Blutspuk in Venedig
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 171 von Jason Dark, erschienen am 27.06.1995, Titelbild: Richar...
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Blutspuk in Venedig
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 171 von Jason Dark, erschienen am 27.06.1995, Titelbild: Richard Newton
Der Popstar Rock Paretti hatte sich einen Traum erfüllt und einen alten Palazzo in Venedig gekauft. Nur paßte das den Mächten der Finsternis nicht. Die erste Warnung erreichte Paretti mit der Post. Die Worte waren mit Blut geschrieben. Als zweite Warnung fand man Rocks Sekretär tot und gesichtslos im schmutzigen Wasser des Canale Grande treibend. Von nun an wurde es ein Fall für Suko und mich. Wir düsten in die Lagunenstadt, wo wir nicht nur eine rätselhafte Frau kennenlernten, sondern auch den Blutspuk von Venedig am eigenen Leib erlebten...
»Wieviel Fanpost ist heute eingetroffen?« Sid Arnos schaute hoch. Wie immer hatte Rock Paretti sehr kalt, arrogant und unpersönlich gesprochen. Es war eben seine Art, Menschen auf diese Art und Weise zu behandeln. Er war der Star, und solange er gut zahlte, war es Sid Arnos, dem Sekretär, egal, wie man ihn ansprach. »Drei Briefe, Rock!« »Was?« Paretti blieb stehen, als hätte ihn der plötzliche Anblick deiner Person geschockt. »Drei nur?« »So ist es.« »Scheiße!« Paretti hob die Arme und spreizte die Finger. Er bewegte sie, als wollte er in der Luft auf dem Klavier spielen. »Das muß sich ändern, Sid, verstehst du?« »Sicher.« Paretti blickte Arnos starr an. »Sieh zu, daß du eine Kampagne anlaufen läßt. Laß dir was einfallen! Ich muß wieder in die Presse. Ich brauche Öffentlichkeit. Ich brauche alles. Printmedien, TV«, er holte Luft und suchte dabei nach Worten. »Ich brauche auch Skandale. Nicht zu große, nicht zu kleine. Dinge, die in der Mitte stehen, die man einem Mann wie mir verzeiht, weil ich eben ein Star bin. Laß dir was einfallen, Sid, und zwar schnell.« »Das wird schwer sein.« »Weiß ich, aber ich bezahle dich gut. Ich habe meine Ideen auf dem Klavier und im Studio. Du bist doch derjenige, der den Kontakt zu den Medien hält – oder?« Arnos nickte. Er schaute dabei auf die Tür, die zu Parettis Büro führte. Sie hatten die beiden Räume nahe des Piccadilly gemietet, um irgendwelche Verhandlungen nicht in Hotels führen zu müssen. »Warum sagst du nichts?« »Ich denke nach, Rock.« »Schön. Und wie sieht der Erfolg aus?« »Es gibt ihn noch nicht.« »Ach ja?« »Mir ist da eine Idee gekommen, aus der man vielleicht etwas machen könnte!« Paretti fand seinen Platz zwischen zwei Fenstern. Er baute sich dort auf und berührte mit dem Rücken die Wand. »Ich höre, Sid.« »Du hast doch den Palazzo gekauft.« »Ja.« »Daraus könnte man was machen.« »Was?« Der Sekretär hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber mir wird schon etwas einfallen, wenn ich nach Venedig fliege.« Paretti lachte kalt. »Dort willst du hin?«
»Sollte ich doch.« »Ach ja, stimmt. Jemand muß die Renovierungsarbeiten überwachen.« Der Rockstar nickte. »Nicht schlecht. Wann wolltest du fliegen?« »Morgen.« »Auch gut. Und weiter?« »Ich habe mir gedacht, daß wir den Kauf medienwirksam in Szene setzen. Großer Rockstar kauft kreative Stätte in Venedig. Fühlt sich der europäischen Kultur und Geschichte verbunden. Moderne Topmusik inmitten alter Mauern. Könnte dir das gefallen? Es ist nur eine erste Idee gewesen, und du weißt selbst, wie oft man sie umwirft, aber eine Basis hätten wir damit schon. Außerdem solltest du, wenn du hinziehst, eine große Einweihungsfete geben und dabei nicht nur Typen aus der Szene einladen, sondern auch die Vertreter der Medien. Mädchen werden auch genügend kommen, so daß eigentlich alles seinen normalen Weg gehen kann. Ist ein Vorschlag, Rock.« Paretti nickte. Dieses Nicken kam bei Sid Arnos gut an. Er war ja froh, daß sein Chef nicht tobte, denn so etwas passierte leicht, wenn ihm etwas nicht paßte. Für seine Wutausbrüche war Rock Paretti berühmt und berüchtigt. Diesmal krauste er nur die Stirn, strich über sein glattes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. »Könnte was werden.« »Danke, Rock.« »Wozu?« »Daß du es nicht abgelehnt hast. Du wirst übrigens in der nächsten Woche schon einziehen können, die Arbeiten gehen zügig voran.« »Woher weißt du das?« »Ein Bekannter von mir hält sich in Venedig auf. Ich habe ihn gebeten, mal nachzuschauen. Er meinte, daß alles okay wäre.« »Ja. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Du wirst selbst hinfliegen und dich umschauen.« Paretti deutete mit dem Zeigefinger auf Sid Arnos. »Und zwar morgen.« »Das Ticket ist bereits reserviert.« Der Rockstar lachte. »Weißt du was, Sid? Manchmal wirst du mir direkt unheimlich.« Der Sekretär lächelte. »Was heißt unheimlich? Ich bin es eben gewohnt, mitzudenken.« »So kann man es auch sehen.« Paretti löste sich von seinem Platz und wanderte auf seine Bürotür zu. »Gibt es noch irgend etwas, das ich wissen müßte?« »Jaaa…« Arnos dehnte die Antwort. »Da wäre noch was.« »Und?« »Ein vierter Brief.«
»Wie toll.« Parettis Lachen klang kalt. »Ein kleiner Hoffnungsschimmer der Fans?« »Das denke ich nicht.« Sid Arnos hob einen braunbeigen, neutral aussehenden Umschlag hoch, der bisher auf dem Schreibtisch gelegen hatte. »Das ist er.« »Von wem?« »Es gibt keinen Absender.« Der Rockstar verengte die Augen. »Eine Briefbombe?!« Nun trat er sicherheitshalber einen Schritt zurück. »Nein, das glaube ich nicht.« »Was macht dich so sicher?« »Mein Gefühl.« Paretti schaute seinen Mitarbeiter an und grinste. »Briefbomben«, so erklärte er, »sind sehr wirkungsvoll, doch in ihnen steckt nie soviel Sprengkraft, daß sie alles in einem Zimmer zerstören. Deshalb werde ich jetzt in mein Büro gehen und dich diesen Brief öffnen lassen, Sid. Du brauchst es nicht, wenn du es nicht willst. Du kannst ihn auch den Bullen übergeben, die haben Spezialisten dafür. Ich überlasse es dir. Nur bin ich neugierig und möchte wissen, wer mir da geschrieben hat.« »Kannst du alles erfahren.« »Dann öffne den Umschlag, aber erst, wenn ich in meinem Büro verschwunden bin.« Sid Arnos nickte. Er schaute kopfschüttelnd zu, wie sein Chef das Vorzimmer verließ. Für ihn war Paretti ein Idiot. Der glaubte natürlich an eine Briefbombe oder an einen vergifteten Brief. Das tat Sid Arnos nicht. Rock Paretti hatte zwar nicht nur Freunde – wer hatte die schon im Showgeschäft? – , aber daß ihn jemand auf diese Art und Weise in die Luft jagen wollte, war sicherlich abwegig. Der Umschlag hatte die doppelte Größe eines normalen Briefes. Arnos nahm einen Öffner, schlitzte das Papier auf, und für einen Moment beschleunigte sich sein Herzschlag. Da war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, aber seine negativen Gedanken gingen vorbei, er griff in den Umschlag hinein und holte den Brief hervor. Nun faltete er den Briefbogen auseinander. Plötzlich saß er starr. Sid Arnos wußte augenblicklich, daß die Nachricht nicht mit roter Tinte geschrieben worden war. Das war… das mußte… verdammt, das konnte nur Blut sein! Er kam zu keinen langen Überlegungen, denn Rock Paretti öffnete die Tür seines Zimmers und schaute herein. Da nichts passiert war, betrat er den Raum. Arnos saß noch immer auf dem Stuhl wie festgenagelt. Er nahm seinen Chef erst zur Kenntnis, als dieser direkt neben dem Schreibtisch stehenblieb. »Na, was ist?«
»Der Brief.« »Und?« »Keine Bombe.« »Wie schön für uns.« Arnos hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es so schön ist«, murmelte er. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dieser Brief nicht mit roter Tinte, sondern mit Blut geschrieben worden. Vielleicht sogar mit dem Blut eines Menschen, Rock.« »Gib ihn her!« Parettis Stimme zitterte. Er riß das Blatt förmlich an sich, las und wurde blaß. Arnos beobachtete ihn dabei. Er sah den Schweiß auf Parettis Stirn und bekam auch mit, wie der Mann seine Lippen bewegte. Mit tonloser Stimme las er den Text halblaut vor. »Wenn Du den Palazzo beziehst, wirst Du ein Opfer des Blutspuks werden. Kein Fremder kann ihm entkommen. Also hüte Dich…« Der Text trug natürlich keine Unterschrift. Die Hand mit dem Papier sank langsam nach unten. Paretti schluckte. Er saugte die Luft scharf durch die Nase ein, suchte nach Worten, hatte sie endlich gefunden und fragte mit leiser Stimme: »Was sagst du dazu, Sid?« »Keine Ahnung.« »Ist das echt?« »Wir sollten davon ausgehen.« Paretti überlegte. Urplötzlich lachte er auf. »Verdammt«, sagte er und rannte durch den Raum. »Das ist ein Hammer. Das ist ja der Hammer überhaupt! Das nutzen wir als PR-Meldung, da brauchen wir uns nichts auszudenken. Das machen wir publik. Jemand hat mir einen Brief geschickt. Jemand will nicht, daß ich in den Palazzo einziehe. Man stemmt sich dagegen. Man schickt mir eine schriftliche Warnung, mit Blut geschrieben! Das ist es doch, was wir brauchen, Sid.« Er schlug Arnos auf die rechte Schulter. »Na? Was sagst du dazu? Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Behalte deine Gedanken und deine Kreativität für dich. Du fliegst nach Venedig, während ich hier für die entsprechende Presse sorge.« Sid Arnos war nicht wohl. Sicherheitshalber fragte er nach. »Ich soll also nach Venedig fliegen und mich um den Palazzo kümmern?« »Wie besprochen.« Er deutete auf den Brief. »Trotz der Drohung?« »Klar – klar doch. Das schlachten wir aus. Zudem wollen diese Schreiber oder dieser Schreiber ja nichts von dir, sondern von mir. Du bist außen vor, mein Freund.« »Meinst du?« »Immer.« Paretti nahm eine Wanderung auf. Er war plötzlich in Form, sah Licht am Ende des Tunnels und brauchte für die Werbung nicht mal
etwas zu zahlen. »Das wird eine Sache«, flüsterte er, »die ziehen wir durch und kommen groß raus…« Ja, als Leichen, dachte Arnos und schüttelte sich… *** Venedig! Eine Stadt wie ein Traum, eine Stadt wie ein Alptraum und manchmal wie der personifizierte Untergang des Landes Italien, das von einer Krise in die nächste stürzte. Und doch – Venedig lebte. Es ging immer weiter, nicht nur mit Italien, auch mit Venedig, wo die Menschen im und mit dem Wasser lebten. Sie gaben nie auf. Trotzig restaurierten sie ihre Paläste oder feierten rauschende Feste, besonders zu Zeiten des Karnevals. Noch immer gehörte Venedig zu den bevorzugten Reisezielen, überströmt von Touristen, die im Frühjahr und im Sommer einfielen wie die Heuschrecken und die Stadt unter Streß setzten. Das änderte sich in den Wintermonaten. Da atmete das holde Venezia auf und verfiel gleichzeitig in eine Agonie, die Stadt und Bewohner als Wohltat empfanden. Die wenigen Touristen verliefen sich. Und diejenigen, die kamen, begrüßte man gern, denn sie paßten sich dem Lebensrhythmus der Einheimischen an. Sie genossen die Kühle, den Nebel, das Wasser, den Dunst. Die besondere Melancholie, die nicht nur auf der Friedhofsinsel San Michele zu Hause war. An all die besinnlichen Schönheiten der Stadt dachte ein Mann wie Sid Arnos nicht, als er in Mestre aus dem Jet stieg und feststellen mußte, daß sich die Sonne aus dieser Region zurückgezogen hatte. Es war ebenso kühl wie in London, und er stellte den Kragen seines Mantels hoch. Noch befand sich Arnos nicht in der Stadt. Er wollte vom Flughafen mit dem Zug hineinfahren und sich anschließend ein Wassertaxi nehmen, um zu seinem Ziel zu gelangen. Zuvor brauchte er einen Kaffee. Er fand einen Platz an einer offenen Bar, bestellte den Espresso, der sehr heiß war, blies gegen die Oberfläche und schaute dabei sinnierend ins Leere. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Er verfluchte seinen Job, er verfluchte Paretti, der selbst zu feige gewesen war, in die Stadt zu fliegen, wo er sich einen Palazzo gekauft hatte. Sid Arnos wußte, daß er nicht mal sehr viel Geld dafür hatte bezahlen müssen. Er war relativ preiswert gewesen, und die Renovierung der Zimmer stand heute vor dem Abschluß. Rock Paretti hätte praktisch einziehen können. Da war die Warnung gekommen.
Wenn er einzog, würde er ein Opfer des Blutspuks werden. Obwohl diese Zeilen an Paretti gerichtet gewesen waren, wollten sie Sid Arnos nicht aus dem Kopf. Schließlich arbeitete er für Paretti. Er war gewissermaßen sein Vertrauter, und er konnte sich vorstellen, daß dieser Blutspuk nicht nur dem Besitzer galt, sondern auch ihm. Genau dieses Denken drängte die Furcht in ihm hoch. Er bestellte einen zweiten Espresso, um die Kälte in seinem Innern zu vertreiben. Mochte das Gebräu noch so heiß sein, es konnte das Gefühl der Angst nicht unterdrücken, das sich auch in den dunklen Augen des Mannes festgesetzt hatte. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, konnte er sich in einem Wandspiegel betrachten, und er glaubte, die Angst zu sehen, die wie ein Schatten auf seinem Gesicht lag. Er schluckte, wischte über seine Stirn und stellte fest, daß seine Hände zitterten. Er war ein hochgewachsener Mensch mit dunkelblonden Haaren. Sie waren zurückgekämmt, die Stirn lag also frei, und seit seiner Geburt schon – so hatten es ihm die Eltern berichtet – lagen dünne Falten auf der Haut, so daß er immer sehr nachdenklich und auch älter wirkte, als er tatsächlich war. Eine gerade Nase, Augenbrauen wie dünne Striche vervollständigten den Gesichtsausdruck. Er trug legere, aber teure Kleidung. Einen braunen Mantel, ein braun und beige gemustertes Kaschmirjackett, dazu eine ebenfalls dunkle Hose und ein Hemd mit feinen Streifen, zu dem die bunte Krawatte einen nicht zu starken Kontrast bildete. Arnos schaute sich um. Es war kein Verfolger zu sehen. Trotzdem glaubte er, verfolgt zu werden. Das jedoch spielte sich ausschließlich in seinem Kopf ab. Die Realität sah dagegen anders aus. Er bildete sich den Verfolger ein, und er hatte für ihn auch einen Namen gefunden. Es war der Blutspuk! Verrückt, dumm, irreal. Ein Blutspuk konnte nicht verfolgen. Er war nicht konkret, trotzdem wollte ihn dieser Name nicht loslassen. Er war ein Begriff des Grauens, des kalten Horrors, und dickte das Blut in seinen Adern zu Eis an. Der Keeper nickte ihm zu. Außer Arnos saß noch eine ältere Frau an der Bar. Sie las in einem Magazin. »Ich möchte bezahlen.« »Gern.« »Ist immer so wenig los?« Arnos reichte dem Mann das Geld. »Nein, aber im Winter stehe ich mir manchmal schon die Beine in den Bauch.« »Bis auf den Karneval – oder?« »Si, das stimmt.« Arnos verzichtete auf das Wechselgeld. »Dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen.«
»Genießen Sie die Stadt, Signore. Sie haben die Chance.« »Ich werde mein Bestes tun.« Knapp eine halbe Stunde später saß Sid Arnos im Zug, der ihn in die Stadt brachte. Sie mußten über den Brückendamm fahren, der Ponte della Ferrovia hieß. Zu beiden Seiten schimmerte trüb und grau das Wasser der Lagune. Ein leichter Wind strich darüber hinweg und zeigte auf der Oberfläche die kräuselnde Unruhe der Wellen. Der Zug rollte in den Sackbahnhof, an dessen Ostseite der Kanal die Grenze bildete. Viel Gepäck hatte Arnos nicht mitgenommen. Er stieg aus, und die Luft war noch feuchter und klammer geworden. Über der Stadt lag ein Dunst wie der Atem gewaltiger Kessel, die ihren Dampf abgelassen hatten. Arnos verließ den Bahnhof, ging die paar Schritte zum Kai und kam sich für einen Moment verloren vor, als er über den breiten Kanal hinwegschaute, gegen die geballte Wucht des Häusermeeres, durch das die vielen Wasseradern liefen, als wäre die Stadt ein pochendes, pulsierendes Herz, das mit Blut versorgt werden mußte. Möwen segelten durch die Luft. Selbst sie wirkten müde und traurig, als hätten sie ebenfalls das Kleid des Monats November übergestreift. Die Stimmen der Menschen klangen gedämpft, und das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern hörte sich an wie verhaltener Beifall. Arnos machte sich auf die Suche nach einem Boot. Weit brauchte er nicht zu laufen. An der Anlegestelle warteten die Wassertaxis. Ihre Fahrer hatten nicht viel zu tun. Wer nicht gerade unterwegs war, unterhielt sich mit seinem Kollegen, rauchte, las auch hin und wieder in irgendwelchen Zeitungen oder hatte die Hände tief in den Taschen der wärmenden Jacke vergraben. In der Nähe schaukelten einige Gondeln auf den trüben Wellen. Sie sahen aus, als wären sie verlassen worden, um irgendwann unterzugehen. Kein Hauch einer romantischen Gondelfahrt durchzog die Gewässer. Venedig trauerte, was sich auch auf die Geräuschkulisse bezog, denn sie klang dumpf und irgendwie fern, als wäre sie hinter einem dünnen Vorhang verborgen. Andere Reisende waren schon mit ihren Wassertaxis losgefahren. Als letzter trat Arnos an den Stand der Wassertaxis heran. »Bon giorno, Signore, wohin?« »Palazzo Ferrini.« »Ah, das ist am Canale Grande.« »Si.« »Steigen Sie ein.« Arnos stieg in das Boot. Er spürte die leicht schwankenden Planken unter seinen Füßen. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Für einen Moment stand er im Dunkeln. Er fror, er ergab sich seinen Gedanken. Er
