M. Graf ] C. Grill ] H.-D. Wedig ] (Hrsg.)
Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule »HWS-Schleudertrauma«
M. Graf C. Grill H.-D. Wedig
(Hrsg.)
Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule »HWS-Schleudertrauma« Mit einem Geleitwort von Dietrich Grönemeyer Mit Beiträgen von H. Baltin, S. Baumann, B. Baviera, P. O. Behan, H.-K. Beyer, N. Biasca, N. Bogduk, P. Böhm, E. Bölke, K. Brieter, G. Bring, J. Bring, A. Chaudhuri, M. P. Coe, M. Curatolo, G. Dannert, T. Egner, U. Ehlert, J. M. Elliott, A. Ernst, H. Etzrodt, M. Frank, H. Friedburg, K. Fruth, J. Gaab, W. Gauß, H. Gelb, M. Graf, M. van Griensven, E. Hartwig, P. Henning, P. Henningsen, J.-B. Huber, M. Hülse, S. Ito, P. C. Ivancic, L. Jaeger, B. H. Johansson {, W. Kaiser, P. Kehr, H. Keller-Wossidlo, A. Kettler, H. Kraemer, M. Kramer, O. E. Krasney, R. Krücker, B. Kügelgen, P. Kuhn, W. Laubichler, B. Losert-Bruggner, D. Marincic, H. Merskey, A. Möllering, J. Naxera, A. B. Ndu, W. Neuhuber, U. Oppel, K. Orth, A. Otte, M. M. Panjabi, M. Peiper, M. Richter, E. Riederer, W. Rubin, K. Schaumberger, P. Schmidt, M. Schneider, P. Schöps, H.-P. Schwintowski, J. Senn, F. Singbartl, M. E. Sluijter, M. B. Sterman, T. Stokke, K. Takagi, S. Tempelhof, Y. Tominaga, D. Ungerer, A. J. Valenson, R. Verhasselt, E. Volle, H.-D. Wedig, H.-J. Wilke, G. Zahner
Mit 84 überwiegend farbigen Abbildungen in 130 Einzeldarstellungen und 28 Tabellen
Dr. med. Michael Graf Gartenfeldstraße 6 54295 Trier Christian Grill Grasslergasse 1 83486 Ramsau Hans-Dieter Wedig Ass. jur., Kanzlei Dr. W. G. Schmidt Bahnhofstraße 21 87527 Sonthofen
ISBN 978-3-7985-1837-7 Steinkopff Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Steinkopff Verlag ein Unternehmen von Springer Science+Business Media www.steinkopff.com © Steinkopff Verlag 2009 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung und Redaktion: Dr. med. Gertrud Volkert, Petra Elster Herstellung: Klemens Schwind Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Satz: K + V Fotosatz GmbH, Beerfelden Druck und Bindung: Stürtz GmbH, Würzburg SPIN 12327072
105/7231-5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Geleitwort
Verletzungen der Halswirbelsäule nach Beschleunigungstraumata stellen angesichts der hohen Verkehrsdichte vor allem in Industrieländern ein erhebliches medizinisches und rechtliches Problem dar. Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule (HWS) durch Beoder Entschleunigungstraumata werden seit Jahrzehnten im In- und Ausland kontrovers debattiert. Eine bei dieser Verletzungsform spezifische Schwierigkeit scheint in der Diskrepanz zwischen der Vielzahl an gesundheitlichen Beschwerden und den in der Vergangenheit meist nur spärlich zu findenden objektivierbaren Körperschäden zu liegen. Nach offiziellen Angaben des ADAC ereignen sich pro Jahr in Deutschland etwa 4,5–5 Millionen Verkehrsunfälle, wobei davon ca. 10% Personenschäden zur Folge haben. Hiervon werden etwa 90%, also immerhin ungefähr 400.000 Menschen, an der Halswirbelsäule verletzt. Während die Zahl der Verkehrstoten insgesamt rückläufig ist, steigt die Zahl der HWS-Verletzten stetig an. Ursache hierfür sind die immer härter werdenden und somit unelastischer reagierenden Fahrzeugsitze und die Konstruktion von immer unnachgiebigeren Stoßstangen. Unabhängig hiervon treten noch unzählige HWS-Verletzungen aus Unfällen außerhalb des Straßenverkehrs auf. Für etwa 60–70% der Betroffenen wird eine günstige Prognose gestellt. Sie werden tatsächlich innerhalb einiger Wochen beschwerdefrei. Erhebliche Probleme bereitet allerdings eine größere Zahl von Unfallgeschädigten, bei denen die Beschwerden oft ein Leben lang zurückbleiben und bei denen die langwierigen Symptome häufig in keinen kausalen Zusammenhang gestellt werden. Diese Patienten erleiden häufig eine medizinische, versicherungstechnische und juristische Odyssee, bei der die Betroffenen häufig keine Anerkennung ihres Leidens finden, immer wieder als Simulanten diskreditiert werden und dabei oft längere soziale und finanzielle Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen. In dem vorliegenden Sammelwerk werden durch international ausgewiesene Experten der neueste Forschungsstand, das aktuelle Wissen und die Lehrmeinungen auf diesem kontrovers diskutierten Gebiet dargestellt. Dabei werden in einem interdisziplinären Ansatz medizinische, verletzungsmechanische und juristische Fragestellungen von anerkannten Fachleuten diskutiert. Ziel ist es dabei, Versicherungen, Anwälte, Ärzte und Betroffene in einen gemeinsamen Dialog zu bringen, um konstruktive Lösungen für die beschriebene Problematik aufzuzeigen. Das vorliegende Buch richtet sich primär an Ärzte, Juristen und Versicherungsfachleute, dürfte aber auch für Betroffene durch die vorliegenden Behandlungsempfehlungen von großem Interesse sein. Da Folgen nach HWS-Distorsionen therapeutisch meist sehr schwer zugänglich sind, werden im vorliegenden Werk Erfolg versprechende Therapieansätze erörtert. Ich wünsche dem Buch eine hohe Akzeptanz und Verbreitung, um letztendlich allen Betroffenen eine wirklich klare und zielführende, sinnvolle, diagnostische und therapeutische Perspektive zu ermöglichen und ihnen in Zukunft einen oftmals langen Leidensweg zu ersparen. Bochum, im Sommer 2008
Univ. Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer
Vorwort
Im Jahr 2006 gab es in Deutschland 2.235.318 Verkehrsunfälle, davon 327.984 Unfälle mit Personenschaden. Hierbei gab es 422.337 Schwer- und Leichtverletzte [10]. Konkrete Zahlen, wie viele Personen an der Halswirbelsäule verletzt wurden, liegen nicht vor. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre dürfte es sich hierbei jedoch um die Hälfte der Verletzten handeln. HWS-Beschleunigungsverletzungen treten überwiegend nach Autounfällen auf (in mehr als 90% der Fälle). Die Inzidenz von HWS-Beschleunigungsverletzungen nach Auffahrunfällen dürfte – je nach Literaturstelle – zwischen 70 und 106 pro 100.000 Einwohnern und Jahr liegen. Die Nomenklatur ist uneinheitlich und oft verwirrend. Der Verletzungstyp ist 1928 erstmals von Crowe geschildert und als „Whiplash Injury“ (whiplash für Peitschenschlag) beschrieben worden [1]. Crowe selbst hat aber später klar gestellt, dass diese Bezeichnung nur den Verletzungsmechanismus bezeichnen sollte, nicht die Verletzung selbst [2]. Den nächsten Meilenstein haben Gay und Abbot, ein englischer Chirurg und ein englischer Psychiater, 1954 gesetzt [6], die auch die Bezeichnung „whiplash“ gewählt haben. In Deutschland ist man sich darüber einig, dass Begriffe wie „Schleudertrauma“, „Beschleunigungsverletzung“ etc. nur den Verletzungsmechanismus bezeichnen. Die Verletzung wurde früher hauptsächlich als „Distorsion“ bezeichnet, bis die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie den Begriff „zervikozephales Syndrom nach Beschleunigungsverletzung“ eingeführt hat (als zervikozephales Syndrom in der ICD-10 unter M 53.0 klassifiziert). Im englischsprachigen Raum wird weiter der Terminus „whiplash“ gebraucht; nach der Quebec Task Force werden die Verletzungsfolgen als „Whiplash Associated Disorders“ (kurz: WAD) bezeichnet [9]. Dieser Begriff wird auch teilweise in der Schweiz verwandt. Dort wird aber der Begriff „Schleudertrauma“ nicht nur für den Verletzungsmechanismus, sondern auch für die Verletzung selbst als Diagnose gebraucht. Man spricht dort teilweise von akutem bzw. chronischem Schleudertrauma. In Österreich scheint der Begriff „Peitschenschlagverletzung“ nach wie vor gebräuchlich zu sein. Die unterschiedliche, von den jeweiligen Autoren verwandte Terminologie wurde in diesem Buch beibehalten. Nicht nur das Problem als solches, sondern auch der Versuch, dieses Problems in der Wissenschaft Herr zu werden, ist aber erheblich älter als die Arbeiten von Crowe. Erste wissenschaftliche Untersuchungen zu posttraumatischen Wirbelsäulenverletzungen stammen bereits aus dem vorletzten Jahrhundert anhand von Eisenbahnunfällen. Damals nannte man diese Verletzungen „railway spine“ [5]. In Deutschland Furore gemacht hat ein Buch des Chirurgen und Radiologen Erdmann [4]. Die von Erdmann entwickelte Schweregradtabelle wurde über Jahrzehnte und auch heute teilweise noch in Gutachten herangezogen, um retrospektiv Ausheilungszeiten nach einer Beschleunigungsverletzung zu bestimmen. Wenn man Handbücher zur Begutachtung außer Acht lässt, dürfte diese wohl überwiegend als obsolet betrachtet werden (vgl. die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, DGU [3]). Insgesamt ist die Literatur zum Buchthema inzwischen unüberschaubar. Die häufig zitierte Quebec Task Force (QTF) von 1995 hat über
VIII
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Vorwort
