Ulrike Brizay Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania
VS RESEARCH
Ulrike Brizay
Bewältigungsstrateg...
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Ulrike Brizay Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania
VS RESEARCH
Ulrike Brizay
Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania Lebensweltorientierte Unterstützungsangebote für Waisen
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zgl.: Lüneburg, Leuphana Universität, Dissertation 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Anette Villnow VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18110-3
„Missachtung und Vernachlässigung der Heranwachsenden sind Ausdruck der Unfähigkeit und des praktizierten Unwillens zur eigenen gesellschaftlichen Zukunft.“ (Thiersch 1992, S. 58)
Für die Kinder Tansanias und die Menschen, die sich für die gesellschaftliche Zukunft des Landes engagieren.
Danksagung
Ich bin einer Vielzahl von Personen zu Dank verpflichtet, die auf unterschiedlichste Weise zum Gelingen meines Forschungsprojektes beigetragen haben und ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht erscheinen würde. Zuallererst gebührt mein Dank den Waisen in Tansania und ihren Familien, die mir einen Einblick in ihre Lebenswelt – in alltägliche Sorgen und Zukunftsträume – gewährt haben. Die Erinnerung an die Begegnungen mit den Kindern bildet die Quelle meiner Motivation und begleitete mich während des gesamten Schreibprozesses. Andere Ansprechpartner aus allen gesellschaftlichen Bereichen halfen mir beim Verstehen der unterschiedlichen Aspekte von Verwaisung. Danken möchte ich hier besonders Dr. Mhamba von der Universität Dar es Salaam, Rashaan Challi vom Ministerium für Community Development, Gender and Children und Jones John von UNICEF. Des Weiteren haben unterschiedlichste Hilfsprojekte für verwaiste und bedürftige Kinder mein Forschungsvorhaben vor Ort unterstützt. In unzähligen Gesprächen und Besuchen ließen mich die Mitarbeiter der Organisationen an ihrer Arbeit teilhaben. Das Engagement dieser Menschen, die häufig ganz uneigennützig und unermüdlich den Waisen zur Seite stehen, hat mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Die Entschlossenheit und Warmherzigkeit, mit der sie sich für die Kinder engagieren, wurde auch mir und meinem Forschungsanliegen entgegengebracht. Dafür möchte ich den unzähligen Menschen, denen ich in Tansania begegnet bin, meinen Dank aussprechen. Die Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienst ermöglichte mir sowohl die Finanzierung meines Forschungsaufenthaltes in Tansania als auch den fachlichen Austausch im Rahmen des DAAD Afrikatages in Köln. Der Commission for Science and Technology (COSTECH) danke ich für die Erteilung der Forschungsgenehmigung, die meine Untersuchungen erst möglich machte. Ebenso bin ich Prof. Dr. Dilger für seine Hilfe in der Phase der Antragsstellung der Forschungsgenehmigung zu Dank verpflichtet. Prof. em. Dr. Colla möchte ich meinen Dank dafür aussprechen, dass er mir die Promotion an der Leuphana Universität ermöglichte und mir die Gelegenheit gab, meine Arbeit einem Thema zu widmen, welches mir sehr am Herzen liegt. Prof. Dr. Lutz erwies sich als verlässlicher Ansprechpartner und Afrikaexperten bei inhaltlichen Fragen und wurde zu einer wertvollen Stütze in der Endphase
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Danksagung
meiner Dissertation. Gunilla Klimaschewski danke ich für Ihren unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen und für die vielen wertvollen Gespräche über die Arbeit. Elizabeth Multhoff-Sama führte mich in die Swahili-Sprachwelt ein, leistete vor und nach meinem Forschungsaufenthalt einen wichtigen Beitrag bei der Übersetzung der Fragebögen und gab mir einen Vorgeschmack auf die Warmherzigkeit und Lebensfreude, denen ich in Tansania immer wieder begegnen sollte. Ich danke meinen Eltern, Ingrid und Helmut Block, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben und mir eine besondere Hilfe bei der Veröffentlichung eines Methodenhandbuches für die Projekte in Tansania, dem „Best Practice Guide for comprehensive Orphan Care in Tanzania“, waren. Mein tiefster Dank gilt meinem Ehemann Arnaud Brizay, der mein Vorhaben vom Anfang bis zum Ende auf jede erdenkliche Weise gefördert hat und mir in jeder Situation die notwendige Kraft gab.
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................. 13 Prolog ............................................................................................................................... 15 1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen ................................... 1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext ............................. 1.1.1 Waisenforschung und ihre Verortung in der AIDS-Forschung .................. 1.1.2 Der aktuelle Stand der Waisenforschung mit Schwerpunkt auf Tansania.. 1.1.3 Defizite in der Waisenforschung im tansanischen Kontext ........................ 1.2 Beschreibung und Abgrenzung der Fragestellung .......................................... 1.2.1 Waisen und ihre Lebenswelt ........................................................................ 1.2.2 Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise................................................ 1.2.3 Eignung der Bewältigungsstrategien ........................................................... 1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage ................ 1.3.1 Die Theorie der Lebensweltorientierung ..................................................... 1.3.2 Indigenisierung – Übertragbarkeit der Lebensweltorientierung auf den afrikanischen Kontext ................................................................................... 1.3.3 Strukturmaxime der Lebensweltorientierung als theoretisches Fundament der vorliegenden Studie ................................................................................ 1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie ........................................................ 1.4.1 Prämissen und Evaluationskriterien ............................................................. 1.4.2 Grenzen der vorliegenden Evaluationsstudie .............................................. 1.4.3 Methodische Gestaltung und Durchführung der Evaluationsstudie ...........
19 23 24 30 37 39 41 42 43 44 45 47 52 54 55 56 58
2 Die Waisenkrise in Tansania ................................................................................ 73 2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise.......................................................... 74 2.1.1 Ursachen der Waisenkrise ............................................................................ 75 2.1.2 Ausmaß der Waisenkrise .............................................................................. 80 2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise ................................................. 84 2.2.1 Waisen ........................................................................................................... 85 2.2.2 Familiensysteme ........................................................................................... 87 2.2.3 Zivilgesellschaft ............................................................................................ 94 2.2.4 Regierung Tansanias und staatliche Organe ................................................ 105 2.2.5 Internationale Organisationen ...................................................................... 114
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Inhalt
3 Die Lebenswelt der Waisen................................................................................... 127 3.1 Sozioökonomische Faktoren............................................................................ 128 3.1.1 Der sozioökonomische Status von Haushalten mit Waisen ........................ 129 3.1.2 Die Grundversorgung von Waisen ............................................................... 139 3.1.3 Die Bildungschancen von Waisen ............................................................... 148 3.1.4 Die medizinische Versorgung von Waisen .................................................. 159 3.1.5 Resümee: Sozioökonomische Faktoren ....................................................... 172 3.2 Psychosoziale Konsequenzen .......................................................................... 173 3.2.1 Verlust und Trauer ....................................................................................... 173 3.2.2 Stigma und Diskriminierung ........................................................................ 196 3.2.3 Gewalt gegen Waisen ................................................................................... 207 3.2.4 Resümee: Psychosoziale Faktoren ............................................................... 226 4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania .............................................. 227 4.1 Ambulante Waisenhilfe ................................................................................... 228 4.1.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen ................................................... 229 4.1.2 Charakteristika und Erscheinungsformen .................................................... 234 4.1.3 Fallbeispiel .................................................................................................... 250 4.2 Adoption und Pflege ........................................................................................ 254 4.2.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen ................................................... 255 4.2.2 Charakteristika und Erscheinungsformen .................................................... 262 4.2.3 Fallbeispiel .................................................................................................... 268 4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen................................................................ 273 4.3.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen ................................................... 274 4.3.2 Charakteristika und Erscheinungsformen .................................................... 277 4.3.3 Fallbeispiel .................................................................................................... 284 4.4 Projekte für Straβenkinder ............................................................................... 296 4.4.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen ................................................... 296 4.4.2 Charakteristika und Erscheinungsformen .................................................... 301 4.4.3 Fallbeispiel .................................................................................................... 311
Inhalt
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5 Evaluationsstudie ................................................................................................... 315 5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten 315 5.1.1 Ausrichtung an den Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit............................................................................................................. 317 5.1.2 Kontinuität der Hilfe ..................................................................................... 363 5.1.3 Wirkungskreis der Organisationen ............................................................... 386 5.1.4 Schaffung eines gelingenderen Alltags ........................................................ 395 5.1.5 Bildung und Umsetzung einer tragfähigen Zukunftsperspektive................ 406 5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote ........................................................ 424 5.2.1 Dienstleistungsumgebung............................................................................. 430 5.2.2 Versorgung auf der Haushaltsebene ............................................................ 434 5.2.3 Soziale Sicherheit und Schutz ...................................................................... 451 5.2.4 Psychosoziale Unterstützung........................................................................ 461 5.2.5 Evaluation und Verlaufskontrolle ................................................................ 469 5.2.6 Ressourcenmobilisierung ............................................................................. 472 6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse ........................................................... 481 6.1 Zusammenfassende Darstellung der Forschung ............................................. 481 6.1.1 Darstellung der Lebenswelt der Waisen ...................................................... 482 6.1.2 Dokumentation der Leistungspalette der Waisenhilfe ................................ 483 6.1.3 Evaluationsstudie zur Untersuchung der Eignung von Hilfsangeboten ..... 485 6.2 Implikationen für die praktische Arbeit .......................................................... 497 6.2.1 Bedarfsdeckende Ausweitung geeigneter Programme ................................ 497 6.2.2 Qualitätssteigerung der Hilfsprogramme ..................................................... 501 6.2.3 Integrationsfördernde Hilfe statt Ausgrenzung durch Hilfe ........................ 506 6.3 Empfehlung für weitere Forschung ................................................................. 508 6.3.1 Grundlagenforschung ................................................................................... 510 6.3.2 Programmevaluation ..................................................................................... 511 7
Statt eines Nachworts: Plädoyer für Selbsttätigkeit .......................................... 515
Quellenverzeichnis ......................................................................................................... 523 Literatur ............................................................................................................................ 523 Quellen aus dem Internet ................................................................................................. 535 Verzeichnis der zitierten Interviews ................................................................................ 538 Verzeichnis der zitierten Fragebögen .............................................................................. 541 Teilnehmende Beobachtungen/Praktika .......................................................................... 542 Verzeichnis der Abbildungen ....................................................................................... 543
Abkürzungsverzeichnis
AED AIDS AIC ANPPCAN ARV BAKWATA BCDSA CBO CCM CD4 COBET COPE CSVCO FACT FBO FHI GTZ HAART HIV HOMERC HUMPEMEF HUYAMWI HUYAWA ILO IPEC KAKAU KINSHAI KIWAKKUKI KZACP MVC NACP NGO OAU OVC PASADA PEDP PEP PMTCT PPTC
Academy for Educational Development Acquired Immune Deficiency Syndrome African Inland Church African Network for the Prevention and Protection against Child Abuse and Neglect Antiretroviral National Muslim Council of Tanzania Busega Childrens Development and Services Assistance Community-based Organisation Chama Cha Mapinduzi (Party of the Revolution) Cluster of Differentiation 4 Complementary Basic Education in Tanzania Community-based Orphan care, Protection and Empowerment Care and Support Vulnerable Children Organization Family AIDS Caring Trust Faith-based Organisation Family Health International Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Highly Active Anti-Retroviral Therapy Human Immunodeficiency Virus Hope for Orphans and Mentally Retarded Children Huruma Peace Mercy Foundation Huduma ya Yatima Mwika (Hilfe für Waisen Mwika) Huduma ya Watoto (Hilfe für Kinder) International Labour Organisation International Programme on the Elimination of Child Labour Kanisa Katoliki Na Ukumwi (Katholische Kirche gegen AIDS) Kilimanjaro NGO Cluster on HIV/AIDS and Reproductive Health Interventions Kikundi Cha Wanawake Kilimanjaro Kupamambana Na Ukimwi (Kilimanjaro Frauen gegen AIDS) Kagera Zone AIDS Control Project Most Vulnerable Children National AIDS Control Programme Nongovernmental Organisation Organisation of African Unity Orphans and Vulnerable Children Pastoral Activities and Services for People with AIDS Primary Education Development Plan Post-Exposure Prophylaxe Preventing Mother-to-Child Transmission Post-Primary Technical Centre
14 PSLE RAAAP REPSSI SAKUVI SAT SEDP SIDA SWAAT TACAIDS TACOPE TAHEA TANOPHA TANU TSH UN UNAIDS UNDP UNGASS UNICEF UNPF UNRISD USAID VETA WAMATA WFP WHO WOWESOT YOPAC
Abkürzungsverzeichnis Primary School Leaving Exam Rapid Assessment, Analysis and Action Planning Regional Psychosocial Support Initiative Saidia Kudhibiti Ukimwi Vijijini (Hilfe und AIDS-Kontrolle für Gemeinden) Southern African Trust Secondary Education Development Plan Swedish International Development Cooperation Agency Society for Women and AIDS in Africa Tanzania Commission for AIDS Tanzania Community-based Option for Protection and Empowerment Tanzania Home Economics Association Tanzania Network of Organisations of People Living with HIV/AIDS Tanganyika African National Union Tanzania Shilling United Nations United Nations Joint Programme on HIV/AIDS United Nations Development Programme United Nations General Assembly Special Session United Nations Children's Fund United Nations Population Fund United Nations Research Institute for Social Development United States Agency for International Development Vocational Education Training Authority Walio Katika Mapambano na AIDS Tanzania (Menschen, die sich im Kampf gegen AIDS in Tansania befinden) World Food Program World Health Organisation Widows and Orphans Welfare Society of Tanzania Youth and Parents Crisis Counselling Centre
Prolog
Forschungstagebuch, Kagera Region – Bukoba, Eintrag 19. April 2007 Gegen Mittag sollte ich ins Büro von HUYAWA kommen. Schwester Renathe hatte mir angeboten, sie bei Hausbesuchen in den umliegenden Dörfern von Bukoba zu begleiten – damit ich sehe, wie die Kinder wirklich leben, hat sie mir gesagt. Als ich im Gebäude der Waisenorganisation eintreffe, herrscht schon geschäftiges Treiben. Im Eingangsbereich sehe ich ein paar Frauen – junge und alte – manche mit Kindern an der Hand oder im Tragetuch auf dem Rücken. Daneben einige ältere Kinder, die scheinbar ohne Begleitung ihren Weg zu HUYAWA gefunden haben. Ganz in der Ecke sitzt ein Großvater mit seinem Enkel auf dem Schoss, beide mit ernstem Gesicht. Alle warten geduldig, bis sie an der Reihe sind und ihr Anliegen dem Berater vortragen können. Aus dem Fenster im Wartebereich fällt mein Blick hinaus auf den weißen Sandstrand des Lake Victoria, eine fast zu schöne Kulisse ... Ich frage mich zu Schwester Renathe durch. Sie ist noch mit einem ihrer Fälle beschäftigt: Eine Witwe benötigt dringend Hilfe für ihr krankes Kind, doch das Krankenhaus weist sie immer wieder ab, weil sie die Behandlung nicht zahlen kann. Um mir die Zeit zu verkürzen, schickt sie mich in die Küche und schenkt mir eine Tasse Tee ein. Dieser Tee ist mir noch aus der Zeit meines Praktikums im Waisenhaus Ntoma bekannt – schwarzer Tee mit viel Zucker, Milch und Gewürzen – da werden Erinnerungen wach. Viel Zeit lässt mir Schwester Renathe aber nicht; zehn Minuten später kann es losgehen. Statt ihrem Habit, einer einfachen blauen Tracht, trägt sie nun eine Jeans und einen dicken Pullover; dies ist auch notwendig, denn zu meiner Überraschung machen wir uns mit dem Motorrad auf den Weg. Kurz nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen haben, endet die asphaltierte Straße. Auf mehr oder weniger gut befestigten Wegen und Trampelpfaden aus rotem Lehm – die sich wie Lebensadern durch die Landschaft ziehen – geht es zwischen Bananenhainen und Wiesen hindurch. Nach einer halben Stunde erreichen wir unser erstes Ziel und halten vor einer kleinen Lehmhütte. Das Motorrad hat uns bereits angekündigt und eine alte Frau tritt aus der niedrigen Tür. Ein breites Lächeln liegt auf ihrem gezeichneten Gesicht; Schwester Renathe scheint ein gern gesehener Gast zu sein und entsprechend herzlich werden wir begrüßt. Während wir noch erzählen, kommen fünf Kinder zum Vorschein – verwaiste Enkel, um die sich die Großmutter kümmert. Die Frau bittet uns hinein; es dau-
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Prolog
ert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit in der rauchverhangenen Hütte gewöhnen, doch dann kann ich die Ausstattung ausmachen: Das Zuhause der Familie besteht aus einem einzigen Raum, der mit getrocknetem Gras ausgelegt ist, Möbelstücke sehe ich nicht. In einer Ecke brennt ein Feuer und darauf steht ein Topf; eines der Mädchen geht immer wieder hin, rührt um und legt Holz nach. Ansonsten fehlt es scheinbar am Notwendigsten – ich kann keine Wechselkleidung entdecken, keine Decken, kaum Geschirr … Das Dach wurde mit Gras gedeckt und auf dem Ast, der das Dach trägt, läuft eine Maus hin und her. Die Kinder verfolgen lachend meinen Blick. Schwester Renathe stellt mich vor und berichtet von meiner Forschung. Die Mädchen erklären sich freudig bereit, meinen Fragebogen auszufüllen, und bedanken sich höflich, als ich ihnen die Bögen und Stifte aushändige – dabei bin ich doch diejenige, die dankbar für ihre Hilfe sein muss! Schwester Renathe erkundigt sich bei der Frau nach den letzten Neuigkeiten: Die Unterkunft macht Probleme und wird die kommende Regenzeit wohl kaum schadlos überstehen; auch das älteste Mädchen macht der alten Frau Sorgen, seit dem Tod der Eltern wird sie immer schwieriger, die Autorität der Großmutter akzeptiert sie nicht. Währenddessen beantworten die Kinder konzentriert meine Fragen und schon bald bringen sie mir die ausgefüllten Blätter sowie die Stifte zurück. Da müssen wir auch schon wieder los, Schwester Renathe wechselt ein paar Worte mit dem ältesten Mädchen, dann wird das Motorrad angeworfen und weiter geht es zur nächsten Familie. Die Fahrt ist dieses Mal nur kurz, wenige hundert Meter weiter halten wir wieder an. Die seit Kurzem verwitwete Frau ist nicht Zuhause, aber Nachbarn finden sich bei unserer Ankunft ein und ein kleiner Junge wird losgeschickt, um sie zu holen. Wenig später trifft sie mit ihren Kindern ein; sie war auf dem Feld, um ein paar Maniokwurzeln zu ernten. Wieder beginnt eine umfangreiche Begrüßungszeremonie: Habari? – Nzuri!, Familia haijambo? – Familia yangu haijambo!, Habari zenu? – Habari zetu ni nzuri!... Ich bleibe bei den Kindern, die mit dem Ausfüllen meiner Fragebögen beschäftigt sind, und Schwester Renathe sieht sich mit der Witwe das Grundstück an, auf dem ein neues Haus für die Familie entstehen soll. Als ich die ausgefüllten Fragebögen überfliege, sehe ich, dass das jüngste Mädchen angekreuzt hat, dass sie gestern mit Geld verdienen beschäftigt war. Ich bitte, Schwester Renathe nachzufragen. Stolz berichtet das 10jährige Mädchen, dass sie Wasser von der nächsten Wasserstelle geholt und dieses für 50 TSH, gerade einmal 3 Cent, an die Nachbarn verkauft hat. Das Mädchen beweist wie viele andere Waisen jede Menge Ehrgeiz, wenn es darum geht, einen eigenen Beitrag zum Haushaltseinkommen zu leisten. Während wir uns wieder auf den Weg machen, begleitet uns eine Gruppe von Kindern aus der Nachbarschaft; mit den Rufen „Mzungu, Mzungu“ (Weiße, Weiße) versuchen sie, mit dem Motorrad Schritt zu halten.
Prolog
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Auf diese Weise geht es den ganzen Nachmittag weiter – von einer Familie zur nächsten. Wir besuchen einen Großvater, der sich alleine um seine drei verwaisten Enkel kümmert und bedauernd feststellt, dass er nichts zu essen im Haus hat, das er uns anbieten könnte. Wir besichtigen das mit Hilfe von Spendengeldern gebaute Zuhause eines Kinderhaushaltes, das den jungen Mädchen der Familie Schutz bieten und die Nähmaschine, mit der das älteste Mädchen den Lebensunterhalt für ihre Geschwister sichert, vor Diebstahl schützen soll. Wir treffen eine fast blinde Frau, die ihren verwaisten Enkel aufgenommen hat, und ich frage mich, wer sich hier um wen kümmert – die Frau um ihren Enkel oder doch eher der Junge um seine Großmutter. Wir machen einen Krankenbesuch bei einer jungen Mutter, die still im Kreise ihrer Verwandten auf dem grasbedeckten Boden liegt. AIDS erklärt Schwester Renathe später – die Frau erhält eine lebensverlängernde ARV-Therapie vom staatlichen Krankenhaus in Bukoba, aber die Familie verfügt nicht über ausreichende Nahrungsmittel, sodass die Medikamente zu schweren Nebenwirkungen führen. Schließlich kommen wir zur letzten Familie – Großeltern, die gemeinsam fünf verwaiste Enkel versorgen. Die Dämmerung bricht herein und wieder einmal bin ich überrascht, wie schnell es so nah am Äquator dunkel wird. Die Kinder füllen die letzten Fragen meines Fragebogens im Schein kleiner, selbst hergestellter Öllampen aus, denn Elektrizität gibt es nicht. Der Älteste berichtet mir in fehlerfreiem Englisch, wie dankbar er für die Unterstützung von HUYAWA ist, die es ihm erlaubt, die Sekundarschule zu besuchen. Ich frage mich, ob er diese Chance auch bekommen hätte, wenn seine Eltern noch leben würden. Doch bevor ich noch weitere Fragen stellen kann, drängt Schwester Renathe zum Aufbruch; der Rückweg ist noch weit und die unbefestigten Straßen sind im Dunkeln nicht ungefährlich. Während wir durch die Dunkelheit fahren, denke ich über die verschiedenen Familien nach, die wir heute besucht haben, und mir wird bewusst, wie facettenreich Verwaisung sein kann ... Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als kurz vor Bukoba plötzlich der Motor ausgeht und wir auf der abschüssigen Straße bis in die Stadt rollen. Später teilt mir Schwester Renathe mit, dass sie das immer so macht – den Motor ausstellen, um Benzin zu sparen – denn die Organisation muss mit ihren wenigen Ressourcen haushalten.
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Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Seit dem Ausbruch von AIDS in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat die Krankheit alle Länder und alle Bevölkerungsschichten erreicht. Am Ende des Jahres 2008 lebten weltweit ca. 33,4 Millionen Menschen mit dem HI-Virus. Die am stärksten betroffene Region der Welt sind die afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Dort gab es mit insgesamt ca. 22,4 Millionen Menschen nicht nur die meisten Infizierten; auch die HIV-Infektionsrate der erwachsenen Bevölkerung (15 – 49 Jahre) lag mit 5,8% weit über dem weltweiten Durchschnitt von 0,8%.1 Die AIDS-Epidemie hinterließ im südlichen Afrika eine verwaiste Generation. Mehr als 55 Millionen Waisen2 lebten 2007 in Subsahara-Afrika, 2,6 Millionen davon in Tansania. Das Land in Ostafrika verfügt über die größte Waisenpopulation aller afrikanischen Staaten, die nicht in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt sind. Jedes achte Kind hat ein oder beide Elternteile verloren.3 Trotz der Bedeutung der Ausbreitung von HIV für die Zunahme der Waisen in Tansania stellt AIDS nicht die einzige Ursache für die Verwaisung dar. Dessen ungeachtet gilt die Epidemie als Auslöser der Waisenkrise, da sie nicht nur die Zahl der Waisen rapide ansteigen ließ, sondern gleichzeitig die Zahl bzw. die Kapazitäten potenzieller Pflegeeltern dramatisch reduzierte.4 Dennoch bewies das Verwandtschaftssystem im Verlauf der Waisenkrise in Tansania eine enorme Widerstandsfähigkeit; der Großteil der Waisen findet weiterhin Aufnahme bei Angehörigen, die trotz der zusätzlichen Belastung ihrer sozialen Pflicht nachkommen. Die Tradition der familiären Verantwortung bildet die wichtigste Ressource für Waisen und verhinderte in den vergangenen Jahrzehnten die Verelendung und Verwahrlosung von hunderttausenden Kindern. Doch die Großfamilie erreicht immer häufiger die Grenze der Belastbarkeit. Betreuer sehen sich nicht in der Lage, die materiellen und psychosozialen Bedürfnisse der aufgenommenen Kinder angemessen zu erfüllen. Viele Kinder übernehmen nach dem Tod ihrer Eltern Verantwortung für sich selbst, jüngere Geschwister oder alte bzw. kranke Betreuer. Sie sind darauf angewiesen, in der Landwirtschaft oder mit einer Er1
Vgl. UNAIDS und WHO (Hrsg.) 2009, S. 11. Def. Waisen: Heranwachsende unter 18 Jahren, die ein oder beide Elternteile verloren haben. 3 Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 52. 4 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 35. 2
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
werbsarbeit ein Einkommen zu erwirtschaften, mit dem sie dieser Verantwortung gerecht werden. 5 Zunehmend bleiben Kinder ohne erwachsene Angehörige zurück und versorgen sich selbst in Kinderhaushalten. 6 Andere verwaiste Heranwachsende wählen den Weg auf die Straße, um einem Alltag zu entgehen, der von Armut oder Missbrauch geprägt ist. 7 Nicht alle Waisen in Tansania befinden sich in derselben Situation oder sind auf gleiche Weise gefährdet. Einige Waisen besuchen Privatschulen und andere leben in einem festen Familiengefüge, weil die Mutter nach dem Tod des Vaters wieder geheiratet hat. Trotzdem lassen sich bestimmte Risiken für verwaiste Heranwachsende ausmachen, die in quantitativen Erhebungen nachgewiesen und in qualitativen Untersuchungen beschrieben wurden. Im Bereich der sozioökonomischen Aspekte der Versorgung besitzen Waisen beispielsweise ein höheres Risiko für Wachstumsverzögerungen 8 sowie geringere Bildungschancen9, sie sind in schweren Formen von Kinderarbeit überproportional vertreten10 und leben häufiger als Nichtwaisen in Haushalten, die sich unterhalb der Armutsgrenze von 262 TSH (0,15 Euro) pro Person und Tag befinden11. Die psychosozialen Aspekte der Verwaisung, mit denen sich die betroffenen Kinder auseinandersetzen müssen, umfassen die Verarbeitung des Verlustes12, das Risiko von Stigma und Diskriminierung13 sowie die erhöhte Gefährdung für spezifische Formen von Kindesmisshandlung und Ausbeutung14. Als Reaktionen auf die Gefährdung von Waisen im sozioökonomischen und psychosozialen Bereich entwickelten nichtstaatliche Akteure Anfang der 1990er Jahre die ersten formellen Hilfsangebote. Die Waisenhilfe in Tansania bildet kein kohärentes System von Maßnahmen, vielmehr entwickelten sich getrennt voneinander vielfältige Bewältigungsstrategien im gesamten Land als lokale Reaktionen auf die zunehmende Zahl von Waisen. Die sozialen Angebote für 5
Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 26 ff. Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 24; Weinreich und Benn 2003, S. 50; Foster in Pharoah (Hrsg.) 2004, S. 71. 7 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 4; UNICEF (Hrsg.) 2003, S. 25; Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 12. 8 Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 19 ff.; Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 62 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 15 f. 9 Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 8 ff.; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43; Measure DHS (Hrsg.) 2006, S. 35 f. 10 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 52; Rau 2002, S. 1; Whitehouse 2002, S. 33; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 30; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 11 Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 12 Vgl. Fox 2001, S. 26; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 22. 13 Vgl. Whitehouse 2002, S. 32 ff.; Coury und Subbarao 2004, S. 21; Kaare 2005, S. 5. 14 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 409; Rau 2002, S. 1; Whitehouse 2002, S. 30 f.; Wanitzek 2007, S. 2. 6
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
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Waisen unterscheiden sich dementsprechend in ihren Zielen und Methoden. Die Leistungspalette reicht von ambulanten Unterstützungsmaßnahmen für Haushalte mit Waisen über die Vermittlung von Waisen in Pflege- oder Adoptivfamilien bis zu stationären Betreuungsangeboten. Insgesamt deckt die Waisenhilfe in Tansania die drei klassischen Methoden der Sozialen Arbeit – Einzelfallhilfe, Gemeinwesenarbeit und Soziale Gruppenarbeit – ab. Die Programme der Waisenhilfe weisen ein geringes Maß an Professionalisierung auf. Nur wenige Projekte, bei denen es sich in der Regel um Angebote mit ausländischen Sponsoren bzw. um Hilfsprogramme internationaler Organisationen handelt, setzen qualifizierte Sozialarbeiter in ihrer Arbeit ein. Das Institute of Social Work in Dar es Salaam, eine der wenigen Einrichtungen, die eine akademische Qualifizierung im Bereich der Sozialen Arbeit in Tansania anbietet, berichtet, dass im gesamten Land mindestens 8.000 Sozialarbeiter fehlen, um auf die Herausforderungen, die sich durch die Waisenkrise ergeben, zu reagieren. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und die geringen finanziellen Ressourcen vieler Organisationen verhindern besonders in ruralen Gebieten den Einsatz ausgebildeter Sozialarbeiter.15 Die angestellten Mitarbeiter in den Projekten kommen häufig aus angrenzenden Professionen, wie Pädagogik, Medizin oder Theologie, während ein Großteil der ehrenamtlichen Arbeitskräfte, die in Tansania in vielen Fällen die Basis für das Engagement der Organisationen darstellen, auf keine fachspezifische Ausbildung bauen kann. Neben dem Mangel an Professionalisierung prägt ein geringer Grad an Verrechtlichung die Soziale Arbeit und somit auch die Waisenhilfe in Tansania. Die sozialen Angebote für Waisen basieren nicht auf einem staatlich geregelten Kinder- und Jugendhilfesystem. Vielmehr rückten bedürftige Heranwachsende, die sich aufgrund der selbstverständlichen und traditionell verwurzelten Verantwortungsübernahme innerhalb der Großfamilie bis in die 1990er Jahre nicht zu einem gesellschaftlichen Problem entwickelten, im Zuge der Waisenkrise erstmals in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Staat verfügte weder über ein ausgebautes soziales Sicherungssystem für Kinder und Jugendliche noch besaß er ausreichend Erfahrungen in der Formulierung von staatlichen Richtlinien sowie der Koordinierung von Hilfsmaßnahmen für diese Zielgruppe. Seit Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts leisten die staatlichen Organe ihren Beitrag in der Bewältigung der Waisenkrise, indem sie Richtlinien für die Versorgung der betroffenen Kinder entwickeln und Akteure der Zivilgesellschaft bei der Implementierung unterstützen. 16 Trotz der Fortschritte konnte bisher kein
15 16
Vgl. www.news.bbc.co.uk/2/hi/africa/7239047.stm 31.07.09. Vgl. Kaare 2005, S. 1.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
umfassendes staatliches Sicherungssystem für bedürftige Kinder geschaffen werden. Beide Faktoren, die geringe Professionalisierung einerseits und der Mangel eines staatlichen Sicherungssystems für Kinder und Jugendliche andererseits, führten zu einer inkohärenten Reaktion auf die Waisenkrise. Sowohl die Qualität der Programme als auch der Zugang zu Unterstützungsangeboten variiert innerhalb des Landes und zwischen den einzelnen Organisationen. Diese Defizite im Umgang mit den zunehmenden Herausforderungen sowie die Dringlichkeit der Problemstellung bilden die Motivation für die vorliegende Arbeit. Die Dissertation soll einen Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung der Waisenkrise in Tansania leisten und geeignete Bewältigungsstrategien der Sozialen Arbeit für die vielfältigen Problemlagen der Waisen aufzeichnen. Der Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind die im Zuge der Waisenkrise entstandenen Unterstützungsangebote in Tansania. Es bedarf einer umfassenden Evaluation der Waisenhilfe, damit die Angebote in Zukunft sowohl qualitativ als auch quantitativ den Bedürfnissen der Waisen gerecht werden. Die vorliegende Untersuchung greift dabei auf die Erfahrungen, die bisher im Umgang mit der Waisenkrise in Tansania gesammelt wurden, zurück und nutzt diese zur Identifizierung geeigneter Programme. Eine flächendeckende Ausweitung und qualitative Verbesserung der Waisenhilfe erweist sich als dringend erforderlich, um das Wohlergehen und die gesunde Entwicklung der betroffenen Kinder zu sichern. In einem Land, in dem jedes achte Kind ein oder beide Elternteile verloren hat, stellt ein adäquates Unterstützungssystem für Waisen darüber hinaus nicht nur eine Notwendigkeit für die bedürftigen Heranwachsenden, sondern auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung dar. Tansania hat bereits eine Generation durch HIV/AIDS verloren und spürt die negativen Konsequenzen für die Entwicklungsbemühungen des Landes; der Staat kann es sich nicht leisten, eine weitere Generation zu verlieren.17 Das folgende Kapitel umfasst vier Teile, die thematisch aufeinander aufbauen und insgesamt einen Überblick über die geplante Forschung geben. Der erste Teil des Kapitels widmet sich der Analyse der Quellenlage, welche den Ausgangspunkt der Forschung markiert. Aus dem identifizierten Forschungsbedarf leitet sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ab. Nach der begrifflichen Definition des Forschungsgegenstandes „Waisen“ beschreibt die Autorin im zweiten Teil des Kapitels das Ziel und die Fragestellung der Arbeit. Anschließend geht sie auf das theoretische Fundament der Studie, die Theorie der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit von Thiersch (1986, 1992, 1995, 2002, 17
Vgl. Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 2; Coury und Subbarao 2004, S. 7; Salaam 2004, S. 6 f.
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
23
2004, 2005, 2006), ein. Die Frage der Übertragbarkeit der Lebensweltorientierung auf einen kulturfremden Kontext wird dabei anhand der Indigenisierungsdebatte der internationalen Sozialen Arbeit kritisch diskutiert. Die Prämissen und Evaluationskriterien, die das methodische Vorgehen lenken, werden von der theoretischen Grundlage abgeleitet und erläutert. Nach der Darstellung der Grenzen der Studie mündet das Kapitel in eine detaillierte Beschreibung der Evaluationsstudie. Diese umfasst neben Informationen zu den angewandten Forschungsinstrumenten, auch Angaben über die praktische Durchführung der Forschung sowie über die verschiedenen Informanten, die an der Studie teilgenommen haben. 1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext Die historischen Wurzeln der Waisenforschung sind eng mit der Entwicklung der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaft in Europa verknüpft. Die Arbeit mit Waisen hat eine lange Tradition im sozialen und pädagogischen Bereich. Viele Pädagogen, Sozialpädagogen und Theologen, die heute in Europa als Klassiker der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit gelten, zogen ihre Erkenntnisse aus der Arbeit mit Waisen. 18 Eine bessere soziale Absicherung von Waisen und der Rückgang der Erwachsenensterblichkeit in den industrialisierten Staaten in Europa und Nordamerika führten dazu, dass die Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Waisen“ im vergangenen Jahrhundert zunehmend an Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Forschung verlor. Erst durch die AIDS-Epidemie und den damit einhergehenden steigenden Waisenzahlen in den von der Epidemie stark betroffenen Ländern in Subsahara-Afrika erlebte die Waisenforschung in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance. 18
Im Folgenden finden sich einige Beispiele von Vertretern der Pädagogik und der Sozialen Arbeit, die ihre Erfahrungen mit Waisen sammelten und darauf ihr Erziehungsverständnis gründeten: Siehe Francke in Podczeck (Hrsg.) 1962: August Hermann Francke legte 1698 mit seinem Waisenhaus den Grundstein für die Glauchaschen Anstalten, heute Franckeschen Stiftungen. Seine Arbeit mit den Waisen und der Aufbau der Anstalten, spiegelten seine religiösen, sozialpolitischen und pädagogischen Ideen wider und sind ein Beispiel für den Einfluss des Pietismus auf die Waisenversorgung. Siehe Pestalozzi in Buchenau, Spranger und Stettbacher (Hrsg.) 1927, Band 13, S. 3 ff.: Pestalozzi übernahm 1798 die Leitung des Waisenhauses in Stanz. Dies stellte für ihn eine wichtige Gelegenheit dar, pädagogische und soziale Ideen auszuprobieren und weiterzuentwickeln. Im Stanzer Brief schreibt er seine Erfahrungen nieder. Siehe Korczak in Heimpel und Ross (Hrsg.) 1979, S. 279 ff.: Korczak stellte in seinem Aufsatz dar, wie er in Form eines „Trial and Error“-Prinzipes in der Arbeit mit Waisen pädagogische Erkenntnisse gewann und innovative Konzepte in den Heimalltag einführte.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Um ein besseres Verständnis von den Zusammenhängen zwischen der AIDS-Forschung und der Waisenforschung zu erhalten, veranschaulicht das Kapitel 1.1.1 anhand der terminologischen Entwicklung des Forschungsgegenstandes die Einbettung, aber auch die Loslösung der Waisenforschung von der AIDS-Forschung. Die anschließende Dokumentation des aktuellen Forschungsstandes (Kap. 1.1.2) im Kontext der Waisenkrise in Tansania zeigt die Unzulänglichkeiten der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Trotz der Fortschritte in der Erforschung der Situation von Waisen und entstandener Hilfsangebote für diese Adressaten bedarf es weiterer Studien, um die Reaktionen auf die Waisenkrise wissenschaftlich zu begleiten und zu lenken. 1.1.1 Waisenforschung und ihre Verortung in der AIDS-Forschung Die AIDS-Epidemie zog einen starken Anstieg der Waisenzahlen nach sich. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (2009) berichten in einem gemeinsamen Report, dass 2007 weltweit bis zu 20,9 Millionen Kinder unter 18 Jahren lebten, die ein oder beide Elternteile durch AIDS verloren haben. 19 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit HIV/AIDS führte quasi zwangsläufig zur Neuentdeckung der Waisen als Forschungsgegenstand. Anfangs waren es nicht Vertreter der Pädagogik und der Sozialen Arbeit, die sich vorwiegend mit den Waisen beschäftigten. Vielmehr entstand die Waisenforschung zuallererst als Nebenprodukt der AIDS-Forschung. Beispielsweise untersuchten Beegle, DeWeerdt und Dercon (2006) die Zusammenhänge zwischen Erwachsenensterblichkeit und Haushaltskonsum und entdeckten dabei die besondere Gefährdung von Waisen. 20 Als Folge davon ist die aktuelle Waisenforschung in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen positioniert. Im Gesamtumfang der AIDS-Forschung machte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Waisen nur einen kleinen Teil aus. UNICEF und UNAIDS (2005) demonstrierten in ihrem Report „A call to action: Children – The missing face of AIDS“, dass die Wissenschaftsgemeinde betroffene Kinder für lange Zeit vernachlässigte. Die Analyse der Konsequenzen, denen Kinder nach dem Tod ihrer HIV-infizierten Eltern ausgesetzt sind, stand nicht im Fokus der Forschung und wurde, ebenso wie die Entwicklung von Medikamenten für HIV-infizierte Kinder, nur am Rand tangiert.21
19
Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 52. Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006. 21 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2005, S. 6 ff. 20
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
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Waisen als Forschungsgegenstand in der AIDS-Forschung Die Entwicklung der Terminologie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand „Waisen“ belegt anschaulich die Ursprünge der aktuellen Waisenforschung mit afrikanischem Bezug in der AIDSForschung. Die Evolution der verwendeten Begriffe macht gleichzeitig deutlich, wie sich das Bild der Wissenschaftler durch zunehmende Beschäftigung mit der Thematik verändert hat. Die enge Verbindung zur AIDS-Forschung führte immer wieder zu Problemen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand, da die Konzentration auf die Folgen von HIV/AIDS zur Vernachlässigung anderer gefährdeter Kinder führte. Dementsprechend erweiterte sich die Forschung, die von der spezifischen Risikogruppe „AIDS-Waisen“ ausging, auf andere Kinder, die ebenfalls von HIV und AIDS betroffen sind, und kam schließlich zu einem umfassenderen Verständnis der Gefährdung von Heranwachsenden im Zeitalter von AIDS und im spezifischen afrikanischen Kontext. Die Entwicklung der Terminologie in der Waisenforschung stand in enger Verbindung zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der AIDS-Epidemie. Aus diesem Grund und wegen der wesentlichen Bedeutung der Terminologie sowohl in der Forschung als auch in der Praxis soll an dieser Stelle auf die Entwicklung der Begrifflichkeiten eingegangen werden. „AIDS-Waisen“ Der erste Begriff und der erste Forschungsgegenstand in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der AIDS-Epidemie für Kinder im südlichen Afrika waren „AIDS-orphans“ (AIDS-Waisen).22 “UNAIDS, WHO und UNICEF definieren AIDS-Waisen als Kinder, die ihre Mutter vor dem Erreichen des 15. Lebensjahres aufgrund von AIDS verloren haben.” (UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 1999, S. 5/Übersetzung durch Verf.). Der Begriff stieß sowohl bei Praktikern als auch bei Wissenschaftlern auf Kritik, sodass die Bezeichnung „AIDS-Waisen“ zunehmend infrage gestellt wurde. Folgende Aspekte führten schließlich dazu, dass der Begriff weitestgehend aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwand: Die Beschränkung auf den Tod der Mutter vermittelt in statistischen Erhebungen ein unrealistisches Bild der Folgen der AIDS-Epidemie für Kinder, 22
Vgl. The Panos Institute (Hrsg.) 1990; Mukoyogo und Williams 1991.
26
23
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
denn gerade der Tod des Vaters hat in Kulturen, in denen der Mann der Hauptverdiener der Familie ist, verheerende Folgen für die Entwicklungschancen eines Kindes. 23 AIDS als Todesursache wird oft nicht nachgewiesen. Der HIV-Status eines Verstorbenen ist nicht immer bekannt, denn in vielen Fällen wird nicht AIDS, sondern die jeweilige Sekundärerkrankung, beispielsweise Tuberkulose, als Todesursache angegeben.24 Darüber hinaus ist HIV/AIDS in einigen Kulturen noch mit Tabu und Stigma belegt; die Menschen bringen den langsamen Tod mit Zauberei, Fluch und Tabubrüchen in Verbindung oder machen aus Angst vor Diskriminierung keine verlässlichen Aussagen. 25 Ein weiterer negativer Aspekt des Begriffes liegt im Risiko der Ausgrenzung. Die Einordnung eines Kindes in die Gruppe der „AIDS-Waisen“ kann die Stigmatisierung des Kindes zusätzlich verstärken. 26 Die Probleme von Heranwachsenden mit HIV-infizierten Eltern beginnen nicht erst zum Zeitpunkt des Todes der Eltern, sondern fangen bereits während der für AIDS typischen Krankheitsphasen an. Kinder müssen in dieser Zeit oft die Eltern pflegen und deren Rolle in der Familie übernehmen. 27 Neben psychosozialen Problemen leiden die Kinder unter einer verschlechterten finanziellen Situation, da die Arbeitskraft des Kranken ausfällt und das Haushaltseinkommen für die medizinische Versorgung benötigt wird. 28 Neben dem Bezug der Definition auf AIDS wurde die Altersgrenze kontrovers diskutiert. In den Veröffentlichungen von UNICEF, UNAIDS und anderen Wissenschaftlern war nicht ersichtlich, aus welchem Grund 15 Jahre als Altersgrenze für „AIDS-Waisen“ galt. 29 Diese Grenze stand im Widerspruch zu den Kinderrechtskonventionen der Vereinten Nationen, laut denen ein Kind jeder Mensch ist, der sein 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.30 Darüber hinaus entsprach die Altersgrenze nicht der sozialen Realität, da negative Konsequenzen durch den Tod der Eltern auch Jugendliche trifft, die älter als 15 Jahre sind.31
Vgl. World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 3 (Section 1); Monk o. J., S. 12. Vgl. Monk o. J., S. 2. 25 Vgl. World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 5 (Section 1); Nyblade, Pande, Mathur, MacQuarrie, Kidd, Banteyerga, Kidanu, Kilonzo, Mbwambo und Bond 2003, S. 17; Salaam 2004, S. 18; Dilger 2005, S. 36. 26 Vgl. World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 5 (Section 1); Salaam 2004, S. 18; DeMarco 2005, S. 8. 27 Vgl. POLICY Project (Hrsg.) 2005, S. 1. 28 Vgl. Hunter und Williamson 1998, S. 3. 29 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 1999; Hunter und Williamson 2000; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002. 30 Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1999a, S. 11. 31 Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 4. 24
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
27
Von AIDS betroffene und gefährdete Kinder Als Folge der wissenschaftlichen Diskussion sprachen sich viele Autoren in ihren Veröffentlichungen bewusst gegen den Gebrauch des Begriffes „AIDSWaisen“ aus.32 Dennoch löste sich die Waisenforschung nicht von der AIDSForschung. Statt alle Waisen unabhängig von der Todesursache der Eltern in die Forschung mit einzubeziehen, vollzog sich die Ausweitung des Forschungsgegenstandes auf weitere Risikogruppen im Kontext der AIDS-Epidemie. Der Begriff „AIDS-Waisen“ wich Umschreibungen, wie beispielsweise „Children affected by AIDS“33 (von AIDS betroffene Kinder), „Children infected and affected by HIV/AIDS“34 (mit HIV/AIDS infizierte und von HIV/AIDS betroffene Kinder) oder „Children orphaned or made vulnerable by HIV/AIDS“ 35 (Kinder, die aufgrund von HIV/AIDS verwaist oder gefährdet sind). Die von UNICEF (2005) veröffentlichte Definition griff Streitpunkte der vorangegangenen Diskussion zum Begriff „AIDS-Waisen“ auf und wurde in der Folge von Hilfsorganisationen und Wissenschaftlern übernommen. “Eine Waise ist ein Kind unter 18 Jahren, das ein oder beide Elternteile verloren hat. Ein durch HIV/AIDS gefährdetes Kind ist unter 18 Jahren und: i) hat ein oder beide Elternteile verloren, oder ii) hat ein chronisch krankes Elternteil (unabhängig davon, ob das Elternteil im selben Haushalt wie das Kind lebt), oder iii) lebt in einem Haushalt, in dem in den vergangenen 12 Monaten mindestens ein Erwachsener gestorben ist, der mindestens 3 von 12 Monaten vor seinem Tod krank war, oder iv) lebt in einem Haushalt, in dem mindestens ein Erwachsener in den vergangenen 12 Monaten für mindestens 3 Monate ernsthaft krank war, oder v) lebt außerhalb familiärer Fürsorge (lebt zum Beispiel in einer Institution oder auf der Straße).” (UNICEF (Hrsg.) 2005, S. 17/Übersetzung durch Verf.). Der Vorteil der Definition ist die Anwendbarkeit bei statistischen und qualitativen Erhebungen. „Waisen“ und „durch HIV gefährdete Kinder“ sind nach der 32
Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 8; Whitehouse 2002, S. 9; World Vision (Hrsg.) 2005, S. 10. 33 Vgl. Foster 2002, S. 1; UNICEF (Hrsg.) 2007, S. 9. 34 Vgl. Fox 2001, S. 13; USAID (Hrsg.) 2004b, S. 7. 35 Vgl. Salaam 2004, S. 3; USAID (Hrsg.) 2004b, S. 7; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2005, S. 6.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
UNICEF-Definition zählbare und kategorisierbare Untersuchungsgegenstände. Waisen standen nicht grundlos lange im Fokus von Forschung und Interventionen. Zum einen war die Verwaisung die offensichtlichste Folge der AIDSEpidemie und zum anderen lässt sich erfragen, ob ein Kind seine Eltern verloren hat. Die von UNICEF herausgegebene Definition ließ dennoch weiterhin Mängel erkennen und führte ebenso wie der Begriff „AIDS-Waisen“ zu Kontroversen. Als Hauptkritikpunkt galt der Ausschluss von Heranwachsenden, die indirekt von der AIDS-Epidemie betroffen und in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Aus diesem Grund bezogen einige Veröffentlichungen weitere Risikogruppen, beispielsweise Heranwachsende, die gemeinsam mit Waisen in einem Haushalt leben, mit ein. 36 Die Einbindung weiterer Kinder in die Gruppe der „von HIV/AIDS betroffenen Kinder“ ändert allerdings nichts an den Einschränkungen der Terminologie. Eine Bezugnahme auf die AIDS-Epidemie birgt immer die Gefahr, andere bedürftige Kinder auszuschließen. Zudem erweist es sich als schwierig, zu bestimmen, wo die Folgen von chronischer Armut enden und die Auswirkungen von AIDS beginnen. Die Frage, ob ein Kind nicht zur Schule geht, weil es verwaist ist oder weil das Bildungssystem durch die AIDS-Epidemie geschwächt wurde, oder ob es auch nicht zur Schule gehen würde, wenn sich HIV nicht im Land ausgebreitet hätte, lässt sich oft nicht beantworten. Einige Autoren argumentieren zudem, dass alle Kinder im südlichen Afrika durch HIV und AIDS gefährdet sind, da jedes Kind unter den überlasteten Gesundheits- und Bildungssystemen leidet und durch die Epidemie mit Leiden und Tod in der nächsten Umgebung konfrontiert wird.37 „Von HIV/AIDS gefährdete Kinder“ bildet daher keine angemessene Kategorie, um als Grundlage für wissenschaftliche Studien oder für die Planung von Interventionen zu dienen. OVC: Waisen und gefährdete Kinder Aufgrund der Unzulänglichkeiten der Begrifflichkeiten und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung forderten Autoren einen Perspektivwechsel in der Forschung. Diese sollte sich nicht mehr auf die sozialen Folgen von HIV/AIDS auf Kinder konzentrieren, sondern auf wachsende Armut und abnehmende Ent36
Vgl. Williamson 1995, S. 3; Hunter und Williamson 1998, S. 3; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 2; World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 2 (Section 1); Christiansen in Codesria Bulletin 2003 no. 2,3 & 4, S. 94; Monk o. J., S. 16. 37 Vgl. World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 6 (Section 1); UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 13.
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
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wicklungschancen für einige gefährdete Gruppen von Heranwachsenden. Der Bezug auf HIV/AIDS sollte aus den Definitionen weichen, da er zur Diskriminierung und zur Benachteiligung anderer bedürftiger Kinder führt. Durch die Loslösung der Forschung von der AIDS-Forschung wurde eine Öffnung hin zu anderen Risikogruppen ermöglicht. 38 World Vision lieferte 2005 eine entsprechende Definition für „OVC/orphans and vulnerable children“ (Waisen und gefährdete Kinder): “Waisen sind Kinder unter 18 Jahren, die entweder die Mutter, den Vater oder beide Elternteile aus irgendeinem Grund verloren haben. Gefährdete Kinder sind: 1. Kinder, deren Eltern chronisch krank sind. (...) 2. Kinder, die in einem Haushalt leben, der Waisen aufgenommen hat. (…) 3. Andere Kinder in den Gemeinden, die anhand von Kriterien, welche durch die Gemeinde entwickelt wurden, als am stärksten gefährdet identifiziert wurden. (…)“ (World Vision (Hrsg.) 2005, S. 10/Übersetzung durch Verf.). Diese Definition zeigt, wie sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Risiken für ein gesundes Aufwachsen von Kindern im afrikanischen Kontext letztendlich von der AIDS-Forschung trennte. Coury und Subbarao (2004) greifen die Bezeichnung „OVC“ auf und definieren gefährdete Kinder als Heranwachsende, die in ihrer Sicherheit, ihrer Entwicklung und ihrem Wohlergehen in besonderer Weise bedroht sind. Neben Waisen ordnen die Autoren neun weitere Risikogruppen, zum Beispiel Flüchtlingskinder, Straßenkinder, Kinder in extremer Armut und Kinder mit Behinderungen, in die Kategorie „OVC“ ein. Häufig überschneiden sich die Gruppen oder sind kausal miteinander verknüpft. 39 Ein Flüchtlingskind kann gleichzeitig auch ein Waisenkind sein, das auf der Straße lebt; wobei der Tod der Eltern möglicherweise Auslöser der Flucht war und die Flucht nun der Grund ist, warum es dem Kind an einer angemessenen Unterkunft mangelt. Waisen bilden eine spezielle Risikogruppe, da die Verwaisung Kinder anfällig für andere Gefährdungen macht. Aus diesem Grund sind Waisen in vielen Risikogruppen überrepräsentiert. Es darf aber nicht übersehen werden, dass es in den afrikanischen Staaten auch Kinder gibt, die ihre Eltern noch haben, aber dennoch eine hohe Gefährdung aufweisen.40 Diese Tatsache und das Wissen, 38
Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 5; Richter in Pharoah (Hrsg.) 2004, S. 20. Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 1 ff. 40 Vgl. World Bank (Hrsg.) 2002b, S. 6 (Section 1). 39
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
dass die AIDS-Epidemie nicht als alleiniger Auslöser für Bedürftigkeit angesehen werden kann, greift die Bezeichnung „OVC“ auf. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Forschungsgegenstand „Waisen“ beziehen inzwischen in der Regel alle Waisen unabhängig von der Todesursache der Eltern mit ein. 41 Die Waisenforschung löste sich von der AIDS-Forschung mit dem Ziel, der sozialen Realität auf dem afrikanischen Kontinent gerecht zu werden. 1.1.2 Der aktuelle Stand der Waisenforschung mit Schwerpunkt auf Tansania Die qualitativen und quantitativen Forschungsbeiträge zur Thematik Waisen in Afrika nahmen in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zu. Die folgenden Ausführungen illustrieren die Entwicklung der Waisenforschung von der Bestimmung des Ausmaßes der Waisenkrise auf dem afrikanischen Kontinent über Situationsanalysen bis hin zur Evaluation einzelner Hilfsprogramme im tansanischen Kontext. Bei der Darstellung geht es vor allem um die Motive, die Art und den Gegenstand der Forschung. Auf Forschungsergebnisse geht das folgende Kapitel nur am Rande ein, da diese im Laufe der Arbeit immer wieder aufgegriffen werden. Der Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft verdeutlicht, dass weiterhin wichtige Elemente fehlen, um ein umfassendes Bild von der Situation der Waisen und geeigneter Bewältigungsstrategien zu erhalten. Quantitative und qualitative Forschung aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen versucht, das Wissen über Waisen zu mehren. Die Abbildung 1. zeigt, in welcher Weise qualitative und quantitative Forschungsprojekte einen Beitrag zum besseren Verständnis der Situation von Waisen und möglichen Bewältigungsstrategien leisten können. Quantitative Erhebungen geben einen Überblick über das Ausmaß der Waisenkrise sowie über Probleme und Ressourcen der Waisen. Eine ebenso wichtige Bedeutung kommt der qualitativen Forschung zu, denn nur sie ist in der Lage, die quantitativen Ergebnisse mit Leben zu füllen. Je nach Art der Studie müssen Einschränkungen und Nachteile in Kauf genommen werden. Bei Längsschnittstudien besteht die Gefahr, dass gerade die am stärksten gefährdeten Kinder aus der Untersuchung herausfallen. Kinder, die beispielsweise nach dem Tod beider Elternteile auf der Straße leben, lassen sich von einem Forscherteam, das Haushaltsbefragungen über einen längeren Zeitraum durchführt, kaum lokalisieren. Querschnittsstudien beschränken sich oft 41
Siehe Axios International (Hrsg.) 2000, Axios International (Hrsg.) 2001, Axios International (Hrsg.) 2002; Ainsworth, Beegle und Koda 2002; Ainsworth und Filmer 2002; Whitehouse 2002: Eine Auswahl an Veröffentlichungen, die sich auf alle Waisen und nicht ausschließlich auf „AIDSWaisen“ beziehen.
31
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
auf eine kleine Stichprobe und sind, ebenso wie Fallstudien, nicht repräsentativ. Darüber hinaus fehlt den meisten Untersuchungen eine Vergleichsgruppe, welche die Voraussetzung für aussagekräftige Ergebnisse darstellt. Bei vielen Studien handelt es sich um Sekundäranalysen, die auf bereits vorhandenen statistischen Daten basieren, welche nicht speziell zur Waisenkrise erhoben wurden. Abbildung 1:
Überblick über Studien der Waisenforschung
Forschung
Typus der Studie
Quantitative Forschung
Längsschnittstudien Querschnittstudien Sekundäranalysen statistischer Daten
Qualitative Forschung
Charakteristika Veränderungen in einer bestimmten Kohorte werden über längere Zeit verfolgt. Detaillierte Analyse einer Kohorte zu einem bestimmten Zeitpunkt. Repräsentative Daten einer großen Stichprobe werden analysiert.
Beispiel Beegle, Deweerdt und Dercon 2005: Orphanhood and the longrun impact on children. Whitehouse 2002: A situation analysis of orphans and other vulnerable children in Mwanza region, Tanzania. Ainsworth und Filmer 2002: Poverty, AIDS and children’s schooling.
Fallstudien
Eine kleine Stichprobe wird intensiv untersucht.
Bangert und Weiss 2007: Janet und der Graue Tod.
Wissenschaftliche Begleitforschung
Interventionen werden wissenschaftlich erforscht.
Mwaipopo 2005: Evaluation of TAHEA supported „Mama Mkubwa“ Initiative in Makete District, Iringa Region.
Waisenforschung: Statistische Erhebungen zum Ausmaß der Waisenkrise Die fachliche Beschäftigung mit der Waisenthematik konzentrierte sich anfangs auf die Bestimmung des Ausmaßes der Krise.42 Während der vergangenen 20 Jahre begann die systematische Erhebung der wachsenden Waisenzahlen in allen von HIV-betroffenen Ländern. 1997 veröffentlichten Hunter und Williamson die ersten umfassenden Schätzungen zum Ausmaß der Waisenkrise. Sie publizierten Statistiken für alle Waisen unter 15 Jahren in insgesamt 23 Ländern, darunter auch Tansania. Um die Bedeutung von AIDS für das Ausmaß der Waisenkrise 42
Siehe Hunter und Williamson 1997, S. 35 ff.; Hunter und Williamson 2000, S. 12 ff.; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 16 ff.; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 26 ff.; UNAIDS, UNICEF und WHO (Hrsg.) 2007, S. 38 ff.; Monk o. J., S. 20: Diese Publikationen enthalten Daten und Schätzungen zum Ausmaß der Waisenkrise auf dem afrikanischen Kontinent.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
deutlich zu machen, beinhalteten ihre Studien spezielle Schätzungen für Waisen, die ihre Eltern aufgrund von AIDS verloren haben. 43 Waisenforschung: Situationsanalysen Einen zentralen Schwerpunkt der Waisenforschung bilden Situationsanalysen in den betroffenen Ländern. Diese Analysen verfolgten das Ziel, sowohl das Ausmaß der Waisenkrise als auch konkrete Folgen der Verwaisung für Kinder zu bestimmen. Tansania gehörte mit Uganda zum Ausbruchsherd der HIVEpidemie auf dem afrikanischen Kontinent und bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Mukoyogo und Williams (1991) erste Informationen über die Lage der Waisen. 44 Whitehouse (2002) untersuchte mehr als zehn Jahre später die Lebenssituation von Waisen in der Mwanza Region.45 Diese Publikationen sind nur eine Auswahl von Veröffentlichungen über die Situation von Waisen in Tansania.46 Die Untersuchungen geben ein klares Bild von den Problemen der Waisen und ihrer Lebensweise, aber sie übersehen einen wichtigen Aspekt; die Situation der Waisen wird nicht mit den Lebensumständen anderer Kinder und Familien verglichen. Es ist daher nicht möglich, Schlussfolgerungen über die Benachteiligung von Waisen gegenüber Altersgenossen zu ziehen. Weitere Studien haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Lücke zu schließen und konzentrieren sich auf Unterschiede zwischen Waisen und anderen Kindern in spezifischen Bereichen.47 Ainsworth, Beegle und Koda (2000) zeigten
43
Vgl. Hunter und Williamson 1997, S. 35 ff. Vgl. Mukoyogo und Williams 1991. Vgl. Whitehouse 2002. 46 Beispiele weiterer Studien sind im Folgenden aufgeführt: Siehe Burkhardt 2004: Der Leiter eines ambulanten Waisenprojekts gibt in dieser Studie detailliert Auskunft über die Probleme und Bedürfnisse der verwaisten Kinder, die durch das Projekt betreut werden. Siehe POLICY Project (Hrsg.) 2004: Diese Studie war Teil des RAAAP-Initiative, die das Ziel hatte, die Situation von Waisen in verschiedenen afrikanischen Ländern zu evaluieren, nationale Reaktionen auf die Waisenkrise zu dokumentieren und Strategien zur Verbesserung der nationalen Hilfsprogramme zu entwerfen. Siehe United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J.: Dieser umfassende Bericht ist zugleich Porträt der Waisensituation in Tansania und Richtlinie für die Arbeit der Regierung bezüglich der Waisenkrise. In sieben Bereichen, wie beispielsweise Bildung oder Gesundheit, werden die Probleme von Waisen analysiert und Lösungsstrategien formuliert. 47 Folgende Studien untersuchen die Benachteiligung von Waisen gegenüber Altersgenossen: Siehe Ainsworth und Semali 2000: Die Studie analysiert die Folgen von Erwachsenensterblichkeit auf die Gesundheit von Kindern, die im gleichen Haushalt leben. Waisen haben ein höheres Risiko 44 45
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
33
beispielsweise die Konsequenzen der Erwachsenensterblichkeit für den Schulbesuch von Kindern im Nordwesten Tansanias. 48 Andere Untersuchungen analysierten Zusammenhänge zwischen Kinderarbeit und Verwaisung. 49 Diese Veröffentlichungen helfen, die Differenzen zwischen verwaisten Kindern und Kindern mit lebenden Eltern zu verstehen. Jede dieser Studie deckt in der Regel einen kleinen Bereich der Gesamtsituation ab, denn der Forschungsgegenstand an sich stellt eine Herausforderung für die Wissenschaft dar. Während einige Aspekte der Verwaisung, beispielsweise ökonomische oder gesundheitliche Folgen, relativ einfach bestimmbar sind, lassen sich andere Risiken nur schwer evaluieren. Besonders die psychosozialen Probleme, wie psychische Langzeitfolgen oder Konsequenzen der Verwaisung für die Identitätsentwicklung der betroffenen Kinder, sind nicht offensichtlich und bisher kaum untersucht. Darüber hinaus weist die Forschung eine starke Problemorientierung auf; die Analyse von Ressourcen fehlt weitestgehend. Doch gerade die Untersuchung der Ressourcen innerhalb der Familien und Gemeinden könnte wichtige Informationen liefern, die ein umfassenderes Bild der Lage von Waisen ermöglichen und die Planung von Interventionen erleichtern. Waisenforschung: Darstellung und Evaluation von Bewältigungsstrategien Die vorhandenen Forschungsergebnisse zur Situation und Gefährdung von Waisen leisten einen Beitrag zum Verständnis ihrer Lebenswelt; dessen ungeachtet mangelt es an aussagekräftigen Evaluationen von Bewältigungsstrategien. Während der Zunahme verwaister Kinder entstanden in Tansania und anderen afrikanischen Ländern unterschiedlichste Projekte mit dem Ziel, Waisen zu unterstützen: Waisenheime wurden gegründet oder erweiterten ihre Kapazitäten, Kinderdörfer geben verwaisten Kindern ein neues Zuhause, lokale Organisationen helfen Haushalten mit Waisen und engagierte Personen nehmen Kinder bei sich auf. Obwohl diese Organisationen und Personen einen wichtigen Beitrag für das Wohlergehen der betroffenen Kinder leisten, bleibt die Anzahl der Veröffentlichungen über die verschiedenen Versorgungsangebote begrenzt.
überdurchschnittlich häufig krank zu sein, sie sind eher zu klein für ihr Alter und im Vergleich zu Altersgenossen häufiger untergewichtig. Siehe Beegle und Krutikova 2007: Bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Heirat und Erwachsenensterblichkeit konnte festgestellt werden, dass Mädchen, die ihren Vater verloren haben, deutlich jünger heiraten als andere Kinder. 48 Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2000. 49 Siehe UNICEF (Hrsg.) 2001; Rau 2002: Diese Studien sind Beispiele für Publikationen, die über die besondere Benachteiligung von Waisen bezüglich Kinderarbeit Aufschluss geben.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Die vorhandenen Publikationen über Bewältigungsstrategien konzentrieren sich in der Regel auf bestimmte Arten von Organisationen und Programmen, zum Beispiel auf die ambulante Waisenhilfe. Andere Hilfsangebote bleiben von wissenschaftlichen Betrachtungen ausgeschlossen, da sie nicht den aktuellen internationalen Richtlinien zur Bewältigung der Waisenkrise entsprechen. Stationäre Betreuungseinrichtungen in Tansania, das heißt Waisenheime und Kinderdörfer, die weiterhin in vielen Regionen entstehen, bilden kaum den Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Publikationen über Bewältigungsstrategien sind nicht umfassend und spiegeln kein realistisches Bild der entstandenen Initiativen wider. Keine Veröffentlichung dokumentiert die gesamte Palette von vorhandenen Versorgungsangeboten in Tansania. Darüber hinaus sind die existierenden Publikationen in der Regel deskriptiv.50 Die Vorstellung von Projekten als vorbildhafte Beispiele guter Arbeit erfolgt ohne kritische Bewertung oder wissenschaftliche Analyse. Es fehlen beispielsweise angemessene Untersuchungen über die Wirkungsweise von Bildungsunterstützung für Waisen, obwohl diese Maßnahme bei vielen Hilfsorganisationen als Priorität gilt. In diesem Kontext besteht die Notwendigkeit für umfangreiche Analysen der Auswirkungen von der Vergabe von Schuluniformen oder Stipendien durch staatliche und nichtstaatliche Akteure auf die Kontinuität des Schulbesuches und auf die Chancen, ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Darstellung einzelner Projekte hilft, verschiedene Ansätze der Waisenfürsorge zu verstehen. Sie ersetzt aber nicht die Evaluation der vorgestellten Programme, welche Rückschlüsse über fachliche Eignung und Umsetzbarkeit der Interventionen zulässt. Gerade für die Überprüfung der angebotenen Hilfsmaßnahmen besteht eine Notwendigkeit, wenn den Begleiterscheinungen und Folgen der Waisenkrise, die eine Gefahr für die Entwicklung der Individuen und der Gesellschaft als Ganzes darstellen, effektiv begegnet werden sollen. Einige Wissenschaftler machten es sich dementsprechend zur Aufgabe, ausgewählte Programme zu analysieren. Mwaipopo (2005) evaluierte beispielsweise die „Mama Mkubwa“-Initiative im Makete Distrikt der Iringa Region. „Mama Mkubwa“ bedeutet übersetzt große Mutter bzw. Tante. Unterschiedliche nichtstaatliche Organisationen, wie die Salvation Army, SWAAT und TAHEA, setzen das Programm ein, um psychosoziale und praktische Unterstützung für 50
Folgende Publikationen beschreiben einzelne Hilfsprojekte oder das Angebot von Hilfsprojekten innerhalb einer Region, ohne auf deren Eignung einzugehen: Siehe Mukoyogo und Williams 1991, S. 22 ff.: Die Autoren geben einen Überblick über Hilfsangebote für Waisen in der Region Kagera, die in den Jahren nach den ersten Fällen von AIDS entstanden sind. Siehe Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15 ff.: Die Organisation berichtete in ihrer Situationsanalyse über bereits vorhandenen Organisationen in ausgewählten Gemeinden der Mbeya-Region, die sich um Waisen kümmern.
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
35
Waisen und andere bedürftige Kinder zu leisten. Eine Frau, in Ausnahmefall auch ein Mann, aus der Gemeinde agiert als „Mama Mkubwa“ und steht den Waisen in ihrer Umgebung mit Rat und Tat zur Seite. Die Evaluation des Programms mithilfe qualitativer Forschungsmethoden verfolgte das Ziel, Stärken und Schwächen des Konzepts zu analysieren und herauszufinden, inwieweit es die anvisierten Ziele erreicht und mit welchen Strategien es in Zukunft effektiver arbeiten könnte.51 Zwei Jahre später untersuchte ein anderes Forscherteam das „Mama Mkubwa“-Modell; in diesem Fall wurde das Konzept von der Salvation Army in der Mbeya Region implementiert.52 Ein weiteres Beispiel für die wissenschaftliche Evaluation von Waisenprogrammen in Tansania ist die Studie von Mhamba (2004). Im Fokus der Evaluation standen die vom Staat und UNICEF initiierten MVC-Programme in einem ländlichen Gebiet der Musoma Region. Diese Programme mobilisieren lokale Initiativen zur Unterstützung der am stärksten gefährdeten Kinder in den Kommunen. Die Studie überprüfte, ob und in welchem Umfang die Umsetzung der angestoßenen Programme erfolgte. Gleichzeitig sollten die Menschen in den Gemeinden in die Lage versetzt werden, selbst ihren Beitrag und die Effektivität der Maßnahmen zu analysieren. Für die Zukunft zeichnete Mhamba notwendige Schritte auf, um die angestrebte Funktionalität der Programme zu sichern. 53 Die beschriebenen Publikationen konzentrieren sich auf die Evaluation von Programmen, um diese weiterzuentwickeln. Noch mehr als Programmevaluationen besteht ein Bedarf an Ergebnisevaluationen, die messen, ob Interventionen die erwarteten Effekte erzielen. Das Forschungsprojekt der Swiss Academy for Development, welches sich mit den Wirkungen unterschiedlicher psychosozialer Programme für Waisen in Afrika befasst, stellt ein seltenes Beispiel in diesem Forschungsgebiet dar. Das Projekt verfügt über einen quasiexperimentellen Charakter. Eine Gruppe von Waisen wird in Untergruppen aufgeteilt, welche an unterschiedlichen Maßnahmen einzeln oder in Kombination teilnehmen. Ein Vergleich der Auswirkungen der Programme auf die Kinder der verschiedenen Untergruppen erfolgt im Anschluss der Maßnahmen, um Aussagen über die Wirksamkeit von psychosozialen Programmen zu treffen. 54 Diese Beispiele wissenschaftlicher Evaluationen im Zusammenhang mit der Waisenkrise stellen in der Totalität aller Veröffentlichungen zum Thema nur einen geringen Bruchteil dar. Viel häufiger finden sich Schriften mit Richtlinien, Strategien sowie Arbeitsanweisungen für Organisationen vor Ort, internationale
51
Vgl. Mwaipopo 2005. Vgl. Littrell, Thurmann, Chatterji und Brown 2007. 53 Vgl. Mhamba 2004. 54 Vgl. www.sad.ch/bookmarks/detail/Aids-Waisen-im-sudlichen-Afrika/onecat/0.html 13.06.08. 52
36
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Hilfsorganisationen und Regierungen. 55 Darüber hinaus existieren Methodenhandbüchern, welche praktische Programmvorschläge geben und konkrete Möglichkeiten der Implementierung aufzeichnen. 56 Diese sind wichtig, um den Menschen, die in den betroffenen Ländern Waisenhilfe leisten, eine Orientierung zu geben. Leider bleibt in der Regel nicht erkennbar, auf welche theoretischen Grundlagen die Ratschläge aufbauen bzw. ob bereits Belege für die Anwendbarkeit und Wirkung vorliegen. Ein gutes Beispiel dafür ist die ablehnende Haltung vieler internationaler Organisationen und Autoren gegenüber institutioneller Erziehung. Obwohl diese sich darauf berufen, dass Erfahrungen die negativen Folgen für die Entwicklung von Kindern in Heimen gezeigt haben, fehlt in den meisten Fällen eine wissenschaftliche Untermauerung dieser Aussage.57 Pauschale Aussagen ohne wissenschaftliche Argumentation verlieren ihre Gewichtung und Bedeutungskraft. 55
Im Folgenden finden sich Beispiele für Veröffentlichungen mit grundlegenden Strategien für die Waisenhilfe: Siehe Hunter und Williamson 1997, S. 22; Hunter und Williamson 2000, S. 7: Hunter und Williamson formulierten bereits in ihrer ersten Ausgabe der „Children on the brink“-Reihe zentrale Strategien hinsichtlich der Waisenhilfe. Diese umfassen die Stärkung der familiären Kapazitäten, die Mobilisierung kommunalen Engagements, die Verantwortungsübernahme der Regierung, die Entwicklung der Selbsthilfekräfte der Kinder, die Schaffung einer förderlichen Umwelt für Hilfsmaßnahmen und die Überwachung von den Folgen der Epidemie für Kinder und Familie. Siehe Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 7 ff.: Die Organisation betonte in ihren Richtlinien die Bedeutung der familiären Versorgung von Waisen gegenüber institutionellen Betreuungsmöglichkeiten. Familien müssen demzufolge gestärkt und Kinder als Teil der Lösung und nicht als Problem gesehen werden. Die Vernetzung von unterschiedlichen Angeboten und Anbietern stellt eine Priorität dar und kann nur durch langfristige Planung erreicht werden. Siehe UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 13 ff.; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 14; UNICEF (Hrsg.) 2007, S. 12: Verschiedene Internationale Organisationen, wie beispielsweise UNICEF, übernahmen die ersten fünf Strategien von Hunter und Williamson (1997) als Prioritäten in der Arbeit für Waisen und verbreiteten diese in ihren Schriften. 56 Methodenhandbücher sind zu unterschiedlichen Themen im Bereich der Waisenhilfe und Mobilisierung kommunaler Kräfte erschienen: Siehe Rim und Rouse 2002: Das Buch stellt die Bedeutung von Spargruppen vor und gibt praktische Hinweise für die Gründung solcher Gruppen in Kommunen. Siehe Alliance (Hrsg.) 2003: Dieses Handbuch gibt Auskunft über Möglichkeiten der psychosozialen Unterstützung von Waisen. Die Folgen von Verwaisung für das psychische Wohlbefinden werden erläutert und grundlegende Strategien zur Begleitung von Kindern, kranken Eltern und Betreuern vorgestellt. Beispiele von Organisationen illustrieren die Erklärungen. Siehe Fox 2001; Killian, Schoeman und Hough 2003; Brakarsh 2004; Cox, Johnston und Williamson 2004; SAfAIDS und JSI UK (Hrsg.) 2004; DeMarco 2005: Diese Veröffentlichungen sind weitere Beispiele für Methodenhandbücher. 57 Vgl. The Panos Institute (Hrsg.) 1990, S. 69; Hunter und Williamson 1997, S. 25; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 9; Hunter und Parry in Lamptey und Gayle (Hrsg.) 2001, S. 652; USAID (Hrsg.) 2001, S. 11; Alliance (Hrsg.) 2002, S. 21; UNICEF und WHO (Hrsg.) 2002, S. 36; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38.
37
1.1 Quellenlage: Waisenforschung im afrikanischen Kontext
1.1.3 Defizite in der Waisenforschung im tansanischen Kontext Die wissenschaftliche Erforschung der Waisenkrise in Afrika erlebt seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance. Vor allem mithilfe finanzieller Unterstützung internationaler Organisationen wurde in diesem Bereich Forschung betrieben. Empirische Erhebungen im Rahmen quantitativer und qualitativer Untersuchungen ermöglichten ein umfassenderes Verständnis der Situation von Waisen, vor allem im Zusammenhang mit der AIDS-Epidemie. Dennoch zeigt die Quellenanalyse, dass weiterhin Defizite und Unzulänglichkeiten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik existieren. Diese Schwächen liegen nicht allein in einer unzureichenden Beschäftigung mit einzelnen Aspekten der Waisenkrise, sondern vor allem in einem begrenzten Blick auf den Forschungsgegenstand. Bei den Wissenschaftlern, die Studien in den afrikanischen Ländern durchführen, handelt es sich in der Regel um Wirtschaftswissenschaftler, Ethnologen oder Mediziner. Um ein umfassenderes Verständnis der Probleme verwaister Kinder zu ermöglichen, besteht ein Bedarf an sozialpädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Analysen. Eine Erweiterung des Blickwinkels könnte helfen, eine stärkere Ausrichtung an den Ressourcen zu erreichen und von der Problemorientierung abzurücken. Die inhaltlichen Defizite der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik zeigen sich sowohl in der Problem- und Ressourcenanalyse als auch in der Darstellung und Evaluation von Bewältigungsstrategien (Abb. 2). Abbildung 2:
Inhaltliche Defizite in der Waisenforschung
Problemanalyse
Ressourcenanalyse
Bewältigungsstrategien
Genaue Daten zum Ausmaß der Waisenkrise Altersspezifische Auswirkungen der Verwaisung Psychosozialen Konsequenzen der Verwaisung Konsequenzen der Verwaisung für die weiterführende Bildung Konsequenzen der Waisenkrise für Kommunen
Traditionelle Ressourcen
Ressourcen in den Kommunen Ressourcen in Haushalten mit Waisen
Gesamtdarstellung der Angebotspalette für Waisen Vergleichende Evaluation von Hilfsprogrammen Prozess- und Ergebnisevaluation von Hilfsmaßnahmen Langzeitstudien zur Wirkung von Hilfsangeboten
Individuelle Ressourcen der betroffenen Kinder (Resilienzforschung)
Studie zur Implementierung staatlicher Richtlinien für Waisen
Staatliche Ressourcen
38
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Im Bereich der Grundlagenforschung konnten in den vergangenen Jahren Erkenntnisse gewonnen werden, die für das Verständnis der Situation einen wesentlichen Beitrag leisteten. Trotz dieser Forschungserfolge fehlen weiterhin wichtige Einzelaspekte. Eine differenzierte Untersuchung der Konsequenzen der Verwaisung, die beispielsweise auf altersspezifische Probleme der Waisen eingeht, sowie eine umfassende Ressourcenanalyse könnten neue Erkenntnisse bringen, welche für eine erfolgreiche und nachhaltige Bewältigung der Waisenkrise notwendig erscheinen. Damit die wissenschaftlichen Erkenntnisse Eingang in die Soziale Arbeit erhalten, bedarf es einer Vernetzung zwischen Forschung und Praxis. Bisher orientieren sich Reaktionen auf die Waisenkrise selten an wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen. Beispielsweise empfiehlt Williamson (1995) vor der Schaffung von Projekten die Durchführung von Situationsanalysen. 58 Dies geschieht nur in den seltensten Fällen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Menschen, die vor Ort Programme initiieren, besitzen oft weder die Ausbildung noch das Geld, um die Forderung nach tiefgehenden Situationsanalysen umzusetzen und internationale Organisationen implementieren Programme, die sie aus anderen Einsatzorten übertragen. Die wissenschaftliche Erforschung der Zielgebiete und Zielgruppen, die über Bedarfsanalysen hinausgehen, zählen nicht zu den Prioritäten lokaler und internationaler Organisationen. Notsituationen, wie im Fall der Waisenkrise, fordern schnelle Hilfe; da fehlen scheinbar die Kapazitäten und die Zeit für eine eingehende Untersuchung der Lage. Allerdings besteht das Risiko, dass Unterstützungsangebote, die individuelle Besonderheiten oder lokale Problemlagen nicht berücksichtigen, nicht ihre volle Wirkung entfalten oder sich im schlimmsten Fall als kontraproduktiv erweisen. Die Einschränkungen, die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Situation der Waisen gelten, treffen in einem noch deutlicheren Maße auf die Evaluation der entstandenen Bewältigungsstrategien zu. In der Waisenforschung mangelt es an einer vollständigen Dokumentation der Angebotspalette für Waisen sowie einer Evaluation der entstandenen Hilfsangebote. Internationale Organisationen geben in ihren Veröffentlichungen Handlungsanweisungen und Richtlinien heraus, ohne die wissenschaftlichen Grundlagen der Empfehlungen sichtbar zu machen. Als Folge verlieren die Handlungsempfehlungen an Gewicht und werden von einigen Praktikern als realitätsfern wahrgenommen. Zur Verbesserung der Qualität vorhandener Unterstützungsangebote für verwaiste Kinder besteht die Notwendigkeit für umfassende Evaluationen, die den Nutzen der einzelnen Maßnahmen nachvollziehbar sowie bestehende Schwächen sichtbar machen. 58
Vgl. Williamson 1995, S. 22 ff.
1.2 Beschreibung und Abgrenzung der Fragestellung
39
Eine wissenschaftliche Analyse der Bewältigungsstrategien sowie vorhandener Ressourcen und Problemlagen stellt die Voraussetzung für eine Verbesserung der Praxis dar. Forschung muss das Ziel verfolgen, verbindliche Analysen durchzuführen, die direkt in Aktionen zur Unterstützung von Waisen umgewandelt werden können. Dabei erweist es sich als unumgänglich, dass die Wissenschaftler enger mit den Praktikern vor Ort zusammenarbeiten. Nur auf diese Weise lässt sich sicherstellen, dass sich die Forschung auf dringende Fragestellungen konzentriert und die Untersuchungsergebnisse in die Arbeit der Organisationen zurückfließen. Die Integration der Forschungsergebnisse in die Praxis stellt sicher, dass die betroffenen Kinder von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung profitieren. Aus den Unzulänglichkeiten der Waisenforschung ergibt sich die Thematik der vorliegenden Arbeit. Die vorliegende Studie wird nicht in der Lage sein, alle offenen Fragen abschließend zu beantworten, deshalb muss sie ihren Schwerpunkt auf eine spezifische Fragestellung legen. Das folgende Kapitel verdeutlicht das Ziel der Studie, indem es den Forschungsgegenstand definiert und die Fragestellung der Arbeit absteckt. 1.2 Beschreibung und Abgrenzung der Fragestellung In der vorliegenden Arbeit sind Waisen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung. „Waisen“ als Forschungsgegenstand entspricht der sozialen Realität und den Problemlagen in Tansania. Jedes Kind, das ein oder beide Elternteile verliert, ist in seiner Entwicklung auf verschiedenste Weise gefährdet. Es muss den Verlust verarbeiten und sich an eine neue Betreuungs- und Lebenssituation gewöhnen. In Tansania und in anderen Ländern mit unzureichenden staatlichen bzw. privaten Sicherungssystemen kommen zu den psychosozialen Konsequenzen in vielen Fällen materielle Notlagen. Der Begriff „Waisen“ wird in dieser Arbeit folgendermaßen definiert: Waisen sind alle Kinder unter 18 Jahren, die ein oder beide Elternteile verloren haben (Abb. 3). Die Bezeichnung „Waise“ findet unabhängig von der Todesursache der Eltern Verwendung. Die konkrete Definition des Begriffes „Waisen“ ermöglicht eine genaue und nachvollziehbare Analyse ihrer Lebenswelt. Diese Analyse ist unerlässlich, um evaluieren zu können, ob Interventionen zur Unterstützung dieser Kinder ihren Problemlagen und Ressourcen entsprechen. Es besteht aber ebenso die Notwendigkeit, im Zuge der Evaluation von Projekten zu überprüfen, inwieweit auch andere Kinder von den Unterstützungsangeboten profitieren. Die Konzentration auf Waisen könnte sich möglicherweise für deren Integration kontraproduktiv erweisen und zur Stigmatisierung führen. Die le-
40
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
bensweltorientierte Soziale Arbeit, die als Grundlage der Evaluation dient, strebt Integration an. Die Theorie fordert zwar die Wahrnehmung von Differenzen, spricht sich aber gegen Separation aus. Darüber hinaus würde der Ausschluss anderer bedürftiger Kinder von Hilfsangeboten dem Prinzip der Lebensweltorientierung widersprechen, nach dem sich Hilfe an den lokalen Problemlagen orientieren muss und nicht zur Ausgrenzung anderer bedürftiger Kinder führen darf. 59 Abbildung 3:
Begriffsbestimmung für die vorliegende Arbeit
Kinder/Heranwachsende: Alle Menschen unter 18 Jahren. Nichtwaisen: Alle Kinder, die beide Elternteile haben, unabhängig davon, ob sie bei diesen leben. Waisen: Kinder, die ein oder beide Elternteile verloren haben, unabhängig von der Todesursache. Halbwaisen: Kinder, die nur den Vater oder die Mutter verloren haben, unabhängig von der Todesursache. Vollwaisen: Kinder, die beide Elternteile verloren haben, unabhängig von der Todesursache. Väterliche Waisen: Kinder, die mindestens den Vater verloren haben, unabhängig von der Todesursache. Mütterliche Waisen: Kinder, die mindestens die Mutter verloren haben, unabhängig von der Todesursache. Kinderhaushalt: Wirtschafts- und Wohneinheit, die ausschließlich aus Kindern unter 18 Jahren besteht. Familie/Verwandtschaft/Großfamilie: Menschen, die durch Abstammung oder Ehe miteinander in Beziehung stehen.
Die Wissenschaft hat sich in der Vergangenheit vor allem auf Kinder, die ein oder beide Elternteile durch AIDS verloren haben, konzentriert. Auch Jugendliche von 15 bis 17 Jahren, die in die Kategorie Waisen fallen, wurden in vielen Studien vernachlässigt. Es besteht daher die Notwendigkeit, auf Statistiken und Untersuchungen zurückzugreifen, die nicht der oben genannten Definition von Waisen entsprechen. Diese Daten werden im Text mit genauen Definitionen versehen. Statistische Erhebungen und zitierte Studien beziehen sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf das Festland Tansania. Das Archipel Sansibar ist kaum von der AIDS-Epidemie betroffen und steht daher nicht im Fokus der Waisenforschung sowie der vorliegenden Arbeit.
59
Vgl. Thiersch und Grunwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 143 f.
1.2 Beschreibung und Abgrenzung der Fragestellung
41
Aus der Definition des Forschungsgegenstandes und der Analyse des aktuellen Forschungsstandes ergeben sich folgende Fragestellungen und Themen, die in der vorliegenden Studie bearbeitet werden sollen:
Wie sieht die Lebenswelt der Waisen in Tansania aus? Welche Bewältigungsstrategien haben sich in Tansania im Zuge der Waisenkrise entwickelt? Lässt sich die Annahme, dass ambulante Interventionen geeigneter sind als institutionelle Maßnahmen, wissenschaftlich begründen? Welche Programme sind in der Lage, den unterschiedlichen Problemlagen von Waisen effektiv zu begegnen und vorhandene Ressourcen zu nutzen?
Das Ziel der Arbeit ist die Evaluation von Programmen zur Unterstützung von Waisen im tansanischen Kontext anhand der Theorie der Lebensweltorientierung von Thiersch (Kap. 1.3). Um dieses Ziel zu erreichen, besteht der Bedarf für vorbereitende Untersuchungen in einigen grundlegenden Bereichen, die im Folgenden vorgestellt werden. Die Erkenntnisse in diesen Feldern schaffen ein Fundament, ohne das eine sinnvolle und aussagekräftige Evaluation der Bewältigungsstrategien nicht möglich wäre. 1.2.1 Waisen und ihre Lebenswelt Vor der Untersuchung von Eignung und Funktionalität sozialer Hilfsprogramme müssen einige grundsätzliche Fragen beantwortet werden. Die Evaluationsstudie bezieht sich auf die Theorie der Lebensweltorientierung von Thiersch (Kap. 1.3). Die Lebensweltorientierung sieht als Ausgangspunkt jeder sozialen oder pädagogischen Intervention den Alltag seiner Adressaten. 60 Daraus ergibt sich für die vorliegende Arbeit die Forderung nach einer genauen Analyse der Lebenswelt der Waisen. Die Evaluation eines Programms ist nur aussagekräftig, wenn sich rekonstruieren lässt, wo die Ressourcen und die Problemlagen der Adressaten liegen, auf welche Verstehens- und Handlungsmuster sie sich stützen und welche gesellschaftlichen Bedingungen ihre Situation beeinflussen. In der Auswertung der Quellenlage zeigte sich, dass differenzierte Daten zur Situation von Waisen existieren. Internationale Organisationen, Regierungen und nichtstaatliche Akteure führten unterschiedliche Studien über die Problemlagen von Waisen durch. Die Ergebnisse der Studien sind in der Regel im Internet veröffentlicht und frei einsehbar. Die vorhandenen Informationen zur Situati60
Vgl. Thiersch und Grunwald (Hrsg.) 2004, S. 14.
42
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
on der Waisen bilden die Grundlage für die Betrachtung der Lebenswelt. Die Daten werden durch weitere Nachforschungen ergänzt. Die Autorin führte im Rahmen der Untersuchung Befragungen in Tansania zu den individuellen Problemlagen und den Ressourcen der Kinder, Familien und Kommunen durch. Sowohl von den Kindern und ihren Betreuern als auch von Mitarbeitern der Projekte und weiteren Informanten, beispielsweise aus dem Bildungsbereich, wurden Informationen erhoben. Hausbesuche mit Mitarbeitern von Programmen ermöglichten einen tieferen Einblick in die Lebenswelt der Waisen. Ziel war das Sammeln von Erkenntnissen über Handlungs- und Verstehensmuster der Kinder und ihrer Familien. Die Darstellung ihrer Lebenswelt sollte möglichst vielschichtig sein, um im Anschluss beurteilen zu können, auf welche Aspekte sich Hilfe konzentrieren muss und auf welche Stärken sie sich stützen kann (Kap. 3). 1.2.2 Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise Neben der Analyse der Lebenswelt der Waisen besteht die Notwendigkeit, die gesamte Palette von Versorgungsangeboten zu dokumentieren. Die Literaturrecherche verdeutlichte, dass bisher keine umfangreiche Darstellung von Hilfsangeboten für Waisen in Tansania existiert, sondern dass die Berichte nur einzelne Projekte dokumentieren. Es ist nicht möglich, jede Organisation und alle lokalen Initiativen in Tansania abzubilden, dennoch lassen sich Aussagen über grundlegende Kategorien von Hilfsangeboten und deren Ausgestaltung treffen. Unterschiedliche Ansätze in der Waisenhilfe, das heißt ambulante Maßnahmen, stationäre Betreuungsangebote, Projekte für Straßenkinder sowie formelle Pflege und Adoption, werden in der vorliegenden Arbeit vorgestellt und anhand von Beispielen aus der Praxis porträtiert (Kap. 4). Persönliche Kontakte zu den Mitarbeitern der Programme machten das Sammeln von Informationen über die Vorgehensweise und Angebotspalette der Projekte möglich. Besuche vor Ort dienten dem Zweck, durch teilnehmende, systematische Beobachtung die Angaben aus den Interviews zu verifizieren und mehr über die Arbeitsweisen und Methoden der verschiedenen Projekte zu erfahren. Die genaue Betrachtung der unterschiedlichen Angebote ermöglichte einen Überblick über Alternativen und Möglichkeiten, die den Familien theoretisch zur Verfügung stehen. Diese Aufschlüsselung der verschiedenen Unterstützungsangebote bildete im Folgenden das Fundament für die Evaluationsstudie.
1.2 Beschreibung und Abgrenzung der Fragestellung
43
1.2.3 Eignung der Bewältigungsstrategien Die wissenschaftliche Recherche zeigte die Notwendigkeit einer vergleichenden Evaluationsstudie zur Analyse von bereits bestehenden Hilfsangeboten für Waisen. Die Evaluationsstudie gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil werden ambulante und stationäre Hilfen gegenübergestellt, um zu überprüfen, inwieweit sie geeignet sind, den Kindern zu einem gelingenderen Alltag zu verhelfen. Im zweiten Teil werden unterschiedliche Programme anhand der Strukturmaximen der Lebensweltorientierung auf ihre Eignung und Funktionalität hin evaluiert, um nützliche und effektive Instrumente der Waisenhilfe zu identifizieren. Gegenüberstellung ambulanter und stationärer Hilfen Die Analyse von Maßnahmerichtlinien und Arbeitsanweisungen internationaler Organisationen zeigt deutlich die Favorisierung ambulanter Maßnahmen.61 Stationäre Betreuung wird in der Regel negativ dargestellt und nur für den äußersten Notfall bzw. als kurzfristige Maßnahme in Erwägung gezogen. Diese Empfehlungen gründen sich kaum auf wissenschaftliche Untersuchungen. Darüber hinaus fehlen Richtlinien, nach denen Verantwortliche in den Projekten und den entsprechenden staatlichen Behörden entscheiden könnten, welche Situationen stationäre Betreuung erfordern und wie sich sicherstellen lässt, dass es bei einer kurzfristigen Intervention bleibt. Gespräche mit Mitarbeitern, Leitungspersonal und Gründern von Heimeinrichtungen und Kinderdörfern in Tansania machten deutlich, dass die internationalen Empfehlungen als wirklichkeitsfremd erlebt und dadurch nicht ernst genommen werden.62 Es besteht die Notwendigkeit einer fachlichen und wissenschaftlichen Überprüfung und das Aufzeigen von Alternativen, um den Empfehlungen ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Im Rahmen der Evaluationsstudie werden ambulante Hilfsprogramme und stationäre Betreuungsangebote für Waisen gegenübergestellt. Entsprechend der Evaluationskriterien (Kap. 1.4.1) lassen sich Aussagen bezüglich der Eignung und Umsetzbarkeit der Hilfsangebote treffen. Die Vorteile und Grenzen im stationären sowie im ambulanten Bereich sollen identifiziert und daraus nachvollziehbare Empfehlungen für die praktische Arbeit abgeleitet werden. 61
Vgl. Hunter und Williamson 1998, S. 5 ff.; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 9; Subbarao, Mattimore und Plangemann 2001, S. 28 f.; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 13; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38; Coury und Subbarao 2004, S. 67 ff. 62 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Evaluation und Vorstellung geeigneter Programme Das Konzept der Lebensweltorientierung, das dieser Arbeit zugrunde liegt, spielt auch bei der Analyse der Bewältigungsstrategien eine zentrale Rolle. Die Evaluation konzentriert sich nicht auf gesamte Organisationen, sondern auf einzelne Programme, beispielsweise im Bereich psychosozialer Unterstützung oder Bildung. Obwohl die Unterstützung von Waisen einem holistischen Ansatz folgen muss, der den Alltag des Adressaten mit allen Problemlagen und Ressourcen als Ganzes wahrnimmt, besteht die Notwendigkeit, einzelne Teilgebiete getrennt voneinander zu evaluieren. Keine Organisation bietet eine vollkommene Leistungspalette, die alle allgemeinen und speziellen Probleme der Waisen aufgreift. Vielmehr leistet jede Organisationen Hilfe, die eine unterschiedliche Bandbreite von Problemlagen abdeckt und qualitativ stark variiert. Deshalb ist es unumgänglich, einzelne Maßnahmen anhand der Strukturmaximen der Lebensweltorientierung zu analysieren. Dadurch lassen sich unterschiedliche Bausteine identifizieren, die alle zusammen letztendlich ein umfassendes Hilfsangebot ergeben. Diese partielle Analyse und Vorstellung geeigneter Programme bietet den Vorteil, dass Organisationen, die bereits in Tansania tätig sind, die Empfehlungen umsetzen können. Bei der Vorstellung eines Gesamtprojektes käme die Umsetzung in der Regel nur für Organisationen infrage, die gerade ein neues Programm aufbauen. Für bereits arbeitende Projekte wäre es schwierig, ihre gesamten Programme und Projektstrukturen entsprechend der Ergebnisse der Studie umzugestalten. Einzelne Maßnahmen lassen sich leichter in bereits bestehende Programme der Organisation integrieren. Die Empfehlungen bieten die Möglichkeit, aktuelle Praktiken zu modifizieren. Dadurch können Projekte vor Ort ihre Hilfspalette schrittweise erweitern und umformen, um schließlich ein möglichst vielfältiges und effektives Unterstützungsangebot zu bieten, welches Waisen zu einem gelingenderen Alltag verhilft. 1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage Der vorliegenden Evaluationsstudie liegt das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit von Thiersch zugrunde. Dieses bestimmte die inhaltliche und methodische Ausgestaltung der Arbeit. Das folgende Kapitel geht vertiefend auf die Theorie der Lebensweltorientierung und ihre Strukturmaximen ein. Darüber hinaus wird auf dem Hintergrund der aktuellen Debatte zur Indigenisation der Sozialen Arbeit die Frage nach der Übertragbarkeit des Konzeptes auf den afrikanischen Kontext zur Diskussion gestellt.
1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage
45
1.3.1 Die Theorie der Lebensweltorientierung Das Ziel der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist die Schaffung eines gelingenderen Alltags. Der Begriff „Alltag“, wie ihn Thiersch (1986) in seinen theoretischen Ausführungen gebraucht, hat zweierlei Bedeutung. Alltag beinhaltet zum einen die Verstehens- und Handlungsmuster, die ein Mensch zur Bewältigung der täglichen Aufgaben verwendet, und zum anderen konkrete Lebenswelten bzw. -lagen, in denen er sich befindet und bewegt. 63 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versteht sich in diesem Alltag nicht nur als Unterstützung für Menschen, die aufgrund von Überforderung und Ausgrenzung an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie sieht sich auch in der Verantwortung für alle, die die normalen Belastungen eines zunehmend komplexeren Alltags nicht ohne Unterstützung bewältigen. 64 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit Soziale Arbeit entstand als Antwort auf die neuzeitliche Idee, Gerechtigkeit in Form von sozialer Gerechtigkeit zu realisieren. Entsprechend der Lebensweltorientierung soll soziale Gerechtigkeit die Menschen befähigen, sich als Subjekt in ihrer Lebenswelt zu verstehen. Um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, muss lebensweltorientierte Soziale Arbeit sich einerseits mit den gesellschaftlichen Ursachen sozialer Ungerechtigkeit auseinandersetzen und zum anderen den Menschen Hilfe in der Lebensbewältigung geben, die langfristig auf deren Selbsttätigkeit zielt. Die Unterstützung, welche die lebensweltorientierte Soziale Arbeit anbietet, darf nicht einfach die Lösung eines Problems sein, vielmehr will sie die Menschen auf dem Weg zur Problemlösung zur Seite stehen. Dies bedeutet ein Rückbezug auf und die Aufdeckung von Ressourcen sowohl im Individuum als auch in seinem sozialen Umfeld. Selbsttätigkeit, wie sie Thiersch (2002) in seinen Ausführungen versteht, fordert das Zulassen von Eigenverantwortung und Partizipation. Damit sich ein Mensch als Subjekt in seiner Lebenswelt empfindet, muss er auch im Hilfeprozess die Rolle eines Partners und nicht die Rolle des „Objektes der Hilfe“ einnehmen. Das Ziel der Selbsttätigkeit und das Selbstverständnis der Partizipation dürfen allerdings nicht als Alibi einer überfordernden Sozialen Arbeit dienen, die dem Einzelnen Eigenständigkeit unterstellt, die noch nicht erreicht ist bzw. nicht erreicht werden kann. 65
63
Vgl. Thiersch 1986, S. 12 ff. Vgl. Thiersch 2002, S. 35. 65 Vgl. Thiersch 2002, S. 38 ff. 64
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Um einen gelingenderen Alltag zu schaffen, bedarf es Destruktion. Die kritische Alltagstheorie, auf die sich die lebensweltorientierte Sozial Arbeit bezieht, veranschaulichte die Doppelbödigkeit von Alltagshandeln und alltäglichen Verstehensmustern. Um die Komplexität der Probleme und Herausforderungen des Lebens zu verringern, entwickelt jedes Individuum eigene Handlungsmuster, die sich an Typisierungen und Rollenmodellen orientieren. Diese Routinen richten sich in erster Linie nach ihrer Pragmatik. Die Frage, der sie folgen, ist Folgende: Was muss ich machen, wenn ich ein bestimmtes Ziel, mit möglichst wenig Anstrengung und ohne negative Konsequenzen, erreichen will? Letztendlich handelt das Subjekt in der Logik dieses Grundsatzes. Im Alltag setzen sich langfristig diejenigen Handlungsmuster durch, die sich im Laufe der Zeit bewährt haben. Dies beinhaltet eine genaue Regelung von Machtstrukturen, Aufgabenfelder und Zuständigkeiten. Immer neue Überlegungen und Interpretationen werden dadurch weitestgehend überflüssig. Dies erleichtert die Alltagsbewältigung, führt aber gleichzeitig zu Blockaden und zur Einschränkung der individuellen Entfaltung.66 Die Soziale Arbeit soll den Menschen helfen, sich aus dieser Beengtheit zu befreien und sich weiterzuentwickeln, um letztendlich einen gelingenderen Alltag zu ermöglichen. „Destruktion bezieht sich (...) auf den bornierten und verabsolutierten Alltag. Destruktion aber darf sich nicht beziehen auf die für Alltäglichkeit konstitutiven Momente von Entlastung und Sicherung in der pragmatischen Erledigung von Aufgaben. Würde diese Pragmatik permanent verunsichert durch Fragen, Kritik und Provokation, würde sie aufgelöst in die endlose Diskussion von Bedingungen und Alternativen, dann wäre die Handlungsfähigkeit im Alltag riskiert.“ (Thiersch 1986, S. 37). Dem Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit kommt die schwierige Aufgabe zu, bei der Destruktion festgefahrener Routinen die Balance zu halten. Er muss sich auf seinen Klienten einlassen und gleichzeitig provozieren. Da dieser Prozess Risiken birgt, kann er nur in der Aushandlung zwischen Klienten und Hilfeleistendem gelingen. 67 Damit eine Initiative für Waisen der Forderung von Thiersch entspricht, darf sie den Kindern und Familien niemals ihre Handlungsmuster zur Bewältigung des Alltags nehmen und muss individuelle Bewältigungsstrategien honorieren. Wird beispielsweise die Entscheidung des Clans zum Verbleib eines Kindes nach dem Tod der Eltern infrage gestellt, weil sich die Ersatzeltern nach pädagogischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheinbar nicht eignen, kann dies die Verantwortungsübernahme innerhalb der Großfamilie gefährden. Destruktion würde sich im Falle von Waisen unter anderem auf eine kurzfristige Zukunfts66 67
Vgl. Thiersch 1986, S. 12 ff. Vgl. ebd., S. 40.
1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage
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planung – das Leben und Überleben von einem Tag auf den anderen – beziehen. Die Hauptaufgabe der Mitarbeiter von Waisenprojekten besteht in der Vermittlung einer Zukunftsperspektive, an der und für die gemeinsam mit den Familien und den Waisen gearbeitet werden kann. Eine solche Zukunftsperspektive lässt sich nur entwerfen, wenn die Interventionen an den Bruchstellen und den Widersprüchlichkeiten der Lebenswelt ansetzen. Der Wunsch der Waisen nach formeller Bildung und die Hoffnung der Familien auf eine Verbesserung ihrer Situation stellen dabei die besten Voraussetzungen für das Gelingen des Hilfeprozesses nach den Forderungen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit dar. Nur wenn die Adressaten, also Kinder und deren Betreuer, den Entwurf eines gelingenderen Alltags als lebensnah, das heißt integrierbar in ihren bisherigen Lebenslauf und ihre Zukunftsvorstellungen, beurteilen, besteht die Möglichkeit einer nachhaltigen Verbesserung der Situation. 1.3.2 Indigenisierung – Übertragbarkeit der Lebensweltorientierung auf den afrikanischen Kontext Rehklau und Lutz (2007) beschreiben das Dilemma der Sozialen Arbeit des Südens. Die in Afrika und auch in Südamerika und Teilen Asiens angewandten Methoden und Theorien gelangten lange Zeit fast ausschließlich im Zuge der Kolonialisierung und der Entwicklungszusammenarbeit als Import aus Europa und Nordamerika in die jeweiligen Länder. Die Soziale Arbeit, deren Ursprung und theoretisches Verständnis häufig in der Einzelfallhilfe lagen, wurde den tatsächlichen Problemen vor Ort nicht gerecht. In der afrikanischen Kultur, in der sich das Individuum über seinen Platz in der Gemeinschaft definiert und die Gemeinschaft die Verantwortung für den Einzelnen trägt, erwies sich das europäische bzw. nordamerikanische Modell der Sozialen Arbeit, das den Individualismus betont und fördert, nicht als ausreichend. Bereits 1969 forderte die „Expertengruppe zur Sozialarbeiterausbildung in Afrika“ bei einem Treffen in Addis Abeba die Indigenisation der Sozialen Arbeit auf dem afrikanischen Kontinent. Die Formulierung und Umsetzung neuer Ansätze in der sozialarbeiterischen Praxis sollten der afrikanischen Lebenswelt gerecht werden und den Entwicklungsaspekt stärker betonen. 68 Diese geforderte Erneuerung der Sozialen Arbeit in Afrika lässt sich auf unterschiedlichen Wegen – Indigenisierung, Authentisierung, Reconceptualisation oder Radikalisierung – erreichen. Die Indigenisierung strebt einerseits die Anpassung bereits vorhandener Theorien und Praktiken an die spezifische Lebens68
Vgl. Rehklau und Lutz in Wagner und Lutz (Hrsg.) 2007, S. 42 f.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
welt, das heißt den lokalen kulturellen Kontext, an und fordert andererseits die Nutzung indigener Ressourcen. Zu diesen Ressourcen zählen unter anderem vorhandenes kulturelles Wissen, authentische Praktiken und soziale Unterstützungsnetzwerke sowie die dahinter stehenden Werte und Ideen. Diese müssen analysiert und in die sozialarbeiterische Praxis integriert werden. Die Authentisierung strebt einen ähnlichen Weg an, geht aber diesen noch weiter, indem sie die Entwicklung eines eigenen Modells der Sozialen Arbeit fordert. Der Aufbau eines solchen Modells, welches den gesellschaftlichen Bedingungen eines Landes entspricht, bedarf verstärkter Forschungsanstrengungen. Die Erhebung von Daten und Informationen zu den Problemlagen und Ressourcen, aber auch zu den Erfahrungen von Praktikern, soll zu einer modifizierten Lehre führen und somit die zukünftige Praxis der Sozialen Arbeit beeinflussen. Die Authentisierung der Sozialen Arbeit lässt sich nur mithilfe umfangreicher Ressourcen in einem langfristigen Prozess realisieren. Die Idee der Reconceptualisation will Soziale Arbeit an sich in eine neue Beziehung zur Gesellschaft stellen. Die Reflexion von Zielen und Praktiken soll zu einer Umstrukturierung, Neudefinition und Stärkung der Sozialen Arbeit führen. Die Radikalisierung strebt letztendlich eine radikalere Rolle der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft an, welche mit der Unzulänglichkeit herkömmlicher sozialarbeiterischer Methoden und Einrichtungen für die afrikanischen Länder begründet wird. Die unterschiedlichen Zugänge weisen darauf hin, dass bisher noch kein Konsens in der Indigenisationsdebatte besteht. Doch auch wenn die verschiedenen Ansätze in ihrer Herangehensweise differieren, streben sie alle die Entwicklung von Theorien und Methoden an, welche den afrikanischen Problemlagen und Voraussetzungen entsprechen und in denen sich die spezifische Kultur widerspiegelt. 69 Die unterschiedlichen Wege beinhalten jeweils Vor- und Nachteile. Es bleibt umstritten inwieweit es möglich und förderlich ist, sich völlig vom europäischen und nordamerikanischen Einfluss auf die Soziale Arbeit Afrikas zu lösen und eine komplette Neuentwicklung der Methoden und Theorien der Sozialen Arbeit anzustreben. Einerseits bedarf die Entwicklung von effektiven Verfahren und Theorien im Bereich der Sozialen Arbeit Zeit, über die die afrikanischen Länder bei der Vielzahl an sozialen Problemen nicht verfügen, und zum anderen kann die Möglichkeit einer vollständigen Loslösung vom europäischen und nordamerikanischen Einfluss infrage gestellt werden. Eine solche Loslösung könnte sich insofern als schwierig gestalten, als dass die Soziale Arbeit des Südens in vielen Bereichen weiterhin von internationalen Geldern abhängt, die entsprechend der „nördlichen“ Vorstellung von Hilfe und Entwicklung vergeben werden. Die Globalisierung verstärkt diese internationale Verflechtung im Be69
Vgl. ebd., S. 42 ff.
1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage
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reich der Sozialen Arbeit zusätzlich, beispielsweise durch die Mobilität der Professionellen und die mediale Vernetzung. Darüber hinaus stellt der Einfluss des Nordens eben gerade durch die Kolonialisierung einen lebendigen Teil der afrikanischen Geschichte dar, der die Gesellschaft in den einzelnen Ländern, das heißt ihre Werte, Strukturen und Institutionen, geprägt hat und sich nicht rückgängig machen lässt. Die Erneuerung der Sozialen Arbeit des Südens durch eine Loslösung vom Einfluss des Nordens und einer vollständigen Neuentwicklung von Methoden und Theorien scheint demnach eher schwer umsetzbar. Der Weg der Indigenisierung, also die Modifizierung bereits bestehender Theorien und Methoden entsprechend des kulturellen Kontextes, besitzt den Vorteil, dass diese Herangehensweise auf bereits vorhandenem Wissen sowie geschaffenen Strukturen aufbaut. „Indigenisierung bedeutet eine Form der Anpassung, die als ein Prozess verstanden wird, indem importierte Ideen und Praktiken modifiziert werden, um sie dem lokalen Kontext anzupassen.“ (Rehklau und Lutz in Wagner und Lutz (Hrsg.) 2007, S. 44). Auf diese Weise nutzt die Indigenisierung bestehende Ressourcen im Bereich der Sozialen Arbeit und erkennt die Erfahrungen und Leistungen der Professionellen, anstatt ein vollständig neues Modell von Sozialarbeit aufzubauen. Die Indigenisierung orientiert sich sowohl an Methoden und Theorie der Sozialen Arbeit als auch an den spezifischen Ressourcen und Problemlagen im jeweiligen Land. 70 Beides zusammenzubringen stellt eine Herausforderung dar, die letztendlich in einer Sozialen Arbeit münden soll, die den Bedürfnissen der Menschen in ihrer Lebenswelt gerecht wird. Um dies zu erreichen, bedarf es einer Erforschung indigener Ressourcen und einer veränderten Lehre in den jeweiligen Ländern. Die Indigenisierung strebt in den Bereichen, in denen dies sinnvoll erscheint, die Modifizierung der bestehenden Praxis an und schließt die Weiterentwicklung bzw. Neuentwicklung theoretischer Modelle und praktischer Methoden nicht aus. Auf diese Weise lässt sich der Prozess der Indigenisation vollziehen, ohne dass es für die Adressaten Sozialer Arbeit zu extremen Brüchen oder Einschnitten im Hilfeprozess kommt, welche die notwendige Kontinuität gefährden. Die universitäre Ausbildung von Sozialarbeitern in Tansania folgt dem Konzept der Indigenisierung. Der einzige Masterstudiengang, der im Bereich der Sozialen Arbeit in Tansania angeboten wird, geht von den klassischen Theorien der Sozialen Arbeit aus und interpretiert diese im Kontext der sozialarbeiterischen Praxis in Tansania neu. In der Studiengangbeschreibung heißt es dazu: „Von den Kandidaten wird erwartet, tief in die Literatur der Sozialen Arbeit einzudringen und deren Relevanz durch die Reflexion ihrer eigenen Praxiserfahrung auszumachen. Letztendlich sollten die Kandidaten in der Lage sein, die 70
Vgl. ebd., S. 44.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Bedeutung der Methoden und Theorien der Sozialen Arbeit, die in ihrer eigenen Arbeitswelt angewandt werden können, zu identifizieren und darauf aufzubauen.“ (www.out.ac.tz/current/announcements/maste-degree%20outline.pdf 24.11.09/Übersetzung durch Verf.). Die „Open University of Tanzania“, die den Masterstudiengang Soziale Arbeit anbietet, wird mit dieser Vorgehensweise der Tatsache gerecht, dass es in Tansania keine eigene Theorieschule der Sozialen Arbeit gibt. Die Soziale Arbeit in Tansania steht somit weiterhin in der Abhängigkeit von Theorien, die in einem kulturfremden Kontext entwickelt wurden. Die Universität vermittelt den Studenten in ihrer Ausbildung diese Problematik und hält sie an, die vorgegebenen Theorien und Methoden kritisch zu reflektieren und entsprechend ihres eigenen Arbeitsfeldes zu modifizieren. 71 Ein Mangel an theoretischen Grundlagen der Sozialen Arbeit, die in und für Tansania entwickelt wurden, führt in der vorliegenden Arbeit zur Notwendigkeit, auf eine kulturfremde Theorie zurückzugreifen. Die Entscheidung für die Lebensweltorientierung von Thiersch fiel aufgrund der besonderen Eignung der Theorie für interkulturelle Analysen. Die Theorie der Lebensweltorientierung erhebt den Anspruch, den Menschen in seinem Alltag zu sehen und zu verstehen. Dazu gehört, dass die individuellen Deutungs- und Handlungsmuster erkannt, die sozialen Strukturen und Beziehungen untersucht, die alltäglichen Verhältnisse und pragmatischen Anstrengungen der Lebensbewältigung honoriert und die Ressourcen und Unzulänglichkeiten analysiert werden. 72 „Lebensweltorientierung meint den Bezug auf die gegebenen Lebensverhältnisse der Adressaten, in denen Hilfe zur Lebensbewältigung praktiziert wird, meint den Bezug auf individuelle, soziale und politische Ressourcen, meint den Bezug auf soziale Netze und lokale/regionale Strukturen.“ (Thiersch 1992, S. 5). Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit bietet dementsprechend keine vorgefertigten Lösungen und Ziele für Standardprobleme, sondern passt ihre Unterstützung den individuellen Bedürfnissen und den sozialen Bedingungen an. Die Lebensweltorientierung von Thiersch stellt für eine Analyse der lebensweltlichen Verhältnisse und entstandener Unterstützungsangebote - sowohl im deutschen als auch im tansanischen Kontext - eine geeignete Basis dar. Die Forderung nach der Indigenisierung der Sozialen Arbeit auf dem afrikanischen Kontinent muss auch in der vorliegenden Arbeit Berücksichtigung erfahren. Bei der Evaluation von Hilfsangeboten kann die Theorie der Lebensweltorientierung als Grundlage dienen. Es besteht allerdings die Notwendigkeit, die Theorie entsprechend der kulturellen Voraussetzungen und strukturellen Bedingungen zu interpretieren. Die Problemlagen müssen im individuellen und 71 72
Vgl. www.out.ac.tz/current/announcements/maste-degree%20outline.pdf 24.11.09 Vgl. Thiersch (Hrsg.) 2002, S. 161.
1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage
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gesellschaftlichen Kontext analysiert sowie Hilfen unter Beachtung der gegebenen sozialen Netzwerke und Nutzung indigener Ressourcen implementiert werden. Die Bewertung der einzelnen Interventionen der Sozialen Arbeit darf sich dabei nicht an europäischen Vorstellungen und Konzepten orientieren. Die Umsetzung eines in Europa anhand der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit entwickelten und erprobten Projekts zur ambulanten Familienhilfe würde in Afrika mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern. Gerade in der Lebensweltorientierung zählen die subjektiven Sichtweisen des Einzelnen mehr als die Beurteilungen der Außenstehenden. Deshalb muss sich ein Projekt, welches nach dem Prinzip der Lebensweltorientierung arbeitet, an den individuellen Deutungsmustern und Alltagserfahrungen orientieren. Diese unterscheiden sich bei Familien aus Afrika und Europa, da bereits das Konstrukt „Familie“ in beiden Kulturen stark voneinander abweicht. Während beispielsweise Familien in Deutschland aufgrund von Individualisierungsprozessen und Mobilität nur in geringem Maße auf die Unterstützung familiärer Netzwerke zurückgreifen können, bildet die Großfamilie in Afrika immer noch das wichtigste soziale Sicherungsnetz. Die strukturellen Bedingungen weichen ebenfalls voneinander ab. In Europa bauen entsprechende Projekte in der Regel auf eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur auf. Diese grundlegende Voraussetzung einer erfolgreichen Arbeit fehlt in Tansania, wie auch in vielen anderen afrikanischen Staaten. Auf ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem kann sich ein Programm in Tansania kaum verlassen. Andere Programme scheitern bei ihrer Suche nach qualifiziertem Personal, das Bereitschaft zeigt, in abgelegenen Gebieten zu arbeiten. Andererseits besteht eine lebendige Tradition von zivilgesellschaftlichem Engagement, die vielen Hilfsorganisationen den Rückgriff auf Volontäre erlaubt (Kap. 2.2.3). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Lebensweltorientierung zur Evaluation und als theoretische Grundlage sozialarbeiterischen Handelns auch im afrikanischen Kontext anwenden lässt. Die grundsätzliche Eignung der Theorie zur Erfassung fremder Lebenswelten und zur Analyse sozialer Hilfsangebote darf nicht zu dem Rückschluss verleiten, dass sich das Konzept der Lebensweltorientierung unreflektiert auf die afrikanischen Verhältnisse übertragen lässt. Genau das würde dem lebensweltorientierten Ansatz widersprechen. Vielmehr muss das Konzept der Lebensweltorientierung entsprechend den Forderungen der Indigenisierung als Basis dienen, um afrikanische Programme zu entwickeln und zu evaluieren. Dies ermöglicht die individuelle Abstimmung der Projekte auf lokale Voraussetzungen, spezifische Bedarfslagen und kulturell bestimmte Sichtweisen. Eine solche Vorgehensweise schließt nicht aus, dass sich die Theorie im Kontext der afrikanischen Sozialen Arbeit weiterentwickelt und verändert. Die unterschiedliche kulturelle Sichtweise auf Soziale Arbeit sowie deren Ziele und Voraussetzungen müssen langfristig zur Modifizierung beste-
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
hender, zumeist europäisch oder nordamerikanisch geprägter Theorien und zur Schaffung eigener Theorien auf dem afrikanischen Kontinent führen. 1.3.3 Strukturmaxime der Lebensweltorientierung als theoretisches Fundament der vorliegenden Studie Im 8. Jugendbericht der Bundesregierung (1990) wurden die Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit formuliert.73 Diese bilden das Fundament der wissenschaftlichen Studie dieser Arbeit und sollen im Folgenden vorgestellt werden: Prävention: Schwierigkeiten entwickeln sich aufgrund bestehender Strukturen und Belastungen im Alltag. Diese Probleme treten in der Regel nicht plötzlich auf, sondern entlang von Lebensläufen und in spezifischen Phasen des Heranwachsens. Soziale Arbeit soll präventiv arbeiten, das heißt Probleme im Alltag rechtzeitig erkennen und entlastend wirken. Prävention muss einerseits stabile Verhältnisse schaffen und zum anderen Hilfe leisten in Situationen, die sich erfahrungsgemäß zu Krisen entwickeln. Zu diesen belastenden Situationen zählen nicht nur Krankheit, Tod und Notsituationen in der Familie, sondern auch biografisch bedingte Veränderungen, wie der Übergang eines jungen Menschen von der Schule in die Arbeitswelt. Soziale Arbeit kann dem Anspruch der Prävention nur gerecht werden, wenn sie sozialpolitische Veränderungen anstrebt. Das System, in dem ein Kind aufwächst, sollte förderlich wirken und das Kind stützen, statt Barrieren aufzubauen und Druck auszuüben. Wichtig sind dabei vor allem die Stärkung des sozialen Netzes und politische Erneuerungen. Darüber hinaus muss die Soziale Arbeit Angebote schaffen, die Menschen in kritischen Lebenslagen Unterstützung bieten. Dies können Maßnahmen zur Beratung, zur vorbeugenden Hilfe, zur Ressourcenerschließung und zur Organisation von Selbsthilfeaktivitäten sein. Hilfsangebote in konkreten Krisensituationen sind präventiven Maßnahmen unterzuordnen, jedoch ebenso notwendig. 74 Dezentralisierung/Regionalisierung: Die Zentralisierung von Hilfsangeboten birgt die Gefahr, dass diese den konkreten Lebenswelten vor Ort kaum gerecht werden und als Folge anonym wirken und den Zugang für die Klienten erschweren. Dezentralisierung allein führt nicht dazu, dass Menschen Angebote und Einrichtungen als Teil ihrer Lebenswelt wahrnehmen. Erst Regionalisierung, das heißt die Einbettung sozialer Angebote in historisch gewachsene Strukturen und Institutionen, ermöglicht die Integration Sozialer Arbeit in den Alltag der 73
Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.) 1990, S. 85 ff. 74 Vgl. ebd., S. 85 f.
1.3 Lebensweltorientierung von Thiersch als theoretische Grundlage
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Klienten. Dabei müssen kulturelle Besonderheiten, Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Lebensräumen und bestehende regionale Strukturen besondere Beachtung finden. Soziale Arbeit darf vorhandene Systeme nicht nur unterstützen und nutzen, sondern sollte diese kritisch analysieren, verbessern und neue Entwicklungen initiieren. Grundlage für die Regionalisierung von Angeboten bilden Felduntersuchungen in Form von Entwicklungsforschung. Regionale Strukturen müssen aber nichtsdestotrotz in überregionale Gerüste eingebettet sein, um verbindliche Standards, gesicherte Verantwortlichkeiten und notwendige Kommunikation zu garantieren. 75 Alltagsorientierung: Soziale Arbeit im Sinne der Lebensweltorientierung richtet sich an den Besonderheiten des Alltags ihrer Klienten aus. Dies wird durch den Abbau von organisatorischen, institutionellen und zeitlichen Zugangsbarrieren ermöglicht. Durch die Präsenz der Hilfsangebote im Alltag der Klienten lassen sich Hemmschwellen der Zielgruppe überwinden. Maßnahmen, die helfen können, den Zugang zu Angeboten zu erleichtern, sind beispielsweise flexible Öffnungszeiten, aufsuchende Hilfen oder offene Sprechstunden. Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit einer inhaltlichen Orientierung der Hilfe an der Lebenswelt des Klienten. Der Klient muss mit allen seinen Ressourcen, seiner spezifischen Wahrnehmung, seinen alltäglichen Selbstverständlichkeiten, seinen Belastungen und seinen unterschiedlichen sozialen Netzwerken gesehen werden. Erst die Ganzheitlichkeit des Alltags macht es möglich, Probleme in ihrer Komplexität zu verstehen und ihnen gemäße Maßnahmen einzuleiten. Die Lebensweltorientierung unterscheidet sich dadurch von spezialisierten Hilfsangeboten, die spezifische Probleme des Betroffenen isoliert bearbeiten. Die Konzentration auf die Gesamtheit komplexer Alltagserfahrungen schließt die gezielte Beschäftigung mit einzelnen Problemen zur Stärkung und Entlastung des Gesamtsystems allerdings nicht aus.76 Integration/Normalisierung: Die Lebensweltorientierung arbeitet integrativ, da die Spezialisierung und Therapeutisierung in der Sozialen Arbeit in der Vergangenheit zur Separation spezifischer Klientengruppen führte. Die Selektion von Heranwachsenden mit speziellen Bedürfnissen durch Programme der Sozialen Arbeit verstärkt die Ausgrenzung und Diskriminierung der Betroffenen einerseits und reduziert andererseits das öffentliche Bewusstsein für Besonderheiten und Abweichungen. Heranwachsende mit spezifischen Problemen dürfen nicht aus der Normalität, das heißt der Alltagswelt der Anderen, verdrängt werden. Andererseits verbietet sich eine Missachtung und Negierung individueller Bedürfnisse, denn diese erfordern Akzeptanz und gezielte Hilfsangebote. Eine 75 76
Vgl. ebd., S. 86 f. Vgl. ebd., S. 87 f.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Eingliederung der notwendigen spezialisierten Maßnahmen in die allgemeine Angebotspalette ermöglicht die Integration der Klienten in die Gesellschaft. 77 Partizipation: Menschen sind selbstverantwortliche Akteure in ihrer Lebenswelt, deshalb muss die Soziale Arbeit ihnen das Recht zur Mitgestaltung und Mitsprache einräumen. Prinzipiell sollte die Wahrnehmung sozialer und pädagogischer Angebote auf Freiwilligkeit beruhen. Die Ausgestaltung der Hilfe handeln Klienten und Professionelle in der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit in einem gemeinsamen Prozess aus. Ideen und Vorschläge von beiden Seiten bilden die Grundlage für Aktivitäten, welche gemeinsam konzipiert werden. Dabei übernehmen Klienten für bestimmte Aufgaben die Verantwortung und leisten im Hilfeprozess ihren eigenen Beitrag.78 Diese Strukturmaximen, die das Handeln der Professionellen in der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit bestimmen, werden in einer Balance zwischen Hilfe und Kontrolle realisiert. Die Lebensweltorientierung führt zu Widersprüchen in der Arbeit: einem notwendigen Eindringen in private Räume bei gleichzeitiger Wahrung von professioneller Distanz sowie einer Hilfe bei der Alltagsbewältigung bei paralleler Kontrolle des alltäglichen Handelns. Diesen Widersprüchen müssen Professionelle mit Selbstreflexion und fachlichem Austausch begegnen.79 1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie Die Darstellung der Evaluationsstudie nimmt im Folgenden Bezug auf die notwendigen Vorüberlegungen und die methodische Gestaltung der Studie. Vom theoretischen Fundament der Lebensweltorientierung aus werden die Prämissen und Evaluationskriterien entwickelt und im Kapitel 1.4.1 vorgestellt. Jede Evaluationsstudie weist Grenzen auf und muss sich mit Einschränkungen auseinandersetzen. Dies gilt insbesondere für eine Studie in einem kulturfremden Milieu. Diese Beschränkungen werden im Kapitel 1.4.2 im Einzelnen betrachtet und analysiert. Am Ende des Kapitels steht eine detaillierte Schilderung der methodischen Gestaltung und der praktischen Umsetzung der Studie, die das Vorgehen der Untersuchung nachvollziehbar machen soll. Angaben zu den Informanten und den bei den Kontakten angewandten Forschungsmethoden vervollständigen die Darstellung der Evaluationsstudie.
77
Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 88 f. 79 Vgl. ebd., S. 89 f. 78
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
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1.4.1 Prämissen und Evaluationskriterien Die Prämissen und Evaluationskriterien ergeben sich aus der vorgestellten Theorie und bilden die Grundlage dieser Untersuchung. Die Lebensweltorientierung bestimmte nicht nur die methodische Gestaltung der Forschung und die Auswertung der Daten, sondern beeinflusste die Einstellung der Autorin während des Forschungsaufenthaltes bei der Durchführung der Untersuchung. Prämissen Folgende Prämissen, die auf den Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit beruhen, waren von zentraler Bedeutung: Unterstützung für Waisen ist geeignet, wenn sie präventiv ausgerichtet ist, indem sie … Krisen vor dem Entstehen verhindert. … das soziale Netzwerk der Kinder stabilisiert. … gesellschaftliche Bedingungen der Problemlagen bearbeitet. Unterstützung für Waisen ist geeignet, wenn sie dezentralisiert und regionalisiert arbeitet, indem sie … lokale Bedingungen berücksichtigt. … in gewachsenen Strukturen und Systemen eingebettet ist. Unterstützung für Waisen ist geeignet, wenn sie alltagsorientiert ist, indem sie … die Heranwachsenden in ihrer Lebenswelt. … im Alltag der Adressaten präsent und leicht zugänglich ist. Unterstützung für Waisen ist geeignet, wenn sie Integration und Normalisierung fördert, indem sie … Heranwachsende mit spezifischen Problemen nicht ausgrenzt. … besondere Bedürfnisse wahrnimmt und gezielt Hilfe leistet. Unterstützung für Waisen ist geeignet, wenn sie Partizipation zulässt, indem sie … Adressaten Mitsprache und Mitgestaltung ermöglicht. … Klienten einen eigenen Beitrag leisten lässt. Evaluationskriterien Thiersch (2002) beschreibt die Schwierigkeiten bei der Erfassung des Gegenstandes lebensweltorientierter Forschung. Wissenschaftliche Forschung im Sinne
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
der Lebensweltorientierung bezieht sich auf soziale Realitäten, die sich über unterschiedliche Handlungs- und Deutungsmuster erfassen lassen. Aus diesem Grund ist lebensweltorientierte Forschung von einer enormen Komplexität geprägt; einem ständigen Fragen und Suchen, mit dem sich der Wissenschaftler dem Gegenstand annähert. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, empfiehlt Thiersch die Orientierung an vordefinierten Fragestellungen: „Die Eigentümlichkeit des Gegenstandes kann dazu verführen, dass Forschungen diffus bleiben. Dagegen gilt, dass prinzipielle Komplexität mit spezifischen Fragen vermittelt werden muss, die aber anschlussfähig im weiteren Horizont und in ihm ausgewiesen sein müssen.“ (Thiersch 2002, S. 157). Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in der Evaluation von Unterstützungsangeboten hinsichtlich ihrer Eignung, Umsetzbarkeit und Funktionalität für den tansanischen Kontext und die spezifischen Problemlagen verwaister Kinder. Entsprechend der Forderung von Thiersch nähert sich die Forschung mit Hilfe von fünf Fragen, welche die Kriterien der angestrebten Evaluation bilden, an diese Thematik an. Arbeitet das Programm entsprechend der Strukturmaximen der Lebensweltorientierung? (Kap. 5.1.1) Leistet das Programm kontinuierliche Hilfe? (Kap. 5.1.2) Erreicht das Programm einen möglichst großen Anteil der betroffenen Kinder? (Kap. 5.1.3) Trägt das Programm zu einem gelingenderen Alltag seiner Adressaten bei? (Kap. 5.1.4) Stattet das Programm die Heranwachsenden mit Lebensfertigkeiten aus, die es ihnen in Zukunft erlauben, sich in die Gesellschaft zu integrieren und ein selbst bestimmtes Leben zu führen? (Kap. 5.1.5) 1.4.2 Grenzen der vorliegenden Evaluationsstudie Die Evaluationsstudie „Leistungen und Grenzen von Heimerziehung“ unter der Leitung von Thiersch (1998) beschreibt anschaulich die Probleme von Evaluationsforschung. Diese beginnen bereits beim Forschungsgegenstand, denn die Evaluation pädagogischer und sozialer Maßnahmen unterliegt immer Beschränkungen, da keine Einigkeit darüber besteht, was gute Hilfe ausmacht bzw. was das Resultat gelungener Hilfe sein sollte. Besonders in einer Gesellschaft, in der keine fest vorherbestimmten Lebensläufe existieren und sich normative Ansprüche differenzieren, sind Aussagen zur optimalen Entwicklung eines Menschen nicht möglich. Darüber hinaus reagiert jeder Mensch anders auf die unterschiedlichen Hilfsangebote. Kausale Zusammenhänge, die Rückschlüsse zwischen
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
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eingesetzten Methoden und erzielten Wirkungen zulassen, existieren in der Sozialen Arbeit nur in begrenzter Form. Ein Programm, das sich für ein Kind als hilfreich erweist, kann beim nächsten Kind keinerlei Wirkung haben oder gar negative Reaktionen auslösen. Jedes Kind lebt eingebettet in soziale Netze, bringt unterschiedliche Erfahrungen mit und hat spezifische Bedürfnisse und Ressourcen. Dennoch können Evaluationsstudien Hinweise liefern, welche Maßnahmen tendenziell förderlich wirken und welche Faktoren den Erfolg von Maßnahmen bedingen. Dabei stellt die Überprüfung und Kategorisierung der geleisteten Arbeit eine weitere Schwierigkeit dar. Soziale Arbeit, insbesondere wenn ihr die Lebensweltorientierung zugrunde liegt, wird von Aushandlungsprozessen und individuell angepassten Hilfsangeboten bestimmt. Dies macht eine objektive Aufschlüsselung der Hilfeleistung quasi unmöglich. Es kann nicht von einem einheitlichen Hilfsangebot ausgegangen werden. Beispielsweise ist stationäre Betreuung nicht gleich stationäre Betreuung, denn abhängig von der konzeptuellen Ausrichtung, der Intensität und den strukturellen Voraussetzungen zeigt sich ein differenziertes Bild der Programme. Hinzu kommt in der Regel ein Mangel an zuverlässigen Daten zu den Klienten, dem Hilfsangebot und den vorgenommenen Interventionen. Ein weiteres Problem von Evaluationsstudien liegt im doppelten Mandat der Forschung. Zum einen begründet sich die Evaluation auf das Interesse an einer Weiterentwicklung der eigenen professionellen Arbeit, zum anderen besteht bei den Klienten, Geldgebern und der Gesellschaft ein Interesse an der Überprüfung der Funktionalität der Angebote. Diese beiden Aspekte stehen nicht automatisch im Widerspruch zueinander, können aber zu Spannungen führen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Ergebnisse der Studie für politische Zwecke instrumentalisiert werden.80 Die im Rahmen der Evaluationsstudie „Leistungen und Grenzen von Heimerziehung“ unter der Leitung von Thiersch beschriebenen Einschränkungen von Evaluationsstudien gelten ebenso für die vorliegende Studie. Auch in Tansania besteht kein einheitliches Verständnis davon, was gute Hilfe für Waisen ausmacht. Die Akzeptanz unterschiedlichster Lebensentwürfe in einer sich zunehmend differenzierenden Gesellschaft bietet keine Orientierung. Die Beantwortung der Frage, wie das Resultat erfolgreicher Erziehung oder optimaler Entwicklung aussehen könnte, bleibt offen. Dass auch in Tansania Kinder und Familien auf unterschiedliche Maßnahmen verschieden reagieren, versteht sich von selbst. Psychosoziale Gruppenangebote zur Bewältigung der Trauer können für einige Kinder befreiend wirken und andere unter Druck setzen. Dennoch müssten bei einer Studie in Tansania ebenfalls Tendenzen feststellbar sein, die Aussagen über Eignung und Funktionalität der Programme zulassen. Die Ange80
Vgl. Baur, Funkel, Hamberger, Kühn und Thiersch 1998, S. 65 f.
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bote in der Waisenhilfe Tansanias weisen, da sie nicht auf einem einheitlichen Konzept oder sozialpolitischen Vorgaben beruhen, eine hohe Differenzierung auf. Es lassen sich aber spezifische Charakteristika ausmachen, die eine vergleichende Evaluation von stationären und ambulanten Maßnahmen erlauben. Auf konzeptuelle und strukturelle Unterschiede geht die Evaluationsstudie im Einzelnen ein. Bei der Analyse und Vorstellung geeigneter Interventionen bezieht sich die Studie nicht auf Organisationen als Ganzes, sondern nur auf einzelne Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen. Dadurch lassen sich geeignete Angebote identifizieren und porträtieren. Ein großes Problem in Tansania stellt der Mangel an Informationen und Daten über die Organisationen, ihre Arbeit und ihre Klienten dar. Das Social Welfare Office, das heißt das Wohlfahrtsamt, welches die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche innehat, führt keine Unterlagen über Kinder, die ambulante Hilfe erhalten. Häufig sind nicht einmal die Projekte, die diese anbieten, offiziell registriert. Die Organisationen und lokalen Projekte agieren in vielen Fällen unabhängig von den staatlichen Strukturen. Auch die Aktenführung vieler Projekte selbst ist äußerst begrenzt, sodass die vorliegende Studie hauptsächlich auf Aussage von Mitarbeitern, Klienten und externen Informanten sowie auf teilnehmender Beobachtung beruht. Eine weitere Einschränkung der vorliegenden Studie besteht im fehlenden Zugang zu sozialen Angeboten islamischer Glaubensgemeinschaften. Ebenso wie die christlichen Kirchen unterstützen und initiieren islamische Glaubensgemeinschaften stationäre und ambulante Hilfsprojekte. Trotz unterschiedlichster Versuche, mit Verantwortungsträgern für diese Programme in Kontakt zu treten, gelang es der Autorin nicht, Einlass in die Organisationen zu erhalten oder mit Mitarbeitern Interviews zu führen. Islamische Hilfsprojekte machen nur einen kleinen Anteil aller sozialen Programme zur Unterstützung von Waisen aus. Dennoch hätte ein Einblick in die Angebote der islamischen Glaubensgemeinschaft das Bild komplettiert. Die Untersuchung stützt sich aufgrund dieser Einschränkung nur auf christliche Organisationen und Angebote ohne religiöse Prägung. 1.4.3 Methodische Gestaltung und Durchführung der Evaluationsstudie Zur Evaluation unterschiedlicher Hilfsangebote für Waisen war entsprechende Feldforschung, das heißt ein Forschungsaufenthalt in Tansania, notwendig. Die Feldforschung machte den Besuch von Einrichtungen in Tansania und die Sammlung von Informationen und Daten möglich. Die angestrebte Zielstellung des Tansaniaaufenthaltes gliederte sich in drei Punkte:
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
1. 2. 3.
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Untersuchung der Lebenswelt der Waisen Porträtierung unterschiedlicher Bewältigungsstrategien der Sozialen Arbeit Evaluation von Programmen zur Unterstützung von Waisen a. Vergleichende Evaluation ambulanter und stationärer Hilfsangebote b. Identifizierung geeigneter Programme zur Unterstützung von Waisen
Voraussetzung für diesen Forschungsaufenthalt war eine Forschungsgenehmigung von der Tanzania Commission for Science and Technology in Dar es Salaam. Diese Kommission hat die Aufgabe, Forschungsprojekte in Tansania zu koordinieren und zu fördern, die Bevölkerung vor Untersuchungen, welche ethischen Standards widersprechen, zu schützen und die Forschungsergebnisse zugänglich zu machen. 81 Die Forschungsgenehmigung stellte die rechtliche Bedingung für die fünfmonatige Feldforschung, von Februar bis Juli 2007, in Tansania dar. Kontaktaufnahme zu Informanten in Tansania Eine weitere Voraussetzung war die Bereitschaft von Organisationen und Projekten, ihre Erfahrungen zu teilen und Einblick in ihre Arbeit zu gewähren. Der persönliche Kontakt zu Mitarbeitern der Programme und zu betroffenen Familien bildete die wichtigste Grundlage der Forschung. Die Kontaktaufnahme zu vielen Projekten erfolgte bereits in der Vorbereitungsphase des Forschungsaufenthaltes. Im Internet und mit Hilfe von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit fand die Recherche nach Waisenprojekten in Tansania statt. Mit diesen nahm die Autorin Kontakt auf und stellte ihr Forschungsvorhaben vor. Um keine falschen Erwartungen zu wecken und zu verhindern, dass Organisationen in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung an der Forschung partizipieren, wurde von Beginn an verdeutlicht, dass ein rein wissenschaftliches Interesse besteht. Die Projekte erhielten als Gegenleistung für ihre Mitwirkung an der Studie die Zusicherung, die Ergebnisse der Forschung nach Abschluss der Untersuchung zu erhalten. Die Recherche und Kontaktaufnahme nahm viel Zeit in Anspruch, doch die gründliche Vorbereitung ermöglichte den Rückgriff auf feste Ansprechpartner während des Forschungsaufenthaltes. Die Zuverlässigkeit der Zusagen war ungemein positiv, denn bis auf eine Ausnahme, konnten alle Organisationen, die ihre Teilnahme im Vorfeld zugesichert hatten, besucht werden. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, sich vor Ort mit weiteren geeigneten Projekten in Verbindung zu setzen. Die Kontaktaufnahme verlief in der Regel äußerst unkompli81
Vgl. www.costech.or.tz/index.htm 24.06.08.
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1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
ziert. Die Vorstellung des Forschungsvorhabens durch die Autorin und die Bitte um ein Interview nahmen die Verantwortlichen ausnahmslos positiv auf. Der Kontakt zu internationalen Organisationen und staatlichen Stellen gestaltete sich ebenso. Da schriftliche und telefonische Anfragen häufig nicht erfolgreich waren, erwies sich persönliches Vorsprechen als bester Weg. Um ein möglichst repräsentatives Bild der vorhandenen Hilfsangebote widerzuspiegeln, richtete sich die Auswahl der Projekte nach folgenden Kriterien:
Organisationen in urbanen (zum Beispiel Dar es Salaam) und in ländlichen Gebieten (zum Beispiel Kagera Region) Organisationen in Regionen mit relativ vielen Hilfsangeboten für Waisen (zum Beispiel Arusha Region) und wenigen Hilfsangeboten (zum Beispiel Mara Region) Organisationen mit unterschiedlicher konzeptueller Gestaltung (zum Beispiel Waisenheime, ambulante Hilfsprojekte) Organisationen mit unterschiedlichen strukturellen Bedingungen (zum Beispiel kirchliche Trägerschaft, Selbsthilfeinitiativen)
Die Landessprachen von Tansania sind Kisuaheli und Englisch. Da der Unterricht an Sekundarschulen auf Englisch abgehalten wird, verfügen alle Einwohner, die mehr als sieben Jahre die Schule besuchten, über ein gutes Niveau dieser Sprache. Bei den Vorbereitungen ging die Autorin davon aus, dass die Mitarbeiter der Organisationen ausreichend Englisch können, um die Fragen im Interview zu beantworten. Diese Annahme erwies sich als richtig, sodass das Führen von Interviews auf Englisch keine Probleme verursachte. Da auch der Kontakt zu den Waisen und Familien wichtig erschien, belegte die Autorin einen Sprachkurs in Kisuaheli. Die gezielte Datenerhebung von Familien und Kindern gelang durch Fragebögen in Kisuaheli. Darüber hinaus gab es Gelegenheiten, mit älteren Waisen, die bereits in die Sekundarschule gehen, Interviews zu führen und Fragen an Kinder von Dritten übersetzen zu lassen. Kontakte zu den Kindern und ihren Familien wurden ausschließlich im Rahmen der Programme der Organisationen oder in öffentlichen Einrichtungen hergestellt. Dies führte zu einer eingeschränkten Auswahl der Stichprobe, war aber aufgrund der Situation notwendig und ergab sich aus ethisch-moralischen Überlegungen. Angewandte Forschungsmethoden Ziel des Forschungsaufenthaltes bestand im Sammeln von quantitativen und qualitativen Daten zur Situation der Waisen und zur Bewältigung der Waisenkri-
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
61
se. Die Vorbereitung des Forschungsaufenthaltes, das heißt die inhaltliche und methodische Gestaltung der Forschung, basierte auf mehreren Säulen. Bereits vor Beginn der Forschung lebte und arbeitete die Autorin für sechs Monate in der Kagera Region in Tansania und hatte Gelegenheit, sich mit dem kulturellen Kontext vertraut zu machen. Der Aufenthalt ermöglichte das Kennenlernen traditioneller Lebensweisen und Normen im ländlichen Tansania und bot Einsicht in gesellschaftliche Wandlungsprozesse und die Folgen der AIDS-Epidemie. Die Mitarbeit und Besuche in unterschiedlichen sozialen Einrichtungen, beispielsweise Waisenheime, ein Kinderdorf, ein Straßenkindprojekt, ambulante Hilfsprogramme und Einrichtungen für Kinder mit Behinderungen, erlaubten einen ersten Einblick in bestehende Angebote und Strukturen der Sozialen Arbeit in Tansania. Auf die vor Ort gesammelten Erfahrungen baute die Autorin bei der Auswahl der Forschungsinstrumente sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der Forschung. Die zweite Grundlage der inhaltlichen und methodischen Gestaltung der Forschung bildeten bereits durchgeführte Studien. Bei diesen Untersuchungen handelte es sich nicht nur um Analysen zur Lebenswelt der Waisen und zu entstandenen Bewältigungsstrategien, sondern auch um ethnologische und soziologische Betrachtungen der tansanischen Gesellschaft. Diese Hintergrundinformationen, beispielsweise zur Stellung der Familie, zur Erziehung oder zur Bedeutung von Traditionen, erlaubten eine intensive Auseinandersetzung mit prägenden Faktoren der tansanischen Gesellschaft. Dieses Wissen ermöglichte es wiederum, Verwaisung als kulturspezifisches Phänomen wahrzunehmen und eigene europäische geprägte Sichtweisen zu reflektieren. Dieses Bewusstsein für den besonderen kulturellen Kontext der Untersuchung spiegelt sich in der Herangehensweise der Forschung und der Formulierung der Fragen wieder. Das theoretische Fundament – die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Thiersch sowie die aus der Theorie abgeleiteten Prämissen und Evaluationskriterien (Kap. 1.4.1) – stellt die dritte Säule der methodischen Ausgestaltung der Forschung dar. Die Befragung der Informanten richtet sich vor allem an den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung aus. Die Strukturmaximen „Prävention“, „Dezentralisierung/Regionalisierung“, „Alltagsorientierung“, „Integration/Normalisierung“ und „Partizipation“ bilden das Gerüst der Lebensweltorientierung (Kap. 1.3.3). Dieser Rahmen muss im jeweiligen Arbeitskontext neu ausgefüllt werden. „Prävention“ in der Straßensozialarbeit lässt sich nicht mit „Prävention“ im Kontext der Familienhilfe gleichsetzen. Genauso, wie die Inhalte der Strukturmaxime den unterschiedlichen Arbeitsfeldern in Deutschland entsprechend neu definiert werden, besteht auch bei der Übertragung auf einen kulturfremden
62
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Kontext der Bedarf für eine differenzierte Auslegung der einzelnen Maxime. Der dabei notwendige Prozess unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Neudefinition, die bei der Übertragung der Lebensweltorientierung auf unterschiedliche Handlungsfelder erfolgt. Auch in Deutschland erfordern die verschiedenen Adressaten der Sozialen Arbeit, eine Offenheit für abweichende kulturelle Werte, Strukturen und Interpretationsmuster, denn Soziale Arbeit ist immer auch Arbeit mit und in Subkulturen. Im tansanischen Kontext muss die Neuinterpretation selbstverständlich noch weiter gehen, da der gesellschaftliche Kontext, in dem Soziale Arbeit stattfindet, abweicht. In Tansania orientiert sich Soziale Arbeit an einem anderen Alltag, andere präventive Maßnahmen erweisen sich als notwendig und Normalisierung folgt nicht denselben Idealen wie in Deutschland. Auch wenn beispielsweise Partizipation als universeller Wert in der Sozialen Arbeit gilt, muss die Umsetzung dieser Forderung in Tansania mit anderen Instrumenten erfolgen als in Deutschland, damit die Menschen ihre Möglichkeit auf Teilhabe als authentisch wahrnehmen und nutzen. Die Neuinterpretation der Strukturmaximen erlaubte die Entwicklung von Forschungsinstrumenten für den tansanischen Kontext und die spezifische Problematik der Waisen. Die dargestellten Säulen bilden das Gerüst der Forschung. Entsprechend der theoretischen Grundlage und des Forschungsgegenstandes kamen während der Feldstudie in Tansania drei Forschungsmethoden zur Anwendung: Interviews, Fragebögen und teilnehmende Beobachtung. Im Folgenden sollen diese Forschungsmethoden detailliert vorgestellt werden. Befragung – Interviews Die Interviews waren teilstandarisiert und bestanden durchgehend aus offenen Fragen. Die teilweise Standarisierung wurde durch bestimmte Fragen, die sich in allen Interviews wiederholten, und einem Leitfaden, der bei der Befragung eine Orientierung gab, erreicht. Je nach Kategorie, in welche sich die jeweilige Organisation oder Person einordnen lies, hatte die Autorin unterschiedliche Fragenkataloge vorbereitet. Beispielsweise stand für Einrichtungen der stationären Erziehung ein anderer Leitfaden zur Verfügung als für ambulante Hilfsangebote. Die inhaltliche Gestaltung der Interviews basierte auf der Beschäftigung mit bereits durchgeführten Studien und entsprechenden Veröffentlichungen, der spezifischen Fragestellung und der zugrunde liegenden Theorie. Nach den allgemein gehaltenen Einleitungsfragen gab es Fragen, die sich thematisch an den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung anlehnten. Abgeschlossen wurden die Interviews mit Erholungsfragen, die sich auf übergeordnete Aspekte der
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
63
Waisenversorgung, die außerhalb des Verantwortungsbereiches der befragten Organisationen lagen, bezogen. Die teilstandarisierten Interviews ermöglichten zum einen die Erhebung vergleichbarer Daten und eröffneten zum anderen einen Spielraum, um auf bestimmte Themen vertiefend einzugehen. Durch die Teilstandarisierung ließen sich notwendige Modifikationen der Interviews flexibel umsetzen. Da es aufgrund der weiten Entfernung nicht möglich war, Probeinterviews vor dem Beginn der Studie durchzuführen, nahm die Autorin Abwandlungen der Fragen vor Ort vor. Die Erfahrung zeigte, dass die Notwendigkeit dafür nur in geringem Maße bestand. Alle Interviews wurden mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet und gespeichert. Dies gestattete die Auswertung und Verarbeitung der gesammelten Daten im Anschluss an das Gespräch. Befragung – Fragebögen Die Fragebögen setzten sich im Gegensatz zu den Interviews aus offenen und geschlossenen Fragen zusammen. Die geschlossenen Fragen ließen je nach Frage Einfach- als auch Mehrfachantworten zu. Die unsicheren technischen Möglichkeiten in Tansania machten eine Fertigstellung und Vervielfältigung aller Fragebögen vor dem Forschungsaufenthalt notwendig. Damit wurde gewährleistet, dass sie vor Ort in ausreichendem Maß zur Verfügung standen. Der Nachteil bestand darin, dass kein Spielraum für eine Modifikation der Fragebögen vor Ort bestand. Sie waren somit weniger flexible als die Interviews. Da es nicht möglich war Pretests mit tansanischen Kindern vor dem Forschungsaufenthalt in Tansania durchzuführen, unternahm die Autorin einen künstlichen Pretest. Dabei nahm die Probanden die imaginäre Identität eines tansanischen Informanten an und füllten entsprechend dieser Identität den Fragebogen aus. Diese Maßnahme erlaubte die Überprüfung der Verständlichkeit und der Folgerichtigkeit der Fragen und half, Unklarheiten auszuschließen. Die Fragebögen stellten eine wichtige Ressource, vor allem bei der Erhebung quantitativer Daten, dar. Insgesamt kamen vier verschiedene Fragebögen mit jeweils unterschiedlicher Zielgruppe zum Einsatz. Neben Fragebögen für stationäre und ambulante Hilfsangebote gab es zwei weitere kürzere Fragebögen in Kisuaheli, die für Haushaltsvorstände von Familien mit Waisen und für Kinder bestimmt waren. Die Fragebögen in Kisuaheli ermöglichten die gezielte Datenerhebung von Waisen, von Kindern aus einer Vergleichsgruppe und von Familien mit Waisen. Die Fähigkeit zum selbstständigen Ausfüllen führte zu einer Beschränkung bezüglich des Alters der befragten Kinder. Außer in Fällen, wo ältere Kinder die Fragebögen für jüngere ausfüllten, ließen sich keine Infor-
64
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
mationen von Kindern unter sieben Jahren sammeln. Trotz dieser Einschränkung lieferten die Fragebögen wichtige Anhaltspunkte über die Selbstwahrnehmung von Waisen und über ihre Lebenswelt. Dabei zeigte sich, dass Kinder im Allgemeinen mit dem Ausfüllen der Fragebögen bedeutend besser zurechtkamen als Haushaltsvorstände. Die Betreuer von Waisen waren häufig ältere Menschen, die selbst nur wenig oder keine formelle Bildung genossen hatten und kaum oder kein Kisuaheli, sondern nur ihre Stammessprache, beherrschten. Als Folge wurden nur wenige Fragebögen von Haushaltsvorständen ausgefüllt. Diese Stichprobe kann somit nicht als repräsentativ gelten. Teilnehmende Beobachtung Um einen genaueren Einblick in die Arbeit der Organisationen zu erhalten und die Informationen aus den Interviews zu verifizieren, bestand die Notwendigkeit für teilnehmende Beobachtung. Die Intensität der „Teilnahme“ hing von der jeweiligen Situation ab und reichte von physischer Präsenz bis zur Übernahme einer eigenen Rolle. Die reine Beobachtung ohne Interaktion war schon deshalb nicht möglich, da es sich um eine offene Beobachtung handelte. Die Autorin und ihr Anliegen wurden den Anwesenden in der Regel vorgestellt. Dies führte auf der Seite der Untersuchungsgruppe zu einem Interesse an dem europäischen Besucher. Auf dieses Interesse nicht einzugehen wäre im tansanischen Kontext einer Nichtachtung des Gegenübers gleichgekommen. Am Beispiel eines begleiteten Hausbesuches soll diese Problematik veranschaulicht werden. Ein Gast, der nicht auf die Begrüßungsformeln des Gastgebers eingeht und sich nicht nach dessen Familie, Arbeit und Landwirtschaft erkundigt, verstößt gegen die sozialen Normen. Ebenso beleidigend wäre die Ablehnung von angebotenen Speisen und Getränken. Um einen Einblick in die Lebenswelt der Waisen und die Arbeit der Organisationen zu erhalten, war die Interaktion mit der Untersuchungsgruppe unumgänglich. Die Herausforderung bestand darin, eine wissenschaftliche Distanz zu bewahren, welche eine Reflexion ermöglichte und die Vereinnahmung von den subjektiven Erfahrungen verhinderte. Die teilnehmende Beobachtung konzentrierte sich vor allem auf zwei Arten von Beobachtungssituationen. Zum einen sollte die Arbeit der Organisationen und Projekte gezielt erfasst werden. Dazu besuchte die Autorin beispielsweise Einrichtungen der stationären Erziehung, begleitete Hausbesuche oder nahm an Beratungsgesprächen und Gruppenangeboten teil. Dies gab Aufschluss über organisatorische Bedingungen der Hilfe, zum Beispiel Dauer der Angebote und Anzahl der Teilnehmer, und über Eigenschaften der sozialen Interaktion, zum Beispiel zwischen Kindern und Betreuer. Die zweite Art der Beobachtungssitua-
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
65
tion ermöglichte die Sammlung von Informationen über die Lebenswelt der Waisen. Dies gestattete die Besichtigung von Heimen oder die Begleitung von Mitarbeitern ambulanter Hilfsprogramme bei Hausbesuchen. In allen besuchten Regionen bestand die Möglichkeit, Familien mit Waisen zu besuchen. Ziel war die Untersuchung der Lebensqualität nach materiellen Aspekten, zum Beispiel Ausstattung der Wohnräume. Diese Informationen halfen beim Vergleich urbaner und ländlicher Lebensräume und lieferten Informationen für die Gegenüberstellung stationärer und ambulanter Projekte. Darüber hinaus erhielten Aspekte der Interaktion zwischen Waisen und ihren Betreuern, zum Beispiel Ersatzeltern oder Erzieher, besondere Beachtung. Diese ließen sich allerdings nicht auswerten, da der Besuch durch die Mitarbeiter der Projekte und die Autorin eine künstliche Situation schafften. Es konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die Interaktion dem alltäglichen Verhalten entsprach. Informanten Der folgende Abschnitt soll einen Überblick über die Informanten geben, die an der Evaluationsstudie partizipiert haben: Organisationen und weitere Stakeholder – Interviews (I), Fragebögen (F) und teilnehmende Beobachtung (B) Die untenstehende Tabelle (Abb. 4) enthält Informationen über die Organisationen und Informanten sowie über die Forschungsmethoden, die beim Kontakt zur Anwendung kamen. Insgesamt beteiligten sich 65 Organisationen bzw. Stakeholder an der Untersuchung. Neben vielfältigen informellen Gesprächen mit verwaisten Kindern und Hausbesuchen bei zahlreichen Familien konnten zusätzlich zwei Waisen intensiver befragt werden. Die Offenheit und Gesprächsbereitschaft der Informanten war beeindruckend. Dies lässt sich sicher auch damit erklären, dass die Projekte überwiegend im Kleinen wirken und die Mitarbeiter, die sich häufig ehrenamtlich engagieren, nicht viel Wertschätzung und Beachtung erhalten. In den Interviews bekamen sie die Möglichkeit, über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen zu sprechen. Dabei gingen die Informanten auch mit Problemen in der Organisation und Unzulänglichkeiten der Aktivitäten relativ freimütig um. Zu den teilnehmenden Projekten gehörten unter anderem verschiedene Initiativen ambulanter Hilfen, Waisenhäuser, Kinderdörfer, Straßenkindprojekte, ein Projekt für Kinder mit Behinderungen, Kindergärten, eine Adoptionsgesellschaft und Pflegekindprogramme.
66
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Die Intensität der Kontakte zu den Informanten variierte. Mit einigen Projekten wurde nur ein Interview geführt und/oder der entsprechende Fragebogen ausgefüllt. Bei anderen Organisationen bestand die Möglichkeit, die Programme wiederholt zu besuchen und die Mitarbeiter bei ihren Aufgaben zu begleiten. Die intensive Auseinandersetzung mit einigen ausgewählten Organisationen gab einen tieferen Einblick in ihre Arbeit. Die Autorin nahm unter anderem an Weiterbildungen für Ersatzeltern und Waisen teil und besuchte Treffen und Betreuungsangebote für Waisen. Aufgrund zeitlicher und organisatorischer Beschränkungen gelang es nicht immer, die Interviews in ihrer Gesamtheit durchzuführen. Nicht alle Interviewpartner antworteten demnach auf alle Fragen und einige Antworten fielen umfangreicher aus als andere. In der Auswertung bezieht sich die Autorin aus diesem Grund nur auf die Interviewpartner, die zu dem entsprechenden Sachverhalt befragt wurden. Der Umfang der Stichprobe lässt sich aus der jeweiligen Darstellung der Ergebnisse entnehmen. Abbildung 4:
Informanten der vorliegenden Studie
Organisation / Informant
Region
PASADA
Dar es Salaam
Youth Life Relief Foundation
Dar es Salaam
VUKA Tanzania
Dar es Salaam
YOPAC
Dar es Salaam
World Vision Kagera
Kagera
HUYAWA
Kagera
Salvation Army Kagera
Kagera
KAKAU
Kagera
KZACP
Kagera
HOMERC
Mwanza
BCDSA
Mwanza
WOWESOT
Mwanza
CSVCO
Mwanza
Kategorie Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen
weitere Kategorien
I
F
B
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2 Schule für Kinder mit Behinderungen Stationäre Betreuung Kindergarten
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
67
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie Organisation / Informant
Region
TACOPE
Mwanza
HUPEMEF
Mwanza
Community Alive Club
Mara
Jipe Moyo
Mara
Faraja Orphan and Training Centre Society for Orphan Care and Aids Control
Pwani Pwani
HUYAMWI
Kilimanjaro
Rainbow Centre
Kilimanjaro
KIWAKKUKI
Kilimanjaro
SAKUVI
Kilimanjaro
KIKUSHI
Kilimanjaro
WEMA
Arusha
WAMATA Arusha
Arusha
Tanzania Adoption Society Bujora Parish Child and Youth Development
Dar es Salaam Mwanza
Mavuno Village
Mwanza
Kemondo Orphan Care Centre
Kagera
Green Door Home
Dar es Salaam
Ntoma Orphanage
Kagera
Forever Angels Orphanage Starehe Children's Home Hisani Orphanage
Mwanza Mwanza Mwanza
Kategorie Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Ambulante Hilfen Formelle Pflege
weitere Kategorien
F
2
2
B
2 2 Straßenkindprojekt
2
2
2 2
2 Kindergarten
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2 Kindergarten
2 2
2 2
2
Formelle Pflege Formelle Pflege Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung
I
Stationäre Betreuung Outreach Programm
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2 2
2
2 2
2
2 2
2
68 Organisation / Informant AIC Bujora Orphanage Bethany Project
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Region Mwanza Mwanza
Baobab Home
Pwani
Kilimanjaro Children Joy Foundation
Kilimanjaro
Light in Africa Usa River Children Centre Nkoaranga Waisenhaus Kwetu Girls Home Tumani Children Centre Tanzania Children's Rescue Centre
Kilimanjaro Arusha Arusha Dar es Salaam Kagera Mwanza
Amani
Kilimanjaro
Mkombozi
Kilimanjaro
Elizabeth Matheru/ Emil Assey (Lehrer) Jerome Yusif (Lehrer) Hamisi Kaniki (Direktor) Samuel Tayali SWAAT Agnes Msoka Salvation Army Frederick Urembo GTZ Dorothea Coppard SAT Adolf Mrema REPSSI Peter Massesa FHI J. Baghdellah und L. Kikoyo HELPAGE International Smart Daniel UNICEF
Kategorie Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Straßenkindprojekt Straßenkindprojekt Straßenkindprojekt Straßenkindprojekt Straßenkindprojekt
weitere Kategorien
I
2 Outreach Programm Outreach Programm
Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung Stationäre Betreuung
F
B
2
2
2
2
2 2
2
2
2 2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2 2
Kilimanjaro
Stakeholder
Bildungssektor
2
Kilimanjaro
Stakeholder
Bildungssektor
2
Arusha
Stakeholder
Bildungssektor
2
Mwanza
Stakeholder
2
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Dar es Salaam
Stakeholder
Bildungssektor Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale Organisation Internationale
2 2 2 2 2 2 2 2
2
69
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie Organisation / Informant Jones John
Region
I = Interview
weitere Kategorien
I
F
B
Organisation
Henri R. Challi (Assistant Director for Children) Gertrude Kulindwa (Regional Welfare Officer) Elineema Kimaro (District Cultural and Youth Officer) Universität Dar es Salaam Robert Mhamba TANOPHA Bruno Ghumpi KINSHAI Estahappy Wenje Franklin M. Johnson K.
Kategorie
Dar es Salaam
Stakeholder
Ministry of Community Development, 2 Gender and Children
Mwanza
Stakeholder
Regional Social Welfare
2
Kilimanjaro
Stakeholder
District Cultural and Youth Office
2
Dar es Salaam
Stakeholder
Berater MVC Action Plan
2
Dar es Salaam
Stakeholder
NGO Netzwerk
2
Kilimanjaro
Stakeholder
NGO Netzwerk
2
Kilimanjaro
Waise
2
Kilimanjaro
Waise
2
F = Fragebogen
B = teilnehmende Beobachtung
Kinder – Fragebögen und teilnehmende Beobachtung Neben den Kontakten zu Organisationen und Stakeholdern ermöglichten Hausbesuche und die Befragung von Kindern mit Hilfe von Fragebögen in Kisuaheli einen Einblick in ihre Lebenswelt und ihre Handlungs- und Verstehensmuster. (Abb. 5). Die meisten Fragebögen wurden im Rahmen von Gruppenangeboten der Organisationen oder Hausbesuchen ausgefüllt. Um die Angaben der Waisen, die durch ambulante Projekte betreut werden, mit denen von Kindern in stationären Einrichtungen vergleichen zu können, erhob die Autorin auch bei Besuchen in Heimeinrichtungen Informationen mithilfe der Fragebögen. Die Aussagen der Waisen sind nur begrenzt aussagekräftig, wenn nicht die Gegenüberstellung mit einer Vergleichsgruppe erfolgt. Zu diesem Zweck wählte die Autorin Kinder in einer staatlichen Primarschule und in einer Privatschule aus. Die Kinder in der Primarschule spiegeln einen relativ repräsentativen Querschnitt der Population der Kinder Tansanias wider. Obwohl die Stichprobe klein ist und somit der potenzielle Fehlerquotient steigt, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Zusammensetzung der Gruppe eignet, um in spezifischen Bereichen Vergleiche anzustellen. Die befragten Schüler der Privatschule stellen keine repräsentative Stichprobe dar. Um die Schule zu besuchen, müssen Kinder
70
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
für einen Schulplatz 330.000TSH82 (186 Euro) und für einen Internatsplatz 660.000TSH (371 Euro) Schulgeld pro Jahr bezahlen. Damit beträgt das Schulgeld für einen Tagesschüler mehr als das Fünffache eines durchschnittlichen Monatseinkommens eines Haushaltes in Tansania. 83 Dennoch erfüllte die Befragung der Schüler eine wichtige Funktion. Sie zeigte deutlich, dass sich auch Waisen in der Lage befinden, diese Schule zu besuchen. Verwaisung führt demnach nicht automatisch zur Verarmung und zum Ausschluss von gehobenen Bildungsangeboten. Des Weiteren bestand die Möglichkeit, die Antworten der Privatschüler auf bestimmte Fragen mit Aussagen der Waisen und der Schüler der staatlichen Primarschule zu vergleichen. Auf dieser Grundlage ließen sich Rückschlüsse über den Einfluss von Verwaisung und Armut auf bestimmte Lebensbereiche ziehen. Abbildung 5:
Befragung von Kindern (Fragebögen)
Waisenstatus Geschlecht Weiss UA w m UA nicht Befragung von Kindern im Rahmen von Aktivitäten von Organisationen ambulanter Hilfe
n
82
Region
W
NW
35 4 31 24 1
Kagera 34 1 14 Mwanza 4 2 Mara 28 3 21 Kilimanjaro 23 1 12 Arusha 1 Befragung von Kindern in stationären Einrichtungen
19 2 10 11 1
2 1 -
8 18 2
Mwanza 6 2 1 Kilimanjaro 14 4 9 Arusha 2 1 Befragung von Kindern in einer staatlichen Primarschule
6 9 1
1 -
37
Kilimanjaro
25
12
-
45 Arusha 9 33 3 23 205 128 64 8 5 108 Waisenstatus: W = Waisen NW = Nichtwaisen UA = ungültige Antwort Geschlecht: w = weiblich m = männlich UA = ungültige Antwort
22 93
4
8 28 1 Befragung von Kindern in einer Privatschule
Umrechnung der Währung von Tansanischen Shilling in Euro erfolgt in der gesamten Arbeit entsprechend des Wechselkurses vom 01.08.07. 83 Vgl. United Republic of Tanzania – National Bureau of Statistics (Hrsg.) 2002, S. 4.
1.4 Vorüberlegungen und Design der Studie
71
Familien – Fragebögen und teilnehmende Beobachtung Obwohl die Befragung der Haushaltsvorstände durch Fragebögen nicht repräsentativ war, soll sie dennoch erwähnt werden. Sie lieferte keine vergleichbaren Daten, bildete aber eine wichtige Quelle zum Verständnis der Einzelfälle. Offene Fragen gaben beispielsweise Einblick in die Motivation, Waisen in den eigenen Haushalt aufzunehmen. Darüber hinaus spiegeln sie unterschiedliche Strategien zur Bewältigung der zusätzlichen Belastung wider. Insgesamt füllten 17 Betreuer von Waisen in zwei Regionen Fragebögen aus. Datenschutz: Aus Datenschutzgründen werden in der vorliegenden Arbeit die Namen von betroffenen Familien und Kindern anonymisiert. Die Fragebögen wurden von den Kindern nicht mit Namen versehen, sondern erhielten eine Identifikationsnummer. Dadurch war die zeitliche und örtliche Zuordnung der Fragebögen möglich, ohne die Identität der Kinder offen zu legen. Fotos, die in der vorliegenden Arbeit verwendet werden, erscheinen mit ausdrücklicher Genehmigung der abgebildeten Personen. Auswertung der Forschungsergebnisse Die Auswertung der Forschungsergebnisse erfolgte bereits während und im Anschluss an den Forschungsaufenthalt in Tansania. Die von der Autorin mithilfe eines digitalen Aufnahmegerätes aufgezeichneten Interviews wurden gespeichert und verschriftlicht. Auf eine vollständige Transkription aller geführten Interviews verzichtete die Autorin, da der zeitliche Aufwand aufgrund des Umfangs der Datensätze nicht im Verhältnis zum wissenschaftlichen Nutzen stand. Vielmehr erfolgte eine Analyse der Interviews anhand der für die Arbeit zentralen Fragestellungen. Wesentliche Angaben der Interviewpartner zu den gestellten Fragen wurden identifiziert und schriftlich festgehalten, sodass jedes Interview in einer schriftlichen Kurzform vorliegt. Zusätzlich transkribierte und übersetzte die Autorin besonders prägnante Aussagen der Befragten, um diese in der Arbeit als Zitat wiedergeben zu können. Zur Verarbeitung der Informationen aus den geführten Interviews sowie der Angaben aus den Fragebögen nutzte die Autorin das Computerprogramm Excel. Auf diese Weise bestand die Möglichkeit, die Datensätze nach unterschiedlichen Kriterien und in verschiedenen Kombinationen auszuwerten. Das Programm bietet darüber hinaus den Vorteil, die Ergebnisse der Untersuchungen grafisch darzustellen und somit für den Leser zu veranschaulichen.
72
1 Einleitung: Fragestellung und methodisches Vorgehen
Die Informationen und Erkenntnisse, welche die Autorin im Rahmen der teilnehmenden Beobachtungen sammelte, notierte sie während oder im direkten Anschluss an die Beobachtungssituation. Diese Angaben sowie weitere allgemeine Informationen wurden in einem Forschungstagebuch festgehalten. Dieses ermöglichte der Autorin nach dem Forschungsaufenthalt in Tansania den Rückgriff auf die vor Ort gemachten Erfahrungen und Eindrücke.
„Alltäglichkeit zielt zunächst auf Arrangements, auf Zustände. – Natürlich ist immer auch im Blick, dass solche Zustände sich ändern und verschieben können; in Konflikten oder angesichts neuer Aufgaben bilden sich durch die Krise eines gegebenen Arrangements hindurch neue Arrangements.“ (Thiersch 1992, S. 51).
2
Die Waisenkrise in Tansania
Krise wird im Duden als Wende- und Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung definiert. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Medizin und wurde verwendet, um den Höhepunkt einer Infektionskrankheit, auf den ein Fieberabfall folgt, zu beschreiben. 84 Krisensituationen sind in der Regel von Dringlichkeit und von Handlungsnotwendigkeit, aber auch Handlungsunsicherheit geprägt. Oft lässt sich eine Krise, wenn sie im ursprünglichen Sinne als Wendepunkt einer negativen Entwicklung definiert wird, erst im Nachhinein ausmachen. Die Lage der Waisen in Tansania weist all diese entscheidenden Charakteristika einer Krise auf. Die Zahl der Waisen stieg in den vergangenen zwei Jahrzehnten dramatisch an und erreichte im Jahr 2007 circa 2,6 Millionen. Inzwischen ist jedes 8. Kind in Tansania verwaist.85 Dies führt zu einer Überlastung der traditionellen Sicherungssysteme. Es besteht ein dringender Handlungsbedarf, um die negativen Folgen der Verwaisung abzuwenden, doch Regierungen und Organisationen zeigen sich unsicher in der Handhabung des Problems. Es gibt aber auch Anzeichen, dass der Höhepunkt fast erreicht ist. Wie bei einer Infektionskrankheit birgt die Krise die Chance, dass Tansania gestärkt aus der aktuellen Situation hervorgeht. Tansania könnte die Gelegenheit nutzen, um seine „Abwehrkräfte“ zu steigern, das heißt in Zusammenarbeit mit allen Akteuren Strukturen und Hilfsprogramme aufzubauen, die in Zukunft für die Kinder Tansanias mehr Sicherheit bedeuten. Mit dem Ziel, die Situation in Tansania besser zu verstehen, widmet sich der erste Teil des folgenden Kapitels den Ursachen und der Entwicklung der 84 85
Vgl. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg.) 1990, S. 437 f. Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 40.
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
74
2 Die Waisenkrise in Tansania
Waisenkrise. Die Ausführungen sollen dem Leser veranschaulichen, weshalb ein dringender Bedarf an Forschungsinitiativen und Hilfsangeboten besteht. Im Anschluss geht der zweite Teil des Kapitels auf die Akteure in der Waisenkrise ein und gibt Auskunft über deren Beitrag in der Bewältigung der aktuellen Situation. 2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise Wie in jedem anderen Land lebten auch in Tansania schon immer verwaiste Kinder. Allerdings ließ sich nicht von einer Waisenkrise sprechen, da die verwaisten Kinder bis in die 1980er Jahre kein soziales Problem darstellten. Interviewpartner berichten im Rahmen der Untersuchung immer wieder, dass es früher der Großfamilie gelang, Waisen zu integrieren und deren Versorgung zu sichern: „Entsprechend der Normen und Bräuche wurden diese Kinder [Waisen] in Familien großgezogen; und Familie ist nicht die Kleinfamilie, sondern die Großfamilie. Also wenn jemand starb, dann war jemand anderes da, um für diese Kinder zu sorgen.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). „Unsere Lebensweise basierte auf einem System der verzweigten Verwandtschaft. Also man kann feststellen, dass für die meisten, die Probleme hatten, selbst die, die ihre Eltern verloren, die Gemeinschaft verantwortlich war, sich um diese Kinder zu kümmern.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). “Es war immer kulturelle Praxis, Kinder aufzunehmen, und es war niemals ein Problem, denn die Aufnahme von Kindern geschah in seltenen Fällen, wenn jemand unerwartet verstarb.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). „In früheren Jahren sah man niemals so jemanden, […] man sah niemals gefährdete Kinder, denn sie wurden alle von der Gesellschaft absorbiert. Von Familieneinheiten, weil diese die Sozialen Dienste des Landes waren – es war die Familie.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Zwei Indizien bestätigen, dass das familiäre Auffangnetz in der Vergangenheit so engmaschig war, dass kaum ein Kind durch dieses Netz fiel und sich somit die
2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise
75
Existenz von Waisen nicht zu einer Krise entwickelte. Zum einen bildeten Straßenkinder in Tansania, im Gegensatz zu den Ländern Südamerikas, kein bekanntes Phänomen. Erst in den letzten 15 Jahren stieg die Zahl der Straßenkinder dramatisch an.86 Zum anderen gab es nur in Ausnahmefällen Institutionen, die sich um Waisen kümmerten, da der Bedarf für soziale Projekte zur Versorgung von Waisen nicht existierte. Fast alle im Rahmen der Untersuchung befragten Organisationen nahmen ihre Tätigkeit nach 1989 auf (Kap. 4). Die einzige Ausnahme bilden Säuglingsheime, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Missionaren gegründet wurden. Aber auch diese Einrichtungen strebten die Reintegration der Kinder in ihre Familien an. 87 Die Entwicklung der Waisenkrise begann Ende der 1980er Jahre, als die Versorgung einer steigenden Zahl von Waisen die Großfamilie zunehmend überforderte und die Integration der betroffenen Kinder nicht mehr gelang. 2.1.1 Ursachen der Waisenkrise Die Faktoren, die innerhalb von 20 Jahren zu einer Waisenkrise in Tansania führten, sind vielfältig. Die Hauptursache, die einerseits die Zahl der Waisen dramatisch ansteigen ließ und andererseits die Zahl potenzieller Ersatzeltern reduzierte, lässt sich dennoch eindeutig auszumachen: HIV/AIDS. 88 Die Epidemie traf die Länder südlich der Sahara besonders schwer und führte dazu, dass Afrika der einzige Kontinent der Welt ist, auf dem der Anteil der Waisen an allen Kindern ansteigt, statt zurückzugehen. 89 In Tansania trugen die Belastungen durch die AIDS-Epidemie zur Erosion des Verwandtschaftsnetzes bei. „Jetzt, mit der steigenden Zahl von Waisen aufgrund von AIDS ist es, als wäre die Tradition des Unterstützungssystems, des ursprünglichen Unterstützungssystems, das es hier gab, zersetzt worden.“ (Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). HIV/AIDS als Auslöser der Waisenkrise in Tansania Die ersten Fälle von AIDS auf dem afrikanischen Kontinent wurden 1983 in der Kagera Region im Grenzland von Uganda und Tansania diagnostiziert (Abb. 6). 86
Vgl. United Republic of Tanzania und UNICEF (Hrsg.) 2002, S. 95. Vgl. Interview mit E. Kamazime am 20.02.02 in Ntoma, Tansania; Interview mit M. Ayo am 04.07.07 in Usa River, Tansania. 88 Vgl. Kaare 2005, S. 2; Litterell, Thurmann, Chatterji und Brown 2007, S. 12; Monk o. J., S. 13. 89 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 7. 87
76
2 Die Waisenkrise in Tansania
Bereits drei Jahre später, 1986, meldeten alle Regionen Tansanias Fälle von AIDS.90 Die schnelle Ausbreitung des HI-Virus in Handelszentren, Grenzstädten und entlang von Transportwegen führte dazu, dass es seit 20 Jahren eine generalisierte Epidemie auf dem Festland Tansanias gibt. Auf dem Archipel Sansibar mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil und seiner geografischen Isolationslage beträgt die HIV-Infektionsrate nur 0,6%.91 Abbildung 6:
Exkurse: HIV/AIDS (vgl. Weinreich und Benn 2003)
Die Entwicklung einer Pandemie: 1981 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika die ersten Fälle von HIV-Infektionen beobachtet. Innerhalb weniger Jahre breitete sich das Virus auf alle Länder aus. Weltweit gibt es eine Vielzahl von HIV-Epidemien, die hinsichtlich der zeitlichen Abläufe, der gebietsmäßigen Ausweitung und der betroffenen Gruppen differieren. Es wird zwischen konzentrierten und generalisierten Epidemien unterschieden. Konzentrierte Epidemien betreffen weniger als 1% der allgemeinen Bevölkerung und mehr als 5% der Personen, die sich spezifischen Risikogruppen zuordnen lassen. Generalisierte Epidemien existieren in den Ländern, in denen mehr als 5% der allgemeinen Bevölkerung den HI-Virus in sich trägt. Dies ist in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara der Fall. Dort leben 2/3 aller Infizierten; dies macht das südliche Afrika zur am stärksten betroffenen Region der Welt. Ursachenfaktoren: Armut ist einer der wichtigsten Faktoren, denn zwischen Armut und HIV/AIDS besteht eine enge Korrelation, da Armut das Risiko für eine HIV-Infektion erhöht und HIV/AIDS Armut verstärkt. Weitere Faktoren, die die Anfälligkeit für eine HIV-Infektion steigern, sind Mobilität, Gender-Ungerechtigkeit, Prostitution, Humanitäre Krisen und Konflikte, Menschenhandel, Drogenkonsum und Homosexualität. Übertragungswege: Der HI-Virus wird durch den Austausch von Körperflüssigkeiten übertragen. Das Übertragungsrisiko bei einem einmaligen Sexualkontakt (vaginal, anal oder oral) beträgt durchschnittlich 0,01%. Das Risiko steigt bei hoher Konzentration von HI-Viren im Blut und bei bereits vorhandenen Geschlechtskrankheiten. 87% aller HIV-Infektionen in Afrika werden durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr verursacht. Ein weiterer, in Afrika bedeutsamer Infektionsweg, ist die Mutter-zu-Kind-Übertragung während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Das Risiko beträgt in Entwicklungsländern und ohne Präventionsmaßnahmen bis zu 30%. Das Virus kann aber auch durch infizierte Bluttransfusionen und durch unsterilisierte medizinische Instrumente übertragen werden.
Unzureichende Reaktionen auf AIDS als Katalysator der Waisenkrise Die Regierung Tansanias reagierte umgehend auf die sich ausbreitende Epidemie; allerdings fehlten bis ins neue Jahrtausend echtes politisches Engagement, finanzielle und personelle Ressourcen und eine effektive Koordination der Maßnahmen. Die Verantwortungsträger stuften HIV/AIDS als rein gesundheitspoliti90
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 1. 91 Vgl. Hales, Augustine, Lifson, Mugusi, Humplick, Stevenson und Barry 2003, S. 5 ff.
