DIRK WITTENBORN wurde in New Haven/Connecticut geboren und lebt in New York. Zuletzt erschienen bei DuMont seine Romane...
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DIRK WITTENBORN wurde in New Haven/Connecticut geboren und lebt in New York. Zuletzt erschienen bei DuMont seine Romane Unter Wilden (2003) und Catwalk (2004).
ANGELA PRAESENT wurde für ihre Übersetzungen aus dem Englischen mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rxwohlt-Preis und dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.
DIRK WITTENBORN
Bongo Europa Memoiren eines zwölfjährigen Sexbesessenen
• 2006 by Dirk Wittenborn
Erste Auflage 2006 • 2006 fur die deutsche Ausgabe: DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln Alle Rechte vorbehalten
Ausstattung und Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg) Umschlagabbildung: Picture Alliance Gesetzt aus der Quadraat Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: fgb • freiburger graphische betriebe • www.fgb.de H
Printed in Germany ISBN 1o: 3-8321-7964-X ISBN 13:978-3-8321-7964-9
H
Bongo Europa
Manche Reisen im Leben haben schon begonnen, bevor man auch nur das Haus verlassen hat, und so war es mit meinem ersten Ausflug nach Europa. Mein Vater war Psychologieprofessor und in bescheidenem Maße berühmt für seine Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten sowie für seine neuropsychopharmakologische Forschungsarbeit. Da viele Pharmakonzerne ihren Sitz in Europa hatten, flog er mehrmals im Jahr in die Schweiz, nach Frankreich, Deutschland und so weiter und half der Großindustrie, die freie Welt pillensüchtig zu machen. Wenn er aus Europa zurückkam, hatte mein Vater immer coole Sachen für mich im Koffer – Spielzeug, das nicht aus Plastik war und das keiner meiner Freunde besaß, Lederhosen (ziemlich warm im Sommer, aber die kleine Tasche für das Messer fand ich toll), einen echten Bergsteiger-Eispickel (ich hatte zwar keine Alpen in der Nähe, aber an der Wand in meinem Zimmer sah er stark aus), ein Steinschlossgewehr, das er auf einem Flohmarkt in Spanien gefunden hatte, oder ein Taschenmesser mit Horngriff und einem Dutzend verschiedener Klingen, an denen ich mir Schnitte holen konnte.
Als ich jedoch zwölf geworden war, begann ich zu ahnen, dass Europa mehr zu bieten hatte als die Kostbarkeiten, die mein Vater in seinem Gepäck nach Hause brachte. Warum zum Beispiel waren an den Taschenmessern immer Korkenzieher? Konnten die Europäer denn mit dem Flaschenöffnen nicht warten, bis sie heimkamen? Und auf Dads letzter Reise hatte ihn meine Mom begleitet und war mit der Zeichnung von einer Nackten heimgekommen – man sah den Schamhügel und alles. Und dann hängte mein Dad, der für einen Psychologen eigentlich recht prüde war, die Zeichnung auch noch über den Kamin. Verblüffend. Mir hätte sie ja besser gefallen, wenn sie weniger abstrakt und anatomisch korrekter gewesen wäre, aber der springende Punkt ist: Europa kam mir schon früh viel cooler vor als Amerika. Cool schon wegen all dem alten Kram – Ritter mit Rüstungen, römische Zenturionen, einfallende Barbaren – und doppelt cool wegen seines Angebots an Neuem. Amerika hatte Paul Anka und Sally Field anzubieten, Europa die Beatles und Brigitte Bardot. Auch wenn es mir nicht bewusst war und ich nie daran gedacht hätte, es in Worte zu fassen: Ich hatte das Gefühl, Europa könnte mich irgendwie verändern. Schließlich hatte es meine Eltern verändert. Bevor sie immerzu nach Europa reisten, hatte es zu Hause bei Tisch keinen Wein gegeben, kein Olivenöl und kein frisches Ba-
silikum aus unserem Garten. Das Leben war so fade und reizlos gewesen wie die Dosenerbsen, die wir so oft aßen. Aber nicht nur das Essen hatte sich verändert. Seit meine Eltern begonnen hatten, über den Atlantik zu springen, schlossen sie ihre Schlafzimmertür ab. Und ich hörte sie dahinter lachen. Mom war zwar Dads Forschungsassistentin, aber sie nahm da drinnen bestimmt kein Diktat auf, das war mir klar. Meine Eltern ließen keinen Zweifel daran, dass Europa ihr Reich war und nicht meines. Wann immer mein fünfzehnjähriger Bruder Roger oder ich bettelte mitgenommen zu werden, gaben sie stets die gleiche Antwort: »Wir haben dort zu tun ... Du würdest dich nur langweilen ... Das ist etwas fur Erwachsene.« Als meine neunzehnjährige Schwester Jill, Studentin im zweiten Studienjahr an der Universität, an der mein Vater lehrte, und ebenfalls voller Verlangen nach ausländischen Genüssen, meine Eltern darum bat, nach Europa reisen zu dürfen, da lautete deren Ausrede: »Wir nähmen dich ja so gern mit, aber wer würde sich dann um die Jungen kümmern?« Im Frühjahr 1964 jedoch verschoben sich die Konstellationen, die unser Universum lenkten. Das grausame Schicksal, das mich in einer öden, provinziellen kleinen Universitätsstadt gefangen hielt, ließ Anzeichen von Milde erkennen. In einer Kleinstadt, sollte ich hinzufügen, in der
sich alle erbarmungslos über mich als Träger von Lederhosen und des verdächtig unamerikanischen Namens Dirk lustig machten und meine Familie seltsam fanden, schon weil mein Vater irgendwas mit Psy war, vor allem jedoch, weil meine Eltern in gleichen, in Europa erstandenen Capes auftraten. Die besagte Konvergenz trat um die Mitte der ersten Aprilwoche ein. Ich hatte mich bei meinem BaseballTrainer wegen eines verstauchten Knöchels sowie wegen Durchfalls abgemeldet, mit einem Double-Whopper also, damit ich auch garantiert das Training schwänzen, gleich nach der Schule heimsausen und mir am Nachmittag den Millionen-Dollar-Film ansehen konnte. (Falls Sie sich fragen, was das mit Europa zu tun hat, bitte ich Sie noch um einen Augenblick Geduld.) Das Großartige an der Millionen-Dollar-Film-TV-Sendung war nämlich, dass sie da zweimal täglich denselben alten Schwarzweiß-Film brachten, eine ganze Woche lang. Und der Film der Woche hieß Expresse Bongo. Es geht darin um einen Beatnik, von Cliff Richard gespielt, der einfach bloß seine Bongo-Trommeln spielen möchte, und Lawrence Harvey ist ein schmieriger Agent, der Cliff das Leben versaut, indem er einen Star aus ihm macht. Und dann gibt es darin noch eine ziemlich starke weibliche Gestalt, Sylvia Simms, die ich schon in Teenage Bad Girl gesehen hatte. Das Allerbeste an dem Strei-
fen aber ist, dass er nur in Nachtclubs und Musikschuppen spielt. Nachdem ich fast zwölf Stunden damit verbracht hatte, Mädchen in BHs, so spitz wie die Nasen von Nukleargeschossen, dabei zuzusehen, wie sie sich rauchend Nächte um die Ohren schlugen, sich mit Cocktails abfüllten und sich in Londoner Bars um Cliff Richard rankten, da saß ich nicht mehr allein mit dem Hund daheim vor dem Fernseher, sondern fühlte mich ins swingende London gebeamt, also beinahe schon nach Europa. Ich weiß noch, dass meine Mutter mich dabei ertappte, wie ich stumm Lawrence Harveys abartigsten Anmachspruch nachkaute und Cliffs höhnisches Grinsen imitierte. »Verflixt noch mal, was gefällt dir bloß an diesem Film?« Als ich ihr zu erklären versuchte, wie attraktiv doch Bongo-Trommeln, Zigaretten, Cocktails und Nachtclubs voller Mädchen in engen Röcken und spitzen BHs seien, unterbrach sie mich ernst. »Wenn du je in einen Nachtclub kämest, fandest du sie nicht im Entferntesten interessant.« Da hätte meine Mutter kaum falscher liegen können, verlassen Sie sich darauf. Doch mehr zu diesem Thema später. Mein Vater kam mitten in meiner liebsten Szene heim, wenn Dave Brubeck in den Nightclub kommt, um zu jammen.
»Stell den schwachsinnigen Kasten ab.« Mein Vater betrachtete das Fernsehen als eines der großen amerikanischen Übel. »Aber das ist ein ausländischer Film.« Mir war bewusst, dass in den Augen meines Vaters alles Europäische jedwedem amerikanischen Produkt überlegen war – er selbst natürlich ausgenommen. »Abstellen.« Dass mein Vater ernstlich mieser Laune war, ging mir auf, als er das Kabel aus der Wand riss. Der Stecker zerbrach, und Dad gab dem Hund die Schuld. Wie mein Vater meine Schwester Jill an diesem Abend zum Essen nach Hause lockte, weiß ich nicht mehr. Gewöhnlich blieb sie in ihrem Studentenheim auf dem Campus der Uni jenseits des Flusses. Jedenfalls tauchte Jill auf, und ich freute mich, sie zu sehen – sie war auch ein großer Expresso-Bongo-Fan, was nicht überraschend war, denn wenn sie sich nicht gerade Sorgen um ihre Pickel oder ihr Gewicht machte, verstand sie sich irgendwie als Beatnik. Sie trug Sandalen, spielte auf der Gitarre »Kumbaya« und hatte durchstochene Ohren. Jill war ein sehr schaumgebremster Beatnik, aber im Vergleich zu meinem Bruder, der immer noch seinen »Nixon for President«-Button trug, obwohl der Typ die Wahl vier Jahre zuvor verloren hatte, war sie eine Joan Baez.
Als sie sich mit uns an den Tisch setzte, sah es so aus, als wäre mein Vater wieder er selbst. Er machte eine Flasche Wein auf und schenkte Jill sogar ein Glas davon ein – normalerweise ein sicheres Anzeichen dafür, dass Dad großmütig gestimmt war. Allerdings war mein Vater, wenn es um seine eigenen Kinder ging, ein Tyrann, wie die meisten Väter. Dass er Psychologe war, verschaffte ihm einen unfairen Vorteil. Er verstand sich bestens darauf, die Abwehrkräfte seines Opfers zu schwächen, bevor er die Axt niedersausen ließ. Nun wartete er ab, bis die Mahlzeit sich dem Ende näherte und Jill bei ihrem zweiten Glas Wein angekommen war, und preschte erst dann aus dem Hinterhalt hervor. »Ich habe da heute eine interessante Geschichte gehört.« »Ach, worum ging es denn, mein Lieber?« Wenn sich mein Vater als Stalin gebärdete, übernahm meine Mutter gewöhnlich den Berija-Part. Doch was nun kam, sah nicht einmal sie voraus. »Anscheinend hat die Tochter eines der Professoren am Institut eine Affäre mit unserem Freund Bill.« Der einzige Bill am Psychologischen Institut, mit dem mein Vater befreundet war, war ein Tierverhaltensforscher namens Bill McGinley, der über Schimpansen arbeitete. Bill war zehn Jahre jünger als Dad, fuhr einen weißen Porsche in Badewannenform, hielt Affen, denen Elektroden ins Hirn
eingepflanzt worden waren, und ließ sich von uns allen mit dem Vornamen anreden. Wenn ich als der Jüngste in der Familie kapierte, was Dad da über den Affenmann erzählte, dann war es allen klar, nahm ich mal an. Meine Mutter unterbrach Dad. »Vor den Jungen solltest du über so etwas nicht reden, finde ich.« »Es liegt mir nicht, vor meinen Kindern Geheimnisse zu haben.« Ich war mehr als interessiert. »Wo haben sie's denn getrieben?« »Dirk!« Das war meine Mom. »In Bills Wagen, soweit ich weiß.« »Richard!« So hieß mein Dad. »Muss eng gewesen sein.« Ich versuchte nicht, witzig zu sein – ich sah bloß den Porsche vor mir. Mein älterer Bruder lachte nervös und nahm sich zum dritten Mal von den Kartoffeln. Wenn Roger nervös war, aß er immer zu viel, und da mein Vater jeden unentwegt nervös machte, nahm mein Bruder Erdnussbutter- und Schinken-Sandwiches in Alufolie mit ins Bett. Obwohl er die Alufolie übrig ließ, hatte er fünfundzwanzig Kilo Übergewicht und nahm weiter zu. »Was ist denn so lustig?« Ich mochte es nicht, wenn mein Bruder über Witze lachte, die zu machen ich nicht beabsichtigt hatte.
»Roger, ich weiß, dieses Thema macht uns alle unruhig, aber erinnerst du dich noch an unser Gespräch darüber, dass manche Menschen essen, ohne eigentlich hungrig zu sein?« »Nimm doch ein paar Kartoffeln zu der Butter.« Das war ich. Wirklich geistreich. »Wenn ich du wäre, würde ich mal darüber nachdenken, wie du das Ungenügend bei der Mathearbeit erklären willst.« »Du lügst.« »Neununddreißig Punkte hat er gekriegt – das ist so viel wie ungenügend.« »Besorg dir erst mal einen BH.« Nicht gerade eine Bemerkung, an die ich mich mit Stolz erinnere, auch wenn mein Bruder so fett war, dass er wirklich Brüste hatte. Er stürzte sich mit einem Buttermesser auf mich. »Richard, nun sag schon was.« »Mir tut nur der Professor leid.« Mein Vater wollte das Gespräch nicht abdriften lassen, bevor er seine Falle aufgestellt hatte. »Man stelle sich das vor – ein Vater muss sich an der Bar des Fakultätsclubs so etwas über seine Tochter anhören.« Da die Bar im Fakultätsclub keinerlei Ähnlichkeit mit der Bar in Expresso Bongo aufwies, schaltete ich ab und konzentrierte mich darauf, wie ich es erklären sollte, dass ich in Mathe erneut versagt hatte.