wußte, daß der Schlüssel zum Portal des Palazzo in seiner Tasche steckte, und er merkte, wie die Angst wuchs. Sie nahm immer dann zu, wenn er an den Palazzo dachte. Was erwartete ihn dort? Der Tod? Der Blutspuk? Beides konnte er sich nicht vorstellen, und doch hätte er sich nicht gewundert, wenn der Tod als monströses Skelett wie ein Schatten über dem Häusermeer dahingeschwebt wäre. Venedig liegt im Sterben, dachte er, und auf mich wartet der Blutspuk… *** Der Palazzo Ferrini! Ein altes Gebäude, das bereits große Zeiten erlebt hatte, als die Dogen von Venedig noch zu den Herrschern des Mittelmeeres gehörten und auch die Familie Ferrini in ihrem Palazzo große Feste gefeiert hatte. Doch diese Zeiten waren vorbei. Das herrschaftliche Haus am Canale Grande stand leer. Niemand wollte es mehr haben. Die Venezianer wehrten ab, wenn darauf die Sprache kam. Andere zuckten zusammen und bekreuzigten sich, wenn sie den Namen nur hörten, denn es gab Dinge, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. So blieb es nicht aus, daß der Palazzo verfiel, daß das salzige Wasser seine Furchen immer tiefer in die Außenhaut hineingrub und auch das prächtige Innere allmählich verfiel. Die herrlichen Räume, die jetzt leer standen. Die Decken mit ihren Fresken, die kunstvollen Malereien an den Wänden, die den Grauschleier der Spinnweben bekamen, all das zeugte vom Untergang dieses einst so prächtigen Bauwerks, das nicht weit von der weltberühmten Rialto-Brücke entfernt lag. Der Landesteg war noch vorhanden, sah allerdings ziemlich marode aus. »Wir sind da, Signore.« Sid Arnos nickte und betrachtete die Fassade. Nach einigen Sekunden hörte er das Lachen und die Frage des Fahrers. »Sieht nicht gerade gut aus, wie?« »Stimmt.« »Ich möchte hier nicht wohnen.« Arnos hob die Schultern. Er lauschte für einen Moment dem Plätschern der Wellen. »Manchmal kann das Äußere auch täuschen, wenn Sie verstehen.« »Si.« Der Mann stand da mit offenem Mund. Er zupfte an seiner dunkelblauen Pudelmütze und sagte: »Si, Sie haben recht. In meinem Job erfährt man so einiges. Wie ich hörte, ist der Palazzo renoviert worden. Ich habe auch Handwerker gesehen.« »Stimmt.«
Der Mann pfiff durch die Zähne. »Dann kann ich davon ausgehen, daß Sie damit zu tun haben? Weshalb hätten Sie sich sonst herfahren lassen?« »Nicht direkt. Ich will ihn mir nur einmal anschauen.« Arnos suchte nach Geld. »Nehmen Sie auch englische Pfund?« »Klar. Wo es mit unserer Währung so bergab geht.« »Ein Bekannter hat den Palazzo gekauft.« Der Fahrer staunte. »Ein Engländer?« »So ist es.« Das Lachen hallte in Sids Ohren wider. »Das… das… habe ich mir gedacht.« Der Mann zog die Nase hoch. »Wenn schon jemand das Ding kauft, kann es nur ein Ausländer sein.« »Warum?« Die dunklen Knopfaugen des Mannes starrten Sid Arnos an. »Schon gut, es war nur so dahingesagt.« Das glaubte Sid nicht. Er lächelte und holte eine weitere Banknote aus seiner Hosentasche. Das Geld würde dem Italiener schon die Zunge lockern, davon ging er aus. »Erzählen Sie mir, was Sie über den Bau hier wissen.« Er grinste müde. »Es bleibt ja unter uns.« »Das ist nicht viel.« »Ich bin auch für das Wenige dankbar.« Arnos drückte dem Mann das Geld in die rechte Hand. Der Fahrer schaute für einen Moment darauf, hob die Schultern. Dann ließ er die Scheine verschwinden. »Nun ja, man erzählt sich so allerhand.« »Und die Leute reden viel.« »Das können Sie sagen.« »Was spricht man denn so?« »Nun ja, schauen Sie sich um, Signore. Hier hat jedes Bauwerk seine Geschichten. Auch dieser Palazzo hier macht keine Ausnahme.« Er krempelte den Saum seiner Mütze höher. »Er heißt Palazzo Ferrini, und den Ferrinis sagt man gewisse Dinge nach.« »Welche denn?« »Weiß ich auch nicht genau. Es ist ein sehr altes Geschlecht. Man spricht von magischen Praktiken, von Alchimie und Zauberei. Dinge, die ins Mittelalter gehören.« Arnos gab dem Mann recht. »Aber trotzdem wird heutzutage darüber geredet, denke ich.« »Stimmt schon.« »Was ist dabei herausgekommen?« Der Mann stöhnte, als hätte er schon zuviel gesagt. »Nun ja, ich weiß nicht, wie viel Ihr Freund für das Haus bezahlt hat, aber sehr teuer kann es nicht gewesen sein.« »So etwas ist relativ. In der Tat ließ es sich bezahlen.« »Und das bei den Preisen hier!«
»Was wollen Sie damit andeuten?« »Daß die Einheimischen den Palazzo nicht kaufen wollten, obgleich er ihnen angeboten wurde.« »So meinen Sie das.« »Und so was läßt tief blicken.« Der Fahrer trat näher an seinen Gast heran. »Das Gebäude ist den Einheimischen unheimlich. Da ist etwas in ihm, mit dem sie nicht zurechtkommen, müssen Sie wissen. Aber fragen Sie mich nicht, was es genau ist. Ich kann Ihnen das nicht sagen. Es gibt Gerüchte, mehr nicht.« »Haben die auch einen Namen?« Der Angesprochene senkte den Kopf. »Kommen Sie, Mann! Jetzt haben Sie mir schon so viel gesagt, jetzt können Sie mir den Rest auch noch erzählen.« Der Fahrer nickte. »Die Gerüchte haben einen Namen. Man spricht von einem Blutspuk.« »Aha.« »Mehr sagen Sie nicht?« »Nein, warum?« »Aber es ist nicht einfach für Sie, darüber hinwegzugehen. Das bringt schon Probleme mit sich.« Sid Arnos grinste. »Falls man abergläubisch ist.« »Weiß ich nicht, ob man dazu abergläubisch sein muß. Doch das ist nicht mein Problem.« »Klar. Jedenfalls bedanke ich mich für die Auskünfte.« Arnos hatte genug gehört. Er wollte das Haus endlich von innen sehen. Das Boot hatte den Rand der Anlegestelle nicht verlassen. Träge schwappte das Wasser in dem Kanal, und das Boot schaukelte im selben Rhythmus, trotzdem war es für den Fahrgast leicht, trockenen Fußes auszusteigen. Arnos winkte seinem gesprächigen Fahrer zu, bevor er sich dem Haus zuwandte. Er konnte nicht behaupten, sich sehr wohl zu fühlen. Die Worte hatten ihn schon aufgewühlt. Er dachte immer wieder über sie nach, während das Boot davonfuhr. Arnos kam sich einsam vor in diesem vorwinterlichen Venedig. Der Himmel war eine Masse aus grauem Blei und ließ den Mann an die berüchtigten Bleikammern von Venedig denken, in die vor Jahrhunderten die Gefangenen hineingepfercht worden waren. Die Geschichte dieser Stadt konnte als äußerst wechselvoll bezeichnet werden. Es hatte gute und auch schlechte Zeiten gegeben, aber das interessierte ihn im Moment nicht, denn die Erzählungen des Mannes wollten ihm nicht aus dem Kopf. Man hätte darüber lächeln können. Daß Arnos es trotzdem nicht tat, lag allein daran, daß er an die schriftliche Warnung dachte, die sein Chef Rock Paretti erhalten hatte. Und die wollte keiner von ihnen auf die leichte Schulter nehmen. Schon jetzt
ärgerte er sich darüber, daß er überhaupt nach Venedig gefahren war, aber er dachte an seine Bezahlung. Sie war äußerst großzügig. Dafür nahm man schon so manchen Ärger in Kauf. Das Haus sah wirklich nicht besonders einladend aus. In den hohen Fenstern spiegelten sich die Wolken. Hineinschauen konnte man deshalb nicht. Über vielen Dächern breitete sich der Qualm wie zitternder Nebel aus. Er drang aus den zahlreichen Kaminen hervor, und der Geruch verteilte sich ebenfalls. Es roch nach Verfall, nach schmutzigem und brackigem Wasser, nach der Vergänglichkeit. Aber die Stadt hatte stets dem Untergang getrotzt. Sie würde es auch weiterhin tun. Die Eingangstür war sehr breit, auch relativ hoch, und auch an ihr hatte der Zahn der Zeit genagt. Grünspan bedeckte die Messingbeschläge. Sid Arnos würde hineingehen müssen. Er konnte sich nicht weigern. Er sollte Fotos machen. Sein Chef würde sie sehen wollen, und Sid Arnos hatte eine Gänsehaut bekommen. Er saugte die Luft durch die Nase ein. Das Panorama der Stadt lag in seinem Rücken. Vor ihm stand das Haus. Ein normaler Palazzo. Trotzdem hatte der Mann den Eindruck, als würde er an der Schwelle zu einem gewaltigen Grab stehen. Zu seinem Grab… *** Sid Arnos stand da, ohne sich zu bewegen. Er lauschte den Geräuschen der schweren Tür, die hinter ihm zufiel. Sie knarrte und schabte, sie jammerte, quietschte, als wäre sie ein alter Sargdeckel, den jemand nur mit großer Mühe bewegte. Und dann schlug sie mit einem dumpfen Geräusch ins Schloß. Wie der Eingang zu dem großen, kalten Grab, in dem der Tod seine Spuren hinterlassen hatte. Sid Arnos war ein wenig atemlos geworden. Er stand einfach da und staunte. Obwohl er seine unmittelbare Umgebung als schummerig ansehen mußte, waren die Fresken und Malereien doch gut zu erkennen. Die Farben kamen ihm vor, als würden sie leuchten, und der mit Marmor belegte Boden schimmerte an einigen Stellen wie ein Spiegel. Alles war sehr sauber und glatt, die Handwerker, die hier gearbeitet hatten, gehörten zu den Künstlern ihrer Branche. Sie hatten es verstanden, das Innere des Palazzo wie neu aussehen zu lassen, als wäre er soeben erst gebaut worden.
Sid Arnos schloß für einen Moment die Augen. Er gehörte zu den phantasiebegabten Menschen und konnte sich gut vorstellen, wie sich seine Umgebung in einen prächtigen Ballsaal verwandelte, gefüllt und besucht von festlich gekleideten Menschen, die nach den Klängen der Musik tanzten und ihre Reigen abschritten. Nur blieb das Bild nicht lange. Ein anderes schob sich darüber hinweg. Es war dunkler, grauer und gefährlicher. Auch düster und zugleich unheimlich. Die Wahrheit… Er sah sie, als er die Augen öffnete und mit einer langsamen Bewegung den kleinen Fotoapparat aus der Tasche holte. Sein Chef hatte es so gewünscht. Er wollte sich ein Bild von den leeren Räumen machen. Er würde die Aufnahmen vergrößern und selbst die Einrichtung hineinzeichnen. Dieser Palazzo würde wieder, wenn es nach Rock Paretti ging, seine alte Pracht erhalten, jedoch vermischt mit den Errungenschaften der modernen Unterhaltungselektronik. So würde es ein Studio geben, das direkt neben einem Raum stand, in dem die Zeit stehengeblieben war, zumindest was die spätere Einrichtung anging. Denn bei ihr sollte mit kostbaren Möbeln nicht gespart werden. Sid Arnos fotografierte. Er konzentrierte sich dabei so sehr auf seine Arbeit, daß das ungute Gefühl, das ihn bei seinem Eintreten überfallen hatte, zurückgedrängt wurde. Es gab ja nicht nur die eine große Halle. Eine Treppe führte hoch in die nächsten beiden Etagen, wo die anderen Räume durch breite Gänge miteinander verbunden waren. Allerdings war die Halle hinter der Tür der größte Raum, und ihre Decke mußte auch durch starke Säulen abgestützt werden. Sid Arnos verknipste drei Filme. Er hoffte, daß sie reichten, um Paretti die Möglichkeit zu geben, diesen Palazzo nach seinen Wünschen einzurichten. Es war kühl zwischen den noch nach Farbe riechenden Wänden. Es herrschte auch eine gewisse Feuchtigkeit vor. Hier mußte geheizt werden, doch die neue Anlage war noch nicht in Betrieb. Das würde sich bald ändern. Rock Paretti hatte es versprochen. Sids Job war im Prinzip getan, und es war nichts passiert. Genau in dem Augenblick, als er die Kamera wegsteckte, überfielen ihn wieder die Gedanken. Er nahm sie hin wie einen wuchtigen Stoß. Für einen Moment stand er unbeweglich, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Er holte tief Luft. Dabei hatte er das Gefühl, sie trinken zu müssen. Die mit Blut geschriebenen Worte der Warnung tanzten vor seinem geistigen Auge. Er sah sich wieder neben Parettis Schreibtisch stehen und über die Worte nachdenken. Da hatte er sie schon als schlimm empfunden, doch sie waren plötzlich wie Lanzen geworden, die durch seinen Kopf stachen. Schlimm und brutal. Er stand da, schaute nach vorn, ohne etwas zu sehen. Ihm fiel
ein, daß er sich in der ersten Etage befand. Er mußte die breite Treppe hinabgehen, um den Ausgang zu erreichen. Es war doch alles so einfach, er hatte den umgekehrten Weg auch geschafft, und doch gab es da etwas, das ihn daran hinderte. Furcht? Wenn ja, wovor! Sid Arnos überlegte. Sein Mund war trocken geworden. Wenn er schluckte, schmerzte sein Hals. Er runzelte die Stirn, fuhr mit zwei Fingern darüber hinweg, und als er auf seine Kuppen schaute, sah er den Schweiß, der dort zurückgeblieben war. Er gab zu, daß er vor Angst schwitzte. Wieder mußte er schlucken. Wieder brannte es in seiner Kehle, und er wollte sich unbedingt zusammenreißen. Er sagte sich, daß es dort einfach nichts gab, was ihm gefährlich werden konnte, aber er wollte sich selbst nicht glauben. Bin ich allein? Eine dumme Frage – zunächst. Wenig später kam sie ihm nicht mehr so dumm vor, da war er bereits damit beschäftigt, über sie nachzudenken. Er hätte allein sein müssen, er war es trotzdem nicht, auch wenn er nichts sah. Irgendwo lauerte etwas, wartete jemand. Etwas Unheimliches, etwas, mit dem er nicht zurechtkam, das eigentlich nicht menschlich war, sondern anders. Aber wie anders? Sid Arnos hatte nicht bemerkt, daß er den Raum bereits verlassen und sich der Treppe genähert hatte, wo er stehenblieb, eine Hand auf den Beginn des Geländers gelegt. Er schaute den geschwungenen Bogen mit den zahlreichen Stufen hinab, ohne allerdings das Ende der Treppe sehen zu können, weil sein Blickwinkel zu schlecht war. Stand da jemand? Groß genug war die Halle ja, nur hörte er nichts. Die Stille lag dort unten wie eine Mauer. Sie wartete auf ihn, denn sie wußte ja, daß er sie durchqueren mußte. Arnos räusperte sich die Kehle frei. Er biß die Zähne zusammen, er preßte die Lippen aufeinander, und durch die Nase holte er Luft. Okay, dachte er, okay, ich muß es packen. Ich darf mich nicht benehmen wie eine Memme. Da unten war nichts, da unten ist nichts. Nur die leere Halle. Niemand hat sie betreten. Ich bilde mir da etwas ein, ich mache mich selbst verrückt, und das will ich nicht mehr, verdammt noch mal! Er gab sich einen Ruck und wunderte sich selbst darüber, wie schnell er die ersten drei Stufen hinter sich gelassen hatte. Seine rechte Hand lag noch immer auf dem Geländer, sie rutschte auch weiter, als er die nächsten Stufen hinabging, und er merkte, wie es in seinem Kopf anfing zu bohren.
Er ging, er schlich. Sein Herz hämmerte. Die Schläge kamen ihm lauter vor als gewöhnlich. Er schaute zu Boden und sah die Stufen vor seinen Augen tanzen. Alles ist normal, alles ist gut. Ich bilde mir die Dinge nur ein, ich mache mir selbst etwas vor. Es liegt einzig und allein an dieser feuchtstickigen Atmosphäre, die mich umgibt. Ich kenne sie nicht so, deshalb reagiere ich so komisch. Sein Blick streifte bereits durch die Halle. Sie war tatsächlich leer. Seltsamerweise beruhigte ihn das nicht, und er blieb am Ende der Rundung stehen, überlegend, die Stirn dabei gekraust, und in diesem Augenblick dachte er wieder an die schriftliche Warnung, die seinen Chef erreicht hatte. Obwohl er das Papier nicht in der Hand hielt, flimmerte die Schrift vor seinen Augen. Er sah sie deutlich vor sich. Jedes Wort, jeden einzelnen Buchstaben, wie in einer Reihe aufgestellte Brandmale leuchteten sie. Rot und grell. Sie verschwanden wieder. Seine Furcht aber blieb. Sie war konkret geworden. Es war einzig und allein die Furcht vor der Halle am Ende der Treppe, obwohl dort keiner auf ihn wartete, der ihm ans Leben wollte. Und doch hatte sich etwas verändert. Seine Augen bewegten sich, sein Blick war unruhig geworden. Auf der Stirn schimmerten Schweißperlen, und er brauchte einige Sekunden, um festzustellen, was sich da unten verändert hatte. Es war Zeit vergangen, in der er fotografiert hatte. Bei dieser Arbeit war die Zeit bedeutungslos geworden. Nun aber kehrte sie sichtbar zurück, und er konnte genau sehen, was sich in der Halle verändert hatte. Durch die Fenster waren die Schatten gekrochen und hatten sich wie hauchdünne Teppiche auf dem Marmorboden verteilt. Sie sahen staubig aus, sie wirkten bleich trotz der grauen Farbe. Sie waren einfach normal, denn jeden Tag würde das gleiche geschehen. Dennoch kam es ihm hier anders vor. Er ging weiter. Unten lag die Halle. Der Boden schimmerte nicht mehr blank, sondern düster. Er war für Sid Arnos zu einem See geworden, unter dessen Oberfläche das Verderben lauerte. Schritt für Schritt bewegte er sich weiter. Er hörte unter seinen Füßen das leise Schaben, wenn er die blanken Stufen berührte, doch das machte ihm nichts mehr aus. Es gehörte einfach dazu. Es war nicht fremd, obwohl es ihm so vorkam. Ich muß mich von diesem verdammten Druck befreien, verflucht noch mal! Sid gab sich einen Ruck.