2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise
77
sches Problem ein und unterstellten das National AIDS Control Programm (NACP) dem Gesundheitsministerium. Das NACP formulierte einen Kurzzeitplan (1985 - 1986) und drei 5-Jahrespläne (1987 - 1991, 1992 - 1996, 1998 2002), um auf die Epidemie zu reagieren. Ziele dieser Programme bildeten die Prävention neuer Infektionen, Kontrolle der Epidemie und Linderung der Folgen. Die gewünschten Erfolge, die das rasante Ansteigen der Zahl der Waisen hätten verhindern können, blieben weitestgehend aus. 92 Ein Umschwung in der tansanischen AIDS-Politik kam mit der Jahrtausendwende, als der damalige Präsident Mkapa AIDS zu einem nationalen Desaster erklärte. AIDS wurde nicht länger als ein gesundheitspolitisches Problem wahrgenommen, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die soziale, kulturelle und ökonomische Konsequenzen mit sich bringt. Seit dem Haushaltsjahr 2000/2001 stehen umfangreiche Ressourcen zum Kampf gegen die Epidemie bereit. Der Ausschuss „Tanzania Commission for AIDS“ (TACAIDS) wurde 2001 gegründet und erhielt unter anderem die Aufgabe, eine multisektorale AIDS-Strategie zu entwerfen und umzusetzen. 93 Doch nicht nur die Reaktion Tansanias war nicht energisch genug, auch bei der internationalen Gemeinschaft fand HIV/AIDS anfangs nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Erst 1996 wurde UNAIDS, ein Koordinierungsprogramm unter Mitarbeit von mehreren UN-Organisationen, gegründet. Diesem fehlte es, ebenso wie dem NACP in Tansania, an finanziellen Mitteln. Es dauerte bis zur Jahrtausendwende, um HIV/AIDS zu einem Schwerpunkt der UN-Arbeit zu machen. Seit dem Jahr 2000 befasst sich der UN-Sicherheitsrat regelmäßig mit der Thematik und 2001 fand eine Sondergeneralversammlung der UN zur Thematik „HIV und AIDS“ statt. Dort wurde die „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ beschlossen und die Schaffung eines globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria veranlasst.94 Korrelation zwischen der AIDS-Epidemie und der Waisenkrise HIV/AIDS sowie die unzureichende Reaktion auf die Epidemie bilden die Hauptursachen, die in Tansania zu einer Waisenkrise führten. Die Abbildung 7 veranschaulicht, dass die Gründe, die für die schnelle Verbreitung des HI-Virus in Tansania Verantwortung tragen, die gleichen Gründe waren, die eine steigende Zahl verwaister Kinder zu einer Waisenkrise anwachsen ließen: geschwächte 92
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 1 f. 93 Vgl. ebd., S. 2. 94 Vgl. Weinreich und Benn 2003, S. 119 ff.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
öffentliche Dienste, steigende Lebenserhaltungskosten, Modernisierung der Lebensstile und Bedeutungsverlust von traditionellen Werten und Normen. Die folgenden Ausführungen erläutern die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, die sowohl zur Ausbreitung von HIV als auch zur Entwicklung der Waisenkrise beitrugen. Abbildung 7:
Korrelation zwischen der AIDS-Epidemie und der Waisenkrise in Tansania
Gesellschaftliche Bedingungen Bedeutungsverlust traditioneller Werte
HIV/AIDS
Anstieg der Todesfälle in der produktivsten Bevölkerungsgruppe (20 – 49 Jahre)
Zunahme an Mobilität Orientierung am westlichen Lebensstil Fehlendes staatliches Sicherungssystem für bedürftige Kinder
Anstieg der Zahl verwaister Kinder
Abnahme der Zahl potenzieller Betreuer
Waisenkrise Steigende Zahl von Kindern, die durch das familiäre Sicherungsnetz fallen und deren Versorgung nicht gesichert ist
Wirtschaftliche Bedingungen Rückgang der Produktivität und des BIP Überlastung öffentlicher Dienste Überlastung privater Haushalte Steigende Lebenserhaltungskosten
AIDS sucht, anders als andere Krankheiten, seine Opfer nicht bei den Schwachen, also den Alten und den Kindern. Die Übertragungswege haben zur Folge, dass sich in erster Linie sexuell aktive Menschen mit HIV infizieren. Somit traf HIV/AIDS in Tansania die produktivste Bevölkerungsgruppe zwischen 20 und 49 Jahren - die Generation der Eltern und Erwerbstätigen. Als Folge schwächte HIV/AIDS das Land als Ganzes und reduzierte die staatlichen Kapazitäten, die notwendig gewesen wären, um die Folgen der Epidemie aufzufangen. HIV/AIDS führte einerseits zur Überlastung der öffentlichen Dienste und zum Rückgang der Lebenserwartung, der Produktivität und des Bruttoinlandsproduktes und anderer-
2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise
79
seits zum Anstieg der Kindersterblichkeit, der Armut und der Waisenzahlen.95 Darüber hinaus brachte die AIDS-Epidemie eine Überlastung der privaten Haushalte mit sich, da diese die Pflege ihrer Angehörigen übernahmen, unter den Verdienstausfällen kranker Haushaltsmitglieder litten und für die Kosten der medizinischen Versorgung und der Beerdigungen aufkommen mussten. 96 Dementsprechend waren die Kräfte der Haushalte bereits geschwächt, als die ersten Waisen ihre Eltern aufgrund von AIDS verloren. Neben den ökonomischen Bedingungen, die zur Ausbreitung von HIV führten und die Waisenkrise verursachten, kam es auch zu einer wechselseitigen Beeinflussung von gesellschaftlichen Faktoren und der AIDS-Epidemie, die sich wiederum auf die Versorgung verwaister Kinder auswirkte. HIV/AIDS, Migrationsprozesse und europäisch-amerikanische Einflüsse führen zu neuen sozialen Strukturen, wodurch die Bedeutung traditioneller familiärer Werte in Tansania abnimmt. Besonders in den Städten folgen Menschen einem modernen Lebensstil, der negative Konsequenzen für die Versorgung von Waisen mit sich bringt. In urbanen Gebieten ersetzt die Kleinfamilie teilweise das Verwandtschaftsnetz und die soziale Kontrolle sinkt. Menschen, die in der Stadt leben und ihren Lebensunterhalt durch eine Erwerbsarbeit bestreiten, haben in der Regel wenige Kapazitäten für die Aufnahme verwaister Kinder. 97 Die Waisenkrise traf Tansania zu einer Zeit, in der die Kräfte der Familien geschwächt waren und auch der Staat nur über unzureichende Erfahrung verfügte, um Kindern ein soziales Sicherungsnetz zu bieten.98 Die Regierungen in den afrikanischen Ländern reagierten nur langsam auf die Waisenkrise, denn unterschiedliche dringende nationale Aufgaben konkurrierten um die Aufmerksamkeit und die Gelder. Der tansanische Staat übernahm keine Verantwortung für die betroffenen Kinder, da diese traditionell bei der Großfamilie lag und die Waisen durch die Aufnahme bei Verwandten anfangs nicht sichtbar waren. Durch HIV/AIDS wurden Waisen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zu einem flächenübergreifenden Problem, das nicht mehr allein innerhalb der Großfamilie bewältigt werden konnte. 99
95
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 1; Litterell, Thurmann, Chatterji und Brown 2007, S. 12. 96 Vgl. Kaare 2005, S. 1; United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 1. 97 Vgl. Humuliza (Hrsg.) 1999, o. S.; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 21. 98 Vgl. Kaare 2005, S. 1. 99 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 35.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Weitere Ursachen für die Waisenkrise Die vorangegangenen Ausführungen veranschaulichten, dass die Entstehung der Waisenkrise und die Probleme der Waisen in einer engen Beziehung zur AIDSEpidemie stehen. Dies gilt auch für Kinder, die ihre Eltern nicht aufgrund von AIDS verloren haben, da diese Waisen ebenfalls mit den Konsequenzen der AIDS-Epidemie konfrontiert werden. Waisen, deren Eltern an anderen Krankheiten bzw. durch Unfälle starben, leiden genauso unter der reduzierten Zahl potenzieller Betreuer, der Überlastung öffentlicher Dienste und privater Haushalte, dem Wertewandel und Modernisierungsprozessen in der Gesellschaft sowie unter unzureichenden staatlichen Sicherungssystemen. Der Anteil der Kinder, die nicht aufgrund von AIDS zu Waisen wurden, betrug 2007 zwischen 58% und 68% von der Gesamtwaisenzahl. 100 Es existiert keine Statistik, die explizit auf die einzelnen Todesursachen, die für die Verwaisung von Kindern Verantwortung tragen, eingeht. Die WHO veröffentlichte allerdings eine altersunspezifische Statistik zu den zehn wichtigsten Todesursachen im Jahr 2002 in Tansania. HIV/AIDS führt die Statistik an und macht insgesamt 29% aller Todesfälle aus. Gefolgt wird HIV/AIDS von Atemwegserkrankungen (12%), Malaria (10%) und Durchfallerkrankungen (6%). Bei 1.000 Lebendgeburten verlieren durchschnittlich 15 Mütter ihr Leben und somit macht die perinatale Sterblichkeit 4% aller Todesfälle aus. Auf den letzten fünf Plätzen liegen Tuberkulose (3%), zerebrovaskuläre Erkrankungen (3%), Herzerkrankungen (3%), Syphilis (2%) und Verkehrsunfälle (2%).101 2.1.2 Ausmaß der Waisenkrise Ein deutlicher Anstieg der Zahl der Waisen in Tansania während der vergangenen 20 Jahre lässt sich in der Literatur ausmachen. Die einzelnen statistischen Erhebungen weichen allerdings beträchtlich voneinander ab, sodass sich die genaue Entwicklung nicht nachvollziehen lässt.102 Diese Abweichungen lassen
100
Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 40. Vgl. www.who.int/whosis/mort/profiles/mort_afro_tza_tanzania.pdf 22.03.08. 102 Siehe Axios International (Hrsg.) 2001, S. 4: In einem Bericht der Organisation Axios werden Schätzungen des National AIDS Control Program (NACP) wiedergegeben. Demnach gibt NACP für das Ende des Jahres 2001 eine Waisenzahl (ohne Altersangabe) von 1.3 Millionen bekannt und erwartet einen Anstieg auf 2 Millionen bis 2005. Siehe United Republic of Tanzania – Prime Minister’s Office (Hrsg.) 2001, S. 9 und S. 36: Die Regierung Tansanias gibt 2001 in ihrem nationalen Richtlinien zur HIV-Politik bekannt, dass 1999 600.000 Waisen im Land lebten (0-15 Jahre). 101
2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise
81
sich auf die verwendeten Definitionen und die jeweiligen Erhebungsmethoden zurückführen. Zur Erfassung der Waisenzahlen kommen vor allem folgende zwei Erhebungsmodelle zum Einsatz. Zum einen ein Berechnungsmodell, welches die Zahl der Waisen auf Grundlage der Todesrate von Frauen, der Fertilitätsrate und der Säuglings- und Kindersterblichkeit eines Landes kalkuliert, und zum anderen ein statistisches Modell, welches auf Haushaltsbefragungen beruht. Beide Modelle weisen Nachteile auf, die zu Ungenauigkeiten führen. Das Berechnungsmodell ist nicht in der Lage, die Waisenzahlen exakt zu erfassen, da in den afrikanischen Ländern präzise Daten, zum Beispiel zum Tod von Frauen zwischen 15 und 49 Jahren oder zur Fertilitätsrate, nicht vorliegen. Auch Haushaltsbefragungen ermöglichen keine ausnahmslos verlässlichen Daten, da die Befragungen nur Kinder, die in Haushalten leben, erfassen. Straßenkinder und Kinder in Institutionen, die zu den bedürftigsten Kindern zählen und häufig verwaist sind, lassen sich durch diese Form der Datenerhebung in der Regel nicht identifizieren. Entsprechend der Erhebungsmodelle kommen die einzelnen Studien zu unterschiedlichen Waisenzahlen. Die Abbildung 8 soll den Unterschied beider vorgestellten Modelle deutlich machen und einen Einblick in das Ausmaß der aktuellen Situation vermitteln. Die aktuellsten Daten von UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (2009) sprechen von einer Gesamtwaisenpopulation im Jahr 2007 von 2,6 Millionen Kindern, das heißt jedes 8. Kind in Tansania ist verwaist. Von diesen verloren zwischen 850.000 und 1,1 Millionen ein oder beide Elternteile aufgrund von AIDS. Die Waisenpopulation setzt sich aus 1,5 Millionen mütterlichen Waisen 103 und 1,7 Millionen väterlichen Waisen104 zusammen, darunter befanden sich 620.000 Vollwaisen.105 Siehe Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) 2002, S. 148: Die Friedrich-Ebert-Stiftung zitiert in ihrem politischen Handbuch für Tansania Zahlen des National AIDS Control Program (NACP), welche davon ausgehen, dass 1995 200.000 „AIDS-Waisen“ im Land lebten. Siehe Rau 2002, S. 43: Rau erklärt, in einem 2002 erschienenen Dokument der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO), dass die Zahl der Waisen (0-14 Jahre) in Tansania eine Zahl von 1.65 Millionen erreicht hat und 11% aller Kinder betrifft. Siehe Whitehouse 2002, S. 8: Whitehouse nennt eine Zahl von 667.000 verwaisten Kindern (0-14 Jahre) für das Jahr 1999. Siehe Denmark – Ministry of Foreign Affairs Denmark und Danida (Hrsg.) 2004, S. 7: Die staatliche dänische Entwicklungsorganisation Danida erklärt in einem Bericht von 2004, dass es in Tansania nur 810.000 Kinder (0-14 Jahre) gibt, die ihre Eltern durch AIDS verloren haben. Im selben Bericht wird die Zahl aller Waisen unter 18 Jahren auf 2 Millionen geschätzt. Siehe United Republic of Tanzania – TACAIDS (Hrsg.) o. J., S. 5: Die tansanische Kommission für AIDS (TACAIDS) gibt in einem Bericht an, dass die Zahl der „AIDS-Waisen“ (ohne Altersangabe) bereits am Ende des Jahres 2004 mehr als 2 Millionen betrug. 103 Mütterliche Waisen sind Kinder, die die Mutter oder beide Elternteile verloren haben. 104 Väterliche Waisen sind Kinder, die den Vater oder beide Elternteile verloren haben. 105 Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 40.
82 Abbildung 8:
2 Die Waisenkrise in Tansania
Waisenpopulation (0-14 Jahre) als Anteil von allen Kindern in Prozent
Zukunftsprognosen Die Entwicklung der Waisenzahlen hängt von mehreren Faktoren ab. Grundsätzlich gilt: Die Anzahl der Waisen sinkt, sobald die Zahl der Waisen, die 18 Jahre alt werden bzw. sterben, größer ist als die Zahl der Kinder, die erstmalig ein Elternteil verlieren. Steigende Waisenzahlen können auch auf einem starken Bevölkerungswachstum beruhen und müssen nicht zwangsläufig auf steigende Todesraten zurückzuführen sein. 106 Die Zukunftsprognosen hinsichtlich der Entwicklung der Waisenzahlen und des Anteils der Waisen an allen Kindern in Tansania widersprechen einander. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Erhebung der Waisenzahlen und der Formulierung von Prognosen lässt sich nicht eindeutig klären, welche Aussagen sich letztendlich bewahrheiten werden. Einige Wissenschaftler erwarten einen weiteren Anstieg der Waisenpopulation in Tansania. Fox (2001) spricht von einem Anstieg auf 4,2 Millionen Waisen bis zum Jahr 2010. 107 UNICEF (2004) gibt gemeinsam mit UNAIDS und USAID in ihrer Reihe „Children on the Brink“ eine Schätzung für das Jahr 2010 106 107
Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2006, S. 4 f. Vgl. Fox 2001, S. 26.
2.1 Ursachen und Ausmaß der Waisenkrise
83
heraus, in der sie mit einer Zunahme der Waisenzahl auf 2,9 Millionen Kinder (15% aller Kinder) rechnen. 108 Die Annahme der steigenden Waisenzahlen wird mit der Entwicklung der HIV-Epidemie begründet. Selbst bei stabiler oder sinkender Infektionsrate in einem Land steigt die Waisenzahl oder stagniert zumindest für einige Jahre auf hohem Niveau. Der Grund dafür liegt im Zeitfenster zwischen Infektion und Tod des Infizierten, welches circa zehn Jahre beträgt.109 Als Referenz gilt Uganda, denn dort erreichte die HIV-Infektionsrate bereits Ende der 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Durch zeitige und effektive Interventionen sank die Rate in den folgenden Jahren rasant und erreichte 2001 5%. Die Zahl der Waisen stieg weiter an und begann erst nach 2001, langsam zu sinken. 110 Aus anderen Veröffentlichungen lässt sich die Vermutung ableiten, dass die Waisenkrise ihren Höhepunkt bereits erreicht hat. Die Ergebnisse der amtlichen Haushaltsbefragung von 2003/2004 zeigen, dass der Anteil der Waisen im Vergleich zu 2002 konstant blieb. Die Erhöhung von 9% auf 11% lässt sich durch die Anhebung der Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre erklären. Bei einer Bereinigung der Statistik beträgt der Anteil der 0- bis 14-jährigen Waisen weiterhin 9%. Der Anteil der Waisen an der Gesamtkinderpopulation nahm demnach nicht zu.111 Als zentrale Faktoren für die Entwicklung der Waisenzahlen gelten die Ausbreitung bzw. Reduzierung von HIV-Infektionen im Land und der Zugang zu lebensverlängernden Medikamenten, das heißt einer ARV-Therapie112. In Tansania lassen sich in beiden Bereichen positive Tendenzen verzeichnen. Die HIVInfektionsrate in der relevanten Bevölkerungsgruppe der 15- bis 49-Jährigen sinkt seit 1997 beständig und erreichte 2007 6,2%. Aufgrund des Bevölkerungswachstums steigt allerdings die absolute Zahl der HIV-infizierten Personen weiter leicht an. Insgesamt lebten 2007 in Tansania 1,3 Millionen Menschen über 15 Jahren mit dem Virus. Dies waren 100.000 mehr als im Jahr 2001. Der bestimmende Einflussfaktor für die Verwaisung von Kindern liegt allerdings nicht in der Zahl der Menschen, die das HI-Virus in sich tragen, sondern in der Zahl der 108
Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, Appendix I. Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2006, S. 8 f. 110 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 10. 111 Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 14. 112 Siehe www.thebody.com/content/treat/art6114.html 21.10.08: ARV (Anti-Retroviral) sind Medikamente, welche die Ausbreitung von HIV im Körper verlangsamen. Die Medikamente töten den HIVirus nicht, können aber das Immunsystem über lange Zeit stabilisieren. Das größte Problem bei der Behandlung ist die Mutation des HI-Virus im Körper, die zu einer Resistenz des Virus gegenüber einem Medikament führen kann. Um das Auftreten von Resistenzen herauszuzögern, wird in der Regel eine Kombination aus drei unterschiedlichen ARV-Medikamenten empfohlen. 109
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Todesfälle, die sich auf AIDS zurückführen lassen. Aufgrund der Ausweitung des Zugangs zu einer Behandlung mit ARV lassen sich in diesem Bereich positive Tendenzen verzeichnen. Seit dem Jahr 2004, in dem mehr als 120.000 Menschen an den Folgen ihrer HIV-Infektion starben, zeigen sich deutliche Fortschritte. Bis zum Jahr 2007 reduzierten sich die Todesfälle auf circa 96.000 Personen pro Jahr.113 Die positiven Tendenzen im Bereich HIV/AIDS werden die Entwicklung der Waisenkrise nachhaltig beeinflussen. Die Versorgung eines Patienten mit ARV kann häufig die Verwaisung mehrerer Kinder verhindern. Viele Eltern bekommen mithilfe einer ARV-Therapie die Chance, ihre Produktivität zu erhalten und ihre Kinder zumindest bis zur Volljährigkeit zu begleiten. Burkhardt (2006) berichtet, dass das Waisenprojekt HUYAMWI bereits im Jahr 2006 einen positiven Trend in der Zahl neuer Waisen feststellte, welcher sich auf den kostenlosen Zugang zur Behandlung mit ARV zurückführen lässt.114 Allerdings wird auch die Einbindung aller HIV-infizierten Patienten in eine ARV-Therapie nicht zu einem drastischen Rückgang der Waisenzahlen führen. Verwaisung ist nicht reversibel; bereits verwaiste Kinder werden dies per Definition bis zur Volljährigkeit bleiben. Darüber hinaus stellt AIDS nur eine Ursache für Verwaisung dar. Der Zugang zu ARV und die Reduzierung der HIVInfektionsrate können Kinder, deren Eltern durch andere Krankheiten oder Unfälle sterben, nicht vor der Verwaisung schützen. 2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise Tansania verpflichtete sich im Rahmen der „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ im Jahr 2001, sich aktiv für die Bekämpfung der AIDSEpidemie sowie für die Bearbeitung der sozialen Folgen von HIV/AIDS einzusetzen. Diese Verpflichtung beinhaltete konkrete Ziele in der Bewältigung der Waisenkrise. Demnach stimmte Tansania zu, entsprechend der globalen Ziele bis zum Jahr 2003 nationale Richtlinien und Strategien zu entwickeln und diese bis 2005 umzusetzen, um staatliche, familiäre und kommunale Kapazitäten für Waisen aufzubauen und zu stärken. Die Ausführungen konkretisieren die Ziele hinsichtlich der Bedürfniserfüllung der Waisen folgendermaßen: „die Bereitstellung angemessener Beratungsangebote und psychosozialer Unterstützung; die Sicherstellung des Schulbesuches und Zugang zu Obdach, guter Ernährung, medizinischer und sozialer Dienstleistungen auf einer gleichberechtigten Basis mit anderen Kindern“ (United Nations (Hrsg.) 2001, S. 29/Übersetzung durch Verf.). 113 114
Vgl. UNAIDS, UNICEF und WHO (Hrsg.) 2008, S. 4 f. Vgl. Burkhardt 2006, S. 38.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
85
Die Vertragsstaaten verpflichteten sich darüber hinaus, Waisen vor allen Formen des Missbrauchs sowie vor Gewalt, Ausbeutungen und Diskriminierung zu schützen und sicherzustellen, dass die betroffenen Kinder ihr Erbe nicht verlieren und nicht zu Opfern des Menschenhandels werden.115 Da sich Tansania als Staat nicht in der Lage befindet, diese Zusagen alleine umzusetzen, baut die Regierung in der Bewältigung der Waisenkrise auf verschiedene Akteure. 116 Die unterschiedlichen Akteure, die zur Umsetzung der globalen Ziele, so wie sie in der „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ formuliert wurden, bewusst oder unbewusst beitragen, stellt die Autorin in den folgenden Ausführungen vor. 2.2.1 Waisen Die lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt darauf ab, den Menschen zu befähigen, sich als Subjekt in seiner Lebenswelt zu erfahren. 117 In diesem Sinne stellen Waisen die ersten und wichtigsten Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise dar. Sie selbst haben die Fähigkeit, ihre Situation zu beeinflussen. Die Kraft der Waisen, ihre Lebenswelt aktiv mitzugestalten, wird bisher in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Waisenkrise häufig übersehen. In der Literatur finden sich kaum Untersuchungen zu den Ressourcen und Bewältigungsstrategien der Waisen. Wenig scheint darüber bekannt zu sein, auf welche Weise die verwaisten Kinder selbst dazu beitragen, mit der veränderten Lebenssituation zurechtzukommen und eine positive Zukunftsperspektive zu entwickeln. Besonders auf die Frage, warum es unter vergleichbaren Voraussetzungen einigen Kindern gelingt, den Verlust ihrer Eltern zu verarbeiten, während andere Waisen psychische Probleme entwickeln und in ihrer Trauer gefangen bleiben, fehlt eine befriedigende Antwort. In diesem Bereich besteht weiterhin ein Bedarf für wissenschaftliche Untersuchungen, um mit Unterstützungsangeboten für Waisen an ihre Ressourcen anzuknüpfen und ihre Kapazitäten zu nutzen. Resilienz Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, Entwicklungsaufgaben, alltägliche Belastungen und Lebenskrise zu bewältigen, ohne langfristige Beeinträchtigungen davonzutragen. Diese Fähigkeit beruht zum einen auf Faktoren, die im Kind angelegt 115
Vgl. United Nations (Hrsg.) 2001, S. 29. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 11. 117 Vgl. Thiersch 2002, S. 38. 116
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2 Die Waisenkrise in Tansania
sind, und zum anderen auf erlernte Verhaltensmuster. Menschen mit einer hohen Resilienz befinden sich in der Lage, auf wechselnde Anforderungen flexible zu reagieren und aktive Bewältigungsstrategien zur Verbesserung ihrer Situation einzusetzen. 118 Auch wenn die Resilienz von Waisen noch ausführlich untersucht werden muss, lässt sich bereits jetzt feststellen, dass viele verwaiste Kinder in Tansania einen hohen Grad an Belastbarkeit und Widerstandskraft aufweisen. Sie übernehmen eigenständig Verantwortung für tägliche Aufgaben und tragen bei Bedarf zum Haushaltseinkommen bei (Kap. 3.1.1). Sie suchen aktiv emotionale Unterstützung in Beziehungen zu Geschwistern und anderen überlebenden Haushaltsmitgliedern und zeigen sich sehr flexible, wenn es darum geht, Situationen, in denen sie Misshandlungen ausgesetzt sind, auszuweichen (Kap. 3.2.3). Viele Heranwachsende suchen selbstständig nach alternativen Betreuungsarrangements in der Verwandtschaft und Gemeinde. Andere gehen nach Erfahrungen von Vernachlässigung oder Missbrauch auf die Straße, um dort eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten. Dabei bringen die betroffenen Kinder unterschiedlichste Problemlösungskompetenzen ein; sie bauen wichtige soziale Netzwerke zu anderen Gleichaltrigen auf und erwirtschaften ihren eigenen Lebensunterhalt.119 Kindern, denen erwachsene Vertrauenspersonen fehlen, finden häufig bei Gleichaltrigen Halt und Schutz. Waisen dienen sich untereinander als Quelle emotionaler Unterstützung, da sie auf vergleichbare Erfahrungen zurückblicken. Verwaisten Kindern fällt es meist einfacher, sich Gleichaltrigen anzuvertrauen, die ebenfalls Verluste erlebt haben. Aufgrund der hohen Anzahl von Waisen in den Gemeinden lassen sich die Heranwachsenden zur gegenseitigen Unterstützung mobilisieren. Neben dem emotionalen Beistand bietet eine solche Gruppe von Waisen ein soziales Netzwerk, welches in Notsituationen Hilfe leisten kann und Sicherheit vor gewalttätigen Übergriffen gewährt.120 Modifizierung der traditionellen Rolle von Kindern Die Bewältigungsmuster, welche verwaiste Kinder entwickeln, um ihre materiellen und emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, fordern von den Kindern eine Modifizierung ihrer traditionellen Rolle. Waisen, die für sich selbst Verantwortung tragen und teilweise zusätzlich die Versorgung von Geschwistern, kranken Elternteilen oder alten Großeltern übernehmen, müssen eigenverantwortliche 118
Vgl. Ettrich und Ettrich 2006, S. 45. Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review 7/1997, S. 408 f; Snider und Dawes 2006, S. 15; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 120 Vgl. Fox 2001, S. 39 ff.; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 119
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
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Entscheidungen treffen und Handlungsinitiative zeigen. Dies widerspricht dem traditionellen Konzept von Kindheit in Tansania, welches von Kindern mithilfe im Haushalt und in der Landwirtschaft erwartet, aber Eigeninitiative und selbstständige Entscheidungsfindung unterdrückte. Kinder in Tansania werden zu Gehorsam und Respekt gegenüber Älteren erzogen. Sie holen Wasser, weil dies zu ihren Aufgaben zählt, und sie kümmern sich um die Ziegen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Waisen, die ohne Eltern zurückbleiben oder sich in der Verantwortung für jüngere Geschwister bzw. kranke oder alte Personen finden, müssen eigene Problemlösungsstrategien entwickeln und umsetzen. Die Lebensumstände fordern von den Kindern neue Fertigkeiten, aber auch ein verändertes Selbstverständnis. Die Diskrepanz zwischen ihrer traditionellen Rolle und den Anforderungen aufgrund der spezifischen Situation, in der sie sich befinden, kann beim sozialen Umfeld der Kinder Unverständnis und sogar Missbilligung auslösen. Die Gesellschaft benötigt noch Zeit, ihr Bild von Kindheit zu reformieren und die veränderten Rollen von Waisen zu akzeptieren. 121 2.2.2 Familiensysteme Die Verwandtschaft (extended family) bildet das traditionelle Auffangnetz für Waisen in Tansania und anderen afrikanischen Staaten. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung fragte die Autorin, welche Traditionen sich förderlich bzw. nachteilig auf die Versorgung der Waisen in Tansania auswirken. 88% (n = 26) der Befragten nannten die familiäre Verantwortung für verwaiste Angehörige als wichtigste positive Tradition. Nach dem Tod eines oder beider Elternteile kommt in der Regel die Verwandtschaft zusammen und trifft gemeinsam alle notwendigen Entscheidungen zum Verbleib der Kinder. Adolf Mrema, der für die Organisation Southern African AIDS Trust (SAT) arbeitet, erklärt dieses Vorgehen: „Wenn die Eltern sterben, gibt es hier ein sogenanntes Clantreffen, wo sie Folgendes besprechen: „Okay, die Eltern sind gestorben, sie haben drei Kinder hinterlassen. Wie werden wir für diese Kinder sorgen? Wen gibt es innerhalb des Clans, der die Kinder versorgen wird?““ (Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die traditionelle Pflicht und der damit verbundene soziale Druck stellen weiterhin die wichtigste Motivation für die Aufnahme von Waisen durch Familienangehörige dar.122
121
Vgl. Humuliza (Hrsg.) 1999, o. S.; Fox 2001, S. 64. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 26; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in 122
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Familie im Zentrum lokaler, nationaler und internationaler Strategien Strategien der tansanischen Regierung und internationaler Organisationen zur Bewältigung der Waisenkrise sowie die Programme lokaler Hilfsorganisationen greifen diese afrikanische Tradition auf. Die Betreuung von Waisen in ihrer Familie oder zumindest in einem familiären Umfeld innerhalb der Gemeinde, beispielsweise durch nichtverwandte Pflegeeltern, wird als beste Versorgungsmöglichkeit für Waisen betrachtet und als solche empfohlen: 123 “Im Afrika südlich der Sahara ist die Großfamilie die erste und wichtigste Unterstützungsquelle für von HIV und AIDS betroffene Haushalte, inklusive solcher mit verwaisten Kindern. Die Stärkung der Kapazitäten der Großfamilie, für ihre Kinder zu sorgen und sie zu schützen, muss im Zentrum jeder Strategie zur Reaktion auf die Waisenkrise stehen.“ (UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38/Übersetzung durch Verf.). „Die Unterstützung und der Schutz der am stärksten gefährdeten Kinder in einem familiären Umfeld stellt die beste Möglichkeit zur optimalen Entwicklung des Kindes dar.“ (United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 25/Übersetzung durch Verf.). „Kinder werden am besten in Familien versorgt. Wir finden, dass besonders im afrikanischen Kontext die Verwandtschaft der beste Platz ist.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). UNICEF zeigt sich federführend bei der Entwicklung von Strategien zur Bewältigung der Waisenkrise (Kap. 2.2.5). In unterschiedlichen Publikationen betont die Organisation immer wieder, dass der Ausbau der familiären Kapazitäten zur Versorgung der Waisen an erster Stelle entsprechender Hilfsmaßnahmen stehen muss.124 UNICEF (2004) stellen darüber hinaus fest, dass die Familie nicht nur das Recht hat, Waisen zu versorgen, sondern auch die primäre Pflicht, sich um Bagamoyo, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 123 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38; Weinreich und Benn 2003, S. 52; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 25; Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 124 Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 13; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 17; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 22; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2005, S. 17.
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verwaiste Angehörige zu kümmern. Es ist die Aufgabe der Angehörigen dieser Verantwortung nachzukommen, bevor sie andere Möglichkeiten der Versorgung in Anspruch nehmen. 125 Betreuer von Waisen Die Waisenkrise führt zu einer Belastung des traditionellen Auffangnetzes. Der Wunsch, verwaisten Kindern innerhalb der Verwandtschaft ein neues Zuhause zu geben, und der soziale Druck durch die Traditionen sind in Tansania sehr groß. Allerdings gefährden die steigende Zahl der Waisen und gesellschaftliche Umbrüche das traditionelle Fürsorgesystem zunehmend. Die Bereitschaft und Möglichkeiten der Haushalte, Waisen aufzunehmen und zu versorgen, sinken: „Das Problem ist nicht, dass die Kinder niemanden haben, der sie betreuen würde, das Problem kommt mit der Armut.“ (Interview mit L. Kikoyo am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Als Folge verschieben sich die Verantwortlichkeiten innerhalb der Großfamilie. Der Automatismus der Fürsorge entwickelt sich innerhalb der Verwandtschaft zu einem Diskussionspunkt. Dies führt zur Gründung von Kinderhaushalten und zur Überalterung der Betreuungspersonen von Waisen. 126 Dies bedeutet nicht, dass die Betreuer von Waisen von anderen Familienmitgliedern keine Unterstützung bei der Versorgung der Kinder in Form von Geld oder Nahrungsmitteln erhalten. 127 Insgesamt lässt sich feststellen, dass das traditionelle familiäre Auffangnetz immer noch in den meisten Fällen funktioniert, auch wenn sich die Verantwortung innerhalb der Großfamilie verschiebt. Coury und Subbarao (2004) berichten, dass 95% aller Waisen im ländlichen Tansania von Angehörigen versorgt werden. Die übrigen 5% finden Aufnahme bei nichtverwandten Gemeindemitgliedern. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil lebt in Institutionen oder auf der Straße.128 Und auch Kinder, die scheinbar durch das verwandtschaftliche Netz fallen und auf der Straße leben, halten häufig den Kontakt zu ihren Familienangehörigen. 129 „Viele Kinder, die man auf der Straße findet, gehen letztend125
Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 13. Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 21; Weinreich und Benn 2003, S. 50; Monasch und Boerma in AIDS 6/2004, S. 60; Monk o. J., S. 13. 127 Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 24; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania. 128 Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 26. 129 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 15; Interview mit Johnson M. am 20.06.07 in Mwika, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 und 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 20.06.07 in der Region Kilimanjaro, Tansania. 126
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lich in der Nacht nach Hause. Was immer Zuhause bedeutet; es könnte eine Großmutter sein, es könnte der Boden in der Hütte der Großmutter sein.“ (Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bei der Betrachtung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Waisen und den Vorständen der Haushalte, in denen sie leben, lässt sich ablesen, wer in Tansania die Verantwortung für verwaiste Kinder übernimmt. Die folgende Grafik (Abb. 9) stellt die Ergebnisse der Befragung von 97 Waisen durch die Autorin dar: Abbildung 9:
Haushaltsvorstand von Waisen
In der nachfolgenden Grafik liegt der Fokus auf Vollwaisen und Halbwaisen, die nicht beim überlebenden Elternteil wohnen (Abb. 10). Dazu stellt die Autorin eigene Daten denen von UNICEF (2003) gegenüber. Die Darstellung zeigt deutlich die Rolle der Großeltern. Der Anteil der verwaisten Kinder, die mit ihren Geschwistern leben, scheint seit der Untersuchung von UNICEF (2003) gestiegen zu sein. Die Stichprobe der Autorin (n = 52) ist allerdings auf einzelne Regionen Tansanias begrenzt und nicht umfangreich genug, um daraus zu schließen, dass Geschwister eine zunehmend wichtigere Rolle in der Versorgung spielen und die Bedeutung anderer Verwandter abnimmt. Weitere Untersuchungen wären hierzu nötig.
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Abbildung 10: Haushaltsvorstand von Vollwaisen und Halbwaisen, die nicht beim überlebenden Elternteil wohnen
Überlebendes Elternteil Nach dem Tod eines Elternteils übernimmt in der Regel erst einmal das überlebende Elternteil die Versorgung der verwaisten Kinder. Bei der Befragung von Halbwaisen (n = 54) durch die Autorin gaben 80% der Halbwaisen ohne Mutter an, dass sie beim Vater leben, während 84% der Halbwaisen ohne Vater von der Mutter versorgt wurden. Die Übernahme von wirtschaftlicher Verantwortung durch Frauen sowie die Übernahme von erzieherischer Verantwortung durch Männer führte zur Modifizierung des Rollenverständnisses von Männern und Frauen in den Familien und der Gesellschaft. Frauen müssen nach dem Tod und während der Krankheitsphasen ihrer Männer eigenständig das Haushaltseinkommen erwirtschaften und die Versorgung abhängiger Haushaltsmitglieder übernehmen. Dies bedeutet, dass Männer ihre Funktion als Alleinverdiener verlieren und die soziale Akzeptanz von alleinerziehenden Frauen steigt. Männer übernehmen andererseits in vielen Fällen nach dem Tod ihrer Frauen die Rolle der Mutter und damit verbundene Aufgaben der Kindererziehung und des Haushalts, welche traditionell in den Händen der Frauen der Familie lagen. 130
130 Vgl. Humuliza (Hrsg.) 1999, o. S.; Tumushabe 2005, S. 4; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 09.05.07 in der Region Mara, Tansania.
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Großeltern als Betreuer von Waisen In Tansania übernehmen zunehmend die Großeltern die Verantwortung für Waisen.131 Smart Daniel, der für die Organisation HelpAge International in Tansania arbeitet, berichtet von der Bedeutung der Großeltern in der Waisenkrise: „Ein alter Mensch wird nicht Nein sagen, wenn es darum geht, seine oder ihre Enkel zu versorgen, egal ob er die Möglichkeit hat oder nicht. […] Nach meinem Tod werden meine Kinder zu den Älteren abgeschoben, in einem Alter, wenn eigentlich sie selbst versorgt werden sollten. Wir sehen in unterschiedlichen Studien, dass mehr als die Hälfte aller Waisen [die nicht beim überlebenden Elternteil leben] von alten Menschen betreut wird.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Traditionell ist die ältere Generation auf die Hilfe ihrer eigenen Kinder angewiesen, da weniger als 5% der alten Menschen eine Rente erhalten. Das familiäre Sicherungsnetz für alte Menschen bricht aufgrund der AIDS-Epidemie weg, stattdessen tragen sie die Verantwortung für ihre Enkel. Durch die hohe Todesrate in der mittleren Generation kommt es zu Veränderungen im familiären Unterstützungssystem; ein neuer Generationenpakt zwischen Alten und Jungen entsteht (Abb. 11). 132 Abbildung 11: Veränderungen im familiären Unterstützungssystem nach dem Tod der mittleren Generation
Großeltern
Großeltern
Eltern
Gegenseitige Unterstützung
Kinder
Kinder
Für Großeltern erweisen sich die verwaisten Enkel als wichtige Ressource im Alltag und bei der Erwirtschaftung eines Einkommens. „Viele von ihnen [den Waisen], eine große Anzahl von ihnen, lebt bei den Großeltern. Wenn die Großeltern nicht die Kraft haben, zu arbeiten, kein Geld haben, gar nichts haben, 131
Vgl. Nyangara 2004, S. 23 f.; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 10. Vgl. Ainsworth und Dayton 2001, S. 1; Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam,Tansania. 132
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dann sind sie abhängig davon, dass die Kinder auf dem Feld arbeiten.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Enkel wiederum erfahren von den Großeltern emotionalen Beistand und bekommen von ihnen praktische Fertigkeiten sowie traditionelles Wissen vermittelt. Auf diese Weise entsteht ein System gegenseitiger Unterstützung, welches die Abwesenheit der eigenen Kinder bzw. Eltern ausgleicht.133 Andere Verwandte als Ersatzeltern Traditionell kümmerten sich die Geschwister der Eltern um die Versorgung ihrer verwaisten Neffen und Nichten. Nach dem Tod eines Mannes übernahm ein Bruder im Rahmen einer Levirat-Beziehung die Verantwortung für die Witwe und die Kinder (Kap. 3.1.1).134 Auch linguistisch lässt sich die Bedeutung der Geschwister der Eltern erklären. Auf Kisuaheli, die Sprache, die im gesamten Land gesprochen wird, heißt Mutter mama und Vater baba. Aber auch andere Verwandte werden mit mama und baba bezeichnet. Die Begriffe „mama mdogo“ und „mama mkubwa“ bedeuten wörtlich übersetzt „kleine Mutter“ und „große Mutter“; sie stehen für die jüngeren und älteren Schwestern der Mutter. Auch die Brüder des Vaters, also die Onkel eines Kindes, werden baba mdogo und baba mkubwa genannt. Ein Kind verfügt also über mehrere „Mütter“ und „Väter“, welche traditionell die Rolle der biologischen Eltern übernehmen, wenn diese sich dazu nicht in der Lage befinden. Geschwisterliche Verantwortung Neben der Überalterung der Betreuungspersonen bilden auch Kinderhaushalte ein neues Phänomen. Haushalte, die ausschließlich aus Minderjährigen bestehen, entstanden im Zuge der Waisenkrise und waren in Afrika bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt.135 Von den ersten Kinderhaushalten auf dem afrikanischen Kontinent wurde in den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus Uganda und Tansania berichtet.136 Da die AIDS-Epidemie vor allem die mittlere Generation trifft, bleiben aus Mangel an geeigneten Betreuungspersonen minder-
133
Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 14. Vgl. Dilger 2005, S. 119 ff. Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 24; Weinreich und Benn 2003, S. 50; Foster in Pharoah (Hrsg.) 2004, S. 71. 136 Vgl. Coury und Subbarao 2004, S. 42. 134 135
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jährige Geschwister nach dem Tod der Eltern allein zurück. 137 Im gesamten Land und vor allem in den Regionen, die besonders schwer unter der AIDSEpidemie leiden, kommt es zur Gründung von Kinderhaushalten: „Kinder versorgen sich selbst in Kinderhaushalten.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Während der Hausbesuche der Autorin bei betroffenen Familien zeigte sich, dass nicht nur minderjährige Kinder alleine zusammenleben. Vor allem ältere, bereits volljährige Geschwister übernehmen nach dem Tod der Eltern die Verantwortung für Brüder und Schwestern. Sie nehmen diese in ihrem eigenen Haushalt auf, kehren wieder ins Elternhaus zurück oder sie bleiben bei den Geschwistern und verzichten auf die Gründung einer eigenen Familie. 138 Aufnahme nichtverwandter Kinder Eine weitere Praxis, die Aufnahme von nichtverwandten Kindern, entwickelte sich im Zuge der Waisenkrise. Die Verantwortungsübernahme für Kinder, zu denen keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen, war ursprünglich unbekannt. Menschen fühlten sich in der Regel nur für verwandte Kinder verantwortlich und da jedes Kind auf ein großes familiäres Netzwerk zurückgreifen konnte, bestand für die Aufnahme nichtverwandter Kinder keine Notwendigkeit. Im Zuge der Waisenkrise stieg der Anteil von Waisen, die bei Personen leben, zu denen sie keine verwandtschaftliche Beziehung haben, deutlich an. Die Überlastung der Großfamilien durch die AIDS-Epidemie schaffte eine gesellschaftliche Notwendigkeit für diese bis dahin unübliche Praxis. Vor allem Vollwaisen finden bei Nachbarn oder Freunden der Eltern ein neues Zuhause. Der Anteil von Vollwaisen im Alter von 0 bis 14 Jahren, die bei nichtverwandten Betreuern leben, verdoppelte sich innerhalb von sieben Jahren von 2,1% (1992) auf 4,2% (1999).139 2.2.3 Zivilgesellschaft Das Ausmaß der Waisenkrise führt zur Überlastung privater Haushalte. Damit diese weiterhin ihre Rolle hinsichtlich der Versorgung und Integration verwaister Kinder erfüllen können, benötigen sie externe Unterstützung. Unterschiedlichste 137
Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 17. Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 24.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 und 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania. 139 Vgl. Nyangara 2004, S. 24 ff. 138
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zivilgesellschaftliche Akteure versuchen, diese Hilfe zu leisten und den Familien einen Teil der Last abzunehmen. Gleichzeitig kommt diesen Akteuren eine Vermittlerrolle zu: „Sie sollten wie eine Verbindungsperson zwischen Regierung und den Kindern sein; den Kindern helfen, ihre Rechte zu bekommen.“ (Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Zivilgesellschaft erfüllt dementsprechend zwei Funktionen in der Bewältigung der Waisenkrise; zum einen die des direkten Unterstützers, indem sie materielle und psychosoziale Hilfe anbieten, und zum anderen die des Fürsprechers der Waisen, indem sie Aufklärung und Lobbyarbeit betreiben. Zivilgesellschaft in Tansania Die Zivilgesellschaft gilt neben den staatlichen Organen und der Privatwirtschaft als dritter Sektor eines Landes; wobei die Medien aufgrund ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben zunehmend als vierter Sektor bezeichnet werden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist in Tansania von einer hohen Diversität geprägt, die sich in der Vielfältigkeit der Akteure widerspiegelt. Neben Gewerkschaften und einigen großen Organisationen, denen durch die Unterstützung internationaler Geber ein umfangreiches Budget zur Verfügung steht, existiert eine Vielzahl von kleinen Nichtregierungsorganisationen (NGOs – nongovernmental Organisations), informellen Initiativen oder engagierten Personen, die sich für die Beseitigung lokaler Probleme einsetzen. Während die großen Organisationen gut bezahlte Arbeitsplätze bieten und ihnen umfassende technische, personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen, beruhen lokale Initiativen auf der ehrenamtlichen Unterstützung und den materiellen Beiträgen ihrer Mitglieder. Diesen lokalen Organisationen und Gruppen kommt, neben dem traditionellen familiären Auffangnetz, eine wesentliche Bedeutung bei der sozialen Absicherung der Bevölkerung zu. 140 Obwohl in Tansania eine lange Tradition von Selbsthilfegruppen, Spargruppen141 und informellen sozialen Unterstützungssystemen existiert, ist die Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft noch nicht abgeschlossen. Der dazu 140
Vgl. Haapanen (Hrsg.) 2007, S. 5. Siehe Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania: Rotationssysteme und Spargruppen ermöglichen ihren Mitgliedern, Investitionen in kleine Geschäfte zu tätigen oder ihren Besitz zu steigern. In Spargruppen treffen sich beispielsweise Mitglieder regelmäßig, um kleine Beträge in eine gemeinsame Kasse einzuzahlen, aus der sie nach einer gewissen Zeit einen größeren Betrag erhalten. Ein ähnliches System existiert zur Anschaffung von Haushaltsgegenständen. Die Gruppen basieren auf der Idee, dass jede Person über kleine Geldbeträge verfügt, es aber ein Problem darstellt, über längere Zeit eine größere Summe anzusparen. 141
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notwendige Prozess verläuft in drei Phasen. In der ersten Phase, in der sich Tansania zurzeit befindet, kommt es zu einer Gründungswelle von Gruppen und Organisationen, die zivilgesellschaftliche Ziele verfolgen. In der zweiten Phase erfolgt die Konsolidierung. Während einige Organisationen expandieren und Strukturen aufbauen, die ihnen die Umsetzung ihrer Ziele ermöglichen, verlieren andere Initiativen im Laufe der Zeit an Bedeutung und verschwinden wieder. Neben dem Ausbau zivilgesellschaftlicher Initiativen bedarf es der Anerkennung des dritten Sektors durch den Staat. Erst eine funktionierende Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren ermöglicht, dass die Zivilgesellschaft ihre Kapazitäten voll ausschöpfen kann und somit die dritte Phase, die Phase des Einflusses, erreicht. In dieser Phase beteiligt sich die Zivilgesellschaft an wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen und trägt ihren Teil zur gesellschaftlichen Entwicklung bei. 142 Die Gründe, die dafür Verantwortung tragen, dass sich der dritte Sektor in Tansania noch in der Entstehensphase befindet, liegen vor allem in den politischen Bedingungen nach der Unabhängigkeit. Während des Einparteiensystems von Nyerere gewährte der Staat der Zivilgesellschaft in Tansania nur bedingte Entfaltungsmöglichkeiten, da die sozialistische Regierung politische Aktivitäten fürchtete und zivilgesellschaftliches Engagement innerhalb der staatlichen Strukturen stattfinden sollte. Neben informellen lokalen Gruppen, beispielsweise Spargruppen, erlaubte der Staat nur religiöse und karitative Betätigungen, die keine politische Absicht verfolgten und mit den staatlichen Zielen nicht interferierten. In den 1980er Jahren sah sich der Staat aufgrund von Strukturanpassungsmaßnahmen143 und wirtschaftlicher Schwierigkeiten nicht mehr in der Lage, grundlegende soziale Dienstleistungen bereitzustellen. Als Folge begannen die staatlichen Autoritäten, freies zivilgesellschaftliches Engagement zuzulassen. Zeitgleich kam es zu einer wachsenden Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen durch ausländische Geber, die sich von staatlichen Organisationen und Strukturen aufgrund deren unzureichenden Leistungsfähigkeit abwandten. Beide Faktoren führten zu einer starken Zunahme zivilgesellschaftlicher Initiativen. Inzwischen erwartet der Staat von der Zivilgesellschaft die Übernahme zentraler Aufgaben, um geplante Entwicklungsziele zu erreichen, und internationale Or-
142
Vgl. Lange, Wallerik und Kiondo 2000, S. 1 ff. Siehe Meredith 2006, S. S. 373: Gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfond führte die Regierung Tansanias in den 1980er und 1990er Jahren Strukturanpassungsmaßnahmen durch. Diese forderten von den Menschen mehr Selbstbeteiligung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen. Die Haushaltskonsolidierung ermöglichte Tansania den Weg aus der Schuldenspirale, da sie die Grundlage für den späteren Schuldenerlass durch die Geberländer darstellte. 143
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ganisationen sehen in der Zivilgesellschaft den Schlüssel zu mehr Demokratie und sozialer Sicherheit. 144 Die Geschichte Tansanias zeigt, dass zivilgesellschaftliches Engagement nur Früchte tragen kann, wenn der Staat dieses akzeptiert und Strukturen existieren, die eine Kooperation zwischen staatlichen Organen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ermöglicht.145 Inzwischen bestehen auf dem tansanischen Festland verschiedene Möglichkeiten, eine zivilgesellschaftliche Organisation bei den zuständigen staatlichen Behörden registrieren zu lassen. Die meisten NGOs sind unter dem „Societies Ordinance Cap. 337” registriert. Darüber hinaus ermöglicht auch der „National Sports Council Act No. 12”, der „Trustees Incorporation Ordinance Cap. 375” und der „Companies Ordinance Cap. 212“ die Registrierung einer Organisation. Die unterschiedlichen Zuständigkeiten führten in der Vergangenheit zu einer Unübersichtlichkeit hinsichtlich der Akteure im dritten Sektor und begünstigten aufgrund unzureichender Kontrollmechanismen Korruption in den Organisationen. Aus diesem Grund entschied sich die Regierung, eine Gesetzgebung zu schaffen, welche die Registrierung nichtstaatlicher Organisationen erleichtert.146 Seit dem Jahr 2002 können sich gemeinnützige Projekte als nichtstaatliche Organisation unter dem „NGO Act 24/2002“ registrieren lassen. Die Registrierung erfolgt auf der Distriktebene oder auf regionalem, nationalem oder internationalem Level und stellt die Voraussetzung für die Anerkennung der Organisation und somit für die Legalität ihrer Aktivitäten dar.147 Der zeitliche und finanzielle Aufwand für die Antragsstellung und die Aufrechterhaltung des Status hindert kleine Projekte an der Registrierung. 148 Nichtstaatliche Organisationen müssen beispielsweise, neben den einmaligen Bearbeitungskosten von 41.500 TSH (23,35 Euro) bis 66.500 TSH (37,41 Euro), jährlich eine Gebühr von 50.000 TSH (28,13 Euro) zahlen.149 Im Kontext der Waisenhilfe führen diese Ausgaben dazu, dass nicht alle Projekte, die sich in Tansania die Unterstützung von Waisen zur Aufgabe gemacht haben, über eine offizielle Registrierung verfügen. Allein von den jährlichen Gebühren könnte eine Organisation zehn bedürftigen Kindern mit einer Schuluniform den Schulbesuch in der Primarschule sichern. Eine unzureichende staatliche Kontrolle begünstigt die Existenz unregistrierter Projekte. Dem Staat fehlen zum einen die Mittel, die flächendeckende Registrierung zu überwachen und zum anderen sind sie nicht undankbar für das 144
Vgl. ebd., S. 4 f. Vgl. ebd., S. 2. 146 Vgl. ebd., S. 19. 147 Vgl. www.tanedu.org/Procedures_NGO_registration.pdf 23.02.09. 148 Vgl. Haapanen (Hrsg.) 2007, S. 7. 149 Vgl. www.tanedu.org/Procedures_NGO_registration.pdf 23.02.09. 145
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soziale Engagement von Projekten, auch wenn diese keine offizielle Anerkennung vorweisen können. Zudem agieren viele Projektleiter in einem Graubereich, in dem sich nicht eindeutig sagen lässt, ob sie sich als engagierte Einzelpersonen, um bedürftige Mitmenschen kümmern oder eine karitative Organisation führen. Die Aufnahme elternloser Kinder gehört beispielsweise zur traditionellen Pflicht in Tansania. Die Frage, ab wann es sich nicht mehr einfach um die Erfüllung dieser Pflicht handelt, sondern um die Bereitstellung eines stationären Betreuungsangebotes im Sinne einer Heimeinrichtung bleibt zurzeit noch ungeklärt. Der Staat befindet sich aufgrund fehlender Betreuungsplätze nicht in der Lage, eine solche Einrichtung, die aus einer privaten Initiative entstand, zu schließen und die aufgenommenen Kinder in anderen Betreuungseinrichtungen unterzubringen. Aus diesem Grund tolerieren die zuständigen Wohlfahrtsbehörden in der Regel das Engagement unregistrierter Initiativen im ambulanten und stationären Bereich. Die unvollständige Registrierung aller Anbieter im Bereich der Waisenhilfe führt dazu, dass staatliche Behörden unzureichende Informationen über Hilfsprogramme besitzen. Gertrude Kulindwa, die Leiterin der regionalen Wohlfahrtsbehörde der Mwanza Region, konnte der Autorin nicht mitteilen, wie viele nichtstaatliche Organisationen sich für die Bedürfnisse der Waisen in ihrer Region engagieren.150 Die fehlende Erfassung von Organisationen bringt verschiedene Nachteile mit sich. Sie erschwert einerseits die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden und nichtstaatlichen Projekten und schränkt andererseits die Möglichkeiten der staatlichen Koordinierung und Kontrolle ein. Eingetragene nichtstaatliche Organisationen unterliegen der Pflicht, jährliche Tätigkeits- und Finanzberichte vorzulegen.151 Die Rechenschaftslegung über die korrekte Verwendung von Geldern leistet einen Beitrag zur Bekämpfung von Korruption und Spendenmissbrauch. Diese Möglichkeit der staatlichen Intervention entfällt in Projekten ohne Registrierung. Das Engagement der Zivilgesellschaft im Kontext der Waisenkrise Im Kontext der Waisenkrise übernehmen vor allem Privatpersonen, lokale Organisationen (CBOs – Community-based Organisations), religiös geprägte Organisationen (FBOs – Faith-based Organisations) und vom Ausland initiierte bzw. geförderte Waisenprojekte wichtige Aufgaben in der Unterstützung der Waisen. Die folgenden Ausführungen sollen unter anderem anhand von Beispielen das 150 151
Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. www.tanedu.org/Procedures_NGO_registration.pdf 23.02.09.
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Engagement der verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft im Kontext der Waisenkrise veranschaulichen. CBOs und privates Engagement – Waisenhilfe als lokale Reaktion auf ein lokales Problem Community ist einer der beherrschenden Begriffe in der englischsprachigen Literatur zu Lösungsstrategien für die Probleme von Waisen. 152 Community awareness, das Bewusstsein der Gemeinde, soll durch community mobilisation, also die Mobilisierung der Menschen, für die Waisen geweckt werden, um Hilfsangebote aufzubauen, die community-based sind, das heißt auf dem gemeinschaftlichen Engagement basieren. Im tansanischen Kontext kommen dem Begriff community drei Bedeutungen zu: Die Bezeichnung umfasst Personen, die aufgrund ihrer Beschäftigung, ihrer ethnischen Abstammung oder ihres gemeinsamen Wohnumfeldes eine Gemeinschaft bilden. 153 Im Zusammenhang mit der Waisenkrise bezieht sich der Begriff auf die Dorfgemeinschaft im ländlichen Raum und auf die Nachbarschaft in der Stadt, aber auch auf alle wichtigen Gruppen, Institutionen und Personen innerhalb der Kommunen: „Community ist für uns die Kirchgemeinden, […] die Schulen und auch die Regierung, die lokale Verwaltung. […] Und zu allererst die Menschen, sie sind Ressource genug; die Menschen selber sind eine wichtige Ressource.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). UNICEF (2007) sieht in den lokalen Gemeinden ein wichtiges Auffangnetz, wenn es der Familie nicht gelingt, die Bedürfnisse verwaister Kinder allein zu erfüllen. Die Mobilisierung der Gemeinden und der Aufbau lokaler Initiativen stehen für UNICEF dementsprechend an zweiter Stelle der vorgeschlagenen Bewältigungsstrategien, gleich nach der Stärkung des familiären Auffangnetzes.154 Auch in anderen Publikationen und von Interviewpartnern wird die enorme Rolle der Bevölkerung als wesentlicher Akteur der Zivilgesellschaft bei der Versorgung von Waisen betont.155 „Wir wollen, dass die Gemeinschaft von Anfang an involviert ist, damit sie sagen können: „Das sind wirklich die bedürftigsten Kinder!“ Und dann: „Was denkt ihr, was wir tun können? Wie können wir 152
Vgl. Family Health International (Hrsg.) 2001; Coury und Subbarao 2004; UNICEF (Hrsg.) 2007. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Community Development, Women Affairs and Children (Hrsg.) 1996, S. 3. 154 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2007, S. 12. 155 Vgl. Hunter und Williamson 1998, S. 9; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 9; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 13; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 153
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ihnen helfen?“ Es gibt so viele Dinge; sie sind arm, aber es gibt so viele Beiträge, die sie leisten können.“ (Interview mit L. Kikoyo am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Engagement der Gemeinden für verwaiste Kinder zeigt sich auf unterschiedlichste Weise. Eine wichtige Form von Unterstützung übersehen außenstehende Beobachter häufig, weil sie in der afrikanischen Gesellschaft so selbstverständlich erscheint und dermaßen im alltäglichen Leben integriert ist.156 Diese Form der Unterstützung lässt sich als informelle private Hilfe bezeichnen und stellt eine wesentliche lokale Bewältigungsstrategie in der Waisenkrise dar (Abb. 12). Abbildung 12: Beispiel: Private Unterstützung für Waisen Im ersten Fall berichtete eine Frau aus der Musoma Region der Autorin während eines Hausbesuchs, dass sie große Schwierigkeiten hat, ihre Kinder alleine zu versorgen. Dennoch nahm sie das Kind einer Freundin auf, als diese starb. Ihr fehlte eine Unterkunft, wo sie mit den Kindern leben konnte. Jemand aus der Gemeinde, der ein Haus besaß, erfuhr von ihren Problemen. Da er sein Haus nicht bewohnte, weil er in einer anderen Stadt arbeitete, bot er ihr das Gebäude zur kostenlosen Nutzung an. Dies ermöglichte ihr und den Kindern eine sichere Unterkunft, sodass sie sich nun auf die Betreuung der Kinder und die Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes konzentrieren kann. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 09.05.07 in der Region Mara, Tansania) Franklin M., der als Vollwaise ohne familiäre Kontakte in Moshi lebt, berichtet im Gespräch mit der Autorin, dass er von den Gefälligkeiten und dem guten Willen der Menschen abhängt. „Ich erzähle ihnen meine Probleme, und wenn sie davon berührt werden, können sie mir helfen.“ (Interview mit Franklin M. am 28.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Da Franklin M. keinen festen Wohnsitz hat, übernachtet er bei den Familien von Freunden. Er ist darauf angewiesen, immer wieder jemanden zu finden, der ihn aufnimmt, ihn mit Nahrung versorgt und ihm hilft, das notwendige Geld für Schulmaterialien aufzubringen. Bisher konnte er Menschen mit seinen Problemen berühren. Er muss nicht auf der Straße leben und besucht weiterhin die Schule. (Interview mit Franklin M. am 28.06.07 in Moshi, Tansania)
Joyce Chitenje, Leiterin einer CBO für Waisen, berichtet von der Bedeutung dieser Form der Versorgung: „Wir haben Glück in Tansania, denn wir haben den Geist der gegenseitigen Hilfe. […] Die Gaben vom Premierminister [zur Unterstützung der Waisen] bekommen wir [die Organisation] vielleicht drei Mal im Jahr, aber die täglichen Mahlzeiten [der Waisen] kommen von der Gemeinde. [Die Nachbarn sagen:] „Du hast heute nichts zu essen? Okay, du kannst zu mir kommen. Bitte, du kannst diese Maniokwurzel nehmen und zu deiner Großmutter bringen.““ (Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Bereitstellung der eigenen Arbeitskraft, zum Beispiel bei der Feldarbeit, emotionale Unterstützung, zum Beispiel durch Haus156
Vgl. Foster 2002, S. 10.
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besuche, und Sachspenden, zum Beispiel Nahrungsmittel oder alte Kleidung, drücken das gemeinschaftliche Verantwortungsgefühl für verwaiste Heranwachsende aus. 157 Obwohl die informelle private Unterstützung weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der Waisen leistet, kommt es aufgrund des Ausmaßes der Problematik und der schwierigen wirtschaftlichen Situation in den Gemeinden zunehmend zu einer Überlastung des kommunalen Sicherungsnetzes. Viele Haushalte leiden unter eigenen Problemen und der individuelle Umgang mit Schwierigkeiten löst das kollektive Auffangen ab. Betreuer von Waisen können nicht mehr selbstverständlich auf die Unterstützung der Gemeinschaft bauen. Der verlässliche und kontinuierliche Beistand durch andere Gemeindemitglieder weicht unregelmäßigen finanziellen und materiellen Zuwendungen. 158 Mit dem Ziel, den Rückzug der Gemeinschaft aus der Verantwortungsübernahme für Waisen auszugleichen, entwickeln sich in einigen Fällen aus dem privaten, informellen Engagement lokale Projekte, die den individuellen Unterstützungsangeboten einen Rahmen bieten. Diese lokalen Programme beruhen in der Regel auf der Initiative einzelner Personen, die in ihrer Nachbarschaft einen Handlungsbedarf sehen (Abb. 13) oder die aufgrund der eigenen Betroffenheit eine Form der Selbsthilfe organisieren (Abb. 14). Abbildung 13: Beispiel: CBOs als lokale Reaktion auf die Waisenkrise Die Society for orphan care and HIV/AIDS control in Bagamoyo entstand als Reaktion auf ein lokales Problem. Tabu Saadani berichtet im Gespräch mit der Autorin, wie eine der Gründungsmitglieder, eine Hausfrau, am Strand Waisen traf, die ihre Arbeitskraft anboten: „Sie fand viele dieser kleinen Kinder, die versuchten den Leuten, die Fisch kaufen, zu helfen und den Fisch zu enthäuten. Als sie fragte, warum sie [die Kinder] am Strand sind, wenn sie eigentlich in der Schule sein sollten, antworteten diese: „Ich bin nicht in der Schule. Ich komme jeden Tag hierher, um Geld zu bekommen, sodass ich dieses Geld zu meiner Großmutter oder meinem Großvater bringen kann, damit wir etwas zu essen bekommen.““ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Aufgrund dieser Erfahrung sprach die Frau Nachbarn und Bekannte an und gründete schließlich mit sieben anderen Personen die Hilfsorganisation Society for orphan care and HIV/AIDS control. Gemeinsam mit der lokalen Verwaltung wurden 60 Kinder identifiziert, die Unterstützung benötigten. Mit ihrem eigenen Geld und Lebensmitteln versuchten sie, diesen Kindern zu helfen und erhielten dabei bald Unterstützung von der Bevölkerung, die das Engagement der Organisation sah und einen eigenen Beitrag leisten wollte. (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania)
157
Vgl. Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 158 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2002, S. 20 ff.; Whitehouse 2002, S. 40; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 21; HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 14; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Abbildung 14: CBOs als Selbsthilfeinitiative Andere CBOs entstanden als Selbsthilfeorganisationen mit dem Ziel, Betroffene zusammen zu bringen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Victoria Tesha, die einen Kindergarten für Waisen und Unterstützungsangebote für Witwen aufgebaut hat, berichtet von ihren Motiven: „Es gab eine Notwendigkeit. Ich selbst bin eine Witwe und nachdem ich eine Witwe wurde, erlebte ich viele Schwierigkeiten. Damals war ich Lehrerin und ich dachte, ich bekomme dieses Gehalt, aber ich habe große Schwierigkeiten, meine Kinder zu versorgen, auszubilden. Was ist mit den Witwen, die nicht einmal ein kleines Gehalt haben und in schwierigen Lebensumständen leben? Deshalb entschied ich mich, diese Organisation zu beginnen, sodass wir Ideen austauschen können und Menschen suchen, die Witwen und Waisen helfen.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
FBOs – Waisenhilfe aus religiöser Motivation Religiöse Gemeinschaften159 bilden einen wichtigen Sektor der Zivilgesellschaft in Tansania, indem sie vor allem im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich wichtige Dienstleistungen erbringen. Die meisten FBOs sind entweder christlich oder muslimisch geprägt, da diese Religionen im Land über die meisten Anhänger und den größten Einfluss verfügen. BAKWATA, der muslimische Rat, der in Tansania alle großen islamischen Strömungen in sich vereint, bildet gleichzeitig die Dachorganisation für das soziale Engagement der muslimischen Gemeinschaft. Die Organisation finanziert sich über Spenden aus arabischen Staaten sowie Mitgliedsbeiträgen und Gewinnen aus privatwirtschaftlichen Aktivitäten. Die christlichen Kirchen engagierten sich bereits vor der Unabhängigkeit im sozialen Bereich. Ebenso wie die muslimischen Projekte profitieren sie von ausländischen Fördermitteln. Darüber hinaus sammeln die Kirchen durch die Kollekte von ihren Anhängern Spenden, mit denen sie sowohl die Arbeit der Geistlichen als auch die diakonischen Dienste finanzieren.160 Im Kontext der Waisenversorgung übernehmen religiöse Gemeinschaften wichtige Aufgaben, indem sie einerseits im Rahmen ihrer karitativen Arbeit selbst Unterstützung leisten und andererseits ihre Gläubigen zum Schutz und zur Versorgung verwaister Kinder aufrufen. 161 Die Religionsgemeinschaften besit159 Siehe www.absolutetanzania.com/tanzania_quick_facts 03.12.09: Auf dem Festland Tansania gehören ca. 30% der Bevölkerung christlichen Religionen an, ca. 35% sind muslimischen Glaubens und 35% folgen indigenen Religionen, wobei es zwischen diesen Glaubensrichtungen durchaus zu Überschneidungen kommen kann. 160 Vgl. Lange, Wallerik und Kiondo 2000, S. 10. 161 Vgl. Hunter und Williamson 1998, S. 10; Foster 2002, S. 13; Coury and Subbarao 2004, S. 47; Pharoah (Hrsg.) 2004, S. 120; POLICY Project (Hrsg.) 2004, S. 20; UNAIDS (Hrsg.) 2004, S. 65; POLICY Project (Hrsg.) 2005, S. 11.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
103
zen den Vorteil, dass sie über ein dichtes Netz an Kirchen und Moscheen verfügen, mit denen sie alle Teile des Landes erreichen. Die Geistlichen stehen im engen Kontakt zu den Menschen und waren oft die Ersten, die auf die Probleme der Familien mit Waisen aufmerksam wurden. Foster (o. J.) untersuchte das Engagement der Religionsgemeinschaften im südlichen Afrika und fand heraus, dass die christlichen und islamischen Gemeinden in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begannen, praktische Hilfe für Waisen zu leisten. Anfangs fokussierten die Gemeinden die Kinder ihres Glaubens, doch bald wurde die Unterstützung auf alle bedürftigen Kinder in ihrem Einzugsgebiet ausgeweitet. 97% aller muslimischen und christlichen Basisgemeinden setzen sich aktiv für Waisen und andere gefährdete Kinder ein, indem sie materielle Hilfe, psychosoziale Unterstützung oder seelsorgerischen Beistand leisten (Abb. 15).162 Abbildung 15: Beispiel: HUYAWA – Die Entwicklung eines kirchlichen Waisenprojekts „Wir begannen das Programm. Zu dieser Zeit dachte niemand, dass es lange dauert. Es war wie ein Notfallprogramm, weil wir dachten, dass das Problem kurzzeitig ist. Wir begannen soziale Bedürfnisse zu erfüllen; wir brachten Nahrungsmittel überall in die Diözese und besonders in den nördlichen Teil, wo HIV begann, wir gaben Kleidung, Bettbezüge, Decken. Aber wir stellten fest, dass sich das Problem nicht verringerte, stattdessen nahm es noch zu. Also weiteten wir unsere Aktivitäten auf andere Angebote aus. Zu dieser Zeit war unsere dringendste Aufgabe die Gesundheitsfrage, denn viele der Waisen waren krank. Weil sie von ihren Müttern gestillt wurden, infizierten sie sich mit HIV/AIDS durch die Muttermilch und solche Dinge. Wir hatten viele Kinder, die krank waren und ihr Leben war ein Auf und Ab wegen der Krankheit. Deshalb gründeten wir die Gesundheitsabteilung in unserem Programm. […] Wir haben die medizinische Behandlung ermöglicht und sichergestellt, dass alle registrieren Waisen in guter gesundheitlicher Verfassung sind. […] Als das Problem weiterging, entdeckten wir, dass, weil die meisten registrieren Waisen beide Eltern verloren hatten, es ihnen nicht gelang zur Schule, besonders zur Primarschule, zu gehen. Deshalb haben wir unsere Mitarbeiter, die überall in der Diözese vor Ort arbeiten, gebeten, sicher zu stellen, dass alle, alle, alle Waisen, die im schulfähigen Alter sind, eingeschrieben werden. […] Nach fast sechs Jahren bemerkten wir, dass es viele Verarmte überall in der Region gab. […] Es gibt einige Familien, in denen Menschen Witwen und Waisen das Erbe nehmen. Sie erhielten in den Dörfern nicht viel Unterstützung und deshalb begannen wir hier mit einer weiteren Abteilung, rechtliche Beratung und Verteidigung, um sicherzustellen, dass wir für die Waisen und Witwen eintreten. Am Anfang gingen wir in die Dörfer, veranstalteten Seminare, um Menschen zu ermutigen, sich um Waisen zu kümmern und sicherzustellen, dass ihnen nicht ihr Besitz genommen wird. Einige Dörfer reagierten sehr positiv, einige nicht, sodass wir in einigen Fällen sogar bis vors Gericht gehen mussten. […] Jetzt, vor fast vier Jahren, begannen wir mit der Abteilung Gemeindemobilisierung und Gender.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.)
162
Vgl. Foster o. J., S. 14.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Die katholische und evangelisch-lutherische Kirche in Tansania baut vor allem mithilfe der Diözesen eigene komplexe Hilfsprogramme für Waisen auf. Diese zielen darauf ab, die ambulanten Unterstützungsangebote der Basisgemeinden zu koordinieren bzw. stationäre Versorgungsangebote zu entwickeln. Den Diözesen gelingt es durch Partnerschaften mit Missionswerken, ihre Partner im Ausland auf neue Problemlagen aufmerksam zu machen und dadurch Spendengelder zu mobilisieren.163 Waisenhilfe auf der Basis ausländischen Engagements Ausländisches Engagement in der Waisenkrise zeigt sich im Aufbau eigener Projekte, in der finanziellen Unterstützung bereits vorhandener Organisationen und in der Lobbyarbeit großer internationaler Akteure, wie UNICEF. Da das Kapitel 2.2.5 detailliert auf die Arbeit internationaler Organisationen in Tansania eingeht, widmen sich die folgenden Ausführungen den Programmen, die durch ausländische Akteure aufgebaut wurden. Die Motive des ausländischen Engagements differieren. Ausländische Hilfsorganisationen versuchen in der Regel, ihren eigenen Beitrag zur Umsetzung internationaler Richtlinien zu leisten und die Situation der Waisen nachhaltig zu verbessern (Abb. 16). Abbildung 16: Beispiel: Ausländisches Engagement in der Bewältigung der Waisenkrise In Tansania engagiert sich die Organisation Axios International seit dem Jahr 2000 für Waisen mit dem Ziel ein Hilfsprogramm aufzubauen, welches das Leben von Haushalten mit Waisen langfristig verbessert. In Absprache mit nationalen Behörden und Partnern in Tansania wurde der Rungwe Distrikt in der Region Mbeya als Einsatzgebiet ausgewählt. Im Jahr 2000 erfolgte eine umfassende Situationsanalyse, welche helfen sollte, die Probleme von und Ressourcen für Waisen in der Gegend zu verstehen. Dazu wurden Gemeindemitglieder, Betreuer von Waisen, verwaiste Kinder und wichtige Personen in den Kommunen befragt und soziale Versorgungsangebote analysiert. Die Ergebnisse der Untersuchung dienten als Grundlage für einen detaillierten Aktionsplan zur Bestimmung des weiteren Vorgehens der Organisation. In vier Dörfern des Distrikts wurde 2001 mit dem Pilotprojekt begonnen. Der erste Schritt war die Identifizierung der Waisen. Weitere Schritte zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur, zum Beispiel der Ausbau drei lokaler Schulen, und der wirtschaftlichen Lage der Haushalte, zum Beispiel durch Einkommen schaffende Maßnahmen, folgten. Die Programme wurden in den folgenden Monaten weiter differenziert und im Jahr 2002 auf weitere Gebiete im Distrikt ausgeweitet. (Axios International (Hrsg.) 2000; Axios International (Hrsg.) 2001; Axios International (Hrsg.) 2002)
163
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
105
Privatpersonen aus dem Ausland folgen einer inneren Motivation, für die es unterschiedlichste individuelle Gründe gibt (Abb. 17). Abbildung 17: Beispiel: Engagement von Ausländern in der Waisenhilfe Im selben Jahr, in dem Axios International in Tansania aktiv wurde, begann auch die Organisation Light in Africa mit ihrer Arbeit. Doch diese Organisation begann im ganz Kleinen. Laura Elliott berichtet von der Motivation ihrer Mutter, die aus England stammt und die Programme aufbaute: „Sie kam, weil sie den Ruf Afrikas spürte. Sie kam, ohne zu wissen, was sie tun würde, außer, dass sie Kindern helfen wollte, die am AIDS Virus starben. Und so kam sie zuvor für einen Monat zu Besuch und sah, dass diese Kinder, die Straßenkinder, buchstäblich ohne finanzielle Unterstützung, ohne Liebe, ohne Betreuung starben; starben ohne Würde. Und deshalb fühlte sie, dass sie zurückkommen und helfen muss. Sie kam im Juni 2000 an und im September eröffnete sie ihr erstes Kinderheim, welches sich an den Hängen des Kilimanjaro in einem kleinen Dorf namens Sonu befand. Und sie blieb dort zwei Jahre. Aber die bergige Gegend war ziemlich schwierig, wegen des Geländes und der Regenzeit, welche die Straßen unpassierbar machte. Und es gab viele Probleme in Bezug auf die Kultur, die Akzeptanz einer Weißen wie wir.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Inzwischen unterhält die Organisation vier Kinderheime in denen über 150 Kinder, die nach Altersgruppen organisiert sind, betreut werden. Neben der institutionellen Versorgung bietet die Organisation auch aufsuchende Soziale Arbeit in den umliegenden Dörfern und bei den Massai an. Diese Programme konzentrierten sich vor allem auf die medizinische Hilfe durch eine mobile Klinik und die Verteilung von Fertigmahlzeiten. (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania)
2.2.4 Regierung Tansanias und staatliche Organe Der amtierende Präsident Tansanias, Jakaya Mrisho Kikwete, misst der Versorgung von Waisen eine besondere Bedeutung zu. In seiner Amtsantrittsrede am 30. Dezember 2005 bezeichnet er die Unterstützung von benachteiligten Gruppen inklusive Waisen als eines von zehn Zielen seiner Amtszeit. In der gleichen Rede konkretisiert er seine Pläne und spricht von dem Wunsch, alle Stakeholder zusammen zu bringen, um einen Plan für die Versorgung von bedürftigen Waisen zu formulieren: „Die Regierung trägt Verantwortung für spezielle Gruppen von Menschen in unseren Gemeinden. Die erste Gruppe sind die Waisen. Die HIV- und AIDS-Pandemie brachte und bringt weiterhin viele Waisen hervor. In einigen Gegenden führen zu viele Kinder Haushalte. Ich möchte, dass unterschiedliche Stakeholder Ideen sammeln und einen nachhaltigen Plan bereitstellen, wie man für Waisen am besten sorgen kann. Denn, wie andere Kinder, brauchen auch sie Bildung, brauchen auch sie Zugang zu Gesundheitsdiensten, brauchen auch sie angemessene Unterkünfte und auch sie haben ein Recht auf Liebe, Versorgung und Zugehörigkeitsgefühl. Es ist unsere Pflicht, als Gemeinschaft für Waisen zu sorgen.“ (www.parliament.go.tz/bunge/docs/pspeech_en.pdf
106
2 Die Waisenkrise in Tansania
10.05.08/ Übersetzung durch Verf.). Obwohl er betont, dass der Gemeinschaft die Pflicht zukommt, sich um die Waisen zu kümmern, bezeichnet er es als Aufgabe der Regierung, die Bildung und medizinische Versorgung der betroffenen Kinder sicherzustellen. 164 Wohlfahrtsämter als Dienstleister im sozialen Bereich Die Wohlfahrtsämter (social welfare offices) in den Regionen und Distrikten dienen Familien mit Waisen und anderen bedürftigen Kindern sowie Projekten der Waisenversorgung als wichtigste staatliche Anlaufstelle. 165 Die Wohlfahrtsbehörden unterstehen der zentralen Verwaltung des Departements of Social Welfare auf der nationalen Ebene, welches wiederum dem Ministerium für Arbeit, Jugend und Sport angehört. Die Zentralisierung im öffentlichen Bereich führte in der Vergangenheit dazu, dass lokale Behörden nicht selbst die Initiative ergriffen, um die soziale Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, sondern auf die Verantwortung des Departments of Social Welfare verwiesen. Diese Einstellung wurde durch eine personelle Unterversorgung der lokalen Wohlfahrtsämter in den Regionen und Distrikten verstärkt. Jedes Wohlfahrtsamt sollte über mindestens einen Sozialarbeiter (Social Welfare Officer) verfügen, doch diese Mindestanforderung wird nur in circa 30% der insgesamt 119 Distrikte in Tansania erfüllt. Die übrigen Distrikte werden regional abgedeckt, sodass sich in der Regel mehrere Distrikte einen Sozialarbeiter, der dem regionalen Verwaltungssitz angehört, teilen. Einige Distrikte stehen in gar keiner Zuständigkeit von Sozialarbeitern. Neben dem Mangel an qualifiziertem Personal stellt die Vielfalt der Aufgaben, denen der zuständige Beamte gerecht werden soll, ein weiteres Problem dar. Diese reichen von der Überwachung von Krankenhäusern über die Ressourcenmobilisierung für bedürftige Bevölkerungsgruppen bis zur Entscheidung über die Fremdplatzierung von Kindern. Im Zuge der Implementierung des staatlichen Aktionsplans für die am stärksten gefährdeten Kinder bemüht sich die Regierung weitere Sozialarbeiter einzustellen, um schließlich alle Distrikte angemessen zu versorgen.166 Interviewpartner, die in Programmen zur Unterstützung von Waisen arbeiten, wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr die regionalen und lokalen Wohlfahrtsämter überfordert sind. Im Kontext der Waisenhilfe kommt den Wohlfahrtsämtern beispielsweise die Aufgabe zu, den Bedarf für Heimunterbringun164
Vgl. www.parliament.go.tz/bunge/docs/pspeech_en.pdf 10.05.08. Die spezifischen Aufgaben der Wohlfahrtsämter im Kontext der verschiedenen Versorgungsangebote für Waisen betrachtet das Kapitel 4 eingehend. 166 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 27 ff. 165
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
107
gen zu prüfen. Fehlendes Material, unzureichende Transportmöglichkeiten und personelle Überlastung führen dazu, dass die Beamten dieser Aufgabe kaum nachkommen. In vielen Fällen verzögert sich die Fremdunterbringung betroffener Kinder oder die Zustimmung zur stationären Unterbringung erfolgt auch für Kinder ohne tatsächlichen Bedarf. 167 Amy Hathaway, die in Mwanza ein Säuglingsheim leitet, berichtet von den Erfahrungen aus ihrer täglichen Arbeit: „Unsere Leiterin des regionalen Wohlfahrtsamtes hat gar nichts. Sie hat kein Auto, sie hat kein Geld, sie hat keine finanziellen Mittel, sie hat kein Papier, sie hat keine Stifte, sie hat keinen Computer. Und wissen Sie, man muss sie dazu bringen, einen Brief zu schreiben, um zu sagen, dass ein Kind gefunden wurde und es dauert vielleicht drei oder vier Monate, um das Kind vom Krankenhaus hierher zu bekommen. Denn sie müssen einen Brief schreiben, aber es gibt kein Papier, sodass man ihnen Papier geben muss. Und sie haben keine Stifte, also gebe ich ihnen einen Stift. Und dann gibt es keine Briefmarken, also muss man eine Briefmarke finden. Und dann wird sie krank. Der ganze Prozess dauert einfach so lange.“ (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die nationale Politik im Kontext der Waisenkrise Die Regierung Tansanias entwickelte im Zuge der Waisenkrise verschiedene Richtlinien und Gesetze zur Verbesserung der Fürsorge für Kinder im Allgemeinen und Waisen im Besonderen. Die wichtigsten Dokumente und ihre Implikation für die Betreuung und Versorgung von Waisen stellt die Autorin im Folgenden vor. Die Ausführungen werden zeigen, dass der Regierung eine klare Handlungslinie in der Reaktion auf die Waisenkrise fehlte und sich die Richtlinien in wesentlichen Punkten, beispielsweise hinsichtlich der Empfehlung ambulanter bzw. stationärer Maßnahmen, widersprechen. 1994: „National Guidelines for Community Based Care, Support and Protection of OVC“ Als Teil der multisektoralen Antwort auf HIV/AIDS entwickelte das Ministerium für Arbeit und Jugend 1994 erstmals eine staatliche Richtlinie zur Versorgung von Waisen und anderen gefährdeten Kindern, die „National Guidelines for Community based Care, Support and Protection of OVC“. Die Strategie sah vor, 167
Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
108
2 Die Waisenkrise in Tansania
den Schutz und die Fürsorge für Waisen und gefährdete Kinder durch die Mobilisierung der lokalen Gemeinden zu gewährleisten. Die Partizipation der Bevölkerung in der Identifizierung und Versorgung bedürftiger Kinder sah die Regierung als Voraussetzung an, um zu verhindern, dass es zur Überschneidung von Hilfen bzw. zur Marginalisierung bestimmter Gebiete kommt. Die Richtlinien boten den Akteuren eine Orientierung bei der Identifizierung unterstützungsbedürftiger Kinder. Verwaisung durch HIV/AIDS, Vernachlässigung und unzureichende Erfüllung von Grundbedürfnissen gehörten unter anderem zu den Kriterien, die Kinder zu Hilfeberechtigten machten. Kindern sollte durch die Unterstützung der Gemeinden geholfen werden, ihre Kapazitäten zu entwickeln, ausreichend Nahrung und medizinische Versorgung zu erhalten und vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung geschützt zu werden. Gemeindemitglieder bekamen nicht nur die Aufgabe zugeschrieben, Waisen und andere gefährdete Kinder zu identifizieren und ihre Bedürfnisse zu bestimmen. Es wurde darüber hinaus von ihnen erwartet, dass sie lokale Fonds zur Deckung der Kosten für die identifizierten Kinder schaffen. 168 1996: „Child Development Policy“ Ein weiterer wichtiger Erlass, der sich mit den Bedürfnissen von Kindern und ihrer Entwicklung befasst, ist die „Child Development Policy“, die das Ministerium für kommunale Entwicklung, Frauen und Kinder 1996 veröffentlichte. Das Ausmaß und die Konsequenzen der Waisenkrise zeichneten sich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich ab. Die Ergebnisse einer Haushaltsbefragung zeigten, dass 1996 der Anteil der Waisen (0 – 14 Jahre) an allen Kindern circa 9% betrug.169 Trotz der Aktualität der Problematik geht das 37-seitige Dokument nur an drei Stellen auf Waisen ein. Die Empfehlung, die die Richtlinie gibt, stehen im Widerspruch zu den „National Guidelines for Community Based Care, Support and Protection of OVC“. Die „Child Development Policy“ fordert das Ministerium für Kinder und das Ministerium für Soziale Fürsorge dazu auf, Studien zur Fremdbetreuung von Waisen durchzuführen und gegebenenfalls Kinderdörfer oder Pflegefamilien zu gründen. Dies lässt sich mit den Prinzipien der kommunalen Verantwortung für Waisen, die zwei Jahre zuvor das Ministerium für Arbeit und Jugend entwickelte, nicht vereinbaren. 170 168
Vgl. Kaare 2005, S. 6 f. Vgl. United Republic of Tanzania – National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 1997, S. 11. 170 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Community Development, Women Affairs and Children (Hrsg.) 1996, S. 19, S. 22 und S. 31. 169
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109
2001: „National Policy on HIV/AIDS“ 2001 veröffentlichte die tansanische Regierung die „National Policy on HIV/AIDS“. Diese staatliche Richtlinie stellt Waisen in einen konkreten Zusammenhang mit der AIDS-Epidemie. Der Begriff Waisen umfasst in diesem Dokument ausschließlich Vollwaisen zwischen 0 und 15 Jahren. Die Unterstützung von Waisen stellt kein Schwerpunkt der nationalen Strategie dar, stattdessen wird sie dem Bereich der Versorgung von HIV-Infizierten untergeordnet. Lokale Organisationen und Initiativen sollen im Rahmen der ambulanten Krankenpflege die Waisen mitversorgen. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht der Plan die Unterstützung der Kommunen bei der Entwicklung geeigneter Maßnahmen zur HIV-Prävention sowie zur Versorgung und Betreuung von HIV-Infizierten und anderen Betroffenen, wie beispielsweise Witwen und Waisen, vor. Der Regierung und staatlichen Stellen kommt vor allem die Aufgabe zu, den rechtlichen und sozialen Rahmen für die Waisenhilfe zu schaffen und den am stärksten gefährdeten Kinder, zum Beispiel Heranwachsende in Kinderhaushalten, direkt zu helfen.171 2003: „National multi-sectoral strategic Framework on HIV/AIDS 2003-2007“ Im April 2003 legte die Regierung Tansanias den „National multi-sectoral strategic Framework on HIV/AIDS 2003-2007“ vor. Dieser umfasst neun Ziele, welche den internationalen Zugeständnissen durch die tansanische Regierung im Rahmen der Millennium Entwicklungsziele im Jahr 2000 und der „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ im Jahr 2001 entsprechen. Das neunte Ziel bezieht sich auf Waisen und beinhaltet die Reduzierung der negativen Folgen von HIV/AIDS für Waisen. Erreicht werden soll dieses Ziel durch ökonomische und soziale Unterstützung für Waisen und für von AIDS betroffene Familien und Kommunen. Als Indikator der Umsetzung dieses Ziels gilt die Rate des Schulbesuchs von Waisen im Alter von 10 bis 14 Jahren im Vergleich zu Altersgenossen. Maßnahmen, die im Rahmen der multisektoralen HIV/AIDSStrategie geplant wurden, umfassen unter anderem die Erforschung der Problematik der Waisenkrise und die Entwicklung spezieller staatlicher Richtlinien. Direkte Hilfe soll durch den Ausbau von öffentlichen Initiativen auf der Distriktund Gemeindeebene und von nichtstaatlichen Projekten geleistet werden. Ziel dieser Hilfe besteht nicht nur in der Verbesserung der ökonomischen Situation der Waisen, sondern auch in der Reduzierung von Stigmatisierung und in der 171
Vgl. United Republic of Tanzania – Prime Minister’s Office (Hrsg.) 2001, S. 33 ff.
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Steigerung des psychosozialen Wohlbefindens. Das nationale Rahmenwerk bezeichnet Waisen als die am stärksten gefährdete Gruppe unter den von AIDS betroffenen Menschen, da die Epidemie sowohl ihr Überleben als auch ihre Zukunftsperspektive bedroht. Des Weiteren erkennt das Dokument an, dass die Familien nicht länger alleine die Versorgung der Waisen garantieren können. Obwohl Waisen, die ihre Eltern durch AIDS verloren haben, als besonders gefährdet angesehen werden, gehören alle Waisen, unabhängig von der Todesursache der Eltern, zur Zielgruppe der geplanten Maßnahmen. 172 Die aktuelle Strategie der tansanischen Regierung Im Februar 2008, anlässlich des Staatsbesuches des damals amtierenden USPräsidenten George Bush, erfüllte Tansania die Zusage, eine nationale Strategie für Waisen und andere gefährdete Kinder zu entwickeln, zu der sich die Regierung im Rahmen der „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ verpflichtete. Die amerikanische und die tansanische First Lady präsentierten gemeinsam den staatlichen Aktionsplan zur Versorgung der am stärksten gefährdeten Kinder Tansanias, den „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children 2007 - 2010“.173 „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children 2007 2010“ Auch wenn die zeitliche Zielvorgabe von 2003, wie sie in der „UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ festgeschrieben stand, nicht erreicht wurde, legte Tansania mit dem „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ des Ministeriums für Gesundheit und Soziales erstmals einen umfassenden Plan zur Bewältigung der Waisenkrise vor. Der Plan bezieht sich allerdings nicht allein auf Waisen, sondern auf die am stärksten gefährdeten Kinder der tansanischen Gesellschaft, den sogenannten MVC (Most Vulnerable Children). Die MVC-Definition (Abb. 18) berücksichtigt, dass Waisen nicht automatisch zu den am stärksten gefährdeten Kindern zählen und dass auch Heranwachsende, die bei ihren Eltern leben, bedürftig sein können. 174
172
Vgl. United Republic of Tanzania – Prime Minister’s Office und TACAIDS (Hrsg.) 2003, S. 4 ff. Vgl. www.pacttz.org/res_otherresources.html 07.12.09. 174 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 9. 173
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Abbildung 18: Standarisierte MCV-Definition der Regierung Tansanias (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 9 und 69 f.) Der Begriff „Most Vulnerable Children“ steht für Kinder unter 18 Jahren, die in Kinderhaushalten leben. die in Haushalten leben, die von älteren Haushaltsvorständen geführt werden und in denen keine Erwachsenen im Alter von 20 bis 59 Jahren anwesend sind. die beide Elternteile verloren haben. die in ländlichen Gebieten entweder mit einem überlebenden Elternteil in einer Unterkunft mit schlechter Dachqualität (Gras oder Lehm) oder mit einer Behinderung in einer ähnlich schlechten Wohnqualität leben. die in urbanen Gebieten entweder mit einem überlebenden Elternteil in einer Unterkunft mit schlechter Dachqualität (Gras oder Lehm) oder mit schlechten Wandmaterialien oder ohne Toiletten oder mit einer Behinderung in einer ähnlich schlechten Wohnqualität leben.
Eine Pilotstudie zur Identifizierung von MVC in 20 Distrikten ergab, dass 5% aller Heranwachsenden unter 18 Jahren zu den am stärksten gefährdeten Kindern gehören. Obgleich nicht alle Waisen im Fokus der staatlichen Richtlinie stehen, machen Waisen einen beachtlichen Anteil der Zielgruppe aus. 175 Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen dabei, dass die Identifizierung der MVC vor allem anhand materieller Bedürftigkeit erfolgt. Anders lässt sich nicht erklären, dass nicht einmal die Hälfe aller Waisen zu den am stärksten gefährdeten Kindern gezählt werden, obwohl alle Heranwachsenden, die ihre Eltern verlieren, unter den psychosozialen Konsequenzen leiden (Kap. 3.2). Trotzdem nicht ausschließlich Waisen im Fokus des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ stehen und nicht alle Waisen direkt von den geplanten Maßnahmen profitieren, spielt der Aktionsplan in der Bewältigung der Waisenkrise eine wesentliche Rolle. Die Umsetzung der staatlichen Strategie könnte sich direkt auf die Lebensverhältnisse und Entwicklungschancen vielen Waisen auswirken sowie familiäre und kommunale Kapazitäten zur Versorgung weiterer Waisen freimachen. Aus diesem Grund setzen sich die folgenden Ausführungen detailliert mit den geplanten Maßnahmen sowie deren Umsetzung auseinander. Die amerikanische Organisation Family Health International (Kap. 2.2.5), die mit Ressourcen die Entwicklung des Aktionsplans unterstützte, unternahm intensive Anstrengungen, um die Partizipation aller Stakeholder sicherzustellen. Diese Maßnahme sollte gewährleisten, dass Praktiker ihre Erfahrungen einbringen können und vorhandene Ressourcen zum Einsatz kommen, damit die Zielsetzungen des Plans den tatsächlichen Bedürfnissen der betroffenen Kinder ent175
Vgl. ebd., S. 9.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
sprechen. Der Aktionsplan geht auf die gegenwärtige Situation ein und analysiert bereits erzielte Fortschritte. Darüber hinaus benennt der Plan sechs Interventionsbereiche, in denen bis zum Jahr 2010 Veränderungen erzielt werden sollen (Abb. 19). Zu diesem Zweck definiert das Dokument konkrete Maßnahmen inklusive Verantwortungsträger und umfasst einen detaillierten Finanz- und Zeitplan. 176 Abbildung 19: Interventionsbereiche „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 3 f.) 1.
2.
3.
4. 5.
6.
Rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen a. Entwicklung und Umsetzung einer Koordinationsstruktur b. Mobilisierung der Öffentlichkeit und Bekanntmachung aktueller Richtlinien c. Einrichtung und Stärkung von MVC-Komitees Haushaltsebene – Versorgung der Waisen innerhalb eines familiären Rahmens a. Grundversorgung (Unterkunft, Ernährung, Kleidung und andere Haushaltsgegenstände) b. Kindererziehung und persönliche Hygiene c. Entwicklung der Kapazitäten von MVC, Familien und Kommunen d. Bildung von der Frühförderung bis zur Hochschulbildung Medizinische Versorgung von der präventiven Gesundheitsfürsorge bis zu kurativen e. Maßnahmen Schutz und soziale Sicherheit a. Maßnahmen gegen Kinderarbeit b. Stärkung des rechtlichen Schutzes von Kindern c. Sensibilisierung der Öffentlichkeit bzgl. Kinderrechte Psychosoziale Unterstützung a. Ausbau der Kapazitäten aller Stakeholder zur psychosozialen Unterstützung von MVC Evaluation und Informationsmanagement a. Entwicklung eines Systems zur Überwachung der geplanten Maßnahmen auf nationaler Ebene b. Projektevaluation Ressourcenmobilisierung a. Mobilisierung von Ressourcen zur Durchführung der geplanten Maßnahmen
Stärkung der lokalen Verantwortung für bedürftige Kinder Der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ schreibt, wie schon die „National Guidelines for Community Based Care, Sup176
Vgl. ebd., S. x.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
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port and Protection of OVC“ von 1994, den lokalen Gemeinden eine besondere Rolle bei der Unterstützung der MVC zu. Der staatliche Aktionsplan sieht in der Mobilisierung der Kommunen die beste Möglichkeit, den Problemen der betroffenen Kinder zu begegnen: „…effektive Antworten zur Unterstützung, zur Versorgung und zum Schutz der MVC fordern eine dezentralisierte Strategie, die ihren Fokus auf die Stärkung der lokalen Gemeinden im Treffen von Entscheidungen, in der Mobilisierung und Nutzung von Ressourcen und in der Überwachung und Evaluation des Interventionsprozesses und der Resultate setzt.“ (United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 29/Übersetzung durch Verf.). Die Schaffung lokaler MVC-Komitees zur Identifizierung und Unterstützung bedürftiger Kinder gilt dementsprechend als entscheidender Aspekt in der Zielerreichung des staatlichen Aktionsplans. 177 Nach Aussage von Mitarbeitern der Organisation Family Health International, neben UNICEF die zweite große Internationale Organisation, die am Entstehungs- und Implementierungsprozess des Aktionsplans mitwirkt, hatten im Juni 2007 45 von insgesamt 132 Distrikten den Plan eingeführt und mit der Schaffung von MVC-Komitees begonnen.178 Diese bestehen aus Vertretern der jeweiligen Gemeinde. Zur Schaffung der Komitees bedarf es mehrerer Maßnahmen. Ganz am Anfang steht ein öffentliches Treffen für alle Gemeindemitglieder. Diese Zusammenkunft zielt auf die Sensibilisierung der Bevölkerung und die Bildung lokaler Komitees. Der folgende Schritt besteht in der Identifizierung der am stärksten gefährdeten Kinder, damit diese schließlich durch die Mobilisierung von Ressourcen innerhalb der Kommune im Bereich der Grundversorgung Unterstützung erhalten. 179 Der Aufbau und die Effektivität von MVC-Komitees hängen von der Bereitschaft der Gemeindemitglieder und den lokalen Bedingungen ab. In einigen Gebieten können die staatlichen Stellen bei der Einführung der Komitees auf gut funktionierende AIDS Komitees, lokale Organisationen oder Waisenkomitees setzen, in anderen Gegenden besteht keine soziale Infrastruktur.180 Gertrude Kulindwa, die als Regional Social Welfare Officer im Wohlfahrtsamt der Region Mwanza arbeitet, beschreibt im Interview mit der Autorin ihre Erfahrungen folgendermaßen: „Diesen Prozess an der Basis einzuführen ist eine Herausforderung an sich. […] Wir errichten das Fundament, von dem dann begonnen werden kann, und dieser Prozess ist ein Prozess, der den Gemeinden gehört. Also wenn die Gemeinden das Projekt oder Programm tragen, bedeutet dies, dass das System der Nachprüfung und Überwachung eng ist.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 177
Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Interview mit J. Baghdellah am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 179 Vgl. Mhamba 2004, S. 1. 180 Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania. 178
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Die Partizipation der Bevölkerung an allen Aktivitäten und Planungsschritten ermöglicht die Anpassung der Hilfsangebote an lokale Probleme und Ressourcen. Und auch die Umsetzung, so die Hoffnung, lastet dann auf den Schultern von allen und nicht mehr nur auf denen der betroffenen Familien, der staatlichen Stellen und der nichtstaatlichen Organisationen.181 2.2.5 Internationale Organisationen Die Internationale Gemeinschaft reagierte auf die steigende Zahl der Waisen in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara erst spät. Der folgende Abriss gibt einen Überblick über die Aktivitäten internationaler Organisationen im Zusammenhang mit der Waisenkrise. 1994:
1997:
1998:
Das Internationale Children’s Centre lädt mit der Unterstützung des französischen Außenministeriums Mitarbeiter von 27 nichtstaatlichen Organisationen aus acht Ländern (Botswana, Kenia, Malawi, Südafrika, Tansania, Uganda, Sambia, Zimbabwe) nach Lusaka, Sambia, ein, um die Probleme von HIV/AIDS betroffenen Kindern und Familien zu erörtern. Die aus dem Treffen hervorgegangene Lusaka Deklaration umfasst Strategien zur nachhaltigen Hilfe für betroffene Kinder, welche die Grundlage für alle weiteren internationalen Richtlinien bilden. 182 Mit Unterstützung der amerikanischen Hilfsorganisation USAID erscheint die erste Ausgabe der „Children on the Brink“-Reihe, die auf die Folgen der AIDS-Epidemie für Kinder, Familien und Gemeinden aufmerksam machen will und erste Daten zum Ausmaß der Waisenkrise veröffentlicht. 183 Das UN-Kinderrechtskomitee hält eine Generaldebatte zum Thema „Children living in a world with AIDS“ ab. Dabei wird vor allem auf die sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen zur Pflege und zur Prävention hingewiesen. Insgesamt sollte sich die internationale Reaktion aber nicht ausschließlich auf gesundheitliche Aspekte konzentrieren, sondern einen umfassenderen Ansatz wählen.184
181 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 14; Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania. 182 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 35. 183 Vgl. Hunter und Williamson 1997. 184 Vgl. www.unhchr.ch/html/menu2/6/crc/doc/days/aids.pdf 13.05.08.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
2000:
2000:
2001:
2002:
2002: 2003: 2004:
2004:
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Im südafrikanischen Durban spricht der 11-jährige Nkosi Johnson auf der Welt-AIDS-Konferenz über seine HIV-Infektion und seine Verwaisung und weckt damit das öffentliche Interesse am Schicksal von Kindern im Zusammenhang mit der AIDS-Epidemie.185 In Lusaka, Sambia, findet das erste regionale Treffen für Ostafrika und das südliche Afrika mit 80 Vertretern aus 14 Staaten statt. Die Ländervertreter verpflichten sich, die Probleme der steigenden Zahl von Waisen und gefährdeten Kindern in ihrem Land durch geeignete Maßnahmen zu bekämpfen. 186 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen kommt zu einer Sonderberatung (UNGASS) zum Thema „HIV und AIDS“ zusammen und verfasst eine Verpflichtungserklärung zu HIV/AIDS („UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS“), welche auch Ziele und Richtlinien für die Versorgung von Waisen umfasst.187 Sonderberatung der Vereinten Nationen zum Thema „Kinder“ mit mehr als 7.000 Teilnehmern. Diese Konferenz zählt zu den wichtigsten internationalen Ereignissen für Kinder in den vergangenen Jahren. Die Abschlusserklärung „A world fit for children“ bestätigt die Ziele und Verpflichtungen aus der UNGASS-Erklärung zu HIV/AIDS.188 Regionales Treffen in Yamoussoukro, Elfenbeinküste, mit Vertretern aus 21 zentral- und westafrikanischen Staaten zur Planung geeigneter nationaler Interventionen.189 UNICEF gibt einen umfassenden Bericht über die verwaisten Heranwachsenden in den afrikanischen Staaten heraus („Africa’s Orphaned Generation“).190 Tansania nimmt gemeinsam mit 16 anderen afrikanischen Staaten am RAAAP-Prozess teil. Diese Initiative von USAID, UNICEF, UNAIDS und WFP verfolgt das Ziel, Informationen über die Waisenkrise zu sammeln, nationale Maßnahmen zu evaluieren und mögliche Interventionen zu planen. 191 UNICEF veröffentlicht gemeinsam mit UNAIDS Rahmenrichtlinien für Hilfsmaßnahmen, den so genannten „Framework for the Protection, Care and Support of Orphans and Vulnerable Children living in a
Vgl. Guest 2003, S. 136. Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 35. Vgl. United Nations (Hrsg.) 2001, S. 29 f. 188 Vgl. www.unicef.org/specialsession/ 13.05.08. 189 Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 35; www.fhi.org/en/HIVAIDS/pub/Archive/OVCDocuments/ovcworkshop.htm 13.05.08. 190 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a. 191 Vgl. POLICY Project (Hrsg.) 2005. 186 187
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2005: 2007:
2 Die Waisenkrise in Tansania
World with HIV and AIDS“. Dieser soll Organisationen und Staaten Orientierung in der Planung der Hilfe für Waisen und für HIV- und AIDS-betroffene Kinder geben.192 Internationale Organisationen geben Evaluationsrichtlinien heraus, um die nationalen Reaktionen auf die Waisenkrise zu messen. 193 Die Organisation ANPPCAN stellt die 5. Afrikanische Konferenz zu Kindesmissbrauch und Vernachlässigung, die in Kampala, Uganda, stattfindet, unter das Thema „HIV/AIDS und Kinder“. Parallel findet eine Kinder- und Jugendkonferenz statt an der mehr als 50 Waisen und HIV-infizierte Heranwachsende teilnehmen.
Tansania ist in der Bewältigung der Waisenkrise auf internationale Partner angewiesen. Diese unterstützen zum einen die Formulierung und Umsetzung staatlicher Strategien und fördern zum anderen die wissenschaftliche Erforschung der Waisenkrise sowie einzelner Aspekte der Verwaisung. Partner in der Entwicklung und Umsetzung nationaler Strategien Zur Umsetzung der UNGASS Declaration of Commitment on HIV/AIDS arbeitete die Regierung Tansanias mit internationalen Partnern zusammen, um Strategien zur Bewältigung der Waisenkrise zu formulieren. Diese nationalen Strategien bieten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Orientierung in ihrer Arbeit mit betroffenen Kindern. UNICEF UNICEF194 gilt als führende internationale Agentur in der Entwicklung von geeigneten Strategien zur Bewältigung der Waisenkrise sowie in der Beratung 192
Vgl. UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004. Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2005. 194 Siehe UNICEF (Hrsg.) 2006, o. S.: 1946 wurde von den Vereinten Nationen ein Hilfsfonds für Kinder, der United Nations Children’s Emergency Fund, ins Leben gerufen, um Kindern zu helfen, die unter den Folgen des 2. Weltkriegs litten. Heute unterhält UNICEF Programme in 160 Ländern und entwickelte sich von einem Notfonds zu einem der bedeutendsten Entwicklungsdienste der Vereinten Nationen. Ziel der Organisation besteht darin, die Lebenssituation von Kindern durch Bildung, sauberes Trinkwasser, Gesundheitsprävention und den Schutz vor Missbrauch nachhaltig zu verbessern. Um möglichst nachhaltig zu arbeiten, beteiligt UNICEF die Bevölkerung bei der Planung und Durchführung von Programmen und unterstützt lokale Initiativen. Hilfsprojekte, die erfolgreich arbeiten, dienen als Modell für weitere Interventionen im gesamten Land. In den Ländern, in denen 193
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
117
nationaler Regierungen und nichtstaatlicher Organisationen bei der Implementierung dieser Strategien (Abb. 20). Abbildung 20: UNICEF-Strategien zur Umsetzung der „Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ für Waisen (vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38)
Stärkung der Kapazitäten von Familien, damit diese für Waisen und andere durch HIV/AIDS gefährdete Kinder sorgen können. Mobilisierung und Unterstützung von lokalen Projekten und Initiativen. Gewährleistung des Zugangs zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen für Waisen und andere durch HIV/AIDS gefährdete Kinder. Gewährleistung des Schutzes der am stärksten gefährdeten Kinder durch die Regierung. Aufmerksamkeit für die betroffenen Kinder wecken, um ein förderliches Umfeld zu schaffen.
In Tansania arbeitet UNICEF mit der Regierung zusammen, um effiziente Hilfsmaßnahmen für Waisen und andere gefährdete Kinder zu entwickeln. UNICEF unterstützte die zuständigen Behörden bereits bei der Formulierung der „National Guidelines for Community Based Care, Support and Protection of OVC“ von 1994. Die Umsetzung der geplanten Strategie gestaltete sich schwierig. Besonders die schwache Stellung und mangelhafte Ausstattung des Departments of Social Welfare und Unklarheiten hinsichtlich der Verantwortlichkeit einzelner Ministerien führten nach Ansicht von Jones John, Kinderrechtsspezialist bei der UNICEF-Zweigstelle in Dar es Salaam, zu Hemmnissen bei der Implementierung.195 In den Jahren nach der Formulierung der ersten Nationalen Richtlinien für die Versorgung von Waisen, den, veranlasste und unterstützte UNICEF eine Reihe von Untersuchungen in Tansania.196 Alle durchgeführten Studien zielten darauf ab, erfolgreichere Strategien zu entwickeln und umzusetzen, die nachhaltige Lösungen für die heranwachsende Generation Tansanias bieten. Ein wichtiger Schritt, den UNICEF von Anfang an personell und finanziell begleitete, bildet die Formulierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most sich UNICEF engagiert, kooperiert die Organisation eng mit der Regierung. UNICEF und die zuständigen Ministerien des Landes konzipieren jeweils Länderprogramme für fünf Jahre, welche vom Hauptsitz in New York bestätigt werden müssen. Die Umsetzung der Pläne leistet UNICEF gemeinsam mit einheimischen Partnern, wie private Hilfsorganisationen oder staatliche Institutionen. Die Finanzierung der Maßnahmen übernimmt sowohl die Regierung vor Ort als auch UNICEF. 195 Vgl. Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 196 Siehe. Mhamba 2004; Mwaipopo 2005; POLICY Project (Hrsg.) 2005; UNICEF (Hrsg.) 2001: Die genannten Publikationen stellen eine Auswahl von UNICEF-Studien mit Bezug auf die Waisenkrise in Tansania dar.
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Vulnerable Children“. „Die Idee war, einen gemeindeorientierten, komplexen Ansatz zu entwickeln, um sicher zu gehen, dass alle am stärksten gefährdete Kinder im Land identifiziert werden und Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen erhalten.“ (Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Zur Umsetzung des Aktionsplans vereinbarte UNICEF mit der Regierung und weiteren Stakeholdern ein Prozess, dem sich langfristig andere aktive Organisationen und Privatpersonen anschließen sollen. UNICEF unterstützt einzelne Distrikte bei der Einführung des Aktionsplans und der Etablierung lokaler MVC-Komitees zur Identifizierung und Versorgung der bedürftigsten Kinder vor Ort. UNICEF-Mitarbeiter Jones John erklärt, dass der Prozess nicht mit der Einrichtung der Komitees endet: „Es braucht eine Art konstante Zusammenarbeit, regelmäßige Überwachung und Kontrolle der Situation.“ (Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Diese kontinuierliche Zusammenarbeit ist notwendig, um den Geist der Freiwilligkeit und die Motivation der Gemeinde zu erhalten, welche die Basis für die nachhaltige Unterstützung verwaister und bedürftiger Kinder darstellt. 197 Family Health International Die amerikanische Organisation Family Health International 198 gehört neben UNICEF zu den wichtigsten Partnern der tansanischen Regierung. Levina Kikoyo und Jasmine Baghdellah, verantwortlich für die OVC-Programme von Family Health International in Tansania, berichteten im Interview von dem Engagement der Organisation. In Tansania arbeitet Family Health International in vier Bereichen: Versorgung und Behandlung von HIV-Patienten, staatliche Richtlinien für Waisen und andere gefährdete Kinder, direkte Unterstützung der betroffenen Kinder durch Stärkung lokaler Organisationen und HIV-Prävention durch das Jugendprogramm UJANA.199 197
Vgl. Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. Siehe www.fhi.org/en/AboutFHI/fhihistory.htm 18.03.08: Family Health International begann 1971 als Forschungsprojekt im Bereich Kontrazeption der Universität North Carolina in den USA. Eine finanzielle Förderung der Organisation USAID ermöglichte die Ausweitung der Forschung und die Gründung einer selbstständigen gemeinnützigen Organisation, die seit 1982 den Name Family Health International trägt. Die Organisation begann bereits in den 1980er Jahren, sich im Kampf gegen HIV/AIDS auf dem afrikanischen Kontinent zu engagieren. USAID ist weiterhin einer der wichtigsten Geldgeber der Organisation, aber auch die Regierung Großbritanniens und die Bill und Melinda Gates Stiftung finanzieren die vielfältigen Programme der Organisation. 199 Vgl. Interview mit J. Baghdellah am 05.06.08 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 05.06.08 in Dar es Salaam, Tansania. 198
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
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Gemeinsam mit UNICEF hat die Organisation die Formulierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ mit finanzieller und technischer Unterstützung mitgetragen. Durch das Engagement der Organisation gelang es, alle relevanten Stakeholder zusammenzubringen und an der Planung zu beteiligen. Family Health International agiert weiterhin als Berater der Regierung bei der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. Darüber hinaus nutzt die Organisation die Kooperation mit lokalen Projekten, um die staatlichen Richtlinien an der Basis bekannt zu machen und umzusetzen. Family Health International stellt auf diese Weise eine Verbindung zwischen der Regierung und den Gemeinden her.200 USAID Die amerikanische Entwicklungshilfeorganisation USAID 201 ist einer der größten Sponsoren in der Bewältigung der Waisenkrise in Tansania. 2006 schrieb USAID in Tansania Finanzierungshilfen für lokale Projekte von insgesamt 30 Millionen US$ (22 Millionen Euro) für einen Zeitraum von fünf Jahren aus. Die Organisationen der ambulanten Waisenhilfe, die in den Genuss dieser Fördermittel kamen, geben die Unterstützung im Rahmen ihrer Programme an bedürftige Waisen weiter.202 Eine bedeutende Rolle spielte die finanzielle Unterstützung von USAID auch bei der Formulierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“, denn die amerikanische Organisation Family Health International, die den Entwicklungsprozess und die Implementierung des Planes 200
Vgl. ebd. Siehe www.usaid.gov/about_usaid/usaidhist.html 17.03.08: Am 4. September 1961 verabschiedete der Amerikanische Kongress ein Gesetz zur Neustrukturierung der Auslandshilfe. Dieses sah unter anderem die Trennung militärischer und humanitärer Hilfsprogramme vor. Noch im selben Jahr rief der damalige US-Präsidenten John F. Kennedy die Organisation USAID ins Leben, um die nichtmilitärische Entwicklungszusammenarbeit zu koordinieren. Die Gründung von USAID ermöglichte die Bündelung von Kräften bereits aktiver Programme der US-Regierung zur nachhaltigen ökonomischen und sozialen Entwicklung ausländischer Staaten. Siehe USAID (Hrsg.) 2005a, S. 4f: USAID benennt im Arbeitsreport 2005 für Tansania zwei Gründe für ihr Engagement im Land. Zum einen gilt der Staat als politischer Stabilitätsfaktor in der Region, der nicht nur eine Flüchtlingspopulation von 400.000 Menschen beherbergt, sondern auch bei Konflikten in den Nachbarländern vermittelt. Zum anderen sieht die US-Regierung eine Möglichkeit, durch die Stärkung der demokratischen Strukturen und der wirtschaftlichen Entwicklung die muslimische Bevölkerung zu erreichen und positive Beispiele für das amerikanische Engagement im Ausland zu setzen. Dazu arbeitet USAID in fünf Bereichen: HIV/AIDS, Gesundheit, wirtschaftliches Wachstum mit dem Schwerpunkt Landwirtschaft, Umwelt und Demokratie. 202 Vgl. USAID (Hrsg.) 2006, S. 1. 201
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2 Die Waisenkrise in Tansania
begleitet, gehört zu einem der wichtigsten Partner von USAID und profitiert von der finanziellen Unterstützung der Organisation. 203 PACT Tanzania Die Organisation PACT Tanzania gehört in Tansania im Bereich der Arbeit mit Waisen und gefährdeten Kindern zu den größten Empfängern des Global Funds204 zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose. Insgesamt bewilligte der Global Fund der Organisation 55.7 Millionen US-Dollar.205 Mit dem Ziel, die Umsetzung des staatlichen MVC-Aktionsplans voranzubringen, setzt PACT Tanzania die Gelder des Global Fund und Zuwendungen der amerikanischen Regierung in drei verschiedenen Programme ein. In einem ersten Schritt kooperiert die Organisation mit dem Department of Social Welfare auf nationaler Ebene und den Verwaltungen auf Distriktebene. PACT finanziert in diesem Bereich die Aufklärung und Schulung der Kommunen durch Trainer. Die Gemeindemitglieder sollen mit Hilfe von PACT Tanzania in die Lage versetzt werden, MVC-Komitees zu gründen, um die bedürftigsten Kinder zu identifizieren und zu unterstützen. Das zweite Programm von PACT Tanzania fördert zivilgesellschaftliche Akteure über einen abgesteckten Zeitraum. Kleinen Projekten hilft die Finanzierung beim Aufbau von Unterstützungsangeboten für die Kinder, die von den MVC-Komitees als bedürftigste Kinder identifiziert wurden. Die Hilfsangebote für die Heranwachsenden richten sich nach den Interventionsbereichen, die der MVC-Aktionsplan formulierte. Das dritte Programm von PACT Tanzania, das zur Umsetzung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ beiträgt, besteht in der Ausweitung des eigenen WORTH-Projektes. Dieses Projekt stellt eine Kombination aus Sparund Kreditgruppen und Weiterbildungsmaßnahmen für die Betreuer der am stärksten gefährdeten Kinder dar. Die Betreuer kommen in den Spar- und Kre203
Vgl. Interview mit J. Baghdellah am 05.06.08 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 05.06.08 in Dar es Salaam, Tansania. 204 Siehe www.theglobalfund.org/en/about/ 09.12.09: Der Global Funds zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose wurde geschaffen, um zusätzliche Ressourcen zur Bekämpfung drei der schwerwiegendsten Krankheiten der Welt zu mobilisieren. Der Global Fund gilt als einzigartige Kooperation zwischen Staaten und ihren Regierungen, Zivilgesellschaft, Privatsektor und den betroffenen Gemeinden und Menschen. Seit der Gründung 2002 entwickelte sich der Global Fund zur wichtigsten Finanzierungsquellen im Kampf gegen AIDS. Die Organisation strebt dabei nicht nur die Prävention von HIV und die Behandlung bereits erkrankter Personen an, sondern auch die Linderung sozialer Folgen der Epidemie. In diesem Kontext erfolgt die Unterstützung von Waisenprogrammen weltweit. 205 Vgl. www.theglobalfund.org/programs/grant/?compid=824&grantid=383&lang=en&CountryId= TNZ 09.12.09.
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
121
ditgruppen regelmäßig zusammen und erhalten durch ihre aktive Mitwirkung die Möglichkeit, Kredite zum Aufbau kleiner Geschäfte zu erhalten. Die einkommenschaffende Maßnahme verbindet die Organisation mit Diskussionen und Weiterbildungen zu zwölf Themen im Bereich Kinderbetreuung und -versorgung und HIV-Prävention. Durch die drei beschriebenen Maßnahmen leistet PACT Tanzania einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“. 206 Southern African Trust Fund (SAT) SAT207 versucht in Tansania mit Hilfe von Organisationsentwicklung, lokale Initiativen zur Bereitstellung qualitativ hochwertiger Programme zur HIVPrävention, zur Waisenversorgung und zur häuslichen Krankenpflege für HIVinfizierte Personen zu befähigen. Lokale Organisationen, die bereits in diesen Bereichen arbeiten, bewerben sich entweder selbst bei SAT oder werden von den staatlichen Koordinatoren für AIDS-Aktivitäten in den Distrikten vorgeschlagen. Die Zusammenarbeit zwischen SAT und den lokalen Organisationen beginnt mit einer Situationsanalyse, die das Ziel verfolgt, Informationen zu den lokalen Ressourcen und Problemen sowie zu Stärken und Schwächen des Projekts zu sammeln. Gemeinsam mit SAT entwickelt die Organisation einen Jahresplan zur Verbesserung der Programme und Organisationsstruktur. SAT leistet finanzielle Hilfe und lädt Mitarbeiter der Organisation zu zahlreichen Fortbildungen ein, um die personellen und organisatorischen Kapazitäten auszubauen. Zwischen den einzelnen Organisationen, die SAT unterstützt, werden Netzwerke etabliert, sodass neue Projekte bei Besuchen von den bereits gut funktionierenden Programmen lernen können. Am Ende jedes Jahres findet in jeder Organisation ein Evaluationstreffen statt, zu dem Stakeholder aus allen Bereichen, zum Beispiel politische Akteure, Adressaten der Hilfe und Gemeindevertreter, zusammen kommen. Ein externer Berater leitet das Treffen, in dem Fortschritte und Probleme der angebotenen Programme angesprochen werden. Dieses partizipatorische Treffen bildet die Grundlage der weiteren Planung und Zusammenarbeit. Ein wichtiger Faktor besteht in der Nachhaltigkeit der Hilfe, welche die lokalen 206
Vgl. www.pacttz.org/supportovcs.html 04.03.09. Siehe Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania: SAT entstand 1999 als Projekt der Kanadischen Hilfsorganisation SIDA. Seit 2003 arbeitet SAT eigenständig als unabhängige, gemeinnützige Organisation in fünf afrikanischen Ländern. In Tansania kooperiert die Organisation mit über 25 Partnerorganisationen in fünf Regionen. Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Mobilisierung von Gemeinden im Kontext der AIDS-Epidemie. Durch die Organisationsentwicklung ausgewählter lokaler Projekte sollen die Gemeinden in die Lage versetzt werden, kompetent mit den Ursachen und Folgen der Epidemie umzugehen. 207
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2 Die Waisenkrise in Tansania
Organisationen leisten. Beispielsweise sollen Familien mit Waisen durch Einkommensprojekte in die Lage versetzt werden, langfristig selbstständig für die Waisen zu sorgen. Um die Existenz der Programme langfristig zu sichern, stützen sich die Organisationen vor allem auf Ressourcen in ihrem Einzugsgebiet. Volontäre aus den Gemeinden erhalten von den Projekten Weiterbildungen und die Mobilisierung lokaler Ressourcen erhält Priorität. Innerhalb von fünf Jahren baut SAT die lokalen Projekte zu soliden Organisationen mit einer differenzierten Angebotspalette aus. Die Organisationen sollen nach dieser Zeit in der Lage sein, sich durch eigene Einkommensprojekte bzw. durch die Ressourcenmobilisierung in den Gemeinden selbst zu finanzieren oder sich erfolgreich an Ausschreibungen für finanzielle Förderung durch internationale Organisationen zu beteiligen. SAT möchte mit seiner Arbeit einen Beitrag zur nachhaltigen Bewältigung der AIDS-Epidemie leisten und lokale Akteure in die Lage versetzen, für die Betroffenen in ihren Gemeinden zu sorgen. 208 Partner in der Bearbeitung spezifischer Aspekte der Verwaisung Einige internationale Organisationen befassen sich im Rahmen ihrer Arbeit direkt oder indirekt mit der Bearbeitung von Problemen, mit denen sich Kinder nach dem Tod ihrer Eltern konfrontiert sehen. Die Arbeit mit Waisen steht dabei in vielen Fällen nicht im Vordergrund, sondern ergab sich im Kontext der spezifischen Zielsetzung der Organisationen und ihrer Programme. Internationale Arbeitsorganisation (ILO) Die Internationale Arbeitsorganisation209 setzt sich seit den 1990er Jahren für die Abschaffung von schweren Formen von Kinderarbeit, die die Gesundheit und Entwicklung der betroffenen Kinder schädigen, ein. In Tansania bekämpft die 208
Vgl. Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania. Siehe Fyfe 2007, S. 2 ff.: Die Internationale Arbeitsorganisation wurde 1919 ins Leben gerufen, doch es dauerte 60 Jahre bis ein spezieller Fokus auf arbeitende Kinder gelegt wurde. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Problem der Kinderarbeit von externen Akteuren an die ILO herangetragen, doch unzureichende Ressourcen verhinderte eine internationale Mobilisierung gegen die Ausbeutung von Kindern. 1990 trat die Deutsche Regierung an die Internationale Arbeitsorganisation heran und ermöglichte mit einer Spendenzusage von jährlich 10 Millionen DM über einen Zeitraum von fünf Jahren die Gründung der IPEC, dem internationalen Programm zur Abschaffung von Kinderarbeit. Ziel bis 2016 ist die Abschaffung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit und die Durchsetzung von globalen Standards, welche die Arbeit von Kindern mit den internationalen Kinderrechten in Einklang bringen. 209
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
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Organisation Kinderarbeit, indem sie entsprechende Programme finanziell und personell unterstützt. Ziel besteht in der Reintegration von arbeitenden Kindern durch Bildungsmaßnahmen und durch die Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten für ihre Familien. Waisen gehören zur Risikogruppe für Kinderarbeit und sind in schweren Formen der Kinderarbeit überrepräsentiert (Kap. 3.1.1/Kap. 3.2.3). Demzufolge leistet die Organisation mit ihren Programmen einen Beitrag zum Schutz dieser Kinder und trägt gleichzeitig zur Zielerreichung des tansanischen Aktionsplans für MVC bei. 210 REPSSI Die Regionale Psychosoziale Unterstützungsinitiative 211, kurz REPSSI, ist der größte Fürsprecher für die psychosozialen Bedürfnisse von Kindern in Afrika. „Die meisten Menschen vernachlässigen momentan diesen psychosozialen, emotionellen Teil der Unterstützung und konzentrieren sich mehr auf die materielle und intellektuelle Hilfe.“ (Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Um auf die Bedeutung psychosozialer Bedürfnisse hinzuweisen, macht REPSSI durch Lobbyarbeit und Beratung auf diesen Aspekt der Versorgung aufmerksam. In Tansania waren die Bemühungen der Organisation erfolgreich, den der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ legt einen besonderen Schwerpunkt auf die psychosoziale Förderung der am stärksten gefährdeten Kinder. Peter Massesa, Koordinator von REPSSI für Ostafrika, warnt allerdings davor, sich nur auf psychosoziale Hilfe zu konzentrieren: „Wenn man ein Kind unterstützt, muss man sicher gehen, dass man es holistisch unterstützt. Man soll sich nicht nur auf materielle oder psychosoziale Unterstützung konzentrieren, man muss an allem arbeiten. Das ist es, wofür wir plädieren. Denn Menschen haben die Tendenz, diese beiden Dinge zu trennen. […] Man kann emotional, psychologisch unterstützen, das ist okay, doch das Kind ist immer noch hungrig.“ (Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). REPSSI selbst bietet keine direkte Unterstützung für Waisen an, entwickelt aber Programme für Organisationen und ermöglicht deren Mitarbeitern Fortbil210
Vgl. ILO (Hrsg.) o. J. Siehe www.children-psychosocial-wellbeing.org/repssi-history.html 09.12.09: REPSSI begann als „Psychosocial Think Tank” als Reaktion auf die Vernachlässigung psychosozialer Bedürfnisse von Kindern in Afrika. Seit der formellen Gründung im Jahr 2002 setzt die Organisation Lobbyarbeit ein, entwickelt methodische Werkzeuge und berät Regierungen sowie nichtstaatliche Akteure in inzwischen 13 afrikanischen Staaten. Auf diese Weise setzt sich REPSSI für das psychosoziale Wohlbefinden von Kindern, die unter kriegerischen Konflikten, HIV/AIDS und/oder Armut leiden, ein. 211
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2 Die Waisenkrise in Tansania
dungen, damit sie in Zukunft im Rahmen ihrer Arbeit psychosoziale Unterstützungsangebote implementieren können. 212 Die Programme von REPSSI zielen einerseits auf die Mobilisierung von Kommunen und andererseits auf die psychosoziale Unterstützung betroffener Personen. REPSSI will in Tansania sowohl HIV-infizierten Eltern helfen, sich und ihre Familie auf den Tod vorzubereiten, als auch verwaiste Kinder in die Lage versetzen, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Zu jedem Programm liefert REPSSI methodische Werkzeuge, beispielsweise interaktive Rollenspiele, und Materialien, beispielsweise großformatige Bilder.213 Welternährungsprogramm Das Welternährungsprogramm, WFP, engagiert sich seit 1963 in Tansania. Mit den Aktivitäten des Landesprogramms 2002 - 2006 unterstützte die Organisation unter anderem 190.000 Kinder in 330 Schulen durch eine regelmäßige Schulspeisung sowie 12.000 von HIV/AIDS betroffene Familien. Die Nahrungsmittelhilfe verbesserte bei HIV-infizierten Personen die Ergebnisse von Therapien und schützte Waisen vor Unterernährung. Der Hilfeplan 2007 - 2010 sieht die Weiterführung dieser Unterstützung für Waisen und von HIV-betroffenen Familien vor. Alle drei Monate sollen besonders gefährdete Waisen Lebensmittelrationen bestehend aus Mais, Hülsenfrüchten, Pflanzenöl und eine Getreide-SojaMischung erhalten. Zusätzlich bietet die Organisation weiterhin Schulspeisungsprogramme in Gegenden mit Nahrungsmittelknappheit an. Das Welternährungsprogramm unterstützt darüber hinaus Ausbildungsprogramme für Waisen, um neben der Soforthilfe auch nachhaltige Verbesserungen zu bewirken. 214 HelpAge International HelpAge International215 beschäftigte sich in Tansania bis vor wenigen Jahren weder mit Kindern im Allgemeinen noch mit Waisen im Speziellen, denn die 212
Vgl. Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. www.repssi.org/index.php?option=com_content&task=view&id=34&Itemid=52 17.05.08. 214 Vgl. WFP (Hrsg.) 2006, S. 9. 215 Siehe www.helpage.org/Aboutus/Whoweare 17.03.08: Die Hauptaufgabe der 1983 gegründeten Organisation HelpAge International besteht darin, alten Menschen weltweit zu helfen. Inzwischen etablierte die Organisation ein globales Netzwerk und arbeitet mit mehr als 70 Partnerprojekten in über 50 Ländern zusammen. Durch gezielte politische Arbeit und die Unterstützung praktischer Programme versucht HelpAge International, alten Menschen eine Stimme zu geben und ihre Lebenssituation langfristig zu verbessern. 213
2.2 Akteure in der Bewältigung der Waisenkrise
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ursprüngliche Zielgruppe der Organisation sind alte Menschen. Durch lokale Partnerorganisationen, die sich für die Versorgung im Alter engagieren, und durch Forschungsinitiativen wurde die Organisation in Tansania auf die Not alter Betreuer von Waisen aufmerksam. In der Publikation „The cost of love“ (Der Preis der Liebe) stellt HelpAge International anschaulich dar, welche besonderen Schwierigkeiten Großeltern haben, wenn sie ihre verwaisten Enkel bei sich aufnehmen. 216 HelpAge International machte es sich daraufhin zur Aufgabe, für diese alten Betreuer und die bei ihnen lebenden Kinder Programme zu entwickeln und praktische Hilfe zu leisten. „Wenn man das Problem der Waisen in diesem Land wirklich lösen will, dann kann man diese zwei Sachen, Waisen und alte Menschen, nicht trennen.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Organisation entwickelte sich durch ihre Programme zu einem wichtigen Akteur in der Waisenkrise. 217
216 217
Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004. Vgl. Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania.
„Die Frage nach der Lebenswelt der Adressat/innen, also – von der Sozialarbeit her formuliert – nach Handlungs-, Deutungs-, Lern- und Bewältigungsmustern im vorpädagogischen, vorprofessionellen Alltag sind selbstverständlicher Bezugspunkte einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit.“ (Thiersch 2002, S. 161).
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Die Lebenswelt der Waisen
Mehrere Studien dokumentieren die gravierenden Unterschiede in der Lebenswelt von Waisen in verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents.218 Strukturelle Voraussetzungen und kulturelle Besonderheiten in den einzelnen Ländern wirken sich auf das Leben von Kindern im Allgemeinen und Waisen im Besonderen aus. Um ein möglichst präzises Bild der Lebenswelt von Waisen in Tansania zu geben, stützt sich das folgende Kapitel in erster Linie auf Untersuchungsergebnisse mit Bezug auf Tansania. Aber auch innerhalb des Landes existieren Differenzen, die zur Folge haben, dass die Verwaisung für jedes einzelne Kind verschiedene Konsequenzen mit sich bringt und nicht jedes Kind von den gleichen Ressourcen profitiert. Aus diesem Grund sollen im vorliegenden Kapitel keine pauschalen Aussagen zur Lebenssituation von Waisen getroffen werden. Vielmehr zielen die Ausführungen darauf ab, Tendenzen für die besondere Gefährdung von Waisen aufzuzeichnen und mögliche Bewältigungsmuster darzustellen. Das vorliegende Kapitel gliedert sich in zwei übergeordnete Bereiche – zum einen in sozioökonomische Faktoren, welche die Versorgung des Kindes beeinflussen, und zum anderen in psychosoziale Faktoren, die sich vor allem auf das psychische Wohlbefinden und die Sicherheit des Kindes auswirken. Der sozioökonomische Teil enthält Angaben zu den Bereichen Grundversorgung, Bildung sowie medizinische Versorgung. Der psychosoziale Teil widmet sich hingegen den Aspekten Verlust und Trauer, Stigma und Diskriminierung sowie Gewalt gegen Waisen. Zwischen beiden Bereichen, das heißt zwischen dem sozioöko218 Vgl. Ainsworth und Filmer 2002, S. 18; Monasch und Boerma in AIDS 6/2004, S. 64; Nyangara 2004, S. 5 ff.
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nomischen und dem psychosozialen, kommt es zwangsläufig zu Überschneidungen. Aus diesem Grund musste beispielsweise im Gesundheitsbereich eine Trennung vorgenommen werden, indem sich der sozioökonomische Teil des Kapitels mit der medizinischen Versorgung bei körperlichen Erkrankungen befasst, während die psychische Gesundheit im psychosozialen Teil verortet wurde. 3.1 Sozioökonomische Faktoren Sozioökonomische Faktoren prägen die Lebenswelt der Waisen in Tansania. Aufgrund der geringen staatlichen Sozialleistungen müssen die Betreuer der Kinder bzw. die Heranwachsenden selbst durch ein eigenes Einkommen die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse sichern. Ein geringes Haushaltseinkommen führt zu Armut und Armut stellt das größte Risiko eines Kindes dar, um unter einem schlechten Ernährungsstatus, minderwertiger Wohnqualität, geringer Bildung und unzureichender medizinischer Versorgung zu leiden. 219 Armut ist ein komplexes Phänomen, da die Definition des Begriffes von normativen Einschätzungen und vom gesellschaftlichen Kontext abhängt. Trotz dieser Schwierigkeiten in der Begriffsbestimmung findet sich eine generelle Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut in der Literatur. Von absoluter Armut wird gesprochen, wenn Menschen sich nicht in der Lage befinden, ihre physische Existenz zu sichern. Relative Armut bezeichnet hingegen die Ausgrenzung vom gesellschaftlichen Reichtum, beispielsweise durch Zugangsbarrieren im Bildungsbereich oder durch den Ausschluss von kulturellen Aktivitäten. Menschen, die in relativer Armut leben, sind nicht unbedingt in ihrer Existenz bedroht, ihnen stehen aber im Vergleich zu ihrem sozialen Umfeld deutlich geringere Ressourcen zur Verfügung. 220 Aufgrund der im internationalen Vergleich geringen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Tansanias gehen die Ausführungen im Folgenden von der absoluten Armutsdefinition aus. Das zentrale Anliegen in Tansania muss zuallererst die Sicherung der physischen Existenz aller Bürger sein. Das Minimaleinkommen, welches zur Befriedigung aller Grundbedürfnisse reichen soll, definiert die Armutsgrenze in Tansania. 2000/01 wurde die Armutsgrenze auf 262 TSH (0,15 Euro) pro Person und Tag festgelegt. Im selben Jahr lebten 42% aller Kinder aus Haushalten mit Waisen unterhalb der Armutsgrenze; Kinder aus Haushalten ohne Waisen hingegen befanden sich zu 39% unter der Armutsgrenze.221
219
Vgl. Kaare 2005, S. 4. Vgl. Buer und Meyer in Stimmer (Hrsg.) 1996, S. 45. 221 Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 220
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3.1.1 Der sozioökonomische Status von Haushalten mit Waisen Die Aufnahme von Waisen sowie spezifische soziale und kulturelle Praktiken beeinflussen die Möglichkeiten eines Haushaltes, die Bedürfnisse seiner Mitglieder zu befriedigen. Im Rahmen einer Ursachenanalyse identifiziert der folgende Textabschnitt Gründe für die Situation von Haushalten mit Waisen. Soziale Absicherung Unzureichende Sozialversicherungssysteme und deren geringe Verbreitung tragen die Verantwortung dafür, dass in den meisten Fällen die Verwandtschaft nach dem Tod eines Erwachsenen allein für die Versorgung verwaister Kinder und verwitweter Ehepartner aufkommen muss. In Tansania existiert keine staatlich gesicherte Grundversorgung für Arbeitslose, Kranke, Kinder oder alte Menschen. Der Staat übernimmt demnach nicht die Grundversorgung der Waisen in Form von Dienst-, Geld- oder Sachleistungen. Das Sozialversicherungssystem, von dem nur Arbeitnehmer in einem formellen Arbeitsverhältnis profitieren, erreichte 2002 nur 5,6% aller potenziellen Arbeitskräfte.222 Als Folge können die meisten Betreuer von Waisen weder auf eine Waisenrente noch auf eine eigene Rente oder Absicherung zurückgreifen. Einkommenschaffende Aktivitäten der Betreuer Betreuer von Waisen unternehmen vielfältige Anstrengungen, um die bei ihnen lebenden Kinder angemessen zu versorgen (Abb. 21). Die Studie von Whitehouse (2002) über die Situation von Familien mit Waisen in der Mwanza Region bestätigt die Kreativität und Bemühungen der Betreuer, durch einkommenschaffende Aktivitäten die Versorgung verwaister Kinder zu sichern. Die Haushaltsvorstände erklären, dass sie in der eigenen Landwirtschaft arbeiten oder Kleinsthandel mit Secondhand-Kleidung, Nahrungsmittel oder Haushaltsgegenständen betreiben. Bei unerwarteten finanziellen Ausgaben, zum Beispiel bei Krankheit, entsteht die Notwendigkeit für Ad-hoc-Aktionen, wie Arbeitseinsätze, Betteln oder das Leihen von Geld bei Nachbarn. Nur 2,4% aller Haushaltsvorstände mit Waisen besaßen eine bezahlte Arbeit, 55% bezeichneten sich als selbstständig, 0,5% befanden sich noch in der Ausbildung und 38,6% waren arbeitslos. Mehr als die Hälfte der Haushalte (55%) lebte von weniger als 20.000 222
Vgl. Dau 2003, S. 1 ff.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
TSH (11,25 Euro) pro Monat, 16,9% hatten ein monatliches Einkommen zur Versorgung aller Haushaltsmitglieder von insgesamt 20.000 bis 30.000 TSH (11,25 bis 16,88 Euro) und nur 28,2% der Haushalte standen mehr als 30.000 TSH (16,88 Euro) zur Verfügung. Das Einkommen der Haushaltsvorstände war insgesamt zu gering, um eine angemessene Versorgung der Waisen und anderer Haushaltsmitglieder sicherzustellen. 223 Abbildung 21: „Gott gibt uns unser täglich Brot“ – Bewältigungsstrategien einkommensschwacher Haushalte mit Waisen In einem Seminar für Betreuer von Waisen der Organisation VUKA Tanzania bekam die Autorin Einblick in die Bewältigungsmuster hinsichtlich der Versorgung von Waisen. Einige Haushaltsvorstände schildern der Autorin ihre Bemühungen, mithilfe kleiner Geschäfte ein Einkommen zu verdienen. Eine 54-Jährige Frau, die neben ihren eigenen Kindern auch fünf verwaiste Enkelkinder versorgt, erklärt: „Ich habe versucht, Mandazi [ein typisches tansanisches Gebäck] zu verkaufen.“ (Fragebogen 070313b4/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Nicht immer sind die Versuche von Erfolg gekrönt. Eine Frau, die vier Waisen zwischen acht und 13 Jahren versorgt, berichtet von ihren vergeblichen Bemühungen: „Ich habe versucht, kleine Geschäfte zu machen, aber es ist nicht gelungen. Gott gibt uns unser täglich Brot.“ (Fragebogen 070313a4/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Die Identifizierung externer Unterstützungsangebote stellt eine weitere Strategie dar, die Menschen entwickeln, um die Grundversorgung der bei ihnen lebenden Waisen zu sichern. Sie bitten Nachbarn und Verwandte um Geld und Nahrungsmittel oder wenden sich, wenn die Möglichkeit besteht, an Hilfsorganisationen und Institutionen. Eine Frau in Dar es Salaam, die sechs Waisen betreut, erzählt: „Ich habe versucht, die Verwandten und Nachbarn einzubeziehen, damit wir die Probleme [bei der Versorgung der Waisen] lösen.“ (Fragebogen 070313b3/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Häufig fehlen den Betroffenen Informationen über vorhandene Hilfsangebote. Eine Witwe, die allein mit ihren zwei Kindern lebt, erläutert: „Ich bin nirgendwo hingegangen, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll.“ (Fragebogen 070313a5/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Selbst wenn sie den Versuch unternehmen und um Unterstützung bitten, sind ihre Bemühungen häufig nicht erfolgreich, weil sie sich beispielsweise an die falschen Stellen wenden. Ein Großvater, der zwei verwaiste Enkel betreut, erklärt: „Ich habe versucht, Hilfe in der Kirche zu bekommen, aber es ist mir nicht gelungen. Ich kann mein Kind nicht zur Schule schicken.“ (Fragebogen 070313a2/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Das Vorhandene zu teilen, scheint aus diesem Grund für viele Betreuer von Waisen, die einzige Möglichkeit zu sein: „Ich habe nichts gemacht, um die Probleme [bei der Versorgung der Waisen] zu lösen, weil ich nicht weiß was.“ (Fragebogen 070313a6/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama).
Die Möglichkeit, ein angemessenes Einkommen zu erwirtschaften, sinkt in Haushalten mit Waisen. Dies liegt entweder am Verlust der Arbeitskraft der Mutter oder des Vaters oder an den Einschränkungen der Betreuer durch die Aufnahme von Waisen. Beegle, DeWeerdt und Dercon (2006) untersuchten in einer Langzeitstudie über den Zeitraum von 13 Jahren die Folgen von Erwachse223
Vgl. Whitehouse 2002, S. 39 ff.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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nensterblichkeit für das Einkommen und den Haushaltskonsum. In Haushalten, in denen mindestens eine Person im Alter von 20 bis 55 Jahren starb, sank in den ersten fünf Jahren nach dem Tod der allgemeine Verbrauch um 7%. Da der Verbrauch in der Vergleichsgruppe im selben Zeitraum anstieg, ergab sich ein Unterschied im Haushaltskonsum von 19%. Nach den ersten fünf Jahren ließen sich negative Effekte immer noch feststellen, aber die Differenz war nicht mehr signifikant.224 Die Folgen von Erwachsenensterblichkeit hingen nicht vom ursprünglichen wirtschaftlichen Status des betroffenen Haushaltes ab. In wirtschaftlich schwachen Haushalten wirkte sich das Absinken der Konsumkraft allerdings deutlich stärker aus, da das reduzierte Einkommen die Grundversorgung der Haushaltsmitglieder gefährdete. 225 Bleiben die Kinder nach dem Tod eines oder beider Elternteile nicht in ihrem Haushalt, sondern werden in einen anderen Haushalt integriert, kann dies ebenfalls zu einer Reduzierung des Haushaltseinkommens führen. Besonders Säuglinge und Kleinkinder erfordern ein hohes Maß an Zuwendung und Betreuung. Dies schränkt die Möglichkeiten vieler Betreuer ein, ihrer Arbeit im gewohnten Umfang nachzugehen. „Man hat eine Person von 80 Jahren, die sich um Waisen zwischen zwei und vier Jahren kümmert, drei oder vier Waisen. Sie oder er ist bereits gebrechlich, kann nicht auf dem Feld arbeiten und verbringt zusätzlich vielleicht 90% seiner Zeit damit, diese kleinen Kinder zu betreuen.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Im schlimmsten Fall, wenn die Betroffenen nicht auf hilfsbereite Nachbarn oder Verwandte zurückgreifen können, müssen die Betroffenen wirtschaftliche Aktivitäten vollständig einstellen. 226 Betreuungsangebote für Säuglinge und Kleinkinder existieren in Tansania kaum und Plätze in der Vorschule sind in der Regel mit Kosten verbunden. 227 Einkommenschaffende Aktivitäten der Kinder Waisen tragen, wie viele andere Kinder in Tansania, zur Erwirtschaftung eines Einkommens sowie zur Versorgung des Haushaltes und der Landwirtschaft bei (Abb. 22).228 224
Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 6. Vgl. ebd., S. 22. 226 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 12. 227 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 78. 228 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2002, S. 25; HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 14; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 225
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Abbildung 22: Arbeit als prägendes Merkmal von Kindheit Für Kinder in Tansania ist es selbstverständlich, dass sie ihre Eltern oder die Haushaltsvorstände, bei denen sie leben, während der täglichen Arbeit begleiten. Typische Aufgaben, die Kinder in Tansania übernehmen, sind das Sammeln von Feuerholz, das Vorbereiten von Mahlzeiten, die Reinigung des Hauses und das Holen von Wasser. Neben diesen Haushaltstätigkeiten helfen Kinder vor allem in der Landwirtschaft, das heißt beim Bestellen der Felder und dem Versorgen der Tiere. Kinder in den Städten begleiten Verwandte und unterstützen sie in der Arbeit im informellen Sektor. Viele Heranwachsende lernen auf diese Weise früh handwerkliche Fertigkeiten oder erwerben Kompetenzen im Kleinhandel. Mehr als 90% aller befragten Kinder in einer Untersuchung in der Kagera Region gaben an, mindestens 1h in der vergangenen Woche gearbeitet zu haben. Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche betrug für Sieben- bis 15Jährige 18h, wobei die Arbeitszeit proportional zum Alter der Kinder zunahm. (Beegle, Dehejia und Gatti 2003, S. 12 ff.) Die „African Charter on the Rights and Welfare of the Child“, welche die Mitgliedsstaaten der Organisation of African Unity (OAU) 1990 verabschiedeten, geht neben den Rechten eines Kindes, auch auf die Pflichten eines Kindes ein. Artikel 31: „Jedes Kind soll Verantwortung gegenüber seiner Familie und Gesellschaft, dem Staat und anderen legal anerkannten Gemeinschaften und der internationalen Gemeinschaft tragen. Das Kind, abhängig von seinem/ihrem Alter und seinen/ihren Fähigkeiten, und den Beschränkungen, die in der vorliegenden Charta enthalten sind, soll die Pflicht haben; (a) für den Zusammenhalt der Familie zu arbeiten, seine/ihre Eltern, Vorgesetzte und Ältere stets zu respektieren und sie im Bedarfsfall zu unterstützen; […]“ (ANPPCAN (Hrsg.) 1999, S. 11 f./Übersetzung durch Verf.). Die Charta entspricht der afrikanischen Tradition, in der Kinder natürliche Pflichten gegenüber ihren Familien und der Gemeinschaft haben, und bestätigt gleichzeitig die Aktualität der Pflichten in der heutigen Zeit. Die Grenzen zwischen traditionell verankerter Mitarbeit der Kinder im Haushalt, in der Kinderbetreuung bzw. in der Landwirtschaft und einer Kinderarbeit, welche die Entwicklung der Heranwachsenden gefährdet, verschwimmen in Tansania. Die Definition des Begriffes „Kinderarbeit“ lässt sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ableiten. Der Artikel 32 der UNKinderrechtskonvention schreibt das Recht eines Kindes auf den Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung fest. Kinder müssen demnach vor Arbeiten bewahrt werden, „die Gefahren mit sich bringen, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte“. (Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1999a, S. 23).
Waisen in Privathaushalten sehen ihre Mithilfe als selbstverständlich und oft als Grund zur Freude an. Für 26,4% (n = 106) der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Waisen, die in Privathaushalten leben, war die eigene Arbeit einer von drei Anlässen, froh zu sein. Nur 4,7% der gleichen Stichprobe gaben an, dass sie wegen zu schwerer oder zu viel Arbeit traurig sind. Gute Arbeit zu leisten macht Kinder stolz und dokumentiert ihre Integration in den Haushalt. Ein dreizehnjähriges Mädchen, das beide Eltern verloren hat, berichtet
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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dementsprechend, dass es sie glücklich macht, wenn sie ihrer Betreuerin bei der Arbeit helfen kann.229 Bei der im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführten Untersuchung ließen sich bei einer Stichprobe von 183 Kindern Unterschiede zwischen Waisen (n = 119) und Nichtwaisen (n = 64) im Haushaltsbereich nachweisen. Die Kinder im Alter zwischen sieben und 17 Jahren wurden mithilfe eines Fragebogens über ihre Tätigkeiten am gestrigen Tag befragt. Die grafische Darstellung der Ergebnisse in der Abbildung 23 zeigt, dass Waisen sowohl im Haushalt als auch im Bereich der Erwerbsarbeit deutlich aktiver waren als Nichtwaisen. Abbildung 23: Aktivitäten von Waisen und Nichtwaisen am Tag vor der Befragung
Viele Waisen ergreifen selbst die Initiative, um ein regelmäßiges oder gelegentliches Einkommen zu verdienen (Abb. 24).230 Die Arbeitsmöglichkeiten für Kinder hängen dabei vom lokalen Kontext ab. 231 In den Städten haben Kinder in der 229
Vgl. Fragebogen 070505b6. Vgl. Rau 2002, S. 43. 231 Siehe Axios International (Hrsg.) 2002, S. 25: In der Mbeya Region beteiligten sich Waisen am Brauen von Bier und dem Verkauf von Holzkohle und Früchten. Siehe Rau 2002, S. 44: Waisen in Mitengwe in der Pwani Region verkauften am Bahnhof Früchte oder halfen bei der Herstellung von Holzkohle. Siehe HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 14: In der Iringa Region berichteten verwaiste Kinder, dass sie ihren Großeltern helfen, indem sie landwirtschaftliche Produkte verkaufen, Feuerholz und Sand sammeln oder ihre Arbeitskraft anbieten. 230
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Regel mehr Chancen, Arbeit zum Gelderwerb, zum Beispiel im informellen Sektor als Straßenhändler oder als Haushaltshilfe, zu finden. In ländlichen Kommunen ist der Arbeitsmarkt für Kinder hingegen begrenzt.232 Neben Arbeit stellt „Betteln“ eine weitere Möglichkeit für Waisen dar, Geld oder Nahrung zu beschaffen. Sie gehen, häufig auch gegen den Willen ihrer Betreuer, auf die Straße oder zu Nachbarn und bitten um Hilfe. 233 Abbildung 24: Arbeit als Beitrag von Waisen zur Versorgung des Haushaltes Das Durchschnittsalter der Waisen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Autorin von eigenen Erwerbsaktivitäten berichteten, betrug 11.7 Jahre. Das jüngste Kind war sieben Jahre alt und auf die Frage, wie sie ihre Familie unterstützen kann, antwortete sie: „Hühner, Kühe und Ziegen versorgen.“ (Fragebogen 070630b2/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Ebenso wie dieses Mädchen sehen andere befragte Waisen in der Arbeit einen Weg, einen eigenen Beitrag zu leisten. Auf die Frage, welche Möglichkeiten ein Kind hat, um das eigene Leben und das der Familie zu verbessern, sagten 72% der befragten Waisen (n = 92), dass sie arbeiten oder anderen helfen können. In der Regel beziehen sich die Kinder auf Haus- oder Feldarbeit und Betreuungsaufgaben. Ein 15-jähriges Mädchen, das mit ihren vier Geschwistern bei der Großmutter lebt, erklärt: „Ich kann lernen und Arbeit bekommen. Ich kann meine kleinen Geschwister und meine Großmutter betreuen und ich könnte den ganzen Acker bestellen, bis das ganze Unkraut weg ist.“ (Fragebogen 070419a2/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Manche Kinder machen sich Gedanken, auf welchen Wegen sich Geld erwirtschaften lässt. Ein Junge schreibt: „Ich kann auf dem Feld arbeiten und die Ernte verkaufen, um Geld zu verdienen.“ (Fragebogen 070405a9/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). In ländlichen Gebieten nutzen Kinder natürliche Ressourcen, um ein Einkommen zu erwirtschaften. Ein zehnjähriges Mädchen, das mit ihren zwei Geschwistern bei ihrer verwitweten Mutter lebt, berichtet der Autorin, dass sie am vorangegangenen Tag für ihre Nachbarn Wasser holte und sich den Dienst mit 50 TSH (0,03 Euro) bezahlen ließ (Fragebogen 070419a3). Einige Kinder erläutern, dass sie gerne geschäftlich tätig wären, aber nicht die Möglichkeiten haben. Ein zwölfjähriger Junge, der allein mit seinen zwei Brüdern lebt, erzählt beispielsweise, dass er Mandazi (tansanisches Gebäck), Chapati (dünnes Fladenbrot) oder Pommes frites braten und verkaufen möchte (Fragebogen 070419a5).
Waisen empfinden es grundsätzlich als selbstverständlich, ihren Teil zum Haushaltseinkommen beizutragen und übernehmen in der Regel aus eigenem Antrieb ihre Aufgaben. Freiwilligkeit ist aber nicht immer die Grundlage der wirtschaftlichen Aktivitäten verwaister Kinder. Quellen und Interviewpartner berichten, dass Waisen in Einzelfällen von erwachsenen Haushaltsmitgliedern gedrängt werden, eine Arbeit zu finden oder einen besonders großen Anteil an den ge-
232
Vgl. Beegle, Dehejia und Gatti 2003, S. 12. Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 233
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meinsamen Pflichten zu übernehmen.234 „In Extremfällen wird von einigen Personen, die wirklich kein Verständnis haben, alles auf die Kinder abgeladen. Sie entscheiden, dass sie [die Waisen] es sind, die die schwere Arbeit machen müssen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In anderen Situationen zwingen die Umstände Waisen dazu, sich einer regelmäßigen Erwerbsarbeit zuzuwenden, welche ihre gesunde Entwicklung gefährdet. Die Kinder setzen ihre eigene Arbeitskraft als Bewältigungsstrategie ein, um die Sicherung des Haushaltseinkommens zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für Waisen in Haushalte mit sehr alten oder kranken Betreuern oder in Kinderhaushalten. 235 Untersuchungen wiesen in Tansania vielfach einen Zusammenhang zwischen Kinderarbeit und Verwaisung nach. 236 Waisen zwischen fünf und 14 Jahren haben eine höhere Wahrscheinlichkeit als Nichtwaisen, mehr als 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. 237 Sie sind besonders in schweren Formen von Kinderarbeit überproportional vertreten.238 Obwohl nur ein Bruchteil der Waisen in schweren Formen von Kinderarbeit aktiv ist, bedeutet dies für die Betroffenen eine enorme psychische und teilweise physische Belastung sowie die Gefährdung ihrer gesunden Entwicklung. Durch die Verrichtung einer regelmäßigen Arbeit, beispielsweise als Hausmädchen oder als Straßenhändler, steigt das Risiko, dass Waisen andere Aktivitäten vernachlässigen. Um der Verantwortung, für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sorgen, gerecht zu werden, gehen die betroffenen Kinder nicht mehr regelmäßig zur Schule und haben keine Zeit, sich auszuruhen oder sich mit Freunden zu treffen.239 Außerdem benutzen Kinderarbeiter in der Regel für ihr Alter ungeeignete Werkzeuge und schützen sich nur unzureichend vor gesundheitlichen Risiken und Unfällen. Oft sind sie körperlichen und verbalen Misshandlungen durch ältere Kollegen oder Arbeitgebern 234
Vgl. Whitehouse 2002, S. 33; Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 235 Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43; Rau 2002, S. 44; Whitehouse 2002, S. 44; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 236 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 52; Rau 2002, S. 1; Whitehouse 2002, S. 33; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 30; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 237 Vgl. UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 10. 238 Vgl. Monasch und Boerma in AIDS 6/2004, S. 65. 239 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15; Rau 2002, S. 43; Whitehouse 2002, S. 33; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania.
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ausgesetzt.240 In einer Untersuchung der Organisation Axios International (2000) bezeichneten 3% aller befragten Waisen Kinderarbeit als ihr größtes Problem. 241 Abhängigkeitsrate in Haushalten mit Waisen Die Integration von Waisen in einen Haushalt zieht deutliche ökonomische Folgen nach sich. Durch die Aufnahme zusätzlicher Kinder steigt die Abhängigkeitsrate, das bedeutet, dass sich das Verhältnis von Erwerbsfähigen und Abhängigen, beispielsweise Heranwachsenden und alten Menschen, verschlechtert.242 „Ich habe meine eigene Familie und vielleicht stirbt nun mein Bruder oder meine Schwester. Ich muss deren Kinder aufnehmen, damit sie bei mir leben. Das bedeutet, dass viel Verantwortung hinzukommt, während mein Einkommen vielleicht nicht ausreicht.“ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 1999 trug ein Erwachsener (15 – 59 Jahre) in Tansania die Verantwortung für durchschnittlich 1.7 Kinder (0 – 14 Jahre) oder alte Personen (über 60 Jahre). In Haushalten mit Vollwaisen stieg die Abhängigkeitsrate auf 2.4. Die höchste Abhängigkeitsrate wiesen Haushalte mit weiblichen Haushaltsvorständen und Vollwaisen auf; in dieser Situation betrug sie durchschnittlich 2.9.243 Eine besonders schwierige wirtschaftliche Situation besteht in Haushalten, die sich nur aus Abhängigen zusammensetzen, beispielsweise in Kinderhaushalten oder in Haushalten, in denen Großeltern allein ihre Enkel betreuen. In Städten wiesen eben solche Haushalte, einen deutlich niedrigeren Lebensstandard auf als andere Haushalte.244 In der Regel teilen die Haushaltsmitglieder nach der Aufnahme von Waisen ein unverändertes Haushaltseinkommen. Viele Familien rationieren die vorhandenen Nahrungsmittel oder das bestehende Einkommen. Die Ausgaben pro Haushaltsmitglied werden minimiert, indem es beispielsweise weniger Mahlzeiten gibt.245 „Sie [die Familie] teilen die vorhandenen Ressourcen.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Als 240
Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 42 ff. Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 3. 242 Vgl. Whitehouse 2002, S. 40; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 17; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. 243 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 19. 244 Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 245 Vgl. Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 241
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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Folge bleibt für alle Haushaltsmitglieder weniger und der Lebensstandard der Familie sinkt. Auch für andere im Haushalt lebende Kinder kommt es zu einer Gefährdung ihrer Entwicklung. Familien aus der Mittelschicht können durch die Aufnahme von zusätzlichen Kindern in die Unterschicht absinken; in armen Haushalten verstärken sich die Notlagen. 246 Traditionen und Erbprobleme Traditionen bedingen in Tansania häufig die Benachteiligung von Frauen und Kindern. Im Hinblick auf Waisen existieren verschiedene kulturelle Praktiken, die sich negativ auf deren Versorgung auswirken. Diese Traditionen betreffen die Auseinandersetzung mit dem Tod, die Beerdigungsriten und die Verteilung des Erbes. Soziale Erwartungen und kulturelle Normen erzeugen einen gewaltigen Druck, dem sich die Menschen nur schwer entziehen können. In vielen Volksgruppen Tansania besteht die Tradition, die Gäste bei Beerdigungen großzügig zu bewirten, um den Respekt vor dem Toten auszudrücken und den Wohlstand der Familie zu präsentieren. Familien benötigen für dieses Ereignis häufig die gesamten Vorräte und Ersparnisse. Nach der Beerdigung bleiben in vielen Fällen für die Haushalte und für die Versorgung der Waisen keine Reserven übrig.247 Traditionen spielen auch bei der Vererbung eine wesentliche Rolle. 81% (n = 21) der Befragten gaben im Rahmen der vorliegenden Studie an, dass sich das traditionelle Erbrecht, welches Frauen und Kinder vom Erbe ausschließt, negativ auf die Versorgung von Waisen auswirkt. Das Erbrecht verfolgte ursprünglich ein positives Ziel und sollte die Versorgung von Witwen und Waisen sicherstellen. Levirat-Beziehungen, das heißt Beziehungen zwischen einer Witwe und einem oder mehreren Brüdern ihres verstorbenen Ehemannes, dienten in erster Linie der rituellen Reinigung der Witwe und ermöglichten die gegenseitige Versorgung sowie die Sicherung des sozialen Status der Frau und ihrer Kinder. Die Brüder des verstorbenen Mannes übernahmen den Besitz, aber auch die Verantwortung für die Familie. Dieser Brauch veränderte sich im Zuge der AIDSEpidemie. Die Angst vor einer HIV-Infektion oder eines Fluches, der auf der Frau lasten könnte, führte dazu, dass die Brüder keine Beziehungen mehr zu ihren verwitweten Schwägerinnen eingehen, sie nicht als ihre Frau anerkennen und die Versorgung der Waisen vernachlässigen. Die Familie des Verstorbenen 246 Vgl. Foster 2002, S. 4; Burkhardt 2004, o. S.; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 247 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 413; Whitehouse 2002, S. 30; Dilger 2005, S. 137 f.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 3.
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behält dennoch den Brauch bei, das Land, Tiere und anderen Besitz für sich zu beanspruchen.248 Der Staat ermöglicht inzwischen die Vererbung von Land und Besitz an Witwen und Waisen, doch die traditionellen Normen in den einzelnen Volksgruppen stehen weiterhin dagegen. „Es gibt Traditionen, die Waisen und Frauen benachteiligen, wenn eine Frau Witwe wird. Wenn eine Frau Witwe wird, bedeutet das traditionell, dass sie nicht berechtigt ist, irgendetwas, Grundstücke und so weiter, zu besitzen. Alles und jedes wird beschlagnahmt. Das bedeutet, dass die Frau arm, arm und arm bleibt. Und wenn sie dann eine bestimmte Anzahl von Kindern beschützen soll, wird es ein sehr, sehr großes Problem.“ (Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Sowohl Interviewpartner der Autorin als auch Quellen berichten von Fällen aus den verschiedensten Gegenden und Volksgruppen des Landes, in denen Frauen oder Waisen nach dem Tod ihrer Männer ihren Besitz verloren. 249 Viele betroffene Frauen haben das Gefühl, dass ihnen Unrecht getan wurde, doch ihnen fehlen das Wissen bezüglich geltender Gesetze und die rechtliche Unterstützung, für ihr Erbe und das ihrer Kinder zu kämpfen. Da es sich um eine Angelegenheit handelt, die traditionell der Clan regelt, scheuen sich Frauen, ihr Recht einzuklagen.250 Darüber hinaus verfassen zu wenig Menschen ein Testament, welches über die gewünschte Verteilung des Besitzes nach ihrem Tod Auskunft gibt und vor Gericht verwendet werden könnte.251 Sie haben Angst, dass sie mit einem Testament den Tod herausfordern. Die Beschäftigung mit dem eigenen Tod stellt immer noch ein Tabu in der tansanischen Gesellschaft dar und selbst Kranke, die wissen, dass sie nur noch eine begrenzte Zeit leben, fehlt die Bereitschaft und die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Sterben ausei-
248
Vgl. Whitehouse 2002, S. 45 ff.; Dilger 2005, S. 119 ff. Vgl. United UNDP (Hrsg.) 2000, S. 4; Fox 2001, S. 26; Axios International (Hrsg.) 2002, S. 23 f.; Whitehouse 2002, S. 45 ff.; Dilger 2005, S. 119 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 3; Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 250 Vgl. DeWeerdt 2006, S. 16 f. 251 Vgl. Whitehouse 2002, S. 47 f; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 21. 249
3.1 Sozioökonomische Faktoren
139
nanderzusetzen. 252 „Nur sehr wenige der Menschen, die mit HIV leben, die damit sogar positiv umgehen, sind ebenso bereit, den Tod zu akzeptieren.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Ein Testament könnte Witwen und Waisen helfen, sich gegen kulturell verankerte Benachteiligungen durchzusetzen und ihren Rechtsanspruch geltend zu machen. 3.1.2 Die Grundversorgung von Waisen Die Grundversorgung bezieht sich im Folgenden auf die Sicherung der physischen Existenz durch eine ausreichende Ernährung, den Schutz vor Witterungseinflüssen und Gefahren durch eine angemessene Unterkunft sowie nicht zuletzt die Ausstattung mit Kleidung und notwendigen Haushaltsgegenständen. Um die Grundversorgung zu sichern, benötigen Familien ein ausreichendes Einkommen. Whitehouse (2002) untersuchte die Einkommenssituation von Familien mit Waisen in der Mwanza Region und stellte fest, dass es vielen von ihnen nicht möglich war, grundlegende Bedürfnisse der Haushaltsmitglieder zu befriedigen. 39,4% der befragten Haushaltsvorstände gaben an, dass sie die Grundbedürfnisse der bei ihnen lebenden Waisen gar nicht erfüllen können und weitere 26,5% berichteten, dass sie nur einige Grundbedürfnisse befriedigen. Immerhin 28,5% sagten, dass sie die meisten Grundbedürfnisse sichern und 5,6% berichteten, dass sie allen Bedürfnissen der bei ihnen lebenden Waisen gerecht werden. 253 Ernährung Da Kinder sich in einer Phase der körperlichen und geistigen Entwicklung befinden und diese von einer ausgewogenen Ernährung abhängt, leiden sie besonders unter den Folgen einer Mangelernährung. Mangelernährung bedeutet, dass der Körper nicht mit ausreichender Nahrung versorgt wird. Es kann aber auch bedeuten, dass es keine ausgewogene Ernährung gibt, also dass die Ernährung nicht abwechslungsreich genug ist und nicht alle notwendigen Nährstoffe enthält. Mangelernährung wirkt sich auf das Wachstum und das Gewicht von Kindern aus. Verschiedene Untersuchungen konnten für Waisen ein deutlich höheres
252 Vgl. Fox 2001, S. 26; Lamtey in The Guardian 14.03.08; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 253 Vgl. Whitehouse 2002, S. 41 f.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Risiko für Untergewicht und Wachstumsverzögerung nachweisen (Kap. 3.1.4).254 Eine mangelhafte Ernährung führt allerdings nicht nur zu physischen Folgen, sondern verursacht zusätzlich schulische und soziale Probleme. Viele Waisen sind aufgrund unzureichender Ernährung nicht in der Lage, sich zu konzentrieren und gute Leistungen zu bringen. 255 Der Leiter der Hilfsorganisation BCDSA berichtet von Fällen, die ihm in seiner Arbeit mit verwaisten Kindern begegnet sind: „Sie [die Waisen] haben von morgens bis abends nichts zu essen. Deshalb stehen sie am Nachmittag vor einem Problem: Sie sind so hungrig, dass sie sich manchmal nicht konzentrieren können.“ (Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Eine unzureichende Ernährung hat somit einen direkten Einfluss auf das Leistungsvermögen der betroffenen Kinder. In vielen tansanischen Haushalten besteht Nahrungsmittelunsicherheit, doch Untersuchungen belegen, dass Waisen in besonderem Maße davon gefährdet sind.256 In der Haushaltsbefragung 2003/04 wurden Haushaltsmitglieder gefragt, wie viele Mahlzeiten sie am Tag vor der Befragung verzehrten. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung stellte die Autorin Waisenkindern (n = 101) die gleiche Frage. Der Vergleich der Ergebnisse zeigt deutlich, dass Waisen durchschnittlich weniger Mahlzeiten zu sich nehmen als die Gesamtbevölkerung. Besonders Vollwaisen leiden unter einer schlechten Ernährungssituation. Die Hälfte der durch die Autorin befragten Halbwaisen (n = 53) gab an, drei oder mehr Mahlzeiten am gestrigen Tag gegessen zu haben. Dies entsprach fast dem durchschnittlichen Niveau aller Haushalte aus der Haushaltsbefragung 2003/04. Von den befragten Vollwaisen (n = 48) verfügten hingegen nur 25% über drei oder mehr Mahlzeiten. Eine große Anzahl von ihnen (45,8%) berichtete von zwei Mahlzeiten am vorangegangenen Tag und fast ein Drittel (29,2%) sagte, dass sie nur eine bzw. gar keine Mahlzeit erhalten hatten. Die Abbildung 25 veranschaulicht das Ausmaß der Unterschiede. Die Grafik stellt die durchschnittliche Anzahl von Mahlzeiten von Waisen der Anzahl von Mahlzeiten der Gesamtbevölkerung gegenüber. 254 Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 19 ff.; Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 62 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 15 f. 255 Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 1; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S.81; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania. 256 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2006, S. 21; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 18.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
141
Abbildung 25: Durchschnittliche Mahlzeiten von Waisen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
In Gesprächen mit der Autorin bestätigten viele verwaiste Kinder, dass eine Mangel an ausreichender Ernährung ihnen große Sorgen bereitet. Essen sehen die befragten Waisen nicht als Selbstverständlichkeit an, sondern als etwas, worüber sie sich im Alltag freuen. Auf die Frage der Autorin, was sie traurig macht, antworteten die Waisen häufig „Hungrig schlafen zu gehen.“ (Fragebogen 070405b1/Übersetzung von E. Multhoff-Sama) oder „Nichts zu Essen zu haben.“ (Fragebogen 070630b7/Übersetzung von E. Multhoff-Sama). Insgesamt gaben 17,2% (n = 128) aller Waisen, die im Rahmen der Untersuchung befragt wurden, an, dass Essen sie glücklich macht bzw. dass sie traurig sind, weil ihnen ausreichendes Essen fehlt. Auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigen, dass Nahrungsmittelmangel zu einem der Hauptprobleme von Waisen zählt.257 Tabu Saadani begegnete im Kindergarten ihrer Organisation regelmäßig dem 257 Vgl. Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Baghdellah am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit E. Assey am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Matheru am 29.06.07 in Moshi, Tansania.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Problem der mangelhaften Ernährung von Waisen: „Wenn wir [die Mitarbeiter der Organisation] sie [die Waisen] fragten „Was hast Du gestern gegessen?“, erzählten einige von ihnen: „Ich hatte nur etwas während des Tages, aber am Abend hatte meine Großmutter nichts und ich bin hungrig schlafen gegangen“.“ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Unterkunft und Ausstattung des Haushaltes Im Vergleich von Unterkünften bezüglich ihrer baulichen Qualität und ihrer Ausstattung lassen sich zwischen urbanen und ländlichen Gebieten weitaus größere Unterschiede ausmachen als zwischen Häusern, in denen Waisen leben, und Häusern, in denen Familien ohne Waisen leben. Dem Unterschied zwischen Stadt und Land kommt demnach eine größere Bedeutung zu als der Benachteiligung von Waisen. Als Folge ist die bauliche Qualität der Häuser von Waisen in der Stadt teilweise schlechter als von anderen Haushalten in der Nachbarschaft, aber nicht unbedingt schlechter als die Wohnqualität auf dem Land. Auf dem Land besteht für Nichtwaisen ein größeres Risiko, in einer qualitativ schlechten Unterkunft zu leben, als für Waisen in der Stadt.258 Im Vergleich mit ihrem sozialen Umfeld zeigt sich dennoch häufig eine Benachteiligung von Waisen, sodass sich die Unterkunft zu einem Problem der betroffenen Kinder entwickelt (Abb. 26).259 Das Waisenprojekt HUYAMWI dokumentiert in einer Bedürfnisanalyse, dass 11% der Waisen, die im Einzugsgebiet der Organisation leben, in reparaturbedürftigen Hütten wohnen bzw. neue Unterkünfte benötigen.260 Die Organisation HelpAge International (2004) berichtet, dass sich bei einer Befragung von Waisen 28% der Kinder über die schlechte bauliche Qualität ihrer Unterkunft beklagen. 261
258 Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 24.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 und 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 28.04.07 in der Region Mara, Tansania. 259 Vgl. Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Assey am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Matheru am 29.06.07 in Moshi, Tansania. 260 Vgl. Burkhardt 2006, S. 13. 261 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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Abbildung 26: Die Wohnsituation verwaister Kinder Im Rahmen von Hausbesuchen erhielt die Autorin Einblick in die Wohnsituation verwaister Kinder: In der Nähe der Stadt Musoma lebt ein Vater mit seinen drei Kindern in einer baufälligen Hütte. Gleich daneben befinden sich die Grundmauern eines Neubaus aus Beton, den der Mann vor einigen Monaten begonnen hatte. Die Mauern reichen bis zur Brust, doch die AIDS-Erkrankung seiner Frau verhinderte den Weiterbau. Bereits angeschaffte Baumaterialien verkaufte die Familie, um Medikamente und Arztbesuche zu finanzieren. Jetzt, nach dem Tod der Frau, sind die Reserven der Familie aufgebraucht und der Neubau stagniert. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 09.05.07 in der Region Mara, Tansania) Die drei Brüder, die die Autorin in der Kagera Region kennenlernte, leben seit dem Tod ihrer Eltern alleine im Elternhaus und erhalten regelmäßig Unterstützung durch eine Tante, die in der Nachbarschaft wohnt. Die Wohnqualität in ihrem Haus übersteigt den durchschnittlichen lokalen Standard, da sie mithilfe einer kirchlichen Organisation für Waisen ein festes Dach aus Wellblech installieren konnten. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 in der Region Kagera, Tansania) Bei Hausbesuchen in der Mwanza Region trifft die Autorin zwei Großmütter, deren Häuser ein Sturm fast völlig zerstörte hat. Die erste Frau konnte mit ihren vier verwaisten Enkeln vorübergehend Zuflucht bei Freunden finden. Die zweite Frau lebt hingegen mit ihren Enkeln in der Ruine ihres Hauses, das nur noch aus zwei Wänden und einem kleinen Stück Dach besteht. Die Frauen befinden sich aufgrund ihres Alters nicht in der Lage, ihre Häuser wiederaufzubauen. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 28.04.07 in der Region Mwanza, Tansania)
Verschiedene Gründe tragen dazu bei, dass die Unterkunft in Haushalten mit Waisen zum Problempunkt wird. Über 80% der Bevölkerung Tansanias lebt in Lehmhäusern (Abb. 27).262 Der Vorteil der traditionellen Bauweise liegt in den geringen Baukosten, da sich Baumaterialien wie Holz, getrocknetes Gras und Lehm aus der unmittelbaren Umgebung nutzen lassen. Der Nachteil besteht in der Notwendigkeit ständiger Reparaturen, weil Termiten die Gebäude zerfressen und Wettereinflüsse den Lehm erodieren lassen. Besonders nach der Regenzeit oder Stürmen bedarf es Ausbesserungen und nach circa zehn Jahren zeigt sich die Notwendigkeit für einen Neubau des Hauses. 263 Dies erfordert körperliche Kraft, die alte Menschen und Kinder häufig nicht aufbringen. „Wenn die Arbeitskraft des Mannes oder der Eltern fehlt, dann können diese Häuser halt nicht mehr ersetzt werden. Das heißt, dass dann die Wohnqualität miserabel ist.“ (Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania). Neben der fehlenden physischen Kraft und unzureichendem Wissen hinsichtlich des traditionellen Hausbaus fehlen Waisen und ihren Betreuern häufig die finanziellen Mittel zum Erwerb zusätzlicher Baumaterialien. 264 262
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 11. 263 Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 264 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 3.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Abbildung 27: Haus in traditioneller Bauweise
Neben den Problemen hinsichtlich der baulichen Qualität ist auch die Ausstattung der Haushalte mit entsprechenden technischen Gerätschaften, Haushaltsgegenständen oder Textilien häufig von Mängeln geprägt. 84% der befragten Waisen in einer Studie der Organisation HelpAge International (2004) beklagten sich über fehlende Bettdecken.265 „Ich erinnere mich an diese eine bestimmte ältere Frau in einer Familie. Diese alte Person hat tatsächlich ihr eigenes Kleid als Zudecke für die Kinder in der Nacht benutzt. Das bedeutet, sie war während der Nacht nackt, und das in einer Umgebung, die sehr kalt ist, und in einem Alter, in dem sie selbst zwei oder drei Decken haben sollte. Aber die Situation war so schlimm, dass sie ihr eigenes Kleid nutzen musste.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Autorin stellte bei Hausbesuchen fest, dass es vor allem den Familien in ländlichen Gebieten am Nötigsten fehlt. Viele Betreuer von Waisen besaßen keine Möbel, Matratzen oder Decken und nur das grundlegendste Kochgeschirr. In vielen Hütten schliefen die Menschen auf dem mit trockenem Gras ausgelegten Lehmboden. 266 Schlechte Unterkunftsverhältnisse führen zur Gefährdung der Haushaltsmitglieder. Bauliche Solidität und eine angemessene Ausstattung bilden die Vorausset265
Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13. Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 und 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 28.04.07 in der Region Mwanza, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 20.06.07 in der Region Kilimanjaro, Tansania. 266
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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zungen für die Sicherheit vor Einbruch und den Schutz vor Witterungseinflüssen. Menschen, die Regen und Wind ausgesetzt sind oder auf dem kalten und feuchten Boden der Hütte schlafen müssen, haben ein größeres Krankheitsrisiko.267 Die Stabilität der Unterkunft erhöht außerdem die Sicherheit der Bewohner. Der Diebstahl von Nahrungsmitteln, Haushaltsgegenständen, Kleidung und Wertsachen stellt eine nicht zu vernachlässigende Bedrohung für wirtschaftlich schwache Haushalte dar. Fehlt den Haushalten die Möglichkeit, Eigentum sicher zu bewahren, bedroht dies auch die positive Wirkung externer Hilfe (Abb. 28). Abbildung 28: Die Bedeutung einer sicheren Unterkunft für die Wirkung externer Hilfe Die Autorin lernt Johnson M. bei einem Seminar für Waisen der Organisation HUYAMWI in der Kilimanjaro Region kennen. Das Seminar verfolgte das Ziel, Waisen mit einem kleinen Projekt bei der Erwirtschaftung eines eigenen Einkommens zu helfen. Zu diesem Zweck erhielten die Kinder nach dem mehrtägigen Seminar Meerschweine oder Saatgut. Johnson M. hatte sich ein Meerschwein gewünscht, welches er mästen und züchten wollte. Meerschweine gelten in der Kilimanjaro Region als Delikatesse und Johnson M. hoffte, dass er in einigen Wochen durch den Verkauf etwas Geld einnehmen könne. Als die Autorin Johnson M. wenige Tage später mit Mitarbeitern der Organisation Zuhause besuchte, war sein Meerschwein bereits gestohlen und der extra angefertigte Käfig stand leer. (Interview mit Johnson M. am 20.06.07 in Mwika, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 20.06.07 in der Region Kilimanjaro, Tansania) Die Organisation HUYAWA in der Kagera Region hat die Bedrohung durch Einbruch vorausschauend erkannt. Bei der Einweihung einer neuen Unterkunft für einen Kinderhaushalt klärte der Leiter von HUYAMWI die Autorin über die Beweggründe für den Bau des Hauses auf. Die Verantwortlichen befürchteten, dass die Nähmaschine, mit der das älteste Mädchen die Versorgung ihrer fünf jüngeren Geschwister übernehmen will, gestohlen wird, da die Lehmhütte der Kinder keine Sicherheit bot. Um einem Diebstahl vorzubeugen, übernahm die Organisation, zeitgleich mit der Finanzierung der Nähmaschine, den Bau eines neuen Hauses. Dieses sichert durch Eisengitter an den Fenstern und ein stabile und verschließbare Tür das Eigentum der Kinder. Diese notwendige Vorsichtsmaßnahme erhöhte die Kosten der Organisation um ein Vielfaches. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania)
In einigen Fällen stellt nicht nur die bauliche Qualität und die Ausstattung ein Problem dar, denn den Betroffenen fehlt es gänzlich an Obdach oder der Erhalt der Unterkunft ist bedroht. Witwen und Waisen, die von ihrem Grundstück vertrieben wurden, sind darauf angewiesen, bei Verwandten, Nachbarn oder Freunden Aufnahme zu finden.268 Gelingt dies nicht und sind sie nicht in der Lage, ein regelmäßiges Einkommen zu erwirtschaften, um ein Zimmer zu mieten, droht ihnen die Obdachlosigkeit (Abb. 29). 267 268
Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. Vgl. UNDP (Hrsg.) 2000, S. 4.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Abbildung 29: Gefahr von Obdachlosigkeit als Folge von Verwaisung Franklin M., den die Autorin in der Kilimanjaro Region kennenlernte, wurde nach dem Tod seiner Eltern von seinem Bruder nach Moshi gebracht und dort bei Freunden gelassen. Da Franklin M. nicht weiß, wo sich sein Bruder aufhält, bleibt er auf die Freunde des Bruders angewiesen. Diese geben ihm zeitweise eine Unterkunft in ihrer eigenen Familie. Die Unterbringung stellt jeweils nur eine kurzfristige Lösung dar. „Er [mein Bruder] hat mich in einer schwierigen Situation zurückgelassen. Ich bin abhängig geworden. […] Einige Tage lebe ich hier, andere dort – ich streune herum.“ (Interview mit Franklin M. am 28.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In Arusha besucht die Autorin eine Witwe, die sich an eine lokale Waisenorganisation wandte, weil der Vermieter ihr mit Kündigung droht. Gemeinsam mit ihren Kindern bewohnt sie ein kleines Zimmer im Haus des Vermieters, kann allerdings die Miete nicht mehr aufbringen. Gelingt es ihr nicht, das notwendige Geld zu beschaffen, droht ihr und ihren Kindern ein Leben auf der Straße. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 03.07.07 in der Region Arusha, Tansania)
Es besteht die Gefahr, dass Kinder nach ihrer Verwaisung auf die Straße gehen und dort langfristig ihr Auskommen suchen (Abb. 30).269 Der Gang auf die Straße, welcher Chancen auf die Erwirtschaftung eines eigenen Einkommens eröffnet, lässt sich bei vielen Waisen als individuelle Bewältigungsstrategie werten. Für einige Waisen, die nach dem Tod ihrer Eltern ihr Zuhause verlieren, stellt ein Leben auf der Straße ihre einzige Chance dar, ihr Überleben zu sichern. Andere Kinder besitzen ein Zuhause, aber entscheiden sich bewusst für den Gang auf die Straße, da sie sich davon soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und eine bessere Versorgung erhoffen. In einigen Fällen bildet die Entscheidung für die Lebenswelt der Straße eine Möglichkeit für verwaiste Kinder, Konflikten mit ihren Betreuern zu entfliehen. In der Regel führt eine Kombination mehrerer Gründe dazu, dass Kinder auf der Straße leben. Zu Verwaisung oder Armut kommen zusätzlich Faktoren wie Missbrauch, Beziehungskonflikte oder Alkoholismus in den Familien. 270 Nicht alle Straßenkinder in Tansania sind Waisen, dennoch stellen sie einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der Straßenkindpopulation. Den Anteil von Waisen an allen Straßenkindern in Tansania schätzen Interviewpartnern aus Projekten für diese spezielle Zielgruppe auf bis zu 95%.271
269 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 4; UNICEF (Hrsg.) 2003, S. 25; Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 12; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. 270 Vgl. McAlpine 2005b, S. 12; Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 12. 271 Vgl. Interview mit M. Brown am 30.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit F. Mapunda am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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Abbildung 30: Exkurs: Straßenkinder in Tansania Straßenkinder bilden keine homogene Gruppe. In der Fachliteratur wird eine begriffliche Unterscheidung von „Kindern auf der Straße“ und „Kindern der Straße“ vorgenommen: Kinder auf der Straße bezeichnet arbeitende Kinder, die in den Städten wohnen. Sie verdienen ihr Geld durch Gelegenheitsarbeiten im informellen Bereich. Mit ihrem Einkommen unterstützen sie ihre Familien. Der überwiegende Teil geht nicht zur Schule und verbringt den gesamten Tag auf der Straße. Abends kehren sie regelmäßig zu ihren Familien zurück. (Adick (Hrsg.) 1997, S. 11) Kinder der Straße sind Straßenkinder im klassischen Sinne. Sie kommen aus unterschiedlichsten Gründen in die Stadt und suchen dort ein Auskommen. Die Straße wird von den Kindern als Lebenswelt genutzt und bildet die wichtigste Sozialisationsinstanz. Die Kinder verbringen 24 Stunden ihres Tages in öffentlichen Räumen. Sie arbeiten, waschen sich, schlafen und essen in den Innenstädten, auf Bahnhöfen, am Strand oder in Parks. Der Kontakt nach Hause besteht nur noch sporadisch oder ist zumindest mittelfristig abgebrochen. (Holm und Drewes (Hrsg.) 1996, S. 14) Der Gang auf die Straße bedeutet für viele Kinder in Tansania in erster Linie eine Entlastung von der Lebenssituation in ihren Familien. Auf der Straße finden sie Freundschaft mit Gleichgesinnten, die ihre Probleme und Ängste teilen. Straßenkinder schließen sich zu Gruppen zusammen und erfahren trotz der widrigen Lebensumstände ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sicherheit. Auf der anderen Seite beherrscht Gewalt zwischen den Kindern der Straße und Angst vor der Polizei, anderen Sicherheitskräften und Passanten ihren Alltag. Sie leben in einer Gemeinschaft, in welcher der Stärkere den Schwächeren dominiert. Die tägliche Suche nach einem Auskommen ist ein außerordentlicher Druck. Jeden Tag aufs Neue beschäftigen sich Straßenkinder mit aktiver Problemlösung und treffen vielfältige Entscheidungen, um ihre Existenz zu sichern. (Dachtler 1999, S. 83 ff.)