»Von all den Männern in der Umgebung, von denen sich eine Professorentochter bespringen lassen könnte ...« Dad war auf einer Farm im Mittelwesten aufgewachsen. »... Ich wüsste gern, wie ihr Kinder darüber denkt. Hat die Tochter vorsätzlich versucht, ihren Vater oder sich selbst zu demütigen?« Mein Vater griff gerade nach seinem Weinglas, da stand meine Schwester Jill auf und schrie: »Na gut, ich geb's zu, ich war's!« »Heiliger Bimbam, Kind, was um Himmels willen hast du dir nur dabei gedacht?« Das war meine Mutter. »Ich werde ihn jetzt sofort anrufen und – « »Ich hab mit Bill Scully geschlafen.« Wie von später Reue gebeutelt vergrub Jill das Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen. Es war, als entzöge ihr Bekenntnis dem Esszimmer die Luft. Meine Mutter schnaubte. Das Weinglas meines Vaters verfehlte seinen Mund. Jetzt wünschte er sich, sie hätte mit Bill McGinley geschlafen, das sah ich ihm an. Bill Scully war der Sohn des Mannes, der den Müll einsammelte – groß, dunkel, dünn wie eine Schlange, tätowiert. Von diesem Bill hieß es, er sei in einer Besserungsanstalt gewesen. Er fuhr ein Motorrad und hatte eine schmalzigere Tolle als Cliff Richard. »Cool«, sagte ich und wurde dafür des Tisches verwiesen. Als mein Bruder lachte, wurde er ebenfalls verbannt.
Dabei war ich ehrlich stolz auf meine Schwester. Nicht nur, weil sie's mit Bill Scully getrieben hatte, sondern weil sie meinen Vater matt gesetzt hatte, und zwar nicht mit einer Lüge, sondern mit der Wahrheit. Roger und ich horchten an der Küchentür auf die Worte, die im Esszimmer fielen. Die Kaugeräusche meines Bruders im Ohr, bekam ich nur mühsam mit, was genau sie drinnen sagten. Roger hatte sich als Wegzehrung noch ein klebriges Brötchen geschnappt. »Hat er sich vorgesehen?«, fragte meine Mutter. Stirnrunzelnd blickte ich zu meinem großen Bruder rüber. »Gummis.« Merkwürdig, wir kamen nur dann miteinander aus, wenn wir beide bestraft wurden. Was Jill sagte, bekam ich nicht mit, aber ich hörte meine Mutter aufjaulen. »O du meine Güte.« Vergessen Sie nicht, man schrieb das Jahr 1964, und die sexuelle Revolution war in unserer Kleinstadt noch nicht angekommen, geschweige denn bei uns zu Hause. Neunzehnjährige in New York nahmen die Pille, nicht aber in Highland Park, New Jersey. Abtreibung war ein Verbrechen, und Mädchen, die von Müllunternehmersöhnen geschwängert wurden, heirateten dieselben, es sei denn, sie konnten einem gesellschaftlich akzeptableren Matschkopf weismachen, es sei seine Brut. Kurz, dass Jill Sex mit Bill
Scully gehabt hatte, stellte für unsere Familie und für Jills Zukunft eine größere Bedrohung dar als sämtliche Atomraketen auf Kuba. Als ich eine Woche später aus der Schule heimkam, stand eine schimmernde, preußischblaue Mercedes-Limousine vor unserem Haus. Bevor ich nun von diesem Auto zu schwärmen beginne: Einige der Dinge, die sich in unserem Leben verändert hatten, seit Europa am Horizont erschienen war, hatten mit Geld zu tun. Es war mehr davon vorhanden. Wie viel, darüber wurde nie gesprochen, doch immerhin konnte es sich mein Vater nun erlauben, meinen Bruder und mich von der öffentlichen Schule zu nehmen und in die exklusivste Privatschule des Bundesstaats zu verpflanzen. Wir gingen in Blazern und Krawatten zum Unterricht und trieben Sport mit Jungen, die so reich waren, dass wir dagegen arm wirkten. Es war schon sonderbar. Obwohl wir über mehr verfugten als früher, fühlte es sich wie weniger an. Einen Moment lang dachte ich, Dad hätte beschlossen, sich über Jills »Wälzen in der Gosse« (seine Formulierung, nicht meine) hinwegzutrösten, indem er sich einen Benz spendierte. Dann fiel mir auf, dass unser alter Plymouth Kombi noch in der Auffahrt stand. Und dass ihn jemand gewaschen und den Rasen gemäht hatte. Als ich ins Haus
kam, standen in all den Vasen, die wir nie gebrauchten, frische Blumen, und der ganze Kram, mit dem wir das Wohnzimmer zumüllten – Baseballschläger, Naturkundeprojekte, alte Zeitschriften –, war weggeräumt. Es herrschte eine Ordnung, als wohnten dort andere Leute. Und die Putzfrau, die einmal in der Woche in Caprishorts und Flipflops erschien, schwebte in einer Uniform durch die Wohnung, als wäre sie eine richtige Hausangestellte. Und noch merkwürdiger: Jill hatte ihren Joan-Baez-Look gegen ein Twinset mit Perlenkette und ein Samthaarband ausgetauscht, in dem sie sich normalerweise nie hätte blicken lassen. Doch was da in unserem Haus vorging, hatte mit einem Normalzustand ohnehin nichts zu tun. Die große Show wurde für eine reiche alte Schachtel im Kaftan abgezogen, eine Mrs. van Engen, die einer riesigen Teehaube glich. Dass sie schwer betucht war, wusste ich, weil ihr Neffe einer der reichsten Jungen in meiner Privatschulklasse war und ständig mit seiner Tante angab, der Multimillionärin mit der Villa in Italien und dem Picasso ... Sie kennen die Nummer bestimmt. »Ich sage immer, meine Mädchen gehen als Raupen fort und kehren als Schmetterlinge zurück.« Ihr Akzent war eine Kreuzung aus dem von Katherine Hepburn und Cruella De Vil. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit meinen Eltern, die ebenfalls fein gemacht waren, zu bereden hatte.
»Neben dem Unterricht auch Kunstgeschichte, Landschaftsmalerei und Musikverständnis ... Bach, Beethoven und dergleichen – keine Beatles, besten Dank.« Mein Vater gab ihr Feuer und lachte über ihre lahmen Scherze. »Und wie sieht ihr gesellschaftliches Leben aus?«, fragte er. »Sehr behütet. Überwachte Schlafenszeiten, genügend Bewegung, für die Figur und damit sie viel zu müde sind, um auf dumme Gedanken zu kommen. Ich versichere Ihnen, solange Jill in Europa ist, werde ich sie im Auge behalten, als wäre sie mein eigenes Kind.« Auf einmal hatte ich's kapiert. Zur Strafe für Bill Scully schickten meine Eltern Jill mit Mrs. van Engen und dreizehn verklemmten reichen Gören nach Europa. Schon wahr, sie musste an Sommerkursen teilnehmen und würde strikt bewacht werden, also unter Hausarrest stehen, immerhin aber in Europa. Genauer, in einer Stadt in der Toskana, die Perugia hieß. Und das war sicher weitaus besser, als den Sommer über in New Jersey für meinen Bruder und mich den Babysitter zu spielen, während meine Mutter meinen Vater auf seine sechswöchige geschäftliche Vergnügungstour durch den alten Kontinent begleitete. Denn dazu wäre Jill verurteilt worden, hätte sie nicht gestanden, mit Bill Scully unzüchtig entgleist zu sein. Wieso aber schickte mein Vater Jill in Ferien, wo er
doch wütend auf sie war? Und völlig baff war ich, als ich Mrs. van Engen verkünden hörte: »Das bringt mich auf den Ball.« Was für ein Ball? »Ich nehme doch an, Sie und Sarah werden zum Debüt Ihrer Tochter zu uns stoßen?« Planten sie für meine Schwester etwa einen Bühnenauftritt? »Nun, ich muss ein paar Wochen in Europa verbringen und mich um geschäftliche Dinge kümmern.« Er musste? Nicht abwarten konnte er es. »Warum also nicht? Es klingt, als könnten wir uns dort bestens amüsieren.« Auf einmal klang mein Vater so falsch wie Mrs. V. So ließ sie sich gern nennen. »Du kannst von Glück sagen, dass du einen Vater hast, dem man nichts abschlagen kann. Nicht jedem Mädchen deines Standes wird die erregende Erfahrung zuteil, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Du wirst junge Männer aus den besten Familien Europas kennen lernen.« Was war denn unser Stand? Und wie war mein Vater überhaupt auf Mrs. van Engen gestoßen? Hatte er sie in den Gelben Seiten unter »Sozialer Aufstieg« gefunden? Nachdem Mrs. van Engen gegangen war, erwog ich, meinem Vater zu berichten, was Alden über seine Tante noch gesagt hatte. Da aber alle so guter Laune waren, warum sollte da ausgerechnet ich die Stimmung verderben?
Außerdem war ich mir nicht mal sicher, was das Wort »Lesbe« bedeutete. Mir kam das Ganze zwar verrückt vor, aber der Wahnsinn meines Vaters hatte Methode. Als Psychologe vertrat Dad die aufgeklärte Ansicht, das Verhalten eines Kindes lasse sich durch positive Verstärkung ändern, nicht durch körperliche Strafen. Somit war er, anders ausgedrückt, ein Meister der psychologischen Kriegsführung. Zudem war er ein Snob – darum schätzte er Europa –, jedoch nicht so ein banaler Wald-und-Wiesen-Snob, der auf andere herunterblickt, weil sie weniger haben. Dad gehörte jener sehr amerikanischen Subspezies von Snobs an, den behänden gesellschaftlichen Aufsteigern. Die Liaison meiner Schwester mit dem Sohn des Müllmanns lieferte meinem Vater einen vorzüglichen Anlass, seine gesellschaftlichen Ambitionen zu offenbaren. Wir waren noch nie auf einem Debütantinnenball gewesen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir jemanden kannten, der je auf einem Debütantinnenball gewesen war. Und auf einmal sollte meine Schwester in die Gesellschaft eingeführt werden? Im Rückblick ist mir klar, dass Jills Abstecher »in die Gosse« meinem Vater den Vorwand bot, auf den er nur gewartet hatte. Wenn sie nach Europa ginge und nur Leute aus den besten Kreisen kennen lernte, dann würde er selbst Leute aus den besten Kreisen kennen lernen. Wenn sie zur
Debütantin veredelt würde, stiege er zum Debütantinnenvater auf. Dies wiederum würde ihm gestatten, sich den Country-Club-Mitgliedern überlegen zu fühlen, die ihm sonst die kalte Schulter gezeigt hätten. Zur Verteidigung meines Vaters gilt es freilich daraufhinzuweisen, dass er zur Zeit der Wirtschaftskrise gezwungen gewesen war, zusammen mit Hobos schwarz auf Güterzügen mitzufahren, um irgendwo Arbeit zu finden. Was seinen Amerikanischen Traum natürlich nicht weniger peinlich machte – und nicht weniger karzinogen. Dad brachte nicht nur den Atlantik zwischen Jill und Bill Scully. Er katapultierte Jill und sich selbst in gesellschaftliche Sphären, die anzustreben er nie zugegeben hätte. Vergessen Sie nicht, wir befinden uns im Jahr 1964, und gesellschaftliches Klettermaxentum (vulgo: Arschkriecherei) war noch nicht als »Networking« akzeptiert. Indem mein Vater Jill die Debütantinnenlaufbahn eröffnete, glaubte er meine Schwester vor sich selbst zu retten und zum Wohl der gesamten Familie beizutragen. Hätte er sich mit mir zusammen Expresso Bongo angeschaut, dann hätte er gewusst, dass es ein großer Fehler war, Jill nach Europa zu schicken. Als ich das alles hörte, taten mir Jill und Bill ein bisschen leid – Sie wissen schon, das Sturm höhen-Drama, das geächtete, auseinander gerissene Liebespaar –, sehr, sehr leid aber tat ich mir selbst. Da meine Eltern ihrerseits den
Sommer in Europa verbringen würden, wer würde dann mich, wenn Jill als Babysitter ausfiel, vor meinem Bruder beschützen? Bestimmt würde er sich den gesamten Sommer über an mir wegen meiner BH-Empfehlung rächen. Wer würde ihn daran hindern, mich mit Brennesseln und anderen fiesen Tricks zu foltern? Als meine Großmutter das letzte Mal angereist war, um auf uns aufzupassen, hatte Roger mir mein edelstes Körperteil mit abgeschnittenen Fußnägeln gespickt. Ich war in Panik. Und dann taten meine Eltern das Undenkbare, das ich in meinen wildesten Phantasien nie von ihnen erwartet hätte. Sie beschlossen, meinen Bruder und mich nach Europa mitzunehmen. Endlich würde ich zu sehen bekommen, was mir so schmerzlich fehlte. Glücklich und sprachlos vor Erleichterung angesichts der Kette unwahrscheinlicher Ereignisse, die mich an fremde Küsten schleudern würde, versuchte ich, mich bei Bill Scully zu bedanken. Als er jedoch auf seinem Motorrad vorbeifuhr und ich schnell hinlief, um ihn anzuhalten, da zeigte er mir nur den Stinkefinger. Geplant war, dass Jill im Juni abreisen würde, wir anderen würden einen Monat später nach Europa fliegen. Und nach einer vierwöchigen Geschäftstournee von Amster-dam bis nach Belgrad würden wir im Bogen zurück nach Italien fahren, um Jills Debüt mitzuerleben, und dann wei-
ter nach Paris, zum rauschenden Finale. Mein Vater steckte unsere Route auf einer Wandkarte mit Heftzwecken ab, die er mit Garn verband, als bereite er strategisch die Invasion der Normandie vor, und so etwas Ähnliches war das Unternehmen auch. Ich weiß noch, wie er mit großen Gesten in der Luft die Reise nachzeichnete, die er uns zugedacht hatte, und dann erklärte: »Gar nicht zu verachten, was, Jungs?« Ich glaube nicht, dass ich je dazu kam, Jill meinen Dank zu sagen, denn ich bekam sie kaum mehr zu sehen. Sie und meine Mutter trafen sich unentwegt mit den Eltern der übrigen Mädchen, die mitreisen würden, oder sie kauften ein – Teekleider, Cocktailkleider, Abendkleider. Mrs. van Engen hatte, wie ich mich erinnere, derart gestrenge Regeln in Hinblick auf das, was für eine Debütantin sittsam und schicklich genug war, dass meine Mutter mit einer Messlatte niederkniete, um sich davon zu überzeugen, dass Jills sämtliche Säume mindestens fünf Zentimeter unter den Knien endeten. Wenn ich meine große Schwester ihre Verneigung üben sah, in weißen, die Ellbogen bedeckenden Glacehandschuhen, perlenbesetzten Reifröcken und mit einem Decolléte, in das sie Toilettenpapier geknüllt hatte, dann wirkte sie und benahm sich so verändert, dass ich sie schon zu vermissen begann, bevor sie aus dem Haus war.
