Luc Bahl
Blutiges Strandgut Version: v1.0
»William!« Plötzlich frischte der Wind auf und zerzauste William Tylers Haa...
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Luc Bahl
Blutiges Strandgut Version: v1.0
»William!« Plötzlich frischte der Wind auf und zerzauste William Tylers Haare. Aber er war mit seinen Gedanken so weit weg, dass er es gar nicht spürte. Seine braunen Augen wanderten über die Wellen, von deren Spitzen sich die Gischt in weißen Fetzen löste. Sein Blick ging in eine unbestimmte Ferne. »William! Hast du Stroh in den Ohren!« Der Kopf des Jungen ruckte herum, als er aus seinen Träume reien gerissen wurde. »Oh, entschuldigen Sie, Mr. Norton! Ich war mit meinen Gedanken woanders!« »Verdammt Tyler! Ich sagte, rauf mit dir! Der Befehl lautet: Royais einholen und Bramsegel reffen! Marsch! Deine Kame raden sind schon längst in der Takelage!« James Norton, der erste Maat, war puterrot im Gesicht.
William hatte keine Zeit darüber nachzudenken, ob er aus Wut so war oder weil Mr. Norton – wie so oft – heimlich getrunken hatte. Er kletterte blitzschnell zu den Rahen, wo seine Kameraden bereits auf ihn warteten. Er hatte befürchtet, dass sie lachen würden, weil er als Letzter oben war. Philip Morlock aber, der neben ihm über die Rah gebeugt war, knurrte nur: »Festhalten!« Doch in diesem Augenblick riss ihnen eine Böe das Segeltuch aus der Hand. Der Wind tobte jetzt kräftig von West. Die Bram kämpfte wie ein gefangenes Tier. Das Segel peitschte ihnen Sturzbäche von Regenwasser, das sich in seinen Falten gesammelt hatte, ins Gesicht. Die Hände der Matrosen griffen wie blind ins Leere, bis sie endlich wieder ein Stück Stoff zu fassen bekamen und es hochziehen konn ten. Schließlich gelang es ihnen, das wild gewordene Tuch zu bän digen und zu vertäuen. Der Sturm war kalt und schneidend geworden, und sie sahen von oben, wie ein Brecher über die Reling der Walhoina schoss. Da war ein infernalischer Lärm – und mit dem Lärm kam die Dunkelheit. William spürte, wie sich das Schiff schwer nach Backbord legte, seine Füße rutschten über die Taue. Endlich richtete es sich wieder auf. Doch nur, um sich tief auf die Steuerbordseite zu neigen. William wusste: Wenn sie hier draußen auf offener See kentern sollten, würde das ihr aller Tod bedeuten. Das Wasser war eiskalt, der Herbst verabschiedete sich in den Winter. Außerdem konnten nur die wenigsten von ihnen schwimmen. Eben noch reichte die Sicht meilenweit, um die weit entfernte Küstenlinie Cornwalls oder den im Grau verschwimmenden Hori zont zu sehen. Doch jetzt zog sich dieses Grau um sie herum zu sammen. Eine feuchte Kugel, in der sie eingeschlossen waren, die sie von oben, von unten und von allen Seiten bedrängte. In das anfangs fahle Grau mischte sich zunehmend eine kalte Schwärze, keine klare
Schwärze der Nacht sondern eine unbestimmte Dunkelheit, wie in den tiefsten Kerkern des Londoner Towers. William fragte sich, während er jetzt mit seinen Kameraden den gleichen Kampf mit dem Marssegel begann, warum der Kapitän und sein erster Maat so von diesem Unwetter überrascht worden waren. Die Walhoina verfügte über die segensreiche Erfindung des Evangelista Torricelli – ein Barometer. Im Jahre des Herrn 1841, führte fast jedes Schiff der britischen Handelsflotte dieses Instru ment mit sich. Der plötzliche Wetterumschwung war für diese Jah reszeit nichts ungewöhnliches, aber das Barometer hätte ihn vorher sagen müssen. Rechtzeitig vorhersagen müssen. William Tyler drehte sich ein Stück nach hinten, während er die Arme vor lauter Kraftanstrengung kaum noch spürte. Er konnte durch die Dunkelheit nur schemenhaft erkennen, dass die meisten Matrosen in den Wanten des Großmasts hingen und auch hier mit den Segeln kämpften. Kaum einer seiner Kameraden behandelte ihn noch als das, was er offiziell war. Nämlich ein Schiffsjunge, der erst vor einem Monat auf offener See seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Sogar Ka pitän Howard hatte ihm gratuliert und für ein paar Minuten seine Distanz aufgegeben, die er sonst zur Mannschaft wahrte. Für die Mannschaft war William ein vollwertiger Matrose, jeden falls erledigte er seine Arbeit nicht schlechter als jeder andere an Bord. Und mit seinen gelegentlichen Tagträumereien war er nicht allein. Die meisten Männer verloren sich ab und an in ihren Ge danken. Denn sie alle waren nun schon viele Monate unterwegs und sehnten sich nach Schottland, wo der überwiegende Teil der Be satzung herstammte. William war eine Ausnahme. Er kam von der kleinen Kanalinsel Sark, die zwischen Jersey und Guernsey lag.
Seit Monaten waren sie nicht mehr so nah an ihre Heimat herange kommen. Im Moment segelten sie Cornwalls Küste entlang Richtung Bristol. Die Walhoina hatte in Odessa Getreide geladen, das im Königreich dringend gebraucht wurde. Die Nachrichten von den schlechten Ernten und der hungernden Bevölkerung drangen bis nach Übersee. Als endlich auch Mars und Royais vertäut waren, sah William, wie sich Jeremy, der Steuermann gemeinsam mit Kapitän Howard gegen das Steuerrad stemmte, um das Schiff auf Kurs zu halten. Tasker war noch ganz oben in den Wanten des Fockmasts, und er schrie etwas herunter. Aber wegen des Sturms war nichts zu ver stehen. William beobachtete, wie Tasker einen Arm aus den Web leinen zog, an denen er sich festhielt und heftig nach Backbord zeig te. Immer mehr Brecher schossen über Bord, klatschten gegen die Männer und hätten sie über die Planken geschleudert, wenn sich nicht jeder von ihnen irgendwo festgeklammert hätte. Alles, was jetzt nicht verzurrt und festgebunden war, wurde von dem Wasser über das Deck geschleudert. Die Walhoina beugte sich schwerfällig nach vorn und sackte in ein gewaltiges Wellental hinab. Die Seile, mit denen der Koch einige Fässer außen an der Kombüse festgebunden hatte, rissen mit einem peitschenden Knall. Wie Ka nonenkugeln schlitterten die Fässer über das Deck. Kaum hatte das Schiff den Boden des Wellentrogs erreicht, krachte die nächste Ladung Wasser über den Bug. Irgendetwas hatte die Speigatten verstopft. Das Wasser floss nicht mehr ab und William konnte sich lebhaft ausmalen, wie es jetzt unter Deck aussah. Wahr scheinlich schwappte das Wasser bereits hüfthoch in den Laderäu men. In diesem Moment zerriss ein greller Blitz das düstere Inferno und erhellte für den Bruchteil eines Augenblicks ihre Umgebung.
Während alles um sie herum aufleuchtete, wie in bengalisches Feuer getaucht, schob die unsichtbare Faust des Orkans den Zwei master auf den haushohen Wellenkamm. Die grau-schwarze Blase, die das Schiff umhüllt hatte, war mit einem Schlag zerplatzt. Mit offenen Mündern starrten die Matrosen auf die kathedralen hoch aufragende Steilküste. Sie war zum Greifen nah. Und unbarm herzig schob sie der Sturm immer weiter auf die Klippen zu. Messerscharfe Felsnadeln erhoben sich vor der Küste aus der Gischt. Wie ein Ball tanzte die Walhoina nun auf den Wellenbergen – mal nach steuerbord, mal nach backbord –, so als müsse sich das tobende Meer überlegen, wohin es die Brigg noch schleudern solle. »Ein Strand! Ein Strand!«, schrie Tasker, der noch immer im Fock mast hing. Es war William unbegreiflich, wie er sich bei diesem See gang dort oben halten konnte. Tatsächlich sahen die Männer an Bord nun auch für einen Augenblick jenen schmalen, keine tausend Fuß langen Streifen Sand, der immer wieder von den wütenden Wo gen überrollt wurde. »Hart Backbord!« brüllte der Kapitän, der wusste, dass dies ihre einzige Chance war. Sie mussten es schaffen, die Walhoina dort auf den Sand auflaufen zu lassen. Dann konnten sie vielleicht ihr Leben und mit sehr viel Glück auch noch einen Teil ihrer Ladung retten. Doch während er seine Befehle bellte, durchlief ein unrhyth misches Zittern das hin und her geworfene Schiff. Ein Knirschen mischte sich in das Gebrüll des Orkans. William sah, wie direkt über ihm der Fockmast brach, als wäre er ein morscher Ast. Er sah den geborstenen Mast direkt auf sich her abstürzen – und er sah die verzweifelt durch die Luft rudernden Arme von Tasker, dessen Beine fest in den Webleinen steckten … Das war es, dachte William und war erstaunt, wie banal seine letz ten Gedanken waren. Er schloss die Augen.