Kleidung Für den Schulbesuch in Tansania benötigen alle Kinder eine Schuluniform. Unabhängig von der Schuluniform (Kap. 3.1.3) stellt eine ausreichende Ausstattung der Waisen mit Wechselkleidung ein Problem dar. In einer Situationsanalyse der Organisation Axios (2000) in der Mbeya Region führten 20% der befragten Waisen einen Mangel an Kleidung als ihr größtes Problem an; noch vor Schulmaterial (18%) und Ernährung (16%).272 Auch in der Untersuchung von Whitehouse (2002) war Kleidung eines der Bedürfnisse von Waisen, das Haushaltsvorstände nicht befriedigten. Kleidung rangierte in dieser Befragung mit 20,7% auf Platz 3 der Liste unerfüllter Bedürfnisse. 273 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung berichteten Interviewpartner über die besondere Bedeutung von Kleidung und Schuhen für die Waisen. 274 Da 272
Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15. Vgl. Whitehouse 2002, S. 43. 274 Vgl. Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, 273
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Kleidung, anders als beispielsweise die Ausstattung des Hauses mit Haushaltsgegenständen, von Mitmenschen in außerhäuslichen sozialen Kontakten eingesehen werden kann, besteht die Gefahr, dass abgetragene Kleidung zur Stigmatisierung von Kindern beiträgt. Waisen, welche die Autorin bei Hausbesuchen traf, fehlte häufig eine ausreichende Wechselgarderobe und Seife. Die Sachen, die sie trugen, konnten dementsprechend nicht regelmäßig gewaschen werden und waren zerschlissen. Darüber hinaus existiert in den gläubigen Familien Tansanias die Tradition, Kindern zu religiösen Feiertagen neue Kleidung zu schenken. Können Betreuer sich diese nicht leisten, kommt es bei den Kindern zu Enttäuschung und Frustration. So berichtet ein 16-jähriger Junge, der seit dem Tod seiner Eltern bei den Großeltern lebt, dass er traurig war, weil seine Großeltern ihm zu Ostern keine neue Bekleidung kauften.275 Ein Mangel an Kleidung kann das Gefühl von sozialer Diskriminierung verstärken und Stigmatisierungsprozesse auslösen. 3.1.3 Die Bildungschancen von Waisen Der Wohlstand eines Menschen in Tansania steigt proportional zu seinem Bildungsgrad.276 Geeignete Bildung steigert die Produktivität und die Einkommenskapazität und sie verbessert die Gesundheit und das persönliche Wohlbefinden.277 Bildung ist aber nicht allein für die persönliche Entwicklung des jeweiligen Individuums, sondern auch für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt bedeutend. Investitionen in Bildung gelten als zentrale Komponente für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt eines Landes. Die Erhöhung des Humankapitals leistet einen Beitrag zur Armutsbekämpfung, zu besserer Gesundheit und einer höheren gesamtgesellschaftlichen Arbeitsproduktivität.278
Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit E. Assey am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Matheru am 29.06.07 in Moshi, Tansania. 275 Vgl. Fragebogen 070419a9. 276 Vgl. Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2005, S. 71. 277 Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 1. 278 Vgl. Beegle und Burke in Journal of African Economies 2/2004, S. 333.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
149
Abbildung 31: Bildung in Tansania In der vorkolonialen Zeit erfolgte die Bildung der Heranwachsenden einerseits durch formale Bildungsangebote, das heißt kurzen Perioden der Initiation, und andererseits durch die Erziehung in der Familie und Gemeinschaft. Unterrichtet wurden die Kinder während der praktischen Ausübung von unterschiedlichen Tätigkeiten. Jedes Mitglied der Gemeinschaft war im weitesten Sinne Lehrer und vermittelte den Kindern im Zusammenleben und in der täglichen Arbeit Wissen, Verhaltensnormen und Bräuche. (Fafunwa und Aisiku (Hrsg.) 1982, S. 236 ff) Der Schulbesuch wurde mit der Kolonialisierung eingeführt. Die Organisation der Schulen und die Inhalte des Unterrichts basierten nach der Übernahme der Macht durch Großbritannien auf dem britischen Bildungssystem. Das traditionelle Wissen wich Lehrinhalten einer fremden Kultur. Die Lehrpläne dienten den Interessen der Kolonialherren, die gut ausgebildete junge Menschen für die lokale Verwaltung benötigten. Nur eine kleine loyale, meist christliche Minderheit profitierte von den wenigen Schulplätzen, sodass Bildung zunehmend auf Individualität statt auf Gemeinschaftssinn zielte. (Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 94 f) Nach der Unabhängigkeit 1961 bestand das übergeordnete Ziel der Schulbildung darin, die Heranwachsenden auf ihren Platz in einer sozialistischen Agrargesellschaft vorzubereiten. Dazu wurde beispielsweise Versuchsfarmen an die Schulen angeschlossen und landwirtschaftlicher Unterricht in den Lehrplan aufgenommen. (Fafunwa und Aisiku (Hrsg.) 1982, S. 236 ff) Um möglichst schnell allen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, wurde das Bildungssystem nach 1961 zentral organisiert. Die Erfolge waren beträchtlich, bereits 1982 betrug die Einschulungsrate 95% (UNDP (Hrsg.) 2000, S. 33). Die Trendwende kam nach dem Ende der Amtszeit von Nyereres. Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde im Rahmen wirtschaftlicher Reformen im Bildungsbereich eine Kostenbeteiligung in Form von Schulgebühren eingeführt, die sich negativ auf die Schülerzahl und auf die Qualität der Bildung auswirkte (United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 78). Die Haushaltsbefragung von 1996 zeigte, dass in der Altersgruppe der Sechs- bis Zehnjährigen nur 27% und in der Altersgruppe der Elf- bis 15Jährigen nur 71% die Schule besuchten (United Republic of Tanzania – National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 1997, S. 16). In den letzten zehn Jahren stoppte die Regierung Tansanias den Abwärtstrend und erreichte grundlegende Verbesserungen im Bildungsbereich. Der PEDP-Prozess (Primary Education Development Plan) von 2000 bis 2005 sollte den Primarschulbesuch für alle Kinder ermöglichen und die Bildung qualitativ verbessern. Die Regierung konzentrierte sich vor allem auf die Abschaffung der Schulgebühren in der Primarstufe und den Ausbau von Schulen, um die steigende Schülerzahl unterzubringen. (McAlpine 2005a; S. 6 ff)
Bildungschancen von Waisen Bildung in Tansania (Abb. 31) umfasst moderne formale Bildungsangebote279, wie Primar- und Sekundarschule, sowie Formen der traditionellen Bildung, bei279 Siehe Österreichische Forschungsstiftung für Entwicklungshilfe (Hrsg.) 2007, S. 4: Formale Bildung bezeichnet die bewusste und systematische Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten. Sie unterscheidet sich von informeller Bildung durch einen zielgerichteten Charakter und einem strukturierten und klar definierten Rahmen.
150
3 Die Lebenswelt der Waisen
spielsweise im Rahmen der Initiation280, und Sozialisationsprozesse in der Familie und Gesellschaft. Die bisher veröffentlichten Studien beschränken sich einzig auf den modernen Bildungsbereich (Abb. 32). Der Mangel an Untersuchungen hinsichtlich traditioneller Bildungsangebote zeigt deutlich die begrenzte Sichtweise der bisherigen Forschung auf die Probleme und Ressourcen von Waisen im afrikanischen Kontext. Kulturspezifische Bildungsangebote, die für die gesellschaftliche Stellung der Heranwachsenden und die soziale Integration eine ebenso bedeutsame Rolle spielen können, wie moderne Bildungsangebote im formalen Bereich, fehlen bisher gänzlich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es bleibt daher unklar, ob der Waisenstatus den Zugang zur traditionellen Bildung, das heißt beispielsweise die Teilnahme an Initiationsriten, beeinträchtigt. Ein weiteres Problem bisher veröffentlichter Studien besteht in einer fast ausschließlichen Betrachtung von Kindern im Primarschulalter. Dies lässt nur begrenzt Aussagen über die unterschiedlichen Chancen von Waisen und Nichtwaisen in weiterführenden Bildungsangeboten zu. Abbildung 32: Das staatliche Bildungssystem in Tansania 2007 (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Education and Vocational Training (Hrsg.) 2007, o. S.) Einrichtung Vorschule Primarschule Sekundarschule O Sekundarschule A
Reguläres Alter 5-6 7 - 13 14 - 17 18 - 19
Klassen Standard I VII Form I - IV Form V - VI
Unterrichtssprache Kisuaheli Kisuaheli
LehrerSchüler-Ratio 1:46 1:53
Englisch
Anzahl der Schüler 795.011 8.316.925 967.087
1:34 Englisch
53.423
Empirische Untersuchungen belegen die Benachteiligung von Waisen im Primarschulbereich. Sie dokumentieren aber auch die Fortschritte, die in den vergangenen Jahren erzielt wurden. Beim Vergleich von Daten unterschiedlicher Haushaltsbefragungen (Abb. 33) zeigt sich, dass sich das Verhältnis von Waisen und Nichtwaisen, die im Alter von zehn bis 14 Jahren die Schule besuchen, über die Jahre zunehmend angenähert hat.
280 Siehe Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 94: Initiation bezeichnet die rituelle Aufnahme in eine geschlossene Gesellschaft und markiert den Übergang in eine neue Altersstufe bzw. die Veränderung des sozialen StatuS. In afrikanischen Ethnien ist die Initiation oft verbunden mit einer Trennung von der Gemeinschaft, der Vermittlung von Sitten, Aufgaben und Traditionen und der Erfüllung von spezifischen Aufgaben zum Nachweis der persönlichen Reife.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
151
Abbildung 33: Ratio: Schulbesuch von Waisen und Nichtwaisen (10 – 14 Jahre) (vgl. Measure DHS (Hrsg.) 2006, S. 35f)
In der Haushaltsbefragung 2003/04 war der Anteil von Waisen und Nichtwaisen in der Schule fast gleich groß (Ratio 0.99). Die Benachteiligung von Vollwaisen konnte in den letzten Jahren am stärksten abgebaut werden und kehrte sich inzwischen sogar leicht um. Vollwaisen im Alter von zehn bis 14 Jahren verfügen über bessere Chancen, die Schule zu besuchen als Nichtwaisen. 281 Eine Erklärung für diese Entwicklung könnte sein, dass Vollwaisen eine spezielle Zielgruppe von Hilfsprogrammen bilden und somit in den Genuss von Bildungsförderung kommen.282 Da die Daten nur den Schulbesuch von Zehn- bis 14-jährigen Kindern messen, lässt sich die Dauer der gesamten Schullaufbahn nicht ablesen. Es bleibt unklar, ob die Einschulung von Waisen später erfolgt und ob sie die Schule eher abbrechen als andere Kinder. Andere Studien stellten sich diese Frage und ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass sich auch im Schuleintrittsalter von Waisen im Vergleich zu Nichtwaisen 281
Vgl. Measure DHS (Hrsg.) 2006, S. 35 f. Siehe Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 20: Die Studie belegt, dass der Erhalt externer Hilfe einen signifikanten Einfluss auf den Schulbesuch von Waisen im Alter von sieben bis 14 Jahren ausübt. Demnach wiesen Waisen, die materielle Unterstützung bekommen, deutlich höhere Einschulungsraten auf als Nicht-Waisen. 282
152
3 Die Lebenswelt der Waisen
eine positive Trendwende abzeichnet. Ainsworth (2002) analysierte gemeinsam mit Beegle und Koda die Daten von Haushaltsbefragungen aus den Jahren 19911994 in der Kagera Region im Hinblick auf die Einschulung von Kindern zwischen sieben und 14 Jahren. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen deutlich eine Benachteiligung der Waisen im Hinblick auf die Einschulung. Bei Waisen, die vor dem Tod eines oder beider Elternteile noch nicht in die Schule gingen, verzögerte sich die Einschulung.283 Zehn Jahre später lassen sich in einer weiteren Untersuchung diese Unterschiede bezüglich des Schuleintrittsalters von Waisen und Nichtwaisen nicht mehr feststellen. 284 Beegle, DeWeerdt und Dercon (2005) widmen sich den Langzeitfolgen von Verwaisung in einer Studie über den Zeitraum von 13 Jahren. Die Untersuchung gibt Auskunft über die besondere Rolle der Mutter in der schulischen Entwicklung von Kindern. Befragte Personen über 19 Jahre, die während ihrer Kindheit ihre Mutter verloren, gingen durchschnittlich 0.8 Jahre weniger zur Schule als Nichtwaisen. Besonders gravierende Folgen zeigten sich für Kinder, die beim Tod der Mutter noch nicht die Schule besuchten. Ihnen fehlten im Vergleich zu Nichtwaisen mehr als drei Jahren an Schulbildung. Kinder, die ausschließlich den Vater verloren, zeigten nur negative Langzeitfolgen im Bildungsbereich, wenn sie beim Tod des Vaters noch nicht eingeschult waren. Zwischen Jungen und Mädchen ließen sich keine signifikanten Unterschiede feststellen und Vollwaisen litten nicht unter zusätzlichen Nachteilen gegenüber Waisen ohne Mutter.285 Weitere Studien bestätigten die Folgen von Verwaisung auf die Dauer von Bildung. 286 Das Bild, das die Interviews aufzeigen, welche die Autorin im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit unterschiedlichen Stakeholdern führte, bildet eine deutlich dramatischere Situation ab als die Ergebnisse der quantitativen Forschung. Demnach gaben 83% der befragten Interviewpartner (n = 54) an, dass die Benachteiligung in der Bildung zu den drei Hauptproblemen von Waisen zählt. Diese Aussagen, die scheinbar im Widerspruch zu der positiven Entwicklung stehen, lässt sich dadurch erklären, dass die Interviewpartner aus den Hilfsprojekten die Situation der Waisen vor dem Einsetzen der Unterstützung, das heißt wenn die Familien zu ihnen kommen, sehen. Aufgrund des Einblicks der Inter283
Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 8 ff. Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 14. 285 Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 6 ff. 286 Siehe HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13: Waisen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit die Schule abzubrechen oder nicht auf dem ihrem Alter entsprechendem Niveau zu sein, als andere Kinder. Siehe Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43: Im Alter von 17 Jahren fehlen Waisen gemessen an ihrem Alter durchschnittlich 2 Jahre Bildung, Nichtwaisen hingegen nur 1.7 Jahre. 284
3.1 Sozioökonomische Faktoren
153
viewpartner in die Situation verwaister Heranwachsender liefern die Interviews wichtige Informationen über die Gründe und Folgen einer Gefährdung von Waisen im modernen Bildungsbereich. Faktoren, welche die Entscheidung für oder gegen den Schulbesuch von Kindern beeinflussen, lassen sich anhand der Aussagen unterschiedlicher Stakeholder analysieren. Bedingungsfaktoren für den Zugang zu formeller moderner Bildung Studien zeigen, dass Kinder formelle Bildung als wichtigste Grundlage für ihre Zukunft ansehen und viel Wert auf eine gute Bildung legen. 287 Für 90% der Waisen (n = 125), welche die Autorin befragte, betraf ihr größter Wunsch ihre Bildungschancen bzw. das Erreichen ihres Berufsziels. Die Entscheidung darüber, ob ein verwaistes Kind in den Genuss formeller Bildungserfahrung kommt, und die Chancen eines Kindes, innerhalb des Bildungssystems erfolgreich zu sein, hängen von unterschiedlichen Faktoren ab, die der folgende Abschnitt vorstellt. Sozioökonomischer Status des Haushaltes Unterschiedliche Untersuchungen in Tansania zeigen eine enge Verknüpfung zwischen dem Zugang zu Bildung und dem ökonomischen Status eines Haushaltes. Die Chancen eines Kindes, seinem Alter entsprechend eingeschult zu werden, eine qualitativ hochwertige Bildung zu erhalten und einen hohen Bildungsgrad zu erreichen, sind für Kinder aus armen Haushalten am geringsten und steigen mit wachsendem Wohlstand. 288 Die durchschnittlichen Ausgaben für formelle Bildungsangebote betrugen 2000/01 circa 2% eines privaten Haushaltsbudgets. Dies ist vergleichsweise ein geringer Posten, doch sein Anteil hat sich seit 1991/92 mehr als verdoppelt.289 Die Abschaffung der Schulgebühren für die Primarschule erfolgte im Rahmen des PEDP-Prozesses. Dies bedeutet nicht, dass es eine kostenfreie Grund287
Vgl. UNDP (Hrsg.) 2000, S. 5; Whitehouse 2002, S. 34. Siehe Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 16: Der durchschnittliche Haushaltsbesitz pro Haushaltsmitglied wirkt sich positiv auf den Schulbesuch von Sieben- bis 14-Jährigen aus. Siehe Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 31: Eine Haushaltsbefragung in Kagera zeigte, dass 2003/04 6,4% der Kinder aus wohlhabenden Haushalten im Alter von 14 bis 19 Jahren auf die Sekundarschule gingen und nur 1,7% der Kinder aus wirtschaftlich schwachen Haushalten. Siehe United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 9 f.: Kinder ohne Bildung waren eher in ärmeren Haushalten und Jugendliche mit höherer Bildung eher in wohlhabenden Haushalten zu finden. 289 Vgl. United Republic of Tanzania – National Bureau of Statistics (Hrsg.) 2002, S. 8. 288
154
3 Die Lebenswelt der Waisen
bildung gibt. Eltern und Betreuer von Kindern müssen Schuluniformen und Schulmaterial kaufen. Bereits vor Abschaffung der Schulgebühren machten die Kosten für Uniformen (48%) und die Kosten für Bücher und Schulmaterial (23%) einen höheren Anteil an den Bildungskosten aus als die Schulgebühren (16%).290 Zusätzlich führen der Dezentralisierungsprozess und die Verantwortungsabgabe an lokale Behörden dazu, dass Primarschulen und Gemeinden von den Eltern unter Umständen einen Eigenbeitrag zur Erhaltung der Schulen fordern. Dieser kann, je nach Ermessen der Primarschule, entweder in Form von Geld, materiellen Gütern oder Arbeitskraft abgeleistet werden.291 Die Abschaffung der Schulgebühren löste demnach nicht das generelle Kostenproblem im Primarbereich. Die Kostenproblematik verschärft sich in der weiterführenden Bildung. In den Sekundarschulen stellt das Schulgeld eine besondere Hürde dar, vor allem wenn Jugendliche keinen Platz in einer staatlichen Schule erhalten. Neben den Schulgebühren müssen sie und ihre Familien besonders in Internatsschulen einen hohen finanziellen Betrag für die notwendige Erstausstattung aufbringen.292 Auch in den unterschiedlichen Institutionen der Berufsausbildung zahlen Auszubildende Gebühren. Die Höhe variiert je nach Trägerschaft und Berufsrichtung. Die Schulgebühr gilt als einer der wichtigsten Gründe für die fehlende Auslastung der Kapazitäten der Einrichtungen zur Berufsausbildung. 293 Neben den regulären Kosten im Bildungssektor stellt Korruption ein zusätzliches Problem dar. 2003 gab 1% der befragten Eltern in einer Umfrage an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten an Lehrer oder Schulleiter Bestechungsgelder zahlten. Das Ergebnis im Bildungssektor fiel deutlich besser aus als im Gesundheitssektor oder bei der Polizei, dennoch führt Korruption weiterhin zu ungleichen Bildungschancen. 294 Unabhängig von der Korruption existiert in Tansania eine weitverbreitete Praktik, die Lehrern in Primarschulen hilft, ihr geringes Einkommen zu verbessern. Über diese Praktik existieren keine Erhebungen oder Aufzeichnungen, doch Gesprächspartner der Autorin aus unterschiedlichsten Regionen berichteten davon. Lehrer halten ihren Schülern einen Teil des Lehrstoffes vor. Dieser ist notwendig, um die Abschlussprüfung PSLE zu bestehen, die über die Vergabe der Plätze in der Sekundarschule entscheidet. Damit Kinder das geforderte Wissen erwerben können, sehen sie sich gezwungen, bei ihrem Lehrer auf eigene Kosten Privatstunden zu nehmen. Die Betreuer von Waisen können die Kosten für Privatstunden beim Lehrer häufig nicht zah-
290
Vgl. Beegle und Burke in Journal of African Economies 2/2004, S. 333. Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 13. Vgl. Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 293 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Education and Culture (Hrsg.) 2001, S. 24. 294 Vgl. Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 11 ff. 291 292
3.1 Sozioökonomische Faktoren
155
len, sodass die Kinder die Prüfungen für die Aufnahme zur Sekundarschule nicht bestehen.295 Den sozioökonomischen Status von Haushalten mit Waisen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, für Schuluniform, Gebühren und Material aufzukommen sowie die Privatstunden bei ihrem Lehrer zu zahlen, nennen Interviewpartner am häufigsten als Grund für die Probleme von Waisen im Bildungsbereich. 296 Der Kostenfaktor wirkt sich bereits negativ auf den Besuch der Vorschule aus und beeinflusst auf allen weiteren Ebenen den Zugang zu entsprechenden Bildungsinstitutionen.297 „Armut ist das größte Problem der Familien, denn sie können die Bedürfnisse der Waisen nicht erfüllen. Sie können sie nicht zur Schule schicken, sie können nicht die Schulgebühren und das Material bezahlen.“ (Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Aktueller Wert der Arbeit des Kindes im und außerhalb des Haushalts Die Ausgaben für Bildung sind nicht die einzigen Kostenfaktoren in der Entscheidung für oder gegen den Besuch von Bildungseinrichtungen. Die Arbeit der Kinder innerhalb und außerhalb des Haushaltes besitzt gerade im ländlichen Gebiet einen besonderen Wert, da Kinder traditionell bei der Bewirtschaftung der Felder helfen. 298 295 Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 296 Vgl. Whitehouse 2002, S. 37; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S.80; Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit D. Coppard am 08.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Kimaro am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 297 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 77. 298 Siehe Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 16: Ainsworth, Beegle und Koda (2002) konnten nachweisen, dass sich der Landbesitz eines Haushaltes negativ auf die Bildungschancen eines Kindes
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Studien und Interviewpartner berichten, dass Waisen keine Zeit haben, um zur Schule zu gehen oder nach der Schule zu lernen, weil sie für ihren Lebensunterhalt sorgen. Es liegen vielfältige Fallbeispiele vor, die bestätigen, dass Verwaisung zu Schulabbrüchen oder zum Versäumen von Unterricht führt, weil Waisen nach dem Tod der Eltern mehr Aufgaben innerhalb und außerhalb des Haushaltes erledigen. 299 Dies trifft besonders auf Kinder in Kinderhaushalten zu. „Wir haben einige dieser Kinderhaushalte. Sie müssen zur Schule gehen, aber sie müssen auch selbst für ihr Essen sorgen, sie müssen überleben. Und deshalb machen sie sich manchmal, statt zur Schule zu gehen, auf die Suche nach Nahrung.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Waisen, die allein in Haushalten mit ihren Geschwistern leben, weisen deutlich geringere Einschulungsraten auf, als Kinder, die bei ihren Eltern leben. 300 Andere Kinder bleiben zu Hause, um kranke Eltern oder alte Großeltern zu betreuen.301 Überlebenschancen des Kindes Bildung gehört laut § 28 der UN-Kinderrechtskonvention zu den Grundrechten eines Kindes. Dieses Recht gilt unabhängig von einem eventuellen Krankheitsstatus oder den Überlebenschancen des jeweiligen Heranwachsenden. 302 Dennoch kann die individuelle Entscheidung für oder gegen den Schulbesuch von den Überlebenschancen des Kindes beeinflusst werden. Die Bildungskosten für im Alter von sieben bis zehn Jahren auswirkt. Kinder, die in der Landwirtschaft mitarbeiten, weisen ein höheres Risiko für eine verspätete Einschulung auf. Siehe Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 33 ff.: Die verspätete Einschulung von Kindern führt zu einem TeufelskreiS. Ältere Schulanfänger haben eine größere Wahrscheinlichkeit, die Schule abzubrechen und geringere Chancen auf eine weiterführende Bildung. Der Hauptgrund für Schulabbrüche von 14- bis 19-Jährigen war das Alter (78%). Mit zunehmendem Alter erwarten die übrigen Haushaltsmitglieder von den Jugendlichen, dass sie zum Einkommen beitragen, anstatt von den anderen Haushaltsmitgliedern abhängig zu sein. 299 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15; Rau 2002, S. 43; Whitehouse 2002, S. 29 ff.; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 300 Vgl. Nyangara 2004, S. 6. 301 Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 302 Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1999a, S. 21.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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ein Kind zu tragen, lohnt sich aus Sicht des Entscheidungsträgers nur, wenn er erwarten kann, dass das Kind ein Alter erreicht, in dem sich die Bildungsinvestitionen auszahlen. Dies gilt insbesondere in Situationen, in denen der Entscheidungsträger im Alter von der Unterstützung des Kindes abhängt. Die Chancen eines neugeborenen Kindes, das Erwachsenenalter zu erreichen, lassen sich nur schwer abschätzen, dennoch besitzen einige Kinder ein scheinbares bzw. reelles Risiko für einen frühzeitigen Tod. Die individuelle Einschätzung ihrer Überlebenschancen wirkt sich auf ihre Möglichkeiten, die Schule zu besuchen, aus. 303 Besonders für Kinder, die sich vor, während oder nach der Geburt durch ihre Mutter mit HIV infizieren, sinken die Chancen, das Erwachsenenalter zu erreichen. Circa ein Drittel dieser Kinder stirbt innerhalb des ersten Lebensjahres an AIDS.304 Bei Kindern, die das erste Jahr überleben, schreitet die Entwicklung der Krankheit langsam voran. 70% von ihnen sind mit sechs Jahren und 50% mit neun Jahren noch am Leben. 305 Mithilfe einer früheren Diagnose und verbesserter Behandlung könnte die Lebenserwartung in Zukunft steigen. Waisen, deren Eltern vermutlich an AIDS starben, geraten schnell in den Verdacht, ebenfalls mit HIV infiziert zu sein. Eine HIV-Infektion oder der Verdacht einer HIVInfektion kann dazu führen, dass Kinder keine angemessene Versorgung bekommen und ihnen Bildung vorenthalten wird. Die Betreuer befürchten, dass sich der Bildungsaufwand nicht lohnt, da das Kind ohnehin bald stirbt. Dies muss nicht immer in schlechter Absicht geschehen, denn häufig wollen die Betreuer den Kindern nur die, aus ihrer Sicht, unnötige Mühe ersparen. Waisen sind gegenüber Nichtwaisen aufgrund ihrer reellen oder scheinbar geringen Überlebenschancen stärker gefährdet, keine ausreichende Bildung zu erhalten. 306 Konsequenzen der Benachteiligung von Waisen im Bildungsbereich Die Konsequenzen, die eine Benachteiligung von Waisen im Bildungsbereich nach sich zieht, fallen vielfältig aus. Geringeres Humankapital und schlechtere Arbeitschancen bleiben nicht die einzigen Folgen. Ein fehlender Zugang zu Bildungsinstitutionen gefährdet die soziale Integration und führt zu psychischen
303
Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 4. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 92. 305 Vgl. www.aidsmap.com/en/docs/1E836807-2D91-4ADA-B5A1-66A99F8E62C8.asp 25.07.09. 306 Vgl. Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania. 304
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Belastungen. Nicht nur die betroffenen Kinder, sondern auch deren Betreuer leiden unter der Situation. Der Schulbesuch ist für Waisen wichtig, da die Schule ein soziales Netz bietet, welches die Basis für die Integration des Kindes in die Gesellschaft und das Erlernen sozialer Normen bildet. Bei der Befragung von 205 Kindern durch die Autorin gaben 167 Kinder an, dass sie immer zur Schule gehen. Von diesen Kindern besaßen 56% (94) nach eigenen Angaben viele Freunde, 21% (35) hatten einige Freunde, 20% (33) hatten wenige Freunde und 2% (4) hatten keine Freunde. Die Abbildung 34 zeigt, dass der Anteil der Kinder, die angaben, viele Freunde zu besitzen, proportional zur Häufigkeit des Schulbesuchs stieg. Je regelmäßiger ein Kind zur Schule geht, desto mehr Freunde hat es. Abbildung 34: Angaben über Anzahl der Freunde in Relation zum Schulbesuch
Fehlender Zugang zu Bildung oder eine unzureichende Ausstattung mit Schuluniform und -material führt sowohl bei den Kindern als auch bei ihren Betreuern zu psychosozialen Problemen. Die in einer Studie von HelpAge befragten Großeltern gaben an, dass sie unter Ängsten bezüglich der Zukunft ihrer Enkel leiden und Verzweiflung spüren, weil sie das Gefühl haben, den Bedürfnissen ihrer Enkel nicht gerecht zu werden.307 Die betroffenen Kinder leiden ebenfalls unter der unsicheren Bildungssituation.308 Emanuel Mawere berichtet, dass Waisen 307
Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 308
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit, zum Beispiel für Beiträge zur Anschaffung von Möbeln in der Schule, schnell in eine Zwangssituation geraten: „Manchmal werden sie [die Schüler] nach Hause geschickt. „Alle, die nicht bezahlt haben, gehen heute nach Hause und holen das Geld!“ Und auch die Waisen werden in diese Gruppe gesteckt. Und wenn ein Waisenkind nach Hause geht und dann niemanden hat, den er um das Geld bitten kann, dann steckt er in einem Dilemma: „Soll ich zurück in die Schule gehen? Was soll ich tun, denn ich habe kein Geld und ich wurde jetzt nach Hause geschickt?““ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das beschriebene Dilemma vergegenwärtigt den Kindern den Verlust ihrer Eltern und führt ihnen ihre eigene Hilflosigkeit vor Augen. Die Teilhabe an Bildungsangeboten leistet einen wichtigen Beitrag zum psychischen Wohlbefinden von Kindern. Auf die Frage der Autorin, welche drei Dinge sie glücklich machen, gaben 72% (n = 205) der befragten Kinder mindestens eine Antwort, die sich auf ihre formelle Bildung bezog. Bei einigen Kindern betreffen gleich mehrere Antworten ihre Bildung. Ein zehnjähriger Junge schreibt, dass es ihn glücklich macht, wenn er „in der Schule lernt“ und wenn ihn „der Lehrer unterrichtet“ (Fragebogen 070419b1/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). 3.1.4 Die medizinische Versorgung von Waisen Die Gesundheit eines Kindes hängt von mehreren Faktoren auf zwei Ebenen ab. Lokale Voraussetzungen, wie Zugang zu Trinkwasser, klimatische Bedingungen, Verbreitung von Krankheiten in der Kommune, Entfernung zu medizinischen Einrichtungen und Nahrungsmittelpreise, spielen eine wichtige Rolle für das gesunde Aufwachsen eines Kindes. Daneben tragen Entscheidungen auf der Haushaltsebene, wie mit den lokalen Voraussetzungen umgegangen wird, um die Gesundheit des Kindes zu stärken und es vor Krankheiten zu schützen, eine zentrale Bedeutung. Beispielsweise wirkt sich die Wohnortnähe zu einer Krankenstation nur positiv auf den Gesundheitszustand aus, wenn Entscheidungsträger im Haushalt Bereitschaft zeigen, diese mit dem Kind aufzusuchen. Das tansanische Gesundheitssystem (Abb. 35) bildet den Rahmen für die medizinische Versorgung von Waisen und Nichtwaisen, doch auf der Haushaltsebene zeigen sich die Konsequenzen der Verwaisung für die betroffenen Kinder im medizinischen Bereich.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Abbildung 35: Das Gesundheitssystem in Tansania Das Gesundheitssystem besteht aus modernen und traditionellen Institutionen. Die moderne medizinische Versorgung leisten private und staatliche Krankenhäuser und Gesundheitsstationen sowie medizinische Einrichtungen von Glaubensgemeinschaften. Daneben nehmen traditionelle Heiler und traditionelle Hebammen einen festen Platz in der Gesundheitsversorgung der tansanischen Bevölkerung ein. Die Kooperation zwischen beiden Richtungen bleibt weiterhin begrenzt. (Axios International (Hrsg.) 2002, S. 28 f) Lange vor der Kolonialisierung Tansanias und der Einführung moderner Medizin nach westlichen Standards übernahmen traditionelle Heiler in den einzelnen Ethnien mit Hilfe von Pflanzenextrakten und Tierprodukten die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Die genaue Beobachtung der Krankheitssymptome und der Wirkungen von verabreichten Arzneien führte im Trial- und Error-Prinzip zu einem immensen Wissen im Bereich von Naturheilverfahren, welches über die Jahrhunderte mündlich an nachfolgende Heiler weitergegeben wurde. Im gesamten Land praktizieren circa 75.000 Heiler nach traditionellen Methoden, sodass das Verhältnis von traditionellen Heilern zur Bevölkerung mit ungefähr 1:400 bedeutend besser ausfällt als die Arzt-Patienten-Ratio (1:20.000). (Mhame 2000, S. 1) Um dieses Potenzial zu nutzen, erklärte das Gesundheitsministerium in den vergangenen Jahren die Förderung der traditionellen Medizin zu einem ihrer wesentlichen Ziele. Einen wesentlichen Anteil zur Stärkung der traditionellen Heiler leistete der „Traditional and Alternative Medicines Act“, der im Jahr 2002 verabschiedete wurde. Dieser ermöglicht traditionellen Heilern, das heißt Personen, die von der Gemeinschaft, in der sie leben, als kompetente Dienstleiter im Bereich der medizinischen Versorgung mit natürlichen Arzneimitteln anerkannt sind, die offizielle Registrierung. Die Aufgaben der Registrierung sowie der allgemeinen Förderung traditioneller Medizin und der Entwicklung alternativer Arzneimittel kommen dem neu gegründeten Rat für traditionelle und alternative Medizin zu. (United Republic of Tanzania (Hrsg.) 2002, S. 5 ff) Während der Kolonialzeit importierten religiöse Gemeinschaften, humanitäre Organisationen und Privatanbieter eine medizinische Versorgung nach westlichen Standards. Neben diesen Anbietern, die weiterhin einen aktiven Beitrag im Gesundheitsbereich leisten, decken vor allem staatliche Einrichtungen den medizinischen Bedarf der Bevölkerung ab. Zwischen 1993 und 1995 führten staatliche Gesundheitseinrichtungen eine Kostenbeteiligung für Behandlung und Medikamente ein. Richtlinien zur Kostenbefreiung für sozial benachteiligte Menschen, beispielsweise Schwangere, Kinder unter fünf Jahren, chronisch Kranke oder Opfer einer Epidemie, werden bisher nicht in vollem Umfang implementiert. (United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2005, o. S.)
Die Situation von Waisen im Gesundheitsbereich Die medizinische Versorgung, unabhängig davon, ob diese im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems oder der traditionellen Gesundheitsfürsorge erfolgt, identifizieren Waisen und ihre Betreuer in Befragungen als Problem. In einer Untersuchung der Organisation Axios International (2000) stellte für 10% der Waisen die medizinische Versorgung ihr Hauptproblem dar. 309 Whitehouse 309
Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
161
(2002) berichtet, dass 23,3% der befragten Betreuer von Waisen erklärten, die gesundheitlichen Bedürfnisse der Waisen nicht befriedigen zu können. Die medizinische Versorgung war somit gleich nach dem Besuch von Bildungseinrichtungen, das größte Problem für Haushalte mit Waisen. 310 Interviewpartner berichteten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ebenfalls von den Problemen der betroffenen Haushalte in der gesundheitlichen Versorgung von Waisen.311 Neben diesen qualitativen Forschungsergebnissen fehlt es weitestgehend an quantitativen Studien hinsichtlich der Wahrnehmung von medizinischen Behandlungen durch Ärzte oder traditionelle Heiler und der Versorgung mit Medikamenten sowie der Teilnahme an präventiven Gesundheitsprogrammen. Eine Benachteiligung der Waisen im Gesundheitsbereich wurde in Tansania bisher nicht bei einer repräsentativen Stichprobe nachgewiesen. Dennoch schlussfolgern Autoren, dass Waisen auch in diesem Bereich aufgrund ihres sozioökonomischen Status und der fehlenden elterlichen Fürsorge gegenüber Nichtwaisen Benachteiligung erfahren. 312 Die folgenden Ausführungen widmen sich den potenziellen Risikofaktoren, die sich auf die medizinische Versorgung der Waisen auswirken können. Risikofaktoren für Waisen im medizinischen Bereich Bereits im Bereich präventiver Maßnahmen leiden Waisen aufgrund der Kosten unter einer Benachteiligung. Am Beispiel der Krankheit Malaria lässt sich dies veranschaulichen: Die am häufigsten auftretenden Krankheiten und die häufigsten Todesursachen für Kinder unter fünf Jahren sind in Tansania Fieber und Malaria.313 Eine einfache und effektive Prävention von Malaria stellt die Ver-
310
Vgl. Whitehouse 2002, S. 43. Vgl. Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamojo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Assey am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Matheru am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 312 Vgl. Kaare 2005, S. 4 f.; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 90. 313 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2002, S. 27; United Republic of Tanzania – National Bureau of Statistics (Hrsg.) 2002, S. 10; Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 52; Research and 311
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3 Die Lebenswelt der Waisen
wendung von Moskitonetzen dar. Bei einer Befragung von Waisen durch die Organisation HelpAge International (2004) berichten 67% der Waisen, dass es in ihren Familien an Moskitonetzen mangelt.314 Trotz staatlicher Subventionen für Malarianetze bleiben auch die reduzierten Preise oft noch zu hoch für Haushalte mit Waisen. 315 Im Krankheitsfall zeigen sich die Konsequenzen des finanziellen Unvermögens von Haushalten noch deutlicher. Richtlinien für die Kostenbefreiung wirtschaftlich schwacher Haushalte im Gesundheitsbereich werden häufig nicht umgesetzt. 316 Aus diesem Grund entwickelt sich der finanzielle Aufwand für Haushalte mit Waisen zu einer großen Hürde in der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe. Fallstudien berichten, dass Betreuer kranke Kinder nicht zum Arzt bringen, weil die finanziellen Mittel für die Behandlung fehlen. 317 Neben den offiziellen Zuzahlungskosten erschweren inoffizielle Beiträge, beispielsweise für nicht registrierte Zahlungen an Ärzte, den Zugang zu einer ausreichenden medizinischen Versorgung. 318 Selbst für Kinder unter fünf Jahren, die von medizinischen Kosten in allen staatlichen Einrichtungen ausgeschlossen sind, müssen Betreuer häufig für Medikamente bezahlen, wenn Krankenhäuser die entsprechenden Arzneien nicht vorrätig haben. 319 Hinzu kommen Kosten für den Transport zur nächstgelegenen Gesundheitsstation.320 Mütterliche Waisen und Vollwaisen leiden neben geringen finanziellen Kapazitäten unter einem weiteren Risikofaktor, welcher ihre medizinische Versorgung gefährdet. In Tansania trägt die Mutter in den ersten Jahren die VerantworAnalysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 24; www.unicef.org/infobycountry/tanzania_statistics.html 28.03.08. 314 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 13. 315 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 102. 316 Siehe Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 37: Die Kostenbefreiung für die Zuzahlungen für Behandlungen und Medikamente für kranke Personen, die aufgrund ihres Einkommens keinen Eigenanteil leisten können, wird bisher in vielen Fällen nicht umgesetzt. Siehe Kamuzora und Gilson in Health Policy and Planning 22(2)/2007, S. 96 ff.: Einige Distrikte versuchen, die medizinische Versorgung für alle Menschen zugänglich zu machen und bieten seit 1995 eine Krankenversicherung an. Haushalte bezahlen eine jährliche Gebühr von 5.000 – 10.000 TSH (2,81 – 5,63 Euro) in einen kommunalen Gesundheitsfond, CHF (Community Health Fund), ein. Im Gegenzug dafür erhalten sie eine Basisversorgung in staatlichen Einrichtungen. Haushalte, die sich finanziell nicht in der Lage befinden, den jährlichen Beitrag zu zahlen, sind laut staatlichen Richtlinien von den Zahlungen ausgeschlossen. Die Untersuchung von Kamuzora und Gilson (2007) zeigte die negative Einstellung der Verantwortungsträger des kommunalen Gesundheitsfonds auf der Distrikt- und Wardebene gegenüber dieser Ausnahmeregelung. Die Teilnahme am Gesundheitsfond war in der Regel nur durch die Beitragszahlung möglich. 317 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2002, S. 24 ff.; Whitehouse 2002, S. 43. 318 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 17 f.; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 37. 319 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 97. 320 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 102; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
3.1 Sozioökonomische Faktoren
163
tung für das gesundheitliche Wohlbefinden ihrer Kinder. Sie bringt das Kind regelmäßig zum Impfen, lässt das Wachstum überwachen und sucht im Falle von Krankheit einen Arzt auf. Die Mutter agiert als Verbindungsperson zwischen Kind und medizinischer Einrichtung. Stirbt die Mutter, bricht diese Verbindung weg und eine andere Person, zum Beispiel der Vater, eine Tante, Geschwister oder die Großmutter, übernimmt diese Aufgabe. Personen, welche die Verantwortung für die Versorgung des Kindes nach dem Tod der Mutter tragen, gelingt es aus verschiedenen Gründen nicht, die Rolle der Mutter in der medizinischen Versorgung zu erfüllen.321 Leben die Kinder nach dem Tod der Mutter beim Vater oder einem anderen männlichen Verwandten, entstehen Konflikte aufgrund der sozialen Rollenverteilung.322 Die gesundheitliche Versorgung von Kindern liegt in Tansania traditionell in der Hand von Frauen. Die besondere Rolle der Mutter spiegelt sich beispielsweise im Sprichwort „Die Sorgen um das Kind liegen auf der Hüfte der Mutter.“ (Kisuaheli-Sprichwort zit. n. Eastman in Loo und Reinhart (Hrsg.) 1993, S. 91) wider. Entsprechend der traditionellen Aufgabenverteilung der Eltern wirkt ein Mann nur in geringem Maße an der gesundheitlichen Versorgung der Kinder mit. 323 Männer sind aus diesem Grund möglicherweise mit der Notwendigkeit und den Zeitpunkten von Untersuchungen und Impfungen nicht in gleichem Maße vertraut wie Frauen. Dies kann zur Folge haben, dass Väter oder andere männliche Betreuer ohne Unterstützung weiblicher Familienmitglieder Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnehmen oder einen akuten medizinischen Bedarf nicht erkennen. Für Großeltern oder kranke Betreuer stellen körperliche Gebrechen das größte Hindernis dar. Physische Schwäche gefährdet bereits den Erhalt der Gesundheit durch angemessene Hygiene und sauberes Trinkwasser. Alte und kranke Betreuer überfordert das Herbeibringen von ausreichend Trinkwasser, da dies besonders in ländlichen Gebieten einen hohen Zeit- und Kraftaufwand beinhaltet.324 Im Falle einer Erkrankung oder zur Wahrnehmung notwendiger Vorsorgeuntersuchungen sehen sich Großeltern oder erkrankte Betreuer häufig nicht in
321
Vgl. ebd., S. 91. Siehe Teilnehmende Beobachtung: U5-Klinik der Gesundheitsstation Ntoma am 03./04.10.01: Die Aufgabenverteilung im Gesundheitsbereich zeigte sich in einer mobilen U5-Klinik, in der Kinder unter fünf Jahren jeden Monat alle notwendigen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen erhalten. An zwei Tagen nahmen insgesamt 365 Kinder an den Untersuchungen teil. Von diesen 365 Kindern waren nur drei Geschwister mit ihrem Vater gekommen, alle anderen Kinder wurden von Frauen begleitet. 323 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 407. 324 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 96 f. 322
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3 Die Lebenswelt der Waisen
der Lage, Gesundheitsstationen aufzusuchen.325 Die zurückzulegende Entfernung zur nächsten Gesundheitsstation spielt dabei eine wesentliche Rolle. Sie wirkt sich negativ auf das Wachstum von Kindern aus. Dieser Einfluss zeigte sich am stärksten bei Waisen ohne Mutter.326 Dies weist darauf hin, dass Betreuer bei Abwesenheit der Mutter Krankheiten wie Durchfall oder Masern, die das Wachstum behindern, überhaupt nicht oder erst in einem relativ späten Stadium behandeln lassen. In Kinderhaushalten mangelt es an Wissen, wann ein Arztbesuch nötig ist bzw. welche präventiven Gesundheitsvorkehrungen getroffen werden müssen. Und selbst wenn die Geschwister Kenntnisse über die Bedeutung grundlegender Faktoren, wie beispielsweise Hygiene, sauberes Trinkwasser, ausgewogene Ernährung oder Stimulation der Entwicklung, besitzen und Krankheiten erkennen, fehlen ihnen häufig die Möglichkeiten, diese Kenntnisse umzusetzen. 327 Suchen Heranwachsende mit ihren Geschwistern Gesundheitsdienste auf, nimmt das medizinische Personal sie häufig nicht ernst und verlangt nach einer erwachsenen Begleitperson. Minderjährigen Haushaltsvorständen fällt es aus diesem Grund schwer, ihre Rechte im Gesundheitsbereich durchzusetzen. 328 Folgen der Risikofaktoren auf die Gesundheit von Waisen Erkrankungen, Gewicht und Größe sowie Überlebenschancen gelten als wichtige Indikatoren für die medizinische Versorgung und den Gesundheitszustand von Kindern. Folgende Untersuchungen deuten darauf hin, dass Waisen in allen drei Bereichen von Beeinträchtigungen stärker betroffen sind als Nichtwaisen. Ainsworth und Semail (2000) dokumentierten, dass Waisen ohne Vater ein besonders hohes Risiko besitzen, krank zu sein. Dies gilt insbesondere, wenn die Kinder in Haushalten mit geringem Besitz leben. Kinder ohne Mutter stuften Befragte nicht häufiger als andere Kinder als krank ein. Die Einschätzung des Gesundheitszustandes des Kindes beruhte in dieser Studie nicht auf medizinischen Untersuchungen, sondern auf der Befragung von Haushaltsmitgliedern. Dadurch stieg der Fehlerquotient bei Kindern ohne Mutter stark an. Die Mutter, welche traditionell die Gesundheit des Kindes überwacht, fehlte bei mütterlichen Waisen. Demzufolge beantwortete jemand anderes, der dem Gesundheitszustand des Kindes vielleicht weniger Aufmerksamkeit schenkt oder nicht über ausrei325
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 91; Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 20. 327 Vgl. ebd., S. 102. 328 Vgl. ebd., S. 91 f. 326
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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chendes Wissen und Erfahrungen zur Erkennung von Krankheiten verfügt, die Frage nach einer eventuell vorhandenen Krankheit. 329 Wachstumsverzögerung 330 gilt als Folge von lang anhaltender Unterernährung bzw. wiederholten Infektionserkrankungen. Obwohl alle Kinder in Tansania ein hohes Risiko für Wachstumsverzögerungen aufweisen, lässt sich auch hier eine besondere Gefährdung von Waisen konstatieren. Ainsworth und Semali (2000) untersuchten in ihrer Studie die negativen Folgen des Verlusts der Eltern für das Wachstum von Waisen in der Kagera Region. Die Ergebnisse zeigen, dass der Verlust der Mutter sich für alle Kinder negativ auf das Wachstum auswirkt, während der Verlust des Vaters nur in Haushalten mit geringem Besitz und schlechter Wohnqualität das Wachstum der Kinder beeinflusste. Negative Konsequenzen der Verwaisung auf das Gewicht in Relation zur Größe zeigten sich in dieser Studie nicht. 331 Die Untersuchung der Economic Development Initiatives (2004) bestätigte die Bedeutung der Mutter für das Wachstum von Kindern. 43% aller untersuchten Kinder in der Kagera Region unter fünf Jahren waren wachstumsverzögert und 18% waren stark wachstumsverzögert. Bei Kindern, die ohne Mutter lebten, stieg der Anteil von wachstumsverzögerten Kindern auf mehr als die Hälfte (51%) und der Anteil stark wachstumsverzögerter Kinder auf 26%.332 Beegle, DeWeerdt und Dercon (2005) dokumentierten in einer Langzeitstudie über den Zeitraum von 13 Jahren, dass Waisen ohne Mutter während ihrer Kindheit durchschnittlich 11% (16 cm) kleiner waren als Nichtwaisen. Die Studie zeigte darüber hinaus, dass sich Wachstumsverzögerungen nur teilweise aufheben lassen. Kinder, die ihre Mutter vor dem zwölften Lebensjahr verloren, traf die Wachstumsverzögerung in besonderem Maße; Halbwaisen ohne Mutter blieben nach Erreichen des 20. Lebensjahrs 2 cm kleiner als Nichtwaisen. Dieser Größenunterschied war irreversibel. Für Kinder, die später zu Waisen wurden, ließen sich keine Spätfolgen nachweisen. Dies deutet auf die besondere Rolle der Mutter für Kleinkinder bzw. Kinder im Primarschulalter hin. 333 Bezüglich geringerer Überlebenschancen von Waisen zeigen sich in den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen Widersprüche. In einer von Subbarao und Coury (2004) zitierten Studie aus Tansania konnten keine Parallelen 329
Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 16 ff. Siehe Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 61: Ein Kind gilt als wachstumsverzögert, wenn seine Größe mehr als zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes Gleichaltriger liegt. Stark wachstumsverzögert ist ein Kind mit mehr als drei Standardabweichungen. Wachstumsverzögerung wird als Zeichen für lang anhaltende Unterernährung und wiederholten Infektionserkrankung gesehen. 331 Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 19 ff. 332 Vgl. Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 62 ff. 333 Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 15 f. 330
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zwischen Waisenstatus und Sterblichkeitsrate festgestellt werden. Die Todesraten von Waisen fielen nicht höher aus als diejenigen von anderen Kindern. 334 Die bereits angeführte Langzeitstudie von Beegle, DeWeerdt und Dercon (2005) zeigte hingegen, dass mütterliche Waisen eine deutlich höhere Todeswahrscheinlichkeit aufwiesen als Nichtwaisen oder Halbwaisen ohne Vater.335 Waisen und HIV/AIDS Nicht alle HIV-infizierten Kinder in Tansania sind oder werden zu Waisen, dennoch haben Waisen ein höheres Risiko für eine HIV-Infektion als Nichtwaisen. Für Kinder, die sich bei ihrer Mutter während der Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit mit HIV infizieren, steigt die Wahrscheinlichkeit ihre Mutter und oft auch den Vater frühzeitig zu verlieren. Darüber hinaus sind Waisen während der Adoleszenz besonders gefährdet, sich mit dem HI-Virus zu infizieren.336 Die folgenden Ausführungen stellen die Gründe für die stärkere Gefährdung von Waisen für eine HIV-Infektion und den speziellen Behandlungsbedarf HIVinfizierter Kinder dar. Abbildung 36: Die Herausforderungen von HIV/AIDS für das Gesundheitssystem Das Gesundheitssystem Tansanias wurde mit der Ausbreitung von HIV in den 1980er Jahren sprichwörtlich überrollt. Bis zu 50% der Patienten in Krankenhäusern weisen eine HIVInfektion auf und kommen zur Behandlung opportunistischer Infektionen wie Lungenentzündung, Tuberkulose oder Hauterkrankungen. In den letzten Jahren kristallisierte sich eine klare und effektive Reaktion auf die AIDS-Epidemie in Tansania heraus. Neben dem Aufbau eines Netzes von lokalen Organisationen, die häusliche Krankenpflege anbieten, erzielten die Regierung und nichtstaatliche Organisationen in der Prävention von HIV-Infektionen und in der lebensverlängernden ARV-Behandlung Erfolge. (United Republic of Tanzania – Prime Minister’s Office and TACAIDS (Hrsg.) 2003, S. 14 ff.)
Risikofaktoren einer HIV-Infektion Tansania erzielte in der Prävention der Mutter-zu-Kind-Übertragung in den vergangenen Jahren wesentliche Fortschritte. Da eine HIV-Infektion allerdings nicht
334
Vgl. Coury and Subbarao 2004, S. 17. Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 9. 336 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 94. 335
3.1 Sozioökonomische Faktoren
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reversibel ist und sich nicht alle Frauen in PMTCT-Programme337 integrieren, gibt es in Tansania weiterhin HIV-infizierte Kinder. UNICEF, UNAIDS, WHO und UNPF veröffentlichten 2009 Statistiken zur Thematik „Kinder und AIDS“. Demzufolge lebten im Jahr 2007 zwischen 130.000 und 150.000 Kinder im Alter von 0 bis 14 Jahren in Tansania mit dem HI-Virus. 338 Es wird davon ausgegangen, dass sich 90% aller HIV-infizierten Kinder unter 15 Jahren bei der Mutter infizierten.339 Die übrigen zehn Prozent der HIV-infizierten Kinder unter 15 Jahren sowie ältere Jugendliche stecken sich vor allem über sexuelle Kontakte an. Waisen verfügen aufgrund der sozialen Begleitumstände der Verwaisung über ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion.340 In Tansania lassen sich viele junge Mädchen auf sexuelle Beziehungen mit älteren Männern ein. Diese so genannten „Sugar Daddies“ geben den Mädchen als Ausgleich Geld oder Geschenke. 341 Für Waisen gibt es mehrere Gründe, solche Beziehungen einzugehen. Durch die schlechte finanzielle Lage ihrer Haushalte lassen sich einige Waisen auf sexuelle Beziehungen oder Handlungen ein, um ihr Überleben zu sichern oder ihren Lebensstandard zu verbessern. 342 Victoria Tesha, Initiatorin eines Waisenprojektes, kennt die Probleme verwaister Mädchen aus ihrer Arbeit: „Wenn sie in der Schule sind, sehen sie, dass andere Kinder Taschengeld haben, um sich kleine Snacks, wie Pommes, Süßigkeiten oder Früchte zu kaufen, und sie selbst haben nichts. Wenn sie dann ein Mann ruft, geht sie mit ihm.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.) Der Übergang zwischen sexuellen Gefälligkeiten und Prostitution verfließt nach Ansicht von Victoria Tesha schnell und führt zu gravierenden Konsequenzen für die betroffe337 Siehe Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania: Alle schwangeren Frauen, die zu den kostenfreien Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen gehen, besitzen in Tansania Zugang zu PMTCT-Programmen. Bei jeder Schwangeren, die dies nicht explizit ablehnt, wird ein HIV-Test durchgeführt. Fällt dieser positiv aus, erfolgt die Weitervermittlung der Betroffenen an ein lokales PMTCT-Programm. Bei der herkömmlichen PMTCT-Behandlung erhält die Mutter während der Geburt und das Neugeborene nach der Geburt das Medikament Nevirapine, welches das Übertragungsrisiko des HI-Virus verringert. 338 Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 45. 339 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 93. 340 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 94; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 341 Vgl. Rau 2002, S. 41; World Bank (Hrsg.) 2002a, S. 22; Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 342 Vgl. Rau 2002, S.1; Whitehouse 2002, S. 29; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania.
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nen Mädchen. „Weibliche Waisen sind in einer gefährlicheren Position als Jungs. Wenn sie gerade 13 sind und wenn es Probleme gibt, sie kein Geld haben, kein Essen haben, dann beginnen sie sich zu prostituieren und dann bekommen sie HIV.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Manche Mädchen suchen in den Beziehungen zu älteren Männern aber auch die Geborgenheit und Sicherheit, die sie seit dem Tod der Eltern vermissen. Diese Tendenz verstärkt sich, wenn Waisen der familiäre Schutz und die elterliche Kontrolle fehlen. Kinder zeigen sich anfälliger für sexuelle Angebote, wenn niemand mit ihnen über die Gefahren sexueller Kontakte spricht und sich dafür interessiert, mit wem sie ihre Freizeit verbringen. 343 Sexuelle Handlungen beruhen nicht immer auf gegenseitiger Zustimmung. Viele Mädchen in Tansania geben an, dass ihre erste sexuelle Erfahrung erzwungen wurde.344 Für Waisen besteht eine besondere Gefährdung, wenn sie niemanden haben, der ihnen Sicherheit bietet. In kleineren Gemeinden wissen die Einwohner, welche Kinder ohne Schutz leben und manche nutzen dieses Wissen aus. Vor allem verwaiste Mädchen leiden unter einem erhöhten Risiko für sexuellen Missbrauch (Kap. 3.2.3).345 „Ein weiteres Problem ist, dass die Gemeinde dazu neigt, zu denken, dass ein Waisenkind vergewaltigt werden kann. Sie denken, dass diese Kinder keinen Schutz haben. Deshalb neigen sie dazu, sie zu vergewaltigen.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Medizinische Versorgung HIV-infizierter Kinder HIV-infizierte Säuglinge und Kinder HIV-infizierter Mütter weisen einen hohen medizinischen Bedarf und eine starke Gefährdung ihrer Gesundheit auf. Kinder, mit HIV-infizierten Müttern, entwickeln sich bereits während der Schwangerschaft schlechter als andere Kinder und kommen häufig mit niedrigem Geburtsgewicht zur Welt.346 Aufgrund ihrer schlechten Entwicklung und einer eventuellen HIV-Infektion leiden sie unter einem doppelt so hohen Risiko, frühzeitig zu sterben wie andere Kinder. 347 343
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 94; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 344 Vgl. Rau 2002, S. 41; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1. 345 Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 94; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania. 346 Vgl. Ainsworth und Semali 2000, S. 1. 347 Vgl. USAID (Hrsg.) 2004a, S. 10.
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Die Früherkennung einer HIV-Infektion erhöht die Überlebenschancen der betroffenen Kinder. Die Effektivität üblicher HIV-Tests bei der Feststellung einer HIV-Infektion von Säuglingen ist begrenzt, denn sie weisen die Antikörper der Mutter im Blut von Säuglingen nach. Demzufolge kann ein Kind positiv getestet werden, obwohl keine HIV-Infektion vorliegt. Da in den meisten Gesundheitseinrichtungen nicht die technische Ausstattung zur Überprüfung des HIV-Status von Säuglingen und Kleinkindern existiert, werden Neugeborene in Tansania kaum auf HIV getestet. Erst 18 Monate nach der Geburt geben reguläre HIV-Tests verlässlich Auskunft über den HIV-Status eines Kindes. Dies ist für viele betroffene Kinder bereits zu spät, da ein Drittel der HIV-infizierten Säuglinge innerhalb des ersten Lebensjahres stirbt. Die prophylaktische Behandlung aller Kinder, bei denen Verdacht auf eine HIV-Infektion besteht, gilt aus diesem Grund als beste Strategie, ihnen zu helfen. Die Einnahme von Cotrimoxazole kann bei Kindern das Ausbrechen opportunistischer Infektionen verhindern und ihr Überleben in den ersten Monaten sichern. 348 Die Behandlung von HIV-infizierten Kindern mit ARV stellt in Tansania ein Problem dar. Von den 130.000 bis 150.000 HIV-infizierten Kindern (0-14 Jahre), die in Tansania lebten, benötigten 2008 circa 40.000 eine ARV-Therapie. Tatsächlich erhielten lediglich 12.822 Kinder Zugang zu dieser Art der Behandlung.349 Obgleich das Gesundheitssystem den Bedarf an ARV-Therapien weiterhin nicht deckt, lassen sich deutliche Fortschritte ausmachen. Im Jahr 2005 erhielten nur 2318 HIV-infizierte Kinder, 6% der Heranwachsenden mit einem Bedarf, eine ARV-Therapie.350 Die Fortschritte der vergangenen Jahre im Bereich ARV-Therapie geben Anlass zur Hoffnung, dass sich auch die Situation HIV-infizierter Kinder in den kommenden Jahren weiter verbessert.351 HIV-infizierte Kinder, besonders diejenigen, die sich in einer ARVTherapie befinden, weisen einen hohen medizinischen Bedarf auf und benötigen neben der ärztlichen Versorgung auch Unterstützung in Form von häuslicher 348
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 92 f. Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 45. 350 Vgl. UNAIDS, UNICEF und WHO (Hrsg.) 2007, S. 34. 351 Siehe Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamojo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania: Während des Forschungsaufenthaltes der Autorin im Jahr 2007 berichteten verschiedene Gesprächspartner aus allen besuchten Regionen übereinstimmend, dass alle erwachsenen Patienten mit einem Bedarf für eine ARV-Therapie eine entsprechende kostenfreie Behandlung im nächstgelegenen staatlichen Krankenhaus erhalten. 349
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Krankenpflege und psychosozialer Beratung. Eine enge Kooperation mit Betreuern HIV-infizierter Kinder und den betroffenen Heranwachsenden bildet die Voraussetzung für die Kontinuität bei der Einnahme notwendiger Medikamente. Die strikte Einhaltung des Medikamentenregimes ist gerade bei einer Behandlung mit ARV wichtig, um die Wirkung der Therapie zu sichern und die Bildung von Resistenzen zu vermeiden.352 Daneben besteht ein Bedarf für eine psychosoziale Begleitung der Überprüfung des HIV-Status und des Behandlungsprozesses in Gruppen- und Einzelgesprächen. Bei älteren HIV-infizierten Kindern stellt sich die Frage, ob und wie der Heranwachsende über seinen Status informiert werden sollte. Die Kenntnis des eigenen Status kann helfen, sich selbst und andere zu schützen. Das Kind muss jedoch Raum und Zeit bekommen, um die Informationen zu verarbeiten und darüber zu sprechen. Gerade an einer entsprechenden Weiterbehandlung des Kindes und einer umfangreichen Beratung der Betreuungspersonen mangelt es nach einer HIV-Diagnose in Tansania häufig. 353 Barrieren für eine angemessene Versorgung HIV-infizierter Kinder Ein Mangel an Zeit, Geld und Informationen sowie die Angst vor Stigmatisierung führen in Tansania dazu, dass HIV-infizierte Kinder keine angemessene Versorgung und Behandlung erhalten (Abb. 37). Abbildung 37: Die Situation HIV-infizierter Kinder nach ihrer Verwaisung Joyce Chitenje, Leiterin eines Waisenprojektes, berichtet der Autorin von den Erfahrungen, die sie in der Arbeit mit 56 HIV-infizierten Waisen machte: Die ständige Krankheit der Kinder entwickelt sich in den Familien zur Normalität. Den Betreuern fehlen die Zeit und das Geld, Kinder ins Krankenhaus zu bringen oder sie dort zu versorgen, weil sie den Lebensunterhalt erwirtschaften und auf dem Feld arbeiten müssen. Die Familie nimmt an, dass das Kind ohnehin stirbt. Es besteht die Gefahr, dass bei geringen finanziellen Ressourcen die Kosten für den Transport, das Geld für den HIV-Test und andere Ausgaben als unwirtschaftliche und überflüssige Ausgaben angesehen werden. (Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania) Der Ausbruch der AIDS-Epidemie Anfang der 1980er Jahre führte in der Kagera Region nicht zu einem Anstieg der Waisen im Säuglingsheim. Die Familien brachten die Kinder nach dem Tod der Mutter nicht mehr ins Heim, welches die Versorgung während der ersten Lebensmonate übernimmt. Die Menschen gingen davon aus, dass eine Mutter ihr Kind mit dem HI-Virus infiziert und es deshalb keine Überlebenschancen hat. Starb die Mutter, verblieb das Kind im Dorf. Viele Säuglinge starben unabhängig von ihrem HIV-Status. (Interview mit E. Kamazime am 20.02.02 in Ntoma, Tansania) 352
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 91 ff. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 93 f.; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 353
3.1 Sozioökonomische Faktoren
171
Die Kosten für die Versorgung eines Kindes mit ARV betragen in Tansania 40.000 TSH (22,50 Euro) pro Monat. Hinzu kommen monatliche Kosten von 30.000 TSH (16,88 Euro) für eine ausgeglichene Ernährung.354 Während die staatlichen Krankenhäuser die Kosten der ARV-Therapie übernehmen, müssen die Betreuer der Waisen für die notwendige reichhaltige Ernährung und die Transportkosten selbst aufkommen. Dies führt zu hohen Ausgaben, die viele Familien überfordern.355 Besonders Waisen ohne verlässliche erwachsene Betreuungspersonen haben geringe Chancen eine angemessene Behandlung zu erhalten: „Einige Kinder haben niemanden, der für sie sprechen könnte. Sie sind HIV-positiv, sie bleiben in den Dörfern, sie erhalten kein ARV, sie wissen nicht, was sie tun sollen.“ (Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Neben dem hohen finanziellen Aufwand können fehlende oder falsche Informationen ursächlich dafür sein, dass Waisen nicht die Versorgung erhalten, die möglich wäre. Vor allem Großeltern oder Menschen in abgelegenen ländlichen Gebieten stellen keine Zielgruppen für HIV-Aufklärungskampagnen dar. Falsches Wissen über AIDS bzw. fehlendes Wissen über die Möglichkeiten einer ARV-Behandlung zieht lebensbedrohende Folgen nach sich. Menschen können sich einerseits nicht vor einer HIV-Infektion bei der Pflege der Waisen schützen und ihnen ist andererseits nicht bewusst, dass die Möglichkeit und ein Anrecht auf eine medizinische Behandlung für HIV-infizierte Kinder bestehen.356 Das Stigma, das AIDS immer noch in vielen Gemeinden Tansanias anhaftet, stellt einen weiteren Hinderungsgrund für die Wahrnehmung einer medizinischen Behandlung dar. Betreuer von Waisen trauen sich nicht, die Kinder zum Testen zu bringen, selbst wenn ein konkreter Verdacht auf eine HIV-Infektion besteht. Sie befürchten negative Reaktionen des Umfeldes und scheuen sich vor einer Auseinandersetzung mit der Wahrheit: „Auch jetzt noch ist das Stigma so groß und viele Kinder leiden weiterhin in ihren Häusern an HIV und unterschiedlichen Krankheiten, die mit HIV in Verbindung stehen. Doch niemand ist bereit, mit ihnen zum Testen zu gehen.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Kinder, deren HIV-Infektion nicht identifiziert ist, bleibt der Zugang zu einer kostenfreien Behandlung mit ARV verschlossen.357
354
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 118. Vgl. Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 356 Vgl. HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 18; Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania. 357 Vgl. Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 355
172
3 Die Lebenswelt der Waisen
3.1.5 Resümee: Sozioökonomische Faktoren Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Waisen in ihrer Grundversorgung auf vielfache Weise gefährdet sind. Die Abbildung 38 stellen die unterschiedlichen Risiken von Waisen im sozioökonomischen Bereich und die Komponenten, welche die Benachteiligung verstärken, aber auch aufheben können, dar. Die Abwesenheit der Mutter ist für die Versorgung eines Kindes von besonderer Bedeutung und wirkt sich negativ auf die gesamte Grundversorgung aus. 358 Der Verlust der Mutter zeigte sich dementsprechend in geringeren Bildungschancen, in einer verzögerten physischen Entwicklung, einem schlechteren Ernährungsund Gesundheitsstatus und einer höheren Sterblichkeitsrate.359 Die Gefährdung der Waisen steigt in ökonomisch schwachen Haushalten; andererseits kann ein sicheres ökonomisches Umfeld die Negativeffekte von Verwaisung ausgleichen.360 Das Gleiche trifft auf den Zugang zu externer Unterstützung durch Organisationen, Verwandte oder Freunde der Familie zu.361 Abbildung 38: Gefährdung von Waisen im Bereich der Grundversorgung Ernährung: Unterkunft:
Waisen nehmen weniger Mahlzeiten zu sich Waisen leben in schlechteren Unterkünften Waisen besitzen seltener eine angemessene Ausstattung des Haushaltes Waisen sind stärker von Obdachlosigkeit betroffen Bekleidung: Waisen mangelt es häufiger an ausreichender Kleidung und Schuhen Bildung: Waisen beginnen mit der Schule später Waisen sind auf schlechteren Schulen Waisen besuchen Schule für kürzere Zeit Waisen haben schwächere Leistungen Gesundheit: Waisen erhalten seltener eine angemessene medizinische Versorgung Waisen leiden stärker unter Wachstumsverzögerungen Waisen haben geringere Überlebenschancen Waisen sind häufiger mit HIV infiziert ▼ ▼ ▼ Nicht für alle Waisen treffen diese Risiken zu, jedoch sind Waisen durchschnittlich stärker gefährdet, unter diesen Faktoren zu leiden als Nichtwaisen. ▼ ▼ ▼ Gefährdung steigt: Gefährdung sinkt: - beim Verlust der Mutter - beim Zugang zu externen Hilfsangeboten - bei geringem ökonomischen Status - bei hohem ökonomischen Status
358
Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 17. Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 17; Beegle und Burke in Journal of African Economies 2/2004, S. S. 337 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 6 ff.; Economic Development Initiatives (Hrsg.) 2004b, S. 62 ff. 360 Vgl. Ainsworth, Beegle und Koda 2002, S. 16. 361 Vgl. ebd., S. 20. 359
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
173
3.2 Psychosoziale Konsequenzen Im Gegensatz zu den sozioökonomischen Folgen von Verwaisung existieren im tansanischen Kontext kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu den psychosozialen Konsequenzen, die Kinder aufgrund des Verlustes eines oder beider Elternteile, erleben. Psychosoziale Probleme von Waisen wurden lange Zeit in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Waisenkrise übersehen, da die akuten materiellen Bedürfnisse zu groß erschienen und somit im Vordergrund standen. Diese Konzentration auf den materiellen Bereich zeigt sich auch in der Arbeit der Hilfsprojekte. Diese begannen erst in den letzten Jahren, Programme zur psychosozialen Unterstützung von Waisen zu entwickeln. Die materielle Versorgung der Waisen stand und steht oft weiterhin bei vielen Projekten im Vordergrund.362 Die Begrenztheit der wissenschaftlichen Untersuchungen mit Bezug auf Tansania führt zu der Notwendigkeit, Studien aus anderen afrikanischen Ländern und Erkenntnisse der Grundlagenforschung mit einzubeziehen. Das vorliegende Kapitel beschränkt sich aus diesem Grund, anders als die Ausführungen zu den sozioökonomischen Faktoren, nicht ausschließlich auf Studien aus Tansania. Da die Übertragung von Forschungsergebnissen aus einem kulturell divergenten Kontext die Validität der Aussage gefährdet, wird die Autorin im Folgenden nur auf Erkenntnisse zurückgreifen, die sich für den tansanischen Kontext untermauern lassen. Zu diesem Zweck werden Erfahrungen der Interviewpartner aus der Arbeit mit Waisen, Aussagen der betroffenen Kinder und empirische Ergebnisse der Befragungen herangezogen. 3.2.1 Verlust und Trauer Interviewpartner in Tansania stellten in ihrer Arbeit mit Waisen immer wieder fest, dass diese aufgrund des Todes eines oder beider Elternteile traumatisiert sind. Die Verlusterfahrungen beeinflussen die betroffenen Kinder psychologisch und können zu vielfältigen Auffälligkeiten in deren Verhalten führen. 363 „Wenn Kinder ihre Eltern verlieren, sind sie traumatisiert, sie haben Stress und andere 362
Vgl. Alliance (Hrsg.) 2003, S. 3. Vgl. Burkhardt 2006, S. 13; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Nsemwa am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Yusif am 29.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 363
174
3 Die Lebenswelt der Waisen
Probleme im Hinblick auf ihr emotionales und psychologisches Befinden.“ (Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die gesunden Reaktionen auf den Tod eines nahestehenden Menschen können sich bei Kindern leicht zu pathologischen Trauerprozessen entwickeln, die sich langfristig auf die psychische Gesundheit auswirken. Kinder, denen es nicht gelingt, den Verlust auf angemessene Weise zu verarbeiten, leiden häufig an psychischen Erkrankungen in der Jugend und im Erwachsenenalter. Sie sind vor allem in der Gruppe der Patienten mit depressiven Störungen, mit erhöhtem Suizidrisiko und mit Bindungsproblemen überdurchschnittlich vertreten. Dabei weisen Personen, die in ihrer Kindheit den Tod einer engen Bezugsperson erlebten, nicht nur eine höhere Disposition für psychische Störungen auf. Die gemachten Erfahrungen wirken sich darüber hinaus auch auf die Ausprägung und die Schwere der entwickelten Störung aus. 364 Elternverlust und Trauer Die Beobachtungen der Praktiker zeichnen einen dringenden Bedarf zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Kindern hinsichtlich Verlust und Trauer sowie deren Folgen auf. Bisher existieren nahezu keine Studien über diese Thematik mit Bezug auf Afrika im Allgemeinen und Tansania im Speziellen. Verschiedenste Untersuchungen über die Verlustreaktionen von Kindern mit unterschiedlichem kulturellem, religiösem und wirtschaftlichem Hintergrund lassen allerdings die Vermutung zu, dass sich die Trauer von Kindern grundsätzlich gleicht. Young und Papadatou (2003) stellen dementsprechend in ihrer kulturvergleichenden Studie zu Trauererfahrungen fest, dass Kinder trotz der Unterschiede in den einzelnen Kulturen hinsichtlich der Rituale und der sozialen Erwartungen, die den Verlust einer nahen Bezugsperson begleiten, in der gesamten Welt auf den Tod der Eltern mit Trauer und Traurigkeit reagieren.365 Wissenschaftler aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen der Psychologie haben Phasenmodelle der Trauer aufgestellt. 366 Diese Modelle unter-
364
Vgl. Bowlby 1983, S. 388 f. Vgl. Young und Papadatou in Parkes, Laungani und Young (Hrsg.) 2003, S. 191 ff. 366 Im Folgenden werden einige ausgewählte Phasenmodelle vorgestellt: Siehe Bowlby 1982, S. 67 f.: Das Phasenmodell von Bowlby umfasst Auflehnung (1. Phase), Verzweiflung (2. Phase) sowie Loslösung und Reorganisation (3. Phase). Siehe Spiegel 1986, S. 57 ff.: Spiegels Modell beinhalten die vier Phasen Schock, Kontrolle, Regression und Adaption. 365
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
175
scheiden sich anhand der Anzahl der Phasen, einer abweichenden Feingliederung und einer divergierenden Schwerpunktlegung. Ungeachtet dieser strukturellen Unterschiede weisen die Modelle eine starke inhaltliche Kongruenz auf. Das Phasenmodell kindlicher Trauer von Bowlby (1983), der sich intensiv mit gelungenen und misslungenen Trauerprozessen beschäftigte, soll im Folgenden als Illustration vorgestellt werden. Phasenmodell der kindlichen Trauer von Bowlby (1983) Bowlby (1983) widmete sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit den Reaktionen von Kindern auf die Trennung von ihren Bezugspersonen. Er untersuchte dabei sowohl die Trauerprozesse unter günstigen Umständen als auch pathologisch verlaufende Trauer von Kindern in unterschiedlichen Altersstufen.367 Die von ihm identifizierten Phasen der Trauer in der Kindheit stellen sich folgendermaßen dar: Phase der Auflehnung: Nach dem Verlust einer Bezugsperson, welche sowohl durch den Tod der Person als auch durch eine räumliche Trennung verursacht sein kann, lehnt sich das Kind auf. Es reagiert wütend und ungläubig. Die Hoffnung auf eine Rückkehr der verlorenen Person erfährt in dieser Phase ihre größte Ausprägung. Die Heranwachsenden verweigern sich der Realität und wollen den Verlust nicht wahrhaben. Die Wut, die Kinder in dieser Phase empfinden, richtet sich häufig gegen die verlorene Person. Auch wenn die Bemühungen, die verlorene Person mit allen Mitteln zurückzugewinnen, offensichtlich aussichtslos sind, stellen sie keineswegs einen Hinweis auf pathologisch verlaufende Trauerprozesse dar. Diese Anstrengungen erweisen sich als notwendig, wenn es den betroffenen Kindern gelingen soll, den Verlust als unveränderbare Tatsache zu akzeptieren. 368 Phase der Verzweiflung: Die Phase der Verzweiflung äußert sich vor allem darin, dass das betroffene Kind ruhiger erscheint. Die konkrete Hoffnung Siehe Kast 1993, S. 51 ff.: Die erste Phase des Modells ist das Nicht-Wahrhaben-Wollen. Diesem folgen die Phase der aufbrechenden Emotionen und die Phase des Suchen und Sich-TrennenS. Der Trauerprozess wird in der Phase des neuen Selbst- und Weltbezuges beendet. Siehe Kübler-Ross und Kessler 2005, S. 7 ff.: Das Modell von Kübler-Ross umfasst insgesamt fünf Phasen; auf das Nicht-Wahrhaben-Wollen folgt der Zorn, die Verhandlung und schließlich die Depression, bis der Trauernde zur Annahme des Geschehenen bereit ist. 367 Siehe Bowlby 1983: Mit Hilfe von eigenen Untersuchungen, Auswertungen von Studien anderer Wissenschaftler und Fallbeispielen beschreibt Bowlby Reaktionen trauernder Kinder unter günstigen und ungünstigen Bedingungen sowie die Folgen von Verlusterfahrungen mit pathologischem Verlauf. Auf diese Weise identifiziert er Rahmenbedingungen für positiv verlaufende Trauerprozesse. 368 Vgl. ebd., S. 539.
176
3 Die Lebenswelt der Waisen
auf ein Wiedersehen schwindet; das Kind geht in einen Zustand der Resignation und Niedergeschlagenheit über. Die Phase der Verzweiflung ist ebenso wie die Phase der Auflehnung von ambivalenten Gefühlen geprägt. Beide Phasen durchläuft das Kind im Wechselspiel, das heißt Momente der Auflehnung weichen dem Gefühl von Verzweiflung und Resignation. Die Dauer dieses Wechsels zwischen den Phasen unterscheidet sich individuell und steht in enger Verbindung zum Alter des Kindes und den Begleitumständen des Verlustes.369 Phase der emotionellen Loslösung: Das Wechselspiel zwischen den ersten beiden Phasen führt letztendlich zur Phase der emotionellen Loslösung. Das Kind trennt sich gefühlsmäßig von der verlorenen Person, ohne jedoch das Andenken und die Erinnerung an den Verstorbenen aufzugeben. In dieser Phase kommt es zu einer Reorganisation, welche dem Kind ein Weitermachen ermöglicht. Das Kind richtet sich quasi in einem Leben ohne die verlorene Person ein und passt sich den veränderten Lebensbedingungen an. 370 Bowlby (1983) vertritt die Ansicht, dass dieses Trauermodell, welches der Trauer erwachsener Personen weitestgehend gleicht, für alle Kinder unabhängig von deren Alter zutrifft. Besonderheiten der Trauer bei Kindern Der Trauerprozess von Kindern ist primär von ihrer Entwicklung abhängig. Einerseits wächst das Verständnis der Bedeutung von Tod und Sterben mit dem Alter, andererseits sinkt gleichzeitig die Bereitschaft, Emotionen zuzulassen. Dies verändert die Fähigkeit des Kindes, mit dem Verlust einer nahen Bezugsperson umzugehen. 0 – 18 Monate: Die Voraussetzung für die Fähigkeit, einen Verlust bewusst wahrzunehmen und darauf zu reagieren, besteht im vorangegangenen Aufbau einer engen Beziehung zu dieser Person. In den ersten sechs Lebensmonaten unterscheiden sich die Reaktionen eines Säuglings auf die Trennung von seiner Bezugsperson daher wesentlich von dem beschriebenen Trauerprozess. Aus diesem Grund lässt sich das Verhalten nicht als Trauer im herkömmlichen Sinne verstehen. Im Alter von sechs bis circa 17 Monaten gleichen sich sie Reaktionen des Kindes immer stärker an die beschriebenen Trauerphasen an. 371
369
Vgl. Bowlby 1982, S. 67 f. Vgl. ebd., S. 68. 371 Vgl. ebd., S. 64 ff. 370
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
177
18 Monate – 7 Jahre: In diesem Alter hat ein Kind in der Regel noch kein klares Konzept von der Endgültigkeit des Todes. Kinder im Vorschulalter glauben häufig, dass verstorbene Menschen zurückkommen können und dass sie selbst über die Kräfte verfügen, den Toten zurückzuholen. Ebenso besteht die Gefahr, dass Kinder sich für den Tod des Verstorbenen verantwortlich fühlen und diesen als Folge schlechten Benehmens oder böser Gedanken sehen. Die Vorstellung, was mit Menschen nach ihrem Tod geschieht, wird bei jungen Kindern von phantastischen Ideen beeinflusst. 372 7 – 11 Jahre: Mit zunehmendem Alter wird das kindliche Konzept von Tod realistischer und detaillierter. Die kognitiven Fähigkeiten des Kindes ermöglichen die gedankliche Auseinandersetzung mit Situationen, Objekten und Personen. Dies hilft bei der Auseinandersetzung mit dem Sterben und beim intensiven Erinnern an einen Verstorbenen. Kinder im Primarschulalter zeigen Neugier bezüglich des Lebenskreislaufs und stellen Fragen über Geburt und Tod. Sie verstehen, dass alle Menschen sterben müssen, und können die normale Lebenserwartung eines Menschen bestimmen. Gelichzeitig nehmen sie Erklärungen über ein Leben nach dem Tod an. 373 ab 12 Jahren: Jugendliche verstehen Sterben als natürlichen Prozess, über den sie keine Kontrolle besitzen. Die Auseinandersetzung mit dem Tod einer nahen Bezugsperson wird häufig durch die Bewältigung eigener Entwicklungsaufgaben erschwert. Die Abgrenzung von Erwachsenen beeinträchtigt die Möglichkeit eines Jugendlichen, seine Trauer und seine Empfindungen mitzuteilen. Stattdessen wählen sie Gleichaltrige, um sich auszutauschen oder halten ihre Gefühle zurück. Das abstrakte Denken gestattet den Heranwachsenden, religiöse Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod zu hinterfragen und anzufechten.374 Das altersbedingte Verständnis von Tod beeinflusst die Fähigkeiten des Kindes, mit dem Verlust einer Bezugsperson umzugehen. Es ist notwendig, dass sich Erwachsene im Umfeld diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen bewusst sind, um angemessen auf die verschiedenen Bedürfnisse des Kindes nach einem Todesfall einzugehen. Die Unterschiede zwischen dem Umgang von Kindern und Erwachsenen mit einem Todesfall liegen darüber hinaus in der sozialen Position von Kindern. Ebenso wie Erwachsene benötigen Kinder eine verlässliche und tröstende Bezugsperson in den einzelnen Phasen der Trauer. Kindern fällt es allerdings schwerer als Erwachsenen, sich diese emotionelle Unterstützung aktiv zu suchen, wenn sich die Zuwendung des unmittelbaren persönlichen Umfeldes als unzu-
372
Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 43. 374 Vgl. ebd., S. 43. 373
178
3 Die Lebenswelt der Waisen
reichend herausstellt. Ebenso verfügen Erwachsene über mehr Möglichkeiten, sich über den Tod und die Todesumstände zu informieren. Ein Kind ist auf die Informationen angewiesen, die ihm freiwillig erteilt werden. Es befindet sich in der Regel nicht in der Lage, eigene Nachforschungen anzustellen und beispielsweise mit den zuständigen Ärzten zu sprechen. 375 Neben diesen sozial bedingten Einschränkungen führt auch die Tatsache, dass Kinder stärker in der Gegenwart leben als Erwachsene, zu Unterschieden. Vordringliche Interessen führen dazu, dass Menschen ihren Verlust kurzzeitig vergessen und sich anderen Dingen zuwenden. Für Kinder treten diese Phasen des Vergessens häufiger auf und können von Anderen provoziert werden. Trauernde Kinder scheinen aus diesem Grund, zwischen ihren Stimmungen hin und her zu schwanken. In einem Moment verlieren sie sich im Spiel mit anderen Kindern und im nächsten ergreift der Gedanke an den Verlust von ihnen Besitz und sie ziehen sich in sich selbst zurück. Diese Stimmungsschwankungen lassen sich von Außenstehenden oft nur schwer nachvollziehen. Betreuer wiederum nutzen die Gegenwartsorientierung der Waisen. Es gelingt ihnen scheinbar leicht, die betroffenen Kinder abzulenken und aus ihrer Traurigkeit zu befreien. Dies vermittelt dem sozialen Umfeld fälschlicher Weise, dass das Kind den Tod bereits überwunden hat und seinen verstorbenen Eltern bzw. dem verstorbenen Elternteil nicht mehr nachtrauert.376 Gestörte Varianten der Trauer Aufgrund der sozialen Position von Kindern und dem entwicklungsspezifischen Verständnis von Tod können die Trauerprozesse von Heranwachsenden leichter einen pathologischen Verlauf nehmen als die Trauer im Erwachsenenalter. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Menschen, die in ihrer Kindheit einen nahestehenden Menschen verlieren, automatisch gestörte Varianten der Trauer entwickeln und langfristig unter psychischen Beeinträchtigungen leiden. Dennoch erlebten psychisch erkrankte Personen in ihrer Kindheit überdurchschnittlich häufig Todesfälle. Die psychischen Erkrankungen treten dabei nicht immer unmittelbar im Anschluss an den erlebten Verlust auf, sondern zeigen sich in vielen Fällen erst nach Jahren.377 Viele Kennzeichen der gesunden kindlichen Trauer (Abb. 39) können sich zu pathologischen Trauerzuständen entwickeln. Die Übergänge sind dabei fließend und häufig lässt sich eine eindeutige Grenze zwischen gelungener und 375
Vgl. Bowlby 1983, S. 376 f. Vgl. ebd., S. 376 f. 377 Vgl. Bowlby 1982, S. 70 ff. 376
179
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
pathologischer Trauer nicht ausmachen. Grundsätzlich sollten Trauermerkmale als Symptome pathologischer Trauer eingestuft werden, wenn sie unangemessen lange andauern, in einer übermäßig starken Ausprägung vorliegen oder zu einer Gefährdung der gesunden Entwicklung des betroffenen Kindes führen. Pathologische Trauerzustände wirken sich auf das alltägliche Leben der Betroffenen aus und erschweren die Anpassung des Kindes an die veränderten Lebensumstände. Abbildung 39: Symptome kindlicher Trauer (vgl. Goldman 2000, S. 49) Verhalten
Gedanken und Gefühle
Körperliche Symptome
Sozialer Rückzug Konzentrationsschwierigkeiten Appetitverlust Weinen Alpträume Schlaflosigkeit Hyperaktivität Anhänglichkeit Zerstreutheit Aggressivität
Verwirrung
Kopfschmerzen Gesteigerte Krankheitsanfälligkeit Müdigkeit Kurzatmigkeit Bauchschmerzen Herzklopfen Kraftlosigkeit Schwindel Hitzewallungen Engegefühl in der Brust
Ärger und Wut Schuldgefühle Traurigkeit Euphorie Erleichterung Hilflosigkeit Angst Einsamkeit Ungläubigkeit
Die jeweiligen Symptome unterscheiden sich, ebenso wie die Kennzeichen gesunder Trauer, bei den einzelnen Kindern. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen und der therapeutischen Behandlung trauernder Kinder sind verschiedenste Varianten gestörter Trauer bekannt. Diese wurden teilweise auch in Tansania von den Mitarbeitern der Organisationen bei den Waisen in ihren Hilfsprogrammen beobachtet. Der folgende Abschnitt stellt unterschiedliche pathologische Trauerzustände vor. Dabei geht der Text jeweils zuerst auf die allgemeine Darstellung des Symptoms ein und beleuchtet direkt im Anschluss dessen Auftreten im tansanischen Kontext. Ängste Kinder, die den Tod einer oder mehrerer Bezugspersonen erlebten, leiden häufig unter einer dauerhaften Angst, weitere Familienmitglieder zu verlieren oder
180
3 Die Lebenswelt der Waisen
selbst zu sterben. 378 Diese Angst äußert sich beispielsweise in Konzentrationsschwierigkeiten oder in der Weigerung zur Schule zu gehen, da die Befürchtung besteht, dass dem überlebenden Elternteil oder dem Betreuer in der eigenen Abwesenheit etwas zustößt.379 Die Befürchtung, weitere Bezugspersonen zu verlieren, ist in Tansania nicht unbegründet, denn aufgrund der AIDS-Epidemie beschränkt sich der Tod häufig nicht nur auf ein Familienmitglied, sondern trifft mehrere Angehörige. AIDS führt in der Regel zum Tod beider Elternteile innerhalb einer kurzen zeitlichen Periode.380 Daten von UNICEF, UNAIDS, WHO und UNPF (2009) gehen davon aus, dass im Jahr 2007 490.000 Vollwaisen in Tansania lebten. 381 Diese Kinder müssen mit wiederholten Verlusterfahrungen umgehen. Aber auch andere Waisen haben das Risiko, eine doppelte Traumatisierung zu erleben, wenn ihre Betreuer oder ihre Geschwister sterben (Abb. 40).382 Abbildung 40: Ängste als Folge wiederholter Verlusterfahrungen von Waisen Während eines Hausbesuches lernte die Autorin ein 15-jähriges Mädchen kennen. Nach dem Tod der Mutter und des Vaters fand das Mädchen gemeinsam mit ihren fünf Geschwistern bei der Großmutter ein neues Zuhause. Die Angst, dass die Großmutter aufgrund ihres hohen Alters ebenfalls sterben könnte und die Kinder zum wiederholten Male ihr Zuhause verlieren, ist allgegenwärtig. Auf die Frage der Autorin nach ihrem größten Wunsch erklärte das Mädchen: „Großmutter soll nicht sterben.“ (Fragebogen 070419a2/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama).
Die aktuelle Situation in Tansania aufgrund der AIDS-Epidemie und der Überalterung der Betreuungspersonen von Waisen nährt die Angst von Waisen vor dem Tod weiterer Bezugspersonen, unabhängig davon, ob diese Befürchtung begründet ist oder nicht. Als Folge kann es zu einer krankhaften Verfestigung dieser Ängste kommen. Von bekannten Symptomen dieser Angst berichteten auch die Interviewpartner der Autorin aus den Projekten in Tansania. Die Traumatisierung der Waisen führt zu Schulproblemen, weil die Kinder den Schulbesuch verweigern oder sich während des Unterrichts nicht konzentrieren können. 383 Die Angst vor dem eigenen Tod scheint in Tansania ebenso begründet wie die Angst, weitere Angehörige zu verlieren. Besonders Waisen mit einer eigenen HIV-Infektion weisen in dieser Hinsicht eine Gefährdung auf. Viele Kinder 378
Vgl. Worden 1996, S. 58 f. Vgl. Bowlby 1983, S. 456 ff. und S. 379; Worden 1996, S. 67 ff.; Goldman 2000, S. 47. 380 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 11. 381 Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 52. 382 Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 22. 383 Vgl. Fox 2001, S. 30; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 379
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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erlebten die langen Krankheitsphasen ihrer Eltern sowie Geschwister und müssen sich nun mit der eigenen Infektion auseinandersetzen. Aus diesem Grund haben Waisen mit einer HIV-Infektion einen hohen Bedarf an psychosozialer Unterstützung. Sie müssen lernen, einerseits mit ihrer Trauer umzugehen sowie andererseits mit ihrem HIV-Status positiv zu leben und ihre Krankheit zu bewältigen. Diese Kinder benötigen einen sicheren Raum, um über ihre Infektion zu reden und Erfahrungen mit anderen Betroffenen auszutauschen. 384 Fehlt den Heranwachsenden dieser Raum gefährdet die Angst vor dem eigenen Tod die Bewältigung des alltäglichen Lebens. „Sie machen sich auch Sorgen, sie denken, dass sie auch sterben werden.“ (Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Diese Befürchtung, unabhängig davon, ob sie einer realistischen Einschätzung entspringt oder nicht, kann die Betroffenen lähmen. Dies spiegelt sich beispielsweise in einer fehlenden Motivation, psychosomatischen Erkrankungen und Konzentrationsschwierigkeiten wider. 385 Depressive Zustände und sozialer Rückzug Kinder reagieren in einem mehr oder weniger starken Maß mit Traurigkeit auf den Tod einer engen Bezugsperson. Der häufigste Ausdruck dieser Traurigkeit besteht im Weinen, wobei sich die Ausprägung bei den einzelnen Kindern unterscheidet. Während einige sehr wenig weinen, erscheinen andere Heranwachsende untröstlich. Das Weinen lässt sich als gesundes Zeichen und als notwendige Reaktion auf einen Verlust werten.386 Dennoch kann sich die Traurigkeit trauernder Kinder zu einem pathologischen Trauermerkmal, das heißt zu einem depressiven Zustand, entwickeln. Die betroffenen Kinder leiden quasi unter einer unstillbaren Traurigkeit, die sich in Niedergeschlagenheit, Ängsten, Apathie, häufiges Weinen und Lustlosigkeit manifestiert. Diese Symptome kennzeichnen einen sozialen Rückzug; das Kind verliert das Interesse an seiner Umwelt und bleibt für sich allein. 387 Traurigkeit gehört auch für Kinder in Tansania zu den typischen Reaktionen auf den Tod ihrer Eltern. In der Befragung von 122 Waisen durch die Autorin gaben 43,4% (53) der Kinder an, dass der Verlust der Eltern eines von drei Dingen ist, die sie im Alltag traurig machen. Die Betroffenen berichten beispielswei384
Vgl. Alliance (Hrsg.) 2003, S. 8. Vgl. Fox 2001, S. 26; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 386 Vgl. Bowlby 1983, S. 408 f.; Worden 1996, S. 55 ff. 387 Vgl. Furman 1977, S. 186 ff; Plieth 2002, S. 108. 385
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se, dass sie traurig sind, weil sie „keine Eltern mehr haben“ (Fragebogen 070425a1/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama) oder wenn sie „an die Verstorbenen denken“ (Fragebogen 070419a8/Übersetzung durch E. Multhoff-Sama). Diese normale Trauerreaktion nach dem Tod eines oder beider Elternteile entwickelt sich bei einigen Kindern zu Depressionen. Eine in Dar es Salaam durchgeführte Studie belegt, dass Waisen in Tansania stärken von depressiven Zuständen betroffen sind als andere Heranwachsende. Kinder im Alter von zehn bis 14 Jahren wurden in Vororten von Dar es Salaam zu internalisierten Problemen, wie Ängsten, Gefühle von Versagen und Niedergeschlagenheit, befragt. Dabei wiesen Waisen deutlich mehr Anhaltspunkte von Depressionen auf als Nichtwaisen. Besonders Mädchen litten unter depressiven Zuständen. 388 Diese Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen in den Projekten. Bei vielen Waisen führt die Erinnerung an ihre Eltern zu einer großen Traurigkeit; sie weinen häufig, empfinden keine Freude mehr und zeigen eine allgemeine Unlust. 389 „Die Großen, es ist furchtbar, sie fühlen sich einsam, sie fühlen sich unglücklich, sie denken viel über ihre Eltern nach.“ (Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Der soziale Rückzug stellt eines der Merkmale dar, das Interviewpartner in Tansania im Rahmen der vorliegenden Studie am häufigsten als Folge von Verwaisung nannten. Die betroffenen Waisen bleiben allein und spielen nicht mit anderen. Sie ziehen sich zurück und grenzen sich ab.390 Ein Hinweis auf diesen sozialen Rückzug gibt das Ergebnis der Befragung (Abb. 41) von Waisen (n = 127) und Nichtwaisen (n = 64) hinsichtlich ihrer Freunde. 27,5% der Waisen berichteten, dass sie keine oder wenige Freunde besitzen. Bei der Vergleichsgruppe der Nichtwaisen äußerte kein Kind, dass es über gar keine Freunde verfügt und der Anteil mit wenigen Freunden betrug 15,6%.391 Statt sich dem Leben und anderen Menschen zuzuwenden, leben viele verwaiste Kinder in der Vergangenheit. „Sie neigen dazu, verletzlich zu sein. Sie denken, die Eltern verloren zu haben, ist das Ende ihres Lebens. Manchmal sieht man Waisen allein, sie spielen nicht mit anderen, sie wollen nicht mal mit ihnen verkehren, sie denken, es gibt nun einen Unterschied zwischen ihnen.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 388
Vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 32. Vgl. German, Madörin und Neube 2001, o. S.; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 14; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 390 Vgl. Fox 2001, S. 57 ff.; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 7; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 391 Die Gefahr der Diskriminierung von Waisen, die ebenfalls ein Grund für die Ergebnisse der Befragung sein könnten, stellt das Kapitel 3.2.2 detailliert dar. 389
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Waisen vermissen ihr gewohntes Leben und die Nähe ihrer Eltern. Sie berichten, dass sie häufig darüber nachdenken, wie ihr Leben sein könnte, wenn die Eltern noch leben würden. 392 Abbildung 41: Angaben über Freunde von Waisen und Nichtwaisen
Erhöhte Suizidgefahr Die unstillbare Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem verlorenen Menschen kann sich beispielsweise im Wunsch zu sterben äußern. Einige verwaiste Heranwachsende drohen aus diesem Grund mit Suizid, beschäftigen sich gedanklich mit dieser Möglichkeit oder unternehmen ernsthafte Versuche.393 Der unbewusste Wunsch nach einer Wiedervereinigung mit dem Verstorbenen kann sich darüber hinaus in einer hohen Anfälligkeit für Unfälle zeigen. 394 Auch in Tansania scheinen verwaiste Kinder, bewusst oder unbewusst Wege zu suchen, der verstorbenen Person zu folgen. In einer Studie in Dar es Salaam gaben dreimal mehr Waisen an, über Selbstmord nachgedacht zu haben, als Nichtwaisen.395 Die Interviewpartner der Autorin berichteten allerdings nicht von Suizidgedanken oder einer erhöhten Suizidrate der Waisen in ihren Projek392
Vgl. Whitehouse 2002, S. 31. Vgl. Bowlby 1983, S. 408 und S. 460 f.; Plieth 2002, S. 107 f. 394 Vgl. Furman 1977, S. 164; Bowlby 1983, S. 496; Worden 1996, S. 66 f. 395 Vgl. USAID (Hrsg.) 2004a, S. 23. 393
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ten. Dennoch betonten sie, dass Waisen verstärkt in Risikoverhalten involviert sind. Die betroffenen Kinder nehmen dabei die Gefährdung ihre Gesundheit und ihres Lebens bewusst in Kauf. Beispielsweise gehen Waisen, auch diejenigen, deren Eltern an AIDS starben, ungeschützte sexuelle Beziehungen ein und setzen sich somit der Gefahr einer HIV-Infektion aus.396 Obwohl diesem Risikoverhalten teilweise auch soziale und ökonomische Ursachen zugrunde liegen, lässt sich eine unbewusste Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit den verstorbenen Eltern nicht ausschließen. Schuldgefühle Schuldgefühle von Kindern im Hinblick auf den Tod des Verstorbenen zeigten sich bei vielen verschiedenen Untersuchungen und Fallbeispielen. 397 Vor allem Kinder, die wenig Gelegenheit bekommen, über den Tod und dessen Ursachen sowie damit verbundene Ängste zu sprechen, neigen dazu, krankhafte Schuldgefühle zu entwickelten. Diese Schuldgefühle halten sich häufig ein Leben lang und prägen das Selbstbild des Betroffenen. In einigen Fällen tragen Bezugspersonen dazu bei, indem sie dem Kind bewusst oder unbewusst Verantwortung im Hinblick auf den Tod zuschreiben. 398 In Tansania erleben Kinder die Krankheit ihrer Eltern häufig unmittelbar, da die Versorgung der Patienten in der Regel im häuslichen Rahmen und seltener in medizinischen Einrichtungen stattfindet. Die Kinder teilen ihren Alltag mit den kranken Eltern und erfüllen teilweise wichtige Aufgaben in der Pflege. Diese Nähe und die Verantwortung können dazu führen, dass die Waisen sich am Tod ihrer Eltern schuldig fühlen, da es ihnen nicht gelungen ist, sie ausreichend zu versorgen und zu pflegen (Abb. 42).399 Schuldgefühle entstehen aber auch, wenn Kinder das Gefühl haben, nicht in angemessenem Maß die fehlenden Eltern ersetzen zu können. Vor allem ältere Kinder in Kinderhaushalten finden sich nach dem Tod der Eltern in der Rolle des Versorgers für die jüngeren Geschwister wieder. Der Umfang der Aufgabe belastet die Betroffenen und führt dazu, dass sie das Gefühl bekommen, zu scheitern und ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden. Befragte Kinder aus der Organisation HUMULIZA berichten 396 Vgl. Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 397 Vgl. Worden 1996, S. 61 f.; Goldman 2000, S. 39, Plieth 2002, S. 106; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 6; Ennulat 2003, S. 79 f. 398 Vgl. Bowlby 1983, S. 373 und S. 473 ff. 399 Vgl. Fox 2001, S. 58; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 6; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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dementsprechend, dass sie sich schuldig fühlen, weil es ihnen nicht so gut wie ihren Eltern gelingt, die alltäglichen Aufgaben zu erledigen. 400 Abbildung 42: Schuldgefühle aufgrund von Überforderung Emanuel Mawere, Mitarbeiter der Organisation WAMATA Arusha, berichtet der Autorin von einem Mädchen, das durch die Hilfsprogramme der Organisation Unterstützung erhält. Das Mädchen leidet seit dem Tod der Mutter unter depressiven Zuständen, Konzentrationsstörungen und Schuldgefühlen, da es sich für den Tod der Mutter verantwortlich fühlt. Trotz aller Bemühungen des Kindes, die Pflege und Versorgung der Mutter zu übernehmen, gelang es ihr nicht, das Überleben der Mutter zu sichern. „Wir fanden, dass in einer Familie das Waisenkind sehr schlecht in der Schule und auch sehr alleine war. Als wir dies überprüften, fanden wir heraus, dass sie diejenige war, die sich um ihre Mutter gekümmert hat, als sie ganz krank im Bett war. Kein Familienmitglied war gekommen, um kochen zu helfen, um beim Saubermachen des Hauses zu helfen, um zu helfen, wenn sich die Mutter erbrechen musste. Dieses Kind war diejenige, die die gesamte Last tragen musste. Und das war es, was sie verändert hatte. Jetzt ist sie immer einsam und denkt darüber nach, was passiert ist: „Meine Mutter, obwohl ich so eine große Rolle übernommen habe, um ihr zu helfen, zu überleben, hat es nicht funktioniert.“.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Aggressivität, Wut und destruktives Verhalten Die Schuldzuweisungen der Kinder richten sie nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen andere Personen. Der Drang, jemandem die Verantwortung für den Tod zu geben, kann die sozialen Beziehungen belasten und sich negativ auf die Integration in ein neues familiäres Umfeld auswirken. 401 Die Schuldzuweisungen und die Wut, die ein Kind über den Verlust eines Elternteils empfindet, äußern sich teilweise in Aggressivität und destruktiven Ausbrüchen. Die betroffenen Kinder provozieren Erwachsene und Gleichaltrige, zerstören scheinbar grundlos Gegenstände oder richten ihre Wut bewusst oder unbewusst gegen sich selbst. Dieses Verhalten erzeugt im sozialen Umfeld häufig Ablehnung, da die Betreuer es, anders als beispielsweise Traurigkeit, nicht als Reaktion auf den Verlust deuten. Die betroffenen Kinder erleben in diesen Fällen nicht die Fürsorge und das Verständnis, welches notwendig wäre, um einen angemessenen Umgang mit dem Todesfall zu finden, sondern Zurechtweisungen und Sanktionen. 402 Ärger und Wut in Bezug auf den Tod der Eltern lassen sich auch im afrikanischen Kontext als typische Gefühle von Waisen ausmachen. Die Kinder fühlen sich von den Eltern verlassen und richten ihre Wut auf die Verstorbenen. Aber 400
Vgl. Fox 2001, S. 57 ff.; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 14. Vgl. Furman 1977, S. 165; Bowlby 1983, S. 467; Goldman 2000, S. 47. 402 Vgl. Bowlby 1983, S. 409 und 471 ff. 401
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auch das überlebende Elternteil und andere Verwandte werden bewusst oder unbewusst für den Tod verantwortlich gemacht. Vor allem Jugendliche entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und reagieren mit Aggressivität (Abb. 43). 403 Abbildung 43: Aggressivität und destruktives Verhalten Bei Kindern, die auf den Verlust mit Wut reagieren und nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die zur Auseinandersetzung mit der Trauer notwendig wäre, manifestieren sich die unverarbeiteten Emotionen häufig in Aggressivität und destruktivem Verhalten: „Kinder, die Waisen sind, sind psychologisch beeinträchtigt. […] Ihr Bedarf an Liebe unterscheidet sich von anderen Kindern. Wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen, machen sie etwas, damit jemand sie bemerkt.“ (Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.) Manche Waisen versuchen, sich in diesem Stadium mit ihren Betreuern zu messen und sich gegen diese zu behaupten: „Und die, die Jungs sind, wollen bekannt machen, dass auch sie Männer sind, die etwas zu sagen haben. Also wenn sie zu ihrer Großmutter gehen und die Großmutter will vielleicht etwas Feuerholz, sagen sie: „Nein! Ich gehe jetzt Fußball spielen!““ (Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Beispiel zeigt, dass bei den beobachteten Verhaltensauffälligkeiten der jugendlichen Waisen sich nicht immer ausmachen lässt, inwieweit es sich um altersbedingte Autonomietendenzen oder um Reaktionen auf die Verwaisung handelt.
Zwanghafte Fürsorge In einigen Fällen, besonders wenn die Unterstützung durch verlässliche Erwachsene gering ausfällt, entwickeln verwaiste Kinder eine zwanghafte Fürsorge und Selbstgenügsamkeit. Die eigene Umsorgung, die durch den Tod des Elternteils entfällt, ersetzt das betroffene Kind nicht mit der Suche nach einem Ersatz. Vielmehr schlüpft es selbst in die Rolle des Fürsorgers und nimmt großen Anteil an den Problemen anderer. Beispielsweise übernimmt das Kind die Rolle der verstorbenen Mutter und kümmert sich um den überlebenden Vater oder es spendet anderen Kindern, die ebenfalls ein Elternteil verloren haben, Trost und Aufmerksamkeit. Diese zwanghafte Fürsorge für Andere zeigt sich häufig auch im späteren Leben gegenüber Ehepartnern oder Mitmenschen und geht in der Regel mit einem hohen Maß an Selbstgenügsamkeit einher. Der Verlust der Bezugsperson kann dazu führen, dass Kinder ihr Bedürfnis nach Liebe verdrängen. Dies lässt sich als Schutzmaßnahme werten; jemand der sich selbst genügt
403
Vgl. German, Madörin und Neube 2001, o. S.; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 6 f.; Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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und keine Zuwendung von anderen Menschen benötigt, kann scheinbar durch einen Verlust nicht verletzt werden. 404 Auch in Tansania lässt sich an Einzelfällen beobachten, dass Waisen die Aufgabe des Fürsorgers übernehmen (Abb. 44). Teilweise erzwingt die Situation eine solche Rollenübernahme, da erwachsenen Betreuungspersonen im Haushalt der Kinder fehlen, und teilweise stellt die Verantwortungsübernahme eine Flucht der Betroffenen vor den eigenen Gefühlen dar. In beiden Fällen verlieren die Kinder einen wesentlichen Teil ihrer Kindheit, das heißt das Privileg, umsorgt zu werden, statt selbst zu versorgen. Abbildung 44: Zwanghafte Fürsorge und Bevormundung Waisen, die in einem Alter die Rolle von Erwachsenen übernehmen, in dem sie eigentlich noch Fürsorge und Aufmerksamkeit benötigen, verändern ihr Verhalten. Das folgende Beispiel illustriert einen solchen Fall: „Zum Beispiel gab es ein Mädchen, das jetzt in der Kibeta Schule ist. Sie hat beide Eltern verloren. […] Aber, weil sie die Verantwortung übernahm, als sie noch sehr klein war, ist sie jetzt immer die Erste, die bestimmt. Sie will jeden an der Schule beaufsichtigen.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Euphorie Kinder, denen es schwerfällt zu trauern, zeigen häufig ein unangebrachtes Maß an Euphorie, welches teilweise mit Gefühlen von Depersonalisation und Unwirklichkeit einhergeht. Der gehobenen Stimmung, die sich von Außenstehenden oft nicht nachvollziehen lässt, liegen vielfältige Ursachen zugrunde. Einige Kinder mögen eine Erleichterung über den Wegfall von Einschränkungen spüren, die in Verbindung mit dem Verstorbenen oder seiner Krankengeschichte stehen. Andere Kinder versuchen bewusst fröhlich zu erscheinen, um sich ihrer Trauer nicht zu stellen, der Umgebung die Situation zu erleichtern oder sich selbst unangreifbar zu machen. Kinder, die euphorische Zustände zeigen, beschreiben häufig, dass sie sich in einer bewussten oder unbewussten Abgrenzung vom erlebten Verlust befinden. Das Geschehene wird wie aus der Ferne wahrgenommen und scheint, sie nicht persönlich zu betreffen. Diese Depersonalisation erschwert die Auseinandersetzung mit dem Tod. 405 Bei der Befragung von Mitarbeitern aus Hilfsprojekten in Tansania hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten verwaister Kinder berichtete niemand von 404 405
Vgl. Bowlby 1983, S. 477 ff. und S. 534 ff. Vgl. Bowlby 1983, S. 484 ff.
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euphorischen Zuständen bei den betroffenen Kindern. Dies bedeutet nicht, dass dieses Merkmal pathologischer Trauerprozesse in Tansania nicht vorkommt. Vielmehr lässt sich vermuten, dass dieses Symptom nicht wahrgenommen wird. Das Fehlen typischer Trauerreaktionen fällt dem außenstehenden Beobachter häufig nicht auf. Die Kinder scheinen, sich mit der Situation abgefunden und den Verlust verarbeitet zu haben. Das mangelnde Bewusstsein für diese gestörte Variante der Trauer bei Mitarbeitern in den Hilfsprojekten für Waisen gefährdet die angemessene psychosoziale Begleitung der betroffenen Kinder. Schutz- und Risikofaktoren im Trauerprozess Unterschiedliche Faktoren entscheiden darüber, ob der Verlust eines nahestehenden Menschen pathologisch oder gesund verlaufende Trauerprozesse auslöst (Abb. 45). Abbildung 45: Schutz- und Risikofaktoren im Trauerprozess Risikofaktoren Falsche Informationen Fehlende Informationen Beschönigende Umschreibungen Überforderung der Bezugspersonen durch eigene Trauer Diskrepanz zwischen den Gefühlen des Kindes und der Einschätzung durch Außenstehende
Schutzfaktoren Klare Informationen entsprechend dem Entwicklungsstand des Kindes Möglichkeit, Fragen zu stellen Zuverlässige erwachsene Bezugsperson Anwesenheit von Geschwistern oder anderen Waisen im Haushalt
Veränderungen in der Lebenssituation
Sekundäre Stressoren im sozioökonomischen und psychosozialen Bereich
Aktive Bewältigungsstrategien der Bezugsperson
Aufbau neuer Beziehungen
Begrenztes Mitspracherecht des Kindes hinsichtlich der Betreuung Emotionelle und materielle Überforderung der Bezugsperson Fehlende Angebote professioneller Trauerbegleitung
Möglichkeit, Erinnerung an den Verstorbenen aufrecht zu erhalten Schaffung eines neuen sozialen Netzes Angebote professioneller Trauerbegleitung
Informationen über den Tod Das soziale Umfeld und Erwartungen an das Kind
Professionelle Hilfe
Gelegenheit, Emotionen zu zeigen
Eine wesentliche Rolle spielt dabei das soziale Umfeld, denn ein Kind reagiert darauf, wie die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung mit dem Verlust umgehen und sich ihm gegenüber verhalten. Variablen, die einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Trauer ausüben, umfassen die Art und Weise, wie ein Kind vom Tod erfährt, die Reaktionen des überlebenden Elternteils bzw.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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anderer Verwandte sowie zusätzliche Stressfaktoren durch veränderte Lebensbedingungen. 406 Der folgende Abschnitt betrachtet die genannten Faktoren mit ihren Implikationen für die kindliche Trauer im tansanischen Kontext detailliert. Informationen über den Tod In Tansania verhindert eine falsche Rücksichtnahme bzw. die Tabuisierung des Todes offene Gespräche mit Kindern über die Krankheit oder den Tod der Eltern.407 „Wir haben eine Kultur der Geheimhaltung, den Kindern nicht zu sagen, was im Haus passiert, vor allem wenn wir einen solchen Patienten [mit HIV] haben. Zum Beispiel, wenn der Vater krank ist und wir festgestellt haben, dass der Vater HIV hat, sagen wir es nicht den Kindern. Wir denken, dass wenn wir den Kindern die Schwierigkeiten mitteilen, dann werden die Kinder verrückt und sie werden versuchen, uns zu stören.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Familien verheimlichen Probleme, sodass die Kinder häufig eher von Freunden oder Nachbarn von der Krankheit ihrer Eltern oder der jeweiligen Todesursache erfahren als von Verwandten oder Eltern. Für viele Heranwachsende führt dies zu einem Dilemma; sie wissen nicht, ob sie den Aussagen Außenstehender Glauben schenken sollen, wagen sich aber auch nicht, das Tabuthema in der Familie anzusprechen. Das Fehlen klarer Informationen erschwert bzw. verhindert die Auseinandersetzung mit dem Verlust und kann zu Verhaltensauffälligkeiten führen (Abb. 46). 408 Abbildung 46: Verhaltensauffälligkeiten als Folge fehlender Aufklärung über den Tod Agnes Ngowi, Mitarbeiterin des Waisenprojektes KIWAKKUKI, kennt Fälle, bei denen Kinder keine ausreichenden, richtigen oder verständlichen Informationen über die Ereignisse erhielten und als Folge Auffälligkeiten in ihrem Verhalten entwickelten. Sie berichtet der Autorin von einem Betreuer, der mit einem Kind zur Beratung von KIWAKKUKI kam, weil es Probleme mit dem Verhalten und der Eingliederung in den Haushalt gab. Im Laufe des Gespräches zeigte sich, dass niemand dem Kind mitgeteilt hatte, dass seine Eltern nicht mehr leben. Dieses Unwissen erzeugte beim Kind das Gefühl, von den Eltern grundlos im Stich gelassen worden zu sein. Als Folge wandte es die Wut, die es gegenüber den abwesenden Eltern empfand, gegen die Haushaltsmitglieder in seinem neuen Zuhause. (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania)
406
Vgl. ebd., S. 347. Vgl. Fox 2001, S. 48 f.; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 6; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 408 Vgl. Fox 2001, S. 45 ff. 407
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In einer in Tansania durchgeführten Studie, an der mehr als 200 Familien partizipierten, bewerteten Kinder, deren Eltern mit ihnen vor dem Tod über das Sterben gesprochen hatten, die Mitteilung dieser Information insgesamt positiv. Das Wissen über den bevorstehenden Tod der Eltern half ihnen nicht nur, sich mental auf den Verlust einzustellen, sondern ermöglichte ihnen auch, sich Ratschläge hinsichtlich der Bewältigung von alltäglichen Aufgaben zu holen. Mithilfe dieser Ratschläge befanden sie sich nach dem Tod der Eltern in einer besseren Position, die Herausforderungen zu meistern und mit dem Verlust der Eltern zurechtzukommen.409 Das soziale Umfeld und Erwartungen an das Kind Grundsätzlich hält die Großfamilie eine hohe Anzahl potenzieller Ansprechpartner für trauernde Kinder bereit. In Tansania besteht ein Haushalt durchschnittlich aus fünf Personen, wobei in der Regel weitere Verwandte in der unmittelbaren Umgebung leben. 410 Trotz dieses familiären Sicherungsnetzes haben manche Waisen in Tansania das Gefühl, dass Erwachsene sie und ihre Bedürfnisse nicht wahrnehmen. Einigen Erwachsenen fehlt das Verständnis für die kindliche Trauer und andere sind mit ihrer eigenen Trauer oder mit den alltäglichen Problemen zu sehr beschäftigt, um die Bedürfnisse der Waisen zu erkennen. Vielen Waisen fehlt eine verlässliche Bezugsperson, bei der sie Trost finden und mit der sie ihre Trauer teilen können.411 In anderen Fällen verfügen die betroffenen Kinder über die Möglichkeit, auf verständige Erwachsene zurückzugreifen, doch sie bleiben verschlossen, denn es fällt ihnen schwer, über den Verlust zu sprechen und ihre Gefühle auszudrücken. Ein Grund dafür besteht beispielsweise im Stigma, mit dem AIDS in vielen Teilen Tansanias weiterhin belegt ist. Waisen, die ihre Eltern aufgrund von AIDS verloren haben, sprechen aus Angst vor Diskriminierung oft nicht über den Tod der Eltern. Viele schämen sich aufgrund ihres Status als so genannte „AIDS-Waisen“ (Kap. 3.2.2).412 Die unzureichenden Möglichkeiten, sich erwachsenen Bezugspersonen anzuvertrauen, lassen sich zum Teil durch die Nähe zu Geschwistern ausgleichen. Von den durch die Autorin befragten Waisen, die über minderjährige Geschwister verfügen, lebten 59,1% (n = 115) gemeinsam mit diesen zusammen. Aber auch verwaiste Kinder, die nicht mit ihren Geschwistern leben, wohnen häufig 409
Vgl. ebd., S. 50. Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 7. 411 Vgl. Whitehouse 2002, S. 31; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 5 f. 412 Vgl. Alliance (Hrsg.) 2003, S. 5. 410
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gemeinsam mit anderen Waisen in einem Haushalt (Abb. 47). Bei der Befragung von 81 Waisen gaben nur 17,3% der befragten Waisen an, dass sie die einzigen Kinder in ihrem Haushalt sind, die ein oder beide Elternteile verloren haben. Die meisten anderen Waisen, das heißt jeweils 23,5% lebten gemeinsam mit ein bzw. zwei anderen Kindern, die vergleichbare Erfahrungen aufweisen konnten. Diese gemeinsamen Erlebnisse können den Kindern eine Hilfe sein, über ihre Gefühle und Probleme zu sprechen. Abbildung 47: Gesamtzahl der Waisen pro Haushalt
Veränderungen in der Lebenssituation Der Tod eines oder beider Elternteile führt in Tansania zu veränderten Betreuungsarrangements und vielfältigen Umbrüchen im Leben der Kinder. Diese Veränderungen und die Trauer beeinflussen sich wechselseitig. Einerseits wirken sich die Veränderungen auf die Fähigkeit des Kindes aus, mit dem Verlust umzugehen; andererseits beeinträchtigt die Trauer die Anpassung an die neue Lebenssituation. Waisen verlassen häufig nach dem Tod der Eltern ihr soziales Umfeld, weil sie in den Haushalten von Familienangehörigen Aufnahme finden. Eine Untersuchung von Beegle, DeWeerdt und Dercon (2005) zeigt, dass Waisen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ihren Wohnort wechseln als Nichtwaisen.413 Interviewpartner in Tansania bestätigten, dass die sekundären Stressoren aufgrund der veränderten Lebensbedingungen die Verarbeitung des Verlustes verhindern und bei den verwaisten Kindern zu psychischen Problemen und Auf-
413
Vgl. Beegle, DeWeerdt und Dercon 2005, S. 12.
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fälligkeiten im Verhalten führen. 414 „Ein Waisenkind zeigt gutes Verhalten, aber wenn es viele Probleme gibt, beginnt auch das schlechte Benehmen.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Vor allem negative sozioökonomische Umstände und ein fehlender Zugang zu Bildung führen bei den betroffenen Kindern zu Traurigkeit, Zukunftsängsten und einem erhöhten Suchtrisiko.415 In Haushalte, die Waisen integrieren oder in denen Kinder ihre Eltern verlieren, verschlechtert sich häufig die Wirtschaftssituation und somit die Grundversorgung der Haushaltsmitglieder (Kap. 3.1.1). Die Beeinträchtigungen in der Versorgung und eine reduzierte Lebensqualität fordern von den Waisen eine hohe Anpassungsfähigkeit und können Existenzängste auslösen. „[Besonders schwierig ist es für] Kinder, die in einer hervorragenden Familie lebten, wo der Vater vielleicht etwas wohlhabend war und alles für das Kind tun konnte. Vielleicht lebten sie in Dar es Salaam oder Arusha. Es ist ein wenig anders in der Stadt als auf dem Land. Wenn sie nun beide [Elternteile] tot sind und das Kind zu einer Tante oder den Großeltern ins Dorf gebracht wird, finden die Kinder das nicht einfach. Zum Anfang ist es immer schwierig.“ (Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Im psychosozialen Bereich bilden ein Mangel an Liebe und Zuwendung durch Erwachsene, beispielsweise in Kinderhaushalten, Risikofaktoren für das psychische Wohlbefinden der Kinder.416 „Wenn jemand seine Kindheit verliert, dann vermisst er psychologisch etwas.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Darüber hinaus kann auch die tatsächliche oder subjektiv empfundene Diskriminierung der Waisen in ihren Familien oder Gemeinden zu einer zusätzlichen Belastung führen, welche die Verarbeitung der Trauer behindert und die Anpassung an die veränderte Lebenssituation erschwert (Kap. 3.2.2).417 Eine besondere Gefährdung sehen Interviewpartner für Waisen, die auf der Straße leben, da diese sowohl im sozioökonomischen als auch im psychosozialen Bereich depriviert sind. Das Leben auf der Straße lässt sich dabei einerseits als Reaktion auf den Verlust einer nahestehenden Person verstehen und verstärkt andererseits sekundäre Stressoren und verhindert die Bearbeitung der Trauer.
414 Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview Franklin M. am 28.06.07 in Moshi, Tansania. 415 Vgl. Interview Franklin M. am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 416 Vgl. Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 417 Vgl. Alliance (Hrsg.) 2003, S. 5; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania.
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Dies kann langfristig zu einer Manifestierung psychischer Probleme und Verhaltensauffälligkeiten führen. 418 Aufbau neuer Beziehungen Waisen in Tansania haben bei den Entscheidungen hinsichtlich der Betreuungsarrangements häufig kein oder nur ein begrenztes Mitspracherecht. In der Regel entscheidet der Clan nach der Beerdigung, welches Familienmitglied am besten geeignet ist, die Sorge für die verwaisten Kinder zu übernehmen. 419 „Es ist eine Tradition hier, wenn die Eltern, ein Elternteil oder beide Eltern, sterben, kommen sie [die Verwandten] am Ende der Beerdigung zusammen und schauen sich um und sehen, ob Kinder zurückgeblieben sind. Und dann werden die Menschen innerhalb des Clans gefragt: „Wer soll die Sorge für diese Kinder tragen?““ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die fehlenden Mitsprachemöglichkeiten können bei den Kindern das Gefühl verstärken, den Veränderungen nach dem Todesfall, ebenso wie dem Verlust an sich, ausgeliefert zu sein. Die Kinder sind oft noch zu jung oder nicht ausreichend informiert, um die Veränderungen zu verstehen und sich auf die neuen Beziehungen einzulassen.420 Trotz des eingeschränkten Mitspracherechtes finden Waisen in der Regel Aufnahme bei Verwandten, die ihrer Aufgabe trotz der vielfältigen Belastungen mit Liebe nachgehen. Die Beziehungen zwischen den Betreuern und Waisen sind in den meisten Fällen von Zuneigung und Vertrauen geprägt.421 87% der Halbwaisen (n = 53) und 86% (n = 72) der Vollwaisen, die die Autorin im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragte, gaben an, dass sie sich bei Problemen an ihren Betreuer wenden. Der Anteil der Nichtwaisen, die sich bei Problemen 418 Vgl. Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 419 Vgl. Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 420 Vgl. Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 421 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408 f.; Axios International (Hrsg.) 2000, S. 13; German, Madörin und Neube 2001, o. S.; Snider und Dawes 2006, S. 15; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania.
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an ihre Eltern wenden, entsprach mit 89% (n = 63) fast dem Anteil der Waisen. Die Differenz war nicht signifikant. Den Waisen scheint es demnach zu gelingen, verlässliche Beziehungen herzustellen, die eine wichtige Ressource in der Verarbeitung der Trauer bilden und den Verlust eines oder beider Elternteile bis zu einem gewissen Grad ausgleichen können. Die Eingliederung in den neuen Haushalt wird allerdings durch die Trauer und die damit verbundenen psychischen Probleme und Verhaltensauffälligkeiten der Waisen erschwert.422 „Das Hauptproblem ist halt, wenn man traumatisiert ist, dass dann die normale psychosoziale Entwicklung anders verläuft oder unter Schwierigkeiten verläuft. Das heißt, ein Waisenkind ist auch in der Familie kein, in Anführungszeichen, normales Kind, sondern es ist halt oft schwierig und nicht motiviert.“ (Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania). Aber nicht nur die betroffenen Kinder leiden unter psychosozialen Konsequenzen, die ihre Integration hemmen. Auch deren Betreuer müssen einen Umgang mit dem erlebten Verlust sowie der zusätzlichen Verantwortung finden. Die Aufnahme von verwaisten Kindern bedeutet eine große materielle, aber auch emotionale Belastung. Betreuer von Waisen in Tansania berichten, dass sie unter Ängsten, Depressionen und Verzweiflung leiden. Das Gefühl, den Bedürfnissen der aufgenommenen Kinder nicht zu entsprechen, führt zu Schuldgefühlen und Wut. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass es zur Stigmatisierung und zur sozialen Ausgrenzung des gesamten Haushaltes kommt, wenn der Tod der Eltern der aufgenommenen Kinder mit AIDS in Zusammenhang gebracht wird. Diese vielfältigen emotionalen Belastungen können sich wiederum negativ auf die Gestaltung der Beziehungen im Haushalt, die Eingliederung der Kinder sowie auf die Bewältigung des Verlustes auswirken. 423 Professionelle Hilfe Emotionale Unterstützung, beispielsweise in Form von Beratungsgesprächen, Trauerbegleitung oder Gruppenangeboten für verwaiste Kinder, kann den betroffenen Heranwachsenden bei der Verarbeitung ihres Verlustes helfen. Ergebnisse quantitativer Studien machen deutlich, dass in Tansania nur ein Bruchteil der Waisen von emotionaler Unterstützung außerhalb der Verwandtschaft und des Freundeskreises profitiert. Bei der Haushaltsbefragung 2003/04 wurden Haushalte mit Waisen und Haushalte, in denen die Mutter oder der Vater in den 422 Vgl. Whitehouse 2002, S. 40; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 423 Vgl. Alliance (Hrsg.) 2003, S. 8; HelpAge International (Hrsg.) 2004, S. 14 f.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
195
vergangenen zwölf Monaten mindesten drei Monate krank war, zum Erhalt externer Unterstützung befragt. 5,5% der betroffenen Haushalte gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten emotionale Unterstützung erhalten zu haben. Die Ergebnisse zeigten deutliche Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Gebieten. Während in den Städten 8,7% der Haushalte Zugang zu emotionaler Unterstützung hatten, konnten auf dem Land nur 4,9% der betroffenen Haushalte auf diese Form der Hilfe zurückgreifen. Die Chancen eines Kindes, in den Genuss emotionaler Unterstützung zu kommen, sinken mit zunehmendem Alter. 7,8% der Kinder bis zum Alter von vier Jahren lebten in einem Haushalt, der emotionale Unterstützung erhielt. Im Alter von 15 – 17 Jahren traf dies nur noch auf 5, 2% der betroffenen Kinder zu.424 Neben Glaubensgemeinschaften und nichtstaatlichen Organisationen, die psychosoziale Programme anbieten, gibt es eine weitere Quelle emotionalen Beistandes in den Gemeinden. Kayombo, Mbwambo und Massila (2005) untersuchten die Bedeutung von traditionellen Heilern in der Bereitstellung von psychosozialer Unterstützung für Waisen und befragten zu diesem Zweck sechs Heiler in Dar es Salaam. Obwohl die traditionelle Medizin einen festen Platz in den Kommunen Tansanias einnimmt und die Heiler über einen engen Kontakt zu den Mitgliedern ihrer Kommune verfügen, wird diese Ressource in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Waisenkrise kaum wahrgenommen. Kayombo, Mbwambo und Massila (2005) wiesen den traditionellen Heilern in ihrer Untersuchung eine zentrale Rolle bei der Trauerbewältigung und der psychosozialen Unterstützung von Waisen zu. Die traditionelle Medizin hilft vor allem bei psychosomatischen und psychischen Störungen als Folge der Verlusterfahrung. Unterschiedliche traditionelle Heilmethoden eignen sich, um den Kindern in ihrer Trauer Erleichterung zu verschaffen. Alpträume, Ängste und intensives Weinen in der Nacht deuten einige Heiler als Zeichen dafür, dass die Kinder die Schatten der Verstorbenen sehen und deshalb keine Ruhe finden. Zwei der sechs befragten traditionellen Heiler helfen in diesen Fällen, indem sie den Kindern Kräuterbäder geben und dabei die Verstorbenen bitten, dass Kind in Ruhe zu lassen. Drei andere befestigen Heilmittel an den Händen oder am Hals der betroffenen Kinder, die sie vor dem Schatten der Verstorbenen schützen sollen. Über den medizinischen Aspekt hinaus befinden sich die traditionellen Heiler in einer Position, in der sie verwaisten Kindern psychosoziale Unterstützung bieten können. Sie mit den Kindern über ihre Angst und erzählen ihnen von anderen Waisen, die ihre Trauer bewältigt haben und ein erfülltes Leben führen. Eine der Befragten, die einzige Frau von den sechs interviewten Heilern der 424
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 15 f.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Studie, berichtet, dass sie zwei Mal pro Woche die Waisen aus ihrer Nachbarschaft zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenholt. Das gemeinsame Spielen, das Erlernen traditioneller Tänze und das Aufführen kleiner Theaterstücke bieten eine willkommene Abwechslung im Alltag und sollen den Kindern helfen, sich aus ihrer Isolation zu befreien, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. 425 3.2.2 Stigma und Diskriminierung Die Aussagen hinsichtlich der Diskriminierung von Waisen in Tansania erscheinen äußerst widersprüchlich. Quellen und Interviewpartner berichten davon, dass der Waisenstatus ein Stigma für die betroffenen Kinder bedeutet, der zu vielfältigen Benachteiligungen in der Schule, ihren Familien bzw. in der Gemeinde führt.426 Andere Befragte und wissenschaftliche Untersuchungen liefern Belege dafür, dass Waisen gegenüber anderen Kindern in der Regel keine Benachteiligung erfahren. 427 „Ich würde sagen generell nicht, wenn ja sind es vielleicht kleine Probleme, aber generell gibt es keine Diskriminierung.“ (Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Diskrepanz in den Berichten erfordert eine genauere Betrachtung des Phänomens sowie eine differenzierte Untersuchung der Ursachen. Vorurteile, Stereotypien und soziale Diskriminierung in der Waisenkrise Vorurteile, Stereotypien und soziale Diskriminierung entsprechen laut Güttler (2000) den drei Komponenten negativer sozialer Einstellungen, welche nicht auf 425
Vgl. Kayombo, Mbwambo und Massila in Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine, 2005/1:3, o. S. 426 Vgl. Whitehouse 2002, S. 32 ff.; Coury und Subbarao 2004, S. 21; Kaare 2005, S. 5; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S.78; Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 427 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2002, S. 24; USAID (Hrsg.) 2004a, S. 20; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
197
nachprüfbaren Fakten beruhen. Vorurteile sind Pseudo-Urteile, da sie auf vorgefertigten Meinungen beruhen, die keiner umfassenden Realitätsprüfung unterzogen werden. Vorurteile über eine Personengruppe können demnach bereits feststehen, bevor es zu einem ersten Kontakt kommt, und sind in der Regel stark änderungsresistent. Während Vorurteile eine besonders stark emotionale Prägung beinhalten und in der Regel eine Abneigung zum Ausdruck bringen, bezieht sich der Begriff „Stereotypien“ auf die kognitiven Aspekte einer sozialen Bewertung. Stereotypien dienen der Vereinfachung von Denkprozessen. Der Mensch erwirbt im Laufe seiner Sozialisation Klassifikationsschemata, die ihm helfen, neue Erfahrungen zu verarbeiten. Andere Personen erscheinen in diesen Klassifikationsschemen zuallererst als Mitglied einer sozialen Gruppe, wobei die Wahrnehmung individueller Unterschiede und Besonderheiten vernachlässigt wird. Führen Vorurteile und Stereotypien zu Unterschieden im Umgang mit anderen Personen lässt sich dies als Diskriminierung bezeichnen. Diskriminierung ist eine soziale Aktion, bei der der jeweilige Akteur durch sein Handeln bzw. Nicht-Handeln eine andere Person benachteiligt.428 Der sozialen Benachteiligung von Waisen in Tansania liegen verschiedene Ursachen zugrunde. Viele Interviewpartner berichten, dass der Waisenstatus allein nicht die Diskriminierung der betroffenen Kinder nach sich zieht. 429 In der Regel kommen weitere Aspekte hinzu, die letztendlich zur Benachteiligung verwaister Kinder führen. Der folgende Abschnitt stellt die Gründe für die bestehenden Vorurteile gegenüber Waisen und deren Diskriminierung dar. Angst vor AIDS Waisen in Tansania fallen häufig unter den Verdacht, den HI-Virus in sich zu tragen.430 Der Verdacht einer HIV-Infektion bei verwaisten Kindern lässt sich 428
Vgl. Güttler 2000, S. 108 ff. Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 430 Vgl. Kayombo, Mbwambo und Massila in Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine, 2005/1:3, o. S.; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, 429
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3 Die Lebenswelt der Waisen
nicht durch Fakten untermauern. Nach Schätzungen von UNICEF, UNAIDS, WHO und UNPF (2009) haben nicht einmal die Hälfte aller Waisen ein oder beide Elternteile aufgrund von AIDS verloren. Von den 2,6 Millionen verwaisten Kindern, die 2007 in Tansania lebten, stand nur bei circa 970.000 der Tod der Eltern in Verbindung mit einer HIV-Infektion. Von den Kindern, deren Eltern an AIDS starben, infizierte sich nur ein Bruchteil selbst mit dem Virus. Insgesamt gehen die Erhebungen von 130.000 bis 150.000 HIV-infizierten Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren in Tansania aus. 431 Diese Daten zeigen deutlich, dass nur ein geringer Prozentsatz der Waisen das HI-Virus in sich trägt. Dennoch führt das Vorurteil hinsichtlich einer HIV-Infektion von Waisen zur Ausgrenzung der betroffenen Kinder. 432 „Einige der Menschen denken, dass diese Kinder [Waisen] vielleicht auch AIDS haben und wenn sie AIDS haben, dann können sie es unseren Kindern übertragen.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Angst vor einer Ansteckung zeigt sich in einer Sonderbehandlung der betroffenen Kinder (Abb. 48). Abbildung 48: Sonderbehandlung HIV-infizierter Waisen Charles Francis von der Organisation kennt Fälle aus der Praxis, in denen verwaiste Kinder eine Sonderbehandlung erhielten: „Sie [die Waisen] wurden diskriminiert. Sie wurden in ein anderes Haus gesteckt, sie wurden anders behandelt. „Dies ist dein Becher, dies ist dein Tisch, dies ist dein Bett und du darfst nicht mit den anderen Kindern spielen.“ Solche Dinge sind passiert.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch Adolf Mrema berichtet von ähnlichen Fällen: „Diejenigen, die infiziert sind, werden stark diskriminiert; in der Schule durch andere Kinder und Zuhause. Ein infiziertes Kind wird sein eigenes Essen erhalten und alleine schlafen.“ (Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Tansania Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania. 431 Vgl. UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (Hrsg.) 2009, S. 45 und S. 52. 432 Vgl. Kayombo, Mbwambo und Massila in Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine, 2005/1:3, o. S.; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 2; Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Andere Familien nehmen Waisen gar nicht erst auf, wenn sie glauben, dass die Kinder den HI-Virus in sich tragen. Aus Angst, sich selbst oder die eigenen Kinder zu gefährden, diskriminieren sie verwaiste Angehörige, indem sie sich von ihrer Verantwortung abwenden.433 Armut Armut bildet die wichtigste Ursache für die Stigmatisierung und Benachteiligung von Waisen in Tansania. „Aufgrund von Armut sind Waisen immer noch Diskriminierung und Stigma ausgesetzt.“ (Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Angst vor der finanziellen Belastung führt zur Ausgrenzung von Waisen (Abb. 49). Die Haushalte befürchten, dass sie die Waisen nicht angemessen versorgen und ihrer Verantwortung nicht gerecht werden können. 434 Auch die Ausgrenzung und Zurückweisung verwaister Kinder in den Gemeinden begründet sich häufig auf der tatsächlichen bzw. befürchteten Bedürftigkeit der betroffenen Kinder. 435 Abbildung 49: Vermeidung als Form von Diskriminierung Das Vorurteil, dass Waisen arm sind und Unterstützung bedürfen, führt letztendlich zu Vermeidungstendenzen: „Wenn sie sehen, dass es Waisen gibt, neigen sie dazu zu denken, dass Waisen diejenigen sind, die betteln und Waisen die sind, die Probleme haben. Also neigen sie dazu, sie auszugrenzen. Sie denken, dass, wenn sie sich den Waisen nähern, diese von ihnen abhängig werden, für Schulgebühren, medizinische Versorgung, Sicherheit und sie [die Waisen] werden versuchen, sagen wir mal, um ein Stück Land zu bitten.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Viele Interviewpartner berichten der Autorin von Fällen, in denen Waisen aus Angst vor der Verantwortung diskriminiert werden: „Jemand hat zwei Kinder und dann wird er gebeten, für ein Waisenkind zu sorgen. Wenn er Schuluniformen für die zwei Kinder kauft und das Waisenkind weint „Gib mir!“ […], aber der Verwandte kann es sich nicht leisten. Sie haben Angst, solchen Realitäten ausgesetzt zu sein: Dinge für ihre eigenen Kinder zu kaufen und das Waisenkind allein zu lassen. In diesem Fall diskriminieren sie es, indem sie der Verantwortung entfliehen.“ (Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch Emanuel Mawere beobachtete in seiner Arbeit, dass Menschen Waisen meiden: „Man sollte [den Waisen] eigentlich helfen, also scheut man zurück, damit man nicht helfen muss, denn es ist eine Last.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
433
Vgl. Snider und Dawes 2006, S. 24. Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 435 Vgl. Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 434
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Die sozialen Normen verhindern in Tansania in vielen Fällen eine Diskriminierung in Form einer offenen Ablehnung von Waisen. Gesellschaftlich wird es nicht akzeptiert, der familiären Verantwortung für Waisen nicht nachzukommen und die betroffenen Kinder sich selbst zu überlassen. 436 Aus diesem Grund zeigt sich die Diskriminierung in subtileren Formen innerhalb der familiären Gemeinschaft (Abb. 50). Vor allem in wirtschaftlich schwachen Haushalten, in denen Waisen und biologische Kinder der Haushaltsvorstände gemeinsam leben, spiegelt sich die Diskriminierung von Waisen in Ungleichbehandlung und Vernachlässigung wider (Kap. 3.2.3).437 Abbildung 50: Ungleichbehandlung von Kindern innerhalb eines Haushaltes Die Aufnahme von Waisen belastet die Privathaushalte und durchkreuzt die Zukunftspläne der Familie. „Fast jede Familie muss Kinder aufnehmen und als Folge kommt es zu Verbitterung und Diskriminierung. […] „Warum sollen meine eigenen Kinder leiden?““ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Als Grund für die Ungleichbehandlung von Waisen und eigenen Kindern in einem Haushalt, machen Interviewpartner fast immer die finanzielle Situation und die ökonomische Belastung der Familie durch die Waisen verantwortlich: „Denn selbst die Familien, die sich um sie kümmern, leiden unter Armut. Also wenn man arm ist und man sieht jemanden, der die materiellen Bedürfnisse erhöht, die deine eigenen Kinder benötigen. Wie wäre das für Sie? Wen würden sie zuerst berücksichtigen? Zuerst ihre eigenen Kinder und dann die Waisen!“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Nicht nur in den Familien erfahren verwaiste Kinder aufgrund ihrer Bedürftigkeit Diskriminierung, sondern auch in der Schule. Whitehouse (2002) dokumentierte in ihrer Untersuchung Fälle, in denen Waisen, die in kaputter Kleidung oder ohne Material in der Schule erschienen, von ihren Lehrern nach Hause geschickt, vor der Klasse bloßgestellt oder geschlagen wurden. 438 Interviewpartner bestätigen, dass verwaiste Kinder aufgrund unzureichender Ausstattung oder fehlendem Schulgeld in den Bildungseinrichtungen Ausgrenzung und Benachteiligung erleben. 439 „Wenn sie [die Waisen] keine Schulgebühren haben, wird ihnen gesagt, dass sie zurück nach Hause gehen sollen. […] Sie gehen nach Hause, sie verlieren Bildung und sie fühlen sich auch diskriminiert.“ (Interview 436 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 437 Vgl. Whitehouse 2002, S. 32; Wanitzek 2007, S. 2; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania. 438 Vgl. Whitehouse 2002, S. 35. 439 Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Obwohl die Forderung nach einer Schuluniform zur Ausgrenzung von Kindern ohne angemessene Ausstattung führen kann, beinhaltet sie auch eine integrative Komponente. In dem Moment, in dem die Schüler die entsprechende Schulkleidung tragen, lässt sich äußerlich kein Unterschied zwischen armen und reichen Kindern sowie Waisen und Nichtwaisen feststellen. „Wenn sie zusammen sind, wird man niemals wissen, dass dies ein Waisenkind ist. Wenn er in Uniform ist, wird man niemals wissen, ob er ein Waisenkind ist oder kein Waisenkind ist, außer man spricht mit ihm.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bevorzugung von Waisen bei Hilfsangeboten durch Organisationen Ein weiterer Faktor, der ursächlich für die Diskriminierung von Waisen in Familien und Gemeinden ist, liegt in der Bevorzugung von verwaisten Kindern beim Zugang zu Hilfsangeboten. Unterstützung, von der ausschließlich verwaiste Kinder profitieren, kann zu offener Diskriminierung in den Haushalten und Gemeinden führen (Abb. 51).440 Erhalten Haushalte mit Waisen ein neues Haus aus qualitativ hochwertigen Materialien, während die Nachbarn mit ihren eigenen Familien in Lehmhütten wohnen, löst dies ein Gefühl von Ungerechtigkeit aus und kann langfristig dazu führen, dass sich die Menschen von den Waisen zurückziehen bzw. diese offen diskriminieren. Auch zwischen Waisen und Nichtwaisen schaffen Hilfsprogramme, die ihre Zielgruppe über den Waisenstatus definieren, eine Atmosphäre von Eifersucht, welche sich in der Ausgrenzung der betroffenen Kinder widerspiegelt. In diesen Fällen tragen die Hilfsorganisationen die Verantwortung für die Benachteiligung der betroffenen Kinder. 441 „Wir [die Hilfsprojekte] waren diejenigen, die Diskriminierung verursachten. Wenn wir zusätzliche Unterstützung für OVC anboten, sagten einige Kinder: „Oh, ich sollte besser ein Waisenkind werden, denn dann bekomme ich eine Schultasche und ich bekomme dies und das!“. Daraufhin dachten wir, dass dies ein sehr negativer Ansatz ist und so versuchen wir jetzt, sie gleich zu behandeln.“ (Inter-
440 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 409; Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Nsemwa am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. 441 Vgl. Fox 2001, S. 42; Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
view mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Abbildung 51: Relation zwischen externer Unterstützung und Diskriminierung Interviewpartner äußerten sich frustriert darüber, dass Waisen bei der Verteilung von Unterstützung in den Haushalten Diskriminierung erfahren. Besonders in wirtschaftlich schwachen Haushalten, in denen die Kinder des Haushaltsvorstandes unter den gleichen Problemlagen wie die aufgenommenen Waisen leiden, besteht die Gefahr, dass die Unterstützung, beispielsweise Schuluniformen, Nahrungsmittel oder Decken, nicht nur, wie von der Organisation vorgesehen, den Waisen zugutekommt. „Und manchmal, selbst wenn sie Unterstützung von anderen nichtstaatlichen Organisationen, die Betreuer von Waisen unterstützen, erhalten, manchmal wird es zu einem Problem, dass diese Kinder, die Waisen, nicht die Unterstützung bekommen, die bereitgestellt wurde. Sie wird zwischen den Kindern geteilt, die biologisch gesehen zu dieser bestimmten Familie gehören.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In diesen Fällen teilen die Haushaltsvorstände die Unterstützung unter allen Kindern bzw. Haushaltsmitgliedern auf oder geben sie an die eigenen Kinder weiter. „Wir haben eine spezielle Proteinnahrung für die Kleinen. […] Aber dann fanden wir heraus, dass wir es dem Kind geben und es dann für die gesamte Familie genutzt wird.“ (Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Die Unterstützung mit materieller Hilfe kann, wenn die Organisationen sie gezielt und gerecht einsetzt, aber auch Ausgrenzung entgegen wirken (Abb. 52). Dies trifft vor allem auf die Fälle zu, in denen die Angehörigen vor der Verantwortung für Waisen zurückscheuen, weil sie die finanzielle Belastung befürchten.442 Abbildung 52: Positive Wirkung externer Unterstützung „Der Vater der Kinder starb. Nach einem Jahr starb die Mutter der Kinder. Also die Kinder blieben allein zurück; es waren zwei. Niemand war dafür verantwortlich, für sie zu sorgen, denn sie [die Verwandten] neigten dazu, die Familie von Beginn an allein zu lassen. Also blieben die Kinder allein im Haus und es gab eine Irrenanstalt, wo sie lebten. Die Kinder bettelten überall, um zu überleben. Als wir die Familie dann besuchten, war die Situation leider sehr, sehr schlecht für die Kinder; sehr, sehr schlecht. Also gingen wir zu dem Grundstück, das der Vater auf dem Land gekauft hatte, und dann bauten wir ein Haus für diese zwei Kinder. Und etwas anderes, das wir machten, war, dass wir sie mit Essen unterstützten. Als die Verwandten sahen, dass KIWAKKUKI sie unterstützt, wählten sie eine Tante aus. Sie sagten zu ihr: „Gehe zu den Kindern und kümmere Dich um sie!“ Einfach, weil sie gesehen haben, dass KIWAKKUKI sie unterstützt.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
442 Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Zusätzliche Besonderheiten der betroffenen Kinder In einigen Fällen leiden Waisen unter besonderer Diskriminierung, weil sie über zusätzliche Charakteristika, wie eine Behinderung oder Albinismus, verfügen. Sowohl eine Behinderung als auch Albinismus bedeutet ein Stigma in der tansanischen Gesellschaft. Kinder, die unter einem solchen Stigma leiden und zusätzlich noch ihre Eltern verlieren, die häufig eine schützende Funktion für die Kinder ausüben und sie vor der sozialen Ausgrenzung bewahren, machen überdurchschnittlich häufig Erfahrung mit Diskriminierung.443 Beispielsweise zeigt sich die Benachteiligung von Waisen mit einer Behinderung bereits bei der Aufnahme der Kinder in einen Haushalt. Die betroffenen Kinder erscheinen den Angehörigen noch stärker als andere Waisen als Belastung für die Familie. Während andere verwaiste Kinder im Haushalt und in der Landwirtschaft mithelfen und somit ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten, besteht diese Möglichkeit bei behinderten Waisen nur begrenzt. Finden sie dennoch bei Verwandten Aufnahme, kommt es häufig zur Vernachlässigung ihre Bedürfnisse. Waisen mit einer Behinderung fehlt in vielen Fällen der Zugang zu Bildungseinrichtungen, da ihre Potenziale unerkannt bleiben. Die Benachteiligung zeigt sich darüber hinaus in der medizinischen Versorgung und der Anschaffung von Hilfsmitteln. Den Angehörigen fehlt der Wille bzw. die Möglichkeit, die notwendigen finanziellen Mittel für die optimale Versorgung des betroffenen Kindes, welches darüber hinaus biologisch nicht von ihnen abstammt, aufzubringen. Die Benachteiligung behinderter Waisen wird auch im Bereich Erbe deutlich. Die Verwandten vertreten die Meinung, dass Menschen mit Behinderungen nichts besitzen sollten. Auf diese Weise rechtfertigen sie die Konfiszierung des Besitzes, der den Kindern von ihren Eltern vermacht wurde.444 Subjektive Wahrnehmung von Diskriminierung durch Waisen Die Befragung von 124 Waisen und 64 Nichtwaisen zur Behandlung von verwaisten Kindern in Schule und Familie gibt einen Einblick in die subjektive Wahrnehmung von Diskriminierung. Die Autorin stellte den Kindern die Frage, ob Waisen in der Schule bzw. Familie bevorzugt, benachteiligt oder genauso behandelt werden wie andere Kinder. Insgesamt gab eine signifikante Mehrheit der Kinder an, dass weder in der Schule noch in den Familien eine Ungleichbehandlung besteht (Abb. 53 und 54 ). Dies weist darauf hin, dass die Diskriminie443
Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania. 444 Vgl. Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
rung von Waisen ein marginales Problem darstellt, auch wenn sie in Einzelfällen existiert. Die Ergebnisse der Befragung zeigen darüber hinaus, dass Nichtwaisen eher die Benachteiligung von verwaisten Kindern vermuten. Waisen sprachen sich hingegen stärker dafür aus, dass keine Unterschiede zwischen den Kindern gemacht bzw. die betroffenen Kinder sogar bevorzugt werden. Da sich die Antworten der Waisen wahrscheinlich aus ihren eigenen Erfahrungen konstituieren, lässt sich vermuten, dass die Annahme einer Benachteiligung von Waisen verbreiteter ist als die tatsächliche Diskriminierung. Abbildung 53: Benachteiligung von Waisen in der Schule
Abbildung 54: Benachteiligung von Waisen in der Familie
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Die verbreitete Ansicht, dass Waisen unter Diskriminierung leiden, kann aber auch bei den Waisen selbst zu einer Negativeinschätzung ihrer eigenen Situation führen. Mehrere Interviewpartner berichten der Autorin von Fällen, in denen verwaiste Kinder das Gefühl hatten, in ihren Familien oder in der Schule unter Benachteiligung zu leiden, obwohl sich ihre Behandlung nicht von anderen Kindern unterschied (Abb. 55).445 Whitehouse (2002) bestätigt in ihrer Untersuchung, dass das Gefühl von Ungleichbehandlung oder Vernachlässigung in einigen Fällen einer subjektiven Wahrnehmung der betroffenen Kinder entspringt und auf einer Verschlechterung ihres Lebensstandards beruht. Viele Familien versuchen ihr Äußerstes, um die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen, scheitern aber an den hohen Erwartungen der Waisen. Diese vergleichen ihre aktuelle Lebenssituation mit ihrem früheren Leben bei ihren Eltern. Kann die Diskrepanz nicht ausgeglichen werden, entstehen Konflikte und die betroffenen Kinder laufen in Gefahr, psychische Probleme zu entwickeln, sich falschen Freunden zuzuwenden oder auf die Straße zu gehen.446 Abbildung 55: Diskriminierung als subjektive Wahrnehmung Jonas Balami, Leiter eines Waisenprojektes in der Kagera Region, erklärt, dass einige Waisen die Aussagen zur Stigmatisierung und Benachteiligung verwaister Kinder wiederholen und auf ihre eigene Lebenssituation übertragen: „Wenn man sie zusammenholt, sagen wir man hat 70 oder 80 Waisen in einem Seminar, und dann fragt man die grundsätzliche Frage: „Wie ist es hier mit der Stigmatisierung?“ Jeder ist stigmatisiert, jeder; denn sie neigen dazu, das zu sagen, was sie hören. Aber wenn man dann zu spezifischen Dingen kommt und fragt: „Du, bitte sag mir, was ist in deiner Familie passiert?“ „Nichts!“ „Und du, mit wem lebst Du?“ „Mit jemanden.“ „Was hat er Dir getan oder was hat sie Dir getan?“ „Nichts!“ Aber die gleiche Person könnte ihre Hand heben und sagen, „Ja, ich weiß, es gibt jede Menge Diskriminierung hier, Waisen werden geschlagen, Waisen müssen Feuerholz sammeln oder Wasser holen.“ […] „Aber wenn Du kein Wasser holen willst, wer wird für Dich Wasser holen. Und wenn Du kein Feuerholz sammeln willst, wer wird Feuerholz für Dich sammeln?“ […] Selbst unsere eigenen Kinder tun diese Dinge.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Vor allem Heranwachsende, deren Leben sich nach dem Tod der Eltern deutlich von ihrem früheren Leben unterscheidet, fühlen sich häufig diskriminiert. „Sie leiden, nicht nur physisch, sondern auch mental, denn sie erinnern sich: „Ach, als unsere Eltern lebten, sind wir gewöhnlich gefahren, sie haben uns in einem Auto zur Schule geschickt, aber heute gibt es kein Auto, wir gehen nicht mal mehr zur Schule und bleiben Zuhause, und selbst wenn wir zuhause bleiben, bekommen wir nicht genug essen.“. Das sind die Probleme.“ (Interview mit Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
445 Vgl. Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. 446 Vgl. Whitehouse 2002, S. 32.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Die Traumatisierung der Waisen durch den Tod der Eltern und die damit verbundenen psychologischen Folgen bilden weitere Gründe, die bei den betroffenen Kindern einen Eindruck von Diskriminierung und Ausgrenzung hinterlassen (Kap. 3.2.1). Einige Waisen ziehen sich zurück und grenzen sich ab. Sie werden zu Außenseitern, ohne dass die Gemeinschaft sie bewusst diskriminiert oder ausschließt.447 Die Verlusterfahrungen der Waisen erschwert die Eingliederung in die Pflegefamilie. Manche Kinder fordern Rechte ein, ohne Verantwortung zu übernehmen. Sie gehorchen ihren Betreuern nicht, weil sie diese nicht als Ersatzeltern akzeptieren. 448 Die Probleme auf der Beziehungsebene deuten die verwaisten Kinder als Versuche der Diskriminierung, sodass sie selbst gut gemeinte Ratschläge als Provokation auffassen: „Manchmal sagt man dem Kind, dass es etwas nicht tun soll. Weil er weiß, dass man nicht die Mutter ist, denkt er, dass man ihn schikaniert, weil er ein Waisenkind ist. Aber man sagt ihm die Wahrheit, [wenn man ihm empfiehlt,] dieses oder jenes nicht zu tun.“ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Entwicklung der Diskriminierung von Waisen Obwohl die Angaben der Interviewpartner zum Ausmaß und der Ausprägung von Diskriminierung gegenüber Waisen differenzieren, lässt sich eine Tendenz in der Entwicklung ablesen. In der Regel stimmen die Interviewpartner darin überein, dass die Benachteiligung von verwaisten Kindern rückläufig ist und der Waisenstatus immer seltener zu einem Stigma für die betroffenen Kinder wird. 449 Vor allem zwei Gründe wurden für die positive Entwicklung verantwortlich gemacht; zum einen die Ausbreitung von AIDS, die nahezu keine Familie in Tansania verschont und jedem das Schicksal der Waisen nahe gebracht hat, und zum anderen die Aufklärung der Bevölkerung hinsichtlich der Rechte und Bedürfnisse verwaister Kinder. In den Teilen des Landes, in denen die AIDS-Epidemie zuerst ausbrach und inzwischen fast jede Familie betrifft, berichten die Interviewpartner übereinstimmend, dass es nicht mehr zur Diskriminierung von Waisen in Familien, 447 Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. 448 Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 449 Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Nsemwa am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Schulen oder Gemeinden kommt.450 „Ich denke es gibt keine Familie, die nicht von HIV/AIDS betroffen ist. Jede Familie hat einen Geschmack von der Misere AIDS bekommen. Niemand kann bezeugen, dass er von der Misere AIDS nicht berührt wurde. […] Jetzt ist jedem HIV/AIDS bewusst; besonders hier in der Kagera Region. Niemand kann bezeugen, dass er von der Misere AIDS nicht berührt wurde, jeder, jeder. Also kann niemand sagen, dieses Problem ist das eines anderen; es ist für jeden.“ (Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Tatsache, dass beinahe in jeder Familie Mitglieder aufgrund von AIDS starben und in vielen Fällen Kinder hinterließen, wirkt sich positiv auf die Integration der Waisen aus. Waisen gehören in den von AIDS besonders stark getroffenen Gebieten zum Alltag und stellen keine Ausnahme mehr dar. Die Menschen wissen, dass sie selbst nicht immun gegen Krankheit und Tod sind und dass es die eigenen Kinder ebenso treffen kann wie die Kinder der Schwester oder des Nachbarn.451 Neben der eigenen Betroffenheit erzielte die Aufklärungsarbeit nichtstaatlicher Organisationen und der Regierung positive Veränderungen. Durch persönliche Gespräche mit Familienangehörigen der Waisen, öffentliche Kampagnen, die Arbeit mit Schlüsselfiguren in den Gemeinden und freizeitpädagogische Angebote für Waisen und Nichtwaisen gelang es den Akteuren, die Menschen für die Probleme der Waisen zu sensibilisieren. Auf diese Weise ließ sich die Benachteiligung und Ausgrenzung verwaister Kinder reduzieren. 452 „Momentan beginnen die Menschen, zu verstehen. Früher war es ein großes Problem: Stigma und Diskriminierung.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 3.2.3 Gewalt gegen Waisen Die Weltgesundheitsorganisation definiert Kindesmisshandlung auf folgende Weise: „Kindesmisshandlung, manchmal auch als Kindesmissbrauch oder Vernachlässigung bezeichnet, beinhaltet alle Formen physischer und emotionaler Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung, die in einer aktuellen oder potenziellen Gefährdung der Gesundheit, der Entwicklung oder der Würde des 450 Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. 451 Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. 452 Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Miti am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Nsemwa am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Kindes resultieren.“ (www.who.int/topics/child_abuse/en/ 15.09.09/Übersetzung durch Verf.). Diese umfassende Begriffsbestimmung muss entsprechend des jeweiligen kulturellen Kontextes individuell ausgelegt und definiert werden, denn das Verständnis von Kindesmisshandlung hängt von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen ab. Die Erwartungen an das Verhalten gegenüber Kindern unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturen der Welt. Beispielsweise gehört körperliche Züchtigung, wenn sie im Verhältnis zu dem zu bestrafenden Verhalten steht, zu den sozial akzeptierten Erziehungsmethoden in Tansania und eine unzureichende Disziplinierung eines Kindes durch die Eltern deuten Menschen als Vernachlässigung der Erziehungsaufgabe (Abb. 56). 453 In Deutschland wiederum haben Kinder seit dem Jahr 2000 einen rechtlichen Anspruch auf eine gewaltfreie Erziehung.454 Die vielfältigen Sichtweisen auf Erziehung sowie auf die Versorgung eines Kindes ziehen unterschiedliche Auslegungen von Kindesmisshandlungen nach sich. Die Meinungen, welche Handlung bzw. unterlassene Handlung den Tatbestand der Vernachlässigung oder Gewalt gegen Kinder erfüllt, nehmen dementsprechend eine enorme Bandbreite ein. Trotz dieser Differenzen lässt sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik auf internationaler Ebene ein Konsens darüber feststellen, dass alle Praktiken, die das gesunde Aufwachsen eines Kindes gefährden, nicht akzeptiert werden sollten. 455 Abbildung 56: Erziehung in Tansania Gehorsamkeit, Disziplin und Respekt vor Älteren sind grundlegende Erwartungen, die Erwachsene an Kinder in Tansania stellen. (Tumbo-Masabo in Rwebangira und Liljeström (Hrsg.) 1998, S. 111 ff.; Fox 2001, S. 26) Das soziale Umfeld fordert von den verantwortlichen Betreuern, dass sie ihre Kinder bei schlechtem Verhalten sanktionieren: „Lass Eltern ihre Kinder bestrafen.“ (Kisuaheli-Sprichwort zit. n. Eastman in Loo und Reinhart (Hrsg.) 1993, S. 90). Strafende Sanktionen werden als etwas Positives wahrgenommen, da die Menschen sie als Ausdruck der Fürsorge für das Kind ansehen. Schläge mit der Hand oder einem Stock durch Eltern, Betreuer oder Lehrer gelten in der sozialen Wahrnehmung nicht als körperliche Misshandlung, solange die Bestrafung im Verhältnis zu dem zu bestrafenden Verhalten steht. Dementsprechend lautet ein Sprichwort: „Die Disziplin eines Kindes ist ein kleiner Stock.“ (Kisuaheli-Sprichwort zit. n. Eastman in Loo und Reinhart (Hrsg.) 1993, S. 84). Das Recht zur körperlichen Züchtigung beschränkt sich nicht auf die Eltern oder Betreuer der Kinder. Auch Lehrer setzen in der Schule Schläge ein, um Disziplin durchzusetzen und ihre Autorität zu demonstrieren. (Legal and Human Rights Centre (Hrsg.) 2009, S. 92; Snider und Dawes 2006, S. 45; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 26)
453
Vgl. Legal and Human Rights Centre (Hrsg.) 2009, S. 92. Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) 2003, S. 4. 455 Vgl. Krug, Dahlberg, Mercy, Zwi und Lozano (Hrsg.) 2002, S. 59. 454
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Ausmaß von Gewalt gegen Waisen Kindesmisshandlungen treten in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auf und finden nicht nur im familiären Rahmen statt. Die Täter können neben den Eltern und anderen Familienangehörigen auch Lehrer, Heranwachsende oder Unbekannte sein. Dennoch gehört gerade die Gewaltausübung gegen Kinder in Privathaushalten zu den am wenigsten sichtbaren und am stärksten verbreiteten Formen von Kindesmisshandlungen. Da Kindesmisshandlungen in vielen Fällen abseits von der öffentlichen Wahrnehmung stattfinden, existieren keine verlässlichen Daten zum Ausmaß der Problematik. Häufig lassen sich Fälle von Vernachlässigungen, Ausbeutung und Misshandlung nur an den Folgen erkennen. Die Ausprägung und Schwere der Konsequenzen unterliegt einer enormen Bandbreite. In extremen Fällen führt die Tat zum Tod des betroffenen Kindes. In den meisten Fällen wiegen hingegen die akuten psychischen Folgen und die Langzeitauswirkungen auf die körperliche, kognitive und emotionale Entwicklung schwerer als die durch die Misshandlung hervorgerufenen physischen Verletzungen. 456 Auch in Tansania lässt sich annehmen, dass sich die meisten Fälle von Kindesmisshandlungen im privaten Bereich ereignen. Nur ein geringer Bruchteil dringt an die Öffentlichkeit und bildet quasi die sichtbare Spitze des Eisbergs. Viele Interviewpartner können Fallbeispiele von schweren Formen von Kindesmisshandlung aus der Praxis der Waisenhilfe nennen. 457 „Es gibt einige Kinder,
456
Vgl. WHO und International Society for Prevention of Child Abuse and Neglect (Hrsg.) 2006, S. 7. 457 Folgende Fälle sind Beispiele von Kindesmisshandlungen, von denen Interviewpartner der Autorin berichteten: Siehe Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania: Charles Francis berichtet von der Ausgrenzung, Vernachlässigung und emotionalen Misshandlung von Waisen, bei denen ein Verdacht auf eine HIV-Infektion bestand. Siehe Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania: Andrew Kagya (KAKAU) berichtet ebenfalls von Fällen in denen verwaiste Kinder zu besonders schweren Arbeiten herangezogen wurden. Siehe Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania: Titus Kamwamwa (KZACP) begegnete in seiner Arbeit vielen Fällen von sexuellem Missbrauch, in denen weibliche Waisen zu Opfern wurden. Siehe Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania: Die Gründerin der Waisenorganisation WOWESOT beobachtete in ihrer Arbeit die Anfälligkeit von verwaisten Mädchen mit sexuelle Beziehungen zu älteren Männern einzugehen, um im Gegenzug Geschenke oder Geld zu erhalten. Die Männer nutzen dabei ihre überlegende Position hinsichtlich ihres Alters sowie ihrer wirtschaftlichen Kapazitäten. Siehe Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania: Joseph Musira erinnert sich an den Fall eines Jungen, der nach dem Tod seiner Eltern bei seinen Onkel lebte. Von diesen wurde er
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3 Die Lebenswelt der Waisen
die nach dem Tod ihrer Eltern von Verwandten, engen Verwandten, aufgenommen werden und diese missbrauchen sie ganz, ganz furchtbar: schlagen sie schwer, geben ihnen nichts zu essen, schicken sie nicht zur Schule, grenzen sie so stark ein, bis sie weglaufen – sie gehen auf die Straße.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Dieser Fall zeigt deutlich, welches Ausmaß die Misshandlung von Waisen annehmen kann. Er liefert allerdings kein realistisches Bild von der Situation verwaister Kinder im Allgemeinen. Vieles deutet darauf hin, dass die Gewalt gegen Waisen nur eine Minderheit der Kinder betrifft. In der Regel berichten auch Befragte, die schwere Formen von Kindesmisshandlung schildern, dass die Vorkommnisse Einzelfälle darstellen. 458 Interviewpartner aus den Hilfsprogrammen für Waisen bestätigen, dass die meisten Waisen Aufnahme bei liebevollen Verwandten finden und nicht unter bewusster Misshandlung oder Vernachlässigung leiden. 459 Die wenigen Untersuchungen, die sich der Misshandlung von Waisen widmen, liefern ebenfalls Anhaltspunkte dafür, dass nur ein geringer Anteil der Waisen Opfer von Missbrauch und Vernachlässigung werden. In einer Untersuchung der Waisenorganisation HUYAMWI (2006) gaben 10% der Waisen an, dass sich die Beziehung zu ihrem Betreuer problematisch gestaltet oder dass sie in ihren Haushalten unter Missbrauch, Ausnutzung oder Vernachlässigung leiden. 460 Eine Studie der Organisation Axios International (2000) scheint zu bestätigen, dass sich Kindesmisshandlung als marginales Problem von Waisen einstufen lässt. Vernachlässigung und Missbrauch machten nur 5% der Antworten aus, die Waisen hinsichtlich ihrer Probleme gaben. 461 Die Ergebnisse hinsichtlich der Gewalt gegen Waisen geben noch keine Auskunft darüber, inwieweit verwaiste Kinder ein höheres Risiko für Kindessowohl emotional als auch körperlich misshandelt. Schließlich lief der Junge aus der Familie weg und fand bei Nachbarn in der Gemeinde Aufnahme. Siehe Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania: Martin Burkhardt (HUYAMWI) schildert den Fall eines Waisenkindes, der als Arbeitskraft von seinem Betreuer ausgenutzt wurde. 458 Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 459 Vgl. Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania. 460 Vgl. Burkhardt 2006, S. 13. 461 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 15.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
211
misshandlung aufweisen als Nichtwaisen. Um die Differenzen zwischen Waisen und Nichtwaisen zu untersuchen, müssen einzelne Formen von Kindesmisshandlung getrennt betrachtet werden. Aufgrund ihrer spezifischen Situation besitzen verwaiste Heranwachsende in einigen Bereichen ein besonders hohes Risiko, während sie in anderen Bereichen scheinbar keiner größeren Gefährdung ausgesetzt sind als Nichtwaisen. Indizien deuten beispielsweise darauf hin, dass Waisen und Nichtwaisen ähnlich stark unter körperlichen Übergriffen leiden. USAID (2004a) berichtet von einer in Dar es Salaam durchgeführten Studie, die weder in der Schule noch Zuhause Unterschiede zwischen Waisen und Nichtwaisen hinsichtlich körperlicher Bestrafung und Lob feststellen konnte. 462 Auch die Befragung von 122 Waisen und 65 Nichtwaisen durch die Autorin im Rahmen der vorliegenden Arbeit liefert keine Anhaltspunkte, welche die Vermutung bestätigen würden, dass Waisen besonders stark unter körperlicher Gewalt leiden. Nur 8,2% der befragten Waisen nannten Schläge oder körperliche Bestrafungen als eines von drei Dingen, die sie in ihrem Alltag traurig machen. Der Anteil bei den Nichtwaisen lag mit 12,3% sogar noch über dem der Waisen. Die Ergebnisse hinsichtlich verbaler Übergriffe liefern ein vergleichbares Bild. 13,1% der Waisen und 12,3% der Nichtwaisen zeigten sich traurig aufgrund von Beschimpfungen. Fallbeispiele und wissenschaftliche Untersuchungen zu weiteren Formen der Kindesmisshandlung deuten darauf hin, dass für Waisen in anderen Bereichen eine besonders hohe Gefährdung besteht. Dies trifft beispielsweise für die Ausbeutung als Arbeitskraft oder im Bereich der Vererbung zu.463 Risikofaktoren für Gewalt gegen Waisen Alle Heranwachsenden in Tansania verfügen über ein potenzielles Risiko, Opfer von Kindesmisshandlungen zu werden. Die Verwaisung eines Kindes erhöht die Gefährdung, da sie ein zusätzlicher Risikofaktor für Misshandlungen darstellt. 462
Vgl. USAID (Hrsg.) 2004a, S. 20. Folgende Quellen zeigen die besondere Gefährdung von Waisen in spezifischen Formen der Kindesmisshandlung: Siehe UNDP (Hrsg.) 2000, S. 4; Axios International (Hrsg.) 2002, S. 23 f.; Whitehouse 2002, S. 45 ff.; Dilger 2005, S. 119 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 3; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1: Die Untersuchungen belegen die wirtschaftliche Ausbeutung von Waisen durch die Benachteiligung im traditionellen Erbrecht verschiedener tansanischer Volksgruppen. Siehe Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 52; Rau 2002, S. 1; Whitehouse 2002, S. 33; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 30; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43: Im Bereich der Kinderarbeit wiesen diese Studien einen Zusammenhang zwischen Kinderarbeit und Verwaisung in Tansania nach. Demnach ist der Anteil von Waisen in schweren Formen der Kinderarbeit überproportional hoch. 463
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Die mit dem Tod der Eltern verbundenen Konsequenzen, beispielsweise die Aufnahme bei Verwandten, der Gang auf die Straße oder der Verlust des elterlichen Schutzes, steigern die Vulnerabilität der Waisen. Der folgende Abschnitt geht detailliert auf diese speziellen Ursachen der Gewalt gegen Waisen ein. Fehlender Schutz durch erwachsene Betreuungsperson: Nach dem Tod der Eltern lebt ein Teil der Waisen ohne erwachsene Betreuungspersonen in Kinderhaushalten. Die Situation, in der sich die verwaisten Kinder befinden, macht sie verletzlich für Missbrauch durch andere Gemeindemitglieder. Die Menschen in der Nachbarschaft wissen, dass diese Heranwachsenden ohne Schutz leben und im Falle von Übergriffen häufig über keinen verlässlichen Ansprechpartner verfügen. Einige Personen nutzen die Schutzlosigkeit aus und vergreifen sich an den verwaisten Kindern, indem sie diese beispielsweise sexuell missbrauchen, als Arbeitskraft ausbeuten oder als Handlanger für kriminelle Aktivitäten einsetzen. 464 Neben Waisen in Kinderhaushalten stellen Straßenkinder eine besondere Risikogruppe für Kindesmisshandlung dar, weil ihnen der Schutz einer erwachsenen Bezugsperson fehlt. Waisen haben ein erhöhtes Risiko, auf die Straße zu gehen, und machen einen überproportionalen Anteil unter den Straßenkindern aus. Kinder, die auf der Straße leben, sind in der Regel schutzlos den Übergriffen von Anwohnern oder anderen Straßenkindern ausgesetzt. Sie leiden außerdem an Ausbeutung, da sie für schwere und gefährliche Arbeiten missbraucht werden bzw. keine angemessene Bezahlung erhalten. 465 Anwesenheit von Stiefmutter/-vater: Die „böse Stiefmutter“ ist ein bekanntes Phänomen in Tansania. In der Situationsanalyse von Whitehouse (2002) sagten Informanten aus, dass Stiefmütter die Kinder der früheren Frau nicht lieben, diese offen ablehnen und schlechter behandeln als ihre eigenen Kinder. Als Folge besteht die Gefahr, dass die Halbwaisen unter Vernachlässigung oder Gewalt leiden und beispielsweise bei den Mahlzeiten in der Familie nur schlechtes Essen oder kleine Portionen erhalten. 466 Interviewpartner bestätigen, dass verwaiste Kinder, deren Vater nach dem Tod der leiblichen Mutter erneut heiratet, in vielen Fällen unter Herabwürdigung, Benachteiligung und Misshandlung leiden. Zwischen der Stiefmutter und den Kindern der ersten Frau kommt es zu vielfältigen Konflikten, die 464 Vgl. Legal and Human Rights Centre (Hrsg.) 2009, S. 90; Interview mit D. Brycke am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 465 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 4; Whitehouse 2002, S. 20 f.; Boutin 2006, S. 4; Interview mit A. Kyamanywa am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 466 Vgl. Whitehouse 2002, S. 30 f.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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sich vor allem dann verstärken, wenn die Stiefmutter leibliche Kinder mit in die Ehe bringt oder diese mit dem Vater der Stiefkinder zeugt. „Manchmal bringt der Mann seine Waisen [in die Ehe] und die Frau will nicht für diese sorgen. Das kann zur Spaltung führen. […] Die Frau war nicht sehr nett zu den Waisen, denn die Waisen gehörten zur Familie ihres Mannes.“ (Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch die Anwesenheit eines Stiefvaters kann sich negativ auf die Behandlung bereits im Haushalt lebender Kinder auswirken. Allerdings trägt in Tansania die Frau in der Regel die Verantwortung für die Versorgung von Heranwachsenden, sodass die Stiefmutter einen bedeutend engeren Kontakt zu den Kindern hat und sich ihre negative Einstellung in Erziehungsmaßnahmen und der alltäglichen Versorgung der Kinder widerspiegelt.467 Das negative Image der Stiefmutter lässt sich in Tansania bereits an Sprichwörtern ablesen. Das Kisuaheli-Sprichwort „Mit der Stiefmutter zu streiten heißt, seine Lippen umsonst zu ermüden.“ (Kisuaheli-Sprichwort zit. n. Eastman in Loo und Reinhart (Hrsg.) 1993, S. 91) beschreibt, dass eine Stiefmutter nicht dieselben Gefühle für ein Kind aufbringt wie die leibliche Mutter. Folglich lohnt es sich nicht, bei der Stiefmutter um Nachsicht zu bitten oder von ihr Verständnis zu verlangen. Anwesenheit leiblicher Kinder: Das Kapitel 3.2.2 verdeutlicht, dass die Gefahr von Diskriminierung und Benachteiligung vor allem in Haushalten besteht, in denen leibliche Kinder und aufgenommenen Waisen gemeinsam leben. In einigen dieser Familien leiden die Waisen unter Vernachlässigung; das heißt die leiblichen Kinder erhalten bei der Versorgung Priorität, während die Bedürfnisse der aufgenommenen Kinder nur unzureichend befriedigt werden.468 Die Benachteiligung verwaister Kinder zeigt sich darüber hinaus in der Ausbeutung als Arbeitskraft. In diesen Fällen müssen die angenommenen Kinder tendenziell mehr und schwerer arbeiten als die eigenen Kinder.469
467 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 407; Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 53; McAlpine 2005a, S. 24; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit Johnson M. am 20.06.07 in Mwika, Tansania. 468 Vgl. Wanitzek 2007, S. 2; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 469 Vgl. Wanitzek 2007, S. 2; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
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3 Die Lebenswelt der Waisen
Überforderung und Frustration der Betreuungspersonen: Gewalt gegen Kinder stellt häufig ein Resultat von Überforderung und Frustration der Betreuungspersonen dar. Diese Überforderung basiert unter anderem auf dem gesunden bzw. pathologischen Trauerverhalten der verwaisten Kinder. Die Verantwortlichen wissen nicht, wie sie mit dem auffälligen Benehmen der Kinder umgehen sollen. Besonders wenn sich die Verzweiflung der Kinder gegen ihre Betreuer richtet oder die Traumatisierung der Kinder die Eingliederung in den Haushalt erschwert, reagieren einige Betreuer mit unverhältnismäßigen Disziplinierungsmaßnahmen wie Schlägen oder offener Ablehnung. 470 Die Überforderung vieler Familien entspringt darüber hinaus der wirtschaftlichen Belastung durch die Verantwortungsübernahme für Waisen. Die Betreuer hatten eigene Pläne und Erwartungen an die Zukunft, beispielsweise hinsichtlich ihres Bildungsweges, der Versorgung ihrer Kinder oder dem Bau eines Hauses. Die Aufnahme der Waisen zerstört diese Vorhaben. Die Ressourcen reichen oft nicht aus, um sowohl die Waisen zu versorgen als auch die Zukunftspläne umzusetzen. Die dadurch erzeugte Unzufriedenheit belastet die familiären Beziehungen. Dies äußert sich unter anderem in der Diskriminierung, Vernachlässigung oder Misshandlungen der aufgenommenen Kinder.471
Schutzfaktoren für Waisen Das gesellschaftliche Schutzsystem für Waisen beinhaltet individuelle Unterstützungsmechanismen durch das soziale Umfeld der betroffenen Kinder. Angehörige, Gemeindemitglieder und kommunale Initiativen tragen zur Erfüllung der psychosozialen Bedürfnisse von Waisen bei und bieten ihnen Schutz für ein sicheres Aufwachsen ohne Misshandlung, Ausbeutung und Vernachlässigung. Das gesellschaftliche Wertesystem, welches auf der Tradition der Großfamilie und der gegenseitigen Verantwortung innerhalb der kommunalen Gemeinschaft beruht, unterstützt die Fürsorge für Waisen. In Tansania verhindern soziale Normen in vielen Fällen eine Diskriminierung, Gefährdung und Vernachlässigung der betroffenen Kinder.472
470
Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 471 Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 472 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Privathaushalte Die Haushalte, in denen die Waisen leben, erfüllen eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden und den Schutz der Kinder (Abb. 57). Trotz der Belastungen kommen Betreuer ihren Erziehungs- und Versorgungsaufgaben in der Regel mit Liebe nach und verfügen über gute Beziehungen zu den bei ihnen lebenden Kindern. Viele Betreuer nehmen schwere Mühen in Kauf, um die materiellen und emotionalen Bedürfnisse der bei ihnen lebenden Kinder zu erfüllen. Die Betreuer vermitteln den Heranwachsenden ein Gefühl von Zugehörigkeit, Geborgenheit und Anerkennung, welches wesentlich für das gesunde Aufwachsen der Kinder ist. Die Verwandtschaft leistet in der Regel einen wichtigen Beitrag im psychosozialen Bereich und stellt den größten Schutzfaktor für die Sicherheit verwaister Kinder dar. 473 Abbildung 57: Großeltern als emotionale Ressource und Schutzfaktor Besonders Großeltern haben in den Projekten als Betreuer von Waisen einen sehr guten Ruf, da sie ihrer Aufgabe mit viel Liebe und Aufopferungsbereitschaft nachgehen. „Die Großmütter, zu diesem Zeitpunkt sind es die Großmütter, die wirklich involviert sind. […] Es ist das Herz der Großmütter, dass sie es [die Versorgung der Waisen] tun müssen.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Waisen, die bei ihren Großeltern leben, erfahren in der Regel weder Benachteiligung noch Vernachlässigung. Vielmehr trifft das Gegenteil zu, denn die Großeltern verzichten für ihre Enkelkinder häufig selbst auf ein Minimum an Versorgung: „Wenn es beispielsweise nur ein bisschen Nahrung gibt, werden sie [die Großeltern] nicht essen. Sie verteilen alles Essen an die Kinder und bleiben selbst für einen Tag ohne Nahrung.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Kommunale Gemeinschaft In Tansania kommt der sozialen Kontrolle sowie der gemeinschaftlichen Verantwortung eine wichtige Aufgabe beim Schutz und bei der Versorgung verwaister Kinder zu. Neben der Verwandtschaft spielt die Dorfgemeinschaft bzw. die 473 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408 f.; Axios International (Hrsg.) 2000, S. 13; German, Madörin und Neube 2001, o. S.; Snider und Dawes 2006, S. 15; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit T. Ihuya am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania.