10.000 Arbeiten zu diesem Thema ausgewertet und 62 Arbeiten als dem wissenschaftlichen Standard entsprechende Arbeiten bewertet [9]. Dass auch die Studie der QTF methodologisch durchaus angreifbar ist, zeigt die Arbeit des Kanadiers Merskey in diesem Buch. Inzwischen ist sicher eine vierstellige Zahl von Veröffentlichungen hinzugekommen. Warum also im Jahr 2008 (noch) ein Buch zum Thema „Schleudertrauma“? Diese Frage beantwortet sich fast von allein, wenn man die eingangs genannten Zahlen einerseits betrachtet und andererseits verfolgt, wie in der einschlägigen Literatur oft die Meinungen zu einzelnen Themen auseinanderdriften. Auch muss die Frage erlaubt sein, weshalb bei einem immer noch großen Teil der Verletzten alle über Jahre währenden Therapieversuche keinerlei Erfolge zeigen; weshalb so viele Geschädigte nach einem Unfall mit HWS-Beteiligung aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen und ihre Lebensqualität massiv reduziert ist. „Die Schleuderverletzung ist ein z. Z. noch mangelhaft bewältigtes Problem: Die klinische Bewertung des anfänglichen Verletzungsbefundes ist umstritten, die Begutachtung der späteren Unfallrückstände erschwert, vor allem, weil man sich hier mit röntgenologischen Mitteln nur wenig Auskunft vermitteln kann.“ [4] Mit diesen Worten wurde vor nunmehr 35 Jahren die Schrift von Erdmann eingeleitet. Wenn man die bis heute veröffentlichte Literatur liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass hier nur wenig Fortschritt zu verzeichnen ist. Auch wenn wir heute noch weit davon entfernt sind, alle Fragen um das „Schleudertrauma“ beantworten zu können, ja bis heute nicht einmal hinlänglich geklärt ist, was bei diesem Verletzungsmechanismus eigentlich passiert, warum die meisten Verletzungen ausheilen, jedoch ca. 20% der Patienten in einen chronischen Verlauf einmünden, so soll dieses interdisziplinäre Buch in allen relevanten Teilbereichen wenigstens einen Lösungsversuch bieten. Die in der Literatur vertretenen Meinungen sind nach wie vor äußerst kontrovers. So wird z. B. sehr oft eine Arbeit zitiert, mit der belegt werden soll, dass dort, wo es keine Haftpflichtversicherungen, also für Verletzungen auch keine Entschädigung gibt, HWS-Verletzungen nach einem Unfall nicht auftreten sollen. Teilweise wird auch auf ein Buch verwiesen, in dem ausführlich dargelegt wird, dass „Whiplash“ nichts Anderes ist als Ausfluss von Simulation oder Aggravation, also grundsätzlich in die Nähe von Versicherungsbetrug gestellt wird („Whiplash and other useful illnesses“ = Schleudertrauma und andere hilfreiche Krankheiten). Nicht nur in Fachbüchern (wie im Jahr 2007 in einer Festschrift für einen Generalbundesanwalt), sondern auch in der Laienpresse [8] wird das genannte Buch – zustimmend – zitiert. Es erschien den Herausgebern daher geboten, das international existente Wissen zu diesem Thema zusammenzutragen und die einschlägig tätigen Wissenschaftler – jeweils zu ihrem Thema – zu Wort kommen zu lassen. Die Zahlen in der Literatur darüber, in wie viel Fällen die Folgen einer Beschleunigungsverletzung ausheilen, divergieren. Selbst wenn man die günstigste in der Literatur genannte Prognose zugrunde legt, wonach in 80% der Fälle mit einer vollständigen Ausheilung in wenigen Wochen, höchstens in einigen Monaten, zu rechnen ist (es gibt auch weit ungünstigere Studien), verbleiben immerhin noch 20% der Fälle mit Dauerfolgen, die eben nur sehr verzögert oder gar nicht ausheilen. Dies ist nach Auffassung der Herausgeber Grund genug, die Frage zu stellen, ob und gegebenenfalls wie dieses Phänomen erklärt werden kann, welche diagnostischen Verfahren zum Nachweis und welche Therapiemöglichkeiten es heute gibt. Die Herausgeber haben sich dabei bemüht, alle relevanten Experten, alle relevanten Meinungen zu Wort kommen zu lassen und alle Bereiche, in denen „Schleudertrauma“ eine Rolle spielt, abzudecken. Neben vielen Fachleuten aus dem deutschen Sprachraum konnten auch zahlreiche ausländische Autoren aus der Schweiz, Öster-
Vorwort
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reich, den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien, Skandinavien, Frankreich, Belgien und Japan gewonnen werden. Das „zervikale Syndrom nach Beschleunigungstrauma“ stellt ein medizinisches und/oder ein psychologisches Problem dar. Diesen Fragestellungen ist der größte Teil des Buches gewidmet. Oft haben die Verletzten aber noch die weitere Schwierigkeit, Unfallfolgen rechtlich durchsetzen zu müssen, z. B. wenn Schadensersatzansprüche gegen einen Schädiger geltend gemacht werden. Mit diesem Problemkreis beschäftigt sich das Kapitel „Recht und Begutachtung“. In den rechtlichen Beiträgen werden einige, speziell bei Auseinandersetzungen nach „Schleudertrauma“ immer wieder auftauchende Themen behandelt. Eine komplette Darstellung aller rechtlichen Zusammenhänge ist aus Platzgründen nicht möglich. Hier muss auf die einschlägige Literatur verwiesen werden, u. a. auf Wedig [11], der eine Reihe von Problemen aus dem medizinisch-rechtlichen Grenzbereich schildert. Bei Fragen zum Schmerzensgeld wird auf die „ADAC-Schmerzensgeldtabelle“ und das hervorragende, umfassende Werk von Jaeger/Luckey [7] verwiesen. Die Herausgeber sind sich bewusst, dass es wünschenswert wäre, wenn in allen Buchbeiträgen Literaturnachweise einheitlich aufgelistet würden. Da die Autoren jedoch aus gänzlich unterschiedlichen beruflichen Bereichen und Nationen kommen, hat es sich als sinnvoll erwiesen, die diversen Zitierweisen beizubehalten. Abschließend ist es den Herausgebern ein Bedürfnis, den Autoren und all denen zu danken, die bei der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Ohne die Personen, die Kontakte zu verschiedenen Autoren hergestellt haben und ohne die Unterstützung durch Übersetzer fremdsprachiger Beiträge etc. wäre dies nicht möglich gewesen. Ganz besonderer Dank gebührt Frau Dr. med. Gertrud Volkert, Frau Petra Elster und Herrn Klemens Schwind vom Steinkopff Verlag, die durch ihre Unterstützung dazu beigetragen haben, dass dieses Buchprojekt so zügig und reibungslos verwirklicht werden konnte. Trier, Berchtesgaden und Sonthofen, im Sommer 2008
M. Graf C. Grill H.-D. Wedig
] Literatur 1. Crowe H (1928) 8 cases of neck injuries resulting from traffic road accidents. Report, Western Orthopedic Association, San Francisco 2. Crowe H (1964) A new diagnostic sign in neck injuries. California Medicine, 12–13 3. Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, DGU (2004) Empfehlungen zur Begutachtung, 26. Jahrg. Supplement, Stuttgart 4. Erdmann H (1973) Schleuderverletzung der Halswirbelsäule, Erkennung und Begutachtung. Die Wirbelsäule in Forschung und Praxis, Bd. 56. Hippokrates, Stuttgart 5. Erichsen JE (1867) On Railway and other Injuries of the Nervous System. Henry C. Lea, Philadelphia 6. Gay JR, Abbot KH (1953) Common whiplash injuries of the neck. JAMA, 1698–1704 7. Jaeger L, Luckey J (2008) Schmerzensgeld, 4. Aufl. Münster 8. Blech J (2004) Krankheiten, die der Himmel schickt. Der Spiegel 2004/32, 130 9. Spitzer WO, Skovron ML (1995) Scientific Monograph of the Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders: Redefinding “Whiplash” and its Management. Spine (Suppl) 85:34–73 10. Statistisches Bundesamt (2007) Unfallgeschehen im Straßenverkehr 2006 11. Wedig HD (2004) HWS-Distorsionen aus juristischer Sicht. In: Schmidt H, Senn J (Hrsg) Schleudertrauma – neuester Stand: Medizin, Biomechanik, Recht und Case Management. Expertenwissen für Juristen, Ärzte, Betroffene und Versicherungsfachleute, Zürich, 281– 292, als Auszug bei www.dr-schmidt.net
IX
Inhaltsverzeichnis
Grundlagen ]
Anatomie, Physiologie, Neurobiologie
1
Propriozeption im kraniozervikalen Übergang und Schleudertrauma . . . W. Neuhuber
5
2
Reflektorische Muskelkontraktion als Verletzungsmechanismus . . . . . . . . P. Henning
10
3
Neurobiologie der Schmerzchronifizierung nach HWS-Distorsionstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Curatolo
14
Zentralnervöse Störungen nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Orth, M. Peiper, E. Bölke, M. van Griensven, K. Takagi
18
5
Grundlagen zum Schmerzgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Baviera
24
]
Biomechanik
6
Bandverletzungen als Folge einer Distorsion der Halswirbelsäule . . . . . . P. C. Ivancic, Y. Tominaga, A. B. Ndu, M. P. Coe, S. Ito, W. Rubin, A. J. Valenson, M. M. Panjabi
7
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Richter
48
Einfluss kollisions- und insassenbezogener Faktoren auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kettler, E. Hartwig, K. Fruth, H.-J. Wilke
59
4
8
39
XII
]
Inhaltsverzeichnis
]
Technik – Unfallrekonstruktion 9 Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Schmidt, G. Zahner
67
10 Um Kopf und Kragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Brieter
74
11 Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Gauß