Doch der schädelzermalmende Schlag blieb aus. Ruckartig riss er die Augen wieder auf und sah gerade noch, wie der Mast nur Fingerbreit über seinem Kopf – gelenkt von widerspenstiger Takelage – zur Seite schwenkte und dann wie ein gigantischer Speer ins Meer geschleudert wurde. »Mann über Bord!«, schrie William. Doch niemand schenkte ihm Gehör. Das, was seine Kameraden nun sahen, raubte ihnen beinahe den Verstand. Die Walhoina schoss direkt auf den rettenden kleinen Strand zu. Doch direkt vor ihr erhoben sich wie die Reißzähne eines gigan tischen Hais blitzende Felsnadeln aus den Fluten, an denen die Gischt herabperlte wie der Geifer atemloser Gier. Und als hätte es den rettenden Streifen Strand zu keiner Zeit gegeben, bleckte die sturmumtoste Steilküste weitere Fangzähne, die sich in die berstenden Planken der Brigg bohrten und das Schiff mit einer Ge walt auseinander rissen, als bestünde es aus dünnem Papier. Der Wucht, mit der die Walhoina in den Felsen zermalmt wurde, konnte sich niemand entziehen. Mensch, Ladung und Schiffstrüm mer wurden durch die Luft geschleudert, gurgelnde Wassermassen zogen Teile des Rumpfs in eine unbestimmte Tiefe. Die ungewöhnliche Schnelligkeit, mit der die Walhoina auf dem Höhepunkt der Katastrophe aufgehört hatte zu existieren, war der einzige schwache Trost, den dieses unfassbare Ereignis bereit hielt. Alles war so plötzlich geschehen, dass niemandem von der Be satzung Zeit geblieben war, das ganze Ausmaß und die grausame Konsequenz dieser Tragödie voll zu erfassen. Der Tod fiel gierig und rasch über die Mannschaft her – das war die einzige Gnade, die er gewährte. Befriedigt schloss sich das gewaltige Felsenmaul wieder …
*
William Tyler erwachte. Er hing in der Felswand und spürte, wie warme Flüssigkeit über sein Gesicht ran. Er schob die Zunge zwischen seinen Lippen her vor. Es schmeckte ein wenig nach Eisen und Salz. Er begriff, dass es sein Blut war. Die Felswand fiel fast senkrecht nach unten. William fragte sich, wie es sein konnte, dass er hier hing und nicht in die tosenden Fluten stürzte, die weit unter ihm gegen die Klippen schlugen. Gleichzeitig spürte er schmerzhaft wie Empfindungen in seinen Körper zurückkehrten, und er fühlte einen merkwürdigen Druck links und rechts in seinen Achselhöhlen. Wie zwei Hörner standen hier zwei faustdicke Felsgrate nach vorn, die ihn genau unter den Armen aufgefangen hatten. Zwischen die Zinken einer steinernen Gabel geklemmt, hatte ein gnädiges Schicksal verhindert, dass er von deren Zinken durchbohrt worden war. William tastete mit dem linken Fuß über die fast senkrechte Wand und fand fast in Kniehöhe einen kleinen Vorsprung, der fest genug war, dass er sich einige Handbreit weiter hochschieben konnte. Er zwängte auch den rechten Fuß auf den Vorsprung und hielt sich jetzt mit beiden Händen an den Felshörnern fest. Er atmete tief durch. Dann löste er die rechte Hand und tastete über sich. Noch immer war so gut wie nichts zu sehen. Und obwohl sich die See etwas zu beruhigen schien, donnerten die Wellen unter ihm mit einem Getöse gegen die Klippen, dass alle anderen Geräusche da von übertönt wurden. Williams völlig durchnässte, zerfetzte Klei dung flatterte um seinen an vielen Stellen blutenden Körper. Doch in ihm tobte eine derartige Panik, dass Schmerz, Kälte und Erschöp fung davon übertönt wurden wie das Geschrei einer Möwe im Lärm der Brandung. Kein weiterer Vorsprung bot Halt. Er reckte sich derart, dass sein
halb ohnmächtiger Körper gedehnt wurde wie auf einer Streckbank. Endlich streiften seine Fingerspitzen etwas. Noch ein Stück höher. Fast verloren seine Füße das schmale Stück Boden unter sich. Es war kein Fels, was William zu fassen bekam. Es war Holz! Es war von hochfliegender Gischt befeuchtet, war allerdings fest in der Steilwand verankert. Wirklich fest? Er musste es riskieren. Er stieß sich ab, umklammerte das Holz – eine frei liegende, taudi cke Wurzel! – und zog sich ächzend hoch. Seine Füße fanden nun Halt auf den beiden Felshörnern. Er ertastete weitere Wurzeln, Erde rieselte auf ihn herab. Täuschte er sich oder wurde es dort flacher? William bohrte seine Finger in feuchtes Wurzelgeflecht und zog sich weiter hoch. Sein Bauch schleifte über eine Kante. Jetzt war es tatsächlich nur noch so steil wie ein Dach, und als er sich weiter nach oben hievte, bekam er Gras zu fassen. Er zog sich endgültig über den Rand der Klippe, richtete sich auf – und stolperte. Der feuchte Boden war rutschig. Er fluchte vor Schmerz und bewegte sich auf allen vieren vor wärts, ohne zu bemerken, dass der Boden immer flacher wurde. Erschöpft, völlig durchnässt und halb erfroren brach William Tyler unter einem Holunderstrauch zusammen …
* Charles Walken fand William in den ersten Strahlen der aufge henden Sonne. Noch immer blies ein kräftiger Westwind über die grünen Hügel
Cornwalls. Aber dieses Wetter war nichts im Vergleich zu dem Or kan, der während der Nacht getobt hatte. Vor allem kamen die dunklen Wolken über dem Meer kaum noch bis in Küstennähe. Und im Osten, dort wo gerade die Sonne aufging, war keine einzige Wolke mehr zu sehen. Charles hatte sich heimlich aus dem Haus geschlichen. Mitten in der Nacht hatte jemand heftig an der Tür geklopft. Sein Vater, Pfarrer Henry Walken, hatte geöffnet, und Charles, der neu gierig die Treppe herunterkam, war mit einem barschen Befehl zu rück in seine Kammer geschickt worden. Doch er hatte den nächtlichen Besucher mit der flackernden Koh leöllampe erkannt, Sam Meadow. Charles war wieder nach oben ge gangen. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was die beiden Erwachsenen zu bereden hatten. Er musste nichts verstehen. Jetzt, da er an der Klippe stand – und auch bereits heute Nacht –, war ihm klar, war geschehen war. Wieder einmal war an der Steilküste von Morwenstow ein Schiff gekentert und die Männer aus den umliegenden Höfen sammelten sich mit Fackeln, Seilen, Karren und Lasttieren, um rasch an Ort und Stelle zu sein. Bald würde die Ebbe einsetzen und die Erntezeit be ginnen. Doch kaum hatte Charles gehört, dass sein Vater zusammen mit Sam Meadow das Haus verlassen hatte, zog er sich die Stiefel an. Durch das kleine Fenster neben der Tür konnte er die schwan kenden Lichter der sich entfernenden Laternen sehen. Rasch zog er seine Jacke an, öffnete die Tür und lauschte, ob seine Mutter wach geworden war. Doch das Haus war still. Behutsam schloss er die Tür hinter sich. Weit entfernt blinkten die Lichter. Es wurden immer mehr. Das halbe Dorf war auf den Beinen und eilte zur Steilküste.