Als ich zuschaute, wie meine Mutter Jill beim Kofferpacken half, blieb mir vieles rätselhaft. Eine Frage jedoch beschloss ich auszusprechen: »Warum all das Toilettenpapier?« Meine Mutter hatte drei Jumborollen in Jills Koffer verstaut. »Damit sie genug für die ganze Reise hat.« Ich sagte nichts mehr dazu, aber die Sache machte mir allmählich Sorge. Wenn keiner mir gesagt hatte, dass es dort drüben kein Klopapier gab, was sonst noch alles wusste ich dann über Europa nicht? Am Tag unserer Abreise, dem fünften Juli, sah ich meine Mutter drei Rollen in meine Reisetasche schieben und lauschte meinem Vater, der mir und meinem Bruder knapp, aber strikt und warnend das Reglement für unsere Europamission einschärfte. »Ich erwarte von euch, dass ihr euch benehmt. Keine Rangeleien, keine Flüche, kein Gebrüll. Und da ihr, wenn ich zu tun habe, viel mit eurer Mutter zusammen sein werdet, erwarte ich, dass ihr nie vergesst, wer ihr seid, und euch entsprechend auffuhrt.« Meine Mutter warf meinem Vater einen Blick zu, der deutlich besagte, dass er einen Punkt ausgelassen hatte. »Ach, richtig. Und wenn auf einer Herrentoilette irgendwelche merkwürdigen Männer versuchen euch anzusprechen, dann macht euch sofort davon.« »Passiert das oft?«
»Oft genug, um auf der Hut zu bleiben.« »Dir geschieht schon nichts.« Meine Mutter hatte meine besorgte Miene gesehen. »Solange du nur kein Wasser trinkst.« »Was trinken sie denn dort?« »Sie meint, du sollst kein Leitungswasser trinken, du Schwachkopf.« Eindeutig waren meine Eltern nicht halb so weltgewandt, wie sie sich gaben. »Und deck jeden Toilettensitz erst mit Papier ab.« »Du willst also, dass ich in Europa ständig so was mit rumtrage?« Ich hob eine Rolle hoch. Sie lachten. Und ich tat wieder einmal so, als hätte ich einen Witz machen wollen. Zugegeben, als unsere KLM-Maschine von der Startbahn abhob, war ich nervös. Weniger, weil ich befürchtete, auf der Toilette angesprungen zu werden oder mir von einem versehentlich getrunkenen Schluck europäischen Kranwassers Beriberi einzufangen. Ich befürchtete nicht einmal, das Flugzeug könnte abstürzen (obwohl mir das durch den Kopf ging, schließlich war es mein erster Flug). Eher plagten mich sozusagen freischwebende Ängste. Es gefiel mir nicht, wie mein Vater vor Mrs. van Engen buckelte, und dann dieses Debütantinnen-Brimborium und ... Ich schaute aus dem Flugzeugfenster, sah meine Welt kleiner und immer kleiner werden und fragte mich, wohin uns mein Vater eigentlich verschleppte.
Mich plagte der Verdacht, Dads lebenslange Anbetung der Gottheit des sozialen Aufstiegs könnte sich als hohl und nutzlos erweisen. Doch alle ängstlichen Ahnungen verflogen, sobald ich in Holland aus dem Flugzeug stieg. Hier gab es tatsächlich Windmühlen, und zwar ohne Elektromotor, wie er die winzige auf dem Minigolfplatz zu Hause antrieb. Und manche Leute trugen tatsächlich Holzschuhe, sie verwendeten sie nicht nur als Blumentöpfe. Vor allem aber sahen die Leute nicht aus wie wir und waren auch nicht so angezogen – mit anderen Worten, sie hatten Geschmack. Manchmal kann man jemanden von der gegenüberliegenden Straßenseite aus als Amerikaner identifizieren; unsere Familie aber hätte man vom anderen Ende eines Fußballstadions als »Amerikaaner!« outen können. Wenn ich mir einen Schnappschuss ansehe, den meine Mutter von uns aufnahm – mein Vater, Roger und ich allesamt in karierten Madrasjacketts, mit Bürstenschnitten, die uns wie Kriminelle aussehen ließen, von den Brüsten meines Bruders ganz zu schweigen -, dann wundert es mich, dass sie uns durch den Zoll gelassen haben. Ich weiß noch, wie unglaublich es mich beeindruckte, dass unser Hotel in Amsterdam an einer Gracht lag. Wie es hieß, habe ich vergessen, es hatte sicher höchstens zwei Sterne, aber für einen Amerikaner, der nur die Reize alter Motels am Rand von Fernstraßen kannte, war es ein ehr-
würdiger Palast. Obendrein hatte das Zimmer, das ich mit Roger teilte, auch noch einen Balkon. Roger forderte mich dazu auf, die Passanten unten mit Spucke zu bombardieren, ein Vergnügen, das ich normalerweise nicht unter meiner Würde gefunden hätte. Nur beschäftigten mich gewichtigere Fragen, die beantwortet werden wollten. Ich ging geradewegs ins Badezimmer. Und dort fand ich, während ich das Bidet als Urinal benutzte, bestätigt, was ich längst vermutet hatte: Es gab in Europa Toilettenpapier. Die Rollen waren zwar nicht so dick wie zu Hause in den Staaten, andererseits waren die Hintern der Holländer auch nicht so breit wie die von Amerikanern, wenigstens gemessen an dem meines Bruders. Wenn meine Eltern also die Sache mit dem Toilettenpapier falsch verstanden hatten, in welchen Punkten hatten sie mich noch irregeführt? Ich drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser sah sauber aus. Ich ließ es in ein Glas laufen und hielt die Nase darüber. Es roch sauber. Und da ging mir trotz meines jetlagumwölkten Kopfes auf, dass der Lackmus-Test darin bestünde, einfach vom Leitungswasser zu trinken. Dann konnte ich ein für alle Mal beurteilen, wie es um die Europa-Kenntnisse meiner Eltern bestellt war. Ich füllte das Glas bis zum Rand, atmete tief durch, machte die Augen zu und nahm einen tiefen Schluck. Wenn ich nun mit Diarrhö
eilends ins Krankenhaus verfrachtet würde, dann redeten Mom und Dad keinen Mist, wenn sie jedoch in der Wasserfrage falsch lagen, dann stand es mir frei, selbst darüber zu entscheiden, was ich mit meinem verbleibenden Leben anstellen sollte und was nicht. Während die übrigen Familienmitglieder Mittagsschlaf hielten, lag ich mit weit geöffneten Augen auf der Überdecke und wartete auf die Entscheidung meines Magendarmtrakts über meine Zukunft. Eine Stunde verstrich. Zwei Stunden ... Als meine Mutter mich am Nachmittag weckte, weil sie mit uns Besichtigungen unternehmen wollte, war es in meinem Magen noch immer so ruhig wie in einem Mühlteich. Es rumpelte darin nicht mal. Da wusste ich in meinem tiefsten Herzen und in meinen tiefsten, schlimmstenfalls trägen Eingeweiden, dass die Zeit gekommen war, nicht länger auf meine Eltern zu hören und alles, was sie mir weisgemacht hatten, als unwahr abzutun. Ehrlich gesagt, vom Rijksmuseum war ich etwas enttäuscht. Ich bekam ja mit, dass Rembrandt ein großer Maler war, ein Meister der Stimmungen und der Komposition. Nur beurteilte ich Künstler mit zwölf nach einem einzigen Kriterium – nach der Anzahl nackter Frauen, die sie auf einer Leinwand unterbrachten. Und in dieser Hinsicht war Rembrandt kein Meister. Und die wenigen Nackten,
die er doch malte, hatten lauter Schwabbelwülste und Hinterteile so voller Zellulitisdellen, dass sie mich an riesige Batzen Hüttenkäse erinnerten. Der Museumsführer sagte, viele der Porträts von Rembrandt stellten seine Frau dar. Nun ja, wenn sie immer in der Nähe war, dann war es für Rijn bestimmt nicht einfach, die gut aussehenden Modelle dazu zu bringen, sich auszuziehen. Schon mehr nach meinem Geschmack waren die Kunstwerke, die ich in den Schaufenstern einer Straße sah, durch die wir zufällig kamen, als wir uns auf dem Weg zum nächsten Museum verliefen. Was sie verkauften, wusste ich nicht, aber welch eine brillante Methode, Kunden hereinzulocken, indem man diese Puppen in Unterwäsche und Strumpfbandgürteln im Schaufenster herumsitzen ließ! Eine davon, im neckischen, mit Federn besetzten Mieder, die kaum älter aussah als mein Bruder, winkte mir sogar mit dem Würstchen zu, das sie gerade aß. Kein Wunder, dass mein Vater, wenn er nach Europa fuhr, meine Mutter nicht immer mitnahm. Als ich sie fragte, was die Mädchen denn verkauften, sagte sie »Verdruss«, und mein Vater lachte. Sollte nun jemand unter Ihnen dazu neigen, mich als Sexbesessenen zu verdammen, bekenne ich mich im Sinne der Anklage für schuldig. Nur lagen die Dinge komplizierter. Anatomisch war mir, wie den meisten rotblütigen ame-
rikanischen Jungen, das andere Geschlecht völlig rätselhaft. Wir sind eine Nation, die nicht nackt schwimmt. Ich hatte keine jüngeren Schwestern, die ich inspizieren konnte. Neugierig war ich wohl, doch da dies Jill und meine Mutter wussten, schlossen sie als Erstes die Tür ab, wenn sie baden oder duschen wollten. Und Rogers Stapel von Playboy- und sonstigen Nackedei-Heften enthielt nur prägynäkologischen Porn, das heißt, mittels Airbrush auf die Asexualität von Barbiepuppen retuschierte Körper. Die medizinischen Handbücher meines Vaters waren zwar halbwegs informativ, was den physischen Aspekt anging, jedoch erotisch so erhellend wie das Poster von einer der Länge nach durchgeschnittenen Kuh, das in unserem Metzgerladen an der Wand hing und auf dem sämtliche Fleischstücke benannt waren. Sex war die Spitze eines größeren und geheimnisvolleren Eisbergs, der unter der Oberfläche unseres Familienlebens verborgen lag. Und nicht zu Unrecht glaubte ich, wenn ich ein klareres Bild davon gewänne, dann würde ich auch all das Übrige am Erwachsenenleben, das keinen Sinn ergab, besser verstehen. Nachdem die Mädchen vom Voorbugwal meinen Appetit geweckt hatten, begab ich mich, kaum waren wir im Allard Pierson Museum für Archäologie der Amsterdamer Universität angelangt, sogleich im Zickzack auf die Suche nach den nackten Statuen der Sex-Miezen aus dem anti-
ken Griechenland und Rom: Diese Mädchen waren mehr nach meinem Geschmack als die Wabbelmadames, die Rembrandt dazu überredet hatte, sich auszuziehen. Aber wie die Mädchen in den Schaufenstern neckten sie einen bloß. Ich war schon auf eine weitere Enttäuschung gefasst, da sah ich sie: Diana, Göttin der Jagd, Patronin der Keuschheit, die ewige Jungfrau - wie ich. Eigendich seltsam, dass sie mich ansprach, denn sie war nicht einmal nackt. Der Künsder, der sie mit dem Meißel in eine steinerne Minirock-Tunika gehüllt hatte, ließ deren Falten ihren Körper mit so anzüglicher Raffinesse umfließen, dass sie nackter wirkte als sämtliche Bronzen mit blankem Po. Ich konnte ihre Brustspitzen sehen, und der Wind hatte das marmorne Hemdhöschen so an ihre Schenkel geschmiegt, dass ich, wenn ich die Augen zusammenkniff, einen Schimmer, eine Ahnung von dem mitbekam, was mir vorenthalten wurde. Nachdem ich die junge Diana geschlagene dreißig Minuten beglubscht hatte (ich linste ihr auch mehrmals unter die Tunika), hörte ich meine Mutter meinem Dad zuwispern: »Wie wundervoll, dass Dirk nun lernt, sich für Kunst zu erwärmen.« Was mich erwärmte, war eine Erektion. Nicht meine erste, aber diese hier war von einer mir neuen, peinlichen Dringlichkeit. Die Hand in der Hosentasche,
hielt ich sie ganz fest, ohne recht zu wissen, ob ich sie zum Bleiben oder zum Verschwinden bringen wollte. Ich wusste, mir stand ein langer Weg zurück zum Hotel bevor; auf einer Toilette könnte einer der merkwürdigen Männer, vor denen mich mein Vater gewarnt hatte, meinen, ich sei von seinem Anblick erregt; und ich sann verzweifelt auf Erleichterung. Ganz in der Nähe des Museums stieß ich auf die Lösung. Da ich dringend allein sein musste, schlug ich vor, ein Eis essen zu gehen. Mein Bruder schluckte den Köder. Während die anderen löffelten, verschwand ich in einem Laden gegenüber, in dessen Schaufenster es keine halb nackten Mädchen gab, aber etwas fast genauso Gutes. Ein paar Minuten später schlüpfte ich wieder aus dem Geschäft, bestärkt, abgelenkt und seltsam besänftigt durch den Kauf eines Springmessers mit Chromgriff und einer Klinge, die lang und scharf genug war, einen Daumen abzuschneiden. Als in der folgenden Nacht im Dunkel des Hotelzimmers, während Roger im anderen Bett schnarchte, Gedanken an Diana, die Göttin der Keuschheit, in mir aufstiegen, als die Schatten an der Decke mir vorzugaukeln begannen, Diana lüpfe ihre steinerne Tunika über den Kopf, und als jenes dringliche Kribbeln, das ich im Museum verspürt hatte, wieder meine Lenden heimsuchte, da griff ich nicht