78
Diagnostik ]
Klinische und technische, nicht bildgebende Diagnostik
12 Kraniozervikales Beschleunigungstrauma („Whiplash-Associated Disorder“ = WAD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Böhm
97
13 Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion . . . . F. Singbartl, A. Ernst
103
14 Funktionsstörungen des posturalen Kontrollsystems nach HWSBeschleunigungstrauma und das „Late Whiplash Injury“-Syndrom . . . . D. Marincic
111
15 Kinesiologisches Fine-Wire EMG des M. semispinalis capitis zur Darstellung muskulärer Dysfunktionen nach HWS-Beschleunigungsverletzungen QTF II8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Kramer 16 Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Kehr
]
121
124
Bildgebende Diagnostik
17 Bildgebende Diagnostik bei HWS-Beschleunigungsverletzungen unter besonderer Berücksichtigung funktioneller Untersuchungsmethoden . . . H. Friedburg
133
18 Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ) . . . . . . . . . . . . . E. Volle
141
19 Besonderheiten der Untersuchungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Naxera
150
20 Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. H. Johansson {
156
Inhaltsverzeichnis
]
21 Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 J. M. Elliott 22 Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 H.-K. Beyer 23 Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 A. Otte
Therapeutische Ansätze 24 Radiofrequenzbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 M. E. Sluijter, T. Stokke 25 Schleudertrauma und Schmerzen in den Wirbelbogengelenken . . . . . . . . 210 N. Bogduk 26 Zahnärztliche Behandlung kraniozervikaler mandibulärer Funktionserkrankungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung . . . . . . . 216 H. Gelb, H. Baltin 27 Neurofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 M. B. Sterman, T. Egner, H. Baltin 28 Das leichte Schädel-Hirn-Trauma im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 N. Biasca 29 Physikalische Therapie nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 P. Schöps 30 Osteopathie nach HWS-Schleudertrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 S. Tempelhof 31 Atlastherapie nach Arlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 K. Schaumberger 32 Alternative Behandlungsansätze nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 H. Baltin
XIII
XIV
]
Inhaltsverzeichnis
„Sonderprobleme“ bei Schleudertrauma 33 Schleudertrauma und Kiefergelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Hülse, B. Losert-Bruggner 34 Aktivität, Reaktivität und negative Feedback-Sensitivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Gaab, S. Baumann, U. Ehlert
261
271
35 Hormonstörungen durch Schleudertrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Etzrodt
275
36 HWS-Distorsion und Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. O. Behan, A. Chaudhuri
279
Psychologie – Psychiatrie – Psychosomatik 37 Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Riederer
287
38 Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung . . . . . . . . . . . P. Henningsen
292
39 Schleudertrauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) . . . . A. Möllering
296
40 Neurostressfragmentierung (NSF) bei Schleudertrauma: Ein Ausweg . . . H. Kraemer
303
41 Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Kaiser
310
42 Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Keller-Wossidlo
317
43 Das Risiko der Stressnachschlageffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ungerer
323
Inhaltsverzeichnis
]
Recht und Gutachten ]
Recht
44 Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma . . . . . . . . 331 L. Jaeger 45 Schleudertrauma – Recht der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . 342 O. E. Krasney 46 Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule . . . 347 G. Dannert 47 Haftungsverteilung bei zwei Unfällen mit Verletzung der Halswirbelsäule – Auswirkung von Vorschädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 P. Kuhn 48 Unfallbedingte Distorsionsschädigung einer degenerativ vorgeschädigten Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 R. Krücker 49 Wenn die Seele Schaden nimmt: Psychische Unfallfolgen in der Rechtsprechung und deren „Bewertung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 H.-D. Wedig 50 Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung . . . . . . . . . . . . . . . 381 H.-P. Schwintowski 51 Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz . 386 J. Senn
]
Gutachterliche Probleme
52 Der „Peitschenschlag“-Bericht des EEVC 2005, die Sozialisierung der Kosten für Langzeit-Schäden und die Barrieren gegen Entschädigungszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 M. Frank 53 Kuriosum HWS-Schleudertrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 W. Laubichler 54 Handwerkliche Fehler in Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 R. Verhasselt 55 Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 H.-D. Wedig, M. Graf 56 Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun . . . . . . . . . . 423 B. Kügelgen 57 Die Leugnung von Schleudertrauma-Folgen: Cui bono? . . . . . . . . . . . . . . 429 H. Merskey
XV
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]
Inhaltsverzeichnis
58 Primärschaden – kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung – Schweregradtabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . U. Oppel
436
59 Das leichte Schleudertrauma – ein Irrtum des Gutachters? . . . . . . . . . . . M. Schneider
441
60 Die RAND-Studie, oder als es das Schleudertrauma noch gab . . . . . . . . J.-B. Huber
447
61 Wie das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen wird . . . . . . . . . . . . G. Bring, J. Bring
453
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459
Adressverzeichnis
Dr. med. Hartmut Baltin Zellerhornstraße 3 83229 Aschau Dr. phil. Susanne Baumann Rehaklinik Bellikon CH-5454 Bellikon Switzerland Dr. med. Bruno Baviera Schule für Physiotherapie Aargau Schinznach-Bad Badstraße 59 CH-5116 Schinznach-Bad Switzerland Peter O. Behan, MD, DSc., FRCP, FACP Department of Neurology Institute of Neurological Sciences Southern General Hospital Glasgow G51 4TF Great Britain Prof. Dr. med. Hans-Konrad Beyer Privatpraxis für Kernspintomographie Maternusstraße 44 50996 Köln Dr. med. Nicola Biasca Medical Consultant des Internationalen Eishockeyverbandes IIHF Chirurgische Klinik Spital Oberengadin CH-7503 Samedan Switzerland Nikolai Bogduk, MD, PhD, DSc. Newcastle Bone and Joint Institute Royal Newcastle Hospital David Maddison Building Newcastle, NSW 2300 Australia Dr. med. Peter Böhm Praxis für Neurochirurgie Goltsteinstraße 30 40211 Düsseldorf
PD Dr. Edwin Bölke Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie und radiologische Onkologie Universitätsklinikum Düsseldorf Heinrich-Heine-Universität Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Klaus Brieter Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V. – ADAC Motorwelt – Am Westpark 8 81373 München Gunilla Bring, MD, PhD University of Umeå SE-90187 Umeå Sweden Johan Bring Adjunct professor Dalarna University SE-79188 Falun Sweden Abhijit Chaudhuri DM, MD, PhD, FACP, FRCP Essex Centre for Neurological Sciences Queen’s Hospital Essex-RM7 0AG Great Britain Marcus P. Coe, MD Department of Orthopaedic Surgery Dartmouth-Hitchcock Medical Center 1 Medical Center Drive Lebanon, New Hampshire NH 03756 USA Prof. Dr. med. K. Michele Curatolo Zentrum für Schmerztherapie Inselspital CH-3010 Bern Switzerland
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Adressverzeichnis
Dr. jur. Gerhard Dannert Richter am OLG a. D. An der Baumschule 9 29223 Celle Thomas Egner, PhD Cognitive Neurology & Alzheimer’s Disease Center Northwestern University 320 East Superior, Searle 11-569 Chicago, IL 60611 USA
Dipl. Physiker Wolfgang Gauß Sautierstraße 75 79104 Freiburg Harold Gelb, D. M. D. 635 Madison Avenue New York, NY 10022 USA Dr. med. Michael Graf Gartenfeldstraße 6 54295 Trier
Prof. Dr. rer. nat. Ulrike Ehlert Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität Zürich Binzmühlestraße 14 CH-8050 Zürich Switzerland
Prof. Dr. med. Martijn van Griensven Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie Donaueschingenstraße 13 A-1200 Wien Austria
James M. Elliott, PhD Associate Professor Department of Physical Therapy Rueckert-Hartman School for Health Professions Regis University 3333 Regis Blvd, G-4 Denver, CO 80221-1099 USA
Christian Grill Grasslergasse 1 83486 Ramsau
