenüber das Sie, als wäre ich ein Offizier und Sie ein Angehöri ger der von mir geführten Einheit?« »Ich weiß es nicht«, gab Caycon offen zu. »Es war mir nicht einmal bewußt geworden. Vielleicht erwecken Sie den Eindruck, als ob …« Er stockte. Orthrek lächelte, aber es war kein ange nehmes, sondern ein überhebliches Lächeln. »Tiefverwurzeltes läßt sich nicht einfach abstreifen«, stellte er fest. »Aber sprechen wir von dem, was dich zur Zeit am stärksten bewegt. Die Polizei hält deine Freundin ge fangen. Du hast versucht, sie zu befreien, aber das ist mißlungen. Was würdest du tun, wenn jemand dir anböte, Raimanja zu be freien und in Sicherheit zu bringen?« »Alles!« rief Caycon impulsiv. Dann füg te er einschränkend hinzu: »Oder doch fast alles. Aber nach dem mißlungenen Versuch wird Raimanja bestimmt noch stärker be wacht als vorher. Es wäre aussichtslos, sie befreien zu wollen.« »Nicht für mich«, sagte Orthrek. Caycon musterte den Fremden zweifelnd.
29 Er erkannte, daß Orthrek eine außergewöhn lich starke Aura von Selbstbewußtsein aus strahlte. Der Mann war kein Phantast; er wußte genau, was er sagte. In Caycon regte sich plötzlich wieder Hoffnung. »Wie wollen Sie das anstellen?« fragte er. »Das ist meine Sache«, erwiderte Orthrek. Caycon wartete, daß der Fremde noch et was hinzufügte. Als er merkte, daß Orthrek von sich aus nichts mehr sagen würde, fragte er: »Was verlangen Sie als Gegenleistung?« »Nicht viel – jedenfalls nicht viel für dich in deiner Lage«, antwortete Orthrek. »Nur, daß Raimanja und du mich anschließend be gleiten und keine überflüssigen Fragen stel len. Ich werde euch in Sicherheit bringen, aber den Ort selbst bestimmen. Bist du ein verstanden?« Caycon erhob sich. In seinem Kopf über stürzten sich die Gedanken, verwirrten sich und brachten ihn dazu, daß er nur noch den ken konnte, daß er diese Gelegenheit ergrei fen müsse, damit sie nicht unwiederbringlich vorübergehen sollte. »Ich bin einverstanden«, stammelte er. »Gut!« sagte Orthrek. »Warte hier und unternimm nichts!« Er drehte sich um und ging mit den lautlo sen geschmeidigen Bewegungen einer Raub katze hinaus. Nach einer Weile löste sich Caycons Er starrung. Er eilte zur Tür und blickte hinaus. Aber von dem mysteriösen Besucher war nichts mehr zu sehen. Einen Augenblick lang glaubte Caycon, von irgendwo in der Nähe der Hütte das helle Singen eines Anti gravaggregats zu hören, doch als er den Atem anhielt, um sich ganz darauf konzen trieren zu können, hörte er nur noch die übli chen vertrauten Nachtgeräusche des Waldes. Zögernd kehrte er in die Hütte zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Er fragte sich, wer ein Interesse daran haben könnte, ihm und Raimanja zu helfen – und fand kei ne Antwort darauf. Er fragte sich auch, ob es sich um ein Schwindelmanöver gehandelt haben könnte, sah aber keinen Grund, der je
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manden veranlassen könnte, eine Befreiung Raimanjas vorzutäuschen. Als er kurz hintereinander zwei krachende energetische Entladung gen hörte, sprang er auf und eilte ins Freie. Er vermochte jedoch nichts Besonderes zu erkennen. Plötzlich waberte greller Lichtschein über den Teil des Horizonts, wo die Stadt lag. Kurz darauf drang das schmetternde Krachen einer star ken Explosion an Caycons Ohren. Caycon stand unbeweglich da und starrte mit brennenden Augen dorthin, wo der grel le Lichtschein wieder verblaßt war. Er ahnte, daß die Explosion in dem Polizeirevier statt gefunden hatte, in das man Raimanja ver schleppt hatte. Die Explosion mußte so stark gewesen sein, daß vom Revier nicht mehr viel übriggeblieben sein konnte. Wenn sich Raimanja noch dort befunden hatte … Caycon merkte, daß er am ganzen Körper zitterte. Er ängstigte sich um Raimanja, wußte aber auch, daß er überhaupt nichts tun konnte. Er war völlig hilflos. Als der elliptische Gleiter gleich einem schwarzen Schatten neben ihm niedersank, vermochte er sich immer noch nicht zu rüh ren. Erst als eine Tür sich öffnete, fiel die Erstarrung von ihm ab. »Caycon!« rief eine weibliche Stimme – die Stimme Raimanjas. Caycon stürzte vor. Zwei Männer packten ihn an den Armen und zogen ihn ins Innere des Gleiters. Caycon achtete überhaupt nicht auf sie. Er sah nur Raimanja, die auf dem Rücksitz saß und ihn aus leuchtenden Augen ansah. Im nächsten Augenblick fielen sie und er sich in die Arme. Sie hörten nicht, wie die Tür wieder geschlossen wurde, und sie hör ten und sahen auch nicht, wie der Gleiter startete und dicht über den Baumwipfeln nach Norden flog.
* Es war schlimm, unbeteiligter Zeuge von Geschehnissen zu sein, die schicksalhafte Bedeutung haben würden. Aber die Faszina-
tion überwog das beklemmende Gefühl der absoluten Passivität. Endlich lernte ich mehr über die Ge schichte des Anfangsstadiums der Kolonie auf Arkon kennen, die sich später zur Keim zelle des Großen Imperiums entwickeln soll te. Unsere Urahnen begingen viele Fehler, aber sie vollbrachten zugleich großartige Leistungen. Auf der anderen Seite war aber auch die Handlungsweise der Akonen wahrscheinlich militärisch so geschwächt, daß die Arkoni den innen mühelos den Gnadenstoß verset zen konnten, wenn sie es wollten. Dennoch gaben sie nicht auf. Mit den Mitteln, die ihnen geblieben waren, in erster Linie mit technischen und wissenschaftli chen Feinheiten und in zweiter Linie mit ei ner Handvoll hervorragend ausgebildeter, geschulter und trainierter Männer wie Or threk, versuchten sie, die geschichtliche Ent wicklung so zu beeinflussen, daß sie auf lan ge Sicht doch die Sieger sein würden. Ich wußte, daß ihnen das nicht gelungen war, aber ich wußte auch, daß unsere Urah nen ihnen nicht den Gnadenstoß versetzt hatten. Wenn sie sich nicht selbst aufgege ben hatten und ausgestorben waren, mußten sie in einem Sternenversteck immer noch existieren, isoliert, aber vielleicht schon wie der mächtig. Ich fragte mich, warum sie dann bisher nicht wieder auf die Bühne der galaktischen Politik getreten waren. Möglicherweise aus Furcht vor den Maahks. Vielleicht hofften sie auch darauf, daß Arkon im Methankrieg so geschwächt wurde, daß das Große Imperium keine Ge fahr für sie mehr darstellte. Als vor dem Bug des Gleiters die dunkle Silhouette der nördlichen Berge auftauchte, zog der Pilot das Fahrzeug höher. Caycon und Raimanja saßen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Sie waren glücklich darüber, daß sie wieder beisam men sein durften. Ich überlegte, ob die Bewußtseinsinhalte aller achtunddreißig Personen, die in der halbverfallenen Transmitterstation ange
Brennpunkt Vergangenheit kommen waren, sich in der Gleiterkabine aufhielten. Irgendwie erschien es mir un glaubhaft, daß wir alle hier Platz haben soll ten. Aber vielleicht benötigten Bewußtseins inhalte überhaupt keinen meßbaren Raum. Im Grunde genommen wußten wir gar nichts über den Geist beziehungsweise das Be wußtsein – und die Bezeichnung »Bewußtseinsinhalt« stellte einfach einen Verlegenheitsbegriff dar, der sich einer kla ren Definition entzog. Der Gleiter überflog eine Bergkette, steu erte in eine enge Schlucht hinein und er reichte schließlich ein tiefes kreisrundes Tal. Während er in das Tal einflog, nahm ich voraus ein schwaches Flimmern war – und im nächsten Augenblick war im kalten Licht der Sterne ein kleines diskusförmiges Raum boot zu sehen. Caycon entdeckte es ebenfalls. Seine Hal tung versteifte sich. Er wandte den Kopf und blickte Orthrek an. »Das ist ein raumtüchtiges Boot!« stieß er hervor. »Was hat das zu bedeuten? Wollt ihr uns in den Weltraum bringen? Das war nicht abgemacht.« »Es war abgemacht, daß ich den Ort be stimme, an dem ich euch in Sicherheit brin ge«, erwiderte Orthrek. »Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen. Es ist alles in Ord nung.« Der Gleiter landete neben dem Diskus. Wenig später öffnete sich an der Oberseite des Raumboots eine Schleuse. Der Gleiter stieg wieder auf und schwebte hinein. Caycon sah sich mit ruckartigen Kopfbe wegungen um. »Das ist kein arkonidisches Boot«, sagte er. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr?« Er machte Anstalten, aufzustehen, aber zwei der Insassen des Gleiters legten ihm ih re Hände auf die Schultern und drückten ihn auf die Sitzbank zurück. Orthrek hielt plötz lich einen kleinen Paralysator in der Hand. Doch Caycon war nicht mehr zu bremsen. Er duckte sich unter den Händen der beiden Männer weg und wollte sich auf Orthrek stürzen. Aber er kam nicht dazu. Der Paraly
31 sator summte hell auf, dann brach Caycon gelähmt zusammen. Raimanja schrie auf, blieb aber sitzen. Sicher dachte sie an das werdende Leben in ihrem Leib und bemühte sich, sich so zu verhalten, daß es nicht ge fährdet wurde. »Bringt den jungen Heißsporn und seine Freundin in die Steuerkanzel des Bootes!« befahl Orthrek den beiden anderen Männern. Er wandte sich an Raimanja. »Es ist gut, daß wenigstens du vernünftig bist. Ihr solltet uns dankbar sein, daß wir euch vor den Schergen der Abtrünnigen retten.« Raimanja wurde blaß. »Abtrünnige? So nennen uns die Akonen. Ihr seid Akonen!« Orthrek lachte trocken. »Was ist für euch schon dabei? Bei uns seid ihr in Sicherheit.«
6. Orthrek betrat die Hauptzentrale des Raumschiffs und meldete sich bei Tekla von Khom und Perc von Aronthe. »Caycon und Raimanja sind wohlbehalten an Bord«, berichtete er. »Niemand auf dem Planeten der Abtrünnigen hat gemerkt, daß das Liebespaar in den Weltraum entführt wurde. Wir haben die Polizeistation, in der Raimanja gefangengehalten wurde, ge sprengt, um keine Spuren zurückzulassen.« »Danke!« erwiderte der Schiffskomman dant. »Ich werde das Schiff mit ausgeschal teten Aggregaten am Planeten der Abtrünni gen vorbeitreiben lassen und in zehn Licht stunden Entfernung anhalten, damit nichts das Vorhaben stören kann.« Tekla von Khom erhob sich von seinem Kontursitz. »Ich werde alles Nötige veranlassen, da mit die Arbeiten nachher zügig durchgeführt werden können.« Er wandte sich an Orthrek. »Wenn Sie sich dafür interessieren, kommen Sie doch mit in die Forschungsabteilung, Orthrek. Sie können sich die Vorbereitungen ansehen.« »Sehr gern, danke!« sagte Orthrek.