hinab nach mir, sondern nach meinem Springmesser. Drückte auf den Knopf an seinem gleißenden Griff, spürte die Klinge hervorschnellen, klappte sie zurück, nur um erneut zu drücken und sie zu neuem Leben zu erwecken, immer und immer wieder – wäre mein Vater als Psychologe Freudianer gewesen, hätte ich vielleicht die sexuelle Symbolik und phallische Verschiebung meines Handelns klarer erkannt. So aber war ich überzeugt, wahnsinnig zu werden. Einige Tage später stand wie durch Zauber ein nagelneuer, viertüriger Mercedes-Leihwagen vor dem Hotel, eine kleine Aufmerksamkeit der europäischen Pharmakonzerne, auf deren Kosten wir unsere Bildungsrundreise unternahmen. Es war nur ein 190er, aber im selben Blauton lackiert wie der von Mrs. V. und eindeutig feiner als der alte Plymouth, den wir zu Hause stehen hatten. Und so sagte denn mein Vater, als er aufs Gas trat und wir zu unserer vierwöchigen, viertausendvierhundertsechzehn Kilometer langen Triumphtour durch Europa abrauschten, wieder einmal: »Gar nicht zu verachten, was, Jungs?« Zuerst ging es südwärts nach Brüssel, dann ostwärts nach Köln, dann wieder südwärts den Rhein entlang, bevor wir nach Frankfurt abbogen. Und in jeder bedeutenden Kulturstadt wurden weitere Museen besichtigt, und wenigstens in einem Museum in jeder Stadt, die wir besuch-
ten, gab es, an der Wand liegend dahingegossen oder in Marmor verewigt, eine nackte Frau, die mich ansprach. Das kribbelnde Gefühl kam nicht nur wieder, es wurde immer schlimmer. Manet, Corbet, Otto Dix ... Himmel noch mal, sogar von einer mittelalterlichen geschnitzten Madonna mit dem kleinen Jesus an der Brust bekam ich einen Steifen. Als ich in Brüssel vor einer Nacktbrüstigen von Matisse das Springmesser aus Amsterdam aufschnellen ließ, erregte ich zwar das Interesse eines Wärters, doch der Druck, der sich unterhalb meines Gürtels anstaute, fand kein Ventil. Nur um durch Belgien zu kommen, musste ich hinausflitzen und mir ein schwarzes Stilett kaufen, und bis wir nach Frankfurt kamen, kaufte ich schon ein neues Messer, bevor ich den Fuß in das nächste Museum setzte. Nun weiß ein jeder, der einmal eine Autoreise mit seiner Familie durchlitten hat, welch ein Fegefeuer das ist. Eine x-tausend Kilometer lange Autofahrt mit meiner Familie kam jedoch dem Abstieg in Dantes Hölle gleich. Es war Sommer. Der Mercedes hatte keine Klimaanlage. An einem guten Tag verfuhren wir uns nur zweimal. Und wenn sich meine Eltern nicht darüber stritten, wessen Schuld es war, dass wir uns verfahren hatten, dann flogen zwischen ihnen, zwischen Pilot und Kopilot, gebrüllte Kommandos hin und her, während mein Vater versuchte, unseren Mercedes über die damals tempobeschränkungsfreie Auto-
bahn zu navigieren, an einem Kreisel abzubiegen oder eine ampellose Kreuzung zu überqueren. Noch immer habe ich das »Nicht ... nicht ... nicht ... nicht« meiner Mutter im Ohr, die nach einer Lücke im Verkehr Aussschau hielt. »Sarah, ich komme zu spät zu meiner Sitzung. Wann war die noch?« »Ich weiß nicht.« »Nicht?« »Doch.« Das unvermeidliche Hupen eines Lasters, das Quietschen gebremster Reifen. »Himmel noch mal, Sarah, willst du uns denn umbringen?« »Ich wollte sagen, ›Nein, ich weiß nicht, wann.‹ Es ist doch deine Sitzung.« »Mutter?« Jetzt meldete sich mein Bruder. »Wenn Dad plötzlich auf die Bremse träte und Dirk verbluten würde, wäre Dad dann juristisch der Schuldige?« »Was?«
»Könnten wir Dad für den Tod von Dirk verklagen?« »Warum sollte dein Vater denn Dirk umbringen?« »Weil der schon wieder mit seinen Messern spielt.« »Bist du denn verrückt?« Mindestens zwanzig Mal hatte meine Mutter mir verboten, meine Springmesser aufschnappen zu lassen, solange das Auto in Bewegung war.
Nach einem weiteren »Nicht, nicht, nicht ... Ja ... Tut mir leid, den Laster da hab ich nicht gesehen« fuhren wir auf den Randstreifen der Autobahn, und meine anschwellende Messersammlung wurde in den Koffer meiner Mutter und dann in den Kofferraum gesperrt. Mittlerweile war ich freilich zum Junkie geworden, und Junkies kennen keine Scham. Als wir nach Heidelberg abfuhren, wo mein Vater einen wissenschaftlichen Vortrag halten sollte, war ich am finde. Statt die schmalen Straßen dieser ehrwürdigen Universitätsstadt zu durchstreifen und an Goethe, Schiller und all die anderen großen Dichter zu denken, auf deren Spuren ich wandelte, rannte ich in das erste Sportgeschäft, das ich fand. Die Messerauslage dort war so lang wie unser Mercedes, ein tödliches Angebot von Stiletts und Springmessern stand zur Auswahl. Es gab sogar eines mit einem Plastikgriff, in den das Foto einer Hübschen im Dirndl eingeschlossen war, und wenn man das Messer umdrehte, verschwanden ihre Kleider. Inzwischen wusste ich jedoch, dass selbst bei einem Nackedei-Messer nach ein paar Mal Schnappenlassen und nach ein, zwei Schnitten im Finger der Reiz vorüber wäre. Ich brauchte etwas Gefährlicheres, etwas Mächtigeres, um den Ansturm von Testosteron einzudämmen, den Europa in mir ausgelöst hatte. Und da entdeckte ich, dass in diesem Geschäft auch Feuerwaffen zu haben waren.
Hochpotente Mauser- und Mannlicher-Schoenhausers mit Schäften bis zum Ende des Laufs – das sah nach echter Ablenkung aus. Wenn ich tatsächlich ein Junkie war und den Suchtaffen nicht abschütteln oder vielmehr abschnippeln konnte, dann konnte ich ihn vielleicht wegballern. Allerdings wusste ich, dass mir meine Eltern nie erlauben würden, ein richtiges Gewehr zu erwerben. Aber vielleicht ein Luftgewehr ... Sobald der freundliche Besitzer des Geschäfts mir gestattete, ein bestimmtes Luftgewehr an die Schulter zu schmiegen und ich den kühlen Nussbaumschaft an meiner fiebrigen Wange fühlte, war klar, dass einzig und allein ein Luftgewehr mir Seelenfrieden bringen würde. Nun hatte ich, um auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, ein Luftgewehr schon lange begehrt, bevor mein Verstand von Gedanken an nackte Damen getrübt und mein soziales Gewissen von der fortschreitenden Verfeinerung meiner Familie unterminiert worden war. Meinem Verlangen nach einem Luftgewehr mit einem Nein zu entgegnen war meinen Eltern zu Hause in Amerika leicht gefallen, aus dem schlichten Grund, dass Luftgewehre in dem Staat, in dem wir wohnten, illegal waren. Kurioserweise konnte man einen stupsnasigen Smith & Wesson 357er MagnumRevolver samt Munition erwerben. Aber ein Luftgewehr? Verboten.
Zwar hatte ich genügend Taschengeld für Springmesser, ein Luftgewehr war jedoch leider außerhalb meiner finanziellen Reichweite. Natürlich sauste ich zu meinen Eltern zurück, die in einem Café mit Neckarblick saßen, und flehte sie an, mir das Gewehr zu kaufen. Und natürlich lautete die Antwort meiner Mutter: »Du hast wohl den Verstand verloren, Kind!« »Aber in Deutschland sind sie legal!« »In New Jersey aber nicht.« »Schon, aber wir landen doch in New York. Da sind sie erlaubt.« »Du würdest nur jemanden ins Auge treffen.« »Ich werd es nur benutzen, wenn ein Erwachsener aufpasst, das verspreche ich. Ich könnte dafür sorgen, dass die Eichhörnchen den Blauhähern nicht immer das ganze Vogelfutter klauen.« (Mein Vater war ein großer Vogelliebhaber.) »Nein. Und dabei bleibt es.« Mein Bruder, der im Gegensatz zu mir gut in Sprachen war, bat den Kellner, ihm ein weiteres Stück Kirschtorte zu bringen. Währenddessen jammerte ich: »Nie gönnt ihr mir irgendeinen Spaß.« Mein Vater sah mich mit dem Gesicht an, das er zog, wenn er sich beim Rasieren schnitt. »Wie kommt es nur, dass ich so undankbare Kinder aufgezogen habe?«
»Was hab ich denn getan?«, meldete sich mein Bruder. »Roger, ich habe gesagt: Ein Stück Torte. Nicht zwei.« »Richard – Roger ist doch nicht derjenige, über den du verärgert bist.« »Ich bin nicht verärgert. Ich sage nur, geh doch mal spazieren, statt rumzusitzen und zu futtern. Wenn du rennen gingst, wär's noch besser.« Sie werden es geahnt haben: Mein Bruder war kein großer Läufer. »Verbrenn doch mal etwas von dei -« »Richard.« Mein Bruder war den Tränen nahe. »– deiner überschüssigen Energie ... Vielleicht lassen dich die da drüben mitspielen – na los, frag sie doch mal.« Mein Vater deutete auf eine Gruppe von Jungen, die auf dem Platz jenseits der Straße Fußball spielten. Sie waren praktisch Halbprofis. »Also, Richard, du bist wirklich ...« Meine Mutter war richtig sauer auf ihn. »Dann iss eben deine Torte. Ist mir doch egal.« »Ich hab keinen Hunger.« Das hatte ich von Roger noch nie gehört. »Dad, dann ist's dir auch egal, wenn ich das Luftgewehr kaufe?« Wäre er nicht Psychologe gewesen, hätte er mich geohrfeigt. In Wirklichkeit war mein Vater nämlich so gereizt, weil er nichts von Jill gehört hatte. Seit Brüssel hatte er von
jedem Hotel aus versucht, sie anzurufen; nun waren wir seit zwei Wochen unterwegs, und noch immer hatte er sie nicht erreicht. Er hatte es satt, Nachrichten bei Carlo zu hinterlassen, dem Geschäftsführer der Pension, in der Jill und die anderen Mädchen wohnten. Dad hatte dort schon so oft angerufen, dass Carlo ihn bereits mit dem Vornamen ansprach. Was Dad aber überhaupt nicht behagte, war, dass dieser Typ immer von »Signorina Jill, molto simpatico ... molto bella!« faselte. Jill ihrerseits, molto schlau, wie sie war, rief Dad nur dann zurück, wenn mit Sicherheit niemand von uns im Hotel anzutreffen war. Die Strecke von Heidelberg nach München war für uns alle lang und leidensreich. Wenn ich meine Eltern gerade einmal nicht wegen des Luftgewehrs nervte, quengelte mein Bruder, er habe Hunger. Nachdem sich unser Vater gut hundert Kilometer lang unser gelangweiltes Gejammer angehört hatte, erklärte er zu niemandes Überraschung, er hätte uns zu Hause lassen sollen, und wenn er keine geschäftlichen Termine hätte, würde er auf der Stelle umkehren und uns in die Staaten zurückverfrachten. Immer musste er fahren, ständig verfuhr er sich, Jill brachte ihn auf, und dazu noch die Schmach, Söhne wie Roger und mich zu haben - mit vollem Recht nannte er uns undankbar. Doch dabei beließ er es nicht. Jemand im Auto musste dafür bezahlen, dass sich Dads Europareise nicht als so
rundum gelungen erwies, wie er sie sich daheim vorgestellt hatte. Und immer wenn sein Blick in den Rückspiegel auf meinen Bruder fiel, der Toblerone-Stangen verschlang und James-Bond-Romane (die weitaus schmutziger waren als die Filme) las, brauchte Dad die Unzulänglichkeiten seines Lebens nicht mehr sich selbst anzukreiden. »Warum vergeudest du deine Zeit damit, so einen Mist zu lesen?« Irgendwelche Bemerkungen zum Gewicht und Essverhalten meines Bruders zu machen war meinem Vater von Mom strikt verboten worden, das hatte ich zufallig mit angehört. »Präsident Kennedy hat immer James Bond gelesen.« Ich weiß nicht, ob es mit Europa oder mit der rüden Innenpolitik meines Vaters zusammenhing, aber seit wir auf dem Alten Kontinent angekommen waren, trug mein Bruder seinen Nixon-Button nicht mehr und war Demokrat geworden. Rogerwusste, dass Dad ein großer JFK-Fan war, und glaubte, gegen ihn gepunktet zu haben. »Mag sein, aber erst nachdem er in Harvard aufgenommen worden war. « »Na und?« »Hast du etwa keine Leseliste für den Sommer?« Wir hatten einen ganzen Koffer voller Bücher dabei, die wir gelesen haben mussten, bevor im September die Schule wieder anfing.