Prof. Dr. med. Arne Ernst Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 12683 Berlin Dr. med. Ziauddin Esmail Weseler Straße 85 A 47169 Duisburg Dr. med. Harald Etzrodt Bahnhofplatz 7 89073 Ulm Dr. jur. Markus Frank Rechtsanwalt Neustiftgasse 3/5 A-1070 Wien Austria Dr. med. habil. Hartmut Friedburg Zeppelinstraße 2 76185 Karlsruhe Dr. med. Kai Fruth Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik Universität Ulm Helmholtzstraße 14 89081 Ulm PD Dr. phil. Jens Gaab Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität Zürich Binzmühlestraße 14 CH-8050 Zürich Switzerland
Prof. Dr. med. Dietrich Grönemeyer Lehrstuhl für Mikrotherapie und Radiologie Universität Witten/Herdecke Universitätsstraße 142 44799 Bochum Prof. Dr. med. Erich Hartwig Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Diakonissenkrankenhaus Karlsruhe-Rüppurr Diakonissenstraße 28 76199 Karlsruhe Dr. med. Peter Henning Ehem. D-Arzt Arzt für Orthopädie, Physik. Therapie u. Rehab. Med. Chirotherapie, Spez. Schmerztherapie Galle-Berger-Weg 12 29640 Schneverdingen Prof. Dr. med. Peter Henningsen Klinik u. Poliklinik für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie Langerstraße 3 81675 München Jean-Baptiste Huber Rechtsanwalt Anwaltskanzlei Bundesplatz 6 CH-6304 Zug Switzerland Prof. Dr. med. Manfred Hülse Universitäts-Klinikum Mannheim Fakultät für Klinische Medizin Theodor-Kutzer-Ufer 1-3 63135 Mannheim Shigeki Ito, MD Department of Orthopaedic Surgery St. Marianna University School of Medicine Kanagawa Japan
Adressverzeichnis Paul C. Ivancic, PhD Biomechanics Research Laboratory Department of Orthopaedics and Rehabilitation Yale University School of Medicine 333 Cedar St. P.O. Box 208071 New Haven, CT 06520-8071, Connecticut USA Lothar Jaeger Vors. Richter am OLG a. D. Mechtildisstraße 3 50678 Köln Bengt H. Johansson {, MD Bengt H. Johansson Medical Clinic Vasavagen 10 SE-18278 Stocksund Sweden Dipl. Psych. Walter Kaiser Klinik Wollmarshöhe GmbH Wollmarshofen 14 88285 Bodnegg Prof. Dr. med. Pierre Kehr Editor in Chief – Ejost (European Journal of Orthopaedic Surgery and Traumatology) 25, rue Schweighaeuser F-67000 Strasbourg France Dr. med. Harriet Keller-Wossidlo Kompetenzzentrum für Schlafmedizin Klinik Barmelweid AG CH-5017 Barmelweid Switzerland PD Dr. med. Annette Kettler Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik Universität Ulm Helmholtzstraße 14 89081 Ulm Horst Kraemer Diplom System Therapeut IPAS AG Säntisstraße 2 CH-9500 Wil SG Switzerland PD Dr. Michael Kramer Klinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstraße 9 89075 Ulm Prof. Dr. jur. Otto E. Krasney Vizepräsident des BSG a. D. Im Eichenhof 28 34125 Kassel
Rolf Krücker Vors. RiOLG Oberlandesgericht Düsseldorf Cecilienallee 3 40474 Düsseldorf Dr. med. Bernhard Kügelgen Therapiezentrum Koblenz Emil-Schüller-Straße 29 56068 Koblenz Paul Kuhn, JVR Juristische Zentrale ADAC Am Westpark 8 81373 München Prof. Dr. med. Werner Laubichler Vollerhofstraße 682 A-5412 Puch bei Hallein Austria Dr. med. Brigitte Losert-Bruggner Lorscher Straße 2 68263 Lampertheim-Hüttenfeld Dr. med. Damir Marincic Marktplatz 25 CH-9000 St. Gallen Switzerland Harold Merskey MA, DM, FRCP (c), FRC Psych. 71 Logan Avenue London, Ontario N5Y 2P9 Canada PD Dr. med. Jürgen Mertin Klinik Wollmarshöhe GmbH Wollmarshofen 14 88285 Bodnegg Dr. med. Andrea Möllering Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Institut der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45147 Essen Dr. med. Jaroslav Naxera fmri Zentrum Baslerstraße 30 CH-8048 Zürich Switzerland Anthony B. Ndu, MD Biomechanics Research Laboratory Department of Orthopaedics and Rehabilitation Yale University School of Medicine 333 Cedar St. P.O. Box 208071 New Haven, CT 06520-8071, Connecticut USA
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Adressverzeichnis
Prof. Dr. med. Winfried Neuhuber Institut für Anatomie Universität Erlangen-Nürnberg Krankenhausstraße 9 91054 Erlangen Dr. med. Uwe Oppel Laarstraße 2–4 58636 Iserlohn Prof. Dr. med. Klaus Orth Klinik für Allgemein-, Thoraxund Gefäßchirurgie Klinikum Emden Hans-Susemihl-Krankenhaus GmbH Bolardusstraße 20 26721 Emden Prof. Dr. med. Andreas Otte Institut für Nuklearmedizin Universitätsklinik Gent De Pintelaan 185 BE-9000 Gent Belgium Manohar M. Panjabi, PhD Biomechanics Research Laboratory Department of Orthopaedics and Rehabilitation Yale University School of Medicine 333 Cedar St. P.O. Box 208071 New Haven, CT 06520-8071, Connecticut USA PD Dr. med. Matthias Peiper Klinik für Allgemein-, Viszeralund Kinderchirurgie Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Prof. Dr. med. Martinus Richter II. Chirurgische Klinik (Unfallchirurgie, Orthopädie, Fußchirurgie) Klinikum Coburg Ketschendorfer Straße 33 96450 Coburg Dr. med. Erich Riederer Facharzt FMH für Neurologie Bleicherweg 52 CH-8002 Zürich Switzerland Dr. Helga Roth Stauffenbergstraße 3 80797 München Dipl. Ing. (FH) Wolfgang Rubin Biomechanics Research Laboratory Department of Orthopaedics and Rehabilitation Yale University School of Medicine New Haven, Connecticut USA
Dr. med. Klaus Schaumberger Hauptstraße 1 87561 Oberstdorf Dipl. Ing. Peter Schmidt Büro für Verkehrsunfallrekonstruktionen Pettenkoferstraße 16–18 10247 Berlin Prof. Dr. med. Dipl. Ing. Manfred Schneider Friedrichstraße 95 (IHZ) 10117 Berlin PD Dr. med. Peter Schöps Abteilung für Physikalische und Rehabilitative Medizin Städtisches Krankenhaus München-Harlaching Sanatoriumsplatz 2 81545 München Prof. Dr. jur. Hans-Peter Schwintowski Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- u. Europarecht Humbold-Universität zu Berlin Juristische Fakultät Unter den Linden 6 10099 Berlin Jürg Senn Rechtsanwalt Kanzlei Kieser, Senn und Partner Ulrichstraße 14 CH-8032 Zürich Switzerland Dr. med. Fabian Singbartl Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 12683 Berlin Prof. Dr. med. Menno E. Sluijter Schweizer Paraplegiker Zentrum Guido A. Zäch-Straße CH-6207 Nottwil Switzerland M. Barry Sterman, PhD Department of Neurobiology School of Medicine UCLA Medical Center Los Angeles CA 90085-1763 USA Dr. med. habil. Trond Stokke H. Ibsensgt. 4 NO-3724 Skien Norway
Adressverzeichnis Kiyoshi Takagi, PhD Department of Neurosurgery Fujita Health University Ogura Hospital, 4-2-5 Nakamachi, Setagaya Tokyo 158-8585 Japan Dr. med. Siegbert Tempelhof Zentrum für Komplementärmedizin Lortzingstraße 26 81241 München Yasuhiro Tominaga, MD, PhD Department of Orthopaedic Surgery St. Marianna University School of Medicine Kanagawa Japan Prof. Dr. med. Dietrich Ungerer Universität Bremen Bibliothekstraße 1 28359 Bremen Arnold J. Valenson, MD Department of Orthopedic Surgery Rush University Medical Center Rush Professional Office Building 1725 W. Harrison Street Chicago, Illinois, IL 60612 USA
Dr. jur. Rüdiger Verhasselt Rechtsanwalt und Arzt Düsseldorfer Straße 41 40545 Düsseldorf Dr. med. Eckhard Volle Ketterschwangerstraße 39 87668 Rieden Hans-Dieter Wedig Ass. jur., Kanzlei Dr. W. G. Schmidt Bahnhofstraße 21 87527 Sonthofen Prof. Dr. Hans-Joachim Wilke Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik Universität Ulm Helmholtzstraße 14 89081 Ulm Dipl. Ing. Gerd Zahner Ingenieurbüro für Kraftfahrzeugtechnik und Verkehrsunfallanalyse Brucknerallee 69 41236 Mönchengladbach
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XXI
Grundlagen
Anatomie, Physiologie, Neurobiologie 1
Propriozeption im kraniozervikalen Übergang und Schleudertrauma
2
Reflekorische Muskelkontraktion als Verletzungsmechanismus
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Neurobiologie der Schmerzchronifizierung nach HWS-Distorsionstrauma
4
Zentralnervöse Störungen nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma
5
Grundlagen zum Schmerzgeschehen
1
Propriozeption im kraniozervikalen Übergang und Schleudertrauma W. Neuhuber
Einleitung Läsionen der Halswirbelsäule im Sinne eines Schleudertraumas schädigen den aktiven und passiven Bewegungsapparat des kraniozervikalen Übergangs in einer Weise, die zu einem Beschwerdebild führen kann, das in seiner Schwere oft in krassem Missverhältnis zur Geringfügigkeit des Traumas selbst steht. Das weitgehende Fehlen objektiver, insbesondere Bildgebungsbefunde bzw. die Schwierigkeit, solche Befunde [19] vor dem Hintergrund individueller Variabilität bei asymptomatischen Probanden [17] zu interpretieren, letzten Endes das Auftreten „zervikogener“ Symptomatik auch ohne Trauma [6], machen das „Schleudertrauma“ zu einem diagnostischen, therapeutischen und gutachterlichen Treibsandgebiet. Aufgrund von manualmedizinischer Erfahrung und funktionell-anatomischen Überlegungen wurde die Vorstellung entwickelt, dass eine wesentliche Ursache für die bunte Symptomatik bei manchen Schleudertraumapatienten nicht in der „Distorsion“ des kraniozervikalen Übergangs, sondern in einer nachhaltigen Störung des propriozeptiven und nozizeptiven Einstroms aus ihm liegt [7]. So soll im Folgenden kurz die funktionelle Neuroanatomie des kraniozervikalen Übergangs dargestellt werden.