32 Er folgte dem Wissenschaftlichen Kom mandanten über Transportbänder und Anti gravlifts in die Forschungsstation des großen Raumschiffs. In einem der größeren Räume war eine spezielle Positronik installiert, in der vor allem der Wissensschatz der akoni schen Biogenetik und aller benachbarten Wissensgebiete gespeichert waren. Tekla von Khom stellte ihm die versam melten Wissenschaftler vor. Da war der greise Tarmin cer Germon, der berühmteste Biogenetiker des einstigen Reiches und Rat von Akon. Seine Mitarbeiter hießen Segos, Implikor und Vathore und waren ebenfalls schon berühmt. Tekla von Khom dagegen besaß keinen besonderen wissenschaftlichen Ruf. Er war nicht spezialisiert. Dafür kannte er sich in mehreren Disziplinen so gut aus, daß er Verbindungen zwischen ihnen knüp fen konnte und koordinierend und katalysie rend wirkte. Nach der Vorstellung hielt Orthrek sich zurück, denn er wußte, daß er im Kreise so hervorragender Wissenschaftler nicht mitre den konnte. Deshalb beschränkte er sich aufs Zuhören. Tarmin cer Germon sprach. »Alles kommt darauf an, daß wir das Pha sus-3-Virus, das als Informationsträger die nen soll, nicht stärker schwächen als unbe dingt notwendig. Es soll dem Embryo in Raimanjas Leib keinen Schaden zufügen, soll aber andererseits nicht absterben, bevor es seine Gene nicht in alle Zellen des Em bryos geschossen hat, damit sie ihre Infor mationen so im genetischen Kode veran kern, daß sie bei der Zellvermehrung immer wieder weitergegeben werden.« »Phasus-3 wird so arbeiten, wie wir es wollen«, versicherte Segos. »Ich habe die Modifikation stabilisiert, und Implikor hat dafür gesorgt, daß die Kultur gegen alle Um welteinflüsse abgeschirmt blieb, so daß es nicht zu Mutationen kommen konnte.« »Die Berechnungen zeigen, daß das Trä gervirus den Embryo unbeirrbar in unserem Sinne programmieren wird. Phasus-3 ist so stabil, daß es sich unverändert erhalten und vermehren wird, solange das wache Wesen
H. G. Ewers lebt.« Das erklärte Vathore. Tekla von Khom wandte sich an Orthrek und sagte: »Wie allgemein bekannt ist, neigen Viren dazu, sich an die Wandungen von Zellen zu heften und ihren Inhalt in die Zellen zu ent laden. Dieser Inhalt besteht im Grunde ge nommen aus einem genetischen Programm, das dem Kern der betroffenen Zelle aufok troyiert wird, woraufhin die Zelle im Regel fall nicht mehr sich selbst reproduziert, son dern identische Viren erzeugt, die beim Zer fall der Zelle frei werden und weitere Zellen befallen. Normalerweise wirkt sich das schädlich auf den betreffenden Organismus aus, oft sogar tödlich. Aber es ist erwiesen, daß im Lauf der Evolution immer wieder bestimmte Viren, die sich in Organismen ausbreiteten, diese Organismen nicht schädigten, sondern ihnen Informationen und Fähigkeiten ver mittelten, zu denen die Organismen auf nor malen Wege nicht oder erst viel später ge kommen wären. Wir haben uns diesen Umstand nutzbar gemacht, indem wir bewußt ein Virus züch teten, das den Organismus, den es befällt, nicht schädigt, sondern ihm ausschließlich Informationen und Fähigkeiten übermittelt sowie seine Denkrichtung beeinflußt. Pha sus-3 wird in den Embryo Raimanjas einge bracht und wird dafür sorgen, daß sich das Kind zu einem wachen Wesen entwickelt. Sobald es die körperliche und geistige Reife erreicht hat, wird es über alle Voraus setzungen verfügen, das Volk, dem es ent stammt, zu führen, ihm seinen Willen und seine Denkungsart aufzuzwingen. Außerdem wird es – unbewußt, aber jederzeit abrufbe reit – über ein totales Wissen akonischer Wissenschaft und Technik verfügen. Es wird ein Superwesen sein, das die Abtrünnigen auf unsere Linie zurückführen muß, ob es will oder nicht.« »Das klingt faszinierend«, gab Orthrek zu. »Aber jedes Lebewesen kann getötet werden. Reichen die Fähigkeiten des wa chen Wesens aus, es vor Mordanschlägen zu
Brennpunkt Vergangenheit schützen?« Tekla von Khom lächelte. »Niemand, der in die Nähe des wachen Wesens kommt, wird noch in der Lage sein, an einen Mordanschlag zu denken«, antwor tete er. »Er wird im Gegenteil alles tun, um es zu beschützen und seine Wünsche zu er füllen.« »Ein wahrhaft großartiger Plan«, sagte Orthrek. »Ich bin froh darüber, daß ich mit helfen durfte, ihn zu verwirklichen.«
* Caycon ging erregt in der Kabine auf und ab, in die man ihn gesperrt hatte. Obwohl die Kabine luxuriös ausgestattet war und er regelmäßige und gute Mahlzeiten erhielt und sich über Interkom mit Raimanja unterhalten durfte, war er besorgt. Besorgt vor allem deshalb, weil er erkannt hatte, daß es Akonen waren, die ihn und Raimanja ent führt hatten. Der junge Arkonide aber dachte und fühl te noch immer loyal gegenüber seinem Volk, obwohl er erst vor kurzer Zeit ver sucht hatte, gegen die Gesetzeshüter seines Volkes zu kämpfen und Raimanja und sich – und ihr Kind – dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Aber für ihn war es eine Sache, sich gegen ein als ungerecht und grausam befundenes Gesetz zu wehren – und eine ganz andere, mit den Akonen, den Erzfein den seines Volkes, gemeinsame Sache zu machen. Er wußte es nicht, aber er ahnte, daß die Akonen ihn und Raimanja dazu mißbrau chen wollten, seinem eigenen Volk großen Schaden zuzufügen. Deshalb sann er darüber nach, wie er mit Raimanja fliehen konnte. Er war bereit, sich auf Arkon den Behörden zu stellen und sich vor Gericht zu verantwor ten, ja sogar, eine strenge Bestrafung auf sich zu nehmen. Als er den Interkom einschaltete, um mit Raimanja – wenn auch wegen der Abhörge fahr nur in versteckten Andeutungen – dar über zu diskutieren, meldete sich seine;
33 Freundin nicht. Caycon ließ den Ruf wieder und wieder hinausgehen. Plötzlich leuchtete der Bildschirm doch noch auf. Aber es war nicht Raimanjas Ge sicht, das ihm entgegensah, sondern das Ge sicht eines alten weißhaarigen Akonen. »Ich bin Tarmin cer Germon«, sagte der Greis mit gütige, klingender Stimme. »Sorge dich nicht um deine Freundin, Caycon. Sie befindet sich in der Obhut unserer besten Wissenschaftler und wird bald in ihre Kabi ne zurückkehren.« »In der Obhut Ihrer Wissenschaftler?« rief Caycon. »Was hat man mit ihr vor?« »Nichts, was ihr schaden könnte, Cay con«, erklärte Tarmin cer Germon ruhig. »Raimanja ist schwanger. Da ist es nur na türlich, daß sie medizinisch untersucht wird. Euer Kind soll schließlich gesund auf die Welt kommen. Übrigens kann ich dir schon verraten, daß es ein Sohn sein wird.« »Ein Sohn!« Caycon fühlte Freude. Doch sie wurde sofort wieder von Besorgnis und Argwohn überlagert. »Aber warum küm mern Sie sich darum, ob unser Kind ein Sohn wird und ob es gesund zur Welt kommt? Was steckt dahinter?« Tarmin cer Germon wirkte für einen Au genblick geistesabwesend, dann preßte er entschlossen die welken Lippen zusammen. »Ich dürfte es dir nicht verraten, Caycon«, sagte er. »Aber weil du so besorgt bist und weil ich dich verstehe, denn ich bin selbst Vater von drei Söhnen und Großvater von siebzehn Enkeln, will ich dir wenigstens so viel verraten, daß du beruhigt bist. Dein Sohn, Caycon, soll ein waches We sen werden, das einmal die Führung eurer Kolonie übernehmen wird. Er soll mit über ragenden Fähigkeiten und mit überragender Macht über seine Mitbürger ausgestattet sein, damit ihm alles gelingt, was er sich vornimmt. Da keinem Lebewesen alle diese Gaben gleichzeitig in höchster Potenz von Natur aus mitgegeben werden, müssen wir deinen Sohn im Embryonalstadium einer modifizierenden und programmierenden Be handlung unterziehen.
34 Wir wählten euren Sohn deshalb, weil er sich im erforderlichen Entwicklungsstadium befindet und weil er durch die Verschmel zung von deiner und Raimanjas Erbmasse jene besondere genetische Grundvorausset zung mitbringt, die für den Erfolg unserer Behandlung entscheidend ist. Du kannst stolz darauf sein, daß ausgerechnet dein Sohn dazu auserwählt wurde.« Caycon war verwirrt, aber obwohl er nur einen geringen Teil dessen verstand, was der Alte ihm gesagt hatte, ahnte er, daß die Ako nen etwas Ungeheuerliches planten. Er ball te die Fäuste. »Sie haben kein Recht, werdendes intelli gentes Leben zu manipulieren«, sagte er zor nig. »Ich verlange, daß mein Sohn unver sehrt bleibt. Er hat ein Recht darauf, das zu werden, worauf er angelegt ist.« Tarmin cer Germon machte eine begüti gende Geste. »Alle Lebewesen werden ununterbrochen manipuliert, sei es durch die universellen Einflüsse wie die verschiedenen Strahlungs arten, die Magnetfelder von Planeten, Son nen und Galaxien oder sei es durch Gesell schaftsordnungen, Traditionen, die ökologi schen Umweltverhältnisse oder andere Le bewesen. Nur deshalb gibt es eine Evolution und letztlich bewußte Intelligenz. Die be wußte Intelligenz aber ist in der Lage, Ursa chen und Wirkungen in ihren Zusammen hängen zu durchschauen und sich der Kau salitäten zu bedienen, um durch Erzeugung gesteuerter Ursachen gewollte Wirkungen zu erzielen.« »Nichts als verwirrende Worte!« schrie Caycon aufgebracht. »Ich begreife nicht viel davon, aber ich will nicht, daß mein Sohn manipuliert wird. Was für ein Sinn soll über haupt dahinter stecken?« »Ein großer und guter Sinn, Caycon«, er klärte der Wissenschaftler. »Ihr Abtrünnigen nennt euch Arkoniden, was soviel wie Freie bedeutet. Ihr habt euch vom Mutterreich ge löst und dabei unsere gemeinsame Zivilisati on fast ausgelöscht. Aber ihr werdet so we nig frei sein können wie als Mitglieder des
H. G. Ewers Mutterreichs auch, denn absolute Freiheit gibt es nicht. Nirgends und nirgendwann ist ein Lebewesen frei. Der Wurm gehorcht sei nen Instinkten, höhere Lebewesen gehor chen Instinkten und Erfahrungen – und In telligenzwesen gehorchen den Geboten der Vernunft, wenn sie nicht scheitern wollen. Das wache Wesen, zu dem dein Sohn wer den wird, ist berufen, die Abtrünnigen in die alte Gemeinschaft zurückzuführen, denn nur in der Gemeinschaft können wir uns gegen die Gefahren der inneren und äußeren Natur durchsetzen.« »Mein Sohn – soll zum Verräter an Arkon werden?« fragte Caycon erschrocken. »Nicht zum Verräter, sondern zum Ret ter«, erwiderte Tarmin cer Germon. »Wir werden dich und deine Freundin auf den Planeten Perpandron bringen. Dort wird euer Sohn zur Welt kommen, und dort werden wir alles vorbereiten, um die Entwicklung des wachen Wesens zu sichern.« »Das ist ungeheuerlich!« flüsterte Caycon entsetzt. »Das ist Wahnsinn! Das dürfen Sie nicht tun! Ich bringe Sie um!« »Beruhige dich!« mahnte der Akone. »Du kannst nichts ändern daran, daß dein Sohn ein waches Wesen wird. Denke an die Zu kunft. Akonen und Arkoniden haben eine gemeinsame Herkunft. Die äußerlichen Un terscheidungsmerkmale stammen nur daher, weil unser Volk damals, als es vor einer Ge fahr, die vergessen ist, geflüchtet war, zwei unterschiedliche Welten besiedelte. Aber wir blieben dennoch eine Gemeinschaft, bis ihr auf den unseligen Gedanken kamt, ein ei genes Imperium aufbauen zu wollen.« »Weil ihr uns unterdrückt und ausgebeu tet habt!« schrie Caycon. »Aber damit ist es vorbei! Alle eure Anstrengungen werden euch nichts nützen.« Als der Bildschirm dunkel wurde, häm merte er mit den Fäusten dagegen, bis er er schöpft war. Danach sank er in sich zusam men und brütete dumpf vor sich hin.