»Die hab ich doch schon alle gelesen.« Mein Bruder war ein großer Leser. »Na, wo ist dann das Wortschatzbuch, das ich dir gekauft habe? Dir stehen die College-Aufnahmeprüfungen bevor, und wenn du an ein Ivy-League-College willst, geschweige denn nach Harvard ...« Da Dad selbst nicht auf einem der renommierten Colleges gewesen war, legte er größten Wert darauf, uns dorthin zu bringen. Ohne den Blinker zu setzen, wechselte er die Spur. »Jack Kennedys Vater war ein reicher Schwarzhändler und konnte seinen Söhnen mit Geld den Weg ebnen. Euer Vater ist nur Universitätsprofessor. Und wenn du dich jetzt nicht zusammenreißt, musst du auf ein staatliches College gehen wie Jill.« Dass Jill es an keines der Seven Sister Colleges – Radcliffe, Wellesley, Bryn Mawr und so fort, die für Mädchen den Ivy-League-College s entsprachen – geschafft hatte, bedeutete fur Jill tatsächlich eine fast ebenso große Schlappe wie für meinen Vater und kam als familiäres Desaster ihrem Sex mit Bill Scully gleich. Nun wurde mir auf einmal klar, dass die ganze Debütantinnen-Geschichte damit zusammenhing, dass Jill von den hochgestochenen Frauencolleges abgewiesen worden war. Und obwohl mir der Begriff ›Selbsthass‹ nicht geläufig war, kam es mir doch merkwürdig vor, dass es mein Vater als so demütigend für seine Tochter empfand, wenn sie dieselbe Staats Universität be-
suchte, deren Angestellter er war. Noch mehr jedoch verwunderte und überraschte mich, dass mir auf einmal mein Bruder leid tat, weil er unentwegt Dads Schikanen ertragen musste. Ja, ich hatte sogar ein schlechtes Gewissen, weil ich Rogers offensichtliches Unglück noch vermehrte, indem ich ihn mit seinem Übergewicht aufzog. Mein Vater fuhr auf die Standspur. Meine Mutter stieg aus und kramte in dem Sommerlektürekoffer. Roger bekam eine Schwarte namens Reich durch Wörter in die Hand gedrückt, ich Stolz und Vorurteil. Nachdem es meinem Vater gelungen war, uns herunterzuziehen, besserte sich seine Laune beträchtlich. Die besagten Einsichten meinerseits waren zwar erhellend, halfen jedoch keineswegs, den lüsternen Quälgeist zwischen meinen Beinen abzuschütteln. Stolz und Vorurteil bewirkte nur, dass ich mich fragte, ob Jane Austen wohl jemals nackt geschrieben hatte. Die Springmesser blieben im Koffer meiner Mutter eingeschlossen. Die Chancen, dass ich mir mittels eines Luftgewehrs die, wie ich glaubte, garantierte Erlösung würde verschaffen können, standen schlechter als null. Und da nichts zur Hand war, was mir die Schärfe hätte nehmen können, erlag ich der Versuchung, die noch vor ein paar hundert Kilometern undenkbar gewesen wäre: Ich tat, als wäre ich schläfrig, klappte Stolz und Vorurteil zu, zog meinen Regenmantel wie eine De-
cke über mich, zog meinen Reißverschluss auf und ließ sämtliche nackten Teufelinnen der großen Kunst sich an mir verlustieren. Ganz schön seltsam, in einem über die Autobahn bretternden Auto zu masturbieren, in dem vor einem die eigenen Eltern sitzen und neben einem der Bruder ... besonders, wenn dieser Bruder Brüste hat. München mit seiner legendären Alten Pinakothek, Glyptothek und Neuen Pinakothek – in den Gemäldegalerien und Skulpturensälen gab es so viele Mädchenleiber zu besichtigen, dass ich unentwegt unter Priapismus litt. Meine Mutter, die mittlerweile entdeckt hatte, dass ich Leitungswasser pichelte, hatte verfugt, dass die Messer bei Tag und Nacht in ihrem Koffer eingeschlossen blieben, bis ich ein bisschen Vernunft bewiese. Und mein Antrag auf ein Luftgewehr, das meine Begierden gestillt oder doch wenigstens meinen Gelüsten eine neue Richtung gegeben hätte? Um meine Mutter zu zitieren: »Nie und nimmer, nicht in hundert, nicht in tausend Jahren.« Ich war jedoch nicht umsonst meines Vaters Sohn. Als wir im Bogen in die Schweiz hinüberfuhren und dann wieder ostwärts, in Richtung Österreich vorstießen, betrieb ich in Sachen Luftgewehr meine persönliche Version von psychologischer Kriegsführung. Wenn meine Eltern sich erkundigten, was ich abends gern essen würde, entgegnete ich trocken: »Ein Luftgewehr.« Wenn meine Mutter aus-
rief: »Sind die Alpen nicht herrlich?«, bemerkte ich – ja, Sie haben es erraten: »Nicht zu vergleichen mit einem Luftgewehr.« Und daher latschte mein Vater kurz hinter der österreichischen Grenze auf die Bremse und brüllte: »Wenn ich dir das verdammte Luftgewehr kaufe, versprichst du dann, die Klappe zu halten?« Ein Sportgeschäft wurde gefunden. Ein Luftgewehr wurde hastig erstanden, und schon waren wir wieder unterwegs. Da mir nicht gestattet war, Patronen, also Munition, zu kaufen, durfte ich meine neueste Ablenkungswaffe in den Händen halten, während mein Vater weiterfuhr. In meinem Kauf- und Siegesrausch hatte ich jedoch nicht auf die Marke des Gewehrs geachtet. Erst als es auf meinem Schoß lag und an Umtausch nicht mehr zu denken war, sah ich, dass ich ein Diana-Gewehr gekauft hatte. Die Gottheit in ihrer Mini-Tunika war sogar in den Lauf eingraviert. Sie hatte mich gefangen, die Göttin der Jagd. Nun war ich der jungfräulichen Zauberin, die mich im Allard Pierson Museum zu Amsterdam in ihren Bann geschlagen hatte, ausgeliefert. Das Kribbeln dort unten war schlimmer denn je. Das war kein neckisches Pochen mehr – ich saß auf einem gefangenen Tier, das sich mit Zähnen und Klauen aus den Schlingen der Lust zu befreien suchte. Meine Mutter fing im Schminkspiegel mein langes Gesicht ein. »Was hast du denn nun schon wieder?«
»Nichts.« Mir blieb nichts anderes übrig, als den Regenmantel über mich zu ziehen und mich der Göttin des Zölibats zu ergeben. Warum die jugoslawische Regierung meinen Vater zu einem wissenschaftlichen Kongress nach Belgrad eingeladen hatte, habe ich nie genau verstanden. Nachdem ich mir die schmutzigen Stellen in den James-Bond-Romanen meines Bruders hatte angedeihen lassen, konnte jemand mit meiner Phantasie leicht zu der Überzeugung kommen, Dad sei ein CIA-Spitzel. Vielleicht war er einer. Mit größerer Wahrscheinlichkeit hatten fast zwanzig trübselige Jahre kommunistischer Tito-Herrschaft auf dem Balkan einfach ein dringendes Bedürfnis nach Antidepressiva erzeugt. Wie dem auch sei, ich hatte immer noch genug vom echten amerikanischen Jungen in mir, um das Gefühl zu haben, ich beträte Feindesland. Gedanken an Entführung und kommunistische Hirnwäsche unterhielten mich und lenkten mich ab. Zwar vermochte mich mein Diana-Luftgewehr nicht vor mir selbst zu bewahren, doch als wir die Grenze passierten und Titos maschinenpistolen-bewehrte Lakaien uns misstrauisch beäugten, da fühlte ich mich sicherer in dem Wissen, dass ich unter meinem Trenchcoat mit mehr als nur Verlangen bewaffnet war. Die Ängste meiner Mutter vor dem, was uns in Jugos-
lawien erwartete, waren weniger politischer als gastrointestinaler Natur. Sie reichte mir ihren zerfledderten Fodor-Reiseführer für Europa und ließ mich laut eine Stelle vorlesen, die sie rot unterstrichen hatte. »In Jugoslawien ist Leitungswasser nur zur äußeren Anwendung geeignet.« »Hast du verstanden, was das heißt?« »Dass die Russen irgendwas hineintun?« Mein Vater fand das komisch. »Dass es nicht sauber ist. Dass dir davon hundeübel wird.« »Und was soll ich sonst trinken?« »Coca-Cola.« Das Problem war nur, dass Coca-Cola in Jugoslawien erst ab 1969 zu kaufen sein würde. Im Jahr 1964 aber gab es dort nur so eine Kommie-Cola, die Cokade-Kaka hieß – so klang es jedenfalls für unsere Ohren, und irgendwie schmeckte es auch so, faulig, ölig und eine Spur salzig. Von jeder Flasche wurde man ein bisschen durstiger. Der Balkan hatte einen beruhigenden Einfluss auf meinen Vater; vielleicht, weil ich ihm wegen des Luftgewehrs nicht mehr zusetzte, oder weil er in Anbetracht des damaligen jugoslawischen Telefonsystems seine Versuche, Jill ans Telefon zu bekommen, aufgegeben hatte. Jedenfalls besserte sich seine Stimmung. Und der Anblick eines Bauernjungen, der im lavendrigen Morgendunst mit Maultieren
ein Feld pflügte, oder eines Vaters und Sohns, die unter dem leisen Sausen ihrer altertümlichen Handsicheln Heu mähten, bewegten ihn dazu, uns mit Geschichten zu erbauen: Wie sein Leben ausgesehen hatte, bevor aus ihm der Herr Professor geworden war, der Geld für Europareisen und Debütantinnenbälle, für die Springmesser und Luftgewehre übrig hatte, die sein leidender Sohn benötigte; wie es gewesen war, mit zwölf ein Paar Pferde einzuspannen, einen Acker zu pflügen oder dort, wo das Gelände für die Mähmaschine zu steil war, Alfalfa mit der Sense seines Großvaters zu schneiden. Wenn uns mein Vater daheim aus seiner bukolischen Jugend erzählte, dann fühlten wir uns am Schluss immer faul und undankbar, weil wir so viele Stunden vor dem Fernsehgerät verbrachten und Taschengeld verplemperten, das wir ganz selbstverständlich einkassierten, statt es uns zu verdienen. Jugoslawien aber nahm seinen Erinnerungen die Härte. Es war, als würde Dad durch die raue Schlichtheit des Agrarlebens, aus der Sicherheit eines Mercedes betrachtet, milder. Wenn er nun von seiner Jugend erzählte, dann nicht mehr, um uns eine Lektion zu erteilen oder uns zu motivieren, sondern er ließ uns sanft an seiner Sehnsucht nach dem Wunder teilnehmen, alles, was auf den Tisch kam, selbst angebaut und geerntet zu haben. Als er die beiden merkwürdig aussehenden Typen ent-
deckte, die an einem Feldrand eine Steinmauer errichteten, hielt er mit einer Miene an, dass man hätte meinen können, er führe vor dem Louvre vor. Dad hielt uns einen Vortrag über die in Vergessenheit geratene Kunst, ohne Mörtel eine Mauer zu bauen, als würden wir in einem Museum über die Wachstechnik des Bronzegusses in der Renaissance belehrt. Die Jugos guckten meinen Vater an wie einen Spion, während er in seinem serbokroatischen Sprachführer blätterte und zu erklären versuchte, dass in ganz Amerika keiner mehr eine solche verdammte Mauer bauen könne. Der Punkt, weswegen ich auf meinen zurückblickenden Vater zurückblicke, ist der folgende. Nachdem Dad den Typen ein Trinkgeld dafür gegeben hatte, dass sie ihn für eine halbe Stunde an ihrer Mauer weiterbauen ließen, und als wir wieder im Mercedes saßen, erzählte uns Dad, dass er, als er jünger war als ich, einen ganzen Sommer lang eine Mauer gebaut hatte, zusammen mit einem geistig zurückgebliebenen Riesen namens Peyton, der in der Kindheit sein bester Freund gewesen war. Das war mir neu, und ich fand es ziemlich überraschend, dass sich mein Vater dann zu einem solchen intellektuellen Snob entwickelt hatte. Und als sich mein Vater immer weiter à la Von Mäusen und Menschen darüber ausließ, wie unzertrennlich er und