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Nachbarschaft eine bedeutende Rolle für das Aufwachsen von Kindern. Erziehung ist kein Privileg, welches nur den Eltern oder der Familie vorbehalten bleibt. Sprichwörter, wie „Ein Kind kann von einem Dorfbewohner erzogen werden.“ (Kihaya-Sprichwort zit. n. Humuliza (Hrsg.) 1999, o. S./Übersetzung durch Verf.) oder „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ (Afrikanisches Sprichwort zit. n. www.de.wikiquote.org/wiki/Afrikanische _Sprichw%C3%B6rter 20.03.08), drücken die Bedeutung des sozialen Umfeldes aus. Die Tradition der gegenseitigen Verantwortung geht über die engsten Familienmitglieder hinaus und erstreckt sich auch auf Nachbarn, Freunde und Mitglieder der gleichen ethnischen Gruppe. Die gemeinschaftliche Verantwortung für Kinder äußert sich sowohl in Unterstützungsangeboten als auch in der Überwachung der Sicherheit und des Wohlergehens. Bei Verstößen gegen sozial anerkannte Normen in der Versorgung sowie bei der Feststellung von Misshandlung oder Ausbeutung wenden sie sich an lokale Autoritäten, Polizei oder Hilfsprojekte (Abb. 58).474 Abbildung 58: Soziale Kontrolle als Schutzfaktor Die Menschen im sozialen Umfeld der Waisen erfüllen ihre traditionelle Kontrollfunktion, indem sie die Behandlung der Kinder im Auge behalten und bei einer Gefährdung der Kinder eingreifen. Die Arusha Times informierte beispielsweise im Juli 2003 ihre Leser über den Fall eines vier Jahre alten Jungen, der nach dem Tod seiner Eltern bei seinem Onkel und dessen Frau lebt. Die Überforderung der 25-Jährigen bei der Versorgung und Erziehung des verwaisten Jungen äußerte sich in körperlichen Übergriffen. Der Fall gelang an die Öffentlichkeit, nachdem die junge Frau das Kind mit einer Flasche beworfen und dadurch im Gesicht verletzt hatte. Nachbarn der Familie, die auf den Vorfall aufmerksam wurden, ergriffen sie und brachten sie zur Polizei. (Lazaro in The Arusha Times No. 00277/5.-11.07.03.)
Lokale Autoritäten, beispielsweise Dorfälteste, Lehrer oder Verwaltungsbeamte, tragen Verantwortung für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und die Gestaltung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Die Personen verfügen aufgrund ihrer traditionellen Rolle, ihrer Bildung oder ihrer staatlich zugedachten Aufgabe über Anerkennung und Respekt in der Gemeinde. Fallbeispiele zeigen, dass sie ihr Ansehen zum Wohle verwaister Kinder einsetzen. Sie intervenieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten, um die Kinder vor Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung zu schützen, und sprechen sich gegen kulturelle Praktiken aus, welche die Rechte der Waisen verletzen. Aufgrund ihrer Bildung und Erfahrung waren sie häufig die Ersten in den Gemeinden, die ein 474
Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408; Lazaro in The Arusha Times No. 00277/5.-11.07.03.; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania.
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Verständnis für die Probleme der steigenden Zahl der Waisen aufbrachten und auf eine gemeinsame Bewältigung des Problems drängten. 475 Formen von Gewalt gegen verwaiste Kinder Der folgende Abschnitt geht auf die Erscheinungsformen von Kindesmisshandlung ein, von denen verwaiste Kinder besonders betroffen sind. Insgesamt lassen sich fünf Formen von Gewalt gegen Kinder unterscheiden: körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, emotionale Misshandlung sowie Ausbeutung. Die Darstellung der verschiedenen Formen von Gewalt unter denen Waisen in Tansania leiden kann nur einen schemenhaften und unvollständigen Einblick in die Thematik gewähren. Kindesmisshandlungen finden häufig im Verborgenen statt und bilden bisher kaum den Gegenstand eingehender Untersuchungen in Tansania. Die Angaben der Interviewpartner, die sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu den unterschiedlichen Formen von Gewalt gegen Waisen äußerten, spiegeln persönliche Erfahrungen mit der Misshandlung von Waisen wider und sind abhängig vom individuellen Bewusstsein der Befragten für die Problematik. Dennoch beleuchten die einzelnen Berichte verschiedene Facetten von Kindesmisshandlungen und helfen somit zu einem besseren Verständnis von den verschiedenen Gefährdungen, denen Waisen in ihren Familien und Gemeinden ausgesetzt sind. Körperlicher Misshandlung Der Ausdruck „Körperliche Misshandlung“ bezeichnet die bewusste Anwendung von physischer Gewalt gegen ein Kind, die zu einer Gefährdung der Gesundheit, der Entwicklung und des Überlebens führen kann. Die körperliche Züchtigung eines Kindes zielt auf die Herabwürdigung des Bestraften sowie auf die Demonstration der Überlegenheit des Strafenden. Sie wird in den meisten Fällen als Disziplinierungsmaßnahme im Rahmen der Erziehung eingesetzt. In Einzelfällen kommt es auch zu körperlichen Misshandlungen im Affekt. Diese Form der Kindesmisshandlung umfassen beispielsweise Schläge, Verbrennungen, Würgen oder Schütteln. 476
475
Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 408ff. Vgl. WHO und International Society for Prevention of Child Abuse and Neglect (Hrsg.) 2006, S. 10.
476
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Interviewpartner und Quellen berichten immer wieder von Fällen, in denen verwaiste Kinder in den Haushalten, in denen sie leben, geschlagen oder auf andere Weise körperlich misshandelt werden (Abb. 59). 477 Abbildung 59: Körperliche Misshandlung von Waisen Joseph Musira, Volontär einer Waisenorganisation in Musoma, erinnert sich an den Fall eines Jungen, der nach dem Tod seiner Eltern bei seinen Onkel lebte. Von diesen wurde er sowohl emotional als auch körperlich misshandelt. Schließlich lief der Junge aus der Familie weg und fand bei Nachbarn in der Gemeinde Aufnahme. (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania)
Sexueller Missbrauch Unter sexuellem Missbrauch lassen sich alle Formen sexueller Betätigung verstehen, die nicht im Einverständnis des Kindes stattfinden oder für die das Kind aufgrund seiner physischen und psychischen Entwicklung noch nicht reif ist. Zusätzlich fallen unter sexuellem Missbrauch alle sexuellen Handlungen, die entsprechend des jeweils gültigen Gesetzes als illegal gelten bzw. gegen ein kulturelles Tabu verstoßen.478 In vielen Fällen besteht zwischen Opfer und Täter ein besonders enger Kontakt, sodass der sexuelle Missbrauch häufig über einen längeren Zeitraum andauert und mit emotionalem Missbrauch in Verbindung steht. Unter sexuellem Missbrauch zählen unter anderem erzwungener oraler, analer oder genitaler Verkehr, sexuelle Belästigung durch Berührungen oder verbale Übergriffe sowie die Nötigung von Heranwachsenden zu pornographischen Tätigkeiten. Sexueller Missbrauch kann beim Opfer sowohl zu einem schweren psychischen Trauma als auch zu körperlichen Schädigungen führen. 479 Sowohl Mädchen als auch Jungen jedes Alters werden in Tansania Opfer von sexuellen Übergriffen durch Angehörige und Fremde. 480 Sexueller Missbrauch und die Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes Minderjähriger nehmen in Tansania verschiedenste Formen an: Ältere Männer nutzen ihre wirtschaftliche Überlegenheit, um junge Mädchen mit Geschenken zu sexuellen
477 Vgl. Whitehouse 2002, S. 30 f.; Mwaipopo 2005, S. 69; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 478 Vgl. WHO und International Society for Prevention of Child Abuse and Neglect (Hrsg.) 2006, S. 10. 479 Vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin (Hrsg.) 2000, S. 29. 480 Vgl. Legal and Human Rights Centre (Hrsg.) 2009, S. 91.
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Handlungen zu verleiten.481 Lehrer missbrauchen ihre Position und erpressen sexuelle Gefälligkeiten von ihren Schülern, indem sie mit schlechten Noten drohen.482 Soziale und kulturelle Praktiken verletzen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht junger Mädchen. 483 Der fehlende elterliche Schutz sowie die wirtschaftliche Notlage, in der sich viele Kinder nach dem Tod der Eltern befinden, steigert die Anfälligkeit von Waisen für sexuellen Missbrauch (Kap. 3.1.4).484 Die Täter finden sich sowohl in der eigenen Familie als auch in der Gemeinde und Schule (Abb. 60). Abbildung 60: Sexueller Missbrauch von Waisen Lindboe und Bertelsen (2002) berichten im politischen Handbuch für Tansania der FriedrichEbert-Stiftung vom Fall der sechs Jahre alten Bahati. Das Mädchen aus der Kilimanjaro Region wurde wenige Tage nach dem Tod der Mutter vom eigenen Vater vergewaltigt. Der Vater handelte auf den Rat eines lokalen Heilers, der ihm den Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau als Heilmittel gegen AIDS empfohlen hatte. (Lindboe und Bertelsen in Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) 2002, S. 143) Interviewpartner berichten der Autorin, wie ihnen in ihrer Arbeit Fälle von sexuellem Missbrauch begegneten. Titus Kamwamwa, der für die Organisation KZACP arbeitet, musste erleben, dass vor allem weibliche Waisen zu Opfern sexueller Misshandlung werden. (Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania) Aber auch Jungen können von sexuellen Übergriffen betroffen sein. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die betroffenen Kinder auf der Straße leben und ihnen der Schutz erwachsener Bezugspersonen fehlt. Deborah Brycke, Gründerin eines Straßenkindprojektes, erzählt von dem Fall eines Jungen, der als Vollwaise in die Stadt Bukoba kam, um dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen: „Ein Kind, ich denke er war neun oder zehn Jahre, […] und dann kam er, weinend, und mir gelang es nicht ihn zu verstehen […] Und dann habe ich jemanden gebeten, zu kommen und mir zu helfen, und dann hörte er auf, zu weinen, er hörte auf, zu weinen und er erklärte, dass große Jungs seine Hände und Beine genommen hatten, sie fixiert hatten und dann haben die großen Jungs dieses kleine Kind einfach vergewaltigt.“ (Interview mit D. Brycke am 18.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Die tansanische Gesetzgebung trägt zur Gefährdung des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes bei, indem sie das heiratsfähige Alter von Mädchen auf 15 481 Vgl. Rau 2002, S. 41; World Bank (Hrsg.) 2002a, S. 22; Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit B. Ghumpi am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 482 Vgl. Legal and Human Rights Centre (Hrsg.) 2009, S. 92. 483 Vgl. Mhamba 2004, S. 23 f. 484 Vgl. ILO (Hrsg.) 2001, S. iix; Rau 2002, S.1; Whitehouse 2002, S. 29; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 94; Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania.
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Jahre festlegt und somit Eheschließungen minderjähriger Mädchen unterstützt.485 Beegle und Krutikova (2007) wiesen in einer Langzeitstudie in der Kagera Region einen Zusammenhang zwischen Verwaisung und dem Heiratsverhalten junger Frauen nach. Demnach senkt der Tod des Vaters das Alter, in dem Mädchen heiraten. Während im Alter von 20 Jahren durchschnittlich 58% der Frauen verheiratet sind, steigerte der Waisenfaktor den Anteil auf 75%. 486 Obwohl diese Ergebnisse nur wenig über die Motive für die frühen Eheschließungen aussagen, geben sie doch einen Einblick, inwieweit die Verwaisung das Heiratsverhalten von jungen Frauen beeinflusst. Nicht alle jungen Mädchen gehen den Schritt in die Ehe freiwillig. Besonders in ländlichen Gegenden existieren kulturelle Praktiken, welche das sexuelle Selbstbestimmungsrecht junger Mädchen ignorieren und somit die Sicherheit von Heranwachsenden gefährdet. Die Zahlung eines Brautpreises an die Eltern bzw. Betreuer erhöht das Risiko von jungen Frauen, gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Besonders für Betreuer, welche die bei ihnen lebenden Waisen als Belastung für den Haushalt empfinden, stellt der Brautpreis einen zusätzlichen Anreiz für die frühzeitige Verheiratung der aufgenommenen Mädchen dar.487 Vernachlässigung Vernachlässigung bezeichnet das Versagen der Eltern bzw. der verantwortlichen Betreuungspersonen, die notwendigen Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung des Kindes zu schaffen. Dabei beschränkt sich die Definition auf die Bereiche, die in der Verantwortung der Betreuer liegen. Vernachlässigung unterscheidet sich dementsprechend von einer Unterversorgung, beispielsweise in Situationen wirtschaftlicher Armut. Vernachlässigung besteht immer dann, wenn die Betreuer über die entsprechenden Kapazitäten verfügen, diese aber den Kindern in ihrer Obhut vorenthalten. Die Vernachlässigung von Kindern lässt sich in den Bereichen medizinische Versorgung, Bildung, emotionale Entwicklung, Ernährung sowie Unterbringung feststellen, wobei sie sich in vielen Fällen auf mehrere Bereiche erstreckt und nur selten isoliert auftritt.488 Viele Waisen leiden unter einer unzureichenden Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse (Kap. 3.1), aber nicht immer handelt es sich dabei um Fälle von Vernachlässigung. Waisen, die unter Vernachlässigung leiden, finden sich vor 485
Vgl. Pinheiro 2006, S. 59. Vgl. Beegle und Krutikova 2007, S. 11. Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 395; Mhamba 2004, S. 23 f. 488 Vgl. Krug, Dahlberg, Mercy, Zwi und Lozano (Hrsg.) 2002, S. 60. 486 487
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allem in Haushalten, in denen neben den aufgenommenen Kindern auch leibliche Kinder des Betreuers leben (Kap. 3.2.2). In vielen Fällen räumen die Haushaltsvorstände der Versorgung ihrer eigenen Kinder Priorität ein und nehmen damit die Vernachlässigung der Waisen in verschiedenen Lebensbereichen, wie beispielsweise der Bildung oder der Versorgung mit Nahrungsmitteln, in Kauf (Abb. 61).489 Selbst Ressourcen, die dem verwaisten Kind zustehen, beispielsweise sein Erbanteil oder Hilfsgüter, halten manche Betreuer zurück und setzen sie zu ihrem eigenen oder zum Wohle ihrer Kinder ein.490 Abbildung 61: Vernachlässigung von Waisen Immer wieder hört die Autorin von Fällen in den Waisenprojekten, in denen die Waisen gegenüber anderen Kindern in der Familie vernachlässigt wurden, weil die Betreuer ihren eigenen Kindern Priorität einräumten: „Sie [die Betreuer] berücksichtigen ihre Kinder zuerst und dann als zweites die Neuzukömmlinge.“ (Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.) und „Die Betreuer geben die oberste Priorität immer ihren eigenen Kindern.“ (Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Emmanuel Mawere von der Organisation WAMATA Arusha erklärt: „Selbst während der Mahlzeiten, in einigen Familien sind die Waisen die Letzten und ihre Portionen wären nicht so groß, wie die für die Kinder der Familie.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
Emotionale Misshandlung Emotionaler Missbrauch tritt sowohl in Einzelfällen als auch als systematisch eingesetztes und andauerndes Verhalten gegenüber einem Kind auf. Es bezeichnet die Unfähigkeit bzw. den Unwillen der verantwortlichen Betreuungsperson, eine förderliche Beziehung zum Kind herzustellen, in der sich das Kind gesund entwickelt sowie anerkannt und geliebt fühlen kann. Ein ungeeignetes Beziehungsverhältnis bzw. ein quantitativ und qualitativ inadäquates Erziehungsverhalten führt zur Einschränkung der Entwicklungsbestrebungen des Kindes. Die dabei erlebte Frustration und Enttäuschung verursacht bei chronischem Auftreten ohne kompensatorische Erlebnisse erhebliche Entwicklungs-, Verhaltens489 Vgl. Whitehouse 2002, S. 32; Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania. 490 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 409; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania.
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und/oder Persönlichkeitsstörungen. Die Erscheinungsformen emotionaler Misshandlungen sind sehr vielfältig und umfassen beispielsweise die Herabwürdigung, das Ängstigen und die Überforderung eines Kindes, aber auch die Verweigerung emotionaler Zuwendung und Förderung.491 In Einzelfällen kommt es in Familien und Gemeinden zu Fällen von emotionalem Missbrauch (Abb. 62).492 Dies betrifft vor allem Kinder, die aufgrund ihres Waisenstatus unter Vorurteilen leiden. Besonders das Stigma einer mutmaßlichen HIV-Infektion führt zur sozialen Ausgrenzung verwaister Kinder.493 Heranwachsende leiden aber auch unter emotionalem Missbrauch, wenn sich die Diskriminierung gegen ihre verstorbenen oder noch lebenden Eltern richtet und die Menschen aus dem sozialen Umfeld über die AIDS-Erkrankung der Eltern reden.494 Abbildung 62: Emotionale Vernachlässigung in der Stieffamilie Johnson M., ein engagierter und intelligenter Jugendlicher, lebte am Ende des Grundstücks seines Vaters allein für sich in einer Hütte. Nach dem Tod seiner Mutter ließ der Vater ihn bei der Großmutter mütterlicherseits. Ohne Kontakt zu seinem Vater verbrachte er seine weitere Kindheit mit seiner Großmutter, die sich liebevoll um ihn kümmerte. Als schließlich seine Großmutter starb, machte er sich auf die Suche nach seinem Vater. Dieser hatte in der Zwischenzeit erneut geheiratet und weitere Kinder gezeugt. Für den Sohn aus der ersten Ehe gab es keinen Platz in der neuen Familie; stattdessen erhielt er eine kleine Hütte, die sich in einer angemessenen Entfernung zum Wohnhaus der Familie befindet. Obwohl er sporadisch von der Familie seines Vaters Nahrungsmitteln erhält, ist er in der Versorgung gegenüber seinen Halbgeschwistern deutlich benachteiligt. Nur mit der finanziellen Unterstützung einer Hilfsorganisation gelingt es ihm, eine Ausbildung zu absolvieren. Für Johnson M. wiegt allerdings die emotionale Vernachlässigung bedeutend schwerer. Sein Vater bekennt sich nicht zu ihm, sodass er nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung erhält, die er sich erhoffte. Die Situation belastet Johnson M. und in einem Seminar der Hilfsorganisation für Waisen fragt er verzweifelt, was er noch tun kann, damit seine Familie ihn liebt. (Interview mit Johnson M. am 20.06.07 in Mwika, Tansania)
491
Vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin (Hrsg.) 2000, S. 29. Mwaipopo 2005, S. 7; Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit Z. Amri am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania; Interview mit H. Kaniki am 05.07.07 in Arusha, Tansania. 494 Interview mit J. Baghdellah am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Kikoyo am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 492 493
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Auch wenn einige Waisen unter bewusster und offener emotionaler Misshandlung leiden, handelt es sich in den meisten Fällen eher um eine emotionale Vernachlässigung, die auf der Überlastung sowie Überforderung der Betreuer beruht. Die Waisen vermissen die elterliche Liebe, und auch wenn sich die Betreuer bemühen, ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung zu geben, bleiben manche emotionalen Bedürfnisse unerfüllt. Diese unzureichende emotionale Versorgung spiegelt sich unter anderem in einem veränderten Verhalten der Kinder wider: „Dein Verhalten wird sich in gewisser Weise verändern, denn du vermisst die mütterliche Liebe. Sicher, die Mutter dort [in der Ersatzfamilie] mag so gut zu dir sein, aber deine eigene Mutter war anders.“ (Interview mit Alice, S. am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Besonders, wenn im Haushalt der Betreuer noch andere Kinder leben, erhalten manche Waisen nicht mehr so viel Aufmerksamkeit, wie vor dem Tod der Eltern. Die Waisen stehen mit anderen Heranwachsenden, das heißt leiblichen oder weiteren aufgenommenen Kindern, um die Aufmerksamkeit des Betreuers im Wettstreit. Hinzu kommt der erhöhte Bedarf an Zuwendung, den verwaiste Kinder aufgrund ihrer spezifischen Verlusterfahrungen in ihren neuen Haushalt mitbringen. Selbst wohlwollenden Betreuern gelingt es in dieser Situation nicht immer, die emotionalen Bedürfnisse aller Kinder zu erfüllen. Waisen, die in Kinderhaushalten leben, vermissen die liebevolle Zuwendung eines erwachsenen Betreuers völlig. Die Überforderung der Betreuer bzw. ein Mangel an erwachsenen Bezugspersonen sind die Hauptursachen für die emotionale Vernachlässigung von Waisen. Verwaiste Kinder sind demnach besonders gefährdet, nicht ausreichend Liebe, Aufmerksamkeit und Verständnis zu erhalten. 495 Ausbeutung Die Ausbeutung von Kindern umfasst alle Aktivitäten, die dem Täter einen materiellen oder sonstigen Vorteil bringen, während sie für das betroffene Kind in einer Gefährdung seiner gesunden Entwicklung sowie seines physischen und psychischen Wohlbefindens resultieren und/oder eine Verletzung seiner Rechte bedeuten. Die Ausbeutung nimmt je nach Situation unterschiedliche Ausprägungen an. Zu diesen gehören schwere Formen der Kinderarbeit, die sich nicht mit den Bedürfnissen der Heranwachsenden in Einklang bringen lassen, Kinderhan495
Vgl. Whitehouse 2002, S. 29; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit Alice, S. am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania.
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del zum Zwecke der kommerziellen, sexuellen bzw. anderweitigen Ausbeutung oder der Einsatz von Heranwachsenden in kriegerischen Auseinandersetzungen als Kindersoldaten. Ausbeutung bezieht sich darüber hinaus auf die Vorenthaltung von materiellen Vorteilen, beispielsweise bei einer unangemessen bzw. nicht erfolgten Bezahlung von erbrachten Arbeitsleistungen oder der Konfiszierung von Besitz. Waisen in Tansania leiden vor allem im Bereich Erbe unter Ausbeutung (Kap. 3.1.1). In vielen Ethnien Tansanias kommt es zur Benachteiligung von Frauen und Kindern nach dem Tod eines männlichen Haushaltsvorstandes. 496 Das Erbe geht häufig an die Familie des Verstorbenen, welche traditionell die Verantwortung für die Versorgung der Hinterbliebenen trägt. Obwohl das tansanische Erbrecht die Ansprüche von Witwen anerkennt, bleiben Frauen und verwaiste Kinder in vielen Fällen ohne Besitz zurück. Einige Betreuer von Waisen nehmen diese nur auf, weil sie sich davon einen Vorteil im Zugang zum Erbe erhoffen. Das Erbe kommt dann häufig der Versorgung und Bildung anderer Kinder zugute, während die Waisen unter Vernachlässigung leiden (Abb. 63). 497 Abbildung 63: Ausbeutung im Bereich Erbe Die Interviewpartner bestätigen der Autorin, dass sie in ihrer Arbeit regelmäßig verwaisten Kindern begegnen, die im Bereich Erbe Ausbeutung durch ihre Angehörigen erlebten. „Sie [die Verwandten] sagen, dass sie sich um die Kinder kümmern würden, aber in Wirklichkeit kümmert sie nur der Besitz.“ (Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania). Verwandte nehmen den Besitz der Kinder mit der Begründung, dass sie für die Waisen sorgen müssen, doch tatsächlich kommt er anderen Personen zugute: „Man entdeckt, dass wenn die Eltern gestorben sind, sie einigen Besitz, ein Haus, ein Auto hinterlassen haben. Sie [die Waisen] sind nicht diejenigen, die von solchem Besitz, der von ihren Eltern zurückgelassen wurde, profitieren. Man findet, dass es auf der familiären Ebene andere Verwandten gibt, die dazu neigen, sich alles und jedes anzueignen.“ (Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Victoria Tesha erlebte diese Fälle in ihrer Arbeit mit Witwen und Waisen häufig: „Vielleicht hat der Betreuer drei Kinder und der Bruder stirbt und hinterlässt drei weitere Kinder. Jetzt hat er sechs und die Probleme beginnen. Selbst wenn er autorisiert ist, den Besitz des Verstorbenen zu übernehmen, wird er beginnen, seine eigenen Kinder zu bilden.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
496 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 407 f.; UNDP (Hrsg.) 2000, S. 4; Axios International (Hrsg.) 2002, S. 23 f.; Whitehouse 2002, S. 45 ff.; Dilger 2005, S. 119 ff.; Beegle, DeWeerdt und Dercon 2006, S. 3; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 1; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 497 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 409.
3.2 Psychosoziale Konsequenzen
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Andere Formen der Ausbeutung beziehen sich vor allem auf die Arbeitskraft der Kinder (Kap. 3.1.1). In einigen Haushalten ziehen die Betreuer Waisen zu besonders schweren und verhältnismäßig vielen Arbeiten heran, sodass sich die aufgenommenen Kinder im Vergleich zu den leiblichen Kindern der Familie im Nachteil befinden.498 Die Ausbeutung als billige oder kostenlose Arbeitskraft beschränkt sich aber nicht nur auf die Haushalte, in denen die Waisen leben. Wenn sich die Heranwachsenden in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden oder ohne Schutz durch eine erwachsene Betreuungsperson leben, steigt ihr Risiko, als Arbeitskraft missbraucht zu werden. Der Anteil von Waisen ist aus diesem Grund in schweren Formen von Kinderarbeit überproportional hoch. 499 Gemeindemitglieder und Angehörige nötigen die betroffenen Kinder, auf der Straße im informellen Bereich zu arbeiten, nutzen sie für illegale Tätigkeiten oder beuten sie als Haushaltshilfe aus (Abb. 64).500 Abbildung 64: Ausbeutung von Waisen als Arbeitskraft Daniel Bujiku kennt das Risiko von Waisen, Opfer von Ausbeutung zu werden: „Wissen Sie, manchmal in Tansania würden einige Menschen Waisen in ihre Häuser aufnehmen, nur um sie zu misshandeln, sie zu missbrauchen oder sie für sich arbeiten lassen wie Sklaven oder als Hausmädchen.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Besonders Waisen, die in einem Haushalt gemeinsam mit den leiblichen Kindern des Haushaltsvorstandes leben, sind von Ausbeutung betroffen: „Wenn er, der Betreuer, eigene Kinder hat, wird er sie nicht genauso wie die Waisen behandeln. Einem Waisenkind wird normalerweise viel Arbeit gegeben, ein Waisenkind wird nicht genug Zeit haben, um zu lernen oder Privatstunden zu absolvieren. Dies sind die Schwierigkeiten, die Waisen erleben. Denn nicht mal die Betreuer werden sie als ihre eigenen Kinder sehen. Er wird dort [bei seinem Betreuer] bleiben, aber er wird viel arbeiten. Selbst wenn er von der Schule nach Hause kommt, wird er viel arbeiten, Wasser holen […], das Haus reinigen oder, wenn sie Tiere haben, Grass für die Tier bringen.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Martin Burkhardt, Gründungsmitglied eines ambulanten Waisenprojektes in der Kilimanjaro Region, bestätigt die besondere Gefährdung von Waisen in Haushalten mit leiblichen Kindern und berichtet von einer Begebenheit aus seiner Arbeit: „Ein Fall eben, wo dann halt die Kinder [des Betreuers] nicht viel arbeiten mussten, und das Waisenkind war halt dann Dienstkraft.“ (Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania).
498 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 409; Mwaipopo 2005, S. 7; Wanitzek 2007, S. 2; Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania. 499 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 52; Rau 2002, S. 1; Whitehouse 2002, S. 33; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 30; Research and Analysis Working Group (Hrsg.) 2005, S. 43. 500 Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania.
226
3 Die Lebenswelt der Waisen
3.2.4 Resümee: Psychosoziale Faktoren Waisen leiden nach dem Tod eines oder beider Elternteile unter vielfältigen Risiken, die ihr psychosoziales Wohlbefinden beeinflussen und ihre gesunde Entwicklung gefährden. Die Abbildung 65 illustriert die spezielle Gefährdung von Waisen und nennt die Faktoren, die diese Gefährdung beeinflussen. Vor allem der Zugang zu einer erwachsenen Vertrauensperson kann den Kindern helfen, ihren Verlust zu verarbeiten, und sie vor Diskriminierung und Gewalt schützen. Auch der Zugang zu externen Hilfsangeboten, beispielsweise durch Organisationen, die die Waisen mit psychosozialen Unterstützungsangeboten in ihrer Trauer begleiten und ihnen in Fällen von Diskriminierung oder Misshandlung als Ansprechpartner zur Seite stehen, erweist sich als Schutzfaktor. Das wirtschaftliche Unvermögen eines Haushaltes wirkt als zusätzlicher Stressor, der sowohl den Umgang mit der Trauer gefährdet als auch als Ursache für das Auftreten von Diskriminierung sowie Gewalt, Ausbeutung und Vernachlässigung gilt. Besonders in Haushalten, in denen neben den aufgenommenen Waisen noch leibliche Kinder des Haushaltsvorstandes leben oder in denen der Vater erneut heiratet, kommt es immer wieder zu Fällen von Benachteiligung, Misshandlung und Vernachlässigung. In diesen Fällen wirken sich die Gewalterfahrungen wiederum negativ auf die Verarbeitung des Verlustes aus. Abbildung 65: Gefährdung von Waisen im psychosozialen Bereich Verlust:
Waisen leiden stärker unter psychischen Störungen Waisen zeigen häufiger Verhaltensauffälligkeiten Diskriminierung: Waisen leiden mehr als andere Kinder unter Vorurteilen Waisen werden stärker ausgegrenzt und benachteiligt Gewalt: Waisen leiden öfter unter Ausbeutung, Misshandlung und Vernachlässigung ▼ ▼ ▼ Nicht für alle Waisen treffen diese Risiken zu, jedoch sind Waisen durchschnittlich stärker gefährdet, unter diesen Faktoren zu leiden als Nichtwaisen. ▼ ▼ ▼ Gefährdung steigt: Gefährdung sinkt: - bei Anwesenheit leiblicher Kinder - beim Zugang zu externen Hilfsangeboten - bei Anwesenheit einer Stiefmutter - bei Anwesenheit einer erwachsenen Vertrauensperson - bei geringem ökonomischen Status
„Jugendhilfe wird häufig aktiv als Kompensation, Unterstützung und Hilfe; sie engagiert sich, wo Desorientierung, Krisen, Hilflosigkeit und Not herrschen. Jugendhilfe soll – gesellschaftlich-funktional geredet – Ordnung, Integration garantieren oder schaffen, sie agiert – individuell-kasuistisch geredet – gleichsam als Retter in der Not.“ (Thiersch 1992, S. 110).
4
Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Das vorliegende Kapitel liefert einen Überblick über unterschiedliche Versorgungsangebote für verwaiste Kinder. Die meisten Organisationen der Waisenhilfe, die sich in der Regel in nichtstaatlicher Trägerschaft befinden und nur zu einem sehr geringen Teil staatlichen Initiativen entspringen oder staatliche Förderung erhalten, entstanden im Zuge der AIDS-Epidemie in Tansania (Abb. 66). Abbildung 66: Gründungsjahr von Organisationen der Waisenhilfe
Bei einigen Projekten stellt die Waisenversorgung nicht das primäre Ziel der Programme dar; vielmehr entwickelte sich die Angebotspalette entsprechend der AIDS-Epidemie weiter. Andere Organisationen, vor allem im stationären Bereich, gründeten sich ausschließlich zum Zweck der Waisenversorgung und beU. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
schränken sich weiterhin auf diese Adressaten. Im Bereich der Straßenkindprogramme ergab sich die Unterstützung der Waisen als Nebenprodukt der Arbeit, da Waisen einen erheblichen Anteil an der Zielgruppe „Straßenkinder“ ausmachen. Die konzeptuellen Ansätze nichtstaatlicher Organisationen und staatlicher Initiativen umfassen ein breites Spektrum. Sie reichen von ambulanten Hilfsprogrammen über die Vermittlung von Pflege- und Adoptiveltern bis zur stationären Erziehung. Der Überblick der Angebotspalette für Waisen beschränkt sich im Folgenden, soweit dies möglich und sinnvoll ist, auf eine reine Darstellung, ohne eine Bewertung der einzelnen Maßnahmen vorzunehmen. Die Evaluation unterschiedlicher Konzepte erfolgt im Kapitel 5 und soll aus diesem Grund im Folgenden ausgegrenzt werden. Dennoch gehen die Ausführungen auf strukturelle Hemmnisse und organisatorische Probleme ein. Um einen Vergleich der einzelnen Konzepte zu ermöglichen, beginnt jede Darstellung mit einer Definition und einem Einblick in die Entstehungsgeschichte und die strukturellen Bedingungen der Umsetzung. Anschließend stellt die Autorin verschiedene Erscheinungsformen und Charakteristika der Hilfeart vor und erläutert sie an einem oder mehreren Fallbeispielen. Bei den Fallbeispielen handelt es sich in der Regel um komplexe Organisationen. Die Auswahl von Projekten mit einer breiten Angebotspalette erschien notwendig, um möglichst alle Facetten der jeweiligen Hilfeform darzustellen. Dies darf aber nicht zu dem Rückschluss verleiten, dass alle Organisationen der entsprechenden Hilfekategorie eine ähnlich starke Programmvielfalt aufweisen. Beispielsweise beschränken sich viele ambulante Hilfsprojekte allein auf schulbezogene Unterstützung und leisten in den übrigen Bereichen keine Hilfe. 4.1 Ambulante Waisenhilfe Die ambulante Waisenhilfe bietet Haushalten, in denen Waisen leben, Unterstützung, ohne die Kinder aus ihrem familiären Umfeld zu entfernen. Die Maßnahmen verfolgen ein quasi kompensatorisches Ziel und versuchen, die Bereiche abzudecken, in denen die Familien mit Waisen allein überfordert sind. Die Quantität und Qualität der Hilfe variiert zwischen den einzelnen Projekten entsprechend der Ressourcen, der methodischen Vorgehensweise und der Qualifizierung der Mitarbeiter. Je nach Angebotspalette decken die Programme unterschiedliche materielle Bereiche, beispielsweise Einkommensprojekte, Bildungsförderung und Nahrungsmittelhilfe, sowie psychosoziale Bedürfnisse der Klienten durch Beratung, Hausbesuche und Gruppenangebote ab.
4.1 Ambulante Waisenhilfe
229
4.1.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen Die Versorgung der Waisen liegt in Tansania traditionell in der Hand der Familie. Durch die AIDS-Epidemie stiegen in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Belastungen der Privathaushalte. Kranke Verwandte benötigten eine medizinische und pflegerische Versorgung, während das Haushaltseinkommen durch den Ausfall von Erwerbstätigen zurückging. Immer weniger potenzielle Betreuer mussten unter diesen Bedingungen für eine steigende Zahl von verwaisten Kindern sorgen und stießen dabei an die Grenzen ihrer Kapazitäten: „Die sogenannte Großfamilie zerbricht momentan in Afrika, denn die AIDS-Epidemie wiegt zu schwer. Sie haben viele Lasten zu tragen, denn man stellt fest, dass der Vater und die Mutter gestorben sind und vielleicht sechs oder acht Kinder zurückgelassen haben, vielleicht ist noch jemand anderes mit sechs Kindern gestorben; dann findet man vielleicht zwölf oder fünfzehn Waisen in einem Haushalt. Das ist so schwierig für die Familien und darum benötigen sie zusätzliche Unterstützung außerhalb der Verwandtschaft. (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Besonders in den anfangs stark betroffenen Regionen, wie der Kagera Region, zeigte sich, dass die Großfamilie langfristig nicht in allen Fällen eine angemessene Versorgung der Kinder sicherstellen kann. Die ersten Hilfsinitiativen, vor allem durch Glaubensgemeinschaften, welche die Auswirkungen der AIDS-Epidemie in ihren Gemeinden unmittelbar erlebten, entstanden Ende der 80er und Anfang der 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den Jahren darauf kam es zu einem Gründungsboom lokaler Organisationen, die durch unterschiedliche Unterstützungsangebote versuchten, die Kapazitäten der Haushalte zu stärken und ihnen bei der Versorgung der Waisen zu helfen. Zugang zu ambulanten Hilfsprogrammen Der gleichmäßigen geografischen Verbreitung der Hilfsprojekte kommt im ambulanten Bereich, stärker als beispielsweise bei stationären Hilfsangeboten, eine besondere Bedeutung zu. Damit die Programme ihre Klienten regelmäßig und schnell erreichen, müssen sich die Organisationen in unmittelbarer Nähe zur Lebenswelt der Adressaten befinden. Nur eine gleichmäßige Verteilung im gesamten Land stellt sicher, dass alle bedürftigen Haushalte mit Waisen Zugang zu Hilfsangeboten erhalten. Eine solche einheitliche Distribution ambulanter Dienste existiert in Tansania bisher nicht.501 501
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 31.
230
4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Die Ergebnisse der Haushaltsbefragung 2003/04 zeigen die Diskrepanz zwischen urbanen und ländlichen Gebieten und zwischen einzelnen Regionen. In der Studie wurden Haushalte mit Waisen und mit Kindern, deren Eltern in den vergangenen zwölf Monaten für mindestens drei Monate sehr krank waren, gefragt, ob sie während der vergangenen zwölf Monate externe Unterstützung erhalten haben. Insgesamt profitierten nur 4-6% der betroffenen Haushalte von externer Unterstützung. Haushalte in ländlichen Gebieten leiden unter einer besonders starken Benachteiligung. Nur 4,2% der gefährdeten ländlichen Haushalte erhielten medizinische, emotionale oder materielle/praktische Unterstützung und nur 4% der Waisen im schulfähigen Alter bekamen schulbezogene Hilfe. In den Städten verfügten durchschnittlich 8,4% aller betroffenen Haushalte über medizinische, emotionale oder materielle/praktische Unterstützung und 10,3% der Waisen zwischen fünf und 17 Jahren kamen in den Genuss von externer Hilfe im Bildungsbereich. 502 Urbane Gebiete dienen den ambulanten Projekten, welche die Autorin im Rahmen ihres Forschungsaufenthaltes besuchte, in der Regel als Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Bedürftige Haushalte mit einem Wohnsitz in diesem Bereich verfügen häufig über die Wahl zwischen mehreren Hilfsorganisationen, und nur eine genaue Abstimmung der einzelnen Projekte verhindert, dass Familien mehrfach Unterstützung in Anspruch nehmen. Je weiter die Familien von den urbanen Zentren entfernt leben, desto geringer fallen ihre Chancen auf externe Unterstützung aus. „Wenn man weiter in die Dörfer geht, wissen einige Menschen nichts über Hilfe, nichts darüber, wie man Hilfe von Organisationen bekommt.“ (Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In manchen Gegenden fehlen Hilfsprogramme völlig und den verwaisten Kindern bleibt der Zugang zu externen Unterstützungsangeboten verwehrt. Der Vergleich einzelner Regionen zeigt noch gravierendere Differenzen. Diese stellt die Abbildung 67 anhand von materieller und praktischer Unterstützung beispielhaft dar. Während in einigen Gegenden Tansanias besonders viele Hilfsprojekte existieren, bleiben Familien in andere Regionen fast völlig von Unterstützungsangeboten ausgeschlossen. Beispielsweise erhielten in der Arusha Region 20% der bedürftigen Haushalte Unterstützung im medizinischen Bereich, 18% wurden emotionell unterstützt und 17% bekamen materielle/praktische Hilfe. Zusätzlich wurden 14% der Haushalte mit Waisen oder gefährdeten Kindern zwischen fünf und 17 Jahren im schulischen Bereich gefördert. In der Mara Region bekamen hingegen nur 1,1% der Haushalte Hilfe bei der medizinischen Versorgung, 2,3% der Haushalte erhielten praktische/materielle Unterstützung 502
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 16.
4.1 Ambulante Waisenhilfe
231
und 2,4% der Haushalte mit Kindern im schulfähigen Alter profitierten von Bildungsförderung. Keiner der befragten Haushalte berichtete von emotionellem Beistand.503 Abbildung 67: Die regionale Verteilung von externer materieller und praktischer Unterstützung für Haushalte mit OVC (vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 16)
Die Ursachen für die Ungleichverteilung ambulanter Hilfsangebote sind vielfältig. Die Hilfsorganisationen wollen sich in den abgelegenen Gebieten häufig nicht engagieren, da der organisatorische Aufwand zu groß ist und die Kosten für die Hilfe durch lange Transportwege, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten sowie einem höheren zeitlichen Aufwand steigen.504 Adolf Mrema von der Organisation Southern African AIDS Trust nannte der Autorin weitere Gründe für 503
Vgl. ebd., S. 16 Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 504
232
4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
das Stadt-Land-Gefälle. In den ländlichen Gebieten mangelt es an qualifizierten Personen, da gut ausgebildete Menschen in den Städten leben wollen. Der Mangel führt dazu, dass weniger Projekte gegründet werden und das Know-how in den Organisationen geringer ist. Darüber hinaus befinden sich auch die ausländischen Geldgeber in den Städten, so dass die Projekte dort besseren Zugang zu finanziellen Zuwendungen haben und sich schneller entwickeln können. 505 In der Regel profitiert nur eine Elite der Zivilgesellschaft, das heißt in den urbanen Gebieten angesiedelte NGOs von internationaler Unterstützung. Lokale Projekte, die in keiner Verbindung zu urbanen Gebieten stehen, haben nur geringe Chancen, von internationalen Geldern zu profitieren. Dem geringer qualifizierten Personal in lokalen Projekten auf dem Land fehlt in der Regel die Fähigkeit, Förderanträge so zu formulieren, dass sie den geforderten Standards der Geberorganisationen entsprechen.506 Zivilgesellschaftliches Engagement als organisatorisches Merkmal Das Maß, in dem die Organisationen auf das zivilgesellschaftliche Engagement der Gemeinde bauen, kennzeichnet die Differenzen der einzelnen Projekte hinsichtlich der Durchführung der Hilfe. Die Ziele der Organisationen gleichen sich in der Regel, doch die Wege, welche die Projekte gehen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen, weichen stark voneinander ab (Abb. 68). Je mehr die Organisationen personelle und materielle Ressourcen in der Gemeinde nutzen und je mehr sie Anregungen der Gemeinschaft aufgreifen und auf lokale Initiativen bauen, desto stärker entsprechen sie der internationalen Forderung nach community-based projects, das heißt Programmen, die auf dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Gesellschaft beruhen (Kap. 2.2.3).507 Ambulante Hilfsprogramme lassen sich häufig in die Kategorie der community-based projects einordnen, denn besonders in diesem Bereich stellt die Mitwirkung der Gemeinden eine wesentliche Voraussetzung für die Eignung und Funktionalität der Programme dar. Die meisten der im Rahmen der vorliegenden Arbeit besuchten Projekte wären ohne die Unterstützung und das Engagement der Menschen in ihrem Einzugsgebiet nicht in der Lage, ihre Arbeit im gegebenen Umfang aufrecht zu erhalten.
505
Vgl. Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. Haapanen (Hrsg.) 2007, S. 5 ff. 507 Vgl. Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 9; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 13; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 39. 506
4.1 Ambulante Waisenhilfe
233
Abbildung 68: Arbeitsweisen ambulanter Hilfsprogramme Das Beispiel einer angemessenen Unterkunft verdeutlicht im Folgenden die unterschiedlichen Vorgehensweisen, derer sich die verschiedenen Projekte bedienen, um letztendlich das gleiche Ziel zu erreichen: Bei den Projekten besteht Einigkeit darüber, dass Waisen in einer Unterkunft leben sollten, die ihnen Sicherheit und Schutz vor Witterungseinflüssen bietet. Einige Projekte, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, beauftragen einen lokalen Handwerker, der Ausbesserungen an der Unterkunft der Familie vornimmt oder ein neues Haus baut. Manchmal übernehmen ausländische Volontäre in einem Arbeitseinsatz den Neubau und sponsern das notwendige Material. Kleinere Organisationen mit geringem Budget mobilisieren die Gemeinde, indem sie beispielsweise eine Versammlung einberufen und das Problem erläutern. Gemeinsam sammeln die Menschen Geld, um die baulichen Maßnahmen zu finanzieren. Die Verantwortung verbleibt auf diese Weise in der Kommune und wird nicht von einer Organisation übernommen. Andere Projekte appellieren an die sozialen Netzwerke und Selbsthilfekräfte der Familie. Sie organisieren einen Arbeitseinsatz von Nachbarn, Freunden oder Familienangehörigen des Haushaltes und reparieren oder bauen die Unterkunft gemeinsam in traditioneller Bauweise. Verfolgen Organisationen das Ziel der Unabhängigkeit und Selbsttätigkeit der betroffenen Haushalte, gehen sie einen gänzlich anderen Weg. Mithilfe einkommenschaffender Programme versetzen sie die Familie langfristig in die Lage, für die Sicherstellung einer angemessenen Unterkunft selbstständig aufzukommen.
Nicht alle Hilfsprogramme im ambulanten Bereich können zu den communitybased projects gezählt werden. Einige Organisationen entstanden auf Initiative international tätiger Hilfsorganisationen oder engagierter Einzelpersonen und stützen sich kaum auf lokale Ressourcen. Sie finanzieren und organisieren ihre Programme vielmehr über ausländische Spendengelder. In einigen Fällen untergrub das Engagement die gemeinschaftliche Verantwortung (Abb. 69). Abbildung 69: Ausländische Unterstützung als Hemmnis für zivilgesellschaftliches Engagement Die Organisation Society for orphan care and HIV/AIDS control in Bagamoyo entstand auf Initiative von acht Bürgern, die mit eigenen Mittel Waisen in ihrer Stadt helfen wollten. Menschen aus der Gemeinde schlossen sich bald der Initiative an und gaben Spenden, beispielsweise Maismehl, für die Waisen. Dieser entschlossene Einsatz von der Gemeinde weckte das Interesse der Organisation CARE International, die eine zeitlich begrenzte Finanzierung bewilligte. Mit Hilfe der finanziellen Unterstützung baute die Organisation vielfältige Programme auf, doch die Gemeindemitglieder zogen sich aus der Arbeit des Projekts immer mehr zurück. „Die meisten von ihnen [der Bevölkerung] denken, dass die, welche diese nichtstaatlichen Organisationen haben, viel Geld aus dem Ausland bekommen. Und sie denken, dass wir ihre Hilfe nicht mehr benötigen, obwohl sie früher versucht haben, uns zu helfen.“ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mit dem Auslaufen der Förderung wurde die Problematik deutlich, denn ohne die ausländische Unterstützung und das Engagement der Bevölkerung musste ein großer Teil der Programme eingestellt werden. „Dann war die Zeit von CARE International vorbei. Jetzt haben wir kein Geld, wir können die Kinder in vielen Aktivitäten nicht mehr unterstützen.“ (Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
234
4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Ein wichtiges organisatorisches Merkmal ambulanter Waisenprojekte besteht im Einsatz lokaler Volontäre. Alle (n = 22) ambulanten Organisationen, welche die Autorin zu diesem Sachverhalt befragte, gaben an, auf ehrenamtliches Engagement lokaler Arbeitskräfte zu bauen. Der wichtigste Aufgabenbereich, den einheimische Volontäre abdecken, liegt in der direkten Arbeit mit den Waisen. Der Einzugsbereich einer Organisation umfasst häufig ein zu großes Gebiet, um einen regelmäßigen Kontakt zwischen Klienten und Mitarbeitern zu gewährleisten. Viele Organisationen, die nur wenige oder gar keine fest angestellten Mitarbeiter beschäftigen, wären mit der Fülle der Anfragen und dem Beratungsbedarf überfordert. Den Waisen und ihren Betreuern fehlt auf der anderen Seite häufig das Geld, die Zeit oder die Möglichkeit, das zentrale Büro einer Organisation aufzusuchen. Um diese Lücke zu füllen, werben die Organisationen in den Dörfern und Wohnvierteln Volontäre an. Die freiwilligen Helfer leben in der Regel in ihrem Einsatzgebiet und kennen somit alle Einwohner sowie die spezifischen Problemlagen. Ihnen kommt unter anderem die Aufgabe zu, neue Waisen zu registrieren und den Kontakt zu den betroffenen Kindern zu halten. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Unterstützung bildet das langfristige Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Würde der Ansprechpartner der Familien wiederholt wechseln, könnte keine Arbeitsbeziehung entstehen und die Familien wüssten in einer Notsituation vielleicht nicht, an wen sie sich wenden sollen. Andere Bereiche, die langfristiges Engagement erfordern, sind beispielsweise die Organisation und Gestaltung von regelmäßigen Treffen für Kinder, die Übernahme administrativer Aufgaben in der Organisation oder die Aufklärungsarbeit zur Prävention von AIDS. Während der regelmäßige Einsatz von Freiwilligen den Fortbestand von Programmen der Organisation sichert, lassen sich einmalige Arbeitseinsätze nutzen, um Ad-hoc-Aktionen durchzuführen und größere Aufgaben zu bewältigen. Bei Personen, die sich nicht langfristig an die Organisation binden wollen, aber trotzdem an einer Mitarbeit Interesse zeigen, besteht möglicherweise die Bereitschaft, ihr Wissen und ihre Arbeitskraft für die Ausbesserung von Wohngebäuden von Haushalten mit Waisen, für Ernteeinsätze oder für die Weiterbildungen von Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen. Die von der Autorin besuchten Projekte im ambulanten Bereich nutzten in ihrer Arbeit langfristiges Engagement von Volontären bedeutend stärker als einmalige Hilfseinsätze. 4.1.2 Charakteristika und Erscheinungsformen Abhängig von den Ressourcen und der Ausrichtung der Organisationen differiert das von ihnen geleistete Hilfsangebot. Es lassen sich fünf Kategorien sozialer
235
4.1 Ambulante Waisenhilfe
Leistungen unterscheiden: Bildungsförderung, medizinische Unterstützung, psychosozialer Beistand, materielle und praktische Hilfe und Programme zur Einkommenssteigerung (Abb. 70). Abbildung 70: Ambulante Waisenhilfe
AMBULANTE WAISENHILFE
Bildungsförderung
Medizinische Unterstützung
Psychosozialer Beistand
Materielle und praktische Hilfe
Programme zur Einkommenssteigerung
- Materialen - Uniformen - Stipendien - Nachhilfe - Schulspeisung - Ausstattung für Internatsschüler - Transportkosten - Ausbildungsangebote -…
- HIVPrävention - Familienplanung - Medikamente - Moskitonetze - medizinische Behandlungen - Krankentransporte - Pflegesets für HIV-infizierte Waisen -…
- Hausbesuche - Erziehungsberatung - Mediation - Krisenintervention - Seminare für Betreuer - Freizeitpädagogische Gruppenangebote - Therapeutische Trauerbegleitung -…
- Nahrungsmittel - Hilfe in der Landwirtschaft - Geldtransfer - Kleidung und Schuhe - Hausbauprogramme und Reparaturen - Haushaltsgegenstände -Rechtsberatung -…
- Spargruppen - Kredite - Start-Sets für Kleinsthandel und landwirtschaftliche Projekte - Seminare im Bereich Mikro-ökonomie - Betreuungsangebote für Vorschulkinder -…
Die Angebote der einzelnen Organisationen in den jeweiligen Kategorien variieren sehr stark und nicht alle Organisationen decken alle Bereiche ab. Die Autorin besuchte während ihres Forschungsaufenthaltes in Tansania beispielsweise Projekte, die sich allein im Bereich Bildungsförderung engagieren und sich dabei ausschließlich auf materielle Unterstützung für verwaiste Kinder im Primarschulalter konzentrieren. Andere Organisationen leisten Unterstützung in allen fünf Bereichen und bieten mit Hilfe ihrer differenzierten Angebotspalette individualisierte Hilfsmaßnahmen an, die den jeweiligen Problemen der einzelnen Haushalte entsprechen. Abhängig von der Differenzierung der Angebotspalette
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
zeigen die Organisationen massive Unterschiede in der Qualität und Quantität ihrer Arbeit. Die Abbildung 71 gibt einen Überblick über unterschiedliche Maßnahmen und dem Umfang, in dem sie in verschiedenen Organisationen zur Anwendung kommen. Bei der Befragung von 19 ambulanten Hilfsprojekten für Waisen durch die Autorin zeigte sich deutlich, dass besonders die direkte Bildungsförderung im Primarbereich und die HIV-Prävention Priorität erhalten. Gefolgt werden diese Maßnahmen von Aktivitäten im psychosozialen Bereich, beispielsweise freizeitpädagogische Aktivitäten. Mehr als die Hälfte der Organisationen leisten auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel durch Krankenversicherungen, Nahrungsmittelhilfen oder Kleiderspenden, Unterstützung bei der Sicherstellung der Grundversorgung von Waisen. Allerdings nutzen nur 47% der befragten Hilfsprogramme einkommenssteigernde Maßnahmen, um die wirtschaftlichen Kapazitäten der Haushalte nachhaltig zu stärken. Die Unterstützungsform, die am seltensten zur Anwendung kommt, ist der direkte Geldtransfer. Abbildung 71: Hilfsangebote ambulanter Waisenprogramme
Aufgrund der Vielfalt der möglichen Hilfsangebote und den Differenzen in der Vorgehensweise ist es im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, alle Maßnahmen zu porträtieren und detailliert darzustellen. Das folgende Kapitel gibt aus diesem Grund ausschließlich einen Einblick in die fünf Interventionsbe-
4.1 Ambulante Waisenhilfe
237
reiche, in denen ambulante Organisationen Unterstützung leisten, und stellt einige wesentliche Maßnahmen vor. Bildungsförderung Bildungsförderung sehen viele Hilfsorganisationen als die Maßnahme an, welche das größte Potenzial für eine positive und nachhaltige Wirkung birgt. Bildung kann, neben der Eröffnung von Zukunftsperspektiven, Kindern neue Hoffnung geben, zu ihrer sozialen Integration beitragen und ihnen helfen, die Trauer zu überwinden. Obwohl auch der Staat einzelne Stipendienprogramme unterhält, leisten nichtstaatliche Organisationen in Tansania den größten Beitrag zur Unterstützung von Waisen im Bildungsbereich.508 Ambulante Hilfsprogramme für Waisen streben in der Regel die Integration der betreuten Kinder in das öffentliche Schulsystem an. Priorität erhält zuallererst der Besuch der Primarschule, um den Kindern eine Grundausbildung zu sichern. Einige Organisationen finanzieren Privatstunden oder bieten eigenen Nachhilfeunterricht, um die Chancen der Primarschüler auf ein Bestehen der Abschlussprüfung PSLE, die über die Aufnahme an Sekundarschulen entscheidet, zu erhöhen (Abb. 72). Abhängig von den Ressourcen der Projekte umfasst die Bildungsförderung die Übernahme sämtlicher Kosten für Schulgebühren, Material und Uniform auf allen Bildungsstufen. Abbildung 72: Nachhilfeunterricht für verwaiste Kinder
508
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) o. J., S. 77.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Ein Teil der Projekte setzen Verträge auf, die genau festhalten, für welche Leistungen die Organisation aufkommt, beispielsweise Schuluniform und Schulgebühren, welche Aufgaben der Betreuer übernimmt, beispielsweise Kontrolle der Schularbeiten und Kauf von Schulmaterial, und welche Erwartungen an das jeweilige Kind gestellt werden, beispielsweise der regelmäßige Schulbesuch. Der verpflichtende Charakter eines solchen Vertragswerkes bildet die Grundlage für die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Parteien. Um die Einhaltung der Vereinbarungen zu überwachen und sich über den schulischen Werdegang zu informieren, gehen einige Projekte eine enge Kooperation mit den Schulen ein. Die Lehrer berichten in regelmäßigen Treffen oder schriftlichen Beurteilungen über die Leistungen der geförderten Kinder, aber auch über Auffälligkeiten hinsichtlich des Verhaltens, des Erscheinungsbildes oder des familiären Hintergrundes. Diese Berichte geben den Organisationen Informationen über das Wohlbefinden und die schulische Entwicklung des Kindes. Auf dieser Grundlage lassen sich gemeinsam mit der Familie weitere Maßnahmen, sowohl in der Bildung als auch in anderen Lebensbereichen, planen. Medizinische Unterstützung Die medizinische Unterstützung von Haushalten mit Waisen beschränkt sich nicht ausschließlich auf die betroffenen Kinder, sondern umfasst häufig auch die Betreuer. Die Hilfsorganisationen haben ein begründetes Interesse daran, die Gesundheit der Bezugspersonen der Kinder zu bewahren, um die familiäre Desintegration abzuwenden. Die medizinische Versorgung kranker oder alter Betreuer sichert den Erhalt des familiären Sicherungsnetzes. Die Behandlung der Angehörigen ermöglicht somit den Verbleib der Kinder im Haushalt und schützt sie vor wiederholten Verlusterfahrungen. Dies erspart auch den Organisationen langfristig Kosten, welche für die Versorgung der Kinder beim Ausfall der Betreuungspersonen entstehen. Die medizinische Versorgung der Waisen (Kap. 3.1.4) leidet zum einen unter fehlendem Gesundheitswissen der Betreuer und zum anderen unter den unzureichenden Möglichkeiten, Angebote im Gesundheitsbereich in Anspruch zu nehmen. Ambulante Projekte begegnen diesen Schwierigkeiten im medizinischen Bereich auf unterschiedliche Weise. Im kurativen Bereich kommen sie für die Kosten der medizinischen Versorgung auf, indem sie Medikamente, Behandlungsgebühren und Transportkosten zur nächsten Gesundheitseinrichtung bezahlen. Zu diesem Zweck gehen einige Projekte Kooperationen mit den medizinischen Einrichtungen in ihrem Einzugsbereich ein. Sie registrieren die Kinder, die sie in ihren Programmen betreuen, bei den Krankenhäusern und Gesundheitssta-
4.1 Ambulante Waisenhilfe
239
tionen und sichern ihnen somit die Behandlung. Im Bedarfsfall suchen die Betreuer mit den Kindern die für sie zuständige Einrichtung auf und erhalten die notwendige Behandlung. Die Kosten der Versorgung rechnen die Krankenhäuser und Gesundheitsstationen in regelmäßigen Abständen mit den Projekten ab. Andere Hilfsprogramme, die diese Form der Kooperation nicht etabliert haben, bewerten jeden Einzelfall neu. Betreuer, die für die medizinische Versorgung der bei ihnen lebenden Waisen nicht aufkommen können, müssen sich bei medizinischen Notfällen oder Erkrankungen zuerst an die Organisation wenden. Mitarbeiter der Organisation begleiten die Betroffenen zur medizinischen Einrichtung oder bieten eine eigene medizinische Versorgung an. Neben kurativen Maßnahmen nutzen die Projekte Prävention, um Erkrankungen vorzubeugen und die Gesundheit der Kinder zu erhalten. In Seminaren und Beratungsgesprächen klären Mitarbeiter der Organisationen die Betreuer der Waisen über wesentliche Hygienemaßnahmen auf, geben altersentsprechende Ernährungshinweise, berichten von der Bedeutung von Impfungen und unterweisen sie in Möglichkeiten der Ersten Hilfe. Weitere Schritte der präventiven Gesundheitsfürsorge umfassen die Bereitstellung von Moskitonetzen, um die Infektion mit Malaria zu verhindern, oder die Sicherstellung einer ausreichenden Ernährung durch Nahrungsmittelspenden oder Nahrungszusätze. Unterstützung für HIV-infizierte Kinder Im Gesundheitsbereich stellen besonders HIV-infizierte Kinder eine spezielle Zielgruppe der Hilfe dar, da sie einen hohen medizinischen Bedarf aufweisen und eine spezifische Ernährung und gegebenenfalls Pflege benötigen. Auch hier setzen die Organisationen bereits im präventiven Bereich an und nutzen verschiedene Möglichkeiten der HIV-Prävention (Abb. 73). Kinder und Jugendliche in den Programmen, aber auch die Bevölkerung im Allgemeinen, werden über die Übertragungswege, Schutzmaßnahmen, Folgen und Behandlungsmöglichkeiten einer HIV-Infektion aufgeklärt. Diese Maßnahmen zielen auf die Reduzierung von Neuinfektionen und Neuverwaisungen sowie auf die Wahrnehmung von PMTCT-Programmen.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Abbildung 73: HIV-Präventionstheater
Einige Kinder kommen bereits mit dem HI-Virus auf die Welt und präventive Maßnahmen greifen nicht mehr. In diesen Fällen steht die Versorgung und Behandlung im Vordergrund. Programme der häuslichen Krankenpflege leisten eine wichtige Hilfe bei der Pflege der Kinder und der Beratung ihrer Betreuer. Häufig fehlt es den Betreuern an Wissen über die Krankheit, notwendige Vorkehrungen zum eigenen Schutz und Möglichkeiten der kostenlosen Behandlung. Um die Familien in die Lage zu versetzen, die kostenfreie medizinische Versorgung in den staatlichen Einrichtungen wahrzunehmen, kann es sich als notwendig erweisen, Transportkosten zu übernehmen oder die betroffenen Kinder zu begleiten. Manche Organisationen geben auch Medikamente aus und helfen mit Nahrungsergänzungsmittel bzw. Nahrungsmittelspenden, die dem erhöhten Energiebedarf der infizierten Kinder Rechnung tragen. Eine solche Unterstützung muss in enger Abstimmung mit dem behandelnden Arzt erfolgen. Die materiellen und medizinischen Hilfsangebote für HIV-infizierte Kinder sollten von psychosozialen Interventionen begleitet werden, die den betroffenen Kindern eine Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit ermöglichen. Einige Organisationen bereiten Kinder, bei denen ein Verdacht auf eine HIV-Infektion besteht, in Gesprächen behutsam auf einen notwendigen HIV-Test vor. Ebenso vorsichtig begleiten Mitarbeiter, entsprechend der unterschiedlichen Altersstufen der Heranwachsenden, die Übermittlung des Test-Ergebnisses. Das Wissen mit HIV infiziert zu sein, löst bei den betroffenen Kindern und ihren Betreuern eine Reihe von negativen Assoziationen und Ängsten aus. Viele infizierte Kinder haben vielfältige Erfahrungen mit dem Tod gemacht und erlebten, wie enge Angehörige, beispielsweise Vater, Mutter und Geschwister, in kurzen Abständen
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starben. Therapeutische Gespräche, freizeitpädagogische Angebote und verschiedene Formen der Erinnerungsarbeit gestatten den Kindern einen aktiven Umgang mit der Trauer und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Neben der Arbeit mit den Kindern bieten einige Organisationen Beratungsangebote für Betreuer an. Die Pflege und Sterbebegleitung eines HIV-infizierten Kindes stellt nicht nur eine große finanzielle, körperliche und zeitliche, sondern vor allem auch eine psychische Belastung dar. Die Betreuer benötigen Hilfe beim Umgang mit diesen vielfältigen Schwierigkeiten, um eine angemessene Versorgung der Kinder zu gewährleisten. Insgesamt bieten bisher nur wenige Hilfsprogramme psychosoziale Angebote, die auf die speziellen Probleme HIVinfizierter Heranwachsender abgestimmt sind. Psychosozialer Beistand Psychosoziale Unterstützung bedeutet die Befriedigung physischer, emotionaler, sozialer, spiritueller und mentaler Bedürfnisse von Kindern in einem langfristigen und andauernden Prozess.509 Waisen haben vielfältige psychosoziale Bedürfnisse, die sich teilweise von denen der Nichtwaisen unterscheiden (Kap. 3.2). Psychosozialer Beistand bildet keinen genau definierten Interventionsbereich, der fest umrissene Maßnahmen beinhaltet. Vielmehr unterliegt das Engagement ambulanter Hilfsprogramme im psychosozialen Bereich einem weiten Interpretationsspielraum. Manche Projekte beurteilen Gespräche zwischen Mitarbeitern und Kindern als psychosozialen Beistand, andere bieten therapeutische Gruppenangebote als psychosoziale Hilfe. Beides lässt sich als Beitrag zum emotionellen Wohlbefinden der Kinder werten, der zur Normalisierung ihres Alltags beiträgt und ihnen erlaubt, in die Zukunft zu schauen. In diesem Sinne entsprechen viele unterschiedliche Maßnahmen dem Ziel psychosozialer Aktivitäten und können als solche eingeordnet werden. Alle Mitarbeiter einer Waisenorganisation, das heißt sowohl Volontäre als auch festangestellte Arbeitskräfte, die im direkten Kontakt mit den betreuten Kindern und Familien stehen, erfüllen eine Rolle im psychosozialen Bereich. Der zwischenmenschliche Kontakt, selbst wenn er primär anderen Zielen dient, muss immer die psychosozialen Bedürfnisse der Klienten im Fokus behalten. Beispielsweise lassen sich gemeinsame Arzttermine oder die Übergabe von Schuluniformen nutzen, um ein Vertrauensverhältnis zwischen Mitarbeitern und Kindern zu schaffen, das Wohlbefinden der Kinder zu stärken und ihnen Zuver509 Vgl. Kayombo, Mbwambo und Massila in Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine, 2005/1:3, o. S.
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sicht für die Zukunft zu vermitteln. Der Zuwendung durch die Mitarbeiter und das Interesse, das sie an den Kindern zeigen, kommt eine ebenso wichtige Bedeutung zu wie der materiellen Unterstützung. Die Organisationen bieten den verwaisten Heranwachsenden einen sicheren Schutzraum und die Kinder in den Programmen entwickeln häufig eine große Zuneigung zu den Mitarbeitern: „Sie vermissen die elterliche Liebe und dann, zum Beispiel wenn sie hierher kommen, wenn sie die Mitarbeiter treffen, die sehr freundlich sind, mit ihnen sprechen, ihnen Dinge erklären, dann mögen sie es sehr, zu diesem Ort zu kommen. Denn sie sehen, wenn sie hierher kommen, dass sich um sie gekümmert wird, dass es jemanden gibt, der zumindest versteht, dass sie Liebe brauchen.“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Organisationen setzen neben den regulären Mitarbeitern weitere Personen ein, die Aufgaben im psychosozialen Bereich übernehmen. Auswärtige Fachkräfte eignen sich zur Beseitigung von Kompetenzlücken in der Organisation. Sie können die Leitung von speziellen Seminaren für Waisen und deren Betreuer übernehmen, therapeutische Beratung leisten oder die Mitarbeiter weiterbilden. Daneben entdecken einige Projekte die Waisen als Ressource im psychosozialen Bereich. Peerberatung von Waisen für Waisen hilft den betroffenen Kindern, sich zu öffnen, und bietet den beratenden Kindern eine Möglichkeit, selbst aktiv zu werden und nicht in Passivität zu verharren. Die psychosoziale Unterstützung für verwaiste Kinder besteht aus drei großen Interventionsbereichen, der Trauerbegleitung, der Integrationsförderung und der Familienberatung. Die Maßnahmen in den einzelnen Bereichen überschneiden sich teilweise und dienen häufig mehreren Zielen. Beispielsweise helfen Gruppenangebote für Waisen und Nichtwaisen bei der Bearbeitung der Trauer und wirken sich gleichzeitig positiv auf die Integration aus. Sie bieten darüber hinaus Gesprächsangebote bei innerfamiliären Problemen, die helfen, Schwierigkeiten der Kinder zu identifizieren und Maßnahmen zur Bearbeitung dieser Probleme einzuleiten. „Jeden Monat haben wir psychosoziale Treffen für die Kinder. Sie spielen, sie erhalten Beratung, und wenn sie Probleme haben, gehen sie zur Krankenschwester. Die Krankenschwestern gehen, wenn möglich selbst [zu den Kindern], um zu sehen, was bei ihnen Zuhause los ist. Also sie versuchen, die Dinge zu klären, die geklärt werden können.“ (Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Der folgende Abschnitt stellt Angebote der ambulanten Hilfsprogramme in den drei genannten Bereichen vor. Die Trauerbegleitung beginnt im Kleinen, beispielsweise in Gesprächen während der Hausbesuche, und kann bis zur professionellen therapeutischen Betreuung reichen. Über ein solches therapeutisches Angebot verfügen bisher nur die wenigsten Projekte. Dennoch versuchen die meisten Organisationen, die
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Kinder mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen und mit ihnen über den erlebten Verlust zu sprechen. Besonders geeignet erwiesen sich zu diesem Zweck regelmäßige Gruppenangebote, in denen Kinder mit vergleichbaren Erfahrungen zusammenkommen. Manche Gruppen beschränken die Teilnahme ausschließlich auf Waisen, da die Kinder in der Gemeinschaft von anderen Waisen Verständnis und Geborgenheit finden. Andere Organisationen öffnen die Angebote auch für Nichtwaisen. Sie folgen der Gewissheit, dass kaum ein Kind in Tansania von den Folgen von Tod und Krankheit in der Verwandtschaft und im Freundeskreis verschont blieb und daher sowohl den Bedarf für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben hat als auch über ausreichend Empathie verfügt. Eine Methode, die einige Projekte zur Trauerbegleitung in Kindergruppen einsetzen, besteht in der Erinnerungsarbeit (Kap. 5.2.4). Die Gestaltung von Erinnerungsbücher oder –kisten, die Geschichten über die verstorbenen Eltern und weitere Familienmitglieder enthalten und mit kleinen Andenken, beispielsweise Fotos, geschmückt werden, bieten einen Anstoß, sich mit dem Tod der Eltern auseinanderzusetzen. Sie liefern darüber hinaus einen Anlass, mit anderen Familienangehörigen über die Verstorbenen ins Gespräch zu kommen und können auf diese Weise die innerfamiliäre Kommunikation stärken und die Beziehungen in der Familie verbessern. Der zweite Bereich der psychosozialen Unterstützung, die Integrationsförderung, dient dem Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung. Um dies zu erreichen, sind Interventionen auf mehreren Ebenen notwendig. Zum einen sensibilisieren die Projekte das soziale Umfeld der Kinder, beispielsweise die Bevölkerung, Betreuer und Lehrer, für die Bedürfnisse und Probleme von Waisen und zum andern fördern freizeitpädagogische Angebote die Kontakte von Waisen und Nichtwaisen. Auf der ersten Ebene nutzen die Organisationen verschiedenste Methoden, beispielsweise Seminare oder Theatervorführungen, um die Menschen zu erreichen und aufzuklären. Obwohl die Familien und die Bevölkerung Verständnis für die materiellen Bedürfnisse der verwaisten Kinder zeigen, fehlt häufig die Einsicht in die psychosozialen Folgen der Verwaisung. Die spezifischen Bedürfnisse von Waisen, Möglichkeiten der familiären und gesellschaftlichen Integration und der Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung bilden grundlegende Themen in den Aufklärungs- und Weiterbildungsaktivitäten der Projekte. Auf der Ebene der Kinder setzen die Organisationen in erster Linie freizeitpädagogische Aktivitäten ein, die ein Zusammenkommen von Waisen und Nichtwaisen fördern und die gegenseitige Akzeptanz und Unterstützung stärken (Abb. 74).
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Abbildung 74: Freizeitpädagogische Angebote
Die Familienberatung zielt auf die Stärkung der innerfamiliären Beziehungen. Dazu gehören je nach Situation die Begleitung der Eingliederung des Kindes in seine neue Umgebung, das Aufzeigen von geeigneten Möglichkeiten der Konfliktlösung und die Vermittlung von Erziehungskompetenzen. Familienberatung wirkt einerseits präventiv, da sie zur Verhinderung der Desintegration von Haushalten mit Waisen beiträgt. Sie kommt andererseits aber auch in Krisensituationen zur Anwendung und hilft bei der Vermittlung in Konflikten zwischen Kindern und Betreuern oder anderen familiären Parteien. Hausbesuche, Seminare und regelmäßige Treffen von Betreuern gehören zu den Maßnahmen, die sich in diesem Bereich durchsetzen konnten. Zum einen versuchen die Mitarbeiter der Projekte, die Betreuer mit den Angeboten zu erreichen, um sie für die Bedürfnisse der Kinder zu sensibilisieren und sie mit praktischen Fertigkeiten zur Gestaltung der neuen familiären Situation auszustatten; zum anderen sprechen sie mit den Angeboten die Kinder an, um sie an ihre Pflichten innerhalb der Familie zu erinnern und tiefer liegende Probleme von Konflikten zu bearbeiten. Materielle und praktische Hilfe In der Grundversorgung benötigen Haushalte mit Waisen entsprechend ihrer eigenen wirtschaftlichen Kapazitäten materielle und praktische Unterstützung in verschiedenen Bereichen. Vor allem in Kinderhaushalten und in Haushalten mit
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sehr alten oder kranken Haushaltsvorständen besteht aufgrund der eingeschränkten Arbeitskraft ein Bedarf für externe Unterstützung. Materielle Hilfe umfasst zum Beispiel Nahrungsmittelpakete, Kleiderspenden und Baumaterial; praktische Hilfe kann bei der Bewirtschaftung von Feldern, bei der Beratung in Rechtsangelegenheiten oder bei der Ausbesserung des Hauses zum Einsatz kommen. Da die materielle und praktische Hilfe oft ähnliche Ziele verfolgt, beispielsweise die Sicherung der Ernährung, und eine Differenzierung zwischen beiden Hilfearten sich nicht immer als praktikable erweist, werden sie im Folgenden gemeinsam dargestellt. Die Beschreibung differenziert entsprechend der Zielstellung zwischen Ernährungssicherung, Unterkunft und Ausstattung sowie Kleidung. Ernährung ist eines der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse. Eine mangelhafte Ernährung wirkt sich auf den Gesundheitszustand, die körperliche Entwicklung, die schulischen Leistungen und das allgemeine Wohlbefinden von Kindern aus. Um die Ernährung der Kinder sicherzustellen, verteilen Projekte Lebensmittelspenden an Familien mit Waisen oder laden Kinder regelmäßig im Rahmen von freizeitpädagogischen Angeboten zu einer Mahlzeit ein. Für Familien, die auf eigenes Land zurückgreifen können, aber nicht über die körperlichen Kräfte oder das notwendige Wissen verfügen, organisieren einige Organisationen Arbeitseinsätze, in denen Volontäre gemeinsam mit den Haushaltsmitgliedern das Land bestellen oder die Ernte einbringen. Manchmal lassen sich auch Bildungsangebote nutzen, um die bedürftigen Kinder direkt zu erreichen. Die Organisationen stellen sicher, dass die Kinder an der Schulspeisung teilnehmen, oder sie richten Kindergärten ein und versorgen die Kleinsten in diesen Einrichtungen mit einem nahrhaften Essen. Die Unterkunft einzelner Haushalte wird immer wieder zu einem Thema in den Projekten. Eine sichere und solide Unterkunft bietet den Familien nicht nur Schutz vor Witterungseinflüssen und äußeren Bedrohungen, sondern stellt auch einen wichtigen symbolischen Schutzraum dar (Kap. 3.1.2). Eine Unterkunft, das heißt eine Lehmhütte auf dem Land oder ein gemietetes Zimmer im urbanen Umfeld, bedeutet für die Kinder Zuhause, Zuflucht und Zentrum des familiären Lebens. Der Verlust des Wohnraums führt nicht selten zur Trennung der Haushaltsmitglieder, zu einem Leben in Obdachlosigkeit oder zur Unterbringung in stationären Betreuungseinrichtungen. Aus diesem Grund besteht in der Sicherstellung einer angemessenen Unterkunft ein wesentlicher Beitrag zum Erhalt der familiären Einheit und Autonomie. Eine Gefährdung des Wohnraums geht unter anderem von ungeklärten Besitzansprüchen aus. Organisationen intervenieren bereits auf präventiver Ebene, indem sie kranke Eltern bei der Formulierung eines Testamentes unterstützen, welches die Erbansprüche ihrer Kinder sicherstellt. Kommt es nach dem Tod zu Erbstreitigkeiten, vermitteln Mitarbeiter der
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Projekte zwischen den zerstrittenen Parteien. Sie nutzen zu diesem Zweck auch anerkannte lokale Autoritätspersonen, beispielsweise Dorfvorsteher oder Geistliche. Gemeinsam mit allen Beteiligten treffen die Mitarbeiter eine Vereinbarung, deren Einhaltung lokale Mittelsmänner überwachen. Lässt sich kein gemeinsamer Kompromiss finden, übernehmen einige Projekte die Kosten für einen Rechtsbeistand und helfen den Kindern und Witwen auf diese Weise, ihre Ansprüche durchzusetzen. In manchen Fällen geht es weniger um die rechtliche Sicherung der Unterkunft als vielmehr um den baulichen Erhalt. Organisation mit ausreichenden Ressourcen bessern vorhandene Unterkünfte aus oder bauen neue Häuser. Bei der Entscheidung für einen Neubau müssen die Verantwortlichen zwischen der traditionellen Bauweise mit Lehm, Holz, Bambus und Gras und dem modernen Hausbau mit industriellen Materialien, wie Beton oder Wellblech, wählen. Die traditionelle Art des Bauens verfügt über einen deutlichen Preisvorteil gegenüber der modernen Bauweise. Andererseits besteht bei einem traditionellen Haus ein ständiger Bedarf an Ausbesserungen und Erneuerungen, so dass ein modernes Haus eine dauerhaftere Lösung darstellt (Abb. 75). In urbanen Gebieten leisten Organisationen Unterstützung im Bereich Wohnraumsicherung, indem sie den Familien helfen, für die Miete aufzukommen. Dies erreichen die Projekte sowohl durch die Kostenübernahme als auch über Programme zur Einkommenssteigerung. Abbildung 75: Alte und neu gebaute Unterkunft für einen Haushalt mit Waisen
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Neben der Qualität der Unterkunft leiden Haushalte mit Waisen auch unter einer unzureichenden Ausstattung. In vielen Familien fehlen wesentliche Haushaltsgegenstände, wie Kochgeschirr, Matratzen, Petroleumlampen oder Möbel. Nur wenige Organisationen leisten direkte Hilfe bei der Ausstattung. Diese versorgen die Haushalte mit dringend notwendigen Gegenständen, wie Decken zum Schutz vor der Kälte oder Petroleumlampen, die den Kindern am Abend das Lernen ermöglichen. Statt direkten Leistungen versuchen einige Organisationen, die bedürftigen Familien in Programme zur Einkommenssteigerung einzubinden, um sie zu befähigen, nach und nach den Haushalt entsprechend ihrer Bedürfnisse auszustatten. Ein Mangel an angemessener Kleidung birgt die Gefahr von Stigmatisierung und Diskriminierung (Kap. 3.1.2). Einige Organisationen sammeln in den Kommunen, bei lokalen Händlern oder bei ausländischen Spendern SecondhandKleidung. Die Sachen geben sie an bedürftige Kinder weiter. Der Gebrauch von Secondhand-Kleidung ist in Tansania weit verbreitet, so dass die Ausstattung der Kinder mit gebrauchter Kleidung kein Stigma darstellt. Neue Kleidung, in der Regel maßgeschneiderte Kleider für Mädchen und Hemden und Hosen für Jungen, leisten sich die meisten Menschen in Tansania nur zu besonderen Festen. Die Zahl der Organisationen, die über die finanziellen Mittel verfügen, Kinder mit neuer Kleidung auszustatten, bildet eine Minderheit in der Gesamtheit der Projekte. In der Regel gelingt es nur Organisationen mit eigenen Schneiderwerkstätten, die zusätzlich zur Ausbildung von Waisen und anderen jungen Menschen dienen, Kindern an besonderen Festtagen neuwertige Kleidung zu schenken. Programme zur Einkommenssteigerung Statt Haushalte mit Waisen durch materielle Hilfe zu unterstützen, sie im Bereich Bildung zu fördern und für ihre medizinische Versorgung aufzukommen, entscheiden sich einige Organisationen, die wirtschaftlichen Kapazitäten des Haushaltes durch Hilfe zur Einkommenssteigerung so zu stärken, dass die Menschen selber für anfallende Ausgaben aufkommen können. Dieses Ziel lässt sich auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Die Gründung von Spargruppen, die Vergabe von Krediten und die Bereitstellung von Tieren oder Saatgut sind nur einige Möglichkeiten, die Haushalte mit Waisen langfristig in die Lage versetzen können, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen (Abb. 76).
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Abbildung 76: Meerschweinchenzucht als einkommenschaffende Maßnahme
Organisationen scheuen sich häufig, einkommenssteigernde Projekte anzubieten, da sie einen hohen finanziellen Aufwand befürchten. Die Anfangsinvestitionen für Maßnahmen zur Einkommenssteigerung hängen allerdings stark von dem gewählten Programm ab und in vielen Bereichen besteht die Möglichkeit, durch einmalige Ausgaben einen Hilfekreislauf in Gang zu setzen oder Projekte ohne einen finanziellen Input zu starten. Einkommensprojekte, die von der Organisation einen finanziellen oder materiellen Input fordern, umfassen beispielsweise Kreditprogramme. Die Organisation stellt den Familien ein Startkapital zur Verfügung. Mit dem Geld bauen die Betreuer, aber auch jugendliche Waisen, kleine Geschäfte auf oder kaufen sich eine Grundausrüstung zur Ausübung eines Handwerks. Mit Tieren oder Saatgut lässt sich einerseits eine Verbesserung in der Versorgung der Haushaltsmitglieder erzielen; andererseits kann der Haushalt überschüssige Ernteerträge, gezüchtete Tiere oder tierische Produkte weiterverkaufen und dadurch Geld für alltägliche Ausgaben erwirtschaften. Tilgungsvereinbarungen mit den Klienten helfen den Organisationen, ihre Ausgaben gering zu halten und die Nachhaltigkeit der Programme zu sichern. Die Abzahlung von
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Krediten oder die Rückgabe des ersten Jungtieres an die Organisation ermöglicht die Aufrechterhaltung des Hilfekreislaufes. Andere Maßnahmen, wie Spargruppen oder Rotationssysteme, benötigen keine Investitionen durch die Organisation und eigenen sich aus diesem Grund besonders für kleine Projekte. Den finanziellen Input leisten die Mitglieder der Gruppen selbst, denn zu jedem Treffen tragen sie etwas zur Kasse bei. Abhängig von der konzeptuellen Ausrichtung erhalten ein oder zwei Gruppenmitglieder das eingenommene Geld am selben Tag ausgezahlt oder die Mitglieder erwerben mit regelmäßigen Zahlungen das Recht, einen bestimmten Betrag aus einer gemeinsamen Kasse zu bekommen. Das Konzept beruht auf der Erkenntnis, dass die Menschen kleine finanzielle Beträge aufbringen können, sie aber wenige Möglichkeiten besitzen, das Einkommen für größere Investitionen zu sparen. Die Aufgabe der Organisation liegt bei diesen Systemen vor allem in der Überwachung der Gruppen und der Weiterbildung der Mitglieder. Wenn Programme zur Einkommenssteigerung die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Betreuer von Waisen oder der verwaisten Kinder selbst sichern sollen, müssen bei der Durchführung einige grundsätzliche Faktoren beachtet werden. Erfolgreiche Programme führen zuerst eine Marktanalyse durch. Die Mitarbeiter der Organisationen überlegen unter Einbezug der Klienten in welchen Bereichen Möglichkeiten zur Erwirtschaftung eines Einkommens bestehen. Nur wenn die Einkommensprojekte auf eine lokale Nachfrage reagieren und den Voraussetzungen und Interessen der jeweiligen Klienten entsprechen, besteht die Chance, ausreichende Gewinne zu erwirtschaften. Der zweite Schritt besteht in einer ausreichenden Schulung. Die Mitarbeiter vermitteln den Teilnehmern der Programme in Seminaren oder regelmäßigen Treffen betriebswirtschaftliche Kenntnisse, wie Rechnungswesen und Marketing, und bei Bedarf Basiswissen im Bereich Rechnen, Lesen und Schreiben. Das Training dient aber auch dazu, unrealistische Erwartungen hinsichtlich schneller Erfolge zu besprechen und den Teilnehmern ihre Verantwortung hinsichtlich des Umgangs mit dem erwirtschafteten Geld deutlich zu machen. Der dritte Schritt eines erfolgreichen Programms zur Einkommenssteigerung besteht in einer individuellen Begleitung während des Aufbaus des Einkommensprojektes. Die Mitarbeiter der Organisationen stehen in Kontakt zu den Teilnehmern und beraten diese bei auftretenden Problemen. Besonders in Fällen, in denen die Begünstigten eine Gegenleistung erbringen sollen, erweist sich eine Begleitung und Kontrolle als sinnvoll. Die Nachbetreuung verbessert die vereinbarte Tilgung und ermöglicht somit die Weiterführung des Programms zum Wohle anderer Klienten.
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4.1.3 Fallbeispiel Die Organisation HUYAMWI liegt an den Hängen des Kilimanjaro 50km von Moshi entfernt. HUYAMWI startete als Initiative der Bibelschule Mwika, in der Evangelisten, Pfarrer und Kirchenmusiker der Evangelisch-Lutherischen Kirche Tansanias ihre Ausbildung erhalten. Die Dozenten der Bibelschule zeigten sich schockiert über das Ausmaß der Waisenkrise in den umliegenden Dörfern und stellten fest, dass sich die Großfamilie nicht mehr in der Lage befand, die Waisen zu absorbieren und angemessen zu versorgen. In den umliegenden ländlichen Gebieten der Bibelschule sind 8% aller Kinder verwaist; in jeder Kommune leben 100 bis 200 Waisen. In den stadtnahen Gebieten von Moshi steigt der Anteil der Waisen, so dass teilweise fast jedes fünfte Kind ein oder beide Elternteile verloren hat. Auf die wachsende Gefährdung der Kinder reagierte die Bibelschule und startete 2002/2003 auf Initiative der Dozenten und des deutschen Missionars Martin Burkhardt, der zu dieser Zeit in der Bibelschule arbeitete, ein Waisenprojekt in vier Pilotgemeinden. Bis zum Jahr 2009 wuchs die Zahl der am Waisenprojekt HUYAMWI beteiligten Kirchgemeinden auf 21 an. Das Projekt verfolgt zwei Ziele. Zum einen strebt die Arbeit die Verbesserung der Lebenssituation von Waisen in den umliegenden Kommunen an und zum anderen soll das Projekt den Schülern der Bibelschule ein praktisches Arbeitsfeld bieten, um Erfahrungen in der Diakonie zu sammeln. Die jungen Menschen, die in Zukunft für die Kirche arbeiten, können sehen, wie sich ein Waisenprojekt gestalten lässt, und dieses Wissen in ihre späteren Einsatzorte mitnehmen und einbringen. 510 Organisationsstruktur Da die Kommunen im Einzugsgebiet von HUYAMWI den lutherischen Kirchgemeinden fast gänzlich entsprechen und andere Religionen oder andere christliche Konfessionen kaum Verbreitung fanden, nutzt das Projekt in erster Linie die innerkirchlichen Organisationsstrukturen und Ressourcen, um die Waisen zu erreichen. Trotz dieser engen Bindung an die lutherische Kirche schließen die Programme Waisen mit einem anderen Glauben nicht aus. Die Organisationsstruktur des Waisenprojektes besteht aus zwei Säulen; der Zentralverwaltung in der Bibelschule Mwika und den Waisenkomitees in den einzelnen Kirchgemeinden.511
510 511
Vgl. www.huyamwi.org/ 30.04.09. Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
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Das Waisenprojekt HUYAMWI bildet in der Bibelschule Mwika eine eigene Abteilung und untersteht dem Direktor der Einrichtung. Samuel Mori, Sozialarbeiter und Diakon, arbeitet seit 2004 als Koordinator für HUYAMWI und übernahm 2007 von Martin Burkhardt die Leitung. Sowohl die Dozenten als auch die Studenten der Bibelschule arbeiten aktiv in der Waisenhilfe. Jeder Dozent agiert als Berater für eine Kirchgemeinde und stellt die Verbindung zwischen Bibelschule und Gemeinde her. Ein Studentenkomitee, deren Mitglieder ebenfalls jeweils einer Kirche zugeteilt sind und die lokale Arbeit unterstützen, hat mehr Zulauf als Bedarf. Obwohl die angehenden Pfarrer und Evangelisten für ihr Engagement keine Gegenleistung erhalten, zeigen sie ein großes Interesse, praktische Erfahrungen in der Waisenhilfe zu sammeln und aktiv am Gelingen des Projektes beizutragen.512 Die zweite Säule des Waisenprojektes besteht aus den Waisenkomitees der einzelnen Kirchgemeinden, die einen Unterausschuss des Gemeinderates bilden. Jedes Komitee setzt sich aus Gemeindemitgliedern zusammen, die sich ehrenamtlich in das Projekt einbringen. Die Komitees verantworten und koordinieren die lokalen Aktivitäten und verwalten das Budget. Zu diesem Zweck treffen sich die Angehörigen der Komitees alle ein bis zwei Monate und verpflichten sich zu regelmäßigen Besuchen bei den betreuten Waisen. Ein Mal pro Jahr geben die Gemeinden der Bibelschule in Form von Berichten Auskunft über ihre Aktivitäten und die Verwendung der Gelder, welche sie zur Unterstützung der Waisen von HUYAMWI erhalten, als Spenden von Partnergemeinden in Europa bekommen oder durch Kollekten in der eigenen Gemeinde sammeln. Jede Kirchgemeinde beschäftigt ein engagiertes Gemeindemitglied als Waisenhelfer. Die Qualifikation dieser Arbeitskraft unterscheidet sich in den einzelnen Gemeinden; je nach Möglichkeit werden beispielsweise Hausfrauen, Rentner, Krankenschwestern oder angelernte Sozialarbeiter eingesetzt. Für eine mehr oder weniger symbolische Entschädigung von 30.000 TSH (16,88 Euro) pro Monat, welche die lokale Kirche und HUYAMWI jeweils zur Hälfte übernehmen, kümmert sich die Arbeitskraft um die Waisen. An zwei bis drei Tagen pro Woche führt der Waisenhelfer Hausbesuche durch, bietet Beratungen für Waisen und ihre Betreuer an und organisiert monatliche Waisentreffen. Seminare sowie monatliche Supervisionstreffen mit anderen Waisenhelfern und Vertretern von HUYAMWI aus der Bibelschule dienen dem Erfahrungsaustausch, der Weiterbildung und der Kasuistik.513
512 513
Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Angebotspalette HUYAMWI verfügt über eine breite Angebotspalette, die alle fünf Bereiche der ambulanten Waisenhilfe abdeckt. Die Umsetzung der Maßnahmen erfolgt sowohl in der Eigenverantwortung der lokalen Gemeinden und als auch in der Zentrale des Waisenprojektes in der Bibelschule. Von der Unterstützung profitieren Kinder, die entsprechend der staatlichen Richtlinien „National Guidelines for Community Based Care, Support and Protection of OVC“ von 1994 als Waisen oder als gefährdete Kinder identifiziert wurden, das heißt Kinder, die ein oder beide Eltern verloren haben, und Kinder mit chronisch kranken Eltern. In Ausnahmefällen weitet die Organisation ihre Hilfe auch auf Kinder alleinerziehender Mütter oder Väter aus, da sie unter ähnlichen Einschränkungen leiden wie Waisen. Die circa 3.000 Kinder, die das Projekt versorgt, teilen die Mitarbeiter mit Hilfe eines strukturierten Interviews, welches Ressourcen und Probleme des Haushaltes identifiziert, in unterschiedliche Bedürftigkeitsgruppen ein. Dies ermöglicht die Herausfilterung der Heranwachsenden mit dem größten und dringendsten Bedarf. Entsprechend der spezifischen Probleme der Haushalte leistet HUYAMWI eine individuell abgestimmte Unterstützung.514 Im Bereich Bildungsförderung unterstützt das Projekt die Familien mit Schuluniformen und Material. Fünfzig Jugendliche profitieren von einem speziellen Stipendienprogramm, welches ihnen die Absolvierung weiterführender Ausbildungen, beispielsweise den Besuch einer Sekundarschule oder einer praktischen Ausbildung, ermöglicht. Das Stipendienprogramm finanziert sich über Patenschaften in Deutschland, wobei der Kontakt zwischen Sponsor und Kind erwünscht und gefördert wird. HUYAMWI sichert den jungen Menschen in diesem Programm nicht nur die Übernahme aller Bildungskosten zu, sondern gewährt ihnen auch ein Taschengeld. Diese Maßnahme soll den Stipendiaten helfen, sich auf ihre Bildung zu konzentrieren und keine Risiken einzugehen. Beispielsweise brauchen sich junge Mädchen nicht auf die Angebote von Männern einlassen, um ihr eigenes Einkommen aufzubessern oder ihre Freizeit zu gestalten. Ein enges Begleitprogramm mit regelmäßigen Treffen und sozialer Betreuung soll den Erfolg des Stipendienprogramms sicherstellen. Diese Maßnahme erschien den Verantwortlichen notwendig, weil sie in ihrer Arbeit feststellten, dass sich unterschiedliche Faktoren negativ auf die Leistungsfähigkeit der verwaisten Heranwachsenden auswirken. Waisen fehlt der elterliche Ansporn und die von ihnen gemachten Erfahrungen beeinträchtigen ihre gesunde psychosoziale und schulische Entwicklung. Des Weiteren fühlen sich die Heranwachsenden gegenüber einer Organisation mit weit entfernten Spendern weniger ver514
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
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pflichtet als gegenüber ihren Familienangehörigen. Die Übernahme der Bildungskosten allein erwies sich in einigen Fällen nicht als ausreichend, um den Bildungserfolg zu sichern. Individuelle Beratungen und Gruppengespräche bieten inzwischen einen Rahmen, um diese Probleme zu thematisieren und den Erfolg des Stipendienprogramms sowie des individuellen Bildungsweges zu sichern. 515 Im medizinischen Bereich verfügt HUYAMWI, im Vergleich zu anderen von der Autorin besuchte ambulante Waisenprogramme, über eines der umfassendsten Systeme zur Gesundheitsförderung (Kap. 5.2.2). Jedes Kind im Projekt verfügt über eine Krankenkarte und einen Krankenschein, mit denen er in lokalen medizinischen Einrichtungen Zugang zu einer kostenlosen Behandlung erhält. Die Identifizierung erfolgt durch ein Foto oder einen Fingerabdruck. In der präventiven Gesundheitsförderung engagiert sich HUYAMWI vor allem in der HIV-Prävention und macht AIDS zu einem Thema in der Arbeit mit den Waisen und deren Betreuern.516 Im Rahmen unterschiedlicher Aktivitäten leistet HUYAMWI psychosozialen Beistand, der einerseits auf die Verbesserung der innerfamiliären Beziehungen zielt und andererseits die Begleitung und Stärkung der betroffenen Kinder anstrebt. Die Organisation veröffentlichte einen Ratgeber für Betreuer von Waisen, welcher wichtige Informationen zur Versorgung von Kindern und zu den Folgen von Verwaisung enthält (Kap. 5.2.2). Jährliche Seminare und regelmäßige Hausbesuche dienen ebenfalls zur Weiterbildung der Betreuer und zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenzen. Aber auch die Heranwachsenden stehen im Fokus von Interventionen. Seminare, die in der Bibelschule stattfinden, bieten einen Raum, um über den Verlust der Eltern ins Gespräch zu kommen und Schwierigkeiten bei der Eingliederung zu klären. „Manchmal haben sie psychologische Probleme und soziale Probleme in den Beziehungen. […] Jemand mag denken, dass die wahre Liebe von den Eltern kommt. Also wenn die Eltern nicht mehr da sind, glauben sie nicht, dass sie wahre Liebe von ihren Ersatzeltern erhalten. […] Diese Kinder treffen wir in den Kirchgemeinden oder in der Bibelschule. Wir geben ihnen Seminare darüber, wie sie mit ihren Betreuern leben können; nicht nur nach ihren Rechten zu fragen, sondern auch Verantwortung als Kind in der Familie zu übernehmen.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Neben den Seminaren in der Bibelschule bieten die lokalen Waisenhelfer, unterstützt von den Studenten der Bibelschule, ein Mal im Monat ein Waisentreffen an, bei dem die betreuten Kinder der Gemeinde zusammen kommen, gemeinsam spielen, Gespräche führen und eine 515 516
Vgl. Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
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Mahlzeit erhalten. Auch Peerberater nehmen an diesen Waisentreffen teil und gestalten sie mit. Auf diese Weise leisten die Waisen bei HUYAMWI einen wichtigen Eigenbeitrag im psychosozialen Bereich. Sie helfen als Peerberater anderen Waisen, über Probleme zu reden und Schwierigkeiten zu meistern (Kap. 5.2.4/Kap. 5.2.6).517 Verschiedenste Formen der materiellen und praktischen Hilfe erhalten vor allem Haushalte, die nur geringe wirtschaftliche Kapazitäten aufweisen. Die Unterstützung erfolgt beispielsweise in Form von Kleidung und Nahrungsmitteln oder durch Interventionen bei Erbstreitigkeiten. Ein besonderer Schwerpunkt der materiellen und praktischen Hilfe stellt das Hausbauprogramm dar. Dabei übernimmt HUYAMWI 60% der Baukosten, wenn die Kirchgemeinde Bereitschaft zeigt, die übrigen Kosten aufzubringen. Jede Gemeinde findet andere Wege, dieser Herausforderung gerecht zu werden; einige veranstalten spezielle Kollekten, andere sammeln Baumaterial oder stellen ihre Arbeitskraft zur Verfügung. 518 Da die Organisation eine Abhängigkeit der Haushalte und Waisen von ihrer Unterstützung vermeiden möchte, zielt sie zunehmend auf eine Stärkung der wirtschaftlichen Kapazitäten. Die Zielgruppe für Einkommensprojekte umfasst nicht nur Betreuer von Waisen, sondern auch verwaiste Heranwachsende. Ihnen soll die Möglichkeit, eigenes Geld zu erwirtschaften, helfen, einen eigenen Beitrag zum Haushaltseinkommen zu leisten und eine gewisse Unabhängigkeit von ihren Betreuern zu erreichen. In Schulungen klären Mitarbeiter der Organisation Betreuer und Waisen über die Möglichkeiten von Einkommensprojekten auf und geben ihnen das notwendige Wissen und Kapital mit auf den Weg. Eine Nachbetreuung durch die lokalen Waisenhelfer gewährleistet eine Erfolgskontrolle und ermöglicht bei Bedarf zusätzliche Unterstützung (Kap. 5.2.2). 519 4.2 Adoption und Pflege In Tansania finden die meisten Waisen Aufnahme in informellen Pflegeverhältnissen bei Verwandten. Diese informelle Pflege unterscheidet sich von formellen Pflegeverhältnissen in erster Linie dadurch, dass nicht öffentliche Stellen über den Zeitpunkt und die Dauer der Unterbringung verfügen, sondern dass die Unterbringung des Kindes in der Regel ohne Absprache und offizielle Bewilligung des Wohlfahrtsamtes erfolgt (Kap. 2.2.4). Die formelle Pflege hingegen, die für 517 Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation HUYAMWI am 16.06.07 in Mwika und am 30.06.07 in Kiboroloni, Tansania. 518 Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 519 Vgl. Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
4.2 Adoption und Pflege
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die Versorgung verwaister Kinder in Tansania eine geringere, aber nicht unbedeutende Rolle spielt, lässt sich als dauerhafte oder zeitweise Aufnahme eines verwandten oder nichtverwandten Kindes in eine Pflegefamilie definieren. Im Fall der formellen Pflege bildet die Autorisierung der Pflegeeltern 520 durch öffentliche Stellen die Voraussetzung. Die Pflegeeltern übernehmen allerdings nicht den legalen Status der leiblichen Eltern und besitzen somit keinen legalen Anspruch auf eine Weiterführung des Pflegeverhältnisses. 521 Die Adoption stellt ein formelles Pflegeverhältnis dar, bei dem die Adoptiveltern522 den legalen Status der leiblichen Eltern erhalten. Zwischen den Adoptiveltern und dem Adoptivkind können bereits vor der Adoption verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Die Adoptiveltern übernehmen die Rechte und Pflichten biologischer Eltern, während die legalen Verbindungen zu den biologischen Eltern des Kindes aufgehoben werden (Abb. 77).523 Abbildung 77: Differenzen zwischen Adoption und informeller Pflege Die rechtliche Stellung von Adoptiveltern unterscheidet sich wesentlich von der rechtlichen Stellung der Betreuer in informellen Pflegeverhältnissen. Aus diesem Unterschied erwachsen Missverständnisse. Obwohl die Adoption in einigen Fällen notwendig ist, um die familiäre Pflicht zu erfüllen, beispielsweise wenn die Betreuer eines verwaisten Verwandten mit dem Kind ins Ausland gehen, entspricht sie nicht dem traditionellen Verständnis von Pflege. Im Zuge der Adoption übernehmen die Adoptiveltern den legalen Status der Eltern, während noch lebende Eltern ihre Rechte abgeben. Dies widerspricht der Tradition, nach der die biologischen Eltern ihre Rechte und Pflichten gegenüber ihrer Nachkommen beibehalten und die Betreuer der Kinder nur mittelfristig die Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus kann die Gleichstellung der Adoptivkinder mit leiblichen Kindern in der Familie bei der Vererbung von Besitz zu Konflikten führen. (Wanitzek 2007, S. 8) Ein fehlendes Bewusstsein für die Dauerhaftigkeit von Adoptionen kann auch bei Verwandten, die ihre Einwilligung zur Adoption geben, zu Missverständnissen führen. Es besteht die Gefahr, dass sie alle legalen Ansprüche hinsichtlich des Kindes aufgeben, ohne sich dem Ausmaß ihrer Entscheidung bewusst zu sein (United Republic of Tanzania – Law Reform Commission (Hrsg.) 1994, o. S.).
4.2.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen Die britische Kolonialmacht führte die ersten gesetzlichen Regelungen von Adoptionen 1942 in Tanganyika („Adoption of Infants Ordinance“) und 1951 520
Der Begriff Pflegeeltern bezeichnet im Folgenden ein Ehepaar oder eine Einzelperson, die mit ein oder mehreren Kindern in einem formellen Pflegeverhältnis leben. 521 Vgl. Johnson 2005, S. 5 ff. 522 Der Begriff Adoptiveltern bezeichnet im Folgenden ein Ehepaar oder eine Einzelperson, die ein oder mehrere Kinder adoptiert haben. 523 Vgl. Wanitzek 2007, S. 6 ff.
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auf Sansibar („The Adoption of Children Decree“) ein. Diese Verordnungen entstanden auf Grundlage der britischen Adoptionsgesetze der damaligen Zeit. Auf dem Festland Tansanias, Tanganyika, ersetzte in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die „Adoption Ordinance“ die Regelung von 1942. 524 Während der Kolonialzeit diente die rechtliche Regelung von Adoptionen in erster Linie europäischen Siedlern, die zwei Drittel der Adoptionsfälle ausmachten, sowie der asiatischen Minderheit im Land. Die Anzahl afrikanischer Antragssteller blieb bis zur Unabhängigkeit unbedeutend; aber auch die Gesamtzahl aller Adoptionen auf dem tansanischen Festland war äußerst begrenzt und beschränkte sich zwischen 1944 bis zum Ende der britischen Kolonialherrschaft auf insgesamt 130 Adoptionen. 525 Die Adoptionsgesetze der britischen Kolonialmacht blieben nach der Unabhängigkeit Tansanias bestehen. Auf dem Festland Tansanias regelt heute die „Adoption Ordinance“ von 1955 mit einigen geringfügigen Änderungen alle Adoptionen. Daneben spielt der „Children’s Home Act No.4“ von 1964, welcher grundsätzliche Prinzipien für eine Fremdplatzierung von Kindern umfasst, eine wichtige Rolle im Adoptionsprozess. Eine neue staatliche Richtlinie, die „National Guidelines for Provision and Management of Foster Care and Adoption Services”, soll in Zukunft für Adoptionen und formelle Pflegeverhältnisse von Kindern bestimmend sein. 526 Der Bedarf für Adoptionen stieg in den letzten zwei Jahrzehnten im Zuge der Waisenkrise und aufgrund einer Zunahme ausgesetzter Säuglinge. Der wachsende Bedarf ging mit einem Anstieg von Adoptionen einher. Gertrude Kulindwa vom Wohlfahrtsamt der Region Mwanza erklärt, dass sie in ihrem Einzugsbereich eine positive Entwicklung in den vermittelten Adoptionen in den vergangenen Jahren feststellte.527 Dennoch liegt die Zahl potenzieller Adoptiveltern weit unter der Anzahl bedürftiger Kinder. Auf fast 400 verlassene Säuglinge kommen pro Jahr circa 100 Adoptionen.528 Trotz der rechtlichen Möglichkeit formeller Pflegeverhältnisse konnte sich die Adoption oder die formelle Pflege nicht gegen die informelle Pflege innerhalb der Großfamilie durchsetzen. In Tansania entspricht das Aufwachsen von Kindern bei Verwandten, die nicht ihre biologischen Eltern sind, den gesellschaftlichen Normen und kommt nicht nur in Notsituationen zum Tragen. Ein Bedarf für die rechtliche Anerkennung dieser informellen Pflegeverhältnisse liegt in der Regel nicht vor. Der Anteil von formeller Pflege unter Aufsicht des Wohlfahrtsamtes und von Adoptionen an allen 524
Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Rwezaura und Wanitzek in Journal of African Law 2/1988, S. 124. Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 25 ff. 527 Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania. 528 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 525 526
4.1 Adoption und Pflege
257
Pflegeverhältnissen in Tansania bleibt weiterhin äußerst gering und stellt immer noch eine Ausnahme dar.529 Motive für Adoptionen und formelle Pflegeverhältnisse Auch wenn der Kinderlosigkeit der Adoptiveltern und der Verwaisung der Kinder für viele Pflege- und Adoptiveltern aus dem In- und Ausland eine zentrale Bedeutung zukommt, stellen sie nicht die einzigen Gründe für formelle Pflegeverhältnisse und Adoptionen dar.530 In einigen Fällen existiert bereits eine enge verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Adoptiveltern und dem adoptierten Kind. Für Väter besteht in Tansania beispielsweise die Möglichkeit, für ihre unehelichen Kinder durch eine Adoption den legalen Status eines „eigenen“ Kindes zu erlangen. Eine andere Form der rechtlichen Vaterschaftsanerkennung von außerehelich geborenen Kindern gibt es in Tansania nicht.531 Ein informelles Pflegeverhältnis bedarf außerdem einer offiziellen Anerkennung durch Adoption, wenn der Betreuer des Kindes gemeinsam mit dem Kind ins Ausland immigrieren möchte oder das Kind in die Verantwortung eines bereits im Ausland lebenden Verwandten gegeben werden soll. 532 Mit zunehmender grenzüberschreitender Mobilität, die dazu führt, dass tansanische Bürger im Ausland leben und arbeiten, steigt der Bedarf für Adoptionen. Der rechtliche Status als „eigenes“ Kind stellt häufig eine wesentliche Voraussetzung bei der Beantragung eines Visa und einer Aufenthaltsgenehmigung für das begleitende Kind dar. Beispielsweise ermöglicht der § 32 des Aufenthaltsgesetzes in Deutschland den Nachzug von biologischen Kindern und Adoptivkindern. Andere minderjährige Verwandte, wie Geschwister oder Pflegekinder, bleiben von dieser Regelung ausgeschlossen und dürfen nur in Fällen „außergewöhnlicher Härte“ von ihren Verwandten in Deutschland aufgenommen werden. Internationale Immigrationsgesetze erkennen in der Regel die Verwandtschaftsbeziehungen und die traditionelle Verantwortung in afrikanischen Großfamilien nicht an; die Bedeutung der Nuklearfamilie steht über anderen verwandtschaftlichen Beziehungen. Die internationale Mobilität und ein Anstieg der Waisenzahlen sowie eine Reduzierung potenzieller Pflegeeltern durch die AIDS-Epidemie innerhalb des Landes führten in den vergangenen Jahren zu einer Zunahme von Adoptionen, in denen beide 529
Vgl. Wanitzek 2007, S. 2. Vgl. www.adoptiontanzania.org/testimonials.html 15.04.09; Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 531 Vgl. Wanitzek 2007, S. 9 f. 532 Vgl. Wanitzek 2007, S. 3 ff.; Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 530
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Parteien über eine tansanische Nationalität verfügten. Die Adoption stellt ein Mittel dar, der traditionellen Pflicht gerecht zu werden sowie den Beschränkungen internationaler Immigrationsregelungen zu entsprechen. 533 Die Motive ausländischer Adoptiveltern liegen ebenfalls nicht allein im unerfüllten Kinderwunsch. Viele Paare entscheiden sich trotz der Möglichkeit, eigene Kinder zu bekommen, für ein tansanisches Adoptivkind. Sie möchten einem bedürftigen Kind ein neues Zuhause geben und die Not tansanischer Kinder lindern. 534 Brooke Montgomery weiß aus ihrer Arbeit mit potenziellen Adoptiveltern, dass diese zum Teil sehr romantische Vorstellungen mit Adoptionen in einem Entwicklungsland verbinden. Sie erwarten, dass die Kinder in ihrem neuen Zuhause aufblühen und sich dies in Zukunft in der Dankbarkeit des Kindes äußert. Anpassungsschwierigkeiten und Bindungsstörungen führen bei diesen Erwartungen schnell zur Enttäuschung. 535 Hemmnisse für die Ausweitung von formellen Pflegeverhältnissen und Adoptionen Die Diskrepanz zwischen bedürftigen Kindern und vermittelten Adoptionen und formellen Pflegeverhältnissen lässt sich vor allem mit strukturellen Problemen und einer fehlenden traditionellen Verankerung dieser Praxis begründen. Die Schwierigkeiten beginnen bei der Freigabe von Kindern zur Adoption, reichen über die geringe Nachfrage in der Bevölkerung und enden bei einer Überforderung der zuständigen Ämter. Kinder, die in Tansania für ein formelles Pflegeverhältnis bei nichtverwandten Pflegeeltern oder für eine Adoption in Frage kommen, sind in erster Linie kleine Kinder in Säuglingsheimen. Verschiedene Gründe schränken die Freigabe von Kindern für eine formelle Pflege oder Adoption ein. Da der Kontakt zu den Verwandten während des Aufenthaltes im Säuglingsheim häufig für längere Zeit abbricht, besteht nicht immer Klarheit darüber, ob die Angehörigen das Kind in ihre Familien aufnehmen wollen, das Aufwachsen in einer stationären Betreuungseinrichtung bevorzugen oder einer formellen Pflege bzw. Adoption zustimmen. Die Recherche nach Verwandten gestaltet sich schwierig und es besteht die Gefahr, dass ein Kind in einer Pflege- oder Adoptionsfamilie lebt, wenn der Vater oder andere Familienmitglieder nach ein oder zwei Jahren zurückkehren, um das Kind aus dem Heim abzuholen. Andererseits lassen sich Säuglinge leichter in eine neue Familie integrieren als ältere Kinder, so dass das Wohlfahrtsamt 533
Vgl. Wanitzek 2007, S. 3 ff. Vgl. www.adoptiontanzania.org/testimonials.html 15.04.09. 535 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 534
4.1 Adoption und Pflege
259
und potenzielle Pflege- und Adoptiveltern ein Interesse an einer schnellen Überprüfung der Situation haben. 536 Gelingt dies nicht und lässt sich der Verwandtschaftsstatus erst mit zunehmendem Alter feststellen, verstreicht der Moment, in dem potenzielle Adoptiveltern zu einer Aufnahme des Kindes bereit gewesen wären. Die Erfahrung zeigt, dass das Interesse an Kindern nach den ersten zwei Lebensjahren rapide abnimmt, so dass sich ältere Kinder nur noch schwer vermitteln lassen. 537 Ausgesetzte Findelkinder eignen sich, weil sie über keine bekannten Angehörigen verfügen, besonders für ein formelles Pflegeverhältnis oder eine Adoption. Diese Kinder weisen außerdem den höchsten Bedarf auf, da bei ihnen nicht die Hoffnung auf eine Reintegration in ihre Herkunftsfamilie besteht. Dennoch verfügen auch ausgesetzte Kinder über Familienangehörige, die gegebenenfalls ein Interesse daran haben, das Kind wieder zu sich zu nehmen. Die Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung wegen der Gefährdung ihres Kindes durch das Aussetzen verhindert, dass die betroffenen Mütter sich zeitnah mit dem Wohlfahrtsamt oder der Heimeinrichtung in Verbindung setzen. In diesen Fällen zeigen sich oft erst Jahre nach der Vermittlung in ein Pflegeverhältnis oder an eine Adoptivfamilie die ursprünglichen Familienverhältnisse des Kindes. Trotz dieser Einschränkungen kommen die meisten Kinder, die von nichtverwandten Paaren zur Erfüllung eines Kinderwunsches in Pflege genommen oder adoptiert werden, aus dieser Gruppe.538 Heime, die über den besten Einblick in die Verwandtschaftsverhältnisse verfügen und häufig wissen, ob bei den Verwandten die Bereitschaft besteht, ihre Zustimmung zu einer Adoption zu geben, engagieren sich kaum im Bereich Adoption und formelle Pflege. Abgesehen von einigen Säuglingsheimen bemühen sich stationäre Einrichtungen in der Regel nicht aktiv um eine Vermittlung der bei ihnen lebenden Kinder in eine Pflege- oder Adoptivfamilie, da dies als Aufgabe des Wohlfahrtsamtes betrachtet wird. 539 Auch das Wissen, dass die Kinder noch Angehörige besitzen, die sich nicht um sie kümmern können oder wollen, verhindert bei den Verantwortlichen in stationären Einrichtungen die Suche nach einem neuen Zuhause: „Aus unserer Sicht ist dies [die Adoption] keine Priorität für uns, denn wir wissen, dass dieses Kind bereits jemanden hat, zu dem es gehört.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 536
Vgl. Johnson 2005, S. 20. Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 538 Vgl. Johnson 2005, S. 20. 539 Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania; Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania. 537
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Neben der Freigabe von Kindern zur Adoption und Pflege stellt ein begrenztes Interesse der tansanischen Bevölkerung sowie Einschränkungen für ausländische Adoptiveltern ein Hemmnis für die Vermittlung von Kindern in ein formelles Pflegeverhältnis dar. Während die Nachfrage nach Adoptivkindern vor allem in einigen europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten von Amerika steigt und viele Familien für die Möglichkeit, ein Kind aus Tansania zu adoptieren, dankbar wären, schränken die Adoptionsgesetze internationale Adoptionen ein. Ausländische Paare können ein tansanisches Kind nur adoptieren, wenn sie ihren Wohnsitz in Tansania haben.540 Bei einheimischen Paaren kommt es zur Umkehr der beiden Faktoren. Die Adoptionsrichtlinien ermöglichen ihnen die Adoption, doch die Nachfrage bleibt gering (Abb. 78). Abbildung 78: Adoption und formelle Pflege im kulturellen Kontext Bisher löst auch bei Kinderlosigkeit der Wunsch nach Adoption im Umfeld der Betroffenen aufgrund der fehlenden kulturellen Verankerung Unverständnis aus. Amy Hathaway, Leiterin eines Säuglingsheims, kennt vier kinderlose Frauen, die gerne ein Kind aus ihrem Säuglingsheim adoptieren würden, sich aber nicht gegen ihre Ehemänner durchsetzen können. Aber nicht nur in der Bevölkerung mangelt es an Wissen über formelle Pflegeverhältnisse, auch Regierungsvertretern und Mitarbeitern der Wohlfahrtsämter, welche die Zuständigkeit für die Auswahl und Kontrolle von Pflege- und Adoptiveltern innehaben, fehlt ein konzeptuelles Verständnis dieser Praxis. „Die Leiterin des Wohlfahrtsamtes in Mwanza versteht Adoption nicht. Ich habe drei adoptierte Kinder und sie versteht es immer noch nicht.“ (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Besonders die Dauerhaftigkeit einer Adoption scheint von vielen Beamten unterschätzt zu werden, da dieser in informellen Pflegeverhältnissen keine Bedeutung zukommt. Beispielhaft dafür steht die Frage einer Sozialarbeiterin des Wohlfahrtsamtes an Amy Hathaway, ob sie ihre adoptierten Kinder in Tansania lässt, wenn sie irgendwann wieder in ihr Heimatland zurückkehrt. (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania)
Viele Familien leiden aufgrund der Waisenkrise bereits unter einer Überlastung durch informelle Pflegeverhältnisse und verfügen aus diesem Grund nicht über die notwendigen Kapazitäten zur Aufnahme von Adoptivkindern. 541 „Es [die Adoption] ist keinesfalls eine innerstaatliche Lösung. […] Die meisten Menschen wären nicht interessiert, ein Kind in Pflege zu nehmen, das nicht mit ihnen verwandt ist, denn sie sind bereits damit beschäftigt, für verwandte Familienmitglieder zu sorgen.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Potenzielle Adoptiveltern erfüllen darüber hinaus häufig nicht die Ansprüche der Adoptionsrichtlinien hinsichtlich 540
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Labour, Youth Development and Sports (Department of Social Welfare) und The Boona-Baana Center for Children’s Rights (Hrsg.) o. J., o. S. 541 Vgl. Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
4.1 Adoption und Pflege
261
ihrer wirtschaftlichen Situation. Dennoch bestehen auch in einigen tansanischen Haushalten die Kapazitäten für die Aufnahme nichtverwandter Kinder. 542 Die Ursachen, warum trotz dieser Ressourcen im Land keine bessere Balance zwischen bedürftigen Kindern und Adoptionen gelingt, liegen vor allem in der fehlenden traditionellen Verankerung und einer unzureichenden Aufklärung der Bevölkerung über die unterschiedlichen Formen von Pflege und den notwendigen rechtlichen Prozessen. 543 Der Adoptionsprozess bzw. die Einleitung formeller Pflegeverhältnisse leidet darüber hinaus, wie andere Aufgaben des Wohlfahrtsamtes, unter den geringen personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen. Nicht alle, im Adoptionsprozess vorgesehenen Maßnahmen, können die zuständigen Beamten in befriedigender Weise erfüllen. Obwohl die Antragsstellung nicht schwierig ist, benötigt der gesamte Adoptionsprozess viel Zeit. Den Wohlfahrtsämtern fehlen ausreichende Computer und häufige Stromausfälle erschweren die Arbeit. Die Beamten besitzen kein Kontingent für die anfallenden Transportkosten zu den Familien, so dass Hausbesuche seltener stattfinden oder ausschließlich, wenn die potenziellen Adoptiv- oder Pflegeeltern den Transport organisieren. Häufig kommt es zu zeitlichen Verzögerungen, weil kein ausreichendes Personal zur Verfügung steht oder Briefe und Akten verloren gehen. 544 Eine Familie, die sich um die Adoption eines wenige Monate alten Kindes bewirbt, kann dieses häufig erst zu sich nehmen, wenn es ein Alter von mehr als zwei Jahren erreicht hat. Das fortgeschrittene Alter des Kindes erschwert dann seine Eingliederung. 545 Die Qualität der Arbeit wird zudem durch eine unzureichende Ausbildung der Wohlfahrtsbeamten im Bereich Adoption gemindert. Beispielsweise beinhaltet die Überprüfung der Lebenssituation auch die Beratung der potenziellen Adoptiveltern hinsichtlich der Herausforderungen und Aufgaben, die eine Adoption an alle beteiligten Parteien stellt. Diese Beratung findet gar nicht oder in einem sehr eingeschränkten Maße statt. „Beratung, um sicher zu gehen, dass die Familie Adoption versteht und Dinge, wie Bindungsstörungen und solche Sachen, verstehen, gibt es hier nicht wirklich.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Eine Beratung vor und nach der Adoption durch ausgebildete Sozialarbeiter könnte den Adoptiveltern helfen, 542 Vgl. Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania. 543 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 410; Whitehouse 2002, S. 50; Johnson 2005, S. 22; Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 544 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 545 Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
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mit Schwierigkeiten der Eingewöhnung umzugehen und unrealistische Erwartungen abzulegen. 546 4.2.2 Charakteristika und Erscheinungsformen Internationale Hilfsorganisationen, die Regierung Tansanias und Autoren sehen in der formellen Pflege und in Adoptionen innerhalb des Landes eine mögliche Lösung für Kinder, die durch das familiäre Sicherungsnetz fallen, und drängen auf einen Ausbau dieser Praxis. 547 Auch der überwiegende Anteil der Interviewpartner, welche die Autorin befragte, bewertete Adoptionen und formelle Pflegeverhältnisse als positive Optionen für verwaiste Kinder, die der institutionellen Versorgung vorzuziehen sind. 548 Die formelle Pflege Die formelle Pflege tritt in Tansania in der Regel als Vorstufe der Adoption auf. Aus diesem Grund existiert kein staatliches Pflegekindprogramm, welches die formelle Pflege von Kindern reguliert und koordiniert. Ein öffentliches System von Pflegeeltern, die eine spezielle Schulung erhalten und für ihre Aufgaben eine Gegenleistung bekommen, ist in Tansania bisher unbekannt. Stattdessen baut der Staat auf die vielfältigen Formen informeller Pflege, die in der Regel ohne die Mitwirkung öffentlicher Organe innerhalb von Familiensystemen und Gemeinden organisiert werden.549 In seltenen Fällen und meist nur, wenn die Pflegeeltern von sich aus mit den Mitarbeitern des Wohlfahrtsamtes in Kontakt treten, kommt es zu einer offiziellen Anerkennung dieser Pflegeverhältnisse. Dazu muss das Wohlfahrtsamt oder der High Court die Situation der potenziellen Pflegeeltern überprüfen und das 546
Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. United Republic of Tanzania – Law Reform Commission (Hrsg.) 1994, o. S.; Hunter und Williamson 1997, S. 25; Hunter und Williamson 1998, S. 11; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 4; UNICEF und WHO (Hrsg.) 2002, S. 36; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 18; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2004, S. 20; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 20; Foster, Richter und Sherr 2006, S. 50. 548 Vgl. Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Tayali am 23.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania. 549 Vgl. Johnson 2005, S. 3. 547
4.1 Adoption und Pflege
263
Pflegeverhältnis autorisieren. Lebt ein Kind in einer offiziell anerkannten Pflegefamilie, kommt dem Sozialarbeiter des Wohlfahrtsamtes die Verantwortung für die Überwachung der Situation zu. Im Rahmen von monatlichen Besuchen soll der zuständige Mitarbeiter das Wohlergehen des Kindes und die Qualität der Versorgung kontrollieren. Begrenzte finanzielle, materielle und personelle Ressourcen der Wohlfahrtsämter, beispielsweise unzureichende Transportmittel, erschweren die Erfüllung dieser Aufgabe.550 Für einige Kinder, bei denen ein Aufwachsen in ihrer Herkunftsfamilie nicht möglich ist, kann sich formelle Pflege bei nichtverwandten Pflegeeltern als beste Option erweisen. Dies gilt besonders für Kinder, die nicht für eine Adoption in Frage kommen. Dazu zählen beispielsweise ältere Kinder, die aufgrund ihres Alters keine Adoptivfamilie finden, und Geschwisterkinder, bei denen sich die Aufnahme in eine Pflegefamilie anbietet, um eine Trennung der Geschwister zu verhindern. Heranwachsende, für die eine Pflegefamilie ebenfalls eine bessere Lösung darstellt als Adoption, sind solche, bei denen der Kontakt zur Herkunftsfamilie aufrechterhalten werden soll, auch wenn sich diese langfristig nicht in der Lage sieht, das Kind wieder aufzunehmen. 551 Die Adoption An Ehepaare und Einzelpersonen, die ein tansanisches Kind adoptieren möchten, stellt der tansanische Staat verschiedene grundsätzliche Bedingungen. Der Antragssteller für eine Adoption muss mindestens 25 Jahre alt und mindestens 21 Jahre älter als das zu adoptierende Kind sein. Für alleinstehende Männer besteht nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei verwandtschaftlichen Beziehungen, die Möglichkeit, minderjährige Mädchen zu adoptieren. Potenzielle Adoptiveltern können ein tansanisches Kind adoptieren, wenn sie ihren Wohnsitz in Tansania haben. Diese Einschränkung schließt internationale Adoptionen nicht aus, solange sich die Adoptiveltern während des Adoptionsprozesses, der in der Regel ein bis zwei Jahre in Anspruch nimmt, in Tansania aufhalten. Potenzielle Adoptivkinder sollten zur Adoption freigegeben sein, das heißt die Einwilligung eventuell lebender Familienangehöriger muss vorliegen. 552 Der Adoptionsprozess soll sicherstellen, dass sich die potenziellen Adoptiveltern eignen und die Adoption im Sinne des Kindes ist. Henri Challi, stellvertretender Direktor des Referates Kinder im Ministerium für Gemeindeentwicklung, 550
Vgl. ebd., S. 18 f. Vgl. Brown und Mulheir 2007, S. 74. 552 Vgl. United Republic of Tanzania – Law Reform Commission (Hrsg.) 1994, o. S.; www.adoptiontanzania.org/adoptionInTanz.html 15.04.09. 551
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Gleichstellung und Kinder, und Gertrude Kulindwa, Leiterin des Wohlfahrtsamts der Region Mwanza, begründen das langwierige Adoptionsverfahren mit der Verantwortung des Staates für das Kindeswohl. Der Staat muss sicherstellen, dass die Adoption im besten Interesse des Kindes liegt und das Kind vor Ausbeutung, beispielsweise als Arbeitskraft, geschützt wird. 553 „Es gibt einige Menschen, die diese Kinder [Adoptivkinder] missbrauchen. Sie kommen ins Büro und bitten um Kinder zur Pflege, während sie diese Kinder missbrauchen wollen.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Besonders bei ausländischen Adoptiveltern legt der Staat Wert auf eine genaue Prüfung, weil die Familie mit dem Kind nach der Adoption häufig den Einflussbereich der tansanischen Regierung verlässt.554 „Wenn jemand in Tansania lebt, ist es [die Adoption] möglich, aber es ist auch möglich, das Kind aus dem Land mitzunehmen. Zuerst müssen wir aber sehen, wer die Person ist.“ (Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Der Adoptionsprozess umfasst mehrere Phasen, welche der folgende Abschnitt detailliert darstellt: 1. Beantragung der formellen Pflege: Potenzielle Adoptiveltern sind aufgefordert, sich an das Wohlfahrtsamt in dem Distrikt zu wenden, in dem sie ihren Wohnsitz haben. In Distrikten, die nicht über ein Wohlfahrtsamt verfügen, fällt die Zuständigkeit dem regionalen Wohlfahrtsamt zu. Im Wohlfahrtsamt erhalten die potenziellen Adoptiveltern vom zuständigen Beamten die Antragsformulare für die Übernahme einer formellen Pflege entsprechend dem „Children’s Homes Act No 4“. Den ausgefüllten Antrag auf formelle Pflege und Adressen von mindestens drei Bürgen, die den Antragssteller seit mindestens drei Jahre kennen, und einem Familienmitglied hinterlegen die potenziellen Adoptiveltern beim zuständigen Wohlfahrtsamt. Die Beamten setzen sich mit den Bürgen in Verbindung und sammeln Auskünfte über die potenziellen Adoptiveltern. Kommen die potenziellen Adoptiveltern aus dem Ausland kontaktiert das Wohlfahrtsamt die entsprechenden Ämter in deren Heimatland, um Empfehlungsschreiben und Begutachtungen zu erhalten. Die Überprüfung der Lebenssituation erfolgt in mindestens vier Gesprächen zwischen Antragsstellern und Beamten des Wohlfahrtsamtes, von denen mindestens eines bei den potenziellen Adoptiveltern Zuhause stattfindet. Die Überprüfung umfasst Aspekte der körperlichen, mentalen und
553
Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 554 Vgl. Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania.
4.1 Adoption und Pflege
2.
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emotionalen Gesundheit und der finanziellen sowie gegebenenfalls der ehelichen Stabilität der Antragssteller.555 Bewilligung der formellen Pflege: Nach Erfüllung der ersten Bedingungen sendet das Wohlfahrtsamt des Distriktes bzw. der Region die Dokumente und Berichte an den zuständigen Bevollmächtigten des zentralen Wohlfahrtsamtes in Dar es Salaam. Dieser entscheidet über die Annahme bzw. Ablehnung des Antrages auf formelle Pflege. 556 Identifikation des Adoptivkindes: Wurde der Antrag angenommen identifiziert das Wohlfahrtsamt des Distrikts bzw. der Region ein Kind, welches zur Adoption in Frage kommt und den Kriterien der potenziellen Adoptiveltern entspricht. Um sicherzustellen, dass das Kind und seine zukünftigen Adoptiveltern harmonieren, arbeiten die Beamten eng mit der Adoptivfamilie zusammen. In vielen Fällen kennt die Familie das Kind, welches sie adoptieren möchten, bereits vor der Einleitung des Adoptionsprozesses. Das Wohlfahrtsamt kooperiert mit der Polizei, um zu überprüfen, ob das Kind lebende Verwandte besitzt. Lassen sich keine lebenden Angehörigen identifizieren, erhält das Kind eine offizielle Bestätigung seines Status. In Fällen, in denen Familienmitglieder lokalisiert werden, findet eine Befragung der Verwandten statt. Diese müssen ihre schriftliche Einwilligung zur Adoption geben. 557 Übernahme der formellen Pflege: Von den potenziellen Adoptiveltern verlangen die staatlichen Richtlinien, dass sie vor der Beantragung einer Adoption die formelle Pflege des Kindes für die Dauer von mindestens drei Monaten übernehmen. Diese Zeit dient zur Überprüfung der Eignung der potenziellen Adoptiveltern und der Kompatibilität von Adoptiveltern und Adoptivkind. Die Beamten des Wohlfahrtsamtes besuchen die Familien in dieser Zeit regelmäßig und kontrollieren das Wohlbefinden des Kindes. 558 Beantragung der Adoption: Erst nach einem erfolgreichen Ablauf der Probephase besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Adoption zu stellen. Die potenziellen Adoptiveltern müssen dazu erklären, dass sie weiterhin die Absicht haben, das betreute Kind zu adoptieren, und die Beamten des Wohlfahrtsamtes teilen den Antragsstellern mit, ob sie eine Adoption befürworten. Ist Beides der Fall, sendet das Wohlfahrtsamt des Distriktes bzw. der
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Labour, Youth Development and Sports (Department of Social Welfare) und The Boona-Baana Center for Children’s Rights (Hrsg.) o. J., o. S. Vgl. ebd., o. S. 557 Vgl. ebd., o. S. 558 Vgl. ebd., o. S. 556
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Region eine Empfehlung und einen Bericht an den zuständigen Bevollmächtigten des zentralen Wohlfahrtsamtes in Dar es Salaam. 559 6. Der legale Adoptionsprozess: Die Antragsteller werden aufgefordert einen Anwalt zu beauftragen, der mit dem tansanischen Adoptionsrecht vertraut ist. Dieser Anwalt begleitet die potenziellen Adoptiveltern in den rechtlichen Schritten der Adoption. Die Antragssteller reichen mit Hilfe ihres Anwaltes ein Adoptionsgesuch beim Obersten Gerichtshof ein. Das Gericht entscheidet, entsprechend der vorliegenden Dokumente und Empfehlungen des Wohlfahrtsamtes, über die Annahme des Adoptionsantrages. Bei Bewilligung des Antrages bestellt das Gericht die Adoptiveltern als Vormund des betreffenden Kindes. Das Urteil des Gerichtes stellt die Voraussetzung für die Ausstellung eines Adoptionszertifikats dar. Mit diesem Zertifikat erhalten die Adoptiveltern den gleichen rechtlichen Status wie biologische Eltern und müssen sämtliche Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind wahrnehmen. Das Zertifikat dient auch zur Beantragung eines Reisepasses bei den tansanischen Behörden bzw. bei den Botschaften des Heimatlandes der Adoptiveltern. Nach erfolgreichem Abschluss des Adoptivprozesses können die Adoptivfamilien gemeinsam das Land verlassen und ihren Wohnsitz frei wählen. 560 Für eine Adoption in Tansania fallen keine Kosten an, denn die Dienstleistungen des Wohlfahrtsamtes und des Gerichtes sind gebührenfrei. Die einzigen Kosten, die mit einer Adoption auftreten, umfassen die Gebühren für den Anwalt, welche sich auf circa 500 bis 2.000 US-Dollar (365 bis 1.459 Euro) belaufen.561 Dennoch werden potenzielle Adoptiveltern, vor allem wenn sie aus dem Ausland stammen, mit Bitten der zuständigen Beamten um finanzielle Gefälligkeiten im Gegenzug zu einer Beschleunigung des Verfahrens konfrontiert.562 Internationale Adoption Die Vereinten Nationen sehen in internationalen Adoptionen eine Möglichkeit, die nur in äußersten Notlagen und zum Wohle des Kindes angewandt werden sollte. Eine Adoption muss entsprechend des Artikels 20 (3) der UNKinderrechtskonvention die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes beachten. Im Artikel 21 b) wird dementsprechend eine Hierarchie der Betreuungsoptionen formuliert, nach der eine internationale Adoption 559
Vgl. ebd., o. S. Vgl. ebd., o. S. 561 Vgl. ebd., o. S. 562 Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 560
4.1 Adoption und Pflege
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nur in Frage kommt, wenn das Kind in seinem Heimatland nicht in einer Pflegeoder Adoptivfamilie untergebracht oder anderweitig betreut werden kann.563 Mit dem Ziel, internationale Adoption zu vereinheitlichen und stärker zu kontrollieren, entstand 1993 das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption. Mitgliedsstaaten, die diese Regelung ratifizieren, verpflichten sich, verbindliche Grundsätze und Verfahrensrichtlinien für internationale Adoptionen einzuhalten. Beispielsweise müssen die Länder staatlich autorisierte, gemeinnützige Organisationen einsetzen, die alle Adoptionsanträge beurteilen und eng mit den entsprechenden Behörden im Herkunftsland des Kindes zusammenarbeiten. Diese und weitere Maßnahmen sollen sicherstellen, dass alle internationalen Adoptionen zum Wohle des Kindes stattfinden und Kinderhandel unterbunden wird. 564 In Tansania wurde die Haager Konvention bisher nicht ratifiziert.565 Die nationale Gesetzgebung Tansanias lässt hinsichtlich der Herkunft potenzieller Adoptiveltern einen breiten Spielraum für Interpretation und ermöglicht dadurch auch Adoptionen durch ausländische Staatsangehörige. Die Law Reform Commission (1994) beschäftigte sich im Rahmen einer Untersuchung von unterschiedlichen Gesetzen, die sich mit der Versorgung von Kindern befassen, auch mit der Möglichkeit internationaler Adoptionen und kam zur Ansicht, dass diese Option nur als nachrangige Lösung für tansanische Kinder in Frage kommen sollte. Die Befürchtungen, die in dem Bericht der Kommission zum Ausdruck kamen, umfassten vor allem die Gefahr, dass die Kinder in ihrer neuen Heimat mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert werden sowie ihre kulturelle Identität verlieren und dass internationale Adoptionen sich zu einem Geschäft entwickeln könnten, bei dem nicht mehr das Wohle des Kindes im Mittelpunkt steht. Obwohl die Mitglieder der einzelnen Arbeitsgruppen auch Chancen in der internationalen Adoption sahen, beispielsweise die Entlastung der Herkunftsfamilie, dominierte eine eher negative Sichtweise auf diese Option. Die Kommission gab die Empfehlung, Adoptionen durch ausländische Staatsangehörige zu minimieren, das heißt diese nur in begründeten Ausnahmefällen zuzulassen, und stattdessen Adoptionen innerhalb des Landes zu fördern. 566 Diese Empfehlung ging bisher nicht in die Gesetzgebung ein, so dass in Tansania weiterhin Adoptionen durch ausländische Staatsangehörige verbreitet sind und einen nicht unbedeutenden Anteil an allen Adoptionen ausmachen. Die 563
Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1999a, S. 17 f. 564 Vgl. www.bmj.bund.de/enid/0,0/Internationales/Internationale_Adoptionen_6e.html?druck=1 20.04.09. 565 Vgl. www.hcch.net/index_en.php?act=conventions.status&cid=69 20.04.09. 566 Vgl. United Republic of Tanzania – Law Reform Commission (Hrsg.) 1994, o. S.
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Leiterin des Wohlfahrtsamts der Region Mwanza, Gertrude Kulindwa, räumte im Gespräch mit der Autorin sogar die Möglichkeit ein, dass die wachsende Zahl von Waisen in den nächsten Jahren zu einer veränderten Gesetzgebung führen könnte, die internationale Adoptionen erleichtert.567 Die Erleichterung internationaler Adoptionen beinhaltet die Gefahr einer verstärkten Korruption bei den staatlichen Stellen. Einer Reform der Adoptionsregelung müssen deshalb geeignete Instrumente zur Korruptionsbekämpfung vorangestellt werden. 568 Abbildung 79: Meinungsbild zu internationalen Adoptionen Die Ansichten zu internationalen und interkulturellen Adoptionen gehen bei den befragten Interviewpartnern weit auseinander. Einige befürworten diese Praxis in Fällen, in denen keine Möglichkeit zur Versorgung der Kinder in einem familiären Rahmen in Tansania besteht. „Ich glaube, dass internationale Adoption ein letztes Mittel ist, aber es ist immer noch eine positive Sache. […] Es ist mit Sicherheit besser, adoptiert zu sein, als sein Leben in einer Institution zu verbringen.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Interkulturelle Adoptionen fanden in den vergangenen Jahren eine zunehmende Verbreitung in Europa und Amerika. Dies führte zu Einstellungsänderungen in der Bevölkerung und äußert sich, laut Brooke Montgomery, darin, dass ein schwarzes Kind mit weißen Eltern auf der Straße keine übermäßige Aufmerksamkeit mehr erregt und rassistisch motivierte Diskriminierung zurückgeht. Auf Grund der Nachfrage nach Adoptiveltern in Tansania sollten internationale Adoptionen erleichtert werden, doch bisher sieht sie dafür keine Anzeichen. „Sie [die Regierungsvertreter] sind wirklich nicht offen dafür [internationale Adoptionen] und ich bezweifle, dass es passieren wird.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Adolf Mrema, Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, befürwortet ebenfalls eine Änderung der Adoptionsgesetze, um internationale Adoptionen zu vereinfachen: „Warum sollte ein Kind leiden, wenn es jemanden gibt, der sich um dieses Kind kümmern könnte.“ (Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Andere Interviewpartner bewerten die Option der internationalen Adoption kritischer und sehen sie nicht als geeignete Lösung für verwaiste Kinder. Gegner der internationalen Adoption befürchten, dass ein Kind seine Identität verliert, wenn es in einem fremden Kulturkreis oder bei Adoptiveltern mit anderen ethnischen Wurzeln aufwächst. Dies könnte zu Problemen bei der Persönlichkeitsentwicklung führen und beim Kind das Gefühl entstehen lassen, dass es zu keiner Kultur gehört. (Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit F. Urembo am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania)
4.2.3 Fallbeispiel Der folgende Abschnitt stellt zwei Organisationen vor, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die formelle Pflege bzw. Adoption in Tansania zu fördern. 567 568
Vgl. Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
4.1 Adoption und Pflege
269
Formelle Pflege – Mavuno Village Die Idee für die Organisation Mavuno Village entstand im Jahr 2003. Das Hauptziel der Organisation besteht darin, Waisen zu unterstützen, damit sie in einem familiären Umfeld aufwachsen, sich zu guten tansanischen Bürgern entwickeln und nach ihrer Volljährigkeit ein unabhängiges Leben führen können. Die Hilfe der Organisation beschränkt sich nicht nur auf materielle Aspekte, sondern umfasst auch mentale und spirituelle Gesichtspunkte. Die Organisation widmet sich dabei zwei Arbeitsbereichen: zum einen einem Kinderdorf und zum anderen einem Pflegekindprogramm. Während sich das Kinderdorf noch im Bau befindet, begann die Organisation mit ihrem Pflegekindprogramm. Mit Hilfe dieses Programms möchte die Organisation die Möglichkeit der formellen Pflege in Tansania bekannt machen und Hemmnisse abbauen, die bisher die Aufnahme nichtverwandter Kinder einschränkten. 569 Die Aufnahme von nichtverwandten Kindern in einen Haushalt scheitert häufig an den finanziellen Belastungen, die den Pflegeeltern entstehen. Die Versorgung verwaister oder bedürftiger Familienangehöriger strapaziert ebenfalls das Haushaltsbudget, aber entspricht der traditionellen Verpflichtung, so dass der soziale Druck und mangelnde Alternativen eine Aufnahme begünstigen. Bei der Pflege nichtverwandter Kinder entstehen nicht nur finanzielle Nachteile. Die Familie muss sich darüber hinaus mit Vorurteilen und dem Unverständnis von Menschen aus der Umgebung auseinandersetzen, da die Versorgung nichtverwandter Kinder nicht den Traditionen in Tansania entspricht. Der Staat verfügt nicht über ausreichende finanzielle Ressourcen, um Pflegeeltern, wie beispielsweise in Deutschland, einen Zuschuss zu zahlen und mit dieser Maßnahme finanzielle Anreize für die formelle Pflege zu schaffen. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass das Geld nicht den Pflegekindern zugutekommt. Menschen in Tansania haben viele eigene Probleme und tragen traditionell die Verantwortung für andere Familienmitglieder. Der soziale Druck, bei einem verbesserten Einkommen das Geld für die Bedürfnisse der eigenen Familie auszugeben, erschwert Barzahlungen.570 Die Organisation Mavuno Village versucht, in ihrem Pflegekindprogramm diese Schwierigkeiten aufzugreifen. Das Programm zielt auf die Vermittlung bedürftiger Kinder in Pflegefamilien. Zu diesem Zweck sucht die Organisation in den Kommunen verlässliche Ehepaare, die sich als Pflegeeltern eignen. Die Mitarbeiter, drei Ehepaare aus dem In- und Ausland, klären die Bevölkerung über die Möglichkeit der formellen Pflege auf, indem sie ihr Programm in Kirchen der 569 570
Vgl. www.mavunovillage.org/Timeline.shtml 15.04.09. Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Umgebung vorstellen. Dies ermöglicht einerseits die Mobilisierung potenzieller Pflegefamilien und gibt andererseits den Anstoß für eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der formellen Pflege und der Aufnahme nichtverwandter Kinder.571 Familien, deren Interesse geweckt wurde, können sich dann eigenständig an die Organisation wenden. Die Mitarbeiter der Organisation treffen eine Auswahl unter den Bewerbern anhand verschiedener Kriterien. Besonderen Wert legen die Verantwortlichen auf die finanzielle Stabilität der Pflegeeltern. Obwohl die Familie bei der Aufnahme eines Pflegekindes einen monatlichen Zuschuss von 20.000 TSH (11,25 Euro) erhält, darf dieses Geld nicht zur Existenzsicherung der Familie dienen. Der Haushalt muss in der Lage sein, den Lebensunterhalt für das Ehepaar, leibliche Kinder und andere Haushaltsmitglieder allein zu erwirtschaften. Das Pflegekind soll weder eine finanzielle Last für den Haushalt noch eine Einnahmequelle darstellen. Weitere Auswahlkriterien umfassen beispielsweise einen christlichen Lebenswandel, die Motivation der Pflegeeltern sowie die Stabilität der familiären Gemeinschaft, die den Kindern als Modell für ihr späteres Leben dienen soll. 572 Nach Abschluss der Vorauswahl der Pflegeeltern durch die Organisation schalten die Mitarbeiter das Wohlfahrtsamt ein. Die potenziellen Pflegeeltern werden von den zuständigen Beamten nach Prüfung der Situation bestätigt oder abgelehnt. Erst nach der offiziellen Anerkennung als Pflegeeltern findet die Vermittlung von Kindern in die Familien statt. Die Identifizierung bedürftiger Kinder erfolgt sowohl durch die Sozialarbeiter des Wohlfahrtsamtes als auch durch die Organisation. Das Wohlfahrtsamt trägt in beiden Fällen die Verantwortung für die Entscheidung über eine Fremdunterbringung. Die Beamten verschaffen sich einen Überblick über die Sachlage, wägen mögliche Alternativen im familiären Umfeld des Kindes ab und holen die Einwilligung der Angehörigen des Kindes ein. Bewilligt das Wohlfahrtsamt die Überstellung des Kindes in ein formelles Pflegeverhältnis erfolgt die Fremdplatzierung. 573 Vor und nach der Eingliederung von Pflegekindern kooperiert die Organisation eng mit der Familie. Die Organisation erfüllt dabei die Beratungs- und Kontrollfunktion, die das Wohlfahrtsamt aufgrund geringer Ressourcen nicht leisten kann, und agiert als Vermittler zwischen Behörde und Pflegefamilie. Die Pflegeeltern erhalten eine intensive Beratung, monatliche Hausbesuche und jährliche Schulung, in denen sie sich mit auftretenden Problemen auseinandersetzen. Die enge Zusammenarbeit dient auch zur Kontrolle der Pflegeeltern und zur Überwachung des Wohlbefindens des Kindes. Die Mitarbeiter überprüfen, ob die Pfle571
Vgl. Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. ebd. 573 Vgl. ebd. 572
4.1 Adoption und Pflege
271
gekinder eine angemessene Versorgung erhalten, die den Unterhaltszahlungen entspricht. Neben dem monatlichen Zuschuss von 20.000 TSH (11,25 Euro) kommt die Organisation mit weiteren 20.000 TSH (11,25 Euro) direkt für Bildungskosten und Ausgaben im medizinischen Bereich auf. 574 Insgesamt betreut die Organisation 21 Kinder (Stand April 2009) in ihrem Pflegekindprogramm. Von diesen fanden viele Kinder gemeinsam mit ihren Geschwistern ein neues Zuhause. Neben Waisen betreut die Organisation auch Kinder von psychisch kranken Müttern, Kinder aus extremer Armut und Kinder, die aufgrund von Albinismus unter einem gesellschaftlichen Stigma leiden. Besitzen die Heranwachsenden noch lebende Verwandte befürwortet die Organisation Kontakte zwischen den Kindern und ihrer Familie. 575 Das Pflegeverhältnis ist auf Dauer angelegt und soll den Kindern bis zur Volljährigkeit ein Zuhause bieten. Im Idealfall bleiben die Beziehungen auch nach Beendigung der Hilfe bestehen. Obwohl die Adoption nicht das Ziel des Pflegeverhältnisses darstellt, erwartet die Organisation von den Pflegeeltern, dass sie die Kinder wie ihre eigenen Kinder annehmen. Die Pflegekinder bilden einen Teil der Familie. Dies soll beispielsweise darin zum Ausdruck kommen, dass die Pflegeeltern die Kinder bei Familienbesuchen mitnehmen und sie in die tägliche Arbeit auf dem Feld und im Haus integrieren. Eine liebevolle Beziehung zwischen den Pflegeeltern und dem angenommenen Kind ermöglicht den Aufbau fester Bindungen. Von diesen können auch die Pflegeeltern langfristig profitieren, wenn die Kinder später die erfahrene Unterstützung an die Pflegeeltern zurückgeben, wie es den tansanischen Traditionen zwischen Eltern und ihren Nachkommen entspricht.576 Das Aufwachsen in einer Pflegefamilie fördert, stärker als ein Leben in einer Institution, die Integration der Kinder in die Kommune. Malaki Bujiku erklärt, dass das Ziel der Integration Ausschlag für die Entwicklung des Pflegekindprogramms gab: „Die Kinder müssen mit der Gemeinschaft um sie herum vernetzt sein.“ (Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Pflegekinder stehen in der Schule und der Freizeit in Kontakt mit anderen Kindern der Gemeinde, profitieren von unterschiedlichsten Sozialisationserfahrungen innerhalb und außerhalb ihrer Pflegefamilie und erleben einen familiären Alltag in ihrem Haushalt. 577 Der Organisation Mavuno Village gelang es mit ihrem Pflegekindprogramm, Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber der Aufnahme nichtverwandter Kinder abzubauen und Hemmnisse zu beseitigen. Durch ihre Arbeit ließen sich 574
Vgl. ebd. Vgl. www.mavunovillage.org/index.shtml 15.04.09. 576 Vgl. Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania. 577 Vgl. ebd. 575
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Familien motivieren, einem oder mehreren Kindern ein neues Zuhause zu bieten. Dies zeigt, dass die Bereitschaft für formelle Pflege in Tansania vorhanden ist und sich durch eine entsprechende Sensibilisierung und Unterstützung mobilisieren lässt. Die Bereitstellung qualitativ hochwertiger Pflege innerhalb eines familiären Rahmens für Kinder, die nicht innerhalb ihrer Herkunftsfamilien ein Zuhause finden, könnte sich in Zukunft zu einer geeigneten und kostengünstigen Alternative zur institutionellen Versorgung entwickeln. Adoption – Tanzania Adoption Society Brooke Montgomery kam während ihres Studiums in China im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit dem Schicksal von verwaisten und verlassenen Kindern in stationären Einrichtungen in Berührung. Sie entschied sich darauf gegen biologische Kinder und wählte stattdessen den Weg der Adoption. Gemeinsam mit ihrem Mann adoptierten sie ein Mädchen aus Äthiopien und einen Säugling aus Südafrika. Die Erfahrungen mit der institutionellen Versorgung von Kindern und mit den Adoptionsprozessen gaben auch den Ausschlag für ihre berufliche Orientierung. Brooke Montgomery studierte an der Universität in Hong Kong Recht und spezialisierte sich auf Adoption. Einer ihrer Professoren stammte aus Tansania und in gemeinsamen Gesprächen entwickelte sich der Gedanke, nach Tansania zu gehen und im Bereich Adoption und Waisenhilfe tätig zu werden. Seit dem Jahr 2002 lebt sie mit ihrer Familie in Dar es Salaam und initiierte die Organisation Boona-Baana Center for Children’s Rights, welche vielfältige soziale Projekte unterhält. Mit dem Ziel, Adoption in Tansania bekannt zu machen, arbeitet Brooke Montgomery als Anwalt in einer Kanzlei und gründete die erste Adoptionsgesellschaft Tansanias. 578 Die Tanzania Adoption Society ist die einzige Adoptionsgesellschaft in Tansania. Sie verfügt über eine Registrierung als nichtstaatliche und gemeinnützige Organisation und befindet sich in der Antragsstellung zur Registrierung als amtlich zugelassene Adoptionsgesellschaft für nationale und internationale Adoptionen. Die Organisation verfolgt zwei wesentliche Ziele. Das erste Ziel besteht in der Bekanntmachung der Möglichkeit von Adoptionen in Tansania. Durch Gesprächsrunden, Tagungen und Informationsmaterialien versucht Brooke Montgomery, die Bevölkerung und wichtige Stakeholder über formelle Pflege und Adoption aufzuklären. Sie kooperiert dabei eng mit staatlichen Stellen und produziert gemeinsam mit der nationalen Wohlfahrtsbehörde Informati578 Vgl. www.boonabaana.org/our_story.htm 15.04.09; Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen
273
onsmaterial und Richtlinien für die Praxis. In Weiterbildungen für Beamte der Wohlfahrtsämter gibt sie ihr Wissen bezüglich des Adoptionsprozesses und den rechtlichen Rahmenbedingungen weiter.579 Neben der Lobbyarbeit sieht Brooke Montgomery ihre Aufgabe darin, potenzielle Adoptiveltern in Kontakt mit Kindern zu bringen, die auf eine Adoption warten. Mit dem Ziel, diese Kinder zu identifizieren, arbeitet Brooke Montgomery mit verschiedenen Säuglings- und Kinderheimen in unterschiedlichen Regionen des Landes zusammen. Das Säuglingsheim Forever Angels in Mwanza ist einer dieser Kooperationspartner. Amy Hathaway, die selbst mit Hilfe von Brooke Montgomery Kinder in Tansania adoptierte, gründete und leitet diese Einrichtung. Säuglinge ohne bekannte Familienangehörige, die im Säuglingsheim Forever Angels aufwachsen, meldet Amy Hathaway an Brooke Montgomery weiter. Diese stellt die Verbindung zu potenziellen Adoptiveltern her.580 Brooke Montgomery beschreibt die Vision, die sie hinsichtlich der Vermittlung von Adoptionen sieht: „Meine eigentliche Mission ist es, kindorientiert zu sein; mich mehr oder weniger darauf zu konzentrieren, Familien für Kinder zu finden statt Kinder für Familien. Wenn ein Kind keine Familien benötigt, sollte es nicht adoptiert werden. […] Aber die Realität ist, dass die Familien zu mir kommen – denn die Kinder kommen nicht zu mir – und sie sagen: „Wir wollen adoptieren. Wie machen wir das?“ Und ich helfe ihnen durch den gesamten Prozess.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Tanzania Adoption Society stellt für viele adoptionswillige Ausländer die erste Anlaufstelle in Tansania dar, bietet ihren Service aber auch tansanischen Staatsangehörigen im In- und Ausland an.581 4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen Stationäre Betreuungseinrichtungen zeichnen sich durch eine vollständige pädagogische Betreuung und Versorgung der Kinder außerhalb ihrer familiären Umgebung aus. Die Kinder leben Tag und Nacht in der Einrichtung und erhalten Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, medizinische Versorgung und Bildung. Die Bildungsangebote nehmen die Kinder in lokalen Schulen, in Internatsschulen oder in heimeigenen Bildungseinrichtungen wahr.
579
Vgl. www.adoptiontanzania.org/ 15.04.09. Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 581 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 580
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
4.3.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen Die ersten stationären Betreuungseinrichtungen in Tansania entstanden in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Form von Säuglingsheimen. Missionare gründeten in Zusammenarbeit mit Diözesen der tansanischen Kirche Heime, um Säuglinge zu versorgen, die bei der Geburt oder kurz darauf ihre Mutter verloren hatten. Die Überlebenschancen der Kinder in den Dörfern waren äußerst begrenzt, wenn sie nicht innerhalb ihrer Familien eine Ziehmutter fanden, die das Stillen übernahm. Beim Aufziehen der Kinder mit Ersatzmilch, das hieß in der Regel mit Milch von Kühen oder Ziegen, verstarben viele Kinder oder entwickelten sich sehr schlecht. Auf diese Problemlage reagierten die Missionare mit der Gründung von stationären Betreuungseinrichtungen, welche die kritische Entwicklungsphase der ersten Monate überbrücken sollten. Ziel der Einrichtungen bestand in der Rückführung der Kinder in ihre Familien nach ein bis zwei Jahren. 1968 verabschiedete die tansanische Regierung den „Children’s Home Act“, der die Arbeit stationärer Betreuungseinrichtungen regelte und somit legalisierte. Eine staatlich anerkannte Unterbringung von Kindern bis zum Alter von 18 Jahren in einer stationären Versorgungseinrichtung war ab diesem Zeitpunkt offiziell in Tansania möglich. 582 Trotz der gesetzlichen Verankerung blieben die Säuglingsheime für mehrere Jahrzehnte, neben Internaten der Sekundarschulen, die einzigen stationären Betreuungseinrichtungen in Tansania. Der Bedarf für eine stationäre Unterbringung entstand aufgrund der reziproken Versorgung in den Großfamilien nicht (Kap. 2.2.2). Erst im Zuge der AIDS-Epidemie und der damit verbundenen Waisenkrise kam es Anfang der 1990er Jahre zu einem bis heute anhaltenden Gründungsboom stationärer Einrichtungen. Aufgrund des stetigen Ausbaus der stationären Erziehungsangebote lassen sich keine Aussagen über die Dimensionen der institutionellen Versorgung treffen. Es existieren keine genauen Daten über die Gesamtzahl von stationären Betreuungseinrichtungen in Tansania und über die darin lebenden Kinder. Nicht alle stationären Einrichtungen verfügen über eine staatliche Anerkennung, so dass sich eine Erhebung der Daten und Auflistung aller Institutionen schwer durchführen lässt. Eine mehrfach zitierte Quelle berichtet, dass in Tansania 52 Waisenhäuser ungefähr 3.000 bedürftige Kinder betreuen. 583 Diese Zahl scheint, das Ausmaß institutioneller Versorgung zu un582 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 407; Johnson 2005, S. 17. 583 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2001, S. 6; www.combustion.eu/orphanage_en.html 08.04.09; www.startlearningnow.com/articles/orphanage.htm 08.04.09; www.search.com/reference/Orphanage 08.04.09; www.tripatlas.com/Orphanage#Africa 08.04.09.
4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen
275
terschätzen. Allein in der Arusha Region, eine von 26 Regionen des Landes, sind der Autorin mehr als 15 stationäre Einrichtungen zur Betreuung von Waisen und anderen bedürftigen Kindern bekannt. Die Gesamtzahl der stationären Betreuungsangebote in Tansania dürfte dementsprechend die Zahl von 52 weit übersteigen. Der permanente Ausbau des Systems lässt vermuten, dass der Höhepunkt der Entwicklung noch nicht erreicht wurde. Den Ausbau der Angebotspalette im stationären Bereich begründen die Verantwortlichen in der Regel mit einem steigenden Bedarf und der Überlastung bereits existierender Einrichtungen. 584 Whitehouse (2002) berichtete in ihrer Situationsanalyse von der Überbelegung der stationären Einrichtungen in der Mwanza Region. 585 Dies konnte die Autorin während ihrer Besuche in Heimen und Kinderdörfern sowie aufgrund ihrer Gespräche mit Mitarbeitern und Leitern dieser Institutionen nur bedingt bestätigen. Während einige Einrichtungen über ihre Aufnahmekapazitäten hinaus belegt waren, berichteten andere Einrichtungen von freien Plätzen. Die Gründung und die Expansion von stationären Angeboten lassen sich nicht mit unzureichenden Kapazitäten rechtfertigen. Zudem scheint der Ausbau stationärer Einrichtungen, einen steigenden Bedarf nach sich zu ziehen, da die stationären Einrichtungen Kindern oft einen höheren Lebensstandard bieten und die Unterbringung zu einer finanziellen Entlastung der Angehörigen führt.586 In den letzten Jahren richteten sich internationale Organisationen und die Regierung Tansanias zunehmend gegen die Fremdplatzierung von Kindern in stationären Einrichtungen. Auch der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ bestätigt die Nachrangigkeit von Institutionen: „Die institutionelle Versorgung sollte die letzte Lösung sein, wenn alle anderen Möglichkeiten, Betreuung anzubieten, gescheitert sind.“ (United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 25). Verschiedene Aktionspläne internationaler Organisationen zur Bewältigung der Waisenkrise räumen der Versorgung in der Familie Priorität ein, während die institutionelle Betreuung allein in Fällen zum Tragen kommen sollte, in denen keine Alternativen existieren oder der Bedarf für eine kurzfristige Unterbringung zur Situationsklärung besteht.587 Im Jahr 2006 sorgte eine Ankündigung der
584 Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 585 Vgl. Whitehouse 2002, S. 57. 586 Vgl. Subbarao, Mattimore und Plangemann 2001, S. 28; USAID (Hrsg.) 2001, S. 11; Alliance (Hrsg.) 2002, S. 4; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 12; Nyangara 2004, S. 8. 587 Vgl. Hunter und Williamson 1997, S. 25; Family Health International (Hrsg.) 2001, S. 9; USAID (Hrsg.) 2001, S. 11; UNAIDS, UNICEF und USAID (Hrsg.) 2002, S. 12; Alliance (Hrsg.) 2003, S. 18; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38; UNICEF (Hrsg.) 2003b, S. 33; Coury und Subbarao 2004,
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Regierung, alle Waisenhäuser des Landes zu schließen, bei den Leitern der Einrichtungen für Verwirrung und Unmut.588 Dieser Ankündigung folgten keine Maßnahmen; stattdessen nehmen öffentliche Stellen weiterhin Anträge zur Registrierung von neuen Einrichtungen entgegen und stellen bei entsprechenden Mindeststandards Lizenzen zur Betreuung von Kindern aus. Zusammenarbeit zwischen Wohlfahrtsamt und stationären Einrichtungen Entsprechend staatlicher Richtlinien benötigen Waisenheime eine Registrierung durch das zuständige Wohlfahrtsamt. Diese Registrierung stellt die Voraussetzung ihrer Anerkennung und die Legalität ihrer Aktivitäten dar. Allerdings besitzen nicht alle Einrichtungen, die Kinder stationär versorgen, eine staatliche Anerkennung. Der Übergang von Privatpersonen, die Waisen bei sich aufnehmen, weil sie einen unmittelbaren Bedarf feststellen, zu einem etablierten Heim erscheinen in Tansania fließend. In vielen Fällen lebt eine beträchtliche Anzahl nichtverwandter Kinder bei engagierten Menschen, ohne dass diese über eine offizielle Registrierung als stationäre Betreuungseinrichtung verfügen. 589 Dem Wohlfahrtsamt trägt neben der Verantwortung für die Lizenzvergabe und Überwachung stationärer Einrichtungen auch die Verantwortung für die Entscheidung über eine Fremdplatzierung bedürftiger Kinder. In der Regel benachrichtigen Familienangehörige, Anwohner, lokale Verwaltungskräfte, Polizeibeamte oder Angestellte von Krankenhäusern das Wohlfahrtsamt, wenn die Versorgung von Kindern nicht gesichert ist, ein Verdacht auf Misshandlung besteht oder ausgesetzte Kinder gefunden werden. Die Beamten haben die AufS. 39; UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 23; United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 25. 588 Vgl. Interview mit A. Kilongomtwa am 14.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 589 Es existieren verschiedene Fallbeispiele, die belegen, dass nicht alle Waisenhäuser in Tansania offiziell registriert sind: Siehe Axios International (Hrsg.) 2002, S. 36: Der Bericht der Organisation Axios International beschreibt drei Waisenhäuser in der Mbeya Region, die nicht über eine staatliche Registrierung verfügten. Alle Heime entstanden auf Initiative von Privatpersonen, die in ihrem Umfeld den Bedarf für die Versorgung unbetreuter Kinder sahen. Die Einrichtungen betreuen jeweils bis zu 45 Waisen. Siehe Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania: Die Heimleiterin eines Säuglingsheims berichtet von unregistrierten Einrichtungen zur Betreuung von Waisen in der Region Mwanza. Siehe Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania: Lucy Lema nahm über lange Zeit Kinder bei sich auf, ohne über eine staatliche Anerkennung als Betreuungseinrichtung zu verfügen. Trotz Schwierigkeiten die Mindeststandards zu erfüllen, konnte sie nach einigen Verbesserungen in der baulichen Ausstattung ihr Heim mit über 100 Kindern offiziell registrieren lassen.
4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen
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gabe, die Situation des Kindes zu prüfen und bei Bedarf und mangelnden Alternativen eine stationäre Unterbringung einzuleiten. Das Wohlfahrtsamt koordiniert die freien Plätze in den einzelnen Einrichtungen und arbeitet eng mit den Anbietern vor Ort zusammen. Des Weiteren liegt die Zuständigkeit für die Rückführung des Kindes in die Herkunftsfamilie bzw. eine Vermittlung an potenzielle Adoptiv- und Pflegeeltern in der Hand der Sozialarbeiter. Die Einrichtungen müssen ihrerseits Neuzugänge, die von den Familien oder anderen Personen direkt ins Heim gebracht wurden, der Behörde melden und regelmäßig Bericht über die Entwicklung der Kinder erstatten.590 Aufgrund einer unzureichenden materiellen, personellen und finanziellen Ausstattung der Wohlfahrtsämter werden die verantwortlichen Beamten ihren unterschiedlichen Aufträgen nicht in ausreichendem Maße gerecht. „Ich denke das Wohlfahrtsamt hat eine immense Aufgabe; jeden Tag kommen hunderte Menschen und sagen, dass sie nicht für ihre Kinder sorgen können, nicht für die Waisen sorgen können.“ (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Einige Aufgaben, beispielsweise die Rückführung der Kinder in ihre Herkunftsfamilien oder die Verifizierung des Bedarfs einer stationären Betreuung, übernehmen aus diesem Grund zum Teil die Einrichtungen. Die Überlastung der zuständigen Beamten führt zu zeitlichen Verzögerungen, beispielsweise bei der Überstellung von Kindern aus Krankenhäusern in Säuglingsheime.591 4.3.2 Charakteristika und Erscheinungsformen Der überwiegende Teil der stationären Betreuungseinrichtungen steht unter privater oder religiöser Trägerschaft; nur wenige Heime befinden sich in staatlicher Hand. 592 Die Heimeinrichtungen erhalten begrenzte oder keine finanzielle bzw. materielle Unterstützung vom Staat. In vielen Fällen stellte die Regierung die Unterstützung ein, da sie sich nicht in der Lage sah, diese weiterhin zu gewährleisten. Für Familienangehörige der Kinder besteht die Verpflichtung, monatlich den symbolischen Betrag von 1.000 bis 5.000 TSH (0,56 Euro bis 2,81 Euro) für die Versorgung zu zahlen. Viele Familien können dieser Aufforderung nicht 590 Vgl. Hunter, Kaijage, Maack, Kiondo und Masanja in Health Transition Review, 7/1997, S. 407; Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania. 591 Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 592 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2001, S. 6.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
nachkommen, da ihre finanziellen Mittel nicht ausreichen. Manche gleichen dies durch Sachleistungen, beispielsweise selbst geerntete Früchte, Eier oder Mais aus.593 Die Einrichtungen finanzieren sich in der Regel hauptsächlich mit Spenden, die vor allem im Ausland akquiriert werden. 594 Zunehmend nutzen die Einrichtungen eigene Einkommensprojekte, welche die laufenden Kosten senken, zum Beispiel durch den Anbau eigener Nahrungsmittel, oder zusätzliche Einnahmen erwirtschaften, zum Beispiel durch das Schulgeld auswärtiger Schüler, die heimeigene Schulen besuchen. 595 Die Qualität der Versorgung in den Einrichtungen in Tansania unterliegt einer immensen Bandbreite. Einige Einrichtungen leiden unter Versorgungsengpässen und einer geringen baulichen Qualität. Besonders unregistrierte Waisenhäuser in privater Leitung oder Heime, in denen Missmanagement und Korruption herrschen, weisen eine geringe Versorgungsqualität auf, welche für die gesunde Entwicklung der Kinder eine Gefahr darstellt. 596 Viele andere Heime, vor 593 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2000, S. 16; Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. 594 Vgl. Axios International (Hrsg.) 2001, S. 6. 595 Vgl. Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania. 596 Folgende Berichte geben Zeugnis von Heimeinrichtungen, in denen ein geringer Versorgungsstandard herrscht: Siehe Axios International (Hrsg.) 2001, S. 6: Die Organisation Axios International berichtete von der geringen baulichen Qualität im staatlich geführten Kurasini Children Centre in Dar es Salaam. In diesem Heim zeigten sich Mängel in der Unterkunft, wie undichte Dächer und unzureichende Sanitäranlagen. Ein Wasserhahn versorgte beispielsweise 80 Kinder. Siehe Axios International (Hrsg.) 2002, S. 36: Die Organisation Axios International porträtierte das Simike Orphan Centre in der Mbeya Region. Das Heim betreute beim Besuch von Mitarbeitern der Organisation 45 Waisen ab sechs Monate. Die Kinder lebten im Privathaus einer Grundschullehrerin. In dem aus Lehm gefertigten Gebäude schliefen die meisten Kinder auf Matten auf dem festgestampften Lehmboden; nur wenige verfügten über Betten. Die Lehrerin äußerte einen dringenden Bedarf an externer Unterstützung, da sie häufig nicht weiß, woher die nächste Mahlzeit der Kinder kommt. Siehe Boutin 2006, S. 7 f.: Kilolo House Orphanage litt vor allem unter einem Missmanagement der Ressourcen. Trotz ausländischer und kirchlicher Unterstützung gelang es der Einrichtung nicht, die Bedürfnisse der 80 Kinder zu befriedigen und ihnen die Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Während eines Besuches des Direktors der amerikanischen Geberorganisation im Jahr 2005 wurden verschiedenste Missstände festgestellt. Das Heim wirkte unsauber und auch auf die persönliche Hygiene der Kinder achteten die Betreuer nicht. Als Folge schliefen die Säuglinge auf uringetränkten Matratzen, Kleinkinder litten unter aufgeblähten Bäuchen und die Zähne älterer Kinder waren in einem schlechten Zustand. Die Verselbstständigung der Jugendlichen erhielt keine spezielle Aufmerksamkeit, so dass auch junge Menschen, die ihre Schule beendet hatten, keiner Arbeit nachgingen und sich im und durch das Heim versorgen ließen. Ältere betreute Mädchen lebten bereits mit eigenen Kindern im Heim, nachdem sie noch während ihrer Unterbringung schwanger wurden. Nicht nur Waisen waren in dieser Einrichtung untergebracht, sondern auch andere Kinder aus der Umgebung und Familienangehörige der Leitung.
4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen
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allem Einrichtungen unter ausländischer Leitung, bieten den Kindern einen Lebensstandard, der weit über dem tansanischen Durchschnitt liegt.597 Kinder in Heimen befinden sich in einer mehr oder weniger starken Isolation von ihrer Familie, der Gemeinde und dem gesellschaftlichen Leben. Diese Isolation reicht von einer fast vollständigen Ausprägung, beispielsweise wenn heimeigene Schulen den Kontakt zu Institutionen außerhalb der Einrichtung überflüssig machen, bis zu einer partiellen Isolation.598 Einige Einrichtungen versuchen, den Kontakt zwischen den Kindern und ihren Verwandten durch Besuche und Ferienaufenthalte zu bewahren und die Zöglinge in gesellschaftliche Institutionen, beispielsweise lokale Schulen oder religiöse Gemeinschaften, zu integrieren. Mit dieser Maßnahme soll die familiäre und kulturelle Identität der Kinder aufrechterhalten werden. Es lassen sich grundsätzlich fünf unterschiedliche Kategorien der stationären Betreuung unterscheiden, die für Waisen in Frage kommen. 599 Diese Erscheinungsformen der institutionellen Versorgung differenzieren hinsichtlich Klientel, Zielstellung und typischen Charakteristika (Abb. 80).
597 Bei Besuchen in stationären Einrichtungen und Gesprächen mit Mitarbeitern zeigte sich die überdurchschnittlich hohe Qualität der Versorgung: Siehe Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Die Versorgung der Kinder im Green Door Home liegt über dem tansanischen Durchschnitt. Die Kinder erhalten eine reichhaltige und abwechslungsreiche Ernährung und eine umfassende medizinische Versorgung in einer Privatklinik. Die Bildung erfolgt in Privatschulen der Umgebung. In ihrer Freizeit stehen den Zöglingen verschiedenes Spielzeug, Fernsehprogramme und Bücher zur Verfügung und gemeinsam werden Ausflüge unternommen. Siehe Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania: Das Starehe Children’s Home bietet den Kinder einen überdurchschnittlichen Lebensstandard. Die Kinder besuchen private English Medium Schools, erhalten drei bis fünf Mal in der Woche Fleisch und täglich Vitamine, bekommen ein Taschengeld zur privaten Verfügung und leben in qualitativ hochwertigen Unterkünften. 598 Folgende Beispiele veranschaulichen die unterschiedliche Ausprägung der Isolation von Kindern in Heimen: Siehe Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania: Das Kinderdorf Kemondo Orphan Care Center weist einen äußerst hohen Grad an Isolation auf. Die Kinder leben quasi in einem eigenen Dorf, welches aus mehreren Familieneinheiten besteht. Aufgrund der heimeigenen Schule, Spielplätzen und Gemeinschaftsräume zur Freizeitgestaltung, Gottesdiensten vor Ort und eigenen Feldern bietet sich den Kindern kaum ein Anlass, das Gelände der Einrichtung zu verlassen. Siehe Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania: Das Heim HISANI Orphanage ist räumlich in die Gemeinde integriert, da es mitten in einem Wohnviertel liegt. Die Kinder der Einrichtung besuchen lokale Schulen und kommen in Kontakt mit anderen Gleichaltrigen. Sie dürfen Schulkameraden besuchen und sie mit in die Einrichtung bringen. Lebt die Familie der Kinder in der Umgebung unterstützt die Organisation den Kontakt zu Angehörigen. 599 Die Darstellung der stationären Betreuungseinrichtungen schließt Jugendstrafanstalten (remand home) aus, da diese keine pädagogischen Einrichtungen im eigentlichen Sinne, sondern strafrechtliche Maßnahmen darstellen.