Und nun stand Charles hier, und vor ihm lag ein fremder Mann, der kaum älter sein konnte als er. »Ein Überlebender!«, schrie der Junge, als er sah, dass sich die Brust des Bewusstlosen schwach aber gleichmäßig bewegte. »Hierher! Ein Überlebender!« Es war Charles ein Rätsel, wie es dem Schiffsbrüchigen gelungen war, ausgerechnet hier die Klippe hochzuklettern. Doch die Spuren in dem Gras waren deutlich zu erkennen. Sie kamen genau von dort, wo die Grasdecke über dem Abgrund abbrach. »Hierher! Hört mich denn keiner!«, rief Charles. »Verdammt! Was machst du hier?« Keuchend lief Henry Walken über die feuchte Wiese. »Hatte ich dir nicht ausdrücklich gesagt, dass du …« Einige Leute kamen unmittelbar hinter dem Pfarrer angerannt, der abrupt stehen blieb, als er den ohnmächtigen Burschen neben dem Busch liegen sah. »Ein Überlebender!«,rief der Pfarrer. »Gott war ihm gnädig. Vor wärts Leute, tragt ihn ins Pfarrhaus, schnell!« Henry beugte sich zu seinem Sohn, der neben William Tyler kniete und sagte leise: »Wenn dieser Junge überlebt, dann hat er seine Rettung dir zu verdanken, mein Sohn. Trotzdem bin ich böse auf dich, weil du das Haus verlassen hast, obwohl ich es dir ausdrücklich verboten habe!« »Vater, ich …« »Sei still, wir wollen uns jetzt lieber um diesen Burschen küm mern!« In der Stimme des Pfarrers schwang ein Rest unterdrückter Zorn. »Ich helfe, ihn zu tragen. Je mehr mit anpacken, desto besser.« »Charles hat Recht.« Sam Meadows raue Stimme übertönte das Geflüster zwischen Vater und Sohn. Charles sah, wie Sam mit dem Kopf leicht seitwärts ruckte. Inzwi schen hatten sich noch weitere Leute eingefunden. Sie packten den
Ohnmächtigen und trugen ihn mit raschen Schritten zum Pfarrhaus, das von allen Häusern Morwenstows der Steilküste am nächsten lag. Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der zur Seeseite von einer hohen Mauer begrenzt wurde. Hinten, vorne und zur Landseite umgab ihn eine unregelmäßige Hecke. Daneben erhob sich die kleine Kirche und genau zwischen Kirche und Pfarrhaus befand sich der Friedhof.
* Unverständliche Laute erklangen. William hörte jemanden rufen, öffnete die Augen und erkannte, dass er in einem kleinen Zimmer in einem Bett lag. Durch das Fens ter drang strahlender Sonnenschein. Neben ihm standen zwei Personen. Bei der linken handelte es sich um einen jungen Mann mit dunkelblonden Haaren, der ihn auf merksam musterte. Der andere war ein hoch aufgeschossener Mann mittleren Alters, dessen Haare erste graue Strähnen zeigten. Kinn und Wangen verschwanden hinter einem ordentlich gestutzten, graumelierten Bart. Er trug sorgfältig gebürstete, dunkle Kleidung und einen langen Gehrock. »Hallo, wie geht es dir?«, fragte er William. Der Angesprochene spürte, wie sein Mund Worte formen wollte, aber nicht konnte. »Sei ruhig, du bist hier in Sicherheit und guten Händen!« sagte nun der Jüngere. »Das ist mein Vater, Henry Walken. Er ist der Pfar rer von Morwenstow. Ich bin Charles. Ich habe dich vor vier Tagen …« »Lass gut sein, mein Sohn«, unterbrach der Ältere seinen Sohn. »Er ist noch zu schwach. Aber danken wir dem Herrn, dass es ihm
wieder besser geht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte die Kammer verlassen. »Nein, gehen Sie nicht. Was ist geschehen? Ich will alles wissen!« Auf einmal sprudelten die Worte aus William hervor. »Hat er noch Fieber?« Der Pfarrer drehte sich auf der Türschwelle noch einmal zu seinem Sohn um. »Etwas, Vater, aber es ist deutlich zurückgegangen …« »Gut. Erzähl ihm, was du für richtig hältst.« Die Tür schloss sich hinter Henry Walken. Doch bevor Charles sich wieder neben das Bett setzen und be ginnen konnte, Williams Fragen zu beantworten, öffnete sich die Tür erneut, und eine kleine, rundliche Frau betrat das Zimmer. »Er ist aufgewacht!«, rief sie. »Warum sagt mir keiner Bescheid!« »Gerade eben, Mutter«, antwortete Charles. »Es ist noch keine fünf Minuten her.« Seine Mutter ignorierte ihn und wandte sich dem jungen Mann im Bett zu. »Hallo, ich bin Anne Walken. Wie heißt du? Wir wissen noch nicht einmal deinen Namen!« »William, William Tyler,« erwiderte er mit schwacher Stimme, »was ist mit meinen Kameraden, was ist mit Kapitän Howard, was ist mit der Walhoina!« Ein Moment der Stille senkte sich über den Raum. William konnte sehen, wie Blicke zwischen Charles und seiner Mutter hin und her flogen. Sie räusperte sich. »Ich gehe rasch nach unten in die Küche. Du musst sehr hungrig sein!« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und überließ ihrem Sohn die traurige Pflicht, William das ganze Ausmaß der Kata strophe zu erzählen. »Mein Vater hat die sterblichen Überreste deiner Kameraden, so weit sie angespült wurden, auf unserem Friedhof beerdigt.« beende
te Charles schließlich seinen Bericht. »Dann … dann …« William war sprachlos. »Dann bin ich der einzige Überlebende.« Er verfiel in tiefes Schweigen und atmete schwer. Auch Charles schwieg. »Ich danke dir!«, sagte William nach längerer Pause. »Ohne dich hätte ich sicherlich nicht überlebt.«
* »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich diese Felsen hochge klettert bin.« sagte William zu Charles. Sie standen dort, wo Charles ihn gefunden hatte. Mittlerweile waren zwei Wochen seit der Schiffskatastrophe vergangen und William war dank der guten Pflege von Charles’ Mutter Anne rasch wieder zu Kräften gekommen. Williams Blick schweifte über das Meer, dessen Wellen mit ge wohnter Wucht und Wildheit gegen die spitzen, scharfkantigen Felsen der Steilküste anbrandeten. Vom Wrack der Walhoina war fast nichts mehr zu sehen. Wie Rippen ragten einige Planken aus der Gischt. »Dorthin wollte Kapitän Howard die Brigg steuern und auf Grund laufen lassen«, sagte William leise und zeigte auf einen winzigen Strand, der ab und an, wenn das Wasser länger ablief als anzu branden, sichtbar wurde. »Das hat noch niemand geschafft,« murmelte Charles. »Viele der Klippen sind von hier oder von Bord eines Schiffes aus nicht zu se hen. Aber sie sind da! Direkt unter der Wasseroberfläche.« »Es war, als würde sich ein riesiges Maul öffnen und wollte die Walhoina mit Mann und Maus verschlingen.«
»Was? Was hast du da gesagt?« Charles starrte William an. »Vergiss es,« erwiderte William. »Wahrscheinlich nur die Erinne rung an eine Fieberphantasie.« Charles nickte, und sie machten sich auf den Heimweg. »Morwenstow hat traurige Berühmtheit erlangt,« sagte er schließ lich, »nirgendwo an Englands Küste kentern so viele Schiffe. Es ist ein Wunder, dass seit dem Unglück mit deinem Schiff kein weiteres mehr gekentert ist.« »Das würde ja bedeuten, das es fast jede Woche zu einer Kata strophe kommt. Das kann ich nicht glauben!« William blieb stehen, sein Blick verriet Ungläubigkeit gemischt mit Entsetzen. »Es stimmt«, beteuerte Charles. »Manchmal sogar jeden Tag. Besonders im Herbst und im Winter, wenn die Stürme stärker werden. Nur im Sommer ist die Lage ruhiger, da passiert dann wo chenlang nichts.« Charles zuckte mit den Schultern. »Es ist wie ein böser Scherz. Wir leben hier in absoluter Küstennähe, aber niemand aus Morwenstow ist Seemann. Es gibt hier keine Fischer, kein Mensch will etwas mit dem Meer zu tun haben – nur Bauern, Hand werker und Pfarrer.« Er nickte in Richtung des Pfarrhauses, dem sie sich näherten. »Niemand wird hier etwas anderes. Ich soll Theologie studieren, jedenfalls will mein Vater das.« Charles zuckte mit den Schultern. »Lass uns reingehen, es gibt gleich Essen.« Die Mahlzeit war ausreichend, aber sehr einfach. Pfarrer Walken gehörte zu den wohlhabenderen Männern im Dorf, aber nicht wegen seines Amtes, sondern weil er ein kleines Vermögen geerbt hatte. Ärmere Familien in der Nachbarschaft konnten sich oft nur eine einzige Mahlzeit am Tag leisten. »Ich spüre, dass Sie etwas bedrückt, Mr. Walken«, sagte William. »Ich weiß, es steht mir nicht an, Ihnen als meinem Wohltäter solche Fragen zu stellen, aber …« Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er sich wand, um diese Frage loszuwerden und trotzdem nicht allzu unhöflich zu erscheinen.