Peyton gewesen waren, wie siamesische Zwillinge beinahe, da stellte ihm mein Bruder – der offenbar das Gleiche dachte wie ich, nämlich, Wenn du zu einem Zurückgebliebenen so nett sein kannst, warum bist du dann so fies zu uns? – die Frage: »Was mochtest du denn so an ihm?« »Er konnte so gut zuhören.« »Und warum mochte er dich?« »Weil ich hinter der Scheune Bilder für ihn gezeichnet habe.« Mein Vater konnte wirklich gut zeichnen. »Was für Bilder denn?« »Wenn ich mich recht entsinne, interessierten wir uns beide für nackte Frauen, Peyton und ich.« »Aber Richard, was wusstest du denn mit zwölf über nackte Frauen?« »Ich hatte eine gute Phantasie.« Ich fand es seltsam tröstlich zu erfahren, dass mein Problem genetisch bedingt war. Von Jugoslawien ist mir am meisten mein ständiger Durst in Erinnerung geblieben – abgesehen davon, dass sich mein Vater nett benahm. Nach fünf Tagen ohne einen Tropfen Wasser und nichts als Coka-de-Kaka, um meine Zunge zu benetzen, fühlte ich mich wie nach einem Gewaltmarsch durch die Sahara mit Salzwasser in der Feldflasche. Ich war bis an den Rand des Deliriums ausgedörrt, was insofern gut war, als mein wachsendes Verlangen nach
einem Glas H20 mich teilweise (und im Gegensatz zu dem Erwerb des Luftgewehrs) von dem Quälgeist zwischen meinen Beinen ablenkte und die Häufigkeit der unerwünschten Erektionen, die mich peinigten, senkte. Unglücklicherweise trieb es mich jedoch auch dazu, etwas zu tun, wovon sogar ich wusste, dass es dumm war. Im Morgengrauen, während meine Eltern und mein Bruder fest schliefen, stahl ich mich in unserem Belgrader Hotel ins Bad, drehte den Hahn auf und trank von ebenjenem Wasser, das laut der Warnung im Reiseführer meiner Mutter nur zur äußerlichen Anwendung taugte. Nun muss ich zu meiner Verteidigung vorbringen, dass es ebenso rein aussah und roch wie sämtliche Wässer, die ich aufsässigerweise insgeheim überall in Europa zu mir genommen hatte. So rein, süß und erfrischend, dass aus einem Glas zwei wurden, welchen dann ein drittes folgte – mehrere Liter später fiel ich in mein Bett zurück, geblähnt wie eine Zecke und in der festen Überzeugung, dass die elterlichen Warnungen vor balkanesischem Leitungswasser nur ein weiteres Beispiel dafür darstellten, dass ein junger Mann keinem besseren Grundsatz folgen kann, als alles zu ignorieren, was ihm Erwachsene sagen. Als eine Stunde später ein besorgter Vertreter des Auswärtigen Amtes der USA an unsere Tür klopfte, nahm ich in meinem Dusel an, eine verborgene kommunistische Spio-
nagekamera in unserem Bad habe mich beim Wassertrinken ertappt Dann hörte ich den Typ von der Botschaft sagen: »Als Vorsichtsmaßnahme zur Vermeidung eines möglichen internationalen Zwischenfalls erachten wir es für das Beste, wenn Sie unverzüglich das Land verlassen.« In meiner Panik glaubte ich, er sei besorgt, der Tod eines amerikanischen Jungen infolge des Genusses von kommunistischem Leitungswasser könne sich schädlich auf die OstWest-Beziehungen auswirken. Und in der Tat begann es in meinem Magen unheilvoll zu rumpeln. Wie sich jedoch herausstellte, hatten Geräusche anderer Art das Auswärtige Amt dazu bewegt, uns zu befehlen, unsere Koffer zu packen und schleunigst aus dem Land zu verschwinden. Der amerikanische Kongress hatte soeben die Golf-vonTonkin-Resolution verabschiedet und Präsident Johnson gestattet, Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben. Auf Straßendemonstrationen, »Yankee go home!« – Rufe sowie die Möglichkeit gefasst, ein amerikanischer Psychologe mit Familie könnte aus seinem geliehenen Mercedes gezerrt und für den amerikanischen Imperialismus zur Rechenschaft gezogen werden, flohen wir in Richtung Norden. Kaum waren wir den Stadtgrenzen Belgrads entronnen, da erhoben meine Eingeweide auf andere Weise Protest. »Mom, ich muss mal.«
»Das hier ist kein Witz, Dirk. Wir halten nicht an, bevor wir nicht in Österreich sind.« Österreich war acht Stunden entfernt. »Mom, es ist wirklich dringend.« »Genau deswegen halten wir nicht an.« »Mom, ich hab's nicht mehr im Griff.« »Hauptsache, dein Vater hat den Wagen im Griff.« Mir war, als hätte ich eine lebende Ratte verschlungen. Während sie mit dem Vorderende an meinen Gedärmen nagte, kitzelte sie mit ihrem Schwanz meine Stimmritze. »Riecht das hier im Wagen etwa nach Tierkadaver?« Das war mein Vater. Mein Bruder hielt sich die Nase zu und deutete auf mich. Aus Augenschlitzen funkelte mich meine Mutter an – eine Wölfin, entschlossen, ihre Jungen vor den Auswirkungen der amerikanischen Außenpolitik zu schützen, die auf einmal nicht mehr so sicher war, ob eines ihrer Jungen verdiente, gerettet zu werden. »Du hast doch nicht etwa?!« »Ich geb's ja zu, ich hab' Wasser getrunken.« Ich klang wie meine Schwester, als sie sich zu der Sache mit Bill Scully bekannte, nur dass sie die Würde besessen hatte, nicht zu winseln. »Tut mir leid, ich tu's nie wieder.« Mein Vater verfluchte mich, Marschall Tito, Jugoslawien und sich selbst, weil er so dumm gewesen war, seine Kinder auf eine Geschäftsreise mitzunehmen, aber er fuhr
an den Straßenrand. Ich schaffte es kaum noch, die Hose runterzulassen, da spie ich schon aus beiden Enden. Zwanzig Minuten später brüllte ich wieder: »Halt an!« Zwanzig Kilometer darauf ein weiteres, noch verzweifelteres »Stop!« Jedes Mal wurden meine Hilferufe mit »Geschieht dir recht, hoffentlich hast du was gelernt« quittiert. Und mein Bruder riet: »Kauft ihm doch einfach Windeln.« Der schlimmste Moment kam, als ich darauf bestand, dass mein Vater an ebender schmalen Landstraße anhielt, wo die netten, seltsam aussehenden Jugos noch immer an ihrer Mauer bauten ... O, welche Empörung auf ihren Gesichtern, als ich ihr Kunstwerk schändete – ich kann es ihnen nicht verdenken, dass einer von ihnen einen Stein nach uns warf. Unsere hastige Flucht nach Norden war ein Fiebertraum. Da hielt ich mein Luftgewehr umklammert und fühlte, wie eindeutig antiamerikanische Amöben und Bakterien meinen Körper zersetzten – das einzig Positive an einer solchen Todesnähe bestand darin, dass ich zu krank war, um eine Erektion zu kriegen, geschweige denn, mir den Regenmantel über den Schoß zu ziehen und zu fummeln. Kaum lag die österreichische Grenze hinter uns, da fuhren mich meine Eltern schleunigst ins nächste Krankenhaus. Nachdem ich an so vielen Straßenrändern ge-
kauert und – noch urwüchsiger – über den offenen Abflussrohren gehockt hatte, die in jugoslawischen TruckerRaststätten als Toiletten durchgingen (ich verschone Sie mit dem, was ich tun musste, um das Portemonnaie zu retten, das mir aus der hinteren Hosentasche gerutscht war), trieb mir der bloße Anblick einer sauberen, weißen Tiroler Toilettenschüssel aus Porzellan, deren Sitz nicht geklaut worden war, Tränen in die Augen. Der Arzt, der mich untersuchte, erklärte, ich litte an »Titos Rache«, was alle außer mir enorm komisch fanden. Voll gepumpt mit Penicillin und schläfrig machenden Darmberuhigungsmitteln, verdöste ich die nächsten sechsunddreißig Stunden im Nebel. Doch dass im Hirn meines Vaters etwas Anomales vorgegangen sein musste, dämmerte mir, als ich wieder zu Bewusstsein kam und wir die Autostrada entlangbretterten, auf die Wiedervereinigung oder Konfrontation mit meiner großen Schwester in der Toskana zu. Wäre ich ganz bei Sinnen gewesen, hätte ich meinem Vater verständlich gemacht, dass es keine gute Idee sei, die ganze Nacht durchzufahren, um einen Tag früher bei Jill nach dem Rechten zu sehen. Und dass er eine Katastrophe heraufbeschwor, wenn er morgens um sieben Uhr dreißig bei ihr auftauchte. Hatte Dad versucht, Jill anzurufen? Hatte er sie erreicht und im Gespräch mit ihr etwas Verdächtiges herausge-
hört? War ihm das jugoslawische Leitungswasser in den Stirnlappen gesickert? Jedenfalls wusste selbst meine Mutter, dass es keine gute Idee war. Während wir durch das italienische Morgengrauen sausten, hörte ich sie sagen: »Richard, ich meine, wir sollten anhalten und noch einmal versuchen, sie anzurufen.« »Ich hab Hunger.« Die letzte ordentliche Mahlzeit meines Bruders lag immerhin zehn Stunden zurück, das musste man ihm zugute halten. »Dann mampf eben einen Schokoriegel.« »Warum besichtigen wir nicht erst die etruskischen Grabstätten, fahren anschließend zu ihr und essen alle zusammen nett zu Mittag?« »Darum.« Mein Vater klang langsam so wie ich. »Aber warum: Darum?« »Weil wir es ausnahmsweise mal so machen, wie es mirpasst.« »Aber wir machen es doch immer so, wie's dir passt.« Ich fühlte mich langsam besser. »Spiel du mit deinem Luftgewehr.« Als wir in Perugia in Jills Pension aufkreuzten, hatte meine Mutter das Gefühl, haarscharf einer Kugel entgangen zu sein, das sah ich. Zu ihrer Erleichterung fand sie Carlo, diesen gehobenen Bill-Scully-Doppelgänger, an der Rezeption vor statt im Bett mit molto bella Jill. Und als wir
die enge Treppe zu Jills Zimmer hinaufgetrabt waren und sich auf das Klopfen meines Vaters hin nichts rührte, dachte Mom, wir seien völlig aus dem Schneider. »Wahrscheinlich hatte sie einen frühen Kurs. Da das nun geklärt ist, können wir bitte –« »Ihr erster Kurs beginnt um neun«, unterbrach sie mein Vater. »Jetzt ist es sieben Uhr dreißig.« Er führte sich auf wie ein Detektiv. »Richard, was tust du da?« Dad drehte an dem Türknopf Er war nicht verriegelt. »Richard, es ist mir ernst: Lass das. Jill ist erwachsen, und du hast ihre Privatsphäre zu respektieren.« »Signora haben Recht.« Mein Vater sah Carlo an, als werde er ihm gleich die Nasenspitze abbeißen. »Andererseits – ein Papa mit einer so bella Tochter wie Signorina Jill wäre ein Idiot, wenn er nicht an die Möglichkeit...« Carlo merkte, dass er sich verplappert hatte, und wich im Flur zurück. »... das telefono, signore.« Mein Vater schloss die Augen, als er Jills Zimmertür aufmachte. Er war auf das Schlimmste gefasst, wollte es jedoch nicht sehen. Seine Würde verbot es ihm, unter das Bett zu schauen, aber er wies das klassische Vollbild von väterlichem Narzissmus auf: Er war erleichtert, sich geirrt zu haben, und kochte zugleich vor Wut, weil Jill ihm die Befriedigung verwehrt hatte, Recht zu behalten. Dad be-
schnupperte ihr leeres Zimmer wie ein Jagdhund, der von der Fährte des Wilds nicht lassen kann. »Bist du nun zufrieden?« Meine Mutter legte den Arm um Dad und versuchte, ihn mit einem Kuss auf die Wange abzulenken. Überhaupt turtelten meine Eltern auf dieser Reise auffällig viel, wenn ihre Kinder sie gerade einmal nicht in den Wahnsinn trieben. »Ich hab's dir ja gesagt, du bildest dir alles Mögliche ein.« »Jill hat heute Nacht nicht hier geschlafen.« »Das weißt du doch nicht.« »Sieh dir mal ihr Bett an.« Glatt gestrichene Laken, aufgeschüttelte Kissen. »Und?« »Jill hat in ihrem ganzen Leben noch nie ihr Bett gemacht, ohne dass einer von uns sie dazu aufgefordert hat.« Da sagte mein Vater nun wieder etwas Richtiges. »Vielleicht ist sie als angehende Debütantin ja ordentlicher geworden.« Das war nicht nur ein Versuch von mir, Jill zu decken. Denn inzwischen ging es mir so viel besser, dass der Quälgeist zwischen meinen Beinen wieder erwacht war, und da das Luftgewehr nicht half und die Messer im Koffer meiner Mutter steckten, wollte ich zu den etruskischen Grabstätten. Statuen von toten Schönen auf ihren eigenen Särgen sitzen zu sehen – das, hoffte ich, würde mich zu traurig stimmen für eine Erektion.