*
Brennpunkt Vergangenheit Ich konnte nicht umhin, die Logik in den Argumenten des greisen Wissenschaftlers zu sehen. Jedenfalls hatte das, was er gesagt hatte, aus seiner Sicht logisches Gewicht. Dennoch mußte ich den Plan der Akonen mißbilligen, denn er nahm keine Rücksicht auf die ethischen und moralischen Grundsät ze, nach denen im allgemeinen wohl auch die Akonen lebten. Andererseits mußte ich mich davor hüten, deswegen die Akonen als schlecht und uns Arkoniden als gut zu be trachten. Sowohl Akonen als auch Arkoni den hatten Gutes vollbracht und Schlechtes verübt oder geduldet. »Wie das Beispiel von Orbanaschol be weist«, meldete sich mein Pflegevater nach längerer Zeit wieder. »Ein Außenstehender der Zeit, aus der wir kommen, könnte sehr wohl die Arkoniden schlechthin als böse be zeichnen, weil er ihre Taten beurteilt, ohne zu berücksichtigen, daß sie dem Willen ei nes Diktators entspringen.« »Eben deshalb wird es höchste Zeit, Or banaschol zu stürzen – und wir irren kreuz und quer durch die Galaxis, nicht mehr Herr unseres Willens und unfähig, unsere eigenen Ziele zu verwirklichen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir ebenfalls manipu liert.« »Alles wird manipuliert, Atlan«, erwider te Fartuloon. »Der Blütenstaub der Blumen, der Flug des Vogels und sogar das Univer sum als Ganzes. Wir alle irren durch ein La byrinth, in das wir hineingestellt wurden, ohne den Ausgangspunkt und das Ziel zu kennen. Das letzte Ziel erreichen wir wahr scheinlich niemals, bestenfalls eine Zwi schenstation.« »Die Philosophie eines Bewußtseinsin halts hat etwas Ätherisches an sich«, spotte te ich. »Sie soll jedenfalls nicht der Zerstreuung dienen«, gab Fartuloon zurück. »Mir scheint, unser junger Freund hat etwas vor. Er ist aus seiner Kabine ausgebrochen.« Die Mitteilung war überflüssig gewesen, denn da meine Aufmerksamkeit von unbe kannten Kräften auf das Objekt unserer Be
35 obachtung gezwungen wurde, hatte auch ich gesehen, daß es Caycon gelungen war, das Schott seiner Kabine zu öffnen. Ich war gespannt auf das, was er vorhatte …
7. Als Caycon die dumpfe Verzweiflung überwunden hatte, kristallisierte sich bei ihm der Gedanke heraus, daß er etwas unterneh men müsse, um den Plan der Akonen zu ver eiteln. Er ahnte, daß seine ursprüngliche Absicht, mit Raimanja aus dem Schiff zu fliehen, sich nicht realisieren ließ. Da die Akonen den Embryo so manipulieren wollten, daß er sich zu einem wachen Wesen entwickelte, wür den sie Raimanja zweifellos schwer bewa chen. Caycon focht einen inneren Kampf aus. Er wußte, daß es seine Pflicht war, den hin terhältigen Anschlag gegen die Freiheit sei nes Volkes zu vereiteln. Andererseits fühlte er sich auch für Raimanja verantwortlich – und für seinen Sohn. Die Frage war nur, was schwerer wog. Eigentlich kannte Caycon die Antwort darauf. Schwerer wog auf jeden Fall das Wohl der Gesamtheit. War die Gesamtheit bedroht, mußte das Individuum sich notfalls opfern. Nachdem Caycon vergebens nach einem Kompromiß gesucht hatte, der es ihm er laubte, allem gerecht zu werden, faßte er schweren Herzens den Entschluß, alle per sönlichen Interessen hinter das Gemeinwohl zu stellen. Er zitterte am ganzen Körper, als er diesen Entschluß faßte; dennoch ging er sofort daran, ihn in die Tat umzusetzen. Das erste Problem bestand darin, daß er aus seiner Kabine entkommen mußte, ob wohl das Schott durch ein elektronisches Schloß verriegelt war. Da sich Caycon mit einfacher Elektronik auskannte, weil er not gedrungen die elektronischen Einrichtungen im Haushalt selbst hatte reparieren müssen, löste er dieses Problem relativ schnell.
36 Er besaß zwar kein Flugaggregat mehr, wohl aber die dazu gehörige elektronische Steuerung, die in seiner Gürtelschnalle un tergebracht war. Die elektronische Steue rung sandte bestimmte Impulse aus, die die Ansaug- und Ausstoßleistung eines Flugag gregats sowie den Grad der Aufheizung durch den atomaren Mikroreaktor regelten. Da die Impulse sich durch einfache Manipu lationen variieren ließen, brauchte Caycon nur so lange herumzuprobieren, bis er die Frequenzkombination erhielt, auf die die elektronische Türverriegelung ansprach. Das klang einfach, war aber in der Praxis ohne Hilfe eines Positronengehirns sehr mühselig, da sich ein organisches Gehirn die bereits durchgeprobten Frequenzkombina tionen nach einiger Zeit nicht mehr merken konnte. Caycon mußte also mehr oder weni ger auf einen glücklichen Zufall hoffen, so ähnlich wie ein Bhvrat-Spieler, der auch nicht vorausberechnen konnte, wo die rol lende Kugel zum Stillstand kam. Caycon hatte sehr viel Glück, denn er traf die richtige Frequenzkombination bereits nach anderthalb Stunden. Als die beiden Schotthälften mit schwachem Surren ausein ander glitten, trat er rasch auf den Korridor und schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen. Das war verständ lich, denn die Akonen hatten nicht damit rechnen können, daß ihr Gefangener auf den Gedanken käme, die Schottelektronik mit Hilfe einer Flugaggregatschaltung zu überli sten. Für die akonische Denkweise, die sich im Rahmen technischer Perfektionierung be wegte, war kein Platz für primitive Improvi sationen. Einen Moment lang stand Caycon un schlüssig auf dem festen Seitenstreifen des Korridors. Am liebsten wäre er in die Rich tung gefahren, in der er Raimanja vermutete. Aber er wußte, daß er sich damit nur jegli che Aussicht auf Flucht verbaut hätte. Wie schon zuvor, siegte auch diesmal sein Pflichtgefühl der Gesamtheit gegenüber. Caycon kannte sich im inneren Aufbau von Raumschiffen aus. Er wußte außerdem,
H. G. Ewers daß sich in der Beziehung die Raumschiffe der Arkoniden nicht von denen der Akonen unterschieden. Schließlich war der Große Befreiungskrieg auf arkonidischer Seite an fangs mit erbeuteten akonischen Raumschif fen geführt worden. Inzwischen hatte sich die akonische Raumschiffsform verändert; die Pole waren stärker abgeflacht, aber die innere Struktur unterschied sich nicht we sentlich von der arkonidischer Schiffe. Caycon betrat das nach rechts führende Transportband, fuhr auf ihm zu einem der durchgehenden Antigravschächte und schwang sich hinein, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er leer war. Offenbar befand sich die Besatzung auf den Stationen. Das allmählich anschwellende Tosen der Kraftwerke verriet außerdem, daß das Schiff Fahrt aufnahm. Das setzte Caycon unter Zeitdruck, denn er wußte nicht genug von der Navigation eines Raumschiffs, um nach Arkon zurückzufinden, wenn das Schiff erst einmal eine Transition ausgeführt hatte. Ungeduldig wartete er darauf, daß er das Deck erreichte, auf dem die kleinen Beiboo te untergebracht waren. Dort schwang er sich hinaus, sprang auf das nächste Trans portband und lief in Fahrtrichtung, um noch schneller voranzukommen. Endlich hatte er das erste innere Hangar tor erreicht. Er sprang vom Band und drück te auf die grün leuchtende Kontaktplatte. Die Torhälften glitten auseinander. Caycon blickte in einen hellerleuchteten Schleusen hangar, in dem ein Raumboot stand, das dem, mit dem er und Raimanja von Arkon entführt worden waren, genau glich. Aber er sah nicht nur das Boot, sondern auch die beiden Akonen, anscheinend Tech niker, die das Kanzeldach geöffnet hatten und an den Kontrollen hantierten. Im ersten Augenblick stand Caycon wie erstarrt. Er glaubte sich ertappt. Doch dann erkannte er, daß die Akonen ihn nicht bemerkt hatten. Seine erste Eingebung war, das Hangartor wieder zu schließen und beim nächsten Han gar sein Glück zu versuchen. Aber das To sen der Aggregate schwoll immer mehr an,
Brennpunkt Vergangenheit verwandelte sich in ein Dröhnen, das die Schiffszelle zum Vibrieren brachte. Die Transition mußte kurz bevorstehen. Es war keine Zeit mehr, in einen anderen Hangar auszuweichen. Caycon faßte sich ein Herz und eilte so leise wie möglich auf das Raumboot zu. Die Techniker unterhielten sich leise über ir gendein Problem. Caycon war froh darüber, denn dadurch war ihre Aufmerksamkeit völ lig auf die Kontrolle des Bootes gerichtet. Er erreichte die Einstiegsluke, zog sich hoch und kletterte in die Steuerkanzel. Einer der beiden Techniker wollte seinem Kollegen gerade etwas erklären, drehte sich dabei um und deutete auf etwas hinter Cay con. Mitten in der Bewegung schien sein Arm einzufrieren. Der Mund blieb halbge öffnet stehen. Caycon sprang auf den Mann zu und schlug ihn nieder. Inzwischen hatte der an dere Techniker ihn ebenfalls bemerkt. Er war unbewaffnet, aber er griff nach einem Detektorstab, um ihn als Hiebwaffe zu be nutzen. Caycon, dessen Reflexe und Mus keln durch die Anforderungen der Jagd trai niert waren, schlug den halb erhobenen Arm des Akonen beiseite und stieß ihm die Faust ans Kinn. Der Mann verdrehte die Augen und ging ebenfalls zu Boden. Als Caycon sah, daß auch der erste Akone bewußtlos war, überlegte er, ob er sie an Bord lassen sollte. Er lauschte dem Dröhnen der Aggregate und entschied, daß er es noch schaffen konnte, die beiden Techniker von Bord und in Sicherheit zu bringen. Ließ er sie in der Steuerkanzel liegen, würden sie ihm später nur Schwierigkeiten bereiten. Er lud sich den ersten Akonen über die Schulter, trug ihn aus dem Boot und legte ihn außerhalb des Schleusenhangars nieder. Danach erwies er dem zweiten Techniker den gleichen Dienst. Anschließend schloß er das innere Hangartor, damit es im Schiffsin nern nicht zu einer verheerenden Dekom pression kam. Als er wieder in der Steuerkanzel war, hatte sich in das Dröhnen ein schrilles Pfei
37 fen gemischt. Caycon wußte nicht, was es bedeutete, nahm aber vorsichtshalber an, daß es ein Zeichen für die unmittelbar be vorstehende Transition war. Hastig aktivier te er die Schaltungen für den Kanzeldach verschluß, hieb mit der Faust auf die Schalt platte der Außenschott-Fernimpulsschaltung und aktivierte das Triebwerks-Kraftwerk. Als er sah, daß sich das äußere Hangartor öffnete, schaltete er rücksichtslos das Kraft werk hoch und preßte die Hand auf die Schaltplatte für Vorwärtsbeschleunigung. Eine Art Gongschlag ertönte, dann wurde das kleine Boot von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt. Caycon sah, wie die Ränder des Außentores auf ihn zuschossen und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war von dem Hangar nichts mehr zu sehen. Ringsum leuchteten die Sterne gleich Dia manten auf schwarzem Samt. Caycon kam nicht dazu, den Anblick zu bewundern. Das Grollen der Aggregate wur de von einem mörderischen Krachen über tönt. Aus den Kontrollpulten schlugen blau weiße Blitze. Eine Alarmsirene heulte – und plötzlich drehten sich die Sterne wie rasend um Caycon …
* Als Caycon wieder zu sich kam, hing er pendelnd in den Anschnallgurten seines Kontursessels. Ihm war übel, und abwech selnd tauchten vor seinen Augen die Sterne des Weltraums und die Inneneinrichtung der Steuerkanzel auf. Er brauchte nicht lange, um sich diese Phänomene zu erklären. Das Boot raste of fenbar durch den Raum und überschlug sich dabei fortwährend. Auch der Grund dafür wurde Caycon bald klar. Das große akoni sche Raumschiff mußte, kurz nachdem er es mit dem Beiboot verlassen hatte, in Transiti on gegangen sein. Die nahe Strukturerschüt terung hatte die Bootselektronik und die po sitronischen Regelelemente schwer beschä digt. Sämtliche Triebwerke waren ausgefal len, aber offenkundig nicht mit einemmal,
38 sondern in zwei Schüben. Dadurch hatte das Beiboot den Impuls erhalten, der es sich überschlagen ließ. Caycon überlegte, was er tun konnte, um den untragbaren Zustand zu beenden. We nigstens arbeiteten die Andruckabsorber noch, sonst könnte er überhaupt nie mehr denken. Aber wenn er die Überschlagsbewe gungen nicht stoppte, würde er nicht viel länger zu leben haben. Schon verwirrte sich sein Geist zeitweise. Er litt unter Halluzina tionen, Kopfschmerzen und Übelkeit. Es wäre sinnlos gewesen, die Abdeckung des Hauptsteuerpults zu entfernen und zu versuchen, die Elektronik zu reparieren. Mit den komplizierten Steuer- und Regelsyste men eines Raumschiffs kannte er sich nicht aus. Er konnte nur hoffen, daß es an Bord ei ne Selbstreparaturanlage gab, die lediglich durch das Herausschlagen von Sicherungen ausgefallen war. Zwischen den Schwindelanfällen und Halluzinationen suchte Caycon mit den Au gen nach dem betreffenden Sicherungssy stem. Als er glaubte, es entdeckt zu haben, öffnete er das Sammelschloß seiner An schnallgurte. Im nächsten Augenblick mußte er sich krampfhaft an den Seitenlehnen sei nes Kontursessels festhalten, um nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt zu werden. Erst nachträglich wurde ihm klar, daß auch die künstliche Schwerkraft ausgefallen war – oder doch die Polung der künstlichen Schwerkraft. Er suchte mit den Augen einen Haltegriff am Hauptsteuerpult, berechnete im Kopf die Bewegung des Schiffes um seine verschie denen Achsen und stieß sich auf gut Glück ab. Seine Berechnungen mußten wenigstens annähernd gestimmt haben, denn er bekam den Haltegriff mit einer Hand zu fassen. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, als würde ihm der Arm vom Körper gerissen. Verbissen kämpfte er darum, auch die zwei te Hand an den Haltegriff zu bringen. Als ihm das endlich gelungen war, ruhte er sich aus – notgedrungen, denn sein Geist ver wirrte sich erneut.