] Motorische und sensorische Innervation Die Muskulatur von Kopf und Hals wird vom N. trigeminus (Kaumuskeln, Mundbodenmuskulatur), N. facialis (hinterer Digastricusbauch und M. stylohyoideus zur Stabilisierung des Zungenbeins), N. hypoglossus (Zungenmuskulatur, M. geniohyoideus), N. accessorius (Radix spinalis für Mm. sternocleidomastoideus und trapezius) und den zervikalen Spinalnerven C1–5 (dorsale
Äste für suboccipitale Muskeln, M. semispinalis capitis und M. splenius capitis; ventrale Äste für prävertebrale Muskulatur und über Ansa cervicalis profunda zur infrahyalen Muskulatur; N. dorsalis scapulae aus dem Plexus brachialis zum M. levator scapulae) koordiniert. Bedenkt man den Zusammenhang mit dem Pharynx, kommt auch der N. vagus ins Spiel. Die zugehörigen Motorneurone liegen im motorischen Trigeminuskern und Fazialiskern der Brücke, im vagalen Ncl. ambiguus und Hypoglossuskern der Medulla oblongata und im Vorderhorn der zervikalen Rückenmarksegmente. Diese motorischen Kerne sind eingebettet in Pools von Interneuronen, die im Hirnstamm zur kleinzelligen, lateralen Formatio reticularis gerechnet werden und im Vorderhorn des Rückenmarks den Raum zwischen den Motorneuronen ausfüllen [4]. Kaumuskeln (mit Ausnahme der Mundöffner) und die meisten der genannten Hals- und Nackenmuskeln sind reich an Muskelspindeln [3, 20]. Diese Propriosensoren finden sich auch in der Zunge. Die gamma-Motorneurone für die intrafusalen Muskelfasern liegen in den jeweiligen Motorneuronpools, die Zellkörper der Spindelafferenzen aus Hals- und Nackenmuskeln finden sich in den Spinalganglien C2–4. Da der erste zervikale Spinalnerv meist über keine Hinterwurzel verfügt, werden die Spindelafferenzen aus den suboccipitalen Muskeln über eine Anastomose zwischen N. suboccipitalis und N. occipitalis major und über die Hinterwurzel C2 dem Rückenmark zugeleitet. Die Zellkörper der Spindelafferenzen der Kaumuskulatur und höchstwahrscheinlich auch der Mundbodenmuskeln liegen als Besonderheit im mesenzephalen Trigeminuskern. Dieser Kern enthält auch die Zellkörper der Afferenzen aus dem Zahnhalteapparat. Er projiziert z. T. direkt, z. T. indirekt über Interneurone zu den Motorneuronen der Kaumuskeln. Spindelafferenzen aus M. stylohyoideus und hin-
6
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W. Neuhuber
terem Digastricusbauch haben ihre Zellkörper im Ggl. geniculi. Da weder der N. hypoglossus noch der N. accessorius über ein sensorisches Ganglion verfügen, werden Afferenzen aus der Zungenmuskulatur, dem M. geniohyoideus, dem M. sternocleidomastoideus und dem M. trapezius über Anastomosen zum Plexus cervicalis und die oberen zervikalen Hinterwurzeln zum Rückenmark geführt [16]. Neben den propriozeptiven Afferenzen aus der Muskulatur, denen im Rahmen der Bewegungskontrolle vor den Afferenzen aus den Gelenken die Hauptrolle zukommt, gibt es eine große Schar von dünnkalibrigen, langsam leitenden Afferenzen der Klassen III (A delta) und IV (C), die als Chemo-, Thermo- und Nozizeptoren fungieren. Manche dieser afferenten Neurone werden erst im Rahmen von Entzündungen aktiviert und gern als „schlafende“ Nozizeptoren bezeichnet. Die Hauptaufgabe dieser dünnen Afferenzen ist die Registrierung des inneren Milieus in Muskeln und Gelenken, und bei Störungen der Homöostase die Auslösung entsprechender motorischer, kardio-respiratorischer und metabolischer Reaktionen zu deren Korrektur [11, 12]. Die Zellkörper dieser dünnkalibrigen Afferenzen liegen ebenfalls in den Spinalganglien; im Trigeminusbereich nimmt das Ggl. semilunare GASSERI ihre Zellkörper auf [14]. Nicht zu vergessen ist die afferente Innervation der Kopf- und Hirngefäße sowie der Dura durch Äste des Trigeminus und der zervikalen Spinalnerven [8, 9].
Cbl COCH
CCN
VEST PH ECN
C2 Halsmuskeln Propriozeptoren
Sympathikus
unteres Zervikalund Lumbalmark
Abb. 1.1. Schema der primären und sekundären propriozeptiven Projektionen aus C2. Propriozeptive Afferenzen aus Halsmuskeln treten über die Hinterwurzel C2 ins Rückenmark ein und gelangen einerseits zum Vorderhorn, wo sie homonyme Motoneurone und verschiedene propriospinale Neurone kontaktieren. Andererseits endigen sie im Ncl. cervicalis centralis (CCN), von dem eine gekreuzte Bahn zum Kleinhirn (Cbl) aufsteigt. Kollateralen dieser spinozerebellären Projektion zweigen zu den Vestibulariskernen (VEST) ab. Die ipsilateral im Hinterstrang aufsteigenden propriozeptiven Afferenzen projizieren massiv zum Ncl. cuneatus externus (ECN), der wiederum eine Bahn zum Kleinhirn entsendet. Kollateralen der Primärafferenzen gelangen aber auch direkt zu den Vestibulariskernen, die somit direkte und indirekte (sekundäre) propriozeptive Afferenzen aus den Halsmuskeln erhalten. Die Empfindlichkeit der Propriozeptoren wird neben dem gamma-System auch vom Sympathikus beeinflusst. COCH – Cochleariskerne; PH – Ncl. praepositus hypoglossi. (Modifiziert nach [16]).