»Es ist eine traurige Pflicht, die Toten, die an unsere Küste gespült werden, zu bestatten«, antwortete der Pfarrer. »Aber mich quält, dass euer Schiff Tonnen von Weizen geladen hatte, der uns allen zu gute gekommen wäre. Kaum etwas davon ließ sich noch retten. Nach dem Gesetz der Krone dürfen Küstenbewohner Ladungsreste, die angeschwemmt werden – ja sogar das Holz der Wracks selbst, eben alles was brauchbar und verwertbar ist –, bergen und behalten. Dafür verlangt das Gesetz der Krone – und natürlich das Gebot der Nächstenliebe –, dass wir Überlebenden helfen und Tote beerdigen.« Später am Abend verließ Henry Walken das Haus, um Sam Mea dow zu besuchen. Anne war bereits zu Bett gegangen, nicht ohne die Jungen zu ermahnen, sich ebenfalls bald schlafen zu legen. »Ah, Jonathan Swift!«, sagte William, der wenig später be wundernd vor dem Bücherschrank in dem Arbeitszimmer des Pfar rers stand. »Du kennst Gullivers Reisen?«, fragte Charles. »Ich weiß, du siehst in mir nur den Schiffsjungen …«, antwortete William und dachte einen Moment über seine Worte nach. »Es gibt viele Matrosen, die weder lesen noch schreiben können. Aber ich habe eine gute Ausbildung. Und irgendwann will ich es selbst zum Kapitän bringen. Wenn ich nicht vorher untergehe …« »Das haben wir erfolgreich verhindert …«, begann Charles, doch William unterbrach ihn. »Schau her, kennst du das?« Er räumte einige Bücher zur Seite und zog ein dickes, ledergebundenes Buch aus dem Schrank. Charles schüttelte verneinend den Kopf. »Wo stand denn dieser Wälzer?« »In der zweiten Reihe gewissermaßen, aber nicht einfach zu entde cken. Hier schau!« Hinter der vorderen Buchreihe befand sich ein schmales Podest über die gesamte Regalbreite. Auf dieser Stufe standen etwas erhöht
weitere Bücher. Und darunter war eine Klappe versteckt, hinter der sich das Buch verborgen hatte. William hatte sie nur entdeckt, weil er »Gullivers Reisen« herausgezogen hatte. Er schlug das schwarze Buch auf. »Dieses Buch habe ich noch nie gesehen. Was ist das?«, fragte Charles. William zuckte mit den Schultern. Der Ledereinband trug keinen Autorennamen, keinen Titel, nur ein kleines goldgeprägtes Symbol: ein auf dem Kopf stehender fünfzackiger Stern inmitten eines doppelten Kreises; zwischen den beiden Kreisen waren seltsame Symbole. »Was ist das denn für eine Schrift?« fragte Charles, denn dieselben Zeichen bedeckten auch die grob geschnittenen Seiten. William strich langsam mit der Hand über die Symbole. »Die Seiten bestehen aus Pergament …«, flüsterte er, ohne auf die Frage seines Freundes einzugehen. Unwillkürlich waren sie leise geworden. Ohne ein Wort zu wechseln wussten sie, dass sie etwas entdeckt hatten, das nicht für ihre Augen bestimmt war. »Moment mal! Das erinnert mich an was …« Auch Charles flüsterte nun. Er nahm den Leuchter vom Tisch, um damit die Buchrücken in der untersten Reihe lesen zu können. Er zog einen großen, braun einge bundenen Band hervor. »Encyclopaedia Britannica«, erklärte er stolz. »Warte …«Er blät terte hektisch. »Hier! Das sind Runen! Schau, die Kelten haben so geschrieben. Es werden leider nur ein paar Zeichen erklärt, damit kommen wir nicht weiter.« »Doch, hier!«, stieß William hervor. »Dieses Zeichen taucht immer wieder auf, siehst du?« Er zeigte auf die Pergamentseiten. Charles nickte und verglich es mit den Angaben im Lexikon. »Der
zweite Teil heißt TYR. In der Britannica steht, dass TYR das Wort für Gott ist. Aber was bedeutet der erste Teil dieses Begriffs?« »Das muss der Name sein, die Kelten hatten doch viele Götter, oder?« »Ich frage mich, was mein Vater mit diesem Buch macht? Warum versteckt er es?« »Das müsstest du besser wissen als ich«, erwiderte William. »Du kennst ihn schließlich schon dein Leben lang.« Charles schüttelte den Kopf. »Ich denke, noch nicht einmal meine Mutter kennt Vater richtig. Und ich war viel zu lange fort von zu Hause. Als kleines Kind haben mich meine Eltern zu meinem Onkel nach Birmingham gegeben. Ich sollte eine gute Schule besuchen. Außerdem ist die Familie meines Onkels steinreich. Sie handeln mit Tee und Kaffee.« »Was dieses Buch zu bedeuten hat, kann uns wohl nur dein Vater verraten. Wir werden ihn fragen,« sagte William. Charles verzog das Gesicht. William wusste, was das zu bedeuten hatte: Derartige Fragen stellte man im Hause Walken nicht …
* Es kam William so vor, als sei er gerade eingeschlafen. Doch es war schon fast früher Morgen, als ihn Charles heftig schüttelte, um ihn zu wecken. Der ehemalige Schiffsjunge war mit dem Gedanken eingeschlafen, nicht länger die Gastfreundschaft seiner Retter in Anspruch zu nehmen und so schnell wie möglich nach Sark zu seinen Eltern zu rückzukehren. Er hatte ihnen zwar schon geschrieben, was ge schehen war, dass er überlebt hatte und es ihm gut ging. Aber jetzt
fühlte er sich stark genug, um sich selbst auf den Weg zu machen. Später würde er nach London gehen, um erneut anzuheuern. Denn trotz der Katastrophe hatte er keinen Augenblick daran gezweifelt, dass er weiterhin zur See fahren würde. Es gab viele Länder und Städte, die er noch nicht gesehen hatte. »Wach auf!«, flüsterte Charles eindringlich. Mit einem Ruck saß William senkrecht im Bett. Sein Freund hielt eine Kerze in der Hand und legte einen Finger über die Lippen. Diese Warnung war überflüssig. Draußen tobte ein ausgewachsener Sturm, sodass sie kaum ihre eigenen Worte verstanden. »Es ist wieder geschehen! Da!« Charles wies durch das Fenster in die Dunkelheit. William konnte winzige, schwach leuchtende Punkte erkennen, die sich in der Ferne hin und her bewegten. »Sam Meadow war eben da und hat Vater geholt.« »Ein Schiff? Gekentert?« William wartete die Antwort nicht ab, sondern begann, sich anzuziehen. Er trug Sachen von Charles, da seine eigene Kleidung völlig zerfetzt war. »Vater hat ausdrücklich verboten, dass wir gehen.« sagte Charles, aber aus seinem Tonfall war zu hören, dass er nicht daran dachte zu gehorchen. Auf Zehenspitzen verließen sie das Haus. Es war noch stockdun kel, als sie etwas abseits der anderen Dorfbewohner die Klippen er reichten. Ihre eigene Lampe hatten sie bis auf einen schmalen Spalt abgeblendet. Immer wieder erklangen knappe Befehle. Dazwischen hörten sie die Laute der Esel, die einige der Dorfbewohner mitgebracht hatten. Da entdeckte William in Klippennähe das einzige Positionslicht, das auf dem gekenterten Schiff – es handelte sich um eine Brigg, wie sein eigenes Schiff eine gewesen war – noch brannte. Die Lampe
schwankte immer wieder von einer Seite zur anderen, je nachdem wie die Brecher gegen den Schiffsrumpf schlugen. Die Umrisse der Brigg waren in der Schwärze der zu Ende ge henden Nacht kaum auszumachen. Umso deutlicher konnte er dagegen sehen, wie sich einzelne Laternen an der Steilküste nach unten bewegten. »Sie sind verrückt,« sagte Charles. »Selbst tagsüber ist es ziemlich halsbrecherisch, die Klippen hinunterzuklettern, aber sie können es nicht abwarten.« »Was können sie nicht abwarten?« »Was wohl? Die Ladung, die angeschwemmt wird! Diese Leute sind Wracker!« »Leichen werden sie finden«, knurrte William. »Das auch. Dafür ist dann mein Vater zuständig.« Immer wieder hörten sie Schreie, von denen sie nicht wussten, wo her sie kamen. Von den Wrackern oder von ertrinkenden Matrosen, die das rettende Ufer ganz nah vor sich sahen und doch wussten, wie unerreichbar es für sie war. Oder von Seeleuten, die an irgend welche Felsen geschleudert wurden und dort mit zerschmetterten Knochen starben. Immer noch zitterte William. Es war, als ob er alles noch einmal erlebte. Das gekenterte Schiff war so nah, dass er dachte, er könnte es berühren, wenn er nur den Arm weit genug ausstreckte. »Wir müssen da runter!«, entschied er. »Lass uns noch einen Augenblick warten«, hielt ihn Charles zu rück. »Warten?«, schrie William und spürte, wie Wut in ihm hochstieg. »Da unten sterben Menschen! Wie willst du da warten.« »Es nützt nichts, wenn du dir den Hals brichst. Damit hilfst du niemandem!« »Die anderen klettern doch auch nach unten!«