H. G. Ewers Doch sein starker Wille half ihm, die Kri se auch diesmal zu überwinden. Er befand sich mit dem Gesicht ganz in der Nähe des Sicherungssystems, das er für das der Selbstreparaturanlage hielt. Die Kippschalter waren nach unten geflogen und von ein paar inzwischen erkalteten Tropfen geschmolze nen Metallplastiks festgeschweißt worden, sonst hätten sie von der Notschaltautomatik nach einiger Zeit wieder nach oben gewor fen werden müssen. Caycon preßte die Zähne aufeinander, konzentrierte sich, ließ die rechte Hand vom Haltegriff fahren und stemmte die Handflä che mit aller Kraft gegen den ersten Kipp schalter. Er keuchte, als der Schalter sich nicht rührte. Plötzlich gab es einen Ruck, der Schalter flog nach oben und rastete ein. Etwas summte und knisterte. Caycon nahm die Hand an den Haltegriff zurück und legte eine zweite Pause ein. An schließend versuchte er sein Glück bei dem zweiten Kippschalter. Diesmal stellte sich der Erfolg schneller ein. Im letzten Augen blick, bevor sich sein Geist wieder verwirrte, brachte er die freie Hand wieder an den Hal tegriff. Dann verlor er das Bewußtsein, hielt sich aber dennoch fest. Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich so elend, daß er wußte, er würde nur noch einen winzigen Versuch unternehmen kön nen. Wenn es ihm dabei nicht gelang, den dritten und letzten Kippschalter hochzustem men, würde er nicht mehr genügend Kraft für einen weiteren Versuch aufbringen. Erneut konzentrierte er sich, dann ließ er mit der rechten Hand los und schlug die Handfläche von unten gegen den dritten Kippschalter. Es knackte, dann flog der Schalter hoch. Ein blauer Blitz zuckte auf. Ein Dröhnen schüttelte die Schiffszelle, dann gab es einen schmerzhaften Ruck. Caycon vermochte sich nicht länger zu halten. Seine linke Hand glitt von dem Hal tegriff und er fiel. Seltsamerweise wurde er nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt, son dern fiel nur einen halben Schritt tief und prallte auf den Boden der Kanzel. Zu seinem
Brennpunkt Vergangenheit Erstaunen blieb er dort liegen, und wieder um verwirrte sich sein Geist. Als er das nächstemal wieder zu sich kam, fühlte er sich viel besser. Ihm war nicht mehr übel, und der Schwindel in seinem Kopf hatte nachgelassen. Dennoch war Cay con so erschöpft, daß er vorerst liegenblieb. Allmählich klärte sich sein Geist wieder. Caycon erkannte, daß die künstliche Schwerkraft wieder auf die Soll-Ebene des Beiboots gepolt war. Dadurch spürte er nichts mehr von den Überschlägen des Dis kus. Nur der Blick auf das transparente Kan zeldach bewies, daß sich das Boot unverän dert überschlug. Es hatte den Anschein, als wirbelten die Sterne des gesamten Univer sums rasend schnell um das Boot herum. Mühsam richtete Caycon sich auf. Er fühlte sich schwach, und die Erinnerung an Raimanja und an das Schicksal, das die Akonen ihr zugedacht hatten, ließ seine Glieder in haltlosem Krampf zittern. All mählich aber ließ das Zittern wieder nach. Caycon überlegte, warum die Akonen sich nicht um ihn gekümmert hatten. Die Kontrollen in der Hauptzentrale hatten den unvorhergesehenen Start des Beiboots zwei fellos angezeigt. Caycon zweifelte auch nicht daran, daß die Akonen daraus den rich tigen Schluß gezogen hatten. Offenbar aber hatte der Autopilot im Augenblick ihrer Er kenntnis die Transition eingeleitet. Die Frage blieb, warum sie nach der Re materialisierung am ersten Transitionsziel nicht unverzüglich umgekehrt waren, um das Boot zu suchen und wieder einzufangen. Nach einigem Überlegen fand Caycon auch darauf eine Antwort. Die Akonen hatten ganz einfach ange nommen, daß der heftige Strukturschock ih rer Transition das kleine Raumboot, das sich bis zu diesem Zeitpunkt nur um höchstens drei oder vier Lichtsekunden entfernt haben konnte, zerrissen hatte. Sie hielten ihn, Cay con, demnach für tot. Und warum hätten sie sich um einen Toten kümmern sollen, der in dem Wrack eines Beiboots ziellos durchs All trieb?
39 Aber er war nicht tot. Und wenn es ihm gelang, die Fluglage des Bootes zu stabili sieren und unter den zahllosen Sternen die Sonne Arkon ausfindig zu machen, dann würde er das Boot vielleicht auf Heimatkurs bringen können. Der Name Perpandron geisterte durch sein Gehirn. Es war der Name jener Welt, auf die Raimanja gebracht werden sollte, da mit sie dort ein waches Wesen gebären konnte. Wenn es ihm gelang, nach Arkon zurück zukehren und alles zu berichten, dann konn te der verhängnisvolle Plan zunichte ge macht werden. Caycon zog sich in den Kontursessel vor dem Hauptsteuerpult, schnallte sich an und streckte die Hände nach den Triebwerks schaltungen aus. Wenn die Schäden nicht ir reparabel waren, dann hatte die Selbstrepa raturanlage sie vielleicht schon behoben …
* Als es unsicher schien, ob Caycon die Si cherungen für die Selbstreparaturanlage des Beiboots würde einschalten können, nahm ich plötzlich eine wellenförmige Ausstrah lung von Panik wahr, die mich in kurzen In tervallen durchdrang. Ich wußte, daß die Ausstrahlung nicht von Fartuloon stammte, denn es gab keinen Grund für meinen Pflegevater, in Panik aus zubrechen. Demnach konnte sie nur von Akon-Akon stammen. Fürchtete der Ge heimnisvolle um das Leben seines Vaters – und war seine Furcht so stark, daß sie in Pa nik ausartete und von mir wahrgenommen werden konnte? Aber aus welchem Grund? Caycon war – so oder so – seit vielen Ge nerationen tot. Es gab keinen vernünftigen Grund mehr, sich wegen einer gefährlichen Lage, in die er einst geraten war, so zu äng stigen, daß man in Panik ausbrach. Ich versuchte, mit dem Bewußtseinsinhalt Akon-Akons, der sich ebenso im Beiboot befinden mußte wie die Bewußtseinsinhalte
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aller »Zeitreisenden«, Kontakt aufzuneh men. Aber alle meine Bemühungen blieben ergebnislos. Wahrscheinlich war der Be wußtseinsinhalt Akon-Akons nicht in der Lage, mich wahrzunehmen. »Was meinst du dazu?« erkundigte ich mich bei Fartuloon. Doch mein Pflegevater meldete sich nicht. Es war, als sei sein Bewußtseinsinhalt ver schwunden. Ich hielt das für unmöglich. Of fenbar wollte Fartuloon zur Zeit den Kontakt mit mir meiden. Ich begriff zwar nicht, wa rum, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, einen einseitigen Kontakt herzustellen. Also verfolgte ich weiter die Geschehnis se, körperloser Gast aus einer Zukunft, die es »jetzt« noch nicht gab, an die ich mich aber dennoch klar erinnerte …
8. Caycon atmete erleichtert auf, als die Triebwerke ansprangen. Er versuchte, die Fluglage des Beiboots zu stabilisieren, in dem er die Aggregate im Rand des Diskus fahrzeugs abwechselnd hoch- und herunter schaltete. Bald sah er ein, daß er damit nichts ande res erreichte, als daß die Überschlagsachsen sich veränderten. Vielleicht hätte ein routi nierter Raumschiffspilot die Fluglage nach Gefühl stabilisieren können. Er aber war keiner. Schon wollte er aufgeben und sich damit abfinden, daß er ziellos durch den Raum treiben würde, bis entweder zuerst der Vor rat an Atemluft oder der an Trinkwasser ver braucht war und er erstickte oder verdurste te, da fiel sein Blick auf eine ovale Schalt platte neben den Triebwerksschaltungen. Er wußte nicht, welchem Zweck sie diente, aber da ihm ohnehin alles egal war, drückte er sie nieder. Über den Hauptsteuerkontrollen blinkte eine gelbe Scheibe auf. In ihr wurden Sym bole und Zahlengruppen erkennbar, die in rascher Folge wechselten. Gleichzeitig da mit veränderte sich die Geräuschkulisse der
Triebwerke – und nach kurzer Zeit merkte Caycon, daß die Fluglage des kleinen Bei boots sich allmählich stabilisierte. Er lachte humorlos. Da hatte er die ganze Zeit über mit den Triebwerksschaltungen herumprobiert, ohne etwas zu erreichen und ohne daran zu den ken, daß die weitgehend perfektionierte Technik der Akonen eine Lösung für sein Problem bereithielt: eine Fluglagestabilisie rungsautomatik. Es dauerte nicht mehr lange, bis aus dem regellosen Umherwirbeln des Bootes ein gleichförmiger Geradeausflug mit konstan ter Beschleunigung geworden war. Beruhigt lehnte er sich zurück und schlief ein. Als er wieder aufgewacht war, entdeckte Caycon auch verschiedene Meßinstrumente, so die Anzeigen für Flugrichtung, Fluggeschwin digkeit und die Entfernung des nächsten in Flugrichtung gelegenen Objekts. Er stellte fest, daß das Boot sich mit einer Geschwindigkeit von neunundneunzig Pro zent LG fortbewegte, eine Folge der stetigen Beschleunigung. Wie lange es her war, daß das Beiboot diese Geschwindigkeit erreicht hatte, vermochte Caycon nicht festzustellen, aber er kannte die Gesetzmäßigkeiten der Zeitdilatation und wurde halb wahnsinnig vor Angst bei dem Gedanken, für Raimanja und die Arkoniden auf Arkon könnten in der Zeit, die er geschlafen hatte, Monate oder Jahre verstrichen sein. Unter Umständen war Raimanja längst auf Perpandron angekom men, war sein Sohn schon geboren. Voller Panik schaltete er die Triebwerke ab – und dachte erst einige Minuten später erschrocken daran, daß sich damit die Ge schwindigkeit des Beibootes nicht änderte. Caycon aktivierte die Gegenbeschleunigung und schaltete die Triebwerke solange hoch, bis seine Geschwindigkeit auf Null gesun ken war. Dann schaltete er die Triebwerke abermals ab. Verzweifelt wurde er sich klar darüber, daß er in den wenigen Stunden Eigenzeit in folge des schnelleren Zeitablaufs seiner Um welt möglicherweise Lichtmonate oder