Er ging jetzt schneller. Die Stufen kamen ihm weich vor, als wären sie dabei, sich aufzulösen. Die letzten lagen bereits im Schatten, so hatte er den Eindruck, ins Leere zu treten. Schließlich stand er in der Halle und mußte feststellen, daß nichts passiert war. Er war allein. Tatsächlich allein? Mit der Hand wischte er durch sein Gesicht. Als er auf die Fläche schaute, war sie naß. Angstschweiß… Nur gab es keinen Grund! Oder doch? In seinem Innern wechselten sich die Fragen ab. Er wollte sich beruhigen, aber sofort war seine Psyche dabei, dies in Frage zu stellen. Sie hielt immer ein Gegenargument bereit, und das war es, was ihn mürbe machte. Dieses verdammte zweite Ich oder was immer es sein mochte. Die Halle kam ihm unheimlich vor. Sie schien in der letzten Zeit gewachsen zu sein. Die Entfernung zur Tür kam ihm viel länger vor als noch bei seinem Eintritt. Alles hatte sich verändert. Die Perspektiven waren völlig fremd für ihn geworden, und die beiden Säulen sah er an wie mächtige Beine eines vorsintflutlichen Ungeheuers. Der Mund war noch immer trocken. In den Knien spürte er das Zittern. Die Luft war feucht und schleimig. Sie klebte in seinem Gesicht, und der Geruch nach Farbe hatte zugenommen. Er ging zur Tür. Links an der Säule mußte er vorbei. Die ersten Schritte legte er normal zurück, dann hatte er die Säule erreicht und blieb stehen. Er wunderte sich selbst darüber, weshalb er nicht weiterging, aber irgendwie hatte er das Gefühl, an einer Grenze zu stehen. Er hatte etwas erreicht, das es gab, das aber nicht zu sehen war. Eine unsichtbare Linie. Das Limit! Für ihn? Nur für ihn allein? Lauerte diese Kraft, diese Macht hier in der Halle? Sid Arnos schaffte es, sich auf die Stille zu konzentrieren. Er lauschte in sie hinein. Sie war da, aber sie lebte. Der Vergleich schoß plötzlich durch seinen Kopf. Sie lebte, das wußte er und dachte gleichzeitig darüber nach, ob es überhaupt eine lebende Stille gab. Eigentlich nicht. Das war alles Unsinn. Eine Stille war still, wie schon das Wort sagte. Aber warum kam sie ihm anders vor? Er fand keinen Grund, ging und kam aber nur einen Schritt weit. Da spürte er den Hauch! Er war kalt, er war eisig, als wäre irgendwo eine Luke geöffnet worden, um die eisige Luft in die Halle zu lassen. Er konnte diesen Hauch nicht
begreifen, die Fenster waren zu, die Tür ebenfalls, und trotzdem hatte er ihn erwischt. Sid drehte seinen Kopf nach links. Er schaute die Säule an. Neben ihr bewegte sich etwas. Ein Schatten. Und dann sah er die Maske! *** Der Mann aus London war nicht in der Lage, sich zu bewegen, auch wenn er es gewollt hätte. Dieser Anblick hatte ihn geschockt, er war wie ein Volltreffer gewesen, denn für das Auftauchen der Maske gab es keine logische Erklärung. Sie schwebte etwa in Kopfhöhe über dem Boden und hatte ihren Weg um die Säule herum beendet. Arnos versuchte, sich das Aussehen der Maske einzuprägen. Er überlegte auch, mit wem oder was er sie vergleichen konnte, aber er kam zu keinem Ergebnis. Nur das Wort Karneval schoß ihm durch den Kopf. Ja, Karneval in Venedig. Dafür war die Stadt berühmt. Da wurde gefeiert, da versteckte man sich hinter Masken, um sich endlich einmal so geben zu können, wie man es im normalen Leben nicht durfte. Doch es war keine fröhliche, keine bunte Maske. Sie glich eher der eines Toten. Sie schimmerte dunkel und hell zugleich. Sie konnte aus Metall, aber auch aus Porzellan bestehen, und ihr Ausdruck war mehr als traurig. Eine glatte Stirn, unter der sich die beiden leeren Augenhöhlen verteilten. Darin schimmerte eine böse, unheimliche Schwärze, die Angst machen konnte. Die Nase war relativ lang. Sie begann dicht unter der Stirn sehr schmal, nahm aber später an Breite zu, so daß sie an ihrem Ende sehr flach wirkte. Rechts und links der Nasenlöcher begannen zwei gekrümmte, starre Falten, die in das Gesicht einschnitten und erst in Höhe des weich wirkenden Kinns zusammenliefen. Zwischen Nase und Kinn aber befand sich der Mund. Welch ein Mund! Lippen, die nicht zusammenlagen. Eine breite, verzogene, geschwungene Öffnung. Ein Mund, der aussah wie der eines Trauernden, der jeden Augenblick anfangen wollte zu zucken, weil zugleich Tränen aus den Augen nach unten kullerten. Der Mund war traurig, aber auch bösartig. Er stand offen, war jedoch verzogen, als wollten sich die Rundungen zum Kinn hinwenden. Und das war nicht alles. Im leeren Raum zwischen den Lippen, wo die gleiche Düsternis lauerte wie in den Augen, steckte quer der Stiel einer Rose. Sie wurde von der
nach oben weisenden Unterlippe gehalten, und die Blume selbst öffnete ihren Kelch an der linken Mundseite. Dunkelrote Blütenblätter gaben einen Duft ab, der auf Sid Arnos leicht betäubend wirkte. Ein starker, schwerer Rosenduft, in den hinein sich noch etwas anderes vermischte. Zuerst kam der Mann damit nicht zurecht, bis ihm klar wurde, daß er einen gewissen Blutgeruch wahrnahm. Und das stimmte auch mit dem überein, was er an den Blütenblättern der Rose entdeckte. Blut… Blut in Form von kleinen Tropfen, die an den Rändern der Blätter hingen und aussahen, als wollten sie jeden Augenblick abfallen und auf den sauberen Boden klatschen. Eine blutige Rose, ein Zeichen des Todes… Sid Arnos wurde übel. Er wußte auch nicht, wie lange er auf die silbriggrün schimmernde Maske gestarrt hatte, er senkte irgendwann den Blick und sah dorthin, was sich unterhalb der Maske abzeichnete. Zuerst hatte er es kaum wahrgenommen. Nun aber fiel es ihm auf, daß die Maske nicht so einfach nur in der Dunkelheit schwebte, sondern sich unter ihr etwas abzeichnete, für dessen Beschreibung ihm die Worte fehlten. Es war keine Gestalt, auch wenn sie so wirkte. Es war einfach nur ein Umriß, ein Gespinst, ein leicht schimmerndes Etwas. Man konnte es als einen Geist bezeichnen oder als einen Körper, der einfach in die Luft hineingemalt worden war. Wie auch immer, an die Wahrheit würde Sid wohl nie herankommen. Er wollte es nicht als Körper ansehen, obwohl dieses Gespinst die Maske trug. Kälte – Kälte strömte ihm entgegen. Die unheimliche Maske war die Ursache. Die Kälte erfaßte ihn, sie strich über sein Gesicht hinweg, sie war wie der Eishauch aus einem Geisterreich, sie ließ ihn schaudern. Er mochte die Kälte nicht, weil sie seiner Meinung nach nicht natürlich war. Da steckte etwas anderes dahinter, etwas Endgültiges, das auch blieb, als die Maske auf ihn zuschwebte. Sie wollte zu ihm, er war ihr Opfer. Sie kam langsam näher, wie jemand, der sich seiner Sache völlig sicher ist. Normalerweise hätte Sid Arnos fliehen müssen. Das War ihm nicht möglich. Der Anblick dieser Maske hatte ihn gebannt. Auch sein Gehirn war leer geworden. Er konnte nur schauen und zusehen, was die Maske tat, die noch immer über der seltsamen Gestalt schwebte und sich urplötzlich umdrehte, kaum daß sie dicht vor seinem Gesicht war. Er sah gegen ihren Rücken. Schwarz, tintig und leer. Und einen Moment später erwischte sie ihn. Da preßte sie sich plötzlich brutal gegen sein Gesicht! ***
Sid Arnos war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Er kam sich vor wie jemand, dem der Körper entrissen worden war, denn alles konzentrierte sich einzig und allein auf sein Gesicht. Hier spürte er es, hier brandeten die Schmerzen auf. Hier strichen die Finger mit den langen Nägeln über seine Haut hinweg, als wollten sie jeden Quadratzentimeter aufreißen. Es waren mörderische Schmerzen, die ihn überfallen hatten. Sein Gesicht brannte, aber nicht so, als würde es in Flammen stehen. Jemand war dabei, mit zahlreichen Händen an seiner Haut zu zerren. Arnos erlebte die Schmerzen und wurde zugleich von einem nicht gekannten Grauen gepeitscht. Etwas riß an seinen Lippen, machte sie zu blutigen Fetzen, obwohl er selbst keinen Blutgeschmack spürte. Auch an seinen Augen wurde gezerrt. Sie waren plötzlich aus Eisen, und ein starker Magnet riß sie zu sich heran. Er hörte sich stöhnen, dann schreien. All die Geräusche klangen dumpf und sehr undeutlich. Die Maske verschluckte alles. Sie stemmte sich selbst gegen die akustische Gegenwehr, und auch die Stirn des Mannes fing an, in Fetzen von dem Knochengerüst herangezogen zu werden. Das Grauen erstickte ihn. Er bekam auch keine Luft mehr, obwohl sich die Mundöffnung der Maske direkt vor seinen Lippen befinden mußte. Alles war anders geworden, diese normale Welt gab es für ihn nicht mehr. Er war in einen Strudel hineingerissen worden, den er nicht mehr begriff. Aber dieser Strudel führte nicht mehr hinein in das Leben, er würde ihn dort nicht mehr ausspeien, er war der Besuch, ein Gruß aus dem dunklen, kalten Jenseits. Sids Überlebenswille war zwar vorhanden, ihn jedoch in die Tat umzusetzen, wollte ihm kaum gelingen. Er riß in einer verzweifelten Geste die Arme hoch und führte die Hände dorthin, wo die Maske vor seinem Gesicht klebte. Zum erstenmal berührte er sie mit den Händen. Sie kam ihm zugleich kalt und warm vor. Aber auch fest und weich. Paradox… Er wollte daran zerren. Sie saß fest. Sie ließ ihn nicht los. Sie war eine grausame Mörderin. Sie war etwas Unvorstellbares, und sie sorgte mit zuckenden und hastigen Bewegungen dafür, daß Sid Arnos nicht mehr auf seinem Platz stehenblieb, sondern anfing, durch die Halle zu taumeln. Er ging gebückt, die Arme halb erhoben. Die Hände an die Seiten der Maske geklammert, ohne etwas erreichen zu können. Er wirkte wie ein Tänzer, der müde geworden war, sich zwar noch bewegte, aber die Beine kaum in die Höhe bekam.
Irgendwann prallte er gegen die Tür, aber auch das bekam er nicht richtig mit. Er spürte nur einen dumpfen Schlag, und sein Gesicht, mein Gott, sein Gesicht löste sich mehr und mehr auf. Der Mann fiel zu Boden. Er schlug hart auf. Noch immer klebte die Maske vor seinem Gesicht. Doch Mundraumund Augenhöhlen waren nicht mehr von dieser absoluten Schwärze erfüllt. Aus ihnen quoll das rote Blut. Es verfing sich am Stiel und an der Blüte der Rose, wo es dann zu Boden tropfte und die roten Flecken hinterließ, eine Spur des Todes… *** Dino Zingara hieß der Fahrer des Motorboots, der den Fremden zum Palazzo Ferrini gefahren hatte. Der Mann war Venezianer, erkannte die Stadt, die Geschichten, er kannte die Kanäle und Brücken, die Palazzi und Hotels, er wußte, wo es den besten Kaffee gab und die tollsten Huren. Er ging seinem Job im Sommer ebenso nach wie im Winter, wenn die Stadt wie unter einem grauen Totenhemd lag, aber er war selten so nervös gewesen wie an diesem spätherbstlichen Tag, als er den Fahrgast am Palazzo Ferrini abgesetzt hatte. Zingara wußte selbst nicht, was ihn störte. War es die Geschichte des Hauses, in das kein Venezianer freiwillig einen Fuß hineinsetzte? Es konnte sein, und er hätte eigentlich so schnell wie möglich die Anlegestelle verlassen müssen, was er auch getan hatte, aber die Idee, wieder umzukehren, wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Nahe der Rialto-Brücke winkten ihm zwei junge Leute zu, die sich zu einem Hotel fahren lassen wollten. Es waren Deutsche, und das Paar hatte den Aufenthalt in der Lagunenstadt bei einem Preisausschreiben gewonnen. Sie sprachen nur davon, sie konnten sich richtig freuen, und etwas von diesem Funken sprang auch auf Dino Zingara über, so daß er sich mit ihnen unterhielt und den Fremdenführer spielte. Er erklärte ihnen viel, sie hörten begeistert zu, während sich ihre Hände ineinander verschlungen hatten. Sie waren verliebt und genossen Venedig auch bei diesem Wetter. Doch seine Sorgen und sein Unbehagen wurde Dino Zingara nicht los. Beides steigerte sich noch, als er das Paar am Hotel abgesetzt hatte, wo sie sich noch für die tolle Führung bedankten, die sie so schnell nicht vergessen würden. Was tun? Zingara überlegte. Er konnte zurück zu seinem Stammplatz fahren – oder sollte er noch mal zum Palazzo Ferrini fahren? Es war kaum zu erklären, doch in seinem Innern tobte nur immer dieser eine verfluchte Name. Er hatte wohl gewußt, daß sich um dieses
Gebäude einige Geschichten und Legenden rankten, aber er hatte nie darüber nachgedacht, weil sie ihm lächerlich vorkamen. Nur jetzt nicht. Was war der Grund? Die Worte des Engländers mußten ihn aufgewühlt haben. Nein, eigentlich nicht seine Worte, wenn er darüber nachdachte. Viel hatte der Mann nicht gesagt, er war nur so etwas wie der Beschleuniger für seine Gedanken gewesen, ein verschüttetes Gut, das wieder an die Oberfläche gestiegen war. Nun kreisten seine Gedanken darum. Er lenkte das Boot im Unterbewußtsein. Die Kanäle kannte er, sie waren ihm so vertraut wie seine eigene Wohnung in einem Hinterhaus, das über dem Wasser schwebte. Er hörte das Klatschen der Wellen nicht mehr und nahm auch nicht das herrisch klingende Schreien der Möwen wahr, die über den Häusern und den Kanälen segelten. Er fuhr, er dachte nach, er hatte die Stirn gerunzelt und versuchte, sein Gedächtnis anzuturnen. Da mußte es doch etwas geben, das ihn so nervös hatte werden lassen. Für die Bauten an den Ufern hatte er keinen Blick übrig. Er tuckerte langsam weiter, hielt den Blick nach rechts gerichtet, wo bald der graue Palazzo Ferrini erscheinen mußte. Die aus dem Wasser ragenden, blau und weiß gestrichenen Pfosten der Anlegestellen erinnerten ihn an angestrichene Totenarme. Sein Venedig sah plötzlich noch düsterer, unheimlicher und verwunschener aus, als es ohnehin schon war. Über die Dächer hinweg grüßten die Kuppeln der Kirche Santa Maria della Salute, und auch sie sahen bei dieser spätherbstlichen Witterung trostlos aus. Der Palazzo Ferrini! Welches Geheimnis bargen seine Mauern? Er wollte darüber nachdenken, um sehr bald festzustellen, daß es ihm nicht möglich war, sich intensiv damit zu beschäftigen. Immer wieder gerieten seine Gedanken auf Abwege und blieben bei dem Engländer hängen. Er stellte sich plötzlich vor, ihm noch einmal zu begegnen, aber diesmal nicht lebend, sondern tot. Tot… tot… tot… Er schluckte schwer. Der Schweiß brach ihm aus. Allmählich zog sich auch die Wolkendecke über der Stadt zusammen und schickte das Grau der anbrechenden Dämmerung hernieder. Er verspürte Hunger und Durst. Zugleich hatte er keinen Appetit. Das Boot tuckerte durch die Wellen. Spritzwasser drang manchmal über die Bordwand hinweg, und das Wasser nahm in der Düsternis grauere Färbung an. In den Kanälen schwamm auch Abfall. Obwohl immer wieder Aufforderungen die Bewohner und Touristen erreichten, mit ihrem Müll doch umweltfreundlicher umzugehen, fand man alles Mögliche auf den
Wellen schwimmend. Papier, Kunststoff, anderen Kram, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Zingara entdeckte einen größeren Gegenstand, der auf dem Wasser trieb. Er drosselte die Geschwindigkeit, drehte bei und schaute kurz auf. Er sah die graue Fassade des Palazzo Ferrini. An ihn verschwendete er jetzt keinen Gedanken, der treibende Gegenstand war für ihn wichtiger. Der Gegenstand gehorchte den Kräften des Wassers, aber er führte auch ein gewisses Eigenleben, denn er drehte sich dabei mehrmals um die eigene Achse. Ein Baumstamm war es nicht, da war sich Zingara sicher. Und plötzlich erkannte er, was da vor ihm auf dem Wasser trieb. Er wollte es kaum glauben und spürte den eigenen Herzschlag überlaut – ein Mensch! Der Fahrer hielt den Atem an. Vor seinen Augen tanzte die Welt, und er schrak zusammen, als sein Boot mit dem treibenden Körper kollidierte. Zingara stellte den Motor ab. Er kniete sich hin. Obwohl es ihn Überwindung kostete, streckte er seinen Arm aus und schlug einen Bogen über die Bordwand hinweg. Seine rechte Hand krallte sich in der nassen Kleidung fest. Mit der linken Hand griff er ebenfalls zu. Er hatte bereits eine Idee, wollte aber nicht weiter darüber nachdenken, sondern den Toten zunächst in sein Boot hieven. Es war nicht einfach. Er mußte mehrere Versuche starten. Bei der letzten Aktion hatte er sich nicht mehr halten können und war zurückgefallen. Dino lag in seinem Boot, stützte sich mit den Ellbogen ab und stellte fest, daß der Tote quer über seinen Beinen lag. Intervallweise durchfuhr ihn der Schreck. Er schaute hin, er sah die nasse Kleidung. Wasser machte vieles gleich, aber nicht alles, und so erkannte Dino diesen Mann. Es war der Engländer. Er mußte es sein. Und jetzt war er tot! Zingara brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Er wußte nicht, was er in diesen Sekunden tun sollte. Ihm war nur klar, daß dieser Mann beim oder nach dem Besuch des Palazzo gestorben war. Warum? Wie? Durch wen? Mühsam wälzte Zingara den Toten von seinen Beinen, und dann schaute er ihm ins Gesicht, das heißt, in die Überreste. Alles, was er sah, war eine blutige Masse. Und dann begann Zingara zu schreien! ***
Paretti tobte. Er hatte bereits seit dem Mittag getobt, jetzt war der Nachmittag beinahe vorbei, und er hatte sich immer noch nicht beruhigen können. Er wußte selbst, daß er seine Phase hatte, das wußten auch die anderen, die sein Toben als ungerecht empfanden, aber er war der Chef im Studio, und wenn ihm die letzte Aufnahme nicht gefiel, dann mußte er es auch sagen. Eben auf seine Art und Weise. Nie dachte er daran, daß sein Gesang schlecht gewesen wäre, nein, er schob es immer auf die anderen, besonders auf den Gitarristen, der Parettis Meinung nach nur Bockmist gespielt hatte. Am frühen Abend hatte er dann das Studio verlassen und war in die Kantine gegangen. Nur allmählich ebbte seine Wut ab, und er stieg hinein in die andere Phase. Er brauchte einen Schluck. Whisky zuerst, dazu Kaffee, dann wieder Whisky, bis er sich beruhigt hatte. Anschließend würde er sich zu einer Bar bringen lassen, wo zwei Mädchen auf ihn warteten, mit denen er seit einiger Zeit liiert war. Sie akzeptierten sich gegenseitig und nahmen es auch hin, daß sie nicht die einzigen waren, mit denen er schlief. Um Paretti kümmerte sich niemand. Er hatte sich in eine Ecke gesetzt, trank, murmelte manchmal etwas vor sich hin und strich immer wieder die langen Haare zurück, die er offen trug. Er dachte nach. Seine Gedanken wirbelten. Er grübelte über einen neuen Text. Dann erinnerte er sich an den Palazzo, der in Venedig auf ihn wartete, und Paretti war gleichzeitig sauer auf seinen Sekretär Sid Arnos, weil dieser ihn noch nicht angerufen und einen ersten Bericht gegeben hatte. Er traute Sid Arnos nicht. Er traute niemandem mehr, seit er die mit Blut geschriebene Warnung erhalten hatte. Sie schwebte wie eine Drohung über seiner gedanklichen und auch seiner beruflichen Welt. Sie war da, sie hatte etwas zu bedeuten, das wußte er sehr genau, und er glaubte auch daran, daß da noch etwas auf ihn zukam. Er schaute hoch, als ein Schatten über den kleinen Tisch fiel und sich nicht bewegte. »Ja…?« Neben ihm stand der Mann von der Theke. Er war noch jung, sein Gesicht zeigte unzählige Sommersprossen, und er hatte einen roten Kopf bekommen, als er sein großes Idol ansprach. »Telefon für Sie, Sir.« »Wer denn?« »Es ist ein Ferngespräch, glaube ich.« »Gib her.« Rock Paretti nahm dem jungen Mann das Handy weg und meldete sich mit einem knurrig klingenden »Ja«, weil er damit rechnete, daß ihn Sid Arnos anrief.