»Können wir jetzt nicht einfach zu den Grabstätten gehen?«, fragte meine Mutter. »Aber sicher. Sobald ich der Sache hier auf den Grund gegangen bin.« Dazu musste er unverzüglich zu Mrs. van Engen fahren und herausfinden, wo seine Tochter genächtigt hatte. Mittlerweile hatten meine Eltern das In-die-Irre-Fahren zur Kunstform perfektioniert. Zwar lag Mrs. van Engens Villa nur fünf Kilometer vor der Stadt, doch nachdem mein Vater vier Mal angehalten, nach dem Weg gefragt (drei Mal davon denselben Carabiniere) und Mrs. Vs Villa immer noch nicht gefunden hatte, war er überzeugt, die gesamte Toskana habe sich verschworen, um ihn daran zu hindern, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu finden. Außerstande, den Anweisungen des Carabiniere zu folgen, und in der Gewissheit, dass Jill eine neue Methode gefunden hatte, sich selbst und ihn mittels Sex zu demütigen, fand sich mein Vater jedes Mal wieder an demselben Kreisel wieder, den wir dreißig Minuten zuvor mehrfach umrundet hatten, und dabei halluzinierte er laut vor sich hin. Bestimmt sei Jill nach New Jersey zurückgeflogen, um es mit Bill zu treiben. Oder aber, es stand noch schlimmer und Bill hatte eine Tankstelle ausgeraubt, um nach Italien und in Jills Bett zu Jetten. Die bösen Möglichkeiten wollten kein Ende nehmen.
Die lange, pittoreske, von Pappeln gesäumte Auffahrt zu Mrs. van Engens Villa ratterte Dad bleiernen Fußes auf dem Gaspedal hinauf, ohne die Rosenbeete oder die Panorama-Aussicht mit dem Kirchturm zu bewundern. In einer goldenen Wolke toskanischen Staubs kamen wir zum Stehen. Heute würde ich Mrs. V's Villa als ländlichen Palazzo beschreiben, verputzt im Ton eines von Caravaggio gemalten Pfirsichs. Damals jedoch fiel mir dazu nur ein, dass Mrs. V ein besseres Schlupfloch besaß als Elvis. Mrs. V befand sich auf der Terrasse und nahm gerade Mandolinenunterricht. Als ich den blonden Pferdeschwanz der Lehrerin sah, die zärtlich die Arme um Mrs. V's üppigen Busen gelegt hatte und der alten Schachtel verführerisch etwas ins Ohr flüsterte, da fiel mir wieder ein, was mein Klassenkamerad, ihr Neffe Alden, über sie gesagt hatte – eine Lesbe. Obwohl wir im Wagen warten sollten, rannte ich meinem Vater nach. Wie gesagt, das Kribbeln war zurückgekehrt. Und Mrs. V sah zwar immer noch wie ein Teewärmer aus, aber das musste ich mir einfach aus der Nähe ansehen: zwei Lesben, die dasselbe mit Intarsien verzierte Instrument liebkosten. »Wie schön, Sie zu sehen, Professor.« Mein Vater übersah die Wange, die Mrs. V ihm zum Kuss darbot, und kam gleich zur Sache. »Wo hat meine
Tochter die vergangene Nacht verbracht?« Die Mandolinenlehrerin wandte mir den Rücken zu, doch daraus zu schließen, wie ihre Hose den Po zur Geltung brachte, war sie ein scharfes Biest. »Mit mir und den Mädchen in Florenz. Gibt es denn ein Problem?« »Nein ... Alles ist in bester Ordnung.« Sehr überzeugt klang mein Vater nicht. »Dann möchte ich Ihnen Günther vorstellen.« Als sich die Mandolinenlehrerin mit dem hübschen Po umwandte, war ich so perplex wie Dad. Sie war ein Kerl. »Und wo ist Jill jetzt?« »Gleich dort unten. Aber fühlen Sie sich auch wirklich wohl?« Mrs. V deutete in den Park unterhalb der Terrasse hinunter, wo die künftigen Debütantinnen, Skizzenblöcke vor sich, auf dem Rasen lagerten und einen Brunnen zeichneten, aus dessen Mitte sich ein nackter Mann mit Dreizack erhob. Erleichtert, dass mich nicht auch dessen Hintern zum Erigieren brachte, ließ ich den Blick über die zeichnenden Mädchen schweifen. Keine von ihnen wies die geringste Ähnlichkeit mit der Schwester auf, von der ich mich zwei Monate zuvor verabschiedet hatte. »Jill«, rief Mrs. V hinunter, »sieh mal, wer dich hier besuchen kommt.« Langsam erhob sich ein blondes Geschöpf mit plustri-
ger Frisur, dem das französische Matrosen-T-Shirt von der einen Schulter gerutscht war (und offenbarte, dass sie keinen BH trug), in einem so engen Rock, dass sie uns in kleinen Schritten entgegengehen musste. Nun war die Paranoia meines Vaters, was Jills mutmaßliche sexuelle Wanderlust anging, derart ansteckend, dass ich fest damit rechnete, die exotische Vamp-Debütantin dort werde uns berichten, dass Jill Sklavenhändlern in die Hände gefallen sei. Stattdessen hörte ich sie zu meiner Verblüffung sagen: »Dad, was machst denn du hier?« »Ich freue mich auch, dich zu sehen.« »Ich wollte sagen: Ich dachte, ihr kämt erst morgen, zu dem Fest am Abend.« Jill umarmte meine Mutter. »Dein Vater hat dich vermisst, Liebes. Sieht sie nicht reizend aus?« Es lag nicht nur daran, dass sie sich das Haar hatte blond färben lassen. Sie hatte fünf Kilo abgenommen. Die Akne war verschwunden. Am meisten jedoch lag es an ihrer Haltung: Sie hatte sich die europäisch-feminine Kunst angeeignet, Sexualität auszustrahlen, ohne flittchenhaft zu wirken – ein feiner Unterschied, für den mein Vater keinen Blick hatte. »Was hast du nur mit dir angestellt?« »Mrs. van Engen hat doch vorausgesagt, dass sie als Raupe fortgehen und als Schmetterling zurückkommen
würde.« Dass mein Bruder mit einem so diplomatischen Satz aufwartete, machte uns alle sprachlos. Aber natürlich musste er den Effekt sofort verderben: »Ich habe Hunger. Wenn wir nicht essen gehen, dann besichtigen wir doch jetzt die Grabstätten.« »Wie wäre es denn, wenn Sie alle zum Lunch hierblieben?« Mrs. V war ganz in Ordnung, stellte sich heraus. Jill warf meiner Mutter einen Blick zu, der besagte: Sorg bitte
dafür, dass Daddy mich nicht noch mehr blamiert, als er es schon getan hat. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. van Engen, aber wir müssen nun wirklich ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen.« Und meine Mutter begann, uns zum Auto zurückzuscheuchen. »Meine Frau hat ganz Recht, wir gehen.« Ich hörte Dad an, dass er noch immer glaubte, Jill habe sich herumgetrieben. »Aber wenn ich mir's überlege – unser Jüngster hat sich in den letzten Tagen nicht sehr wohl gefühlt. Vielleicht könnten wir Dirk den Nachmittag über hier bei seiner Schwester lassen, wenn das nicht zu viele Umstände macht?« Von der Aussicht, mich im Schlepptau zu haben, war meine Schwester offenkundig nicht gerade entzückt, aber sie hätte mich ertränkt, wenn sie mitbekommen hätte, was
mir mein Vater im Fortgehen zuflüsterte: »Find mal heraus, was sie so getrieben hat.« Als Fan von James Bond war ich mir für Spionage keineswegs zu fein. Wenn die unzuverlässige Femme fatale jedoch die eigene Schwester ist, kann man kaum umhin, zum Doppelagenten zu werden. Mrs. V, Gunther, ich, Jill und die übrigen Debütantinnen lunchten al fresco am Swimmingpool. Ich registrierte, dass die Mädchen alle Wein zum Essen tranken; als aber Mrs. V darauf bestand, dass ich ebenfalls ein Gläschen trank, beschloss ich, dieses Detail meinem Vater nicht zu melden. Die eine oder andere Debütantin benahm sich mir gegenüber demonstrativ so, als hätte ich die Krätze, die meisten aber begnügten sich damit, so zu tun, als wäre ich nicht vorhanden. Jill schoss mir einen warnenden Blick zu, als die Mädchen zu kichern begannen und sie mit Luigi, Mercello, Caio Giacomo und einem Typ namens Raul aufzogen, der gedroht habe, seinen Ferrari ins Meer zu fahren, wenn ihn Jill weiterhin bloß die Speisekarte studieren und dann darben ließe. Was ich nach dem zweiten Glas Wein meines Lebens noch weniger verstand als nach dem ersten. Selbst wenn ich Stift und Papier dabei gehabt hätte, ich hätte all die Namen und Anspielungen, die über meinen Kopf hinwegschwirrten, nicht festhalten können. Also beschloss ich, meinem Vater diskret zu berichten, dass Jill viele neue Freunde gefunden hatte, und es dabei zu belassen.