Brennpunkt Vergangenheit Lichtjahre zurückgelegt hatte. Wie sollte er unter diesen Umständen nach Arkon zurück finden? Ja, wie sollte er überhaupt unter so vielen Sternen den fernen Stern ermitteln, der das Muttergestirn der Kolonie Arkon war? Er versuchte es dennoch. Als er merkte, daß seine Bemühungen nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg hatten, kam er auf den Gedanken, das Bei boot zu wenden, wieder auf neunundneunzig Prozent LG zu beschleunigen und diese Ge schwindigkeit für die Dauer von drei Stun den Eigenzeit beizubehalten. Falls seine Schätzung stimmte, würde er dann ungefähr die Position erreichen, wo das Beiboot zum erstenmal in den relativistischen Flug über gegangen war – und das konnte nicht mehr als einige Lichtstunden von Arkon entfernt sein. Es drängte ihn, sofort damit anzufangen. Doch diesmal zwang er sich zur Geduld. Er wollte nicht wieder planlos handeln, denn wenn er die Richtung, aus der er gekommen war, nicht ganz genau traf, dann würde er Arkon niemals wiederfinden. Caycon suchte seine Kenntnisse zusam men und stellte fest, daß er das Boot mit dem Bug um exakt hundertachtzig Grad wenden mußte, um es auf einen entgegenge setzten Kurs zu bringen. Außerdem mußte er darauf achten, daß das Boot keine vertikalen Bewegungen ausführte. Bei diesen Überlegungen fielen ihm sie dendheiß seine Bemühungen ein, die Flugla ge durch impulsive Schaltmanöver zu stabi lisieren. Sein Mut sank, denn wenn er – was anzunehmen war – dabei den ursprünglichen Kurs verändert hatte, gab es keine Möglich keit mehr, zur Ausgangsposition zurückzu finden. Resignierend schloß Caycon die Augen. Er wußte, daß er endgültig verspielt hatte. Er würde weder Arkon noch Raimanja wieder sehen – und niemals würde er erfahren, was aus seinem Sohn geworden war. Aber nach einiger Zeit regte sich in ihm der Wille wieder, gegen Widerstände jeder
41 Art anzukämpfen. Belebt wurde dieser Wille durch die vage Hoffnung, die Akonen könn ten in ihren Raumschiffen und Beibooten über Automatiken verfügen, die eine auto matische Rückführung zum Startpunkt er möglichten. Caycon rieb sich die schmerzenden Au gen, dann begann er mit seiner Suche. Er fand zwar nicht direkt das, was er zu finden hoffte, aber er schaltete zufällig ein Gerät ein, das eine direkte akustische Kommunika tion mit ihm und der kleinen Bordpositronik erlaubte. Von der Bordpositronik, die nicht viel mehr als ein kleines positronisches Ro botgehirn mit Anschlüssen an alle Schiffssy steme war, erfuhr er, daß ein mündlicher Be fehl von ihm genügte, um die Positronik zu veranlassen, jedes gewünschte Manöver aus zuführen. Dennoch wagte Caycon es nicht, seinen Wunsch sofort auszusprechen, weil er be fürchtete, die Bordpositronik könnte ausge rechnet zur Erfüllung dieses Wunsches nicht in der Lage sein. Endlich aber gab er sich doch einen Ruck und sagte, was er wollte. Er vernahm gleich darauf die Bestätigung der Positronik. Dennoch wagte er erst an die Erfüllung seines Wunsches zu glauben, als er merkte, daß das Boot wendete. Auf einem Anzeigeschirm war zu sehen, daß das Bei boot eine Wendung um genau hundertacht zig Grad vollführte und dabei vertikale Ab weichungen vermied. Anschließend be schleunigte es. Caycon verfolgte aufmerksam die Instru mentenanzeigen. Deswegen bemerkte er den Fehler, der ihm unterlaufen war und den die Positronik nicht als solchen erkennen konn te, noch rechtzeitig. Die Bordpositronik be schleunigte das Boot nämlich über die kriti sche Geschwindigkeitsgrenze hinaus, die zwischen Normal- und Dilatationsflug unter schied. Auf Caycons Anfrage teilte sie ihm mit, sie hätte den Herflug nach Umkehr der Flugrichtung genau rekonstruiert. Er wies sie an, unter der kritischen Grenze zu bleiben, ansonsten aber nichts zu verän dern. Aber die Bordpositronik gab sich nicht
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damit zufrieden. Sie teilte ihm mit, daß der Rückflug zum Ausgangspunkt in dem Fall dreieinhalb Jahre dauern würde. Das versetzte Caycon einen Schock, denn daraus erkannte er, daß seit seiner Flucht aus dem akonischen Schiff nicht nur einige Mo nate, sondern tatsächlich dreieinhalb Jahre vergangen waren. Da die akonischen und ar konidischen Jahre annähernd gleich lang waren, brauchte er nicht erst umzurechnen, sondern gab sich mit dem Grobwert zufrie den. Dreieinhalb Jahre! Und genau diese Zeit würde er brauchen, um seinen Ausgangspunkt wieder zu errei chen, ganz gleich, ob er sich im normalen oder im relativistischen Geschwindigkeits bereich bewegte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er in dem einen Fall die Flugzeit als Eigenzeit erlebte und im ande ren Fall als einige Stunden Eigenzeit infolge der relativistischen Verlangsamung seines eigenen Zeitablaufs. Unter diesem Umständen entschied sich Caycon für die Methode, bei der wenigstens ihm die Zeit schneller verging – jedenfalls relativ gesehen. Er teilte seinen Entschluß der Bordpo sitronik mit, die ihn zur Kenntnis nahm und in die Tat umsetzte. Caycon aber war nahe daran, endgültig den Verstand zu verlieren, denn er mußte ständig daran denken, daß für den Rückflug objektiv noch einmal dreieinhalb Jahre ver gehen würde, so daß seit seiner Flucht aus dem akonischen Raumschiff sieben Jahre vergangen sein würden, wenn er seinen Aus gangspunkt erreichte.
* Caycon fiel in einen Schlaf der Erschöp fung, in dem er von Alptraum zu Alptraum taumelte. Alle Personen, die er gut gekannt hatte, tauchten in diesen Träumen auf, aber ständig war Raimanja dabei, wenn auch in wechselnder Gestalt. Und ab und zu begegnete Caycon in sei-
nen Träumen seinem Kind, das einmal ein Baby war, dann ein Knabe von sieben Ar konjahren und einmal sogar ein junger Mann. Er versuchte, seinen Sohn anzufassen und mit ihm zu sprechen, aber jedesmal ver blaßte die Erscheinung. Endlich erwachte Caycon schweißgeba det. Er zitterte am ganzen Körper und hatte große Mühe, sich in der Wirklichkeit zu rechtzufinden. Er kehrte erst dann wieder voll in die Realität zurück, als die Bordpo sitronik ihm mitteilte, daß der Ausgangs punkt des Fluges erreicht sei. Caycon erkundigte sich, ob die Positronik das Schiff zum Planeten Arkon steuern und darauf landen lassen konnte. Sie antwortete, daß es ihr nicht möglich war, den Planeten Arkon anzufliegen, da in ihr keine Daten darüber gespeichert seien. Demnach ist es doch nicht das Boot, das Raimanja und mich von Arkon zum Schiff der Akonen brachte! überlegte Caycon. Er sah ein, daß er von nun an wieder auf sich selbst gestellt war. Wenn er die Sonne Arkon entdeckte und identifizierte, würde er sicher auch zum Planeten Arkon zurückfin den. Geduldig beobachtete er die Sterne, aber er fand keinen, dessen Helligkeit so stark war, daß er auf eine Entfernung von nur we nigen Lichtstunden schließen konnte. Wie der wäre Caycon bald verzweifelt. Es dauer te lange, bis er darauf kam, daß er die Ar konsonne vielleicht nur deshalb nicht sah, weil sie unterhalb seines eingeschränkten Gesichtsfelds lag. Er forderte die Positronik auf, das Schiff um hundertachtzig Grad zu kippen. Die Po sitronik gehorchte – und diesmal entdeckte Caycon die große, helleuchtende blauweiße Sonne sofort. Das mußte Arkon sein! Cay con wußte, daß er die Planeten der Arkon sonne finden würde, wenn das Boot unbe weglich verharrte und er lange genug aus harrte, um die Planeten von den scheinbar feststehenden fernen Sonnen zu unterschei den. Aber er brachte, so nahe an seiner Hei mat, nicht mehr die Geduld auf, solange
Brennpunkt Vergangenheit stillzusitzen und nur zu beobachten. Eine Anfrage bei der Bordpositronik er gab, daß die Positronik in der Lage war, die Planeten des Arkonsystems ortungstech nisch zu erfassen. Caycon erkundigte sich, wie viele Planeten die Positronik der großen blauweißen Sonne zuordnete. Als er hörte, daß es siebenundzwanzig waren, war das die Bestätigung seiner Annahme, daß er sich im Arkonsystem befand. Er erklärte dem Positronengehirn, daß sei ne Zielwelt der dritte Planet sei, von innen nach außen gezählt. Daraufhin teilte die Po sitronik mit, daß sie nun, da sie das Ziel kannte und ortungstechnisch erfaßt hatte, das Beiboot hinbringen könnte. Caycon erteilte ihr den entsprechenden Befehl, und das Beiboot setzte sich in Bewe gung. Der Planet Arkon war bereits münzen groß zu sehen, als es Caycon einfiel, daß die Ortungsstationen der planetarischen Raum überwachung das Boot zweifellos erfassen mußten. Da es nicht angemeldet war, würde die Zentrale der Raumüberwachung es an funken und die Identifizierung verlangen. Caycons Augen suchten den Hyperkom. Würden die Offiziere der Raumüberwa chungszentrale ihm glauben, wenn er sagte, wer er war? Wenn sie das Boot als akoni sches Beiboot identifizierten und niemand ihn erkannte, würden auf Arkon einige Raumjäger starten, ihn abfangen und ab schießen. Er beschloß, die Raumüberwachung von sich aus anzurufen. Dann konnte man dort wenigstens nicht auf den Gedanken kom men, er hätte sich heimlich anschleichen wollen. Zwar war ihm die Flottenfrequenz, auf der die Raumüberwachung arbeitete, nicht bekannt. Doch er wußte, daß die be treffenden Hyperfunkanlagen über Suchsy steme verfügten, die die Umgebung Arkons auf allen Frequenzen nach Funksprüchen ab suchten. Caycon schaltete den Hyperkom ein und stellte ihn vorsichtshalber auf maximale Sendeenergie. Dann ließ er das program mierte Rufsignal ausstrahlen.