Der war es nicht. Statt dessen wurde italienisch mit ihm gesprochen, was Paretti auch verstand. Der andere stellte sich als Polizeibeamter vor, und in den nächsten beiden Minuten erfuhr der Rockstar, daß er sich einen neuen Sekretär suchen mußte. »Was ist?« »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Sid Arnos ist tot. Wir haben seine Leiche aus dem Kanal gefischt. Die Papiere hatte er bei sich.« »Scheiße!« »Bitte?« »Wie konnte das denn passieren?« »Das wissen wir noch nicht. Ein Bootsfahrer hat den Toten aus dem Wasser gefischt.« »Wie ist Sid gestorben? Wurde er ermordet?« »Nein, das wohl nicht.« Rock Paretti hatte den zögerlichen Klang in der Stimme des Kommissars nicht überhört. »Warum reden Sie so komisch? Ist da was nicht richtig gelaufen und…?« »So kann man es sagen.« »Verdammt, so reden Sie endlich! Wie ist Sid gestorben?« »Nun ja, Signor Paretti. Dieser… dieser Tote – er… er hatte kein Gesicht mehr.« Rock hielt die Luft an. Er dachte, aber er wußte nicht, was er dachte. In seinem Gehirn lauerte das Chaos. Er bewegte die Augen, ohne es zu merken, und der italienische Kommissar fragte ihn, ob er noch dran wäre. »Bin ich. Ich frage mich allerdings, ob ich mich verhört habe.« »Haben Sie nicht.« Paretti fuhr durch sein Haar. Er saß gebückt da und starrte auf die hölzerne Tischplatte, als wollte er die dünnen Fäden der Maserung zählen. »Dann… dann fehlte ihm tatsächlich das Gesicht, so wie Sie es mir gesagt haben?« »Si, Signor Paretti. Wo einmal sein Gesicht gewesen war, haben wir nur mehr eine blutige Masse entdeckt. Es sah aus, als wäre alles abgerissen worden. Tut mir leid, aber ich muß es so brutal sagen.« Rock atmete schnell ein. Dann hatte er sich wieder gefangen. Er dachte auch an die mit Blut geschriebene Warnung, schaffte es allerdings auch, diesen Gedanken von sich zu weisen. »Was haben Sie denn getan? Sie als Polizist?« »Wir arbeiten daran. Natürlich ist es noch zu früh, irgend etwas sagen zu können, aber…« »Si, Sie arbeiten daran, ich weiß. Das kenne ich, Signore. Ich bin informiert, sehe hier genug Nachrichten und kenne die Sprüche der Polizei.« »Hören Sie, erst vor zwei Stunden erfuhren wir von dem Tod Ihres Angestellten…«
»Sie informieren mich weiter?« »Natürlich.« »Okay. Falls Sie mich in Venedig brauchen, zur Identifizierung oder so, lassen Sie es mich wissen.« »Natürlich, Signore.« Die Verbindung war weg, und der Rockstar legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Dann stieß er laut und deutlich den Atem aus, sah die Flasche und das Glas vor sich stehen und kippte einen doppelten Drink in das schmale Gefäß. Er hob das Glas an, schaute gegen den Whisky, der goldgelb schimmerte. Die Lippen des Mannes verzogen sich. »Okay, Sid, auf dich. Einen letzten Drink auf dich! Du warst mutig, zumindest mutiger als ich.« Er lachte, leerte das Glas und schüttelte sich. Danach schloß er die Augen. Plötzlich dachte er wieder an die mit Blut geschriebene Warnung, und es lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Nicht nur Sid Arnos hatte das Grauen erreicht, auch ihn. Er spürte es wie eine unsichtbare Fessel. Zwei Minuten saß er bewegungslos auf dem Fleck. Dann hatte er sich zu einem Entschluß durchgerungen. Der Tod seines Sekretärs mußte aufgeklärt werden. Ihn hatte es als ersten erwischt, und einen zweiten sollte es nicht geben. Rock Paretti wollte leben, nur leben… *** Es gibt Kanäle, Wasserstraßen, die führen durch eine Stadt. Diese Kanäle sind bekannt und bedeuten auch genau das, was sie sind. Aber es gibt auch andere Kanäle, die nicht so leicht beschrieben werden können, das sind die unsichtbaren, die zwischen gewissen Institutionen, man kann sie zu dem Begriff Beziehungen zusammenfassen. So ähnlich war es bei Suko und mir gelaufen, als uns Sir James an diesem frühen Abend kurz vor dem Verlassen des Büros zu sich gebeten hatte. Daß er mit uns keinen Kaffee trinken wollte, war klar. Es ging um einen neuen Fall, wie wir sehr bald erfuhren, und wir bekamen auch einen Namen präsentiert. Rock Paretti! Suko runzelte die Stirn. Ein Zeichen, daß er damit nichts anfangen konnte. Ich allerdings, auch wenn ich nicht genau wußte, wo ich ihn hinstecken sollte. »Gehört habe ich ihn schon«, sagte ich und schaute meinen Chef an, der die Stirn gefurcht hatte.
»Er ist ein Star. Ein Rockmusiker. Eine bekannte Größe in der Szene, habe ich mir sagen lassen.« Ich hob beide Arme und ließ die wieder fallen. »Klar, Sir, Rock Paretti, die Rock-Größe, der Rock-Tiger, wie manche Zeitungen über ihn geschrieben haben. Zur einen Hälfte Brite, zur anderen Italiener. Er ist mir bekannt.« Suko schaute mich überrascht an. »Kennst du ihn persönlich? Warst du mal in seinen Konzerten?« »Nein, nie, aber ich lese hin und wieder Zeitungen.« »Aha.« »Solltest du auch.« Bevor Suko etwas erwidern konnte, unterbrach das Räuspern unseres Chefs den Dialog. Er schaute uns ernst an, und da wußten wir, daß dieser Besuch in seinem Büro auch ernst gemeint war. Wir erfuhren, daß sich Paretti nicht direkt an Sir James gewandt hatte, das war eben über die berühmten Kanäle gelaufen, und jemand, der einiges zu sagen hatte und auch Paretti kannte, hatte sich an Sir James um Hilfe gewandt, denn es lag ein ziemlich mysteriöser Fall vor. Es ging um Parettis Sekretär Sid Arnos, der tot in einem Kanal treibend in Venedig gefunden worden war. Das alles wäre für uns noch kein Grund gewesen, einzugreifen, wenn dieser Tote nicht eine Leiche ohne Gesicht gewesen wäre. Er hatte es verloren, als wäre es abgeätzt worden. Zudem hatte Paretti einige Tage zuvor noch eine schriftliche Drohung erhalten, und über die wollte er mit uns reden. »Hier?« fragte Suko. »Oder in Venedig.« »Zuerst hier.« Suko hob die Augenbrauen. »Dann schließen Sie es nicht aus, Sir, daß wir nach Venedig müssen.« »Das kann sein.« »Keine gute Jahreszeit«, murmelte ich. »Sie sollen dort auch keinen Urlaub machen, John, sondern einen Killer jagen, falls es dazu kommt, schränke ich mal ein.« »Das ja.« »Und wo treffen wir Paretti?« Sir James reichte Suko einen Zettel. »Ich habe es Ihnen aufgeschrieben. Er wartet in einer Bar auf Sie. Dort ist er jeden Abend, wie ich erfahren habe.« Suko schaute auf das Geschriebene. »Die Insel. – Kenne ich nicht.« Diesmal stimmte ich ihm zu. Sie schien jedoch von der nobleren Sorte zu sein, denn sie lag in Kensington, nicht eben einem billigen Wohnviertel. »Dann auf zur Insel«, sagte ich und erhob mich. »Hören Sie mal, ob das ein Fall für uns ist«, sagte Sir James. »Bis jetzt hängt ja noch alles in der Schwebe.«
Das stimmte. Nur wußten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß wir den Blutspuk von Venedig am Hals hatten… *** Die Bar Insel war auch eine Insel. Zumindest führte sie ein inselartiges Dasein. Sie lag zwar nicht gerade einsam, stand aber doch allein und war von einem kleinen Park umgeben. Es war kein neues Gebäude. Eine kleine, feine, aber ältere Villa, die im Innern umgebaut worden war. Und es hing auch keine rote Laterne über dem Eingang. Der Parkplatz war gut gefüllt, und die dort stehenden Autos gehörten nicht zur Kleinwagenklasse. Wir stiegen aus und ließen uns vom Schein einiger Lampen begleiten, als wir in Richtung Eingang gingen. Eine dunkle Holztür verwehrte uns den Eintritt. Ich klingelte. Zunächst einmal geschah nichts, bis dann in Augenhöhe ein viereckiges Loch in der Tür entstand und wir von einem – das war zu erkennen – weiblichen Augenpaar gemustert wurden. Ich grinste höflich und bat um Einlaß. »Sie sind keine Stammgäste?« »Könnten es aber werden.« »Pardon, aber wir lassen nur Stammgäste herein. Es sei denn, Sie haben eine Empfehlung.« Beide verdrehten wir die Augen. Wenn mir irgend etwas nicht schmeckte, dann waren es arrogante Türsteher, die mir den Zugang zu ihren heiligen Hallen verwehrten. »Wir sind mit Rock Paretti verabredet«, sagte ich in einem ruhigen Ton. »Und jetzt öffnen Sie, Madam, oder wollen Sie Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen?« »Wieso Polizei?« Die Dame zeigte sich störrisch. Ich zeigte ihr meinen Ausweis. Entsetzte Blicke trafen mich, doch mein Ausweis reichte als > Eintrittskartelebte< der Kanal. Das Wasser war nicht ruhig. Es schmatzte und gurgelte. Nur wenige Lichtreflexe verirrten sich auf seine Oberfläche. Wir hörten Tritte und schauten nach rechts. Zwei dunkel gekleidete Frauen hatten die Brücke betreten. Aus dieser Entfernung sahen sie aus wie Nonnen. Später sahen wir, daß es schon sehr alte Frauen waren, die sich in ihre dunkle Winterkleidung gehüllt hatten. Wir nickten ihnen zu, als sie uns passierten, und hörten ihre leisen Stimmen. Danach waren wir wieder allein, und es paßte uns beiden nicht, daß einfach nichts passiert war. Das wollten wir nicht hinnehmen, aber wir waren auch realistisch genug, um einzusehen, daß es nicht viel brachte, wenn wir durch die Stadt stromerten und darauf lauerten, daß sich die Maske endlich zeigte. Suko sprach seine Gedanken aus. »Dann können wir auch im Hotel warten und hoffen, daß uns Claudia Ferrini etwas erzählt.« »Ist eine Möglichkeit«, gab ich zu. »Auch akzeptabel?« »Ja.« Ich wies auf das andere Ende der Brücke. »Laß uns dort durch die kleine Gasse gehen und dann irgendwann nach rechts. So müßten wir das Hotel wieder erreichen.« »Versuchen wir es.« Suko ging wieder vor. Ich blieb dicht hinter ihm. Natürlich drehte ich mich des öfteren um, aber zu sehen bekam ich nichts. Zumindest keine Maske. Zudem hatte ich den Eindruck, daß der Kontakt schwächer geworden war. Das Kreuz kühlte sich wieder etwas ab. Wir liefen auf die schmale Gasse zu, an deren Ecke noch ein einsames Moped parkte. Es war durch eine Kette mit einem Metallhaken in der Wand verbunden. Wir betraten die Gasse. Schon zuvor war uns der schwache Lichtschein aufgefallen. Er konzentrierte sich ungefähr in der Mitte dieses schmalen Durchgangs. Aber es war kein helles Licht, mehr eines, das Schatten produzierte. Von der rechten Seite her fiel es durch ein Fenster oder Schaufenster. Es war ein Schaufenster. Wir sahen es, als wir davor stehenblieben und zunächst zurückzuckten, denn was hinter der Scheibe ausgestellt war, glotzte uns aus verschieden großen Augen und auch Mäulern an. Hier wurden Masken verkauft!
Masken und Kostüme. Manche schillernd, andere düster, viele farbig, auch gefleckt, hängend, liegend oder einfach nur so wirkend, als wären sie dahingeworfen. Dicht hinter der Scheibe sahen wir die grellgeschminkte Maske eines Clowns, von dessen Augenrändern sich dunkle Tränen lösten und an den Wangen entlangrannen. »Masken«, murmelte Suko, »wie sinnig.« Dann fiel ihm auf, daß ich nichts sagte, und er wollte den Grund wissen. »Den kann ich dir sagen. Es liegt an meinem Kreuz.« »Hat es sich erwärmt?« »Stärker als zuvor.« In Sukos Augen blitzte es. »Das bedeutet, daß wir die Maske hier irgendwo finden können.« »Möglich.« »Im Laden?« Ich verzog den Mund. Es wäre wirklich sehr überzeugend und auch seltsam sowie motivierend gewesen, wenn es tatsächlich zuträfe. Jedenfalls war ich bereit, das Geschäft zu betreten, auch wenn ich von draußen keinen Kunden oder Verkäufer sah, der sich dort bewegte. Es war zudem ziemlich schwer, durch die Lücken und an den ausgestellten Gegenständen vorbei in das Innere zu schauen. »Laß uns hineingehen«, schlug Suko vor. Er hatte die Überlegung wohl an meinem Gesicht abgelesen. »Falls es geöffnet ist.« »Werden wir gleich haben«, sagte er, war mit drei Schritten an der Tür und drückte die Klinke nach unten. Er hatte den Kopf nach rechts gedreht. Ich sah das Lächeln auf seinem Gesicht, dann stieß er die Tür nach innen, wobei für einen Moment ein helles Glockenspiel erklang und ein Lied aus der Operette >Eine Nacht in Venedig< intonierte. Ich betrat hinter Suko den Laden, und wir beide gerieten hinein in die Welt der Kostüme und Masken. Hier war der Karneval von Venedig irgendwo lebendig, auch wenn sich keine Maske und kein Kostüm bewegte und alles in einer schon tragischen Ruhe dalag. Der Besitzer konnte die Kunden höchstens paarweise oder zu viert hereinlassen, mehr Platz war nicht vorhanden. Die besonderen Kostüme hatten auch besondere Plätze bekommen. Sie waren den Schaufensterpuppen übergestreift worden, wobei diese noch ihre Gesichter geschminkt hatten oder sie durch die unterschiedlichsten Masken verdeckten. Die Damen durch kleine, leichte und elegant wirkende. Die Herren waren zumeist mit kämpferisch anmutenden versehen oder mit Masken bestückt, die ein abstoßendes, dämonisches Flair verbreiteten. Wir entdeckten einen Verkaufstresen, wo noch eine altmodische Klingelkasse aus Metall stand.
Nur den Besitzer oder einen Verkäufer sahen wir nicht. Nicht alle Lampen brannten. Viel Schatten verteilte sich in diesem Geschäft, und wenn Licht abstrahlte, dann gezielt auf verschiedene und auch besondere Kostüme. Neben einem prächtigen Dogengewand blieb ich stehen und holte das Kreuz aus der Tasche. Als Suko es auf meiner offenen Handfläche liegen sah, kam er näher und tippte es in der Mitte mit dem Finger an. »Und?« fragte ich. Er nickte mir zu. »Du hast recht, denke ich. Es… es hat sich wohl erwärmt.« »Genau. Irrtum ausgeschlossen. Also muß sich die Maske hier in der Nähe befinden. Vielleicht hier im Laden. Es ist zudem ein Ort, der ihr vom Ambiente entgegenkommt.« »Kein Widerspruch.« »Ich frage mich nur, warum die Tür nicht verschlossen wurde.« »Ganz einfach, John. Man wollte, daß wir kommen.« »Dann soll man sich auch zeigen.« Wir durchsuchten den Laden. Hinter der Tür war er noch relativ breit, aber in der Tiefe lief er schmaler zu und wurde durch deckenhohe Regale, in denen allerlei Karnevalskrempel lag, noch schmaler gemacht, kaum schulterbreit. Hier schimmerte auch kein Licht, und deshalb sahen wir wahrscheinlich den hellen Streifen, der sich flach am Boden abzeichnete, kaum breiter als ein Streichholz, dafür aber länger. Wir näherten uns dem Lichtstreifen auf leisen Sohlen, sahen die schmale Tür in der Wand, gegen die Suko als erster sein Ohr legte und dabei in die Knie ging. Ich wartete dicht hinter ihm. Einige Sekunden später richtete er sich auf. »Es ist was zu hören, John.« »Und was?« »Tritte, glaube ich.« »Normale?« »Denke schon.« Suko sah, daß ich mein Kreuz anschaute und es auch befühlte. »Was ist damit?« »Es hat sich nicht verstärkt.« »Laß uns nachschauen.« Da die Eingangstür nicht verschlossen gewesen war, gingen wir davon aus, auch vor einer offenen Rücktür zu stehen. Die schmale Klinke verschwand unter Sukos Hand, und einen Augenblick später drückte er die Tür auf. Das Licht war nicht besonders hell, es kam uns nur so vor, weil wir aus dem Dunkel traten. Und wir waren von der Größe des Raumes überrascht, ebenfalls von dem Erkerfenster, so daß wir den Eindruck
bekamen, einen Anbau betreten zu haben, der über einem Kanal schwebte, was in dieser Stadt oft zu sehen war. Ein Büro, eine kleine Wohnung? Beides stimmte. Wir entdeckten einen Schreibtisch aus dunklem Holz und mit Säulenverzierungen, ebenso wie ein Bett, das seinen Standort hintereinem Vorhang gefunden hatte, der jetzt allerdings über die Hälfte hinweg zurückgezogen war. Das Bett sah zerwühlt aus, als hätte jemand bis vor kurzem noch darin geschlafen. Viel wichtiger war für uns das drei flügelige Fenster. Das Teil an der rechten Seite stand offen, so daß der kühle Wind in den Raum hineinwehen konnte. Er streichelte unsere Gesichter, als wir tiefer in den Raum hineingingen. Unter der Decke schimmerte eine Lampe. Sie bestand aus grünlichem Glas und hatte die Form einer Maske, deren Maul weit geöffnet war. Diese Maske suchten wir nicht, sondern zunächst einmal die Person, deren Tritte Suko gehört hatte. »Wo steckt sie?« Ich schob Suko zur Seite und ging nach links. Dort stand ein Schrank. Daneben sah ich eine weitere Tür, die ich blitzschnell aufriß. Wir sahen den Mann. Er drehte uns den Rücken zu und traf auch keine Anstalten, sich umzuwenden. Wahrscheinlich hatte er uns nicht gehört. Was auffiel, waren seine Bewegungen. Er stand gebückt und hatte den Kopf noch nach vorn gedrückt, um auf ein altes Sofa zu schauen, das quer vor ihm einen Platz gefunden hatte. Er bewegte seinen Oberkörper hin und her, und diesen Rhythmus hatten auch seine Beine angenommen. Er hob die Beine an, stapfte auf den alten Holzbohlen herum, als wäre er in einen tranceartigen Ritualtanz vertieft. Mein Kreuz erwärmte sich rasch. Die Maske war nah! Ich lief auf die Gestalt zu, deren graue Haare ebenfalls schwangen, ich wollte sie an der Schulter fassen und herumdrehen, dazu kam es nicht mehr. Wir hörten beide den dumpf klingenden Schrei, dann stoppte die Bewegung des Mannes abrupt, er drehte sich um – und wir starrten fassungslos in sein Gesicht. Nein, nicht in sein Gesicht. Es war die Maske, gegen die wir schauten! *** Sie sah noch böser und abstoßender aus, als wir sie in Erinnerung hatten. Vielleicht lag es auch am einfallenden Licht, daß sie so schimmerte, als wäre sie poliert worden. Das Maul verzogen, die Rose klebte darin, tiefe Schwärze lauerte in den Augenhöhlen, und der irgendwie traurige Ausdruck war von einem anderen übertüncht worden. Bösartig und wild sah sie aus.