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Abbildung 80: Erscheinungsformen stationärer Betreuung in Tansania Typ „Klassische“ Kinderheime
Klientel Waisen und bedürftige Kinder bis circa 18 Jahre
Primäre Zielsetzung Begleitung der Kinder bis zur Selbstständigkeit
Familiäre Kleinstheime
Waisen und bedürftige Kinder bis circa 18 Jahre
Begleitung der Kinder bis zur Selbstständigkeit
Kinderdörfer
Waisen und bedürftige Kinder bis circa 18 Jahre
Begleitung der Kinder bis zur Selbstständigkeit
Säuglingsheime
Waisen und bedürftige Kinder bis max. 5 Jahre
Auffangheime für Straßenkinder
Straßenkinder bis circa 18 Jahre
Rückführung der Kinder in ihre Herkunftsfamilie oder familiäre Pflege Begleitung der Kinder bis zur Selbstständigkeit oder Rückführung in ihre Herkunftsfamilie
Charakteristika Betreuung in Gruppen i.d.R. ohne Bezugsbetreuersystem Betreuung in einer familiären Einheit mit circa 12 Kindern innerhalb der Kommune Betreuung in einer familiären Einheit mit circa 12 Kindern innerhalb eines Kinderdorfes Betreuung in Gruppen i.d.R. ohne Bezugsbetreuersystem Betreuung in Gruppen i.d.R. ohne Bezugsbetreuersystem
Die folgenden Ausführungen geben einen detaillierten Überblick über die in der Abbildung dargestellten Formen stationärer Betreuung. „Klassische“ Kinderheime „Klassische“ Kinderheime betreuen in der Regel Kinder aller Altersstufen, wobei individuelle Beschränkungen auftreten. Zöglinge leben in Heimen, weil sie Waisen sind, ausgesetzt wurden, die Eltern nicht für sie sorgen können oder sie aufgrund von Behinderungen ablehnen, sie auf der Straße gelebt haben oder in der Herkunftsfamilie körperlichen, psychischen oder sexuellen Misshandlungen ausgesetzt waren. Die Ursachen für eine Heimeinweisung variieren in den einzelnen Fällen und oftmals kommen mehrere Faktoren zusammen. Die Betreuung in den Heimeinrichtungen zielt auf die langfristige Versorgung der Kinder; die Reintegration in einen familiären Rahmen stellt in der Regel kein primäres Ziel dar. Die stationäre Unterbringung der Zöglinge endet mit Abschluss der Ausbildung und dem Erreichen einer wirtschaftlichen Autonomie. Aufgrund langer Ausbildungszeiten leben die jungen Menschen in der Regel über ihre Volljährigkeit hinaus im Heim oder befinden sich in finanzieller Abhängigkeit zur Institution. Das Heim übernimmt die gesamte Versorgung der Kinder in allen Lebensbereichen. Die Zöglinge leben meist in großen Gruppen ohne Bezugsbetreuer-
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system zusammen. Das bedeutet, dass die Kinder keine spezifischen Ansprechpartner haben, welche die Verantwortung für ihre Belange übernehmen. Die individuelle Zuwendung leidet auch unter dem Betreuungsschlüssel, denn häufig müssen sich einzelne Betreuer um mehr als 20 Kinder kümmern. In einigen Heimen gelingt es, das Betreuungspersonal mit Hilfe von ausländischen Volontären zu verstärken, doch die freiwilligen Einsätze bleiben zeitlich begrenzt. Familiäre Kleinstheime Ebenso wie in „klassischen“ Kinderheimen leben in familiären Kleinstheimen Kinder aller Altersstufen sowie aus verschiedensten Gründen. Die familiäre Reintegration stellt kein primäres Ziel der Betreuung dar; vielmehr sollen die Kinder ein neues Zuhause erhalten, welches ihnen Geborgenheit, Entwicklungschancen und eine angemessene Versorgung bietet. In Einzelfällen gehen Kinder zurück zu ihren Familien oder werden in Pflege- oder Adoptivfamilien vermittelt. Kleinstheime unterscheiden sich von „klassischen“ Kinderheimen durch eine geringe Kinderzahl und einen familiären Rahmen. Die Betreuung der circa zwölf Kinder übernimmt eine Hausmutter oder Hauseltern. Diese leben mit den Kindern in einem familiären Setting und übernehmen, teilweise unterstützt durch zusätzliche Betreuungskräfte, deren gesamte Versorgung. Die Hausmutter bzw. Hauseltern erfüllen die Rolle von Ersatzeltern, indem sie den Kindern als Ansprechpartner und Versorger dienen. Das alltägliche Leben in Kleinstheimen gleicht einem familiären Alltag. Wie in einer Familie leben Kinder unterschiedlichen Alters zusammen und übernehmen eigene Pflichten im Haushalt. Der Betreuungsschlüssel ermöglicht den Aufbau persönlicher Beziehungen, ein größeres Maß an emotioneller Zuwendung und das Eingehen auf individuelle Probleme der Kinder. Kleinstheime sind in der Regel in die Kommune integriert und unterscheiden sich nicht wesentlich von angrenzenden Wohnhäusern. Die geringe Anzahl der Kinder erzeugt die Notwendigkeit einer externen Beschulung in öffentlichen oder privaten Schulen. Die Nähe zur Nachbarschaft und der Besuch externer Bildungseinrichtungen stellen positive Bedingungen für die soziale Integration der Zöglinge dar. Kinderdörfer In Kinderdörfern leben Kinder unterschiedlichsten Alters und aus vergleichbaren Gründen, wie in „klassischen“ Kinderheimen und Kleinstheimen. Die Zielset-
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zung der stationären Betreuung unterscheidet sich ebenfalls nicht von der in den zuvor beschriebenen Einrichtungen. Die Kinder leben in der Regel bis zu ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit im Kinderdorf und verlassen dieses, um ein autonomes Leben zu führen. Bis zu ihrer Unabhängigkeit trägt das Kinderdorf die gesamte Verantwortung für die Versorgung der Kinder in allen Lebensbereichen. Der Unterschied zu „klassischen“ Kinderheimen besteht in der Betreuungsstruktur. Statt in großen Gruppen ohne Bezugsbetreuer wachsen die Kinder und Jugendlichen in Familieneinheiten auf. Diese Familieneinheiten leben separat voneinander in einzelnen Gebäuden und stehen unter der Aufsicht von Hauseltern oder Hausmüttern. Diese erfüllen die gleichen Aufgaben wie Hauseltern in familiären Kleinstheimen. Sie tragen die Verantwortung für die Versorgung und Erziehung der Kinder, treffen die täglichen Entscheidungen für ihre Schützlinge und dienen den Heranwachsenden als primäre Ansprechpartner. Die Familieneinheit weist die wesentlichen Merkmale eines Zusammenlebens in einem Privathaushalt auf. Die geringe Anzahl von circa zwölf Heranwachsenden pro Familieneinheit ermöglicht die gleichen Vorteile hinsichtlich des Beziehungsaufbaus und der individuellen Zuwendung, von denen auch Kleinstheime profitieren. Der wesentliche Unterschied zur stationären Betreuung in familiären Kleinstheimen stellt die Ansammlung mehrerer Familieneinheiten auf einem abgegrenzten Grundstück dar. Ein Kinderdorf setzt sich quasi aus mehreren familiären Kleinstheimen zusammen. Die Familieneinheiten bilden, wie der Name verdeutlicht, ein Dorf. In der Regel befinden sich, außer den Häusern für die Familieneinheiten mit angeschlossener Gartenfläche für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung, Gemeinschaftshäuser, Werkstätten und Verwaltungsgebäude auf dem Gelände. Einige Einrichtungen nutzen eigene Schulen und Werkstätten zur Ausbildung der bei ihnen lebenden Kinder und eine eigene Krankenstation zur medizinischen Versorgung. Aufgrund dieser Strukturen und der flächenmäßigen Ausdehnung lassen sich Kinderdörfer nicht in bereits bestehende Dorfgemeinschaften oder Stadtviertel integrieren, so dass die Zöglinge relativ isoliert aufwachsen. Die Familieneinheiten unterstehen einer Verwaltung, die organisatorische Entscheidungen trifft, Hauseltern einstellt und überwacht, die Kontakte zum Wohlfahrtsamt koordiniert und für die Finanzierung der Programme Verantwortung trägt. Säuglingsheime Die Unterbringung in einem Säuglingsheim erhöht für die betroffenen Kinder ihre Überlebenschancen und stellt eine Alternative zum Verbleib in Krankenhäu-
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sern dar. Die meisten Kinder in Säuglingsheimen sind Waisen, die ihre Mutter während oder kurz nach der Geburt verloren haben, oder ausgesetzte Findelkinder. In einigen Fällen leben Kinder von jungen Mädchen oder psychisch kranken Müttern sowie Säuglinge mit einem hohen medizinischen Bedarf in den Heimen. Säuglingsheime betreuen je nach Ausrichtung und Kapazität Kinder bis zum Alter von maximal zwei bis fünf Jahren. Die meisten Säuglinge kehren im Alter von circa zwei Jahren zu Verwandten zurück oder werden zur Adoption freigegeben. Zeichnet sich ab, dass für eine Eingliederung in die Herkunftsfamilie oder eine Pflege- bzw. Adoptionsfamilie keine Möglichkeit besteht, erfolgt die Überweisung des Kindes in ein Kinderheim für ältere Kinder. 600 Im Säuglingsheim Craddle of Love, welches seit dem Jahr 2004 für verwaiste und ausgesetzte Säuglinge sorgt, zeigte sich, dass sich die meisten Kinder in ein familiäres Setting vermitteln lassen. Von 123 Kindern, die seit der Gründung versorgt wurden, kehrten 35 zu ihren Familien zurück, 24 erhielten einheimische oder ausländische Adoptiveltern, 29 befinden sich weiterhin in der Pflege der Einrichtung und 23 verstarben. Von 71 überlebenden Kindern, die das Heim bereits verlassen haben, mussten nur zwölf in andere Heime vermittelt werden. 601 Die Versorgung in den von der Autorin besuchten Einrichtungen folgt einem an den besonderen Bedürfnissen von Säuglingen und Kleinkindern angepassten Rhythmus. Die Einrichtungen kommen dem erhöhten Bedarf der Zöglinge mit einem angepassten Betreuungsschlüssel und Schichtarbeit, welche die Versorgung der Kinder in der Nacht sicherstellt, nach. Trotz ausreichendem Personal existiert in keinem der besuchten Säuglingsheime ein Bezugsbetreuersystem, so dass die Kinder mit wechselnden Pflegekräften konfrontiert werden. Eine enge Beziehung zwischen den Kindern und ihren Betreuern lässt sich auf diese Weise nicht etablieren. Die Versorgung der Kinder bleibt trotz liebevoller Zuwendung anonym und unpersönlich. Im Vordergrund steht die Befriedigung physischer Bedürfnisse durch eine angemessene Ernährung, medizinische Versorgung und Hygienemaßnahmen. Viele Einrichtungen bemühen sich, die Entwicklung der Kinder durch Zuwendung und Anregung mit Spielzeug zu stimulieren. Auffangheime für Straßenkinder Ausführliche Informationen zur stationären Betreuung von Straßenkindern finden sich im Kapitel 4.4. 600 601
Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. www.cradleoflove.com/meet-the-children/ 07.04.09.
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4.3.3 Fallbeispiel Die folgenden Ausführungen porträtieren Fallbeispiele der einzelnen Erscheinungsformen stationärer Betreuung. Dies ermöglicht einen tieferen Einblick in den Alltag und die Strukturen der Einrichtungen und verdeutlicht die individuellen Unterschiede. „Klassische“ Kinderheime Das Bethany Project bzw. die Bethany Family liegt am Ufer des Lake Victoria in der Mwanza Region. Die Ursprünge der Einrichtung gehen auf das Jahr 1989 zurück. In diesem Jahr besuchten zwei Engländer einen Freund in Mwanza und waren von der großen Anzahl von Straßenkindern in der Stadt bestürzt. Mit dem Gefühl, die Situation der Kinder verbessern zu wollen, gingen sie nach England zurück und berichteten in ihren Kirchen von den Problemen junger Menschen in Tansania. Gemeinsam mit den Kirchgemeinden entstand der Plan, ein Waisenhaus zu errichten, welches Kindern ohne familiären Anschluss oder Heranwachsenden aus ungeeigneten Verhältnissen ein neues Zuhause bietet. 1991 kehrten die zwei Engländer und weitere Helfer mit dieser Idee nach Tansania zurück und begannen unterstützt durch einheimische Kräfte mit dem Bau. Der Prozess bis zur Eröffnung gestaltete sich langwierig: Genehmigungen mussten beantragt, Bauland gefunden, die Gebäude errichtet und eine Wasseraufbereitungslage installiert werden. Geeignetes Bauland stellte das angrenzende Dorf dem Projekt schließlich kostenlos zur Verfügung und die Behörden erteilten die entsprechenden Bewilligungen, so dass 1997 das Heim mit dem Einzug der ersten sechs Kinder eröffnet werden konnte. Seitdem wuchs die Zahl der Kinder stetig an und machte einen Ausbau der Gebäude notwendig. Beim Besuch der Autorin im Mai 2007 lebten 117 Kinder in der Einrichtung. 95% der Zöglinge waren Voll- oder Halbwaisen und 5% lebten vor der Unterbringung auf der Straße. Obwohl die Heimleitung die Aufnahme von Kindern zwischen fünf und zehn Jahren bevorzugt, akzeptieren sie in Ausnahmefällen auch jüngere oder ältere Kinder. 602 Die Leitung des Heimes liegt in den Händen von zwei Teams. Das erste besteht aus tansanischen Mitgliedern, welche vor Ort die täglichen Entscheidungen treffen und das Leben in der Einrichtung koordinieren. Das zweite Team setzt sich aus englischen Mitgliedern zusammen, die nicht in Tansania ansässig sind, sich aber regelmäßig über die Entwicklung in Tansania austauschen und die Einrichtung im Rahmen von Arbeitseinsätzen und Koordinierungstreffen besu602
Vgl. Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania.
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chen. Ein Managementteam aus fünf Personen, Tansanier und Engländer, trifft alle zentralen Entscheidungen. 603 Lebenswelt: Heim Der Einfluss aus England führt zu einer Prägung des Heimalltages mit englischen und tansanischen Werten. Darüber hinaus bestimmt eine in der Konstitution festgeschriebene christliche Orientierung das Zusammenleben. Der Artikel 3.1. der Konstitution lautet dementsprechend: „Das Bethany Project ist eine ökumenische Organisation, welche sich verpflichtet, das Christentum zu fördern.“ (www.bethanyfamily.net/constitution/index.html 08.04.09/ Übersetzung durch Verf.). Die im Heim vermittelten Werte spiegeln sich im Motto der Einrichtung „Harte Arbeit und gutes Benehmen“ wider. Auf der Internetseite der Organisation heißt es dazu: „Wir glauben, dass der Grund, warum Bethany die glücklichsten, zufriedensten und motiviertesten Kinder in ganz Tansania hat, zum Teil auf diese zwei Erwartungen zurückzuführen ist.“ (www.bethanyfamily.net/html/blocks.html 08.04.09/ Übersetzung durch Verf.). Das Motto stellt zugleich die Bedingung für die Aufnahme und den Verbleib der Heranwachsenden in der Einrichtung dar. Bei Verletzungen dieser Regeln ermahnen die Betreuer in Einzelgesprächen das jeweilige Kind. Bleibt diese Maßnahme ergebnislos, thematisieren die Mitarbeiter das Verhaltensproblem in der gesamten Gruppe mit allen Kindern. Besonders bei älteren Kindern, die zuvor auf der Straße lebten, treten Schwierigkeiten auf, da sie verfestigte Verhaltensmuster aufweisen, die nicht mit dem Leben in der Gemeinschaft kompatibel erscheinen. „Wenn sie jünger sind, ist es einfacher, sie zu kontrollieren.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bei anhaltenden Verstößen gegen das Motto der Einrichtung liegt die letzte Konsequenz im Ausschluss des Kindes, das heißt in der Regel die Rückführung zu Angehörigen. 604 Im Heim arbeiten neben dem Direktor sechs Mitarbeiter, die sich pro Schicht jeweils zu dritt um die über 100 Kinder kümmern. Ein Bezugsbetreuersystem existiert nicht, doch die Beziehung zwischen Kindern und Erziehern beschreibt der Direktor als sehr gut und herzlich. Die Liebe zu den Kindern und die christliche Einstellung stellen die zentralen Kriterien bei der Auswahl der 603 Vgl. www.bethanyfamily.net/constitution/index.html 08.04.09; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania. 604 Vgl. www.bethanyfamily.net/html/blocks.html 08.04.09; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betruungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Bethany Project am 04.05.07 in Magu, Tansania.
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Mitarbeiter dar. Regelmäßig kommen Volontäre aus England für Arbeitseinsätze in die Einrichtung. Für die Dauer ihres Aufenthaltes, in der Regel zwei oder drei Wochen, leben die Freiwilligen auf dem Heimgelände und helfen beim Unterrichten und der Versorgung der Kinder oder sie beteiligen sich an Arbeitseinsätzen zum Bau und zur Ausbesserung von Gebäuden.605 Die Kinder leben im Heim in großen Gruppen zusammen und schlafen in nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen. Die Einrichtung besteht aus mehreren Gebäuden und einem weitläufigen Heimgelände. Trotz der großen Anzahl von Kindern betonen die Verantwortlichen den familiären Charakter der Einrichtung. Dieser spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass sich die älteren Kinder um die Jüngeren kümmern und Entscheidungen gemeinsam mit allen Kindern bei einem Treffen, welches Erzieher oder Kinder einberufen, besprochen werden. Inwieweit diese Maßnahmen den strukturellen Voraussetzungen, beispielsweise einem unzureichendem Betreuungsschlüssel, geschuldet sind und welchen Einfluss die Meinung der Kinder tatsächlich hat, bleibt offen. 606 Die materielle und medizinische Versorgung sowie die Bildungsmöglichkeiten der Kinder sind angemessen und entsprechen weitestgehend tansanischen Gewohnheiten und einem guten tansanischen Lebensstandard. Die Kinder besuchen öffentliche Schulen außerhalb der Einrichtung und erhalten am Abend zusätzlichen Unterricht. Je nach Fähigkeiten beginnen die Heranwachsenden nach Abschluss der Primarschule mit der Sekundarschule oder einer Ausbildung. Einige Jugendliche erhielten die Chance, für zwölf Monate nach England zu gehen, um dort eine Ausbildung, beispielsweise im Bereich Kunst oder Kindererziehung, zu absolvieren. Neben der formellen Bildung spielt die Vermittlung praktischer Lebensfertigkeiten eine wichtige Rolle. Die Heranwachsenden sollen, wie Kinder in Familien, einen Teil der täglichen Pflichten, beispielsweise Wäsche waschen oder landwirtschaftliche Aufgaben, übernehmen. Die Beteiligung der Kinder führten die Verantwortlichen ein, nachdem sie feststellten, dass den Jugendlichen wesentliche praktische Fertigkeiten fehlten und sie ein hohes Maß an Unselbständigkeit zeigten. Die medizinische Versorgung stellt neben den Bildungsangeboten einen weiteren Schwerpunkt und hohen Kostenfaktor der Arbeit dar. Der Gesundheitszustand der Kinder unterliegt genauen Kontrollen und kranke Kinder erhalten die nötige medizinische Betreuung. Um den HIV-Status der Heranwachsenden zu überwachen, lässt die Heimleitung die Kinder und Jugendlichen regelmäßig testen. Ein Mitarbeiter aus dem Distrikthospital übernimmt diese Aufgabe und kommt dazu in die Einrichtung. Bei einem positiven Testergebnis informiert das 605 606
Vgl. Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania. Vgl. ebd.
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Krankenhaus die Betreuer; das Kind erhält keine Informationen über seinen Status. Fünf Kinder in der Einrichtung weisen eine HIV-Infektion auf und erhalten die entsprechende medizinische Behandlung. Die regelmäßigen Kontrollen belegen, dass keine Neuinfektionen der Kinder auftreten und die HIVPräventionsmaßnahmen des Heimes, beispielsweise in Form von Gesprächen, erfolgreich sind. 607 Das Heim unterstützt Kontakte der Heranwachsenden zu Familienangehörigen, obwohl die Reintegration der Kinder in ihre Familien kein Ziel der Arbeit darstellt. Die Verwandten der Kinder haben die Möglichkeit, die Kinder zu besuchen oder in den Ferien zu sich zu nehmen. Neben den familiären Kontakten sollen die Wahrnehmung öffentlicher Bildungsangebote, Besuche bei Freunden und gemeinsame Fußballspiele mit Jugendlichen aus dem Dorf die gesellschaftliche Integration sichern.608 Gesellschaftliche Reintegration Entsprechend der Betreuungsrichtlinien der Einrichtung müssen die Zöglinge das Heim verlassen, wenn sie ihre Bildung abgeschlossen haben und sich in der Lage befinden, für sich selbst zu sorgen. Bei dem Gespräch der Autorin mit dem Direktor der Einrichtung erklärte dieser, dass sich seit der Eröffnung 1997 kein Jugendlicher aus dem Heim ein autonomes Leben außerhalb der Einrichtung aufbauen konnte. Einige junge Menschen leben in einem Alter von mehr als 20 Jahren weiterhin in der Abhängigkeit der Einrichtung, da sie sich immer noch in Ausbildungsprogrammen befinden. Trotzdem sehen die Verantwortlichen im Loslösungsprozess keine großen Schwierigkeiten. Die Anpassungsprobleme an einen einfacheren Lebensstil können die jungen Menschen später, nach Aussage des Direktors Daniel Bujiku, mit einer guten Ausbildung, praktischen Lebensfertigkeiten und harter Arbeit ausgleichen. Die hohen Verhaltensstandards, die das Heim den Kindern vermitteln möchte, sollen den Kindern ermöglichen, Vorbilder in der Gesellschaft und gute tansanische Bürger zu sein. 609 Familiäre Kleinstheime Das Kleinstheim Green Door Home ist ein Projekt der Organisation Boona Baana Center for Children’s Rights. Die Organisation wurde von Brooke Mont607
Vgl. ebd. Vgl. ebd. 609 Vgl. ebd. 608
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gomery und ihrem Ehemann Marco Barra-Castro gegründet und unterhält unterschiedliche Programme in Dar es Salaam. Brooke Montgomery arbeitet als Anwältin und begleitet potenzielle Adoptiveltern bei der Antragsstellung (Kap. 4.2.3). Marco Barra-Castro trägt die Verantwortung für das Management des Green Door Homes und die Finanzierung des Projektes. Die Organisation Boona Baana Center for Children’s Rights stellt das Gebäude des Heimes zur Verfügung und überwacht die Hauseltern sowie das Wohlergehen der Kinder. 610 Lebenswelt: Familiäres Kleinstheim Das Green Door Home liegt in einem ruhigen und sicheren Wohnviertel in Dar es Salaam. Äußerlich unterscheidet es sich nicht von den angrenzenden Wohngebäuden, doch das grüne Eingangstor weist den Weg. Hinter dem Tor befinden sich ein Garten mit einigen Spielgeräten und ein geräumiges Haus mit vier Schlafräumen, drei Bädern, einer Küche und einem Wohnbereich. Die Hauseltern, ein tansanisches Ehepaar, leben mit ihren eigenen zwei Kindern und neun Zöglingen in dem Gebäude. Sie übernehmen die tägliche Versorgung und Betreuung der Kinder. Durch diese Rollenmodelle lernen die Heranwachsenden grundlegende Fertigkeiten sowie gesellschaftliche Normen und Traditionen kennen. Die begrenzte Zahl der Kinder ermöglicht eine individuelle Betreuung und den Aufbau tragfähiger Beziehungen. Kein Kind geht in der Menge unter bzw. kann sich in der Masse verstecken. Auf diese Weise lassen sich Probleme gezielt bearbeiten und Stärken bewusst fördern. Zusätzliche Unterstützung in der Betreuung der Kinder erhalten die Hauseltern gelegentlich durch ausländische Volontäre. Neben den Beziehungen zu den Hauseltern zeigen sich bei den Kindern auch enge Bindungen untereinander. Brooke Montgomery hofft, dass sich diese Beziehungen in der Zukunft als soziale Sicherungsnetze für die Kinder erweisen. Wie unter Geschwistern sollen die Kinder nach dem Verlassen des Heimes füreinander da sein und sich gegenseitig Unterstützung bieten. 611 Die Versorgung der betreuten Kinder liegt über dem tansanischen Durchschnitt, entspricht aber dem Lebensstandard der angrenzenden Haushalte. Die bauliche Qualität und Ausstattung der Gebäude mit sanitären Anlagen und Elektrizität ist exzellent, die Kinder erhalten eine vielseitige Ernährung, der Haushalt verfügt über Spielzeug, Bücher und einen Fernseher, die medizinische Versor610 Vgl. www.boonabaana.org/volunteers_staff.htm 08.04.09; www.boonabaana.org/our_story.htm 15.04.09. 611 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Green Door Home am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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gung erfolgt in einer Privatklinik, die Leitung legt Wert auf eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung und die Kinder besuchen private Schulen in der Umgebung. In den Bildungseinrichtungen und in der Nachbarschaft kommen die Zöglinge in Kontakt mit Gleichaltrigen. Die Einbettung der Einrichtung in die lokale Gemeinde wirkt sich dabei förderlich auf die soziale Integration aus. 612 Kinderdörfer Das Kemondo Orphan Care Center liegt in der Kagera Region; der Region Tansanias, die als erste und lange Zeit am stärksten von der AIDS-Epidemie betroffen war. 1991 gab es in der Gegend von Bukoba, in der auch das Kinderdorf liegt, 40.000 Waisen. „Was wir uns vorstellten, war diesen Waisen zu helfen.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Initiative für die Einrichtung kam vor allem von einem deutschen Missionar, der zuvor in Mozambique ebenfalls in der Waisenhilfe gearbeitet hatte. Nach Beendigung seiner Berufstätigkeit ging er nach Tansania und gründete zusammen mit Johannes Kasimbazi, dem heutigen Leiter der Einrichtung, das Kinderdorf in Kemondo. 1991 fand der Baubeginn statt und zwei Jahre später erfolgte die Eröffnung mit der Aufnahme der ersten Kinder. Der deutsche Missionar konnte die Erfolge der Arbeit nicht lange erleben, denn er verstarb wenige Monate nach der Gründung. Dennoch trug er viel zum Gelingen des Projektes bei, denn seine Kontakte zur deutschen Hilfsorganisation NEHEMIA Christenhilfsdienst e.V. sichern bis heute die Finanzierung der Einrichtung. 613 Ein Teil der Finanzierung erfolgt über Patenschaften, die alle laufenden Kosten der Kinder tragen. Bei diesen Patenschaften sind nicht nur Briefkontakte zwischen Kindern und ihren Paten erwünscht, sondern auch Besuche der Paten möglich. Eigene Felder und Tiere dienen darüber hinaus als wirtschaftliche Einnahmequelle. Die landwirtschaftlichen Flächen gehören teilweise der gesamten Einrichtung und teilweise den einzelnen Kinderdorffamilien. Von den einzelnen Familien wird erwartet, dass sie einen Teil ihrer Nahrungsmittel eigenständig anbauen. Zusätzlich verfügt jedes Kind über die Möglichkeit, einen eigenen Garten zu bewirtschaften, um die Erträge zu verkaufen und sich vom eingenommenen Geld persönliche Wünsche zu erfüllen. 614 612
Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Green Door Home am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 613 Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania. 614 Vgl. Praktikum vom 13.02. – 20.02.02 in der stationären Betreuungseinrichtung der Organisation Kemondo Orphan Care Centre in Kemondo, Tansania.
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Die Arbeit des Kinderdorfes unterliegt seit seiner Gründung einem ständigen Wandlungsprozess. Anfangs stand die Betreuung und Versorgung der Kinder im Vordergrund, später bekam die Bildung eine wesentliche Bedeutung. Auf dem Gelände des Kinderdorfes befindet sich ein Kindergarten, eine englischsprachige Vorschule und eine eigene English Medium School. Diese Schule stellt gleichzeitig ein Einkommensprojekt dar, denn der Besuch einer eigenen Schule spart der Einrichtung Kosten und das Schulgeld auswärtiger Schüler finanziert ihren Erhalt. Nach Abschluss der English Medium School können die Kinder entsprechend ihrer Fähigkeiten ihre Schulbildung in einer externen Sekundarschule fortsetzen oder eine praktische Ausbildung beginnen. Zeitweise existierte neben der Schule eine Krankenstation zur medizinischen Versorgung der Kinder und der Menschen der Umgebung auf dem Gelände. 615 Im Zuge der Arbeit dehnte das Kinderdorf seine Aktivitäten auf Waisen und andere Kinder in der Umgebung aus. Unterstützung leistet die Organisation vor allem im Bildungsbereich, indem sie Waisen, die bei Verwandten leben, mit Schuluniformen ausstattet und Bildungseinrichtungen beim Erhalt und Ausbau ihrer Gebäude hilft. „Die Gesetze in Tansania haben sich verändert. Die Schulen gehören jetzt der Gemeinde, dadurch machen sie die Kommunen verantwortlich. Aber wenn man eine Schule hat, die so viele Waisen hat, ist dies eine große Belastung für eine Gemeinde. Deshalb versuchen wir, diesen Schulen zu helfen.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mit diesem Engagement unterscheidet sich das Kinderdorf in Kemondo von vielen stationären Betreuungseinrichtungen, die ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die bei ihnen lebenden Kinder richten. 616 Lebenswelt: Kinderdorf Die grundlegende Idee der Gründer des Kinderdorfes bestand darin, verwaisten Kindern ein neues Zuhause zu bieten und gleichzeitig die Nachteile einer institutionellen Versorgung zu vermeiden. Die Kinder sollten in einem familiären Setting und nicht in großen anonymen Gruppen aufwachsen. Dieses Konzept sahen die Initiatoren im Einklang mit der afrikanischen Tradition, in der ein Aufwachsen ohne Eltern in einem anderen Haushalt nichts Ungewöhnliches darstellt. Um die Kontakte in ihre alte Gemeinde und zu ihren Familienangehörigen aufrecht zu erhalten, besuchen die Heranwachsenden mindestens ein Mal pro Jahr in den Ferien Verwandte oder ehemalige Nachbarn. Eine langfristige Wiedereingliede615 616
Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania. Vgl. ebd.
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rung in eine Familie außerhalb der Einrichtung strebt die Organisation nicht an.617 Die Kinder kommen in der Regel im Alter zwischen drei und sechs Jahren in die Einrichtung. Jüngere Kinder nimmt das Kinderdorf nicht auf, denn ein Säuglingsheim in der Nähe betreut diese Altersgruppe und die Duplikation des Angebotes soll vermieden werden. Die Aufnahme von drei- bis sechsjährigen Kindern begründet der Leiter mit der starken Gefährdung kleiner Kinder und den Schwierigkeiten von älteren Kindern, sich an die Unterrichtssprache Englisch in der Schule anzupassen. In Ausnahmefällen nimmt das Kinderdorf auch ältere oder jüngere Kinder auf. Die Bedingung für die Aufnahme besteht in der Unfähigkeit der Eltern, aufgrund von Tod, Krankheit oder Abwesenheit für ihre Kinder zu sorgen. Gibt es andere Verwandte, die in der Lage sind und Bereitschaft zeigen, das Kind zu betreuen, zieht die Einrichtung diese Möglichkeit in Betracht: „Wir schauen in die Gemeinschaft; wir schauen in die Verwandtschaft. Wenn wir dort noch eine Möglichkeit sehen, dass das Kind innerhalb des Familiensystems betreut werden kann, dann nehmen wir dieses Kind nicht. […] Manchmal stellt man fest, dass das Kind irgendwo einen reichen Onkel oder eine reiche Tante hat. Aber wir versuchen auch herauszufinden, ob diese Menschen wirklich verantwortungsvoll sind, fühlen sie wirklich mit dem Kind; denn möglicherweise gibt es jemanden, aber es ist ihm egal.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.).618 Das weitläufige Gelände am Ufer des Lake Victoria vermittelt den Eindruck eines kleinen Dorfes. Am Eingang findet sich die Schule, welche die Verbindung zwischen Kinderdorf und Außenwelt darstellt. Über einen Spielplatz und vorbei an Verwaltungsgebäuden und Gemeinschaftsräumen führt der Weg zu einer Ansammlung kleiner Backsteinhäuser. In diesen lebt jeweils eine Kinderdorffamilie, welche sich aus den Hauseltern bzw. der Hausmutter und zwölf bis 15 Kindern zusammensetzt. Jede Familie erhält zusätzlich die Unterstützung einer Helferin, die sich Dada (große Schwester) nennt. In manchen Familien leben weitere Helfer, in der Regel Angehörige der Hauseltern oder Hausmütter, die keine Bezahlung von der Organisation erhalten. Die Angestellten in den Kinderdorffamilien verfügen nicht über eine pädagogische Ausbildung, da ausgebildete Pädagogen oder Sozialarbeiter keine Bereitschaft für die Arbeit zeigen. Hemmnisse bei der Anstellung von Fachkräften stellen vor allem der geringe Lohn, die ländliche Lage und die Form der Arbeit, praktische Arbeit in allen Lebensbereichen statt Büroarbeit in Leitungsfunktionen, dar. Die Koordinierung und Kontrolle der Arbeit in den einzelnen Familien, die Organisation von Gemein617 618
Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania. Vgl. ebd.
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schaftsprojekten und die administrativen Aufgaben übernimmt die Leitung des Kinderdorfes. Eine enge Zusammenarbeit mit den Familien sichern verschiedene Treffen, die täglich oder wöchentlich stattfinden und Raum zur Klärung von Problemen bieten sowie dem Austausch von Ideen dienen. 619 Für die betreuten Kinder bildet das Kinderdorf ihre Lebenswelt und die Kinderdorffamilie ihren Lebensmittelpunkt. Das gesamte Leben der Kinder findet auf dem Gelände des Kinderdorfes statt. Sie besuchen die Bildungsangebote vor Ort, verbringen ihre Freizeit auf dem Spielplatz oder bei Videonachmittagen im Gemeinschaftshaus, arbeiten auf den Feldern ihrer Kinderdorffamilie und nehmen an den Gottesdiensten und Andachten auf dem Gelände teil. Jede Kinderdorffamilie versteht sich als Einheit, die sich wie ein Haushalt aus Kindern verschiedener Altersstufen und erwachsenen Bezugspersonen zusammensetzt. Alle täglichen Bedürfnisse der Kinder, beispielsweise regelmäßige Mahlzeiten und emotionelle Zuwendung, werden in dieser Einheit erfüllt. 620 Gesellschaftliche Reintegration Die jungen Menschen verlassen die Einrichtung, wenn sie ihre Bildung beendet haben. Abhängig von der Bildungslaufbahn, die sie wählen, findet die Loslösung früher oder später statt. Einen Jugendlichen, der nach dem Besuch der English Medium School eine Ausbildung beginnt, entlässt die Einrichtung bedeutend früher in ein unabhängiges Leben, als einen Zögling, dem die Organisation ein Studium an der Universität finanziert. Um den Übergang in die wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erleichtern, erhalten die jungen Menschen eine Grundausstattung, beispielsweise Werkzeug, zum Start eines eigenen Geschäftes. Die Trennung vom Kinderdorf und ihrer Kinderdorffamilie stellt eine endgültige Trennung dar. Die jungen Menschen können in die Einrichtung zurückkehren, um ihre „Familie“ zu besuchen oder um sich Rat und Hilfe zu holen; eine Wiederaufnahme ist anders als in natürlichen Familiensystemen nicht möglich. 621 Das Kemondo Orphan Care Center gehört zu den wenigen besuchten Einrichtungen, die bereits Erfahrung mit der gesellschaftlichen Eingliederung ihrer Zöglinge sammeln konnten. Johannes Kasimbazi beobachtete dabei die Schwierigkeiten der jungen Menschen, mit der neu gewonnenen Freiheit umzugehen. Der Zugewinn an Autonomie, der mit dem Wegfallen von Regeln und Kontrollen beim Übergang in die Selbstständigkeit einhergeht, überfordert viele junge 619 Vgl. Praktikum vom 13.02. – 20.02.02 in der stationären Betreuungseinrichtung der Organisation Kemondo Orphan Care Centre in Kemondo, Tansania. 620 Vgl. ebd. 621 Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania.
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Menschen. Sie wenden sich nach dem Verlassen der Einrichtung den Dingen zu, die im Kinderdorf nicht zugänglich waren, beispielsweise pornografischen Filmen. Die Erfahrung, so Johannes Kasimbazi, zeigen allerdings auch, dass der Reiz des Neuen und Verbotenen mit der Zeit verfliegt und sich die Jugendlichen wieder auf die Werte zurückbesinnen, die ihnen im Kinderdorf vermittelt wurden.622 Säuglingsheime Das Waisenheim in Ntoma wurde Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegründet. Zu dieser Zeit starben viele Säuglinge, die ihre Mutter bei der Geburt oder kurz darauf verloren hatten, da den Familien nur unzureichende Versorgungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Die Haya-Kirche, das heißt die christliche Gemeinschaft des in der Gegend ansässigen Volksstammes, erkannte in diesem Bereich einen dringenden Handlungsbedarf und gründete in enger Zusammenarbeit mit der schwedischen Mission, der Bethelmission und der dänischen Missionsgesellschaft das Waisenhaus. Die kirchliche Trägerschaft und die Zusammenarbeit mit den Missionswerken bestehen weiterhin und prägen den Charakter der Einrichtung, beispielsweise in Form von morgendlichen Andachten für die Mitarbeiter. Über 50 Jahre arbeiteten ausländische Missionare in Führungspositionen in der Einrichtung und bestimmten wesentlich die Organisation. Heute befindet sich die Leitung in der Hand einer tansanischen Krankenschwester, die als Kindermädchen in der Einrichtung begann und die Möglichkeit für eine Ausbildung in Deutschland erhielt.623 Insgesamt beschäftigt das Säuglingsheim zwei Leitungskräfte, eine evangelische Schwester, zwölf ungelernte Kindermädchen, vier Nachtwächter mit je einer Halbzeitstelle und zwei Arbeiter, die sich um die Landwirtschaft und die Gebäude kümmern. Gelegentlich helfen ausländische Volontäre in der Einrichtung. Alle Mitarbeiter, die direkt mit den Kindern arbeiten, leben auf dem Heimgelände. Trotz des scheinbar hohen Betreuungsschlüssels von 15 Mitarbeitern für circa 22 Kinder bleibt die individuelle Zuwendung in erster Linie auf Versorgungstätigkeiten beschränkt. Die Kindermädchen arbeiten in Schichten, um die Versorgung in der Nacht zu sichern, und erfüllen neben der Betreuung der Kinder vielfältige andere Arbeiten. Viel Zeit geht beispielsweise beim Waschen der Kleidung, der Bettwäsche und der Windeln verloren. Da nur eine Waschmaschi-
622
Vgl. ebd. Vgl. Praktikum vom 15.09.01 – 15.03.02 in der stationären Betreuungseinrichtung Ntoma Orphanage in Ntoma, Tansania. 623
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ne in der Einrichtung existiert, wird die Wäsche der Kinder sechs Mal am Tag mit der Hand gewaschen.624 Die Finanzierung der Einrichtung erfolgt über die Kirche, zum Beispiel durch Spenden von den Missionswerken, und über die eigene Tierhaltung und Landwirtschaft. Diese ermöglicht einerseits den Anbau von Nahrungsmitteln zum Eigenverbrauch und andererseits die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern zum Verkauf. Die Angehörigen der Kinder sollen einen eigenen Versorgungsbeitrag in Höhe von 5.000 TSH (2,81 Euro) pro Monat leisten, doch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten kommen nur wenige Verwandte dieser Aufforderung nach. 625 Lebenswelt: Säuglingsheim Im Heim leben circa 20 bis 25 verwaiste bzw. ausgesetzte Kinder bis zu einem Alter von maximal drei Jahren. Die Kinder kommen aus der gesamten Kagera Region und werden in der Regel vom Wohlfahrtsamt an die Einrichtung vermittelt. Entsprechend ihres Alters leben die Kinder in drei Stationen. Bei ihrer Ankunft kommen sie zuerst auf die Isolierstation. Diese besteht aus drei Zimmern für jeweils maximal zwei Kinder. Auf dieser Station wird die körperliche Verfassung der Kleinsten durch intensive Betreuung und Ruhe stabilisiert. Die Isolierung verhindert gleichzeitig das Einschleppen von Krankheiten. Mit circa zwei Monaten wechseln die Säuglinge auf die Station für die jüngeren Kinder. Diese besteht aus einem Schlafsaal, einem Spielzimmer und einem Bad. Ein Wechsel aus Schlafen, Füttern, Windeln und Waschen bestimmt den Tagesablauf. Die Wachzeiten verbringen die Kinder im Spielzimmer oder im Garten auf Matten. Die Kinder erhalten circa sechs Mahlzeiten, die aus Milch und Brei bestehen. Mit neun Monaten, wenn die Kinder zumindest selbstständig sitzen können, wechseln sie in die dritte Gruppe. Diese unterscheidet sich durch eine altersangepasste Nahrung und längere Spielzeiten. Die Station verfügt über einen Schlafsaal, in dem die Kinder auch baden und auf den Topf gehen, und einen Aufenthaltsraum zum Spielen und Essen. Die Kinder dieser Gruppe verbringen viel Zeit im gut gepflegten Garten des Heimes und verfügen über verschiedene Spielsachen.626 Bei der Betreuung der Kinder liegt die Priorität auf der Erfüllung der physischen Bedürfnisse. Eine angemessene Hygiene, eine gute medizinische Versorgung und eine ausreichende Ernährung stehen im Vordergrund. Dabei gehen die 624
Vgl. ebd. Vgl. ebd. 626 Vgl. ebd. 625
4.3 Stationäre Betreuungseinrichtungen
295
Mitarbeiter, im Rahmen der Möglichkeiten, auf individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern ein, indem sie beispielsweise hungrige Kinder zwischen den Mahlzeiten füttern. Die Kindermädchen bemühen sich, die Entwicklung der Kinder durch Spielzeug und durch das Antrainieren von Fähigkeiten, wie Sitzen, zu stimulieren. Individuelle Zuwendung erhalten die Kinder allerdings in erster Linie in den Momenten, in denen die Betreuer sich im Rahmen von Versorgungstätigkeiten mit ihnen beschäftigten. Im Heim existiert kein ausgeprägtes Bezugsbetreuersystem, so dass die Kinder keine starken persönlichen Beziehungen zu einzelnen Erziehern aufbauen können. Die fehlenden Bindungen und ein Mangel an emotioneller und persönlicher Zuwendung äußern sich bei einigen Kindern in einer verzögerten sprachlichen Entwicklung, in sozialen Auffälligkeiten, beispielsweise einer gesteigerten Aggressivität oder krankhaften Anhänglichkeit, und in Stereotypien im sensomotorischen Verhalten, beispielsweise Hin- und Herdrehen des Kopfes im Schlaf. 627 Familiäre Reintegration Die Rückführung der Kinder zu ihren Familien stellt das primäre Ziel der Betreuung dar. Das Alter, in dem die Kinder in ihre Dörfer zurückkehren, unterliegt je nach Einzelfall starken Schwankungen. Einige Familien halten einen regelmäßigen Kontakt zu den Kindern oder kommen nach einigen Monaten von selbst, um die Kinder wieder zu sich zu holen. Andere Angehörige brechen den Kontakt ab und melden sich nicht mehr im Heim. Der Aufenthaltsort der Familien muss in diesen Fällen ausfindig gemacht und die Rückführung organisiert werden. Die fehlende Bindung zu den Familienangehörigen führt dazu, dass einige Kinder die Trennung vom Heim als traumatisch erleben. Die Kinder kennen die Menschen nicht, die kommen, um sie abzuholen. Besonders Kinder, die bereits im Heim Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten zeigten, reagieren mit Angst und psychosomatischen Symptomen, zum Beispiel Fieber, auf die Situation. 628 Neben den verwaisten Säuglingen betreut die Einrichtung ausgesetzte Findelkinder. In diesen Fällen versucht das Wohlfahrtsamt, die Kinder an Pflegeund Adoptiveltern zu vermitteln. Diese Vermittlung gestaltet sich zum Teil langwierig und nicht immer gelingt es, entsprechende Familien zu finden. Bleibt die Suche erfolglos, werden die Kinder in eine andere stationäre Betreuungseinrichtung überwiesen.629
627
Vgl. ebd. Vgl. ebd. 629 Vgl. ebd. 628
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Auffangheime für Straßenkinder Ein Fallbeispiel für die stationäre Unterbringung im Rahmen von Straßenkindprojekten findet sich im Kapitel 4.4.3. 4.4 Projekte für Straßenkinder Straßenkindprojekte definieren sich über die Zielgruppe ihrer Arbeit, das bedeutet sie bieten ambulante und/oder stationäre Angebote für Kinder, die auf der Straße leben bzw. gelebt haben. In den meisten größeren Städten Tansanias existieren inzwischen Einrichtungen für Straßenkinder, die in der Qualität ihrer Arbeit und ihrer konzeptuellen Ausrichtung stark differieren. Je nachdem, ob eine Studie über die speziellen Problemlagen und die Situation in der Stadt den Angeboten vorausging oder ob spontane Maßnahmen ohne Analyse eingeleitet bzw. Konzepte von anderen Orten übertragen wurden, leisten die Projekte mehr oder weniger geeignete Hilfe für die Probleme der Straßenkinder. 630 4.4.1 Geschichte und strukturelle Bedingungen Für einen zeitlichen Rückblick auf die Entwicklung von Straßenkindprojekten in Tansania ist die Betrachtung des Phänomens der Straßenkinder unumgänglich, denn der Aufbau von Hilfsmaßnahmen für diese Zielgruppe steht in enger Verbindung mit dem Auftreten von Straßenkindern in den Städten des Landes. Die Straßenkindproblematik der Entwicklungsländer nahm ihren Ursprung zunächst in Lateinamerika. 631 In Afrika stellt sie noch ein relativ neues Phänomen dar. Bis Mitte der 1980er Jahre lebten nur vereinzelt Jugendliche in den Städten auf der Straße und Banden waren ausschließlich in Dar es Salaam bekannt. In den 1990er Jahren gewann die Thematik an Schärfe. 1991 lebten in Dar es Salaam 200 bis 300 Kinder auf der Straße; die Zahl der Straßenkinder stieg innerhalb von vier Jahren auf 3.500 an.632 In Arusha und Moshi ließ sich in den vergangenen Jahren ein ähnlicher Wachstumstrend beobachten. Die Zahl der Jungen, die in Arusha auf der Straße leben, wuchs zwischen 2003 und 2005 um 39% und die Zahl der Mädchen um 51%. Insgesamt registrierte die Zählung im Jahr 2005 876 obdachlose Kinder in der Stadt. In Moshi stellte sich die steigende Tendenz noch dramatischer dar. Dort nahm die Anzahl männlicher Straßenkinder um 60% und 630
Vgl. Dachtler 1999, S. 71. Vgl. Adick (Hrsg.) 1997, S. 8. 632 Vgl. Bamurange in Rwebangira und Liljeström (Hrsg.) 1998, S. 230. 631
4.4 Projekte für Straßenkinder
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die Anzahl der Straßenmädchen um 92% zu. Die Gesamtzahl der Straßenkinder belief sich auf 470. 633 Interviewpartner, die sich in Projekten für Straßenkinder in unterschiedlichen Städten Tansanias engagieren, bestätigen den anhaltenden Wachstumstrend. 634 Der Anstieg der Straßenkindpopulation in Tansania steht in einer engen Verbindung zur Waisenkrise. Obwohl in der Verwaisung der jungen Generation nicht der einzige Grund für die zunehmende Zahl von Straßenkindern liegt und nicht alle Straßenkinder Waisen sind bzw. alle Waisen zu Straßenkindern werden, machen Waisen einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der Straßenkindpopulation aus. Verwaiste Kinder leiden unter einem stärkeren Risiko für ein Leben auf der Straße als andere Heranwachsenden.635 Den Anteil von Waisen an der Straßenkindpopulation in Tansania schätzen Interviewpartnern auf 20% bis 95%.636 Das Leben auf der Straße stellt für viele Waisen eine Bewältigungsstrategie dar, für die sie sich aktiv entscheiden und von der sie sich Verbesserungen für ihr Leben erhoffen. Die Straße bietet Waisen die Möglichkeit, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften und soziale Kontakte zu knüpfen. „Sie [die Waisen] sehen, wie das Leben mit ihrem Betreuer ist und sie treffen eine folgerichtige Entscheidung. Sie haben die Macht, ihr Leben zu verbessern, indem sie gehen und frei sind und Geld für sich selbst verdienen, statt dass die Großmutter es von ihnen nimmt. Sie haben das Gefühl, dass sie ein besseres Leben haben können, wenn sie die Kontrolle über ihr Geld haben. Und manchmal haben sie recht und manchmal ist ihr Leben besser.“ (Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Straße als Lebens- und Arbeitsfeld bietet den Kindern Chancen und einige erleben auf diese Weise einen Zugewinn an persönlicher Freiheit, Verdienstmöglichkeiten und Anerkennung. Für viele Heranwachsende erfüllen sich diese Wünsche nicht oder nur zu einem geringen Teil. Der Alltag vieler Straßenkinder wird von der langwierigen Suche nach einem Auskommen, von Gewalt und sexuellen Übergriffen, von Hunger und Drogen bestimmt. Trotz dieser Risiken wählen Waisen das Leben auf der Straße als 633
Vgl. McAlpine 2006, S. 9. Vgl. Interview mit A. Kilongomtwa am 14.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Brown am 30.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit F. Mapunda am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 635 Vgl. Kadonya, Madihi und Mtwana 2002, S. 4; UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 25; Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 12; Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. 636 Vgl. Interview mit M. Brown am 30.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit L. Marwa am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Tansania; Interview mit F. Mapunda am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 634
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Strategie zur Bewältigung ihrer persönlichen Problemlagen. Da Waisen in der Gruppe der Straßenkinder deutlich überrepräsentiert sind, schien eine Betrachtung von Straßenkindprojekten im Kontext der sozialen Hilfsangebote für Waisen sinnvoll. Die steigende Zahl der Straßenkinder wurde im Laufe der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den tansanischen Städten zunehmend sichtbar und führte zur Gründung der ersten Hilfsprojekte in allen großen Städten des Landes.637 Während nichtstaatliche Organisationen einen pädagogischen und unterstützenden Ansatz in ihrer Arbeit vertreten, nutzen die staatlichen Organe überwiegend repressive Maßnahmen, wie Haft oder Einweisung in Erziehungsheime (remand home). Die Staatsgewalt versucht nicht, die Ursachen des Problems zu lösen, sondern reagiert in der Regel erst bei einer scheinbaren oder tatsächlichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung.638 Die Polizei nutzt kleinste Anlässe, wie Herumlungern, Diebstahl von Essen oder Schlafen in Hauseingängen, um Straßenkinder festzunehmen, an Erziehungsheime oder Gefängnisse zu überstellen und zu schlagen.639 Die tansanischen Gesetze rechtfertigt ein solches Vorgehen. Im Strafgesetzbuch von 1981 steht festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche in Gewahrsam genommen werden können, wenn die Polizei sie ohne Fürsorge aufgreift. Ziel besteht in der Überstellung der aufgegriffenen Kinder an Fürsorgeinstitutionen oder an erziehungsberechtigte Personen, beispielsweise Verwandte. Für Jugendliche über 16 Jahre, die auf der Straße leben, rechtfertigt die Sektion 176 des Strafgesetzbuches eine Verhaftung. Dieses Gesetz ermöglicht die Verurteilung von Menschen ohne feste Arbeitsstelle und nachweisbaren Wohnsitz zu Geld- und Haftstrafen. 640 In einigen Städten Tansanias kommt es regelmäßig zu Massenverhaftungen von Straßenkindern ohne spezifischen Anlass. Die Polizei nimmt bei diesen Aktionen eine Vielzahl von Straßenkindern fest und bringt sie in Gefängnissen oder Erziehungsheimen (Abb. 81) unter.641
637 Viele von der Autorin besuchte Straßenkindprojekte wurden in den 1990er Jahren gegründet: Siehe Interview mit A. Kilongomtwa am 14.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Das Kwetu Girls Home entstand 1994 und war das erste Straßenkindprojekt, welches ausschließlich Mädchen aufnahm. Siehe Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania: Das Straßenkindprojekt nahm 1997 seine Arbeit in Moshi und Arusha auf. 638 Vgl. Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (Hrsg.) 1997, S. 21. 639 Vgl. Dachtler 1999, S. 129; McAlpine 2008, S. 5; Interview mit A. Kilongomtwa am 14.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit D. Brycke am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit A. Kyamanywa am 18.04.07 in Bukoba, Tansania. 640 Vgl. Dachtler 1999, S. 63. 641 Vgl. Kisslinger 2005, S. 1; McAlpine 2006, S. 10.
4.4 Projekte für Straßenkinder
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Abbildung 81: Staatliche Einrichtungen für Straßenkinder Ein Beispiel für ein staatliches Heim stellt die Irambo approved School für verurteilte Straßenkinder aus Arusha dar. Der schlechte Zustand der so genannten Besserungsanstalt steht repräsentativ für andere staatliche Institutionen dieser Kategorie. Die Gebäude bedürfen seit vielen Jahren einer Renovierung, die Versorgung mit Wasser und Nahrung ist mangelhaft und die Werkstätten, die zur Resozialisierung dienen sollten, sind verfallen. Die Betreuer nennen die Kinder, die hauptsächlich wegen Obdachlosigkeit aufgegriffen wurden, Gefangene und nutzen körperliche sowie psychische Gewalt als Disziplinierungsmaßnahme. Beispielsweise erhalten die Zöglinge Schulhefte nur gegen fünf Stockschläge. Diese Methode soll der Erziehung und der Reintegration der Kinder dienen. (Envirocare (Hrsg.) 2000, S. 55 ff.)
Die staatlichen Maßnahmen verstärken die Stigmatisierung der Straßenkinder und stellen keine geeignete Lösung für die steigende Zahl der Straßenkinder dar. Aus diesem Grund widmen sich die folgenden Ausführungen den Aktivitäten nichtstaatlicher Organisationen. Subjektansatz versus Objektansatz Die Projekte für Straßenkinder in Tansania unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Programme und Vorgehensweise. Abhängig von ihrem spezifischen Ziel, zum Beispiel der Reintegration in die Herkunftsfamilie oder einer Verbesserung der Bedingungen auf der Straße, und je nachdem, ob sie mit dem Subjekt- oder Objekt-Ansatz an die Aufgabe herangehen, stellt sich ihre Arbeit unterschiedlich dar. Die Herangehensweise von Straßenkindprojekten, die dem Objektansatz folgen, lässt sich als karitativ und assistentialistisch beschreiben. Die Heranwachsenden werden als unreif und gefährdet angesehen. Dem Mitarbeiter eines Straßenkindprojektes kommt die Aufgabe zu, seinem Zögling den rechten Weg zu weisen und ihn von schädlichen Verhaltensweisen abzubringen. Ein Mittel, dies zu erreichen, ist die Trennung von der Lebenswelt Straße und die Unterbringung in stationären Einrichtungen. 642 In Tansania steht dieser Ansatz nicht im Einklang mit der gesellschaftlichen Realität. Die Straße wird vor allem für Jungen als Raum zur Erwirtschaftung eines Einkommens und als Ort der Freizeitgestaltung weitestgehend toleriert. Besonders in urbanen Gebieten kommen Kinder schon früh in Kontakt mit der Straße, denn aus Mangel an alternativen Plätzen verbringen sie dort den Tag mit Nachbarskindern. 643 Die Akzeptanz arbeitender Kinder entspricht der traditionellen Pflicht zur Mithilfe von Kindern 642 643
Vgl. Holm und Schulz (Hrsg.) 2002, S. 37 f. Vgl. Lugalla 1995, S. 133; Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (Hrsg.) 1997, S. 12.
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innerhalb und außerhalb des Haushaltes. Auf dem Land helfen bereits Vier- oder Fünfjährige bei der Haus- und Feldarbeit sowie bei der Betreuung jüngerer Geschwister. Da in der Stadt die Landwirtschaft als Einkommensquelle der Familie entfällt, wird von den Heranwachsenden erwartet, dass sie sich unterschiedliche Gelegenheitsjobs oder Festanstellungen suchen bzw. im familieneigenen Gewerbe helfen. 644 Die Straße ist demnach sowohl ein tolerierter Aufenthaltsort für Kinder als auch ein anerkannter Arbeitsplatz. Straßenkinder entwickeln durch ihre Arbeit vielfältige Fähigkeiten und ein großes Maß an Autonomie. Projekte, die diese Kapazitäten der Kinder nicht aufgreifen und ihre Unabhängigkeit nicht anerkennen, laufen in Gefahr, die Bewältigungsstrategien der Betroffenen zu untergraben und somit nicht nur die Rolle und das Selbstverständnis der Kinder, sondern auch das Wohlergehen der gesamten Familie zu gefährden. Bisher folgen Hilfsprogramme für Straßenkinder auch in Tansania überwiegend einem protagonistischen Ansatz. Die Heranwachsenden auf der Straße werden als Objekt von Hilfe und Fürsorge angesehen, die Schutz bedürfen und denen aus ihrer als problematisch erachteten Lebenssituation herausgeholfen werden muss. Dieser Ansatz, der durchaus eine positive Intention verfolgt, führt zu einer Degradierung der Kinder – aus handelnden Subjekten, die ihr eigenes Überleben und teilweise das Überleben ihrer Familien sichern, werden Hilfeempfänger mit begrenztem Mitspracherecht. Eine solche Vorgehensweise vernachlässigt die tansanische Sicht von Kindheit. Ein Subjekt-Ansatz in der Arbeit mit Straßenkindern soll die Bewältigungsstrategien und Deutungsmuster der Kinder respektieren und stärken. „Mit der Rede vom sozialen Subjekt wird signalisiert, dass Kinder – gleich welchen Alters – sowohl Personen „eigenen Rechts“ („Rechtssubjekte“), als auch Personen mit spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten sind, die von den (erwachsenen) Mitmenschen zu würdigen und zu respektieren sind.“ (Liebel 2001, S. 40). Dieser Anspruch geht über die Kindheitsvorstellung, wie sie in Europa vorherrscht, hinaus. Projekte, die dem Subjekt-Ansatz folgen, sehen das Kind nicht als Objekt der Fürsorge, sondern als sozial Handelnden mit individuellen Kompetenzen. Entsprechend dieser Sichtweise auf Kindheit räumen die Organisationen den Kindern mehr Entscheidungsfreiheit ein. Kinder gelten als Gestaltern ihrer eigenen Lebenswelt, das heißt die individuelle Geschichte und die Zukunftsvorstellungen des Heranwachsenden werden nicht negiert, sondern anerkannt und in der Arbeit genutzt. Ziel dieser Projekte besteht darin, die Kinder zu befähigen, als unabhängige Individuen ihr Leben selbständig zu meistern und sich als aktive Mitglieder der Gesellschaft einzubringen. Die Vorgehensweise erkennt dennoch an, dass Heranwachsende unter bestimmten Umständen Schutz benötigen und 644
Vgl. Vélis 1995, S. 64; Dachtler 1999, S. 82.
4.4 Projekte für Straßenkinder
301
Unterstützung zur Wahrnehmung ihrer Rechte brauchen; diese Hilfe darf allerdings nicht zur Entmündigung der Kinder führen.645 Die beiden dargestellten Herangehensweisen – der paternalistisch karitative Objekt-Ansatz und der emanzipatorisch kompetenzorientierte Subjekt-Ansatz – stellen zwei Pole in der Arbeit mit Kindern auf der Straße dar, zwischen denen es in Tansania eine Vielzahl von Mischformen gibt. 4.4.2 Charakteristika und Erscheinungsformen Die Maßnahmen für Straßenkinder lassen sich in präventive, kurative und reintegrative Programme gliedern. Die Prävention hat das Ziel, die politischen, rechtlichen, sozialen und familiären Rahmenbedingungen für Kinder zu verbessern, um dem sozialen Ausstieg von Heranwachsenden zuvor zu kommen. Kurative Angebote arbeiten mit Kindern auf der Straße und bieten aufsuchende Sozialarbeit sowie stationäre Betreuungsangebote. Programme zur Reintegration helfen den Straßenkindern bei der Wiedereingliederung in ihre Herkunftsfamilie. Während einige Straßenkindprojekte alle drei Formen der Unterstützung anbieten, leisten andere Organisationen nur einzelne Aspekte und beschränken sich beispielsweise auf die stationäre Unterbringung als kurative Maßnahme. Der folgende Abschnitt stellt die drei genannten Ansätze getrennt voneinander vor. Das Fallbeispiel hingegen beschreibt eine Organisation, die alle drei Ansätze in ihrer Arbeit vereint (Kap. 4.4.3). Präventive Programme „Die Situation von Straßenkindern [...] ist zunächst ein Problem der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, der Familienpolitik, der Gesundheitspolitik, der Jugendpolitik. – Nachgeordnet aber gibt es auch die pädagogischen Probleme. Politik und Pädagogik braucht es nebeneinander; es gilt aber der Gefahr zu wehren, daß die Pädagogik als Alibi für verfehlte, versagende, zynische Politik mißbraucht wird, sich mißbrauchen läßt.“ (Thiersch 1992, S. 64). Thierschs Aussage macht deutlich, dass die Aktivitäten zur Bekämpfung der Straßenkindproblematik nicht erst bei den betroffenen Kindern ansetzen dürfen, sondern auf allen gesellschaftlichen Ebenen, die für die Entstehung des Phänomens Verantwortung tragen. Zu den Maßnahmen, die auf der Ebene der Ursachenfaktoren intervenieren, zählen beispielsweise eine Stärkung der Infrastruktur urbaner 645
Vgl. Holm und Schulz (Hrsg.) 2002, S. 37 f.
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Wohngebiete, die Bekämpfung der Armut auf dem Land, der Ausbau von familiären Kapazitäten und sozialen Sicherungssystemen sowie eine Verbesserung des Bildungssystems. In diesen Bereichen engagieren sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich nicht unbedingt im Bereich der Straßenkindprojekte einordnen lassen. Beispielsweise leisten ambulante Hilfsprogramme für Waisen einen wichtigen Beitrag, um Kinder vom Gang auf die Straße abzuhalten. Das Engagement der Zivilgesellschaft allein reicht allerdings nicht aus, um den Nährboden für einen Anstieg der Zahl von Straßenkindern zu beseitigen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit politischer Interventionen, zu denen soziale Organisationen mahnen müssen. Bisher stellen Straßenkindprojekte, die sich auch in der Prävention engagieren, eine Minderheit dar. Die meisten Programme konzentrieren sich auf kurative Angebote und/oder Maßnahmen zur Reintegration. Projekte, die präventive Arbeit anbieten, zielen mit ihrer Arbeit zum einen auf Kinder, die eine besondere Gefährdung aufweisen, und zum anderen auf gesellschaftliche Ursachenfaktoren. Aufgrund der vielfältigen Gründe, die ein Kind veranlassen, aus seinem sozialen Umfeld auszubrechen und auf die Straße zu gehen, kann der folgende Abschnitt nur einige grundlegende Erläuterungen geben und einzelne präventive Maßnahmen aus den mannigfaltigen Interventionsmöglichkeiten herausgreifen, um diese als Beispiele vorzustellen. Präventive Arbeit mit gefährdeten Kindern Im ersten Arbeitsbereich, das heißt in der Arbeit mit den gefährdeten Kindern, können verschiedene Interventionen helfen, die Heranwachsenden vom Gang auf die Straße abzuhalten. Eine genaue Analyse der Ursachen für die zunehmende Zahl von Kindern auf der Straße ermöglicht die Identifikation geeigneter präventiver Unterstützungsangebote. Wenn es gelingt, die Gründe für den Gang auf die Straße zu beseitigen, lässt sich die Zahl neuer Straßenkinder verringern. Die Hilfsangebote der Organisationen teilen sich in materielle und psychosoziale Unterstützung. Im materiellen Bereich spielt vor allem die Sicherung des Schulbesuches eine zentrale Rolle, denn fehlende Bildungsmöglichkeiten stellen einen wichtigen Auslöser für das Ausbrechen eines Kindes aus seinem sozialen Umfeld dar.646 Der Besuch von Bildungseinrichtungen hilft den Kindern nicht nur, Zukunftsperspektiven zu entwickeln, er wirkt gleichzeitig als wichtige integrative Kraft. Heranwachsende, die in der Schule soziale Kontakte pflegen, vertrauens646
Vgl. Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 6.
4.4 Projekte für Straßenkinder
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würdige Bezugspersonen finden und sich mit der Bildungseinrichtung identifizieren, weisen ein geringeres Risiko auf, dieses sichere Umfeld gegen ein unsicheres Leben auf der Straße einzutauschen. Unterstützung im Bildungsbereich, beispielsweise durch die Bereitstellung von Schulmaterial und Uniformen oder durch die Verbesserung der Bildungsqualität, leistet einen wichtigen Beitrag bei der Verhinderung von Schulabbrüchen und stellt eine sinnvolle Maßnahme im präventiven Bereich dar.647 Die Unterstützung im psychosozialen Bereich verfolgt ebenfalls das Ziel, eine stärkere Bindung zwischen dem Kind und seinem sozialen Umfeld aufzubauen. Innerfamiliäre Konflikte, physische und psychische Gewalt und Suchtprobleme in der Herkunftsfamilie drängen Kinder auf die Straße. Das unabhängige Leben in der Stadt erscheint ihnen im Vergleich zu den häuslichen Problemen als bessere Option. Die Schwierigkeiten im häuslichen Bereich entwickeln sich in der Regel über einen längeren Zeitraum, bevor das Kind aufgrund eines auslösenden Ereignisses die Entscheidung zum Weglaufen trifft. 648 Diese Zeitspanne, in der Probleme auftreten und sich verfestigen, bietet Projekten Raum, um präventiv zu intervenieren. Familienberatung kann bei Erziehungsproblemen und familiären Konflikten helfen, zwischen den Parteien zu vermitteln, das Verhalten der Betreuer gegenüber dem Kind positiv zu beeinflussen und die innerfamiliären Beziehungen zu verbessern. Einige Straßenkindprojekte bieten in den Kommunen ihres Einzugsgebietes Beratung an oder bilden lokale Volontäre, wie Lehrer oder Vertreter der lokalen Verwaltung, zu Mentoren, Beratern oder Schlichtern aus.649 Bearbeitung gesellschaftlicher Ursachenfaktoren Gesellschaftliche Strukturen bilden den Nährboden, auf dem sich die Straßenkindproblematik entwickelt. Aus diesem Grund können nur Veränderungen in der Gesellschaft langfristig zu einem Rückgang der Straßenkinder in Tansania führen. Strukturelle Ursachen liegen in Tansania unter anderem im unzureichenden Bildungssystem, in der ökonomischen Instabilität von Privathaushalten, in einem Auseinanderbrechen traditioneller Familiensysteme, in fehlenden Erwerbs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche, in kulturellen Erwartungen, im starken Bevölkerungswachstum und in der Verletzung grundlegender Kinderrechte (Abb. 82).650 Die strukturellen Bedingungen der Straßenkindprob647
Vgl. McAlpine 2005a, S. 5. Vgl. Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 6 f. 649 Vgl. McAlpine 2006, S. 13 f. 650 Vgl. Johnson, Kisslinger, Oneko und Heuser 2005, S. 7. 648
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lematik sind vielfältig und ebenso vielfältig müssen präventive Maßnahmen in diesem Bereich sein. Die Arbeit mit besonders gefährdeten Kommunen, die beispielsweise in urbanen Einzugsgebieten liegen, eignet sich, um strukturelle Ursachen für die steigende Zahl der Straßenkinder zu bekämpfen. Einige Projekte nutzen Seminare, um Schlüsselfiguren, wie Lehrer, Vertreter der lokalen Verwaltung und religiöse Führer, in den Gemeinden zu erreichen. Die Mitarbeiter klären die Seminarteilnehmer über die Situation von Straßenkindern auf und diskutieren gemeinsam Möglichkeiten der Prävention. Diese unterscheiden sich in den einzelnen Gemeinden. Manchmal erscheint es sinnvoll Beratungsangebote in den Schulen einzurichten, anderswo kann sich die Etablierung von Freizeit- und Ausbildungsangeboten für Schulabbrecher als hilfreich erweisen. Jede Gemeinde muss einen eigenen Weg finden, um die jungen Menschen an sich zu binden und ihnen einen sicheren Raum zur Entwicklung zu bieten. Abbildung 82: Wandbild eines Straßenkindprojektes zur Aufklärung über die Kinderrechte als präventive Maßnahme
Kurative Maßnahmen Kurative Hilfsprogramme arbeiten mit Kindern, die bereits auf der Straße leben, und leisten Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Diese Hilfe kann sowohl in
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ambulanter als auch in stationärer Form erfolgen. Kurative Angebote der Straßenkindprojekte zielen auf eine kurz- bzw. mittelfristige Verbesserung der Lebensbedingungen von Straßenkindern. Die Zielsetzung der Projekte und die Wünsche der Betroffenen decken sich weitestgehend. Straßenkinder verfügen über feste Vorstellungen von einem guten Hilfsprojekt. Sie wollen einen sicheren Schlafplatz, ausreichende Ernährung, bei Bedarf neue Kleidung, Waschgelegenheiten und die Chance auf einen Schulbesuch bzw. auf Ausbildungsmöglichkeiten, die ihnen Zukunftsperspektiven eröffnen.651 Aufsuchende Straßensozialarbeit Tansanische Straßenkinder berichten von vielfältigen negativen Erfahrungen mit Anwohnern und Passanten, privaten Sicherheitskräften, älteren Straßenkindern, Ladenbesitzern und der Polizei. Sie werden verspottet, geschlagen und verhaftet.652 Aufgrund dieser negativen Erfahrungen misstrauen viele Straßenkinder erwachsenen Personen und scheuen sich, Hilfsangebote aufzusuchen. 653 Einrichtungen mit einem festen Standort gelingt es nicht, alle Kinder auf der Straße zu erreichen. Um eine größere Zielgruppe anzusprechen, setzen Organisationen Streetworker ein. Diese treten mit den Straßenkindern in deren Lebenswelt in Kontakt, bieten ambulante Hilfe, beispielsweise die medizinische Versorgung von Wunden, und machen die Heranwachsenden auf die zur Verfügung stehenden Hilfsangebote aufmerksam. 654 Die Idee der aufsuchenden Straßensozialarbeit entstand in den USA als Reaktion auf Jugendbanden, die sich durch herkömmliche Methoden der Sozialarbeit nicht erreichen ließen. Statt zu warten, dass die Jugendlichen die sozialen Hilfsangebote aufsuchen, gingen so genannte Streetworker auf die Straße und suchten aktiv den Kontakt zu ihren Klienten. Inzwischen wird Straßensozialarbeit in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit angewandt. Die Arbeit des Streetworkers kann nur erfolgreich sein, wenn seine Klienten ihn akzeptieren. Um dies zu erreichen, muss er die subkulturellen Verhaltensregeln, die Strukturen der speziellen Lebenswelt und die an ihn gestellten Erwartungen genau kennen. 655 Die Kontaktaufnahme zu den Kindern und Jugendlichen kann offensiv, das heißt durch ein direktes Zugehen auf den Klienten, als auch durch ein Abwarten des 651
Vgl. Dachtler 1999, S. 165 f. Vgl. Bamurange in Rwebangira und Liljeström (Hrsg.) 1998, S. 238; Dachtler 1999, S. 127 f.; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 653 Vgl. Dachtler 1999, S. 115. 654 Vgl. Interview mit F. Mapunda am 18.06.07 in Moshi, Tansania. 655 Vgl. Stimmer (Hrsg.) 2000, S. 722. 652
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Sozialarbeiters erfolgen. Manchmal helfen auch dritte Personen bei der Vermittlung. Der Klient muss dabei immer über die Möglichkeit verfügen, die Beziehung mitzugestalten, sich aus dem Kontakt zurückzuziehen und Hilfsangebote abzulehnen. Die Straßensozialarbeit bietet vielfältige Vorteile in der Arbeit mit Straßenkindern. Durch das Einlassen auf die spezifische Lebenswelt besteht die Möglichkeit, Jugendliche zu erreichen, die sonst keine Hilfsprojekte aufsuchen. Dabei werden die Probleme der Straßenkinder dort besprochen, wo sie entstehen – auf der Straße. Die Beziehung gestaltet sich auf einer partnerschaftlichen Basis und obwohl sie auf die Wahrnehmung von Hilfsangeboten zielt, muss sie nicht fortwährend problemorientiert sein. Straßenkinder können und sollen mit dem Sozialarbeiter auch über ihren Alltag und Erfolgserlebnisse reden. Dies erleichtert wiederum die Kontaktaufnahme in einer Krisensituation. Durch die Nähe des Sozialarbeiters zu der Lebenswelt der Kinder erhält er einen unmittelbaren Einblick in die speziellen Problemlagen. Dies versetzt ihn in die Lage, die Angebotspalette des angeschlossenen Projektes auszubauen und auf Krisen adäquat zu reagieren.656 Teilstationäre Betreuungsangebote Aufsuchende Straßensozialarbeit allein reicht nicht aus, um die Probleme von Straßenkindern zu bearbeiten und ihnen eine angemessene Unterstützung zu bieten. Teilstationäre Einrichtungen, so genannte Drop-in Center, bieten in Tansania weiterführende Hilfsangebote, die über Beratung und ambulante Hilfe hinausreichen. Die teilstationären Angebote zeichnen sich durch ihre Niedrigschwelligkeit aus. Sie erwarten von den Kindern keine langfristige Bindung an die Einrichtung. Vielmehr können die Heranwachsenden das Projekt entsprechend ihres Bedarfes aufsuchen und verlassen. Das primäre Ziel besteht nicht in einer langfristigen Trennung des Kindes von der Lebenswelt Straße, sondern in einer Verbesserung und Erleichterung des Alltags. Drop-in Center versuchen durch die Befriedigung der Grundbedürfnisse, das Überleben der Straßenkinder zu sichern. Sie bieten den Straßenkindern in der Regel einen sicheren Schlafplatz, regelmäßige Mahlzeiten und die Möglichkeit, sich und ihre Kleidung zu waschen. Je nach Ausrichtung und Ressourcen der Organisation umfasst die Angebotspalette zusätzlich Rechtsberatung, psychologische Hilfe oder eine sichere Aufbewahrungsmöglichkeit für das Eigentum und das verdiente Geld der Straßenkinder. Eine sichere Aufbewahrung ihres Besitzes 656
Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania.
4.4 Projekte für Straßenkinder
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kann Heranwachsenden helfen, das Startkapital für ein Einkommensprojekt oder die Miete für ein eigenes Zimmer anzusparen. Darüber hinaus kommen die Projekte in der Regel für die medizinische Versorgung der Kinder auf. Sie leisten bei kleineren Problemen Erste Hilfe, geben Medikamente aus und begleiten erkrankte Kinder zu Ärzten und ins Krankenhaus. Die Heranwachsenden erhalten im Drop-in Center für einige Stunden einen Schutzraum, der es ihnen ermöglicht, grundlegenden Bedürfnissen, wie Schlafen, Essen, Waschen und Spielen, nachzugehen. Dieser Schutzraum steht ihnen nicht unbegrenzt zur Verfügung. In der Regel verlassen die Kinder am Morgen die Einrichtung, um ihre verschiedenen Aktivitäten auszuüben und kommen am Abend wieder zurück. Manche Kinder nutzen das Angebot auch nur in Krisensituationen, beispielsweise bei Krankheit. Einige Projekte ermöglichen den Kindern neben der Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse die Wahrnehmung von formellen oder informellen Bildungsangeboten. Sozialarbeiter und Lehrer bereiten die Kinder durch Lernangebote auf den Besuch öffentlicher Schulen vor. Sind die Kinder in der Lage, dem Unterricht einer lokalen Bildungseinrichtung zu folgen und diesen regelmäßig wahrzunehmen, erhalten sie das notwendige Schulmaterial und eine Uniform. In der Regel stellt die Vereinbarkeit von einem Leben auf der Straße und die Wahrnehmung formeller Bildungsangebote für Straßenkinder ein großes Problem dar, so dass sich nur ein Teil der Kinder in teilstationären Einrichtungen erfolgreich in öffentliche Schulen integrieren lässt. Die Notwendigkeit, einen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, und die Verlockungen der Straße wiegen meist stärker als die langfristigen Chancen von Bildung. Stationäre Einrichtungen Stationäre Betreuungseinrichtungen unterscheiden sich von teilstationären Angeboten vor allem durch die Dauerhaftigkeit der Unterbringung. Die Projekte bemühen sich, den Straßenkindern langfristig ein neues Zuhause und eine umfangreiche Versorgung zu bieten. Die Voraussetzung besteht in der Regel aus der Bereitschaft der Kinder, sich von der Lebenswelt Straße zu trennen und sich auf ein Leben in der Einrichtung einzulassen. Stationäre Straßenkindprojekte zielen auf den langfristigen Ausstieg der Heranwachsenden aus dem Straßenmilieu. Die stationären Einrichtungen der Straßenkindprojekte gleichen in ihren Strukturen und in ihrer Alltagsgestaltung „klassischen“ Kinderheimen (Kap. 4.3.2). Die Zöglinge werden im Heim mit Nahrung und Kleidung versorgt, erhalten einen festen Schlafplatz und eine medizinische Versorgung. Ein Regelwerk und organisatorische Zwänge bestimmen das Leben in der Einrichtung.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
Dies sorgt für ein Gelingen des Zusammenlebens und schafft einen Rahmen für erzieherisches Handeln. Die Einrichtung stellt den Lebensmittelpunkt im Alltag der ehemaligen Straßenkinder dar, ermöglicht soziale Kontakte außerhalb des Straßenmilieus und gibt pädagogische Orientierung. Einige Einrichtungen bieten neben der materiellen Versorgung und der pädagogischen Betreuung psychosoziale Angebote, die den Kindern helfen sollen, die Erfahrungen auf der Straße und in ihrer Herkunftsfamilie zu verarbeiten. Die vollständige materielle Versorgung, die psychosozialen Angebote und die pädagogische Betreuung in der Einrichtung sollen Kontakte zur Straße und die Erwirtschaftung eines eigenen Lebensunterhaltes überflüssig machen. Die Einrichtung bietet den Kindern ein neues Zuhause und einen Ersatz zur bisherigen Lebenswelt, nimmt ihnen aber auch erprobte Handlungsmuster und soziale Kontakte. Die intensive Betreuung und die Beschränkungen durch Regeln und organisatorische Zwänge können für Heranwachsende, die auf der Straße ein hohes Maß an individueller Freiheit erfahren haben, eine Herausforderung darstellen. Um den Kindern ein Ausbrechen aus dieser anfangs ungewohnten und für einige Kinder schwer zu ertragenen Erfahrung zu erschweren, befinden sich viele stationäre Straßenkindprojekte außerhalb der Städte, in denen ihre Zöglinge auf der Straße lebten. Die Lage der Projekte stellt ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu teilstationären Angeboten dar, die ihr Drop-in Center in der Regel in den Stadtteilen ansiedeln, in denen Straßenkinder leben und arbeiten. Die räumliche Entfernung zu der alten Lebenswelt soll den Kindern helfen, sich von ihrer früheren Lebensweise zu distanzieren und eine neue, zukunftsorientierte Perspektive zu entwickeln. In vielen Fällen gelingt dies sehr gut. Die Chancen und die Annehmlichkeit, die stationäre Einrichtungen bieten, wiegen in der Regel mehr als ein Verzicht auf die Verlockungen der Straße und der partielle Verlust der persönlichen Selbstbestimmung. Die Entlastung von den Gefahren und Demütigungen auf der Straße und vom Kampf um ein tägliches Auskommen sowie die Schaffung einer Zukunftsperspektive wirken sich positiv auf die Eingliederung der Kinder aus und nur ein geringer Teil der Straßenkinder, die in stationäre Einrichtungen kommen, bevorzugt langfristig ein Leben auf der Straße. Ein wichtiger Bestandteil der Zukunftsorientierung liegt in der Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Bildungsangeboten. Im Bildungsbereich besteht ein wesentlicher Unterschied zu anderen stationären Einrichtungen. Das Leben auf der Straße führt bei vielen Kindern dazu, dass sie über einen längeren Zeitraum nicht an formellen Bildungsangeboten teilnehmen oder gar keine Schulerfahrung sammeln konnten. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in eine stationäre Betreuung eines Straßenkindprojektes mangelt es vielen Kindern an der Schuleignung. Sie lassen sich aufgrund ihres Altern oder Defiziten in der Konzentration und Lernfähigkeit nicht in öffentliche Bildungseinrichtungen integrieren. Der erste Schritt
4.4 Projekte für Straßenkinder
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in allen stationären Betreuungseinrichtungen für Straßenkinder stellt die Wiederherstellung der Lernfähigkeit und das Aufholen von Wissensdefiziten dar. Konnten die Kinder einen ihrem Alter angemessenen Stand erreichen, erfolgt die Wiedereingliederung in formelle Bildungsangebote. Viele stationäre Einrichtungen sehen sich langfristig als neues Zuhause für die ehemaligen Straßenkinder. Vergleichbar mit anderen stationären Projekten bieten sie ihren Zöglingen bis zu deren wirtschaftlichen Unabhängigkeit Versorgung und Unterstützung an. Die Heranwachsenden bleiben in der Einrichtung, bis sie ihre Bildung beendet haben, und erhalten anschließend eine Starthilfe, beispielsweise ein Stück Land, für den Einstieg in ein unabhängiges Leben. Trotz der intensiven Vorbereitung der ehemaligen Straßenkinder und der guten Voraussetzungen mussten die Verantwortlichen der Einrichtung in der Vergangenheit immer wieder feststellen, dass sich der Aufenthalt in der stationären Betreuung nicht eignet, um die jungen Menschen auf die gesellschaftliche Integration vorzubereiten. 657 Als Folge dieser Erfahrungen stiegen die Bemühungen der Organisationen, Straßenkinder möglichst zeitnah in ihre Herkunftsfamilien zu reintegrieren. Reintegration in die Herkunftsfamilie Die langfristige Perspektive von kurativen Programmen in Tansania besteht zunehmend aus der Wiedereingliederung in die Gesellschaft durch eine Reintegration in die Herkunftsfamilie. Die Erfahrungen zeigten, dass Hilfe, die einzig auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse abzielt, nicht ausreicht, um die Lebenssituation von Straßenkindern nachhaltig zu verbessern. Aussagen über die Erfolge unterschiedlicher Reintegrationsmaßnahmen lassen sich kaum treffen, da in Tansania nur Studien über Straßenkinder, aber keine Evaluationen hinsichtlich erfolgreicher Ausstiege aus dem Straßenmilieu existieren.658 Interviewpartner aus verschiedenen Straßenkindprojekten machten vor allem mit der familiären Reintegration und begleitenden ambulanten Hilfsangeboten positive Erfahrungen.659 Deborah Brycke und Adventina Kyamanywa berichteten der Autorin beispielsweise, dass in den fünf Jahren des Bestehens 250 bis 300 Kinder das Straßenkindprojekt Tumaini Children Center in Bukoba 657
Vgl. Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit F. Mapunda am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 658 Vgl. Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (Hrsg.) 1997, S. 29. 659 Vgl. Interview mit A. Kyamanywa am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit D. Brycke am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit J. Salum am 18.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
durchlaufen haben. Von diesen Kindern ließ sich der Großteil erfolgreich in ihre Herkunftsfamilie reintegrieren; nur circa 50 Kinder kamen erneut in die Stadt. 660 Grundlage einer gelungenen Wiedereingliederung in die Herkunftsfamilie stellt die Beseitigung der Ursachen für den Gang auf die Straße sowie eine Vermittlung zwischen Kind und Betreuer dar. Das Vorgehen bei der Wiedereingliederung gleicht sich in den einzelnen Projekten. Die Mitarbeiter der Organisation lokalisieren die Familien der Kinder und suchen sie, aber auch Schulen und Vertreter der lokalen Verwaltung, auf. Gemeinsam mit dem Kind und den unterschiedlichen Ansprechpartnern wird eine Lösung gesucht, an deren Umsetzung alle Beteiligten aktiv mitwirken. Diese Lösung muss immer eine individuelle Lösung sein, denn sowohl die Gründe, die dazu geführt haben, dass ein Kind auf die Straße geht, als auch die Bedingungen für eine Rückkehr unterscheiden sich von Kind zu Kind. Viele Untersuchungen belegen, dass nicht eine einzige Ursache, wie Armut oder Verwaisung, Grund für das Leben auf der Straße ist, sondern verschiedene Umstände zusammen kommen. 661 Das Engagement der Organisation endet nicht mit der Reintegration des Kindes; in vielen Fällen übernimmt die Organisation die Unterstützung der Familie oder bindet sie in lokale Hilfsprogramme ein. Wurde das Kind von Langeweile und Perspektivlosigkeit auf die Straße getrieben, weil es aufgrund der Armut der Familie nicht zur Schule gehen konnte, konzentriert sich die Organisation auf Bildungsförderung. Spielte die Diskriminierung von aufgenommenen Kindern innerhalb der Familie eine Rolle, ermöglichen regelmäßige Beratungsangebote bessere Beziehungen. In einigen Fällen ist es nötig, Alternativen zu ursprünglichen Betreuungsarrangements zu finden. War die Tante nur widerwillig bereit, die verwaiste Nichte aufzunehmen, freut sich die Großmutter vielleicht über das zusätzliche Haushaltsmitglied, wenn eine Organisation bei der Versorgung des Kindes hilft. Eine langfristige Kooperation zwischen Organisation und Familie stellt die Voraussetzung dar, um eine Rückkehr des betroffenen Kindes auf die Straße zu verhindern. Die Aufgaben der Straßenkindprojekte unterscheiden sich nach der erfolgreichen Reintegration kaum von der Arbeit einer ambulanten Hilfsorganisation und umfassen Unterstützungsangebote im materiellen und psychosozialen Bereich. Die Maßnahmen sollen zur Stärkung der familiären Kapazitäten beitragen, so dass das traditionelle Sicherungsnetz seiner ursprünglichen Aufgabe nachkommen kann und die Verantwortung für die Kinder übernimmt.
660
Vgl. Interview mit A. Kyamanywa am 18.04.07 in Bukoba, Tansania; Interview mit D. Brycke am 18.04.07 in Bukoba, Tansania. 661 Vgl. Whitehouse 2002, S. 20.
4.4 Projekte für Straßenkinder
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4.4.3 Fallbeispiel Die Organisation Mkombozi, die Straßenkinder in den Städten Moshi und Arusha betreut, wurde 1997 von zwei Frauen aus den USA und Großbritannien gegründet. Ursprünglich bestand die Zielsetzung darin, Straßenkindern in einer stationären Einrichtung ein neues Zuhause zu geben und sie mit der notwendigen Bildung und den Fertigkeiten für ein unabhängiges Leben auszustatten. Erst im Jahre 2006 gab es eine Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes und die Wiedereingliederung der Kinder in ihre Herkunftsfamilien entwickelte sich zur primären Aufgabe. Dem Umdenken ging ein langer Lernprozess voraus: „Die Kinder hier, viele sind hier seit einer ziemlich langen Zeit. Aber jetzt verändern wir dies. Ursprünglich waren wir wie ein Heim, ein traditionelles Zentrum für institutionelle Erziehung, ein Waisenhaus. Wir benutzen diesen Begriff nicht mehr, denn erstens sind viele unserer Kinder keine Waisen und zweitens versuchen wir, uns umzuformen, von dem was wir historisch gemacht haben, also dass Kinder hier für viele Jahre geblieben sind, zu einem Ort der temporären Zuflucht für ein Jahr oder hoffentlich weniger. Während dieser Zeit wird das Kind mit einem Sozialarbeiter, wir haben Sozialarbeiter, zusammengeführt und diese werden in den Gemeinden und Familien intervenieren, um zu sehen, ob sie [die Kinder] dort integriert werden können.“ (Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Wie andere Straßenkindprojekte strebt Mkombozi als ultimatives Ziel die Reintegration der Heranwachsenden an. 662 Angebotspalette Die Überzeugung, dass ein Aufwachsen von Kindern in ihren Herkunftsfamilien die beste Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstellt, spiegelt sich auch im präventiven Engagement der Organisation wider. Mkombozi ist eines der wenigen von der Autorin besuchten Straßenkindprojekte, welches aktiv Prävention betreibt, um Kinder vom Gang auf die Straße abzuhalten. Zu diesem Zweck bietet Mkombozi in einigen ausgewählten Kommunen im Umkreis von Moshi und Arusha verschiedene Initiativen an. Sowohl Kinder, die gefährdet sind, auf die Straße zu gehen, als auch ehemalige Straßenkinder bekommen einen erwachsenen Mentor zur Seite gestellt. Dieser dient den Kindern, die häufig aus schwierigen Lebensverhältnissen stammen, als Rollenmodel, leistet bei Problemen Unterstützung und vermittelt bei Schwierigkeiten in der Familie oder Schule. Die Mentoren erhalten regelmäßige Weiterbildungen. In Seminaren 662
Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania.
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
schulen Mitarbeiter von Mkombozi darüber hinaus Lehrer, Vertreter der lokalen Verwaltung und traditionelle Autoritäten im Bereich Konfliktlösung. Diese Personen werden bei Auseinandersetzungen in den Familien und Gemeinden als erste Ansprechpartner zu Rate gezogen und erfüllen die Rolle eines Vermittlers. Mit Hilfe von Mediation sollen sie soziale Streitigkeiten schlichten und dadurch das Auseinanderbrechen von familiären Einheiten verhindern. Neben dem Mentoren- und dem Schlichtungsprogramm initiiert Mkombozi Jugendgruppen an Schulen, die von Lehrern Unterstützung und Anleitung erhalten. Diese Gruppen bieten Schulkameraden eine Anlaufstelle bei schulischen sowie familiären Problemen und steigern das Zugehörigkeitsgefühl der Heranwachsenden. In den Gruppen bekommen einzelne Kinder eine Ausbildung als Peerberater. Sie helfen Gleichaltrigen, indem sie sich deren Sorgen anhören, ihnen Rat geben und sie eventuell an andere Hilfsangebote weitervermitteln. Die Bindung der Kinder an die Schule stellt eine wichtige Voraussetzung dar, die ein Weglaufen aus den Familien verhindert.663 Die präventiven Angebote der Organisation erreichen noch nicht alle gefährdeten Kinder und nicht immer lässt sich der Gang auf die Straße vermeiden. Mkombozi nutzt niedrigschwellige Angebote, wie aufsuchende Straßensozialarbeit, um Kinder auf der Straße zu erreichen und in stationäre Angebote zu integrieren. Die Heranwachsenden, welchen die Sozialarbeiter auf den Straßen in Arusha und Moshi begegnen, bringen individuelle Lebensgeschichten mit: „Es ist so ein riesiges Spektrum. Kinder sind auf der Straße, wenn beide Eltern leben und Dinge auf der Straße verkaufen und die Kinder den Eltern dabei helfen. Und dann gibt es Kinder auf der Straße, die überhaupt keine Eltern mehr haben, beide sind gestorben. Oder vielleicht waren sie [die Eltern] gewalttätig und deshalb sind die Kinder gegangen. Und die Kinder betreiben selbstständig einen Verkauf oder die Kinder prostituieren sich, die Kinder könnten mit Drogen handeln, Taschendiebe sein. Die Kinder könnten gerade verwaist sein, vor Kurzen aus dem sozialen Netz der Gemeinden gefallen sein oder gerade davongelaufen sein. Oder sie haben die letzten zehn Jahre auf der Straße verbracht. […] Es gibt keine statische und alles umfassende Definition von Straßenkindern.“ (Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Straßensozialarbeiter von Mkombozi nehmen mit diesen Kindern Kontakt auf und gehen auf die individuellen Lebensgeschichten und Probleme ein. Sie bieten den Kindern auf der Straße informelle Bildungsangebote und medizinische Versorgung.664 2007 erreichten die Straßensozialarbeiter auf diese Weise 588 Kinder und leisteten 936 Mal medizinische Hilfe. 665 Neben den ambulanten Hilfsange663
Vgl. McAlpine 2006, S. 12 ff. Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 665 Vgl. McAlpine 2008, S. 2. 664
4.4 Projekte für Straßenkinder
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boten berichten die Mitarbeiter von den Möglichkeiten einer stationären Unterbringung im Projekt. In vielen Fällen bedarf es einem hohen Maß an Geduld und Einfühlungsvermögen bis die jungen Menschen Vertrauen fassen und auf das Angebot des Sozialarbeiters eingehen.666 Zeigen die Straßenkinder Bereitschaft, sich auf eine stationäre Unterbringung einzulassen, stellt das Wohnheim der Organisation die erste Etappe dar. Das Heim verfügt über eine Kapazität von 70 Plätzen und ermöglicht den Kindern eine vollständige Versorgung. Die Zöglinge sind entsprechend ihres Alters in vier Schlafsälen untergebracht und werden von pädagogischen Kräften betreut. Der Alltag im Heim bietet die gleichen Möglichkeiten und Einschränkungen wie „klassische“ Kinderheime. Da das Alter der Heranwachsenden keiner Beschränkung unterliegt, leben auch 21-Jährige noch in der Abhängigkeit des Betreuungsangebotes. Das hohe Alter steht in einem engen Zusammenhang mit dem Bildungsverlauf der jungen Menschen. Das Herausfallen aus dem Schulsystem für Monate oder Jahre und die mühevolle Vorbereitung auf eine Wiedereingliederung in öffentliche Schulen durch informelle Bildungsangebote in der Einrichtung führen dazu, dass die Heranwachsenden ihren Abschluss erst in einem weit fortgeschrittenen Alter erreichen. Dies verlängert den Aufenthalt in der Einrichtung. Die lange Verweildauer von teilweise über zehn Jahren entsprach bis vor kurzem auch der Konzeption des Projektes, nach der die jungen Menschen bis zu ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit in der Einrichtung verbleiben sollten.667 Neben dem Wohnheim entstanden vor einigen Jahren zwei Gruppenhäuser für jeweils fünf bis sechs junge Männer. Ein weiteres Gruppenhaus für Straßenmädchen mit kleinen Kindern befindet sich in der Aufbauphase. Obwohl die Organisation einen großen Teil der Versorgung übernimmt, dienen die Wohngemeinschaften der Verselbstständigung der Heranwachsenden. Dadurch, dass sich die Häuser in den umliegenden Kommunen und nicht in der Nähe des Wohnheimes oder der Büros der Organisation befinden, stehen die Jugendlichen nicht unter der ständigen Aufsicht der Mitarbeiter. Die jungen Menschen sollen lernen, mit der Freiheit umzugehen, eigene Entscheidungen zu treffen und das Zusammenleben alleine zu organisieren. Alle ein bis zwei Wochen bekommen sie von einem Sozialarbeiter der Organisation Besuch und besprechen aufgetretene Probleme oder Erfolge. 668 Die Erfahrungen mit der stationären Betreuung zeigten den Verantwortlichen des Projektes die geringe Eignung institutioneller Erziehung zur Vorbereitung von Heranwachsenden auf ein unabhängiges Leben. Vielmehr untergräbt sie 666
Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd. 668 Vgl. ebd. 667
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4 Unterstützungsangebote für Waisen in Tansania
bei den jungen Menschen das Gefühl, das Leben selbstständig und unabhängig von Unterstützung meistern zu können. Joel Boutin, einer der fünf leitenden Manager der Organisation, berichtet, dass die jungen Menschen durch die jahrelange Betreuung zur Abhängigkeit erzogen wurden und eine völlig unrealistische und unangemessene Vorstellung hinsichtlich der Weiterführung der Hilfe besitzen. Zur Illustration dieses Problems führt er das Beispiel eines 23-jährigen Mannes an, der mit Hilfe von Mkombozi die Sekundarschule erfolgreich beenden konnte und eine eigene Landwirtschaft erhielt, aber weiterhin um Unterstützung zur Wahrnehmung anderer Bildungsangebote bittet.669 Die Schwierigkeiten bei der gesellschaftlichen Reintegration nach einer langen Aufenthaltsdauer in der Einrichtung führten 2006 zu einer modifizierten Zielsetzung. Statt den Kindern ein neues Zuhause zu geben, soll möglichst zeitnah die Reintegration in ihre Herkunftsfamilie erfolgen. Die Zeit, welche die Kinder in der Einrichtung verbringen, nutzen Sozialarbeiter zu intensiven Gesprächen mit den Heranwachsenden über die Gründe für den Gang auf die Straße. Der Sozialarbeiter interveniert in der Kommune und Familie, aus der das Kind stammt, und gemeinsam planen alle Beteiligten die Rückkehr des Kindes. Vor allem vermittelnde Aussprachen zwischen Kind und Betreuer erwiesen sich als notwendig, um eine erfolgreiche Reintegration vorzubereiten. Nach der Rückkehr übernimmt Mkombozi die Nachbetreuung. Regelmäßige Besuche durch den Sozialarbeiter sowie finanzielle Unterstützung im Bildungsbereich sollen helfen, das Kind an die Familie und Kommune zu binden und einen Rückfall zu verhindern. Wohnt die Familie zu weit entfernt, so dass eine Betreuung durch die Organisation nicht möglich ist, erfolgt die Anbindung an lokale Hilfsprogramme, welche die Aufgabe der Nachbetreuung übernehmen. 670 Im Jahr 2007 gelang die Wiedervereinigung von 36 Kindern in ihre Herkunftsfamilien. 671
669
Vgl. ebd. Vgl. ebd. 671 Vgl. McAlpine 2008, S. 2. 670
„Forschung als Entwicklungsforschung agiert im Kontext mit Handlungsprojekten, die sie vorantreibt, indem sie sie mit Forschungsinstrumenten zu klären versucht.“ (Thiersch 2002, S. 159)
5
Evaluationsstudie
Das Ziel dieser Arbeit besteht in der Identifizierung geeigneter Strategien zur Unterstützung von Waisen. Die Auswertung vorhandener Literatur und bereits durchgeführter Studien zeigte deutlich, dass eine umfassende Analyse der existierenden Hilfsangebote in Tansania bisher nicht erfolgte (Kap. 1.1.3). Eine Evaluation erscheint somit notwendig, um die Eignung, Umsetzbarkeit und Funktionalität unterschiedlicher Programme zu überprüfen. Gerade in Tansania, einem Land, in dem sich Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche noch im Aufbau befinden, besteht ein Bedarf für Analysen, die darüber Auskunft geben, welche Form von Unterstützung bei der Ausweitung der Angebote Priorität erhalten sollte. Langfristig könnte die Evaluation von Programmen zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation von allen Kindern in Tansania beitragen. Die Schaffung eines sicheren Auffangnetzes für die bedürftigsten Kinder, welches heute in erster Linie den Waisen zugutekommt, wird in Zukunft möglicherweise anderen, neuen Zielgruppen dienen. Der erste Teil der Evaluationsstudie (Kap. 5.1) stellt ambulante und stationäre Unterstützungsangebote gegenüber und vergleicht diese anhand von fünf Evaluationskriterien. Der zweite Teil der Evaluationsstudie (Kap. 5.2) ist praxisorientiert und soll Organisationen in Tansania konkrete Ideen zur Verbesserung ihrer Arbeit geben. Zu diesem Zweck werden positive Praxisbeispiele aus den verschiedenen Formen der Waisenhilfe im Land identifiziert. 5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten In den vergangenen 20 Jahren kam es zu einem Gründungsboom ambulanter und stationärer Unterstützungsangebote für Waisen. Die institutionelle Erziehung versucht, Kindern ein neues Zuhause mit einer angemessenen Versorgung zu U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Evaluationsstudie
bieten; während ambulante Hilfsangebote die Stärkung von Haushalten mit Waisen anstreben, damit die Heranwachsenden in ihrem familiären Umfeld verbleiben können (Kap. 4). Auf die Frage der Autorin, wo der beste Platz für das Aufwachsen eines verwaisten Kindes ist, antworteten 86,3% der 51 befragten Interviewpartner „die Familie“. Nur 13,7% hielten das Aufwachsen in einer Institution für vorteilhafter. Die Vermutung drängt sich auf, dass die starke Befürwortung der Familie von der Auswahl der Interviewpartner abhängt. Allerdings zeigen sich nur geringe Abweichungen zum Gesamtergebnis, wenn die Aufmerksamkeit ausschließlich auf Mitarbeiter oder Begründer von Einrichtungen der institutionellen Erziehung gelenkt wird. 20% der befragten Interviewpartner (n = 15) aus dem Bereich stationäre Betreuung halten die Unterbringung in einer Institution für die beste Möglichkeit der Waisenversorgung. 80% von ihnen schätzt die familiäre Versorgung insgesamt günstiger ein. Im Gegensatz dazu steht ein Gründungsboom von stationären Einrichtungen, der Anfang der 1990er Jahre einsetzte und weiterhin anhält. Die Diskrepanzen zwischen politischen und internationalen Forderungen sowie der öffentlichen Meinung einerseits und der aktuellen Entwicklung in Tansania andererseits bilden den Ausgangspunkt dieses Kapitels. Die Ausführungen sollen Auskunft darüber geben, in welchen Bereichen ambulante und in welchen Bereichen stationäre Angebote672 die geeigneteren Lösungen für die vielfältigen Problemlagen von Waisen bieten. Um bestimmen zu können, ob ambulante oder stationäre Hilfsprogramme sich als Antwort auf die Waisenkrise in Tansania besser eignen, vergleicht die Autorin im Folgenden beide Versorgungsangebote anhand von fünf Evaluationskriterien. Die Evaluationskriterien ergeben sich aus der Theorie der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (Kap. 1.3/Kap. 1.4) sowie aus kulturellen und strukturellen Bedingungen, die im Sinne einer Indigenisierung der Sozialen Arbeit Beachtung erfahren müssen. Die Analyse richtet sich dementsprechend nach folgenden Fragen: Arbeitet das Programm entsprechend der Strukturmaximen der Lebensweltorientierung? (Kap. 5.1.1) Leistet das Programm kontinuierliche Hilfe? (Kap. 5.1.2) Erreicht das Programm einen möglichst großen Anteil der betroffenen Kinder? (Kap. 5.1.3) Trägt das Programm zu einem gelingenderen Alltag seiner Adressaten bei? (Kap. 5.1.4)
672 Zum besseren Verständnis unterscheidet die Autorin bei den Organisationen im stationären Bereich zwischen „klassischen“ Heimen, Säuglingsheimen, Kinderdörfern, familiären Kleinstheimen und Straßenkindprojekten, wenn sich die unterschiedliche Arbeitsweise der Projekte als relevant erweisen (Kap. 4.3.2.).
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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Stattet das Programm die Heranwachsenden mit Lebensfertigkeiten aus, die es ihnen in Zukunft erlauben, sich in die Gesellschaft zu integrieren und ein selbst bestimmtes Leben zu führen? (Kap. 5.1.5) Im Anschluss jedes Unterkapitels steht ein Fazit, welches die Ergebnisse der Evaluation komprimiert darstellt und einen Überblick über die Vor- und Nachteile ambulanter und stationärer Hilfsprogramme gibt. 5.1.1 Ausrichtung an den Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit Thiersch formulierte fünf Handlungsmaximen, die als Basis für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit dienen: „Lebensweltorientierte Jugendhilfe ist orientiert an den Grunddimensionen der Lebenswelt, der Zeit, dem Raum und den sozialen Bezügen. Dies konkretisiert sich in den Handlungsmaximen der Prävention, der Regionalisierung-/Dezentralisierung, der Alltagsorientierung, der Integration und der Partizipation.“ (Thiersch 1992, S. 30). Das Kapitel 1.3.3 gab bereits ausführlich Auskunft über die Inhalte und Ziele der einzelnen Maximen. Im ersten Teil der Gegenüberstellung von ambulanten und stationären Angeboten bieten die Prämissen, die im Kapitel 1.4.1 auf Grundlage der Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit formuliert wurden, eine Orientierung. In den folgenden Ausführungen analysiert die Autorin, inwieweit sich die Arbeit der Projekte an den einzelnen Strukturmaximen ausrichtet. Dazu betrachtet das Kapitel 5.1.1 jede einzelne Strukturmaxime getrennt. Beginnend mit der „Prävention“ gehen die Ausführungen im Anschluss ausführlich auf die „Dezentralisierung und Regionalisierung“ sowie auf die „Alltagsorientierung“ ein. Den Abschluss des Kapitels bildet die Auseinandersetzung mit den Strukturmaximen „Integration und Normalisierung“ und „Partizipation“. Prävention Soziale Arbeit hat, entsprechend der Theorie der Lebensweltorientierung, die Aufgabe, präventiv zu wirken. „Ausgehend von der […] Annahme, daß schwieriges, problematisches Verhalten immer als Verhärtung, als Zuspitzung von allgemeinen Lebensproblemen, also in der Zeit, im Prozeß der allmählichen Ausbildung gesehen werden muß, insistiert die Maxime der Prävention darauf, daß Jugendhilfe frühzeitig, also bevor Probleme sich verhärtet und verdichtet haben, Hilfe anbietet.“ (Thiersch 1992, S. 30). Soziale Arbeit muss bereits intervenieren, bevor Krisen entstehen oder sich Notlagen zuspitzen. Krise lässt sich
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5 Evaluationsstudie
im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe als Situation verstehen, welche zur Desintegration der Lebenswelt des Individuums führt bzw. dessen Wohlergehen und gesunde Entwicklung nachhaltig gefährdet. Soziale Arbeit sollte aber nicht nur vom worst case ausgehen, das heißt Prävention mit dem Ziel abweichendes Verhalten zu verhindern; Soziale Arbeit muss auch präventiv agieren, um in der Bewältigung des Alltags Unterstützung zu bieten. Thiersch betont die nachrangige Bedeutung der stationären Betreuung im Konzept der Lebensweltorientierung. Präventive Unterstützungsangebote sollten vor der Fremdplatzierung zum Einsatz kommen. 673 Diese klare Positionierung Thierschs bedeutet nicht, dass er die Notwendigkeit von stationärer Erziehung an sich infrage stellt. „Solange es […] Kinder und Heranwachsende gibt, die nicht zuhause untergebracht werden können, brauchen wir, neben anderen Möglichkeiten der Fremdplatzierung […] auch die Möglichkeit der Heimerziehung.“ (Thiersch 2006, S. 106). Ausgehend von der Forderung der Lebensweltorientierung nach präventiven Maßnahmen widmet sich das folgende Kapitel der Frage, ob die Problemlagen von Kindern, die in Tansania in stationärer Betreuung leben, sich nicht durch ambulante, vorbeugende Unterstützung bearbeiten lassen. Waisen in Tansania leiden unter verschiedenen Gefährdungen im sozioökonomischen und psychosozialen Bereich (Kap. 3). Erhalten Waisen und ihre Betreuer keine Hilfe bei der Bewältigung dieser Probleme, können sich diese verfestigen und die gesunde Entwicklung der Kinder bedrohen. Interviewpartner befürchten, dass ein Mangel an geeigneter Unterstützung die individuelle Chance auf einen befriedigen Platz in der Gesellschaft beeinträchtigt sowie bei den betroffenen Kindern zu Kriminalität, Prostitution, Drogenkonsum und zum Gang auf die Straße führt.674 Aufgrund der spezifischen sozioökonomischen und psychosozialen Probleme benötigen Waisen Hilfe und Begleitung in der Lebensbewältigung, die eine Verfestigung der Schwierigkeiten verhindert und zu einem gelingenderen Alltag beiträgt. Eine Fremdunterbringung, die in Tansania eine Antwort auf die vielfältigen Problemlagen von Waisen darstellt, führt zu einer vollständigen oder partiellen Desintegration der Lebenswelt der betroffenen Heranwachsenden. Die Kinder verlieren zum Teil ihre familiären Bindungen und müssen sich in eine neue Lebenswelt integrieren, deren Regeln und Werte sich von ihrem bisherigen familiären Umfeld unterscheiden. Die Fremdunterbringung stellt eine entscheidende Zäsur im Leben eines jungen Menschen dar. Aus diesem Grund ist eine genaue Prüfung notwendig, die untersucht, ob die familiäre Situation die Fremdunter673
Vgl. Thiersch 1992, S. 30 f. Vgl. Interview mit H. Challi am 04.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tanzania; Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania; Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania. 674
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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bringung rechtfertigt und ob keine alternativen Hilfsmöglichkeiten existieren. Über die unterschiedlichen Identifizierungsprozesse im ambulanten und stationären Bereich gibt das Kapitel 5.1.3 detailliert Auskunft. Der folgende Abschnitt prüft deshalb ausschließlich anhand der verschiedenen Anlässe einer Fremdplatzierung, inwieweit Kinder in der institutionellen Erziehung einen Bedarf aufweisen, der sich nicht auch durch präventive Angebote decken lässt, und inwieweit sich ambulante Hilfsangebote in der Lage befinden, mit präventiven Maßnahmen die Desintegration der familiären Einheit zu verhindern. Präventive Maßnahmen als Alternativen zur stationären Betreuung Die wirtschaftliche Unfähigkeit der Betreuer, die Bedürfnisse verwaister Kinder zu erfüllen, nennen Interviewpartner aus dem stationären Bereich als Hauptgrund für die Fremdunterbringung. Heranwachsende mit Familienangehörigen, die gerne für die Kinder sorgen würden, leben in Einrichtungen der institutionellen Erziehung, weil die Familien sich aufgrund ihrer finanziellen Haushaltslage nicht zur Sicherstellung der Versorgung imstande sehen. „Kinder kommen, die bei ihren Großmüttern, ihren Großeltern lebten. Also die Großeltern, es ist nicht so, dass sie nicht für die Kinder sorgen wollen; es liegt daran, dass sie nicht in der Lage sind, für die Kinder zu sorgen.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Einige stationäre Hilfsprogramme veröffentlichen im Internet Informationen und Fotos über die von ihnen betreuten Kinder. Unabhängig von der Frage des Persönlichkeitsschutzes (Kap. 5.1.2) liefern diese Berichte Hinweise auf die Gründe für die stationäre Unterbringung. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass das Unvermögen der Familien, für die Kinder zu sorgen, der wichtigste Anlass für eine Fremdbetreuung darstellt. Die Beispiele, die sich aufführen lassen, sind vielfältig: Geschwister leben im Heim, weil die Mutter aufgrund ihrer Behinderung nur durch Betteln ihre Kinder versorgen konnte. Ein verwaister Junge lebte mit mehreren Schwestern bei der Großmutter, bis diese ein Alter erreichte, in dem sie die Sorge für die Kinder überforderte. Gemeinsam mit einer jüngeren Schwester kam der Junge in eine stationäre Einrichtung. Zwei Mädchen wurden in einem Heim aufgenommen, weil die verwitwete Mutter neben ihren Töchtern noch die Verantwortung für einen kranken Sohn trägt, der viel Aufmerksamkeit, finanzielle Ressourcen und Pflege benötigt.675 Die Beispiele illustrieren, dass Armut als Grund für die Frem675 Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte und zur Wahrung der Anonymität der Betroffenen, werden die Quellen der Berichte über das Schicksal der Kinder nicht angegeben. Die zitierten Informationen und viele weitere Berichte über andere Kinder lassen sich auf den Internetseiten von stationären Betreuungsangeboten finden.
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dunterbringung eine zentrale Rolle spielt. Des Weiteren fällt bei den Lebensgeschichten auf, dass nach der Unterbringung weitere Bedürftige ohne Unterstützung zurückbleiben. Mal ist es die Mutter, die aufgrund ihrer Behinderung nicht arbeiten kann, dann sind es Großeltern, die ihre letzte Kraft für die Betreuung ihrer verwaisten Enkel eingesetzt haben, oder es sind Geschwister, die weiterhin in der gleichen Situation leben. Die Fremdunterbringung bringt nur dem Kind, das aus der Familie herausgenommen wird, eine Verbesserung im materiellen Bereich; für die übrigen Familienmitglieder verändert sich der Alltag nicht. Die unzureichenden Kapazitäten von Familien, Kindern eine angemessene Versorgung zukommen zu lassen, stellt ein ernstzunehmendes Problem in Tansania dar. Die Fremdunterbringung ist aber nicht die einzige Antwort auf diese Problematik. Es existieren Alternativen, um die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Familien zu bearbeiten. Die Angebote der Hilfsprojekte im ambulanten Bereich verfolgen einen präventiven Ansatz und stärken die Kapazitäten der betroffenen Familien, um ihnen zu einem gelingenderen Alltag zu verhelfen. Ambulante Angebote, die Haushalte bei der Erfüllung der Grundbedürfnisse unterstützen bzw. ihre Wirtschaftslage durch einkommenschaffende Maßnahmen verbessern, helfen bei der Verhinderung einer familiären Desintegration. Solche präventiven Unterstützungsprogramme im wirtschaftlichen Bereich wirken sich je nach Ausrichtung der Angebote positiv auf die Bildung, die Ernährung, die gesundheitliche Versorgung bzw. die Ausstattung der Heranwachsenden aus. Stellt Armut das wesentliche Problem der Familie dar, können Hilfsangebote im materiellen Bereich die Fremdunterbringung abwenden, aber auch die Kinder vom Gang auf die Straße abhalten. Alle befragten ambulanten Hilfsprogramme versuchen, präventive Hilfe im materiellen Bereich zu leisten. Nicht alle Kinder kommen einzig aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihrer Familien in eine stationäre Betreuungseinrichtung. Psychische und/oder physische Misshandlungen in der Herkunftsfamilie nennen Interviewpartner als weitere Gründe. Das Kapitel 3.2 zeigt, dass es in einigen Fällen zu Schwierigkeiten bei der Integration von Waisen in einen Haushalt kommt. Die Probleme können von beiden Parteien verursacht werden: Verwandten fällt es schwer, den angenommenen Kindern dieselben Rechte einzuräumen, wie den eigenen; verwaiste Kinder entwickeln das subjektive Empfinden von Vernachlässigung und Diskriminierung, weil sie die elterliche Zuwendung vermissen; Großeltern erziehen die verwaisten Enkel mit der gleichen Strenge, mit der sie vor Jahrzehnten ihre eigenen Kinder großzogen; Waisen zeigen aufgrund der eigenen Traumatisierung und Trauer Probleme, sich an die neue Situation anzupassen. Die vielschichtigen Problemlagen im psychischen und sozialen Bereich können die Desintegration der familiären Einheit nach sich ziehen. Fühlen sich Kinder diskriminiert und vernachlässigt, reicht häufig ein scheinbar kleiner Aus-
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löser und die Heranwachsenden brechen die Beziehungen zu ihren Angehörigen ab. Sie versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen, fliehen auf die Straße und gelangen über diesen Umweg in stationäre Einrichtungen. Aber auch überforderte Verwandte suchen ein Entkommen aus der Situation und wenden sich beispielsweise an das Wohlfahrtsamt oder an eine stationäre Einrichtung in der Umgebung. In den vergangenen Jahren wuchs im ambulanten Bereich das Bewusstsein für die psychosozialen Probleme von Waisen. 89% der befragten Projekte (n = 19) leisten dementsprechend mit Hilfe von psychosozialer Unterstützung präventive Arbeit. Durch die Vermittlung zwischen den verschiedenen Parteien lassen sich Konflikte vorbeugen und bearbeiten. Beratungs- und Weiterbildungsangebote zielen auf die Verbesserung der familiären Beziehungen und auf einen angemessenen Umgang mit den individuellen Verlusterfahrungen der Familienangehörigen. Unter dem Abschnitt „Integration und Normalisierung“ geht dieses Kapitel noch genauer auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der psychosozialen Unterstützung ambulanter Projekte ein. Die ambulanten Hilfsprogramme sprechen mit ihren präventiven Angeboten im psychosozialen Bereich nicht ausschließlich die betroffenen Familien an. Weitere Zielgruppen sind beispielsweise Lehrer, Vertreter der Gemeinden, lokale Autoritätspersonen und die allgemeine Bevölkerung. Die ambulanten Organisationen versuchen, diese Akteure für die spezifischen Bedürfnisse von Waisen zu sensibilisieren und gegen Misshandlung und Diskriminierung zu mobilisieren. Ambulante Programme setzen Seminare und interaktive Methoden, die sich bereits im Kontext der HIV-Prävention bewährten, ein, um ihre Botschaft zu vermitteln. Aufklärungskampagnen rufen die Bevölkerung zur Verantwortung und fordern die Gemeindemitglieder auf, Waisen und ihren Familien zur Seite zu stehen. Gleichzeitig soll die soziale Kontrolle in den Gemeinden gestärkt werden, so dass die Menschen in Fällen von Kindeswohlgefährdung eingreifen. Bei andauernden psychischen oder physischen Misshandlungen lässt sich eine Desintegration der Familie durch ambulante Unterstützung nicht immer verhindern. Aber auch diese Fälle indizieren nicht unbedingt eine Fremdunterbringung außerhalb der gewohnten Umgebung. Durch die Vermittlung ambulanter Organisationen und in Zusammenarbeit mit der lokalen Verwaltung sowie der Bevölkerung finden sich oftmals Alternativen. Joseph Musira berichtet, dass sich neue Betreuungsarrangements teilweise innerhalb der lokalen Gemeinschaft ergeben: „Die Onkel waren sehr grausam. Sie quälten den Jungen: „Ich werde dich schlagen. Ich werde dich töten.“ Also rannte der Junge davon. Aber einige der Nachbarn wussten, dass der Junge misshandelt wird, also erklärte sich einer bereit, das Kind aufzunehmen.“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Muso-
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ma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Für viele Kinder, die in stationären Einrichtungen leben, wäre vielleicht eine ähnliche Alternative möglich gewesen. Es besteht ein dritter Grund für die institutionelle Erziehung von Kindern. Einige Kinder leben in stationären Einrichtungen, weil sie keine lebenden Verwandten mehr haben bzw. keine erwachsenen Familienmitglieder bekannt sind. Bei diesen Kindern handelt es sich in der Regel um ausgesetzte Kinder. Aber auch einige Straßenkinder und Kinder aus Familien, in denen Krankheiten oder Unfälle die älteren Generationen vollständig auslöschten, besitzen keine erwachsenen Angehörigen mehr. In der Regel bilden Kinder ohne bekannte lebende Familienmitglieder in den stationären Einrichtungen die Ausnahme. In den Heimen der Organisation Light in Africa besitzen beispielsweise nur circa 20 der insgesamt 154 Kinder keine Familienangehörigen. 676 Johannes Kasimbzi, Leiter eines Kinderdorfes, bestätigt ebenfalls, dass in der Regel lebende Familienangehörige der Kinder bekannt sind: „Die meisten Kinder, die wir haben, sie haben noch jemanden. Sie haben eine Großmutter, sie haben irgendwo einen Onkel. Sehr wenige von ihnen haben keine sozialen Kontakte.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bei Kindern in der stationären Betreuung ohne bekannte Familienangehörige handelt es sich in den meisten Fällen um ausgesetzte Säuglinge und Kleinkinder. Das Fehlen eines erwachsenen Angehörigen, wie es beispielsweise in Kinderhaushalten vorkommt, sehen ambulante Programme nicht zwangsläufig als Indikation für eine Fremdunterbringung. „Wir wollen in der Regel keine Zentren für diese Kinder haben, deshalb ermutigen wir die Menschen, die Kinder in ihren Familien, ihrer Verwandtschaft, zu behalten; selbst wenn es Kinderhaushalte sind. Wenn sie in der Gegend bleiben, kann man Unterstützung in den Familien bereitstellen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Eine Betreuung in stationären Angeboten führt regelmäßig zur Trennung von Geschwistern oder minderjährigen Verwandten. Heime, die Säuglinge und Kleinkinder versorgen, befinden sich oft nicht in der Lage, ältere Geschwister mit aufzunehmen. Andere Einrichtungen kümmern sich hingegen ausschließlich um Jungen und haben keine Kapazitäten für Mädchen. Ambulante Projekte bemühen sich, eine Trennung der Geschwister zu verhindern, indem sie Kinderhaushalte gezielt im materiellen Bereich unterstützen und ihnen eine Bezugsperson an die Seite stellen. „Es gibt einige Waisen, die allein in ihren Elternhäusern leben. Was wir tun, ist zu versuchen, einen Nachbarn, einen Vormund zu finden; selbst wenn er nicht mit dieser bestimmten Person verwandt ist. Was wir machen, ist jemanden in der Gemeinde zu finden, der nach 676
Vgl. Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
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diesen Waisen sehen kann; besonders wenn sie noch jung sind, vielleicht zehn, 15 Jahre.“ (Interview mit T. Kamwamwa am 20.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auf diese Weise bemühen sich die Organisationen um einen gelingenderen Alltag der Heranwachsenden, ohne sie aus ihrem bekannten Umfeld herauszunehmen oder sie von ihren Geschwistern zu trennen. Die gegenseitige Versorgung in Kinderhaushalten lässt sich als individuelle Bewältigungsstrategie in einer extremen Krise verstehen. Die Kinder übernehmen füreinander Verantwortung statt auf die Straße zu gehen, sich ein eigenes Auskommen zu suchen oder stationäre Hilfsangebote aufzusuchen. Ambulante Hilfsprogramme respektieren und stärken diese Bewältigungsstrategie und können von guten Erfolgen in der Arbeit mit Kinderhaushalten berichten. Erfolge präventiver Maßnahmen bei der Stabilisierung von Lebensverhältnissen Die vorangegangene Analyse verdeutlicht, dass sich viele Ursachen für eine stationäre Unterbringung präventiv durch ambulante Maßnahmen bearbeitet lassen. Die typischen Gründe einer Fremdplatzierung, wie Armut in der Herkunftsfamilie, Beziehungsprobleme, Integrationsschwierigkeiten und das Fehlen einer erwachsenen Betreuungsperson, sollten nicht automatisch zu einer stationären Betreuung führen. In vielen Fällen reicht präventives Eingreifen ambulanter Hilfsprogramme, um die Desintegration des familiären Netzwerkes zu verhindern und den Kindern ein Aufwachsen in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen. Genaue Aussagen über die Erfolgsrate ambulanter Projekte im Bereich der Prävention lassen sich nicht treffen. Einige Indizien deuten darauf hin, dass ambulante Hilfe den Bedarf für stationäre Betreuung reduziert, aber nicht in allen Fällen verhindert. Die Vermittlung von Kindern aus ambulanten Hilfsprogrammen in Maßnahmen der institutionellen Erziehung sowie die Reintegrationserfolge von Straßenkindprojekten sind solche Indizien. In der Regel kennen alle Projekte im ambulanten Bereich eine stationäre Einrichtung in ihrer Umgebung und die Hälfte der befragten Organisationen (n = 16) kooperiert mit Heimen oder Kinderdörfern. Die meisten ambulanten Projekte lehnen die institutionelle Erziehung nicht grundsätzlich ab, sondern sehen in ihr die letzte Möglichkeit für Kinder aus einem ungeeigneten Herkunftsmilieu. Physische und psychische Misshandlungen oder unzureichende familiäre Versorgungsmöglichkeiten für Säuglinge sehen Mitarbeiter ambulanter Hilfsprojekte als Indikatoren für eine Fremdplatzierung. Dennoch berichten 81% der Interviewpartner aus dem ambulanten Bereich (n = 16), dass sie in letzter Zeit kein Kind aus ihren Programmen in eine stationäre Betreuung vermitteln mussten. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass ambulante Un-
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terstützung eine wirksame Methode zur Verhinderung von Fremdunterbringung darstellt. Die erfolgreiche Reintegration ehemaliger Straßenkinder lässt ebenso vermuten, dass sich ambulante Maßnahmen eignen, die familiäre Einheit bei der Bewältigung krisenhafter Zustände zu stützen. Die Nachbetreuung der Straßenkindprojekte gleicht den Angeboten eines ambulanten Hilfsprogramms und umfasst Unterstützung sowohl im materiellen als auch im psychosozialen Bereich. Da diese Maßnahmen einen Rückfall der ehemaligen Straßenkinder in den meisten Fällen verhindern, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass präventives Eingreifen schon vor dem Gang auf die Straße eine geeignete Möglichkeit zur Verhütung der familiären Desintegration gewesen wäre. Mitarbeiter von ambulanten Programmen berichten dementsprechend, dass materielle und psychosoziale Unterstützung das Problem weglaufender Kinder minimiert. Die Organisationen aus dem ambulanten Bereich erklären jedoch auch, dass die präventive Unterstützung des Haushaltes in wenigen Einzelfällen nicht verhindern konnte, dass Waisen die Familie verlassen und die Beziehungen abbrechen. Ambulante Hilfsangebote befinden sich nicht in der Lage, in allen Fällen eine Fremdplatzierung verwaister Kinder abzuwenden. In einigen Fällen bedarf es einer stationären Betreuung, die den Heranwachsenden einen sicheren, gelingenderen Alltag bietet. Für die meisten Waisen leisten ambulante Programme allerdings einen wichtigen Beitrag zur präventiven Bearbeitung von Problemen und zur Stabilisierung der familiären Kompetenzen der Lebensbewältigung. Die stationäre Unterbringung lässt sich dementsprechend in vielen Fällen durch frühes, präventives Eingreifen abwenden. Ein verbesserter Identifizierungsprozess erscheint notwendig, um eine Unterscheidung zwischen Kindern mit stationärem Betreuungsbedarf und Kindern mit präventivem, ambulantem Unterstützungsbedarf zu treffen (Kap. 5.1.3). Dezentralisierung und Regionalisierung Eine zentrale Lösungsstrategie für die Gesamtheit der Waisen in allen Regionen Tansanias wird den verschiedenen Problemlagen nicht gerecht. Robert Mhamba, der im Institut für Entwicklung der Universität von Dar es Salaam arbeitet, sieht das Problem folgendermaßen: „Man kann keine pauschale Herangehensweise haben, um all diesen Kindern zu helfen.“ (Interview mit R. Mhamba am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die einzelnen Projekte arbeiten erfolgreicher, wenn eine Abstimmung auf die Problemlagen und Ressourcen der Gemeinden, in denen sie sich engagieren, erfolgt. Die Regierung Tansania legte mit dem „Tanzania National Costed Plan of Action for Most
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Vulnerable Children“ eine Bewältigungsstrategie vor, welche die regionalen Unterschiede und die gemeindespezifischen Probleme aufgreift (Kap. 2.2.4). Die politischen Richtlinien folgen einem dezentralisierten Ansatz, nach dem die Verantwortung für die Waisen in den Kommunen verbleibt. MVC-Komitees in den Dörfern und Stadtvierteln sowie nichtstaatlichen Organisationen fällt die Aufgabe zu, die Familien und Gemeinden zu mobilisieren und sie bei der Versorgung der Waisen zu unterstützen. Durch die Integration der lokalen Maßnahmen in übergeordnete Strukturen und die Vernetzung der einzelnen Angebote lässt sich sowohl die Marginalisierung von einzelnen Gebieten als auch ein Überangebot in anderen Gegenden verhindern.677 Der staatliche Aktionsplan entspricht damit den Forderungen der Lebensweltorientierung. Thiersch sieht in der Dezentralisierung und Regionalisierung zentrale Voraussetzungen für die Anpassung der Hilfsangebote an lokale Bedingungen, welche die Lebenswelt der Adressaten prägen. Die sozialen Angebote sollten in gewachsene Strukturen eingebettet sein und vorhandene Institutionen nutzen. Dies darf nicht ohne kritische Betrachtung geschehen, denn die Soziale Arbeit hat den Auftrag, gesellschaftliche Voraussetzungen zu verbessern und neue Entwicklungen zu initiieren. Dabei müssen lokale Besonderheiten, zum Beispiel Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen, Beachtung finden. Um verbindliche Standards und gleiche Zugangschancen zu Hilfsangeboten zu sichern, besteht die Notwendigkeit, die Aktivitäten der einzelnen Organisationen in übergeordnete Strukturen einzubinden. 678 Im Folgenden analysiert die Autorin, inwieweit ambulante und stationäre Programme den Forderungen nach Regionalisierung und Dezentralisierung entsprechen. Einbettung der Angebote in existierende Strukturen und Institutionen Durch die Nutzung bestehender Institutionen und gewachsener Strukturen nehmen Menschen soziale Angebote als Teil ihres Alltags wahr. Auf diese Weise lässt sich die Hemmschwelle der Betroffenen möglichst gering halten und der Zugang zu den Hilfsangeboten wird erleichtert. Hilfsprogramme der Waisenhilfe greifen in ihrer Arbeit auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zurück und entsprechen damit dem Anspruch der Regionalisierung. Die kommunale Gemeinschaft trägt neben der Familie traditionell die Verantwortung für Waisen (Kap. 2.2.3). Die unterschiedlichen Akteure in den Gemeinden sollten Organisationen aus diesem Grund in ihrer Arbeit berücksichtigen. Thierschs Aussage, die 677
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 51 ff. Vgl. Bundesrepublik Deutschland – Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.) 1990, S. 86 f. 678
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er im Kontext der deutschen Jugendhilfe formulierte, besitzt auch für die Waisenhilfe in Tansania Gültigkeit: „Lebensweltorientierung verlangt, die Jugendhilfe im Zusammenspiel mit anderen Formen sozialer Hilfe, im Horizont also der Kultur des Sozialen wie sie Nachbarschaften, Vereine, bürgerschaftlich engagierte Gruppen praktizieren und mit den darin unterschiedlichen Zugängen zu sehen.“ (Thiersch 2002, S. 45). Entsprechend dieser Aussage konzentriert sich die folgende Betrachtung auf Kooperationen mit Akteuren in der kommunalen Gemeinschaft, die häufig bereits unabhängig von Organisationen einen Beitrag zur Unterstützung von Waisen leisten. Die folgende Abbildung (Abb. 83) gibt Auskunft über die externe Unterstützung, die Waisen und Nichtwaisen nach eigenen Aussagen von unterschiedlichen Beteiligten erhalten. Abbildung 83: Akteure in der Bereitstellung von externer Unterstützung für Haushalte mit Waisen
Durch eine Kooperation mit den unterschiedlichen Parteien, die Hilfe für Waisen anbieten, lassen sich Synergieeffekte erzielen. Die Zusammenarbeit zwischen Projekten und Institutionen verfolgt unterschiedliche Ziele: Identifizierung von Kindern mit Hilfebedarf und Bekanntmachen der Organisation: Die Bekanntheit eines Hilfsprogramms in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen erleichtert die Identifizierung bedürftiger Personen. Wenden sich Hilfe suchende Personen an Geistliche bzw. Beamte oder stellt ein Lehrer den Hilfebedarf eines Schülers fest, können sie die Betroffenen an die Organisation weitervermitteln. Abbau von Zugangsbarrieren: Die Einbindung der Hilfsprojekte in bestehende Institutionen erleichtert den Menschen die Wahrnehmung der Hilfe. Die Zusammenarbeit mit etablierten Institutionen und vertrauten Bezugs-
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personen ermöglicht eine größere Akzeptanz des Hilfsangebotes, eine Reduzierung der Hemmschwelle bei der Inanspruchnahme von Unterstützung und den Abbau von räumlichen Zugangsbarrieren. Kinder müssen zum Beispiel für die Teilnahme an Gruppenangeboten nicht den weiten Weg ins Büro der Organisation auf sich nehmen, sondern treffen sich mit den Mitarbeitern an der örtlichen Schule. Sicherstellung von Kontrollmöglichkeiten: Die Zusammenarbeit dient den Organisationen zur Überwachung des Wohlbefindens der Kinder und zur Ergebniskontrolle. Beispielsweise ist der Austausch zwischen Mitarbeitern von ambulanten Hilfsorganisationen und Lehrern verwaister Kinder sinnvoll. Zum einen ermöglicht dies die Kontrolle des regelmäßigen Schulbesuches und zum anderen kann die Lehrkraft eine Rückmeldung über weitere Bedürfnisse des Kindes im materiellen bzw. psychosozialen Bereich erstatten. Einsparung von Kosten: Einerseits hilft die Koordinierung der Arbeit unterschiedlicher Partner, die Unterstützung zu bündeln und Überschneidungen zu vermeiden; andererseits minimieren Organisationen ihre Ausgaben, indem sie Ressourcen in der Gemeinde, beispielsweise Räumlichkeiten der Kirchen oder der Kommune, nutzen. Schaffung einer Grundlage für gesellschaftliche Veränderungen: Die Kooperation mit Institutionen bildet die Basis für Erneuerungen in der Gesellschaft. Zur Beseitigung der Ursachen der Waisenkrise und der Gefährdung von Heranwachsenden in Tansania bedarf es Reformen und Veränderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Einige Organisationen nutzen beispielsweise die Zusammenarbeit mit Schulen zur Verbesserung der Bildungsqualität, indem sie den Bildungseinrichtungen bei der Ausstattung helfen oder Lehrern Weiterbildungen zu verschiedenen Themen anbieten. 100% der befragten Projekte aus dem ambulanten Bereich (n = 26) erklären, dass sie mit unterschiedlichen Akteuren in den Gemeinden ihres Einzugsgebietes zusammenarbeiten. Von den Organisationen (n = 13), die stationäre Betreuung anbieten, berichten 77% von Kooperationen mit Institutionen in Kommunen. Die folgende Abbildung (Abb. 84) veranschaulicht, dass ambulante Hilfsprogramme mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen stärker kooperieren als Organisationen der stationären Betreuung und somit dem Anspruch der Regionalisierung in einem höheren Maße gerecht werden.
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Abbildung 84: Zusammenarbeit der Organisationen mit Akteuren in den Kommunen
Integration der Hilfe in staatliche Strukturen Die offizielle Registrierung sozialer Organisationen schafft die Voraussetzung für eine fruchtbare Kooperation mit Behörden und staatlich initiierten Programmen über die lokale Verwaltungsebene hinaus. Erst wenn Organisationen den Behörden bekannt sind, können sie in die Planung und Umsetzung staatlicher Strategien einbezogen werden. Dies ist notwendig, um in den unterschiedlichen Regionen vergleichbare Hilfestandards zu schaffen. Beispielsweise organisierte die zuständige Behörde in der Mwanza Region ein Treffen mit Vertretern lokaler Projekte, um sie über den „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ zu informieren. Organisationen ohne Registrierung konnten an diesen Treffen nicht teilnehmen und weisen entsprechende Informationsdefizite auf. Die Umsetzung staatlicher Richtlinien wird dadurch erschwert. Nicht alle sozialen Organisationen in Tansania verfügen über eine offizielle Registrierung als nichtstaatliche Organisation, welche die Voraussetzung für ihre Anerkennung und somit für die Legalität ihrer Aktivitäten bildet (Kap. 2.2.3). Von den befragten Organisationen im ambulanten Bereich (n = 21) sind 71% staatlich registriert und anerkannt. Die Hilfsprogramme, die keine Registrierung vorweisen, unterstehen in vielen Fällen einer Diözese. Sie agieren somit in der rechtlichen Zugehörigkeit zu der jeweiligen Kirche. Die besuchten Einrichtungen der stationären Unterbringung weisen zu 100% eine staatliche Anerkennung auf. Dies gilt als reguläre Voraussetzung für die Zusammenarbeit mit dem Wohlfahrtsamt. Das Ergebnis der Befragung durch die Autorin bedeutet nicht, dass in Tansania alle stationären Einrichtungen für
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Kinder offizielle Registrierungen aufweisen. 679 Privatpersonen geben einer beträchtlichen Anzahl von verwaisten und heimatlosen Kindern ein neues Zuhause, ohne als Heim anerkannt zu sein. Die Lehrerin Lucy Lema von der Organisation Kilimanjaro Children Joy Foundation begann auf diese Weise. Sie nahm seit 1990 mit Wissen der zuständigen Wohlfahrtsbehörde Kinder bei sich auf, bis sie mit mehr als 20 Kindern in den drei Räumen ihres Hauses lebte. Erst 2006 erfolgte die offizielle Anerkennung ihrer Einrichtung, in der inzwischen über 100 Kinder wohnen, als staatlich registriertes Heim. 680 Die Wohlfahrtsbehörde hat kein Interesse daran, unregistrierte Einrichtungen zu schließen, da es an alternativen Betreuungsmöglichkeiten mangelt. Dennoch bemühen sich die Beamten, inoffizielle Heime zur Registrierung ihrer Einrichtung zu bewegen. Bei der Anerkennung stationärer Einrichtungen setzen die Wohlfahrtsämter Mindeststandards in der Ausstattung und eine Verantwortungsteilung auf der Leitungsebene voraus. Die Behörde stellt damit sicher, dass bei einem Ausfall der Heimleitung durch Krankheit oder Tod die Versorgung der Kinder gewährleistet ist. Eine Registrierung stationärer Einrichtungen trägt dazu bei, Standards der institutionellen Versorgung von Kindern zu sichern. 96% der befragten ambulanten Hilfsangebote (n = 23) arbeiten mit der lokalen Verwaltung oder den MVC-Komitees auf der Gemeindeebene zusammen. Die Partnerschaft dient in erster Linie dem Gelingen der alltäglichen Arbeit der Organisation. Eine Kooperation mit staatlichen Stellen über die lokale Ebene hinaus findet im ambulanten Bereich nur in geringerem Maße statt. Beispielsweise berichtet kein befragtes ambulantes Hilfsprojekt von Berührungspunkten mit dem Wohlfahrtsamt. Die fehlende Kooperation mit Mitarbeitern des Wohlfahrtsamtes ist einer der Gründe für die Begünstigung stationärer Lösungen für Kinder mit Hilfebedarf. Den Beamten fehlt das Wissen über Alternativen, an die sie Hilfe suchende Familien verweisen könnten. Sieht sich die Familie nicht in der Lage, die Versorgung zu sichern, sucht der Mitarbeiter einen freien Platz in einer stationären Einrichtung. Die Vermittlung an Organisationen der ambulanten Hilfe ziehen die Beamten in der Regel nicht als Option in Erwägung. Informationen über alle lokalen Projekte im Einzugsbereich der Behörde und eine intensive Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und nichtstaatlichen Organisationen schaffen die Voraussetzungen zur Verhinderung von unnötigen Fremdplatzierungen. Die Kooperation bildet aber auch eine notwendige Bedingung, um Kinder mit einem spezifischen Bedarf, der sich nicht durch präventive, 679 Siehe Axios International (Hrsg.) 2002, S. 36: Der Bericht der Organisation Axios International beschreibt drei Waisenhäuser in der Mbeya Region, die nicht über eine staatliche Registrierung verfügten. Alle Heime entstanden auf Initiative von Privatpersonen, die in ihrem Umfeld den Bedarf für die Versorgung unbetreuter Kinder sahen. 680 Vgl. Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania.
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ambulante Angebote decken lässt, in die Obhut stationärer Einrichtungen weiterzuvermitteln. Im stationären Bereich arbeiten 60% der befragten Organisationen (n = 15) mit der lokalen Verwaltung und 65% mit dem Wohlfahrtsamt zusammen. Bei der Kooperation mit dem Wohlfahrtsamt besteht ein signifikanter Unterschied zwischen stationären Betreuungsangeboten von Straßenkindprojekten und anderen stationären Betreuungseinrichtungen. Keines der interviewten Straßenkindprojekte mit stationären Betreuungsmöglichkeiten berichtet von einer Kooperation mit den zuständigen Beamten der Wohlfahrtsbehörde, während andere Einrichtungen der institutionellen Erziehung eng mit diesen zusammenarbeiten. Es bleibt unklar, worauf die beschriebene Differenz beruht, denn entsprechend der staatlichen Richtlinien muss die Wohlfahrtsbehörde die stationäre Unterbringung in jedem Einzelfall, unabhängig davon, ob es sich um obdachlose Straßenkinder, Waisen oder Findelkinder handelt, bewilligen (Kap. 4.3.1). Vernetzung unterschiedlicher Anbieter Auf dem Hintergrund schwacher staatlicher Strukturen erscheint die Zusammenarbeit unterschiedlicher Organisationen umso wichtiger. Die Kooperation und Abstimmung zwischen einzelnen Projekten kann helfen, die Duplikation von Unterstützung zu minimieren, Marginalisierung einzelner Gebiete oder Familien zu verhindern und das soziale Engagement der unterschiedlichen Akteure zu koordinieren. Die Zusammenarbeit ermöglicht darüber hinaus den Austausch zwischen Mitarbeitern von Organisationen mit dem Ziel, soziale Programme weiterzuentwickeln und sozialpolitischen Forderungen mehr Gewicht zu verleihen. Von 24 befragten Organisationen aus dem ambulanten Bereich berichten alle von Kooperationen mit anderen sozialen Projekten. Die Kooperation bleibt häufig auf einige wenige Partnerschaften beschränkt. In Gesprächen zwischen der Autorin und den Mitarbeitern der Projekte zeigte sich deutlich, dass die Autorin in vielen Fällen über einen besseren Einblick in die Hilfsangebote der Gegend verfügte, als die vor Ort tätigen Organisationen. Weitere Projekte in derselben Stadt sind den Mitarbeitern teilweise fremd oder sie kennen diese nur vom Namen, ohne Informationen hinsichtlich deren Tätigkeitsbereiche zu besitzen. Die unzureichende Zusammenarbeit unterschiedlicher Anbieter gefährdet die angemessene Unterstützung der Klienten. Nicht jedes ambulante Projekt befindet sich in der Lage, sämtliche notwendige Hilfsangebote bereitzustellen. Kooperieren die Organisationen miteinander und kennen die Angebotspalette des jeweils anderen, können sie Klienten mit einem zusätzlichen Hilfebedarf weiterleiten.
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Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der ambulanten Hilfe in der Umgebung dient darüber hinaus der Vermeidung von Duplikation. In einer Stadt oder einer Region arbeiten häufig mehrere Organisationen im Bereich der Waisenhilfe. Es besteht die Gefahr, dass Personen diese Situation ausnutzen und Unterstützung mehrfach in Anspruch nehmen. Um einen Missbrauch der Unterstützung zu verhindern, stimmen sich einige größere Organisationen untereinander ab. Einen weiteren Grund für die Zusammenarbeit von verschiedenen Programmen, der für die meisten Organisationen im Vordergrund steht, bildet der Wissenstransfer. Die Mitarbeiter tauschen sich über Methoden und Konzepte im Bereich der Waisenhilfe aus und informieren sich gegenseitig über potenzielle Finanzierungsquellen. Zu diesem Zweck wurden in einigen Gebieten Netzwerke ambulanter Hilfsprogramme gegründet und regelmäßige Treffen organisiert. Im stationären Bereich kooperieren 82% der befragten Organisationen (n = 17) mit weiteren Anbietern. Auch bei ihnen lässt sich eine Beschränkung auf einige ausgesuchte Partner feststellen. Über eine umfassende Einsicht in die im Umkreis tätigen Projekte verfügen die Mitarbeiter in der Regel nicht. Ziel der Kooperation bildet im stationären Bereich ebenfalls der fachliche Austausch. Mitarbeiter von Einrichtungen der institutionellen Erziehung besuchen sich untereinander, um sich über die Arbeit des jeweils anderen zu informieren und Erfahrungen auszutauschen. Diese Partnerschaften ermöglichen unter anderem die Vermittlung von bedürftigen Heranwachsenden bei beschränkten Kapazitäten in der eigenen Einrichtung. In Fällen, in denen Kleinkinder aus Säuglingsheimen nicht in ihre Herkunftsfamilien zurückkehren oder in eine Pflegefamilie kommen, übernehmen andere Projekte die Betreuung. Beispielsweise sendet die Leiterin des Säuglingsheims Forever Angels Kinder, die aufgrund ihres Alters nicht mehr zur Zielgruppe der Einrichtung gehören, zum Bethany Project. Im Gegenzug ermöglicht sie zwei jungen Mädchen vom Bethany Project, die sich nicht für die Sekundarschule qualifizieren konnten, das Sammeln von praktischen Erfahrungen in der Säuglingspflege und im Umgang mit Kleinkindern. 681 Ein großes Problem der Zusammenarbeit besteht darin, dass sich viele Organisationen auf Kooperationen mit vergleichbaren Anbietern konzentrieren (Abb. 85). Ambulante Programme gehen hauptsächlich Partnerschaften mit anderen ambulanten Projekten ein, stationäre Einrichtungen arbeiten vorwiegend mit Heimen oder Kinderdörfern zusammen und Straßenkindprojekte kooperieren in erster Linie mit Anbietern im Bereich Straßenkinder. Die Beschränkung auf Organisationen mit einer vergleichbaren Zielgruppe und einem ähnlichen Konzept hat verschiedene Nachteile. Stationäre Einrichtungen können Hilfe suchende Familien und Heranwachsende nicht in präventive, ambulante Programme 681
Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
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vermitteln, weil sie keine Informationen über lokale Organisationen besitzen und die jeweiligen Ansprechpartner nicht kennen. Ebenso wenig verfügen ambulante Hilfsangebote über einen genauen Einblick in die unterschiedlichen Möglichkeiten stationärer Betreuung. Ein weiterer Nachteil der eingeschränkten Zusammenarbeit betrifft die Begrenztheit des gegenseitigen Erfahrungsaustauschs. Der Wissenstransfer innerhalb des ambulanten und des stationären Bereiches leistet einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Programme, aber er bleibt immer auf vergleichbare Erkenntnisse und Arbeitsbereiche beschränkt. Durch den Austausch mit Organisationen aus dem jeweils anderen Bereich eröffnen sich neue Möglichkeiten. Die Autorin erfuhr in Gesprächen mit Mitarbeitern verschiedenster Organisationen, dass Voreingenommenheit die gegenseitige Wahrnehmung prägt. Stationäre Betreuungseinrichtungen besitzen die Reputation, über unbegrenzte Gelder aus dem Ausland zu verfügen und die Kinder von der Gesellschaft zu entfremden. Ambulante Hilfsprojekte stehen hingegen im Ruf, ineffektiv zu sein, nur punktuelle Hilfe entsprechend ihrer eigenen Finanzlage zu leisten und die Verwendung der Hilfsgüter in den Familien nicht kontrollieren zu können. Ein gemeinsamer Dialog könnte dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, sich mit konstruktiver Kritik auseinanderzusetzen und voneinander zu lernen. Abbildung 85: Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Waisenhilfe
Berücksichtigung der lokalen Bedingungen Ein Hilfsangebot für Waisen kann nur erfolgreich Unterstützung leisten, wenn es die lokalen Bedingungen berücksichtigt. Jones John von UNICEF weiß, dass in unterschiedlichen Kommunen die Problemlagen voneinander abweichen: „Fak-
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toren der Gefährdung unterscheiden sich abhängig von kulturellen Differenzen, den Traditionen des spezifischen Ortes, und natürlich der Verbreitung von HIV/AIDS.“ (Interview mit J. John am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Dezentrale Strategien ermöglichen eine Anpassung der Hilfsprogramme an die lokalen Bedürfnisse und strukturellen Voraussetzungen. Eine solche Anpassung erweist sich als notwendig, um mit der Hilfspalette den Problemlagen und Ressourcen in den einzelnen Gemeinden zu entsprechen. Beispielsweise reicht es in einem Dorf aus, Kinder mit Schuluniformen zu versorgen, um ihnen eine angemessene Bildung zu ermöglichen. In der Nachbargemeinde wäre diese Hilfe nicht hinreichend. Dort besteht die Notwendigkeit, Schulen beim Ausbau und der Ausstattung zu unterstützen. Erst dann erfüllt die Bereitstellung von Schuluniformen das angestrebte Ziel. Die bereits beschriebene Kooperation mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen bildet eine gute Voraussetzung, um die Arbeit der Organisationen an die lokalen Bedingungen anzupassen. Sie ermöglicht einerseits eine genaue Kenntnis der lokalen Strukturen und Erfordernissen sowie andererseits eine Nutzung vorhandener Ressourcen. Die Initiierung von ambulanten Hilfsprojekten für Waisen stellt eine Antwort auf lokale Probleme dar. Eine unzureichende Versorgung von Waisen im Zuge der Waisenkrise machte sich zuerst vor Ort bemerkbar. Schlecht ausgestattete Schüler belasteten den Unterricht in den Schulen, überforderte Familien suchten Hilfe bei religiösen Gruppen und die kommunale Gemeinschaft sah sich erstmals mit Straßenkindern und unbetreuten Minderjährigen konfrontiert. Die Waisenkrise traf alle Regionen Tansanias mehr oder weniger stark und entwickelte sich zu einer nationalen Herausforderung. Gleichwohl spürten in erster Linie die einzelnen Gemeinden die Konsequenzen der Entwicklung. Engagierte Personen und Hilfsorganisationen sahen in den jeweiligen Kommunen einen Bedarf für Unterstützungsangebote für die wachsende Zahl von Waisen. Die steigende Waisenpopulation, die Schwächung der Privathaushalte durch die AIDS-Epidemie sowie steigende Lebenserhaltungskosten drohten, die familiären Auffangnetze zu zerreißen (Kap. 2.1.1) Die ambulanten Projekte, die häufig als lokale Initiative vor Ort entstanden, orientierten sich an den lokalen Bedingungen; sie suchten Antworten auf das lokale Problem der steigenden Waisenzahlen und nutzten lokale Ressourcen in ihrer Arbeit. Sie entwickelten dezentralisierte Lösungen für die Problematik der Waisenversorgung, indem sie die Kapazitäten der Haushalte stärkten, die Grundversorgung der Kinder sicherten und Gemeindemitglieder in der Betreuung nutzten. Organisationen mit ambulanten Hilfsprogrammen für Waisen entstanden nicht nur als Antwort auf eine lokale Entwicklung, sondern passen auch ihre Hilfsangebote an die lokalen Bedürfnisse an. Die meisten Programme orientieren
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sich an den spezifischen Problemen der Waisen und ihrer Familien. Die Hilfsangebote unterschiedlicher Organisationen differieren in den verschiedenen Regionen und Gemeinden entsprechend den lokalen Besonderheiten. Beispielsweise hilft ein Projekt in der Stadt, Haushalten mit Waisen die Miete für ihr Zimmer zu zahlen, während eine Organisation auf dem Land Reparaturen an der Lehmhütte vornimmt. In ländlichen Gebieten besteht für Nahrungsmittelhilfen in vielen Fällen kein Bedarf, aber in urbanen Gebieten kann sich eine vorübergehende Unterstützung mit Grundnahrungsmitteln als notwendig erweisen, weil die Menschen keine landwirtschaftlichen Flächen besitzen. Viele Probleme der Waisen beruhen auf lokalen Voraussetzungen und nicht ausschließlich auf dem Unvermögen der Haushalte, die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Für eine erfolgreiche Arbeit ist es daher unerlässlich, dass die Projekte mit Hilfe dezentralisierter Strategien ihre Angebote an die örtlichen Bedingungen anpassen und bei veränderten Problemlagen modifizieren. Die Weiterentwicklung der einzelnen Programme im Laufe ihres Bestehens sind deutliche Anzeichen dafür, dass ambulante Projekte diesem Anspruch gerecht werden. Viele Organisationen begannen mit dem Ziel, HIV-Prävention anzubieten, dehnten ihre Angebote dann auf HIVinfizierte Personen aus, bis sie schließlich auch Programme für Waisen entwickelten. Entsprechend ihrer Kapazitäten bemühen sich die Organisationen im ambulanten Bereich, ihre Arbeit an den Problemlagen in den Gemeinden anzupassen und auszubauen. In jeder Kommune existieren neben den spezifischen Problemlagen auch Ressourcen. Ambulante Hilfsprojekte vertrauen in ihrer Arbeit auf die Zusammenarbeit mit der kommunalen Gemeinschaft und versuchen, die Menschen an ihre gesellschaftliche Pflicht zu erinnern. Das Engagement der Bevölkerung ergibt sich aus ihrer traditionellen Verantwortung für Waisen. Die Gemeindemitglieder stellen bei den befragten Organisationen die wichtigsten Kooperationspartner dar. Sie helfen bei der Identifizierung bedürftiger Kinder (Kap. 5.1.3) und unterstützen die Organisationen durch ehrenamtliche Arbeit und materielle Beiträge (Kap. 4.1). Noch wichtiger als die Spenden und die Mitarbeit der Bevölkerung in der Organisation erweist sich deren informelle praktische Unterstützung für Waisen. Die Menschen zu mobilisieren, sich neben ihren eigenen Problemen für die Waisen einzusetzen, stellt eine Herausforderung dar. Aber die ambulanten Hilfsorganisationen ermutigen die Bevölkerung, Familien mit Waisen bei der Erfüllung der alltäglichen Bedürfnisse zur Seite zu stehen. Andrew Kagya von der katholischen Organisation KAKAU erklärt an einem Beispiel, welchen Beitrag die Bevölkerung im alltäglichen Leben leistet: „Zum Beispiel, wenn man nur Bildungsunterstützung bereitstellt, muss das Kind auch essen. Also sagt man den Menschen rundherum, dass wir dem Kind in der Bildung
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helfen, aber ihr müsst ihm in anderen Bereichen helfen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Fremdbetreuung stellt ebenso wie ambulante Hilfsangebote eine Reaktion auf die lokalen Problemlagen der Gemeinden dar. Die meisten Organisationen wurden im Zuge der Waisenkrise initiiert; sie sehen sich als Antwort auf eine steigende Zahl von Waisen und einer Überlastung der familiären und kommunalen Sicherungsnetze. Die stationäre Betreuung von Kindern in sozialen Einrichtungen widerspricht allerdings der traditionellen Verantwortung der Familie und Gemeinde. Statt in ihrem sozialen Umfeld zu verbleiben, kommen die Heranwachsenden in Unterkünfte, die sich teilweise in weiter Entfernung zu ihren Familien befinden. Dies erschwert den Angehörigen den Zugang zu den Kindern. Die stationäre Unterbringung wird somit dem Anspruch der Dezentralisierung nicht gerecht. Die Gründung und der Ausbau stationärer Betreuungseinrichtungen bilden eine Antwort auf ein lokales Problem in den Gemeinden, aber die Lösung orientiert sich nicht an den lokalen Bedingungen. Stationäre Einrichtungen in urbanen Gebieten unterscheiden sich nicht grundlegend von Einrichtungen auf dem Land und auch zwischen einzelnen Regionen lassen sich keine spezifischen Unterschiede feststellen. Die Differenzen, die zwischen den einzelnen Einrichtungen bestehen, entsprechen den unterschiedlichen Konzepten und strukturellen Bedingungen. Darüber hinaus unterscheidet sich die Versorgung in der stationären Betreuung von den lokalen Bedingungen und der gewohnten Lebenswelt der Kinder. Die Lebensstandards liegen in vielen besuchten Projekten über dem nationalen Durchschnitt. Die bessere Versorgung, die 63% der befragten Interviewpartner (n = 19) als Vorteil der institutionellen Erziehung sieht, entspricht nicht einer Orientierung an den lokalen Voraussetzungen. Ronald Posein, Leiter eines Kinderheims in Mwanza, beschreibt die Unterschiede folgendermaßen: „Unsere Kinder essen wie niemand sonst. […] Sie bekommen drei oder vier Mal pro Woche Fleisch; wissen Sie, manchmal sogar fünf Mal pro Woche. Das ist nicht üblich [in Tansania]. Sie bekommen jeden Tag Vitamine, was nicht normal ist. Sie werden an Computern geschult, sie lernen nähen und kochen. Das sind, würde ich sagen, die Bereiche, in denen ein durchschnittliches tansanisches Kind keinesfalls das bekommt, was unsere Kinder bekommen.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die meisten Heranwachsenden in stationären Einrichtungen befinden sich gegenüber durchschnittlichen tansanischen Kindern in den Bereichen Bildung, Ernährung, Qualität und Ausstattung der Unterkunft, Kleidung, Freizeitaktivitäten und medizinischer Versorgung im Vorteil. Während in einigen Bereichen, wie Gesundheit, eine überdurchschnittliche Versorgung angemessen ist, erscheint sie in anderen Bereichen unverhältnismäßig. Beispielsweise wirkt ein Überangebot von Spielzeug oder regelmäßiger Fernseh-
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5 Evaluationsstudie
bzw. Videokonsum in vielen Einrichtungen im tansanischen Kontext fremdartig. Einige stationäre Betreuungsinstitutionen, welche die Autorin besuchte, gleichen in ihrer Ausstattung eher europäischen Heimen als der tansanischen Lebensweise. Dies erzeugt einen signifikanten Kontrast zwischen der Einrichtung und ihrer Umgebung. Inwieweit sich eine solche Diskrepanz für die spätere gesellschaftliche Reintegration als abträglich erweist, untersucht das Kapitel 5.1.5. Im Bereich der Nutzung von Potenzialen im Umfeld der Einrichtung zeigt sich im stationären Bereich ebenfalls eine geringere Orientierung an lokalen Bedingungen. Organisationen der institutionellen Erziehung greifen bedeutend weniger auf lokale Ressourcen zurück als Hilfsprogramme im ambulanten Bereich. Das Kapitel 5.1.2 wird Auskunft darüber geben, dass Heime und Kinderdörfer in der Regel stärker auf ausländische Unterstützung vertrauen als auf Kapazitäten der nächsten Umgebung. Durch die Fremdunterbringung übernimmt die Organisation die gesamte Versorgung. Die alltägliche Unterstützung von Waisen durch die Bevölkerung, auf die ambulante Projekte bauen, wird durch die stationäre Unterbringung der Kinder überflüssig gemacht. Alltagsorientierung Dem Begriff Alltagsorientierung oder auch Alltagsnähe kommt in der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit zwei Bedeutungen zu: „Alltagsnähe meint – zunächst – die Präsenz von Hilfen in der Lebenswelt der AdressatInnen, also die Erreichbarkeit und Niedrigschwelligkeit von Angeboten. Alltagsnähe meint – zum zweiten – eine ganzheitliche Orientierung in den Hilfen, die den ineinander verwobenen Lebenserfahrungen und –deutungen in der Lebenswelt gerecht wird.“ (Thiersch und Grunwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 1143). Hilfsangebote müssen sich den spezifischen Problemen und Ressourcen der Klienten anpassen und im Alltag der Klienten zugänglich sein. Die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeit des Alltags mit seinen unterschiedlichen sozialen Netzen, Belastungen und Handlungsmustern sowie die Orientierung an diesen komplexen Alltagserfahrungen ermöglicht eine effektive Bearbeitung von vorhandenen Problemlagen.682 Die Probleme von Waisen und ihre Ressourcen stellt das Kapitel 3 detailliert dar; diese Ausführungen dienen als Grundlage für die folgende Analyse. Problemlagen und Ressourcen sowie Wahrnehmungen und Handlungsmuster unterscheiden sich in jedem Einzelfall. Die individuelle Anpassung der Hilfsprogramme stellt demnach ein wichtiges Merkmal der Alltagsorientierung dar. Die 682
Vgl. Thiersch und Grunwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 1143.
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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Frage, in welchem Maße die Organisationen eine Individualisierung der Hilfsangebote für Waisen erreichen, behandelt das Kapitel 5.1.4 unter der Thematik „Schaffung eines gelingenderen Alltags“. Die Ausführungen zur „Alltagsorientierung“ gehen im Folgenden auf einige ausgewählte Alltagsbedingungen ein, die sich für den Großteil der Waisen als typisch erweisen. Die traditionelle Verantwortung der Verwandtschaftsnetze bildet die größte Ressource in der Waisenkrise und im Alltag der Kinder. Die Einbeziehung der Familie und die Nutzung ihrer Kapazitäten erleichtert die Arbeit der Organisationen und entspricht den Forderungen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach einer Orientierung am Alltag und den darin verankerten sozialen Netzen. Das größte Problem von Waisen besteht im Zugang zu Bildung. Dies konnte die Autorin bei Hausbesuchen, in der Befragung von Waisen und in Gesprächen mit Mitarbeitern von Projekten feststellen. Bildung gilt als wesentliche Voraussetzung für eine unabhängige Zukunft und für die soziale Integration; aus diesen Gründen sollten Hilfsprogramme die Bedürfnisse der Kinder in diesem Bereich erfüllen. Zusätzlich analysieren die folgenden Ausführungen am Beispiel der religiösen Orientierung, inwieweit Organisationen in ihrer Arbeit den kulturellen, religiösen und sozialen Hintergrund der Kinder respektieren. Der Abschluss des Abschnittes „Alltagsorientierung“ widmet sich der Zugänglichkeit sozialer Angebote und untersucht potenzielle Zugangsbarrieren. Das familiäre Sicherungsnetz als zentrale Ressource von Waisen Das Verwandtschaftsnetz stellt für Waisen in der Regel die größte Ressource dar, da es die Versorgung verwaister Kinder als ihre traditionelle Aufgabe ansieht. „Tatsächlich ist es die Verwandtschaft, die sich um Waisen kümmert, denn entsprechend der Traditionen ist die Person, die Waisen versorgt, von der Familie selbst oder aus der entfernten Verwandtschaft.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Damit die Nutzung der familiären Ressourcen erfolgreich ist, müssen Projekte die Haushalte in die Lage versetzen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Organisationen, die mit den Ressourcen der Kinder arbeiten wollen, sollten die Verantwortung für Waisen bei den Familien belassen und deren Kapazitäten durch individuelle Unterstützung stärken. „Wenn man das Problem lösen will, muss man das Umfeld studieren. Die Menschen, die sich um sie [die Waisen] kümmern, müssen unterstützt werden, denn ansonsten wird man das Problem nicht lösen.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Unterbringung in stationäre Betreuungsangebote führt immer zu einer zeitweiligen oder langfristigen Trennung von der Familie. Die institutionelle
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5 Evaluationsstudie
Erziehung ignoriert familiäre Ressourcen teilweise bewusst, indem sie die Separation der Kinder von ihren Familienangehörigen in Kauf nimmt. Dennoch darf die Analyse nicht auf dieser oberflächlichen Ebene stehen bleiben. Die Frage, inwieweit Organisationen im stationären Bereich die Familie der Kinder als Ressource wahrnehmen und nutzen, muss für unterschiedliche Formen der institutionellen Erziehung getrennt beantwortet werden. Stationäre Einrichtungen, welche die langfristige Versorgung ihrer Zöglinge anstreben, arbeiten kaum mit den Herkunftsfamilien. Die Verwandtschaft lässt sich durch die stationäre Unterbringung nur noch in einem sehr geringen Maße als Ressource in der alltäglichen Versorgung der Waisen nutzen. Im besten Fall bleibt der Kontakt durch Besuche der Verwandten in der Einrichtung oder durch Ferienaufenthalte der Kinder bei ihren Familien aufrechterhalten. Manchmal tragen Angehörige mit Nahrungsmittelspenden oder Geldbeiträgen zur Versorgung der Kinder bei. Das Ziel der Reintegration der Kinder in ihre Herkunftsfamilie, das heißt die Aktivierung der familiären Ressourcen, verfolgen Säuglingsheime. Diese zielen darauf ab, die Kinder in ihre Familien zurückzuführen, sobald sie im Alter von circa zwei bis vier Jahren einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erreichen. Dabei arbeiten die Heime in der Regel weder vor noch nach der Reintegration mit den Verwandten zusammen. Amy Hathaway, die Gründerin des Säuglingsheims Forever Angels, erkannte dieses Problem schon bald nach der Eröffnung ihres Heimes: „In einigen Familien nehmen wir das Kind heraus. Sie [die Familien] leben weiterhin mit sieben Kindern, für sie hat sich in keiner Weise etwas verbessert und in ein paar Jahren geben wir das Kind zurück.“ (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Organisation versucht zunehmend, ihre Unterstützung auf einzelne Familien auszuweiten. Sie beschafft beispielsweise Verwandten, die nach der Rückkehr für das Kind Sorge tragen, eine Anstellung im Heim oder verbessert die Wohnbedingungen der Familie vor der Rückkehr des Kindes. Das Säuglingsheim Forever Angels sieht in der Familie eine Ressource der Kinder und stärkt deren Kapazitäten, damit sie ihrer Aufgabe nach der Rückkehr der Kinder gerecht werden. 683 Diese Form der Unterstützung kommt nur in Einzelfällen zum Tragen und stellt in der Gesamtheit aller Säuglingsheime eine Ausnahme dar. In der Regel erfolgt die Reintegration der Kinder, ohne dass die Organisation mit den Angehörigen an der Ausgangssituation arbeitet. Straßenkindprojekte erkennen die Familien der Heranwachsenden, die sie in ihren Einrichtungen stationär betreuen, ebenfalls als Ressource an. Mit dem Ziel, die betreuten Kinder in ihre Herkunftsfamilien zurückzuführen, arbeiten sie intensiv mit den Angehörigen 683
Vgl. Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
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der Kinder zusammen und stärken die Kapazitäten des familiären Sicherungsnetzes im materiellen und psychosozialen Bereich. Sie bemühen sich mit ihrer Arbeit, den Angehörigen ihre traditionelle Verantwortung wieder zurückzugeben. Dies ist eine relativ neue Entwicklung. Für lange Zeit sahen viele Straßenkindprojekte in der Bereitstellung eines neuen Zuhauses für Kinder auf der Straße ihre primäre Aufgabe (Kap. 4.4). Ambulante Hilfsangebote belassen die Verantwortung für Waisen bei den Familien und versuchen, sie in ihrer Aufgabe zu unterstützen. Die Familien verfügen über Ressourcen, die sich für die Versorgung der Kinder einsetzen lassen. In vielen Fällen fällt der Organisation die Aufgabe zu, den Haushalten zu helfen, ihre Potenziale zu identifizieren und effektiv zu nutzen. „Das wichtigste Mittel ist, dass wir versuchen, den Waisen zu helfen, indem wir innerhalb ihrer Familien nach Ressourcen schauen. Manchmal findet man heraus, dass sie viele Ressourcen haben, aber sie wissen nicht, dass sie diese haben, oder sie haben sie, aber wissen nicht, wie sie diese nutzen können. Also die Sozialarbeiter sind trainiert, diesen Menschen zu helfen, ihre entsprechenden Ressourcen zu nutzen; ihre Ressourcen zu organisieren und zu ihrem Vorteil zu gebrauchen.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Organisationen im ambulanten Bereich bemühen sich, die Familien zu befähigen, die Sorge für die Kinder sicherzustellen. In einigen Familien reichen die eigenen Ressourcen nicht immer für eine adäquate Versorgung der Waisen aus. In diesen Fällen besteht ein Bedarf für externe Unterstützung durch materielle und psychosoziale Hilfsangebote. Ambulante Hilfsprogramme versuchen entsprechend der eigenen organisatorischen Kapazitäten, auf die unterschiedlichen Problemlagen der Familien einzugehen. Die Begrenzung der Angebotspalette stellt in einigen Projekten ein Hemmnis für die Alltagsorientierung dar. Nicht immer lassen sich alle Bedürfnisse dauerhaft und kontinuierlich befriedigen. Bildung als zentrales Problem von Waisen „Das aller, aller größte Problem von Waisen ist Bildung. Bildung und alle Bedürfnisse, die vom Kindergarten bis zur Sekundarschule bezahlt werden sollten. Es ist sehr, sehr schwierig, diese Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Quantitative Erhebungen und qualitative Untersuchungen belegen, dass Waisen ohne externe Unterstützung im Bildungsbereich Benachteiligung erfahren (Kap. 3.1.3). Der Waisenstatus und die damit verbundenen Konsequenzen beeinträchtigen sowohl den Zugang zu Bildung als auch den Bildungserfolg der betroffenen Kinder. Unterstützung im Bildungsbereich stellt dementsprechend eine zent-
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rale Komponente in allen befragten Organisationen dar. Obwohl 100% der Organisationen (n = 44), die direkte Unterstützung für Kinder im schulpflichtigen Alter bieten, Bildungsförderung leisten, existieren signifikante qualitative Unterschiede. Die Ausführungen im folgenden Abschnitt stützen sich auf das Kapitel 3.1.3, welches die Bildungschancen von verwaisten Kindern in Tansania detailliert darstellt. Im stationären Bereich legen die Organisationen in der Regel einen großen Wert auf eine qualitativ hochwertige Ausbildung. Von 15 befragten Einrichtungen, die eine stationäre Unterbringung für Kinder im schulfähigen Alter anbieten, ermöglichen 27% ihren Zöglingen den Besuch von English Medium Schools. Die Einrichtungen verfügen entweder über heimeigene Schulen, die als Privatschulen anerkannt sind, oder sie bezahlen das Schulgeld für den Besuch von Privatschulen in ihrer Nähe. Vor allem für Einrichtung der institutionellen Erziehung, die eine langfristige Betreuung der Heranwachsenden bis zu deren Selbstständigkeit anstreben, erhält eine qualitativ hochwertige Bildung Priorität. Drei Institutionen, alle unter ausländischer Führung bzw. von Ausländern gegründet, bieten ihren Zöglingen den Besuch einer Privatschule. Die übrigen sechs Einrichtungen, die auf öffentliche Schulen zurückgreifen, tun dies in der Regel aufgrund der Kosten. Während der Besuch einer staatlichen Primarschule weitestgehend gebührenfrei ist, fallen für den Besuch einer privaten English Medium School erhebliche Ausgaben an. Ein Großteil der befragten Mitarbeiter und Leiter, würden für ihre Zöglinge den Besuch einer Privatschule bevorzugen oder planen bereits den Bau einer heimeigenen Schule. Die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Bildung lässt sich auch darin ablesen, dass stationäre Einrichtungen der englischen Sprache, die eine Voraussetzung für die weiterführende Bildung darstellt, einen besonderen Platz einräumen. Beispielsweise erhalten die Kinder in einigen Einrichtungen spezielle Englischkurse. Von den sechs befragten Straßenkindprojekten nutzt nur eine Einrichtung eine heimeigene English Medium School. Diese Organisation ist gleichzeitig das einzige besuchte Straßenkindprojekt, welches nicht die Wiedereingliederung der Kinder in ihre Familien anstrebt. Die Verantwortlichen gehen von einem langfristigen Aufenthalt der ehemaligen Straßenkinder im Heim aus und legen aus diesem Grund ein besonderes Gewicht auf eine gute Bildung. Straßenkindprojekte, die sich um eine Wiedereingliederung der Heranwachsenden bemühen, bereiten die Kinder in eigenen informellen Bildungsprogrammen auf den Besuch von öffentlichen Schulen vor. Bei einem längeren Aufenthalt im Projekt oder nach der Rückkehr in ihre Familien erleichtern diese informellen Bildungsmaßnahmen eine Eingliederung in das öffentliche Schulsystem. Straßenkindprojekte legen in der Regel mehr Wert auf die Herstellung der Schulfähigkeit als auf eine qualitativ hochwertige Bildung.
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Stationäre Angebote unterstützen Heranwachsende in ihrer Bildungslaufbahn in einem umfangreichen Rahmen. An die schulische Bildung im Primarund Sekundarbereich schließen sich Ausbildungsangebote oder weiterführende Bildungsmaßnahmen auf der Hochschulebene an. Bildung symbolisiert einen Wert, den Einrichtungen vehement verfolgen. Ein Fallbeispiel wird dies im Abschnitt „Partizipation“ noch einmal illustrieren. Die Zielstellung im Bildungsbereich betrifft häufig nicht nur die Ermöglichung einer angemessenen Bildung; die Bildungschancen der betreuten Kinder gehen sowohl in Qualität als auch im Umfang, das heißt im Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten, in vielen Fällen weit über die Möglichkeiten durchschnittlicher tansanischer Kinder hinaus. Die Organisationen möchten den Heranwachsenden damit die besten Voraussetzungen für eine unabhängige Zukunft und eine gelungene Eingliederung in die Gesellschaft mit auf den Weg geben. Inwieweit dies gelingt, untersucht das Kapitel 5.1.5. Organisationen aus dem ambulanten Bereich streben zu 100% die Schulbildung im öffentlichen Schulsystem an. Die geleistete Hilfe unterscheidet sich je nach Organisation in Quantität und Qualität. Einige Projekte geben ausschließlich Schuluniformen an Primarschulkinder, da sie nicht über die Ressourcen für eine weitere oder umfangreichere Unterstützung verfügen. Andere Hilfsprogramme finanzieren den Waisen jeglichen Bedarf für sämtliche Bildungsebenen von der Vorschule bis zur Universität (Abb. 86). Abbildung 86: Beispiel: Umfassende Bildungsförderung durch ambulante Angebote Die Organisation KIWAKKUKI befindet sich in der Lage, Waisen entsprechend ihrer kognitiven Kapazitäten und Interessen in der Bildung zu fördern. Die Mitarbeiterin Agnes Ngowi berichtet von der Vorgehensweise der Organisation im Bildungsbereich: „Wenn sie [die Waisen] für die Sekundarschule ausgewählt werden, dann gehen wir diesen Weg. Wenn sie ihre Zeugnisse bringen, dann wissen wir, diese können gehen. Dann unterstützen wir ihn oder sie weiterhin. Aber nur, wenn sie für diese staatlichen Sekundarschulen ausgewählt wurden. Wenn das Kind dann die Prüfung für die oberen Klassen besteht, dann gehen wir mit diesem Kind. Wenn er oder sie die Prüfung, sagen wir mal für die Universität, besteht, dann unterstützen wir. Das ist der Weg, den wir mit den Kindern gehen. Mit denen, die nicht für die staatliche Sekundarschule ausgewählt wurde, setzen wir uns jetzt hin und sprechen mit dem Kind und gelegentlich mit dem Betreuer. Einfach um die Interessen zu kennen, in welchen Gebiet könnte es bessere Leistungen bringen. Also wenn das Kind Tischlerei mag, unterstützen wir es darin. Wenn das Kind zur Berufsschule möchte, unterstützen wir es auch dabei. Die, die trotzdem gerne zur Sekundarschule wollen, müssen auf eine private Schule gehen. Wir fragen den Clan oder den Betreuer. Wenn sie bereit sind die Hälfte zu zahlen, dann bezahlen auch wir.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
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Neben der Übernahme der direkten Bildungskosten, wie Schul- oder Ausbildungsgebühren und Uniformen, welche den Zugang zu Bildung ermöglichen, leisten manche Organisationen zusätzliche Unterstützung, um den Bildungserfolg der Kinder zu sichern. Einige Projekte haben sich beispielsweise zur Finanzierung von Privatstunden entschlossen oder bieten eigenen Nachhilfeunterricht an. Sie reagieren damit auf die weitverbreitete Praxis von Lehrern, den Schülern notwendigen Lehrstoff vorzuenthalten, um ein zusätzliches Einkommen durch Privatstunden zu erzielen. Die spezielle Förderung der Kinder durch die Projekte sollen ihre Erfolgschancen in der Abschlussprüfung PSLE erhöhen, die über die Zulassung zur Sekundarschule entscheidet. Organisationen im ambulanten Bereich legen einen größeren Wert auf die Integration der verwaisten Kinder in das öffentliche Bildungssystem als auf eine qualitativ hochwertige Bildung. Ambulante Programme versorgen in der Regel eine bedeutend größere Anzahl von Kindern, so dass eine Konzentration der finanziellen Mittel auf besondere Bildungschancen für einzelne Kinder nicht möglich ist. Die finanziellen Ressourcen und die große Anzahl bedürftiger Kinder schränken in einigen Organisationen die Bildungsunterstützung ein, so dass nicht alle Heranwachsenden die Bildung erhalten, die ihren intellektuellen Kapazitäten entspricht und sie mit Fertigkeiten für eine unabhängige Zukunft ausstattet. Ambulante Hilfsprogramme, die über ausreichende Kapazitäten verfügen und diese effektiv einsetzen, gelingt es, eine umfangreiche Bildungsunterstützung zu bieten, die mit den Bedürfnissen der betroffenen Kinder übereinstimmt. Berücksichtigung des kulturellen, religiösen und sozialen Hintergrundes des Kindes Eine Orientierung am Alltag der Klienten bedeutet Akzeptanz und Respekt für die kulturelle, religiöse und soziale Prägung des Adressaten. Die Analyse jedes einzelnen Aspektes in diesem Bereich übersteigt den Umfang der Untersuchung. Aus diesem Grund beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Berücksichtigung der religiösen Orientierung von Kindern in den Hilfsprogrammen. Die Untersuchung dieser einen Komponente dient der exemplarischen Veranschaulichung des zur Frage stehenden Gesichtspunktes. Die Autorin wählte den Aspekt der Religion, weil der Glaube zur Lebenswelt der meisten Tansanier selbstverständlich dazugehört, das Engagement einiger Projekte einer religiösen Motivation entspringt und verschiedene Religionen in Tansania gleichberechtigt nebeneinander existieren. Der Religion kommt in Tansania eine besondere Bedeutung im Alltag zu. Gebetszeiten und Zusammenkünfte mit anderen Gläubigen strukturieren das tägliche Leben und religiöse
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Feiertage gliedern das Jahr. Religiöse Praktiken stellen einen festen Bestandteil im Leben der Menschen dar. Beispielsweise sprechen Gläubige vor und nach dem Essen nicht nur in der Privatsphäre des eigenen Hauses, sondern auch in Restaurants Dank- und Segensgebete. Der Anteil muslimischer Gläubiger und Christen ist landesweit nahezu ausgeglichen. 684 Trotz dieses Gleichgewichts bestehen in einigen Regionen starke Differenzen; beispielsweise ist der muslimische Bevölkerungsanteil an der Küste stärker ausgeprägt, während in einigen Gebieten der Kilimanjaro Region fast ausschließlich Christen leben. Der fehlende Zugang zu sozialen Einrichtungen der islamischen Glaubensgemeinschaft, der bereits im Kapitel 1.4.2 als Einschränkung der Evaluationsstudie beschrieben wurde, beeinträchtigt vor allem die folgenden Ausführungen. Die Frage, ob religiös geprägte Organisationen den Glauben ihrer Klienten respektieren, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur für christliche Organisationen, nicht aber für Programme der muslimischen Gemeinschaft beantworten. Alle befragten Organisationen berichten, dass sie Kinder unabhängig von ihrem Glauben unterstützen. Selbst Organisationen der Kirche unterscheiden in ihrer Arbeit nicht zwischen christlichen, muslimischen oder atheistischen Kindern. „Wenn man das [eine Unterscheidung zwischen Christen und Andersgläubigen] als Christ macht, ist man keinesfalls ein Christ. Christen müssen sich um alle Menschen kümmern.” (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Zugangsbarrieren zu Unterstützungsangeboten aufgrund der Glaubensrichtung bestehen bei den befragten Hilfsprogrammen weder im ambulanten noch im stationären Bereich. Dies bedeutet nicht automatisch, dass die Organisationen in ihrer Arbeit das religiöse Bekenntnis der betreuten Kinder respektieren. Die stationären Einrichtungen, welche die Autorin im Rahmen ihrer Feldforschung besuchte, sind häufig christlich geprägt. Die Einrichtungen unterstehen zum großen Teil der lutherischen oder katholischen Kirche Tansanias oder wurden von christlich motivierten Personen gegründet. Dementsprechend prägt der christliche Glaube den Alltag dieser Institutionen. Tägliche Gebete, regelmäßige Besuche von Gottesdiensten und eine christliche Erziehung nehmen einen hohen Stellenwert ein. Der Missionar Ronald Posein, der das Kinderheim Starehe leitet, sieht in der starken religiösen Prägung eine notwendige Orientierung an den tansanischen Voraussetzungen: „Man muss die Gesellschaft anerkennen, in der man lebt. Man kann nicht die westliche Mentalität hinsichtlich Religion in eine Gesellschaft transplantieren. Es [Glaube] ist eine normale Sache für sie, es 684
Siehe www.absolutetanzania.com/tanzania_quick_facts 03.12.09: Auf dem Festland Tansania gehören ca. 30% der Bevölkerung christlichen Religionen an und ca. 35% sind muslimischen Glaubens.