43 Es dauerte nur wenige Sekunden, bis auf dem Bildschirm das Gesicht und der Ober körper eines arkonidischen Funkoffiziers er schienen. Das Gesicht des Mannes drückte unverhohlenes Mißtrauen aus. »Raumüberwachungszentrale an anflie gendes Fahrzeug«, sagte der Offizier. »Drosseln Sie Ihre Sendeleistung um neun zig Prozent und identifizieren Sie sich! Sie sind dabei, in militärisches Sperrgebiet ein zufliegen.« Mit zitternden Händen verstellte Caycon die Sendeleistung, dann sagte er: »Hier spricht Caycon aus der Familie Akonda. Meine Frau Raimanja und ich sind vor sieben Jahren von Fremden entführt worden. Mir gelang die Flucht mit einem Beiboot. Ich bitte um Landeerlaubnis.« Der Funkoffizier wölbte die Brausen. »Caycon – aus der Familie Akonda, ja?« »Ja, es stimmt«, versicherte Caycon ha stig. »Ich wurde allerdings aus meiner Fami lie ausgestoßen, da ich mit einer Sulithur zu sammenlebte, und …« Die Miene des Offiziers erhellte sich. »Ah, Sie wurden ausgestoßen«, erwiderte er. »Wenn sich das bestätigt, ändert das die Sachlage. Normalerweise haben wir auf Ar kon nämlich keinen Platz für einen Akonda – und auch nicht für einen Sulithur. Nennen Sie mir Ihre Kodenummer!« »Welche Kodenummer?« fragte Caycon verwundert. »Na, die, die Sie erhielten, als Sie Ihre er ste Ausbildungszeit in der Flotte registriert wurden«, erklärte der Offizier. »Aber ich wurde nie eingezogen«, erwi derte Caycon. Der Blick des Funkoffiziers verriet eisige Ablehnung und Unglauben. »Mann, Sie sind schätzungsweise fünf undzwanzig alt, Sie steuern ein Raumboot – und Sie wollen mir erzählen, Sie hätten noch keine Dienstzeit bei unserer Raumflotte ab solviert? Lassen Sie sich schnell etwas ein fallen, sonst muß ich die Raumabwehr alar mieren. Mit Spionen machen wir kurzen Prozeß.«
44 »Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, als ich entführt wurde«, sagte Caycon verzweifelt. »Weil ich mich mit Raumschiffen nicht aus kannte, blieb ich viele Stunden lang auf Ma ximalbeschleunigung, wodurch ich in die höchsten Dilatationsstufe kam. Seit ich mei nen Entführern entfloh, sind rund sieben Jahre objektiver Zeit vergangen.« »Wir werden das überprüfen«, erklärte der Offizier. »Stoppen Sie, Caycon! Ich schicke Ihnen zwei Piloten, die dafür sorgen, daß Ihr Boot sicher gelandet wird.« »Das ist unnötig«, erwiderte Caycon. »Mein Boot wird durch die Bordpositronik gesteuert und kann auch von ihr gelandet werden.« »Wer hat je von solchem Unsinn gehört«, entgegnete der Offizier. »Eine Bordpositro nik ist zur Unterstützung des Piloten da, aber nicht, um ihn zu ersetzen. Es bleibt dabei, ich schicke Ihnen zwei Mann hinauf. Stop pen Sie sofort!« Es blieb Caycon nichts weiter übrig, als zu gehorchen. Eine halbe Stunde später kam ein Beiboot in Sicht, das nicht viel größer war als seines. Es legte an, und zwei Arkoni den in Raumanzügen stiegen über. Sie wa ren vorsichtig. Einer durchsuchte das Boot, während der andere mit gezogener Waffe in der Steuerkanzel stand und Caycon beob achtete. Schließlich hatte der erste die Durchfüh rung beendet und kehrte in die Steuerkanzel zurück. »Nichts Verdächtiges«, erklärte er, dann blickte er Caycon an. »Ich heiße Eljan, mein Gefährte heißt Hakhon. Hakhon wird dein Boot landen.« »Und du paßt inzwischen auf mich auf, nicht wahr?« fragte Caycon bitter. »Selbstverständlich«, erklärte Eljan. »Reichsadmiral Farthu von Lloonet hat höchste Wachsamkeit empfohlen, denn Ar kon ist von Feinden umgeben.« »Reichsadmiral Farthu von Lloonet?« er kundigte sich Caycon. »Ihr müßt entschuldi gen, daß ich unwissend bin, aber ich war sie ben Jahre fort. Demnach regieren keine Fa-
H. G. Ewers milien mehr?« »Sie wurden entmachtet und verbannt, da sie mit ihrer korrupten Politik die Schlag kraft der Flotte gefährdeten«, antwortete El jan. »Als der damalige Flottenadmiral Far thu von Lloonet das erkannte, sorgte er an der Spitze einer Tausendschaft Raumlandes oldaten für Ordnung. Seitdem hat sich die Politik dem Wohl Arkons unterzuordnen, was mir sehr weise erscheint.« »Mir auch«, bekannte Caycon erfreut. »Endlich hat dieser Irrsinn ein Ende gefun den.« Seine Augen verdunkelten sich. »Aber zu spät für Raimanja und meinen Sohn.« Eljan und Hakhon wollten mehr von ihm erfahren, doch Caycon brütete nur dumpf vor sich hin und reagierte auf keine Frage mehr. Er stand lediglich auf und setzte sich in einen anderen Kontursessel, als Hakhon seinen Platz beanspruchte. Erst als während des Landemanövers die Impulssteuerung plötzlich unregelmäßig ar beitete und das Boot nicht mehr exakt auf die Steuerschaltungen Hakhons reagierte, er wachte er aus seinem Brüten. »Wahrscheinlich liegt ein Defekt vor«, er klärte er. »Zwei akonische Techniker unter suchten gerade die Kontrollen, bevor ich mir das Boot aneignete und floh.« »Daran hättest du vorher denken sollen«, sagte Hakhon. »Übrigens, es gibt keine Ako nen.« »Aber ich …«, wollte Caycon einwenden. Eljan unterbrach ihn grob. »Merke dir ein für allemal: Es gibt keine Akonen, sondern nur Fremde, die uns unsere Erfolge neiden!« erklärte er. Caycon preßte die Lippen zusammen und schwieg. Es war zudem keine günstige Zeit für Diskussionen, denn das Raumboot sch lingerte so heftig, daß Hakhon endgültig die Gewalt darüber verlor. In der Ferne war der Kontrollturm des nächsten Raumhafens schon in Sicht, als das Boot durchsackte und gegen die Flanke eines Hügels raste. Caycon nahm das Bersten und Krachen nicht mehr wahr, mit dem das Beiboot in seine Bestandteile zerfiel …
Brennpunkt Vergangenheit
* Es dauerte nicht lange, da waren die er sten Rettungsgleiter zur Stelle. Das Wrack hatte seine Einzelteile gleich einem Kome tenschweif hinter sich gelassen und bestand nur noch aus einer Reaktorzelle und dem schief darauf liegenden Boden der Steuer kanzel. Die Retter beeilten sich, denn aus dem Reaktorteil drang der Qualm schwelender Speicherspulen. Ich sah, wie Caycon und die beiden Raumfahrer geborgen wurden. Sie waren al le drei bewußtlos und offenbar schwer ver letzt. Wären sie mit ihren Kontursessel nicht auf den lockeren Sand der Hügelkuppe ge schleudert worden, hätten sie den Absturz sicher nicht überlebt. Während unsere Bewußtseinsinhalte, gleichsam durch magische Kräfte an die Nä he Caycons gefesselt, die Fahrt im Ambu lanzgleiter mitmachten, überdachte ich das, was Eljan dem Rückkehrer berichtet hatte. »Farthu von Lloonet!« dachte ich an Far tuloons Adresse. »Findest du nicht auch, daß dieser Name eine frappierende Ähnlichkeit mit deinem Namen hat?« »Ich kann es nicht leugnen«, erwiderte Fartuloon. »Nein, das kannst du nicht«, übermittelte ich meinem Pflegevater. »Ich bin so gut wie überzeugt davon, daß der Retter Arkons ein Urahn von dir war. Hoffentlich wirst du da durch nicht übermütig.« »Das glaube ich kaum«, meinte Fartu loon. »Die Verstümmelung des ehedem hochadligen Namens scheint mir darauf hin zudeuten, daß es in der Kette meiner Vor fahren jemanden gab, der diesen Namen so in den Schmutz zog, daß ihm der Adelstitel entzogen wurde und er seinen Namen änder te, um irgendwo unerkannt leben zu kön nen.« »Wer hätte auf seiner Ahnentafel keine dunklen Flecken aufzuweisen!« gab ich zu rück. »Schau doch nur mal auf meine Ah nentafel! Der größte Verbrecher der arkoni
45 dischen Geschichte ist zweifellos Orbana schol III. und dieses Scheusal ist mein On kel. Es besteht also keine Ursache für dich, Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln.« »Aber froh bin ich auch nicht darüber, daß ich den guten Namen meines Urahns verloren habe«, erklärte mein Pflegevater. »Ob ein Name angesehen ist oder nicht, darüber entscheidet immer sein Träger selbst«, erwiderte ich. »Jedenfalls bin ich froh darüber, daß wir ein paar Blicke hinter das Dunkel der Vorgeschichte des Großen Imperiums werfen dürfen. So manches wird mir jetzt leichter verständlich. So beispiels weise, warum Arkon zur Keimzelle eines extrem expandierenden Imperiums wurde.« »Weil es in der ersten Aufbauphase von den Militärs regiert wurde«, ergänzte Fartu loon. »Anfangs war das zweifellos positiv. Allerdings halte ich es für möglich, daß es niemals zu einem kriegerischen Zusammen stoß mit den Maahks gekommen wäre, wenn sich unser Imperium nicht so schnell ausge breitet hätte und von dem Gedanken beseelt gewesen wäre, daß Widerstand immer mit Gewaltanwendung zu brechen sei.« »Alles hat seine Vor- und Nachteile«, gab ich zurück. »Ich bemerke soeben, daß Cay con zu sich kommt. Es wird interessant sein, seine Gespräche mit den Arkoniden zu be lauschen, die ihn verhören werden.«
9. Caycon hatte die Augen geöffnet, aber er konnte nur schemenhafte Bewegungen in seinem Blickfeld erkennen. Sein Schädel fühlte sich an wie ein zu stark aufgeblasener Ballon, und von seinem Körper spürte er überhaupt nichts. Er konnte sich das nicht erklären, bis ihm wieder einfiel, daß er sich in einem Raum boot befunden hatte, das beim Landeanflug auf einen Raumhafen außer Kontrolle gera ten und abgestürzt war. Eigentlich war es fast ein Wunder, daß er den Aufprall über lebt hatte. Er war bestimmt schwer verletzt. Sicher hatten die Mediziner ihn mit Betäu
46 bungsmitteln vollgepumpt. Das mochte er klären, warum sein Sehvermögen getrübt war und er seinen Körper nicht fühlte. Etwas rückte plötzlich dicht an sein Ge sicht heran. Nach einiger Zeit erkannte Cay con die Konturen eines anderen Gesichts, wenn auch undeutlich. »Können Sie mich hören, Caycon?« frag te jemand. Die Laute schnitten wie mit glühenden Messern durch Caycons Schädel. Er wollte schreien, brachte aber nur einen gurgelnden Laut zustande. »Schwere Schädelfrakturen und Gehirn quetschungen«, sagte eine andere, scheinbar weit entfernte Stimme. »Wir müssen so schnell wie möglich operieren und ein Ven til einsetzen. Die Brüche der Arme und Bei nen können warten.« Das Gesicht vor seinen Augen ver schwand. Caycon hatte das Empfinden, als bewegte er sich schwebend. Neue Schemen tauchten in seinem Gesichtskreis auf. Rote, grüne und blaue Leuchtflecken tanzten auf und ab; ihr Licht schmerzte seinen Augen, doch er konnte sie nicht schließen. Caycon versuchte zu ergründen, was er in einem Raumboot getan hatte. Er vermochte sich vage an eine lange Reise, an kreiselnde Sterne und an die blechern nachhallende Stimme eines Positronengehirns zu erinnern. Was hatte das Positronengehirn zu ihm gesagt? Hatte es etwas von ihm gewollt? Oder hatte er etwas von ihm gewollt? Aber da war noch etwas gewesen, etwas, das wichtiger war als alles andere. Nur, Cay con kam einfach nicht darauf, was das gewe sen war. Plötzlich hörte die schwebende Be wegung auf. Mehrere Stimmen flüsterten. Ein Surren mischte sich in die Geräusche, dann das klopfende und schmatzende Ge räusch eines Pumpaggregats. Etwas Nasses wischte über Caycons Ge sicht. Das Surren wurde lauter, verwandelte sich in ein gedämpftes Heulen. Plötzlich kam es Caycon vor, als sei der prall gefüllte Ballon, als den er seinen Schädel gefühlt hatte, geplatzt. Der Druck ließ nach. Der