Überhaupt war mir, nachdem ich mein eigenes Dessert und das von zwei Mädchen verschlungen hatte, nach einer Siesta zumute. Doch als die Mädchen ihre Badeanzüge anzogen, um in den Pool zu tauchen, stieg nicht nur mein Blutdruck. Wenn ein zwölfjähriger Amerikaner um das Jahr 1964 erstmals einen mit lebendigem Fleisch gefüllten Bikini zu Gesicht bekam, so war dies ein seltenes, erstaunliches Ereignis. Nun multipliziere man das mit dreizehn ... Daheim in den Staaten hätte ich Gunthers zweite Badehose niemals angezogen. Sie war so knapp wie die Bikiniunterteile der Mädchen und eine von der Sorte, die wir zu Hause »Eierschützer« nannten. Doch als ich all die Debütantinnen im Wasser herumtollen sah, konnte ich nicht mehr widerstehen. Vom Badehaus zum Pool rannte ich, damit nur keinem der Mädchen auffiel, dass mein Quälgeist wieder da war, und zwar in festlichem Format. Es hätte mir vollauf genügt, am flachen Beckenende im Wasser zu sitzen und zuzuschauen, wie sie plantschten und vom Sprungbrett Korkenziehersprünge vollführten. Doch diese Debütantinnen hatten noch mehr überschüssige Energie. Ich fand bereits, schöner könne das Leben kaum werden, da stiegen die Mädchen einander auf die Schultern und setzten zum Ringkampf an. Vier Mädchen in einer Wasserschlacht, acht Debütantinnenbrüste, die im Wechsel aus den Bikinikörbchen hüpften – das war eindeu-
tig besser als etruskische Grabstätten. Als mich dann auch noch eine biegsame Schönheit aus Nashville, Tennessee, einlud, an den Gladiatorenspielen teilzunehmen, war ich vollends selig. Sie legte ihre langen, honigbraunen Beine über meine Schultern und nahm meinen Kopf so fest zwischen ihre Schenkel, dass mir das Kinn herunterklappte und ich mir befehlen musste, Luft zu holen. Das Problem war nur, dass ich den Kopf noch unter Wasser hatte. Während ich eine Ladung Wasser hervorhustete, hielt sich die Südstaatenschöne an meinem Kopf fest wie an einem Sattelknopf und schrie: »Attacke!« Nach ein, zwei Stunden solcher Lustbarkeiten tauchte eine weitere Gruppe von kunstbegeisterten Debütantinnen auf, angeführt von Bunny, einer Freundin von Mrs. V. Die Szene glich einem Edelpfadpfinderinnen-Treffen. Angesichts all der Mädchen, die da in unterschiedlichen Nacktheitsgraden um den Pool lagen, wusste ich mir schier nicht zu helfen. Doch dann bat mich eine, ihr den Rücken mit Sonnenmilch einzucremen. Und noch eine, und die nächste. Glitschig vor Öl, kreuzte ich die Beine, um meine Erektion zu bändigen, und war im Himmel. Mein Aufstieg war jedoch damit noch nicht beendet. Eine sportliche Rothaarige aus New York in einem Strandkleidchen, das an Dianas Tunika erinnerte, erkundigte sich, ob ich auch etwas von Nägeln verstünde. Ich hatte keine
Ahnung, wovon sie redete, aber als ich antwortete, das sei meine Spezialität, lachten die Mädchen alle. Man drückte mir ein Fläschchen Nagellack in einem Farbton in die Hand, der passend »Rubicon Red« hieß, und ich ging in die Knie. Meine Hände bebten. Schweißtropfen fielen von meiner Nasenspitze. Ich wurde scheel. Es ist gar nicht so einfach, einem Mädchen unter den Rock zu lugen und ihr gleichzeitig die Fußnägel zu lackieren. Ich pinselte ihr mehr Lack auf die Füße als auf die Nägel. »Vielleicht geht's hiermit leichter.« Flugs zog die gewitzte Debütantin, da keine Watte greifbar war, einen Tampon aus seiner Hülle und schob ihn zwischen ihren großen und den nächsten Zeh. Wie Sie sich vorstellen können, war ich nach einigen Stunden Kosmetiksalon-Spielen emotional und körperlich erschöpft. Um fünf legte ich die Arbeit nieder und suchte nach der Dusche. Das Badehaus glich innen einer Grotte, mit einem Mosaik aus Muscheln und Perlmutt an den Wänden. Nach vier Stunden im Wasser war ich so verschrumpelt wie eine Rosine. Noch erstaunlicher kann der Tag wirklich nicht mehr werden, dachte ich gerade, da hörte ich vor meiner Kabine Jill mit dem Mädchen plaudern, das mich beim Nägellackieren hatte unter ihren Rock schauen lassen. »Dein kleiner Bruder ist ja umwerfend.«
»Du hättest ihn nicht noch ermutigen sollen.« »Seine Geschichte über das Leitungswasser, das er getrunken hat, fand ich toll.« Zu den vielen Dingen, die ich an jenem Nachmittag lernte, gehörte, dass Frauen einen Mann respektieren, der bereit ist zuzugeben, dass er ein Idiot ist. Eine dritte Debütantin stieß zu ihnen. »Ich dachte, dein Vater wollte dich in diesem Sommer gar nicht nach Europa lassen.« Ich presste das Ohr an die Tür der Duschkabine. »Wollte er auch nicht«, antwortete Jill selbstgefällig. »Wie hast du ihn dann rumgekriegt?« »Indem ich ihm erzählt habe, ich hätte mit Bill Scully Sex gehabt.« »Wer ist denn das?«, fragte Tampon-zwischen-denZehen. »Der Sohn unseres Müllmanns.« »Nein! Und mit dem ...?« »Natürlich nicht.« Eines der Mädchen kapierte das nicht, so wenig wie ich. »Aber woher wusstest du denn, dass dich dein Vater hierher schicken würde, wenn du ihm weismachst, du hättest mit dem Müllmannssohn gepennt?« »Wusste ich auch nicht. Ich wollte ihn bloß auf die Palme bringen. Aber manchmal hat man eben Glück.«
»Genial.« Sie lachten, aber ich fühlte mich merkwürdig ernüchtert. Als meine Eltern mich am Abend abholten, fragte meine Mutter: »Und wie war dein Nachmittag mit Jill?« »Ganz in Ordnung.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein. »Hat sie dir irgendetwas erzählt, wovon du meinst, wir sollten es alle erfahren?« Als ich zögerte, setzte mein Vater hinzu: »Als ihr Bruder und mein Sohn ist es deine Pflicht, mir die Wahrheit zu sagen.« »Sie hat mir gesagt...« – alle Augen richteten sich auf mich – »... dass du dir wegen Bill Scully keine Sorgen zu machen brauchst.« »Sonst noch etwas?« »Ich bin müde.« Ein Doppelagent zu sein war anstrengend. Das Geheimnis meiner Schwester belastete mich. Ich fand es bedrückend, dass mein Vater lieber weiterhin glaubte, seine Tochter habe das Zeug zur Nymphomanin mit sozialem Abwärtsdrall, als die Tatsache zu akzeptieren, dass ein Starpsychologe nicht immer die schlaueste Person in der Familie ist. Die Einsicht, dass die Wahrheit ihn derartig verletzen konnte, machte mich traurig, und ich fühlte mich merkwürdig einsam. Als mein Bruder und ich erfuhren,
dass der Debütantinnenball am nächsten Abend ohne uns stattfinden würde, tat ich zwar so, als wäre ich enttäuscht, war aber in Wirklichkeit erleichtert. Die Reise war beinahe vorüber. Nur eine Station lag noch vor uns – Paris, die Stadt der Lichter, der Liebe und all der übrigen Klischees, die wahr und falsch zugleich sind, wie das meiste im Leben. Am letzten Abend unserer Tour durch Europa verkündete mein Vater, wir sollten uns alle fein machen, denn wir gingen »groß aus«. Wohin, verriet er nicht, nur dass es eine »Riesenüberraschung« sei. Die Madras-Jacketts und Krawatten, in denen wir gelandet waren, wurden wieder hervorgeholt. Meine Mutter zog ein neues Kleid an und legte Lippenstift in einem neuen Farbton auf. Als wir zur Tür hinausgingen, küsste sie meinen Vater auf den Mund, vor unseren Augen. Und in diesem Moment, das weiß ich noch, ging mir zum ersten Mal auf, dass meine Eltern nicht nur meine Eltern waren, sondern auch ein Liebespaar. Eine Limousine mit Chauffeur erwartete uns, um uns Paris zu zeigen. Als der Chauffeur sagte, »Wir beginnen mit den Folies Bergères«, war meine Mutter unverkennbar überrascht. »Richard, hast du den Verstand verloren?« »Ein paar nackte Tittchen werden die Jungen schon nicht schockieren. Roger ist ja fast sechzehn.«
»Aber Dirk ist erst zwölf.« »Im November werd ich dreizehn.« »Ganz abgesehen davon, dass es eine Geldverschwendung ist – « »Es ist ein Geschenk des französischen Psychiaters, dem ich gestern aus der Klemme geholfen habe.« Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob das stimmte. Als wir in die Folies Bergères kamen und ich ein Dutzend barbrüstiger französischer Amazonen auf die Bühne staksen sah, vergaß ich alles – die Last, die Jills Geheimnis für mich bedeutete, und die Melancholie, die mit der Erkenntnis einhergeht, dass es so etwas wie Erwachsene nicht gibt, Eltern eingeschlossen. Die Mädchen waren nahezu nackt. Der Kellner schenkte Champagner ein. Ich war viel zu aufgekratzt, um zu bemerken, dass der Saalchef den häss-lichen Amerikanern den Tisch gleich neben den Toiletten gegeben hatte, und mein Doppelagenten-Status quälte mich nicht mehr. Ich war James Bond. Auf einmal stand mein Bruder auf und brach in Tränen aus. »Ich will heim.« Seine Reaktion ist mir noch immer rätselhaft. Hatte mein Vater eine Bemerkung über die marrons glacés fallen lassen, die Roger bestellt hatte? Ein Anfall von Heimweh? War Roger überwältigt von dem, was mein Vater von einem richtigen Mann erwartete? Oder hing es damit zusammen,
dass das Star-Revuegirl Brüste hatte, die allzu sehr seinen eigenen glichen? »Richard, lass die Rechnung kommen. Wir bringen die Jungen nach Hause.« »Wir sind eben erst gekommen«, sagte mein Vater. »Roger und ich gehen.« »Aber das ist unser letzter Abend in Paris.« »Roger, komm mit. Wir warten im Wagen auf euch.« »Ich habe meinen Champagner noch nicht ausgetrunken.« »Den kannst du allein austrinken.« So hatte ich meine Eltern noch nie streiten sehen. »Genau. Das werde ich auch tun.« »Komm schon, Dirk. Es wird jetzt nicht herumgetrödelt.« Meine Mutter und Roger strebten schon dem Ausgang zu. »Ich bleibe hier. Bei Dad.« »Ich bin ja so enttäuscht von euch beiden.« Also, irgendwie tat Roger mir schon leid, andererseits – ein Junge, der mit seinem Vater und einer Schar fast nackter Damen einen Abend in Paris verbringt, das hatte etwas, das fühlte sich wie Weihnachten an. Ich konnte es nicht in Worte fassen, aber mein Vater brachte meine Gedanken genau auf den Punkt, als er mir einen Arm um die Schul-
tern legte und zwinkernd sagte: »Gar nicht zu verachten, was, mein Sohn?« Als Nächstes ging's ins Crazy Horse. Nach den Folies Bergères wusste ich, dass dort kein dressiertes Pferd auftrat. Und vom Crazy Horse zogen wir in ein Etablissement, das sich Club Cheyenne nannte und wo die Mädchen wie Pocahontas angezogen auftraten, bevor sie sich auszogen. Wie die nächsten Schuppen hießen, weiß ich nicht mehr, nur dass es in jedem ein bisschen räudiger und nackiger zuging als im letzten. Und in jedem Laden wurden wir freigehalten, Dad mit Champagner und ich mit Coca-Cola. Als unsere Strip-Club-Expedition beendet war, erlebte ich meinen Vater zum ersten und letzten Mal betrunken, und ich war heller wach als je zuvor in meinem Leben. Als wir ins Hotel zurückkamen, saß Roger zu meinem Erstaunen mit offenen Augen im Bett. Er hatte seinen Thesaurus auf den Knien und bereicherte seinen Wortschatz. »Wie war's denn so mit Dad?«, fragte er. »Da hast du nicht viel verpasst.« Dass ich lügen muss-te, wenn ich freundlich sein wollte, machte mich traurig. »Ich hab ein Geschenk für dich.« Als er mir eine Dose mit Munition für das Luftgewehr übergab, verspürte ich keinerlei Lust herumzuballern, nur doppelt so heftige Gewissensbisse. »Willst du's jetzt mal ausprobieren?«, fragte mein Bruder. »Klar.« Wir öffneten die Fenstertür und tra-
ten auf den Balkon. Roger lud das Luftgewehr und reichte es mir. »Erst du.« Das hatte ich zu meinem Bruder noch nie gesagt. Roger richtete den Lauf hoch über die Dächer, zielte auf den Eiffelturm und drückte ab. Der Knall hallte, durch den Innenhof des Hotels verstärkt, wie ein richtiger Gewehrschuss durch die Nacht. In den Hotelzimmern gegenüber gingen Lichter an. Verschlafene Gäste traten auf ihre Balkons hinaus. Der Nacht-Concierge traf gleichzeitig mit meinen Eltern in unserem Zimmer ein. »Wer war das?«, verlangte meine Mutter zu erfahren. »Ich.« Das war das Mindeste, was ich für Roger tun konnte. Wäre ich bestraft worden, hätten mein Bruder und ich womöglich doch noch Freunde werden können. Indem mein Vater aber nun, so herrlich eigensinnig wie er war, dröhnend loslachte, als wäre etwas unglaublich Komisches passiert, ließ er die Kluft zwischen Roger und mir unüberbrückbar werden. Ich hatte meinen Bruder um seinen Akt der Rebellion betrogen. Am nächsten Morgen fand ich meinen Vater im Frühstücksraum vor, wo er mit einer Flasche Perrier und einem Espresso gegen seinen Kater anging. Meine Mutter war also noch auf ihn wütend, sonst hätte er dort nicht allein gesessen. Als ich mich mit meinem Croissant und meiner Tasse Chocolat chaud neben ihn setzte, blickte er zu mir
herüber und fragte: »Was meinst du – bin ich ein schlechter Kerl?« Da er der einzige Vater war, den ich hatte, sagte ich zu ihm: »Du bist der Beste.«
DUMONT SPEICHER MARCEL BEYER Vergeßt mich. Erzählung. Originalausgabe. Etwa 64 Seiten. JOHN VON DÜFFEL Hotel Angst. Erzählung. Originalausgabe. Etwa 112 Seiten. JULIA FRANCK Mir nichts, dir nichts. Drei Erzählungen. Etwa 64 Seiten. MICHEL HOUELLEBECQ Lebendig bleiben. Deutschsprachige Erstausgabe. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Etwa 64 Seiten. JAN KONEFFKE Abschiedsnovelle. Originalausgabe. Etwa 112 Seiten. JUDITH KUCKART Dorfschönheit. Erzählung. Etwa 96 Seiten. ANDREA LEE Mailänder Nächte. Zwei Erzählungen. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Etwa 96 Seiten. DAVID MEANS Das Nest. Drei Storys. Deutschsprachige Erstausgabe. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Etwa 72 Seiten. HARUKI MURAKAMI Frosch rettet Tokyo. Drei Erzählungen. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Etwa 96 Seiten. CLAUDE SIMON Das Haar der Berenike. Erzählung. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Etwa 64 Seiten. ARNOLD STADLER Ausflug nach Afrika. Erzählung. Etwa 96 Seiten. DIRK WITTENBORN Bongo Europa. Memoiren eines zwölfjährigen Sexbesessenen. Erzählung. Originalausgabe.