Sie wollte das Grauen, sie wollte den Tod, sie wollte uns damit überschwemmen, und sie hatte wieder ein Opfer gefunden, dessen Bewegungen schwächer und schwächer wurden. Vielleicht waren wir zu sehr überrascht worden. Vielleicht hatten wir auch die berühmte Sekunde zu lange gezögert, denn der Maske gelang es, die Initiative zu ergreifen. Blitzschnell löste sie sich vom Gesicht ihres Opfers. Der Schrei war nicht mehr zu hören, statt dessen wirbelten kleine Blutstropfen durch die Luft und verschonten auch uns nicht. Wir wischten sie nicht weg, sondern wandten uns den neuen Zielen zu. Ich wollte die Maske haben, Suko mußte sich um den Ladenbesitzer kümmern, und mir gelang noch ein Blick auf dessen Gesicht, das in einem wahren Blutgerinnsel schwamm. Dann sprang ich der Maske entgegen. Sie hatte sich durch eine Bewegung zur Decke hin in Sicherheit gebracht, so daß ich mit der linken Hand ins Leere griff. Ich mußte erneut ausholen, tat es mit der rechten, in der ich mein Kreuz hielt, und schleuderte es auf die Maske zu, wobei ich selbst die Kette losließ, um sie zu treffen. Wieder war sie schneller. Wie ein Strich war sie nach unten getaucht, huschte an meinen Beinen entlang und aus dem Raum. Ich ahnte, was sie vorhatte. Meine Drehung war zackig und schnell, der nächste Schwung katapultierte mich schon über die Schwelle hinweg, wobei ich noch mit der Schrankecke kollidierte, um dann feststellen zu müssen, daß mir die Maske entwischt war. Sie hatte bereits das Fenster erreicht, sich dort gedreht und durch den Spalt gedrückt. Sie war draußen. Ich riß die Beretta hervor, nahm das Kreuz in die linke Hand und feuerte hinter der Maske her. Die Scheibe zersplitterte und verwandelte sich in einen Regen aus Scherben, aber die Maske war durch das rasche Fallen dem geweihten Silbergeschoß entkommen. Wieder einmal. Ich gab trotzdem nicht auf und lief zum Fenster hin. Noch auf dem Weg hörte ich das hier in Venedig allseits bekannte Tuckern, das immer dann entsteht, wenn ein Bootsmotor angelassen wird. Verdammt noch mal, ich würde wieder zu spät kommen, gab trotzdem nicht auf, sondern schaute durch die Lücke des zerstörten Fensters in die Tiefe. Es war, wie ich geahnt hatte. Die Maske hatte einen Helfer bekommen, obwohl der sichtlich nicht nötig gewesen war, aber ich sah, daß ein Boot mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr und auf dem Wasser einen hellen Streifen hinterließ. Ob sich die Maske auf dem Boot aufhielt oder
irgendwo durch die Dunkelheit schwebte, war nicht zu erkennen, jedenfalls sah ich sie nicht mehr und konnte auch den Fahrer des Boots nicht identifizieren. Ich trat vom Fenster zurück und sah Suko, der den Mann auf seinen Armen hielt, ihn zu seinem Bett brachte und dort niederlegte. »Was ist mit ihm?« »Tot.« Ich schloß für einen Moment die Augen. »Das dritte Opfer also.« »Ja.« Plötzlich überkam mich die Wut. Nein, nicht die Wut, es waren der Haß und der Zorn zugleich, die mich wie eine Woge überschwemmten. Suko sah es mir an und fragte: »Was hast du?« Ich erwachte wie aus einem bösen Traum. »Schon gut, Suko, es war nur der Moment.« »Aha.« »Und wenn du jetzt nach der Maske fragst«, flüsterte ich, »muß ich dich leider enttäuschen. Sie ist abermals entkommen, aber sie hat einen Helfer gehabt.« »Wen?« Ich mußte leider passen. »Keine Ahnung. Ich konnte ihn nicht erkennen. Er huschte mit dem Boot davon. Zumindest habe ich den Eindruck gehabt. Aber ich frage mich, weshalb uns die Maske hergelockt hat. Warum tötete sie den Mann? Warum hier?« »Sie wird dir kaum eine Antwort geben.« »Das fürchte ich auch.« »Dabei kennen wir nicht mal seinen Namen.« »Was sich ändern wird.« Ich ging auf den Schreibtisch zu. »Vielleicht finden wir dort etwas.« Die Lade in der Mitte öffnete ich noch nicht, weil Suko sagte: »Ich habe einen Schuß gehört. Kann das stimmen?« »Das ist richtig, aber die Kugel hat nicht getroffen. Unsere Maske war einfach zu schnell.« Er hob die Schultern, und ich zog die Lade auf. Sie war sehr breit, auch tief, aber ziemlich flach. Ich holte die Bögen hervor, die mit Entwürfen bemalt waren, als hätte hier ein Modeschöpfer seine ersten Skizzen entworfen. Suko schaute mir von der Seite her zu. Er war wie ich der Meinung, daß dieser Mann, dessen Namen wir noch immer nicht kannten, die Kostüme selbst entworfen hatte. »Wie auch die Masken«, sagte ich, als ich andere Bögen mit ihren Entwürfen hervorholte. Beide staunten wir. Es waren kleinere Bögen. Wir schauten uns die Zeichnungen an, aber unsere Maske entdeckten wir nicht darunter. Ansonsten fanden wir nichts, was auf eine Identifizierung der Person hingedeutet hätte. »Vielleicht trug er einen Ausweis bei sich«, sagte Suko. Er wandte sich dem Bett zu. Mit flinken Fingern tastete er über die Kleidung des Toten
und fand tatsächlich eine Brieftasche in der Jacke. Sie war schmal, bestand aus schwarzem Leder. Als Suko sie aufklappte, war er unter die Deckenleuchte getreten. »Da ist der Ausweis.« »Wie heißt der Mann?« »Canio Lentini.« Ich hob die Schultern. Der Name war mir ebenso unbekannt wie meinem Freund. Er gab nicht auf und kramte weiter in der Brieftasche, fand Geld, das er wieder zurücksteckte, und klemmte schließlich zwei Finger in einen Spalt. »Ist dort was?« Er nickte mir zu. »Ja, es fühlt sich nach einem Versteck an. Da klemmt etwas dazwischen.« Suko hatte den Spalt wenig später so erweitert, daß er hineinfassen konnte und den Gegenstand hervorholte. Er drehte ihn herum. Schon von der Rückseite her hatte ich gesehen, daß es sich um eine Aufnahme handelte. »Ein Fo…« Mein Freund sagte nichts mehr, sondern drehte das Bild herum, damit auch ich es sehen konnte. Ich schwieg, wurde blaß, war gleichzeitig durcheinander. Die Person auf dem Foto war keine geringere als Claudia Ferrini… *** »Also doch«, flüsterte ich. »Was meinst du damit?« »Claudia.« »Das ist ihr Foto, John, stimmt. Aber was beweist das? Es beweist doch nicht, daß sie direkt mit der Maske zu tun hat, sondern einzig und allein, daß Lentini und sie sich kannten. Nicht mehr und nicht weniger.« »Kann schon sein, mein Freund. Ich aber frage mich, wie gut sich beide kannten. Auf der einen Seite steht sie, auf der anderen Lentini. Und zwischen ihnen befindet sich die Maske. Ich habe das Gefühl, daß es von beiden Personen aus eine Verbindung zu dieser Maske gibt. Welche das ist, werden wir herausfinden müssen.« »Durch Claudia.« »Wen willst du sonst fragen?« »Keinen. Aber was ist mit dem Toten? Wir müßten Kommissar Fungi melden, daß er hier liegt und…« »Das kann auch später geschehen. Zuerst ist Claudia an der Reihe. Sie wollte doch zu uns ins Hotel kommen – oder?« »So habe ich es in Erinnerung.« »Dann wird sie bestimmt schon auf uns warten.« Suko nickte, lächelte und steckte das Foto ein. »Ich bin gespannt darauf, was sie dazu sagen wird…«
*** Claudia Ferrini wartete tatsächlich auf uns. Kaum hatten wir das Hotel betreten, wurde uns bereits vom Empfang her zugewinkt, und es wurde uns mitgeteilt, daß die Signora in der Bar auf uns wartete. Wir bedankten uns, betraten den Raum und sahen sie nicht am Tresen. Claudia hatte sich für einen der runden Tische entschieden, wo sie lockerund mit übereinandergeschlagenen Beinen ihren Platz gefunden hatte. Mit einer Hand hielt sie das Longdrinkglas, indem sich ein gelbliches Mixgetränk befand. Aus dem Glas schaute noch ein oben geknickter bunter Trinkhalm hervor. Sie lächelte uns an, wartete, bis wir die Plätze an ihrem Tisch eingenommen hatten, und sagte nett lächelnd: »Schön, daß Sie doch noch gekommen sind.« Suko rückte seinen Stuhl etwas zum Tisch hin. »Ja, wir waren unterwegs. Haben einen kleinen Spaziergang gemacht.« »Bei dem Wetter?« »Venedig ist doch immer schön. Vor allen Dingen auf den Wegen, die nicht so überlaufen sind.« »Da haben Sie recht. Ich hatte zwischendurch mal angerufen, und mir wurde gesagt, daß sie soeben das Hotel verlassen hätten. Ich bin dann sofort losgefahren, warte aber noch nicht lange.« Der Ober erkundigte sich nach unseren Wünschen. Ich entschied mich für Bitter Lemon, Suko nahm Wasser. Claudia Ferrini war neugierig, was sie auch nicht verbarg. »Sind Sie mit den Polizisten zurechtgekommen?« »Kann man sagen«, antwortete ich. »Und weiter?« »Der Kommissar hat natürlich keine Spur…« Ich ließ meine Worte ausklingen. Claudia fing sich darin. »Aber Sie haben inzwischen eine, nehme ich an.« »Nein!« »Oh, Sie enttäuschen mich.« Die Frau schaute uns so unschuldig an, daß wir ihr die Worte beinahe abnahmen. »Das heißt, eine winzige Spur haben wir schon«, sagte Suko. »Nämlich?« »Sie!« Die Ferrini mußte lachen. So laut, daß es beinahe störte und sie eine Hand auf ihre Lippen preßte. »Ich soll die Spur sein, das kann ich nicht glauben.« »Sie sind eine Ferrini.« »In der Tat. Nur habe ich mir meinen Namen nicht aussuchen können. Das schafft keiner von uns.« »Und mit den Ferrinis begann es«, sagte ich. »Mit ihrem Wohnsitz, in dem wir auch die Maske trafen. Der Palazzo brannte ab, Sie haben es
selbst gesehen. Sie haben uns geholt, Sie waren so etwas wie ein Engel, möchte ich mal behaupten.« »Danke sehr.« Ich wiegte den Kopf. »Bedanken Sie sich bitte nicht zu früh. Es gibt auch bei den Engeln Unterschiede.« »Die wären?« »Es gibt gute Engel und weniger gute. Es sind einige sogar in die Tiefen der Verdammnis gestürzt worden.« »Si, die Genesis kenne ich.« Sie nahm einen Schluck durch den Trinkhalm. »Und wozu zählen Sie mich, bitte sehr? In welche Schublade der Engel passe ich?« »Darüber denken wir nach.« »Bestimmt haben Sie schon ein Ergebnis oder zumindest ein Teilergebnis.« Sie und auch wir redeten um den heißen Brei herum, und es war Suko, der mit einer ersten Information herausrückte. »Auf unserem Gang durch den Abend stellten wir fest, daß uns die Maske verfolgte.« »Nein.« Sie riß die Augen auf. »Das… das… haben Sie tatsächlich gesehen?« »Mehr gespürt.« »Wie das?« »Fragen Sie John!« »Bitte.« Sie legte sogar die Handflächen gegeneinander. »Klären Sie mich auf.« »Da gibt es nicht viel aufzuklären.« Ich legte eine Pause ein, weil die bestellten Getränke serviert wurden. »Es ist so, wie mein Freund sagte. Wir haben die Anwesenheit der Maske gespürt und sie später auch selbst erlebt und gesehen.« »Was haben Sie…?« »Ja, aber sie hatte sich nicht auf uns konzentriert, sondern auf eine andere Person, auf einen Mann, der Kostüme und Masken herstellt. Er heißt Lentini. Kennen Sie ihn?« Claudia überlegte oder tat zumindest so, als würde sie scharf nachdenken. »Tja… ich… ich weiß nicht so recht. Der Name Lentini ist nicht gerade selten. Es gibt sogar einen Fußballer, der so heißt…« »Lentini ist tot«, sagte Suko. »Gott – nein! Wie starb er denn?« »Denken Sie mal nach.« »Durch die Maske?« »Ja«, erwiderte Suko. »Durch die verdammte Maske! Durch den Blutspuk. – Wir konnten ihn leider nicht retten.«
Claudia Ferrini schluckte ein paarmal und rang nach Worten. Meiner Ansicht nach spielte sie gut Theater. »Das ist wirklich schlimm. Da haben Sie endlich die Chance gehabt, um die Maske zu stellen… aber«, sie schüttelte den Kopf, »vielleicht ist es besser so, daß Sie in keinen direkten Kontakt zu ihr getreten sind. Sonst wäre es Ihnen so ergangen wie dem armen Lentini.« »Wir hätten uns wehren können«, sagte ich. Claudia wirkte nachdenklich. »Das kann ich natürlich nicht beurteilen«, gab sie zu und hob die Schultern. »Aber man kann ja nicht nur Pech haben. Überlegen Sie mal, wie kurz Sie erst in der Stadt sind. In dieser relativ knappen Zeit haben Sie schon einiges erlebt. Sie sind dem Blutspuk näher gekommen und hätten ihn…« »Da wäre noch etwas«, sagte ich. Sie führte den Satz auch nach meiner Bemerkung nicht mehr zu Ende, sondern schaute mich gespannt an. »Was denn?« »So ganz chancenlos sind wir nicht, Claudia. Wir haben uns bei Signor Lentini im Büro umgeschaut und auch in seiner Brieftasche nachgesehen. Dort haben wir etwas gefunden.« Ich nickte Suko zu. »Zeig es ihr, bitte.« »Gern.« Auf diesen Zeitpunkt hatten wir natürlich beide gewartet. Suko griff in die rechte Innentasche und holte das Foto hervor. Er hielt es zunächst so, daß die Frau nur die Rückseite sah. Dann drehte er es langsam um. »Schauen Sie genau hin, Signora Ferrini.« Das tat sie auch, und wir ließen sie dabei nicht aus den Augen. Einige Male rang sie nach Luft, bevor sie endlich die Worte hervorstoßen konnte. »Dio, das bin ja ich.« Suko nickte. »Si, zwar etwas jünger, aber nicht zu übersehen. Sie haben sich gut gehalten, Kompliment.« Ihre Augen wanderten. Sie war nervös geworden und fragte mit leiser Stimme. »Woher haben Sie das Foto?« Suko lächelte vor seiner Antwort. »Wie schon erwähnt, wir schauten uns bei Lentini um und…« Für einen Moment sprang sie auf und setzte sich sofort wieder hin. »Sie brauchen nichts mehr zu sagen. Sie haben mein Foto bei Lentini gefunden. Stimmt’s?« »Richtig.« Schnaufend atmete sie aus und strich mit der Handfläche über die Stirn. »Jetzt wollen Sie natürlich eine Erklärung von mir haben, denke ich.« »Korrekt.« Claudia Ferrini dachte nach, und ihre Miene verschloß sich dabei. »Es ist nicht leicht, das zu erklären, aber es hört sich einfach an.« »Warum ist es dann nicht leicht?« fragte ich. »Weil ich mich überwinden muß.« »Dann kannten Sie Lentini?«
»Natürlich.« »Woher?« »Er hat mich großgezogen. Er war so etwas wie mein Ziehonkel. Ich habe auch einige Jahre bei ihm gewohnt, bevor ich in ein Internat kam. Meine Familie gab es nicht mehr. Lentini hat sich meiner angenommen. Er hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Nun, es blieb ein Traum. Außerdem hat er sich nichts aus Frauen gemacht, er war homosexuell, aber mich nahm er an.« »Warum gerade Sie?« wollte ich wissen. »Weil ihn meine Mutter darum gebeten hat. Beide kannten sich. Auf dem Sterbebett ist der Vertrag praktisch besiegelt worden, und Lentini hat ihn so gut wie möglich eingehalten.« Wir ließen ihr keine Zeit, um nachzudenken. Ich schlug schnell in die Bresche. »Dann hat er auch über Ihre Familie und deren Vergangenheit Bescheid gewußt.« »Er war informiert.« »Auch über die Maske?« »Ja, über alles.« »Und die Maske hat ihn getötet. Wir waren dabei, wir haben es gesehen. Warum tat sie es? Kennen Sie den Grund, Claudia?« Sie überlegte, trank. Ihre Blicke wanderten dabei durch die Bar. »Nein – oder doch? Vielleicht wollte er Spuren verwischen…« »Das bringt mich auf einen Gedanken. Von Verwischen ist es nicht weit bis Entwischen. Die Maske ist meinem Freund und mir leider entwischt.« »Das sagten Sie bereits.« »Sie muß einen Helfer gehabt haben.« »Möglich, kann sein, wieso?« Klar, unsere >Freundin< spielte hier die Unschuldige, das nahmen wir ihr längst nicht mehr ab. Sie wußte einiges, und sie wußte vor allen Dingen mehr, als sie uns gegenüber zugeben wollte. Interessiert lauschte sie meinen Worten, als ich ihr von dem geheimnisvollen Boot berichtete, das dann verschwunden war. »Und weshalb haben Sie mir das so deutlich erklärt, Signor Sinclair?« »Können Sie sich das nicht denken?« »Ah.« Sie öffnete den Mund und lachte. »Wahrscheinlich denken Sie, daß ich diejenige gewesen bin, die in dem Boot gesessen hat.« »Nicht nur John, auch ich denke das«, mischte sich Suko ein. »Es wäre schließlich nicht ungewöhnlich, Claudia. Schon einmal haben Sie zwei Personen mit Ihrem Boot in Sicherheit gebracht. Und die beiden sitzen vor Ihnen.« Ihr Mund zeigte Spott. Und dieser Spott schwang auch in der Antwort mit. »Ich werde daran denken, sollten Sie sich wieder einmal in Schwierigkeiten befinden, wenn ich in der Nähe bin.« Sie änderte ihre Sitzhaltung und strich über den Stoff der Hosenbeine. »Wenn ich mir
unser Gespräch durch den Kopf gehen lasse, so habe ich den Eindruck, als würden Sie mir nicht trauen, mir aber alles zutrauen. Stimmt es?« »Kann sein«, erwiderte Suko. »Uns würde wirklich interessieren, welches Spiel Sie treiben.« »Wie kommen Sie auf Spiel?« »Sie waren oder sind überall dabeigewesen. Sogar der ermordete Lentini steht in einer Verbindung zu Ihnen. Er war Ihr Ziehonkel. Sie sind eine Ferrini und…« »Genau, Suko, genau. Ich bin eine Ferrini.« Sie sprach jetzt schnell und leicht zischend. »Und weil ich eine Ferrini bin, interessiert mich das. Ich kann auch nicht außen vor sein, wenn Sie das meinen. Schließlich hat sich der Käufer des Palazzo mit mir in Verbindung gesetzt. Er hat mich gesucht und gefunden. Anwälte haben vieles geregelt, und die Verträge sind zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen worden. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe die drei Männer nicht getötet.« »Das steht fest«, sagte ich. »Eben!« »Aber ich möchte noch einmal auf den Verkauf des Hauses zurückkommen. Haben Sie Rock Paretti nicht gesagt, daß dieser Palazzo von keinem Venezianer gekauft werden wollte?« »Ich habe davon gesprochen, aber er ging darüber hinweg. Sie glauben ja gar nicht, wie geil er darauf war, das Haus zu kaufen. Er wollte einen zweiten Wohnsitz in Venedig haben. Er hat ihn bekommen. Darüber war er besonders glücklich. Alles andere nahm er gern in Kauf. Für ihn war es wichtig, hier leben zu können. Nicht immer, aber zeitweise. Er hat einen sehr hohen Preis für das Haus bezahlt, das nun leider abgebrannt ist.« »Von der Maske haben Sie nichts erzählt?« »Nein. Warum hätte ich es tun sollen?« »Kannten Sie denn die Geschichte nicht? Wußten Sie nicht, daß sich der Käufer in Lebensgefahr begibt, wenn er einziehen wird?« Böse schaute sie mich an. »Was wollen Sie beide mir eigentlich hier anhängen?« »Gar nichts«, wehrte ich ab. »Wir sammeln nur Fakten«, erklärte Suko. »Zu meinem Nachteil.« »Das sagen Sie.« »Es ist so. Dabei hatte ich Ihnen helfen wollen.« Suko lächelte sie hinterlistig an. »Dann tun Sie es jetzt. Helfen Sie uns dabei, die Maske zu fangen. Wir sind überzeugt davon, daß Sie es können. Sie sind die letzte Ferrini. Sie haben uns über die Totenmaske erzählt und uns deshalb neugierig auf eine Gestalt namens Horatio Ferrini gemacht…« »Der seit Jahrhunderten tot ist«, fiel sie Suko spöttisch ins Wort.