H. G. Ewers Splitter einer Erinnerung wurde frei. Er reichte gerade aus, um Caycon erkennen zu lassen, daß er etwas unternehmen mußte, um etwas Furchtbares zu verhindern. Er versuchte, sich aufzurichten. Doch das ging nicht. »Was ist mit ihm los?« fragte eine Stim me. »Habt ihr einen Rindenbezirk akti viert?« Caycon begriff nichts von dem, was die Stimme gesagt hatte. Er begriff auch nicht, was der winzige Splitter seiner Erinnerung bedeutete, sondern handelte unter innerem Zwang, der von seinem Unterbewußtsein ausgeübt wurde. Mit äußerster Willensanstrengung schaff te er es, die Lippen zu bewegen und seine Stimmbänder zu steuern. »Er … er ist – ein waches Wesen!« stieß er hervor, dann blitzte es irgendwo in sei nem Schädel auf – und gleich danach wurde es dunkel. Als Caycon wieder zu sich kam, war alles ganz anders. Er fühlte seinen Körper und konnte die Konturen seiner Umgebung eini germaßen klar erkennen. So sah er, daß er in einem Zimmer voller elektronischer und po sitronischer Apparaturen lag. Er war auf ein Bett geschnallt und konnte den Kopf nicht bewegen. Und irgendwo in seinem Schädel gluckste und zischte etwas leise. Kurz darauf hörte Caycon die Geräusche, die beim Öffnen und Schließen einer Tür entstehen. Da die Tür außerhalb seines Blickfelds lag und er den Kopf nicht wenden konnte, sah er nicht, wer eingetreten war – bis der Betreffende in seinem Blickfeld er schien. Es war ein Mann von zirka vierzig Arkon jahren. Er trug eine Uniformkombination und einen Waffengürtel mit zwei Halftern, aus denen die Griff stücke von Energiewaf fen ragten. Sein hartes Gesicht verzog sich zur Andeutung eines Lächelns, als er sich auf einen Hocker neben Caycons Bett setzte. Er legte die rechte Hand auf das blaue Planetensymbol, das er auf der linken Brust seite seiner Uniformkombination trug und
Brennpunkt Vergangenheit sagte: »Ich bin Kjarmansul, Einfacher Planeten träger und der Kolonisationspolizei zuge teilt. Wie geht es Ihnen, Caycon?« »Ich fühle keine Schmerzen«, antwortete Caycon und wunderte sich, daß er mühelos sprechen konnte. »Aber ich kann mich nicht bewegen.« »Sie sind angeschnallt«, erklärte Kjar mansul. »Das ist auf der Intensivstation ei nes Krankenhauses so üblich. Die Mediziner berichteten mir, daß Sie sich von Ihren Ver letzungen weitgehend erholt hätten. Aller dings ist Ihr Schädel noch nicht ganz in Ord nung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dennoch einige Aussagen machen würden. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?« »Ja«, antwortete Caycon. »Aber ich glau be, ich weiß nichts. Wenn ich etwas gewußt habe, das wichtig für Sie ist, habe ich es ver gessen. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich hier bin.« »Sie flogen Arkon mit einem kleinen Raumboot an«, sagte Kjarmansul ernst. »Der Raumüberwachung erklärten Sie, daß Sie vor sieben Jahren von Fremden entführt wurden, daß Ihnen die Flucht mit dem Raumboot gelang und daß Sie die bewußten sieben Jahre verpaßt hätten, weil Sie sich unwissend längere Zeit dem maximal denk baren Dilatationseffekt ausgesetzt hätten.« »Das Boot!« flüsterte Caycon. »Ja, ich glaube, ich erinnere mich an das Boot. Es sprach zu mir – oder vielmehr sprach die Bordpositronik des Raumboots zu mir. Es ging, glaube ich, darum, zurückzukehren zu einem Punkt, der …« Er seufzte. »Jetzt ist alles wieder fort.« »Während Ihrer Schädeloperation sagten Sie etwas von einem wachen Wesen«, sagte Kjarmansul eindringlich. »Genau sagten Sie: ›Er ist ein waches Wesen.‹ Was meinten Sie damit, Caycon?« »Ein waches Wesen!« stammelte Caycon. »Er ist ein waches Wesen.« Plötzlich zuckte er heftig zusammen. »Er ist es, mein Sohn!« schrie er. »Oh, Raimanja, unser Sohn! Sie haben ihn zu einem wachen Wesen ge
47 macht!« Erschöpfung breitete sich in ihm aus, und er konnte, bevor er erneut das Bewußtsein verlor, nur noch flüstern: »Hilf mir, Raimanja!« Als Caycon diesmal zu sich kam, brauch te er nicht zu warten, bis jemand erschien. Er sah einen Mediziner auf dem Hocker ne ben seinem Bett sitzen. Der Mediziner be merkte, daß Caycon die Augen öffnete, schaltete ein Armbandfunkgerät ein und flü sterte ein paar Worte. Wenig später hörte Caycon das Öffnen und Schließen einer Tür, dann trat ein hü nenhaft gebauter Mann in sein Blickfeld. Er trug über der schlichten Uniformkombinati on einen kurzen Schulterumhang, auf dem zwei goldfarbene Kometensymbole leuchte ten. Die linke Brustseite seiner Kombination wurde von drei gelben Sonnen geschmückt. Der Mediziner erhob sich und verließ schweigend das Zimmer. Dafür setzte sich der hünenhafte Mann auf den Hocker. Cay con sah, daß sein glattrasiertes Gesicht schwarzblaue Bartschatten aufwies, was bei einem Arkoniden sehr selten vorkam. Die Augen waren nicht rötlich, sondern gelb. »Ich grüße Sie, Caycon!« sagte der Mann mit sonorer Stimme. »Ich bin Reichsadmiral Farthu von Lloonet. Wie fühlen Sie sich, Caycon?« »Gut, glaube ich«, antwortete Caycon. »Ich erinnere mich. Jemand sagte mir, daß Sie Arkon regieren.« »Ich habe die Verantwortung für die Len kung des Sternenreichs auf mich genom men«, erwiderte der Reichsadmiral. »Es ist eine schwere Bürde, das dürfen Sie mir glauben, Caycon. In diesem Amt kann ein Mann seiner Verantwortung aber nur ge recht werden, wenn er über alles informiert ist, das wichtig für die Politik des Reiches ist. Deshalb kam ich zu Ihnen. Planetenträ ger Kjarmansul berichtete mir, daß Sie einen Sohn haben, der zu einem wachen Wesen gemacht worden sein soll.« »Ein waches Wesen!« flüsterte Caycon gedankenverloren. »Ja, da war etwas …«
48 »Ich habe Nachforschungen anstellen las sen«, fuhr Farthu von Lloonet fort. »Vor rund sieben Jahren wurde das Liebespaar Raimanja und Caycon von ihren Familien verstoßen, weil sie sich nicht trennen woll ten, obwohl ihre Familien verfeindet waren. Wenig später verhaftete die damalige Polizei Raimanja, da sie ihre Schwangerschaft nicht gemeldet hatte. In der zweiten darauf fol genden Nacht wurde die Polizeistation, in der Raimanja gefangengehalten wurde, von Unbekannten überfallen und in die Luft ge sprengt. Dabei kamen neun Personen ums Leben. Da von Raimanja keine Überreste gefunden wurden, nahm man damals an, ihr Mann Caycon hätte sie befreit und wäre mit ihr in die Wildnis geflohen. Sieben Jahre später kehrte ein Mann zurück, der sich Cay con nannte: Sie!« »Ja, ich bin Caycon«, flüsterte Caycon. »Raimanja und ich – sind nicht geflohen. Ich glaube, wir wurden entführt.« »Sie glauben es?« fragte der Reichsadmi ral und wölbte die dichten schwarzen Brau en. »Erinnern Sie sich nicht mehr?« »Die Fremden«, stammelte Caycon. »Sie sagten, mein Sohn sollte ein waches Wesen werden. Raimanja, sie wollten sie nach Per pandron bringen, wo sie das Kind – unseren Sohn gebären sollte. Unser Sohn, ein waches Wesen.« »Was bedeutet das: ein waches Wesen?« erkundigte sich Farthu von Lloonet. »Macht!« sagte Caycon. »Alle werden vor ihm in den Staub fallen und seine Füße küs sen, und niemand wird ihm widerstehen können in seinem Glanz, der die Augen blendet. Das Licht ist so grell. Es schmerzt meinen Augen.« »Bitte, beruhigen Sie sich, Caycon!« bat der Reichsadmiral. »Ich habe die Beleuch tung verringern lassen. Versuchen Sie, Ihre Gedanken zu ordnen! Sie nannten einen Na men: Perpandron. Sagen Sie mir, ist Perpan dron der Name eines Planeten? Ich hörte ihn von Ihnen zum erstenmal.« »Perpandron!« flüsterte Caycon. »Mächtig, mächtig wird er sein! Oh, Rai-
H. G. Ewers manja, was haben sie mit dir gemacht? Wer de ich dich je wiedersehen? Sieben Jahre zu spät, zu spät!« Sein Reden ging in ein undeutliches Mur meln über, das allmählich ganz versiegte. Als zwei Mediziner den Raum betraten, erhob sich Farthu von Lloonet und sagte: »Sein Geist ist verwirrt. Er muß noch un ter der Nachwirkung eines schweren seeli schen Schocks stehen. Wird er sich wieder davon erholen?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete einer der Ärzte. »Alles hängt davon ab, ob er sich selbst von seinem Trauma befreien kann. Alles, was wir dazu tun konnten, haben wir getan.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Reichsadmi ral düster. »Wenn ich nur wüßte, wo Perpan dron liegt, ich würde noch heute dorthin auf brechen – und eine ganze Flotte mitneh men.«
* Caycon schlief den Schlaf des seelisch Er schöpften, der sich in Träume zu retten ver sucht, weil er sich in der Wirklichkeit nicht mehr zurechtfindet. Aber irgendwann kehrte er doch wieder ins bewußte Leben zurück. In seinem Zim mer war es dunkel, und als Caycon sich be wegte, merkte er, daß er nicht mehr ange schnallt war. Auch seinen Kopf konnte er frei bewegen. Caycon setzte sich auf. In seinem Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, daß er Raimanja suchen müsse, denn wo Raimanja war, dort mußte auch sein Sohn sein. Ihm wurde gar nicht bewußt, daß er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wo er mit der Suche beginnen mußte. Ansonsten aber zeugten seine Handlungen von schlafwandlerischer Sicherheit. Er rück te sein Kopfkissen so zur Seite, daß es das rötlich glimmende Fernsehauge der Beob achtungsanlage verdeckte. Danach stieg er leise aus dem Bett, öffnete den Wand schrank und entnahm ihm seine Kleidung,