»Die kennen diesen Weg seit Jahren, ich nicht!«, blaffte Charles nun ebenfalls wütend zurück. In diesem Moment wurde der aufkeimende Streit zwischen ihnen jäh unterbrochen. Von einem Geräusch, das nicht zu den anderen Geräuschen passte – ein Wimmern! »Es klingt nah, aber der Wind kann täuschen,« flüsterte William. Da bemerkten sie, wie sich in rund neunhundert Fuß Entfernung ein anderes Licht näherte. Noch jemand hatte das Geräusch gehört. Der schwankende Schein der Laterne erfasste eine dunkle Bewe gung direkt am Rand der Klippe. Ohne ein weiteres Wort rannten William und Charles darauf zu. Die Gestalt mit der Laterne hatte jetzt die Klippe erreicht. Kurz streifte der Lichtschein einen blutüberströmten Mann, der Hilfe su chend einen Arm ausstreckte. Er hing noch halb über dem Abgrund. Die Laterne wurde auf den Boden gestellt – und die heraneilenden Jungen hörten einen Schrei, der abrupt mit einem dumpfen Auf schlag endete. Ebenso plötzlich wie der Schrei endete, blieb Charles stehen und hielt William fest. »Der hat ihn runtergestoßen!«, schrie William. »Dieser … dieser Mörder hat dem Mann nicht nach oben geholfen, sondern er hat ihn runtergestoßen! Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe genau gesehen, wie er ihn gestoßen hat …« Fassungslos rannte er wieder los. Die dunkle Gestalt an der Klippe hatte längst ihre Laterne wieder aufgenommen. Sie blickte sich kurz um, um zu sehen, wer da angerannt kam. Im nächsten Moment blendete das Licht grell auf und schien William direkt ins Gesicht. Trotzdem blieb er nicht stehen. Er war nur noch wenige Arm längen von dem Unbekannten entfernt, als der grelle Schein ebenso plötzlich erstarb. Erst geblendet, nun umgeben von tief schwarzer
Dunkelheit sprang William den Unbekannten an. Doch er stolperte ins Leere. William sah noch einen weißen Schatten zur Seite huschen, dann dämpfte das Gras die Schritte des in die Dunkelheit Flüchtenden. Im nächsten Augenblick war Charles neben ihm und leuchtete mit seiner Laterne die Umgebung ab. Der Strahl tastete über die Wiese. Doch niemand war zu sehen. Die Dorfbewohner waren, wie sich anhand ihrer Lichter ausmachen ließ, unten in den Klippen und am Strand. Der Unbekannte aber war verschwunden. Direkt neben ihnen fiel der Fels fast zweihundert Fuß senkrecht nach unten ab. Es war ein kleines, blutiges Bündel, das dort in der Tiefe lag. In diesem Moment erhellte ein Blitz die sturmdurchtoste Nacht. Da erkannten es die Jungen – der Mann, den der Unbekannte den Felsen hinabgestoßen hatte, hielt noch etwas in der Hand. »Ein Ärmel«, sagte Charles, »ein Jackenärmel.« »Der arme Teufel hat sich am Arm seines vermeintlichen Retters festgeklammert.« Das Helle, was er eben gesehen hatte, war der Arm des Mörders, dem der Jackenärmel abgerissen worden war …
* »Bist du dir denn sicher, dass es kein Unfall war?«, fragte Charles, als sie zum Pfarrhaus zurückkehrten. »Absolut sicher. Ich konnte genau sehen, wie der Unbekannte den Mann mit aller Kraft zurückgestoßen hat. Er wollte ihm nicht helfen – er wollte ihn umbringen!« »Das ist ungeheuerlich.« »Du sagst es.«
»Hast du ihn erkannt?«, fragte Charles bange. Ihm war klar, dass er den Mann kennen musste. Morwenstow war ein kleines Dorf. »Ich konnte das Gesicht nicht sehen.« Williams Stimme klang bitter.
* Zum ersten Mal erlebte William, wie wütend und jähzornig Pfarrer Henry Walken werden konnte. Es fehlte nicht viel und er hätte sei nen Sohn mit einem Knüppel geschlagen. Doch Charles war kein kleiner, schwacher Knabe mehr. Wäre es tatsächlich zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, hätte der Pfarrer den Kürzeren gezogen. So warf der Vater voller Zorn den Knüppel wieder in die Kiste mit den Holzscheiten für den Kamin und beschränkte sich darauf, William zu ignorieren und Charles so laut anzubrüllen, bis Anne ins Zimmer kam und den beiden Jungen mit Gesten bedeutete, den Raum zu verlassen. Es ging natürlich um den unerlaubten nächtlichen Ausflug von Charles und William … Der ehemalige Schiffsjunge hatte eigentlich über den Mord berich ten wollen, dessen Zeuge sie geworden waren. Doch er kam über haupt nicht zu Wort. Später beobachteten die Jungen durch das Fenster, wie Henry Walken zusammen mit Sam Meadows hinter der Hecke zum Fried hof verschwand. William stürzte aus dem Zimmer und verließ gruß los das Haus. Er ließ Charles wie ein Häufchen Elend auf dessen Bett sitzend zurück. William hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, den beiden Männern zu folgen. Er wollte einen Moment alleine sein und seine Gedanken ordnen. Er lief über den Friedhof, um einen dahinter vorbeifüh
renden Feldweg zu erreichen. Doch da hörte er ihre Stimmen, wenn er sie auch nicht sehen konnte, da sie sich hinter dem kleinen Schuppen befanden, in dem Schaufeln, Werkzeug und Grabsteine lagerten. »Heute Nacht«, hörte er Sam Meadows Stimme, »aber sieh zu, dass dein Sohn und dieser William zu Hause bleiben.« »Wie soll ich das machen? Wie stellst du dir das vor? Der Bursche lässt sich von mir nichts mehr sagen!« Die beiden flüsterten aufgeregt miteinander, aber William konnte jedes Wort genau verstehen. Etwas raschelte. »Hier nimm das. Gib ihnen ein paar Tropfen von Paracelsus Tränen, dann werden sie uns heute Nacht nicht stören.« »Paracelsus Tränen?«, hörte William den Pfarrer fragen. »Laudanum«, erklärte Sam. »Es sind Freudentränen, keine der Trauer! Aber nicht mehr als zehn Tropfen für jeden, das reicht.« »Ich mag es nicht, wie du redest, Sam. Aber gut, ich werde es tun.« »Du tust dies nicht für mich, sondern für Assatyr. Vergiss das nicht, Henry!« »Ja, ja, für Assatyr!«, erwiderte der Pfarrer. William hörte, wie sie sich verabschiedeten, und duckte sich hinter einen hohen Grabstein. Henry Walken ging nur eine Armeslänge an ihm vorbei. Sam verschwand in die entgegensetzte Richtung. Beide bemerkten William nicht, doch er sah sie genau. An Sams alte, abgewetzte Jacke war der rechte Ärmel frisch ange näht worden. Er glänzte wie neu …
* Als William zurückkam, ging er sofort nach oben. Nachdem er Charles alles erzählt hatte, beschlossen sie, sich ab
wechselnd und unauffällig in der Nähe der Küche aufzuhalten. Und tatsächlich sah William am frühen Abend, wie Henry und Anne, als sie sich unbeobachtet glaubten, intensiv miteinander tuschelten. Schließlich drückte Henry seiner Frau ein kleines Fläsch chen in die Hand. Charles schlich sich nur wenig später nach draußen und konnte verdeckt von einem Busch durch das Küchenfenster sehen. Seine Mutter träufelte etwas von der Flüssigkeit in zwei der vier Pudding schälchen, die sie für das Abendessen vorbereitete. Wie zufällig traf er sich mit William und informierte ihn über das Gesehene. Sie wurden sich darüber klar, wie sie weiter vorgehen wollten. Nach ein paar Minuten betraten sie kurz nacheinander das Haus. »Mutter?«, sagte Charles, »kannst du dir das mal ansehen?« »Später, Junge,« antwortete sie. »Du siehst doch, dass ich koche.« »Nur ganz kurz, Mutter. Meine Hose hat einen Riss. Schau doch bitte, ob man das reparieren kann …« »Also gut, zeig her.« »Nicht diese Hose, Mutter, die ist in Ordnung. Die kaputte Hose liegt oben.« »Dann hol …« Anne seufzte. »Du kannst einem schon auf die Ner ven gehen, Charles.« Sie trocknete sich die Hände ab und folgte ih rem Sohn nach oben. Blitzschnell war William in der Küche und blickte in den Topf, der neben dem Herd stand. Er hatte Glück. Es befand sich noch ge nügend dampfender Pudding darin. Also lehrte er die Schälchen, die für ihn und Charles bestimmt waren, aus dem Fenster. Sobald er Gelegenheit dazu hatte, wollte er den mit Laudanum versetzten Pudding verscharren. Anschließend nahm er den Topf, um sie wieder aufzufüllen. Kaum hatte er sie wieder an ihren Platz gestellt, als er Annes Schritte hörte.