»Das mag ja sein, aber unserer Ansicht nach lebt er noch etwas weiter. Seine Totenmaske. Sie ist nicht tot. Sie steckt sogar voller mörderischer Kraft, wie wir haben erkennen können. Sie ist das Grauen pur, sie lebt und wird geleitet. Wahrscheinlich durch die Macht eines dämonischen Geschöpfes, aber das werden wir noch herausfinden müssen. Wir sind zudem sicher, daß die mordende Maske uns auf ihre Liste gesetzt hat. Daran können auch Sie nichts ändern.« Claudia Ferrini hob die Arme und schlug ihre Hände zusammen. »Gütiger Himmel, was Sie alles wissen.« »Wir glauben es zu wissen.« »Und was glauben Sie noch?« Diesmal sprach ich. »Wir glauben, daß Sie und die Maske in einem Zusammenhang stehen. Daß Sie ziemlich genau wissen, wo sie sich aufhält. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Es könnte durchaus sein, daß Sie und die Maske zusammenarbeiten. Sie zusammen haben den Blutspuk in Szene gesetzt.« Sie hatte mich angeschaut, ohne etwas zu sagen. Auch mit einer Antwort ließ sich Claudia Ferrini Zeit, und ihre Worte enttäuschten mich eigentlich. »Das ist ein verdammt starkes Stück, das Sie mir da vorgeworfen haben. Dann wäre ich indirekt eine Mörderin.« Sie beugte sich vor. »Können Sie mir auch sagen, welchen Vorteil ich daraus hätte ziehen sollen?« »Macht, Signora Claudia Ferrini. Vielleicht auch altes Wissen? Ein Erbe übernehmen, wo Sie doch die letzte in der Runde sind. Alles ist möglich.« »Quatsch.« Ich ließ mich nicht beirren. »Schon immer haben sich Menschen mit den Mächten der Finsternis verbündet, mochten sie auch noch so unterschiedlich sein. Der Mensch hat der Faszination des Bösen stets Tribut zollen müssen. Er ist ihm unterlegen, er weiß es nicht, obwohl er es hätte wissen müssen, denn es gibt genug warnende Beispiele. Aber nein, der moderne Mensch will ja alles ausprobieren. Gerade in der heutigen Zeit haben die Kontaktversuche zugenommen. Die Menschen suchen nach den Dingen hinter den offiziellen Werten, aber das sollten Sie selbst wissen. Ich habe hier nur etwas angerissen. Für uns zählt einzig und allein, einen dreifachen Mörder zu fassen.« »Wollen Sie mit mir zur Polizei gehen und den Leuten erklären, daß hier jemand ist, der Bescheid weiß?« »Nein.« »Ihnen fehlen die Beweise.« »Das stimmt.« »Schön.« Sie lächelte. »War das alles, was Sie mir hatten sagen wollen?«
»Nein«, sprach Suko leise. »Ich hätte da noch eine ganz bestimmte Frage.« »Auch die werde ich Ihnen beantworten, wenn ich kann«, erklärte sie großzügig. »Okay, Claudia. Wo wohnen Sie eigentlich? Sagen Sie bitte nicht, auf dem Boot.« Die Frau schickte Suko einen vernichtenden Blick zu. »So schlimm ist es noch nicht.« »Das dachte ich mir. Wo dann?« »Hier in Venedig. Wollen Sie meine Wohnung sehen?« Sie lachte etwas schrill. »Wollen Sie die Räume untersuchen, um festzustellen, ob ich die Maske versteckt halte?« »Das haben Sie gesagt.« »Aber Ihre Frage zielt darauf ab.« »Schon möglich.« Die Ferrini schüttelte den Kopf. »Dabei habe ich Ihnen nur helfen wollen. Man hat mich aus London angerufen, damit Sie jemanden haben, der Ihnen hier in dieser Stadt zur Seite steht. Und ich habe es Rock Paretti versprochen.« »Dafür sind wir Ihnen auch sehr dankbar. Außerdem würde mich interessieren, weshalb Sie uns heute abend haben treffen wollen? Es muß einen Grund geben.« »Den hatte ich Ihnen genannt.« Suko schüttelte den Kopf. »Pardon, aber den nehme ich Ihnen nicht ab. Ich denke eher, daß Sie bei uns sein wollten, um uns unter Ihrer Kontrolle zu haben.« »Meinen Sie?« »Ja.« »Und weiter?« »Ich will Ihnen sagen, was zumindest ich denke. Wenn wir unter Ihrer Kontrolle stehen, können Sie uns auch an die Maske heranführen. Vielleicht arbeiten Sie beide zusammen. Es wäre nicht das erste Mal, daß jemand Kontakt zu einem längst Verstorbenen aufgenommen hat. Und Horatio Ferrini war sicherlich kein Kind von Traurigkeit.« »Das war er nicht.« »Eben.« »Was hat er getan?« fragte ich. »Er war mächtig. Er hatte hier in der Stadt eine starke Position. Sein Wort hatte Gewicht. Er war ein sehr belesener Mensch. Er war Wissenschaftler und Künstler. Man suchte seinen Rat, und man liebte ihn auf eine gewisse Art und Weise.« »Hat er experimentiert?« »Wie meinen Sie das, John?« »Ähnlich wie Doktor Faustus oder der gute alte Frankenstein. Auch sie haben es versucht…«
»Der eine i st ein Geschöpf der Literatur, mehr nicht.« »Trotzdem. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen ihm oder ihnen nachgeeifert haben. Mehr oder minder erfolgreich. Ich könnte mir das auch bei Horatio Ferrini vorstellen…« Claudia senkte den Kopf. Zum erstenmal zeigte sie eine gewisse Unsicherheit. Sie schaute auf ihre Finger und bewegte sie langsam hin und her. »Ich kann dazu nichts sagen. Es geht nicht um ihn, sondern um die Totenmaske, die von ihm hergestellt wurde.« »Wir entdeckten sie in einer Säule.« Claudia hob die Schultern. »Wie ist sie dort hineingekommen?« »Weiß ich nicht.« »Wann wurde der Palazzo gebaut?« »Nach dem Tod Horatio Ferrinis.« »Und was war mit seiner Maske?« »Sie verschwand.« »Wahrscheinlich im Haus, in der Säule, in einer Wand oder wo auch immer, damit der böse Geist Horados für immer zwischen den Wänden blieb. So ähnlich kann es gelaufen sein.« »Es gibt ein Grab von ihm.« »Und wo?« »Auf der Friedhofsinsel San Michele.« »Dann sollten wir hinfahren und uns das Grab anschauen«, schlug der Inspektor vor. Claudia war überrascht. Sie sah aus wie jemand, der plötzlich in die Höhe springen wollte. »Sie… Sie wollen auf diese Friedhofsinsel fahren?« »Sicher.« »Und wann?« »So rasch wie möglich.« Erst sah sie aus, als wollte sie lachen. Dann aber blieb es ihr im Hals stecken. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie nach einem Räuspern. »Warum nicht?« fragte ich. »Noch haben wir Zeit, denke ich mal. Oder sehen sie das anders?« »Es ist dunkel und wird bald Nacht.« »Stimmt. Wenn Sie nicht wollen, werden wir uns allein auf die Insel fahren lassen.« Claudia Ferrini überlegte. Sie schaute uns an und lächelte dabei, doch es sah nicht echt aus. Schließlich flüsterte sie: »Si, ich sehe schon, Ihnen kann man nichts vormachen. Sie gehören zu den Menschen, die alles durchführen, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben. Sie würden auch allein auf die Insel fahren und das Grab suchen.«
»Das stimmt«, gab ich zu. »Auch wenn es länger dauern würde, bis wir es gefunden haben. So aber könnten Sie uns eine große Hilfe sein. Vorausgesetzt, Sie stimmen zu.« Claudia zögerte noch. Sie nahm ihr Glas hoch und saugte es durch den Trinkhalm leer. Dabei verengten sich ihre Augen; sie schien nachzudenken. Als sie das Glas abstellte, hatte sie sich entschlossen. »Ja, Signori, ich fahre mit Ihnen. Auch in der Nacht…« *** Die Friedhofsinsel San Michele liegt nördlich der Stadt. Ihre Nachbarinsel, die Isola Murano, ist weltbekannt durch die Kunst des Glasblasens. Wer nach Murano wollte, der kam automatisch an San Michele vorbei. Viele Touristen besichtigten die Friedhofsinsel, von der der österreichische Schriftsteller Ludwig Fels gesagt hatte, daß sie ein Treffpunkt der Generationen wäre. Hier ging man mit dem Tod anders um. Man pflegte ihn ebenso, wie man die Gräber pflegte. Familien besuchten die Insel, standen vor den Gräbern ihrer Verstorbenen, hielten stumme Zwiesprache mit ihnen, aber vergaßen auch nicht das Leben, denn es gab noch genügend Plätze, wo sie picknicken konnten, tranken, sich trafen und unterhielten. So gehörte der Tod und sein Platz eben auch zum Leben. Wir würden es anders sehen. Zum einen besuchten wir die Insel nicht im Frühjahr oder Sommer und auch nicht bei Tageslicht, sondern mitten in der Nacht. Zum Glück hatten wir eine gute Führerin, die ihr Boot zielsicher durch die Kanäle gelenkt hatte. Bald erreichten wir die offene Lagune. Leer, kaum Lichter, wie tot. Das Wasser wallte wie ein dunkler Teppich, auf dem wir uns bewegten. Claudia Ferrini deutete mit dem Arm nach Norden. »Wir werden in etwas mehr als einer Viertelstunde den kleinen Hafen erreicht haben. Sie werden auch bald den Turm der Kirche San Michele sehen können.« »Okay.« Die Fahrt verbrachten wir schweigend. Wir hatten den Eindruck, als würde uns die Frau belauern. Die Aufgabe schweißte uns zwar zusammen, doch die Motive waren unterschiedlich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Claudia die Vernichtung der Maske wollte. Für mich trieb sie ein besonderes Spiel, und dahinter wollte ich erst noch kommen. Ich hätte mir einen sternenklaren Himmel gewünscht. Der Gefallen wurde mir nicht getan. Über uns funkelten keine Sterne, auch den Mond sahen wir nicht.
Die Wolkendecke war einfach zu dick. Hinzu kam ein unangenehmer Wind, der gegen unsere Gesichter blies und auch das Wasser unruhig machte, so daß die Wellen immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen und oftmals quer gegen das Boot klatschten. Dann hörte es sich an, als würden die Klauen aus der Tiefe steigender Ungeheuer gegen die Bordwand außen schlagen. Es war still in unserer Umgebung, abgesehen vom tuckernden Geräusch des Motors. Auch dieser Laut störte mich auf dem Weg zum Ziel. Für mich war es eine andere Welt, die schon jetzt ihr Tor geöffnet hatte und uns einen Gruß entgegenschickte. Roch ich die Verwesung, die verwelkten Blumen, die verwitterten Grabsteine? Ich wußte es nicht. Ich konnte es mir vorstellen und ausmalen, denn in der Tiefe der Nacht bekamen derartige Friedhöfe noch einen besonderen Reiz. Claudia Ferrini hatte recht behalten. Wir sahen zuerst den Kirchturm. Er ragte in die Höhe wie das Mahnmal der Toten an die Lebenden und hatte eine große Kuppel. Der Umriß war wie mit einem Messer aus der Dunkelheit herausgeschnitten worden. »Wenn Sie den Friedhof sehen, werden Sie denken, in Manhattan zu sein. Statt der Häuser gibt es entlang der Wege eben Grabstätten.« Ich hatte nach dem Grund des Vergleichs gefragt und auch eine entsprechende Antwort erhalten. »Das ist ganz einfach. Die Gräberfelder gleichen einem Schachbrett. Es gibt keine verschlungenen Pfade, man kann sich gut orientieren.« »Löblich.« »Und ihn umgibt eine Mauer.« »Aber er ist kein Friedhof der Prominenz?« »Ja und nein. Wenn wir die lokalen Größen als Prominente bezeichnen, dann schon. Sie finden aber auch das Grab eines gewissen Igor Strawinski dort.« Weitere Informationen hatte sie uns nicht gegeben, und sie hatte auch nicht mehr über die Maske oder ihren Ahnherrn gesprochen. Wir fuhren den Hafen an. Er war klein, fast leer, wir konnten uns die Anlegestelle aussuchen. Die Kirche war jetzt gut zu sehen, auch wenn dort kein Licht schimmerte. »Der Friedhof liegt natürlich auch im Dunkeln«, sagte die Frau, als das Boot mit der Steuerbordseite gegen die Reifen prallte. Suko war sofort an Land gesprungen und wartete darauf, daß ihm die Frau die Leine zuwarf. Geschickt fing er sie auf und wickelte sie um einen kleinen Poller. Nun verließen auch wir das Boot, dessen Motor mit einem letzten Blubbern erstarb.
Wir standen auf dem Stein, und ich sah das Lächeln auf Claudia Ferrinis Gesicht. »Jetzt haben Sie Ihren Wunsch erfüllt bekommen.« »Nicht ganz. Uns fehlt noch das Grab Ihres Ahnherrn.« »Keine Sorge, das werden wir finden.« Sie lächelte weiter und erkundigte sich, ob wir mit Taschenlampen ausgerüstet waren. »Die hätten wir nämlich mitnehmen sollen.« »Sind wir«, antwortete ich. »Gut. Dann kommen Sie mit.« Der Kirchturm war stets präsent. Dieses Gebäude visierten wir nicht an. Sehr bald schon sahen wir die hohe Mauer, die die Gräberfelder umschloß. Sie wirkte düster und abwehrend, als wollte sie den Menschen damit andeuten, auf keinen Fall die Ruhe der Toten zu stören. Das kümmerte die Frau nicht. Sie ging einige Schritte vor uns. Ihre dreiviertellange Jacke schwang bei jedem Schritt, und sie öffnete ein Tor, das nur kulissenhaft den Zugang zum Zentrum versperrte. Das Tor quietschte gequält, als steckten in seinen Angeln die gemarterten Seelen, die noch in der Umgebung umherirrten, weil sie nicht die ewige Ruhe gefunden hatten. Schon bald knirschte unter unseren Füßen ein Brei aus Lehm und Kies, der sich auch auf den Gräbern fortsetzte. Die kleinen Steine schimmerten heller. Man konnte nicht von einer absoluten Stille sprechen, aber sehr ruhig war es schon. Die Mauern hielten auch die Geräusche der Lagune ab. Das Klatschen der Wellen erreichte uns nur gedämpft. Die Monster aus dem Wasser schienen sich Handschuhe übergestreift zu haben. Es gab kein normales Licht, und in der Dunkelheit zwischen den Gräbern fühlte ich mich den Toten so nahe wie den Lebenden. Die Luft über den Gräbern bewegte sich, als wollte sie uns die verdunstenden Körpersäfte der Leichen und die der Tränen der Besucher entgegen wehen. Diese Atmosphäre hatte ich eigentlich noch nie auf einem Friedhof erlebt. An manchen Stellen roch es auch nach Kompost. Suko hatte seine Lampe eingeschaltet. Der Lichtstrahl war nicht sehr breit. Er tanzte über Gräber und Grabplatten hinweg, er erhellte starres Gestrüpp, erließ den Kies schimmern und zeigte uns auch, wie schnell Blumen verwelken konnten. Kreuze, Steine, aber auch Engel oder andere mächtige Figuren, die wie Wächter auf die Gräber niederschauten und die Ruhe der Toten hüteten. Grüne Zypressen bildeten Dächer, und in der Luft lag auch der Geruch von Salz und Moder. Die Mauer sah zwar kompakt aus. Hin und wieder aber war sie durch Gittertore unterbrochen. Uns gelang also hin und wieder ein Blick auf die Lagune. Das Wasser dort wirkte sehr schwer. Als hätte es Mühe, sich zu bewegen und zu Wellen zu formen.
Unsere Schritte hinterließen die einzigen Geräusche. Wie eine Musik, die im Prinzip zwar gleich blieb, aber dennoch ihre Unterschiede der Melodie besaß. Es gab auch Wegweiser, auf denen Namen standen. Ich konnte sie nicht lesen, weil Sukos Lampenstrahl zu schnell darüber hinwegglitt. Ein hoher, auf einem Sockel stehender Steinmönch warf einen langen Schatten gegen mich. Mich fröstelte. Wir erlebten hier tatsächlich eine abgeschlossene Welt für sich, und auch unsere Führerin war still geworden. Sie schritt vor uns her, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Ihre Beine bewegten sich dabei wie die eines Roboters. Nicht nur die Luft brachte die Kälte mit. Sie stieg auch aus den Gräbern, so dachte ich zumindest, aber die Erde blieb normal liegen. Es war niemand da, der sie von unten her aufgewühlt hätte, um als schauriges Zombiegespenst aus der letzten Ruhestätte zu klettern. Das würde uns hier wohl erspart bleiben… Als Claudia stehenblieb, stoppten auch wir unsere Schritte. »Wir werden an der nächsten Kreuzung nach links gehen. Von dort ist es nicht mehr weit.« »Liegt er in einem großen Grab oder in einer Gruft. Vielleicht auch in einem dieser Grabhäuser…?« Sie schüttelte den Kopf. »Wo dann?« »Lassen Sie sich überraschen.« Es blieb uns nichts anderes übrig, und wieder folgten wir der Person auf dem Fuß. Ich blieb etwas zurück, holte mein Kreuz hervor, steckte es griffbereit in die Tasche, und auch die kleine Leuchte hielt ich griffbereit. Es war komisch, aber dieser Gang über den Friedhof hatte mich den eigentlichen Grund vergessen lassen. Ich war der Faszination dieser Stätte erlegen, auch wenn kein Lichtschimmer die Dunkelheit zerstörte. Es ging uns um die Maske, um den Blutspuk von Venedig. Sie aber hielt sich verborgen, als fürchtete sie sich selbst vor dieser unheimlichen und dunklen Stätte. Am Ende des schmalen Wegs blieb Claudia Ferrini stehen. Für mich stand fest, daß sie schon das Ziel erreicht hatte. »Hier ist es?« fragte ich verwundert. Claudia nickte. »Wieso?« »Ich zeige Ihnen das Grab.« Sie drehte sich und wies über das Gitter hinweg. Diesmal leuchtete ich ebenfalls. Der Strahl meiner Lampe traf sich mit dem meines Freundes Suko, und beide zusammen huschten über den Boden auf ein bestimmtes Ziel zu, das uns Claudia zeigte.