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ist normal; es ist unnormal, wenn eine Person keine Religion hat.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die bereits beschriebene Präsenz von Glaube und religiösen Praktiken in der Lebenswelt der Menschen spiegelt sich im Alltag der stationären Einrichtungen wider. Die Organisationen der institutionellen Erziehung vernachlässigen aber die Tatsache, dass nicht nur christliche Glaubensrichtungen das Leben in Tansania prägen und dass ein Teil der betreuten Kinder aus muslimischen Familien stammen. Auf Nachfragen erklären die Interviewpartner, dass muslimische Kinder an ihrer eigenen Religion festhalten dürfen. Alle befragten Einrichtungen geben an, jedem Kind die Möglichkeit einzuräumen, seinen Glauben frei zu praktizieren. Weitere Erkundigungen offenbaren, dass die Kinder in den Einrichtungen scheinbar „automatisch und freiwillig“ zum christlichen Glauben überwechseln. Daniel Bujiku vom Waisenheim Bethany berichtet: „Wir nehmen jedes Kind. Wissen Sie, wir glauben, dass unser Gott kein Gott ist, der bevorzugt, deshalb liebt Gott alle. Wir folgen dieser Liebe und nehmen sie [alle Kinder] auf; sie [die Religion] macht nichts, Glaube ist kein Problem für uns. Wir sagen, dass wir jedes Kind aufnehmen, das in Not ist. Wir nehmen Waisen, wir nehmen Kinder, gefährdete Kinder. Wissen Sie, wir müssen Kinder haben, es spielt keine Rolle, was ihr Glaube ist. Und wir setzen sie nicht einmal unter Druck, ihren Glauben zu ändern. Wir haben einige Kinder, die vom islamischen Glauben kommen. Wir sagen: „Das ist in Ordnung, wenn du weiterhin Moslem sein möchtest.“ Wir verändern nicht, wir zwingen sie nicht, ihren Glauben zu ändern. Aber wir sind christliche Familien, deshalb folgen wir unserem Glauben, wir tun die christlichen Dinge. Wir sagen: „Es liegt ganz bei dir, zu entscheiden. Du weißt, es gibt dort eine Moschee, irgendwo dort; du kannst dorthin gehen. Du weißt, wir haben eine Kirche hier und du kannst hier bleiben. Also du kannst wählen.“ Aber ich kann sagen, und ich weiß nicht, ob es erfreulich oder nicht erfreulich ist, sie entscheiden sich selbst, dem christlichen Glauben zu folgen. Ohne irgendeinen Zwang, denn Gott zwingt keine Menschen. Gott ist kein Diktator.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Laura Elliott von der Organisation Light in Africa machte ähnliche Erfahrungen. „Wir haben keine älteren muslimischen Kinder. Also wenn sie in der Zukunft kommen und sie sagen, dass sie zur Moschee gehen möchten, dann soll das so sein. Das ist für uns kein Problem. Aber wir haben das noch nie erlebt, denn wenn sie kommen, sind sie jung und sie lernen von Jesus und Gott. Ich denke, das ist es, womit sie aufwachsen.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Beide Aussagen sind exemplarisch für die geringen Möglichkeiten von muslimischen Heranwachsenden, in christlich geprägten Einrichtungen ihren Glauben beizubehalten. Obwohl sich die befragten Organi-
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sationen tolerant und offen zeigen, konnte kein Interviewpartner von einem Fall berichten, in dem ein betreutes Kind regelmäßig zur Moschee geht oder den islamischen Gebetsvorschriften nachkommt. Die stationären Betreuungseinrichtungen treffen keine Vorkehrungen, wie beispielsweise die Anstellung muslimischer Erzieher, die es Heranwachsenden erleichtern, ihren Glauben beizubehalten. Ein weiterer Hinweis auf die religiöse Prägung der Kinder durch die Einrichtung lässt sich im Säuglingsheim Ntoma feststellen. Die Einrichtung gehört zur evangelisch-lutherischen Kirche Tansanias und untersteht der zuständigen Diözese. Findelkinder, die in dieses Heim kommen, werden im Rahmen der täglichen Andachten getauft und somit dem Segen Gottes und der christlichen Kirche übergeben. 685 Organisationen im ambulanten Bereich weisen eine deutlich geringere christliche Prägung auf. Es gibt aber auch hier eine Vielzahl von Organisationen, die in kirchliche Strukturen eingebunden sind oder von christlich motivierten Menschen gegründet wurden. Einige Projekte nutzen die kirchliche Anbindung als Ressource in ihrer Arbeit, indem sie beispielsweise Treffen in den Räumlichkeiten der Kirche abhalten oder kirchliche Mitarbeiter als Volontäre in den Kommunen einsetzen. Die Autorin besuchte aber auch christlich geprägte Einrichtungen, die muslimische Gläubige, Vertreter traditioneller Glaubensvorstellungen oder Atheisten als ehrenamtliche Hilfskräfte nutzen. Dennoch ist in christlich geprägten Organisationen aus dem ambulanten Bereich der Glaube ebenso präsent wie in stationären Einrichtungen. Ambulante Hilfsprogramme integrieren religiöse Praktiken, wie Gebete oder Andachten, in ihre Arbeit. Es besteht dennoch ein signifikanter Unterschied zwischen Organisationen im ambulanten und stationären Bereich. Während die institutionelle Versorgung in der Regel allumfassend ist, besitzt die ambulante Hilfe nur einen geringen Einfluss auf die Erziehung der Kinder. Die Heranwachsenden verbleiben in ihrem familiären Umfeld. Die Sozialisation und somit auch die religiöse Prägung erfolgen in erster Linie in und durch die Familie. Erst an zweiter Stelle stehen weitere Sozialisationsinstanzen, wie Schule, Freunde oder soziale Einrichtungen. Die christliche Ausrichtung von Gruppenangeboten könnte von den Kindern und Familien als befremdlich wahrgenommen werden, aber sie schränkt nicht die freie Religionsausübung der Betroffenen ein. Manche Interviewpartner aus dem ambulanten Bereich entwickeln ein Bewusstsein dafür, dass die enge Bindung an die Kirche für muslimische Familien ein Hemmnis in der Wahrnehmung spezifischer Angebote sein könnte. Samuel Mori von der Organisation HUYAMWI überlegt, muslimischen Kindern einen 685 Vgl. Praktikum vom 15.09.01 – 15.03.02 in der stationären Betreuungseinrichtung Ntoma Orphanage in Ntoma, Tansania.
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alternativen Treffpunkt für Gruppenangebote zu bieten: „Statt diese Treffen in den lutherischen Gemeinden zu haben, könnten sie in einer Schule, in einer Schule in der Nähe stattfinden, so dass die Muslime frei sind, zu diesen Treffen zu kommen. Wenn sie zur lutherischen Kirche gehen, sagen sie: „Ah, sie wollen uns zu Christen umwandeln.“ Wir sagen: „Nein, dies hat nichts mit Religion zu tun.“ Wir geben den Menschen, weil wir alle menschlich sind, wir sind alle das Bild Gottes.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bei der Teilnahme an Gruppenangeboten, die auf dem Gelände von Kirchen stattfanden, stellte die Autorin fest, dass auch Waisen aus muslimischen Familien anwesend waren. Der Veranstaltungsort und die christliche Prägung der Treffen schienen für diese Kinder keine Barriere darzustellen. Es lässt sich allerdings nicht feststellen, wie viele muslimische oder atheistische Kinder aufgrund der religiösen Ausrichtung nicht kamen.686 Leichte Zugänglichkeit im Alltag der Klienten Zur Sicherstellung der Zugänglichkeit von Hilfsangeboten besteht die Notwendigkeit zum Abbau organisatorischer, institutioneller und zeitlicher Zugangsbarrieren. Die Präsenz der Hilfsangebote im Alltag der Klienten hilft, Hemmschwellen der Zielgruppe zu überwinden. Ambulante Hilfsangebote sind im Alltag der Klienten präsent. In der Regel verfügen die Organisationen über ein Büro, welches den Klienten bei Problemen offen steht. Viele Projekte im ambulanten Bereich profitieren darüber hinaus von einem dichten Netz von Volontären. Diese Volontäre decken normalerweise ein klar definiertes Gebiet im Einzugsbereich der Organisation ab. Sie stellen die Verbindung zwischen den lokalen Hilfskräften und der Organisation dar. Die Volontäre leben meist in dem Gebiet, das in ihre Zuständigkeit fällt. Sie sind den Anwohnern bekannt und werden bei Problemen angesprochen. Nicht allein die Betroffenen selber, sondern auch Nachbarn, Lehrer oder Vertreter der lokalen Verwaltung wenden sich an die Volontäre, wenn ein Hilfebedarf in Haushalten auftritt. Die Einbindung und örtliche Nähe der Volontäre gewährleistet eine zeitnahe Reaktion. Sie können den Hilfebedarf in den Familien besprechen und verifizieren und die Informationen an die Organisation weiterleiten. Neben der allgemeinen Erreichbarkeit organisieren lokale Hilfsprojekte auch spezifische Angebote in der Regel in unmittelbarer Umgebung der Klienten. Beispielsweise kommen Kinder auf dem Gelände der lokalen Kirche oder Schule zu regelmäßi686 Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation HUYAMWI am 16.06.07 in Mwika und am 30.06.07 in Kiboroloni, Tansania.
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gen Treffen zusammen. Die Veranstaltungen der Heranwachsenden finden am Sonnabend oder in den Ferien statt, so dass der Schulbesuch nicht unter den Aktivitäten leidet. Obwohl sich die Organisationen grundsätzlich bemühen, die Hilfsangebote am Alltag der Klienten zu orientieren, gibt es Fälle, in denen dies nicht gelingt (Abb. 87). Abbildung 87: Beispiel: Zugangsbarrieren in der Wahrnehmung ambulanter Angebote Die Organisation VUKA Tanzania lud 25 Betreuer aus Dar es Salaam zu einem Weiterbildungskurs ein, der Zugangsbarrieren nur begrenzt berücksichtigte. Die Teilnehmer, die um eine Rückmeldung bezüglich der Gestaltung des Seminars gebeten wurden, nannten vor allem zeitliche und örtliche Zugangsbarrieren als negative Punkte. Die Kritik betraf zum einen die langen Wege zu dem Veranstaltungsort und zum anderen die zeitliche Organisation. Das Seminar dauerte eine Woche und verlangte die ganztägige Anwesenheit der Teilnehmer. VUKA zahlte eine Aufwandsentschädigung, welche die Fahrtkosten, aber nicht den Verdienstausfall der Anwesenden abdeckte. Die Abwesenheit des Haushaltsvorstandes gefährdete die Versorgung der Waisen und anderer Haushaltsmitglieder, da diese von der Arbeitskraft bzw. dem Einkommen der anwesenden Seminarteilnehmer abhängig sind. Auch die Organisation der Betreuung der verwaisten Kinder für den Zeitraum des Seminars stellte in manchen Fällen ein Problem dar. (Teilnehmende Beobachtung: Seminar für Betreuer von Waisen der Organisation VUKA Tanzania am 13.03.07 in Dar es Salaam/Tansania) Andere Organisationen beugen diesen Problemen vor, indem sie statt einem einwöchigen Seminar lokale Gruppen organisieren, die sich regelmäßig zum Austausch und zum Training treffen. Diese Versammlungen finden beispielsweise in wöchentlichen oder monatlichen Abständen statt.
Der Zugang zu stationären Angeboten steht in einer engen Verbindung zum Identifizierungsprozess der bedürftigen Kinder. Den Bedarf für institutionelle Erziehung muss der zuständige Beamte des Wohlfahrtsamtes feststellen. In vielen Fällen wenden sich Angehörige, die sich mit der Versorgung der Kinder überfordert fühlen, aber auch direkt an stationäre Angebote oder werden von Vertretern der lokalen Verwaltung dorthin verwiesen. Die Hemmschwelle bei der Inanspruchnahme stationärer Betreuung und potenzielle Zugangsbarrieren scheinen auf den ersten Blick gering zu sein. Es bleibt dennoch unklar, in welchem Maß der aktuelle Identifizierungsprozess durch die Eigenmeldung der Betroffenen sowie durch die Arbeit des Wohlfahrtsamtes alle Kinder mit einem Bedarf für Fremdbetreuung erreicht (Kap. 5.1.3). Straßenkindprojekte nutzen die niedrigschwelligen Angebote der Straßensozialarbeiter, um Kinder zu erreichen und in Einrichtungen der institutionellen Erziehung zu integrieren. Diese Maßnahme hat sich im Kontext von Straßenkindern in den unterschiedlichen Regionen bewährt. Den Organisationen ermöglicht die aufsuchende Sozialarbeit, Hemmschwellen der Kinder abzubauen und
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ihr Vertrauen zu gewinnen. Dies erleichtert die Einbindung in stationäre Angebote und stellt einen ersten Schritt zur familiären Reintegration dar. Integration und Normalisierung Die Soziale Arbeit hat die Aufgabe, Waisen in die Gesellschaft zu integrieren, das heißt, ihnen ein Aufwachsen mit anderen Kindern sowie mit vergleichbaren Chancen und Bedingungen zu ermöglichen. Dies bedeutet nicht, dass die spezifischen Erfahrungen und Probleme von Waisen negiert werden sollen. Die Lebensweltorientierung sieht in der Wahrnehmung und Bearbeitung von besonderen Bedürfnissen die Voraussetzungen für Integration und Normalisierung. Das Ziel bildet dabei nicht die Gleichheit, sondern die Akzeptanz von Differenzen und den damit verbundenen besonderen Belastungen und Herausforderungen: „Integration meint die Anerkennung von Unterschiedlichkeiten auf der Basis elementarer Gleichheit, also Respekt und Offenheit für Unterschiedlichkeit, gegenseitige Kenntnis solcher Unterschiedlichkeit und Räume des Miteinanders“ (Thiersch und Grundwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 1144). Eingliederung von Kindern mit spezifischen Problemen Waisen unterscheiden sich aufgrund ihrer Verlusterfahrungen und spezifischer Bedürfnisse von anderen Heranwachsenden in Tansania. Dennoch dürfen diese individuellen Problemlagen nicht dazu führen, dass verwaiste Kinder aus der Normalität, das heißt der Alltagswelt der Anderen, verdrängt werden. Soziale Angebote müssen die Integration der Kinder fördern sowie die Ausgrenzung und Diskriminierung verhindern. In stationären Einrichtungen leben nicht nur Waisen, sondern auch andere bedürftige Heranwachsende. Einige Kinder haben noch Eltern, die eine angemessene Versorgung aufgrund von psychischen und physischen Einschränkungen nicht garantieren können oder ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Die Heranwachsenden kommen mit unterschiedlichsten Erfahrungen und Problemlagen in die Einrichtung; die Zöglinge setzen sich aus Straßenkindern, Kindern mit Behinderungen, vernachlässigten Kindern, Findelkindern und verwaisten Kindern zusammen. Das gemeinsame Aufwachsen von Kindern mit diversen Problemlagen lässt sich allerdings keinesfalls als Integration von Waisen verstehen. Ziel von Integration ist die Normalisierung, das heißt das Aufwachsen innerhalb der Gesellschaft. Statt in einem gewöhnlichen Umfeld zu leben, isoliert die institutionelle Erziehung die Waisen – ebenso wie die übrigen Kinder in
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stationärer Betreuung – vom gesellschaftlichen Leben: „Ich finde, dass die Institutionen sind, als ob man Menschen auf eine Insel bringt und sie das Leben nicht genießen, wie andere es tun. Wenn man Zuhause ist, kann man Nachbarn treffen, aber sie haben so viele Gesetze und Regulierungen.“ (Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Kontakte der Waisen beschränken sich zum größten Teil auf andere Heranwachsende mit spezifischen Problemen. Die Isolation ist besonders in Betreuungseinrichtungen mit einer eigenen Schule ausgeprägt (Abb. 88). Abbildung 88: Beispiel: Isolation statt Integration Das Kinderdorf in Kemondo bildet im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorf, welches sich ein wenig abgelegen am Ufer des Lake Victoria befindet. Auf dem Grundstück des Kinderdorfes gibt es mehrere Familienhäuser mit dazugehörigen Feldern, einige Gemeinschaftsräume als lokale Treffpunkte, ein Spielplatz für die Freizeitbeschäftigung der Kinder, ein paar Werkstätten und eine Schule. Die Heranwachsenden haben kaum einen Grund, das Gelände zu verlassen und verbringen fast die gesamte Zeit in der Einrichtung. Die heimeigene English Medium School, die auch von auswärtigen Kindern besucht wird, bildet für die Zöglinge den einzigen Berührungspunkt zu Gleichaltrigen außerhalb der Einrichtung. Dies ermöglicht einen Austausch über die unterschiedlichen Lebenswelten. Dennoch bietet der Kontakt zu Kindern, die eine English Medium School besuchen, nur einen begrenzten Einblick in die normale tansanische Lebenswelt. Familien, die sich den Besuch einer Privatschule leisten können, stammen in der Regel aus der oberen Gesellschaftsschicht; ihr Leben ist nicht repräsentativ für die tansanische Gesellschaft. (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania)
Einige stationäre Betreuungseinrichtungen versuchen, die Isolation der Kinder aufzubrechen, indem die Heranwachsenden auf öffentliche Schulen gehen, Freunde im Umfeld besuchen dürfen und Gottesdienste in den umliegenden Kirchen wahrnehmen. Kleinstheime, in denen Zöglinge mit Heimeltern wie in einer Familie leben, eignen sich besonders gut zur Sicherstellung der gesellschaftlichen Integration von Kindern. Da sich die Einrichtungen nicht wesentlich von anderen Haushalten der Nachbarschaft unterscheiden, bestehen die besten Voraussetzungen für eine Eingliederung der Kinder in das soziale Umfeld. Bisher existieren Kleinstheime im tansanischen Kontext nur in Ausnahmefällen und häufig sehen die Initiatoren die Einrichtungen als Übergangslösung, da es ihnen an Finanzierungsquellen für eine größere Einrichtung mangelt. Heranwachsende in ambulanten Hilfsprogrammen verbleiben in den Gemeinden und sind somit in das gesellschaftliche Leben integriert. „Die Kinder leben in der Gemeinde, spielen mit anderen Kindern, gehen in dieselbe Schule, holen das Wasser aus demselben Fluss.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Kinder, die bei Familienangehörigen aufwachsen, gliedern sich in der Regel in die verschiedenen gesellschaftli-
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chen Institutionen ein. Sie besuchen entsprechend ihrer religiösen Erziehung Kirchen oder Moscheen, haben Kontakte zu Nachbarn und Freunden und nehmen am Leben der Gemeinde teil. Alle Organisationen im ambulanten Bereich streben den Besuch der betreuten Kinder im öffentlichen Schulsystem an. Dadurch unterstützen sie die sozialen Kontakte zwischen Waisen und Nichtwaisen. Die Betreuung im Rahmen von ambulanten Hilfsprogrammen fördert, aufgrund der konzeptuellen Ausrichtung, die Integration und Normalisierung der Waisen. Dennoch erweisen sich nicht alle Programme der Organisationen für die Integration förderlich. Die spezifische Konzentration auf Waisen kann für die Integration der Kinder ein Nachteil bedeuten sowie die Stigmatisierung und Diskriminierung innerhalb von Familien und Gemeinden verstärken (Kap. 3.2.2). Obwohl 92% der befragten Organisationen (n = 26) aus dem ambulanten Bereich neben Waisen auch andere bedürftige Kinder unterstützen, lässt sich eine starke Konzentration auf Waisen als Zielgruppe feststellen. In Haushalten mit Waisen und anderen Kindern führt die Beschränkung der Unterstützung auf die Waisen in vielen Fällen zu Diskriminierung (Abb. 89). Abbildung 89: Beispiel: Bevorzugung statt Normalisierung Die Organisation Community Alive Club betreut neben Waisen ausschließlich einige Kinder, die HIV-infizierte Eltern haben oder selbst mit HIV infiziert sind. Andere Kinder, die gemeinsam mit den Waisen im gleichen Haushalten leben, bleiben in der Regel von Unterstützungsangeboten ausgeschlossen. Zum wöchentlichen Waisentreffen lädt die Organisation nur Waisen ein; andere Kinder aus der Gemeinde oder aus den Familien nehmen an den Aktivitäten nicht teil. (Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania) Diese Ausgrenzung hat zwei wesentliche Nachteile: Zum einen werden Waisen gesondert behandelt; das Angebot der Organisation verstärkt die Abgrenzung statt soziale Kontakte zwischen Waisen und Nichtwaisen zu fördern. Zum anderen kann die Benachteiligung bei Kindern, die nicht von dem Angebot profitieren, Neid und Unzufriedenheit produzieren. Heranwachsende, welche die Ressourcen des Haushaltes und die Zuwendung der Eltern mit den aufgenommenen Waisen täglich teilen müssen, empfinden eine solche Ausgrenzung wahrscheinlich als ungerecht. Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, dass die verwaisten Kinder regelmäßig zu Treffen gehen, bei denen sie spielen, tanzen und gutes Essen erhalten, während die leiblichen Kinder der Betreuer zuhause bleiben müssen.
Als Folge der Bevorzugung von Waisen kommt die Hilfe nicht dem betroffenen Kind zugute, sondern wird von den Betreuern innerhalb der Familie auf alle verteilt oder an die eigenen Kinder weitergegeben. Agnes Msoka, die Seminare zum Thema psychosoziale Unterstützung leitet, kennt solche Fälle aus der Praxis: „Einer Verwandten [von einem Seminarteilnehmer] wurde eine Decke für das Waisenkind gegeben, welches im Haus zusammen mit den anderen Kindern lebte. Dann, in der Nacht, nahm diese Verwandte gewöhnlich die Decke vom
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Waisenkind und gab sie ihren Kindern. […] Wenn man einem Waisenkind helfen will, sollte man allen im Haus helfen. Wenn man nicht allen hilft, dann wird das Waisenkind nicht von der Hilfe profitieren.“ (Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Beschränkung von Unterstützung auf Waisen und die Vernachlässigung anderer bedürftiger Kinder, begünstigt die Ausgrenzung und Diskriminierung statt Integration zu fördern. Einige Projekte öffnen ihre Programme aus diesem Grund für andere Heranwachsenden. Sie unterstützen bewusst alle Kinder in einem Haushalt, um Eifersucht zu verhindern und sicherzustellen, dass alle Heranwachsenden die gleichen Entwicklungschancen bekommen. Nicht nur in Familien, sondern auch in Gemeinden wirkt sich die Begünstigung einzelner Kinder nachteilig auf die Integration aus. Manche Organisationen im ambulanten Bereich geben materielle Unterstützung ausschließlich an Waisen, ohne den Hilfebedarf anderer Kinder zu berücksichtigen. Anderen Hilfsprogrammen gelingt es aufgrund angepasster Identifizierungskriterien besser, die Kinder mit dem größten Bedarf zu erreichen. Aber auch in diesen Fällen bleibt ein Großteil der Kinder in den Gemeinden von Angeboten ausgeschlossen und nur Kinder mit spezifischen Problemen profitieren von der Unterstützung. Einige Organisationen bemühen sich deshalb, ihre Programme für alle Kinder oder Familien des Einzugsbereiches zugänglich zu machen. Vor allem Angebote, die keinen großen finanziellen Input benötigen, wie beispielsweise Spargruppen oder Freizeitangebote, lassen sich für andere Interessierte öffnen. Dies erhöht die Akzeptanz der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft, so dass die Teilnahme an Angeboten nicht zur Stigmatisierung führt. Regelmäßige Treffen von Kindern eignen sich besonders gut zur Förderung von Integration und Normalisierung. Die Einladung aller Kinder zu diesen Veranstaltungen ermöglicht, eine große Anzahl von Kindern regelmäßig zu erreichen und deren Wohlbefinden zu überwachen. „Wir haben ein Kindertreffen am Sonnabend, jeden Sonnabend, dort wo wir uns Grundstück haben, wo wir uns Büro bauen. Sie treffen sich jeden Sonnabend, diese Kinder, und sie spielen. Aber dann sondern wir die Waisen nicht ab, jedes Kind kann kommen.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Gemeinsame Aktivitäten von Waisen und Nichtwaisen lassen sich nutzen, um Nichtwaisen für die Probleme von Waisen zu sensibilisieren und das Miteinander positiv zu gestalten. Wahrnehmung und Bearbeitung besonderer Bedürfnisse Das Kapitel 3.2 stellt die psychosozialen Probleme von Waisen anschaulich dar. Organisationen im Bereich der Waisenhilfe kommt die Aufgabe zu, sich diese
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besonderen Bedürfnisse anzunehmen und verwaisten Kindern die notwendige Unterstützung zur Bearbeitung ihrer Verlusterfahrungen zu geben. Die Voraussetzung für geeignete Hilfsangebote im psychosozialen Bereich bildet die Wahrnehmung der spezifischen Unterschiede zwischen Waisen und Nichtwaisen. Erst wenn ein Bewusstsein für die besonderen Bedürfnisse von verwaisten Kindern existiert, können Maßnahmen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ergriffen werden. Ambulante Hilfsprogramme vernachlässigten die psychosoziale Unterstützung von Waisen für lange Zeit, weil materielle Bedürfnisse deutlicher hervortreten und als dringender eingestuft wurden. „Die Menschen dachten, dass man Waisen und gefährdete Kinder glücklich macht, wenn man ihnen Geld gibt oder Kleidung gibt oder Bildung gibt. Wir sagen jetzt, dass sie selbst geistig, ich meine ihre Psyche, versorgt werden muss.“ (Interview mit A. Msoka am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Inzwischen wächst das Bewusstsein bei den Verantwortungsträgern und die psychosoziale Seite der Hilfe erlangt zunehmend mehr Bedeutung. Die befragten Interviewpartner aus dem ambulanten Bereich kennen in der Regel die spezifischen Bedürfnisse und Probleme von Waisen. Sie können verschiedene Symptome der Trauer, wie Zurückgezogenheit, Traurigkeit, Suche nach Aufmerksamkeit und Ängste, beschreiben und Fallbeispiele aus ihrer Arbeit nennen. Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Probleme bei der Anpassung an die neue Lebenssituation bringen viele Befragte mit der Verwaisung in Zusammenhang. Die Mitarbeiter von Projekten beobachten, dass beispielsweise die Integration in neue Betreuungsverhältnisse und der schulische Erfolg von Waisen unter ihren spezifischen Erfahrungen leiden: „Wir haben realisiert, dass diese Kinder traumatisiert sind, die von ihren Eltern, die an AIDS oder anderen Dingen gestorben sind, zurückgelassen werden. Wenn sie traumatisiert sind, können sie sich manchmal nicht in andere Familien einfügen. Also, um sicher zu stellen, dass dieser Zustand behoben wird, versuchen wir auch, ihren Betreuer beizubringen, wie sie dies erkennen und wie sie diesen Kindern nahe sein können.“ (Interview mit A. Ngowi am 26.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Verantwortlichen haben erkannt, dass auch der Erfolg der materiellen Unterstützung ambulanter Hilfsprogramme vom psychischen Wohlbefinden der betroffenen Kinder abhängt. Aus diesem Grund bieten immer mehr Organisationen zusätzliche Hilfe im psychosozialen Bereich an. 65% der Interviewpartner (n = 23) aus dem ambulanten Bereich nannte psychosoziale Probleme oder innerfamiliäre Konflikte als eines der dringendsten Bedürfnisse von Waisen und 17 von 20 befragten ambulanten Projekten integrieren psychosoziale Unterstützung in ihre Angebotspalette. Unter dem Begriff psychosoziale Unterstützung lassen sich viele Aktivitäten zusammenfassen;
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angefangen von Beratungsgesprächen und Seminaren für Betreuer über Hausbesuche und Gruppenangebote bis hin zur therapeutischen Trauerbegleitung. Die Qualität der angebotenen psychosozialen Unterstützung variiert zwischen den einzelnen Projekten. Sie beginnen bei informeller psychosozialer Betreuung durch niedrigschwellige Aktivitäten, wie sie Andrew Kagya von der Organisation KAKAU beschreibt: „Manchmal machen Menschen etwas, ohne in solchen Dingen geschult zu sein und dies ist der natürliche Weg, psychosoziale Unterstützung zu bieten, den wir unterstützen. Das bedeutet, dass die Gemeinschaft in der Umgebung die Kinder kennt. Sie [die Gemeindemitglieder] besuchen sie [die Kinder] und sie sprechen mit ihnen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In einigen wenigen Projekten reicht die psychosoziale Unterstützung bis zu Therapiegruppen und einer professionellen Trauerbegleitung. Dies stellt bisher noch die Ausnahme dar. Den meisten ambulanten Projekten fehlt es an qualifiziertem Personal, welches in der Lage wäre, therapeutische Angebote durchzuführen. Ambulante Hilfsprogramme profitieren von einem zusätzlichen Vorteil in der psychosozialen Versorgung der Waisen. Dadurch, dass die Kinder in ihren Familien verbleiben, findet eine natürliche Befriedigung der psychosozialen Bedürfnisse statt. Peter Massesa arbeitet für die Organisation REPSSI, einer internationalen Organisation zur Förderung der psychosozialen Unterstützung von Kindern. Er definiert, was psychosoziale Förderung in erster Linie ausmacht: „Psychosozial ist grundsätzlich, was ich sagen kann, das tagtägliche Sorgen für ein Kind, ein Kind glücklich zu machen. Es ist ein langfristiger Prozess; es ist kein eintägiger Prozess.“ (Interview mit P. Massesa am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Aufwachsen mit verständnisvollen Bezugspersonen, das Gefühl von familiärer Zugehörigkeit und die Vermittlung von Zuneigung stellen die besten Voraussetzungen für das psychische Wohlbefinden und die soziale Integration von Waisen dar. Familienangehörige lassen sich von ambulanten Hilfsprogrammen als wichtige Ressource im psychosozialen Bereich einsetzen. Zu diesem Zweck klären die Mitarbeiter die Betreuer über spezifische Probleme der Waisen auf und bieten ihnen bei auftretenden Schwierigkeiten Beratung an. Befindet sich die Familie in der Lage, die grundlegenden psychosozialen Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen, können sich die Organisationen auf spezifische Probleme, wie die therapeutische Trauerbegleitung, konzentrieren. Stationäre Betreuungsangebote profitieren nicht von der natürlichen Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse in Familien. Die Nachteile der institutionellen Erziehung in diesem Bereich beschreibt Gertrude Kulindwa folgendermaßen: „Wenn sie [die Waisen] in einer Einrichtung sind, werden ihre Grundbedürfnisse erfüllt, aber ihnen fehlt sehr, umsorgt zu werden, im Vergleich zu Kindern, die
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in einer Familie aufwachsen. Liebe fehlt, Bindung fehlt, Zugehörigkeit fehlt. Dies führt in der Zukunft zu einem psychologischen Problem. […] Innerhalb einer Familie werden Werte und Normen bewahrt. Und auch andere Traditionen, die, wie wir glauben, mich zu Gertrude machen und Sie zu dem gemacht haben, was Sie sind. Also wenn man in einer Einrichtung ist, fehlt einem dieses Paket, welches für das menschliche Wesen sehr wichtig ist.“ (Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Institutionelle Einrichtungen müssen wie im materiellen Bereich auch im psychosozialen Bereich die gesamte Versorgung der Kinder übernehmen. 86% der befragten Organisationen (n = 8) mit stationärer Betreuung berichten, dass sie psychosoziale Unterstützung anbieten. Diese beschränkt sich in den meisten Fällen auf den alltäglichen Umgang zwischen Erziehern und betreuten Kindern. Mitarbeiter sprechen mit den Kindern über Probleme und versuchen, ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Liebe zu vermitteln. Von formellen Angeboten im psychosozialen Bereich, beispielsweise Gruppen zur Trauerbewältigung, berichteten die Interviewpartner nicht. In vielen Gesprächen wurde darüber hinaus deutlich, dass Erzieher und Führungskräfte die spezifischen Bedürfnisse von Waisen im psychosozialen Bereich negieren. „Wir sagen ihnen: „Ihr wart Waisen, aber heute seid ihr keine Waisen mehr. Deshalb geht nicht hinaus und sagt „Oh, ich bin ein armes Waisenkind!“ Nein, das seid ihr nicht. Ihr wart es, aber ihr seid es nicht mehr. Deshalb kommt nicht auf die Idee, diese Definition zu verwenden!““ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Mitarbeiter des Heimes Starehe erklären den Kindern, dass sie keine Waisen mehr sind, weil sie jemanden haben, der sich um sie kümmert. Die Kinder sollen sich nicht auf ihrem Waisenstatus ausruhen. 687 Dies birgt die Gefahr, dass die spezifische Problematik, die mit dem Verlust einer Bezugsperson einhergeht, ebenfalls aus der Wahrnehmung verschwindet. Die Kinder können nicht auf ihren Waisenstatus verweisen und besondere Unterstützung einfordern, denn die Erzieher vermitteln ihnen, dass sie nicht mehr als Waisen gelten. Auch Laura Elliott von der Organisation Light in Africa schätzt die psychosozialen Bedürfnisse der Waisen gering ein, weil afrikanische Kinder eine natürliche Akzeptanz gegenüber Schicksalsschlägen zeigen: „Ich denke auch, dass die Kinder hier viel einfacher mit Dingen umgehen und mit ihnen zurechtkommen und sie akzeptieren. Denn wenn es [der Tod der Eltern] in Europa oder Großbritannien passieren würde, gäbe es übermäßige Beratung, übermäßige Unterstützung für die Kinder und die Kinder würden dies möglicherweise für ihr Verhalten ausnutzen. Während es hier einfach eine Akzeptanz gibt, dass dies in meinem Leben passiert 687
Vgl. Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
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ist, also muss ich damit zurechtkommen. Ich muss damit umgehen und dann damit weiter machen.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Diese Aussage überrascht vor allem im Kontext der durchgeführten Befragung von Waisen in stationären Einrichtungen (n = 19) und Privathaushalten (n = 103). Auf die Frage, welche drei Dinge sie im Alltag traurig machen, gaben 68% (11) der befragten Kinder in institutioneller Erziehung an, dass sie über den Tod der Eltern traurig sind. Der Anteil der Kinder, die von Traurigkeit aufgrund der Verwaisung berichten liegt im stationären Bereich deutlich höher als der Anteil bei Kindern in Privathaushalten (41%). Dadurch, dass sich Verwaisung in Tansania zu einem weitverbreiteten Phänomen entwickelte, das nicht mehr nur in einigen Einzelfällen auftritt, verändert sich sicher die Wahrnehmung der Ereignisse. Kinder, die erlebt haben, wie Klassenkameraden oder Verwandte ihre Eltern verlieren, reagieren wahrscheinlich anders, wenn die eigenen Eltern sterben, als Kinder für die der Tod eines Elternteils außerhalb ihrer Erfahrungswelt liegt. Dennoch lässt sich nicht pauschal davon ausgehen, dass Kinder einen Todesfall hinnehmen, ohne psychisch darunter zu leiden. Das Wissen, dass auch andere Kinder die gleichen Erfahrungen gemacht haben, kann Betroffenen helfen, die Trauer zu verarbeiten; die individuelle Verlusterfahrung und die damit verbundenen Konsequenzen und Herausforderungen bleiben dem Kind allerdings nicht erspart. Mitarbeiter in stationären Einrichtungen nehmen die spezifischen Bedürfnisse von Waisen im psychosozialen Bereich häufig nicht wahr. Weniger als die Hälfte (44%) der Interviewpartner (n = 9) aus stationären Betreuungseinrichtungen nannte psychosoziale Probleme als Schwierigkeit von Waisen. Auffälliges Verhalten der Zöglinge bringen die Befragten in der Regel nicht mit den Verlusterfahrungen der Kinder, sondern mit einer negativen Sozialisation in der Herkunftsfamilie oder auf der Straße in Verbindung. Die Wahrnehmung der Besonderheiten von Waisen stellt die Grundlage für die Schaffung von geeigneten Angeboten zur Befriedigung der psychosozialen Bedürfnisse dar. Die psychosoziale Versorgung in stationären Einrichtungen ist dementsprechend kaum ausgebaut und nur in geringem Maße in der Lage, das psychische Wohlbefinden der Kinder zu stärken und ihren Verlust zu verarbeiten. Partizipation „Partizipation zielt auf die Vielfältigkeit von Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten“ (Thiersch und Grunwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 1144). Diese Möglichkeiten zur Mitsprache und Mitgestaltung beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen der Sozialen Arbeit. Zum einen meint Partizi-
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pation die Einbindung von betroffenen Kindern und ihren Angehörigen in die Planung und Umsetzung der individuellen Hilfe; zum anderen kann Partizipation darin bestehen, dass Familien an der Arbeit der Organisation mitwirken, um auf diese Weise eine Abstimmung der Angebote auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zu erreichen. Partizipation lässt sich nur umsetzen, wenn die Adressaten Gelegenheiten erhalten, ihre Forderungen, Bedürfnisse und Sichtweisen zu artikulieren. Dazu bedarf es Verhandlung sowie die Anerkennung des Gegenübers als gleichwertigen und gleichberechtigten Partner. „Beteiligung und Mitbestimmung aber lassen sich nur dann einlösen, wenn Gleichheit in der Praxis gegeben ist: Sie ist in den unvermeidlich gegebenen Unterschiedlichkeiten zwischen denen, die auf Hilfe angewiesen sind und denen, die sie gewähren […] herzustellen.“ (Thiersch und Grunwald in Otto und Thiersch (Hrsg.) 2005, S. 1144). In Tansania bedroht der fehlende rechtliche Anspruch auf Hilfe die Gleichwertigkeit der am Hilfeprozess beteiligten Akteure. Dies führt zur Gefahr, dass Organisationen Partizipation im Sinne von Aushandlung und Mitsprache unterschlagen. Die Hilfeempfänger stehen in der Abhängigkeit sozialer Dienstleister, da ihr Leben und Überleben von der angebotenen Unterstützung bestimmt wird. Sie können sich nicht auf einen Rechtsanspruch berufen und besitzen häufig nur begrenzte Möglichkeiten, sich alternativen Angeboten zuzuwenden. Die Dringlichkeit ihrer Probleme erzwingt die Annahme von angebotener Unterstützung und hemmt dadurch das Aushandeln, das Infrage stellen. Trotz dieser grundlegenden Hemmnisse lassen sich in der Praxis der Waisenhilfe Gelegenheiten zur Mitsprache und Mitgestaltung beobachten. Die folgenden Ausführungen untersuchen die Form und das Ausmaß von Partizipation, dass ambulante und stationäre Organisationen der Waisenhilfe in Tansania ermöglichen. Mitsprache in der Hilfeplanung durch Klienten Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des Hilfeprozesses besteht darin, dass sich die Klienten mit den Zielen der Hilfe identifizieren und die Form der Unterstützung akzeptieren. Die Menschen sollen durch Mitgestaltung und Mitsprache in der Hilfeplanung die Möglichkeit erhalten, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Organisationen im ambulanten Bereich schätzen den Bedarf der Familien in der Regel im Rahmen des Identifizierungsprozesses ein. In den ersten Kontakten zwischen den Mitarbeitern der Projekte und den Familien gilt die Aufmerksamkeit der Feststellung des Hilfebedarfs (Abb. 90). Dies schafft die Voraussetzung, um die Wünsche und Bedürfnisse der Heranwachsenden und ihrer Familien in die Planung der Unterstützung einzubeziehen: „Wir planen zusammen, also das
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Kind ist involviert, die Familie ist involviert und wir sind involviert. […] Wir definieren vorsichtig die Bedürfnisse und wie weit wir gehen müssen, dann langsam nach diesem Punkt helfen wir dem Kind, sich loszulösen.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die meisten Organisationen versuchen, die Betroffenen an der Planung der Hilfe zu beteiligen und die Unterstützung an ihren Vorstellungen und ihrem Bedarf zu orientieren. Die Umsetzung misslingt in einigen Fällen infolge einer begrenzten Angebotspalette und limitierter Ressourcen. Abbildung 90: Beispiel: Partizipation in der Hilfeplanung Die Autorin begleitete in Dar es Salaam ehrenamtliche Mitarbeiter der Organisation Youth Life Relief Foundation zu Erstgesprächen mit Familien. Vertreter der lokalen Verwaltung identifizierten bedürftige Familien in ihrem Einzugsgebiet und gaben die Informationen an die Organisation weiter. Die Volontäre des Projektes suchten die Waisen und ihre Familien auf und fragten sie nach den dringendsten Bedürfnissen. Die Familien bekommen auf diese Weise die Möglichkeit, eigene Prioritäten der Hilfe zu setzen. In allen besuchten Familien stellte der Kauf von Schuluniformen und -material das größte Problem dar. Die Mitarbeiter nahmen die Angaben der einzelnen Haushalte auf und integrierten sie in die Hilfeplanung. (Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 24.03.07 in Dar es Salaam, Tansania)
Die Anordnung und Bewilligung einer Fremdunterbringung liegt in der Verantwortung des zuständigen Beamten des Wohlfahrtsamtes. Der Beschluss der stationären Unterbringung als Teil des Hilfeprozesses findet je nach Ausrichtung der Organisationen unter Beteiligung der Verwandten oder der betroffenen Kinder statt und entspricht in der Regel dem Anspruch der Partizipation. In der Regel besitzen Familienangehörige im Rahmen der Bedarfsprüfung durch das Wohlfahrtsamt ein Mitspracherecht. Da Entscheidungen bezüglich Kinder in Tansania traditionell ohne deren Beteiligung gefällt werden, lässt sich die Vermutung aufstellen, dass die betroffenen Heranwachsenden häufig nur ein begrenztes Mitspracherecht bezüglich ihrer stationären Unterbringung in Heimen oder Kinderdörfern erhalten. Straßenkinder hingegen suchen selbstständig die Unterkünfte der Projekte auf oder erklären sich bereit, Straßensozialarbeitern in die Einrichtung zu folgen. Die Hilfeplanung nach Aufnahme des Kindes liegt in der Verantwortung der Einrichtung. Unterschiedliche Faktoren hemmen die Partizipation der Familien. Die Kontakte zwischen stationär betreuten Kindern und ihren Familienangehörigen bestehen häufig nur sporadisch oder sind gänzlich abgebrochen. Die seltenen Besuche, die räumliche Distanz und die schlechte Erreichbarkeit erschweren die Beteiligung der Familie an Entscheidungen bezüglich der Hilfe. Die Organisation trägt die Verantwortung für die Entwicklung und die Versorgung der Kinder. Mitarbeiter und Leitungskräfte vertreten feste Vorstellung,
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welche Maßnahmen das Wohlergehen der Heranwachsenden sichern. Die Meinung der Angehörigen, aber auch der Kinder, tritt dabei in den Hintergrund. Obgleich alle befragten Organisationen berichten, dass sie die betroffenen Kinder in Entscheidungen hinsichtlich ihrer Zukunft einbeziehen, konnte die Autorin im Rahmen von teilnehmender Beobachtung feststellen, dass die Verantwortlichen den Vorstellungen der Heranwachsenden nicht immer Priorität einräumen. Ein Aushandeln der unterschiedlichen Positionen, wie es die Lebensweltorientierung fordert, findet kaum statt (Abb. 91). Abbildung 91: Beispiel: Beschränkung des Mitbestimmungsrechtes in stationären Einrichtungen Während eines Besuches im Waisenheim Bethany wurde die Autorin Zeuge eines Falles, in dem das Recht auf Partizipation deutlich verletzt wurde: Ein Jugendlicher, der als einer der wenigen Kinder im Heim die Aufnahmeprüfung für die Sekundarschule bestanden hatte, verweigerte seit mehreren Tagen den Schulbesuch, um seinen Wunsch nach einer praktischen Ausbildung durchzusetzen. Die Mitarbeiter der Einrichtung versuchten, ihn umzustimmen und zum Besuch der weiterführenden Schule zu animieren, doch er blieb bei seiner Meinung. Die Vertreter der Heimleitung nutzten eine Versammlung mit allen Bewohnern der Einrichtung, der die Autorin beiwohnte, um ihn auf seine Haltung anzusprechen. Vor über 100 Kindern wurde das Problem erläutert und den Heranwachsenden noch einmal erklärt, dass das Motto der Einrichtung „Harte Arbeit und gutes Verhalten“ die Bedingung für ihren Heimaufenthalt festschreibt. Die Verantwortlichen stellten den Jungen vor die Wahl, seine Ausbildung in der Sekundarschule wieder aufzunehmen oder das Heim zu verlassen. Die Alternative für den Jungen besteht in der Rückkehr zu einem Onkel, den Mitarbeiter im Rahmen der Versammlung als gewalttätig beschrieben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kind aufgrund von Disziplinproblemen die Einrichtung verlassen muss. Zwei weitere Jungen kehrten seit der Eröffnung im Jahr 1997 wegen ihres Verhaltens in ihre Familien zurück. Am nächsten Tag begründet der Heimleiter das Vorgehen: „Wir machen uns Sorgen um seine Zukunft, deshalb müssen wir ihn drängen. Denn wir wissen, dass dies für ihn in der Zukunft gut wäre.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Der Besuch der weiterführenden Schule sieht die Heimleitung als Maßnahme für eine unabhängige Zukunft. Den Wunsch des Jugendlichen nach einer praktischen Ausbildung vernachlässigen die Mitarbeiter. Die Missachtung des Mitspracherechts und die Disziplinierung des Jugendlichen stellen nach Ansicht der Heimleitung ein legitimes Mittel zum Wohle des Kindes dar. Die Tatsache, dass der Jugendliche nach der Rückkehr zu seinem Onkel wahrscheinlich kaum Chancen auf eine Ausbildung und somit auf eine unabhängige Zukunft hat, ignorieren die Verantwortlichen. (Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Bethany Project am 04.05.07 in Magu, Tansania; Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania)
Mitwirkung und Mitgestaltung der Klienten Die Autorin fragte während ihrer Projektbesuche die Mitarbeiter von Organisationen, inwieweit die Waisen oder ihre Familien die Arbeit der Organisation durch
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aktive Beiträge unterstützen und mitgestalten. Auf den ersten Blick scheinen im Bereich der Mitgestaltung und Mitwirkung keine signifikanten Unterschiede zwischen Projekten aus dem ambulanten und stationären Bereich zu bestehen. 85% der ambulanten Hilfsangebote (n = 20) und 83% der stationären Betreuungseinrichtungen (n = 18) geben an, dass die betreuten Kinder oder deren Familienangehörige einen Eigenbeitrag leisten. Eine genauere Betrachtung offenbart, dass die Mitwirkung in stationären und ambulanten Einrichtungen auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Im ambulanten Bereich sind Betreuer von Waisen und verwaiste Kinder als Volontäre aktiv. Die Betreuer besuchen und unterstützen andere Familien mit Waisen, geben erlerntes Wissen weiter und stellen ihre Arbeitskraft dem Projekt zur Verfügung. Beispielsweise helfen Witwen und andere Angehörige von Waisen in der Organisation WOWESOT beim Kochen für die wöchentlichen Gruppentreffen, in den Beratungsangeboten für Haushalte mit Waisen sowie beim Nähen von Schuluniformen. 688 Waisen können ebenfalls einen wichtigen Beitrag in den Organisationen leisten. Ihre Mithilfe unterscheidet sich in den einzelnen Projekten. Einige Organisationen setzen Jugendliche als Peerberater ein, beteiligen sie in HIV-Präventionsmaßnahmen oder ermutigen ältere Waisen, Patenschaften für jüngere Kinder zu übernehmen. Das Engagement der Kinder und Jugendlichen stellt nicht nur eine Ressource für die Organisation dar, sondern hilft den Heranwachsenden auch selbst. Sie sind nicht länger passive Hilfeempfänger, sondern leisten ebenfalls Unterstützung und setzen sich aktiv für andere betroffene Kinder ein. Das Gefühl, gebraucht zu werden und gute Arbeit zu leisten, steigert ihr Selbstwertgefühl und gibt ihnen Befriedigung. Neben der aktiven Mitarbeit in den Programmen der Organisation wirken die Familien und Waisen in der Planung und Evaluation der Projekte mit. Dadurch lässt sich die Angebotspalette auf die grundlegenden Probleme der Haushalte abstimmen. „Während der Planung sammeln wir alles Neue. Wir nehmen alles von der Basis, von den Pflegefamilien, der Gemeinde, der Schule, den Waisen; so tragen wir es zusammen.“ (Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Beteiligung der betroffenen Familien kann in Form von regelmäßigen Planungstreffen oder einem informellen Austausch stattfinden. Eine weitere Möglichkeit stellt die Mitwirkung im Beirat einer Organisation dar. Zur Sicherung des Mitspracherechtes der Betroffenen integrieren viele Hilfsorganisationen aus dem ambulanten Bereich einen oder mehrere Vertreter der betreuten Familien in ihrem Beirat. Im ambulanten Bereich räumen 73% aller befragten Organisationen mit Beirat (n = 15) auf diese Weise den betroffenen Haushalten mehr Beteiligungsmöglichkeiten 688
Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania.
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ein. Nur 27% aller Beiräte verfügen über Repräsentanten der betreuten Waisen. Die Mitwirkung in Planung und Evaluation ermöglicht eine Orientierung an der Lebenswelt der Betroffenen und den lokalen Besonderheiten. Diese Ausrichtung schafft die Voraussetzung dafür, dass die Hilfe einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag leistet. Im stationären Bereich ist der Anteil der Organisationen, die von der Mitwirkung der betreuten Kinder und deren Familien berichten, fast ebenso groß wie im ambulanten Bereich. Eine differenzierte Betrachtung macht deutlich, dass die Partizipation auf einer anderen qualitativen Ebene stattfindet. Die Beiträge der Familien umfassen Aktivitäten, die im ambulanten Bereich von den Angehörigen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Stationäre Einrichtungen sehen beispielsweise in Nahrungsmittelspenden oder in der Bereitschaft zur Aufnahme der Waisen während der Ferien eine aktive Beteiligung der Verwandtschaft. Im ambulanten Bereich müssen Familien verwaiste Kinder nicht nur für die Dauer der Ferien betreuen oder mit unregelmäßigen Nahrungsmittelspenden versorgen. Die tägliche Betreuung und Versorgung der Kinder leistet im ambulanten Bereich fast ausschließlich die Familie. Dementsprechend gilt ihr Engagement nicht als Beitrag für die Organisation, sondern als Erfüllung ihrer traditionellen Aufgabe. Die Mitwirkung der Familienangehörigen im stationären Bereich reicht in der Regel nicht über diese traditionelle Verantwortung hinaus und kommt zumeist ausschließlich Waisen aus der eigenen Familie zugute. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zur Mitarbeit in ambulanten Hilfsprogrammen dar, welche den Zweck verfolgt, auch anderen Betroffenen zu helfen. Einige Einrichtungen bemühen sich, die betreuten Kinder in die Gestaltung des Zusammenlebens einzubeziehen. Beispielsweise beauftragte die Organisation Light in Africa Heranwachsende im Alter von sieben bis 17 Jahren mit der Verfassung eines Verhaltenskodex. In diesem legten die Kinder Strafen für verbreitete Disziplinverstöße fest. Die Mitarbeiter der Organisation erhoffen sich von der Partizipation der Kinder eine größere Akzeptanz der Regeln und eine gegenseitige Kontrolle. 689 Diese Form der Mitgestaltung in stationären Einrichtungen stellt eine Ausnahme dar. Wie bei den Familienangehörigen beschränkt sich die Mitwirkung der Heranwachsenden in der Regel auf Aktivitäten, die Kinder in Familien selbstverständlich übernehmen. Dazu zählen unter anderem hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten. Hinsichtlich Planung und Evaluation bestehen zwischen Organisationen aus dem ambulanten und aus dem stationären Bereich ebenfalls signifikante Differenzen. Nur eine von neun stationären Einrichtungen gibt an, dass der Beirat der Organisation auch betreute Kinder oder deren Angehörige repräsentiert. Den 689
Vgl. Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
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stationären Betreuungsprojekten mangelt es in der Regel an Mechanismen, die den Familien ein Mitspracherecht einräumen. Die Angehörigen besitzen kaum Möglichkeiten, die Arbeit der stationären Betreuungseinrichtungen mitzugestalten. Die betreuten Kinder wirken an der Planung von Programmen und Aktivitäten der Organisation stärker mit. Einrichtungen besprechen mit ihnen teilweise neue Projekte und fragen sie nach ihrer Meinung. Einige Einrichtungen veranstalten zu diesem Zweck regelmäßige Treffen mit allen Kindern und Erziehern. In andere Organisationen können Mitarbeiter, aber auch Kinder, eine Versammlung bei Bedarf einberufen. Inwieweit die Vorschläge der Heranwachsenden ernst genommen und umgesetzt werden, liegt im Ermessen der Projektleitung. Fazit Insgesamt lässt sich bei den ambulanten Hilfsangeboten eine stärkere Orientierung an den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung feststellen. Ambulante Angebote verfolgen das Ziel, die Folgen der Waisenkrise, das heißt die spezifischen Herausforderungen, die sich für den Einzelnen aufgrund der Verwaisung ergeben, mit präventiven Hilfsangeboten im psychosozialen und sozioökonomischen Bereich zu bearbeiten, bevor es zu einer Verfestigung dieser Probleme kommt. Dabei orientieren sich die Organisationen im Rahmen ihrer finanziellen und personellen Möglichkeiten am Alltag der Klienten, indem sie die Klienten in die Hilfeplanung und –gestaltung einbeziehen und auf deren Handlungs- und Deutungsmuster eingehen. Ambulante Unterstützungsangebote sehen die Adressaten ihrer Hilfe in deren Lebenswelt; das heißt sie greifen nicht nur die Probleme und Kapazitäten der Betroffenen im Hilfeprozess auf, sondern richten ihre Programme für Waisen auch an den lokalen Bedingungen aus. Eine solche Ausrichtung, die sich in den verschiedenen Schwerpunkten und Entwicklungsverläufen der unterschiedlichen Organisationen widerspiegelt, erreichen die Projekte unter anderem durch die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in der kommunalen Gemeinschaft und die Partizipation der Betroffenen bei der Programmplanung. Allerdings leidet die Schaffung verbindlicher Standards und gleicher Zugangschancen zu geeigneten Hilfsangeboten unter den Differenzen in der Ausstattung der einzelnen Projekte sowie unter einer unzureichenden Kooperation mit dem Wohlfahrtsamt und anderen Organisationen aus dem stationären und ambulanten Bereich. Die ambulante Versorgung verwaister Kinder wirkt sich förderlich auf deren Integration aus, da sie in ihrem sozialen Umfeld verbleiben, welches ihnen vielfältige Sozialisationserfahrungen ermöglicht. Ambulante Programme negieren dabei nicht die besonderen Bedürfnisse verwaister Kinder, die sich vor allem im psychosozialen Bereich zeigen,
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sondern bemühen sich, diese Probleme durch spezifische Angebote innerhalb ihrer allgemeinen Hilfe zu bearbeiten. Die besondere Konzentration auf Waisen erwies sich in der Vergangenheit jedoch als abträglich für die Integration; Unterstützung, die sich nicht an den tatsächlichen Problemlagen in den Familien und Gemeinden ausrichtet, sondern den Waisen in der Versorgung Vorrechte einräumt läuft in Gefahr, neue Ausgrenzung zu schaffen. Diese Problematik sowie die Hemmnisse in der Arbeit durch eine unzureichende finanzielle bzw. personelle Ausstattung müssen ambulante Hilfsprogramme bearbeiten, um dem Anspruch der Lebensweltorientierung gerecht zu werden. Angebote der stationären Betreuung können ebenfalls den Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit entsprechen. Die durchgeführte Analyse zeigte allerdings, dass die bestehenden Einrichtungen mit den Forderungen der Lebensweltorientierung in der Regel weniger übereinstimmen, als dies bei den ambulanten Programmen der Fall ist. Die institutionelle Erziehung, so wie sie in Tansania praktiziert wird, widerspricht der Priorität präventiver Interventionen. Typische Indikationen der Fremdplatzierung, wie sozioökonomische und psychosoziale Problemlagen oder ein scheinbarer Mangel an geeigneten Betreuungspersonen, lassen sich auch durch präventive, ambulante Maßnahmen bearbeiten. Die stationäre Unterbringung stellt demnach eine Form von Unterstützung dar, die sich kaum am Alltag seiner Klienten orientiert; vielmehr vernachlässigen viele Programme die wichtigste Ressource von Waisen – das familiäre Auffangnetz. Allein Straßenkindprojekte und Säuglingsheime streben die Aktivierung dieser Ressource an und bemühen sich um die familiäre Reintegration der betreuten Kinder. Die Herausnahme von Kindern aus ihrem sozialen Umfeld reduziert die Chancen der Angehörigen auf Partizipation in der Gestaltung der Hilfe, während sich die Einrichtung zur wichtigsten Sozialisationsinstanz entwickelt. Dies erhöht zum einen das Risiko des Machtmissbrauches und der Beeinflussung, beispielsweise in der religiösen Prägung, und gefährdet zum anderen die Integration und Normalisierung verwaister Kinder. Im Kontext der Integration wirkt sich besonders die Negierung spezifischer psychosozialer Bedürfnisse durch die Mitarbeiter in den Einrichtungen negativ aus und verhindert die Schaffung von geeigneten Unterstützungsangeboten. Im materiellen Bereich gelingt es stationären Einrichtungen besser als ambulanten Programmen, durch eine gute Versorgung spezifische Probleme von Waisen zu bearbeiten. Die guten Bildungschancen der meisten stationär versorgten Heranwachsenden sind dafür ein deutliches Indiz. Der hohe Lebensstandard in vielen besuchten Einrichtungen, der den Waisen zu besonderen Chancen verhilft, entspricht jedoch nicht der tansanischen Lebenswirklichkeit. Dies lässt sich auf eine geringe Dezentralisierung und Regionalisierung zurückführen, die sich beispielsweise in einer fehlenden Ausrichtung an lokalen Bedingungen oder einer geringen Zusammenarbeit
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mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen in den jeweiligen Gemeinden zeigt. Organisationen im stationären Bereich arbeiten andererseits stärker mit dem Wohlfahrtsamt zusammen und schaffen auf diese Weise die Voraussetzungen für Mindeststandards in der Versorgung. Trotz der überdurchschnittlich guten Versorgung der Heranwachsenden in stationären Einrichtungen werden die Projekte in wichtigen Aspekten nicht den Forderungen der Lebensweltorientierung gerecht. 5.1.2 Kontinuität der Hilfe Unterstützungsprogramme müssen kontinuierliche Hilfe leisten, das heißt in der Lage sein, die Nachhaltigkeit der Organisation sowie der angebotenen Programme zu sichern. Die Kontinuität, das heißt die Zuverlässigkeit der Beziehungen zwischen Klienten und Mitarbeitern sowie die Regelmäßigkeit der Unterstützung, bildet die Basis für eine langfristige positive Verbesserung im Alltag der Klienten. Dies bedeutet nicht, dass die Hilfe bis auf unbestimmte Zeit fortgeführt werden soll. Ganz im Gegenteil ist es sinnvoll, Ziele der Unterstützung und dementsprechend ein Endpunkt der Kooperation zwischen Klienten und Organisation festzulegen. Die Kontinuität bezieht sich nicht auf unendliche und unbegrenzte Förderung, sondern auf die Sicherheit für die Klienten, geplante Vorhaben umzusetzen und vereinbarte Unterstützungsangebote wahrnehmen zu können. Darüber hinaus kann die Gewissheit, sich bei neu auftretenden Problemen wieder an dieselbe Organisation wenden zu können, für Haushalte mit unsicheren Zukunftsperspektiven eine Entlastung darstellen. Im Notfall kann Unterstützung und Beratung zeitnah erfolgen und die Suche nach einem neuen Anbieter sozialer Leistungen entfällt. Je umfangreicher und langfristiger die Förderung angelegt ist, desto schwerwiegendere Folgen bringt die Unterbrechung der Kontinuität der Hilfe mit sich. Erhalten Kinder von einer ambulanten Hilfsorganisation eine Schuluniform pro Jahr sind die Konsequenzen beim Wegfall der Hilfe für die betroffenen Haushalte geringer als in Fällen, in denen die Organisation die gesamten Ausgaben der Familien für Nahrung, Medizin und Bildung übernimmt. Die Gefahr besteht, dass zu umfangreiche Hilfe zu einer Abhängigkeit der Klienten von der Organisation führt. Der Abbruch der Hilfe kann in diesen Fällen eine existenzbedrohende Krise nach sich ziehen. Ambulante Organisationen müssen zwischen der Notwendigkeit von Unterstützung und dem Erhalt der Autonomie der betreuten Haushalte abwägen. Haushalte, die mit Einkommensprojekten in die Lage versetzt wurden, für Waisen eigenständig zu sorgen, trifft es weniger, wenn eine
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Organisation keine Unterstützung mehr leisten kann, als Haushalte, die von regelmäßigen Zuwendungen abhängen. Leben Kinder nach dem Tod eines oder beider Elternteile in Institutionen hängen sie zu 100% von der Organisation ab. Nicht nur die gesamte Versorgung wird durch die Einrichtung geleistet, die Hilfe ersetzt überdies zum großen Teil die sozialen Beziehungen der Kinder zu ihren Verwandten. Betreuer in den Einrichtungen werden zu den primären Bezugspersonen der Kinder und der Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie besteht nur noch sporadisch oder ist vollständig abgebrochen. Die Abhängigkeit der Kinder von der Einrichtung besteht in der Regel bis zu einem Alter, in dem die Heranwachsenden für sich selbst sorgen können. Sind Einrichtungen der institutionellen Erziehung nicht in der Lage, die Kosten für ihren Unterhalt regelmäßig aufzubringen, hat dies extreme Konsequenzen für die Kinder, die in der Einrichtung leben. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse kann in diesen Fällen gefährdet sein. Mhingo Daudi von der Organisation BCDSA, die ein Heim unterhält, erklärt dieses Problem folgendermaßen: „Die Einrichtung ist nur da, um zu konsumieren. Man braucht etwas [einen regelmäßigen Input], um ihnen zu helfen. Also sobald wir versagen, hungern die Kinder; sobald die Kinder hungern, wird dies das Ende der Einrichtung sein.“ (Interview mit M. Daudi am 23.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Im Informationsmaterial der Organisation heißt es diesbezüglich: „Wir haben keine Zuwendung/Unterstützung von der Regierung oder anderen finanziellen Organisationen erhalten. Dennoch geht es dem Zentrum [Waisenheim] gut, obwohl es uns manchmal nicht gelingt, notwendige Bedürfnisse/Standards zu befriedigen.“ (BCDSA (Hrsg.) o. J., S. 3/Übersetzung durch Verf.). Die Organisation Kilimanjaro Children Joy Foundation berichtet, dass es ihnen nicht immer gelingt, die Bildungskosten aufzubringen. Kinder, die im Heim leben, werden dann von den Schulen vom Unterricht suspendiert, bis sich das Heim in der Lage befindet, die ausstehenden Gebühren zu zahlen oder eine angemessene Schulkleidung der Kinder sicherzustellen. 690 In Fällen, in denen Finanzierungsmechanismen vollständig versagen, müssen Einrichtungen schließen oder die Zahl der betreuten Kinder drastisch reduzieren. Die Kinder kehren dann zu Verwandten zurück, werden vor Beendigung ihrer Ausbildung in die Unabhängigkeit entlassen oder in andere Betreuungseinrichtungen verlegt. Die Kinder verlieren, anders als bei der unterbrochenen Kontinuität ambulanter Hilfsprogramme, ihr Zuhause, ihre sozialen Beziehungen sowie die Sicherheit ihrer Versorgung. Grundsätzlich bestimmen zwei Faktoren die Kontinuität von Programmen. Zum einen spielt die wirtschaftliche Sicherheit der Organisation eine wesentliche Rolle, da die Finanzierung über den Aufbau und die Weiterführung von Pro690
Vgl. Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania.
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grammen entscheidet. Zum anderen bildet das Engagement der Mitarbeiter eine Komponente von Kontinuität. Die folgenden Ausführungen stellen den Einfluss beider Faktoren in ambulanten und stationären Unterstützungsangeboten vor. Wirtschaftliche Sicherheit als Komponente von Kontinuität Die Kontinuität der Arbeit sozialer Projekte hängt in Tansania in erster Linie von der Stabilität der materiellen Einkünfte der Organisationen ab. Die Fähigkeit und der Einfallsreichtum der Organisationen beim Anwerben von Spenden im Inund Ausland, bei der Aufrechterhaltung von Kooperationen mit Sponsoren, bei der Nutzung lokaler Ressourcen und bei der Entwicklung eigener Einkommensprojekte sind für die Nachhaltigkeit der Programme ausschlaggebend. Projektgelder aus dem Ausland Ausländische Spenden spielen eine wichtige Rolle in der Finanzierung von sozialen Projekten in Tansania. Drei wesentliche Faktoren führen dazu, dass ambulante Hilfsprogramme größere Schwierigkeiten haben, Spenden aus dem Ausland zu akquirieren, als Organisationen der stationären Versorgung. Der erste Grund liegt darin, dass die Unterstützung ambulanter Hilfsprogramme unscheinbarer und weniger zugänglich ist als die Arbeit im Bereich der institutionellen Betreuung. Stationäre Einrichtungen lassen sich besuchen und Sponsoren können sich einen leichten Überblick verschaffen, was mit ihren Spendengeldern angeschafft und erreicht wurde. Die finanzielle Unterstützung ambulanter Hilfsprojekte fließt in die Dörfer und Familien. Der Verbleib und die Wirkung der Spendengelder erscheinen schwerer nachprüfbar. Bedenken, ob die Gelder wirklich den bedürftigsten Familien zugutekommen sowie innerhalb der Haushalte auch zum Vorteil der Waisen verwandt werden, können sich negativ auf die Spendenbereitschaft auswirken. Je individualisierter die Unterstützung desto schwieriger lässt sich die Hilfe kontrollieren. Institutionelle Organisationen, die ihre Zöglinge mit Schuluniformen ausstatten, geben Spendern die Sicherheit, dass die Gelder in die Bildung der Kinder investiert wurden. Die Kinder haben eine Schuluniform erhalten und die strenge Kontrolle innerhalb der Institution stellt sicher, dass die Kinder regelmäßig am Schulunterricht teilnehmen. Vergibt eine ambulante Organisation ein Mal pro Jahr Schuluniformen an 200 Waisen, lässt sich zumindest die Verwendung der Spendengelder überprüfen. Die Sponsoren können einen Bericht der Organisation mit Bildern der Übergabe erhalten und sich überzeugen, dass
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von ihrer finanziellen Zuwendungen Uniformen gekauft wurden. Es bleibt aber ungewiss, was anschließend mit den Schuluniformen geschieht. Gehen die Kinder nun regelmäßig zur Schule? Müssen die verwaisten Kinder trotz Schuluniform zuhause bleiben und auf dem Feld arbeiten, um den Lebensunterhalt zu sichern? Wurden die Uniformen an andere Kinder der Familie weitergegeben? War die Familie gezwungen, die Uniform zu verkaufen, um Medizin oder Nahrungsmittel zu erwerben? Mit zunehmender Individualisierung der Hilfe steigt die Schwierigkeit seitens der Sponsoren, die Verwendung der Spendengelder zu kontrollieren. Individualisierte Hilfe unterscheidet sich von einem Kind zum anderen und richtet sich nach den jeweiligen Bedürfnissen. Einige der betreuten Heranwachsenden erhalten Schuluniformen, andere werden nur beraten und wieder andere bekommen Bildungsförderung sowie Nahrungsmittel oder einen Kredit zum Aufbau eines kleinen Geschäfts. Für Außenstehende erscheint individualisierte Hilfe, die sich an den alltäglichen Problemen und Ressourcen orientiert und somit der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit entspricht, undurchsichtiger und weniger überprüfbar. Detaillierte Berichte und Fotos können helfen, die Verwendung der Zuwendungen für die Geber aus dem Ausland nachvollziehbar zu machen. Spender sind dabei im hohen Maße darauf angewiesen, auf die Glaubwürdigkeit der Mitarbeiter der Hilfsorganisation zu vertrauen. Institutionelle Organisationen haben aufgrund ihrer Präsenz und der damit einhergehenden scheinbaren Gewissheit über die Verwendung der Spendengelder einen Vorteil beim Anwerben von Spendengeldern aus dem Ausland. Der zweite Faktor, der Einrichtungen der institutionellen Erziehung Zugang zu Geldern aus dem Ausland verschafft, liegt in der konzeptuellen Ausrichtung der Organisationen. Die Idee der Waisenhäuser stellt für Menschen aus der industrialisierten Welt eine logische Antwort auf eine wachsende Zahl von Waisen dar. Das Konzept der institutionellen Erziehung ist für private Spender häufig nachvollziehbarer als die Vorstellung, dass ein weitverzweigtes Verwandtschaftsnetz auch bei eigenen finanziellen Schwierigkeiten die Verantwortung für verwaiste Kinder übernimmt. Der dritte Faktor, der die Chancen auf eine Förderung aus dem Ausland erhöht, ist die Mitwirkung ausländischer Führungskräfte. Bei den von der Autorin besuchten Organisationen zeigte sich, dass sowohl stationäre Einrichtungen als auch ambulante Hilfsprojekte, die von Ausländern gegründet oder geleitet werden, finanziell besser ausgestattet sind als Projekte ohne Verbindung ins Ausland. Die Kontakte ins Ausland ermöglichen den Zugang zu einem weiten Unterstützungsnetz von privaten Spendern und Hilfsorganisationen. Ausländer, die sich in Tansania engagieren, nutzen beispielsweise Heimataufenthalte, um Fundraising zu betreiben. Organisationen der institutionellen Erziehung befinden sich auch in diesem Bereich im Vorteil, da Personen aus Europa oder den USA
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überdurchschnittlich häufig in ihre Gründung oder Führung involviert sind. Die Abbildung 92 zeigt, dass in 53% der befragten Organisationen (n = 16), die stationäre Betreuung anbieten, ausländische Mitarbeiter intensiv in der Leitung mitwirken. In Organisationen mit ambulanten Hilfsangeboten (n = 25) ist dies nur zu 8% der Fall. Bei der Gründung der Organisationen zeigen sich ebenfalls signifikante Unterschiede. 30% der Organisationen (n = 25), die ambulante Unterstützung anbieten, und 69% der Organisationen (n = 16), die Kinder stationär betreuen, wurden von Ausländern gegründet. Bei ambulanten Hilfsprogrammen hatten vor allem kirchliche Organisationen leichteren Zugang zu ausländischen Projektgeldern, da sie mit Missionswerken zusammenarbeiten und tragfähige Partnerschaften aufbauen konnten. In der Mehrzahl dieser Fälle engagierten sich ausländische Missionare oder Ordensschwestern über mehrere Jahre in den Programmen vor Ort. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Präsenz ausländischer Mitarbeiter im Führungsbereich auf die Spendenbereitschaft eine stimulierende Wirkung zu haben scheint. Es vermittelt privaten Spendern und Hilfsorganisationen die Sicherheit, dass ihre finanziellen Zuwendungen dem vereinbarten Zweck zugeführt werden. Ob diese Sicherheit begründet ist, lies sich im Rahmen der Untersuchung nicht überprüfen. Abbildung 92: Ausländischer Einfluss in Organisationen der Waisenhilfe
Um langfristig Spenden aus dem Ausland zu generieren, nutzen Organisationen der stationären Einrichtung das Internet. 58% aller stationären Hilfsprogramme mit einer eigenen Internetseite (n = 12), veröffentlichen im Internet Informationen und Fotos über die von ihnen betreuten Kinder, um den Spendern das Schicksal der Kinder und die Arbeit der Organisation näher zu bringen. Einige Projekte nutzen das Internet, um Patenschaften zwischen Kindern in der Einrich-
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tung und ausländischen Spendern zu vermitteln. Die Veröffentlichung von Lebensgeschichten und Fotos praktizieren vor allem Projekte mit einem starken ausländischen Einfluss. Dies erscheint besonders bemerkenswert, weil ein solches Vorgehen in Europa oder Amerika unmöglich wäre. Beispielsweise erlaubt der Datenschutz in Deutschland keiner sozialen Einrichtung, die Veröffentlichung von persönlichen Informationen minderjähriger Klienten. Mitarbeiter von Organisationen unterliegen der Schweigepflicht und die Verbreitung von Fotos mit Lebensberichten auf der Internetseite eines Jugendhilfeprojektes ist dementsprechend undenkbar. Einige stationäre Einrichtungen in Tansania lassen die Persönlichkeitsrechte minderjähriger Klienten außer Acht. Die detaillierten Berichte geben beispielsweise Auskunft über häusliche Gewalt in der Herkunftsfamilie, Verhaltensauffälligkeiten und Missbrauchserfahrungen der Kinder, psychische Störungen von Verwandten, HIV-Infektionen der Eltern oder Alkoholismus in der Familie. 691 Auf diese Angaben haben nicht nur Spendern im Ausland Zugriff, sondern auch die Familienangehörigen des Kindes, Klassenkameraden, potenzielle Arbeitgeber sowie eine Vielzahl anderer Personen im näheren Umfeld des Betroffenen. Diese Methode der Spendenanwerbung, die ausschließlich Organisationen der institutionellen Erziehung anwenden, muss im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte in Frage gestellt werden. Die dargestellten Faktoren führen dazu, dass Organisationen der stationären Betreuung bei der Mobilisierung von dauerhafter Unterstützung aus dem Ausland in der Regel mehr Erfolg haben als ambulante Hilfsangebote. Im Widerspruch dazu stehen die Forderungen internationaler Organisationen, sich von der stationären Unterbringung abzuwenden und ambulante Bewältigungsstrategien zu unterstützen. In einem Rahmenwerk von Richtlinien zur Versorgung von Waisen, welches gemeinsam von UNICEF und mehr als 20 weiteren international tätigen Hilfsorganisationen formuliert wurde, werden die Prioritäten in der Waisenhilfe wie folgt benannt: „1. Stärkung der familiären Kapazitäten zum Schutz und zur Versorgung von Waisen und gefährdeten Kindern durch die Verlängerung des Lebens der Eltern und die Bereitstellung von ökonomischer, psychosozialer und anderer Unterstützung; 2. Mobilisierung und Unterstützung von kommunalen Reaktionen; […].” (UNAIDS und UNICEF (Hrsg.) 2004, S. 5/Übersetzung durch Verf.). Entsprechend dieser Forderung stellten internationale Geber in den letzten Jahren zunehmend Geld für die Finanzierung von Projekten bereit, welche das Ziel verfolgen, Kinder in ihren Familien zu belassen und das familiäre Auffangnetz zu stützen. Kleine kommunale Initiativen fällt die 691 Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte und zur Wahrung der Anonymität der Betroffenen werden die Quellen der Berichte über das Schicksal der Kinder nicht angegeben. Die zitierten Informationen und viele weitere Berichte über andere Kinder lassen sich auf den Internetseiten von stationären Betreuungsangeboten finden.
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Mobilisierung ausländischer Unterstützung allerdings weiterhin schwer, da unterschiedliche Faktoren die erfolgreiche Umsetzung der Zielstellung behindern. Für lokale Initiativen und Selbsthilfegruppen kann es schwierig sein, mögliche Geldgeber auszumachen und erfolgreiche Anträge zu stellen. Die Mitarbeiter der Organisationen verfügen in der Regel nicht über die Sprachkenntnisse und stilistische Gewandtheit, die Anträge für Projektgelder erfordern. Vielen fehlt des Weiteren das notwendige Wissen bezüglich der Rechenschaftslegung über die korrekte Verwendung von Spendengeldern. Dies bedeutet nicht, dass das Geld nicht seinem Zwecke zugeführt wird. Gleichwohl kann es für lokale Akteure ohne Erfahrungen im kaufmännischen oder im administrativen Bereich ein Problem darstellen, Zahlungsbelege zu erbringen, die geforderten Normen der Berichterstattung einzuhalten und die Erfolge ihrer Arbeit zu evaluieren. Darüber hinaus erweist sich die Unterstützung kleiner Projekte mit geringen Budgets für internationale Hilfsorganisationen, die jährlich Geldbeträge von mehreren Millionen Euro692 verteilen müssen, als nicht rentable. Der organisatorische Aufwand bei der Verteilung geringer Summen für lokale Projekte und für die Kontrolle der Projektgelder ist für große Hilfswerke, die ihrerseits der Forderung nach möglichst geringen Verwaltungskosten ausgesetzt sind, nicht vertretbar. Lokale Initiativen, die eine geringe, aber regelmäßige Unterstützung benötigen, um bedürftigen Kindern in ihrem Dorf oder in ihrer Nachbarschaft zu helfen, passen in der Regel nicht in das Schema ausländischer Geldgeber. Organisationen der ambulanten Hilfe müssen ambitioniert planen, wenn sie bei der Verteilung von ausländischen Fördermitteln bedacht werden wollen. Gewinnen ambulante Projekte Unterstützung aus dem Ausland können sie innerhalb weniger Monate ihre Initiative zu einer Hilfsorganisation mit einem umfassenden Angebot ausbauen, allerdings bleibt die Unterstützung häufig zeitlich begrenzt. In einem festgelegten zeitlichen Rahmen müssen die Organisationen die Projektgelder ausgegeben. Mehrere Organisationen der ambulanten Hilfe, aber auch Organisationen aus dem stationären Bereich, berichteten der Autorin von den Problemen, die der Ausfall des Hauptsponsors nach sich zieht. Die Beendigung der Kooperation bedroht die Existenz vieler Projekte und gefährdet die Kontinuität der Arbeit. Lassen sich keine neuen Geldgeber mobilisieren,
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Im Folgenden finden sich Beispiele einiger international tätiger Hilfsorganisationen: Siehe Kindernothilfe e.V. (Hrsg.) 2008, S. 3: Die Gesamteinnahmen der Kindernothilfe betrugen 2007 49,9 Millionen Euro. Siehe Diakonisches Werk der EKD e.V. für die Aktion „Brot für die Welt“ (Hrsg.) 2009, S. 6: Die Organisation „Brot für die Welt“ nahm im Finanzjahr 2008 58,8 Millionen Euro Spenden ein. Davon flossen 53,6 Millionen Euro im gleichen Zeitraum in die Projektarbeit.
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kann dies die Beendigung oder drastische Einschränkung der aufgebauten Programme zur Folge haben. 693 Nutzung lokaler Ressourcen Projektgelder kommen aber nicht nur aus dem Ausland. Während einige Projekte auf die ausländische Hilfe vertrauen und Unterstützung nur leisten, wenn sie selbst gefördert werden, zeigen viele Organisationen einen unglaublichen Improvisationsgeist. Unterschiedliche Methoden ermöglichen den Organisationen, ihre Abhängigkeit von ausländischer Förderung zu reduzieren und die Kontinuität ihrer Arbeit zu sichern. Die Mobilisierung lokaler Ressourcen erscheint nicht immer einfach. Das fehlende Engagement, welches einige Projekte beklagen, scheint ein Problem zu sein, welches von den Organisationen selbst geschaffen wurde. Hilfsprogramme, deren Gründung durch ausländische Spendengelder erfolgte, machten einen Einsatz der Gemeinden scheinbar überflüssig. Die Mobilisierung und Involvierung verschiedener lokaler Akteure stellt eine Herausforderung dar, weil sie gegen eine Fehlentwicklung ansteuern muss. In jedem Dort und in jedem Stadtviertel leben Menschen, die über größere finanzielle Kapazitäten verfügen als der Rest der Bevölkerung. Diese Personen lassen sich in vielen Fällen motivieren, einen Teil ihres Einkommens zur Befriedigung der Bedürfnisse der Waisen zur Verfügung zu stellen. Einige befinden sich in der Lage und zeigen Bereitschaft, Mitglied einer Waisenorganisation zu werden und mit Hilfe eines regelmäßigen Mitgliedsbeitrages die Programme der Organisation zu unterstützen. Die Organisation SAKUVI in der Kilimanjaro Region nutzt diese Möglichkeit. Jedes Mitglied erhält eine Urkunde. Auf dieser wird zum einen über die Arbeit der Organisation berichtet und zum anderen werden die Spenden vermerkt.694 Die Unterstützung aus der Bevölkerung beinhaltet aber nicht nur finanzielle Hilfe für nichtstaatliche Organisationen. Viele Menschen, die kein Geld geben können oder wollen, erklären sich bereit, Sachleistungen zu erbringen. Möglichkeiten gibt es viele: Ein Händler für Bekleidung kann T-Shirts bereitstellen, ein Bauer gibt einen Sack Bohnen von seiner Ernte ab und ein Ladenbesitzer stellt Stifte und Schreibhefte zur Verfügung. Für die Kontinuität der Arbeit besteht auch bei lokalen Sponsoren die Notwendigkeit für den Aufbau einer befriedigenden und langfristigen Partnerschaft. „Wenn es richtig gemacht wird und den Leuten das Herz aufgeht, ähnlich wie in Deutschland auch, dann ist die Spendenbereitschaft hoch.“ (Interview mit M. 693
Vgl. Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania; Interview mit T. Saadani am 08.06.07 in Bagamoyo, Tansania; Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. 694 Vgl. Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania.
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Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania). Grundlage für erfolgreiche Spendenaufrufe sind Transparenz und Verlässlichkeit der Organisationen. Der Spender muss das Gefühl haben, dass sein Geld oder seine Sachspenden bei den bedürftigen Kindern ankommen. Als hilfreich für langfristige Partnerschaften mit Sponsoren erwiesen sich regelmäßige Berichte mit einer möglichst detaillierten Aufschlüsselung über die Verwendung der Spenden, öffentliche bzw. persönliche Danksagungen sowie Fotos. Neben der Aktivierung einzelner Personen oder Unternehmen in der Gemeinde besteht die Möglichkeit, das Interesse und Engagement lokaler Gruppen für die Arbeit von Organisationen zu wecken. Frauengruppe, religiöse Gruppen, Spargruppen und andere Gruppen, die sich zu unterschiedlichen Zwecken in den Kommunen zusammenfinden, lassen sich zum Wohle der Waisen einbinden. Einige Organisationen im ambulanten Bereich sprechen diese verschiedenen Gruppen gezielt an, sensibilisieren sie für die Probleme bedürftiger Kinder in ihrer Gemeinde und fordern sie auf, selbst Initiative zu ergreifen. In einigen Fällen sammeln die Gruppen bei ihren Mitgliedern Geld oder sie leisten gemeinsame Arbeitseinsätze. Manchmal hilft die Organisation den Gruppen, eigene wirtschaftliche Projekte aufzubauen, die ein Einkommen zur Unterstützung verwaister Kinder generieren. Die Arbeit der Organisationen zeigt deutlich, dass die Bevölkerung das Potenzial besitzt, zu helfen, aber dass eine förderliche Umgebung geschaffen werden muss, die Engagement ermöglicht. Besonders ambulanten Organisationen gelingt es, bei der Mobilisierung lokaler Ressourcen innovative Wege zu gehen. Sie setzen verschiedene Methoden ein, um unterschiedliche Akteure an ihrer Arbeit zu beteiligen. Viele Projekte erinnern die Gemeindemitglieder an ihre Verantwortung für die Waisen: „Was wir machen, ist zu versuchen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren, diesen Kindern und den Patienten innerhalb unserer Gemeinde zu helfen. Wir glauben, dass dies unsere Kinder und unsere Patienten sind und dass wir nicht von jemand abhängig sein sollten, der von außen kommt, um unseren Kindern und Patienten zu helfen. Wir sollten diese Verantwortung übernehmen. […] Das ist es, wie wir versuchen, zu sensibilisieren. Und sie tun es, sie verstehen es. […] Für mich ist es sehr wichtig, die Gemeinschaft an ihre Verantwortung für die Sorge für die Schutzlosen zu erinnern. […] Wenn man in die Bar geht, kann man Menschen Bier trinken sehen. Zehn Bier! Wozu zehn Bier? Man kann den Wert von einem Bier täglich spenden. Wenn man zehn Bier trinken kann, kann man auch neun Bier trinken. Wenn jeder Verantwortung übernimmt, kann man neun Bier nehmen und [der Wert] eines ist für die Waisen.“ (Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania/Übersetzung durch Verf.).
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Lokale Organisationen der ambulanten Hilfe fällt es leichter als Organisationen der stationären Betreuung, die Menschen für die Bedürfnisse der Waisen zu sensibilisieren und zu motivieren, selbst etwas zu tun. Die gleichen Faktoren, die dazu führen, dass Einrichtungen der institutionellen Versorgung bei der Akquirierung von Geldern im Ausland einen Vorteil haben, stellen bei der Mobilisierung der Bevölkerung einen Nachteil dar. Heime oder Kinderdörfer bilden abgeschlossene Einheiten in den Kommunen. Die Menschen in der Nachbarschaft können sich häufig nicht vorstellen, wie das Leben der Kinder hinter den „Toren der Einrichtung“695 aussieht. Die Hemmschwelle, die Einrichtung aufzusuchen und sich zu erkundigen, wie die Kinder dort leben, ist bei der lokalen Bevölkerung groß. Das Konzept einer institutionellen Erziehung erleben sie als etwas Kulturfremdes. Ambulante Unterstützungsangebote sind hingegen mit ihrer Arbeit in den Dörfern und Vierteln integriert. Volontäre, die sich für ambulante Programme einsetzen, stammen meist aus der Umgebung der Kinder und agieren als Botschafter für die Arbeit der Organisation. Die Vorstellung, dass verwaiste Kinder bei Verwandten ein neues Zuhause finden, entspricht dem traditionellen Verständnis von der gemeinschaftlichen Verantwortung der Großfamilie. Die Arbeit ambulanter Hilfsangebote lässt sich von den Menschen vor Ort nachvollziehen; die Wirkung der Arbeit kann im Alltag erlebt und in der Nachbarschaft beobachtet werden. Darüber hinaus wirkt sich die Anwesenheit von Ausländern in einigen Fällen negativ auf die Spendenbereitschaft der einheimischen Bevölkerung aus. Wird den Menschen der Eindruck vermittelt, dass die Organisation über Zugang zu ausländischen Spendengeldern verfügt, sinkt die Bereitschaft von den eigenen, wenigen Mitteln abzugeben. Die Ausstattung der ausländisch geführten Einrichtungen, die häufig weit über dem durchschnittlichen Lebensstandard der lokalen Bevölkerung liegt, machen lokale Spenden scheinbar überflüssig. Einkommensprojekte Eine weitere Möglichkeit, die Finanzierung von Programmen nachhaltig zu gestalten, besteht im Aufbau eigener Einkommensprojekte. Eine Organisation, die eigene Einnahmen erwirtschaftet, macht sich unabhängig von der Hilfsbereit695
Einrichtungen der institutionellen Erziehung sind von ihrem Wohnumfeld häufig durch hohe Mauern, Zäune und Tore abgegrenzt. Dies ist notwendig, um die Ausstattung und die Vorräte vor Diebstahl zu schützen. Nachts bewachen in der Regel Nachtwächter das Gelände. Diese Schutzmaßnahmen sind bei wohlhabenden Bürgern weit verbreitet und notwendig. Bei Kinderheimen können diese Sicherheitsmaßnahmen zu einer artifiziellen Distanz zwischen betreuten Kindern und Anwohnern führen.
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schaft Dritter. Mit den eigenen Einkünften, die sowohl finanzieller als auch materieller Art sein können, lassen sich Unterstützungsprogramme für Waisen finanzieren und deren Bedürfnisse befriedigen. Sowohl Organisationen der ambulanten Hilfe als auch Organisationen der stationären Betreuung nutzen dieses Finanzierungsmodell. Fast alle Organisationen der stationären Versorgung setzen die Landwirtschaft als kostensparenden Faktor ein. Die Erwirtschaftung der notwendigen Nahrungsmittel mit Hilfe von angestellten oder ehrenamtlichen Landarbeitern reduziert die laufenden Kosten erheblich. Manche Organisationen der stationären Betreuung nutzen darüber hinaus heimeigene Schulen als Einkommensprojekte. Sie können damit den Wunsch nach einer qualitativ hochwertigen Bildung, die Notwendigkeit Kosten zu sparen und das Ziel eigene finanzielle Mittel zu erwirtschaften in Einklang bringen. Das Kinderdorf Kemondo erkannte schon relativ früh den finanziellen Nutzen einer solchen Einrichtung und errichtete eine English Medium School auf dem Gelände der Organisation. Diese Schule unterrichtet Kinder aus den Kinderdorffamilien und auswärtige Schüler gemeinsam ab dem Vorschulalter. Vom Schulgeld der auswärtigen Schüler, welche die Schule besuchen, werden die Kosten der Bildungseinrichtung bezahlt. Gleichzeitig spart die Einrichtung die Kosten, welche für eine gleichwertige Ausbildung ihrer Zöglinge in einer externen Privatschule anfallen würde.696 Organisationen der ambulanten Hilfe versuchen ebenso, einen mehr oder weniger großen Anteil ihres Budgets selbst zu erwirtschaften. Die Organisation Community Alive richtete auf ihrem Grundstück in Musoma eine Schneiderwerkstatt ein. Die Werkstatt dient als Arbeitgeber und Ausbildungsstätte für Waisen, für Betreuer von Waisen sowie für die lokale Bevölkerung. Gleichzeitig lassen sich auf diese Weise kostengünstig Kleidungsstücke, Pullover und Schuluniformen für die Kinder, die von der Organisation betreut werden, produzieren. Die Werkstatt arbeitet aber auch für auswärtige Auftraggeber auf Bestellung und verkauft die produzierte Kleidung sowie selbst gefertigten Schmuck und Postkarten in einem Laden vor Ort. Zusätzlich zur Werkstatt unterhält die Organisation eine eigene kleine Landwirtschaft. Von den angebauten Nahrungsmitteln kochen ehrenamtliche Hilfskräfte ein Mittagessen für die Kinder, die zum wöchentlichen Waisentreffen kommen. Daneben erwirtschaftet die Organisation durch den Verkauf der Kuhmilch in der Nachbarschaft ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen. Die Ziegenzucht dient hingegen nicht dem Verkauf. Die Jungtiere werden zu Weihnachten an Haushalte mit Waisen gegeben, die damit ein eigenes kleines Einkommensprojekt aufbauen können. 697 696
Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania. Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 697
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Vielen Organisationen, sowohl denen mit ambulanten als auch denen mit stationären Hilfsangeboten, fehlt die Anschubsfinanzierung für ein eigenes Einkommensprojekt. Die Entwicklung und Umsetzung einer Geschäftsidee lässt sich nur in einem langfristigen Prozess gestalten, der nicht unbedingt sofort Profite erzeugt. Sponsoren möchten in der Regel, dass ihr Geld direkt und möglichst umgehend den Waisen zugutekommt. Diese Einstellung unterbindet eine nachhaltige Finanzierung von Projekten. Um die Kontinuität von Hilfsangeboten zu gewährleisten, ohne eine Abhängigkeit von regelmäßigen Spenden zu erzeugen, bildet das Generieren eigener Erträge die einzige zurzeit praktikable Möglichkeit in Tansania. Kostensenkung als Komponente von Kontinuität Nicht nur das Einkommen der Organisationen bestimmt ihre wirtschaftliche Situation, sondern auch die Ausgaben. Besonders für ambulante Projekte besteht die Möglichkeit, durch eine Senkung der Kosten die Kontinuität ihrer Arbeit zu sichern. Die Wege zur Kostensenkung sind vielfältig. Der wichtigste und am stärksten praktizierte Weg besteht in der Nutzung von Volontären statt fest angestellten Mitarbeitern in der Arbeit. In der Einsparung der Lohnkosten liegt ein wesentlicher Faktor, der es den Projekten erlaubt ihre Arbeit in der derzeitigen Qualität und Quantität zu leisten. Die meisten Programme könnten nicht existieren, wenn sie ausschließlich auf fest angestellte Mitarbeiter bauen würden. Ehrenamtliches Engagement in ambulanten und stationären Hilfsprogrammen wird im weiteren Verlauf des Kapitels differenziert betrachtet und soll deshalb an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Ein anderer Weg, Kosten zu sparen, stellt die Initiation von Programmen dar, die sich selber tragen. Diese Methode nutzen ebenfalls in erster Linie ambulante Hilfsprogramme. Beispielsweise ermöglichen Spargruppen oder Rotationssysteme, die ohne finanziellen Input aufgebaut werden, den Organisationen die wirtschaftliche Stärkung der Haushalte mit Waisen. Die Organisation von Spargruppen reduziert die Ausgaben von Hilfsprojekten auf ein Minimum und macht dadurch lang anhaltendes Engagement möglich. Andere Hilfsangebote fordern von Organisationen eine einmalige Investition, die wiederum Geld oder Sachwerte für die Weiterführung des Angebotes regeneriert. Auch diese Methode kommt stärker in Organisationen aus dem ambulanten Bereich zum Tragen. Die Vergabe von Krediten stellt die offensichtlichste Möglichkeit in diesem Bereich dar. Daneben eignen sich beispielsweise einkommenschaffende Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich. Die Organisation WAMATA nutzt das Prinzip und vergibt Ziegen an Haushalte mit Wai-
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sen. Das erste weibliche Jungtier, welches die Ziege zur Welt bringt, muss an die Organisation zurückgegeben werden und kommt anderen Familien zugute. Alle weiteren Jungtiere und die Milch, welche die Ziege produziert, dienen den Betreuern der Waisen zur Verbesserung des Haushaltseinkommens und der eigenen Versorgung. Durch die einmalige Investition der Organisation in einige Tiere kann dieses Projekt nach und nach viele Familien langfristig zu einer besseren wirtschaftlichen Lage verhelfen.698 Engagement der Mitarbeiter als Komponente von Kontinuität Neben der Finanzierung bildet das Vermögen der Projekte, Mitarbeiter zu akquirieren und Fluktuation zu verhindern, eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Kontinuität in der Hilfe. In Tansania besteht die Schwierigkeit, geeignetes und ausgebildetes Personal zu motivieren, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen. Aus diesem Grund kommt dem Engagement ehrenamtlicher Hilfskräfte eine besondere Bedeutung zu. Fest angestellte Mitarbeiter Der überwiegende Teil der Organisationen nutzt fest angestellte Mitarbeiter in seiner Arbeit. Im ambulanten Bereich verfügten 81% der befragten Projekte (n = 21) über mindestens eine bezahlte Arbeitskraft. Im stationären Bereich gab es nur eine einzige Einrichtung ohne Angestellte; in den übrigen 17 befragten Projekten wurden bezahlte und fest angestellte Arbeitskräfte beschäftigt. Insgesamt verfügen Projekte der ambulanten Hilfe durchschnittlich über weniger Angestellte als die Einrichtungen im institutionellen Bereich. Ein Blick auf die Projekte, die nähere Angaben zur Mitarbeiterzahl gemacht haben, zeigt die Unterschiede. 76% der ambulanten Hilfsprogramme (n = 17) und 40% der stationären Betreuungseinrichtungen (n = 15) beschäftigten weniger als zehn Personen. Feste Arbeitsplätze üben einen positiven Einfluss auf die Kontinuität der Hilfe aus, indem sie die Mitarbeiter an die Organisation binden. Die Angestellten sind aufgrund ihres Gehalts auf die Organisation angewiesen. Sie haben deshalb ein begründetes Interesse am Fortbestand der Programme, denn nur dies sichert ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen. Beruht das Engagement allerdings allein auf dem persönlichen finanziellen Vorteil, kann sich dies wiederum negativ auf die Kontinuität auswirken. Dies kommt vor allem dann zum Tragen, wenn Grün698
Vgl. Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania.
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der die Programme als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme initiieren. Diese Organisationen werden mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Arbeit aufgeben, sobald keine ausreichenden finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stehen, um die Löhne zu zahlen. Wichtiger als die Existenz von regulären Arbeitsplätzen in einer Organisation erscheint demnach die Motivation der Mitwirkenden. Ehrenamtliche Mitarbeiter Sowohl Organisationen der ambulanten Hilfe als auch Einrichtungen der stationären Betreuung machen sich die Mitarbeit von freiwilligen Hilfskräften zunutze. Die Frage, ob sich im Projekt Menschen freiwillig und ohne Bezahlung engagieren, beantworteten alle befragten Organisationen der ambulanten Hilfe (n = 22) positiv. Auch 88% der befragten Einrichtungen der institutionellen Erziehung (n = 16) profitieren von ehrenamtlichem Engagement. In der Herkunft der Volontäre gibt es zwischen beiden Versorgungsarten allerdings signifikante Unterschiede. Die Abbildung 93 zeigt die Differenzen zwischen ambulanten und stationären Hilfsangeboten. Abbildung 93: Einsatz von lokalen und ausländischen Ehrenamtlichen
Alle befragten Organisationen der ambulanten Hilfe wurden von Menschen vor Ort unterstützt. Das bedeutet, dass in allen 22 Organisationen die Volontäre aus dem Wohnumfeld der Kinder stammen. Weniger als die Hälfte dieser Projekte erhält zusätzlich zu den lokalen Hilfskräften zeitweise Unterstützung von ausländischen Volontären. Bei den Organisationen der stationären Betreuung bestand ein umgekehrtes Verhältnis. Alle befragten Organisationen, die Volontäre in ihrer Arbeit nutzen, beschäftigen ausländische Volontäre. Der Anteil von
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Freiwilligen aus dem Umfeld der stationären Einrichtung ist bedeutend geringer. Die Vor- und Nachteile vom ehrenamtlichen Engagement einheimischer und ausländischer Mitarbeiter für die Kontinuität der Arbeit stellen die folgenden Ausführungen dar. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen und Vereine, die sich auf die Vermittlung von ausländischen Volontären spezialisiert hat. Die Aufenthaltsdauer der Ehrenamtlichen in diesen Programmen reicht in der Regel von wenigen Tagen bis zu maximal drei Monaten. Die Kosten von einem solchen Aufenthalt sind für die Teilnehmer erheblich. Sie können bei einer Vermittlungsagentur mit mittleren Preisen für zwölf Wochen in einem Waisenhaus in Mwanza, Tansania, beispielsweise 3.670 US-Dollar (2.678 Euro) zuzüglich Gebühren für Flug und Visa betragen. 699 Vielen Volontären gelingt es, diese Kosten mit Hilfe von Fundraising-Aktionen aufzubringen und häufig geben die Vermittlungsagenturen 699
Die Kosten für Volontärprogramme beinhalten in der Regel die Vermittlung an ein Hilfsprojekt, die Unterbringung und die Verpflegung mit drei Mahlzeiten vor Ort und den Transport zwischen Unterkunft und Projekt. Nicht enthalten sind Flugkosten, Ausgaben für notwendige Schutzimpfungen und Malariaprophylaxe und anfallende Visagebühren. Im Folgenden finden sich einige Beispiele für die Kosten von Volontärprogrammen in Tansania: Siehe www.crossculturalsolutions.org/countries/africa/volunteer-tanzania/~/link.aspx?_id=039EC519 EEA54AD98E0116091472425B&_z=z 20.01.09: Die Kosten für einen Aufenthalt in Tansania beginnen bei 2.994 US-Dollar (2.185 Euro) für drei Wochen in der Nebensaison und reichen bis zu 6.414 US-Dollar (4.680 Euro) für 12 Wochen in der Hauptsaison. Die Projekte, in denen die Freiwilligen arbeiten, erhalten kein Geld von der Vermittlungsorganisation. Siehe www.i-to-i.com/volunteer-projects/teach-young-children-in-moshi.html 20.01.09: Die Dauer des Aufenthalts beträgt maximal zwölf Wochen. Die ersten zwei Wochen kosten 695 Pfund (1.030 Euro) und jede weitere Wochen noch einmal 120 Pfund (178 Euro). Die beteiligten Projekte erhalten keinen regelmäßigen Anteil an den Einnahmen der Vermittlungsorganisation. Sie haben einmal jährlich die Möglichkeit, einen Antrag für die Finanzierung eines speziellen Vorhabens zu stellen. Siehe www.ifrevolunteers.org/volunteer-abroad-africa-tanzania.php 20.01.09: Volontäre können bereits für vier Tage (299 US-Dollar (218 Euro)) an einem Projekt mitwirken. Die Gebühren für die maximale Aufenthaltsdauer von 12 Wochen betragen 1831 US-Dollar (1.336 Euro). Zusätzlich fällt eine einmalige Aufnahmegebühr von 349 US-Dollar (255 Euro) an. Die Organisation leitet einen Teil der Gebühren als Spende an die Projekte vor Ort weiter. Es wird aus der Dokumentation nicht deutlich, wie hoch dieser Anteil ist. Siehe www.tanzaniavolunteer.org/fees.htm 20.01.09: Für zwei Wochen belaufen sich die Kosten auf 495 US-Dollar (361 Euro). Bleiben die Volontäre drei Monate zahlen sie insgesamt 1.995 US-Dollar (1.456 Euro). Es ist geplant, dass ein Teil der Gebühren den Projekten vor Ort zu Gute kommt. Siehe www.rustic-volunteer-travel.com/tanzania/work_orphanage_fees_dates.php 20.01.09: Neben einer einmaligen Aufnahmegebühr von 200 US-Dollar (146 Euro) müssen Volontäre je nach Dauer ihres Aufenthaltes zwischen 299 US-Dollar (218 Euro) (weniger als eine Woche) und 1.785 USDollar (1.302 Euro) (zwölf Wochen) aufbringen. Aus der Internetpräsentation wird nicht ersichtlich, ob die Projekte vor Ort von den Gebühren der Freiwilligen profitieren. Siehe www.volunteerafrica.org/green/cost 20.01.09: Für einen 11- bzw. 12-wöchigen Einsatz in einem Waisenheim in Mwanza zahlen die Volontäre 3.670 US-Dollar (2.678 Euro). 60% der Einnahmen gehen nach Angaben der Veranstalter an lokale Entwicklungsprojekte und an die Organisationen, die Volontäre aufnehmen.
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Tipps, wie sich finanzielle Mittel in Spendenaktionen mobilisieren lassen. Neben dieser Art der Vermittlung existieren weitere Möglichkeiten für interessierte Personen, sich in sozialen Projekten in Tansania zu engagieren. Direkte Kontakte zu Organisationen vor Ort oder zu Missionswerken bzw. Kooperationspartnern von tansanischen Projekten im Heimatland erweisen sich in vielen Fällen als preiswertere und zweckdienlichere Alternative zu den Vermittlungsorganisationen. Die Aufenthaltsdauer ist häufig länger und nicht auf maximal drei Monate begrenzt. Andererseits können die Volontäre nicht immer auf eine Rund-umVersorgung mit Unterbringung, Mahlzeiten und Ansprechpartner vor Ort, wie dies bei Vermittlungsagenturen in der Regel der Fall ist, zurückgreifen. Ausländische Volontäre in Einrichtungen der institutionellen Erziehung helfen der Organisation, die Zahl der Mitarbeiter, die sich der Betreuung und Pflege der Kinder widmen, zu erhöhen. Die Kinder erhalten mehr Zuwendung und ihre Entwicklung wird durch gezielte Förderung angeregt. Durch die Anwesenheit von ausländischen Volontären in Einrichtungen der stationären Betreuung steigt in der Regel die Qualitätszeit der Kinder, das heißt die Zeit, in der sich jemand mit den Kindern direkt beschäftigt, ihnen Zuneigung entgegen bringt und ihnen Nähe vermittelt. Die zusätzliche Aufmerksamkeit für die Kinder sowie die Ideen und Ansichten, die Volontäre in die Arbeit der institutionellen Betreuungseinrichtungen und in die Interaktion mit den Heranwachsenden einbringen, empfinden die Verantwortlichen als besonders positiven Aspekt des Freiwilligeneinsatzes: „Zurzeit haben wir […] sechs Volontäre. Sie kommen und gehen, doch es ist sehr wichtige, diese Interaktion mit den Kindern zu haben. Und ich denke eines der größten Vorteile von diesen Volontären ist, dass sie das Ihre mitbringen. Sie können Ärzte sein, sie können Krankenschwestern sein, sie können Tischler sein oder Landwirte. Wir hatten eine Frau hier, sie kam für zwei Jahre und sie war eine Künstlerin. Wenn die Kinder diese Menschen vielleicht dies oder jenes tun sehen, lernen sie wirklich eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge kennen, denen sie in ihrem zukünftigen Leben folgen können. Deshalb denke ich, dass diese Bildung für die Kinder sehr wichtig ist. Ihnen einfach eine Idee zu geben, welche Arbeit es da draußen gibt.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Volontäre können ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre spezifischen Fertigkeiten gezielt einsetzen, um die Arbeit der Organisation zu verbessern. Die freiwilligen Helfer werden beispielsweise zum Englischunterricht eingesetzt, um die Zöglinge auf den Besuch der Sekundarschule vorzubereiten. Andererseits ließen sich die Aufgaben, die ausländische Volontäre in Organisationen übernehmen, bis auf wenige Ausnahmen in gleicher oder besserer Weise von lokalen Arbeitskräften erfüllen. Sonderfälle stellen beispielsweise Volontäre mit medizinischer Ausbildung dar, die aufgrund des Fachkräfteman-
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gels im Gesundheitsbereich einen wertvollen Einsatz leisten. Für die Mehrzahl der Volontäre trifft dies nicht zu. Abgesehen von ihrer persönlichen Motivation und ihrer Hingabe, bringen ausländische Hilfskräfte nicht immer die notwendigen Qualifikationen für den von ihnen gewählten Tätigkeitsbereich mit. Volontäre, mit denen die Autorin während ihrer Besuche in den Projekten sprach, kamen nur selten aus einem pädagogischen oder sozialen Arbeitsfeld. Ihnen fehlte demzufolge grundlegendes entwicklungspsychologisches und pädagogisches Wissen. Darüber hinaus beherrschten die meisten Ehrenamtlichen aus dem Ausland nur wenige Worte Kisuaheli. Die Verständigung mit den Kindern war nur möglich, wenn diese bereits Englisch konnten. Ansonsten blieb die Kommunikation auf einer nonverbalen Ebene stehen. Für Tätigkeiten, wie Kinderpflege, die Gestaltung pädagogischer Angebote oder die Errichtung bzw. Renovierung von Gebäuden, mit denen Volontäre in stationären Einrichtungen häufig betraut sind, eignen sich Menschen vor Ort in vielen Fällen besser. Beim Vergleich der Kosten eines Volontäraufenthaltes und den potenziellen Ausgaben für die Beschäftigung lokaler Arbeitskräfte zeigt sich die relative Unverhältnismäßigkeit. Ausgehend von einer Vermittlungsgebühr der mittleren Preisklasse (2.678 Euro für zwölf Wochen700) und einem durchschnittlichen tansanischen Lehrergehalt (circa 110 Euro pro Monat 701) lässt sich ein Vergleich ziehen. Für die Ausgaben, die ein Volontär für drei Monate ehrenamtlicher Arbeit in Tansania aufbringt, könnte eine einheimische Arbeitskraft für zwei Jahre mit einem guten Gehalt bezahlt werden. Da sich die Einrichtungen finanziell nicht in der Lage sehen, zusätzliches Personal einzustellen, nehmen sie die Möglichkeit der unentgeltlichen Arbeit von Ausländern gerne an. Von der anderen Seite betrachtet können Volontäre aber auch die Einstellung lokaler Arbeitskräfte behindern. Gibt es in den Organisationen eine ausreichende Zahl von ehrenamtlichen Mitarbeitern, sinkt der Bedarf von Projekten für bezahlte Kräfte. Kommt im Sommer beispielsweise eine Jugendgruppe, um Gebäude der Einrichtung zu reparieren oder zu bauen, besteht für die Organisation keine Notwendigkeit, lokale Handwerker zu beauftragen. Einheimische haben dadurch keine Chance, Arbeit zu finden. Das freiwillige Engagement ausländischer Hilfskräfte sollte, wenn es in dem beschriebenen Rahmen stattfindet, nicht als Beitrag der Entwicklungshilfe gesehen werden. Es lässt sich vielmehr als persönliche Erfahrung für 700 Siehe www.volunteerafrica.org/green/cost 20.01.09: Für einen 11- bzw. 12-wöchigen Einsatz in einem Waisenheim in Mwanza zahlen die Volontäre 3.670 US-Dollar (circa 2.678 Euro). 701 Siehe Mulkeen und Chen (Hrsg.) 2008, S. 95: Das Monatsgehalt eines unqualifizierten Lehrers mit Sekundarschulabschluss beginnt in der Primarschule bei 80 US-Dollar (circa 58 Euro) und kann bis zu 166 US-Dollar (circa 121 Euro) steigen. Qualifizierte Lehrer, die ein Lehrerkolleg durchlaufen haben, erhalten als monatliches Einstiegsgehalt 99 US-Dollar (circa 72 Euro). Das maximale Gehalt einer qualifizierten und erfahrenen Lehrkraft beträgt 225 US-Dollar (circa 164 Euro).
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die Teilnehmer verstehen, für die sie, ähnlich wie bei einer Safari oder einer Kreuzfahrt, zahlen. Ein Argument für die Volontärprogramme könnte, neben der kostenlosen Arbeitskraft, die Finanzierung der Projekte durch die Vermittlungsgebühren sein. In der Realität leiten nicht alle Agenturen Geld an die Organisationen vor Ort weiter.702 Bei den Agenturen, die es sich zur Aufgabe machen, Projekte zu fördern, kommt nur ein geringer Bruchteil der Vermittlungsgebühren in Tansania an. Den Großteil der Gebühren verwenden die Vermittlungsorganisationen in der Regel für die administrativen Kosten. 703 Mit den Widersprüchen der Volontärprogramme zwischen dem Wunsch, sich in Tansania sozial zu engagieren, und den Kosten, die in keiner Proportion zum sozialen Nutzen stehen, muss sich jeder Freiwillige persönlich auseinandersetzen. Ein anderer Faktor des ausländischen Ehrenamtes in Tansania, der für die Kontinuität der Hilfe eine viel zentralere Rolle spielt als die Diskrepanz zwischen Kosten und Nutzen liegt in der kurzen Aufenthaltsdauer vieler Freiwilliger. Organisationen der stationären Betreuung, die intensiv mit den beschriebenen Vermittlungsorganisationen arbeiten, erleben eine enorme Fluktuation. Die Kinder müssen sich in unregelmäßigen Abständen auf neue Betreuer mit verschiedenen Charakteren, Erziehungsvorstellungen und pädagogischen Ideen einstellen. Darüber hinaus wechselt mit den Menschen häufig auch die Sprache, die diese sprechen. Während der kurzen Anwesenheit der Volontäre besteht die Möglichkeit von engen Beziehungen zu den Kindern. Oft haben die Freiwilligen ihre Lieblinge unter den Kindern oder die Kinder suchen sich gezielt eine Person aus, von der sie sich Zuwendung erhoffen. In manchen Projekten bekommen Volontäre die Gelegenheit, ausgewählte Zöglinge zu Ausflügen außerhalb der Einrichtung abzuholen bzw. nach der Arbeit in ihre Unterkunft mitzunehmen. Unabhängig von der Gefährdung der Kinder, zum Beispiel für sexuellen Missbrauch, fördern solche Praktiken sehr enge Beziehung zwischen einzelnen Kindern und freiwilligen Helfern. In einem Fall, den die Autorin in einer der Einrichtungen beobachten konnte, bestand zwischen einer amerikanischen Volontärin und einem kleinen Jungen von circa 2 Jahren nach fast drei Monaten eine so enge Beziehung, dass sich das Kind weigerte, von anderen Angestellten des
702 Siehe www.crossculturalsolutions.org/countries/africa/volunteer-tanzania/~/link.aspx?_id=039 EC519 EEA54AD98E0116091472425B&_z=z 20.01.09: Trotz der hohen Kosten von bis zu 6.414 US-Dollar (4.680 Euro) für 12 Wochen erhalten die Projekte vor Ort keine finanzielle Unterstützung. 703 Siehe www.ifrevolunteers.org/volunteer-abroad-africa-tanzania.php 20.01.09: Die Organisation gibt an, das 40% der von den Volontären gezahlten Gebühren für die Unterkunft, das Essen, die Versicherungen vor Ort und den Transport der Volontäre sowie für die Spende an die Organisation ausgegeben werden. 60% der Einnahmen fließen in die Werbung, die Koordination der Programme, das Gehalt der Angestellten der Agentur und in weitere administrative Posten.
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Heimes auf den Arm genommen zu werden. 704 Im bereits erwähnten Mangel an pädagogischem und psychologischem Wissen liegt einer der Gründe, warum freiwillige Helfer eine solche enge Beziehung zu den Kindern zulassen. Für die Kinder bedeutet dies ständige Beziehungsabbrüche; sobald die Volontäre die Einrichtung verlassen, müssen die Kinder den Verlust einer engen Bezugsperson verarbeiten. Besonders für Waisen, die in ihrem Leben vielfältige Verlusterfahrungen gemacht haben, sind die wiederholten Beziehungsabbrüche und die fehlende Verlässlichkeit von Bezugspersonen problematisch. Die Fluktuation der Freiwilligen steht auf jeden Fall im deutlichen Gegensatz zur erforderlichen Kontinuität der Hilfe, die unter anderem auch eine Kontinuität von Beziehungen bedeutet. Nicht für alle ausländischen Freiwilligen in Einrichtungen der stationären Betreuung treffen die beschriebenen Kritikpunkte zu. Die Autorin lernte während ihrer Besuche auch Volontäre kennen, die sich für längere Zeiträume, über Monate oder Jahre, in einer Einrichtung engagierten bzw. nicht primär in der Kinderbetreuung beschäftigt waren, sondern die Organisation im administrativen Bereich unterstützten.705 Diese Fälle stellen insgesamt Ausnahmen dar. Der überwiegende Teil der ausländischen Volontäre in den besuchten Einrichtungen kam für kurze Zeit und im Rahmen eines von Vermittlungsagenturen organisierten Volontärprogramms. Unabhängig von den unverhältnismäßigen Kosten sollte in Frage gestellt werden, ob die Schäden, welche die regelmäßigen Beziehungsabbrüche bei den Kindern verursachen, durch den Nutzen, den die zusätzliche Aufmerksamkeit durch die Volontäre darstellt, aufgewogen werden können. Der Kontinuität der Hilfe ist durch organisierte Volontärprogramme in Einrichtungen der stationären Versorgung aufgrund der hohen Fluktuation nicht gedient. In Organisationen der ambulanten Hilfe finden sich ebenso Volontäre aus dem Ausland, wenn auch in einem deutlich geringeren Maße als im stationären Bereich. Besonders Projekte, die neben den ambulanten Unterstützungsangeboten, Tagesbetreuung für Kinder im Vorschulalter bieten, nutzen die Vermittlungsagenturen zur Rekrutierung von Freiwilligen. Die Volontäre arbeiten in Kindergärten, in denen Waisen und andere Kinder tagsüber versorgt werden. Die negativen Faktoren, wie die unverhältnismäßigen Kosten, die kurze Aufenthaltsdauer, die fehlende sprachliche und fachliche Qualifikation sowie die negativen Effekte für die Beschäftigung lokaler Arbeitskräfte, die bereits im Kontext der 704
Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Nkoaranga Orphanage am 04.07.07 in Usa River, Tansania. 705 Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Green Door Home am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Kemondo Orphan Care Centre am 16.04.07 in Kemondo, Tansania.
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stationären Betreuung dargestellt wurden, gelten ebenso in diesem Bereich. Es besteht dennoch ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Einsatz von ausländischen Volontären in der stationären Betreuung und im ambulanten Bereich. Auch wenn ein ständiger Wechsel der Erzieher im Kindergarten von den Kindern ein hohes Maß an Anpassung fordert, bleiben die Hauptbezugspersonen, das heißt die Familie, zu der die Kinder nach dem Kindergarten zurückkehrt, gleich. Die Kinder müssen wie in stationären Betreuungseinrichtungen regelmäßige Beziehungsabbrüche verarbeiten, doch die Person, welche die Verantwortung für sie trägt und bei der sie zuhause sind, bietet ihnen eine konstante Bindung. Die Situation in der Tagesbetreuung lässt sich mit anderen Bereichen vergleichen, in denen ausländische Volontäre in Organisationen der ambulanten Hilfe arbeiten. Die freiwilligen Helfer ersetzen in der Regel nicht die familiären Bezugspersonen, so dass ein Beziehungsabbruch weniger gravierende Konsequenzen mit sich bringt. Abgesehen von den ehrenamtlichen Helfern in den Kindergärten, blieben die Volontäre, welche die Autorin in ambulanten Projekten kennenlernte, oft für einen längeren Zeitraum. Ihre Aufgaben beschränkten sich nicht nur auf den direkten Kontakt zu den Familien und den Kindern, vielmehr unterstützten sie die Organisation im organisatorischen und administrativen Bereich. In einigen Fällen setzen Kooperationspartnern aus dem Ausland Volontäre gezielt ein, um einen Einblick in die Arbeit der Organisationen zu bekommen. Längerfristig angelegte Einsätze von Volontären sind ebenfalls nicht frei von Risiken für die Kontinuität der Arbeit, da sie ebenso die Nachhaltigkeit von Programmen gefährden können wie kurzzeitige Arbeitseinsätze. Ehrenamtliche Arbeitskräfte nutzen einen längeren Aufenthalt häufig, um eigene Ideen umzusetzen und Programme zu initiieren. Die Arbeit der Organisation lässt sich durch den Einsatz von freiwilligen Helfern aus dem Ausland verbessern, doch das Weiterbestehen dieser neuen Initiativen ist nach dem Weggang der Begründer nicht immer gesichert. Dies liegt auch daran, dass die Volontäre ihre Programme oft ohne genaue Kenntnisse der lokalen Lebenswelt aufbauen und einem westlichen Verständnis von guter Unterstützung folgen. Die Initiativen können von Seiten der einheimischen Mitarbeiter als fremd empfunden werden und eine Weiterführung findet nicht statt. Das Engagement der Volontäre weckt auf Seiten der Klienten möglicherweise Erwartungen, die langfristig nicht erfüllt werden, da die Kontinuität der Hilfe nicht gewährleistet ist. Die Arbeit von Ehrenamtlichen aus der unmittelbaren Umgebung spielt für ambulante Projekte eine viel wesentlichere Rolle als der Einsatz ausländischer Volontäre. Organisationen in Tansania versuchen, die Nachhaltigkeit und Kontinuität der Programme zu sichern, indem sie den Gemeindemitgliedern eine Rolle in den Projekten und der Versorgung der Waisen geben. Auf diese Weise lässt
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sich ein regelmäßiger Kontakt zu den Waisen sicherstellen. Je nach Tätigkeitsprofil erfüllen die Volontäre verschiedene Aufgaben. Beispielsweise besuchen sie die Waisen Zuhause, bieten den Familien Beratung an, organisieren Gruppenangebote und analysieren die Bedürfnisse des Haushaltes. Die Familien und Waisen verfügen über die Gewissheit, einen Ansprechpartner in ihrer Nachbarschaft zu haben, an den sie sich bei Problemen direkt wenden können. Als größte Herausforderung beim freiwilligen Engagement lokaler Kräfte gilt die Verhinderung von Fluktuation. Ein häufiger Wechsel der Mitarbeiter gefährdet die Kontinuität der Arbeit. Lokale Hilfskräfte leben vor Ort, doch im Gegensatz zu den ausländischen Volontären haben sie parallel zu ihrer Arbeit in der Organisation private Verpflichtungen. Sie müssen ihre eigene Familie versorgen und einer Beschäftigung und/oder landwirtschaftlichen Aktivitäten nachkommen. Beim Ausfall von Freiwilligen müssen neue Kräfte angeworben und motiviert werden. Da es sich in der Regel um ungelernte Kräfte handelt, die mit ihrem Einsatzfeld nicht vertraut sind, besteht die Notwendigkeit eines Trainings und einer Einführung in den Aufgabenbereich. Dies bedeutet einen erheblichen zeitlichen und finanziellen Aufwand für die Projekte. Es wurde bereits dargestellt, dass eine Unbeständigkeit in den Beziehungen zwischen Klienten und Mitarbeitern, neben den organisatorischen Nachteilen, auch die Qualität der Arbeit beeinträchtigt. Organisationen wenden deshalb unterschiedliche Methoden an, um ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter zu halten und die Kontinuität der Arbeit zu sicher. Wie in Deutschland zahlen in Tansania einige Organisationen ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern eine Aufwandsentschädigung, um Fluktuation zu verhindern. Die Organisation HUYAMWI in der Kilimanjaro Region entlohnt ihre Volontäre monatlich mit 30.000 TSH (circa 16,88 Euro). Für diese Aufwandsentschädigung halten die Freiwilligen an zwei bis drei Tage pro Woche Kontakt zu den Waisen, indem sie Hausbesuche machen und Waisentreffen organisieren.706 Zahlt die Organisation regelmäßig Geld an ihre Volontäre, sichert sie sich deren Arbeitskraft. Es besteht aber die Gefahr, dass die Vergütung der Arbeit und nicht die Waisen der Hauptgrund für das Engagement darstellt. Steht der Organisation kein Geld mehr zur Verfügung, kann die Unterstützung der Freiwilligen wegfallen und Programme müssen eingestellt werden. „Ich mag die [Volontäre], die von sich aus helfen. […] Wenn ich ihnen Geld gebe und wenn wir dann kein Geld mehr haben, ist es ein Problem.“ (Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Eine regelmäßige Aufwandsentschädigung kann die Kontinuität der Hilfe nur sichern, wenn die Finanzierung der Organisation langfristig gewährleistet ist. 706
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania.
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Andere Projekte setzen auf altruistisches Engagement. Die Motivation der Freiwilligen ergibt sich aus der Arbeit für eine gute Sache. Impulse für das Engagement kommen bei jedem Volontär aus einer anderen Quelle; für die einen ist es beispielsweise der religiöse Glaube und für die anderen sind es persönliche Erfahrungen. Viele Menschen verstehen die Waisenhilfe auch einfach als eine traditionelle Pflicht. In Interviews der Autorin wurde so häufig die Hilfsbereitschaft der Menschen begründet. „Der Glaube von den Menschen, die an diesem Berg hier, dem Mount Meru, leben, ist, dass man gesegnet ist, wenn man für ein Kind sorgt. Das ist es, was sie glauben. Wenn man für ein Waisenkind sorgt, ist man gesegnet. Die Traditionen unterstützen jemanden, der sich um ein Waisenkind kümmert.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch bei der ethnischen Gruppe der Sukuma, die am Südufer des Victoria Sees leben, gilt die gegenseitige Hilfe als traditionelle Selbstverständlichkeit: „Sie [die Menschen] wollen einfach helfen. Wissen Sie die Sukuma, das Volk der Sukuma mag es, anderen Menschen zu helfen.“ (Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Langfristiges Engagement ohne Gegenleistung lässt sich ungeachtet dessen dauerhaft schwer aufrechterhalten. Bietet sich einem ehrenamtlichen Mitarbeiter die Möglichkeit einer Beschäftigung mit finanziellem Profit oder wird seine Arbeitskraft durch einen Krankheitsfall Zuhause benötigt, fehlt ihm die Zeit, sich weiterhin für die Organisation einzusetzen. Auch wenn der anfängliche Enthusiasmus nachlässt und sich der Alltag in den ehrenamtlichen Aufgaben einstellt, sinkt das Engagement vieler Volontäre. Die Kontinuität der Arbeit ist auf diese Weise nicht möglich. Einige Organisationen gehen einen Mittelweg. Sie achten darauf, dass die ehrenamtliche Arbeit nicht die gesamte Zeit der Mitarbeiter beansprucht. Die Freiwilligen müssen in der Lage sein, neben ihrem Engagement für die Waisen, ihren eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Einige Projekte geben zur Motivation ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiter in unregelmäßigen Abständen finanzielle oder materielle Belohnungen. Indem keine Regelmäßigkeit dieser Kompensation besteht, kann sie sich an der aktuellen wirtschaftlichen Situation der Organisation und der Bereitschaft der Geldgeber orientieren. Der Aufbau von unrealistischen Erwartungen bei den Ehrenamtlichen wird verhindert. Die Geschenke sind teilweise an die Aufgaben der Volontäre angelehnt oder haben das Ziel, ihre eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse zu verbessern, um Kapazitäten für das ehrenamtliche Engagement freizumachen. Die Möglichkeit, in Form von Weiterbildungen die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erweitern, wirkt sich ebenfalls positiv auf die Motivation aus. Freiwillige, die in Seminaren etwas über den Aufbau von Einkommensprojekten lernen, können dieses Wissen nicht nur an die Familien mit Waisen weitergeben, sondern auch selber anwenden. Neben
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materiellen Vorteilen ist die Anerkennung der Leistungen der Freiwilligen unerlässlich für die Stabilität des Einsatzes. Dies kann durch Danksagungen und Belobigungen erreicht werden. In Einrichtungen der stationären Hilfe sind einheimische Volontäre bedeutend seltener anzutreffen. Die einzige Ausnahme unter den besuchten Institutionen bildet das Heim der Kilimanjaro Children Joy Foundation (Abb. 94). Der überwiegende Teil der besuchten Einrichtungen der institutionellen Erziehung nutzt diese Ressource in ihrer nächsten Umgebung nicht. Abbildung 94: Beispiel: Einheimische Volontäre in Einrichtungen der stationären Betreuung Die Aktivitäten des Heims begannen, als die Lehrerin Lucy Lema einzelne Kinder bei sich zuhause aufnahm und gemeinsam mit ihren eigenen Kindern versorgte. Die Zahl der Kinder wuchs schnell und schon bald benötigte sie Helfer zur Versorgung der Kinder. Da das Heim keinen Sponsor hat, der regelmäßig Projektgelder zur Verfügung stellt, stellte die Einstellung von Mitarbeitern für Lucy Lema keine Option dar. Stattdessen gelang es ihr, Menschen in der Umgebung mit ihrem eigenen Enthusiasmus für die Arbeit zu begeistern. „Es ist etwas von Herzen. Und Menschen, die mit mir sind, haben sich angeschlossen, sind gekommen und helfen, die Kinder zu unterstützen.“ (Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Einige ehrenamtliche Mitarbeiterinnen leben ständig im Heim und in manchen Fällen bietet die Einrichtung für die freiwilligen Helfer eine Zuflucht vor häuslicher Gewalt und Obdachlosigkeit, so dass sie dankbar sind, eine Aufgabe und Anschluss gefunden zu haben. Die Freiwilligen erhalten als Gegenleistung für ihre Hilfe Unterkunft und Verpflegung sowie, wenn es die Finanzlage zulässt, auch mal ein kleines Geschenk als Dankeschön. Neben den Betreuerinnen leisten eine Vielzahl anderer freiwilliger Helfer Unterstützung. Dorfbewohner arbeiten in der Landwirtschaft, von der das Heim alle laufenden Kosten trägt. Ebenso wie die Betreuerinnen erhalten sie kein festes Gehalt. Im Fall, dass die Ernte gut ausfällt, bekommen sie einen Teil ab. Zusätzlich hilft beispielsweise ein junger Elektriker aus der Nachbarschaft bei handwerklichen Aufgaben und ein Student kommt in den Ferien, um die Kinder im Heim zu unterrichten. Viele freiwillige Helfer arbeiten bereits für mehrere Jahre mit Lucy Lema. Die engen Bindungen, die sie zu den Kindern aufbauen, stärken das Pflichtgefühl und das Verantwortungsbewusstsein der Volontäre. Auch das Wissen, dass die Einrichtung aufgrund fehlender Sponsoren von ihrem Engagement abhängt, erhöht die Einsatzbereitschaft. Diese Faktoren fördern langfristiges Engagement und wirkten sich positiv auf die Kontinuität der Hilfe aus. (Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania)
Fazit Die negativen Konsequenzen im Zuge fehlender Kontinuität steigen proportional zum Umfang und zur angestrebten Dauer der Unterstützung. Adressaten ambulanter Angebote leiden dementsprechend weniger stark unter einem mittel- bzw. langfristigen Abbruch der Hilfe als Zöglinge in der stationären Betreuung. Zwei Faktoren, die Nachhaltigkeit der Finanzierung und das Engagement der Mitar-
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beiter, erweisen sich für die Kontinuität der Arbeit von Organisationen der Waisenhilfe als ausschlaggebend. In beiden Bereichen lassen sich deutliche Unterschiede zwischen ambulanten und stationären Hilfsprogrammen ausmachen. Im Kontext der Finanzierung weisen stationäre Betreuungsangebote einen deutlichen Vorteil bei der Akquirierung von Projektgeldern aus dem Ausland auf. Ambulanten Hilfsprogrammen, vor allem kleinen lokalen Projekten, fällt es deutlich schwerer, ausländische Geldgeber zu lokalisieren und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Andererseits gelingt es Organisationen der ambulanten Hilfe, diesen Nachteil durch die Mobilisierung von lokalen Ressourcen zum Teil wieder auszugleichen. Stationäre Betreuungseinrichtungen greifen dagegen kaum auf lokale Ressourcen zurück. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich nutzen die Organisationen Einkommensprojekte, um sich von den Zuwendungen Dritter unabhängig zu machen. Die Kostensenkung als Maßnahme zur Sicherung der Nachhaltigkeit von Programmen setzen vor allem ambulante Hilfeangebote ein. Im personellen Bereich greifen stationäre Betreuungseinrichtungen in einem größeren Umfang auf fest angestellte und bezahlte Arbeitskräfte zurück als ambulante Projekte. Insgesamt setzen aber auch im ambulanten Bereich insgesamt 81% der befragten Organisationen (n = 21) reguläre Mitarbeiter ein. Die Arbeit der Programme ließe sich vor allem in den ambulanten Hilfsprogrammen nicht ohne das Engagement ehrenamtlicher Hilfskräfte in der gegebenen Qualität und Quantität aufrechterhalten. Alle befragten Organisationen im ambulanten Bereich bauen aus diesem Grund auf Volontäre. Diese ehrenamtlichen Helfer rekrutieren sich in erster Linie aus dem unmittelbaren Umfeld der Organisation; ausländische Hilfskräfte kommen hingegen nur vereinzelt zum Einsatz. Auch stationäre Betreuungseinrichtungen profitieren vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter, allerdings kehrt sich das Verhältnis zwischen ausländischen und einheimischen Volontären im stationären Bereich um. Nur wenige Einrichtungen nutzen Freiwillige aus der Umgebung in der Betreuung und Versorgung ihrer Zöglinge; während die Autorin in fast allen Einrichtungen der institutionellen Erziehung ausländische Volontäre antraf. Die hohe Fluktuation der ausländischen Hilfskräfte, die zum großen Teil zwischen wenigen Tagen und drei Monaten in der Einrichtung arbeiten, führt bei den betreuten Kindern zu regelmäßigen Beziehungsabbrüchen und verhindert eine angemessene Kontinuität. 5.1.3 Wirkungskreis der Organisationen Die materiellen Einkünfte und die durchschnittlichen Kosten pro Waisenkind geben Auskunft über den Wirkungskreis der Organisation. Wirkungskreis be-
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zieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf den räumlichen Einzugsbereich, sondern auf das Vermögen der Organisation, einen möglichst großen Anteil der bedürftigen Kinder in ihrem Aktionsradius zu erreichen. Die Voraussetzung dafür besteht in der Identifizierung der Kinder, die von der Organisation als Zielgruppe definiert wurden. Ziel der Sozialen Arbeit in Tansania kann zurzeit nicht sein, dass alle Heranwachsenden Unterstützung erhalten; allerdings sollte jedes Kind einen Lebensstandard erreichen, der den lokalen Gegebenheiten entspricht und die gesunde Entwicklung nicht gefährdet. Aufgrund der geringen materiellen Ressourcen in Tansania und des Ausmaßes der Waisenkrise besteht die Notwendigkeit, mit wenigen finanziellen Mitteln eine möglichst große Zahl von Waisen angemessen zu versorgen. Je höher die durchschnittlichen Kosten pro Kind und je geringer die materiellen Einkünfte der Organisation desto niedriger ist der Wirkungskreis der Arbeit. Die Analyse der unterschiedlichen Wirkungskreise im ambulanten und stationären Bereich sowie deren Vergleich erweisen sich nur als sinnvoll, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Zielgruppe in beiden Bereichen einander weitestgehend entspricht. Wäre die stationäre Versorgung für alle Kinder, die in diesen Einrichtungen leben, die einzige praktizierbare Möglichkeit, wäre die Frage nach dem Wirkungskreis sekundär. Auch bei geringen Klientenzahlen und hohen Kosten wäre bei einem reellen Bedarf und fehlenden Alternativen die Berechtigung von institutioneller Erziehung gesichert. Das Kapitel 5.1.1 zeigte diesbezüglich bereits, dass nicht alle Kinder in stationären Einrichtungen auf institutionelle Betreuung angewiesen sind. Bei vielen Kindern gäbe es Verwandte, die sie aufnehmen würden, wenn sie dazu finanziell in der Lage wären. Ronald Posein, Leiter eines Kinderheims in Mwanza, hat diese Erfahrung selbst gemacht: „Die Familieneinheit kann die [verwaisten] Kinder, die da sind, nicht länger absorbieren. Es ist nicht, weil sie es nicht wollen; nicht, weil sie nicht das Mitgefühl und das Herz haben. Sie können es einfach nicht.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Ein Großteil der Kinder in den besuchten Projekten gehört in der Regel zur gleichen Zielgruppe wie Kinder in ambulanten Hilfsprogrammen und könnte durch individualisierte Hilfe im materiellen und psychosozialen Bereich innerhalb ihrer Familien unterstützt werden. Die Frage nach dem Wirkungskreis ist daher zweckmäßig für die vorliegende Arbeit. Identifizierungsprozess als Einflussfaktor auf den Wirkungskreis Beim Wirkungskreis sozialer Organisationen kommt es vor allem darauf an, die Menschen zu erreichen, die als Zielgruppe definiert wurden. Bei den untersuch-
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ten Programmen umfasst die Zielgruppe vor allem Waisen, aber auch andere Kinder mit vergleichbaren Problemen. Da es keine unabhängigen Daten über die Anzahl von bedürftigen Kindern in den einzelnen Gebieten Tansanias gibt, lässt sich nicht eindeutig feststellen, inwieweit sich die Organisationen in der Lage befinden, den vorhandenen Hilfebedarf zu decken. Einzig der Identifizierungsprozess des Projektes gibt Aufschluss darüber, ob die Organisation die Fähigkeit besitzt, potenzielle Klienten ausfindig zu machen, deren Bedürfnisse festzustellen und entsprechende Hilfe zu leisten. Zur Identifizierung von hilfsbedürftigen Kindern gehen ambulante Hilfsprogramme und stationäre Betreuungsangebote zum Teil unterschiedliche Wege. Die Abbildung 95 zeigt, auf welche Kooperationspartner die Organisationen bei der Lokalisierung potenzieller Klienten setzen. Abbildung 95: Kooperationspartner im Identifizierungsprozess
80% der befragten ambulanten Hilfsprogramme (n = 20) arbeiten mit der lokalen Verwaltung oder den staatlich initiierten MVC-Komitees (Kap. 2.2.4) zusammen, um die Kinder mit dem dringendsten Bedarf zu identifizieren. Die Vertreter der lokalen Verwaltung bzw. die Mitglieder der MVC-Komitees dienen der Bevölkerung als direkte Ansprechpartner bei Problemen. Stellen die Menschen fest, dass ein Kind nicht ausreichend versorgt wird oder ein Verdacht auf Misshandlung besteht, verständigen sie den Dorfvorsteher oder ihren Ten-Cell-Leader707 bzw. ein Mitglied des MVC-Komitees. Diese können der Sache nachgehen und bei Bedarf eine Hilfsorganisation einschalten. Umgekehrt können Mitarbeiter 707 Eine Ten-Cell-Einheit bildet die unterste Verwaltungsebene in Tansania und setzt sich aus zehn Haushalten zusammen, die von einem Repräsentanten vertreten werden.
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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von Projekten an die Vertreter der lokalen Verwaltung herantreten und sie bitten, hilfsbedürftige Kinder zu identifizieren. Die Organisation Youth Life Relief Foundation, die in einem Stadtteil von Dar es Salaam arbeitet, steht beispielhaft für viele ambulante Projekte, die diesen Weg gehen (Abb. 96). Abbildung 96: Beispiel: Die lokale Verwaltung als Partner im Identifizierungsprozess Die Organisation Youth Life Relief Foundation beauftragte die lokalen Verwaltungen, die für jeweils eine befestigte Straße sowie die umliegenden Gebiete zuständig sind, je fünf Familien mit Hilfebedarf in ihrer Verwaltungseinheit ausfindig zu machen. Die Vorteile der Kooperation mit Vertretern der lokalen Verwaltung liegen für die Verantwortlichen der Organisation auf der Hand: „Die lokale Verwaltung kennt ihre Leute gut, sie wissen wo infizierte Menschen sind, sie wissen wo Waisen sind. Deshalb ist es einfach für sie, ihnen zu helfen.“ (Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Autorin begleitete einen Tag lang die Volontäre zu den Treffen mit den Mitarbeitern der lokalen Verwaltung sowie zu den Hausbesuchen bei den betroffenen Familien zur Verifizierung der Angaben. „Wir gehen zu ihnen und wir sprechen mit ihnen. Wir versuchen festzustellen, was sie machen und was sie wirklich benötigen. Und wir sehen mit unseren Augen, was sie tatsächlich brauchen. […] Wir müssen sie erst besuchen, aber dann, ausgehend von dem Besuch, den wir gemacht haben, müssen wir einen sehr guten Plan für Waisen und gefährdete Kinder vorbereiten.“ (Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Überprüfung der erhaltenen Informationen bildet einen zentralen Bestandteil des Identifizierungsprozesses. Nur so lässt sich die Bevorzugung einzelner Haushalte durch Mitarbeiter der Verwaltung verhindern. (Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania)
Als weitere Möglichkeit, Kinder mit einem Hilfebedarf zu lokalisieren, bewährte sich der Einsatz von Volontären. 75% der ambulanten Projekte (n = 20) nutzen diesen Weg. In der Regel verfügen ambulante Projekte über ein dichtes Netz von Volontären, die einen genau definierten Bereich abdecken. Die ehrenamtlichen Helfer, die oft selber in dem Gebiet wohnen, für das sie Verantwortung tragen, kennen die Menschen genau. Sie erfahren, wenn jemand stirbt und Kinder zurücklässt, und sie wissen, in welchen Familien Probleme bei der Versorgung bestehen. Da die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Organisationen in ihrem Gebiet bekannt sind, können sich die Menschen vor Ort direkt an sie wenden. Auf diese Weise erhält die Organisation einen genauen Einblick in die Viertel und kann gezielt mit den Kindern arbeiten, die Hilfe benötigen. Jeweils 55% der ambulanten Organisationen (n = 20) kooperieren mit Schulen, religiösen Gemeinschaften und den betroffenen Familien und Kindern. In allen Fällen spielt die Verifizierung der gemachten Angaben eine wichtige Rolle. „Wenn sie [die Familien] kommen, um nach Informationen zu fragen, gehen wir zu ihnen nach Hause, um zu recherchiere, und dann fragen wir die Nachbarn rundherum, denn manchmal bekommt man nicht die wahren Geschichten.“ (In-
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terview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Es überrascht, dass nicht mehr befragte Projekte aus dem ambulanten Bereich angeben, dass sich die Betroffenen selbstständig an die Organisation wenden. Dies kann einerseits bedeuten, dass die Identifizierungsmechanismen so gut funktionieren, dass keine Notwendigkeit für das selbstständige Herantreten an die Organisation besteht. Andererseits könnte es aber auch heißen, dass sich die betroffenen Familien vielleicht gar nicht in der Lage befinden, sich eigenständig an Hilfsprojekte zu wenden. Die Ursachen dafür könnten beispielsweise in fehlenden Informationen über die Unterstützungsangebote, in unzureichenden Mitteln für den Transport oder im Schamgefühl bezüglich des eigenen Unvermögens, für die Kinder zu sorgen, liegen. Ein Blick auf die Angaben der stationären Hilfsangebote zeigt allerdings, dass die Menschen durchaus eigenständig Hilfe einfordern. Im stationären Bereich bilden die betroffenen Familien bzw. Kinder, die wichtigste Identifizierungsquelle für einen Hilfebedarf. 82% der befragten Organisationen (n = 17), die stationäre Versorgung anbieten, berichten, dass Kinder und Familien alleine zu ihnen kommen und um Hilfe bitten. In Institutionen, in denen Straßenkinder ein neues Zuhause oder vorübergehende Unterkunft finden, kommen die Heranwachsenden häufig selber oder sprechen auf der Straße den Sozialarbeiter an. In anderen stationären Einrichtungen erscheinen Verwandte mit verwaisten Familienangehörigen und erklären, dass sie nicht über die Kapazitäten verfügen, sich um die Kinder zu kümmern. Bei der Eigenmeldung von betroffenen Kindern und Familien bleibt offen, ob auf diese Weise die am stärksten gefährdeten Kinder erreicht werden. Die Vermutung, dass sich gerade die Hilfsbedürftigsten nicht in der Lage befinden, aktiv Unterstützung zu suchen, erscheint angebracht. Neben den betroffenen Kindern und Familien ist die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Beamten des Wohlfahrtsamtes im stationären Bereich wesentlich bei der Identifizierung von Klienten und der Verifizierung des Hilfebedarfs. Jedes Kind, das in einer stationären Einrichtung Aufnahme findet, sollte dem Amt gemeldet sein. Dem Beamten kommt die Pflicht zu, den Bedarf in jedem Einzelfall zu überprüfen und die Genehmigung einer stationären Unterbringung auszustellen (Kap. 4.3.1). „Da wir die Kinder von der Regierung [der Wohlfahrtsbehörde] erhalten, ist es die Aufgabe der Regierung, das Kind zu befragen oder die lokalen Führer. […] Sie fragen uns an: “Haben Sie Platz?“ Ich sage: „Ja“. Wenn man keinen Platz hat, fragen sie die anderen [Heime].“ (Interview mit F. Fredrick am 25.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch wenn die Mitarbeiter stationärer Einrichtungen teilweise bei der Verifizierung des Bedarfs helfen, indem sie Informationen über das Kind einholen, liegt die endgültige Entscheidung über die stationäre Unterbringung beim zuständigen
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Beamten. Die schlecht ausgestatteten Behörden sind mit dieser Aufgabe häufig überfordert. Kosten als Einflussfaktor auf den Wirkungskreis Beim Vergleich der Kosten zeigt sich, dass die stationäre Betreuung deutlich teurer ist als ambulante Hilfsangebote. Die Autorin fragte Organisationen aus dem ambulanten und stationären Bereich nach den durchschnittlichen Jahreskosten pro Kind. Die Kosten beinhalten alle Ausgaben des Waisenprogramms inklusive der Zuwendungen für die Waisen und ggf. für ihre Familien, der Verwaltungskosten des Projekts und der Gehälter für die Angestellten. Die Gesamtkosten eines Jahres geteilt durch die Zahl der betreuten Kinder ergeben die durchschnittlichen Jahreskosten pro Kind. Die Durchschnittskosten stellen nur eine Orientierung dar, denn die Kosten pro Kind unterscheiden sich in den einzelnen Einrichtungen je nach Alter und Bedürfnislage. Die Vereinfachung ermöglicht jedoch einen Kostenvergleich zwischen unterschiedlichen Versorgungsangeboten, der mit einer detaillierten Kostenaufschlüsselung nicht auf gleicher Weise zu erreichen wäre. Die Abbildung 97 gibt einen Überblick über den Kostenvergleich. Die durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Kind betragen im ambulanten Bereich 84 Euro und im stationären Bereich 841 Euro. Demnach ist die stationäre Unterbringung eines verwaisten Kindes zehnmal so teuer wie die ambulante Versorgung. Für die Betreuung eines Kindes in Einrichtungen der institutionellen Erziehung ließen sich zehn Kinder ambulant versorgen. Abbildung 97: Vergleich der jährlichen Kosten pro Kind in ambulanten und stationären Unterstützungsangeboten
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Die Kosten pro Kind variieren in den elf befragten ambulanten Hilfsprogrammen entsprechend der Angebotspalette und der Zusammensetzung der Klienten. Die Differenzen der durchschnittlichen Jahreskosten in den unterschiedlichen Organisationen im ambulanten Bereich reichen von 4 Euro bis 272 Euro pro Kind. Die ambulanten Hilfsprogramme setzen materielle Unterstützung immer nur dann ein, wenn die Angehörigen des Kindes und das weitere soziale Umfeld mit der Versorgung überfordert sind. Die geringen Pro-Kopf-Ausgaben beruhen demnach auf den unterschiedlichen Bedürfnissen der Klienten; nicht alle Kinder benötigen umfangreiche materielle Hilfe, in einigen Fällen reichen Beratungsangebote und psychosoziale Unterstützung aus. Die Ausgaben für das ambulante Hilfsprogramm mit den höchsten Kosten pro Kind (272 Euro) blieben dementsprechend deutlich unter der günstigsten stationären Betreuungseinrichtung (503 Euro). Die Kosten in den sechs befragten Einrichtungen der institutionellen Versorgung erstrecken sich bis zu maximal 1.195 Euro pro Kind und Jahr. Diese Ausgaben umfassen nur den laufenden Unterhalt, nicht aber die Anfangsinvestitionen für den Bau und die Ausstattung der Einrichtung. Die verhältnismäßig hohen Kosten für einen stationären Betreuungsplatz entsprechen den Erwartungen. Die Übernahme aller Versorgungsausgaben und Betreuungsaufgaben für ein Kind ist kostenintensiver als individualisierte Unterstützungsangebote, bei denen die Verwandtschaft ihren Teil der Verantwortung trägt. Hinzu kommt, dass Einrichtungen der institutionellen Versorgung in der Regel nicht dem landestypischen Lebensstandard entsprechen. Das Kapitel 5.1.1 veranschaulichte, dass sich die Versorgung der Kinder häufig an westlichen Maßstäben orientiert. Dies macht die Betreuung der Kinder in Einrichtungen der institutionellen Erziehung gegenüber der ambulanten Unterstützung vergleichsweise teuer (Abb. 98). Abbildung 98: Kostenvergleich: Bildungsförderung im stationären und ambulanten Bereich Ein Beispiel soll im Folgenden die Diskrepanz zwischen stationärer Versorgung und ambulanter Hilfe verdeutlichen. Das Heim Starehe ermöglicht seinen Zöglingen im Primarschulalter den Besuch von English Medium Schools. Die Schulkosten betragen pro Kind circa 650 US-Dollar (474 Euro) pro Jahr (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania). Mit dem gleichen Betrag könnte 100 Schülern der Besuch einer öffentlichen Primarschule ermöglicht werden, indem sie eine Schuluniform für 5.000 TSH (2,81 Euro) und Schulmaterial für 3.000 TSH (1,69 Euro) erhalten (Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania).
Bei den Kosten befinden sich stationäre Betreuungsangebote im Nachteil gegenüber ambulanten Projekten. Andererseits konnte bereits nachgewiesen werden, dass Organisationen aus dem stationären Bereich bessere Möglichkeiten haben,
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Spendengelder aus dem Ausland zu akquirieren (Kap. 5.1.2). Dies stellt auf der Einkommensseite wiederum einen Vorteil dar. Trotzdem gelingt es den Einrichtungen der institutionellen Versorgung nicht, den gleichen Wirkungskreis wie ambulante Projekte zu erzielen. Ambulante Hilfsangebote erreichen mit ihrer individualisierten Unterstützung eine größere Anzahl von Kindern. Die Abbildung 99 visualisiert die unterschiedlichen Wirkungskreise von ambulanten und stationären Hilfsangeboten. Von den 24 befragten Organisationen aus dem ambulanten Bereich erreichten 33% weniger als 100 Kinder, 25% zwischen 100 und 500 Kinder, 17% zwischen 500 und 1.000 Kinder und 25% über 1.000 Kinder. Die Organisation im stationären Bereich mit dem größten Wirkungskreis gab zum Zeitpunkt der Befragung 154 Kindern in insgesamt vier Heimen ein neues Zuhause. 708 74% der 19 befragten stationären Einrichtungen betreuen weniger als 100 Kinder und 26% versorgen mehr als 100 Kinder. Der geringere Wirkungskreis von Einrichtungen der institutionellen Versorgung ergibt sich unter anderem aus ihrem speziellen Profil. Die hohen Kosten und die konzeptuelle Ausrichtung einer stationären Einrichtung begrenzen die Aufnahmekapazität. Abbildung 99: Wirkungskreis stationärer und ambulanter Unterstützungsangebote
Der kleine Wirkungskreis der stationären Betreuungsangebote führt dazu, dass sich die Ausgaben der Einrichtungen auf einige wenige Kinder konzentrieren. Martin Burkhardt, Mitbegründer des ambulanten Waisenprojektes HUYAWI im 708
Vgl. Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
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Jahr 2002, beschreibt die Folgen für die Waisenversorgung: „Seit wir eigentlich angefangen haben, haben wir immer gesagt „Waisenhäuser sind nicht die Lösung“. Und es sind leider in der Zeit in unserer Diözese im Prinzip drei Waisenhausprojekte gestartet worden, in der Zusammenarbeit mit der Kirche. Und das haben wir leider nicht verhindern können. Wenn wir dieses ganze Geld, was da investiert worden ist, für diese Arbeit, die wir aufgebaut haben, zur Verfügung hätten, dann hätten wir im Prinzip heute schon 80% Reichweite, 80% der Waisen erreicht. Und so werden Unsummen für vielleicht 500 Waisen verschwendet, nicht mal, nicht mal. […] Für das Geld, was ein Waisenhausplatz kostet, kann man denen ein tolles Haus hin bauen, ein wirtschaftliches Projekt aufbauen.“ (Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania). Fazit Sowohl ein geeigneter Identifizierungsprozess als auch die Pro-Kopf-Ausgaben sowie die Einnahmen der Organisation entscheiden über den Wirkungskreis sozialer Hilfsprogramme. Trotzdem sich stationäre Betreuungseinrichtungen bei der Erschließung umfangreicher finanzieller Ressourcen im Vorteil befinden, erreichen ambulante Hilfsprogramme aufgrund ihres Identifizierungsprozesses und geringerer Pro-Kopf-Ausgaben einen größeren Wirkungskreis. Im ambulanten Bereich bleibt die Hauptverantwortung für die Versorgung der verwaisten Kinder bei den Familien. Dies wirkt sich positiv auf die Ausgaben der Organisation aus und ermöglicht die Arbeit mit einer entsprechend höheren Anzahl an bedürftigen Kindern. Die Pro-Kopf-Ausgaben in den stationären Betreuungseinrichtungen, die das Zehnfache der Kosten im ambulanten Bereich betragen, ergeben sich aus der vollständigen Verantwortungsübernahme für die Versorgung der betreuten Zöglinge sowie die überdurchschnittliche Lebensqualität in vielen Einrichtungen. Doch nicht nur die Zahl der Adressaten, die von den Programmen profitieren, ist in den ambulanten Hilfsprogrammen größer als im stationären Bereich. Die Organisationen eignen sich aufgrund ihrer Organisationsstruktur darüber hinaus besser als stationäre Einrichtungen zur Identifizierung der bedürftigen Kinder in ihrem Einzugsbereich. Durch das dichte Netz von Volontären sowie die Zusammenarbeit mit MVC-Komitees bzw. der lokalen Verwaltung befinden sie sich dicht an der Lebenswelt der Kinder. Sie gehen bei der Lokalisierung von bedürftigen Heranwachsenden in der Regel strukturierter vor und können dadurch genau definierte Gebiete abdecken. Organisationen im stationären Bereich vertrauen anders als ambulante Projekte in erster Linie auf Eigenmeldungen der betroffenen Kinder und Familien und/oder auf die Entscheidungen der
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Wohlfahrtsbehörde. Die Überforderung und schlechte Ausstattung der Beamten lässt eine genaue Erhebung der Lebensumstände nicht immer zu. Dies verhindert, dass alle Kinder im Einzugsgebiet einer Einrichtung der institutionellen Erziehung, die aufgrund mangelnder Versorgung, Misshandlung oder Vernachlässigung einen reellen Bedarf für eine stationäre Unterbringung aufweisen, fremdplatziert werden. Ebenso wenig ist garantiert, dass die institutionelle Erziehung für alle Kinder, die in Fremdbetreuung leben, die adäquate Hilfeform darstellt. 5.1.4 Schaffung eines gelingenderen Alltags Um zu überprüfen, ob institutionelle Erziehung bzw. ambulante Hilfe zu einem gelingenderen Alltag ihrer Klienten beiträgt, muss zuvor definiert werden, was „gelingenderer Alltag“ bedeutet. Thiersch und Grunwald (2004) geben in ihren Ausführungen zur lebensweltorientierten Sozialen Arbeit keine normative Definition: „Im Kontext des Konzepts der Lebensweltorientierung wird vor allem betont, dass in den heutigen, unübersichtlichen und brüchigen Lebensverhältnissen normative Vorgaben nicht einfach vorgegeben werden, sondern für die unterschiedlichen Lebenskonstellationen und individuellen Lebensentwürfe riskiert und ausgehandelt werden müssen.“ (Thiersch und Grunwald 2004, S. 22). Die Bedeutung eines gelingenderen Alltags, das heißt die Zielstellung der Unterstützung, hängt von den jeweiligen Lebensumständen und persönlichen Zielen des Adressaten der Hilfe ab. Den Hilfeleistenden kommt dabei die Aufgabe zu, zwischen den Widersprüchlichkeiten der Lebenswelt zu vermitteln. Dazu bedarf es „Respekt vor gegebenen Alltagsstrukturen und Destruktion der Pseudokonkretheit des Alltags“ (Thiersch und Grunwald 2004, S. 24). Respekt bezieht sich auf die Wertschätzung und Anerkennung der individuellen Erfahrungen und Bewältigungsstrategien des Betroffenen. Diese müssen in der Arbeit anerkannt und genutzt werden. Ein gelingenderer Alltag lässt sich allerdings nicht ohne Destruktion erreichen. Diese zielt auf das Aufzeichnen alternativer Optionen sowie die Überwindung hemmender Handlungsmuster und Routinen. Die Umsetzung von Respekt und Destruktion muss in einem Aushandlungsprozess zwischen Hilfeempfänger und Hilfeleistendem erfolgen. In diesem Aushandlungsprozess lässt sich die Zielsetzung der Hilfe, das heißt die Bedeutung eines gelingenderen Alltags für den Einzelnen, definieren. 709 Die Hilfe zu einem gelingenderen Alltag unterscheidet sich von Fall zu Fall. Es lässt sich demzufolge nur schwer erheben, ob Organisationen die Zielsetzung 709
Vgl. Thiersch und Grunwald (Hrsg.) 2004, S. 22 ff.
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erreichen oder nicht. Um zu untersuchen, ob sich Organisationen aus dem ambulanten und stationären Bereich in der Lage befinden, ihren Klienten zu einem gelingenderen Alltag zu verhelfen, muss die Bestimmung eines gelingenderen Alltags auf der Metaebene geschehen. Folgende zwei Faktoren, die im Rahmen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag leisten, lassen sich identifizieren: Hilfe zur Selbsthilfe und individualisierte Hilfe. Hilfe zur Selbsthilfe als Beitrag zu einem gelingenderen Alltag Thiersch (2002) betont in seinen Ausführungen, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit die Adressaten der Hilfe in die Lage versetzen soll, sich als Akteure in ihren Verhältnissen zu erleben. Dazu besteht die Notwendigkeit, den Menschen bei der Lebensbewältigung und bei der Auseinandersetzung mit alltäglichen Herausforderungen zur Seite zu stehen. Dies bedeutet nicht, dass der Hilfeleistende quasi an Stelle des Betroffenen die Schwierigkeiten und Probleme bewältigt. Vielmehr soll der Problemlösungsprozess angeregt und unterstützt werden. Dabei spielt die Anerkennung von individuellen Bewältigungsmustern eine wesentliche Rolle für den Erfolg der Maßnahmen. Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass die Hilfe eigene Stärken untergräbt und sich zu einer Barriere für Selbsttätigkeit entwickelt. Unterstützung im Sinne der Lebensweltorientierung muss dementsprechend immer auch Hilfe zur Selbsthilfe sein. 710 Hilfe zur Selbsthilfe bildet somit ein wesentliches Element, wenn die Soziale Arbeit einen gelingenderen Alltag ihrer Klienten anstrebt. „Soziale Arbeit […] versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe, als Unterstützung in den Problemen, die aus den Ressourcen der Lebenswelt nicht bewältigt werden können; sie vermittelt Hilfen, Anregungen, Unterstützungen und Provokationen zu neuen Bewältigungsmustern für ein gelingenderes Leben.“ (Thiersch 1995, S. 229). Menschen, die für sich selbst sorgen, ihre Probleme eigenständig lösen und vorhandene Ressourcen effizient nutzen, erleben ihren Alltag sehr wahrscheinlich als gelingender als Menschen, die sich im täglichen Leben überfordert fühlen und in Notsituationen auf externe Hilfe vertrauen müssen. Wichtig ist nicht nur die Fähigkeit, sich selbst eine Lebensgrundlage zu erarbeiten und auftretende Schwierigkeiten zu überwinden; wesentlich für das Empfinden eines gelingenderen Alltags ist das Gefühl, welches Selbsttätigkeit vermittelt. Das Gefühl, dem Leben trotz der verschiedensten Herausforderungen gewachsen zu sein, gibt Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Potenziale. Die Menschen erle710
Vgl. Thiersch 2002, S. 40 ff.
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ben sich als Subjekte ihrer Lebenswelt. Dies lässt sich in der Regel nicht erreichen, wenn die Organisationen den Menschen die Rolle des passiven Hilfeempfängers zuschreiben. Institutionelle Erziehung zielt in der Regel nicht auf die Selbstständigkeit von Familien mit Waisen. Organisationen aus dem stationären Bereich betrachten die betreuten Kinder losgelöst von ihren verwandtschaftlichen Beziehungen. Die Zöglinge der Einrichtung gelten als primäre Hilfeempfänger. Die Heranwachsenden sind, solange sie in stationärer Erziehung leben, zu 100% abhängig von der Versorgung und Betreuung durch die Einrichtung. Der fehlende Einbezug der Familien und die Konzentration auf das betroffene Kind schließen aber nicht aus, dass sich stationäre Angebote als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen. Als oberstes Ziel aller stationären Einrichtungen gilt die zukünftige Unabhängigkeit der Heranwachsenden. Sie sollen das Wissen und die Mittel erhalten, die ihnen nach dem Aufenthalt in der Einrichtung ein eigenständiges Leben ohne weitere finanzielle Förderung ermöglichen. Die Hilfe zur Selbsthilfe zielt auf die Zukunft der jungen Menschen. Inwieweit sie gelingt, wird im Kapitel 5.1.5 untersucht. Institutionelle Erziehung ist demnach zukunftsorientiert. Das Ziel besteht nicht darin, Kinder und deren Angehörige möglichst zeitnah in die Lage zu versetzen, selbstständig die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Straßenkindprojekte und Säuglingsheime bilden im tansanischen Kontext Ausnahmen. In beiden Bereichen zielen viele Organisationen auf die Reintegration. Säuglingsheime verstehen sich von jeher nur als zeitlich begrenzte Betreuungsalternative für besonders gefährdete Kleinkinder, denen die mütterliche Fürsorge fehlt. Die Unterbringung von Straßenkindern in einem Heim betrachten die Verantwortlichen ebenfalls zunehmend als mittelfristige Lösung, die langfristig in die Rückkehr zu Familienangehörigen münden soll. In den Fällen, in denen die Unterbringung der Kinder und die Arbeit der Organisation auf die Reintegration zielen, leistet die stationäre Betreuung einen Beitrag zur Selbsthilfe. Die völlige Unabhängigkeit von externer Unterstützung gilt nicht als primäres Ziel, dennoch wird den Familien geholfen, die Verantwortung für die Kinder in weiteren Bereichen wieder eigenständig zu übernehmen. Ambulante Organisationen streben danach, gefährdete Kinder von Beginn an in ihrem familiären Umfeld zu halten. Sie unterstützen damit die Form der Selbsthilfe, die sich als traditionell verankerte Antwort auf die Waisenkrise verstehen lässt. Die Unterstützung durch die Programme soll die Familie in die Lage versetzen, ihre Betreuungs- und Versorgungsaufgaben langfristig selbstständig zu erfüllen. In einigen Fällen verhindert allerdings die Form der Unterstützung die Selbsttätigkeit der Hilfeempfänger. Fast alle Programme leisten materielle Unterstützung in den Bereichen, die von der Verwandtschaft nicht getragen werden können. Adolf Mrema von der Organisation Southern African AIDS Trust
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erklärt, dass diese Form der Hilfe in der Regel nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung im Alltag der Klienten führt: „Ich habe Organisationen gesehen, die Uniformen bereitstellen, die Essen bereitstellen, aber ich bezweifle deren Nachhaltigkeit. Ich bevorzuge, wenn Betreuer durch Unterstützung für kleine Einkommensprojekte befähigt werden, so dass sie dauerhaft qualitativ hochwertige Hilfe für die Waisen leisten können. Statt in einem Jahr den Waisen Schuluniformen zu geben und im nächsten Jahr hat die Organisation kein Geld.“ (Interview mit A. Mrema am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Stärkung der wirtschaftlichen Kapazitäten der betreuten Familien und Waisen, damit sie langfristig für sich selbst sorgen können, sehen viele Projekte als sekundär an. Die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse steht häufig an erster Stelle. Die punktuelle Unterstützung von Familien mit Waisen kann kurzzeitig zu einem gelingenderen Alltag beitragen, am grundlegenden Zustand verändert sich nichts. Langfristig erweist sich die Hilfe zur Selbsthilfe als sicherere Methode, um Verbesserungen im Leben der Familie und der Waisen zu bewirken und Selbsttätigkeit zu ermöglichen. Die Gründe, warum nicht mehr Projekte im ambulanten Bereich einkommenschaffende Maßnahmen anbieten, liegen vor allem in einem fehlenden Bewusstsein für die Notwendigkeit und in unzureichenden Kenntnissen über die unterschiedlichen Konzepte in diesem Bereich. Viele Projekte befürchten, dass die Hilfe zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Klienten mit hohen Kosten verbunden ist. Diese Annahme entspricht nicht immer der Realität. Einige Einkommensprojekte, beispielsweise die Vergabe von Krediten oder die finanzielle Hilfe beim Aufbau eines landwirtschaftlichen Projektes, benötigen einen finanziellen Input, aber es bestehen daneben weitere Möglichkeiten, die geringere oder keine Ausgaben erfordern. Die Organisation von Spargruppen oder Rotationssystemen kann unabhängig von den finanziellen Kapazitäten des Projektes geschehen. Die Mitglieder der Gruppe kommen regelmäßig zusammen und jedes Gruppenmitglied leistet bei dem Treffen einen gemeinsam festgelegten Beitrag. Die Aufgaben der Organisation beschränken sich auf die Beratung und Kontrolle der Gruppe sowie auf die Vermittlung wesentlicher Kenntnisse der Geschäftsführung. Trotzdem die vorgestellten Maßnahmen keine finanziellen Investitionen verlangen, integrieren fast ausschließlich größere Organisationen mit einer breiten Angebotspalette einkommenschaffende Maßnahmen in ihre Programme. Einkommenschaffende Maßnahmen, die auf Selbsttätigkeit zielen, haben aber auch ihre Grenzen. Daniel Smart von der Organisation HelpAge International weiß aus eigener Erfahrung, dass viele alte Betreuer von Waisen körperlich nicht die physischen Kapazitäten zur Erwirtschaftung eines eigenen Einkommens besitzen. Die Aktivitäten zur Einkommenssteigerung müssen den Möglichkeiten der älteren Menschen entsprechen; für einige bleibt als einzige effekti-
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ve Hilfe die direkte finanzielle Unterstützung.711 Auch von Kindern in Kinderhaushalten kann nicht verlangt werden, dass sie ihren gesamten Lebensunterhalt selbst erwirtschaften. Regelmäßige Zuwendungen von Organisationen über einen längerfristigen Zeitraum können in diesen Fällen sinnvoll sein, um ihnen Bildungschancen und ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Hilfe zur Selbsthilfe im ambulanten Bereich beschränkt sich nicht allein auf die wirtschaftliche Situation von Familien und gefährdeten Kindern. „Neben der Steigerung ihrer Wirtschaftskraft müssen sie geschult werden, wie sie Aspekte, wie Stress und all die Probleme, welchen die Kinder ausgesetzt sind, bewältigen können. Um sicher zu stellen, dass sie eine gute Umgebung haben, wo die Kinder in der Lage sind, auf eine Art und Weise aufzuwachsen, die sie psychologisch stabil macht. Ansonsten werden die ganzen Bemühungen nicht zu den gewünschten Zielen führen.“ (Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Beziehungsprobleme, der Umgang mit Trauer, Verhaltensauffälligkeiten und Diskriminierung innerhalb der Familien können das Zusammenleben belasten und zu einem Nichtgelingen im Alltag führen. Psychosoziale Unterstützungsangebote ambulanter Hilfsprogramme leisten einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag, da sie Betreuer und Waisen in die Lage versetzen, die Beziehungen innerhalb der Familie zu verbessern, Kommunikation zu ermöglichen und verfestigte Probleme zu bearbeiten. Die psychosozialen Angebote umfassen je nach Angebotspalette der Organisation Erziehungsberatung, Trauerseminare, Peerberatung, Gruppenangebote für Kinder, spezielle Waisentreffen, Hausbesuche und Seminare für Betreuer (Kap. 4.1.2). Individualisierte Hilfe als Beitrag zu einem gelingenderen Alltag Ein gelingenderer Alltag kann nur geschaffen werden, wenn sich die Hilfe an den individuellen Problemen und Ressourcen der Klienten orientiert. Thiersch spricht in diesem Zusammenhang von einer Offenheit in der Sozialen Arbeit. Offenheit steht dabei für die Bereitschaft der Sozialen Arbeit auf die individuell unterschiedlichen Lebenskonstellationen einzugehen: „Individualisierung verlangt vielfältige, unterschiedliche, auf individuelle Konstellationen bezogene Hilfsangebote“ (Thiersch 1995, S. 234). Offenheit im Hilfeprozess schafft die Gelegenheit zum Eingehen auf die verschiedenen Bedürfnisse sowie zur Nutzung vorhandener Ressourcen und individueller Bewältigungsstrategien. Lebenslagen müssen nicht in Kategorien gepresst werden, um dem Hilfsangebot zu entsprechen; vielmehr soll sich die Unterstützung nach den Lebenslagen richten. 711
Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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Dies bedeutet, dass sich Umfang und Art der Unterstützung von Fall zu Fall unterscheiden sowie die Möglichkeit für unkonventionelle Hilfsangebote bestehen muss. Für jede Gemeinde, für jede Familie und für jedes Kind bedarf es eines individuellen Hilfspaketes. Je stärker die Maßnahmen den Bedürfnissen und den Potenzialen entsprechen, desto eher eignet sich die Unterstützung zur Schaffung eines gelingenderen Alltags. Offenheit ohne Struktur verhindert allerdings Verlässlichkeit und bereitet den Boden für Beliebigkeit. Soziale Arbeit im Sinne der Lebensweltorientierung baut auf ein kommunikatives Modell, welches die Auseinandersetzung mit dem Gegebenen und die Definition des Zukünftigen ermöglicht. Der Hilfeprozess sowie die Ziele müssen zwischen Hilfeleistendem und Hilfeempfänger ausgehandelt werden. 712 Ambulante Organisationen setzen mehr oder weniger stark auf individualisierte Hilfe. Die Unterstützung setzt gezielt an den Problemen an, die zu einer Blockade, zu einem Nicht-Gelingen, im Alltag führen. Um diese individualisierte Hilfe zu erreichen, besteht die Notwendigkeit für einen präzisen Identifizierungsprozess (Kap. 5.1.3), der unter anderem die Verifizierung der Bedürfnisse jeder einzelnen Familie beinhaltet. Betroffene Haushalte, Lehrer, Mitarbeiter der Organisationen und Vertreter der Gemeinden tragen zur Lokalisierung der bedürftigen Kinder bei. Anschließend erfolgt die Befragung von Waisen und ihren Familien bezüglich ihrer Probleme sowie der notwendigen Unterstützung. Bei den Hausbesuchen der Organisation Youth Life Relief Foundation, welche die Autorin begleiten konnte, zeigte sich deutlich, dass sich der Bedarf in den einzelnen Familien bis zu einem gewissen Grad gleicht. Psychosoziale Unterstützung und bildungsbezogene Förderung stehen in der Regel im Vordergrund. Hinzu kommt je nach Familie die Notwendigkeit für ein Einkommensprojekt, medizinische Unterstützung, Reparaturen am Haus, rechtliche Beratung und andere spezifische Angebote.713 Die Hilfe der ambulanten Programme richtet sich in der Regel nach den individuellen Problemlagen der Klienten. Die begrenzten Mittel der Organisationen sorgen dafür, dass die Programme die Bedürfnislagen der Waisen genau prüfen. Ubalda Kessy von der Organisation Rainbow Centre in Moshi beschreibt das Vorgehen folgendermaßen: „Was die Familie bieten kann, stellen wir nicht zur Verfügung. Vielleicht können die Familie oder die Pflegeeltern eine Uniform, Schuhe und alles beschaffen, aber das Kind hat keine Hefte und keinen Stift, dann machen wir das. Und andere Pflegeeltern haben absolut gar nichts, und dann müssen wir alles machen. Aber wir bringen ihnen bei, nicht darauf zu vertrauen und wir müssen eine Verlaufskontrolle des Kindes in der Schule durch712 713
Vgl. Thiersch 1995, S. 234. Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 24.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
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führen.“ (Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die geringen finanziellen Ressourcen der Organisationen haben einen positiven Nebeneffekt, denn sie sorgen dafür, dass nur die Bedürfnisse erfüllt werden, welche die jeweilige Familie nicht selbst befriedigen kann. Andererseits bringen die begrenzten Mittel der Projekte auch Nachteile mit sich. Nicht immer werden die Projekte den individuellen Bedürfnissen der Waisen und ihrer Familien gerecht. Das Budget der Organisation, das Ausmaß der Waisenkrise und die Fülle der individuellen Probleme schränken die geleistete Arbeit ein. Obwohl ambulante Organisationen in der Regel individualisierte Hilfe leisten, bedeutet dies nicht, dass die Angebotspalette und die Kapazitäten ausreichen, um alle Erwartungen abzudecken. Differenzen im Erfolg der einzelnen Organisationen liegen unter anderem in den unterschiedlichen Hilfsprogrammen. Zum Beispiel bietet die Organisation PASADA in Dar es Salaam den Waisen in ihrem Projekt vielfältige Unterstützung an, die unter anderem Nahrungsmittel, Kleidung, Bildungsförderung auf allen Bildungsebenen, medizinische Betreuung, Hausbesuche, verschiedene Gruppenangebote, rechtliche Beratung, HIV-Prävention und Trauerbegleitung umfasst. 714 Kleinere Projekte, wie beispielsweise TACOPE in Mwanza, konzentrieren ihre Arbeit vor allem auf den Bildungsbereich. Sie statten Waisen in der Primarschule mit Uniformen und Arbeitsmaterial aus.715 Diese Differenzen verdeutlichen, dass eine relative Verbesserung im Leben der Klienten nicht in beiden Projekten gleich ausfallen kann. Je nach Ausprägung der Angebotspalette werden in unterschiedlichen Bereichen des Alltags Verbesserungen erzielt. Der Umfang, in dem ein gelingenderer Alltag erreicht wird, variiert entsprechend der Angebotspalette. Die Frage, ob stationäre Betreuung individualisierte Hilfe bietet, lässt sich nur in zwei Etappen beantworten, da zwischen der stationären Unterbringung als individuelle Lösung und den Möglichkeiten der individuellen Betreuung innerhalb einer Einrichtung der institutionellen Erziehung unterschieden werden muss. Die erste Fragestellung bezieht sich darauf, ob die Fremdbetreuung eines Kindes außerhalb seines familiären Umfelds eine geeignete Hilfe im Einzelfall darstellen kann. Das Kapitel 5.1.1 zeigte bereits deutlich, dass sich die stationäre Betreuung in vielen Fällen vermeiden lässt, wenn frühzeitig eine Vernetzung von Kindern und Familien mit ambulanten Hilfsprojekten stattfindet. Einen Großteil der Problemlagen können adäquate ambulante Hilfsangebote abdecken. In diesen Fällen stellt die Fremdplatzierung von Kindern keine angemessene individuelle Hilfe dar. Es gibt dennoch Situationen, in denen sich eine stationäre Betreuung 714 715
Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. Interview mit A. Messo am 25.04.07 in Mwanza, Tansania.