] Prä-Motorneurone und Weiterleitung des afferenten Einstroms Die Interneuronpools der lateralen Formatio reticularis und des Rückenmarkvorderhorns stellen den größten Teil der unmittelbaren Prä-Motorneurone dar. In ihnen sind jene detaillierten Bewegungsprogramme repräsentiert, die von deszendierenden Bahnen aus der großzelligen, medialen Formatio reticularis, den Vestibulariskernen, dem Ncl. ruber, den Colliculi superiores der Vierhügelplatte und natürlich der Großhirnrinde getriggert und von Afferenzen aus der Peripherie moduliert werden. Die Propriozeptoren, deren Projektionen ins Zentralnervensystem in Abbildung 1.1 zusammengefasst sind, werden einerseits direkt auf die Motoneurone verschaltet, was die Grundlage für die Eigenreflexe der betreffenden Muskeln darstellt. Andererseits finden sie aber Eingang
in den Interneuronapparat des Rückenmarks und der Formatio reticularis, was di- und polysynaptische Reflexe ermöglicht und über deszendierende und aszendierende Bahnen der Koordination der verschiedenen Muskelgruppen, insbesondere der Extremitäten dient [1, 2]. Von besonderem Interesse sind propriozeptive Projektionen zu „spezifischen“ Kerngebieten. Dazu zählen die Hinterstrangkerne, über die spinale Afferenzen dem Thalamus und weiter der Großhirnrinde zugeführt werden, aber auch der Ncl. cuneatus externus in der Medulla oblongata als Relais von propriozeptiven Afferenzen aus Hals und Arm zum Kleinhirn, und der Ncl. cervicalis centralis des oberen Halsmarks, der Afferenzen aus den Halsmuskeln und der Zungenmuskulatur erhält und ebenfalls zum Kleinhirn projiziert. Dieser Kern leitet Spindelafferenzen aus
1
Propriozeption im kraniozervikalen Übergang und Schleudertrauma
Hals- und Nackenmuskeln vor allem aber auch zu den Vestibulariskernen, wo sie mit Afferenzen aus dem Labyrinth konvergieren und so eine wichtige Grundlage für die Kontrolle von Kopf- und Körperstellung im Raum bilden [16]. Von den propriozeptiven Fasern, die zum Nucleus cuneatus externus ziehen, gelangen Kollateralen nach medial, vor allem zum ipsilateralen deszendierenden und medialen Vestibulariskern. Die anderen Vestibulariskerne, der laterale und der superiore, erhalten kaum direkten Einstrom von zervikalen Propriozeptoren, werden allerdings auf indirektem Weg erreicht, insbesondere über den Nucleus cervicalis centralis und vestibuläre Interneurone. An dieser propriozeptiven Projektion zum Vestibulariskernkomplex, direkt und indirekt, zeigt sich am deutlichsten die Besonderheit der Afferenzen der Segmente C2 und C3, also aus dem kraniozervikalen Übergang, da sie aus kaudaleren Segmenten zunehmend spärlicher wird. Aus lumbosakralen Segmenten gelangen überhaupt keine direkten Primärafferenzen und nur wenige indirekte spinovestibuläre Projektionen zu den Vestibulariskernen. Im Gegensatz dazu projizieren Muskelafferenzen auch kaudaler Zervikal- und rostraler Thorakalsegmente massiv zum Nucleus cuneatus externus und somit zum Kleinhirn. Die Projektion aus C2/3 ins Vestibulariskerngebiet ist nur für Muskelafferenzen nachweisbar und fehlt bei Hautafferenzen. Diese Besonderheit der oberen Halspropriozeptoren könnte eine Rolle bei der Pathogenese des zervikalen Schwindels spielen [16]. Thermo-, chemo- und nozizeptive dünnkalibrige III- und IV-Afferenzen, werden im Hinterhorn des Rückenmarks bzw. im spinalen Trigeminuskern umgeschaltet. Die Trennung von Trigeminuskern und zervikalem Hinterhorn hinsichtlich des trigeminalen bzw. spinalen Einstroms ist keineswegs scharf. Vielmehr beobachtet man die Verzahnung und Überlappung der Endigungsfelder, was als morphologische Basis für die Konvergenz insbesondere von nozizeptiven Afferenzen aus Kopf- und Halsregionen an denselben sekundären Neuronen und das daraus resultierende Phänomen des fortgeleiteten Schmerzes gelten kann [18]. Die Weiterleitung dieser Afferenzen erfolgt aufsteigend über den Thalamus zu verschiedenen Arealen der Großhirnrinde, wo einerseits im Gyrus postcentralis lokalisatorisch-diskriminative Aspekte der Schmerzwahrnehmung verarbeitet werden, andererseits in „limbischen“ Arealen vor allen an der medialen
]
Hemisphärenfläche eine affektive Bewertung des Schmerzgeschehens erfolgt. Nozizeptive Muskelafferenzen sind auch insbesondere in der Lage, langfristige plastische Veränderungen im Rückenmark und Gehirn einzuleiten, die als eine wesentliche Grundlage für Hyperalgesie und Chronifizierung von Schmerzen gelten [12]. Auf lokaler Ebene, segmental im Rückenmark bzw. in der Formation reticularis des Hirnstamms, finden dünnkalibrige Afferenzen Eingang in Reflexverschaltungen, wobei oft ihre besondere Affinität zum gamma-motorischen System betont wird: Nozizeptoren als Aktivatoren der gamma-Motoneurone, was zu gesteigerten Aktivität der Muskelspindelafferenzen und erhöhtem Muskeltonus führen soll. Dabei ist kritisch anzumerken, dass tierexperimentelle Studien sowohl eine Erhöhung als auch Erniedrigung der gamma-Motoneuronaktivität durch Nozizeptoren gezeigt haben [10, 13]. Neuerdings gibt es Hinweise, dass die Empfindlichkeit der Spindelafferenzen auch unter Umgehung das gamma-Systems beeinflusst werden kann, etwa durch eine Stimulation des Sympathikus [5].
] Koordination von Kau- und Halsmuskeln Das Kiefergelenk ist das erste Glied einer kinematischen Kette, die sich nach kaudal über die Kopfgelenke buchstäblich bis zur kleinen Zehe fortsetzt. Somit ist klar, dass Bewegungen im Kiefergelenk mit jenen in den Kopfgelenken fein abgestimmt werden müssen. Ein wichtiger Mechanismus für diese Koordination dürfte die Auslösung gemeinsamer motorischer Programme über deszendierende kortiko-bulbäre bzw. kortiko-spinale Bahnen sein. Doch muss die Abstimmung von Kau- und Halsmuskeln auch auf subkortikaler Ebene gesichert sein. Studien mit neuronalen Markierungsmethoden bei der Ratte konnten zeigen, dass Neurone des mesenzephalen Trigeminuskerns, die propriozeptive Information aus den Kaumuskeln und dem Zahnhalteapparat vermitteln, absteigend zum zervikalen Rückenmark projizieren, zum Teil über eine Umschaltung im spinalen Trigeminuskern (Subnucleus oralis und interpolaris) und in der Formatio reticularis, zum Teil sogar direkt [15]. Eine solche Verbindung wäre für eine Abstimmung von Kau- und Kopfbewegungen prädestiniert. Eine vergleichbare reziproke Verbindung von Propriozeptoren der Nackenmuskeln zum motorischen Trigeminuskern über den spinalen
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W. Neuhuber
Trigeminuskern ist denkbar, obwohl detaillierte anatomische Daten noch fehlen. Eine Störung dieser Koordination wird als Grund für Probleme im Kieferbereich nach Schleudertrauma angenommen. Diese Störung könnte an jeder der beschriebenen Schaltstellen wirksam werden. Diese wechselseitige Abhängigkeit kann auch eine „zervikogene“ Symptomatik mit Kopfschmerzen und Schwindel bei Fehlen eines Schleudertraumas erklären, nämlich als fortgeleiteten Effekt einer kraniomandibulären Dysfunktion [6]. Neben einem gestörten propriozeptiven Einstrom dürfte aber vor allem nozizeptiven Afferenzen eine wichtige Rolle zukommen. Untersuchungen an Probanden und tierexperimentelle Daten konnten zeigen, dass eine Injektion algogener Substanzen wie Bradykinin oder Glutamat in Kaumuskeln oder ins Kiefergelenk zu einer Tonuserhöhung der Nackenmuskulatur führte. Umgekehrt reagierte die Kaumuskulatur mit einer Tonuserhöhung auf Injektion dieser Stoffe in die Nackenmuskulatur. Sowohl Nozizeptoren aus den Kaumuskeln und dem Kieferbereich als auch solche aus den Nackenmuskeln und Halsgelenken projizieren zum spinalen Trigeminuskern, der einen wichtigen Knotenpunkt im Koordinationsnetzwerk von Kau- und Halsmuskeln darstellt. Für nozizeptive Störsignale aus der Peripherie wäre es so ein Leichtes, die Koordination von Kopf- und Kieferbewegungen aus der Balance zu bringen [15].
Zusammenfassung Der oberen Halswirbelsäule kommt aufgrund der enormen Beweglichkeit der Kopfgelenke und der Rolle der Nackenmuskulatur als Sensor der Kopf-zu-Rumpf-Stellung eine besondere Bedeutung zu. Über die Zungenbeinmuskulatur ist darüber hinaus das Kiefergelenk mit den Kopfgelenken zu einer kinematischen Kette verknüpft, zu deren Steuerung ein komplexes neuronales Netzwerk zur Verfügung steht. Zahlreiche neuroanatomische, funktionelle und klinische Befunde untermauern die Vorstellung, dass Störungen an einem der Knotenpunkte dieses Netzwerkes, z. B. als Folge eines Schleudertraumas, Ursachen für die bunte, meist schmerzhafte Symptomatik im Bereich des kraniozervikalen Übergangs oder des Kauapparats darstellen.