Brennpunkt Vergangenheit die instand gesetzt und gereinigt worden war. Er zog sie an, öffnete die Tür und be fand sich auf einem hellerleuchteten Korri dor, durch den zwei gegengerichtete Trans portbänder glitten. Caycon blickte sich um. Niemand war zu sehen. Er bestieg eines der Transportbänder, ließ sich von ihm zur nächsten Einstiegsöff nung eines Antigravlifts tragen und schwang sich in den Schacht. Als er wieder ausstieg, stand er in einer halbrunden Halle, deren Außenwand transparent war, so daß Caycon durch sie einen von mehreren Lampen er leuchteten Park sehen konnte. Die – eben falls transparente – Tür öffnete sich, als Ca ycon nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war. Etwas summte, dann sagte eine ble chern nachhallende Stimme: »Sie haben vergessen, Ihre ID-Plakette in den Schlitz der Registrierautomatik zu schieben. Bitte, holen Sie das nach!« Caycon kümmerte sich nicht darum, son dern ging zielstrebig in den Park. Sein Un terbewußtsein registrierte, daß die Klinik auf einem Hügel oberhalb einer mittelgroßen Stadt stand, die sich in einer stürmischen Pe riode des Wachstums befand, wie die zahl reichen beleuchteten Baustellen an den Rän dern bewiesen. Weit hinter dem gegenüber liegenden Rand der Stadt blinkten die Positi onslichter zweier großer Raumschiffe, die zur Landung angesetzt hatten. Nichts von alledem nahm Caycon bewußt wahr. Seine Beine schienen einen eigenen Willen entwickelt zu haben. Sie trugen ihn durch den Park der Klinik, aus dem Park hinaus und auf einen schmalen Weg, der zu erst durch eine Grasebene, dann durch fin steren Wald und zuletzt in ein Gebirge führ te. Caycon spürte keine Müdigkeit, auch dann nicht, als der Pfad immer steiler an stieg und schließlich an einem steinigen Steilhang endete. Caycon setzte seinen Weg auf Händen und Füßen fort. Bald bluteten seine Hände aus zahlreichen Rißwunden und Aufschür fungen, sein Haar war schweißverklebt, und der Schweiß rann ihm an den Innenseiten
49 der Arme und Beine und am Rücken hinab. Irgendwann in dieser Nacht brach Caycon erschöpft zusammen. Als er erwachte, war die Morgendämmerung angebrochen. Cay con spürte kaltes Wasser über seine Stirn rinnen und bemerkte, daß er mit dem Rücken an einer Felswand lehnte und von fremden Händen gestürzt wurde. Das Ge sicht einer Frau war dicht vor seinem. »Raimanja?« flüsterte Caycon. »Es ist schön, daß du bei mir bist.« Er bekam keine Antwort, aber er brauchte auch keine. Er wußte genau, daß er seine Raimanja wiedergefunden hatte. »Weißt du noch, wie wir uns liebten?« fuhr er fort. »Unsere Familien waren dage gen, denn sie bekämpften sich, aber wir, wir haben nur auf die Stimme unserer Liebe ge hört. Dann kamen die Fremden. Sie entführ ten uns in den Weltraum, weil wir ein wa ches Wesen gezeugt hatten.« Caycon lächelte verloren. »Doch wir haben sie überlistet. Wir sind aus ihrem Raumschiff geflohen, und ein sprechendes Boot hat uns nach Perpandron gebracht. Dort brachtest du unseren Sohn zur Welt – und wir waren sehr glücklich. Höre, Raimanja, niemand weiß, wo Perpan dron liegt, auch Reichsadmiral Farthu von Lloonet nicht. Ich habe es nicht verraten und werde es niemals verraten.« Er schloß die Augen, riß sie aber gleich wieder auf, als fürchtete er, einzuschlafen. »Kein Liebespaar hat so viel Schweres durchgemacht wie wir, Raimanja«, flüsterte er. »Aber keines hat so viel Glück erlebt. Unser Sohn, das wache Wesen, wird Perpan dron eines Tages verlassen, und der Glanz seiner Macht wird die Sterne des Univer sums verblassen lassen.« Seine Augen weiteten sich, als der Glut ball der Sonne sich über den Horizont schob. »Das Licht!« rief er. »Das Licht, es weist mir den Weg! Ich komme, komme zurück nach Perpandron – zu dir, Raimanja!« Caycon seufzte tief, dann kippte sein Kopf zur Seite. Die immer noch weit geöff neten Augen aber blickten ins Leere …
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* Erschüttert erkannte ich, daß Caycon tot war. Aber wenigstens war er in der Überzeu gung gestorben, daß er seine geliebte Rai manja wiedersehen würde. Und wer weiß, vielleicht hatte seine Seele schon den Raum zwischen Arkon und Perpandron übersprun gen und weilte bei Raimanja. Ich sah, wie die Arkonidin, die ihm durch ihr Verhalten das Sterben erleichtert hatte, ihm die Augen zudrückte. Sie trug ein wal lendes Gewand, das mit stilisierten Augen geschmückt war. Ihr Haar wurde von einer glitzernden Spange festgehalten. »Eine Dienerin des Tempels der Wahr heit«, teilte Fartuloon mir mit. »Es gibt die sen Tempel seit vielen Jahrhunderten nicht mehr, aber seine Existenz ist geschichtlich nachgewiesen.« »Das erklärt, wie es zur Entstehung der Legende über das Liebespaar Caycon und Raimanja kam«, erwiderte ich. »Die Tem peldienerin wird das, was der Sterbende ihr sagte, ihrer Tempelherrin und den anderen Dienerinnen ihres Tempels mitgeteilt haben. Diese verbreiteten es dann unter dem Volk. Vielleicht wurde diese Geschichte auch auf gezeichnet. Ob wohl dein Urahn den Plane ten Perpandron jemals gefunden hat?« »Er wohl nicht, sonst wäre Akon-Akon schon damals zum Leben erweckt worden«, meinte mein Pflegevater. »Farthu von Lloo net hätte sich durch die Fallen und Wächter der uralten Stadt ebenso wenig aufhalten las sen wie wir. Er hat mir gefallen.« »Mir auch«, erklärte ich. »Vor allem, weil er ein Hüne von einem Mann ist – ganz im Gegensatz zu dir«, stichelte ich. »Es kommt nicht auf das Äußere an«, ent gegnete Fartuloon verärgert. »Und an mei nen geistigen Qualitäten willst du doch wohl nicht zweifeln, Küken!« »Habe ich das je getan?« erwiderte ich. »Außerdem hast du doch etwas von deinem adligen Vorfahren geerbt, nämlich den star ken schwarzen Bartwuchs und die gelbli-
chen Augen. Nur auf dem Schädel, da hat es bei dir zu keinem Haarwuchs gereicht.« »Frauen bevorzugen kahlköpfige Männer, mein Junge!« trumpfte Fartuloon auf. »Ich wußte gar nicht, daß ich einen Kahl kopf habe«, erwiderte ich. »Gib nicht so an!« rügte mein Pflegeva ter. »Paß lieber auf, was jetzt kommt! Ich nehme an, wir werden zu Raimanja versetzt, um mitzuerleben, wie es ihr ergangen ist.« »Wie es ihr ergeht«, korrigierte ich. Der Bewußtseinsinhalt meines Pflegeva ters kam nicht mehr dazu, mir eine passende Antwort zu geben, denn im nächsten Augen blick verblaßte die Sonne Arkon. Ein Dröh nen erfüllte die Luft, schwoll an und riß mich in einen Strudel der Finsternis. Ich hat te das Empfinden, durch einen endlosen im materiellen Korridor in unendliche Höhen zu steigen – oder in unendliche Tiefen zu fallen. Ich ahnte, wohin es mich schleudern wür de und wappnete mich auf die Schockwir kung, die wohl oder übel eintreten mußte …
* Das erste Gefühl war das eisiger Kälte. Es war, als wäre ich in ein Bassin voll Eiswas ser gestürzt. Ich sah noch nichts, aber ich hörte ein schwaches Klopfen, das allmählich stärker und schneller wurde – und plötzlich erkann te ich den Rhythmus meines eigenen Herz schlags. Als ich ihn erkannte, entschwand er meiner bewußten Wahrnehmung. Dafür drangen andere Laute an mein Gehör: Stöh nen, Seufzen und Scharren. Plötzlich konnte ich wieder sehen. Ich sah durch meine Au gen und nicht auf die unbegreifliche Weise, auf die ein Bewußtseinsinhalt sieht. Die Lichtkegel vieler Handscheinwerfer erhellten die Szene und ließen mich erken nen, daß ich noch immer – oder wieder – in der halbverfallenen Transmitterstation einer unbekannten Welt stand. Viele der Lichtke gel waren auf das Gesicht Akon-Akons ge richtet.
Brennpunkt Vergangenheit Akon-Akon verriet keine Regung. Er stand wie erstarrt, blickte geradeaus und hielt den geheimnisvollen Kerlas-Stab mit beiden Händen umklammert. In meiner Nä he entdeckte ich Fartuloon, Ra und Karmina Arthamin. Auf dem Gesicht des Barbaren malte sich Entsetzen. Karmina dagegen schi en nur verwundert zu sein – und mein Pfle gevater lächelte wissend. Unsere übrigen Gefährten verrieten teils Fassungslosigkeit, teils Erschütterung. »Also waren wir – wenn auch nicht kör perlich – in ferner Vergangenheit«, stellte Karmina Arthamin nüchtern fest. »Waren wir das wirklich?« fragte Fartu loon. »Wie meinst du das?« erkundigte ich mich. »Wir könnten die Vergangenheit auch nur geträumt haben«, erklärte mein Pflegevater. »Ein derart informativer Traum muß seine Informationen irgendwoher bezogen haben«, entgegnete Karmina. »Nach Lage der Dinge aus der Vergangenheit – beziehungsweise aus Caycons Realzeit.« Ich blickte wieder zu Akon-Akon, um festzustellen, wie er auf die Nennung von Caycons Namen reagierte. Schließlich war Caycon sein Vater gewesen – und noch im mer wußten wir nicht, was aus seiner Mutter geworden war. Aber der Junge schien uns weder zu hören noch zu sehen. Befand sein Geist sich etwa noch in der Vergangenheit? Ich wechselte einen Blick mit Fartuloon. Es bedurfte zwi schen uns keiner Worte. Wir verstanden uns auch so. Wenn Akon-Akons Geist noch nicht zu rückgekehrt war, dann unterlagen wir nicht mehr dem geheimnisvollen Zwang, mit dem er uns bisher beherrscht hatte. In dem Fall mußten wir so schnell wie möglich aus sei ner Nähe fliehen, um nicht wieder in seinen Einflußbereich zu geraten. Ich blickte nach oben und sah durch die geborstene Decke der Transmitterstation, daß die Sterne verblaßten. Draußen wollte der neue Tag dämmern.
51 »Wir gehen!« sagte ich. Doch als ich mich in Bewegung setzen wollte, gehorchten mir meine Füße nicht. Wir standen weiterhin unter Akon-Akons Bann. »Es geht nicht«, stellte Karmina fest. Ra sank auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben. Er flüsterte kaum hörbare Worte in seiner Barbarensprache. Wahrscheinlich rief er eine der Gottheiten seines Volkes an. Es war seine Art, über sei nen Schock hinwegzukommen, und es war eine wirksame Art, für ein Wesen, das an al le möglichen Götter, Geister und Dämonen glaubte. »Ich denke, daß unsere Bewußtseinsinhal te tatsächlich in der Vergangenheit weilten«, sagte ich. »Aber eine Bestätigung dafür wer den wir wohl nie erhalten.« »Aber wie?« fragte Karmina. »Der Kerlas-Stab«, sagte Fartuloon. »Er muß durch den engen Kontakt mit AkonAkon eine unbekannte Kraft aktiviert haben, die unsere Bewußtseinsinhalte aus den Kör pern riß und den Zeitstrom hinauf beförder te. Ich frage mich nur, ob diese Kraft schon erschöpft ist, denn wir kennen erst einen Teil der Geschichte.« »Früher oder später werden wir auch den zweiten Teil der Geschichte erfahren«, er klärte ich. »Es muß etwas zu bedeuten ha ben, daß Akon-Akon in geistiger Konzentra tion erstarrt ist. Ich ahne …« Die Sternsymbole auf Akon-Akons Hän den leuchteten so grell auf, daß ich geblen det die Augen schloß. Als ich sie wieder öff nete, war es dunkel. Jemand stöhnte dumpf. Ra leierte eine Beschwörungsformel herun ter. Die Blendwirkung ließ nach, dennoch vermochte ich keine klaren Konturen zu er kennen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, als füllte sich die Transmitterhalle mit einem grauen Dunst, der auch die vagen optischen Eindrücke verschlang. Etwas wie ein lockender Ruf erfüllte mich. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen
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– und wurde dennoch in den Strudel gerissen, von dem ich bereits wußte, wohin er führte … ENDE
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