Sie öffnete die Tür. »Was machst du denn hier, William?« »Bitte entschuldigen Sie, Mrs. Walken. Es hat so gut gerochen! Ich esse Pudding für mein Leben gern und konnte nicht bis zum Abendessen abwarten.« »Du hast genascht!« William nickte, legte den Deckel zurück auf den Topf und versuchte so schuldbewusst wie möglich auszusehen. Es fiel ihm nicht schwer. »Raus mit dir, das ist mein Reich!« rief sie nach einer Pause la chend. Nach dem Essen verabschiedeten sich William und Charles gäh nend. Wenig später lag jeder in seinem Bett und stellte sich schlafend. Bald war es totenstill in dem Haus …
* Nach etlichen Stunden öffnete sich leise die Tür. Henry Walken blieb einen Moment stehen, lauschte Williams schnarchen und verließ dann wieder das Zimmer. Kurz darauf klapperte die Haustür. Einen Moment später trat Charles in das Gästezimmer. »Gut, du bist wach!« sagte er. »Ich wäre beinahe wirklich einge schlafen.« »Ich auch«, antwortete William. »Was mag dein Vater vorhaben? Es ist eine ruhige Nacht.« »Wir werden es herausfinden. Komm jetzt, aber seileise!« Es war Vollmond, und nur wenige Wolken waren am Himmel. Die ganze Gegend war gut zu erkennen, sodass sie darauf verzich ten konnten, ihre Laterne anzuzünden. Es wehte nur ein leichter, aber bitterkalter Wind.
Ganz in der Nähe der Klippen entdeckten sie zwei Gestalten, die regungslos dastanden und aufs Meer zu blicken schienen – Charles Eltern. Auf einmal klangen Stimmen auf. Blitzartig duckten sich William und Charles hinter die Mauer, die das Grundstück begrenzte. Ohne die Jungen zu bemerken, näherten sich drei miteinander flüsternde Männer. William und sein Freund konnten kaum ein Wort verstehen, doch eines davon ließ sie den Atem anhalten. Assatyr! Doch was bedeutete das? Was hatte Sam Meadow, dessen Stimme sie erkannt hatten, mit dem verborgenen Buch des Pfarrers zu tun? Vorsichtig schlichen die beiden, jede Deckung ausnutzend, aus dem Garten. In einiger Entfernung konnten sie beobachten, wie der Pfarrer die Ankömmlinge begrüßte. Der scharf gebündelte Strahl einer Lampe streifte über das Land. William und Charles hielten den Atem an, hofften, dass man sie nicht entdeckte. Sie lagen auf dem Bauch in einer flachen Kuhle, der Lichtfinger tastete sich über sie hinweg – und verlosch. Sie hoben die Köpfe. Doch dort, wo die kleine Gruppe eben noch gestanden hatte, befand sich niemand mehr … Jede Vorsicht außer Acht lassend rannten die Jungen zu der Stelle, wo sich eben noch Charles’ Eltern und die drei Dorfbewohner be funden hatten. An der Klippe angelangt, spähten sie in den Ab grund. Es war niemand zu sehen. »Hier entlang!«, entschied Charles. »Sie können nur hier lang sein!« Er sprang auf einen schmalen Felsvorsprung, der sich etwas tiefer befand. Ab dort ging es senkrecht hinunter. Unter ihnen gurgelte
Wasser, das zwischen den spitzen Felsen hin und her schwappte. Doch von dem Felsvorsprung führte kein Weg mehr weiter. »Wo sind sie hin?«, überlegte Charles laut. »Sie müssen doch einen anderen Weg genommen haben. Komm, wir versuchen es dort drü ben.« »Warte«, bat William. Er entzündete die mitgebrachte Laterne. Und sie sahen in ihrem Schein, dass in Schrittweite neben dem Felsvorsprung eine Strickleiter an einer hakenförmigen Gesteinsnase befestigt war. Sie baumelte über dem Abgrund und schwankte leicht im Wind. »Halt und leuchte!« William drückte seinem Freund den Bügel der Laterne in die Hand, war mit einem Schritt auf der Strickleiter und kletterte nach unten. Charles nahm den Griff der Laterne zwischen die Zähne und kletterte hinterher, bis er William einholte, der am gerade mannsho hen Eingang einer Grotte wartete. Charles leuchtete den kurzen Tunnel entlang, der schon bald an Geröll und einigen fast mannsgroßen Felsbrocken endete. »Gibt es hier noch mehr solcher Löcher?«, fragte William. »Die Küste ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse.« »Dann lass uns ein Stück tiefer klettern.« Charles nickte, wollte zustimmen … Doch in diesem Moment riss ihm William die Laterne aus der Hand und blendete ruckartig das Licht ab. »Schau mal!« In der Dunkelheit war ein flackerndes Licht zu ihren Füßen am Ende der Grotte zu sehen. »Hilf mir mal!« Mit diesen Worten stemmte sich William gegen den Felsbrocken, unter dem das Licht hervorkam. Doch er bedurfte der Hilfe seines Freundes nicht. Kaum hatte er sich dagegen gelehnt, schwang der Fels ein Stück zur Seite. Sein Ge
wicht war so ausbalanciert, dass er mit nur leichtem Druck zu der einen oder anderen Seite bewegt werden konnte. Sie blickten in den schwach beleuchteten Eingang einer Höhle. Unregelmäßige Stufen führten in die Tiefe. Zwar waren sie feucht und glitschig, doch irgendjemand hatte Rillen hineingeschlagen, sodass man sicheren Stand hatte. Dennoch waren sie vorsichtig, als sie hinabstiegen. Der Gang war so eng, dass sie nur hintereinander gehen konnten. Das waren denk bar ungünstige Voraussetzungen für eine Flucht, sollte die notwen dig werden. Charles werden sie sicherlich nichts tun, überlegte William. Sein Vater wird das nicht zulassen. Was ihn selbst betraf, war sich der ehemalige Schiffsjunge da nicht so sicher. Je weiter sie vorankamen, desto heller wurde es. Nach einer Kurve erweiterte sich der Gang zu einer großen Höhle, von der weitere Gänge abgingen. An den Wänden befanden sich Halterungen, in denen einige blakende Fackeln steckten. Abrupt blieben sie stehen – doch außer ihnen war niemand in der Halle. Die Fackeln beleuchteten seltsame in die Wände geritzte Zeichen. William stieß seinen Freund an, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und formte lautlos mit den Lippen das Wort: »Runen!« Charles verstand, zeigte auf eine immer wiederkehrende Zeichen folge und flüsterte: »Tyr … Assatyr?« Plötzlich hörten sie sich nähernde Schritten und Stimmen. Hektisch blickten sie sich um, sprangen hinter einen Felsen. Gerade noch rechtzeitig bevor Charles Vater und Sam Meadow laut streitend in die Halle kamen. »Du störst die Zeremonie!«, fauchte Sam.
»Das muss endlich einmal geklärt werden!«, hielt Henry nicht minder heftig dagegen. Er war zum Erstaunen der beiden Jungen ebenso wie Sam in eine dunkle, mit silbernen Runen bestickte Kutte gekleidet. »Aber doch nicht im Allerheiligsten!«, schrie Sam und packte Hen ry am Kragen seines Gewands. »Deshalb sind wir hier!« Henrys Stimme überschlug sich. »Und fass mich nicht an!« »Auch die anderen brauchen nichts davon zu wissen, also reiß dich zusammen!« »Ich hatte gehofft, du würdest mich verstehen, stattdessen …« Der Pfarrer stockte. »Regt sich bei dir nach all den Jahren dein christliches Gewissen?«, polterte Sam höhnisch. »Ist es das, was dich plagt?« »Du weißt genau, dass der christliche Mummenschanz nur Tar nung ist. Alles geschieht nur, um unseren Leuten zu helfen. Aber wenn wir dann Hilfe, die von außen kommt, ins Verderben schi cken, machen wir uns schuldig! Schuldig an unseren eigenen Leu ten.« »Aber Assatyr …«, wollte Sam einwerfen. »Ja, Assatyr! Ohne Assatyr würden …« Wieder unterbrach Henry Walken seine Rede. Er wandte sich heftig um und knurrte: »Lass uns gehen. Die anderen warten.« »Vergiss nie«, sagte Sam, als er Henry in einen der Gänge folgte, »Assatyr hilft uns. Der Gott der Christen hat uns noch nie geholfen. Assatyr hilft uns – und wir helfen Assatyr.« Die letzten Worte waren für William und Charles kaum noch zu verstehen. Die beiden blickten sich an. Ohne ein Wort zu wechseln, waren sie sich einig.