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Propriozeption im kraniozervikalen Übergang und Schleudertrauma
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Reflektorische Muskelkontraktion als Verletzungsmechanismus P. Henning
Die traumatisch ausgelöste reflektorische Massenkontraktion eines Muskels oder einer Muskelgruppe kann so heftig sein, dass sie zu strukturellen Läsionen führen kann. Bei einer Vielzahl von Unfallmechanismen hat dieser Vorgang den Wert einer wesentlichen Ursache für Art und Umfang der Verletzung. Nicht nur bei knöchernen Ausrissen und „Muskelfaserrissen“ kann dieser Mechanismus eine Rolle spielen, sondern auch beim „Schleudertrauma“, bei der Rotatorenmanschettenruptur, bei Querfortsatzabrissen von Lendenwirbeln und etlichen weiteren Verletzungen. Auch schon bei geringerer äußerer Gewalteinwirkung führt dieser Mechanismus gegebenenfalls zu segmentalen und/oder peripher-articulären Bewegungsstörungen (Blockierungen), die einen wesentlichen Anteil an den subjektiven, oft lange andauernden Beschwerden haben können. In diesem Beitrag soll der Mechanismus von Verletzungen durch reflektorische Muskelkontraktionen bewusst gemacht und zur Diskussion gestellt werden. Auf die Konsequenzen für die Begutachtung wird hingewiesen. Anlass für diesen Beitrag ist die Diskrepanz zwischen physikalisch-technischen Untersuchungen und Richtlinien bei „Beschleunigungsverletzung“ der HWS durch Heckaufprall und andere Unfallmechanismen einerseits und den Auswirkungen auf die Unfallverletzten andererseits, sowie deren gutachterliche Bewertung. Standardisierte Untersuchungen wurden durchgeführt an Dummies oder Leichen. Die Versuche an lebenden Personen erfolgten unter nicht realistischen Bedingungen. Die Beschaffenheit lebenden Gewebes und dessen Reaktionen auf äußere Gewalteinwirkung konnten dabei nicht in vollem Ausmaß berücksichtigt werden [2, 5]. Aus diesem Grund sind auch die Ergebnisse und die daraus resultierenden Empfehlungen für die Begutachtung nur begrenzt verwertbar. Die durch äußere Gewalteinwirkung aus-
gelöste reflektorische Muskelkontraktion ist ein wesentlicher Faktor im Verletzungsgeschehen, der für das Verständnis der biomechanischen Abläufe und der Auswirkungen auf das lebende Gewebe unverzichtbar ist. Dies gilt nicht nur für die Verletzungen der Halswirbelsäule, sondern auch für die Rotatorenmanschettenruptur, knöcherne Ausrisse wie Abrissfrakturen des Tuberculum majus humeri, der Querfortsätze von Lendenwirbelkörpern, der Spitze des Trochanter major, der Basis des fünften Mittelfußknochens und eine Reihe weiterer Verletzungen.
Verletzungsbegriff In der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) wird Verletzung definiert als die „Folge einer von außen auf den Organismus einwirkenden Gewalt“. Einbezogen werden in der Regel auch Hebelwirkungen wie z. B. das Supinationstrauma des oberen Sprunggelenkes (OSG) oder Distorsionen wie „Zerrungen“ der HWS oder „Verdrehungen“ des Kniegelenkes. Art und Umfang einer Verletzung sind abhängig von externen und internen Einflüssen. Die externen Einflüsse bestehen aus Intensität, Dauer und Richtung der Gewalteinwirkung (Tabelle 2.1). Die internen Einflüsse ergeben sich aus dem Zustand der betroffenen Strukturen (Strukturbeschaffenheit und/oder Funktionszustand) und aus der funktionellen Reaktion auf den äußeren Reiz. Ein weiterer Faktor der internen Einflüsse ist der Ort der Neutralisierung der Gewalteinwirkung. Beispiel: ein Sturz auf die Hand kann zur Folge haben: Bruch des Kahnbeines, des körperfernen Anteiles des Unterarmes (typ. Radiusfraktur), des Speichenköpfchens, des körpernahen
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Tabelle 2.1. Faktoren des Verletzungsmechanismus ] Externe Faktoren – Intensität der Gewalteinwirkung – Dauer der Gewalteinwirkung – Richtung der Gewalteinwirkung ] Interne Faktoren – Zustand der betroffenen Strukturen (Strukturbeschaffenheit, Funktionszustand) – Funktionelle Reaktion auf äußeren Reiz (Muskelkontraktion) – Ort der Neutralisierung der Gewalteinwirkung (lokal und/oder fortgeleitet)
Anteils des Oberarmes (subcapitale Humerusfraktur, Oberarmkopffraktur) oder des Schlüsselbeines (Tabelle 2.1). Eine Gewalteinwirkung kann direkt oder indirekt sein: ] Direkte Gewalteinwirkung führt ggf. zu Prellmarken, Hämatomen, Hautverletzungen, Weichteilquetschungen, Knochenbrüchen etc. ] Indirekte Gewalteinwirkung führt ggf. über Knochen/Gelenk- und Weichteilbrücken zu entfernter liegenden Strukturläsionen. Beispiel: Zentrale Hüftgelenkluxationsfraktur bei Knieanpralltrauma. Eine Sonderform der indirekten Gewalteinwirkung, bzw. deren Auswirkung ist die reflektorische Kontraktion von Muskeln. Beispiel: durch reflektorische Kontraktion von Muskeln hervorgerufene ] teilweise oder vollständige Selbstzerreißung eines Muskels (Quadriceps) oder seiner Sehne (Achillessehne, lange Bizepssehne), ] Ablösung seiner Insertion (Biceps brachii, distal), ] insertionsnahe Ruptur (Supraspinatus) oder ] knöcherner Ausriss seiner Insertion (Basis Metatarsale 5., Tub. maj. hum.) Diese reflektorische, also durch äußere Gewalteinwirkung hervorgerufene Eigenkontraktion der Muskulatur als Verletzungsmechanismus findet bisher wenig Beachtung. Die – wie bei Prüfung der Eigenreflexe mit dem Reflexhammer ausgelöste, nur viel massivere – Kontraktion des Muskels erfolgt dabei gegen Widerstand. D. h. der sich reflektorisch massiv kontrahierende Muskel kann wegen des Trägheitsmomentes
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oder einer mechanischen Behinderung des Erfolgsorganes nicht seine ihm physiologisch zugedachte Bewegung durchführen. Die Aktivierung der Antagonisten unterbleibt, die Kontraktion verläuft ungebremst!
HWS-Distorsion bei Heckaufprall Die aufprallbedingte Beschleunigung des Rumpfes nach vorn bei massenträgheitsbedingtem Zurückbleiben des Kopfes führt zu einem Dehnungsreiz der ventralen Halsmuskeln. Es kommt zu einer reflektorischen, ungebremsten Kontraktion. Sie erfolgt gegen Widerstand, weil sich der Kopf noch in Reklinationsbewegung befindet [3]. Die Intensität dieser Kontraktion ist nicht unbedingt abhängig von der Masse oder Geschwindigkeit des auffahrenden Fahrzeuges, sondern eher von der Stellung des Kopfes während des Aufpralles und vom Überraschungseffekt. Befindet sich der Kopf nicht in Neutralstellung, so sind bestimmte Muskeln und Bänder in Vorspannung, bzw. in Dehnstellung. Die Kontraktion gegen Widerstand kann zu unterschiedlich starken intramuskulären Läsionen führen und bei unphysiologischen, weil ungeschützten Bewegungsabläufen auch ligamentäre Läsionen verursachen. Dabei spielt der M. sternocleidomastoideus eine besondere Rolle: er inkliniert die HWS, wenn der Insertionspunkt am Mastoid/Occiput vor der Körperachse steht; er rekliniert, wenn der Insertionspunkt hinter der Achse steht. Im ersten Fall verhält er sich wie die anderen ventralen Halsmuskeln, im zweiten verstärkt er die Reklinationsbewegung und zieht den Hinterkopf nach ventral in Verbindung mit einer heftigen Rücknickbewegung in den Kopfgelenken und einer kräftigen Hyperlordosierung der HWS, verbunden mit extremer Belastung der Bandscheiben im unteren HWSBereich. Eine besondere Rolle spielen die Mm. rectus capitis anterior und lateralis. Ihre Ausstattung mit einer sehr großen Zahl an Nervenrezeptoren und ihre Verschaltung mit intracraniellen Strukturen machen ihren großen Einfluss auf die neuromuskuläre Fehlsteuerung bei diesem Verletzungsmechanismus plausibel. Weitere wichtige Muskeln sind die Mm. longus colli und longus capitis sowie die Scalenusgruppe, die zur
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Funktionsumkehr tendiert [3]. Die Beteiligung der hyoidalen Muskeln erklären die häufig geklagten Schluckbeschwerden. Auch die Bedeutung des Platysma und der Halsfaszien sollte nicht unterschätzt werden. Saternus [4] beschreibt Selbstzerreißung bzw. Insertionsablösungen des M. sternocleidomastoideus bei tödlich verlaufenen Unfällen. Außerdem berichtet er von muskelkontraktionsbedingten ringförmigen knöchernen Ausrissen des Randes des Foramen magnum. Selbstverständlich gelten die Gedanken zu dem Verletzungsmechanismus nicht nur für Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule bei Heckaufprall, sondern auch bei allen anderen Zerrungen und Stauchungen der Halswirbelsäule, sowie Schädel-Anpralltraumen. Die Folgen der HWS-Distorsion sind also nicht so sehr geprägt von der passiven Zerrung der Halsmuskeln, sondern eher durch die reflektorische Massenkontraktion gegen Widerstand. Diese Vorgänge können logischerweise bei Untersuchungen mit Dummies oder Leichen keine Berücksichtigung finden.