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als sinnvoll erweist und einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag leisten kann. Die Betreuung in Einrichtungen der institutionellen Erziehung stellt vor allem für Straßenkinder, Findelkinder und Kinder, die in ihren Familien trotz ambulanter Unterstützungsprogramme nicht angemessen versorgt werden, eine geeignete mittel- oder langfristige Lösung dar. Die stationäre Unterbringung bietet für Straßenkinder in der Regel eine Verbesserung gegenüber der Lebenssituation auf der Straße. Die Gefahren auf der Straße gestalten sich vielfältig, und selbst wenn es den Kindern gelingt, ihre Ernährung ausreichend zu sichern, fehlen in der Regel Möglichkeiten einer angemessenen medizinischen Versorgung und formellen Bildung. Die stationäre Unterbringung bedeutet eine Befreiung von den täglichen Überlebensängsten und schafft einen gelingenderen Alltag, der die gemeinsame Erarbeitung einer realistischen Zukunftsperspektive ermöglicht. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ehemalige Straßenkinder den Heimalltag einem Leben auf der Straße vorziehen, sind die relativ geringen Rückfallquoten. Es gibt wenige Fälle, in denen Kinder aus den Projekten weglaufen und auf die Straße zurückkehren. Einrichtungen, die diesen Kindern ein neues Zuhause geben und gegebenenfalls eine Rückführung in ihre Familien prüfen, stellen eine Verbesserung im Leben der Kinder dar. In den anderen Einrichtungen der stationären Versorgung leben ebenfalls Kinder, die durch die institutionelle Erziehung die Chance auf einen gelingenderen Alltag oder, in den extremsten Fällen, auf ein Überleben bekommen. Findelkindern, die als Säuglinge ausgesetzt werden, bleibt nur eine stationäre Unterbringung als Betreuungsangebot. Zurzeit fehlt es an geeigneten Alternativen, um ihr Überleben zu sichern. Amy Hathaway, Leiterin eines Säuglingsheims in Mwanza, berichtet vom Fall eines ausgesetzten Jungen: „Wir haben ihn vom Krankenhaus bekommen und das Krankenhaus sagte zu uns: „Geht nach Hause und lasst ihn hier. Er wird sterben. Es ist nicht euer Problem.““ (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auch für Kinder, die in einem familiären Umfeld leben, welches ihre gesunde Entwicklung gefährdet, stellt die stationäre Unterbringung eine wichtige Form der Hilfe dar. Bestehen keine alternativen ambulanten Unterstützungsangebote oder führen diese nicht zu den angestrebten Veränderungen, muss die stationäre Versorgung in Betracht gezogen werden. Die Einrichtungen der institutionellen Erziehung leisten eine individuell geeignete Hilfe, wenn die stationäre Unterbringung die einzige Antwort auf die spezifischen Problemlagen des Kindes darstellt. In einer solchen Situation kann institutionelle Erziehung zur Schaffung eines gelingenderen Alltags beitragen. Der zweite Teil der Frage bezieht sich auf die Möglichkeit einer individuellen Betreuung entsprechend der verschiedenen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes in der institutionellen Erziehung. Dabei bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Formen der stationären Betreuung. In den „klassischen“ Heimen und
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Säuglingsheimen gibt es aufgrund der strukturellen Bedingungen kaum eine Individualisierung in der Betreuung. Die Mitarbeiter und Kinder sind an die organisatorischen Zwänge gebunden. Der Heimalltag funktioniert nur, wenn sich alle Beteiligten an ein Regelwerk halten, welches eine bestimmte zeitliche und räumliche Struktur umfasst. Individuelle Unterstützung lässt sich immer nur innerhalb der Grenzen des Gesamtgefüges umsetzen. Am Beispiel eines Säuglingsheims, bei denen sich die festen Strukturen besonders gut beobachten lassen, sollen in der folgenden Abbildung (Abb. 100) die organisatorischen Zwänge der Heimerziehung dargestellt werden. Abbildung 100: Beispiel: Strukturelle Zwänge im Heimalltag Im Säuglingsheim Ntoma, in dem die Autorin von September 2000 bis März 2001 gearbeitet hat, und welches sie während ihres Forschungsaufenthaltes erneut besuchte, ist der Alltag der Kinder genauesten strukturiert. Es gibt festgelegte Zeiten zum Schlafen, Spielen, Essen und Waschen. Um diese Struktur nicht zu gefährden, werden Säuglinge beispielsweise möglichst schnell an einen Rhythmus zur Nahrungsaufnahme gewöhnt. Dadurch ist es möglich, die Kinder hintereinander im gleichen Zeitraum zu füttern. Die Mitarbeiter versuchen in Einzelfällen auf die Kinder einzugehen. Schlafen die Kleinkinder beispielsweise bereits während der Spielzeit ein, werden sie ins Bett gebracht. Dennoch ermöglicht die feste Alltagsstruktur wenig individuelles Eingehen auf die natürlichen Bedürfnisse der Kinder. Aus Sicht des Heimes führt dieses Vorgehen zu einem gelingenderen Heimalltag. Zum Wohle der Kinder sind die Strukturen nicht. Die Autorin konnte während ihrer Arbeit im Heim feststellen, dass das Fehlen einer individuellen Betreuung und die Einschränkungen durch die straffen Strukturen zu einer mehr oder weniger starken Ausprägung von Hospitalismussymptomen führen. Diese manifestierten sich vor allem in stereotypen Bewegungen, einer Verzögerung der sprachlichen Entwicklung, Aggressivität, Weinerlichkeit und Störungen in der Gestaltung von sozialen Beziehungen. (Praktikum vom 15.09.01 – 15.03.02 in der stationären Betreuungseinrichtung Ntoma Orphanage in Ntoma, Tansania)
Das individuelle Eingehen auf jedes einzelne Kind wird in stationären Einrichtungen, neben den festen Strukturen, auch durch die große Anzahl der Kinder beeinträchtigt. Gertrude Kulindwa berichtet von ihren eigenen Erfahrungen als zuständige Leiterin der regionalen Wohlfahrtsbehörde in Mwanza: „Eine Institution ist eine Einrichtung, wo die Kinder, die dort versorgt werden, viele hinsichtlich der Anzahl sind. Deshalb ist es für die Betreuer ein Problem, sich auf ein einzelnes Kind zu konzentrieren und sie oder ihn genau zu beobachten, um sein Verhalten kennenzulernen und seine Entwicklung nachzuverfolgen; denn es gibt so viele Kinder, die versorgt werden müssen. Deshalb entwickeln sie in einigen Fällen schlechtes Verhalten, ohne dass dies frühzeitig erkannt wird. Und auch ihre Talente; denn man kann im jungen Alter ausmachen, ob ein Kind talentiert ist. […] In einer Einrichtung dürfte es nicht sehr einfach sein, ein solches Kind auszumachen, um seine oder ihre Kapazitäten und Fähigkeiten zu entwickeln.“
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(Interview mit G. Kulindwa am 03.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). In stationären Einrichtungen, vor allem in denen die Zöglinge in großen Gruppen leben, lässt sich beobachten, dass das einzelne Kind nicht die ausreichende Beachtung findet. Einrichtungen mit Familiengruppen, Kinderdörfer oder Kleinstheime mit weniger als 15 Heranwachsenden trifft diese Problematik weniger. Je kleiner die einzelnen Gruppen sind und je weniger Kinder der einzelne Mitarbeiter betreuen muss desto mehr Gelegenheit für individuelle Aufmerksamkeit besteht im stationären Bereich. Im Kapitel 4.4 wurde die Arbeit der Straßenkindprojekte beschrieben. Der Alltag in den stationären Einrichtungen der Straßenkindprojekte lässt sich mit „klassischen“ Heimen vergleichen. Auch dort bestimmen die strukturellen Zwänge das Zusammenleben und die große Anzahl der Kinder schränkt eine individuelle Betreuung stark ein. Es besteht trotz allem ein wesentlicher Unterschied zu anderen Einrichtungen. Da Straßenkindprojekte immer stärker auf die Reintegration der ehemaligen Straßenkinder in ihre Familie zielen, kommt der individuellen Unterstützung während und nach der stationären Unterbringung eine zunehmend wichtigere Bedeutung zu. Die Hilfsangebote für die ehemaligen Straßenkinder und ihre Familien müssen immer individuelle Lösungen sein, denn sowohl die Gründe, die dazu geführt haben, dass ein Kind auf die Straße geht, als auch die Bedingungen für eine Rückkehr variieren von Kind zu Kind. Erst die Beseitigung der Ursachen für die Flucht auf die Straße und die Schaffung einer angemessenen Basis für die Rückkehr machen eine erfolgreiche Reintegration möglich. Das Engagement der Organisation endet nicht mit der Wiedereingliederung des Kindes. In vielen Fällen verpflichtet sich die Organisation zur materiellen Unterstützung und zur Beratung der Familie, denn nur eine langfristige Kooperation kann einen Rückfall verhindern. Die Aufgaben der Straßenkindprojekte gleichen nach der erfolgreichen Reintegration der Arbeit einer ambulanten Hilfsorganisation. Dabei kommt der individuellen Anpassung des Hilfeangebotes an die Bedürfnisse der Familie eine besondere Bedeutung zu. Die Unterstützung soll die Familie in die Lage versetzen, die Verantwortung für die Kinder, zumindest zu einem großen Maße, selber zu tragen. Die stationären und ambulanten Hilfsangebote von Straßenkindprojekten, die auf die Reintegration zielen, können, wenn sie den individuellen Bedürfnissen entsprechen, einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag ihrer Klienten leisten. Fazit Die Bestimmung der Zielstellung im Hilfeprozess, das heißt die Definition eines gelingenderen Alltag für den jeweiligen Fall, lässt sich nur in einem Aushand-
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lungsprozess erreichen. Trotz dieser individuellen Unterschiede erweisen sich zwei Aspekte – Hilfe zur Selbsthilfe und individualisierte Hilfe – als Voraussetzung, damit Unterstützung zu einem gelingenderen Alltag beiträgt. Ambulante Hilfsprogramme leisten auf unterschiedliche Weise Hilfe zur Selbsthilfe. Die Organisationen belassen die Verantwortung für die verwaisten Kinder bei ihren Angehörigen und versetzen sie mit materieller und psychosozialer Unterstützung in die Lage, selbstständig für die Kinder zu sorgen. Dies allein lässt sich als Unterstützung von Selbsthilfe verstehen und ermöglicht einen gelingenderen Alltag der Betroffenen. Allerdings schafft punktuelle Hilfe in Notlagen langfristig Abhängigkeit. Weniger als die Hälfte der befragten Projekte setzen einkommenschaffende Maßnahmen ein, um die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Haushalte zu sichern. Allerdings bemühen sich die Organisationen, durch Beratungsangebote und Weiterbildungen für Betreuer im psychosozialen Bereich Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Diese Interventionen zielen darauf ab, die Familien in die Lage zu versetzen, das Zusammenleben positiv zu gestalten und für auftretende Schwierigkeiten selbstständig Lösungen zu finden. Trotz der beschriebenen Hemmnisse streben ambulante Hilfsangebote stärker die Selbsttätigkeit der betroffenen Haushalte an als stationäre Betreuungseinrichtungen. Diese betrachten die Heranwachsenden in der Regel losgelöst von ihrem verwandtschaftlichen Sicherungsnetz. Das Ziel besteht demnach nicht darin, die Haushalte zu befähigen, die Versorgung der Kinder im materiellen und psychosozialen Bereich eigenständig zu übernehmen. Allein Säuglingsheime und Straßenkindprojekte streben die familiäre Reintegration an. Ihre Unterstützung, die vor allem in der Arbeit mit Straßenkindern auch die Kapazitätsentwicklung der Familien beinhaltet, lässt sich dementsprechend als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen. Die Orientierung der Unterstützung an der individuellen Lebenswelt der Adressaten, das heißt an den jeweils unterschiedlichen Deutungs- und Handlungsmustern sowie Problemlagen, bildet eine weitere Voraussetzung zur Schaffung eines gelingenderen Alltags. Stationäre Betreuung kann eine individuell geeignete und notwendige Antwort auf die spezifischen Bedürfnisse eines verwaisten Kindes sein; für eine große Anzahl von Kindern in der institutionellen Erziehung ist sie dies nicht. Darüber hinaus erweisen sich einige Formen der stationären Betreuung, vor allem „klassische“ Kinderheime, Säuglingsheime und Auffangheime für Straßenkinder, nicht in der Lage, eine individuell abgestimmte Versorgung zu bieten. Kinderdörfer und familiäre Kleinstheime bemühen sich, diese Nachteile der institutionellen Erziehung durch eine am Familienleben angelehnte Betreuungsstruktur auszugleichen. Ambulante Maßnahmen bieten eine individualisierte Hilfe, die bei den Problemen der Familien ansetzt und die vorhandenen Ressourcen nutzt. Allerdings scheitern die Organisationen aufgrund
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begrenzter materieller und personeller Kapazitäten häufig an ihrem eigenen Anspruch. Dennoch trägt die Unterstützung ambulanter Programme in der Regel zu einem gelingenderen Alltag bei. 5.1.5 Bildung und Umsetzung einer tragfähigen Zukunftsperspektive Ein gutes Programm für Waisen sollte in der Lage sein, die Heranwachsenden mit notwendigen Lebensfertigkeiten für eine Integration in die Gesellschaft und ein selbst bestimmtes Leben auszustatten. Diese Lebensfertigkeiten beziehen sich auf die Kapazitäten der Heranwachsenden zum kompetenten Umgang mit den verschiedenen Herausforderungen in den unterschiedlichen Lebensphasen. „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit engagiert sich […] im Horizont der offenen, immer riskanten Zukunft und zielt auf Kompetenzen, dieser Offenheit gewachsen zu sein.“ (Thiersch und Grunwald 2004, S. 33). Die Schaffung einer realistischen Zukunftsperspektive als wesentliches Ziel der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit mit Heranwachsenden dient auch der Motivation der jungen Menschen. Das Engagement einer Organisation und ihren Mitarbeitern ist nur glaubwürdig, wenn sie die Unterstützung leistet, die eine Umsetzung der Zukunftspläne gemeinsam mit dem Klienten möglich macht. In Tansania bedeutet eine gute formelle Bildung nicht automatisch ein ausreichendes Einkommen und durchgehende Beschäftigung. Die Langzeiterträge aus der Bildung von Kindern sind in Tansania eher gering, da die Bildungsangebote nicht den aktuellen Anforderungen der Gesellschaft und der Wirtschaft entsprechen. „Dies ist eines der Probleme, das die Waisen von vor zwanzig Jahren jetzt vorfinden. Gut, sie wurden im Waisenhaus oder im Kinderheim versorgt, sie wurden ernährt, sie haben vielleicht sogar Bildung erhalten, aber wenn sie in die Welt hinausgehen, haben sie keine Arbeit. Selbst wenn sie eine praktische Ausbildung haben, ist es schwierig, eine Arbeit zu finden.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Um in der Zukunft zu bestehen, benötigen Heranwachsende demnach mehr als eine formelle Qualifizierung im Sinne einer konventionellen Ausbildung. Die Bildung der Heranwachsenden zahlt sich nur aus, wenn die Jugendlichen Engagement zeigen und gelernt haben, Eigenverantwortung zu übernehmen. Neben dem formellen Wissen bedarf es vielfältiger praktischer Kenntnisse, ohne die ein Bestehen im Alltag nicht möglich ist. Dazu zählt unter anderem die Fähigkeit, einen Haushalt zu führen und mit Geld umzugehen. Heranwachsende müssen darüber hinaus Kenntnisse über die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Normen und Werte besitzen, die es ihnen erlauben, sich in die Gesellschaft zu integrieren.
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Die Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage, inwieweit Organisationen es schaffen die Heranwachsenden auf eine unabhängige Zukunft vorzubereiten, liegt in den unzureichenden Erfahrungen der Projekte in diesem Bereich. Ein Blick auf die Zeiträume, in denen die Organisationen der ambulanten und institutionellen Hilfe gegründet wurden, macht deutlich, dass die Programme nur begrenzte Erfahrungen bezüglich der Verselbständigung ihrer Zöglinge besitzen (Abb. 101). Abbildung 101: Gründung von Organisationen der Waisenhilfe
Stationäre Einrichtungen, die sich während des Gründungsbooms um den Jahrtausendwechsel etablierten, sind oft noch nicht alt genug, um Aussagen über Erfolge und Schwierigkeiten der Reintegration der Jugendlichen in die Gesellschaft zu treffen. Beispielsweise entließ das Kinderheim Bethany, welches 1997 eröffnet wurde und Kinder aller Altersstufen aufnimmt, bis zum Besuch der Autorin im Jahr 2007 noch kein Kind in die Unabhängigkeit. 716 Aber gerade weil vielen Projekten der Schritt der gesellschaftlichen Integration ihrer Zöglinge noch bevor steht, muss untersucht werden, ob die Organisationen mit ihrer jetzigen Arbeit die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Eingliederung der jungen Menschen in die Gesellschaft schaffen. Formelle Qualifizierung Formelle moderne Bildung erhält in allen besuchten Projekten des ambulanten und stationären Bereiches Priorität, denn die Verantwortlichen, aber auch die Betroffenen, sehen Bildung als wesentlichen Beitrag zu einer unabhängigen Zukunft. „Wir wollen in der Zukunft keine Menschen haben, die Bettler sind. Wir 716
Vgl. Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania.
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wollen sie ausbilden, sie unterrichten, auf eine Art und Weise, so dass sie alles Notwendige wissen, um für sich selbst zu sorgen. (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Kapitel 5.1.1 zeigte, dass die Bereitstellung von Unterstützung zum Besuch von Bildungseinrichtungen die Antwort auf eines der wichtigsten Bedürfnisse und Probleme der Kinder darstellt. Dementsprechend wird sie von allen befragten Organisationen geleistet, die direkte Unterstützung an Kinder im schulpflichtigen Alter geben. Organisationen der stationären Betreuung legen einen besonders großen Wert auf eine qualitativ hochwertige Bildung. 32% der befragten Interviewpartner (n = 19) sehen in den besseren Bildungschancen einen Vorteil der institutionellen Erziehung. In der Regel ermöglichen stationäre Einrichtungen ihren Zöglingen eine Bildung entsprechend dem individuellen Niveau. Kinder, welche die Primarschule beenden, aber die Prüfung für die Sekundarschule nicht bestehen, können eine praktische Ausbildung absolvieren. Andere Kinder gehen nach der Primarschulausbildung auf die Sekundarschule und anschließend, wenn sie die entsprechenden Leistungen zeigen, auf die Universität oder auf eine Hochschule. Die Betreuung durch die Einrichtung wird normalerweise erst beendet, wenn die Jugendlichen ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Viele Projekte wollen den jungen Erwachsenen den Schritt in die Unabhängigkeit erleichtern, indem sie ihnen ein Startset für den Berufsstart, zum Beispiel für einen Tischler die entsprechenden Werkzeuge, geben oder ihnen ein Stück Land kaufen, auf dem sie sich niederlassen können. Für viele stationäre Betreuungseinrichtungen gilt dies als Plan für die Zukunft, da sie noch nicht in der Situation waren, in der Heranwachsende die Einrichtung verlassen haben. Um ein unabhängiges Leben zu führen, müssen Menschen ein angemessenes Einkommen erwirtschaften. Dies führt zu einem Problem in der institutionellen Erziehung. Der Lebensstandard in den besuchten Projekten liegt in der Regel weit über dem üblichen Existenzniveau in Tansania. Kinder, die in einer solchen Einrichtung aufwachsen und an dieses Leben gewöhnt sind, entwickeln höchstwahrscheinlich den Wunsch, einen ähnlichen Lebensstil beizubehalten. Zu einem Leben, das sich mit den in der stationären Betreuung gemachten Erfahrungen vergleichen lässt, gehört unter anderem ein festes mit Möbeln und technischen Geräten ausgestattetes Haus statt einer Lehmhütte. Dies beinhaltet den Anschluss an Elektrizität und an die Wasserversorgung. Ein durchschnittliches Einkommen reicht in Tansania nicht aus, um ein solches Leben zu führen. Wenn die jungen Menschen ihren Lebensstandard beibehalten wollen, müssen sie es schaffen in die obersten Einkommensschichten aufzusteigen. Die Organisationen versuchen deshalb, den Heranwachsenden eine gute Bildung mit auf den Weg zu geben. Es bleibt ungewiss, ob diese ausreicht, um den jungen Menschen die Beibehaltung ihres gewohnten Lebensstandards zu ermöglichen.
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Ambulante Projekte, die sich dazu finanziell in der Lage sehen, unterstützen die Kinder in ihren Programmen ebenfalls entsprechend der individuellen Interessen und kognitiven Kapazitäten. Aber vielen ambulanten Organisationen gelingt es nicht, die Waisen auf allen Bildungsebenen zu begleiten. Die hohen Kosten einer Sekundarbildung (Kap. 3.1.3) und die große Anzahl der bedürftigen Kinder schränken die Arbeit der Organisationen ein. Andererseits stellt die Sekundarbildung nicht immer die beste Bildungsoption dar. Die Kinder gehen nach der Primarschule noch einmal sechs Jahre zur Sekundarschule, ohne praktische Fertigkeiten oder theoretische Kenntnisse zu erlangen, die ihnen in Zukunft die finanzielle Selbstständigkeit sichern. Besonders für Kinder, die sich nicht für die staatliche Sekundarschule qualifizieren konnten, erweist sich eine praktische Ausbildung oft als die bessere Vorbereitung auf ein unabhängiges Leben. Organisationen, die dazu in der Lage sind, bieten Absolventen eine Ausbildung und das Startkapital für ihre berufliche Laufbahn. Die Ausstattung mit Werkzeug und Material soll ihnen den Einstieg in die Selbstständigkeit erleichtern und ein unabhängiges Leben ermöglichen. Aber auch hier fehlen den Projekten zum Teil die Gelder, um die Ausbildungsgebühren und die Erstausstattung zu zahlen. Ambulante Projekte befinden sich im Vergleich zu stationären Angeboten häufiger nicht in der Lage, Kindern eine ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen angemessene Bildung zu sichern. Sie tragen aber nicht die alleinige Verantwortung für die Bildungsbahn der Heranwachsenden. Da diese in ihren Familien und Gemeinden verbleiben, verteilt sich die Verantwortung für die Bildung auf mehrere Parteien. Es bleibt dennoch zu bezweifeln, ob die Kinder in ambulanten Projekten die gleichen Bildungschancen haben, wie Kinder in stationären Einrichtungen, und ob sie eine Bildung erhalten, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglicht. Praktische Lebensfertigkeiten Junge Menschen, die in die Selbstständigkeit entlassen werden, benötigen praktische Lebensfertigkeiten. Nach einem Aufenthalt in einer stationären Betreuungseinrichtung oder bei Beendigung der ambulanten Unterstützung müssen sie in der Lage sein, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und ihren Alltag zu gestalten. Dazu gehört zum einen der Wille, unabhängig von weiterer Unterstützung ein eigenes Auskommen zu finden und zum anderen bedarf es praktischer Kenntnisse, welche es dem jungen Erwachsenen ermöglichen, den Alltag zu bewältigen.
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Übernahme von Eigenverantwortung In der Arbeit im stationären Bereich stellt die Vermittlung von Eigenverantwortung eine große Schwierigkeit dar. Kinder in Einrichtungen der institutionellen Erziehung haben geringere Chancen, zu lernen, was es bedeutet für sich selbst und andere Verantwortung zu tragen. Familienangehörigen befreien sich von der Verantwortung für die Waisen, indem sie die Kinder stationär versorgen lassen. Diese Vorgehensweise hilft den Heranwachsenden nicht, Werte wie Verbindlichkeit, Hingabe und Eigenverantwortung zu verinnerlichen. Auch das Leben in der Einrichtung fördert die Vermittlung dieser Werte nicht. Die Versorgung sichern in der Regel anonyme Geldgeber. In vielen Fällen wissen die Heranwachsenden nicht, was es bedeutet, ihr Essen auf dem Feld selbst zu erwirtschaften und das Wasser für den täglichen Bedarf selber zu holen. Es gibt in der Einrichtung Mitarbeiter, die kochen, waschen und auf dem Feld arbeiten. Die Ausstattung mit Wassersammelanlagen, Waschmaschinen und ähnlichen technischen Hilfsmitteln erleichtern das alltägliche Leben. Die Kinder tragen keine Eigenverantwortung für ihren Lebensunterhalt. Ihre Mithilfe bei den täglichen Pflichten kann als Grundsatz im jeweiligen Projekt gelten, sie entscheidet aber nicht darüber, ob ihre Versorgung gesichert ist oder nicht. Die Regeln und die durchstrukturierte Organisation reduzieren darüber hinaus die individuelle Entscheidungsfreiheit. Kinder in stationärer Betreuung sind häufig stärker begrenzt als in Familien. Die stationäre Betreuung vermittelt weder den Kindern noch ihren Familien Eigenverantwortung. Die institutionelle Erziehung führt häufig zu Passivität. Projekte, die bereits mit der gesellschaftlichen Eingliederung von Heranwachsenden Erfahrung haben, berichten von der anerzogenen Unselbständigkeit ihrer Zöglinge. Joel Boutin, Mitarbeiter des Straßenkindprojektes Mkombozi, erläutert die Problematik: „In der Realität sehe ich nicht, dass es [die Verselbständigung] sehr gut funktioniert. Ich sehe nicht, dass wir Kinder, junge Menschen, so schnell in die Gesellschaft integrieren, wie ich es gerne sehen würde. Der wirkliche Problempunkt ist die Institutionalisierung und die Abhängigkeit. Also wir hatten viele, viele Klienten, die unsere Fürsorge für eine lange Zeit erhalten haben und jetzt glauben sie nicht an sich selbst. Sie glauben nicht, dass sie irgendetwas ohne Mkombozi machen können. Sie bitten um absurde Unterstützung. Wissen Sie, ein 23-Jähriger bittet um anhaltende Bildungsförderung, obwohl er die gesamte Sekundarbildung bekam und eine Mutter hat und landwirtschaftliche Fläche. Aber er glaubt nicht, er könnte allein ohne Hilfe leben. Das ist eine andere Form von geistiger Krankheit oder eine Art Behinderung, denn sie sind nicht in der Lage, sich zurück in die Gesellschaft ohne externe Hilfe zu integrieren. Das ist nicht sehr gesund. Ich denke wir versuchen, uns darauf zu
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konzentrieren, diese Situation zu verhindern, aber in der Vergangenheit haben wir uns nicht darauf konzentriert. Jetzt leiden wir unter den Ergebnissen der ersten Kinder, die jetzt Erwachsene sind und die nicht in der Lage sind, loszulassen.“ (Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Es bleibt abzuwarten, inwieweit es Organisationen der stationären Hilfe in der Zukunft gelingt, junge Erwachsene in die Selbstständigkeit zu entlassen. Bisher scheint sich die Institutionalisierung eher negativ auf die Übernahme von Eigenverantwortung auszuwirken. Im ambulanten Bereich bleibt die Eigenverantwortung der Familien zum größten Teil erhalten. „Wir wollen sie nicht komplett von dem Programm abhängig machen. Das bedeutet, dass wir ihre Bedürfnisse unterstützen, aber für andere Bedürfnisse müssen sie auf ihrem Land arbeiten.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Familien sind in der Regel für die Erfüllung der materiellen und emotionalen Bedürfnisse zuständig. Die Organisation übernimmt nur einen kleinen Teil der Aufgabe, indem sie beispielsweise die Bildungskosten trägt. In keinem, der besuchten ambulanten Programme, übernahm die Organisationen die gesamte Versorgung der betroffenen Familie oder des betroffenen Kindes. Die ambulanten Projekte belassen die Verantwortung für die Waisen bei den Verwandten. Dadurch, dass die Familie in der Pflicht steht, für die Waisen zu sorgen, lernen auch die Kinder, was Eigenverantwortung bedeutet. Im Kapitel 3.1.1 wurde beschrieben, wie Waisen ihren Teil der Haushaltspflichten erledigen. Sie haben ihren Platz in der Familie, den sie entsprechend der traditionellen Normen erfüllen. Sie helfen im Haus, auf dem Feld und bei der Kinderbetreuung mit. „Wenn ein Kind in eine Familie aufgenommen wird, wird es zu einem Teil der Familie und übernimmt damit auch Verantwortung in der Familie. Zum Beispiel das Haus zu säubern, sie oder er wird es machen. Oder wenn sie auf die Felder gehen, gehen sie zusammen. Sie arbeiten zusammen als eine Familie.“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Lektion, die den Kindern damit vermittelt wird, erweist sich als wesentlich für ihr weiteres Leben. Sie werden nicht zur Passivität, sondern zum aktiven Handeln erzogen und lernen dies in ihrer Familie kennen. Praktische Fertigkeiten des täglichen Lebens Der vorangegangene Abschnitt veranschaulichte, dass Kinder in Familien ihre traditionelle Rolle erfüllen. Sie müssen sich in die Familie integrieren und alltägliche Aufgaben übernehmen. Dies vermittelt nicht nur Eigenverantwortung und Selbständigkeit, sondern auch grundlegende Fertigkeiten, die für ein unabhängi-
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ges Leben notwendig sind. Die Kinder helfen im Haushalt und lernen wesentliche hauswirtschaftliche Fähigkeiten, sie betreuen jüngere Kinder und erwerben Kenntnisse bezüglich Erziehung und sie arbeiten auf dem Feld und eignen sich traditionelles landwirtschaftliches Wissen an. Die Erfahrungen und Fertigkeiten, die sich Kinder in Familien nebenbei aneignen, sind für ein Leben und Überleben im agrarisch geprägten Tansania zentral. Das Leben in der Familie hilft Kindern, Probleme der Haushaltsführung besser zu verstehen. Sie erleben, wie der Haushaltsvorstand die vorhandenen finanziellen Mittel bestmöglich einsetzt, um die Versorgung zu sichern. Sie spüren aber auch die Konsequenzen, wenn das Haushaltsgeld falsch angelegt oder verschwendet wird. Kinder, die in Privathaushalten aufwachsen, sind mit finanziellen Transaktionen vertraut, weil sie beispielsweise mit ihrer Familie auf den Markt gehen, um selbst angebaute Produkte zu veräußern und mit dem Gewinn einzukaufen. Kinder, die für den Nachbarn Feuerholz sammeln oder Gras schneiden, um sich vom Lohn ein Schreibheft zu kaufen, kennen den Wert von Geld. Der Umgang mit Finanzen stellt eine wichtige Voraussetzung dar, wenn es den jungen Menschen in Zukunft gelingen soll, mit ihrem eigenen Einkommen auszukommen. Im stationären Bereich haben Einrichtungen die Erfahrung gemacht, dass die Vermittlung praktischer Fertigkeiten unter der vollständigen Versorgung der Kinder leidet. Dies nehmen die Mitarbeiter der Organisationen als deutlichen Nachteil der institutionellen Erziehung wahr: „Von Kindern, wissen Sie, wird kulturell erwartet, dass sie in Familien arbeiten. Jetzt, in den Heimen, weil wir Betreuer haben, die Dinge für sie [die Kinder] erledigen, sie waschen die Kleidung für sie, sie kochen für sie, sie säubern die Räume für sie; also manchmal wissen sie nicht, wie man solche Dinge macht, denn sie wurden auf diese Weise erzogen. Also ich habe das gesehen, aber jetzt versuche ich, und deshalb sehen Sie dort diese Mädchen, die ihre Kleidung waschen, zu sagen: „Nein, nein, nein; wir helfen den Kleinen, aber die Älteren müssen Dinge für sich selbst tun!“ Denn sie müssen es lernen und dann, wenn sie weggehen, können sie Dinge für sich selbst machen. Dies ist der einzige Nachteil [von Heimerziehung], den ich erlebt habe.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Verantwortlichen in den Organisationen sehen den Bedarf für Alltagswissen und bemühen sich, dieses zu vermitteln. „Ihnen werden auch die Dinge beigebracht, die, wie wir sagen würden, eine durchschnittliche Person wissen muss.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mit Hilfe unterschiedlicher Methoden versuchen die Mitarbeiter, die jungen Menschen in einzelne Bereiche der alltäglichen Pflichten mit einzubeziehen (Abb. 102). Dies gelingt in der Regel nicht im gleichen Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie in einer
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Familie; kann den jungen Menschen später im Alltag aber dennoch als Orientierung dienen. Abbildung 102: Beispiel: Vermittlung praktischer Fertigkeiten in der institutionellen Erziehung Im Waisenheim Starehe helfen die Kinder beim Gras schneiden, sie lernen Nähen und Kochen und sie waschen ihre Schulkleidung selbst. Damit sich die Kinder diese notwendigen Tätigkeiten aneignen, muss teilweise eine künstliche Situation geschaffen werden. Trotz voll ausgestatteter Küche wird den Kindern gezeigt, wie sie auf einer offenen Feuerstelle kochen, und trotz Waschmaschinen müssen die Kinder ihre Schulkleidung per Hand waschen. Die Vermittlung praktischer Kenntnisse unterliegt weiteren Beschränkungen. Da die Felder, auf denen die Mitarbeiter Lebensmittel für das Heim anbauen, nicht ans Heim grenzen, können die Kinder nur in den Ferien in die landwirtschaftlichen Pflichten miteinbezogen werden. Wenn die Kinder nur zur Ernte oder Aussaat helfen, besteht die Möglichkeit zum Kennenlernen eines jahreszeitlichen Zyklus und der alltäglichen landwirtschaftlichen Pflichten nicht. (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania) Die Organisation Light in Africa entwickelte ein Punktesystem, um Kinder in ihren stationären Einrichtungen für die Mitarbeit, beispielsweise im Bereich Hauswirtschaft oder Kinderbetreuung, zu motivieren. Erledigen die Heranwachsenden neben ihren alltäglichen Pflichten zusätzliche Aufgaben, zum Beispiel indem sie in der Küche helfen oder Verantwortung für andere Kinder zeigen, erhalten sie Punkte. Das Punktesystem nutzen die Mitarbeiter darüber hinaus, um den Zöglingen in bestimmten Bereichen gezielt praktisches Wissen zu vermitteln. Die Kinder können sich einen Bereich, zum Beispiel Kochen oder Automechanik, aussuchen. Für jeden Bereich existiert eine Aufstellung mit zehn Fertigkeiten, die das Kind erlernen und durchführen muss. Durch das Aneignen dieser Fertigkeiten, kann sich das Kind Punkte verdienen. Diese Punkte dürfen gegen Geschenke oder Ausflüge eingetauscht werden. (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania) Ein solches System hilft, die Kinder im Heim anzuspornen, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und Erfahrungen in praktischen Tätigkeiten zu sammeln. Das Belohnungskonzept steht allerdings im Widerspruch zur kulturellen Praktik, wonach die Mitarbeit von Kindern in den Familien eine selbstverständliche Pflicht darstellt. Es besteht die Gefahr, bei den Heranwachsenden eine Erwartungshaltung zu erzeugen, die dazu führt, dass sie Hilfsbereitschaft nur bei entsprechender Belohnung zeigen.
Ein weiterer Nachteil in der institutionellen Erziehung liegt in den geringen Möglichkeiten für die betreuten Kinder, den Umgang mit Finanzen zu üben und den Wert von Geld kennenzulernen. Im Heim Starehe, und dies scheint in den besuchten Einrichtungen ein Einzelfall zu sein, erhalten die Kinder ein Taschengeld. Dadurch lernen sie, Geld einzuteilen, zu sparen und für individuelle Interessen auszugeben. Diese Erfahrungen, die in der institutionellen Erziehung ohnehin eine Ausnahme darstellen, reichen aber nicht aus, um das Haushalten mit begrenzten finanziellen Mitteln zu lernen. Das Taschengeld verwenden die Kinder für zusätzliche Ausgaben, wie beispielsweise das Kaufen von Süßigkeiten, da das Heim alle anderen Bedürfnisse des täglichen Lebens erfüllt. Die Heranwachsenden lernen nicht, welche Anstrengungen es bedarf, einen Haushalt mit
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Essen zu versorgen oder für eine Schuluniform zu sparen. Sie müssen für ihren Lebensunterhalt nicht selber arbeiten und sehen in der Regel auch nicht, wie andere für ihre Versorgung arbeiten. In den meisten Einrichtungen stammt der größte Anteil des Budgets von ausländischen Spendern. Die Anstrengungen zur Sicherung der Existenz des Projektes bleiben den Kindern meist verborgen. Sie sehen nur, dass sie regelmäßige Mahlzeiten erhalten, neue Kleider bekommen und die Schule besuchen können. Ein solches Leben ist für sie selbstverständlich geworden. Dadurch, dass die Kinder nicht in die alltägliche Finanzplanung miteinbezogen werden und den Wert des Geldes kennenlernen, fehlt ihnen in Zukunft eine wesentliche Voraussetzung zum Führen eines eigenen Haushaltes. Integration in soziale Sicherungsnetze Soziale Unterstützungsnetze spielen in Tansania eine wichtige Rolle im Alltag. Der Weg in die Unabhängigkeit und das Bestehen in einem selbst bestimmten Leben wird erleichtert, wenn junge Menschen auf ein Sicherheitsnetz vertrauen können, dass sie bei Schwierigkeiten auffängt. Es entspricht in Tansania der Tradition, Verwandten in persönlichen Zwangslagen, wie beispielsweise Krankheit oder Arbeitslosigkeit, Unterstützung zu geben. Besonders auf dem Land, aber auch in der Stadt, ist diese Tradition lebendig. Dies bedeutet nicht, dass Menschen bei ihrer Familie unterkommen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Es wird erwartet, dass sie zum Haushaltseinkommen oder zur Haushaltsführung beitragen, indem sie sich ein Auskommen suchen, in der Landwirtschaft helfen oder Haushaltspflichten übernehmen. Die familiäre Unterstützung stellt ein reziprokes System dar. Einem Familienmitglied, welches heute Unterstützung erhält, kommt morgen die Aufgabe zu, einem anderen Verwandten eine helfende Hand zu reichen. Staatliche oder private Sicherungssysteme sind wenig verbreitet und nicht ausreichend, um die Aufgaben des familiären Unterstützungsnetzes zu erfüllen (Kap. 3.1.1). Familiäre Unterstützungsnetze Kinder, die von ambulanter Hilfe profitieren, verbleiben in ihrem familiären Umfeld. Sie leben bei Verwandten und sichern sich ihren Platz in der Familie. Die Verwandtschaft wird nicht von ihrer traditionellen Pflicht, die Verantwortung für verwaiste Familienmitglieder zu tragen, entbunden. Dadurch bleibt das familiäre Unterstützungsnetz erhalten und bietet den jungen Menschen auch nach Erreichen der Volljährigkeit Sicherheit. Andererseits müssen sie für die Wech-
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selseitigkeit des Systems einstehen. Ein Jugendlicher, der von seiner Familie aufgezogen, versorgt und unterstützt wurde, steht nach seiner Ausbildung und seinem Berufsstart in der Pflicht seiner Verwandten. Wuchs er beispielsweise bei seiner Großmutter auf, trägt er in Zukunft für ihre Versorgung Verantwortung. Jungen Menschen können sich darauf verlassen, in Notsituationen bei Verwandten Zuflucht zu finden, lernen aber auch, ihren Anteil im traditionellen Unterstützungssystem zu leisten. Neben der Sicherungsfunktion kann das familiäre Netzwerk jungen Menschen den Start in das Berufsleben erleichtern. In Tansania bilden Beziehungen bei der Suche nach Arbeit im formellen und informellen Sektor einen großen Vorteil. Zum einen, weil sie Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern ermöglichen, und zum anderen, weil beispielsweise der Gang in die Stadt erleichtert wird, wenn dort bereits eine Tante lebt. Auch Waisen profitieren von diesen Beziehungen, denn die Familie besitzt ein Interesse daran, dass sie ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen. Durch die Fremdplatzierung kommt es zwangsläufig zur Trennung der Kinder von ihren Familienmitgliedern. „Wenn jemand in ein Waisenheim geht, wird er von seinen Verwandten, seiner Familie getrennt. Er wird zu einem Fremden für seine Familie“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Kapitel 5.1.1 zeigte, dass nicht alle Kinder in stationären Einrichtungen keine lebenden Verwandten mehr haben. Da vielen Verantwortlichen die Bedeutung einer familiären Identität bewusst ist, versuchen einige Projekte, den Kontakt zwischen den Kindern und ihren Familien aufrecht zu erhalten (Abb. 103). Abbildung 103: Beispiel: Kontakte zu Angehörigen als Vorbereitung der familiären Reintegration Einige Einrichtungen der stationären Betreuung, vor allem Säuglingsheime, die das Ziel verfolgen, die Kinder in ihre Herkunftsfamilien zurückzugeben, wünschen den Besuch von Familienangehörigen ausdrücklich und fordern die regelmäßigen Kontakte auch ein. Die Einrichtung Forever Angels bezahlt Verwandten, die sich die Fahrt zum Heim nicht leisten können, die Transportkosten, um den Kontakt zu erhalten. Wenn die Angehörigen über einen längeren Zeitraum nicht gekommen sind, fährt die Leiterin Amy Hathaway zu ihnen hin, um die Gründe zu recherchieren. In einigen Fällen erhöht sie die Motivation für einen Besuch, indem sie dem Vater oder anderen Verwandten bei einem Besuch im Heim Essen und Kleidung für die übrigen Kinder im Haushalt mitgibt. Bei vielen Angehörigen ist dieser Ansporn nicht notwendig, denn sie kommen regelmäßig, um sich über die Entwicklung ihres Kindes zu erkundigen. (Interview mit A. Hathaway am 24.04.07 in Mwanza, Tansania)
Den Verwandten steht in der Regel frei, die Kinder in der Einrichtung zu besuchen. Ob sie das Angebot nutzen, hängt von mehreren Faktoren ab. Leben die Kinder weit entfernt von ihren Verwandten, stellen die Transportkosten und der
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5 Evaluationsstudie
zeitliche Aufwand eine große Hürde dar. Bei einigen Familienmitgliedern fehlt das Interesse. Manchmal ist auch die Scham zu groß, weil sie die Abgabe der Verantwortung für das Kind als Bruch mit ihren traditionellen Pflichten sehen. Großeltern und kranke Eltern befinden sich oft körperlich nicht in der Lage, die Einrichtung aufzusuchen. In vielen Einrichtungen wird die Möglichkeit für einen Besuch auch nicht entsprechend deutlich geäußert und die Mitarbeiter versäumen, die Familien direkt aufzufordern, regelmäßig zu kommen. Viele Kinder bekommen demnach keinen Besuch von Verwandten. Ein Teil der Organisationen unterstützt Ferienaufenthalte der Kinder bei Verwandten. Die Einrichtungen fördern diese Maßnahme vor allem bei älteren Kindern, indem sie den Transport organisieren oder ihnen Nahrungsmittel für die Familie mitgeben. Auf die Frage, wie den Kindern der Besuch bei ihren Verwandten gefällt, antwortet Laura Elliott von der Organisation Light in Africa: „Sie sind nicht unglücklich, wenn sie zurückkommen, und sie sind nicht unglücklich, wenn sie nach Hause gehen.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Diese scheinbare Gleichgültigkeit der Kinder überrascht, denn andererseits berichtet Laura Elliott davon, dass die Kinder, die niemanden haben zu dem sie in den Ferien gehen können, sehr unter dieser Situation leiden und die übrigen Kinder beneiden. 717 Keine Organisation, die regelmäßige Ferienaufenthalte bei den Familien durchführt, strebt eine langfristige Reintegration der Kinder vor ihrer Volljährigkeit an, da die Gründe für die Fremdunterbringung, wie beispielsweise Armut, nicht beseitigt sind. Ferienaufenthalte und Besuche von Verwandten in der Einrichtung bilden wichtige Maßnahmen, um die Beziehung zwischen Kindern und ihren Familien aufrecht zu erhalten. Inwieweit diese Beziehungen nach der Beendigung der stationären Betreuung tragen, bleibt vorerst offen. Es ist nicht klar, ob junge Menschen zu ihren Verwandten zurückkehren können, wenn es sich nicht nur um einen kurzfristigen Aufenthalt in den Ferien handelt und sie nicht mit Gaben für die Familie kommen, sondern selber Hilfe brauchen. Die Aufrechterhaltung der familiären Kontakte und die Bereitschaft der Verwandten, die Kinder nach ihrem stationären Aufenthalt in Notsituationen wieder aufzunehmen, bilden nicht die einzigen Voraussetzungen für eine mögliche Wiedereingliederung in die Herkunftsfamilie. Die Fähigkeit der jungen Erwachsenen, sich an verschiedene Lebensstandards anzupassen, spielt eine ebenso große Rolle. Viele Einrichtungen haben im tansanischen Vergleich einen sehr hohen Lebensstandard. „Wenn sie [die Waisen] in Institutionen sind, werden sie behandelt, als wären sie im Himmel.“ (Interview mit S. Chemu am 26.04.07 in Bujora, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Kinder sind von vielen alltägli717
Vgl. Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania.
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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chen Pflichten, die Heranwachsende in den Familien selbstverständlich ausführen, weitestgehend befreit und ihre Versorgung erscheint überdurchschnittlich gut. Der Vorteil der besseren Versorgung in der stationären Betreuung, den 63% der Befragten (n = 19) nannten, kann sich in einer solchen Situation als Nachteil erweisen. Der Heimleiter Daniel Bujiku befürchtet, dass der hohe Lebensstandard die Eingliederung der jungen Menschen nach dem Heimaufenthalt erschwert. „Ich kann Probleme voraussehen, wenn man in einer Gemeinschaft wie dieser mit der ganzen Ausstattung, mit einem besseren Leben aufwächst und zu der sehr, sehr armen Familie zurückgeht, von der man kam. Ich bin sicher, dass sie [die jungen Menschen] nicht sehr glücklich sein werden, dort zu bleiben. Wissen Sie, wenn sie erwachsen sind und ich sage: „Geh zurück zu deiner Familie!“; das Leben ist dort anders, deshalb wäre es sehr schwierig.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Leben in Einrichtungen der institutionellen Erziehung, welches in vielen Fällen europäischen Standards entspricht, unterscheidet sich von der Lebenswelt der Familien. Diese Kluft zu überwinden, stellt eine große Herausforderung dar. Sollten junge Menschen nach der Fremdunterbringung auf ihr familiäres Sicherheitsnetz zurückgreifen, müssen sie lernen, auf gewohnte Annehmlichkeiten zu verzichten und nicht auf die Angehörigen, die in scheinbar primitiven Verhältnissen leben, herabzusehen. Alternative Unterstützungsnetze Eine Möglichkeit, die Einschränkungen oder den Abbruch der familiären Beziehungen auszugleichen, besteht im Aufbau eines alternativen Sicherungsnetzes. Das familiäre Unterstützungssystem von Kindern, die bei ihren Verwandten aufwachsen, bleibt erhalten. Dementsprechend gibt es nur wenige Beispiele von ambulanten Projekten, die versuchen, ein alternatives Unterstützungsnetz für die Zukunft der Kinder zu entwickeln. Eines dieser Beispiele bildet das Waisentreffen der Organisation Community Alive Club. Ziel dieses Treffens, in dem jede Woche alle betreuten Kinder der Organisation zusammenkommen, besteht unter anderem in der Schaffung von Kontakten zwischen den Kindern. Die Kinder, die sich alle in der gleichen Situation befinden, sollen sich kennenlernen, so dass sie sich im Alltag und in Zukunft gegenseitig helfen können. Die Älteren werden dabei angehalten, den jüngeren Kindern zu helfen und ihnen zur Seite zu ste-
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5 Evaluationsstudie
hen. 718 Ob sich diese Beziehungen in Zukunft als tragfähig erweisen, bleibt unklar. Für Heranwachsende in der institutionellen Erziehung besteht ein bedeutend größerer Bedarf für alternative Unterstützungsnetze als für Kinder in Familien. Brooke Montgomery, die Initiatorin eines Kleinstheims in Dar es Salaam, sieht die Schwierigkeiten von fehlenden familiären Kontakten, aber auch eine mögliche Lösung: „Die Kinder, die Familien haben, haben ein Netzwerk, auf das sie zurückfallen können; sie haben eine Person [in der Familie], die acht weitere Personen unterstützt. Aber die Waisen haben das nicht. Und das ist es, was ein Kinderdorf oder ein Haus wie dieses schafft. Es schafft eine künstliche Familieneinheit für die Zukunft. Und meine Hoffnung ist, dass diese zehn Kinder, die zusammen aufgewachsen sind, dass sie, wenn sie Erwachsene sind, falls Joseph und Elijah eine gute Arbeit und Zawadi und Esther Probleme haben, dass Joseph und Elijah ihnen weiterhelfen können. Ganz so, als wenn sie Blutsbrüder und – schwestern wären; damit sie dieses Netzwerk haben, das sie auffängt. […] Und sie sich aufeinander verlassen können und nicht so sehr auf uns; aber aufeinander, gerade so als wären sie Brüder und Schwestern.“ (Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf./ Namen der Kinder von Verf. geändert). Brooke Montgomery hofft, dass der Heimaufenthalt eine neue Familie schafft, die nach Beendigung der Unterbringung Halt und Unterstützung bietet.719 Andere Organisationen verstehen sich selbst als neue Familie des Kindes. Sie sehen ihre Aufgabe darin, den Heranwachsenden ein alternatives Unterstützungsnetz zu bieten. Um diesen Auftrag zu erfüllen, bieten sie sich nach Beendigung des Betreuungsverhältnisses als Anlaufpunkt bei Problemen an und versuchen Arbeitsplätze zu vermitteln. Dieses Hilfsangebot unterliegt Beschränkungen. Keines der befragten Heime räumt die Möglichkeit einer mittel- oder langfristigen Wiederaufnahme von jungen Menschen ein. Johannes Kasimbazi vom Kinderdorf in Kemondo erklärt: „Sie können zurückkommen, um Rat zu erhalten. Sie können zurückkommen, um etwas Hilfe zu erhalten; manchmal helfen wir ihnen auch materiell. Aber sie können nicht zurückkommen, um hier zu leben.“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die geschaffene Illusion einer Familie bleibt auch in den Familieneinheiten im Kinderdorf eine Scheinwahrheit. Einrichtungen der institutionellen Erziehung befinden sich nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Aufgaben des familiären Auffangnetzes vollständig zu erfüllen. Stationäre Erziehung bleibt immer beschränkt auf eine temporäre Zugehörigkeit. 718
Vgl. Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania; Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 719 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania.
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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Soziale, kulturelle und gesellschaftliche Eingliederungsfähigkeit Junge Erwachsene müssen mit dem Schritt in die Selbstständigkeit ihre soziale, kulturelle und gesellschaftliche Eingliederungsfähigkeit unter Beweis stellen. Dazu gehört, dass sie sozial handlungsfähig sind und sich in ihrer Kultur bewegen können, ohne die Werte und Normen zu verletzen. In Tansania finden sich zum einen kulturspezifische Traditionen, die sich in den einzelnen ethnischen Gruppen unterscheiden können, und zum anderen existieren gesamtgesellschaftliche Werte. In beiden Bereichen müssen die Heranwachsenden Kenntnisse erwerben und Verhaltensweise entwickeln, die ihnen die Integration ermöglichen. Kulturelle und gesellschaftliche Identität Das Aufwachsen in Familien und Gemeinden stellt eine zentrale Erfahrung für die Zukunft junger Menschen dar. Neben den alltäglichen Fertigkeiten, die Kinder dadurch mit auf den Weg bekommen, vermittelt ihnen das Leben in der Gemeinschaft auch kulturelles Wissen. „Wir denken, dass sie [die Waisen], wenn sie mit der Gemeinschaft leben, von der Gemeinschaft lernen und das Umfeld von der Gemeinde kennen. Nur weil man ein Waisenkind ist, bedeutet dies nicht, dass man alles verloren hat. Sie sind Teil der Gemeinschaft.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Indem sie Teil der Gemeinschaft bleiben und nicht aus ihr herausgenommen werden, können sie sich auch mit den kulturellen Praktiken vertraut machen. Die Heranwachsenden hören die Geschichte ihres Stammes und lernen das individuelle Wertesystem ihrer Kultur kennen. Wenn die Initiation in ihrer ethnischen Gruppe noch eine Rolle spielt, durchlaufen Waisen gemeinsam mit anderen Kindern diesen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Ältere Vertreter ihres Stammes vermitteln ihnen dabei Wissen und Werte, die eine fundamentale Bedeutung für den Erhalt der Gesellschaft und das Zusammenleben der Mitglieder haben. Heranwachsende steigen durch die Initiation in die Hierarchie der Erwachsenen auf und erlangen die Anerkennung als vollständiges Mitglied der Gemeinschaft. Kinder, die in einer Betreuungseinrichtung zusammenleben, stammen aus unterschiedlichsten Gegenden und ethnischen Gruppen. Nicht immer kommen die Kinder aus der näheren Umgebung des Projektes. Es besteht daher für eine Einrichtung der institutionellen Erziehung kaum die Möglichkeit, die Kinder entsprechend ihrer kulturellen Herkunft zu erziehen bzw. sie an den Initiationsriten ihres Stammes teilnehmen zu lassen. Das Unvermögen der institutionellen Erziehung, Kindern eine kulturelle Identität zu geben, betonen viele Teilnehmer der Studie. 44% aller Interviewpartner (n = 25), die zu den Defiziten der institu-
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5 Evaluationsstudie
tionellen Erziehung befragt wurden, sahen in der fehlenden Vermittlung von traditionellen Lebensweisen und kulturellen Normen einen Nachteil der stationären Betreuung. „Das größte Problem für Waisen, die nicht in der Gesellschaft, sondern in einer Institution wie dieser hier leben, ist, dass sie nicht die kulturelle Lehre und die kulturelle Identität erhalten.“ (Interview mit R. Posein am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Kehren die jungen Menschen nach Beendigung der stationären Betreuung in ihre ethnische Gruppe zurück, kann die Gefahr bestehen, dass sie nicht als vollständiges Mitglied der Gemeinschaft Anerkennung finden. Ihnen fehlen spezifische Erfahrungen, die in ihrem Stamm vorausgesetzt werden. Beispielsweise erscheint es eher unwahrscheinlich, dass ein Angehöriger der Massai sich nach einem Aufenthalt in einer stationären Betreuungseinrichtung, in seinen Stamm integrieren kann. Ihm mangelt es an Wissen bezüglich der traditionellen Lebensweise und praktischen Fertigkeiten, die zum Überleben als Nomade notwendig sind. Darüber hinaus steigt er ohne Initiation nicht zum Moran, Krieger, auf, das heißt er wird weiterhin als Junge gesehen und untersteht den bereits initiierten Mitgliedern der Gesellschaft. Nicht in allen ethnischen Gruppen Tansanias sind die kulturellen Traditionen noch so lebendig wie bei den Massai. Dennoch spielen sie auch in anderen Stämmen im täglichen Leben und bei wichtigen Entscheidungen eine beachtliche Rolle. Besonders auf dem Land kann die kulturelle Zugehörigkeit und Erziehung, beispielsweise bei der Partnerwahl, einen erheblichen Einfluss ausüben. Darüber hinaus hilft die kulturelle Erziehung den jungen Menschen, ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden und sich innerhalb der Gruppe zu bewegen, ohne die kulturellen Werte zu verletzen. Die Feststellungen, die für die kulturellen Normen und Praktiken der ethnischen Gruppen im Kleinen gelten, haben auch für das Wertesystem der tansanischen Gesellschaft im Ganzen Relevanz. Kinder, die in Familien aufwachsen, leben in der Gesellschaft. Ihre Sozialisation findet in der Familie und anderen gesellschaftlichen Institutionen statt. Sie haben Kontakte zu Gleichaltrigen und Nachbarn, sie gehen in die Schule und sind Teil religiöser Gemeinschaften. Durch den Austausch und den sozialen Kontakt lernen die Kinder die Werte der Gesellschaft kennen und verinnerlichen diese. Die jungen Menschen sind dadurch in der Zukunft sozial handlungsfähig und können sich entsprechend der gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen verhalten. Kinder in stationärer Betreuung wachsen mit einem spezifischen Wertesystem auf. Dieses unterscheidet sich in einigen Bereichen von den gesellschaftlichen Normen und Werten, da es den organisatorischen Anforderungen eines speziellen Alltags genügen muss und teilweise kulturfremde Werte integriert. Besonders Organisationen, die unter ausländischem Einfluss stehen, vermitteln Werte und Normen, die nicht mit den gesellschaftlichen Gewohnheiten kongru-
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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ent sind. „Wir haben Werte aus England, englische Werte, genauso wie tansanische Werte, denn wir nehmen uns von beiden Kulturen: die guten Dinge von der tansanischen Kultur und die guten Dinge von der englischen Kultur. Wir sagen, dies sind die Werte zusammen. Also wenn sie raus gehen in die Gemeinden, sind sie nicht, wissen Sie, wie typische Tansanier in der Kultur. Es gibt einige Werte, die für die anderen Gemeinden in Tansania seltsam aussehen.“ (Interview mit D. Bujiku am 05.05.07 in Magu, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Vermischung von tansanischen und ausländischen Werten kann Kindern die Reintegration in die Gesellschaft erschweren, da ihr Verhalten und ihre Ansichten anderen Menschen möglicherweise fremd erscheinen. Je mehr Kontakt zwischen den Kindern in stationärer Betreuung und der Gesellschaft besteht, desto stärker können sie von unterschiedlichsten Sozialisationserfahrungen profitieren. Kinder in stationären Einrichtungen, die auf ihrem Gelände eine eigene Schule haben oder Privatschulen besuchen, sind am stärksten isoliert (Kap. 4.3.2). Die Mitschüler in den heimeigenen Schulen oder den Englisch Medium Schools vermitteln kein repräsentatives Bild der tansanischen Gesellschaft, da sie aus wohlhabenden Haushalten stammen, die sich den Besuch der Privatschule leisten können. Heranwachsende in stationärer Betreuung, die nur mit Kindern aus gehobenen Einkommensschichten in Kontakt kommen, können leicht einen verfälschten Eindruck von der tansanischen Gesellschaft und den darin gelebten Normen und Werten erhalten. Manche Projekte versuchen, die Kinder stärker in die umliegenden Gemeinden einzubinden. Die Kinder gehen auf öffentliche Schulen, nehmen an den Gottesdiensten der angrenzenden Kirchen teil und dürfen teilweise auch Freunde besuchen oder in die Einrichtung mitbringen. Regelmäßige Kontakte mit den Anwohnern und den gesellschaftlichen Institutionen im Umfeld und die Ferienaufenthalte bei ihren Familien ermöglichen wichtige Sozialisationserfahrungen. In diesen Kontakten lernen die Heranwachsenden die gesellschaftlichen Normen und Werte kennen. Dies erweist sich als notwendig, wenn es den Kindern später gelingen soll, sich in der tansanischen Gesellschaft zu integrieren. Gesellschaftliche Eingliederung Wachsen Kinder in einer Familie auf, findet die Loslösung in einem langsamen Prozess statt. Dieser Prozess zielt nicht auf die endgültige Trennung von der Familie, sondern auf die wirtschaftliche Selbstständigkeit und die Übernahme von Verantwortung innerhalb der Familie. Die Verantwortungsübernahme für die anderen Haushaltsmitglieder, aber auch für das eigene Leben, geschieht nicht von heute auf morgen. Kinder, die in Privathaushalten leben, werden entspre-
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chend ihres Alters in die alltäglichen Pflichten miteinbezogen und erhalten zunehmend mehr Verantwortung, aber auch Entscheidungsfreiheit. Bestimmungen, die das Verhalten der Kinder verbindlich regeln, lockern sich im Laufe der Zeit. Von Jugendlichen erwarten die übrigen Haushaltsmitglieder, dass sie mehr Aufgaben übernehmen als jüngere Kinder; andererseits wird Älteren die Freiheit zugestanden, stärker über ihre Zeit zu bestimmen und eigene Wege zu gehen. Im Gegensatz zum schleichenden Prozess der Loslösung in Familien bildet der Wechsel vom Aufwachsen in einer Institution zum Einstieg in die Gesellschaft eine übergangslose Zäsur. In einigen Fällen haben die Kinder, beispielsweise wenn sie für ihre Sekundarschulbildung ein Internat besuchen, Erfahrung mit einem Leben außerhalb der Einrichtung. Dabei handelt es sich um periodische Trennungen, die immer wieder zu einer Rückkehr in das Projekt führen. Die gesellschaftliche Eingliederung am Ende der stationären Betreuung stellt hingegen eine endgültige Separation dar. Es wurde bereits in einem vorangegangenen Abschnitt erläutert, dass die Einrichtung teilweise nach Beendigung der Hilfe als Anlaufstelle bei Problemen zur Verfügung steht, eine Rückkehr von allen befragten Einrichtungen aber ausgeschlossen wird. Bei der endgültigen Verselbstständigung, das heißt der gesellschaftlichen Eingliederung, durchbrechen die jungen Menschen eine unsichtbare Schranke. Sie treten von der Lebenswelt der Einrichtung, welche von spezifischen Regeln und Werten geprägt wird, in die tansanische Gesellschaft über. Dieser Schritt ist in der Regel irreversible und birgt Chancen, aber auch Gefahren. Junge Erwachsene in der stationären Erziehung sind an feste Strukturen gebunden. Diese Strukturen finden sie im alltäglichen Leben nicht vor. Dies gibt ihnen auf der einen Seite eine bis dahin nicht gekannte Entscheidungsfreiheit, zum anderen verlieren sie mit den Regeln und Strukturen Orientierungspunkte in ihrem Alltag. Laura Elliott von der Organisation Light in Africa berichtet, dass die Kinder, welche die Organisation stationär betreut, teilweise Schwierigkeiten im Umgang mit Freiheit zeigen: „Was wir festgestellt haben, wenn man Kinder im Waisenhaus hat, sind sie daran gewöhnt, dass ihnen gesagt wird, was sie machen sollen und sie folgen dem Rest der Kinder. Also in der Minute, in der man ihnen ein kleines bisschen mehr Unabhängigkeit gibt, dann wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen.“ (Interview mit L. Elliott am 27.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Probleme, die Kinder haben, wenn sie für sich selbst entscheiden können und sich frei von der Kontrolle der Einrichtung fühlen, können bereits während der stationären Betreuung auftreten. Sie verschärfen sich jedoch nach dem Verlassen der Einrichtung, da die jungen Menschen keine Sanktionen fürchten müssen und die Rechenschaftspflicht gegenüber den Mitarbeitern des Projektes entfällt.
5.1 Vergleichende Evaluation von ambulanten und stationären Hilfsangeboten
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Johannes Kasimbazi vom Kinderdorf Kemondo erlebte in seiner Arbeit, was es bedeutet, wenn junge Menschen nach dem Aufwachsen in der Einrichtung plötzlich alleine für sich entscheiden. Das Kinderdorf Kemondo ist von den befragten Institutionen der stationären Erziehung die Erste, die sich im Zuge der Waisenkrise gründete. Die Mitarbeiter sammelten demnach bereits Erfahrung mit dem gesellschaftlichen Eingliederungsprozess. Johannes Kasimbazi berichtet: „Was ich momentan denke, ist, dass wenn sie [die jungen Menschen] raus gehen, treffen sie eine Menge, was soll ich sagen, Schockierendes. Die Grausamkeit und manchmal die Schmutzigkeit, das richtige Leben meine ich. Denn hier sehen sie nicht viel von dem, was passiert. Zum Beispiel gehen sie nicht zur Disco, sie gehen nicht zu diesen TV-Sendungen, die nicht moralisch sind, wir geben ihnen dies nicht. Wenn sie herausgehen, haben sie die Möglichkeit, einen Sexfilm zu sehen. Deshalb denke ich am Anfang ist dies wirklich ein Problem, denn ich habe einige gesehen, die es übertreiben. Es ist, als wäre man in einer Umzäunung eingeschlossen und jetzt ist man frei, alles rundherum auszuprobieren. Aber was ich nach einer Weile festgestellt habe, nach einer Weile und für einige sogar nach einigen Jahren, zwei, drei, vier, vergleichen sie. Sie vergleichen diese Dinge und kommen zurück [zu dem, was sie gelernt haben].“ (Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Den jungen Menschen wird durch ihre gesellschaftliche Eingliederung ein ungekanntes Maß an Autonomie geschenkt.720 Dies kann als Zugewinn an Freiheit oder als Verlust an Orientierung erlebt werden. In beiden Fällen müssen die jungen Erwachsenen Wege finden, damit umzugehen, um die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sinnvoll zu nutzen. Fazit Damit sich Heranwachsende langfristig in der Lage befinden, die biografischen Herausforderungen zu bewältigen und sich in die Gesellschaft zu integrieren, benötigen sie verschiedenste Kapazitäten. Ambulanten und stationären Unterstützungsangeboten gelingt es in unterschiedlichem Maße junge Menschen mit diesen Lebensfertigkeiten auszustatten. Stationäre Betreuungsangebote bieten ihren Zöglingen in der Regel die besseren Chancen im Bereich der formellen Bildung. Die betreuten Kinder erhalten in vielen Einrichtungen nicht nur eine Ausbildung, die ihren kognitiven Kapazitäten entspricht, sondern auch eine qualitativ hochwertige Ausbildung in Privatschulen oder durch interne Bildungsangebote. In den anderen Bereichen – prakti720
Vgl. Interview mit J. Kasimbazi am 16.04.07 in Kemondo, Tansania.
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sche Lebensfertigkeiten, Integration in soziale Sicherungsnetze und Eingliederungsfähigkeit – unterliegen die stationären Angebote allerdings den ambulanten Maßnahmen. Einige Einrichtungen haben diese Nachteile erkannt und bemühen sich um einen Ausgleich. Dieser gelingt in der Regel nur durch die Schaffung künstlicher Arrangements, beispielsweise die Etablierung eines alternativen Sicherungsnetzes oder die Vermittlung praktischer Fertigkeiten in nachgeahmten Situationen. Die Vorbereitung auf die gesellschaftliche Integration und auf die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen leisten diese Arrangements nur begrenzt. Ambulante Hilfsprojekte profitieren vom Verbleib der Kinder in ihren sozialen Netzwerken. Das Aufwachsen in der Familie und Gemeinde stellt sicher, dass die Heranwachsenden nicht nur die notwendigen praktischen Lebensfertigkeiten vermittelt bekommen, sondern auch eine familiäre und kulturelle Identität entwickeln und ihr soziales Sicherungsnetz bewahren. Waisen, die bei Verwandten leben, erhalten somit die gleichen Chancen, sich in die Gesellschaft zu integrieren wie andere Heranwachsende in Tansania. Im Bereich der formellen modernen Bildung unterliegen die ambulanten Angebote allerdings häufig den Möglichkeiten der stationären Betreuung. 5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote Ein Bedarf für die Identifizierung geeigneter Hilfsangebote sowie die Notwendigkeit eines diesbezüglichen Wissenstransfers zwischen den Akteuren zeigten sich im Rahmen der Feldforschung in Tansania. Während des Forschungsaufenthaltes wurde die Autorin immer wieder von Mitarbeitern der Hilfsprojekte mit Fragen hinsichtlich des Arbeitsansatzes und der Programme anderer Anbieter konfrontiert. Die Interviewpartner wollten wissen, auf welche Weise vergleichbare Programme mit den Konsequenzen der Waisenkrise umgehen und welche Hilfsmaßnahmen sich bewährt haben. Diese Fragen offenbarten einen Mangel an Informationen und an Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Anbietern, aber auch den Willen, die Programme auszubauen und qualitativ zu verbessern. Viele Projekte agieren isoliert voneinander; ihnen fehlt die Möglichkeit zum fachlichen Austausch und zur Kapazitätsbildung. Dies gilt insbesondere für die interregionale Zusammenarbeit und die Kooperation zwischen Organisationen mit unterschiedlichen Zielgruppen bzw. konzeptuellen Ansätzen. Ein weiteres Defizit, das sich während der Gespräche mit verschiedenen Stakeholdern zeigte, bestand in unzureichenden Informationen über staatliche Initiativen in der Waisenkrise. Die fehlende Kenntnis des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ (Kap. 2.2.4) erwies sich
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
425
dabei als symptomatisch. Der staatliche Aktionsplan, der die Reaktion Tansanias auf die Waisenkrise leitet, war in 71% der befragten Organisationen (n =31) nicht bekannt. Die mangelhafte Kommunikation der staatlichen Pläne gefährdet die angestrebte Wirkung. Ohne die aktive Mitarbeit der Hilfsprojekte bei der Implementierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ bestehen kaum Chancen, die Zielsetzung zu erreichen. Der staatliche Aktionsplan bildet eine geeignete Grundlage, um eine umfassende Versorgung bedürftiger Kinder in Tansania zu gewährleisten. Die Umsetzung der Strategien könnte die Basis für eine nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der heranwachsenden Generation darstellen und langfristig einen Rahmen für einen gelingenderen Alltag und ein gesünderes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen schaffen. Im Zuge der Forschungsarbeit offenbarte sich der Bedarf, Organisationen die geplanten Aktivitäten des staatlichen Aktionsplans nahe zu bringen und ihnen ihren Beitrag an der Implementierung aufzuzeigen. Dabei sollen die nichtstaatlichen Akteure keinesfalls ausschließlich die Rolle der ausführenden Organe übernehmen, welche die staatlichen Strategien willig und unkritisch umsetzen. Vielmehr besteht ihre Aufgabe darin, den Aktionsplan zu nutzen, um die staatlichen Organe an ihre Verantwortung gegenüber bedürftigen Kindern zu erinnern sowie die Umsetzung der geplanten Maßnahmen einzufordern und zu unterstützen. Die Strategien können den Hilfsprojekten vor Ort darüber hinaus helfen, ihre Kapazitäten auszubauen und ihre eigenen Programme weiterzuentwickeln. Eine konstruktive Partnerschaft zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, in der beide Seiten ihren Beitrag zum Gelingen des Aktionsplans leisten, bildet das notwendige Fundament der Implementierung. Der Wunsch der Mitarbeiter der Organisationen, mehr über die Arbeit anderer Anbieter zu erfahren, und die unzureichende Kenntnis des staatlichen Aktionsplans stellen die Motivation für das folgende Kapitel dar. Das Ziel besteht darin, den Hilfsprojekten effektive und erprobte Instrumente der Waisenhilfe vorzustellen, die es ihnen ermöglichen, umfassende Unterstützung zu leisten und auf die verschiedenen Bedürfnisse ihrer Klienten zu reagieren sowie ihre eigene Organisation durch Evaluation und Ressourcenmobilisierung weiterzuentwickeln. Das Kapitel strebt nicht die Durchführung einer vergleichenden Programmevaluation an, in der die unterschiedlichen Maßnahmen hinsichtlich ihres Inputs und ihrer Ergebnisse empirisch untersucht und miteinander verglichen werden. Eine solche Auswertung ist nicht möglich, da der damit verbundene Aufwand entweder den Umfang der vorliegenden Arbeit überschreiten oder eine Begrenzung auf einzelne Interventionsbereiche, beispielsweise ausschließlich psychosoziale Angebote, notwendig machen würde. Statt sich auf einzelne Interventionsbereiche zu beschränken, soll das vorliegende Kapitel ein möglichst
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5 Evaluationsstudie
umfassendes Spektrum von Maßnahmen abdecken, um den Organisationen eine Auswahl geeigneter Instrumente zur Befriedigung der vielfältigen Bedürfnisse ihrer Klienten zur Verfügung zu stellen. Die Herauslösung spezifischer Elemente aus den Hilfsprogrammen erwies sich als notwendig, da keine Organisation existiert, die ein ideales Programmangebot bietet, welches alle potenziellen Bedürfnisse der Klienten abdeckt. Die identifizierten Instrumente bilden quasi Bausteine, die insgesamt ein umfassendes Hilfsangebot ergeben. Dabei gilt zu beachten, dass sich die vorgestellten Maßnahmen nicht für alle Adressaten eignen, sondern entsprechend der individuellen Situation der Hilfeempfänger sowie der lokalen Voraussetzungen modifiziert werden müssen. Beispielsweise kann sich die Nahrungsmittelhilfe für Kinderhaushalte oder Haushalte mit sehr alten bzw. kranken Betreuern als hilfreich und notwendig erweisen; in Fällen, in denen ein erwachsener Haushaltsvorstand die Verantwortung für die Versorgung der Waisen trägt, kann diese Hilfeform zu einer unnötigen Abhängigkeit führen, so dass sich einkommenschaffende Maßnahmen langfristig besser eignen, um den Lebensunterhalt des Haushaltes zu sichern. Die Identifizierung geeigneter Instrumente beruht auf den Strukturmaximen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (Kap. 1.3.3) und dem „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ (Kap. 2.2.4). Der staatliche Aktionsplan entspricht der Zielstellung einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Er orientiert sich am Alltag der betroffenen Kinder und spricht dadurch alle Problembereiche an. Darüber hinaus fördert er die Integration sowie die Gleichbehandlung tansanischer Kinder, indem er auf die bedürftigsten Kinder und nicht ausschließlich auf Waisen abzielt. Aus diesen Gründen sieht die Autorin den „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ grundsätzlich als umfassende und geeignete Reaktion auf die Waisenkrise und nimmt ihn, neben den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung, als Grundlage für die Identifizierung bewährter Praxisbeispiele. Das methodische Vorgehen der Autorin bei der Auswahl erfolgt dementsprechend in zwei Schritten. In einem ersten Schritt isoliert die Autorin Hilfsangebote der besuchten Organisationen, die einen Beitrag zur Zielerreichung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ leisten können. Die Grundlage für diesen Schritt bilden die Informationen, welche die Autorin im Zuge ihres Forschungsaufenthaltes mit Hilfe von Interviews, Fragebögen und teilnehmenden Beobachtungen sammelte. Besonders die Teilnahme an Programmen gestattete einen tieferen Einblick in die Arbeit der Organisationen und ermöglichte die Verifizierung der in den Befragungen gemachten Aussagen. Zur Identifizierung geeigneter Instrumente in der Waisenhilfe erwies sich die Kenntnis möglichst vielfältiger Hilfsansätze und Angebote als unerlässlich. Eine Vor-
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
427
auswahl aus diesen vielfältigen Hilfsprogrammen erfolgt wie beschrieben anhand der Strategien des staatlichen Aktionsplans. Beispielsweise streben die staatlichen Richtlinien die psychosoziale Unterstützung der am stärksten gefährdeten Kinder an. In Übereinstimmung mit dieser Forderung identifiziert die Autorin verschiedenste Programme aus dem psychosozialen Bereich. Entsprechend der unterschiedlichen Zielsetzungen dieser Maßnahmen erfolgt die Einteilung in die vier Untergruppen Beratung, freizeitpädagogische Angebote, Trauerbegleitung und Kapazitätsbildung in den Familien und Gemeinden. Im zweiten Schritt werden in den einzelnen Kategorien diejenigen Angebote herausgefiltert, die den Forderungen nach Prävention, Dezentralisierung/Regionalisierung, Alltagsorientierung, Integration/Normalisierung und Partizipation in besonderem Maße entsprechen. Nicht alle vorgestellten Programme erfüllen sämtliche Strukturmaximen der Lebensweltorientierung im selben Maß; einige Angebote betonen vor allem das Recht auf Partizipation, andere leisten einen wesentlichen Beitrag zur Integration. Dies bedeutet allerdings nicht, dass bei einem Angebot, welches eine Strukturmaxime besonders berücksichtigt, die übrigen Strukturmaximen bei der Evaluation keine Beachtung finden. Programme, die einzelnen Prinzipien der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit widersprechen, werden daher aus der Auswahl positiver Praxisbeispiele ausgeschlossen. Um dem Ziel der vorliegenden Arbeit, einen konkreten Beitrag zur Verbesserung der Waisenversorgung in Tansania zu leisten, gerecht zu werden, veröffentlichte die Autorin 2008 im Block-Verlag den „Best Practice Guide for comprehensive Orphan Care in Tanzania“ in englischer Sprache und machte diesen den Partnern in Tansania kostenlos zugänglich. Das Methodenhandbuch, welches auch im Internet kostenlos abrufbar ist, dient dem angestrebten Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Akteuren in Tansania. Da der Forschungsaufenthalt den Bedarf für Informationen über effektive Möglichkeiten zur Unterstützung von Waisen deutlich machte, konzentriert sich die Zusammenfassung der Forschung vor allem auf die Darstellung positiver Praxisbeispiele. Damit kommt die Autorin der eingegangenen Verpflichtung nach, die Resultate des Forschungsaufenthaltes mit den teilnehmenden Partnern zu teilen. Die Darstellung der einzelnen Angebote umfasst jeweils eine kurze Beschreibung, die den besuchten Organisationen Anregungen bietet und Antworten auf die Frage liefert, wie andere Projekte mit spezifischen Problemen umgehen. Adressen der besuchten Organisationen sowie Links zu Internetseiten mit weiterführenden Informationen und umfassenden Beschreibungen einzelner Methoden sollen bei der Kapazitätsentwicklung der Projekte helfen und den notwendigen Austausch zwischen den einzelnen Akteuren anregen. Das Handbuch gibt gleichzeitig einen Einblick in die verschiedenen Interventionsbereiche des „Tanzania National
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5 Evaluationsstudie
Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ und veranschaulicht auf diese Weise, welchen Beitrag die nichtstaatlichen Akteure zur Implementierung des staatlichen Aktionsplans leisten können. 721 Die nachstehende Übersicht liefert eine Zusammenfassung der im Kapitel 5.2 vorgestellten Praxisbeispiele: Abbildung 104: Übersicht über die identifizierten Praxisbeispiele Interventionsbereich: Dienstleistungsumgebung Vernetzung
FARAJA Orphan and Training Centre, Pwani Region: Vermittlungssystem
unterschiedlicher
KINSHAI, Kilimanjaro Region: NGO-Netzwerk
Akteure
FARAJA Orphan and Training Centre, Pwani Region: MVC-Komitees
Interventionsbereich: Versorgung auf der Haushaltsebene Unterkunft und
KAKAU, Kagera Region: Unterkünfte für Waisen
Ausstattung
Community Alive Club, Mara Region: Haushaltsausstattung
Ernährung
Kapazitätsentwicklung der Haushalte
World Vision, Kagera Region: Nahrungsmittelhilfen für Haushalte SAKUVI, Kilimanjaro Region: Schulspeisungsprogramme HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Handbuch für Betreuer von Waisen KINSHAI, Kilimanjaro Region: Treffen für Betreuer von Waisen Salvation Army, Kagera Region: Spargruppen HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Einkommenschaffende Projekte WOWESOT, Mwanza Region: Tagesbetreuung
Formelle Bildung
Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Schulbezogene Unterstützung WOWESOT, Mwanza Region: Nachhilfe für Schüler der Primarschule WAMATA Arusha, Arusha Region: Ausbildungsangebote KAKAU, Kagera Region: HIV-Prävention in den Kommunen
Gesundheit
PASADA, Dar es Salaam: HIV-Prävention und HIV-Tests WEMA, Arusha Region: Unterstützung für HIV-infizierte Personen HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Krankenversicherung
721
Vgl. Brizay 2008; www.mmh-mms.com/downloads/brizaybestpracticeguideovc.pdf 10.01.10.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
429
Interventionsbereich: Soziale Sicherheit und Schutz Kinderrechte
WAMATA Arusha, Arusha Region: Aufklärung durch Theater Community Alive Club, Mara Region: Kinderrechte und -pflichten Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Testament für HIV-infizierte Eltern
Erbrecht
HUYAWA, Kagera Region: Rechtliche Unterstützung WOWESOT, Mwanza Region: Selbsthilfeinitiative für Witwen
Betreuungsalternativen
HUYAWA, Kagera Region: „Gute Samariter“ für Waisen Bujora Parish Child and Youth Development, Mwanza Region: Pflege Boona-Baana-Center for Children’s Rights, Dar es Salaam: Kleinstheim
Schutz für
Mkombozi, Kilimanjaro Region: Reintegration von Straßenkindern und
Straßenkinder
präventive Maßnahmen
Interventionsbereich: Psychosoziale Unterstützung Beratung Freizeitangebote Trauerbegleitung
HUYAWA, Kagera Region: Hausbesuche durch Volontäre HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Peerberatung durch Waisen Salvation Army, Kagera Region: Kids Club PASADA, Dar es Salaam: Trauerbegleitung für verwaiste Kinder Community Alive Club, Mara Region: Erinnerungsarbeit
Kapazitätsent-
VUKA Tanzania, Dar es Salaam: Training für Betreuer
wicklung
REPSSI, Dar es Salaam: Bewusstseinsbildung in den Gemeinden
Interventionsbereich: Evaluation und Verlaufskontrolle Programmevalua-
WAMATA Arusha, Arusha Region: Partizipatorische Evaluationstreffen
tion
Mkombozi, Kilimanjaro Region: Drei Methoden der Programmevaluation
Interventionsbereich: Ressourcenmobilisierung Partizipation der
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Mitarbeit der Klienten
Haushalte
PASADA, Dar es Salaam: Hilfeplanung und Verantwortungsteilung
Ressourcen der Gemeinde
Community Alive Club, Mara Region: Fundraising Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Mobilisierung von Gruppen Youth Life Relief Foundation, Dar es Salaam: Ehrenamtliche Mitarbeiter
Staatl. Förderung
WEMA, Arusha Region: Staatliche Stipendienprogramme
Einkommenspro-
Kilimanjaro Children Joy Foundation, Kilimanjaro Region: Landwirtschaft
jekte
KINSHAI, Kilimanjaro Region: Einkommensprojekte
430
5 Evaluationsstudie
5.2.1 Dienstleistungsumgebung Das erste Interventionsfeld des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ liegt hauptsächlich in der Verantwortung der Regierung und öffentlicher Organe. Das Ziel besteht darin, eine förderliche Dienstleistungsumgebung zu schaffen, die eine Umsetzung der staatlichen Richtlinien ermöglicht. Grundsätzlich besteht ein Bedarf zur Harmonisierung der Zuständigkeiten öffentlicher Organe sowie zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen staatlichen Verantwortungsträgern. Dazu müssen die Kapazitäten bereits bestehender Systeme und Initiativen ausgebaut und die im staatlichen Aktionsplan formulierte Organisationsstruktur umgesetzt werden. Zur Mobilisierung lokaler Kapazitäten sieht der MVC-Aktionsplan die Etablierung von lokalen MVC-Komitees in den Kommunen des gesamten Landes vor. Diese sollen in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen Ressourcen in den Gemeinden nutzen, um die Verantwortung für die bedürftigsten Kinder zu übernehmen.722 Eine Vielzahl nichtstaatlicher Organisationen bietet Kindern in schwierigen Lebensumständen Unterstützung an. Die Programme, welche diese Akteure unterhalten, variieren aufgrund unterschiedlicher Ressourcen, Adressatengruppen, Zielstellungen und Methoden. Die Tatsache, dass die Träger jeweils spezifische Probleme sowie Gegenden fokussieren, führt zu einer Disparität in der Qualität und Quantität der Leistungen für bedürftige Kinder in Tansania. Ähnlich wie zwischen den staatlichen Behörden fehlt es auch im nichtstaatlichen Bereich an einer angemessenen Koordinierung und Zusammenarbeit, um die Duplikation von Hilfsangeboten zu vermeiden und einen adäquaten Zugang zu materieller und nichtmaterieller Unterstützung zu gewährleisten. Zur Sicherstellung eines umfassenden Hilfsangebotes bedarf es einer Vernetzung der unterschiedlichen Akteure. Hilfsorganisationen kommt darüber hinaus die Aufgabe zu, die Implementierung staatlicher Initiativen kritisch zu prüfen und mit neu geschaffenen Strukturen, wie beispielsweise lokalen MVC-Komitees, zu kooperieren. Auf diese Weise können sie die Umsetzung der angestrebten Ziele des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ fördern. Nichtstaatliche Akteure haben die Verpflichtung, sozialpolitische Veränderungen einzufordern und deren Implementierung zu kontrollieren, wenn sie den Ansprüchen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit gerecht werden wollen und langfristige Verbesserungen anstreben, statt ausschließlich auf akute Probleme zu reagieren.
722
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 12 ff.
431
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
FARAJA Orphan and Training Centre, Pwani Region: Vermittlungssystem Zur Stärkung des Vermittlungssystems nutzt FARAJA Orphan and Training Centre unter anderem ein Verzeichnis von Dienstleistungsanbietern in unterschiedlichen Sektoren, welches als großformatiges Poster im Warteraum der Organisation hängt. Das Poster bietet, ähnlich wie die untenstehende Tabelle (Abb. 105), eine Aufstellung von Anbietern inklusive der wichtigsten Kontaktinformationen. Dies hilft den Klienten der Organisation, aber auch den Mitarbeitern, bei der Lokalisierung entsprechender Hilfsangebote.723 Abbildung 105: Directory of Services Services provided by category Adherence Counselling Antiretroviral therapy Child care Clinical care Education/schooling Family planning Financial support Food support HIV counselling and testing Home-based care Legal support Material support Mental health services Microfinance Nutrition counselling GYN service Peer counselling Post Exposure Prophylaxis PLHA support PMTCT services Post-test clubs Psychosocial support Social services Spiritual support STI services Substance abuse Domestic violence victims Treatment support TB services Youth support groups 723
DIRECTORY OF SERVICES Organisation Address
Vgl. Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania.
Hours of service
Contact
432
5 Evaluationsstudie
KINSHAI, Kilimanjaro Region: NGO-Netzwerk Die Organisation KINSHAI ist seit dem Jahr 2000 als Netzwerk von über 100 nichtstaatlichen Organisationen in der Kilimanjaro Region registriert. Um Zugang zu den verschiedenen Dienstleistungen von KINSHAI zu erhalten, bezahlt jedes Mitglied eine einmalige Aufnahmegebühr von 10.000 TSH (5,63 Euro) und einen jährlichen Beitrag von 10.000 TSH (5,63 Euro). Die Mitgliedschaft lohnt sich für die Beteiligten finanziell, da KINSHAI Schulungen bezüglich Fundraising anbietet, Information über Geberorganisationen verbreitet sowie beim Erstellen von Anträgen für Projektgelder hilft. Das Netzwerk wirbt außerdem zusätzliche Spenden ein und leitet diese an die Projekte weiter.724 KINSHAI verfolgt das Ziel, die Arbeit seiner Mitglieder durch Kapazitätsentwicklung und Vernetzung zu verbessern. Der Informationsaustausch zwischen der Organisation und seinen Mitgliedsorganisationen sowie zwischen den Mitgliedern untereinander bildet dafür die Grundlage. Mit Hilfe von Emails bzw. Briefen erhalten die Mitgliedsorganisationen zeitnah aktuelle Informationen, beispielsweise über staatliche Initiativen. Zusätzlich nehmen die Mitgliedsorganisationen an Supervisionstreffen teil, die jeweils monatlich in den einzelnen Distrikten stattfinden. Der regelmäßige Kontakt im Rahmen der Supervisionstreffen gibt den Mitgliedsorganisationen die Gelegenheit, Erfahrungen und Wissen auszutauschen. Dies hilft nicht nur, die eigenen Programme zu verbessern, es dient zusätzlich dazu, Klienten mit einem Bedarf, der nicht in der eigenen Organisation gedeckt werden kann, erfolgreich weiterzuvermitteln. Das gleiche Ziel verfolgen gegenseitige Projektbesuche, zu denen KINSHAI ihre Mitglieder einlädt. Auch Mitarbeiter von KINSHAI gehen direkt in die Projekte, um bei Schwierigkeiten zu beraten oder zu vermitteln. Im Rahmen der Supervisionstreffen können die Mitgliedsorganisationen einen Bedarf für Weiterbildungen anmelden. KINSHAI engagiert entsprechend der gewünschten Thematik geeignete Fachkräfte und organisiert die Seminare.725 Das Netzwerk unterhält neben den Unterstützungsangeboten für die Mitgliedsorganisationen eigene Projekte, die zu einer Verbesserung der sozialpolitischen Verhältnisse beitragen sollen. Zum Beispiel legt die Organisation mit Hilfe von Public Expenditure Tracking die Verwendung öffentlicher Gelder im Bereich HIV/AIDS offen. Die hohe Mitgliedszahl gibt der Organisation die Möglichkeit, Lobbying zu betreiben. Andererseits nutzen staatliche Stellen das Netzwerk, um Aufklärungskampagnen und Mobilisierungsaktionen durchzuführen.726
724
Vgl. Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd. 726 Vgl. ebd. 725
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
433
FARAJA Orphan and Training Centre, Pwani Region: MVC-Komitees MVC-Komitees, die auf der lokalen Ebene die Verantwortung für die am stärksten gefährdeten Kinder tragen, bilden das Fundament für dezentrale Reaktionen auf die Waisenkrise im Sinne des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“. Die Komitees bestehen aus unterschiedlichen Vertretern der Gemeinde. Die Pflichten der Mitglieder umfassen in erster Linie die Identifizierung der bedürftigsten Kinder der Gemeinde sowie die Etablierung eines Fonds zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der Betroffenen. Die flächendeckende Einführung und die Leistungsfähigkeit der MVC-Komitees stellen wesentliche Faktoren dar, die über den Erfolg bzw. Misserfolg des staatlichen Aktionsplans entscheiden (Kap. 2.2.4).727 Die Organisation FARAJA Orphan and Training Centre bemüht sich, die MVC-Komitees als lokale Ressourcen in ihrem Einzugsgebiet zu nutzen. Die Komitees identifizieren die bedürftigsten Kinder und geben ihre Namen und Kontaktinformationen an die Organisation weiter. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Organisation verifizieren die Angaben der Komiteemitglieder, indem sie die Kinder zu Hause besuchen und ihre Bedürfnisse feststellen. Auf diese Weise erfolgt eine gegenseitige Kontrolle; weder die Komitees noch die Organisation können bestimmte Kinder in der Auswahl der Hilfeempfänger bevorzugen. Die Komitees erleichtern die Arbeit der Organisation, da die Mitarbeiter keine spezifischen Instrumente zur Identifizierung der bedürftigsten Kinder entwickeln müssen und diesen Teil der Arbeit weitestgehend abgeben können. 728 In einigen Gemeinden leisten MVC-Komitees einen hervorragenden Beitrag in der Waisenhilfe, in anderen Gegenden müssen sie noch etabliert werden und in wieder anderen Kommunen bleibt ihre Wirksamkeit aufgrund unzureichender Vorbereitung, fehlendem Engagement bzw. einer mangelnden Kooperation mit bereits bestehenden Projekten begrenzt. MVC-Komitees sind weder Ersatz noch Konkurrenz für karitative Organisationen. Es besteht die Notwendigkeit, dass nichtstaatliche Initiativen eine förderliche Partnerschaft mit diesen Komitees suchen, ihnen bei der Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten helfen sowie ihren Beitrag einfordern und nutzen. Die Organisationen können einerseits von der Arbeit der Komitees profitieren, müssen aber andererseits eine Kontrollfunktion ausüben. Nur wenn nichtstaatliche Akteure eventuell bestehende Unzulänglichkeiten in den Komitees ansprechen, besteht die Chance auf das Erreichen einer optimalen Funktionalität.
727
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 7 f. und S. 25. 728 Vgl. Interview mit J. Chitenje am 30.05.07 in Kibaha, Tansania.
434
5 Evaluationsstudie
5.2.2 Versorgung auf der Haushaltsebene Die Verbesserung und die Ausweitung der Unterstützungsangebote auf der Haushaltsebene tragen im Wesentlichen dazu bei, eine angemessene Versorgung von Waisen und anderen bedürftigen Kindern zu gewährleisten. Die Aktivitäten, die der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ in diesem Interventionsbereich vorsieht, zielen auf die unterschiedlichen Grundbedürfnisse von Heranwachsenden. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse soll einerseits durch direkte Unterstützung, beispielsweise in Form von Lebensmittelspenden, sowie andererseits durch den Ausbau von Kapazitäten auf der Haushaltsebene, die den Familien langfristig die Selbstversorgung ermöglichen und ihre Erziehungsfähigkeit verbessern, erfolgen. Staatliche Initiativen, wie beispielsweise die Abschaffung der Schulgebühr für die Primarstufe im Rahmen des PEDP-Prozesses, leisten bereits ihren Anteil an der Umsetzung der angestrebten Ziele (Kap. 3.1.3). Eine adäquate Versorgung der betroffenen Kinder lässt sich allerdings aufgrund der geringen staatlichen Finanzressourcen in Tansania nicht im Alleingang der Regierung erreichen. Die Regierung baut daher auf das Engagement nichtstaatlicher Akteure. In Anlehnung an den Aktionsplan sowie in Abstimmung mit den zuständigen öffentlichen Stellen kommt ihnen die Aufgabe zu, ihren Teil zur Verbesserung der Versorgung auf der Haushaltsebene zu leisten.729 Die staatliche Forderung nach einem Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Versorgung verwaister und bedürftiger Kinder entspricht der bisherigen Praxis (Kap. 2.2.3). Religiöse Gemeinschaften, lokale Initiativen und internationale Hilfsorganisationen waren die Ersten, die auf die Überlastung der Privathaushalte aufmerksam wurden und sich der unerfüllten Bedürfnisse der betroffenen Kinder annahmen. Karitative Projekte unterstützen auf unterschiedlichste Weise die betroffenen Haushalte. Trotz der Differenzen zwischen den einzelnen Programmen besteht das Ziel aller Interventionen darin, die familiären und kommunalen Netzwerke der Kinder zu stärken und diesen bei der Versorgung der Heranwachsenden zu helfen. Im Rahmen der Besuche bei den Projekten konnte die Autorin vielfältige Praktiken zur Verbesserung der Versorgung identifizieren, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Für alle vom staatlichen Aktionsplan angesprochene Bereiche bieten die besuchten Organisationen Lösungen, die entsprechend der jeweiligen Herangehensweise differieren. Der individuelle Kontext der einzelnen Haushalte und die lokalen Voraussetzungen entscheiden darüber, welche Möglichkeit sich für den Einzelfall am besten eignet.
729
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 17 ff.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
435
KAKAU, Kagera Region: Unterkünfte für Waisen Eines der Probleme von Haushalten mit Waisen, welches die Mitarbeiter von KAKAU bei ihren Besuchen in den Dörfern entdeckten, betraf ein Mangel an adäquaten Unterkünften. Einige Familien verfügen über gar keine Unterkunft, weil ihr Haus zerstört wurde oder sie es in einem Erbstreit verloren. Andere Waisen leben mit ihren Betreuern wiederum in Hütten, die dringender Instandsetzungsarbeiten bedürfen, um eine angemessene Wohnqualität, den Schutz vor Witterungseinflüssen und die Sicherheit der Bewohner zu garantieren (Kap. 3.1.2). In solchen Notsituationen zählt die Organisation auf das Engagement der Mitmenschen. Andrew Kagya, ein leitender Mitarbeiter der Organisation, erinnert sich an den Fall einer von HIV betroffenen Familie: „Wir mobilisierten die Gemeinschaft, um zu kommen und zum Bau ihres Hauses beizutragen. Das Haus befindet sich jetzt in Bau, sie haben bereits angefangen, es zu bauen. Wir gingen mit der KAKAU-Band dorthin, wir luden viele Menschen ein, wir spielten etwas Musik, verkündigten die Nachricht, wir sprachen über das Problem von AIDS, die Waisen. Dann sagten wir den Menschen, wie sie diesen Leuten helfen können; wir spornten sie an: „Wir haben jetzt ein Problem, an dem wir arbeiten müssen.“ Sie gaben ungefähr 650.000 Schilling [366 Euro], wir brauchten 1.5 Millionen [844 Euro]. Das Problem ist nicht nur das Geld, sondern die Idee, dass dies unsere Verantwortung ist.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Der Einbezug der Bevölkerung bringt mehrere Vorteile mit sich. Zum einen entlastet der finanzielle Beitrag die Organisation, so dass diese mehrere Familien unterstützen kann, statt die gesamten Ressourcen für eine einzige Familie auszugeben. Des Weiteren vermittelt KAKAU den Anwohnern, dass die Sorge für Waisen und andere bedürftige Menschen nicht ausschließlich die Aufgabe von Hilfsorganisationen und anonymen Spendern darstellt. Diese gegenseitige Verantwortung, die in Tansania traditionell verankert ist, ging in vielen Gegenden gerade aufgrund des Engagements karitativer Projekte verloren. KAKAU erinnert die Menschen an ihre Pflichten und ruft sie auf, nicht nur in Notsituationen, wie drohender Obdachlosigkeit, sondern auch im Alltag den Bedürftigsten beizustehen. 730 Nicht immer besteht die Notwendigkeit, Häuser neu zu bauen; meistens reichen Reparaturen zur Verbesserung der Wohnqualität aus. Indem Organisationen Gemeindemitglieder motivieren, die regelmäßige Instandhaltung der anfälligen Lehmhütten zu gewährleisten, lässt sich ohne großen finanziellen Aufwand die Lebensqualität der betroffenen Haushalte erheblich steigern.
730
Vgl. Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania.
436
5 Evaluationsstudie
Community Alive Club, Mara Region: Haushaltsausstattung Bei Hausbesuchen in den betroffenen Familien wurden Mitarbeiter und Volontäre des katholischen Hilfsprojektes Community Alive Club immer wieder auf die schlechte Ausstattung der Haushalte aufmerksam. Schlechte Schlafkonditionen, beispielsweise das Schlafen auf dem feuchten Lehmboden oder ein Mangel an Moskitonetzen, bedeuten besonders für HIV-infizierte Personen mit einem geschwächten Immunsystem zusätzliche Gesundheitsrisiken. Die Verbesserung der Schlafkonditionen stellt in einer solchen Situation eine präventive Maßnahme zum Erhalt der körperlichen Kräfte und der Gesundheit sowie zur Verhinderung von Verwaisungen dar. Aus diesem Grund bemüht sich die Organisation, besonders bedürftige Haushalte mit Betten, Decken und Moskitonetzen auszustatten. Die Erfahrungen der Organisation zeigen allerdings, dass pauschale Hilfsangebote nicht immer ausreichen. „Wir hatten einer Familie ein Moskitonetz gegeben, aber dieses kleine Kind kam mit Fieber, Fieber und Fieber. Also gingen wir hin und stellten fest, dass das Netz hinüber war. Also kauften wir ein großes Netz. Es ist ein großes Bett, fünf oder sechs Kinder schlafen darin, deswegen holten wir ein großes Netz.“ (Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Das Beispiel zeigt, dass die Unterstützung mithilfe einer detaillierten Bedarfsanalyse und einer intensiven Nachbetreuung den individuellen Bedürfnissen in der Familie angepasst werden muss, um ihre Wirkung zu entfalten.731 Neben der Haushaltsausstattung stellt der Kauf von Kleidung, das heißt sowohl von Schuluniformen als auch von Freizeitgarderobe, ein Problem für die betreuten Familien dar. Um Abhilfe zu verschaffen, sammelt der Community Alive Club Secondhand-Kleidung und verteilt diese nach Bedarf an die Waisen und ihre Familien. Zu besonderen Gelegenheiten, wie Weihnachten, erhalten die Mädchen neue Kleider und die Jungen Hosen und Hemden. Diese Bekleidungsstücke stellt eine Schneiderei her, die sich auf dem Gelände der Organisation befindet und zum Community Alive Club gehört. In der Werkstatt arbeiten junge Mädchen, bei denen es sich zum Teil um Waisen bzw. um Betreuer von Waisen handelt. Die Arbeit eröffnet ihnen die Möglichkeit, einen Beruf zu lernen und ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Darüber hinaus erlaubt es der Organisation, Kleidung oder Schuluniformen für eine große Anzahl von Kindern zu einem geringen Stückpreis herzustellen. Schuluniformen und Pullover, welche die Organisation nicht für die betreuten Kinder benötigt, werden verkauft und sichern somit den Erhalt der Schneiderei. 732 731 732
Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
437
World Vision, Kagera Region: Nahrungsmittelhilfen für Haushalte Die Mitarbeiter der Organisation World Vision stellten in ihrer Arbeit in der Kagera Region fest, dass es besonders Kinderhaushalten nicht gelingt, die grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Nahrungsmittelunsicherheit steht häufig an erster Stelle und zieht vielfältige andere Probleme nach sich. Die Anfälligkeit für Krankheiten steigt bei einem unzureichend ernährten Kind, was wiederum zu einem erhöhten medizinischen Bedarf führt sowie die körperliche und emotionale Entwicklung beeinträchtigt. Außerdem wirkt sich eine mangelhafte Ernährung auf den Schulbesuch bzw. die schulischen Leistungen aus. 733 World Vision entschloss sich aufgrund dieser Problematik, besonders gefährdete Haushalte, das heißt in der Regel Kinderhaushalte, mit Nahrungsmitteln sowie mit weiteren Hilfsangeboten zu unterstützen. Sie folgen der Überzeugung, dass Haushalte, in denen Kinder ohne erwachsenen Beistand aufwachsen, nicht in gleicher Weise für ihre Versorgung Verantwortung tragen sollten wie Haushalte mit erwachsenen Haushaltsvorständen. Auch wenn sich die Entstehung von Kinderhaushalten als aktive Bewältigungsstrategie in der Waisenkrise werten lässt, darf dies nicht dazu verleiten, den Heranwachsenden die gesamte Verantwortung zu übertragen. Die Organisation übernimmt durch ihre Unterstützung in den betroffenen Haushalten die Funktion des fehlenden Erwachsenen und begleitet die Kinder, bis sich die Ältesten in der Lage befinden, die Versorgung der Jüngsten zu garantieren. 734 Durch die Unterstützung in der Ernährung können die Waisen ihre selbst angebauten Produkte mit weiteren notwendigen Nahrungsmitteln, wie beispielsweise Mehl, Öl oder Zucker, ergänzen. Dies ermöglicht eine ausgeglichene Ernährung, die sich nicht nur für das Wachstum und die Gesundheit der Kinder als förderlich erweist. Angela Mutashobya, Mitarbeiterin von World Vision Kagera, machte in ihrer Arbeit die Erfahrung, dass die Sicherstellung der Grundversorgung von Kindern durch eine umfassende Unterstützung vielfältige positive Konsequenzen mit sich bringt: „Ich sprach mit diesem Jungen, der hier sitzt. Er ist eine Waise, kein Vater, keine Mutter, kein Onkel, niemand. Aber er hat mir erzählt, dass er der Beste in der Klasse ist, seit wir angefangen haben, ihn mit Essen und anderen Dingen, Schuluniformen und Heften, zu unterstützen.“ (Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.).735
733
Vgl. Interview mit A. Mutashobya am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd. 735 Vgl. ebd. 734
438
5 Evaluationsstudie
SAKUVI, Kilimanjaro Region: Schulspeisungsprogramme „Wir haben die Tradition, dass der Clan die Verantwortung [für Waisen] trägt. Sie können nicht sagen: „Nein, ich trenne mich von dem Kind, weil ich arm bin!“ Man muss ihn oder sie aufnehmen und dann nach anderen Wegen suchen, um es zu versorgen.“ (Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Möglichkeiten, das Haushaltseinkommen zu erhöhen, um die gestiegenen Aufwendungen auszugleichen, fehlen den Betreuern häufig. Besonders in den Bereichen, in denen finanzielle Ausgaben notwendig sind, leidet die Erfüllung der Grundbedürfnisse. Zu diesen Ausgaben zählen unter anderem die Beiträge für die Schulspeisung. 736 In der Umgebung der Organisation SAKUVI etablierten die Primarschulen ein System, welches es den Schülern erlaubt, während des Schulbesuches eine warme Mahlzeit zu erhalten. Um dieses Angebot zu realisieren, fordern die Schulen von den Kindern einen Eigenbeitrag. Entsprechend der Handhabung in der jeweiligen Schule bleiben die Kinder, die den Beitrag nicht zahlen können, ohne Mahlzeit bzw. hängen von den Beiträgen der anderen Kinder ab. In beiden Fällen steigt das Risiko für Stigmatisierung und soziale Isolation. Im ersten Fall fehlt dem betroffenen Kind die Möglichkeit, am sozialen Ritual einer gemeinsamen Mahlzeit teilzunehmen. Darüber hinaus trägt es das Stigma der Armut, welche sich in der Unfähigkeit, den Beitrag zur Schulspeisung zu zahlen, manifestiert. Im zweiten Fall lebt das Kind auf Kosten seiner Mitschüler und reduziert dementsprechend die Portion jedes einzelnen Kindes. „Man findet Schulen, in denen fast ein Viertel der Kinder OVC [Waisen und gefährdete Kinder] sind. Also wenn sie von den Beiträgen der anderen abhängen, würde dies für alle sehr kleine Mengen an Essen bedeuten. Deshalb haben wir das Gefühl, dass sie einen eigenen Beitrag leisten müssen, damit sie nicht von anderen abhängen. […] Wir haben eine Gruppe von Kindern in der Primarschule. Wenn sie Mais oder Bohnen [für die Schulspeisung] benötigen, zahlen wir für sie.“ (Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Dieses System hat sich bewährt, denn es gibt mehrere gute Gründe für ein Projekt, in Schulspeisungsprogramme zu investieren: Die Nahrungsmittelhilfe kommt direkt dem bedürftigen Kind zugute, die Teilnahme an der Mahlzeit sichert die soziale Integration und ermöglicht eine konstante Ernährung, die intellektuelle Leistung des Kindes wird nicht durch Hunger unterminiert und die Mahlzeit stellt eine Motivation für einen regelmäßigen Schulbesuch dar. 737
736 737
Vgl. Interview mit E. Ngowi am 28.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
439
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Handbuch für Betreuer von Waisen Mit dem Ziel die Kapazitäten der Betreuer zu stärken, veröffentlichte die Organisation HUYAMWI (Kap. 4.1.3) ein Handbuch mit dem Titel „Ushauri kwa Walezi wa Yatima“ („Ratgeber für Betreuer von Waisenkindern“). Anhand von praktischen, lebensnahen Beispielen sowie detaillierten Hintergrundinformationen können sich die Betreuer von Waisen weiterbilden und sich Anregungen für den Alltag mit den Waisen holen. Dabei stellt das Buch nicht nur die Verantwortung der Betreuer heraus, sondern auch die Aufgaben und Pflichten der Kinder. Der Ratgeber, der für 500 TSH (0,28 Euro) in verschiedenen Buchläden in Tansania erhältlich ist und in Seminaren von HUYAMWI zur Anwendung kommt, deckt eine breite Themenpalette ab. Einerseits soll die Erziehungsfähigkeit der Betreuer verbessert und andererseits die wirtschaftlichen Kapazitäten der Familie gesteigert werden. Beides zielt auf die gelungene Integration von Kindern in einen Haushalt und die Gestaltung eines gelingenderen Alltags.738 Um bei den Betreuern Verständnis für die spezielle Situation von Waisen zu schaffen, enthält das Buch ein Kapitel über die Bedeutung von Tod und über Möglichkeiten, Kindern bei der Bearbeitung ihres Verlustes zu helfen. Weitere Kapitel erklären die Rechte und Pflichten eines Waisenkindes, die Bedeutung und Ziele von Bildung für Heranwachsende sowie den Umgang mit potenziellen Schwierigkeiten, die beim Zusammenleben von Waisen und Betreuern entstehen.739 Die Aufnahme eines Kindes bedeutet aber nicht nur eine sozial-integrative Herausforderung für die Familie, sie bringt darüber hinaus eine wirtschaftliche Belastung mit sich. Um die Erfüllung der Grundbedürfnisse der verwaisten Kinder sowie anderer Haushaltsmitglieder zu sichern, widmet sich das Buch einkommenschaffenden Projekten. Der Ratgeber erklärt, was einkommenschaffende Projekte sind und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um ein solches Projekt erfolgreich in Angriff zu nehmen. Dazu erhält der Leser Informationen über die Durchführung von Marktanalysen sowie über unterschiedliche Wege, das notwendige Startkapital zu akquirieren. Um ein bestmögliches Ergebnis zu sichern, gibt der Ratgeber detailliert Auskunft über alle notwendigen Schritte von der Planung über die Durchführung bis zur Gewinnverteilung. Zwei praktische Beispiele zeigen, wie sich die Kosten für den Grundbedarf und die Gewinne kalkuliert lassen. Anhand der Beispiele können die Leser nachvollziehen, wie groß die Gewinnspanne sein muss, um ein Projekt rentabel zu machen740
738
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. www.homepage.mac.com/dr._martin_burkhardt/ushauri/ 12.06.09 740 Vgl. ebd. 739
440
5 Evaluationsstudie
KINSHAI, Kilimanjaro Region: Treffen für Betreuer von Waisen Großeltern widmen sich in der Regel mit viel Einsatz und Liebe der Betreuung ihrer verwaisten Enkelkinder. Für diese umfassende Aufgabe fehlen ihnen aber häufig die finanziellen Ressourcen. Auch ein Informationsmangel in spezifischen Bereichen kann die Versorgung der Kinder beeinträchtigen. Beispielsweise zählen alte Personen nicht zu den Zielgruppen von HIV-Präventionsprogrammen, was zu Risiken bei der Pflege HIV-infizierter Kinder und Enkel sowie zu Problemen bei der Aufklärung jugendlicher Waisen führen kann. 741 KINSHAI, ein Netzwerk von nichtstaatlichen Organisationen in der Kilimanjaro Region, wandte sich diesen und anderen Problemen von älteren Betreuern zu. Die Organisation startete ein HIV-Informationsprojekt für ältere Personen und etablierte in Kooperation mit ihren Mitgliedsorganisationen wöchentliche Treffen für Großeltern, die ihre verwaisten Enkel betreuen. Mitarbeiter von KINSHAI bzw. von einer Mitgliedsorganisation des Netzwerkes sind während dieser Treffen präsent. Sie leiten die Gruppe, helfen bei Fragen und bieten Beratungsangebote zu unterschiedlichen Themen. Während der Treffen erhalten die Teilnehmer regelmäßige Weiterbildung hinsichtlich des Aufbaus von Einkommensprojekten, die ihren begrenzten Möglichkeiten entsprechen. Da alte Menschen bei der Beantragung von Mikrokrediten in der Regel Benachteiligungen erfahren, stellt KINSHAI den einzelnen Teilnehmern die notwendige Ausrüstung zum Start ihres Projektes zur Verfügung. 742 Die wöchentlichen Treffen zielen allerdings nicht ausschließlich auf die Beratung und Kapazitätsentwicklung. Vielmehr bilden sie einen geeigneten Rahmen, um alte Menschen aus ihrer Isolation zu lösen und ihnen eine angenehme Abwechslung im ansonsten häufig sorgenvollen Alltag zu bieten. Die Betreuer kommen zusammen, können ihre Erfahrungen teilen und erleben gegenseitige Solidarität. Je nach Wunsch der einzelnen Gruppe stellt KINSHAI für die Treffen unterschiedliches Equipment, beispielsweise Trommeln oder Radios, bereit. Auf diese Weise können die Teilnehmer miteinander tanzen, die Nachrichten verfolgen oder Musik hören. 743 Regelmäßige Treffen lassen sich auch für andere Betreuer von Waisen, beispielsweise Witwen oder Haushaltsvorstände von Kinderhaushalten, durchführen und bieten Gelegenheit, sowohl die sozioökonomischen als auch die erzieherischen Kapazitäten der Betreuer auszubauen.
741 Vgl. Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania; Interview mit S. Daniel am 07.06.07 in Dar es Salaam, Tansania. 742 Vgl. Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania. 743 Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
441
Salvation Army, Kagera Region: Spargruppen Die Spargruppen der Salvation Army in der Region Kagera stehen exemplarisch für die vielfältigen Konzepte von einkommenschaffenden Maßnahmen. „Die Logik ist, dass wir den Kindern helfen wollen, aber wir wollen dafür die Betreuer und Eltern nutzen. […] Wir lehren ihnen, große Träume zu haben, große Träume für die Zukunft. Selbst denen, die HIV-infiziert sind, sagen wir, dass es nicht das Ende ihres Lebens ist. Sie müssen sehen, wie sie für die Kinder, die sie haben, sorgen können.“ (Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mit dem Ziel, die wirtschaftlichen Kräfte der Haushalte zu steigern, initiierte die Salvation Army in der Region Kagera über 90 Spargruppen, in denen sich jeweils 20 bis 25 Frauen wöchentlich treffen. In jeder Gruppe bilden vier gewählte Frauen das Management-Komitee. Zwei weitere Frauen agieren als Alphabetisierungsvolontäre, die mit der Aufgabe betraut sind, Frauen ohne ausreichende Rechen- und Schreibfähigkeiten Hilfestellung zu leisten. 744 Spargruppen besitzen den Vorteil, dass sie von der Organisation keinen finanziellen Input fordern, sondern nur Beratung und Kontrolle. Die Mitarbeiter der Salvation Army bringen den Frauen bei, wie sie ein Einkommensprojekt planen können und was sie bei der Umsetzung beachten müssen. Der finanzielle Input kommt von den Mitgliedern der Spargruppe selbst. Zu jedem Treffen bringen sie einen kleinen Geldbetrag mit und zahlen diesen in eine gemeinsame Kasse ein. Durch regelmäßige Einzahlungen erhalten sie das Recht, bei Bedarf größere Summen für geschäftliche Investitionen zu bekommen. Das Geld der Gruppe wird in einer Geldkassette mit drei Schlössern aufbewahrt; drei Mitglieder des Management-Komitees besitzen jeweils einen Schlüssel, während die vierte Person die Kasse hütet.745 Das Programm richtet sich in erster Linie an Frauen, da die Salvation Army die Erfahrung gemacht hat, dass bei weiblichen Teilnehmern einkommensteigernde Maßnahmen erfolgreicher verlaufen. Die Spargruppen der Salvation Army stehen allen Frauen offen und bleiben nicht auf Witwen oder Betreuer von Waisen beschränkt. Auf diese Weise soll die Bevorzugung von Haushalten mit verwaisten Kindern vermieden und das kommunale Auffangnetz für Waisen gestärkt werden. Insgesamt sind über 2.000 Frauen in den Spargruppen der Salvation Army in der Region Kagera engagiert und mehr als 800 Waisen profitieren direkt von dem verbesserten Haushaltseinkommen in ihren Familien. 746
744
Vgl. Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd. 746 Vgl. ebd. 745
442
5 Evaluationsstudie
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Einkommenschaffende Projekte Die Organisation HUYAMWI bietet einkommenschaffende Projekte für Waisen sowie für deren Betreuer an: „Zuerst erklären wir ihnen, wie sie kleine Projekte in Übereinstimmung mit der Umwelt, den Bedürfnissen in der Kommune oder in der Nachbarschaft beginnen können. Danach suchen sie sich oder entscheiden für sich selbst, welches Projekt sie machen möchten. […] Es sind kleine Einkommensprojekte, denn sie helfen den Waisen und den Witwen, kleine, kleine Dinge, wie Hefte und manchmal Schuluniformen, zu bekommen. Wenn sie zum Beispiel ein Hühnerprojekt haben, wenn sie zwei Hühner verkaufen, kann man zumindest eine Schuluniform oder Hefte oder Stifte oder andere kleine Dinge kaufen.“ (Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania/Übersetzung durch Verf.).747 Zur Sicherstellung einer guten Vorbereitung und des langfristigen Erfolgs lädt HUYAMWI die Teilnehmer des Programms zu mehreren Seminaren ein. Im ersten Seminar erklären die Mitarbeiter der Organisation, wie ein Projekt entsprechend der Umweltbedingungen und des Bedarfs ausgewählt werden sollte. Nach diesem ersten umfassenden Seminar bekommen die Teilnehmer einen Monat Zeit, um einen Projektantrag zu schreiben und bei der Organisation einzureichen. In diesem Antrag müssen sie die Ausgaben für notwendige Anfangsinvestitionen aufstellen und die angestrebte Kosten-Gewinn-Bilanz kalkulieren. In einem zweiten Seminar werden die Anträge diskutiert. Auf diese Weise lassen sich unrealistische Erwartungen hinsichtlich der Gewinne oder voraussichtliche Probleme bei der Durchführung der einzelnen Projekte abklären. Die Mitarbeiter der Organisation nutzen darüber hinaus die Gelegenheit, den Antragsstellern Kenntnisse hinsichtlich der Evaluierung und Überwachung von ihrem Projekt zu vermitteln. Nach der Bewilligung der Anträge erhalten die Teilnehmer einen Kredit von bis zu 50.000 TSH (28,13 Euro), um die notwendigen Anschaffungen zu tätigen und ihr Projekt zu beginnen. Während der Aufbauphase profitieren sie von der regelmäßigen Beratung durch Mitarbeiter von HUYAMWI. Vonseiten der Teilnehmer besteht die Verpflichtung, über alle finanziellen Transaktionen und die Entwicklung des Projektes Buch zu führen. Um die Nachhaltigkeit ihres Projektes zu sichern, können die Teilnehmer nur 50% des Gewinnes für die Bedürfnisse des Haushaltes ausgeben. Von der anderen Hälfte fließen jeweils 50% in die Weiterentwicklung des eigenen Projektes und 50% in die Rückzahlung des Kredites. Nach sechs Monaten findet ein weiteres Seminar zur Evaluation statt.748 747
Vgl. Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania; www.dr-martin-burkhardt.de/ 14.06.09. 748
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
443
WOWESOT, Mwanza Region: Tagesbetreuung WOWESOT ist ein Selbsthilfeprojekt von Witwen, welches auf die Initiative von Victoria Tesha zurückgeht. Als ihr Mann verstarb, musste sie feststellen, welche Schwierigkeiten es bereitet, allein für die Bedürfnisse ihrer Kinder zu sorgen. „Hier [in Tansania] ist der Versorger der Familie der Mann. Also wenn der Mann stirbt, gibt es keine Hilfe. Also die Frau lebt mit den Kindern, ohne dass ihr jemand hilft.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mütter, die traditionell in erster Linie für die Betreuung der Kinder sowie für die Arbeiten im Haus und auf dem Feld Verantwortung tragen, müssen nun ein Einkommen für die Familie erwirtschaften. Die Bewältigung dieser Aufgabe scheitert häufig an fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder. Auch Haushaltsvorstände von Kinderhaushalten und Betreuer, denen es aufgrund ihres Alters oder Krankheiten schwerfällt, sich um die bei ihnen lebenden Kinder zu kümmern, leiden unter einem unzureichenden Betreuungsangebot für Vorschulkinder. Die Organisation WOWESOT entwickelte eine Lösung für diese Problematik. Von Montag bis Freitag versammeln sich Kinder im Vorschulalter im Kindergarten der Organisation. Um Isolation und Ausgrenzung zu vermeiden, steht das Betreuungsangebot allen Kindern unabhängig von ihrem Waisenstatus offen. Dies garantiert gleichzeitig die Rentabilität und Nachhaltigkeit des Programms; denn während Waisen und bedürftige Kinder eine kostenlose Betreuung erhalten, finanzieren die Eltern der übrigen Kinder mit ihren Betreuungsbeiträgen das Projekt. 749 Victoria Tesha, selbst ausgebildete Lehrerin, bietet gemeinsam mit einigen ehrenamtlichen Mitarbeitern ein umfangreiches Betreuungsangebot, welches sowohl dem Lernen als auch dem Spielen ausreichend Platz einräumt. Mit einfachen, häufig selbst hergestellten Materialien bringen die Mitarbeiter den Kindern Buchstaben und Zahlen bei. Dies ermöglicht ihnen eine ideale Vorbereitung auf die Primarschule. Das Betreuungsangebot hilft den Kindern aber nicht nur, ihre körperlichen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Vielmehr gibt die regelmäßige Teilnahme den Kindern Stabilität, welche ihnen helfen kann, Veränderungen und Schwierigkeiten in ihrem Leben zu verarbeiten. Darüber hinaus bietet der Kindergarten einen idealen Rahmen zur Überwachung des Wohlergehens der Kinder. Dies ist besonders für diese Altersgruppe bedeutend, denn Kinder im Vorschulalter können nur begrenzt selbstständig Hilfe und Unterstützung einfordern.750
749 750
Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. ebd.
444
5 Evaluationsstudie
Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Schulbezogene Unterstützung Gemeinsam mit Frauengruppen in den Kommunen und christlichen Gemeinschaften übernimmt die Organisation Rainbow Centre die Kosten für Schuluniformen, Gebühren, Materialien sowie andere Bildungsausgaben. Die Bildungsförderung beginnt bei Bedarf bereits mit der Vorschulbetreuung; entsprechend der intellektuellen Kapazitäten jedes einzelnen Kindes geht sie über die Primarschule hinaus und erlaubt den Besuch der Sekundarschule oder einer praktischen Ausbildung. In besonderen Fällen ermöglicht die Organisation den jungen Menschen auch den Besuch eines Colleges oder der Universität. Um die Bemühungen der Betreuer durch die Hilfe nicht zu untergraben, gibt das Rainbow Centre keine standarisierte Unterstützung. Stattdessen überprüfen die Mitarbeiter jeden Einzelfall und leisten schließlich die Beihilfe, die den individuellen Bedürfnissen und Kapazitäten der Haushalte entspricht.751 Die Mitarbeiter der Organisation realisierten in ihrer Arbeit, dass materielle Hilfe nicht die einzige Voraussetzung für eine erfolgreich verlaufende Bildungslaufbahn darstellt. Besonders Waisen fehlen oft der Ansporn und der Zuspruch ihrer Familie oder die erlebten Verlusterfahrungen erschweren ihnen das Lernen und die soziale Integration in den Bildungseinrichtungen. Andere Kinder bleiben der Schule fern, weil sie ihren Lebensunterhalt erwirtschaften müssen. Diese verschieden Gründe machen weiterführende Angebote und eine enge Kontrolle notwendig. Das Rainbow Centre kombiniert deshalb die Bildungsförderung mit Nahrungsmittelhilfen, regelmäßigen psychosozialen Treffen, einkommenschaffenden Projekten und Seminaren für Betreuer.752 Eine weitere wichtige Komponente des Bildungsprogramms stellt die Kooperation mit den Schulen im Einzugsgebiet des Hilfsprojektes dar. Jedes Jahr sendet der zuständige Lehrer einen Bericht über die schulische Entwicklung sowie die allgemeine Situation des Kindes an die Organisation. Dieser Report kommt in die Akte des Kindes, die jeweils ein Foto des Kindes sowie wesentliche Informationen zum familiären Hintergrund, zu den Problemen und Ressourcen in der Familie und der geleisteten Unterstützung enthält. Auf diese Weise lässt sich die Langzeitentwicklung des Kindes verfolgen. Bei akuten Problemen in der Schule kann er sich direkt mit den Mitarbeitern der Organisation in Verbindung setzen. Diese versuchen im Rahmen von Hausbesuchen bei den betroffenen Familien, Lösungen für die aufgetretenen Probleme zu finden. 753
751
Vgl. Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd. 753 Vgl. ebd. 752
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
445
WOWESOT, Mwanza Region: Nachhilfe für Schüler der Primarschule Die Organisation WOWESOT unterstützt Waisen in ihrer formellen Bildung. Dabei mussten die Mitarbeiter feststellen, dass die Bereitstellung von Schuluniformen und Material nicht ausreicht, um den Bildungserfolg der Kinder zu sichern. Die weitverbreitete Praxis des Lehrpersonals, ihren Schülern Wissen vorzuenthalten, um mit Privatstunden ihr Einkommen aufzubessern, wirkt sich auch negativ auf die Bildungschancen von Waisen aus (Kap. 3.1.3). Selbst Schüler, die regelmäßig die Schule besuchen, sind benachteiligt, wenn sie die Gebühren für die Privatstunden bei ihrem Lehrer nicht bezahlen können. Der reguläre Unterricht bleibt in vielen Fällen unzureichende und den Schülern fehlt erforderliches Wissen, um gute Noten zu erzielen und die Abschlussprüfung in der Primarschule erfolgreich zu absolvieren.754 Statt für die Kinder in ihrem Programm die Privatstunden zu zahlen, entschied sich WOWESOT, älteren Schülern in den Räumen des organisationseigenen Kindergartens Nachhilfe zu geben. Jeden Sonnabend kommen Schüler zusammen und erhalten von den Mitarbeitern des Kindergartens Unterricht in Mathematik, Englisch und anderen Basisfächern. Die Lehrer, die das Schicksal von Waisen oft aus eigener Erfahrung kennen, übernehmen die Aufgabe ehrenamtlich und ohne Bezahlung. Ein junger Lehrer berichtet der Autorin im Gespräch, dass er selbst als Waisenkind aufgewachsen ist und weiß, wie schwer es für diese Kinder sein kann, ihren Bildungsweg erfolgreich zu absolvieren. Aus diesem Grund möchte er Heranwachsenden in einer solchen Situation helfen. 755 Zwischen den Unterrichtseinheiten bleibt Zeit für gemeinsame Spiele im Hof und für Gespräche mit den Mitarbeitern von WOWESOT. Stehen der Organisation die entsprechenden finanziellen Ressourcen zur Verfügung, erhalten die Kinder am Ende des Morgens eine Mahlzeit. Diese wird von Betreuern der Waisen, die sich ehrenamtlich als Helfer zur Verfügung stellen, zubereitet und an die Kinder verteilt. Auch wenn die Gelder für ein warmes Essen fehlen und ein Getränk ausreichen muss, nutzen viele Betreuer die Zeit, in der die Kinder lernen, um im Hof des Kindergartens zusammenzukommen. In kleinen Gruppen tauschen sich die Witwen und Großmütter über ihre Erfahrungen aus, sprechen über gemeinsame Probleme und ermutigen sich gegenseitig. 756
754
Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. Teilnehmende Beobachtung: Nachhilfe für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation WOWESOT am 28.04.07 in Mwanza, Tansania. 756 Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Nachhilfe für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation WOWESOT am 28.04.07 in Mwanza, Tansania. 755
446
5 Evaluationsstudie
WAMATA Arusha, Arusha Region: Ausbildungsangebote Jugendliche, die die Prüfung für die Sekundarschule nicht bestanden haben, besitzen in Tansania nur begrenzte Möglichkeiten, sich wirtschaftlich unabhängig zu machen. Die Organisation WAMATA Arusha möchte diesen jungen Menschen helfen. Zu diesem Zweck bietet die Organisation jugendlichen Waisen eine einjährige Schneiderausbildung in der organisationseigenen Werkstatt an. „Für die Waisen außerhalb der Schule, die sich für Nähen und Schneidern interessieren, haben wir ein Zentrum und bilden die, die Interesse zeigen, ein Jahr lang aus.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 757 Eine Ausbildung allein reicht in der Regel nicht aus, um den Absolventen Einkommenschancen zu eröffnen. In den meisten Fällen verfügen die jungen Menschen nicht über das notwendige Startkapital für den Aufbau eines gewinnbringenden Gewerbes. WAMATA Arusha stattet die Jugendlichen aus diesem Grund nach dem Abschluss ihrer Ausbildung entsprechend aus. „Und dann leihen wir ihnen eine Nähmaschine, damit sie starten können. Und sie zahlen den Grundbetrag, der gebraucht wurde, ohne Zinsen zurück. Sie bezahlen jeden Monat einen kleinen Betrag, bis sie die Nähmaschine abbezahlt haben.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Diese Methode besitzt gleich mehrere Vorteile. Die Abzahlung der Nähmaschine ermöglicht der Organisation die Weiterführung des Programms, denn von den zurückgezahlten Geldern kann ein neuer Jahrgang mit Nähmaschinen ausgestattet werden. Zum anderen nehmen die Jugendlichen ihre Chance ernst. Sie bleiben der Organisation bis zur Rückzahlung der Nähmaschine verpflichtet und müssen sich bemühen eine gewinnbringende Existenz aufzubauen, um ihre Schulden zu tilgen. Andererseits hat auch die Organisation ein eigenes Interesse daran, dass die Jugendlichen nach Beendigung der Ausbildung Erfolg haben. Die Heranwachsenden werden nicht einfach in die Unabhängigkeit entlassen, sondern stehen im engen Kontakt zum Projekt. Auf diese Weise können die Mitarbeiter von WAMATA Arusha die Wirkung ihrer Arbeit kontrollieren und den jungen Menschen bei Bedarf beratend zur Seite stehen. Das Konzept erwies sich als erfolgreich. Die ersten Absolventen nutzten ihre erworbenen Fertigkeiten und die Nähmaschinen, um eine eigene Schneiderwerkstatt zu gründen, in der sie für ihre Kunden maßgeschneiderte Kleidung herstellen und selbst gefertigte Produkte anbieten. Auf diese Weise können sie ihren eigenen Lebensunterhalt erwirtschaften und die Kosten für die Nähmaschine zurückzahlen.758 757 758
Vgl. Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
447
KAKAU, Kagera Region: HIV-Prävention in den Kommunen Die Organisation KAKAU will nicht ausschließlich die Folgen der AIDSEpidemie bekämpfen, sondern auch die Wurzeln des Problems. Die Organisation entwickelte zu diesem Zweck unterschiedliche HIV-Präventionsprogramme, die beispielhaft für die Vielfältigkeit der Präventionsmöglichkeiten sind. 759 Die KAKAU-Band, die in die Stadtviertel und Dörfer der Umgebung zieht, erwies als Instrument der Prävention besonderen Erfolg: „Der Unterhaltungsteil dient dazu, die Leute anzulocken, denn wir haben gesehen, dass solche Diskussionen über AIDS – die meisten Menschen wollten zu dieser Zeit nicht über AIDS sprechen. Wir haben nach Möglichkeiten für einen Ansatz gesucht, um die Menschen zu erreichen. Im Jahr 2000 begannen wir mit dieser Band. […] Und dies war sehr effektiv, denn sie kann Musik spielen und Leute anlocken. Und wenn sie kommen, kann man Lieder zur Unterhaltung singen, aber man hat dann auch die Chance, Theaterstücke aufzuführen, die Nachricht durch Lieder zu übermitteln, auch Slogans, und Material bezüglich AIDS zu verteilen. […] Das ist wirklich sehr angenehm, denn es öffnet die Menschen und gibt ihnen die Gelegenheit, frei über AIDS zu sprechen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Neben den Aktivitäten der KAKAU-Band hält die Organisation in den Dörfern der Region Seminare mit der Bevölkerung und den lokalen Führungskräften ab. Diese sollen die Menschen motivieren, die AIDS-Epidemie zu thematisieren und Maßnahmen zum Schutz zu ergreifen. 760 Eine weitere Präventionsmaßnahme richtet sich speziell an Jugendliche. KAKAU baute zu diesem Zweck Partnerschaften mit Schulen in der Umgebung auf und wählte aus diesen circa 40 Schüler für spezielle Schulungen aus. Diese jungen Menschen erhalten in Seminaren wesentliche Informationen über HIV/AIDS sowie die Fertigkeiten, dieses Wissen an ihre Mitschüler weiterzugeben. Unter Anleitung der ausgebildeten Jugendlichen sollen Schüler ermutigt werden, im Unterricht offen über AIDS zu diskutieren. Diese Diskussionen bieten einen geeigneten Rahmen, in dem Heranwachsende Rückmeldungen bezüglich ihrer eigenen Einstellung von Gleichaltrigen erhalten. Einige der Diskussionen werden auf Video aufgezeichnet und später im lokalen Fernsehen gesendet. So erreicht die Debatte im Kleinen eine breite Öffentlichkeit. „Am Ende,“, meint Andrew Kagya, „am Ende hat man natürlich nicht immer einen Gewinner, aber zumindest hat man viele Ideen.“ (Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.).761
759
Vgl. Interview mit A. Kagya am 11.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd. 761 Vgl. ebd. 760
448
5 Evaluationsstudie
PASADA, Dar es Salaam: HIV-Prävention und HIV-Tests Die Organisation PASADA nutzt zur HIV-Prävention von Kindern und Jugendlichen das Stepping Stone Programm. Dieses kam in Uganda zum ersten Mal zum Einsatz und wird inzwischen in über 100 Ländern angewendet. Die Teilnehmer des Programms sollen in die Lage versetzt werden, sich mit unterschiedlichsten Themen, wie Kommunikation, Gesundheit, Paarbeziehungen und Geschlechterrollen, auseinanderzusetzen und diese offen zu diskutieren. Alle Themen spielen bei der Gefährdung für eine HIV-Infektion eine mehr oder wenig wichtige Rolle. Das Programm bietet keine standarisierten Lösungen für diese Gefährdungsmomente; stattdessen fordert es die Teilnehmer dazu auf, im gemeinsamen Gespräch individuelle Lösungen zu finden. PASADA wendet dieses Programm unter anderen in der Arbeit mit Waisen an und hat damit gute Erfahrungen gemacht. Charles Francis von der Organisation PASADA konnte feststellen, dass sich die positiven Effekte auch auf andere Menschen erstrecken: „Es [das Stepping Stone Programm] gibt ihnen die Motivation, an die zu denken, die infiziert sind, ihnen zu helfen.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Neben dem Hauptziel der Prävention bieten die Seminare eine gute Gelegenheit, Waisen und andere gefährdete Kinder zum Austausch von Erfahrungen und Ideen zusammen zu bringen. 762 Bei einigen Kindern besteht der Verdacht auf eine HIV-Infektion; beispielsweise weil die Mutter in der Schwangerschaft nicht an PMTCTProgrammen teilgenommen hat. Die Feststellung des HIV-Status legt die Basis für eine angemessene Versorgung und Behandlung dieser Kinder. Ebenso wie Erwachsene benötigen Heranwachsende Beratungsangebote vor und nach dem Test. Diese müssen sich entsprechend des Entwicklungsstandes des Kindes in der Ausgestaltung und Methodik unterscheiden. PASADA bietet Kindern und deren Angehörigen eine intensive Begleitung: „Wenn wir bei einem Kind den Bedarf für einen Test feststellen, begleiten wir es zu diesem spezifischen Ereignis und bieten anschließend Unterstützung an.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Auf angemessene Weise bereiten geschulte Mitarbeiter das betroffene Kind entsprechend seines Alters auf den Test vor. Beim Nachweis einer HIV-Infektion wird das Kind in die für diese Zielgruppe entwickelten Programme der Organisation aufgenommen und erhält somit Zugang zu vielfältigen materiellen, psychosozialen und medizinischen Hilfsangeboten. Dies ermöglicht eine enge Überwachung des Gesundheitszustandes sowie bei Bedarf die Auswahl für eine ARV-Therapie.763 762 763
Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
449
WEMA, Arusha Region: Unterstützung für HIV-infizierte Personen Väter und Mütter machen einen beachtlichen Anteil der HIV-infizierten Personen in Tansania aus. Statt Waisen zu unterstützen, möchte die Organisation WEMA den Eltern ermöglichen, ihre Kinder eigenständig zu versorgen und bis in die Selbständigkeit zu begleiten. Neben den erwachsenen Patienten betreut WEMA auch Kinder mit einer HIV-Infektion.764 Die Verteilung von ARV-Medikamenten durch staatliche Krankenhäuser zeigt im Einzugsgebiet der Organisation bereits vielfältige positive Effekte. Die Menschen leben trotz ihrer HIV-Infektion länger und gesünder. Erwachsene befinden sich in der Lage, zu arbeiten und sich um ihre Kinder zu kümmern, und Heranwachsenden erhalten die Chance, zur Schule zu gehen und am sozialen Leben teilzunehmen. Dennoch werden auch einige Unzulänglichkeiten des staatlichen Programms sichtbar. Nahrungsmittelunsicherheit in den Haushalten reduziert die Effektivität der Therapie, denn eine unzureichende oder falsche Ernährung verursacht Nebenwirkungen, welche zum Abbruch der Behandlung oder zu einer eingeschränkten Wirksamkeit der Medikamente führen können (Kap. 3.1.4). Den Familien fehlt in vielen Fällen das Geld, die Ernährungshinweise der behandelnden Ärzte zu befolgen und den erhöhten Nahrungsmittelbedarf zu decken.765 Die Organisation WEMA bemüht sich, das staatliche System zu ergänzen und somit die noch vorhandenen Schwächen auszugleichen. Um HIV-infizierte Kinder und Erwachsene zu stärken, stellt WEMA den Haushalten Lebensmittel und spezielle Nahrungsergänzungsstoffe, wie Vitamine, zur Verfügung. Die Patienten können sich die Unterstützung im Büro der Organisation abholen und sich dort hinsichtlich der Ernährung beraten lassen. Befinden sie sich gesundheitlich nicht in der Lage, das Büro aufzusuchen, erfolgt ihre Versorgung im Rahmen von häuslicher Krankenpflege. Zehn Volontäre der Organisation besuchen zu diesem Zweck regelmäßig die Patienten und leisten den Angehörigen Hilfestellung in der Pflege. In Seminaren erfolgt darüber hinaus die Qualifikation der Angehörigen. Die Mitarbeiter von WEMA informieren sie unter anderem über HIV/AIDS, die Rechte der Patienten im staatlichen Gesundheitssystem, geeignete Ernährungsweisen, psychosoziale Aspekte der Krankheit und notwendige Pflegemaßnahmen. Die vermittelten Kenntnisse sowie die materielle und medizinische Unterstützung durch WEMA befähigen die Haushalte, ihren kranken Angehörigen eine qualitativ hochwertige Versorgung zukommen zu lassen. 766
764
Vgl. Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. Vgl. ebd. 766 Vgl. ebd. 765
450
5 Evaluationsstudie
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Krankenversicherung Im Einzugsgebiet der Organisation HUYAMWI bereitet es in der Regel keine Probleme, für verwaiste Kinder ein neues Zuhause zu finden: „Hier auf dem Land ist doch noch die Großfamilie so halbwegs intakt, das heißt es sind ausreichend Leute da [um ein verwaistes Kind aufzunehmen]. Die Frage ist nur, ob diese Leute sowohl finanziell als auch spirituell diese Last tragen können.“ (Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania). Die Probleme entstehen immer dann, wenn für die Versorgung der Kinder, beispielsweise im Gesundheitsbereich, Bargeld benötigt wird. Als Reaktion auf dieses Problem entwickelte HUYAMWI ein Versicherungssystem. 767 Da die Adressaten der Maßnahme in unterschiedlichen Kommunen und somit im Einzugsgebiet verschiedener Gesundheitsstationen leben, baute HUYAMWI Partnerschaften mit mehreren medizinischen Einrichtungen auf. Damit will die Organisation garantieren, dass die betroffenen Kinder keine langen Wege zu einem zentralen Krankenhaus zurücklegen müssen. Ein Vertrag zwischen HUYAMWI und der jeweiligen Einrichtung legt die Verantwortlichkeiten von beiden Parteien fest. Während HUYAMWI über die Auswahl der Klienten entscheidet und die Kosten der medizinischen Versorgung nach einem Zyklus von jeweils drei Monaten übernimmt, garantiert die Gesundheitseinrichtung eine angemessene Behandlung ohne zusätzliche Ausgaben für die Betroffenen und eine genaue Abrechnung der anfallenden Kosten.768 HUYAMWI stattet alle registrierten Teilnehmer des Gesundheitsprogramms mit Identifikationskarten und Gesundheitscoupons aus. Die Identifikationskarte enthält alle wesentlichen Informationen über das jeweilige Kind, beispielsweise Registrierungsnummer, Name, Geburtsdatum und Wohnort. Die Unterschrift des Kartenhalters sowie ein Foto bzw. ein Fingerabdruck erleichtern dem medizinischen Personal die Identifizierung. Die Gesundheitscoupons zeigen die maximale Ausgabengrenze für die reguläre medizinische Behandlung in einem Jahr. Jede neue Behandlung wird von diesem Betrag abgezogen. Übersteigen die Kosten diese Maximalgrenze, erfolgt eine individuelle Betrachtung des Einzelfalles. In gemeinsamen Gesprächen zwischen der Gesundheitseinrichtung, HUYAMWI und den betroffenen Familien wird entschieden, wie sich die Durchführung der medizinischen Behandlung realisieren lässt. HUYAMWI verfügt für Notfälle oder die kostenintensive Behandlung chronisch kranker Personen über einen speziellen Fond. 769
767
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. www.homepage.mac.com/dr._martin_burkhardt/Inhalt/ 14.06.09. 769 Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 768
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
451
5.2.3 Soziale Sicherheit und Schutz Der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ bestätigt in Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention und der Afrikanischen Charter der Kinderrechte, das Recht eines Kindes auf Schutz vor Vernachlässigung, Missbrauch, physischer und psychischer Gewalt sowie Ausbeutung und Diskriminierung. Zur Durchsetzung dieser Rechte bedarf es umfassender Maßnahmen. Der erste Schritt besteht darin, die Öffentlichkeit für die Rechte und Bedürfnisse von Kindern zu sensibilisieren. Nur wenn in den Familien und Kommunen, aber auch in den Organisationen und bei staatlichen Stellen, ein Bewusstsein für die Rechte von Kindern besteht, können Heranwachsende einen entsprechenden Schutz erfahren. Kinder, die beispielsweise im Bereich Erbe benachteiligt werden, benötigen darüber hinaus einen rechtlichen Beistand, der ihnen bei der Durchsetzung ihrer Rechte hilft. Nichtstaatliche Organisationen können in diesem Bereich als Fürsprecher für verwaiste und bedürftige Kinder agieren. 770 Die staatlichen Richtlinien räumen familiären Lösungen für verwaiste und bedürftige Kinder Priorität ein, dennoch kann das Recht auf Schutz in einigen Fällen stationäre Lösungen notwendig machen. Kindern, deren Sicherheit sich in ihren Herkunftsfamilien nicht garantieren lässt, bietet die institutionelle Versorgung und andere Betreuungsalternativen, wie Pflege- oder Adoptivfamilien, den notwendigen Schutz.771 Kinder, die schweren Formen von Kinderarbeit nachgehen, weisen eine besonders hohe Gefährdung für die Verletzung ihrer Rechte auf (Kap. 3.2.3). Besonders Straßenkinder und Heranwachsende in Kinderhaushalten sind darauf angewiesen, ihren eigenen Unterhalt zu erwirtschaften. Der Staat engagiert sich seit 1995 in Kooperation mit internationalen Organisationen in der Bekämpfung von schweren Formen von Kinderarbeit, zu den unter anderem Prostitution und Tätigkeiten als Haushaltshilfen oder im Bergbau zählen. Mit Hilfe von präventiven Maßnahmen und Reintegrationsprogrammen sollen Kinder vor Ausbeutung geschützt werden. Nichtstaatliche Organisationen leisten ihren eigenen Beitrag, indem sie die Versorgung der Kinder auf der Haushaltsebene sicherstellen und besonders Kinderhaushalte unterstützen. Straßenkindprojekte befinden sich darüber hinaus in einer geeigneten Position, um Kinder zu erreichen, die bereits aus dem familiären Netzwerk gefallen sind und häufig unter gefährdenden Umständen ihr eigenes Einkommen verdienen. 772
770
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 30. Vgl. ebd., S. 24 f. 772 Vgl. ebd., S. 27 ff. 771
452
5 Evaluationsstudie
WAMATA Arusha, Arusha Region: Aufklärung durch Theater Bei der Organisation WAMATA Arusha spielen die Rechte von Kindern eine wichtige Rolle. Die Mitarbeiter der Organisation stellten in ihrer Arbeit häufig fest, dass es sowohl den betroffenen Heranwachsenden als auch der allgemeinen Bevölkerung an Wissen hinsichtlich der spezifischen Rechte von Kindern fehlt. Da Menschen nur helfen können, die Rechte von Kindern durchzusetzen, wenn sie diese Rechte kennen, entschloss sich die Organisation, die Bevölkerung und die Familien der Heranwachsenden zu sensibilisieren. Emmanuel Mawere, Projektkoordinator von WAMATA Arusha, berichtet von den Methoden, die die Organisation zu diesem Zweck anwendet: „Wir betreiben Aufklärung durch Rollenspiele und Theater. Unsere Volontäre machen aufsuchende Arbeit in den Kirchen und wir haben diese Rollenspiele bezüglich der schlechten Behandlung von Waisen. […] Dies hatte eine große Wirkung in den Familien, denn als wir die Rollenspiele zeigten, riefen einige Kirchenmitglieder und Gemeindevertreter um Hilfe: „Ja, das ist es, was wirklich passiert und dies ist nicht gut.“ Also nutzen wir die Rollenspiele und die Theatervorführungen, um die Nachricht zu übermitteln.“ (Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Aufführungen der ehrenamtlich arbeitenden Jugendlichen, von denen einige selbst Waisen sind, informieren die Zuschauer über die Rechte von Kindern im Allgemeinen und von Waisen im Speziellen. Dieser Input regt zu Diskussionen an, so dass Probleme, wie der Missbrauch oder die Vernachlässigung von Waisen, welche die Menschen zuvor nur hinter vorgehaltener Hand besprachen, zu öffentlichen Themen werden. 773 Die Aufklärungskampagne will aber nicht die Betreuer stigmatisieren, sondern die gesamte Bevölkerung zur Verantwortung rufen. Die Organisation möchte in den Kommunen nicht nur ein Bewusstsein für die Rechte der Kinder schaffen, sondern jeden Einzelnen verpflichten, bei der Verletzung fundamentaler Rechte zu reagieren. Sie fordert die Gemeindemitglieder auf, Waisen und ihren Angehörigen zur Seite zu stehen, indem sie Haushalte mit Waisen durch materielle, emotionale und praktische Unterstützung entlasten. Gleichzeitig soll die soziale Kontrolle in den Gemeinden gestärkt werden, so dass die Menschen in Fällen von Kindeswohlgefährdung eingreifen und wissen, an wen sie sich wenden können. Die Aufklärungskampagne von WAMATA Arusha schafft ein Fundament für Veränderungen in der Gesellschaft, die langfristig zu einer besseren Versorgung und mehr Sicherheit für Kinder führen können.774
773 774
Vgl. Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
453
Community Alive Club, Mara Region: Kinderrechte und -pflichten An jedem Sonnabend kommen Waisen auf dem Gelände der Organisation Community Alive Club in Musoma zusammen. Die Waisentreffen sollen den Kindern Gelegenheit geben, miteinander zu lernen, zu spielen und zu tanzen. Die Mitarbeiter nutzen die Zusammenkünfte außerdem, um mit den Heranwachsenden unterschiedliche Angelegenheiten, beispielsweise die Rechte und Pflichten von Kindern, zu thematisieren. 775 Erst die Kenntnis der eigenen Rechte schafft beim Kind ein Bewusstsein für die Bedeutung der Einhaltung von Kinderrechten. Verwehrt ein Betreuer einem Kind beispielsweise den Schulbesuch, wird es wissen, dass es das Recht hat zu lernen, um seine intellektuellen Potenziale zu entfalten. Aber es reicht nicht aus, Kinder auf ihre Rechte aufmerksam zu machen; sie müssen auch wissen, was sie unternehmen können, wenn sie realisieren, dass jemand ihre Rechte nicht respektiert. Der Community Alive Club stellt ihnen deshalb eine Vertrauensperson zur Seite, mit der sie über auftretende Probleme reden können. Kinder sollten darüber hinaus lernen, dass es nicht immer in der Macht ihres Betreuers liegt, wenn Rechte vernachlässigt werden. Zusammen mit den Mitarbeitern der Organisation und den Angehörigen der betroffenen Kinder lassen sich Ursachen für die Schwierigkeiten identifizieren und geeignete Lösungen finden. 776 Die Rechte von Kindern stehen oft im Fokus der Aufklärungsarbeit; die Pflichten der Heranwachsenden, wie sie beispielsweise in der Afrikanischen Charter der Kinderrechte festgeschrieben stehen, erfahren hingegen kaum Aufmerksamkeit. Die Mitarbeiter des Community Alive Clubs sehen in der Erfüllung dieser Pflichten eine wichtige Komponente für eine erfolgreiche Integration der Kinder in ihre Haushalte: „Wenn ein Kind in eine Familie aufgenommen wird, wird er oder sie zu einem Teil der Familie; das heißt es übernimmt alle Pflichten in der Familie.“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Heranwachsende müssen in ihren Haushalten ihren Teil der Pflichten, beispielsweise Respekt gegenüber ihren Betreuern oder Mitarbeit im Haushalt und auf dem Feld, erfüllen, denn sie stellen die gesellschaftlich anerkannte Basis des Zusammenlebens zwischen den Generationen dar. Um den Kindern und ihren Betreuern, aber auch den Mitarbeitern der Organisation, die Rechte und Pflichten von Kindern vor Augen zu halten, stehen sie in bunten Buchstaben an der Wand des Büros der Organisation. Auf diese Weise sind sie jederzeit präsent.777
775
Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. Vgl. ebd. 777 Vgl. Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 776
454
5 Evaluationsstudie
Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Testament für HIV-infizierte Eltern Das Rainbow Centre versucht, die Benachteiligung von Witwen und Waisen im Bereich Erbe präventiv zu bearbeiten. Aufgrund des zweigliedrigen Aufgabenfeldes der Organisation, das heißt die Betreuung HIV-infizierte Personen einerseits und die Waisenprogramme andererseits, besteht die Möglichkeit, bereits früh mit HIV-infizierten Klienten die Zukunft ihrer Kinder zu planen. Mit Hilfe von sechs Gesundheitszentren in den umliegenden Distrikten und mehr als 60 Volontären erreicht die Organisation ihre Klienten regelmäßig und leistet eine umfassende Betreuung. Helfer der Gesundheitszentren besuchen HIV-infizierte Patienten in ihren Haushalten, um die Angehörigen in der Krankenpflege zu beraten und zu unterstützen. Die Besuche dienen darüber hinaus der psychosozialen Begleitung der Betroffenen.778 Die Gespräche mit den Patienten nutzen die Mitarbeiter der Organisation, um mit den Betroffenen über die Zukunft der Kinder zu sprechen. Von den Mitarbeitern fordert dies ein besonderes Maß an Einfühlungsvermögen. Vielen Menschen, auch die, die sich mit der Diagnose HIV abgefunden haben, fällt es weiterhin schwer, über den eigenen Tod zu sprechen. Andererseits besteht die Angst, was mit ihren Kindern geschieht, wenn sie selbst nicht mehr da sind. Die Sorge um die eigenen Nachkommen lässt sich von den Mitarbeitern als Ausgangspunkt für dieses sensible Thema nutzen. Auch für ein Kind stellt es eine Belastung dar, sich mit der Krankheit und dem Tod seiner Eltern auseinanderzusetzen. Dennoch erzeugen Schweigen oder Halbwahrheiten häufig noch größere Ängste und Unsicherheiten. Für Heranwachsende kann es eine Erleichterung sein, entsprechend ihres Alters an der Zukunftsplanung teilzunehmen und zu wissen, was im Falle des Todes der Eltern geschieht. Auch Selbsthilfegruppen für HIV-infizierte Personen bilden einen geeigneten Rahmen, um diese Thematik zu diskutieren und praktisch Anleitung zu geben. Besteht bei den Patienten die Bereitschaft, ein Testament zu verfassen, stehen ihm die Mitarbeiter der Organisation zur Seite. Das Testament sollte genaue Angaben über den Besitz enthalten und die Erben detailliert aufführen. Darüber hinaus lassen sich Wünsche hinsichtlich der geplanten Betreuungsarrangements für die Kinder festhalten. Um einen Missbrauch bzw. die Zerstörung des Testaments vorzubeugen, hat sich die Aufbewahrung in den Organisationen bewährt. 779
778 779
Vgl. Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
455
HUYAWA, Kagera Region: Rechtliche Unterstützung Die Organisation HUYAWA nahm sich in der Kagera Region ebenfalls den Problemen hinsichtlich der Verteilung des Erbes an und entwickelte ein umfassendes Programm, um die Einhaltung des tansanischen Erbrechtes sicherzustellen: „Es gibt einige Familien, in denen Menschen Witwen und Waisen den Besitz nehmen. Sie erhielten in den Dörfern nicht viel Unterstützung und deshalb begannen wir hier mit einer weiteren Abteilung, rechtliche Beratung und Verteidigung, um sicherzustellen, dass wir für die Waisen und Witwen eintreten. Am Anfang gingen wir in die Dörfer, veranstalteten Seminare, um Menschen zu ermutigen, sich um Waisen zu kümmern und sicherzustellen, dass ihnen nicht ihr Besitz genommen wird. Einige Dörfer reagierten sehr positiv, einige nicht, so dass wir in einigen Fällen sogar bis vors Gericht gehen mussten.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Um die Grundlage für die Umsetzung des staatlichen Erbrechts zu schaffen, gehen Mitarbeiter in die Dörfer der Umgebung und geben Seminare bezüglich der Rechte von Frauen und Kindern. Sie lenken damit die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Problematik und regen die Menschen an, über das aktuelle Erbrecht zu diskutieren. Die Organisation spricht darüber hinaus gezielt lokale Autoritäten an und klärt sie über die Gesetzgebung auf. Dorfälteste, Geistliche und örtliche Beamte sind bei einem Erbstreit innerhalb von Familien häufig die ersten Ansprechpartner und schlichten zwischen den Parteien. Aus diesem Grund besteht die Notwendigkeit, dass sie über Informationen hinsichtlich der Rechte von Frauen und Kindern verfügen. Befinden sich lokal anerkannte Autoritätspersonen nicht in der Lage, eine Lösung zu vermitteln, steht den Betroffenen in der Organisation HUYAWA ein geschulter Rechtsberater zur Seite. 780 Der erste Schritt, den die Organisation bei einem Rechtsstreit geht, besteht aus einer informellen Mediation zwischen den verschiedenen Streitparteien. Der Berater begleiten die Betroffenen in ihre Kommunen und spricht mit allen Beteiligten, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Anschließend erfolgt ein Treffen, zum dem oft Vertreter der lokalen Verwaltung als Zeugen zugegen sind, um gemeinsam eine Lösung zu finden. In den meisten Fällen gelingt diese Vorgehensweise. Lässt sich eine außergerichtliche Einigung nicht erzielen, unterstützt HUYAWA seine Klienten, indem die Organisation einen Anwalt und die Prozesskosten zahlt. Das Ziel besteht allerdings in der Vermeidung einer Gerichtsverhandlung, da durch die öffentliche Auseinandersetzung die Chancen auf eine Versöhnung innerhalb der Familie sinken.781 780 781
Vgl. Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd.
456
5 Evaluationsstudie
WOWESOT, Mwanza Region: Selbsthilfeinitiative für Witwen Andere Projekte unterstützen Betroffene ebenfalls vor Gericht, um Erbansprüche geltend zu machen. Die verwitweten Frauen im Selbsthilfeprojekt WOWESOT erleben immer wieder bei sich und anderen die Benachteiligung von Frauen hinsichtlich des Erbes. Victoria Tesha, die nach dem Tod ihres Mannes die Organisation gründete, weiß, dass die Traditionen gegen die Frauen stehen: „Wenn ein Mann stirbt und wenn er Besitz hatte, kommen die Verwandten und nehmen es. Die Kinder haben nichts, was sie verkaufen könnten, um Geld zu bekommen, damit sie zur Schule gehen können. Normalerweise kommen die Verwandten und holen Besitztümer, wie Radios, Fernseher, und wenn es Autos gibt, sagen sie, dies sind die Dinge unseres Bruders. […] Das Gesetz sagt, dass der Besitz einem Mann und seiner Frau gemeinsam gehört, aber wenn er stirbt, aufgrund der Armut, kommt es zu einem Kampf um die Dinge des Verstorbenen.“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). 782 In informellen Gesprächen mit den Beteiligten bemühen sich die Mitarbeiter der Organisation, Lösungen für die Erbstreitigkeiten zu finden. In der Regel lässt sich auf diesem Weg eine einvernehmliche Lösungen finden und den Verwandten kann deutlich gemacht werden, dass ihr Handeln nicht im Sinne des Verstorbenen und nicht im Einklang mit der tansanischen Gesetzgebung steht.783 Kann keine außergerichtliche Einigung erzielt werden, versucht die Organisation, auch wenn ihr die Mittel für einen Anwalt fehlen, den betroffenen Frauen vor Gericht beizustehen. Dabei erwies sich die Mobilisierung anderer Witwen als effektive Methode, um den Forderungen der betroffenen Frauen Nachdruck zu verleihen: „Ich erinnere mich an eine Begebenheit von einer Frau, der die Verwandten des Mannes alle Dinge genommen hatten, so dass der Fall bei Gericht verhandelt wurde. Als der Tag kam, wo der Fall im Gericht präsentiert werden sollte, gingen wir alle dorthin. Viele Witwen kamen, um die Witwe zu begleiten. Als der Richter die vielen Frauen dort sah, fragte er: „Sind sie Witwen? Sind sie gekommen, um bei dem Fall ihrer Kameradin zuzuhören?“ Er hatte Angst!“ (Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Präsenz von anderen Witwen oder von Vertretern nichtstaatlicher Organisationen wirkt sich in vielen Fällen förderlich auf die konsequente Umsetzung der aktuellen Rechtsprechung aus. Auf diese Weise lässt sich mit geringen Mitteln eine große Wirkung erzielen und die Einhaltung der Rechte von Witwen und Waisen sicherstellen.784
782
Vgl. Interview mit V. Tesha am 24.04.07 in Mwanza, Tansania. Vgl. ebd. 784 Vgl. ebd. 783
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
457
HUYAWA, Kagera Region: „Gute Samariter“ für Waisen Kinder, die keine erwachsenen Bezugspersonen in der Gemeinde haben, weisen eine hohe Anfälligkeit für Übergriffe und Missbrauch auf und leiden häufig unter einer unzureichenden Versorgung. HUYAWA hilft diesen Kindern mit materieller, schulischer, medizinischer und psychosozialer Unterstützung. Die Organisation befindet sich allerdings nicht in der Lage, den Kindern die Eltern zu ersetzen. Aus diesem Grund versucht HUYAWA, „Gute Samariter“ zu finden, die sich den Kindern annehmen. Ein „Guter Samariter“ kann ein Nachbar, ein alter Freund der Familie oder eine engagierte Person aus der Gemeinde sein. „Gute Samariter“ müssen Kinder nicht in ihren Haushalt aufnehmen oder die Verantwortung für deren gesamte Versorgung tragen. Vielmehr sollen sie ihren Schützlingen einen Anlaufpunkt bei Problemen und Sorgen bieten. Darüber hinaus verpflichten sich die „Guten Samariter“, die Entwicklung und das Wohlbefinden ihrer Schützlinge zu überwachen. Treten Probleme auf bemüht sich der „Guten Samariter“ um angemessene Lösungen oder er verständigt die Organisation. 785 Die Vorteile eines solchen Arrangements lassen sich von allen Beteiligten spüren. Für die Organisation stellt es eine Entlastung in ihrer Arbeit dar, weil sie sich darauf verlassen können, dass jemand aus der näheren Umgebung das Wohlergehen des Kindes überwacht. Der „Gute Samariter“ agiert als Alarmsystem, so dass sich neu auftretende Probleme zeitnah lösen lassen. Den Kindern selbst dient der „Gute Samariter“ als zuverlässiger Ansprechpartner. Das Wissen, das sich jemand für sie interessiert und sich um sie kümmert, gibt ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit. Ein „Guter Samariter“ fördert die Integration der Waisen in die Gemeinschaft und dient ihnen als Schutz. Die Menschen in der Gemeinde wissen, dass das Kind nicht völlig wehrlos ist, und diese Erkenntnis kann das Risiko für Ausbeutung und Missbrauch reduzieren. Letztendlich bietet das Arrangement auch für den „Guten Samariter“ positive Effekte. Die Verantwortung für ein bedürftiges Kind zu tragen, kann eine erfüllende und lohnende Aufgabe sein. Menschen scheuen vor dieser Aufgabe in der Regel aufgrund der finanziellen und materiellen Belastungen zurück, die ihre eigenen wirtschaftlichen Kapazitäten übersteigen. Die Aufgabenteilung mit der Organisation ermöglicht engagierten Personen, sich in der Betreuung der Waisen einzubringen, ohne die gesamte Versorgung der Kinder zu übernehmen. Viele Menschen in der Gemeinde, beispielsweise Frauen, deren eigene Kinder bereits das Haus verlassen haben, zeigen Bereitschaft, als „Gute Samariter“ zu agieren. 786
785 786
Vgl. Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd.
458
5 Evaluationsstudie
Bujora Parish Child and Youth Development, Mwanza Region: Pflege Nicht alle verwaisten Kinder finden Aufnahme in ihrer Verwandtschaft oder sind alt genug, um alleine zu leben. Damit diese Kinder dennoch in einem familiären Umfeld aufwachsen können, welches ihnen Schutz und Sicherheit bietet, gründete der Pfarrer Andrea Msonge gemeinsam mit Martha Kuhl-Greif eine deutschtansanische Kooperation. Das Ziel dieser Zusammenarbeit besteht in der Unterbringung von verwaisten Kindern in Pflegefamilien. Zum Zeitpunkt der Projektgründung wanderten einige Waisen durch die Ortschaft Bujora bzw. wandten sich direkt an den Pfarrer und baten um Unterstützung. Dem Pfarrer gelang es, in seiner Gemeinde Familien zu motivieren, die verwaisten Kinder aufzunehmen. 787 Um die zusätzliche wirtschaftliche Belastung tragen zu können, benötigten die Pflegefamilien finanzielle Unterstützung. Die Organisation bezahlt jeder Familie eine Aufwandsentschädigung von circa 12 US-Dollar (8,76 Euro) pro Monat und kommt für weitere Kosten, beispielsweise für die formelle Bildung der Kinder, direkt auf. Die materielle Unterstützung allein gewährleistet allerdings nicht die Integration der Pflegekinder in ihre neue Familie. 788 Aus diesem Grund bietet die Organisation sowohl den Pflegeeltern als auch den Kindern eine intensive Betreuung. Die Lehrerin Ndakabela Samuel, die sich als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Betreuung des Pflegekindprogrammes engagiert, thematisiert in regelmäßigen Seminaren auftretende Probleme: „Wir müssen den Kindern lehren, wie sie mit ihren Betreuern leben können. Und an einigen Tagen machen wir ein Treffen mit den Betreuern, um ihnen zu sagen, dass sie für die Kinder wie für ihre eigenen sorgen müssen.“ (Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Neben den Seminaren besucht Ndakabela Samuel die Heranwachsenden sowohl in ihren Pflegefamilien als auch in den jeweiligen Bildungseinrichtungen, um Probleme vor Ort zu klären. Die Organisation begleitet die Kinder bis zu ihrer Unabhängigkeit, das heißt bis zur Beendigung der Sekundarschule oder einer Berufsausbildung. Auch wenn die Unterstützung an die Pflegeeltern zu diesem Zeitpunkt entfällt, zeigt die Erfahrung, dass die Beziehungen zwischen den Pflegekindern und ihrer Familie weiter bestehen. Die Heranwachsenden erhielten mit der Pflegefamilie ein neues familiäres Sicherungsnetz. 789
787
Vgl. Interview mit M. Kuhl-Greif am 16.11.06 in Buseck, Deutschland. Vgl. Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania. 789 Vgl. Interview mit M. Kuhl-Greif am 16.11.06 in Buseck, Deutschland; Interview mit N. Samuel am 22.04.07 in Mwanza, Tansania. 788
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
459
Boona-Baana-Center for Children’s Rights, Dar es Salaam: Kleinstheim In einigen Fällen bedarf es einer stationären Betreuung, um die Sicherheit von Kindern zu garantieren. Die Nachteile einer institutionellen Erziehung, beispielsweise die unzureichende Vermittlung kultureller Normen und Traditionen, die Isolation von der Gemeinschaft sowie ein Mangel an individuellem Eingehen und emotioneller Zuwendung, können allerdings ebenso eine Gefährdung darstellen. Kleinstheime bieten einen geeigneten Rahmen, der einerseits viele Nachteile einer institutionellen Versorgung vermeidet und andererseits die Vorteile dieser Betreuungsform nutzt. Brooke Montgomery gründete in Dar es Salaam das Green Door Home, um Kinder in einer Familieneinheit innerhalb der Gemeinde zu betreuen (Kap. 4.3.3). Ihre Organisation Boona-Baana Centre übernimmt die laufenden Kosten der Einrichtung und stellt ein Haus in einem Wohnviertel in Dar es Salaam zur Verfügung. Diese ausgesuchte Platzierung wirkt sich positiv auf die Integration der Kinder aus. Die Zöglinge befinden sich in einem engen Kontakt zur Nachbarschaft und leben nicht auf einem isolierten Heimgelände. Die Einrichtung verfügt über eine Registrierung als stationäre Betreuungseinrichtung beim Wohlfahrtsamt. Dies ermöglicht eine enge Kooperation bei der Platzierung von Kindern sowie eine externe Kontrolle durch die zuständigen staatlichen Organe. 790 Die Hauseltern, ein Ehepaar mit zwei eigenen Kindern, leben permanent in der Einrichtung. Auf diese Weise leisten sie eine kontinuierliche Betreuung der Zöglinge und stehen ihnen als Hauptbezugspersonen zur Seite. Die Hauseltern dienen als Rollenmodel, denn sie befinden sich aufgrund ihrer tansanischen Herkunft in der Lage, wichtige gesellschaftliche Werte zu vermitteln. Die Zahl der betreuten Kinder in der Einrichtung ist auf circa zehn Heranwachsende beschränkt. Dies lässt eine individuelle Betreuung zu. Die Betreuer haben die Möglichkeit, auf die jeweiligen Probleme der einzelnen Kinder einzugehen und ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Auf der anderen Seite erwarten die Hauseltern von den Heranwachsenden die Mitarbeit. Die Zöglinge übernehmen, wie in Tansania üblich, ihren Teil der Pflichten im Haushalt und bei der Kinderbetreuung. Dadurch lernen sie auf natürliche Weise wertvolle praktische Fertigkeiten, die sie später bei der Gründung eines eigenen Haushaltes benötigen. Diese Fertigkeiten stellen neben der guten formellen Ausbildung, welche die Kinder der Einrichtung erhalten, die Grundlage für ein selbständiges Leben dar. 791 790 Vgl. Interview mit B. Montgomery am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Green Door Home am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 791 Vgl. ebd.
460
5 Evaluationsstudie
Mkombozi, Kilimanjaro Region: Reintegration von Straßenkindern und präventive Maßnahmen In einigen ausgewählten Kommunen im Umkreis von Moshi und Arusha unterhält das Projekt Mkombozi verschiedene Präventionsinitiativen. Heranwachsende, die gefährdet sind, auf die Straße zu gehen, und ehemalige Straßenkinder bekommen einen erwachsenen Mentor zur Seite gestellt. Sie dienen den Kindern als Rollenmodel, leisten bei Problemen Unterstützung und vermitteln bei Schwierigkeiten in der Familie oder Schule. In Seminaren schulen Mitarbeiter von Mkombozi auch Lehrer, Vertreter der lokalen Verwaltung und Dorfälteste im Bereich Konfliktlösung. Diese Autoritätspersonen sind bei Auseinandersetzungen in den Gemeinden und Familien oft die ersten Ansprechpartner. Mit Hilfe von Mediation sollen sie soziale Streitigkeiten schlichten und dadurch das Auseinanderbrechen von familiären Einheiten verhindern. Neben diesen zwei Programmen initiiert Mkombozi Jugendgruppen an Schulen, die von Lehrern Unterstützung und Anleitung erhalten. Diese Gruppen stellen eine Anlaufstelle bei schulischen und familiären Problemen dar und steigern das Zugehörigkeitsgefühl der Heranwachsenden. In den Gruppen bekommen einzelne Kinder eine Ausbildung als Peerberater. Sie helfen Gleichaltrigen, indem sie sich deren Sorgen anhören, ihnen Rat geben und sie eventuell an andere Hilfsangebote weitervermitteln. Die Bindung der Kinder an die Schule bildet eine wichtige Voraussetzung, die ein Weglaufen auf die Straße verhindern kann. 792 Kinder, die bereits auf der Straße leben, erreicht Mkombozi durch seine Straßensozialarbeiter. Besteht bei den Kindern Bereitschaft, die Lebenswelt Straße zu verlassen, erhalten sie mittelfristig im Heim des Projektes Obdach. Der Aufenthalt in der Einrichtung dient der Vorbereitung der Reintegration. Die Organisation nimmt Kontakt zu den Familienangehörigen des Heranwachsenden auf und überprüft, inwieweit die Möglichkeit für eine Rückkehr in die Familie oder für ein alternatives Betreuungsarrangement in der Verwandtschaft besteht. Die Mitarbeiter von Mkombozi klären in gemeinsamen Gesprächen mit der Familie und dem jeweiligen Kind die Voraussetzungen für die Rückkehr. Die unterschiedlichen Gründe für den Gang auf die Straße machen individuelle und zum Teil langfristige Interventionen im psychosozialen und materiellen Bereich nötig. Parallel zu den Kontakten zur Familie bekommt das Kind in der Einrichtung Bildungsangebote zur Vorbereitung der schulischen Reintegration. Die doppelte Wiedereingliederung in Familie und Schule soll den langfristigen Erfolg der Reintegrationsbemühungen gewährleisten. 793 792 793
Vgl. McAlpine 2006, S. 12 ff. Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
461
5.2.4 Psychosoziale Unterstützung Heranwachsende, die mit dem Verlust einer oder mehrerer Bezugspersonen konfrontiert werden, benötigen psychosoziale Unterstützung, um einen Weg zu finden mit ihrer Trauer und den veränderten Lebensumständen umzugehen. Fehlt diese psychosoziale Unterstützung oder erfolgt sie nur in einem unzureichenden Maß, kann dies langfristig das Wohlbefinden der Heranwachsenden beeinträchtigen und Folgen für die psychische Gesundheit nach sich ziehen (Kap. 3.2.1). Aus diesem Grund räumt der „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ der psychosozialen Unterstützung einen wesentlichen Platz in den formulierten Strategien ein. 794 Die Ebene, die sich am besten eignet, psychosoziale Bedürfnisse zu erfüllen, ist die Haushaltsebene. Die Betreuer von Waisen benötigen Informationen und Fertigkeiten, um die allgemeine psychosoziale Versorgung der Kinder zu gewährleisten und auf die speziellen Probleme von Waisen einzugehen. Viele Betreuer fühlen sich mit den spezifischen Bedürfnissen von Waisen und der Integration der betroffenen Kinder in ihren Haushalt überfordert; sie benötigen Beratung und Unterstützung, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Neben den Haushalten erfüllen Bildungseinrichtungen und die Gemeinde als weitere Sozialisationsinstanzen wichtige Aufgaben im psychosozialen Bereich. Auch hier fehlte für lange Zeit ein Verständnis für die spezifischen Bedürfnisse verwaister Kinder und Möglichkeiten, sie in ihrer Trauer zu begleiten. Staatliche Initiativen bemühen sich vor allem im Bildungssektor, ein Bewusstsein für diese Probleme zu schaffen und einzelne Lehrer als Beraters- und Vertrauenslehrer auszubilden. Aber auch in Hilfsprojekten, vor allem im Bereich der institutionellen Erziehung, lässt sich ein Mangel an psychosozialen Kompetenzen feststellen. 795 Das Ziel des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ besteht demzufolge darin, die Kapazitäten zur Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse von verwaisten und gefährdeten Kindern auf allen Ebenen auszubauen. Dazu gehören unter anderen Weiterbildungen für Mitarbeiter von Hilfsprojekten, die Verteilung von Informationsmaterial an staatliche und nichtstaatliche Akteure und die Initiierung von Angeboten für die betroffenen Kinder und ihre Betreuer. Hilfsprojekte für Haushalte mit Waisen eignen sich auf besondere Weise, die betroffenen Kinder zu erreichen und somit zur Erfüllung der Zielstellung des staatlichen Aktionsplans beizutragen. 796
794
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 37. Vgl. ebd., S. 37 f. 796 Vgl. ebd., S. 39. 795
462
5 Evaluationsstudie
HUYAWA, Kagera Region: Hausbesuche durch Volontäre Für Klienten von Hilfsorganisation im ambulanten Bereich ist die Erreichbarkeit der Mitarbeiter besonders wichtig. Nur mit Hilfe regelmäßiger Kontakte lassen sich auftretende Probleme zeitnah lösen und das Wohlbefinden der Kinder überwachen. Als sicherste Methode zur Sicherstellung der Erreichbarkeit hat sich der Einsatz von ehrenamtlichen Mitarbeitern bewährt. Ein Großteil der ambulanten Hilfsprogramme greift auf ein dichtes Netz von Volontären in den Kommunen zurück. Kirchliche Organisationen profitieren dabei von bereits vorhandenen Strukturen. HUYAWA, eine Hilfsorganisation mit über 30.000 registrierten Waisen in neun Distrikten der Kagera Region, nutzt beispielsweise die Evangelisten und Schwestern in den Dörfern als Ansprechpartner. „Wir haben Hilfskräfte auf der Dorfebene. Natürlich haben wir entschieden, die Kirchgemeinden zu nutzen. Wir setzten die Evangelisten, die in den Gemeinden arbeiten, ein, um als Hilfskräfte zu arbeiten. Denn es gibt sie überall und wir schaffen es nicht, alle zu bezahlen, die in die Programme involviert sind. Aber sie waren bereit, für uns als Volontäre zu arbeiten.“ (Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Evangelisten und Schwestern leben in den Kommunen; sie kennen alle Einwohner und die spezifischen Problemlagen. Auf diese Weise stehen sie als Ansprechpartner und Kontaktpersonen zwischen den Familien und der Organisation kontinuierlich zur Verfügung. Aufgrund der Nähe zu den Menschen erfahren sie unverzüglich von neuen Krankheits- oder Todesfällen. Dadurch lassen sich neue Waisen ohne Verzögerung registrieren und an den Hauptsitz der Organisation weitermelden. 797 Die Organisation HUYAWA profitiert von Engagement der Volontäre besonders bei der Erfüllung psychosozialer Bedürfnisse. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter besuchen die Waisen in ihrer Gemeinde regelmäßig, sie beraten die Kinder und ihre Betreuer und analysieren den Bedarf des Haushaltes. Die Evangelisten, die aufgrund ihrer Profession über Kenntnisse im diakonischen Bereich verfügen, stehen den Familien beratend zur Seite und begleiten die Waisen in der schwierigen Phase nach dem Verlust. Fragen und Probleme, beispielsweise hinsichtlich der Integration von Waisen in einen Haushalt, klären die Mitarbeiter vor Ort. Der Einsatz der Volontäre wirkt sich im psychosozialen Bereich zweifach positiv aus: Einerseits werden die Betreuer durch Beratungsangebote in die Lage versetzt, die psychosozialen Bedürfnisse der bei ihnen lebenden Kinder zu erfüllen, und andererseits leisten die Volontäre direkte psychosoziale Unterstützung, indem sie den Familien als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. 798 797 798
Vgl. Interview mit J. Balami am 04.04.07 in Bukoba, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
463
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Peerberatung durch Waisen Die Organisation HUYAMWI (Kap. 4.1.3) in der Kilimanjaro Region stellte in ihrer Arbeit fest, dass die Beratung von verwaisten Kindern durch erwachsene Volontäre und Mitarbeiter nicht immer ausreicht. In vielen Fällen fällt es Kindern leichter, sich anderen Heranwachsenden zu öffnen, die sich in der gleichen Situation befinden. Aus diesem Grund etabliert und fördert HUYAMWI das Instrument der Peerberatung. Die Organisation wählt geeignete Waisen aus, die sich freiwillig für die Aufgabe des Peerberaters zur Verfügung stellen. Diese Jugendlichen erhalten von der Organisation ein abgestimmtes Training, welches die eigenen Erfahrungen und die Möglichkeiten zur Unterstützung anderer Waisen thematisiert. Die Auswahl der jungen Volontäre, das Vorbereitungsseminar und die Begleitung der Peerberater folgen der Auffassung, dass die Jugendlichen einen gesunden Umgang mit ihren eigenen Erlebnissen finden müssen, bevor sie sich in der Lage befinden, andere Betroffene adäquat zu beraten. Eine mangelhafte Vorbereitung oder eine ungenügende Verarbeitung der eigenen Verlusterfahrung, gefährden nicht nur den Erfolg der Peerberatung, sondern führen zu einer zusätzlichen psychischen Belastung für die jugendlichen Berater. Die besondere Situation der Peerberater erfordert daher eine enge Supervision durch die Organisation. In regelmäßigen Treffen müssen sie die Möglichkeit erhalten, über Probleme in ihrer Arbeit und eigene Belastungen zu sprechen.799 Nach Beendigung des Trainings begleiten die Peerberater erwachsene Volontäre bei Hausbesuchen. Während sich die Erwachsenen unterhalten, wendet sich der Peerberater den im Haushalt lebenden Waisen zu. Er kennt die Sorgen und Probleme von Waisen, aber auch Strategien, diese zu überwinden. Aus diesem Grund öffnen sich die Kinder leichter und zeigen Bereitschaft, die Ratschläge und Hilfsangebote anzunehmen. Die Peerberater organisieren außerdem gemeinsam mit den erwachsenen Volontären von HUYAMWI die monatlichen Gruppenangebote in den einzelnen Gemeinden. Bei dieser Gelegenheit bringen sie den teilnehmenden Kindern neue Spiele bei und bieten sich als Gesprächspartner an. Auch die Peerberater selbst ziehen einen Gewinn aus ihrem Engagement, der von psychosozialer Natur ist. Sie erfahren durch ihre Arbeit Anerkennung, welche sich positiv auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt, und erwerben vielfältige soziale Kompetenzen. 800
799
Vgl. Interview mit S. Mori am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania; Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation HUYAMWI am 16.06.07 in Mwika, Tansania. 800
464
5 Evaluationsstudie
Salvation Army, Kagera Region: Kids Club Dass sich niedrigschwellige psychosoziale Programme für Kinder kostengünstig und unkompliziert organisieren lassen, belegt die Salvation Army mit ihrem Kids Club. Eine angestellte Mitarbeiterin, die von Volontären aus der Kommune Unterstützung erhält, lädt jeden Sonnabend Kinder der Umgebung ein, den Nachmittag gemeinsam am Strand des Victoriasees zu verbringen. Als Treffpunkt wählen die Mitarbeiter der Organisation bewusst einen öffentlichen Raum, der für alle Heranwachsenden zugänglich ist, keine Hemmschwelle beinhaltet und sich für freizeitpädagogische Aktivitäten eignet. Um Stigma und Diskriminierung zu vermeiden und die Integration zu fördern, steht das Treffen allen Kindern unabhängig von ihrem Waisenstatus offen.801 Der finanzielle Aufwand des Kids Club beschränkt sich auf ein Minimum. Die Organisation verfügt über zwei Fußbälle und ein Seil; diese Grundausstattung und die Zuwendung der Mitarbeiter sind den circa 50 teilnehmenden Kindern genug. In ihrem Alltag übernehmen die Heranwachsenden, vor allem ältere Waisen, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern oder kranke Eltern pflegen, viel Verantwortung. Der Kids Club bietet ihnen im gemeinsamen Spiel Gelegenheit, wieder Kind zu sein. 802 Viel wichtiger als die materielle Ausstattung sind die Ausbildung und die Hingabe der Mitarbeiter. Ihre Kenntnisse hinsichtlich psychosozialer Bedürfnisse von Kindern sowie den spezifischen Problemen von Waisen ermöglichen es ihnen, die Heranwachsenden kindgerecht zu beraten und ihnen bei Schwierigkeiten weiterzuhelfen. Zu diesem Zweck teilen die Mitarbeiter der Organisation die teilnehmenden Kinder entsprechend ihres Alters nach der ersten Spielphase in zwei Gruppen. Mindestens ein Erwachsener leitet in jeder Gruppe das Gespräch und gibt den Kindern Raum, um über ihre Erfolge und Probleme zu berichten. Gemeinsam diskutieren die Heranwachsenden unterschiedliche selbstgewählte Themen. Während der Gesprächsrunden beobachten die Mitarbeiter die Kinder genau, um die Heranwachsenden zu identifizieren, die weiteren Beratungsbedarf aufweisen. Wenn die Kinder zu ihren Spielen zurückkehren, nutzen die Erwachsenen die Zeit, um das Gespräch mit einzelnen Kindern zu suchen. Das informelle Setting ermöglicht die Beratung der Kinder, ohne sie unter Druck zu setzen. Lassen sich die Probleme im Gespräch nicht lösen, wird ein Hausbesuch mit dem betroffenen Kind geplant.803
801
Vgl. Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania. Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Salvation Army Kagera am 14.04.07 in Bukoba, Tansania. 803 Vgl. Interview mit M. Mpangala am 10.04.07 in Bukoba, Tansania. 802
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
465
PASADA, Dar es Salaam: Trauerbegleitung für verwaiste Kinder PASADA unterhält ein besonders umfangreiches psychosoziales Programm. Dieses reicht von der Beratung der Betreuer und Kinder über freizeitpädagogische Angebote bis zu therapeutischen Trauergruppen. Zur Stärkung der sozialen Beziehung zwischen Kindern und Betreuern klären Mitarbeiter die Familien über die spezifischen Probleme und Bedürfnisse von Waisen auf. Bei Problemen haben sowohl Kinder als auch die Betreuer die Möglichkeit, sich beraten zu lassen und Unterstützung zu bekommen. Die Beratung der Kinder erfolgt neben den Einzelgesprächen in festen Gruppen, in denen die Kinder zusammenkommen, verschiedene Freizeitaktivitäten unternehmen und feste Ansprechpartner für ihre alltäglichen Sorgen finden.804 Für einige Kinder erwiesen sich diese Angebote als nicht hinreichend für die Bewältigung ihrer Verlusterfahrungen. Mitarbeiter der Organisation identifizieren Waisen mit einem therapeutischen Bedarf in den verschiedenen Angeboten und laden sie ein, an einem fünftägigen Trauerseminar teilzunehmen. Um den betroffenen Heranwachsenden das Einlassen auf die Trauer zu erleichtern, verlassen die Teilnehmer ihre gewohnte Umgebung für die Dauer des Seminars. Diese physische Distanz zu den traumatischen Ereignissen und den alltäglichen Problemen begünstigt die Erzeugung eines therapeutischen Milieus. Dieser Rahmen ermöglicht es den Kindern, sich langsam zu öffnen, ihre unterschiedlichen Emotionen zuzulassen sowie ihre Erfahrungen auszutauschen. Viele Waisen verdrängen ihre Gefühle bezüglich des erlebten Todesfalls, um im Alltag bestehen zu können. Die Mitarbeiter benötigen daher ein großes Maß an Geduld und Einfühlungsvermögen in den Gruppen- und Einzelgesprächen mit den Betroffenen. Mit Hilfe gezielter Fragen hinsichtlich der gemachten Erfahrungen und der dabei empfundenen Gefühle gelingt es den Waisen, einen Zugang zu ihrer Trauer zu finden. Die Kinder stellen fest, dass andere Heranwachsende ähnliche Verluste erlitten haben und sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Charles Francis, der für PASADA arbeitet, berichtet über die positiven Veränderungen der Kinder während des Seminars: „Sie [die Waisen] beginnen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, und öffnen sich langsam […] und beginnen, positiv über ihre eigene Zukunft zu denken.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Gewissheit, mit den traurigen Erlebnissen und Nöten nicht allein zu sein, hilft den Waisen mit der individuellen Trauer umzugehen und sich dem Leben zuzuwenden.805
804 805
Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. ebd.