Leise folgten sie den Erwachsenen. Zahllose unbeantwortete Fragen quälten sie. In den letzten Tagen war einfach zu viel geschehen, was sie nicht begreifen konnten – das geheimnisvolle Runenbuch; ein Mord; und das heimtückische Handeln ihnen gegenüber. Charles Eltern hatten versucht, ihnen heimlich eine Opiumtinktur zu verabreichen, um sie »ruhig zu stellen«! Doch die erschütterndste Überraschung stand ihnen noch bevor. Sie sahen zu, wie Sam und Henry eine weitaus größere Felsenhalle betraten, als die, in der sie eben ihre lautstarke Auseinandersetzung geführt hatten. Mitten in dieser kathedralengroßen unterirdischen Halle erhob sich ein gewaltiger Fels, der bis zur Decke ragte. Und um eine Art Kirche – einen unterirdischen heiligen Ort – schien es sich zu handeln. Charles und William blieben im Schatten des Ganges verborgen und beobachteten zunächst nur. Jetzt sahen sie auch Anne Walken, die einen weißen Umhang trug. Die fünf Personen, die die Jungen bereits an der Steilküste verfolgt hatten, stellten sich um die Felssäule auf. In das blanke Gestein auf dem Boden waren zwei große Kreise geritzt, die in einigem Abstand um die Säule herumführten. Zwischen der äußeren und der inneren Linie befanden sich Runenzeichen und ganz im Innern war ein fünf zackiger Stern, aus dessen Mittelpunkt sich die Säule erhob. Genau dieses Zeichen hatten William und Charles schon einmal gesehen, eingeprägt auf dem Umschlag des rätselhaften Buches … Die … ja, was? Priester? Beschwörer? Sie standen jeweils dort, wo eine Spitze des fünfzackigen Sterns hinwies. Alle hatten ihre Arme ausgebreitet, aber der Abstand zwischen ihnen war zu groß, als dass sich ihre Hände hätten berühren können. Charles schluckte heftig, als er jetzt die Stimme seiner Mutter ver nahm, die anfing, in einer fremdartigen Sprache zu singen. Er hatte
derartiges noch nie gehört. In ihren Gesang mischten sich nun die tiefen Stimmen der Männer. Die ganze Höhle schien zu vibrieren. Ein peitschender Knall ließ die Jungen zusammenzucken, bevor er sich in zahllosen Echos verlor. Doch der Gesang erklang unbeirrt weiter. William glaubte, unter Halluzinationen zu leiden, aber er sah es ganz deutlich. Zwischen den ausgestreckten Händen der Fünf wechselten zischende Funken, ein kaltes Licht zuckte von einer Hand zur nächsten und schloss den Kreis, während der unheimliche Gesang immer lauter wurde. Und als hätte der seltsame Ritus und die unbegreifliche Lichter scheinung nicht schon ausgereicht, sie in höchstem Maß zu beunru higen, sah es plötzlich so aus, als würde sich die Felssäule in einen wabernden Nebel auflösen! Im gleichen Rhythmus wie der ekstatische Gesang bewegte sich die Nebelsäule hin und her und begann, den Gesang mit leise säuselnden Geräuschen zu begleiten. Doch es blieb nicht dabei. Das Säuseln schwoll an zu einem Brausen und Toben, das schon bald die Stimmen der Menschen übertönte. Es war keine Melodie mehr auszumachen, nur kra chender, infernalischer Lärm. William wusste sofort, worum es sich handelte. Er kannte es, hatte es bereits erlebt – das Gebrüll eines Orkans. »Nein!«, schrie Charles voller Panik. Wollte er schreien, doch William gelang es gerade noch, ihm den Mund zu zuhalten. Mit der anderen Hand zerrte er seinen Freund zurück, der ansonsten völlig kopflos in die Halle gerannt wäre. »Assatyr!«, hörten sie jetzt Sams laute Stimme, die kaum gegen das Gebrüll der Nebelsäule ankam. »Assatyr! Assatyr!«, schrien auch die anderen.
Und tatsächlich ließ der tobende Lärm ein wenig nach. »Großer Assatyr, wir sind deine Diener!«, schrie Sam wieder. Und Henry Walken stieß unverständliche Laute aus, ähnlich denen, die zuvor erklungen waren. William, der Charles immer noch mit aller Kraft festhielt, begriff, dass dies die Übersetzung in eine urtümliche Sprache war. »Großer Assatyr, Wohltäter! Wir beten zu dir und bitten dich um deine Gnade!«, rief Sam, und Henry wiederholte die Anrufung in den gutturalen Lauten der uralten Sprache. »Wir erflehen Holz für unsere Häuser und Öfen!«, schrie Sam. »Wir erflehen Schiffe!« Der Gesang von Charles Mutter und der beiden, die die Jungen nicht erkannt hatten, klang wie der Antwort chör in der Kirche. »Wir erflehen Nahrung, Stoffe und Ladung!« Sams Stimme über schlug sich. Wieder übersetzte Henry und die anderen ergänzten: »Wir erfle hen Schiffe!« »Wir übereignen dir die Seelen der Toten, auf dass dein Hunger gestillt werde!« »Wir erflehen Schiffe!« In diesem Augenblick begann sich das mühselig gezügelte Ge räusch des Nebelsturms zu verändern und vor Schreck erstarrt, konnten William und Charles hören, dass die Nebelsäule in der ur alten Sprache antwortete. Die Halle erzitterte vor ungezügeltem Grollen, und die fünf Beschwörer der uralten, dämonischen Gottheit fielen auf die Knie. »Mein ist der Sturm!«, übersetzte Henry mit einem Zittern in der Stimme. »Mein ist der Fels! Für immer und alle Zeiten fest verankert an diesem heiligen Platz schlage ich ins Meer, bis die Wellen in den Himmel schießen! Blitz und Donner bringen euch reiche Ernte!« Diesmal war es William, der sich nicht zurückhalten konnte. End
lich verstand er. Laut schreiend und blind vor Wut rannte er in den Saal. Doch er kam nicht weit. Mit voller Wucht prallte er gegen eine un sichtbare Wand, hart wie Stein. Er sah, wie Henry Walken, seine Frau, Sam und die beiden anderen ihn ungläubig anstarrten. Und – halb betäubt von dem Aufprall, der ihn unversehens gestoppt hatte – er bemerkte, dass sich ihr Kreis genau vor ihm geöffnet hatte. Aus der Nebelsäule schoss ein dicker Tentakel auf ihn zu. Keinen Augenblick später hatte ihn das graue Etwas umfasst und hoch in die Luft gerissen. Erst jetzt konnte William erkennen, wie hoch diese unterirdische Halle tatsächlich war. Er schrie, als er sah, wie die Figuren unterhalb seiner Füße immer kleiner wurden. Eine Gestalt rannte auf die fünf Beschwörer zu – Charles! Der graue Tentakel, der ihn umklammert hielt, sank unschlüssig herab, als hätte er vergessen, was er tun wollte. William spürte, wie der Druck etwas nachließ – und es war ihm egal, wie hoch oben er sich noch befand. Mit einem Ruck konnte er sich befreien und stürzte zu Boden. Ein stechender Schmerz schoss durch sein Bein. Doch er achtete nicht darauf, humpelte vorwärts in die Dunkelheit eines Gangs. Gleichzeitig schoss der Nebeltentakel auf Charles zu und packte ihn mit würgender Kraft. Anne vergaß mit einem Schlag ihre Rolle als Priesterin eines dä monischen Urzeitgottes und begann zu kreischen. Der letzte klare Gedanke in Williams Kopf war blinder Panik ge wichen. Er hetzte in die Dunkelheit, ohne etwas zu sehen, ohne zu wissen, wohin. Er bemerkte nicht, dass der Gang nach oben führte, und er spürte nicht, dass er sich an den scharf kanntigen Felsen die Haut aufschürfte.