Es war ein Grab, das stimmte. Aber es war anders als die Gräber, die wir bisher gesehen hatten. Es lag auch abseits, und es war nicht so gut gepflegt. Das Grab des Horatio Ferrini war eingebettet von einem großen Komposthaufen, so daß es im ersten Augenblick kaum auffiel. Ohne Hilfe hätten wir es sicherlich übersehen, doch als wir das leise »Stopp« hörten, wußten wir, daß dieser ungepflegte und aufgewühlte Hügel tatsächlich das eigentliche Ziel war. Blätter, alte Blumen und Lehm vermischten sich zu einem feuchten Brei. Es war kein Kreuz zu sehen, nicht mal ein Grabstein. Am Kopfende des Grabs allerdings ragte etwas aus der Höhe, das uns zunächst nicht aufgefallen war. Bei einem nochmaligen und genauerem Hinleuchten sahen wir schon, daß es sich um eine Vase handelte, die wie ein Zylinder in die Höhe stach. Aus ihr ragten die Stiele mehrerer Rosen hervor! Und eine Rose hatte die Maske auch zwischen ihren Lippen getragen. Für mich gab es keinen Zweifel mehr, daß wir tatsächlich vor dem richtigen Grab standen. Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück und schaute einzig und allein auf die Rosen. »Einen Grabstein werden Sie nicht finden«, murmelte Claudia. »Warum nicht?« »Man wollte ihn vergessen, Signor Sinclair.« »Das muß einen Grund gehabt haben.« »Sicher.« »Sie kennen ihn bestimmt.« »Ich werde Ihnen den Grund nennen. Er war nicht sehr gelitten. Man fürchtete ihn, man hatte vor ihm Angst, und als er starb, da verbannte man seinen Körper in dieses Grab.« Sie nickte sich selbst zu. »Ja, es glich schon einer Verbannung.« »Was hat er getan?« »Er hat gelebt.« »Das wissen wir. Wie hat er gelebt?« »Nicht den offiziellen Regeln entsprechend. Er betete seinen Gott an, nicht den, den die Kirche vorschrieb, obwohl viele Kirchgänger und auch geistliche Würdenträger damals ein ähnliches Leben geführt haben wie er. Nur machten sie das nicht publik.« »Wer war sein Gott?« fragte Suko. »Ich weiß es nicht.« »Der Teufel?« Claudia Ferrini schwieg. »War es der Teufel?« Suko ließ nicht locker. Sie hob die Schultern. Es wirkte verkrampft. »Ob man ihn Teufel nennt, Satan, großer Meister oder Herr der Finsternis, was spielt das schon für eine Rolle? Ich weiß nur von gewissen Ritualen, die Horatio Ferrini
pflegte. Aber da war er allein. Er hat nie jemand zu sich geholt. Man munkelte und flüsterte, man war sich nicht sicher, aber man ging davon aus, daß er Böses im Schilde führte. Sein Trumpf schließlich war die Totenmaske, das hat er noch zu verstehen gegeben und es dabei auch schriftlich niedergelegt. Er hat diese Maske bereits vor seinem Tod anfertigen lassen, und er hat sie, so spricht man, immer wieder getragen. Er wollte sie weihen, sie sollte von dem Geist durchdrungen werden, den er für seinen Meister gehalten hat. Er wußte, daß sein Körper verging, die Maske aber würde bestehen bleiben, denn sein Geist würde überleben, das hatte man ihm versprochen. Und so ist es wohl auch gekommen.« »Man hat sie aber nicht hier begraben«, sagte ich. »Richtig. Er wollte es nicht. Was sollte eine Maske unter all den Toten? Sie gelangte in den Palazzo, der schon stand, doch die Säule wurde direkt nach seinem Tod errichtet, damit die Maske einen Platz hatte, an dem sie sich wohl fühlte. Und sie hat sich wohl gefühlt, das behaupte ich.« »Sie kam sogar frei.« »Durch Sie, Signor Sinclair.« Ich lachte leise. »Wenn Sie glauben, daß ich mich deswegen schuldig fühle, befinden Sie sich auf dem Holzweg. Sie ist schon vorher freigekommen, sie hatte ihr geheimnisvolles Säulengrab verlassen können, denn Sid Arnos starb, bevor wir in Venedig eintrafen. Jemand muß sie befreit haben, und jemand muß auch den mit Blut geschriebenen Brief aufgesetzt haben.« »Kann sein.« »Sie waren es, Claudia!« Ich hatte ihr die Worte geradewegs ins Gesicht geschleudert und war gespannt auf ihre Reaktion. Sie schwieg zunächst, hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Ihr Kopf war leicht gesenkt, als wäre sie dabei, etwas auf dem Grab zu suchen. Die Frau stand neben mir wie ein Schatten und hielt die Lippen zunächst zusammengepreßt. »Warum stimmen Sie mir nicht zu? Es kann keine andere Person gewesen sein als Sie.« »Stimmt.« »Aha.« Claudia betrachtete den dunklen, auch bedrohlich wirkenden Himmel über dem Friedhof. »Ja, ich habe die Maske befreit. Ich habe auch die Rosen auf das Grab gestellt, denn ich wollte meine Liebe zu Horatio Ferrini dokumentieren. Ich habe ein altes Buch entdeckt, sehr klein, vielleicht von der Größe eines Taschenkalenders. Dort habe ich Formeln und Zaubersprüche gefunden, die zu den verbotenen Schriften des Altertums gehörten. Jemand hatte sie ausgegraben, wieder neu aufgeschrieben und ihren alten Zauber somit erweckt. Ich lernte es, die
Worte korrekt auszusprechen, und es machte mir plötzlich Spaß, mit anderen Kräften zu experimentieren, auch wenn mich jemand davor gewarnt hatte, den ich ins Vertrauen zog.« »Wer war es?« »Lentini, mein Ziehonkel.« »Dann war er wesentlich weitsichtiger als Sie.« Sie lachte in die kühle Luft über den Gräbern hinein. »Das wird sich erst noch herausstellen, Signor Sinclair.« »Glauben Sie denn an einen Sieg des Bösen?« »Das weiß ich nicht, ob man es so nennen kann. Ich hoffe auf einen Sieg der anderen Macht.« »Das ist gleich.« »Für Sie schon.« »Und die Warnung haben Sie auch geschrieben?« wollte Suko von ihr wissen. »Ja, denn alle, die gegen mich waren, sollten wissen, worauf sie sich einließen. Ich habe auch meinen Ziehonkel gewarnt, doch er wollte nicht hören und sich auf meine Seite stellen. Es war sein Pech, die Maske hat ihn besucht.« »Und Sie haben ihn so einfach sterben lassen!« flüsterte ich. »Den Mann, der Ihnen stets geholfen hat. Sie sind ebenso schlimm wie ein Mörder.« »Hören Sie doch mit Ihrer Moralpredigt auf, Sinclair! Ich lebe mein Leben, und ich lebe in zwei verschiedenen Hälften. Ja, ich habe den Palazzo verkauft. Ich brauchte Geld, ich habe es bekommen, die Summe wurde mir überwiesen, aber ich wußte schon vor dem Verkauf, daß dieser Paretti nie in das Haus einziehen würde. Als die beiden Warnungen nichts fruchteten, mußte die Maske zum Radikalmittel greifen. Sie hat dafür gesorgt, daß der Palazzo abbrannte.« »Was in Ihrem Sinne war.« »Genau, Sinclair. Ich fühle wegen der Ereignisse und Vorgänge eine innere Verbundenheit zu meinem Ahnherrn Horatio. Ich habe längst festgestellt, daß die Maske ein Teil von ihm ist. Er und ich, wir beide sind in gewisser Hinsicht eine Symbiose eingegangen. Wir verstehen uns prächtig, ohne daß wir miteinander reden müßten, aber es gibt den Kontakt zwischen der lebenden und der toten Person. Wo ich bin, ist auch die Maske.« Da mochte sie recht haben. Noch leuchteten wir die Grabstätte an, aber ich drehte mich, und der helle Lichtfinger wanderte mit. Auf dem Boden hinterließ er einen Kreis. »Wenn es stimmt, was Sie gesagt haben, müßte die Maske jetzt auch in unserer Nähe sein.« Claudia drehte den Kopf. Dabei sah sie aus, als wollte sie staunen und lachen zugleich. »Haben Sie denn etwas anderes gedacht? Natürlich ist
sie in meiner Nähe, und sie wird immer mächtiger und kraftvoller. Sie holt sich das Leben der Menschen…« »Ihre Gesichter.« »Ja, denn für sie steckt das Leben darin. An die Seelen kommt sie nicht heran, aber die Gesichter sind wichtig. Sie zieht ihnen die Haut ab, sie saugt ihr Blut auf, sie verarbeitet es, denn ihr Blut durchdringt sie und sorgt dafür, daß die Stärke zunimmt. Der in der Maske steckende Geist meines Ahnherrn lebt von den Opfern der Menschen. Horatio Ferrini hatte seine Mitmenschen schon immer gehaßt. Er war nie ein Freund von ihnen, aber das wissen Sie ja.« »Stimmt.« Suko hatte in der letzten Zeit geschwiegen. Er war auch nicht mehr direkt bei uns geblieben und hatte die unmittelbare Umgebung der Grabstätte abgesucht. Jetzt kehrte er zurück und hob die Schultern. »Ich habe nichts gefunden.« Claudia Ferrini lächelte nur. »Glauben Sie denn, daß die Maske es Ihnen so leicht macht?« »Was hat sie denn vor?« »Sie wird zuschlagen, aber Sie werden den Zeitpunkt bestimmt nicht bestimmen.« »Schade«, sagte ich. »Denn ich hätte sie gern gesehen.« »Ihr Problem.« Ich schaute sie an, sagte nichts und handelte. Das Gitter vor mir war nicht sehr hoch. »He, was tun Sie da?« rief die Frau mir nach, als sie sah, wie ich darüber kletterte. »Ich möchte mir das Grab aus der Nähe anschauen.« »Nein, es hat keinen Sinn.« Sie wollte mich zurückhalten, aber Suko stellte sich neben sie und hielt ihren Arm fest. »Lassen Sie meinen Freund das tun, was er für richtig hält.« »Ich glaube nicht, daß es richtig ist.« »Ihre Meinung wird ihn nicht stören.« Das tat sie tatsächlich nicht. Ich hatte das Gitter überwunden und brauchte nur wenige Schritte nach vorn zu gehen, um schon auf dem Grab zu stehen. Der Boden war weich. Er kam mir beinahe vor, als hätte jemand versucht, ihn aufzuwühlen. Niemand hatte das Grab äußerlich gepflegt, bis auf eine Ausnahme. Die frischen Rosen in der Vase, die Claudia dem Toten ständig gebracht hatte. Sie waren es auch, die mich interessierten. Ob sie nun ein Sinnbild waren oder mehr, das mußte ich noch herausfinden, jedenfalls bückte ich mich und sah meine Hand bleich im Strahl der Lampe, die Suko über das Gitter hinweg auf mich gerichtet hielt. Ich zählte die Rosen nach.
Es waren fünf. Ich warf einen Blick auf Claudia Ferrini. Sie stand hinter dem Gitter und glich einer der Figuren, die sich überall auf dem Friedhof verteilten. Aus ihrem Mund drang kein Wort des Protestes. Sie wartete einfach ab. Vielleicht hoffte sie auch auf das Eingreifen der Maske. Zunächst griff ich zu. Die fünf Rosen hob ich zusammen aus der Vase. Ich hatte sie vorsichtig umfaßt, denn ich wollte mich an ihren Domen nicht stechen. »He, was machen Sie da…?« »Das werden Sie gleich sehen, Claudia. Ich bin der Meinung, daß nur Tote mit Blumen geehrt werden, die es auch verdient haben. Ein Horatio Ferrini hat es nicht verdient.« Sie ballte die Hand zur Faust. Plötzlich war sie wütend und zornig. Hielt sich aber zurück, denn Suko stand in ihrer Nähe, und der ließ sie nicht aus den Augen. Mit beiden Händen hielt ich die Stiele der Rosen umfaßt. Aus großen Augen schaute Claudia Ferrini zu, wie ich ihrem Gruß die Stiele knickte. In das Geräusch hinein erreichte mich ein Wehlaut, als wäre ein Tier gequält worden, aber es war Claudia Ferrini, die auf diese Art und Weise jammerte. Auf dem Grab stehend sprach ich die Frau an. »Die Rosen verwelken, sie werden gebrochen, und so wird es auch der Maske ergehen. Sie wird es nicht schaffen, ihren teuflischen Willen durchzusetzen, das kann ich Ihnen versprechen.« Claudia streckte mir die Hand entgegen, als wollte sie mich aufhalten, das aber schaffte sie nicht. Ich zerbrach ihren letzten Gruß und schleuderte die Reste weg. Dann ging ich auf das Gitter zu. Ich stellte mich Claudia direkt gegenüber. Wir schauten uns an. Nur Sukos Lampe leuchtete. Der Strahl fiel an uns vorbei, so daß er uns nur indirekt erreichte. Deshalb lag ihr Gesicht mehr im Schatten. Dennoch sah ich die Wut und den Haß in ihren Zügen. Die Augen zeigten einen verkniffenen Ausdruck, als sie mir zuzischte: »Das haben Sie nicht umsonst getan, verdammt! Nein, das haben Sie nicht umsonst getan. Es wird auf Sie zurückfallen, und es wird Sie und Ihren Freund vernichten. Du Hund, du!« Wütend spie sie aus. Ich hatte gesehen, wie sich ihre Wangen zusammenzogen und mit dieser Aktion gerechnet. Im letzten Moment duckte ich mich, zuckte auch zur Seite, so daß mich die Ladung verfehlte. Für die Frau war es erst der Anfang. Sie handelte sofort und drehte sich mit einer blitzschnellen Bewegung weg. Aus dieser Bewegung hervor startete sie in die Dunkelheit des Friedhofs hinein und war verschwunden, bevor Suko oder ich noch zugreifen konnten.
Sekunden später hörten wir ihre schrille Stimme. Das Echo wurde von den Mauern und den Grabsteinen reflektiert und erreichte uns als schaurige Warnung. »Das ist der Ort, wo Ihr sterben werdet! Hier auf dem Friedhof werdet Ihr Eure Gräber finden. Ja, hier, zwischen den Toten… den Toten… den Toten…«, echote es nach. Suko schaute mich an. »Was tun wir?« »Ich bleibe hier am Grab!« »Okay, dann hole ich die Frau.« »Ja, tu das.« Auch er verschwand, und ich blieb allein zurück… *** Ein paar Sekunden waren verstrichen, und ich stand noch immer an derselben Stelle. Ich dachte darüber nach, was ich tun sollte. Den Platz wechseln und über den Zaun klettern oder einfach auf der Fläche stehenbleiben und warten. Ich wartete, und das hatte seinen Grund. Es konnte Einbildung sein oder auch nicht, aber ich hatte einfach den Eindruck, nicht mehr allein zu sein. Es waren keine anderen Personen in der Umgebung zu sehen, auch Suko und Claudia waren verschwunden. Von beiden hörte ich nichts mehr, aber etwas anderes näherte sich mir. Etwas Fremdes, Unheimliches, etwas nicht Greifbares, das auf leisen Sohlen schlich oder sogar schwebte. Ich merkte, wie der Schauer über meinen Rücken kroch, was nicht am Wind lag. Die Geräusche des Friedhofs nahm ich überdeutlich wahr. Hin und wieder ein leises Knacken, Schaben oder Rascheln. Sicherlich keine halbverwesten Toten, die ihre Gräber verließen, sondern Mäuse und Ratten, die auf diesem Gelände sicherlich eine gute Heimstattgefunden hatten. Warten und lauern… *** Irgendwann würde etwas kommen und über mich herfallen. Etwas, das mich belauerte, und ich dachte natürlich an die Maske, die ja unterwegs sein sollte. Weiter entfernt meldete sich die Lagune. Sie trieb ihr Wasser gegen die Insel, als wollte sie alles hier überschwemmen. Ich stellte mir vor, wie das Wasser auf die Insel drang und hinein in die Gräber sickerte, wo es die Toten oder deren bleiche Gebeine einfach fortriß und hinein in die Adria trieb, wo diese Gestalten plötzlich an die Oberfläche trieben und die Badenden erschreckten.