466
5 Evaluationsstudie
Community Alive Club, Mara Region: Erinnerungsarbeit Erinnerungsbücher stellen ein wichtiges Instrument in der Arbeit mit HIVinfizierten Personen dar, da sie den betroffenen Menschen erlauben, sich auf kreative Weise mit ihrer Krankheit und dem Sterben auseinander zu setzten. Jedes Buch ist individuell: Eltern schildern in der Regel die Geschichte der Familie, beschreiben Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft ihrer Kinder und geben Anekdoten aus deren Kindheit wieder. Die Erfahrungen, die manche Eltern aufgrund ihrer tödlichen Krankheit nicht mehr an die nächste Generation vermitteln können, sollen mit Hilfe des Buches weitergegeben werden. Mitarbeiter des Community Alive Clubs helfen den Eltern beim Schreiben. Neben den Geschichten integrieren die Verfasser Fotos, Zeichnungen oder andere Objekte, die ihren Kindern ihre Gefühle und Erfahrungen nahe bringen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hilft den Betroffenen auch bei der Planung der Zukunft. Die Mitarbeiter der Organisation beobachten, dass HIV-infizierte Menschen, die Erinnerungsarbeit leisten, eher Bereitschaft zeigen, mit ihren Kindern offen über ihre Krankheit zu reden und die Zukunft der Kinder vorzubereiten. Für Waisen wird das Erinnerungsbuch ihrer Eltern in der Regel zu einem wertvollen Besitz. Das Buch stellt die gesammelten Erinnerungen der Eltern dar, welche auch nach ihrem Tod weiterleben. Darüber hinaus übermitteln Eltern ihren Kindern in den Büchern Erwartungen und eigene Moralvorstellungen, die den Kindern in Zukunft als Orientierung und Motivation dienen können. 806 Nicht alle Eltern hinterlassen ihren Kindern ein Erinnerungsbuch, dennoch lässt sich die Erinnerungsarbeit auch für diese Waisen zur Bewältigung der Trauer und zur Neuorientierung nach dem Todesfall nutzen. Während der regelmäßigen Waisentreffen des Community Alive Clubs ermutigen die Mitarbeiter der Organisation die Kinder, eigene Erinnerungsbücher über ihre verstorbenen Eltern zu verfassen. Die Kinder halten in den Büchern fest, was sie von ihren Eltern wissen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Eltern ermöglicht ihnen, über die Eltern zu sprechen und sich mit deren Tod auseinanderzusetzen. Um die Lücken, beispielsweise hinsichtlich der Familiengeschichte oder der Jugend der Eltern, zu füllen, wenden sich die Heranwachsenden an Familienmitglieder. Auf diese Weise erhalten die Kinder nicht nur zusätzliche Informationen bezüglich ihrer Eltern. Die Gespräche innerhalb der Familie erweisen sich häufig als geeignete Ausgangspunkte, um die familiäre Situation zu thematisieren und die Beziehungen zu den verschiedenen Angehörigen zu festigen. 807
806 807
Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
467
VUKA Tanzania, Dar es Salaam: Training für Betreuer In den Seminaren der Organisation VUKA treffen sich circa 25 Betreuer von Waisen, um über die Bedeutung von Kindheit, die spezifischen Probleme von Waisen, Fragen der Eingliederung in die Familie und die Verantwortung von Betreuern zu sprechen. Die Veranstaltung folgt einem partizipatorischen Ansatz. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter der Organisation in die einzelnen Themen einführen und die Gespräche leiten, aber die Teilnehmer angehalten werden, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten und sich gegenseitig Rat zu geben. Die Erfahrung zeigt, dass es den Betreuern leicht fällt, Anregungen und konstruktive Kritik von Menschen zu akzeptieren, die sich in der gleichen Situation befinden.808 Einen besonderen Schwerpunkt legt das Seminar auf das psychosoziale Wohlbefinden von Waisen. Soziale, emotionale und psychologische Bedürfnisse bleiben in den Familien, aufgrund der Dringlichkeit der materiellen, schulischen und medizinischen Erfordernisse, oft unbemerkt. Die Mitarbeiter von VUKA möchten in den Seminaren ein Bewusstsein für die psychosozialen Belange schaffen. Beispielsweise erklärt der Seminarleiter den Anwesenden die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „upendo“ (Liebe) und dessen Signifikanz in Verbindung mit Kindern. Ein Großvater, der seine verwaisten Enkel bei sich aufgenommen hat, bekennt, dass es ihn nicht möglich ist, seinen Enkelkindern zu sagen, dass er sie liebt; nicht, weil er keine Zuneigung für sie empfindet, sondern weil er aus einer Generation stammt, in der Menschen ihre Liebe nicht öffentlich deklarieren. Diesem Eingeständnis, dem sich andere Teilnehmer anschließen, folgt eine angeregte Diskussion über unterschiedliche Wege seine Liebe zu zeigen. Die Betreuer berichten, wie sie den bei ihnen lebenden Waisen durch Worte, Gesten und kleine Aufmerksamkeiten ihre Zuneigung vermitteln. Die konkreten Beispiele ermöglichen es den Teilnehmern, die besprochenen Themen schnell im alltäglichen Leben umzusetzen. 809 Zwischen den Trainingseinheiten bieten gemeinsame Mahlzeiten Gelegenheit, sich in informellen Gesprächen mit anderen Teilnehmern auszutauschen. Auf diese Weise lassen sich die Diskussionen zu den durchgenommenen Themen weiterführen. Bei Unklarheiten oder persönlichen Fragen bieten die Pausen darüber hinaus die Möglichkeit, sich direkt an die Mitarbeiter der Organisation zu wenden, um Rat und Hilfe einzufordern. 810
808 Vgl. Teilnehmende Beobachtung: Seminar für Betreuer von Waisen der Organisation VUKA Tanzania am 13.03.07 in Dar es Salaam/Tansania. 809 Vgl. Interview mit J. Kayombo am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania. 810 Vgl. ebd.
468
5 Evaluationsstudie
REPSSI, Dar es Salaam: Bewusstseinsbildung in den Gemeinden Die Organisation REPSSI, die sich in 13 afrikanischen Ländern engagiert, entwickelte die Methode „Journey of Life“ (Lebensweg), um in den Gemeinden ein Bewusstsein für die psychosozialen Bedürfnisse von Heranwachsenden zu schaffen. Der Lebensweg eines Kindes dient als Metapher, um den Prozess des Aufwachsens als Reise mit vielfältigen Hindernissen zu beschreiben. Die Bevölkerung soll verstehen, dass ein Kind auf dieser Reise Unterstützung in seinem Umfeld benötigt, um die verschiedenen Herausforderungen zu meistern. Der Leiter des Workshops organisiert ein Treffen mit erwachsenen und minderjährigen Mitgliedern der Gemeinde. Mit Hilfe verschiedener Bilder, die unterschiedliche Stadien oder Probleme in der Kindheit darstellen, führt der Seminarleiter die Teilnehmer in die Thematik ein. Im gemeinsamen Gespräch definieren die Menschen die spezifischen Bedürfnisse von Kindern in ihrer Gemeinde und identifizieren Risikogruppen, die eine besonders große Gefährdung für unzureichende psychosoziale Unterstützung aufweisen. Die Probleme in den einzelnen Gemeinden unterscheiden sich entsprechend des lokalen Kontextes; in einer Kommune stellen fehlende Möglichkeiten der Freizeitgestaltung ein Problem dar und in einer anderen Kommune treten Schwierigkeiten bei der Integration von Waisen auf. Mit Hilfe von interaktiven Methoden setzen sich die Teilnehmer mit diesen Problemen und deren Konsequenzen auseinander. Beispielsweise bittet der Seminarleiter die Teilnehmer jeweils einen Stein zu nehmen, der symbolisch für ein Hindernis in der Kindheit steht. Diese Steine werden in einen Sack gelegt. Auf diese Weise lässt sich verdeutlichen, wie sehr die identifizierten Probleme ins Gewicht fallen und wie stark Kinder an dieser Last zu tragen haben. Der interaktive Ansatz, der sich auch in Rollenspielen und den verwendeten Bildern zeigt, ermöglicht den Teilnehmern, die Thematik nicht nur zu erörtern, sondern zu erleben. Zusätzlich fasst der Seminarleiter die wesentlichen Informationen nach jeder Einheit zusammen. 811 Nachdem die Teilnehmer die Hindernisse für Kinder auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben identifiziert haben, suchen sie gemeinsam nach Lösungen. Die Bevölkerung stellt sich die Frage, auf welche Weise sich Brücken bauen oder Hilfestellung leisten lassen, die es den Kindern erlauben, die Schwierigkeiten zu überwinden. Entsprechend der lokalen Situation formulieren die Beteiligten individuelle Lösungen. Besteht ein Bedarf, einzelne Themen ausführlicher zu bearbeiten, bietet REPSSI weiterführende Module an, die sich mit spezifischen Problemen, beispielsweise der Trauerbegleitung von Kindern, befassen. 812 811 812
Vgl. www.children-psychosocial-wellbeing.org/journey-of-life-worshops.html 25.06.09. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
469
5.2.5 Evaluation und Verlaufskontrolle Maßnahmen der Evaluation und der Verlaufskontrolle sind notwendig, um die Umsetzung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ zu überwachen. Der Begriff „Verlaufskontrolle“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Messung der Implementierung und der Zielerreichung, während Evaluation die Effektivität der Strategien mit Hilfe systematischer Forschung misst. Bisher beschränkten sich die Bemühungen im Bereich der Evaluation und der Verlaufskontrolle in Tansania auf einzelne Akteure. Vor allem nichtstaatliche Organisationen nutzten Methoden des Qualitätsmanagements, um ihre Arbeit zu erheben und weiterzuentwickeln. Diese Maßnahmen blieben in der Regel auf einige wenige Organisationen begrenzt und dienten allein der internen Kontrolle. Aufgrund eines Mangels an nationalen Indikatoren bzw. einem einheitlichen Analysesystem folgten die Erhebungen der einzelnen Akteure jeweils unterschiedlichen Kriterien. Dies führte zu einer Inkommensurabilität der einzelnen Ergebnisse, aufgrund derer es nicht möglich war, landesweite Bilanzen zu ziehen. 813 Als Reaktion auf diese Unzulänglichkeit beinhaltet der staatliche Aktionsplan ein nationales Kontroll- und Evaluationssystem, den so genannten „inputprocess-output-outcome-impact framework“ (Kap. 2.2.4). Dieses System, welches die Datenerhebung und -verarbeitung von der lokalen bis zur nationalen Ebene regelt, dient der systematischen Überwachung der Implementierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“. Den implementierenden Akteuren, beispielsweise nichtstaatliche Organisationen und lokale MVC-Komitees, kommt dabei die Aufgabe zu, Daten zu den ersten drei Indikatoren, das heißt Input, Prozess und Output, zu erheben. Die gesammelten Daten geben den staatlichen Stellen beispielsweise Auskunft darüber, wie viele Kinder in einem Distrikt von den unterschiedlichen Akteuren schulbezogene Unterstützung erhalten.814 Nichtstaatliche Organisationen sollten zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um die Effektivität ihrer eigenen Arbeit durch Evaluationsmaßnahmen regelmäßig zu überprüfen. Die Ergebnisse der Evaluation dienen zur qualitativen und quantitativen Weiterentwicklung der Hilfsangebote. Darüber hinaus lässt sich anhand der Ergebnisse bestimmen, ob sich die Aktivitäten der Organisation eignen, um die im „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ formulierten Ziele zu erreichen.815
813
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 42. Vgl. ebd., S. 41 ff. 815 Vgl. ebd., S. 41. 814
470
5 Evaluationsstudie
WAMATA Arusha, Arusha Region: Partizipatorische Evaluationstreffen Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, auf lokale Problemlagen mit dezentralisierten Lösungsstrategien zu reagieren, müssen Repräsentanten der Gemeinde und Vertreter ihrer Adressaten in Evaluationsmaßnahmen einbeziehen. Nur auf diese Weise lässt sich feststellen, ob die Programme den örtlichen Notwendigkeiten entsprechen. Aus diesem Grund lädt WAMATA Arusha zu den jährlichen Evaluationstreffen Vertreter aller Personengruppen ein, die direkt oder indirekt in die Programme der Organisation involviert sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um Lehrer, Waisen, Betreuer von Waisen, Mitarbeiter der Organisation und Gemeindevertreter. Ein externer Supervisor, der die Evaluationstreffen leitet, erwies sich bei der Schaffung einer offenen und zielgerichteten Diskussionsatmosphäre von Vorteil. 816 Im Mittelpunkt der Treffen steht die Arbeit der Organisation. Die Teilnehmer erhalten die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder Implementierungsprobleme anzusprechen. Beispielsweise verstehen die Lehrer oder Betreuer der Waisen nicht, warum im vergangenen Jahr nicht alle Waisen aus dem Einzugsgebiet der Organisation Schuluniformen erhielten. Die Organisation kann darauf hin die Situation der Organisation erklären und darstellen, nach welchen Kriterien die Vergabe von Unterstützung erfolgt. Die Evaluationstreffen stellen somit auch einen geeigneten Rahmen dar, die begrenzten Kapazitäten der Hilfsprogramme zu veranschaulichen und die Verantwortlichkeiten von Betreuern und Gemeinde hervorzuheben. Darüber hinaus bieten die Treffen Gelegenheit, Richtlinien hinsichtlich der Unterstützungsangebote zu etablieren. Beispielsweise fehlen einige Kinder, die von der Organisation Schuluniformen erhielten, regelmäßig im Unterricht. Die Teilnahme von Vertretern der Schule, der Betreuer und der betroffenen Kinder ermöglicht die Identifizierung von Gründen für die Fehlzeiten. Auf diese Weise lassen sich Vereinbarungen bezüglich des Schulbesuches treffen und Lehrer erhalten die Aufgabe, die Einhaltung der Absprachen zu überwachen. Neben der Thematisierung der bisherigen Arbeit zielen die Evaluationstreffen vor allem auf die Weiterentwicklung der Programme ab. Dazu können die Teilnehmer von aktuellen Problemen berichten sowie Vorschläge hinsichtlich einer veränderten Angebotspalette unterbreiten. Der Input der einzelnen Teilnehmer lässt sich in der Gruppe diskutieren, um Schlussfolgerungen für die Arbeit der Organisation zu ziehen. Die Integration der Ergebnisse in die Programmplanung und die Festlegung konkreter Ziele ermöglicht im folgenden Jahr die Evaluation der Fortschritte. 817 816 817
Vgl. Interview mit E. Mawere am 06.07.07 in Tengeru, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
471
Mkombozi, Kilimanjaro Region: Drei Methoden der Programmevaluation Zum Zweck der Weiterentwicklung ihrer Arbeit etablierte das Straßenkindprojekt Mkombozi zum Zeitpunkt der Befragung durch die Autorin ein Evaluationssystem, welches sich auf mehrere Säulen stützt.818 Die Grundlage bildet ein Straßenzensus, den Mkombozi circa alle zwei Jahre durchführt, um die Entwicklung der Straßenkindpopulation in den Städten Moshi und Arusha zu dokumentieren. Die Befragung der Heranwachsenden macht die Dynamik der Straßenkindpopulation deutlich und weist auf neue Tendenzen hin. Darüber hinaus liefert die Analyse der Organisation Hinweise auf die Effektivität ihrer Aktivitäten, beispielsweise im präventiven Bereich. 819 Daneben untersucht eine traditionelle Ergebnisevaluation die Erfolge und Misserfolge der Arbeit. Diese Evaluationsebene entspricht dem Input-ProzessOutput-Ansatz des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“. Die Organisation analysiert, welche zeitlichen, personellen und materiellen Ressourcen sie in die einzelnen Programme investieren und welche Resultate damit erzielt werden. Um einen genaueren Einblick in die Bedeutung und Wirksamkeit ihrer Arbeit zu erhalten, plant Mkombozi eine Langzeitstudie. Bei dieser werden ehemalige Straßenkinder, die von den Programmen der Organisation profitierten, wieder aufgespürt und hinsichtlich ihrer Lebensläufe und Erfahrungen befragt. Anhand dieser Darstellungen können diejenigen Fälle ausgemacht werden, bei denen es zu den signifikantesten Veränderungen kam und die sich als „Erfolgsgeschichten“ charakterisieren lassen. Die Identifikation von erfolgsbestimmenden Faktoren in den Einzelfällen soll in Zukunft helfen, die Programme zu verbessern. 820 Eine weitere Säule der Evaluation besteht im Verfahren der Sozialen Investitionsrechnung. Diese zielt auf die Analyse vom Nutzen sozialer Investitionen für das Gemeinwohl im Kontrast zu den Folgen von fehlenden Interventionen. Beispielsweise werden die Ausgaben für die Reintegration eines Straßenkindes mit den Folgekosten verglichen, die für die Allgemeinheit entstehen, wenn der Heranwachsende auf der Straße verbleibt. Diese Kosten bestehen beispielsweise aus Polizeieinsätzen, Gerichtsverfahren oder ausbleibenden Steuergeldern. Die Ergebnisse der Sozialen Investitionsrechnung ermöglichen der Organisation, im Interesse ihrer Klienten sozialpolitische Veränderungen zu fordern und Ressourcen zu mobilisieren.821
818
Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. www.mkombozi.org/programs/ 29.06.09. 820 Vgl. ebd. 821 Vgl. Interview mit J. Boutin am 22.06.07 in Moshi, Tansania. 819
472
5 Evaluationsstudie
5.2.6 Ressourcenmobilisierung Die Kosten des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ belaufen sich für vier Jahre auf insgesamt 137.936.646 US-Dollar (100.648.000 Euro).822 Um die Implementierung und die Nachhaltigkeit des staatlichen Aktionsplans zu sichern, besteht die Notwendigkeit, Ressourcen im In- und Ausland zu mobilisieren. Die Regierung Tansanias stützt sich dabei einerseits auf nichtstaatliche Hilfsinitiativen und internationale Organisationen sowie andererseits auf staatliche Ressourcen und Kapazitäten in den Gemeinden und Familien. Diese unterschiedlichen Akteure stellten bereits in der Vergangenheit finanzielle, personelle und technische Unterstützung in der Reaktion auf die Waisenkrise bereit. 823 Trotz der Zusagen von der internationalen Gebergemeinschaft und den lokalen Ressourcen im Land konnten die notwendigen Mittel zur Implementierung des staatlichen Aktionsplans bisher nicht vollständig akquiriert werden. Der staatliche Aktionsplan liefert aus diesem Grund Vorschläge zur Ressourcenmobilisierung für die nationale Ebene, die Distriktebene sowie die kommunale Ebene. Die Regierung Tansanias soll einerseits eigene Ressourcen in den jeweiligen Ministerien bereitstellen und andererseits zusätzliche Mittel von internationalen Sponsoren, den im Land aktiven Investoren sowie Hilfsorganisationen anwerben. Die zusätzlichen Gelder dienen sowohl der Finanzierung der Koordinierungsmaßnahmen auf der nationalen Ebenen als auch der Implementierung des Aktionsplans in den Regionen des Landes. Zu diesem Zweck muss die Regierung einen Teil der Gelder an lokale Verwaltungen zur direkten Unterstützung der bedürftigsten Kinder weiterleiten. Die Distrikte und Kommunen sollen wiederum gewährleisten, dass ein angemessener Teil ihres Gesamtbudgets in die Unterstützung der betroffenen Haushalte fließt. Darüber hinaus kommt ihnen die Aufgabe zu, zusätzliche Ressourcen von wohlhabenden Gemeindemitgliedern, der lokalen Industrie und den vor Ort tätigen Hilfsinitiativen zu mobilisieren. 824 Die nichtstaatlichen Initiativen leisten wiederum ihren eigenen Teil in der Ressourcenmobilisierung. Sie nutzen sowohl ausländische als auch inländische Sponsoren zur Finanzierung ihrer Programme, bauen nachhaltige Einkommensprojekte auf und machen Gebrauch von Kapazitäten in den betroffenen Haushalten und Gemeinden. Viele innovative Ansätze in der Ressourcenmobilisierung entstanden in den vergangenen Jahren, die anderen Hilfsprogrammen und staatlichen Initiativen als Vorbild dienen können.
822
Vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. x. Vgl. ebd., S. 51 f. 824 Vgl. ebd., S. 52 ff. 823
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
473
HUYAMWI, Kilimanjaro Region: Mitarbeit der Klienten Die Methode der Peerberatung belegt anschaulich, wie sich Waisen in die Unterstützung anderer Kinder einbringen und einen eigenen Beitrag in der Arbeit der Organisation leisten können. Die ausgebildeten Jugendlichen begleiten Sozialarbeiter bei Hausbesuchen und organisieren Waisentreffen in den Gemeinden. Aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Trainings stellen sie für andere Waisen zuverlässige und kompetente Ansprechpartner dar. Die Arbeit der Peerberater zeigte, dass es Kindern häufiger leichter fällt, sich mit ihren Problemen anderen Heranwachsenden anzuvertrauen bzw. deren Ratschläge zu akzeptieren. Die verwaisten Kinder können sich mit den Peerberatern identifizieren und diese als Vorbild annehmen. Aus diesem Grund bilden die Peerberater eine wichtige Ressource in der Arbeit von HUYAMWI, welche sich nicht durch andere angestellte oder ehrenamtliche Mitarbeiter ersetzen lässt.825 Aber auch die Jugendlichen selbst profitieren auf verschiedene Weise von ihrem Engagement. Johnson M., der für HUYAMWI als Peerberater tätig ist, berichtet der Autorin, dass die Motivation für sein Engagement in seinen eigenen Erfahrungen als Waise liegt. Da er weiß, was es bedeutet jemanden zu verlieren, möchte er anderen helfen, die sich in der gleichen Situation befinden. Durch seinen Einsatz erfährt er Anerkennung und Befriedigung. Es macht ihn stolz, die erfahrene Hilfe und Unterstützung weiterzugeben und sich aktiv in der Organisation einzubringen. Die in dieser Arbeit erworbenen Kompetenzen können ihm in der Bewältigung seines Alltags und in Zukunft weiterhelfen.826 Die Peerberatung stellt nur eine unter vielen Möglichkeiten dar, auf welcher Weise sich sowohl die betroffenen Kinder als auch deren Betreuer in die Arbeit der Organisationen einbinden lassen. Ihre Erfahrungen und Fertigkeiten lassen sich von Organisationen als Ressource nutzen und dienen gleichzeitig der Partizipation. Je stärker die Klienten in die Programme der Projekte involviert sind, desto eher können sie die Aktivitäten mitgestalten. Auf diese Weise lösen sich die Klienten aus der Rolle der passiven Hilfeempfänger; dies steigert ihre Eigeninitiative und ihr Selbstwertgefühl. Für die Programme bedeutet das Engagement der Klienten vor allem eine Entlastung im personellen Bereich. Beispielsweise erspart die Bereitschaft von Betreuern von Waisen, das Essen für Waisentreffen vorzubereiten, der Organisation das Anwerben von zusätzlichen Volontären für diese Aufgabe. Zusätzlich bietet es den Betreuern eine Gelegenheit, für einen guten Zweck zusammenzukommen und sich während der Arbeit auszutauschen.
825 826
Vgl. Interview mit M. Burkhardt am 16.06.07 in Mwika, Tansania. Vgl. Interview mit Johnson M. am 20.06.07 in Mwika, Tansania.
474
5 Evaluationsstudie
PASADA, Dar es Salaam: Hilfeplanung und Verantwortungsteilung Die Organisation PASADA unterstützt eine Vielzahl von Waisen und bedürftigen Kindern. Im Laufe ihrer Arbeit realisierten die Mitarbeiter von PASADA, dass die Projektkosten zunehmend steigen, weil sie mehr und mehr Kinder in ihre Programme aufnehmen und nur wenige Klienten aus der Unterstützung entlassen. Die Familien neigten dazu, die Verantwortung für die bei ihnen lebenden Waisen an die Organisation abzugeben. Dies veranlasste PASADA zur Formulierung eines individuellen Hilfeplans für jedes Kind. 827 Die Planung der Hilfe erfolgt zusammen mit dem betroffenen Kind und seiner Familie. Auf diese Weise lässt sich feststellen, welche Probleme der Haushalt bei der Versorgung des Kindes hat und welche materiellen bzw. psychosozialen Bedürfnisse zurzeit nicht hinreichend erfüllt werden. Die Bedarfsanalyse bildet die Grundlage der Zielformulierung im Hilfeplan. Nach der Formulierung der Ziele und eines entsprechenden Zeitplans klären die Mitarbeiter im gemeinsamen Gespräch, welchen Anteil die beteiligten Parteien zur Umsetzung der Ziele beitragen können. Sowohl die Organisation als auch die Angehörigen und das Kind selbst erhalten entsprechend ihrer Möglichkeiten spezifische Aufgaben zugeteilt. Kommt die Organisation beispielsweise für das Schulgeld eines Sekundarschülers auf, leisten die Verwandten mit dem Kauf der Schuluniform ihren eigenen Beitrag und der Jugendliche verpflichtet sich, regelmäßig den Unterricht zu besuchen und durch seinen Fleiß zum Gelingen seines Bildungserfolges beizutragen.828 Im Rahmen dieser Hilfeplangespräche stellen die Mitarbeiter von PASADA fest, dass Haushalte mit Waisen in der Regel das Potenzial besitzen, für die Waisen zuverlässig zu sorgen. Die Aufgabe der Mitarbeiter besteht darin, den Familien zu helfen, ihre Ressourcen zu erkennen: „Es ist sehr hilfreich, wenn man die Menschen nutzt. […] Es macht den Unterschied; die Erkenntnis, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, die meisten Potenziale haben, ihre eigenen Probleme zu regeln. […] Die Potenziale von ihnen zu realisieren und anzuerkennen.“ (Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Bei den Ressourcen in den einzelnen Familien handelt es sich sowohl um materielle Güter als auch um spezifische Fertigkeiten. Die Partizipation in der Hilfeplanung erwies sich als geeignetes Mittel, den Familien ihren Teil der Verantwortung zurückzugeben und ihnen Wege zu zeigen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.829
827
Vgl. Interview mit C. Francis am 28.02.07 in Dar es Salaam, Tansania. Vgl. ebd. 829 Vgl. ebd. 828
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
475
Community Alive Club, Mara Region: Fundraising Die Organisation Community Alive in Musoma musste in ihrer Arbeit feststellen, dass die Bevölkerung die Unterstützung von Waisen gerne den betroffenen Familien und nichtstaatlichen Organisationen überlässt: „Die Involvierung von Menschen reduziert einige Probleme, die [in der Arbeit mit Waisen] auftreten können. Denn wenn man die Menschen nicht involviert, das ist es was ich gesehen habe, dann neigen sie dazu alle Verantwortung [für die Waisen] auf dich [lokale Hilfsorganisation] abzuwälzen. Sie übernehmen die Verantwortung nicht. Aber wenn man sie involviert, dann realisieren sie, dass sie kooperieren müssen und dass sie in einigen Bereichen Verantwortung haben, die sie übernehmen können.“ (Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Um die Gemeinden zu mobilisieren, ruft die Organisation unter anderem zu Spenden auf. 830 Jedes Jahr im Dezember, zum Anlass des Welt-Aids-Tages, sendet die Organisation Briefe an wichtige Geschäftsleute und einflussreiche Gemeindemitglieder. In jeder Kommune leben Personen, die über die Mittel verfügen, karitative Initiativen zu unterstützen. Einige sind bereit, Mitglieder von Hilfsprojekten zu werden und die Programme auf diese Weise mit regelmäßigen Mitgliedsbeiträgen zu unterstützen. Andere leisten ihren Beitrag in Form von einmaligen oder wiederholten Sach- oder Geldspenden. Der Community Alive Club wendet sich gezielt an diese Personen. Die jährlichen Schreiben der Organisation berichten über die Situation von Waisen in und um Musoma und geben Auskunft über die Arbeit der Organisation. Schließlich wird der Empfänger der Nachricht aufgefordert, einen eigenen Beitrag zur Unterstützung von bedürftigen Kindern zu leisten. Für die Organisation Community Alive lohnt sich der Aufwand. So konnte unter anderem die lokale Fischindustrie animiert werden, Fischfilets für die wöchentlichen Waisentreffen bereitzustellen. Auf diese Weise können die teilnehmenden Kinder mit einer nahrhaften Mahlzeit versorgt werden. 831 Der Community Alive Club lernte aus seiner Arbeit, dass potenzielle Spender in der Gemeinde direkt angesprochen werden müssen. Um langfristige und befriedigende Partnerschaften zwischen Organisation und Sponsor zu etablieren, besteht die Notwendigkeit für Transparenz und Zuverlässigkeit. Informationen über die Verwendung der Spende mit Hilfe von Berichten und Fotos erleichtert dem Sponsor die Entscheidung, im nächsten Jahr die Unterstützung fortzuführen.832
830
Vgl. Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. Vgl. Interview mit M. Reese am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 832 Vgl. Interview mit J. Musira am 08.05.07 in Musoma, Tansania. 831
476
5 Evaluationsstudie
Rainbow Centre, Kilimanjaro Region: Mobilisierung von Gruppen Dem Rainbow Centre, einer ambulanten Hilfsorganisation in Moshi, ist es gelungen, unterschiedliche kommunale Gruppen für die Sache der Waisen zu mobilisieren. „Wenn man die Gemeinschaft mit einbezieht und ihnen wirklich Macht gibt, können sie vieles leisten.“ (Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die gesamte Arbeit der Organisation basiert auf dem Engagement dieser Gruppen und lokalen Akteure. Auf diese Weise entstand in den Gemeinden ein Gefühl von gemeinschaftlicher Verantwortung, welches sich positiv auf die Nachhaltigkeit der Programme auswirkt.833 Als einer der wichtigsten Unterstützer der Organisation erwiesen sich christliche Gemeinschaften, so genannte Small Christian Communities. Diese Gruppen bestehen aus jeweils etwa 15 benachbarten Familien, die sich ein Mal pro Woche zum Gebet und Glaubensgespräch treffen. Die Organisation nutzte die vorhandenen Strukturen; Mitarbeiter klärten die christlichen Gemeinschaften über die Probleme der verwaisten Kinder auf und zeigten ihnen Wege, selbst aktiv zu werden. Besonders im Bau und in der Instandsetzung von Häusern für Haushalte mit Waisen engagieren sich die Gemeinschaften seither. „Da gab es einige Witwen und einige Kinder, die allein lebten, die Häuser fielen zusammen. Die christlichen Gemeinschaften bauten ihnen Unterkünfte. Ich sage nicht, ein Haus, wie dieses hier, aber sie bauten Unterkünfte. […] Sie haben das Holz selbst gesägt, von ihrem eigenen Beitrag kauften sie Nägel, sie kauften Wellblech. Wir haben sie auch unterstützt, denn es gibt einige Materialien, die sehr teuer sind. Wenn wir ihre Initiative sehen, sie begonnen haben und dann irgendwo nicht weiterkommen und zu uns kommen, dann helfen wir.“ (Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Mit Hilfe der christlichen Gemeinschaften konnten innerhalb von drei Jahren 16 neue Unterkünfte für Haushalte mit bedürftigen Kindern gebaut werden. 834 Andere Gruppen in den Gemeinden, die sich als zuverlässige Partner der Organisation erwiesen, sind lokale Frauengruppen. Das Rainbow Centre beriet 15 Frauengruppen und half ihnen beim Aufbau von Einkommensprojekten. Je nach Interesse und Fähigkeiten bauen die Gruppen Gemüse an oder halten Tiere. Von den Erlösen profitieren die Waisen im jeweiligen Dorf; vom erwirtschafteten Geld unterstützen die Frauen Kinder in der Bildung und besonders bedürftige Haushalte erhalten die angebauten Nahrungsmittel zur Ernährungssicherung sowie die gezüchteten Tiere zum Aufbau eigener Einkommensprojekte. 835
833
Vgl. Interview mit U. Kessy am 19.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd. 835 Vgl. ebd. 834
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
477
Youth Life Relief Foundation, Dar es Salaam: Ehrenamtliche Mitarbeiter Das Projekt Youth Life Relief Foundation geht auf das Engagement einiger Gemeindemitglieder zurück, die in ihrem Umfeld einen Unterstützungsbedarf für Waisen und Menschen mit HIV feststellten. Die Organisation baut vollständig auf den ehrenamtlichen Einsatz ihrer Mitarbeiter. Niemand, der für die Hilfsprogramme arbeitet, ist bei der Organisation angestellt oder erhält ein Gehalt; aber alle zeigen eine große Hingabe für ihre vielfältigen Aufgaben. Die Gründungsmitglieder koordinieren und unterstützen mit eigenen materiellen Beiträgen die Aktivitäten der Organisation. Durch ihren Einsatz konnten sie im Viertel eine Gruppe Studenten ermutigen, sich ebenfalls für die Organisation einzusetzen. In ihrer Freizeit besuchen diese Haushalte mit Waisen und HIV-infizierten Patienten, um deren Bedürfnisse festzustellen und Beratung anzubieten. Des Weiteren kümmern sich die Studenten um die täglich anfallenden Aufgaben der Organisation und betreiben Netzwerkarbeit. Die Teilnahme an Weiterbildungen, Besuche bei umliegenden Hilfsprojekten und der Austausch mit anderen Anbietern ermöglichen den Volontären, ihre eigene Arbeit zu verbessern und zusätzliche Kompetenzen zu erwerben.836 Der Enthusiasmus der ehrenamtlichen Mitarbeiter hilft ihnen, weitere Gemeindemitglieder für die Arbeit der Organisation zu mobilisieren. Beispielsweise gewannen sie Vertreter der lokalen Verwaltung und 30 Jugendliche für HIVPräventionskampagnen. In einem Seminar klärten die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Organisation lokale Beamte über die AIDS-Epidemie auf. Gemeinsam mit der Organisation entwarfen die Seminarteilnehmer Aktionspläne für ihren Verwaltungsbereich, in denen sie zukünftige Aktivitäten hinsichtlich HIVPräventionskampagnen festhielten, und wählten aus ihrem Verwaltungsbereich junge Menschen aus, die Bereitschaft zeigen, sich in den HIVPräventionskampagnen zu engagieren. Die Freiwilligen erhielten in einem gemeinsamen Workshop ein Training über HIV/AIDS. Sie lernten Möglichkeiten kennen, andere Menschen für diese Gefahr zu sensibilisieren. In Theaterstücken, Liedern und Diskussionen betreiben sie nur in Kooperation mit den lokalen Verwaltungen HIV-Prävention.837 Ähnlich wie bei Sponsoren besteht die Notwendigkeit, die Kooperationen mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zu pflegen, um deren Nachhaltigkeit zu sichern. Die Wertschätzung ihrer Arbeit durch Danksagungen, kleine Geschenke oder Weiterbildungen vermittelt den Volontären das Gefühl, anerkannt zu werden.
836
Vgl. Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania; Interview mit H. Kunga am 03.03.07 in Morogoro, Tansania. 837 Vgl. Interview mit S. Milambo am 03.03.07 in Morogoro, Tansania.
478
5 Evaluationsstudie
WEMA, Arusha Region: Staatliche Stipendienprogramme Die tansanische Regierung schaffte einen Fond, um benachteiligten Heranwachsenden den Besuch der Sekundarschule zu ermöglichen. Einige Distrikte und lokale Verwaltungen folgten diesem Vorbild und stellen zusätzliche Gelder bereit. Der Zugang für bedürftige Kinder zu dieser Unterstützung gestaltet sich allerdings in vielen Fällen schwierig. Die meisten Haushalte wissen nicht, dass staatliche Stipendienprogramme existieren. Und selbst wenn sie über diese Informationen verfügen, bleibt häufig unklar, an wen sie sich zur Beantragung der Unterstützung wenden und wie sie ihren Bedarf nachweisen können. Die Organisation WEMA agiert in diesen Fällen als Vermittler.838 Die Organisation sammelt Informationen über staatliche Förderprogramme in ihrem Einzugsgebiet und nutzt dieses Wissen für ihre Klienten. Mitarbeiter der Organisation identifizieren Heranwachsende, die das Potenzial für einen erfolgreichen Besuch der Sekundarschule aufweisen, ohne über die finanziellen Ressourcen für das Schulgeld und die Materialien zu verfügen. Für diese Jugendlichen schreibt die Organisation Empfehlungsschreiben, in denen sie die Situation des Kindes und seine Lernmotivation darstellen. Sie fordern Vertreter der lokalen Verwaltung, beispielsweise Dorfvorsteher, aus dem Wohngebiet des Kindes auf, ebenfalls ein Schreiben zu verfassen, welches die wirtschaftliche und familiäre Lage des Heranwachsenden bestätigt. Diese Briefe verleihen dem Anliegen des Heranwachsenden mehr Glaubwürdigkeit, wenn er sich an die zuständigen Behörden zur Beantragung der Bildungsförderung wendet. Die Mitarbeiter der Organisation begleiten den Antragssteller und verhandeln mit den Behörden. In vielen Fällen lässt sich ein Kompromiss finden, der allen Seiten entgegen kommt. Beispielsweise stellt die Behörde einen Internatsplatz in einer Sekundarschule kostenfrei zur Verfügung und WEMA verpflichtet sich gemeinsam mit der Familie für die Grundausstattung des Jugendlichen mit Schuluniform und Materialien aufzukommen.839 Organisationen befinden sich häufig in einer besseren Lage als Einzelpersonen, Informationen über Förderprogramme für spezifische Zielgruppen zu erhalten sowie das Anrecht auf Kostenbefreiungen, beispielsweise im medizinischen Bereich, durchzusetzen. Eine gute Kooperation mit den zuständigen Behörden und Institutionen kann der Organisation auch bei begrenzten eigenen Ressourcen helfen, den betroffenen Kindern eine umfassende Versorgung zukommen zu lassen.
838 839
Vgl. Interview mit A. Komba am 03.07.07 in Arusha, Tansania. Vgl. ebd.
5.2 Identifizierung geeigneter Hilfsangebote
479
Kilimanjaro Children Joy Foundation, Kilimanjaro Region: Landwirtschaft Vor einigen Jahren nahm die Lehrerin Lucy Lema die ersten verwaisten Kinder bei sich zu Hause auf. Der Wunsch, einzelnen Kindern ein neues Zuhause zu geben, zielte ursprünglich nicht auf die Gründung eines Heimes. Die Zahl der aufgenommenen Kinder wuchs allerdings mit der Zeit stetig an und inzwischen betreut die Kilimanjaro Children Joy Foundation mehr als 100 Kinder.840 Je mehr Kinder bei Lucy Lema lebten desto dringender wurde die Frage nach der Finanzierung des Unterhaltes. Von Anfang an stellte die Landwirtschaft die wichtigste Versorgungsquelle dar. Lucy Lema gab ihre Arbeit als Lehrerin auf, um sich vollständig um die bei ihr lebenden Zöglinge zu kümmern und auf ihrem Acker die notwendigen Nahrungsmittel anzubauen. Parallel zur steigenden Anzahl der Kinder und dem damit zunehmenden Bedarf, expandierten die landwirtschaftlichen Projekte. Inzwischen baut die Organisation Bananen, Bohnen, Mais und andere Nutzpflanzen an. Zusätzlich werden Kühe, Hühner und Schweine gehalten. Das Gemüse und die Früchte dienen in erster Linie zur Ernährung der Kinder, während der Erlös aus dem Verkauf der Tiere die laufenden Kosten der Heimeinrichtung deckt. Benötigen die Kinder beispielsweise neue Schuluniformen, nimmt Lucy Lema ein oder mehrere Schweine und verkauft diese auf dem Markt. 841 Jeden Tag kommen einheimische Volontäre, um auf den Feldern der Organisation zu arbeiten und die Tiere zu versorgen. Die freiwilligen Helfer erhalten keine regelmäßige Entschädigung für ihre Leistungen, aber wenn die Ernte gut ausfällt, dürfen sie ihren Teil mit nach Hause nehmen. Manchmal erhalten die Volontäre Unterstützung von den Kindern der Einrichtung. Diese helfen bei der Bestellung der Felder oder der Versorgung der Tiere. Auf diese Weise tragen sie, wie andere Kinder in ihren Familien, zum eigenen Lebensunterhalt bei und erwerben grundlegende landwirtschaftliche Fertigkeiten.842 Neben landwirtschaftlichen Projekten bestehen weitere Möglichkeiten für Organisationen, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. In Tourismusgebieten lassen sich beispielsweise Andenken verkaufen und auf diese Weise Gelder erwirtschaften. Ausbildungsprojekte für benachteiligte Jugendliche tragen sich oft selbst, wenn es der Organisation gelingt, für die hergestellten Produkte oder angebotenen Dienstleistungen einen Absatzmarkt zu finden. In vielen Fällen besteht ausschließlich der Bedarf für eine Anschubsfinanzierung, um die Nachhaltigkeit der Einkommensprojekte und somit der Hilfsprogramme zu sichern.
840
Vgl. Interview mit L. Lema am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania. Vgl. ebd. 842 Vgl. ebd. 841
480
5 Evaluationsstudie
KINSHAI, Kilimanjaro Region: Einkommensprojekte Die Organisation KINSHAI, ein Netzwerk von über 100 nichtstaatlichen Organisationen, erkannte das Potenzial von Einkommensprojekten für Hilfsprogramme und ermöglicht seinen Mitgliedern durch Kapazitätsbildung den Aufbau eigener Projekte. Eine Spende der McKnight Stiftung aus den USA gab KINSHAI die notwendigen Ressourcen zur die Bereitstellung der Anschubsfinanzierung. Die Mitgliedsorganisationen nutzen die Gelder zum Aufbau verschiedenster Aktivitäten, die langfristig zur Finanzierung der Hilfsprogramme der Organisation beitragen. „Sie [die McKnight Stiftung] unterstützten Waisen durch lokale Organisationen. Wir erhielten Geld von ihnen und dann gaben wir das Geld ausschließlich an die Organisationen weiter, die sich um Waisen kümmern. Und dann haben sie mit diesem Geld gearbeitet und mit dem Profit, den sie gemacht haben, den Profit von den aufgebauten Projekten, haben sie dann Waisen unterstützt. […] Es ist sehr nachhaltig, denn es funktioniert noch immer. Obwohl die Hilfe [der McKnight Stiftung] beendet ist, läuft es immer noch weiter.“ (Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Die Bereitstellung des notwendigen Startkapitals allein reicht allerdings nicht aus, um den Erfolg der Einkommensprojekte zu sichern. 843 Ebenso wie bei einkommenschaffenden Maßnahmen für Waisen und deren Haushalte stellt die Vermittlung von Kenntnissen aus dem betriebswirtschaftlichen Bereich eine wesentliche Grundlage für das Gelingen der Aktivitäten dar. In Vorbereitungsseminaren klärt KINSHAI die Mitarbeiter der Organisationen über die Möglichkeiten von Projekten zur Erwirtschaftung von Geldern auf. Die Teilnehmer erhalten Informationen über die Auswahl eines geeigneten Projektes, welches die lokalen Voraussetzungen berücksichtigt, sowie über die Entwicklung eines Geschäftsplans. Um die Nachhaltigkeit des Einkommensprojektes zu sichern, besteht die Notwendigkeit, über den Einsatz der erwirtschafteten Gewinne zu entscheiden. Werden die Gewinne in erster Linie zur Finanzierung der Hilfsprogramme genutzt ohne Kapital zu bilden bzw. Reinvestitionen in das Einkommensprojekt zu tätigen, lässt sich die Nachhaltigkeit des Projektes nicht sichern. Bei unerwarteten Ausgaben, beispielsweise bei der Erkrankung von Tieren, fehlt der Organisation in diesen Fällen ausreichende Mittel, um das Einkommensprojekt am Laufen zu halten. Damit die Mitgliedsorganisationen diese Fehler vermeiden, leistet KINSHAI im Rahmen von Projektbesuchen und Supervisionstreffen eine kontinuierliche Begleitung der Maßnahme und berät bei auftretenden Problemen.844 843 844
Vgl. Interview mit E. Wenje am 29.06.07 in Moshi, Tansania. Vgl. ebd.
6
Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Das folgende Kapitel widmet sich der Diskussion der Forschungsergebnisse. Zu diesem Zweck fasst der erste Abschnitt die durchgeführte Forschung zusammen und stellt die wesentlichen Ergebnisse vor. Den Schwerpunkt legt die Autorin dabei auf die Resultate der Evaluationsstudie, da der Vergleich ambulanter und stationärer Versorgungsangebote sowie die Identifizierung geeigneter Interventionen das Ziel der Arbeit darstellt. Die Bedeutung dieser Ergebnisse und deren Implikationen für die Praxis werden im Anschluss thematisiert. Diese Interpretation erweist sich als notwendig, wenn die durchgeführte Studie ihrem Anspruch, einen konkreten Beitrag zur Verbesserung der Waisenhilfe in Tansania zu leisten, gerecht werden will. Im Zuge der Untersuchung offenbarte sich die Notwendigkeit für weiterführende Studien. Aus diesem Grund erfolgen zum Abschluss des Kapitels Empfehlungen für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung. 6.1 Zusammenfassende Darstellung der Forschung Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildete die Waisenkrise in Tansania. Die Zahl der Waisen, die vor allem im Zuge der AIDS-Epidemie in den vergangenen zwanzig Jahren rapide anstieg, führte zu einer Überlastung des familiären Sicherungsnetzes, welches traditionell die Verantwortung für verwaiste Angehörige trägt. Auch die kommunale Gemeinschaft befindet sich aufgrund zunehmender sozialer Probleme sowie einem Bedeutungsverlust traditioneller Normen und Lebensstile nicht mehr in der Lage, überforderte Haushalte angemessen zu unterstützen. Einige Kinder fallen aus den traditionellen Auffangnetzen und wählen ein Leben auf der Straße, sichern durch schwere Formen von Kinderarbeit ihr Auskommen oder leben ohne Unterstützung und erwachsene Bezugspersonen in Kinderhaushalten. Die Frage, die sich aufgrund dieser Problematik stellte, lautet: Welche Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit eignen sich, um Waisen und ihre Familien bei der Gestaltung eines gelingenderen Alltags zu helfen? Die Abbildung 106 skizziert den Formulierungsprozess der Forschungsfrage.
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
482
6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Abbildung 106: Formulierungsprozess der Forschungsfrage 2.6 Millionen Waisen in Tansania
Familiäres Auffangnetz Forschungsfrage
Kommunales Auffangnetz
Straßenkinder arbeitende Kinder Kinderhaushalte
Welche Unterstützungsangebote sind geeignet, Waisen zu helfen und ihren unterschiedlichen Problemlagen effektiv zu begegnen?
Untersuchung der Lebenswelt der Waisen Porträtieren unterschiedlicher Bewältigungsstrategien Evaluation von Programmen zur Unterstützung von Waisen
Die systematische Auseinandersetzung mit vorhandenen Studien zur Waisenkrise zeigte, dass die bisherige Forschung keine hinreichende Antwort auf die Frage nach geeigneten Bewältigungsstrategien gefunden hat (Kap. 1.1.3). Vielmehr dokumentieren existierende Untersuchungen die Probleme von Waisen oder stellen einzelne Programme der Sozialen Arbeit vor. Für den tansanischen Kontext fehlen bisher umfassende Dokumentationen der entstandenen Hilfsansätze sowie die Überprüfung ihrer Eignung. Die festgestellten Forschungslücken bilden den Ausgangspunkt der Studie. 6.1.1 Darstellung der Lebenswelt der Waisen Zur Beantwortung der Fragestellung nach geeigneten Bewältigungsstrategien bestand die Notwendigkeit, die Lebenswelt der Waisen detailliert darzustellen, um Problemlagen und Ressourcen der betroffenen Kinder zu erfassen (Kap. 3). Nur auf diese Weise ließ sich im Rahmen der Evaluation (Kap. 5) untersuchen, ob die entstandenen Hilfsangebote den Bedürfnissen der Adressaten entsprechen. Die Analyse der Lebenssituation anhand bestehender Studien und die Ergebnisse
6.1 Zusammenfassende Darstellung der Forschung
483
der Befragungen durch die Autorin verdeutlichten, dass Waisen sowohl im sozioökonomischen als auch im psychosozialen Bereich gefährdet sind. Es zeigte sich aber auch, dass die betroffenen Kinder auf Ressourcen in den Familien und Gemeinden zurückgreifen können. Die Aufnahme von Waisen in einen Haushalt erhöht das Armutsrisiko, da sich die zusätzliche Belastung in der Regel nicht durch soziale Transferleistungen oder ein erhöhtes Einkommen ausgleichen lässt. Während Haushalte in ländlichen Gebieten zumindest die eigene Nahrungsmittelproduktion durch die Mitarbeit der Waisen steigern können, stellen Bedürfnisse, die mit Kosten verbunden sind, generell ein Problem dar. Dazu zählen in Tansania unter anderem die medizinische Versorgung, die moderne formelle Bildung und der Erwerb notwendiger zusätzlicher Lebensmittel. Abhängig von den Kapazitäten der betroffenen Haushalte, die vor allem in Haushalten mit minderjährigen und alten bzw. kranken Betreuern gering ausfallen, treten zusätzliche Schwierigkeiten, beispielsweise in den Bereichen Unterkunft und Ausstattung mit angemessener Bekleidung, auf. Die Dringlichkeit der Bedürfnisse im sozioökonomischen Bereich führte in der Vergangenheit dazu, dass die psychosozialen Aspekte der Versorgung von Waisen nur unzureichend wahrgenommen wurden. Die Erfahrung mit Krankheit und Tod, die veränderten Lebensumstände sowie die Gefahr von Stigmatisierung und Gewalt beeinträchtigen das Wohlbefinden der betroffenen Kinder nachhaltig. Sie stellen ebenso wie Benachteiligungen in der Bildung, der Gesundheitsfürsorge und der allgemeinen Versorgung ein Risiko für eine gesunde Entwicklung der Waisen dar und führen zu einem Nichtgelingen im Alltag. Trotz der identifizierten Schwierigkeiten zeigt die Situation im psychosozialen als auch im sozioökonomischen Bereich, dass das familiäre Sicherungsnetz immer noch die wichtigste Ressource für verwaiste Heranwachsende bildet. In ihrer Familie finden die Kinder in den meisten Fällen Zuwendung, Fürsorge und Anerkennung. Darüber hinaus befriedigen die Haushalte entsprechend ihrer Kapazitäten einen wesentlichen Teil der Grundbedürfnisse. Die Integration in Familien und Gemeinden erlaubt es den Kindern, ein familiäres und kulturelles Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln und entsprechend gesellschaftlicher Normen aufzuwachsen. 6.1.2 Dokumentation der Leistungspalette der Waisenhilfe Die Analyse der Bedürfnisse und Ressourcen verwaister Kinder im sozioökonomischen und psychosozialen Bereich in Kapitel 3 bildete die Grundlage für die Evaluation der Hilfsangebote hinsichtlich ihrer Effektivität und Angemessenheit.
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Eine weitere Voraussetzung der Evaluationsstudie bestand in einer umfassenden Darstellung der Bewältigungsstrategien der Sozialen Arbeit. Aus diesem Grund erfolgte im Anschluss an die Analyse der Lebenswelt verwaister Kinder die Untersuchung und Darstellung der Leistungspalette der Waisenhilfe in Tansania (Kap. 4). Die Dokumentation der verschiedenen Hilfsangebote erforderte einen Forschungsaufenthalt in Tansania (Abb. 107). Besuche bei Hilfsprojekten und die Befragung der Mitarbeiter sowie weiterer Stakeholder mit Hilfe von Fragebögen und Interviews ermöglichten der Autorin einen genauen Einblick in die Arbeit der Programme. Abbildung 107: Forschungsaufenthalt in Tansania Feldforschung in Tansania Februar bis Juli 2007
Informanten / Forschungsmethoden: 47 Organisationen: Interviews, Fragebögen und/oder teilnehmende Beobachtung 22 Stakeholder: Interviews und/oder Fragebögen 205 Kinder: Fragebögen 17 Haushalte mit Waisen: Fragebögen Hausbesuche bei Familien mit Waisen in sieben Regionen: teilnehmende Beobachtung
www.landkarte-online.net/karten/tansania 10.10.2009 Bearbeitung durch: Ulrike Brizay
Im Zuge der AIDS-Epidemie und der steigenden Zahl verwaister Kinder entwickelten sich in Tansania vielfältige Hilfsinitiativen. Obwohl die konzeptuelle Gestaltung der einzelnen Projekte voneinander abweicht, verfolgen alle Organisationen das gleiche Ziel: die Unterstützung verwaister und bedürftiger Kinder. Die entstandenen Hilfsangebote lassen sich in vier Kategorien unterteilen.
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Ambulante Hilfsangebote greifen auf die traditionellen Sicherungsnetze zurück und versuchen, Waisen in ihrem sozialen Umfeld zu belassen und dieses bei der Versorgung der Kinder zu unterstützen. In der Regel leisten ambulante Hilfsprogramme Unterstützung in den Bereichen Bildungsförderung, medizinische Unterstützung, psychosozialer Beistand, materielle bzw. praktische Hilfe und/oder Programme zur Einkommenssteigerung. Neben Organisationen der ambulanten Hilfe streben auch Programme der formellen Pflege und die Adoption ein Aufwachsen in einem familiären Rahmen an. In Tansania hemmen vor allem die fehlende traditionelle Verankerung sowie die Überlastung staatlicher Stellen, welche die Zuständigkeit für die Vermittlung der Kinder innehaben, die Verbreitung dieser formellen Pflegeverhältnisse. Der Anteil verwaister Kinder, die von der Aufnahme in ein formelles Pflegeverhältnis profitieren, ist bisher in Relation zu allen Waisen verschwindend klein. Die institutionelle Erziehung von Kindern erlebte im Zuge der Waisenkrise einen bisher nicht bekannten Boom in Tansania. Dabei lassen sich grundsätzlich fünf verschiedene Kategorien von Einrichtungen im stationären Bereich unterscheiden, die hinsichtlich ihrer Betreuungsstruktur, Zielgruppe und Zielstellung differieren. Die institutionellen Betreuungseinrichtungen gliedern sich in „klassische“ Kinderheime, familiäre Kleinstheime, Säuglingsheime, Kinderdörfer und Auffangheime für Straßenkinder. Die letzte Form der institutionellen Erziehung gehört gleichsam zur vierten Kategorie der Hilfsangebote. Diese Kategorie umfasst alle Angebote für Straßenkinder. Die Programme der Straßenkindprojekte reichen von präventiven Maßnahmen, die den Gang auf die Straße verhindern sollen, über kurative Angebote im Rahmen von Straßensozialarbeit und stationären Betreuungsangeboten bis zu Versuchen der Reintegration. Die Projekte durchliefen in den vergangenen Jahren eine tief greifende Entwicklung und konzentrieren sich zunehmend auf die familiäre Reintegration sowie auf Nachsorgeprogramme für ehemalige Straßenkinder. Die Darstellung der entstandenen Hilfsprogramme im Kapitel 4 verdeutlichte die breite Angebotspalette, über welche die Waisenhilfe in Tansania verfügt; allerdings bleibt der Zugang zu diesen Angeboten weiterhin begrenzt und beschränkt sich auf einen geringen Anteil der gesamten Waisenpopulation. 6.1.3 Evaluationsstudie zur Untersuchung der Eignung von Hilfsangeboten Die Untersuchung der Lebenssituation verwaister Kinder und die Dokumentation der Angebotspalette der Waisenhilfe in Tansania bildeten die zwei notwendigen
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Voraussetzungen der Evaluationsstudie (Kap. 5). Die Gestaltung der Evaluationsstudie beruhte auf der Theorie der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit von Thiersch (Kap. 1.3). Ausgehend von den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung entwickelte die Autorin Evaluationskriterien und –prämissen sowie entsprechende Forschungsinstrumente (Kap. 1.4), mit deren Hilfe sie bestehende Programme in Tansania hinsichtlich ihrer Eignung zur Bewältigung der Waisenkrise analysierte. Die Evaluationsstudie gliederte sich in zwei Teile; zum einen in die vergleichende Evaluation ambulanter und stationärer Unterstützungsangebote (Kap. 5.1) und zum anderen in die Identifizierung geeigneter Hilfsangebote (Kap. 5.2). Vergleichende Evaluation ambulanter und stationärer Unterstützungsangebote für Waisen Im ersten Abschnitt der Evaluationsstudie erfolgte eine Gegenüberstellung ambulanter und stationärer Hilfsangebote anhand von fünf Evaluationskriterien (Kap. 5.1). Die Ergebnisse der Analyse zeigten, dass ambulante und stationäre Hilfsprogramme in unterschiedlichem Maße den Maximen und Zielen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit entsprechen. Keiner Organisation lag die benannte Theorie bei der Gestaltung der Programme zugrunde und dennoch lassen sich zentrale Kongruenzen zwischen Theorie und Praxis feststellen. Die Gegenüberstellung machte deutlich, dass die Übereinstimmungen im ambulanten Bereich bedeutend ausgeprägter sind als im stationären Bereich. Der Vergleich belegte demnach, trotz der zurzeit noch bestehenden Einschränkungen und qualitativen Unzulänglichkeiten, die Überlegenheit ambulanter Maßnahmen hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Eignung für den tansanischen Kontext. Die folgenden Ausführungen fassen die zentralen Vor- und Nachteile der ambulanten und stationären Hilfsangebote, das heißt sowohl die Erfolge und Chancen der Unterstützung als auch die Hemmnisse, Grenzen und Gefahren, zusammen. Um einen leichteren Überblick zu ermöglichen, erfolgt eine getrennte Betrachtung des ambulanten und des stationären Bereichs. Ambulante Hilfsprogramme Ambulante Hilfsprogramme bieten den meisten Waisen in Tansania die beste Lösung für ihre vielfältigen Problemlagen und stellen eine geeignete Antwort auf die Waisenkrise dar. Die Versorgung von Waisen in ambulanten Hilfsprojekten, die sich größtenteils unabhängig voneinander entwickelten und sich an den loka-
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len Bedingungen orientieren, bildet eine dezentralisierte Lösung entsprechend den Forderungen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Differenzen zwischen einzelnen Programmen reflektieren die unterschiedlichen lokalen Voraussetzungen. Die beobachtete Flexibilität ermöglicht eine Weiterentwicklung der Angebote entsprechend neu auftretender oder wahrgenommener Probleme. Die regionalisierte Herangehensweise, die sich förderlich auf den Abbau von Zugangsbarrieren und auf eine enge Orientierung an den lokalen Bedingungen auswirkt, spiegelt sich unter anderem in der Kooperation mit lokalen Institutionen und Akteuren wider. Die Präsenz der Projekte in den Gemeinden, die der Bevölkerung und anderen Akteuren einen Einblick in die Arbeit ermöglicht, beeinflusst die Mobilisierung der Gemeinden positiv. Die Organisationen nutzen nicht nur die lokale Verwaltung und MVC-Komitees bei der Identifizierung von bedürftigen Kindern, sondern machen auch von materiellen und personellen Ressourcen in den Gemeinden zur Unterstützung der identifizierten Kinder Gebrauch. In diesem Bereich entwickeln ambulante Projekte, stärker als stationäre Einrichtungen, innovative Ansätze bei der Erschließung lokaler Potenziale. Als beispielhaft für die Nutzung lokaler Ressourcen steht der Einsatz von Volontären. Den Ehrenamtlichen kommt im ambulanten Bereich eine wichtigere Rolle zu als fest angestellten Mitarbeitern; sie sind den bezahlten Arbeitskräften zahlenmäßig weit überlegen. Das Engagement ehrenamtlicher Helfer aus dem Umkreis der Organisation bildet in allen befragten ambulanten Hilfsprogrammen das Fundament der Arbeit sowie die Voraussetzung für die enge Verbindung zwischen Klienten und Organisation. Die Freiwilligen dienen den Betroffenen unter anderem als ständige Ansprechpartner und ermöglichen den Projekten einen genauen Einblick in die Lebenswelt der Waisen. Die Schwierigkeit beim Einsatz von Volontären liegt in der Sicherung des langfristigen ehrenamtlichen Engagements. Fluktuation gefährdet die Kontinuität der Hilfe, da sie zu Beziehungsabbrüchen zwischen Mitarbeitern und Klienten führt sowie den finanziellen und zeitlichen Aufwand der Organisation für Schulungen, Einführungen in die Arbeit und Ausstattung der Volontäre erhöht. Neben der Gefahr der Fluktuation beinhaltet der weitverbreitete Einsatz lokaler Hilfskräfte weitere Risikofaktoren, die sich auf die Qualität der Arbeit auswirken können. Die Motive für das Engagement und die Qualifikation der Freiwilligen unterscheiden sich in den jeweiligen Einzelfällen. Bei unzureichenden Weiterbildungen, Reflexionsmöglichkeiten und Kontrolle besteht die Gefahr, dass sich die fehlende Professionalität auf die Arbeit mit den Waisen auswirkt. Intuitives Handeln und „gesunde Menschenkenntnis“ darf ein reflektiertes Vorgehen sowie eine kritische Betrachtung der Hilfe nicht ersetzen. Aber nicht nur im Hinblick auf die Qualität der Arbeit besteht ein Bedarf für eine professionelle Anleitung. Ehrenamtliche Hilfskräfte, die sich allein überlassen bleiben, leiden womöglich unter einer zu
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großen persönlichen Betroffenheit und riskieren eine schnelle Überforderung. Die Beschränkung auf Volontäre ohne eine ausreichende professionelle Begleitung kann dazu führen, dass engagierte Personen zu hilflosen Helfern werden. Bei allen individuellen Differenzen in der Ausgestaltung der Programme ist eine Gemeinsamkeit prägend für das Konzept der ambulanten Hilfe. Die Verantwortung für verwaiste Kinder verbleibt, entsprechend der traditionellen Normen, bei den Angehörigen. Diese Vorgehensweise besitzt gleich mehrere Vorteile. Durch das Aufwachsen der Kinder bei ihren Verwandten findet eine quasi natürliche Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse statt und die Kosten der materiellen Versorgung lasten nicht alleine auf den Schultern einer Organisation. Die Folgen im Falle einer unterbrochenen Kontinuität der Hilfe erweisen sich dementsprechend als weniger gravierend als in Fällen der stationären Unterbringung. Aber nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Kinder müssen in Familien ihre traditionellen Pflichten erfüllen und Verantwortung für die übrigen Familienmitglieder übernehmen. Durch ihre Mitarbeit erlernen die Heranwachsenden alle wesentlichen praktischen Fertigkeiten, die sie später für die Gründung und Versorgung eines eigenen Haushaltes benötigen. Statt zur Passivität werden Kinder zum aktiven Handeln und zur Übernahme von Verantwortung erzogen; dies erweist sich spätestens bei der Verselbständigung der jungen Menschen als Vorteil. Die Loslösung von der Familie, das heißt das Erreichen der Selbstständigkeit, findet dabei in einem schleichenden Prozess statt. Dieser wird einerseits von zunehmender Verantwortungsübernahme sowie andererseits von einem Zuwachs an persönlicher Freiheit und einen steigendem Recht auf Selbstbestimmung geprägt. Das familiäre System, welches auch im Erwachsenenalter das wesentliche Sicherungsnetz in Tansania darstellt, bleibt für Waisen in den ambulanten Programmen erhalten. Da es sich um ein reziprokes System handelt, führt die erfahrene Fürsorge auch zu Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen im Erwachsenenalter. Dies ermöglicht die Kontinuität des gesellschaftlich bedeutenden Sicherungssystems. Ein weiterer Vorteil, der sich durch den Verbleib der Waisen in ihren Familien und Gemeinden ergibt, besteht in der Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen und differenzierte Sozialisationserfahrungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen zu machen. Dies fördert einerseits die Integration und Normalisierung sowie andererseits die Vermittlung einer kulturellen Identität und gesellschaftlicher Werte. Das Aufwachsen in ihrer ethnischen Gruppe, die Kenntnis der individuellen Geschichte der Ethnie sowie die Teilnahme an spezifischen kulturellen Praktiken bilden die Grundlage für die Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Neben der spezifischen kulturellen Identität ermöglicht das Leben in der Gemeinschaft die Übernahme des gesell-
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schaftlichen Wertesystems. Kinder lernen Erwartungen der Gemeinschaft kennen und sind dadurch in Zukunft handlungsfähig. Das Ziel ambulanter Hilfsprogramme besteht in einem gelingenderen Alltag und nicht in der Utopie eines gelingenden Alltags oder der Schaffung eines gänzlich neuen Alltags. Grundsätzlich eignen sich ambulante Hilfsprogramme gut zur Umsetzung dieser Zielstellung. Die Unterstützung der ambulanten Programme orientiert sich an den Handlungs- und Deutungsmustern sowie den Problemlagen der Klienten und nutzt die Familie als Ressource. Ambulante Programme setzen auf individualisierte Hilfe, die bei den Problemen ansetzt, die zu einem NichtGelingen im Alltag der Klienten führen. Die Partizipation der Angehörigen und Kinder im Identifizierungsprozess ermöglicht eine gemeinsame Hilfeplanung. Die Hilfsprojekte konzentrieren sich in der Regel mit ihrer Arbeit auf die Bereiche, in denen die betroffenen Haushalte externer Unterstützung im materiellen bzw. psychosozialen Bereich bedürfen. Diese Unterstützung erfolgt in erster Linie durch direkte Hilfe, das heißt die Erfüllung der Grundbedürfnisse durch Nahrungsmittelspenden, Kostenübernahmen für die medizinische Versorgung oder Bildungsförderung. Da punktuelle direkte Hilfe, die in Notsituationen ansetzt, nur kurzfristig zu einem gelingenderen Alltag beiträgt und zur Abhängigkeit der Familien von kontinuierlicher Unterstützung führen kann, streben einige Organisationen die Kapazitätsbildung der betroffenen Haushalte an. Mit Hilfe von einkommenschaffenden Maßnahmen oder Beratungsangeboten leisten sie Hilfe zur Selbsthilfe und ermöglichen den Betreuern, sowohl die materiellen als auch die psychosozialen Bedürfnisse der Waisen eigenständig zu befriedigen. Neben den Unterstützungsangeboten agieren ambulante Programme auch präventiv, um die materielle Versorgung der betroffenen Haushalte zu sichern und die negativen Folgen der Verwaisung aufzufangen. Sie vermitteln beispielsweise bei Erbstreitigkeiten und sensibilisieren die Bevölkerung sowie Verantwortungsträger in den Gemeinden für die psychosozialen Bedürfnisse von Waisen. Auf diese Weise werden die Organisationen den Forderungen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit gerecht, eine Veränderung gesellschaftlicher Bedingungsfaktoren anzustreben, statt sich allein auf die Linderung der Folgen zu beschränken. Der Grad der Verbesserung bei der Gestaltung eines gelingenderen Alltags hängt von den einzelnen Programmen ab. In Qualität und Quantität der verschiedenen Angebotspaletten lassen sich große Differenzen beobachten. Diese beruhen neben einer Orientierung an den lokalen Voraussetzungen vor allem auf Unterschiede in der finanziellen Ausstattung der Organisationen sowie auf der Qualifizierung der Mitarbeiter. Die Hilfe, die ambulante Organisationen leisten, orientiert sich am Alltag der Klienten; die eingeschränkten Ressourcen führen jedoch dazu, dass sich häufig nicht alle Problemlagen im Alltag bearbeiten las-
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sen. Begrenzte Angebotspaletten schränken die Arbeit der Hilfsprogramme ein, so dass nicht immer die Möglichkeit für eine umfassende, alltagsorientierte Hilfe entsprechend der Bedürfnisse und Potenziale der Klienten besteht. Je umfangreicher und facettenreicher die Angebotspalette, desto stärker lässt sich eine Individualisierung der Hilfe und somit eine Verbesserung im Alltag erzielen. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch geringfügige Unterstützung zu einem gelingenderen Alltag im materiellen und psychosozialen Bereich beitragen kann. Die Schaffung eines gelingenderen Alltags durch ambulante Versorgungsangebote und durch Hilfe zur Selbsthilfe unterliegt Grenzen. Das Fehlen eines erwachsenen Betreuers, wie es beispielsweise in Kinderhaushalten vorkommt, sehen ambulante Programme nicht zwangsläufig als Indikation für eine Fremdunterbringung. Der Grad zwischen einer Überforderung der Kinder und der befriedigenden Wahrung der familiären Einheit fällt in diesen Fällen schmal aus. Die Versorgung und Übernahme der gegenseitigen Verantwortung stellt für minderjährige Geschwister eine gewaltige Herausforderung dar. Kinder in Kinderhaushalten müssen intensive Betreuung und Unterstützung erhalten, um die Sicherstellung ihrer gesunden Entwicklung zu garantieren. Minderjährige Heranwachsende sollten nicht die gesamte Verantwortung für die Versorgung eines Haushaltes tragen. Ambulante Projekte bemühen sich, Kinderhaushalte gezielt im materiellen Bereich zu unterstützen und ihnen eine Bezugsperson an die Seite zu stellen. Die Notwendigkeit externer Hilfe besteht für diese spezielle Risikogruppe teilweise über einen langen Zeitraum und darf nicht auf eine zeitnahe Verselbstständigung durch Hilfe zur Selbsthilfe zielen. Ambulanten Hilfsprogrammen kommt die Aufgabe zu, genau zu prüfen, ob die betroffenen Kinder eine angemessene Unterstützung erhalten und weder die Befriedigung materieller noch psychosozialer Bedürfnisse unter der Situation leiden. Im Falle, dass die Bedürfnisse der Kinder nicht erfüllt werden können, müssen ambulante Programme bereit sein, dies einzugestehen und gemeinsam mit den Kindern nach Alternativen, beispielsweise einer stationären Unterbringung, suchen. Stationäre Betreuungsangebote Der Schwerpunkt stationärer Organisationen besteht in der kurativen Arbeit. Der fehlende präventive Ansatz, die unzureichende Kooperation mit ambulanten Hilfsprogrammen sowie Mängel im Identifizierungsprozess führen dazu, dass viele Heranwachsende in stationären Einrichtungen leben, obwohl ambulante Unterstützungsangebote zur Deckung ihres Hilfebedarfs ausreichend wären. Die Fremdunterbringung bringt in diesen Fällen nur dem Kind, das aus der Familie herausgenommen wird, eine Verbesserung in der Versorgung; die übrigen Fami-
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lienmitglieder bleiben ohne Unterstützung zurück. Dies bedeutet nicht, dass für stationäre Einrichtungen in Tansania keine Berechtigung besteht. Einige Kinder kommen aus einem Herkunftsmilieu, welches auch durch ambulante Hilfe nicht in die Lage versetzt werden kann, die angemessene Versorgung und gesunde Entwicklung der Kinder zu gewährleisten. In anderen Fällen kam es bereits zur Desintegration der familiären Einheit und das Kind lebt auf der Straße oder wurde ausgesetzt. In diesen Situationen leistet stationäre Betreuung, vor allem wenn sie langfristig auf die Reintegration der Kinder in ein familiäres Umfeld zielt, einen Beitrag für einen gelingenderen Alltag der betroffenen Kinder. Abbildung 108: Vorteile der stationären Betreuung
Im materiellen Bereich befinden sich viele stationäre Einrichtungen in der Lage, einen gelingenderen Alltag zu bieten. Die gute Versorgung der Kinder sehen 63% der Interviewpartner (n = 19) als Vorteil der institutionellen Erziehung (Abb. 108). Die Grundversorgung von Heranwachsenden in Heimen und Kinderdörfern ist in der Regel gesichert. Die Kinder erhalten eine reichhaltige Ernährung, werden medizinisch versorgt, besitzen ausreichende Bekleidung, leben in einer festen Unterkunft und besuchen unterschiedliche Bildungseinrichtungen. Der Lebensstandard der Kinder liegt in einigen Einrichtungen weit über dem tansanischen Durchschnitt und ist somit meist bedeutend besser als die Versorgung von Kindern in ambulanten Programmen. Besonders die Bildungschancen übertreffen im stationären Bereich häufig die Möglichkeiten anderer Kinder in Tansania. Eine qualitativ hochwertige Bildung, welche den Zöglingen Aussichten auf den Aufstieg in die höheren Einkommensschichten in Tansania eröffnet, erweist sich allerdings als notwendig, wenn die jungen Menschen nach dem Heimaufenthalt ihren gewohnten Lebensstil beibehalten wollen.
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Trotz der Vorteile im materiellen Bereich bleibt die Lebenswelt im Heim eine künstliche Lebenswelt, die in vielen Aspekten dem familiären Alltag unterliegt. Durch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung entfallen alle Vorteile, die ambulante Hilfsprogramme nutzen, indem sie die Kinder in ihren Familien belassen. Stationäre Hilfsangebote sprechen die Familie von ihrer traditionellen Verantwortung frei. Die Kosten und der zeitliche Aufwand für die Versorgung der Kinder liegen zu 100% bei der Organisation, so dass eine Unterbrechung in der Kontinuität der Hilfe dramatische Folgen nach sich zieht. In der folgenden Abbildung (Abb. 109) finden sich diese und weitere Nachteile der stationären Betreuung, die Interviewpartnern nannten: Abbildung 109: Nachteile der stationären Betreuung
Die Entwicklung eines familiären Zugehörigkeitsgefühls sowie die natürliche Befriedigung der psychosozialen Bedürfnisse durch Angehörige entfallen in der institutionellen Erziehung und lassen sich nur bedingt durch die Interaktion zwischen Erziehern und Kindern ausgleichen. In Gesprächen mit Mitarbeitern aus dem stationären Bereich zeigte sich deutlich, dass die spezifischen Probleme von Waisen im psychosozialen Bereich häufig negiert oder nicht wahrgenommen werden. Stattdessen geben stationäre Einrichtungen die negativen psychosozialen Bedingungen in den Familien als Grund für die Fremdplatzierung an. Diese Argumentation übersieht, dass sich emotionelle Bedürfnisse im Heim ebenfalls
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nicht hinreichend befriedigen lassen und der Schutz vor psychischer, physischer und sexueller Gewalt nicht garantiert werden kann. Ein festes Regelwerk, strukturelle Zwänge, organisatorische Routinen und eine Vielzahl von Kindern in großen Gruppen prägen in den meisten Einrichtungen den Alltag. Ausnahmen bilden in diesem Bereich Kinderdörfer und familiäre Kleinstheime, die sich mit einer am Familienalltag angelehnten Betreuungsstruktur um eine stärkere Individualisierung der Betreuung bemühen und den Heranwachsenden als Vorbild für die Gründung einer eigenen Familie dienen wollen. In der Regel erleben Kinder in Heimen mit durchschnittlich circa 60 Kindern weder die Geborgenheit und Zuwendung noch die Herausforderungen, die ein familiäres Zusammenleben bietet. Dementsprechend lernen Waisen in stationären Einrichtungen nur in begrenztem Maße, Verantwortung für sich und andere zu tragen. Anonyme Spender finanzieren ihren Lebensunterhalt und sie erfüllen im Haushalt und der Landwirtschaft nicht die gleichen Pflichten wie in einer Familie. Eine kulturelle Identität, gesellschaftliche Werte und praktische Fertigkeiten vermittelt ein Heimaufenthalt nicht in gleicher Weise wie das alltägliche Leben in der Familie und Gemeinde. Viele Nachteile der stationären Erziehung zeigen sich erst zum Zeitpunkt der gesellschaftlichen Reintegration. Jedes Kind in der stationären Erziehung verliert in unterschiedlichem Maße seine familiäre und kulturelle Identität. Die institutionelle Betreuung birgt die Gefahr, dass junge Menschen nach der Rückkehr in ihre Gemeinschaft und ihre Familie nicht als vollständiges Mitglied anerkannt werden, da ihnen spezifische Erfahrungen fehlen und sie durch ihr Verhalten kulturelle Werte verletzen. Den Alltag im Heim prägen eigene Werte und Regeln. Diese ergeben sich aus den organisatorischen Notwendigkeiten einer institutionellen Erziehung, da nur ein festes Regelwerk und Routinen das Gelingen des Zusammenlebens ermöglichen, und aus kulturfremden Einflüssen durch Mitarbeiter und Volontäre aus dem Ausland. Isolation, zum Beispiel durch den Besuch heimeigener Schulen, verstärkt die Verinnerlichung von kulturfremden und organisatorisch bedingten Werten und Verhaltensweisen. Dies widerspricht der Forderung nach Normalisierung und erschwert Heranwachsenden die Integration in die Gesellschaft: „Die Institutionen, die bereits da sind […], wir sehen, dass da etwas fehlt. Zum Beispiel: Diese Kinder, sie entwickeln Gewohnheiten, die nicht in die Gesellschaft passen.“ (Interview mit M. Bujiku am 01.05.07 in Mwanza, Tansania/Übersetzung durch Verf.). Je stärker Organisationen Kontakte zwischen den Kindern und anderen gesellschaftlichen Institutionen fördern, desto eher können die Heranwachsenden von verschiedenen Sozialisationserfahrungen profitieren. Trotzdem stationäre Betreuungseinrichtungen zunehmend versuchen, die Beziehung zwischen den betreuten Kindern und ihren Angehörigen aufrechtzu-
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erhalten, führt die Fremdplatzierung immer zur partiellen bzw. vollständigen Trennung zwischen dem Kind und seiner Familie. Die Erfahrung von Straßenkindprojekten und Säuglingsheimen zeigt, dass in vielen Fällen der institutionellen Versorgung die Möglichkeit für eine Intensivierung der Kontakte und eine zeitnahe Reintegration besteht. Dieses Ziel verfolgen andere Einrichtungen der stationären Erziehung zurzeit noch nicht. Die Kontakte zu den Familien dienen in erster Linie dazu, die verwandtschaftlichen Beziehungen für die Zeit nach dem Heimaufenthalt aufrechtzuerhalten. Die Existenz eines Sicherheitsnetzes in Notfällen spielt in Tansania eine wichtige Rolle, da Menschen nicht auf ein ausreichendes Sozialversicherungssystem vertrauen können. Aufgrund der fehlenden Erfahrung mit der Verselbstständigung ihrer Zöglinge bleibt bisher unklar, ob sich die sporadischen Kontakte der Kinder zu ihren Angehörigen in Zukunft als tragfähig erweisen. Um diesem Problem vorzubeugen, streben stationäre Einrichtungen die Etablierung alternativer Sicherungsnetze an. Manche Projekte bemühen sich, zwischen ihren Zöglingen eine Art Geschwisterbeziehung zu initiieren, die in Zukunft Halt bietet. Andere Organisationen dienen selbst als Unterstützungsnetz, welches mit Beratungs- und Hilfsangeboten zur Seite steht. Eine langfristige Rückkehr, wie sie in Tansania in Familien bei Notfällen der Norm entspricht, schließen alle befragten Einrichtungen aus. Der Wechsel vom Aufwachsen in der Einrichtung zu einem selbstständigen Leben findet in der Regel als übergangslose Zäsur statt und bringt den jungen Menschen einen gewaltigen Zugewinn an Unabhängigkeit. Die Autonomie birgt viele Chancen, aber auch Gefahren. Die jungen Menschen müssen sich selbst disziplinieren und Grenzen setzen, da die Kontrolle, die Routinen und das Regelwerk der Einrichtung entfallen. Interviewpartner berichten, dass junge Menschen Schwierigkeit haben mit der neu gewonnenen Freiheit umzugehen. Darüber hinaus müssen die Heranwachsenden nach dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung einen hohen Grad an Anpassungsfähigkeit aufbringen, da sich das Leben in der Einrichtung von der typischen tansanischen Lebenswelt stark unterscheidet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt entwickelt sich der hohe Lebensstandard in einigen Projekten zu einem Hemmnis. Die Kinder in stationärer Erziehung kennen das Leben in einer Lehmhütte ohne technische Hilfsmittel und Zugang zu Elektrizität und fließend Wasser, wie es für die überwiegende Zahl aller Tansanier zum Alltag gehört, in der Regel nicht oder nur aus kurzen Ferienaufenthalten bei Verwandten. Fremdbetreuung stellt eine Antwort auf ein lokales Problem dar, aber orientiert sich nicht an den lokalen Bedingungen. Die stationäre Betreuung, wie sie die meisten besuchten Organisationen betreiben, entspricht nicht dem Anspruch der Regionalisierung und Dezentralisierung. Differenzen in der Arbeit der Einrichtungen basieren weniger auf den jeweiligen lokalen Voraussetzungen, son-
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dern vielmehr auf unterschiedlichen konzeptuellen Ausrichtungen und organisatorischen Bedingungen. Bei der Planung von Programmen und nach der Aufnahme der Kinder findet die Partizipation von Familien, Kindern und Gemeindevertretern nur eingeschränkt statt. Die stationäre Betreuung von Kindern in Institutionen widerspricht der traditionellen familiären und gemeinschaftlichen Verantwortung und wird aufgrund des ausländischen Einflusses, der fehlenden traditionellen Verankerung und dem überdurchschnittlichen Lebensstandard als kulturfremd wahrgenommen. Dies führt unter anderem dazu, dass sich die Mobilisierung lokaler Ressourcen für stationäre Einrichtungen als schwieriger erweist als für ambulante Programme. Ausländische Geldgeber machen die finanzielle und personelle Unterstützung durch lokale Akteure scheinbar unnötig. Der bessere Zugang zu Projektgeldern aus dem Ausland, bei dem sich stationäre Angebote im Vorteil gegenüber ambulanten Hilfsprojekten befinden, bildet die Grundlage für die teilweise sehr hohe Lebensqualität in den Einrichtungen, kreiert aber gleichzeitig eine hohe Abhängigkeit. Die finanzielle Förderung durch ausländische Geldgeber erlaubt auch den stärkeren Einsatz von bezahlten Mitarbeitern. Die Zahl der fest angestellten Arbeitskräfte übertrifft in der Regel den Mitarbeiterstab in ambulanten Projekten. Wesentliche Differenzen bestehen außerdem im Einsatz von Volontären. 88% der befragten Organisationen (n = 16) profitieren vom ehrenamtlichen Engagement, jedoch stellen ausländische Volontäre anders als im ambulanten Bereich den überwiegenden Teil der unbezahlten Arbeitskräfte. Die ausländischen Freiwilligen kommen im großen Umfang durch Vermittlungsorganisationen, die hohe Vermittlungskosten einfordern und die Aufenthaltsdauer auf maximal drei Monate begrenzen. Der Einsatz ausländischer Volontäre im stationären Bereich steigert die Qualitätszeit der Kinder, aber führt zu vielfältigen Nachteilen. Volontären fehlt in der Regel eine spezifische Qualifikation für den Tätigkeitsbereich ihres Aufenthaltes, sie bringen unterschiedlichste pädagogische Vorstellungen und Erziehungsmethoden in die Arbeit ein und sprechen zumeist nicht die Sprache der Kinder. Die Aufgaben der Volontäre lassen sich demzufolge oft von lokalen Kräften in gleicher oder besserer Qualität erfüllen. Fluktuation lässt sich beim Einsatz von ausländischen Volontären nicht verhindern; sie ist Teil des Systems. Besondern in den Fällen, in denen zwischen ausländischen Freiwilligen und Kindern enge Bindungen aufgebaut werden, führt der Beziehungsabbruch zu einer Zäsur in der Hilfe und zu wiederholten Verlusterfahrungen für die Kinder. Die Verantwortlichen in den Organisationen scheinen sich der Risiken von Freiwilligeneinsätzen nicht bewusst zu sein. Die offensichtlichen Vorteile für die Organisationen, wie zusätzliches Personal oder finanzielle Zuwendungen der Vermittlungsorganisationen oder Volontäre, wiegen schwerer als die Nachteile, die erst bei einer differenzierten Analyse zum Vorschein kommen.
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Identifizierung geeigneter Hilfsangebote Der zweite Abschnitt der Evaluationsstudie widmete sich der Identifizierung geeigneter Hilfsangebote sowohl aus dem ambulanten als auch aus dem stationären Bereich (Kap. 5.2). Als Grundlage dafür dienten die während des Forschungsaufenthaltes von der Autorin besuchten Projekte. Dieser Teil der Evaluationsstudie zielte in erster Linie auf die Kapazitätsbildung bestehender Programme in Tansania, denn die Erfahrungen der Autorin während ihrer Besuche zeigten, dass zwischen den Organisationen ein Bedarf für einen Informationsaustausch über erprobte und effektive Programme besteht. Gleichzeitig offenbarte sich die mangelhafte Kommunikation staatlicher Strategien zur Unterstützung bedürftiger Waisen, welche langfristig deren Implementierung und Zielerreichung gefährdet. Aus diesem Grund entschied sich die Autorin, den „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“, der als Reaktion auf die Waisenkrise von verschiedensten Stakeholdern formuliert wurde, als Basis zur Identifizierung geeigneter Hilfsangebote zu nutzen. Entsprechend der jeweiligen Interventionsbereiche des staatlichen Aktionsplans ließ sich eine Auswahl an Hilfsmaßnahmen aus dem Gesamtangebot der besuchten Projekte treffen. Anschließend identifizierte die Autorin aus der Vorauswahl diejenigen Interventionen, die den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung besonders entsprachen. Dabei zeigte sich deutlich, dass die Lösungen für die Waisenkrise bereits in Tansania vorhanden sind. Es besteht daher kein Bedarf für den Import ausländischer Programme. Vielmehr verdeutlichte die Gegenüberstellung ambulanter und stationärer Angebote, dass Projekte, die ausländische Konzepte nach Tansania bringen, keine effektiven Antworten auf die Waisenkrise bieten. Besonders die institutionelle Versorgung von Kindern steht im Widerspruch zu den Traditionen des familiären Sicherungssystems und der gemeinschaftlichen Verantwortung. Obwohl Kinder in institutioneller Betreuung in vielen Fällen über die scheinbar besseren Lebensbedingungen verfügen, zeigte sich bei einer genaueren Analyse, dass stationäre Einrichtungen keine geeigneten Lösungen für die Waisenkrise darstellen und sich das Ausmaß der Verwaisung auf diese Weise nicht bewältigen lässt. Ambulante Hilfsprogramme für Waisen entsprechen der tansanischen Lebenswelt, denn sie unterstützen das traditionelle Versorgungssystem. Auf diese Weise verteilt sich die Verantwortung für die Heranwachsenden auf mehrere Akteure, wodurch die ambulanten Programme weniger teuer als stationäre Einrichtungen sind und somit eine größere Anzahl von Heranwachsenden erreichen. Ambulante Programme befinden sich in der Lage, den Bedarf für stationäre Angebote zu begrenzen. In den Fällen, in denen ambulante Unterstützung nicht ausreicht, finden sich auch in Tansania geeignete Einrichtungen der institutionellen Betreuung, die den Forderungen der Lebens-
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weltorientierung entsprechen und den betroffenen Kindern zu einem gelingenderen Alltag verhelfen. Diese könnten zukünftig als Beispiel für die Entwicklung und Verbesserung von Organisationen im stationären Bereich dienen. Die im Rahmen des zweiten Teils der Evaluationsstudie identifizierten Interventionen eignen sich, um Programme bestehender Organisationen weiterzuentwickeln. Das Ziel bestand nicht darin, fertige Konzepte vorzustellen, welche die Hilfsprojekte ohne weitere Modifikation übertragen sollen. Aus diesem Grund beschränkt sich der zweite Teil der Evaluationsstudie auf kurze Beschreibungen, die als Ideengeber zu verstehen sind. Die Darstellungen geeigneter Hilfsangebote können den Organisationen als Anregung dienen, allerdings muss eine individuelle Anpassung an die lokalen Voraussetzungen und die entsprechende Zielgruppe erfolgen. 6.2 Implikationen für die praktische Arbeit Die Resultate der vorliegenden Arbeit belegen die Richtigkeit der internationalen und nationalen Forderungen nach ambulanten familien- und gemeindeorientierten Hilfsstrategien zur Bewältigung der Waisenkrise. Ambulante Hilfsangebote weisen im Allgemeinen eine stärkere und zum Teil erstaunlich genaue Deckung mit den Forderungen der Lebensweltorientierung von Thiersch auf, während stationäre Einrichtungen häufig nicht der tansanischen Lebenswelt und den Bedürfnissen und Ressourcen der betroffenen Kinder angemessen sind. Die Forschungsergebnisse implizieren allerdings nicht, dass stationären Betreuungseinrichtungen keinen Platz in der Angebotspalette der Waisenhilfe eingeräumt werden sollte. Es besteht in Tansania sowohl ein Bedarf für ambulante Hilfsangebote als auch für die stationäre Unterbringung, wobei ambulanten Maßnahmen insgesamt ein bedeutend stärkeres Gewicht zukommen muss. Im Rahmen der Untersuchung offenbarten sich Unzulänglichkeiten der Waisenhilfe in Tansania, die sich als Hemmnis auf die Bewältigung der Waisenkrise auswirken. Verbesserungen hinsichtlich der Qualität bzw. Quantität sind sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich notwendig. 6.2.1 Bedarfsdeckende Ausweitung geeigneter Programme Um allen bedürftigen Kindern in Tansania den Zugang zu Unterstützung zu ermöglichen, sollten ambulante Hilfsprogramme Priorität erhalten. Die vorliegende Untersuchung zeigte, dass ambulante Programme trotz der Schwierigkeiten im Bereich der Finanzierung durch die Einbindung der Gemeinden und Ver-
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wandten einen bedeutend größeren Wirkungskreis erzielen als stationäre Betreuungsangebote. Der überdurchschnittliche Lebensstandard in der institutionellen Betreuung und die Übernahme aller Kosten für die Versorgung der betreuten Kinder erweisen sich im stationären Bereich als Nachteil. Aufgrund der hohen Kosten, die pro Kind durchschnittlichen das Zehnfache der Kosten ambulanter Hilfsprogramme betragen, profitieren in der Regel bedeutend weniger Kinder von der Hilfe institutioneller Betreuungseinrichtungen. Das Ziel einer angemessenen Unterstützung bedürftiger Kinder lässt sich aus diesem Grund nur durch eine Ausweitung ambulanter Hilfsangebote erreichen. Haushaltsbefragungen in Tansania zeigen, dass nur 4% bis 6% der betroffenen Kinder in Haushalten leben, die externe Unterstützung erhalten (Kap. 4.1.1).845 Die Gründe für den Mangel an geeigneten Hilfsprogrammen und die Ungleichverteilung in den einzelnen Gebieten sind vielfältig. Vor allem das bevorzugte Engagement von Hilfsorganisationen in urbanen Gebieten und spezifischen Regionen, eine unzureichende Koordinierung der Projekte durch staatliche Stellen sowie die mangelhafte Kommunikation zwischen einzelnen Initiativen verhindern einerseits die flächendeckende Ausweitung geeigneter Programme und führen andererseits zur Duplikation von Hilfsangeboten und zur Vermittlung in ungeeignete Maßnahmen. Verschiedene Akteure sollten in Zukunft durch ihr Engagement und eine effektive Kooperation dafür sorgen, dass alle bedürftigen Kinder in den Genuss notwendiger und für den Einzelfall geeigneter Unterstützung kommen. Ausweitung der Hilfsangebote Der tansanische Staat muss im sozialen Bereich Maßnahmen ergreifen, um seiner Verantwortung zum Schutz von Kindern in Notsituationen nachzukommen. Der dezentralisierte Ansatz des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“, der sich in der Einrichtung lokaler MVC-Komitees in jeder tansanischen Gemeinde und der Rekrutierung zusätzlicher Sozialarbeiter zur Stärkung der Wohlfahrtsämter in den Distrikten manifestiert, stellt eine geeignete Grundlage für einen gleichberechtigten Zugang zu Hilfsangeboten im gesamten Land dar (Kap. 2.2.4).846 Da die finanziellen und personellen Kapazitäten des Staates nicht ausreichen, um als omnipotenter Bereitsteller sozialer Dienste zu agieren, bleibt er weiterhin auf das Engagement lokaler Initiativen und internationaler Hilfsprogramme angewiesen. Er muss aus diesem Grund die 845
Vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 16. 846 Vgl. Government of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 27 ff.
6.2 Implikationen für die praktische Arbeit
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Rolle eines Koordinators übernehmen. Das Ziel besteht hierbei nicht darin, dass der Staat die Aufgaben der nichtstaatlichen Organisationen bestimmt, sondern dass eine Vernetzung und Definition der Funktionen des Staates sowie entsprechender Hilfsprogramme erreicht wird. Der staatliche Aktionsplan, den Regierungsvertreter gemeinsam mit nichtstaatlichen Akteuren erarbeitet haben, stellt sich dieser Aufgabe. Die kommenden Monate müssen zeigen, inwieweit die Implementierung des Aktionsplans voranschreitet und die Ziele umgesetzt werden. Zur Implementierung des staatlichen Aktionsplans bedarf es der aktiven Mitwirkung nichtstaatlicher Organisationen. Diese sollten in Zukunft die Platzierung ihrer Angebote an den tatsächlichen Bedürfnissen im Land ausrichten. Dazu besteht die Notwendigkeit von Situationsanalysen vor Ort, die Rückschlüsse auf bereits existierende Hilfsprogramme und bisher unbefriedigte Bedürfnisse zulassen. Die verbesserte Registrierung von nichtstaatlichen Organisationen, die sich unter anderem durch eine Senkung der Registrierungskosten und eine stärkere staatliche Kontrolle erreichen lässt, könnte langfristig über den Bedarf von Hilfsprogrammen in den einzelnen Regionen des Landes zuverlässig Auskunft geben. Um den festgestellten Bedarf durch bestehende oder neu gegründete Organisationen in Zukunft zu decken, müssen die Projekte zur Mobilisierung ausreichender materieller und personeller Ressourcen in der Lage sein. Die Ausweitung des Hilfsangebotes der Waisenhilfe lässt sich demnach nur durch den Ausbau der Kapazitäten der einzelnen Organisationen erreichen. Um den Erfolg der Arbeit jeder einzelnen Organisation zu sichern und den betroffenen Haushalten im gesamten Land einen gleichberechtigten Zugang zu Hilfsangeboten zu ermöglichen, besteht des Weiteren die Notwendigkeit einer Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Hilfsinitiativen, die mit Waisen und bedürftigen Kindern arbeiten. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass fehlende Absprachen zwischen den einzelnen Projekten dazu führen, dass sich ihre Tätigkeitsfelder überschneiden und bestimmte Bereiche mehrfach abgedeckt werden. Gleichzeitig fehlen für andere Tätigkeitsfelder die finanziellen und personellen Ressourcen, das Interesse oder die Zeit, so dass spezifische Bedürfnisse verwaister Kinder unbefriedigt bleiben und manche Gegenden völlig von Unterstützungsangeboten abgeschlossen sind. Gemeinsam wäre es den Organisationen möglich, die Energie für größere Events, wie beispielsweise die Organisation eines Aktionstages zum Thema „Kinderrechte und -pflichten“, aufzubringen oder den sozialpolitischen Forderungen zugunsten ihrer Klienten zusätzliches Gewicht zu verleihen. Auf diese Weise ließe sich der Anspruch der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach sozialpolitischen Veränderungen umsetzen und die Ursachen der Problemlagen bekämpfen.
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Vermittlung in geeignete Maßnahmen Neben einer allgemeinen Ausweitung der Hilfsangebote besteht die Notwendigkeit, die Vermittlung in eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete Maßnahme zu verbessern. Es reicht nicht aus, ausschließlich die Zahl und Kapazitäten der Anbieter im ambulanten und stationären Bereich zu erhöhen. Entscheidend für die Funktionalität des tansanischen Hilfesystems und die Befriedigung der Nachfrage nach Unterstützung ist vielmehr ein effektiver Identifizierungsprozess, der eine Unterscheidung zwischen Kindern mit stationärem Betreuungsbedarf und Kindern mit ambulantem Unterstützungsbedarf erlaubt. Um dies zu erreichen, müssen stationäre und ambulante Hilfsprogramme enger miteinander sowie mit dem zuständigen Wohlfahrtsamt kooperieren. Der jeweilige Beamte der Wohlfahrtsbehörde trägt die Verantwortung für die Unterbringung von Heranwachsenden in stationären Einrichtungen. Die personelle und materielle Kapazitätserweiterung der Wohlfahrtsbehörden und die Registrierung aller sozialen Dienstleister im Einzugsgebiet des Amtes bilden das Fundament für eine verbesserte Vermittlung der Betroffenen an individuell angepasste Hilfsangebote. Nur wenn den zuständigen Beamten umfassende Informationen zu den vorhandenen Hilfsangeboten vorliegen und sie über die für die Überprüfung der Einzelfälle sowie die Bewältigung der Verwaltungsaufgaben erforderliche Ausstattung verfügen, können sie fundierte Entscheidungen treffen. Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, Kriterien für eine Fremdplatzierung zu definieren, die den beteiligten Akteuren Orientierung bei der Entscheidung im Einzelfall bieten. Ein besserer Identifizierungsprozess für Kinder mit stationärem Betreuungsbedarf, die Entwicklung alternativer Betreuungsformen, beispielsweise formelle Pflegeverhältnisse, und das Angebot von ambulanten Maßnahmen als Alternative könnten zur Reduzierung der stationären Unterbringungen beitragen. Dies würde wiederum Ressourcen zur Stärkung ambulanter Hilfsangebote freisetzen. Bisher arbeiten Anbieter im Bereich der ambulanten Hilfe kaum mit dem Wohlfahrtsamt zusammen. Die fehlende Zusammenarbeit mit dem Wohlfahrtsamt führt dazu, dass die zuständigen Beamten ambulante Hilfsangebote nicht als Alternative zur stationären Betreuung in Erwägung ziehen und die ambulanten Projekte Kinder nicht zeitnah in Heimeinrichtungen vermitteln können. Die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen über die Gemeindeebene hinaus ist im stationären Bereich bedeutend stärker ausgeprägt als im ambulanten Bereich. Die Abstimmung mit den staatlichen Behörden ermöglicht eine Transparenz in der Arbeit, die Sicherstellung von einheitlichen Mindeststandards und die gemeinsame Hilfeplanung für gefährdete Kinder. Die Analyse der Autorin belegte nicht nur Defizite in der Zusammenarbeit mit dem Wohlfahrtsamt, sondern auch Mängel in der Kooperation zwischen den
6.2 Implikationen für die praktische Arbeit
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Anbietern ambulanter und stationärer Hilfsprogramme, welche ebenfalls dazu führen, dass die Vermittlung von Hilfe suchenden Personen an geeignete Angebote scheitert. Obwohl alle Organisationen von Kooperationen mit anderen Projekten berichten, beschränken sich diese auf einige ausgewählte Partner und konzentrieren sich auf vergleichbare Anbieter. Die unzureichende Zusammenarbeit begünstigt die Aufrechterhaltung von gegenseitigen Vorurteilen, begrenzt den Erfahrungsaustausch und verhindert im Bedarfsfall eine Vermittlung alternativer Hilfsangebote. Die Kooperation zwischen den unterschiedlichen Anbietern könnte einerseits Mitarbeitern stationärer Einrichtungen helfen, Hilfe suchende Familien an ambulante Unterstützungsprogramme zu vermitteln, sowie andererseits Mitarbeiter ambulanter Hilfsprojekte in die Lage versetzen, Kinder in ihren Programmen zu identifizieren, die einen Bedarf für eine stationäre Unterbringung aufweisen. Auf diese Weise ließe sich sicherstellen, dass bedürftige Heranwachsende die Hilfe erhalten, die ihren Problemlagen und Ressourcen entspricht. 6.2.2 Qualitätssteigerung der Hilfsprogramme Sowohl bei ambulanten Hilfsprogrammen als auch bei stationären Betreuungsangeboten stellte die Autorin in einigen Fällen erhebliche qualitative Mängel fest, die sich auf die Versorgung der betreuten Kinder auswirken (Kap. 5.1). In den stationären Einrichtungen sind diese in der Regel strukturell bedingt. Das Leben im Heim folgt organisatorischen Zwängen und Routinen, bietet wenig Raum für ein individuelles Eingehen auf die Zöglinge und eignet sich kaum zur Vorbereitung der Heranwachsenden auf ihre Rolle in der Gesellschaft. Während in vielen Einrichtungen der institutionellen Erziehung die materielle Versorgung überdurchschnittlich gut ausfällt, kommt es zu einer Vernachlässigung der psychosozialen Bedürfnisse der Kinder. Die Probleme ambulanter Programme liegen wiederum nicht im Konzept, sondern vor allem in den begrenzten Kapazitäten. Die Untersuchungsergebnisse im Kapitel 5.1 zeigten, dass sich der ambulante Ansatz eignet, die vielfältigen Bedürfnislagen verwaister Kinder zu bearbeiten. Eine begrenzte Angebotspalette, welche oft direkte Unterstützung leistet, anstatt die Selbsthilfekräfte der Haushalte nachhaltig auszubauen, reduziert allerdings den Erfolg einiger Programme. Trotz dieser Einschränkungen besteht in Tansania ein Bedarf sowohl für ambulante Unterstützung als auch für die Fremdunterbringung von bedürftigen Kindern. Um diesen Bedarf angemessen zu erfüllen, sind Maßnahmen zur Qualitätssteigerung in beiden Angebotsbereichen notwendig. Bestehende Projekte in Tansania belegen, dass sich Nachteile und Hemmnisse der jeweiligen Hilfeform minimieren lassen (Kap. 5.2).
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Qualitätssteigerung im stationären Bereich Einige stationäre Betreuungsformen wiesen erhebliche Defizite in ihrer Arbeit auf. Die Versorgung in „klassischen“ Kinderheimen leidet häufig unter großen Gruppen und organisatorischen Zwängen, Säuglingsheime bieten ihren Zöglingen nicht die notwendigen Bindungsmöglichkeiten zum Aufbau verlässlicher Beziehungen und das Leben in Kinderdörfern wird von einer starken Isolation geprägt. Diese Konzepte eignen sich demnach nicht, um Kindern die Sozialisationserfahrungen zukommen zu lassen, welche die Grundlage für ein gesundes Aufwachsen und eine Integration in die Gesellschaft bilden. Zur Qualitätssteigerung in der Fremdunterbringung besteht die Notwendigkeit, Anstrengungen im Bereich der Reintegration zu verstärken sowie Alternativen zu den genannten Betreuungsformen zu entwickeln. Die Praxis in Tansania zeigt, dass bereits heute geeignete Lösungen existieren, welche für die im Folgenden vorgeschlagenen Maßnahmen als Vorbild dienen (Kap. 5.2). Zuallererst sollten sich stationäre Einrichtungen verstärkt als Übergangsbetreuung verstehen und Mechanismen etablieren, die eine Rückführung der Zöglinge in ihre Familien oder in alternative Betreuungsformen fördern. Der größte Teil der in Institutionen betreuten Kinder verfügt über bekannte lebende Angehörige. Dennoch richten sich die Bemühungen der Organisationen im Bereich der familiären Kontakte bisher fast ausschließlich auf kurze Ferienaufenthalte und Besuche von Verwandten. Das Ziel, Kinder langfristig in ihre Familien zurückzuführen, verfolgen fast ausschließlich Säuglingsheime und Straßenkindprojekte. In vielen Fällen bietet die familiäre Reintegration eine geeignete Alternative zur stationären Betreuung. Die Voraussetzung für die familiäre Reintegration besteht in einem Kapazitätsausbau der Privathaushalte durch materielle und psychosoziale Unterstützung. Die Erfahrungen der Straßenkindprojekte belegen, dass Familien mit Hilfe ambulanter Hilfsprogramme in die Lage versetzt werden können, minderjährige Angehörige wieder bei sich aufzunehmen und für diese zuverlässig zu sorgen. Stationäre Einrichtungen, wie Kinderheime oder -dörfer, sollten vergleichbare Reintegrationsprogramme aufbauen bzw. verstärkt mit ambulanten Projekten zusammenarbeiten. Die Bedingung für den nachhaltigen Erfolg der Wiedereingliederung besteht in einer intensiven Nachbetreuung der jeweiligen Familien. Für Kinder ohne familiären Anschluss erwiesen sich Pflegekindprogramme, welche Heranwachsende an geeignete Familien vermitteln und diese bei der Versorgung der Pflegekinder unterstützen, als zuverlässige Alternative zur institutionellen Betreuung. Die Versorgung innerhalb eines familiären Rahmens ermöglicht ein Aufwachsen in der Gemeinschaft mit entsprechenden Sozialisationserfahrungen. Wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg dieser Programme
6.2 Implikationen für die praktische Arbeit
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liegen in der Auswahl der Pflegeeltern sowie in der Begleitung der Maßnahme durch Weiterbildungen, Beratungsangebote und materielle Beihilfen. Gelingt die Integration des Heranwachsenden in die Pflegefamilie, bieten diese in der Regel langfristig ein neues familiäres Netzwerk. Eine weitere Alternative zur stationären Betreuung, die sich vor allem für Säuglinge und Kleinkinder eignet, stellt die Adoption dar. Die Aufnahme von nichtverwandten Kindern ist in Tansania nicht traditionell verankert, dennoch zeigen vor allem kinderlose Paare oder Einzelpersonen ein Interesse an dieser Möglichkeit. Bisher hemmen allerdings fehlende Informationen zur Adoption und ein langwieriger Adoptionsprozess die Vermittlung bedürftiger Kinder in Adoptivfamilien. Um mehr Adoptionen zu ermöglichen, muss zuallererst in der Bevölkerung ein Bewusstsein für diese Möglichkeit geschaffen werden. Adoptionsgesellschaften und Säuglingsheime befinden sich in der Lage, Informationen zur Adoption zu verbreiten und den Adoptionsprozess beratend zu begleiten. Ein Ausbau der Kapazitäten der Wohlfahrtsbehörde und der zuständigen Gerichte kann darüber hinaus zur Beschleunigung des Adoptionsprozesses beitragen. Neben diesen Alternativen zur institutionellen Erziehung existieren stationäre Einrichtungen, die sich aufgrund ihrer Struktur und konzeptuellen Ausrichtung besser eignen, die Bedürfnisse der bei ihnen lebenden Zöglinge zu befriedigen, als klassische Kinderheime, Säuglingsheime oder Kinderdörfer. Beispielsweise versuchen Kleinstheime, die Vorteile der stationären Versorgung zu nutzen und die Nachteile auf ein Minimum zu reduzieren. Die Betreuung einer begrenzten Zahl von Kindern durch Hauseltern in kleinen Wohneinheiten erlaubt ein individuelles Eingehen auf die Zöglinge und ein Aufwachsen innerhalb der Gemeinschaft. Die Kleinstheime bilden dabei einen Kompromiss zwischen Pflegefamilien und Kinderdörfern. Die Hauseltern arbeiten als Angestellte einer Organisation mit der spezifischen Aufgabe, die Kinder zu versorgen und ihre vielfältigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Kosten der Betreuung übernimmt der Träger, der in der Regel auch das Wohngebäude stellt. Anders als in Kinderdörfern, die aus mehreren Familieneinheiten auf einem abgegrenzten Gelände bestehen, leben die Heranwachsenden nicht isoliert von der kommunalen Gemeinschaft, sondern in regulären Wohnvierteln. Dies fördert die gesellschaftliche Integration und die Vermittlung einer kulturellen Identität. Der Ausbau eines dichten Netzes von Kleinstheimen statt der Schaffung großer Einrichtungen für eine Vielzahl von Kindern gewährleistet darüber hinaus die Nähe zu gegebenenfalls lebenden Familienangehörigen und der Herkunftsgemeinde der Kinder. Die Möglichkeit zu regelmäßigen Kontakten und der Erhalt des sozialen Netzwerkes, beispielsweise in der Schule, können sich als Vorteile bei der gesellschaftlichen Reintegration erweisen.
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Qualitätssteigerung im ambulanten Bereich Ambulante Maßnahmen leisten nur qualitativ hochwertige Hilfe, wenn sie geeignete und umfassende Lösungen für die jeweiligen individuellen Problemlagen ihrer Klienten bieten. Die Bedürfnisse der betroffenen Haushalte weisen starke Differenzen auf, welche vom lokalen Kontext, vorhandenen Ressourcen und der individuellen familiären Situation abhängen. Einige Familien benötigen ausschließlich Beratungsangebote, bei anderen Haushalten besteht ein Bedarf an umfangreicher materieller und psychosozialer Unterstützung. Eine breite Angebotspalette und eine individuelle Anpassung der Hilfe an den Einzelfall bilden die Voraussetzungen, um diesen unterschiedlichen Erfordernissen der Klienten gerecht zu werden. Dies lässt sich einerseits durch den Ausbau der bestehenden Programme und andererseits durch die Vernetzung mehrerer Anbieter erreichen. Der Ausbau einer Hilfsorganisation sollte sich am tatsächlichen Bedarf der Adressaten orientieren. Um dies zu erreichen, bedarf es einer partizipatorischen Programmplanung mit der Beteiligung von Klientenvertretern sowie lokalen Repräsentanten. Auf diese Weise lassen sich die Programme an die bestehenden Bedürfnisse anpassen und somit die Qualität der Angebote verbessern. Eine Modifizierung und Ausweitung der Angebotspalette erfordert in der Regel einen Ausbau der Kapazität der jeweiligen Organisation. Das Fundament für die notwendige Kapazitätsentwicklung bildet die Ressourcenmobilisierung sowie die Qualifizierung und Bindung der Mitarbeiter. Hemmnis für die qualitative Verbesserung ambulanter Programme bildet häufig die im Vergleich zu stationären Einrichtungen schlechte finanzielle Ausstattung. Diese beruht vor allem auf der Schwierigkeit, Spenden aus dem Ausland zu akquirieren. Obwohl lokale Unterstützungsprojekte den internationalen Lösungsstrategien zur Waisenkrise entsprechen, erfahren sie im Zugang zu ausländischen Projektgeldern Benachteiligung. Einigen Programmen gelang es in den vergangenen Jahren, mit innovativen Methoden personelle und materielle Ressourcen zu akquirieren und sich auf diese Weise aus der alleinigen Abhängigkeit von ausländischen Sponsoren zu lösen. Einkommensprojekte, Angebote ohne finanziellen Input, die Mobilisierung der Gemeinden sowie die stärkere Nutzung staatlicher Förderungen bzw. traditioneller Ressourcen im Sinne einer Indigenisierung der Sozialen Arbeit (Abb. 110) können den Hilfsprojekten in der Zukunft helfen, ihre Angebote weiter auszubauen und deren Nachhaltigkeit zu sichern.
6.2 Implikationen für die praktische Arbeit
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Abbildung 110: Nutzung traditioneller Ressourcen in der Arbeit mit Waisen Traditionelle Heiler, die in fast allen Gemeinden Tansanias ansässig sind, leisten einen wichtigen Beitrag in der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung bei physischen und psychischen Erkrankungen. Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe zu ihren Patienten und lassen sich häufig schneller und unkomplizierter erreichen als staatliche oder private medizinische Einrichtungen. (Mhame 2000, S. 1; Kayombo, Mbwambo und Massila in Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine, 2005/1:3, o. S.) Diese Nähe bedeutet für verwaiste Kinder, deren Arztbesuch häufig an der Entfernung zur nächstgelegenen Gesundheitsstation und den damit verbundenen Transportkosten scheitert, einen wesentlichen Vorteil. Durch eine Zusammenarbeit zwischen Unterstützungsprogrammen für Waisen und traditionellen Heilern, ähnlich wie bereits bestehende Kooperationen mit modernen Gesundheitseinrichtungen, könnte das traditionelle Wissen im Bereich Naturheilverfahren für die medizinische Versorgung und die psychosoziale Unterstützung der Waisen noch stärker genutzt werden. Darüber hinaus wäre es möglich qualifizierte Heiler für Weiterbildungen von Betreuern von Waisen hinsichtlich präventiver Gesundheitsfürsorge und Ernährungsberatung einzusetzen. Die traditionelle formelle Bildung im Rahmen von Initiationen verfolgt das Ziel, kulturelles Wissen lebendig zu halten und die heranwachsende Generation auf ihre Aufgaben in der Gesellschaft vorzubereiten. Die Initiationsriten belegen die traditionelle Verantwortung der Gemeinschaft in der Erziehung der heranwachsenden Generation. (Tumbo-Masabo in Rwebangira und Liljeström (Hrsg.) 1998, S. 106) Die Initiation erfolgt häufig in Buschcamps, in denen Heranwachsende für mehrere Tage zusammenkommen. Während dieser Zeit fernab ihrer Heimatdörfer lernen sie die Traditionen ihrer Volksgruppe und trainieren ihre eigenen Fähigkeiten. Die Camps helfen den Kindern nicht nur, traditionelles Wissen und entsprechende Fertigkeiten zu erwerben, sondern steigern auch ihr Selbstbewusstsein und ihr Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Clan. Die Nutzung bzw. Wiederbelebung dieser Buschcamps könnte für verwaiste Kinder einen integrativen Faktor bilden. Diese Methode der traditionellen Bildung bietet Waisen Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Heranwachsenden zu lernen und Freude zu haben. Die Vermittlung praktischer Lebensfertigkeiten und traditionellen Wissens bildet weiterhin die Grundlage für die soziale Anerkennung und Akzeptanz junger Menschen in der Gemeinschaft. Des Weiteren ermöglicht die Überwindung von eigenen Grenzen und die Aneignung neuer Fähigkeiten die Steigerung des Selbstwertgefühls. Die Nutzung der Buschcamps könnte in Zukunft über ihre eigentliche Aufgabe hinausgehen. Sie eignen sich beispielsweise auch als Rahmen für die Trauerbewältigung. (Fox 2001, S. 35)
Um eine angemessene und geeignete Hilfe zu leisten, muss auch eine Weiterentwicklung auf der personellen Ebene erfolgen. Viele Organisationen greifen in ihrer Arbeit auf Volontäre zurück, die keine spezifische Ausbildung im sozialen Bereich aufweisen. Als Konsequenz fehlen in den Projekten wesentliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die für den Erfolg der Programme bestimmend sind. Beispielsweise leidet die Qualität der Trauerbegleitung von verwaisten Kindern, wenn die zuständigen Mitarbeiter nicht über psychologisches Basiswissen verfügen. Die geleistete Arbeit richtet sich in diesen Fällen nach dem „gesunden Menschenverstand“ und wird den spezifischen Erfordernissen oft nicht gerecht. Zur Qualitätssteigerung muss deshalb der Ausbau der individuellen Kapazitäten jedes einzelnen Mitarbeiters entsprechend seinen Aufgaben in der Organisation
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
durch qualifizierte Fachkräfte erfolgen. Die Qualifizierung des Personals macht sich allerdings nur bezahlt, wenn es der Organisation gelingt, die Mitarbeiter an sich zu binden. Regelmäßige Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Mitarbeiter scheinen ein geeignetes Mittel, zur Verhinderung von Fluktuation zu sein. Bei finanziellen Engpässen führt dies allerdings genau zum Gegenteil, denn bleiben die Zahlungen aus, schwindet in der Regel das Engagement und viele Freiwillige wenden sich anderen Möglichkeiten der Einkommenssicherung zu. Die Anerkennung der geleisteten Arbeit durch Danksagungen und unregelmäßige Belohnungen sowie Sachleistungen und Weiterbildungen, die zur Verbesserung und Erleichterung der Arbeit beitragen, helfen beim Aufbau von tragfähigen und dauerhaften Bindungen zwischen ehrenamtlichen Mitarbeitern und der Organisation. Zur Sicherung der Qualität der Programme besteht darüber hinaus langfristig ein Bedarf für die Anstellung von geeigneten Fachkräften, welche die Arbeit der Organisation koordinieren und die fachliche Leitung übernehmen. Die Kooperation zwischen verschiedenen sozialen Dienstleistern ermöglicht die Abstimmung der Programme sowie die effektive Weitervermittlung von Klienten und trägt auf diese Weise zur Qualitätssteigerung der Waisenhilfe bei. Expandierende Organisationen, welche die Angebote anderer Anbieter in ihrem Einzugsbereich kennen, können ihre Programme in den Bereichen erweitern, in denen der lokale Bedarf bisher nicht gedeckt ist. Fehlt es in der Kommune zum Beispiel an einer rechtlichen Beratung für verwaiste Kinder bzw. verwitwete Personen, reicht es in der Regel aus, wenn sich ein Hilfsprojekt dieser Thematik annimmt und eine entsprechende Abteilung einrichtet. Diese Vorgehensweise erweist sich allerdings nur als sinnvoll, wenn eine Weitervermittlung der Klienten erfolgt. Zwischen den verschiedenen lokalen Anbietern sollten Vereinbarungen dazu bestehen, inwieweit sie ihre Angebote für Personen öffnen, die durch andere Hilfsprogramme betreut werden. Auf diese Weise könnten Organisationen, die sich nicht in der Lage befinden, einen spezifischen Bedarf ihrer Klienten zu decken, den Kontakt zu einem anderen Anbieter herstellen und die Betroffenen an diesen überstellen. 6.2.3 Integrationsfördernde Hilfe statt Ausgrenzung durch Hilfe In der Vergangenheit zeigte sich, dass der Waisenstatus als Zugangskriterium für Hilfsangebote Diskriminierung verursacht und neue Benachteiligungen schafft. In Haushalten kann die Bevorzugung von Waisen die Integration der aufgenommenen Kinder gefährden und dazu führen, dass die Hilfe nicht ihnen zugutekommt, sondern an die übrigen Haushaltsmitglieder weitergereicht wird. Aber auch in den Kommunen bedroht die einseitige Begünstigung von Waisen in
6.2 Implikationen für die praktische Arbeit
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Hilfsprogrammen die gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme und die Integration dieser Kinder. Die Sensibilisierung der Bevölkerung und deren Mobilisierung zur Unterstützung von verwaisten Heranwachsenden gelingen nicht, wenn die übrigen Kinder der Kommune unter den gleichen oder stärkeren Problemen leiden, ohne Unterstützung zu erhalten. Hilfsorganisationen sollten daher genau überprüfen, inwieweit ihre Programme den tatsächlichen Bedürfnislagen entsprechen und die Integration der betroffenen Kinder in den Haushalten und Gemeinden fördern bzw. hemmen. Die Unterstützung von Haushalten muss das Ziel verfolgen allen Haushaltsmitgliedern zu einem gelingenderen Alltag zu verhelfen statt ausschließlich die Bedürfnisse verwaister Kinder zu befriedigen. Die Betreuer der Waisen übernehmen in der Regel den größten Teil der Versorgung der Waisen. Die zusätzliche Belastung durch die Aufnahme verwaister Kinder führt zu einer Reduzierung des Verbrauchs jedes einzelnen Haushaltsmitglieds. Aus diesem Grund wäre die Beschränkung der Unterstützung auf die aufgenommenen Kinder nicht gerechtfertigt und für die Betreuer nicht nachvollziehbar. Die Hilfe darf allerdings nicht pauschal auf andere Haushaltsmitglieder ausgeweitet werden, sondern sollte den jeweiligen Bedürfnissen folgen und von den Haushalten einen eigenen Beitrag fordern. Beispielsweise darf sich die Bereitstellung von Schuluniformen und -material nicht ausschließlich auf die Waisen in der Familie konzentrieren; vielmehr muss die Organisation sicherstellen, dass alle schulpflichtigen Kinder im Haushalt die Möglichkeit zum Schulbesuch erhalten. Dies bedeutet nicht, dass das Hilfsprojekt in Zukunft die gesamten Bildungskosten der Kinder trägt. Entsprechend der Kapazitäten der jeweiligen Familien lässt sich in der Regel ein Kompromiss finden, bei dem die Organisation zum Beispiel die Schuluniform für alle Kinder zur Verfügung stellt, während der Betreuer die Kosten für die Schulspeisung und für das notwendige Schulmaterial übernimmt. Die Ausweitung der Hilfe auf andere Haushaltsmitglieder muss demnach nicht zwangsläufig zu gesteigerten Kosten für die Organisation führen. Häufig besteht vielmehr die Notwendigkeit für eine stärkere Individualisierung der Unterstützung und für einen Umdeutungsprozess, der den Betreuern ihre Verantwortung für die aufgenommenen Waisen bewusst macht und gleichzeitig veranschaulicht, dass die Organisation ihre Unterstützung nicht an den Waisenstatus bindet, sondern sich an den tatsächlichen Bedürfnissen im Haushalt orientiert. Ebenso wie in den Haushalten sollte sich die Auswahl der Klienten in den jeweiligen Gemeinden an allgemeinen Bedürfniskriterien orientieren. Nicht Waisen, sondern die bedürftigsten Kinder in der Kommune müssen in Zukunft in den Genuss gezielter Unterstützung kommen. Nur auf diese Weise lässt sich verhindern, dass neue Ungleichheiten entstehen, bei denen Waisen allein aufgrund ihres Waisenstatus bessere Chancen erhalten als ihre Gleichaltrigen. Bei der
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Identifizierung der bedürftigsten Kinder können lokale MVC-Komitees, entsprechend ihrer im „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ zugedachten Rolle, einen wesentlichen Beitrag leisten und die Transparenz bei der Auswahl fördern. Die anschließende Verifizierung des individuellen Bedarfs durch Mitarbeiter der jeweiligen Hilfsorganisation dient der Kontrolle sowie der individuellen Abstimmung der Hilfe. Die Identifizierung der bedürftigsten Kinder darf sich allerdings nicht allein an materiellen Bedürfnissen orientieren. Beispielsweise besteht für viele Waisen, bei denen keine Schwierigkeiten in der Versorgung existieren, ein Bedarf an psychosozialen Maßnahmen in Form von Trauerbegleitung und Integrationshilfen. Dieser muss wahrgenommen und mit spezifischen Angeboten befriedigt werden. Gelingt es der Waisenhilfe, sich zur Kinder- und Jugendhilfe umzuwandeln, die ihre Angebote den bedürftigsten Heranwachsenden zugänglich macht sowie den individuellen Bedarf spezifischer Zielgruppen befriedigt, würde sich dies langfristig positiv auf die Situation der Heranwachsenden in Tansania auswirken. Dazu gehört auch, dass die Projekte Verbesserungen in den allgemeinen Entwicklungsbedingungen aller Kinder, beispielsweise im Bildungsbereich, anstreben, statt ausschließlich ausgewählte Adressaten zu fördern. Die im Zuge der Waisenkrise gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse könnten auf diese Weise zum Wohle aller tansanischen Kinder eingesetzt werden. 6.3 Empfehlungen für die weitere Forschung Die vorliegende Arbeit untersucht mit europäischem Blick ein afrikanisches Problem. Die Distanz zur Thematik und die „Neutralität“ als außenstehender Beobachter erwiesen sich bei der Studie von Vorteil. Der Blick von außen ermöglichte es der Autorin, sich dem im tansanischen Kontext Selbstverständlichen und Gewohnten anzunähern. Dies schaffte die Möglichkeit, festgefahrene Handlungs- und Deutungsmuster zu hinterfragen. Obwohl Routinen die Bewältigung des Alltags erleichtern, können sie sich auch zu Hemmnissen entwickeln. Dies zeigte sich sowohl in den individuellen Bewältigungsstrategien der betroffenen Familien als auch in der Arbeit der Organisationen. Durch den distanzierten Blick gelang es der Autorin, diese Routinen aufzudecken. Darüber hinaus erwies sich die fehlende persönliche Betroffenheit förderlich bei der Untersuchung der Thematik. Aufgrund des Ausmaßes der Waisenkrise – jedes achte Kind in Tansania ist verwaist – gäbe es im Land wohl kaum einen Wissenschaftler, der nicht auf die eine oder andere Weise persönlich betroffen ist. Diese Betroffenheit, das heißt die eigenen Erfahrungen mit den Folgen von Verwaisung,
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erschwert die Wahrung von Objektivität. Diese bildet allerdings eine wesentliche Voraussetzung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Trotz dieser Vorteile zeigte sich im Laufe der Forschung immer deutlicher, dass die Beschäftigung mit einem kulturfremden Milieu in der Tiefe und Differenziertheit immer unzulänglich bleibt. Das gesellschaftliche Verständnis von Verwaisung, die Bedeutung familiärer Verantwortlichkeiten und der Einfluss kultureller Praktiken lassen sich von außen beobachten; das Verstehen und Begreifen dieser Phänomene gelingt allerdings nur auf theoretische Weise, denn vieles bleibt von einem europäischen Standpunkt aus nur begrenzt nachvollziehbar. Diese Unzulänglichkeit besteht in der Gesamtheit der Waisenforschung, denn die meisten vorliegenden Studien zur Waisenkrise in Tansania stammen von Wissenschaftlern aus einem kulturfremden Milieu. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Waisenkrise auf dem afrikanischen Kontinent wird bisher von einem europäisch-nordamerikanischen Blick geprägt. Dieser äußere Blick kann sich wie beschrieben als Vorteil erweisen, da sich die Wissenschaftler in einer gewissen Distanz zum Untersuchungsgegenstand befinden und nicht direkt involviert sind. Der Blick von außen beschränkt allerdings auch die Wahrnehmung. Einzelne kulturspezifische Aspekte erhalten in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung kaum Gewicht. Beispielsweise gehen Wissenschaftler bei der Untersuchung der medizinischen Versorgung von Waisen fast ausschließlich auf moderne Gesundheitseinrichtungen ein und vernachlässigen die traditionelle Medizin, der im afrikanischen Alltag eine wesentliche Bedeutung zukommt. Die fehlende Beteiligung lokaler Wissenschaftler führte in der Vergangenheit zu inhaltlichen Lücken in der Waisenforschung, die sich in einem verzerrten und unvollständigen Abbild der Situation widerspiegeln. Aus diesem Grund sollte in Zukunft der Anteil der afrikanischen Forschung an der Thematik erhöht werden. Aufgrund geringer Ressourcen im Land kann der Ausbau tansanischer Forschungsaktivitäten nur gelingen, wenn die wissenschaftlichen Kräfte vor Ort finanzielle, materielle und technische Unterstützung erhalten. Dies wäre beispielsweise durch binationale Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen möglich. Die Anbindung der Forschung an Universitäten in Tansania könnte darüber hinaus einen Beitrag zum Rückfluss der Forschungsergebnisse in die Praxis liefern. Die Partizipation von Studenten und Dozenten an Forschungsprojekten im Land bietet langfristig eine geeignete Basis, um die Untersuchungsergebnisse in die praktische Arbeit der Hilfsprojekte einzubringen und damit insgesamt die Qualität der Waisenhilfe zu verbessern. Die Beteiligung tansanischer Wissenschaftler sowohl an der Grundlagenforschung als auch an der Evaluation von Programmen kann den afrikanischen Blick auf die Waisenkrise stärken und helfen, geeignete Strategien im Umgang mit der steigenden Zahl der Waisen zu identifizieren und auszubauen.
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6.3.1 Grundlagenforschung Bei der Darstellung der Lebenswelt von verwaisten Kindern im Kapitel 3 zeigten sich deutliche Lücken in der Grundlagenforschung zu dieser Thematik. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Problemen und Ressourcen konzentriert sich auf einige zentrale Aspekte, beispielsweise den Schulbesuch von Kindern im Primarschulalter, während weitere wesentliche Bereiche der Lebenswelt unbeachtet blieben. Vor allem zu den psychosozialen Einflüssen und Befindlichkeiten fehlen grundlegende Untersuchungen. Zu wenig ist bisher darüber bekannt, wie Waisen in Tansania mit dem Tod ihrer Eltern umgehen und welche langfristigen Folgen diese Erfahrungen auf ihre psychische Gesundheit haben. Auch zur Integration verwaister Kinder in neue Haushalte und zu den sozialen Folgen der Verwaisung mangelt es an Wissen. Um die Hilfsangebote an den tatsächlichen Bedürfnissen zu orientieren, muss die Grundlagenforschung auf diese und weitere Faktoren, beispielsweise den Zugang verwaister Jugendlicher zu weiterführenden Bildungsangeboten, ausgeweitet werden. Die Ausweitung der wissenschaftlichen Analyse auf weitere Aspekte darf sich allerdings nicht ausschließlich auf Waisen beschränken. Stattdessen besteht ein Bedarf für vergleichende Untersuchungen, welche die Lebenssituation der Waisen in Relation zur Gesamtpopulation tansanischer Kinder betrachten. Die Erhebung standarisierter Daten kann dabei helfen, Vergleiche zwischen Waisen und anderen Heranwachsenden im Bereich der Grundversorgung sowie des psychosozialen Wohlbefindens anzustellen. Nur auf diese Weise lassen sich Rückschlüsse über die Benachteiligung verwaister Heranwachsender ziehen. Die Erhebung standarisierter Daten gestattet darüber hinaus die Messung der Wirkung von Hilfsprogrammen und staatlicher Initiativen. Auf diese Weise werden einerseits Fortschritte in der Bewältigung der Waisenkrise sowie andererseits Verbesserungen in der allgemeinen Versorgung von Kindern in Tansania sichtbar. Benachteiligungen, beispielsweise im Schulbereich, die sich aufgrund der gezielten Unterstützung von Waisen zu Vorteilen umkehren, lassen sich auf diese Weise frühzeitig erkennen. Dies ist notwendig, da die Bevorzugung von Waisen, beispielsweise im Bereich schulbezogener Unterstützung, das Risiko für Ausgrenzung innerhalb von Familien und Gemeinden verstärkt. Neben der Erhebung quantitativer Daten zur vergleichenden Untersuchung der Lebenssituation von Waisen und anderen Heranwachsenden in Tansania muss die Grundlagenforschung auch qualitative Studien beinhalten. Die qualitative Forschung dient der Illustrierung der quantitativen Daten, da sie den Hintergrund für diese Ergebnisse abbildet. Indem qualitative Untersuchungen Deutungs- und Handlungsmuster der Akteure sowie Bedingungsfaktoren und Folgen der Situation beleuchten, gewähren sie einen differenzierteren Einblick in die
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Lebenswelt verwaister Kinder. Diese genaue Analyse darf aber nicht nur die Probleme und Bedürfnisse der Waisen umfassen, sondern muss auch deren Ressourcen betrachten. Bisher folgte die Untersuchung der Situation von Waisen in Tansania einer starken Problemorientierung; Ressourcen in der Waisenversorgung bildeten nur selten den Untersuchungsgegenstand von Forschungsprojekten. Die mangelhafte Untersuchung und Darstellung dieser Potenziale könnte eine Ursache dafür sein, dass zivilgesellschaftliche Organisationen nur begrenzt auf staatliche oder gesellschaftliche Ressourcen in Tansania zurückgreifen. Aufgrund der fehlenden afrikanischen Perspektive wurden besonders traditionelle Ressourcen, beispielsweise traditionelle Medizin oder kulturelle Sozialisationspraktiken, vernachlässigt. Die Frage, welche traditionellen Ressourcen in der Waisenversorgung eine Rolle spielen und inwieweit sie sich von Hilfsprojekten im Sinne einer Indigenisierung der Sozialen Arbeit für die Unterstützung verwaister Kinder nutzen lassen, sollte durch zukünftige Forschungsprojekte beantwortet werden. 6.3.2 Programmevaluation Neben der Differenzierung und Ausweitung der Grundlagenforschung besteht ein dringender Bedarf zur Evaluierung der für Waisen entstandenen Programme in Tansania hinsichtlich ihrer Effektivität und Angemessenheit. Programmevaluationen dienen der Qualitätssicherung der Angebote und kontrollieren, ob die Maßnahmen die erwünschten Ergebnisse bringen. Die Analyse der Programme kann einerseits durch Forschungsprojekte in Kooperation mit lokalen Hilfsprogrammen sowie andererseits in Eigenverantwortung der Organisationen erfolgen. Um einen möglichst großen Nutzen für die gesamte Waisenhilfe in Tansania aus den Evaluationen zu ziehen, sollten die Ergebnisse der Erhebungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise dienen die Analysen nicht nur zur konkreten Verbesserung der untersuchten Hilfsangebote, sondern auch zum Aufbau und zur Ausweitung anderer Organisationen. Die Identifizierung geeigneter Interventionen bietet neuen Projekten Orientierung bei der Gestaltung ihrer Angebotspalette und hilft bei der Modifizierung bestehender Programme. Zur Programmevaluation sind zum einen Untersuchungen, welche die direkten Wirkungen der Interventionen messen, und zum anderen Langzeitstudien, die sich auf die langfristig erzielten Veränderungen konzentrieren, notwendig. Die Evaluation der direkten Wirkung der Programme sollte in den verschiedensten Hilfebereichen zur Anwendung kommen. Nur auf diese Weise lässt sich feststellen, ob die eingesetzten Ressourcen zu den angestrebten Ergebnissen
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6 Diskussion der Untersuchungsergebnisse
führen. Eine genaue Definition der Ziele der Maßnahme sowie entsprechender Indikatoren der Zielerreichung bilden die Grundlage der Ergebnisevaluation. Beispielsweise zielt die Bereitstellung von Schuluniformen auf den Schulbesuch der Kinder. Eine Ergebnisevaluation in Kooperation mit den jeweiligen Schulen und Familien gibt Auskunft darüber, wie viel Kinder, die von der Organisation eine Uniform erhalten haben, tatsächlich zur Schule gehen. Wird mit Hilfe der Untersuchung eine Diskrepanz zwischen Zielsetzung und Zielerreichung sichtbar, müssen differenziertere Nachforschungen folgen, welche die Ursachen beleuchten. Auf diese Weise lassen sich die Programme der Projekte verbessern und entsprechend der tatsächlichen Bedürfnisse der Adressaten sowie der lokalen Voraussetzungen modifizieren. Bereiche, in denen die Ergebnisevaluation zur Anwendung kommen sollte, sind unter anderem der wirtschaftliche Nutzen von einkommenschaffenden Projekten für Haushalte, der Einfluss psychosozialer Angebote auf das Wohlbefinden der Waisen oder die Wirkung von Maßnahmen zur Nahrungssicherung auf den Ernährungsstatus der Heranwachsenden. Die Ergebnisevaluation lässt sich auch zur Gegenüberstellung unterschiedlicher Interventionen mit derselben Zielstellung einsetzen. Zu diesem Zweck muss die Zielgruppe in mehrere Untergruppen eingeteilt werden, die jeweils an unterschiedlichen Maßnahmen teilnehmen. Im Anschluss erfolgt der Vergleich der Wirkungen in den unterschiedlichen Gruppen. Die Gegenüberstellung verschiedener Angebote ermöglicht die Identifizierung der effektivsten und nachhaltigsten Interventionen. Zum Beispiel lässt sich auf diese Weise untersuchen, welche einkommenschaffende Maßnahme am stärksten zur wirtschaftlichen Kapazitätsbildung von Haushalten beiträgt. Die Ergebnisse bieten den Organisationen dann eine Orientierung bei der Wahl zwischen Spargruppen, Kreditvergabe, Bereitstellung von Sachmitteln und anderen Einkommensprojekten. Langzeituntersuchungen geben Auskunft über langfristige Veränderungen durch die Interventionen von Organisationen. Mit Hilfe der Studien lässt sich dementsprechend die Wirkung und Nachhaltigkeit von sozialen Programmen überprüfen. Zur Durchführung von Langzeituntersuchungen eignen sich sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren der Sozialforschung. Die Erhebung standarisierter Daten gewährleistet die Kompabilität der Ergebnisse, während qualitative Forschungsmethoden einen differenzierten Einblick in die Bedingungsfaktoren erlauben. Eine Kombination aus beiden Forschungsverfahren eignet sich am besten, um die Langzeitwirkung von Interventionen zu untersuchen und zu dokumentieren. Wichtige Erkenntnisse könnte beispielsweise der Vergleich von Lebensläufen der Heranwachsenden aus unterschiedlichen Hilfsmaßnahmen liefern. Dies ermöglicht ein Verständnis dafür, inwieweit ambulante bzw. stationäre Maßnahmen verwaisten Kindern angemessene Zukunftsperspektiven eröffnen und
6.3 Empfehlungen für die weitere Forschung
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sich zur Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben eignen. Solche Studien waren bisher nur begrenzt möglich, da viele Heranwachsende die Fürsorge der Betreuungs- bzw. Unterstützungsangebote noch nicht verlassen haben. In Zukunft sollten diese Langzeituntersuchungen durchgeführt werden, um die Wirkung der Maßnahmen zu überprüfen. Mit Hilfe quantitativer Daten lassen sich unter anderem Fragen hinsichtlich der Arbeits- und Wohnsituation, des Einkommens, des Familienstandes und des subjektiven Wohlbefindens der ehemaligen Hilfeempfänger beantworten. Diese Informationen geben beispielsweise Auskunft darüber, ob den jungen Menschen ein unabhängiges Leben gelingt; sie sich beruflich etablieren und soziale Netze aufbauen konnten. Qualitative Untersuchungen im Rahmen von Biographieforschung erlauben die differenzierte Betrachtung einer begrenzten Zahl von Einzelfällen. Dadurch werden individuelle Deutungsmuster und Handlungsstrategien sowie Brüche in Lebensläufen sichtbar. Die Gesamtheit der erhobenen Daten ermöglicht letztendlich einen Vergleich zwischen unterschiedlichen ambulanten und stationären Hilfsprogrammen hinsichtlich ihrer Eignung zur gesellschaftlichen Integration der Zöglinge. Ein weiterer Bereich, in dem Langzeitstudien im Hinblick auf soziale Interventionen notwendig erscheinen, ist beispielsweise die Durchführung von einkommenschaffenden Maßnahmen für Haushalte. Die Untersuchung der Nachhaltigkeit von Einkommensprojekten sollte sich mit der Frage beschäftigen, ob diese Interventionen die Familien langfristig unabhängig von externer materieller Hilfe machen bzw. welche äußeren Bedingungen den Erfolg dauerhaft sichern. Langzeitstudien könnten in Zukunft einen Beitrag zur Verbesserung bestehender Programme liefern, die sozialpolitische Planung neuer Interventionsstrategien leiten und sozialen Forderungen mehr Gewicht verleihen.
„Dass Selbsttätigkeit sich in der Auseinandersetzung in Verhältnissen bildet, ist Voraussetzung des Konzeptes Lebensweltorientierung. Dieses selbstverständliche Grundprinzip aber muss immer wieder neu erinnert und offensiv nach außen sowie nach innen vertreten werden.“ (Thiersch 2002, S. 40)
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Thiersch (2002) betont in seinen Ausführungen das Ziel der Selbsttätigkeit in der Lebensweltorientierung. Dabei räumt er ein, dass Soziale Arbeit in manchen Fällen zur Unselbständigkeit seiner Adressaten beiträgt, indem sie Barrieren für Eigenverantwortung und Selbstständigkeit aufbaut. Hilfe folgt in der Regel einem Bedarf, einer Überforderung, sich in der gegebenen Lebenswelt zurechtzufinden und seinen Alltag befriedigend zu gestalten. Dieser Bedarf verführt zu einer Konzentration auf die Bearbeitung von Problemen statt auf die Stärkung von Kompetenzen. Bewältigungsstrategien der Betroffenen erhalten vielfach nicht die notwendige Beachtung, da die Hilfeleistenden ihrem eigenen bzw. dem gesellschaftlich geforderten Verständnis von Unterstützung folgen. Die Gefahr, dass die „kompetenten“ Helfer auf die scheinbare Hilflosigkeit der Betroffenen mit paternalistischer Bevormundung und Verantwortungsübernahme reagieren und auf diese Weise Unselbständigkeit provozieren, liegt in der strukturell verankerten Asymmetrie von Hilfe, das heißt in der Abhängigkeit des Hilfeempfängers vom Hilfeleistenden. Thiersch mahnt stattdessen zur Arbeit an Selbsttätigkeit durch das Empowerment, also die Befähigung und Kapazitätsentwicklung der Adressaten. Unterstützung, die Versorgung bietet, aber Selbsttätigkeit verhindert, widerspricht den Grundsätzen der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Die Bemühungen um Selbsttätigkeit beschränken sich dabei nicht allein auf die Arbeit mit dem Klienten, sondern müssen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. 847 In Tansania bildet die Selbsttätigkeit ein erklärtes Ziel der gesellschaftlichen Bemühungen seit der Unabhängigkeit des Landes. Julius Nyerere (2001), der erste Präsident Tansanias, prägte in Tansania ein Entwicklungskonzept, wel847
Vgl. Thiersch 2002, S. 40 ff.
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ches auf self-reliance beruht. Dieses Konzept, welches in erster Linie die wirtschaftliche Unabhängigkeit anstrebt, bildet auch die Grundlage für die ideologische Eigenständigkeit. Nyerere erkannte früh, dass die Unterstützung durch ausländische Staaten im Rahmen der Entwicklungshilfe und wirtschaftlichen Zusammenarbeit nicht immer altruistischen Motiven folgt und sich auf die Freiheit sowie auf die Entfaltung der eigenen Kräfte negativ auswirken kann. 848 Das Ziel self-reliance bezog sich nicht nur auf den Staat als Ganzes, sondern auf alle gesellschaftlichen Ebenen. Nyerere rief die Menschen immer wieder dazu auf, ihren eigenen Beitrag zur eigenen und nationalen Eigenständigkeit zu leisten: „[…] wir müssen die Bedeutung von Selbständigkeit weiterhin entschlossen unterstreichen. Das bedeutet, daß jede Familie alles ihr Mögliche tun muß, um mit ihren eigenen Bemühungen ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, und daß sie außerdem Waren produzieren und Dienstleistungen bereitstellt, die für andere notwendige Dinge, die nicht selbst hergestellt werden, eingetauscht werden können. Darüber hinaus bedeutet Selbständigkeit (self-reliance), daß jedes Dorf durch die Zusammenarbeit der Bewohner alle Erfordernisse für das Leben in diesem Dorf selbst erfüllt, soweit dies durch die Arbeit seiner Bewohner geleistet werden kann, und daß jedes Dorf darüber hinaus einen Mehrwert produziert, um die Kosten für andere notwendige Dienste aufzubringen, die von den Dorfbewohnern und der Nation als Ganzer benötigt werden. Dasselbe gilt für jeden Distrikt und jede Region.“ (Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 76). Nyerere forderte von den Tansaniern Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Rahmen ihrer Möglichkeiten; also Selbsttätigkeit, wie sie von Thiersch verstanden wird. Diese Forderung darf nicht zum Nachteil der Schwächsten - im Sinne einer individualisierten Gesellschaft, in der jeder einzig und allein für sich selbst Verantwortung trägt - interpretiert werden. Nyerere orientierte sich mit seinem Konzept von self-reliance an der traditionellen afrikanischen Gesellschaft, in der jedes Mitglied seinen Platz hat, das heißt zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt und von der Gemeinschaft getragen wird. „Wenn eine Gesellschaft so organisiert ist, daß man sich um ihre Mitglieder kümmert, dann sollte sich kein einziger in dieser Gesellschaft Sorgen darüber machen, was morgen mit ihm geschehen wird, wenn er heute keinen Reichtum gehortet hat – vorausgesetzt, daß er bereit ist zu arbeiten. Die Gesellschaft sollte selbst nach ihm sehen, oder nach seiner Witwe und den Waisen. Genau das bezweckte die traditionelle afrikanische Gesellschaft mit Erfolg.“ (Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 19). Im Kontext der Waisenkrise in Tansania erweisen Nyereres Entwicklungskonzept, das auf der Grundlage von self-reliance aufbaut, sowie Thierschs Forderungen nach einer Sozialen Arbeit, die Selbsttätigkeit fördert, ihre Aktualität. 848
Vgl. Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 32 ff.
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Dabei bezieht sich Selbsttätigkeit nicht allein auf die wirtschaftliche Selbstständigkeit und die Befriedigung der Grundbedürfnisse, sondern auch auf die eigenständige Erfüllung psychosozialer Bedürfnisse und den Schutz vor Gefährdungen. Nur die Selbsttätigkeit in beiden Bereichen kann letztendlich zur Gestaltung eines gelingenderen Alltags beitragen, in dem sich die Menschen als Subjekte ihrer Lebenswelt wahrnehmen. Die Gefahr sozialer Interventionen im Sinne einer fürsorglichen Belagerung, wie sie Thiersch (2002) anprangert 849, ist in Tansania allgegenwärtig. Dabei beschränkt sich diese Gefahr nicht allein auf die Ebene der Hilfeempfänger, sondern reicht bis auf die nationale Ebene. Die Risiken einer solchen Unterstützung beschrieb bereits Nyerere (2001) im Kontext der Entwicklungshilfe und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Abhängigkeit von externer Hilfe birgt die Gefahr, die eigenen Kräfte und Anstrengungen zu untergraben und die Möglichkeiten der Selbstbestimmung einzuschränken. 850 Die Waisenkrise lässt sich nur nachhaltig bewältigen, wenn Interventionen die Kräfte der einzelnen Akteure nicht unterminieren, sondern diese zu Eigenverantwortung und Selbsttätigkeit bemächtigen. Die Interventionen im Zuge der Waisenkrise auf internationaler, nationaler, lokaler und familiärer Ebene bergen die Gefahr, das Verantwortungsgefühl und die Selbsthilfekräfte der einzelnen Akteure zu schwächen. Aufbauend auf der Darstellung der Konsequenzen dieses Handelns, welche sich auf allen Ebenen feststellen lassen, folgt ein Plädoyer für mehr Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung in der Bewältigung der Waisenkrise. Hilfe als Hemmnis für Selbsttätigkeit Waisenprojekte können die Selbsthilfekräfte der Familien untergraben, wenn sie ihre Unterstützung unabhängig von individuellen Problemlagen und Ressourcen vergeben und die Verantwortung für die Versorgung verwaister Kinder partiell oder vollständig übernehmen (Kap. 5.1.4/Kap. 5.1.5). Beispielsweise ersticken Projekte, die jährlich Schuluniformen und -material an die Kinder in ihren Programmen verteilen, das Bemühen der Familien, für die Bildungsausgaben der bei ihnen lebenden Heranwachsenden selbstständig aufzukommen. Die Adressaten der Unterstützung finden sich in diesen Fällen in der Rolle der passiven Hilfeempfänger wieder, verlassen sich auf die externe Unterstützung und verlieren das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Auch Heranwachsenden, die sich beispielsweise in Heimen an eine umfassende Versorgung ohne Eigenbeitrag gewöhnt haben, 849 850
Vgl. Thiersch 2002, S. 41. Vgl. Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 32 ff.
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fällt die Loslösung von der Einrichtung sowie die Verantwortungsübernahme für ihr eigenes Leben schwer. Die anerzogene Hilflosigkeit von Haushalten und Waisen macht langfristige Unterstützung notwendig. Der Wegfall der externen Hilfe führt in diesen Fällen zu einer Überforderung, die sich in einer unzureichenden Versorgung und fehlender Eigeninitiative der Betroffenen widerspiegelt. Auch auf der lokalen Ebene offenbarte sich in den letzten Jahren das Risiko der Verantwortungsabgabe (Kap. 2.2.3). Die Unterstützung betroffener Familien durch Organisationen, die sich in erster Linie durch ausländische Spenden finanzieren, unterminierte in der Vergangenheit das kommunale Engagement und erweckte bei der Bevölkerung den Eindruck, dass die Verantwortung für Waisen nicht bei ihnen liegt. Die traditionelle Pflicht der Gemeinschaft, den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft zur Seite zu stehen, verlor an Bedeutung. Die Sorge für die Waisen übernahmen Hilfsprojekte, die sich, statt auf das Engagement der lokalen Bevölkerung zu bauen, auf ausländische Geldgeber verließen. Die Forderung nach lokalem Engagement wird häufig erst dann laut, wenn ausländische Spendengelder versiegen oder Geldgeber, entsprechend neuer internationaler Strategien, nach dem Beitrag der Gemeinden fragen. Auf der Ebene der Hilfsorganisationen besteht ebenfalls die Gefahr der Abhängigkeit von externer Unterstützung (Kap. 2.2.3/Kap. 5.1.2). Die Projekte finanzieren sich zum großen Teil über ausländische Geldgeber und leisten häufig nur die Form der Unterstützung, für die sie einen Sponsor finden. Dies verhindert langfristig die kontinuierliche Hilfe für Waisen und schränkt die Möglichkeiten der Projekte ein, die eigenen Programme den individuellen Problemlagen der Zielgruppe anzupassen. Die Abhängigkeit vom Spendenverhalten im Ausland wirkt sich auf diese Weise auf die Qualität der Angebote aus, denn die am besten geeigneten Lösungen für die Waisenkrise sind für Geldgeber aus einem kulturfremden Kontext häufig nicht nachvollziehbar. Stattdessen erhalten scheinbar folgerichtige Hilfsangebote, wie Waisenheime, den Vorzug bei der Spendenvergabe. Hinzu kommt, dass internationale Hilfsorganisationen ihre Unterstützung häufig auf den Ausbau großer Projekte konzentrieren und zeitlich begrenzen, ohne in diesem Zeitraum die unterstützten Programme durch Kapazitätsbildung im wirtschaftlichen Bereich auf ihre Unabhängigkeit vorzubereiten. Statt die Kräfte lokaler Organisationen, beispielsweise durch nachhaltige Einkommensprojekte auszubauen, fließt das Geld in die direkte Unterstützung für Waisen. Die externe Unterstützung verursacht bei den Hilfsorganisationen Abhängigkeiten, verhindert die Nachhaltigkeit ihrer Hilfsprogramme und untergräbt die Suche nach innovativen Finanzierungsmodellen. Das Engagement internationaler Partner bei der Planung und Umsetzung staatlicher Initiativen im Zuge der Waisenkrise erwies sich in Tansania als not-
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wendig und förderlich (Kap. 2.2.4/Kap. 2.2.5). Die Hilfe internationaler Organisationen ermöglichte die Kooperation verschiedenster Stakeholder bei der Formulierung nationaler Ziele zur Unterstützung verwaister und bedürftiger Kinder. Auch die Implementierung des „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ sowie weiterer Initiativen zum Ausbau sozialer Dienstleistungen für die heranwachsende Generation hängen von der Förderung durch internationale Geldgeber ab. Trotz dieser notwendigen Unterstützung birgt auch dieses Engagement das Risiko, die nationalen Kräfte zu untergraben. Der Einfluss internationaler Partner verhindert, dass Nationalstaaten eigene Prioritäten setzen und diese konsequent verfolgen. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Staaten, ähnlich wie Hilfsprojekte, die Maßnahmen fokussieren, die ausländische Geldgeber momentan unterstützen. Im Kontext der Waisenkrise erweist sich diese Vorgehensweise als produktiv, da die steigende Zahl bedürftiger Kinder aufgrund der AIDS-Epidemie in den Blickpunkt internationaler Organisationen, vor allem UNICEF und UNAIDS, rückte. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Bedürfnisse dieser Kinder und die Weiterführung der initiierten Programme an Bedeutung verlieren, sobald eine neue Zielgruppe zur Priorität internationaler Bemühungen erklärt wird. Der Regierung in Tansania würden in diesem Fall die Ressourcen und vielleicht auch der politische Wille fehlen, die geplanten Initiativen weiterzuverfolgen und deren Nachhaltigkeit zu sichern. Hilfe als Chance für Selbsttätigkeit Um die Unterminierung der Selbsthilfekräfte zu verhindern, muss das übergeordnete Ziel jeder Intervention auf internationaler, nationaler, lokaler und familiärer Ebene Unabhängigkeit und Selbsttätigkeit sein. Jede Maßnahme sollte darauf zielen, die betroffenen Staaten, Kommunen, Familien und Kinder in die Lage zu versetzen, die Konsequenzen der Waisenkrise in Zukunft selbstständig zu tragen. Voraussetzungen dafür bilden die Kapazitätsentwicklung auf allen Ebenen sowie die klare Definition von Dauer, Umfang und Ziel der Hilfe. Auf der familiären Ebene erwiesen sich Hilfepläne als geeignetes Mittel, einen festen Rahmen für die Unterstützung zu schaffen. Die Formulierung der Ziele und die Verantwortlichkeiten der beteiligten Parteien muss partizipatorisch, das heißt mit Beteiligung des betroffenen Kindes und seiner Familie sowie der jeweiligen Organisation, erfolgen. Die Ressourcen und Kapazitäten in den Haushalten lassen sich durch Weiterbildungsmaßnahmen, einkommenschaffende Projekte und Beratungsangebote ausbauen. Auf diese Weise können die Familien befähigt werden, sowohl die materiellen als auch die psychosozialen Bedürfnisse der bei ihnen lebenden Kinder angemessen zu befriedigen. Die Kapazitätsbil-
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dung der Haushalte schließt direkte Unterstützung, beispielsweise in Form von Nahrungsmittelhilfen für Kinderhaushalte, nicht aus. Vielmehr stellt die materielle Hilfe in einigen Fällen einen notwendigen Schritt zur Zielerreichung dar. Wesentlich ist vielmehr die klare Definition des Hilfeprozesses und des zeitlichen Rahmens zur Zielerreichung. Anhand des Hilfeplans lässt sich auf diese Weise die Erreichung der angestrebten Fortschritte überprüfen und Hemmnisse identifizieren. In den letzten Jahren, häufig ausgelöst durch das Auslaufen von Projektgeldern oder die Forderung der Sponsoren nach kommunalen Beiträgen, stieg das Bewusstsein der Organisationen für die Diskrepanz zwischen traditioneller Verantwortung der Gemeinschaft und ausbleibender Unterstützung durch die Bevölkerung. Einige Hilfsprogramme entwickelten darauf hin innovative Methoden zur Sensibilisierung der Gemeinden für ihre Verantwortung gegenüber den Waisen und zur Mobilisierung kommunaler Ressourcen. Die Akquirierung von Spendengeldern, beispielsweise durch Mitgliedsbeiträge oder Spendenaufrufe, greift nicht weit genug, um der Problematik der Verantwortungsabgabe entgegenzuwirken. Materielle Beiträge allein reichen nicht aus. Damit die Bevölkerung ihre traditionelle Verantwortung für die verwaisten und bedürftigen Kinder der Gemeinschaft wieder übernimmt, müssen die Menschen an den Entscheidungen in den Programmen beteiligt werden und Eigeninitiative ergreifen. Die Mobilisierung und Kapazitätsbildung von Einzelpersonen, lokalen Gruppen sowie gesellschaftlichen Institutionen ermöglichen den vielfältigen Akteuren, ihren eigenen Beitrag in der Bewältigung der Waisenkrise zu leisten. Beispielsweise können Volontäre die Organisationen in der Betreuung der betroffenen Kinder unterstützen, Frauengruppen und religiöse Gemeinschaften materielle und psychosoziale Hilfe leisten und Schulen mit den Programmen für schulpflichtige Waisen kooperieren. Die Beteiligung der Gemeinden darf allerdings nicht als einseitige Aufgabenübertragung von den Projekten an die lokalen Akteure verstanden werden; vielmehr sollen die Gemeinden mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten in den lokalen Hilfsprogrammen erhalten. Die Partizipation der unterschiedlichen Akteure im Rahmen von Programmplanung und Evaluation bietet den Projekten die Gelegenheit, in den Austausch mit kommunalen Kräften zu treten, Beiträge der Gemeinde einzufordern und die Angebotspalette an den lokalen Bedürfnissen auszurichten. Die Mobilisierung kommunaler Kräfte kann Hilfsorganisationen helfen, sich aus der Abhängigkeit von internationalen Geldgebern zu lösen. Sie stellt aber nur eine von vielen Möglichkeiten dar, die in Zukunft notwendig sein werden, wenn die Projekte die Nachhaltigkeit ihrer Programme sichern wollen. Ein Teil der Organisationen entwickelt bereits heute enorme Kreativität bei der Ressourcenmobilisierung und der Finanzierung ihrer Angebotspalette. Sie bauen
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Programme auf, die keinen finanziellen Input benötigen oder etablieren Einkommensprojekte, von deren Gewinn sie ihre Angebote finanzieren. Die Reduzierung der Abhängigkeit von regelmäßigen Spenden lässt sich aber nur erreichen, wenn auch bei den Geldgebern ein Umdenken erfolgt. Die Unterstützung lokaler Hilfsinitiativen und Organisationen im Land sollte ebenso wie die Unterstützung der betroffenen Haushalte an klare Vereinbarungen hinsichtlich der angestrebten Ziele und des Zeitplans geknüpft werden. Der Zweck der Förderung darf nicht ausschließlich darin bestehen, verwaisten Kindern für einen spezifischen Zeitraum Unterstützung zukommen zu lassen. Stattdessen benötigen die ausführenden Organisationen vor Ort Hilfe bei der Entwicklung ihrer Kapazitäten, um langfristig in der Lage zu sein, die Sorge für die betroffenen Kinder aus eigenen Kräften zu übernehmen. Ausländische Geldgeber, die Bereitschaft zeigen, beispielsweise die Anschubsfinanzierung für Einkommensprojekte zu leisten und die Mitarbeiter der Organisationen weiterzubilden, können langfristig zur Unabhängigkeit der Hilfsprogramme beitragen. Auf der nationalen Ebene müssen die Bemühungen der tansanischen Regierung und internationaler Partner weit über die Waisenhilfe hinausreichen, um die Abhängigkeit Tansanias von finanzieller, personeller und technischer Unterstützung aus dem Ausland zu reduzieren. Erst die wirtschaftliche Unabhängigkeit und der Ausbau staatlicher Institutionen wird es Tansania ermöglichen, den Lebensstandard der Gesamtbevölkerung zu verbessern und selbstständig für bedürftige Bevölkerungsgruppen zu sorgen. Bereits Julius Nyerere stellte in den 1960er Jahren in seiner innerpolitischen Grundsatzerklärung, der Arusha-Deklaration, fest: „Um die Freiheit unseres Landes von Grund auf zu erhalten, ist Selbständigkeit in jeder Beziehung nötig, so daß wir andere Länder nicht um Unterstützung angehen und bitten müssen.“ (Nyerere in Datta (Hrsg.) 2001, S. 42). Das Ziel der nationalen Unabhängigkeit Tansanias lässt sich nur erreichen, wenn andere Staaten das Land als Partner wahrnehmen und behandeln. Zu diesem Zweck besteht die Notwendigkeit für einen kritischen Diskurs über die Ziele, Methoden und Konsequenzen der zurzeit praktizierten Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftspolitik. Alle internationalen Interventionen müssen mit einer Erneuerung innerhalb der Gesellschaft und Politik Tansanias einhergehen, damit auch die schwächsten Mitglieder der Gemeinschaft von der Entwicklung profitieren und sich Nyereres Traum von Eigenständigkeit im Sinne von selfreliance erfüllt. Die Umsetzung der Forderung nach mehr Selbsttätigkeit auf allen Ebenen bildet die Voraussetzung für eine nachhaltige Bewältigung der Waisenkrise. Auf diese Weise ließe sich eine Gesellschaft schaffen, in der sich moderne und traditionelle Strukturen zu einem zuverlässigen Sicherungsnetz verknüpfen, welches allen Kindern mit besonderen Bedürfnissen Schutz und Unterstützung bietet und
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sie auf ein unabhängiges und selbst bestimmtes Leben vorbereitet. Erst dann würde die Soziale Arbeit in ihren verschiedenen professionellen und semiprofessionellen Ausprägungen in Tansania den Ansprüchen der Lebensweltorientierung nach sozialer Gerechtigkeit entsprechen: „Dieses Prinzip sozialer Gerechtigkeit lässt sich für Sozialpädagogik und Sozialarbeit – und ihre spezifische Aufgabenstellung – als Gerechtigkeit des Zugangs fassen, also als Arbeit an der Schaffung gerechter Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung wie zur Erreichung gesellschaftlich anerkannter Ziel und Integrationswege.“ (Thiersch, Schröer und Böhnisch 2005, S. 251).
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Ihuya, T.: Interview am 23.04.07 in Mwanza, Tansania: Leiterin der Org. HOMERC (ambulante Hilfen/Schule für Kinder mit Behinderungen) John, J.: Interview am 11.06.07 in Dar es Salaam, Tansania: Kinderrechtsspezialist der Org. UNICEF (Internationale Organisation) Kagya, A.: Interview am 11.04.07 in Bukoba, Tansania: Projektkoordinator der Org. KAKAU (ambulante Hilfen) Kamazime, E.: Interview am 20.02.02 in Ntoma, Tansania: Leiterin der Org. Ntoma Orphanage (stationäre Betreuung) Kamwamwa, T.: Interview am 20.04.07 in Bukoba, Tansania: Projektkoordinator der Org. KZACP (ambulante Hilfen) Kaniki, E.: Interview am 05.07.07 in Arusha, Tansania: Leiter der Arusha International School (Stakeholder Bildungssektor) Kasimbazi, J.: Interview am 16.04.07 in Kemondo, Tansania: Leiter der Org. Kemondo Orphan Care Centre (stationäre Betreuung/Outreach Programm) Kayombo, J.: Interview am 12.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Projektkoordinator der Org. VUKA Tanzania (ambulante Hilfen) Kessy, U.: Interview am 19.06.07 in Moshi, Tansania: Projektkoordinatorin der Org. Rainbow Centre (ambulante Hilfen) Kikoyo, L.: Interview am 05.06.07 in Dar es Salaam, Tansania: Mitarbeiterin der Org. Family Health International (Internationale Organisation) Kilongomtwa, A.: Interview am 14.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Leiterin der Org. Kwetu Girls Home (Straßenkindprojekt/stationäre Betreuung) Kimaro, E.: Interview am 29.06.07 in Moshi, Tansania: Leiter der Abteilung Kultur und Jugend der Distrikt Verwaltung (Stakeholder öffentlicher Sektor) Komba, A.: Interview am 03.07.07 in Arusha, Tansania: Leiterin der Org. WEMA (ambulante Hilfen/Kindergarten) Kuhl-Greif, M.: Interview am 16.11.06 in Buseck, Deutschland: Leiterin des Fördervereins für die Org. Bujora Parish Child and Youth Development (formelle Pflege) Kulindwa, G.: Interview am 03.05.07 in Mwanza, Tansania: Leiterin des Regional Social Welfare Office Mwanza (Stakeholder öffentlicher Sektor) Kunga, H.: Interview am 03.03.07 in Morogoro, Tansania: Leiter der Org. Youth Life Relief Foundation (ambulante Hilfen) Kyamanywa, A.: Interview am 18.04.07 in Bukoba, Tansania: Leiterin der Org. Tumani Children Centre (Straßenkindprojekt/stationäre Betreuung) Lema, L.: Interview am 14.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania: Leiterin der Org. Kilimanjaro Children Joy Foundation (stationäre Betreuung) Mapunda, F.: Interview am 18.06.07 in Moshi, Tansania: Mitarbeiter der Org. Amani (Straßenkindprojekt/stationäre Betreuung) Marwa, L.: Interview am 08.05.07 in Musoma, Tansania: Mitarbeiter der Org. Jipe Moyo (ambulante Hilfen/Straßenkindprojekt) Massesa, P.: Interview am 02.06.07 in Dar es Salaam, Tansania: Projektkoordinator für Ostafrika der Org. REPSSI (Internationale Organisation) Matheru, E.: Interview am 29.06.07 in Moshi, Tansania: Lehrerin an der Mawenzi Primary School (Stakeholder Bildungssektor) Mawere, E.: Interview am 06.07.07 in Tengeru, Tansania: Projektkoordinator der Org. WAMATA Arusha (ambulante Hilfen) Messo, A.: Interview am 25.04.07 in Mwanza, Tansania: Mitarbeiter der Org. TACOPE (ambulante Hilfen) Mhamba, R.: Interview am 07.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Professor an der IDS Universität Dar es Salaam/ leitender Berater bei der Entwicklung des staatlichen Aktionsplans für MVC
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Milambo, S.: Interview am 03.03.07 in Morogoro, Tansania: Mitarbeiter der Org. Youth Life Relief Foundation (ambulante Hilfen) Miti, S.: Interview am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Mitarbeiterin der Org. YOPAC (ambulante Hilfen) Montgomery, B.: Interview am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Gründerin der Org. Boona Baana Center/ Tanzania Adoption Society/ Green Door Home (stationäre Betreuung/Adoption) Mori, S.: Interview am 16.06.07 in Mwika, Tansania: Leiter der Org. HUYAMWI (ambulante Hilfen) Mpangala, M.: Interview am 10.04.07 in Bukoba, Tansania: Mitarbeiterin der Org. Salvation Army Kagera (ambulante Hilfen) Mrema, A.: Interview am 31.05.07 in Dar es Salaam, Tansania: Projektkoordinator für Tansania der Org. SAT (internationale Organisation) Msoka, A.: Interview am 05.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Präsident der Org. SWAA-Tanzania/ Projektkoordinatorin für den Bereich Internationales der Org. SWAA (Internationale Organisation) Musira, J.: Interview am 08.05.07 in Musoma, Tansania: Mitarbeiter der Org. Community Alive Club (ambulante Hilfen) Mutashobya, A.: Interview am 04.04.07 in Bukoba, Tansania: Projektkoordinatorin der Org. World Vision Kagera (ambulante Hilfen) Ngowi, A.: Interview am 26.06.07 in Moshi, Tansania: Mitarbeiterin der Org. KIWAKKUKI (ambulante Hilfen) Ngowi, E.: Interview am 28.06.07 in Moshi, Tansania: Projektkoordinator der Org. SAKUVI (ambulante Hilfen) Nsemwa, A.: Interview am 21.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Mitarbeiterin der Org. YOPAC (ambulante Hilfen) Posein, R.: Interview am 24.04.07 in Mwanza, Tansania: Leiter der Org. Starehe Children’s Home (stationäre Betreuung) Reese, M.: Interview am 08.05.07 in Musoma, Tansania: Mitarbeiterin der Org. Community Alive Club (ambulante Hilfen) Saadani, T.: Interview am 08.06.07 in Bagamojo, Tansania: Mitarbeiterin der Org. Society for Orphan Care and AIDS Control (ambulante Hilfen/Kindergarten) Salum, J.: Interview am 18.06.07 in Moshi, Tansania: Mitarbeiter der Org. Amani (Straßenkindprojekt/stationäre Betreuung) Samuel, N.: Interview am 22.04.07 in Mwanza, Tansania: Mitarbeiterin der Org. Bujora Parish Child and Youth Development (formelle Pflege) Tayali, S.: Interview am 23.04.07 in Mwanza, Tansania: Mitarbeiter der Messa English Medium School (Stakeholder Bildungssektor) Tesha, V.: Interview am 24.04.07 in Mwanza, Tansania: Leiterin der Org. WOWESOT (ambulante Hilfen/Kindergarten) Urembo, F.: Interview am 06.03.07 in Dar es Salaam, Tansania: Mitarbeiter der Org. Salvation Army (Internationale Organisation) Wenje, E.: Interview am 29.06.07 in Moshi, Tansania: Koordinator der Org. KINSHAI (NGO Netzwerk) Yusif, J.: Interview am 29.06.07 in Boma Ng’ombe, Tansania: Lehrer an der Sekundarschule Tanga (Stakeholder Bildungssektor) Franklin M.: Interview am 28.06.07 in Moshi, Tansania: Vollwaise Johnson M.: Interview am 20.06.07 in Mwika, Tansania: Halbwaise
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Verzeichnis der zitierten Fragebögen Fragebogen 070405a9: Vollwaise (männlich/17 Jahre) lebt mit zwei Geschwistern bei Nachbarn Fragebogen 070405b1: Vollwaise (männlich/15 Jahre) lebt mit zwei Geschwistern bei Bruder/Schwester Fragebogen 070419a2: Vollwaise (weiblich/15 Jahre) lebt mit vier Geschwistern bei Großmutter/Großvater Fragebogen 070419a3: Halbwaise (weiblich/10 Jahre) lebt mit zwei Geschwistern bei der Mutter Fragebogen 070419a5: Vollwaise (männlich/12 Jahre) lebt mit zwei Geschwistern bei Bruder/Schwester Fragebogen 070419a8: Halbwaise (männlich/12 Jahre) lebt mit vier Geschwistern bei der Mutter Fragebogen 070419a9: Vollwaise (männlich/16 Jahre) lebt ohne Geschwister bei Großmutter/Großvater Fragebogen 070419b1: Vollwaise (männlich/10 Jahre) lebt mit vier Geschwistern bei Großmutter/Großvater Fragebogen 070425a1: Vollwaise (männlich/14 Jahre) in stationärer Betreuung Fragebogen 070505b6: Vollwaise (weiblich/13 Jahre) lebt ohne Geschwister bei Verwandten Fragebogen 070630b2: Halbwaise (weiblich/7 Jahre) lebt ohne Geschwister bei Verwandten Fragebogen 070630b7: Halbwaise (männlich/13 Jahre) lebt mit zwei Geschwistern bei der Mutter Fragebogen 070313a2: Betreuer (51 Jahre) von zwei Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070313a4: Betreuerin (35 Jahre) von vier Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070313a5: Betreuerin (41 Jahre) von zwei Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070313a6: Betreuerin (33 Jahre) von zwei Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070313b3: Betreuerin (31 Jahre) von sechs Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070313b4: Betreuerin (54 Jahre) von fünf Waisen in Dar es Salaam Fragebogen 070426a3: Betreuer (76 Jahre) von fünf Waisen in der Region Mwanza
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Quellenverzeichnis
Teilnehmende Beobachtungen/Praktika Besuche in Haushalten mit Waisen Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 24.03.07 in Dar es Salaam, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 05.04.07 in der Region Kagera, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 19.04.07 in der Region Kagera, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 28.04.07 in der Region Mwanza, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 26.04.07 in der Region Mwanza, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 09.05.07 in der Region Mara, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 20.06.07 in der Region Kilimanjaro, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Hausbesuche am 03.07.07 in der Region Arusha, Tansania Ambulante Unterstützungsangebote Teilnehmende Beobachtung: Seminar für Betreuer von Waisen der Organisation VUKA Tanzania am 13.03.07 in Dar es Salaam/Tansania Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation HUYAMWI am 16.06.07 in Mwika und am 30.06.07 in Kiboroloni, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Gruppenangebot für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Salvation Army Kagera am 14.04.07 in Bukoba, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Nachhilfe für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation WOWESOT am 28.04.07 in Mwanza, Tansania Stationäre Betreuungsangebote Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Green Door Home am 10.03.07 in Dar es Salaam, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Kemondo Orphan Care Centre am 16.04.07 in Kemondo, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Bethany Project am 04.05.07 in Magu, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Stationäre Betreuungseinrichtung für Waisen und gefährdete Kinder der Organisation Nkoaranga Orphanage am 04.07.07 in Usa River, Tansania Praktikum: 13.02. – 20.02.02 in der stationären Betreuungseinrichtung der Organisation Kemondo Orphan Care Centre in Kemondo, Tansania Praktikum:15.09.01 – 15.03.02 in der stationären Betreuungseinrichtung Ntoma Orphanage in Ntoma, Tansania Weitere Beobachtungssituationen Teilnehmende Beobachtung: U5-Klinik der Gesundheitsstation Ntoma am 03./04.10.01 in der Kagera Region, Tansania Teilnehmende Beobachtung: Besuch der Arusha International School am 05.07.07 in Arusha, Tansania
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32
Überblick über Studien der Waisenforschung Inhaltliche Defizite in der Waisenforschung Begriffsbestimmung für die vorliegende Arbeit Informanten der vorliegenden Studie Befragung von Kindern (Fragebögen) Exkurse: HIV/AIDS (vgl. Weinreich und Benn 2003) Korrelation zwischen der AIDS-Epidemie und der Waisenkrise in Tansania Waisenpopulation (0-14 Jahre) als Anteil von allen Kindern in Prozent Haushaltsvorstand von Waisen Haushaltsvorstand von Vollwaisen und Halbwaisen, die nicht beim überlebenden Elternteil wohnen Veränderungen im familiären Unterstützungssystem nach dem Tod der mittleren Generation Beispiel: Private Unterstützung für Waisen Beispiel: CBOs als lokale Reaktion auf die Waisenkrise CBOs als Selbsthilfeinitiative Beispiel: HUYAWA - Die Entwicklung eines kirchlichen Waisenprojekts Beispiel: Ausländisches Engagement in der Bewältigung der Waisenkrise Beispiel: Engagement von Ausländern in der Waisenhilfe Standarisierte MCV-Definition der Regierung Tansanias (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 9 und 69f) Interventionsbereiche „Tanzania National Costed Plan of Action for Most Vulnerable Children“ (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Health and Social Welfare (Hrsg.) 2008, S. 3f) UNICEF-Strategien zur Umsetzung der „Declaration of Commitment on HIV/AIDS“ für Waisen (vgl. UNICEF (Hrsg.) 2003a, S. 38) „Gott gibt uns unser täglich Brot“ – Bewältigungsstrategien einkommensschwacher Haushalte mit Waisen Arbeit als prägendes Merkmal von Kindheit Aktivitäten von Waisen und Nichtwaisen am Tag vor der Befragung Arbeit als Beitrag von Waisen zur Versorgung des Haushaltes Durchschnittliche Mahlzeiten von Waisen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Die Wohnsituation verwaister Kinder Haus in traditioneller Bauweise Die Bedeutung einer sicheren Unterkunft für die Wirkung externer Hilfe Gefahr von Obdachlosigkeit als Folge von Verwaisung Exkurs: Straßenkinder in Tansania Bildung in Tansania Das staatliche Bildungssystem in Tansania 2007 (vgl. United Republic of Tanzania – Ministry of Education and Vocational Training (Hrsg.) 2007, o. S.)
U. Brizay, Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania, DOI 10.1007/978-3-531-92888-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
544 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50 Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53 Abb. 54 Abb. 55 Abb. 56 Abb. 57 Abb. 58 Abb. 59 Abb. 60 Abb. 61 Abb. 62 Abb. 63 Abb. 64 Abb. 65 Abb. 66 Abb. 67 Abb. 68 Abb. 69 Abb. 70 Abb. 71 Abb. 72 Abb. 73 Abb. 74 Abb. 75 Abb. 76 Abb. 77 Abb. 78 Abb. 79
Verzeichnis der Abbildungen Ratio: Schulbesuch von Waisen und Nichtwaisen (10 – 14 Jahre) (vgl. Measure DHS (Hrsg.) 2006, S. 35f) Angaben über Anzahl der Freunde in Relation zum Schulbesuch Das Gesundheitssystem in Tansania Die Herausforderungen von HIV/AIDS für das Gesundheitssystem Die Situation HIV-infizierter Kinder nach ihrer Verwaisung Gefährdung von Waisen im Bereich der Grundversorgung Symptome kindlicher Trauer (vgl. Goldman 2000, S. 49) Ängste als Folge wiederholter Verlusterfahrungen von Waisen Angaben über Freunde von Waisen und Nichtwaisen Schuldgefühle aufgrund von Überforderung Aggressivität und destruktives Verhalten Zwanghafte Fürsorge und Bevormundung Schutz- und Risikofaktoren im Trauerprozess Verhaltensauffälligkeiten als Folge fehlender Aufklärung über den Tod Gesamtzahl der Waisen pro Haushalt Sonderbehandlung HIV-infizierter Waisen Vermeidung als Form von Diskriminierung Ungleichbehandlung von Kindern innerhalb eines Haushaltes Relation zwischen externer Unterstützung und Diskriminierung Positive Wirkung externer Unterstützung Benachteiligung von Waisen in der Schule Benachteiligung von Waisen in der Familie Diskriminierung als subjektive Wahrnehmung Erziehung in Tansania Großeltern als emotionale Ressource und Schutzfaktor Soziale Kontrolle als Schutzfaktor Körperliche Misshandlung von Waisen Sexueller Missbrauch von Waisen Vernachlässigung von Waisen Emotionale Vernachlässigung in der Stieffamilie Ausbeutung im Bereich Erbe Ausbeutung von Waisen als Arbeitskraft Gefährdung von Waisen im psychosozialen Bereich Gründungsjahr von Organisationen der Waisenhilfe Die regionale Verteilung von externer materieller und praktischer Unterstützung für Haushalte mit OVC (vgl. United Republic of Tanzania – TACAIDS, National Bureau of Statistics und ORC Macro (Hrsg.) 2005, S. 16) Arbeitsweisen ambulanter Hilfsprogramme Ausländische Unterstützung als Hemmnis für zivilgesellschaftliches Engagement Ambulante Waisenhilfe Hilfsangebote ambulanter Waisenprogramme Nachhilfeunterricht für verwaiste Kinder HIV-Präventionstheater Freizeitpädagogische Angebote Alte und neu gebaute Unterkunft für einen Haushalt mit Waisen Meerschweinchenzucht als einkommenschaffende Maßnahme Differenzen zwischen Adoption und informeller Pflege Adoption und formelle Pflege im kulturellen Kontext Meinungsbild zu internationalen Adoptionen
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 80 Abb. 81 Abb. 82 Abb. 83 Abb. 84 Abb. 85 Abb. 86 Abb. 87 Abb. 88 Abb. 89 Abb. 90 Abb. 91 Abb. 92 Abb. 93 Abb. 94 Abb. 95 Abb. 96 Abb. 97 Abb. 98 Abb. 99 Abb. 100 Abb. 101 Abb. 102 Abb. 103 Abb. 104 Abb. 105 Abb. 106 Abb. 107 Abb. 108 Abb. 109 Abb. 110
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Erscheinungsformen stationärer Betreuung in Tansania Staatliche Einrichtungen für Straßenkinder Wandbild eines Straßenkindprojektes zur Aufklärung über die Kinderrechte als präventive Maßnahme Akteure in der Bereitstellung von externer Unterstützung für Haushalte mit Waisen Zusammenarbeit der Organisationen mit Akteuren in den Kommunen Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Waisenhilfe Beispiel: Umfassende Bildungsförderung durch ambulante Angebote Beispiel: Zugangsbarrieren in der Wahrnehmung ambulanter Angebote Beispiel: Isolation statt Integration Beispiel: Bevorzugung statt Normalisierung Beispiel: Partizipation in der Hilfeplanung Beispiel: Beschränkung des Mitbestimmungsrechtes in stationären Einrichtungen Ausländischer Einfluss in Organisationen der Waisenhilfe Einsatz von lokalen und ausländischen Ehrenamtlichen Beispiel: Einheimische Volontäre in Einrichtungen der stationären Betreuung Kooperationspartner im Identifizierungsprozess Beispiel: Die lokale Verwaltung als Partner im Identifizierungsprozess Vergleich der jährlichen Kosten pro Kind in ambulanten und stationären Unterstützungsangeboten Kostenvergleich: Bildungsförderung im stationären und ambulanten Bereich Wirkungskreis stationärer und ambulanter Unterstützungsangebote Beispiel: Strukturelle Zwänge im Heimalltag Gründung von Organisationen der Waisenhilfe Beispiel: Vermittlung praktischer Fertigkeiten in der institutionellen Erziehung Beispiel: Kontakte zu Angehörigen als Vorbereitung der familiären Reintegration Übersicht über die identifizierten Praxisbeispiele Directory of Services Formulierungsprozess der Forschungsfrage Forschungsaufenthalt in Tansania Vorteile der stationären Betreuung Nachteile der stationären Betreuung Nutzung traditioneller Ressourcen in der Arbeit mit Waisen