Doch plötzlich, als würde ein schwerer Vorhang zur Seite gerissen, verschwand die Panik. William blieb atemlos stehen. Alles um ihn herum war schwarz. Er tastete um sich, bekam aber nichts zu fassen. Die bereits wieder hochkochende Panik zurückdrängend, griff er in die Hosentasche und holte seine Zündholzschachtel hervor. Mit einem Zischen ließ er ein Schwefelholz aufflammen. Im flackernden Licht erkannte er, dass er den Gang verlassen hatte und in einer weitläufigen Halle stand – auch wenn sie viel niedriger war als die Haupthöhle. Überall, soweit er mit der kleinen Flamme sehen konnte, waren Fässer und Kisten gestapelt, lagen Stoffballen und prall gefüllte Sä cke. Zischend erlosch das Licht. Doch William hatte genug gesehen. Er hatte den Teil der Höhlen entdeckt, in dem die Wracker die Beute lagerten, die sie aus den ge kenterten Schiffen plünderten oder die an den kleinen Strand ge spült worden war. Beute für die zahllose Seeleute den Tod gefunden hatten. Beute, die ihnen eine urtümliche, dämonische Gottheit verschaffte. Eine grauenhafte Bestie aus vorgeschichtlicher Zeit, die den alten keltischen Namen Assatyr trug; ein Wesen aus dunkler Vergangen heit, das an dieser Küste die Elemente beherrschte und das von einer kleinen Gruppe Eingeweihter kultisch verehrt und angebetet wurde. Ein Wesen, das von sich sagte, es sei auf ewig fest mit dieser unterirdischen Stätte verbunden. Das war unglaublich! Eilige Schritte erklangen, begleitet vom sich nähernden, flackern den Licht einer Fackel. Sie waren ihm auf den Fersen! Was hatte die monströse Urgewalt Charles angetan? Was hatten
ihm seine Eltern angetan? William wusste nicht weiter. Er spürte den rauen Fels im Rücken. Es wurde heller, die Stimmen lauter. Er und Charles waren hinter das böse Geheimnis gekommen, das unter der gesitteten Oberfläche dieser Gemeinschaft verborgen lag. Er hatte bereits einen Mord gesehen. Von seinen Verfolgern konnte er nur eins erwarten: den Tod. Er musste handeln, sonst würde er sterben! Noch hatten sie ihn nicht eingeholt, doch es konnte nur noch Se kunden dauern. Hektisch blickte sich William im immer heller werdenen Fackelschein um. Direkt neben ihm standen Dutzende kleiner Fässer. Sie kamen ihm vertraut vor. Die ganze Gruppe, alle fünf Beschwörer, stürmten herein – Charles fehlte. Das konnte nur eines bedeuten: sie oder diese Bestie hatten ihn umgebracht! »Er muss hier sein! Sucht den ganzen Raum ab!«, hörte er Henry Walkens Stimme. »Es gibt keinen weiteren Ausgang!« William griff nach einem der kleinen Fässer und riss den Stopfen heraus, der es verschloss, während seine Linke in die Hosentasche fuhr. »Hier bin ich, ihr Feiglinge! Ihr verfluchten Mörder!« Mit Wutgeheul stürmten sie vorwärts – und blieben abrupt stehen. Der ehemalige Schiffsjunge hielt ein Zündholz dicht neben dem Loch im Fass fest auf das rauhe Holz gepresst. »Er hat die Pulverfässer entdeckt!«, schrie Sam, der als Erster die Fassung wiederfand. »William, Junge! Willst du dich selbst umbringen?«, rief Anne. »Nein«, antwortete William mit leiser Stimme. »Aber ich werde nicht zögern, das Schwefelholz anzureißen … Ihr wisst selbst, was dann passiert!« Er ließ das Schwarzpulver für alle deutlich sichtbar
zu Boden rieseln. »Was habt ihr mit Charles gemacht?« »Das Gleiche, was wir mit dir machen werden, sobald du zur Ver nunft kommst«, sagte Henry. »Wenn ihr mich umbringen wollt, können wir das auch hier erle digen«, höhnte William, »und ihr werdet ebenso sterben.« »Wir haben ihn nicht umgebracht!«, rief Anne. »Glaubst du wirklich, dass ich mein Kind umbringen könnte?« »Assatyr hat ihm die Erinnerung genommen, und dann haben wir ihn nach Hause geschickt«, ergänzte ihr Mann. »Ihr lügt!« schrie William. »Ich glaube euch kein Wort.« Er hob das Fass auf und hinkte langsam auf sie zu. Die Gruppe wich zurück, die Blicke hektisch auf das Pulverfass unter seinem Arm gerichtet und auf das Schwefelholz in der anderen Hand. William trat näher an sie heran. »Gib her!«, schrie er plötzlich und entriss Henry die Fackel. Der Pfarrer wich kreidebleich zurück. Das Zündholz fiel un benutzt zu Boden. »Ihr kommt mit!«, fuhr William fort und drängte die Gruppe zu rück. »Seht ihr diese Pulverspur? Ein Funken und alles fliegt in die Luft. Ihr tut besser, was ich euch sage. Vorwärts!« Er dirigierte sie zurück in den Gang. »Wir sehen nach, ob es stimmt, was ihr gesagt habt.« Während des gesamten Weges achtete William darauf, dass die Pulverspur unversehrt und ununterbrochen blieb. Sie war sein einziges Druckmittel. Ohne sie … Sie erreichten die große Halle mit der Mittelsäule und dem ge waltigen Pentagramm auf dem Boden; die Halle, die von den Anhängern Assatyrs blasphemisch Allerheiligstes genannt wurde. Sie war leer. Charles war verschwunden und von dem tosenden Nebelgebilde der dämonischen Gottheit war ebenfalls nichts zu se
hen. Stimmte es etwa doch, was man ihm gesagt hatte? Hatten sie Charles tatsächlich fortgeschickt? Lebte er noch? William war fest davon überzeugt gewesen, auf die Leiche seines Freundes zu stoßen. Was sollte er nun tun? Die Antwort wurde ihm abgenommen. Einen Moment hatte er nicht auf seine Gefangenen geachtet. Würden sie ihn angreifen? Zwangen sie ihn tatsächlich dazu, das Pulver zu zünden? Ich will nicht sterben!, zuckte es ihm durch den Sinn. In diesem Moment brach die Hölle los. Doch nicht die Beschwörer stürzten sich auf ihn. Stattdessen erwachte die Felssäule zu neuem Leben und löste sich in einen tobenden Nebeltornado auf, der mit ungeheurer Geschwin digkeit zu rotieren begann. Mit einem gurgelnden Brüllen stülpte sich wieder ein grauer Tentakel aus dem Nebel und schoss auf William zu. Der duckte sich und spürte, wie der Tentakel über ihn hinwegfeg te – nur um der Jungen erneut anzugreifen. Obwohl William die fürchterliche Gewalt Assatyrs bereits kannte, hatte sie nichts von ihrem Schrecken verloren. Während er dem nächsten Hieb hektisch auswich, polterte das halb volle Pulverfass zu Boden. Henry Walken brüllte irgendetwas, das William nicht verstand. Vielleicht wollte er seinen Gott aufhalten, vielleicht spornte er ihn an. Da war der Junge zu langsam. Der durch die Halle peitschende Tentakelarm streifte ihn und fegte ihm die Fackel aus der Hand. Funken sprühten. Die Pulverspur fing Feuer. William schrie, rollte sich zur Seite.
Im nächsten Augenblick schleuderte ihn die Wucht der Explosion, mit der das kleine Fass zerrissen wurde, in einen Gang. War es der, der nach draußen führte? Egal … Halb blind und fast betäubt rappelte sich William auf und rannte um sein Leben. Hinter sich hörte er die Schreie der Beschwörer. Er hetzte durch die Vorhalle, stolperte die Stufen empor und hing Se kunden später draußen an der Strickleiter. Blitzartig kletterte er nach oben und rannte weiter. In diesem Moment begann der Boden unter seinen Füßen zu schwanken wie bei heftigem Seegang. Er wölbte sich hoch wie eine Welle und sackte ebenso schnell wieder zurück, nur um sich erneut aufzubäumen. Direkt unter William brodelte die Hölle. Gedämpft von tonnen schwerem Gestein war von der eigentlichen Explosion der zahllosen Schwarzpulverfässer kaum etwas zu hören. Der Junge rannte nur und rannte. Er bemerkte gar nicht, wie nach diesen Erdstößen alles wieder ru hig wurde. Totenstill. Kurz vor dem Pfarrhaus brach er vor Erschöp fung zusammen und verlor das Bewusstsein …
* Eine Woche später Gegen Mittag traf die Kutsche ein, die Charles nach Birmingham zu seinem Onkel bringen sollte. William war schon seit zwei Tagen fort. Charles überlegte, wie lange dessen Reise wohl dauern mochte, bis er über Plymouth und Guernsey nach Sark gelangte.
Ist er schon angekommen?, fragte er sich. Er machte sich Sorgen um den einzigen Überlebenden der ge kenterten Walhoina. Rein körperlich hatte William die Katastrophe zwar gut überwunden und war rasch wieder zu Kräften gekommen, aber geistig schien doch etwas zurück geblieben zu sein. Es war erst eine Woche her, da hatte er ihn ohnmächtig vor dem Haus ge funden. William neigte zu seltsamen Bemerkungen und irgendwie wahn haften Vorstellungen. Er fragte immer wieder nach Charles Eltern, dabei hatte dieser seinem Freund doch erzählt, dass sie vor ein paar Jahren kurz hintereinander gestorben waren. Dann die Geschichte mit den Höhlen in den Klippen, wo doch jedes Kind in Morwenstow wusste, dass es dort keine Höhlen gibt. Am irritierendsten fand Charles, dass William ihn nach einem Buch fragte und den ganzen Bücherschrank leer räumte, als er es nicht fand. Noch immer musste Charles den Kopf schütteln, wenn er an das versteckte Fach in dem Bücherschrank dachte. Er hatte keine Ahnung davon gehabt. Doch William schien sich sicher gewesen zu sein, hier das von ihm gesuchte Buch zu finden. Natürlich war dort kein Buch versteckt, auch anderswo nicht. Aber Charles konnte sich keinen Reim darauf machen, woher William von diesem Fach gewusst hatte. Er wird es irgendwann, als ich mal nicht im Haus war, gesehen haben, dachte er und fand es befremdlich, dass William offensichtlich Schränke in seinem Haus durchwühlt hatte. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Mit gemütlichem Trott setzte sich seine Kutsche in Bewegung … ENDE