Unsinn… das würde es nicht geben. Es war kalt. Kein Licht schimmerte auf dem Gelände, denn auch Suko hatte es nicht für nötig gehalten, seine kleine Leuchte einzuschalten. Er suchte im Dunkeln weiter. Ich wollte mich nicht um die Frau kümmern, sondern am Grab bleiben. Unter mir lag der längst vermoderte Leib eines menschlichen Dämonendieners, der es trotzdem geschafft hatte, auf eine gewisse Art und Weise unsterblich zu bleiben. Mit der rechten Hand fuhr ich in die Außentasche der Jacke und holte das Kreuz hervor. Die Berührung mit dem Metall sorgte für eine gewisse Beruhigung, ohne allerdings meine Nervosität gänzlich vertreiben zu können. Sie war da, ich wußte es! Aber wo steckte sie? Es gab zahlreiche Stellen und Orte, wo sie sich in dieser Dunkelheit verbergen konnte. Da waren die dichten Zypressen, da gaben Grabsteine genügend Deckung, aber auch die hohen Kreuze oder Figuren boten einem derartigen Gegenstand Schutz. Einmal schrak ich zusammen, weil ich einen fremden Laut gehört hatte. Eine Stimme. Nicht genau zu unterscheiden, ob Suko oder Claudia etwas gerufen hatte. Der Klang wiederholte sich auch nicht, mich umgab abermals die bedrückende Friedhofsruhe. Bis ich den Luftzug spürte. Genau hinter mir. Ich reagierte, wie jeder es getan hätte. Und das genau war mein großer Fehler. Durch die Drehung hatte ich mein Gesicht freigegeben, in das einen Moment später etwas Weiches klatschte und sich direkt an mir festsaugte. Es war die Maske. Sie hatte mich! *** Und Suko hatte die flüchtende Claudia Ferrini noch nicht gefunden. Sie war verdammt flink gewesen, was allerdings für Suko kein großes Manko bedeutete. Ewas anderes kam hinzu. Claudia kannte sich auf diesem makabren Gelände aus, er nicht. Sie wußte, wo sie sich verbergen konnte. Die Schlupfwinkel waren ihr bekannt, ebenso wie die zahlreichen Orte, wo sie die beste Deckung bekam. Sie war vom Grab fortgelaufen, allerdings nicht in Richtung Ein- oder Ausgang. Als Suko die Umgebung des Grabs verlassen hatte, sah er bald die aus dem Boden hochwachsenden Schatten, die nicht nur aus Engeln oder anderen Heiligenfiguren bestanden. Er geriet in das Gebiet,
wo sich Besserverdienende die entsprechenden Gräber und Grüften angelegt hatten. Nun fand er sich in einer regelrechten Gräberstadt wieder, in einem Dorf der Toten, wo auch die Wege besser gepflegt und mit Kies bestreut waren. Suko blieb stehen. Der Kies hatte ihn auf eine Idee gebracht. Man konnte nicht lautlos über ihn hinwegschreiten, die kleinen Körner knirschten immer, doch in diesem Fall hatte es keinen Sinn. Claudia war ebenfalls schlau genug gewesen, um einen solchen Weg nicht zu begehen. Zumindest hörte er nichts. Wahrscheinlich hielt sie sich in einem dieser Totenhäuser verborgen. Suko ging davon aus, daß die Gittertüren nicht alle abgeschlossen oder verriegelt waren. Er blickte nach links. Der Schatten stand dort wie gemauert. Es war die Seite eines großen Grabes, das beinahe schon einem kleinen Privatmausoleum glich. Er umrundete es so leise wie möglich und gelangte an die Vorderseite. Suko konnte in das Grab hineinschauen, das heißt, er sah durch die Gitter eines schmalen Tores auf zwei große Blumenkübel, die eine Betonplatte schmückten. Sie besaß einen Ring, an der sie in die Höhe gewuchtet werden konnte. Die Toten seilte man dann in ihren Särgen liegend in die Tiefe ab. Claudia war nicht zu sehen. Suko drehte sich um. Er griff nach der Lampe, er wollte Licht haben bei seiner Suche. Vielleicht irritierte sie der Strahl. Einige Schritte entfernte er sich vom Eingang der Grabstätte. Wind streichelte sein Gesicht und brachte einen fauligen Geruch mit, der aus Richtung Venedig kam und mehr nach Kloake roch. Suko leuchtete nach vorn. Ein schmaler Weg führte zu der nächsten hohen Grabstätte. Auch sie wollte Suko untersuchen, blieb auf dem Weg und sah nicht, wie sich hinter ihm eine Gestalt bewegte. Sie hatte im Dunkeln der Grabwand gelauert, hielt einen länglichen Gegenstand in der rechten Hand, den sie jetzt anhob. Sie wartete noch eine Sekunde. Dann schlug sie zu! *** Claudia Ferrini wußte, daß die beiden Männer so leicht nicht aufgeben würden. Zwar war ihr zunächst einmal die Flucht gelungen, aber diese Hyänen würden wie Leim auf ihren Fersen bleiben, und sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Es war gut, daß sie das Areal kannte. So wußte sie auch, wo bestimmte Gegenstände lagen, die sie als Waffe benutzen konnte. Nicht alle Besucher nahmen ihre Werkzeuge mit, die sie zur Grabpflege benutzten.
Es lagen kleine Schaufeln und Hacken oft genug verborgen hinter den Grabsteinen. Sie stolperte, als sie ein bestimmtes Grab erreichte. Zwar fiel sie nicht lang hin, aber ihre Hände drückten schon in die weiche Erde hinein, als wollten sie den darin liegenden Toten wieder an die Oberfläche zurückholen. Sie zog die Hände wieder hervor, atmete für einen Moment tief ein und kroch auf den Grabstein zu. Sie wußte, daß dort die Werkzeuge lagen. Ohne ihr Feuerzeug einzuschalten, faßte sie hin und hatte schon beim ersten Versuch Glück, als sie den Griff einer dreizinkigen kleinen Hacke umfaßte, deren Metall nur an den Spitzen blank schimmerte, ansonsten aber verrostet war. »So«, flüsterte sie keuchend, »so…« Sie kroch vom Grab und richtete sich wieder auf. Kam er? Claudia Ferrini hielt den Atem an. Nichts sollte sie bei ihrem Lauschversuch ablenken. Zuerst hörte sie nichts, dann aber die typischen Geräusche, die von vorsichtig gesetzten Schritten verursacht wurden. Da versuchte jemand, so leise wie möglich zu gehen. Claudia konnte auch feststellen, in welche Richtung er sich bewegte. Wenn er weiterging, würde er das kleine Gräberdorf erreichen. Sie lächelte. Glanz trat in ihre Augen, denn sie wußte sehr genau, daß sie sich dort gut auskannte. Oft genug war sie schon dort gewesen. Noch einmal atmete sie durch, dann lief sie über einige andere Gräber hinweg und näherte sich den starren Schatten und Mauern des Totendorfes, um das sich die Finsternis schmiegte. Er würde kommen, und sie würde hier auf ihn warten. Claudia mußte sich noch gedulden, um herauszufinden, wo er ungefähr hergehen würde. Es dauerte nicht mal eine halbe Minute, da nickte sie, und ihre Augen verengten sich dabei. »Du wirst dich wundern«, hauchte sie, »du wirst dich wundern, du verfluchter Schnüffler.« Sie wußte nicht, wer die Verfolgung aufgenommen hatte, rechnete aber vom Gefühl her mit dem Chinesen. An eine Grabwand gelehnt wartete sie. Sekunde für Sekunde verstrich. Ihr wurde kalt, aber innerlich tobte sie. Die kleine Gartenhacke hielt sie in der rechten Hand. Die Tritte wurden lauter. Dann verstummten sie in ihrer Nähe. Noch mußte sie warten. Was tat er? Zunächst nichts. Er würde durch das schmale Gittertor in das Grab schauen, das war alles. Nein, er ging weiter. Und er hatte dabei seine kleine Leuchte eingeschaltet. Sie lächelte, hob den rechten Arm, sah, wie der Strahl über den Weg, aber auch an ihr vorbeiglitt. Ihm folgte der Mann, und es war tatsächlich
der Chinese, hinter dessen Rücken sich die Frau aufrichtete, den Arm hob, einen leisen Schrei der Erlösung ausstieß und dann zuschlug. Die kleine Hacke raste wie eine Kralle auf den Nacken des Mannes zu… Die Maske hatte mich unter Kontrolle! Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte. Sie war außen hart, aber innen weich, und diese weiche Masse traf mein Gesicht und biß sich fest wie Schlamm. Durch den plötzlichen und harten Anprall war ich zurückgestoßen worden, taumelte und stolperte über einen aus dem Boden ragenden Gegenstand. Ich landete auf dem Hinterteil und wenig später auf dem Rücken. Zum Glück war der Untergrund weich, sicherlich lag ich auf dem Grab des Horatio Ferrini, und seine Totenmaske hielt mein Gesicht umfangen. Wenn es nicht so ernst und lebensgefährlich gewesen wäre, ich hätte sicherlich gelacht. Nun mußte ich erleben, daß dieses Ding auf meinem Gesicht mehr als nur eine simple Maske war, denn es barg eine Botschaft, die es auch verteilte und die so stark war, daß sie zunächst meine Widerstandskräfte erlahmen ließ. Etwas drang in mein Gehirn ein. Gedanken – Gedanken eines Toten. Einer Gestalt, die längst zu Staub zerfallen war und unter der Erde lag. Ein böser Geist hatte die Maske für sich eingenommen, er leitete und führte sie, denn sie steckte unter seiner Kontrolle. Ich kämpfte gegen ihn. Ich sah ihn nicht, und ich sah ihn trotzdem. Es war sicherlich keine Einbildung, die Bilder vor meinen Augen zu sehen. Gesichter reihten sich zusammen, als würde in der Maske ein Film ablaufen. Ich sah das Gesicht des toten Sid Arnos, die der beiden Wassertaxifahrer und auch andere, die aber weiter entfernt und weniger deutlich. Wahrscheinlich waren es frühere Opfer der Maske. Flüsterten Stimmen durch mein Gehirn? Erreichten sie meine Ohren? Ich wußte es nicht. Aber ich sah noch ein Gesicht. Eine glatte Fratze, deren hohe Stirn mir sofort auffiel. Die Haare dahinter waren zurückgekämmt, sie schimmerten wie altes Silber. Ich sah auch zwei grausame Augen in diesem Gesicht, eine scharfe Nase und einen böse verzogenen Mund. Das mußte das Gesicht des Horatio Ferrini sein, hinter dem sich plötzlich ein weiteres aufbaute. Eine dreieckige Fratze mit zwei Hörnern auf der Stirn. Feueraugen rotierten in den Höhlen, und ich wußte, wer sich dahinter abzeichnete. Es war der Teufel, Asmodis, mein Todfeind. Er, der in zahlreichen Gestalten auftreten konnte und auch auftrat, zeigte sich gerne so, wie
ihn die Menschen des Mittelalters und auch später gern sahen. Es machte ihm einfach Spaß, wobei mich der Anblick nicht so sehr erschreckte. Ich erschrak eher, wenn ich darüber nachdachte, was hinter ihm steckte, welche Boshaftigkeit, welcher Terror und welche Menschenverachtung. Asmodis grinste, Ferrini ebenfalls. Beide waren eins. Sie hörten aufeinander, sie hatten einen Pakt über den Tod hinaus geschlossen, und Mittler dieses Pakts war die verfluchte Totenmaske. Ich wußte nicht, ob sie noch eine Rose zwischen den Lippen trug und wunderte mich selbst über diesen Gedanken, der allerdings abgehakt wurde, als die Maske damit begann, ihre furchtbare Kraft auszuspielen. Zuerst roch ich das alte Blut, das in ihrem Innern steckte. Es stank, von einer modrigen Süße begleitet. Einfach widerlich und ekelhaft. Zugleich aber begann das Zerren und Reißen an meiner Gesichtshaut, denn deshalb war sie erschienen. Sie wollte mein Gesicht! *** Manchmal geht es wirklich um Bruchteile von Sekunden. Da entscheidet es sich, ob sich das Blatt zur einen oder zur anderen Seite wendet. So war es auch bei Suko. Er war ein Mann mit blendenden Reflexen. Er roch eine Gefahr, er nahm sie auf, und er schaffte es oft genug, daraufhin genau richtig zu reagieren. Auch hier war er gewarnt worden. Nicht durch einen fremden Helfer, sondern durch Claudia Ferrini selbst, die sich so stark innerlich und äußerlich darauf eingestellt hatte, Suko zu vernichten, daß sie während des Schlags ihre angestaute Spannung als Atemzug freie Bahn ließ. Dieser warme Luftzug hatte Suko getroffen. Aus der Bewegung hervor wuchtete er sich nach vorn. Die drei Zinken der kleinen Hacke rasten nach unten, sie erwischten Suko auch, aber nicht seinen Nacken, wo sie sich tief in Fleisch, Sehnen und Muskeln gepflügt hätten, sondern den hochgestellten und auch sehr dicken Kragen der Lederjacke. Die Zinken griffen zu, und der Schwung schleuderte Suko nach vorn, dem Boden entgegen. Er riß aber zugleich der Frau den Griff aus der Hand, so daß sie plötzlich waffenlos dastand. Für einen Moment war sie irritiert. Sie schaute vor sich zu Boden, wo sich Suko bewegte. Er hatte genau richtig gehandelt und den Aufprall in eine Rolle vorwärts verwandelt. Noch einmal rollte er sich um die eigene Schulter und kam mit einem Sprung wieder auf die Beine, jetzt so gedreht, daß er Claudia anschauen konnte.
Die kleine Leuchte hatte er verloren. Sie lag flach auf dem Boden und strahlte in eine andere Richtung. Suko hob seinen rechten Arm. Die Hand glitt über die Schulter hinweg, dorthin, wo noch die drei Zinken der kleinen Hacke im Leder steckten. Er zog das Werkzeug hervor und hielt es Claudia hin. »Damit wollten Sie mich töten?« Sie sagte nichts. Suko schleuderte das Ding weg. Irgendwo in der Dunkelheit klirrte es gegen einen Grabstein. Dann bückte er sich, hob die Lampe auf und leuchtete Claudia an. Sie zwinkerte, weil der Strahl sie getroffen hatte, aber sie hielt die Lippen zusammengepreßt, und die Blässe in ihrem Gesicht lag nicht allein am Schein der Leuchte. Claudia Ferrini war intelligent genug, um zu wissen, daß sie verloren hatte. Aber sie wollte es nicht zugeben, denn sie sprach Suko mit tonlos klingender Stimme an. »Es war bestimmt nicht schwer, mich außer Gefecht zu setzen, trotzdem hast du nicht gewonnen. Du nicht und auch dein Freund nicht, denn die Maske ist unbesiegbar. Sie ist stärker als der Mensch, viel stärker. In ihr stecken die Kräfte der Hölle, und welcher Mensch kann ihnen schon etwas entgegensetzen?« »Vielleicht wir?« Ihr schrilles Lachen klang unecht und bewies Unsicherheit. »Nein, so gut seid ihr nicht.« »Wir werden uns gleich davon überzeugen können. Dreh dich um und geh!« »Wohin?« »Zum Grab deines geliebten Ahnherrn. Du wolltest doch sehen, was die Maske getan hat. Ich will es auch sehen. Jetzt dreh dich um und denke immer daran, wer hinter dir ist.« »Ja, ich weiß es. Hinter mir ist jemand, dem ich die Pest und die Hölle an den Hals wünsche.« »Gibt es da einen Unterschied?« Sie schwieg und folgte Sukos Befehl… *** Es hatte niemand ein Gefäß mit Säure über meinem Gesicht ausgekippt, es kam mir aber trotzdem so vor, denn das Brennen von der Stirn bis zum Halsansatz war einfach furchtbar. Zum erstenmal erlebte auch ich, welche Qualen die anderen Menschen durchgemacht hatten, bevor sie starben. Ja, die anderen, die war ich nicht. Sie hatten vor allen Dingen keine Waffen besessen, mit denen sie sich wehren konnten. Ich aber war mit dem Kreuz ausgerüstet, das in meiner rechten Außentasche steckte. Ich drehte mich auf dem Boden nach links, schob die Hand in
die Tasche, was alles sehr schnell ging und auch schnell gehen mußte, weil das Brennen in meinem Gesicht an Stärke zunahm und ich zugleich den Eindruck hatte, sogar blind zu werden. Ich zerrte das Kreuz hervor. Die Hände konnte ich beide bewegen. Während ich mich auf der weichen Graberde wieder zurück auf den Rücken rollte, hob ich den rechten Arm an und schlug damit einen Bogen, um das Kreuz auf die Außenhaut der Maske zu pressen. Es hatte noch nie einen direkten Kontakt zwischen den beiden Gegenständen gegeben, aber ich vertraute auf die Stärke meines Kreuzes auch deshalb, weil Asmodis davor eine immense Todesfurcht hatte. Ich hörte den hellen Klang, als das Metall gegen die Maske kratzte. Die äußere Reaktion bekam ich nicht mit, aber ich sah, was innen geschah. Die Fratze des Teufels verzog sich. Sie lief plötzlich auseinander, als bestünde sie aus dickem Schleim. Horatio Ferrinis Gesicht strahlte ein unbeschreibliches Grauen ab, wie man es nur von einer Person kannte, die die nackte Todesfurcht erlebte. Augen zuckten und waberten in den Höhlen, bevor sie zerliefen wie zähflüssige Tränen. Später erwischte mich noch einmal der Schmerz, meine Gesichtshaut zog sich zusammen, dann hörte ich ein schmatzendes Geräusch, als sich die Maske von meinem Gesicht löste wie ein Saugnapf. Ich lag auf dem Rücken stierte in die Dunkelheit und entdeckte dicht vor mir die Umrisse des Kreuzes. Ich kriegte auch wieder Luft, und sie strömte herrlich kühl in meine Lungen. Noch lag ich auf dem Rücken, was sich sehr bald änderte, denn schwungvoll geriet ich in eine sitzende Haltung und suchte sofort nach der Maske. Oder war sie zerstört? Nein, sie war es nicht. Sie lag auch nicht am Boden, sie flog oder taumelte durch die Luft, denn die Bewegungen, die sie bei ihrer Flucht beschrieb, waren nicht normal. Sie glichen denen eines torkelnden und angeschossenen Vogels, der es nicht mehr schaffte, sich in die Luft zu schwingen. Einem alten Lappen gleich taumelte sie in meiner Nähe umher, mal nach vorn, dann wieder zur Seite, auch wieder zurück, und schließlich klatschte sie jenseits des Gitters gegen einen breiten Grabstein, wo sie klebenblieb. Ich nutzte das Gitter als Hilfe, umklammerte die Stäbe und stemmte mich so in die Höhe. Die Maske war sehr gut zu sehen, denn Suko und Claudia waren erschienen. Mein Freund hielt die Frau mit der rechten Hand fest. Die linke hatte er so gedreht, daß der Strahl der Lampe gegen den Grabstein fiel und die Maske aus ihrem dunklen Hintergrund hervorriß. Ein altes Stück Leder, ein brüchiger Handschuh, wie auch immer man sie bezeichnen sollte, von ihrer äußeren Festigkeit war nicht mehr viel
zurückgeblieben. Es gab keine Rose mehr in dem Maul, auch kein starres Gesicht mehr mit schwarzen Augenhöhlen, es war nur mehr eine zuckende und allmählich breiig werdende Masse vorhanden, die wie dunkler Sirup am Gestein nach unten rann und auf der Erde eine Lache hinterließ. Die Maske war tot, vernichtet, erledigt, die Kraft des Kreuzes war letztendlich wieder mal stärker gewesen als die Macht des Teufels. Und darüber freute ich mich. Nicht aber Claudia Ferrini! Sie hatte hinschauen müssen. Es war für sie wie ein Zwang gewesen, und sie brüllte schrecklich auf, daß selbst Suko und ich eine Gänsehaut bekamen. Dann knickten ihr die Beine weg, sie rutschte aus Sukos Griff hervor und brach zusammen. *** Claudia Ferrini war ohnmächtig geworden. Während Suko den schlaffen Körper auf seine Arme hievte, schaute ich mir die Reste der Maske an, die auf einem Grab lagen, wo sie eigentlich auch hingehörten. Das, was von ihr übriggeblieben war, sah aus wie verbrannte Blumen. Es sonderte noch einen ekligen Geruch ab. Es stank nach Blut und verkohlter Haut. Ich hoffte nur, daß die Opfer der Maske Ruhe hatten und ihre Geister, Seelen oder wie auch immer sich nicht in den Klauen einer teuflischen Macht befanden. Mochte der Friedhof hier auf der Insel auch für viele Touristen interessant sein, für uns war er es nicht mehr. Wir sahen zu, daß wir ihn so rasch wie möglich verließen. Das Boot dümpelte auf dem Wasser. Ich schaute nach Süden. Dort schimmerten die Lichter der Lagunenstadt wie eine Sternenwolke inmitten der Dunkelheit des Alls. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich daran dachte, daß ich die Schönheiten Venedigs mal als Tourist erleben wollte. Bisher war ich nur in die Stadt gekommen, um zu arbeiten. Ich hatte das Boot losgetaucht. Die Ferrini war aus ihrer Ohnmacht noch nicht erwacht. Später, als wir Venedig ansteuerten, fragte Suko: »Was machen wir mit Claudia?« Ich hob die Schultern. »Was schon? Nichts. Wir werden mit Fungi sprechen, dem Pizza-Kommissar, und ihm wohl einiges erklären müssen. Ob er uns glaubt, ist seine Sache. Er kann sich mit der Signora hier beschäftigen. Jedenfalls hat sie zu hoch gepokert.« »Und verloren«, sagte Suko. Dem brauchte ich nichts mehr hinzuzufügen… ENDE