„Blockierungen“ Die sehr häufigen leichteren Gewalteinwirkungen auf den Körper von außen führen nicht zu einer Strukturzerstörung, in vielen Fällen entstehen dabei aber Funktionsstörungen. Wie eingangs angeführt, wird die einwirkende Energie über die Struktur-Barrieren (Haut, UnterhautFettgewebe, Knochen, Gelenke, Bänder, Sehnen und Muskeln) fortgeleitet und in Form einer Dehnung von Kapsel/Bandstrukturen, vor allem aber von Muskeln neutralisiert, die ihrerseits mit einer reflektorischen Kontraktion reagieren. Wenn es z. B. beim Sturz auf die Hand nicht zu einem Knochenbruch oder zu einer Zerreißung von Bändern oder Muskeln kommt, wird die Energie fortgeleitet bis in die Muskeln, die das Schulterblatt am Rumpf stabilisieren und den Schultergürtelkomplex bilden. Kontrahiert sich also z. B. einer der Sägemuskeln (Serratus ant., Serratus post. sup. und inf.), so wird ein Muskelzug einerseits auf das Schulterblatt, andererseits auf die Rippen ausgeübt. Kontrahiert sich der Schulterblattheber (Levator scapulae), so erfolgt der Zug am oberen Schulterblattwinkel und an Halswirbeln.
Eine kräftige und ruckartige Kontraktion kann eine unphysiologische Bewegung einer Rippe oder eines Wirbels bewirken und zu einer Irritation von Nervenrezeptoren des Kapsel/ Bandapparates eines Wirbel- oder eines RippenWirbelgelenkes und damit zu einer segmentalen oder artikulären Bewegungs- und Funktionsstörung (sog. Blockierung) führen. Dies gilt besonders auch für den kraniozervikalen Übergang; dort sind Blockierungen häufig gekoppelt mit mehr oder weniger stark ausgeprägten vegetativen Erscheinungen (Übelkeit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen etc.), Kopfschmerzen und auch Tinnitus. Reflektorische Folge- und Begleitverspannungen anderer Muskelgruppen können im Sinne des Circulus vitiosus das gesamte Bewegungssystem, einschließlich Zwerchfell in den Dysfunktionskomplex einbeziehen. Das Zwerchfell hat in diesem Komplexgeschehen eine herausragende Bedeutung. Es ist in der Lage, emotionale Affektionen wie Schreck, Angst, Trauer, belastende Erlebnisse wie z. B. Unfälle, auch „Beinaheunfälle“ (z. B. Vollbremsung ohne Kollision) etc. in Form von Verspannungen zu speichern. Die Dysfunktion des Zwerchfells hat aber eine Funktionsstörung der gesamten Atemmuskulatur zur Folge, dazu gehört eben auch besonders die ventrale Halsmuskulatur. Im eigenen Patientengut wurden etliche Fälle beobachtet, in denen nach entsprechenden Ereignissen massive Verspannungszustände des gesamten Bewegungssystemes auftraten, die durch Lösen der Zwerchfellverspannung zu beheben waren. Hier sind möglicherweise auch die Ergebnisse der Placebo-Nullversuche von Castro und Becke einzuordnen [1]. So sind die häufig nach einer Gewalteinwirkung nachweisbaren Blockierungen und muskulären Dysbalancen auch ohne objektivierbare strukturelle Veränderungen als Unfallfolge anzusehen.
Schlussbemerkung Starkstromverletzungen und Begleiterscheinungen bei epileptischen Anfällen [6] mit Muskelzerreißungen, Luxationen und Knochenbrüchen vermitteln eine Vorstellung davon, welche Kräfte bei passiv induzierten, physiologisch unkontrol-
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lierten Muskelmassenkontraktionen auftreten können. Die traumatisch induzierte, reflektorische, massive Muskelkontraktion erfolgt in der Regel ohne Aktivierung des gesamten MuskelNerven-Funktionskomplexes (Agonisten/Antagonistensystem). Das bedeutet, dass die üblicherweise vor der geplanten Bewegung des Agonisten aktivierte Bremsfunktion des Antagonisten ausbleibt. Die selbst bei kräftigsten willkürlichen Bewegungsabläufen durch nervale Impulse gesteuerte Koordination des arthro-neuro-myofascialen Funktionskomplexes wird überrascht und zumindest teilweise außer Kraft gesetzt. So kann die traumatisch induzierte, reflektorische Kontraktion eines Muskels oder einer Muskelgruppe ungehemmt und ungebremst ablaufen und zu den genannten Verletzungen führen. Die Aufzählung hier genannter Verletzungen kann nicht vollständig sein. Letztlich kann fast jeder Muskel unter bestimmten Bedingungen betroffen sein. Da reflektorische, unphysiologische Muskelkontraktionen und ihre Folgen „durch von außen auf den Körper einwirkende Gewalt“ ausgelöst werden, stellen sie Verletzungen im Sinne der GUV dar. Dies sollte auch bei Begutachtungen von Zusammenhangsfragen entsprechend berücksichtigt werden.
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Neurobiologie der Schmerzchronifizierung nach HWS-Distorsionstrauma M. Curatolo
Einleitung Der Grund warum Distorsionstraumata der Halswirbelsäule (HWS) zu chronischen Schmerzen führen, bleibt bei vielen Patienten ein Rätsel. Besonders verwirrend ist die Tatsache, dass oft keine oder geringe objektive Anhaltspunkte gefunden werden, die das Ausmaß der Beschwerden und Behinderungen erklären können. Ein möglicher Grund der Diskrepanz zwischen Feststellung von peripheren Verletzungen und Beschwerden kann darin liegen, dass die heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Mittel ungenügend sind, um periphere Verletzungen auszuschließen. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Facettengelenksverletzungen bei Obduktionen an Unfallopfern nicht mit Computertomographie (CT) festgestellt werden [19]. Zahlreiche tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass periphere Verletzungen zu tiefen Veränderungen der zentralen Verarbeitung der sensorischen Signale führen. Unter anderem werden Neuronen auf folgende Reize überempfindlich, die Schmerzareale verbreiten sich aufgrund der Ausbreitung dieser Sensibilisierung auf andere neuronale Gebiete, und inhibitonische Neuronen sterben ab [18]. Diese Daten – zusammen mit der obenerwähnten Tatsache, dass häufig periphere Verletzungen nicht nachgewiesen werden können – haben zu neuen Hypothesen bezüglich Entstehung der chronischen Schmerzen nach peripheren Traumata geführt. Es ist nämlich denkbar, dass initiale Gewebeschäden zu einer Sensibilisierung des zentralen Nervensystems führen, so dass gering-gradige nozizeptive Impulse aus minimal verletztem Gewebe zu übertriebenen Schmerzreaktionen führen würden. Ziel dieses Kapitels ist, anhand der zur Verfügung stehenden Daten die mögliche Beteiligung
von neurobiologischen Mechanismen in der Chronifizierung der Schmerzen nach einem HWS-Distorsionstrauma zu erläutern.
Mechanismen der zentralen Plastizität ] Spinale Mechanismen Es ist schon lange bekannt, dass die Sensibilisierung der spinalen Neuronen nach peripheren Verletzungen durch Aktivierung der NMDA-Rezeptoren erfolgt [4]. Verbunden mit der Aktivierung der NMDA-Rezeptoren, ist die Exprimierung der COX-2-Enzymen im Rückenmark [10]. Von großer Bedeutung ist der Befund, dass die Exprimierung der COX-2 nicht auf die Rückenmarks-Neuronen – die mit dem geschädigten Gebiet verbunden sind – beschränkt ist, sondern im ganzen Rückenmark erfolgt [10]. Verantwortlich für die Ausbreitung der zentralen Sensibilisierung im ganzen Rückenmark ist die Ausschüttung von Cytokinen aus dem geschädigten Gewebe, welche dann durch die systemische Zirkulation das ganze zentrale Nervensystem erreichen. Dieser Befund ist insofern sehr wichtig, indem er eine neurobiologische Basis für eine generalisierte Überempfindlichkeit des zentralen Nervensystems nach regionalen Gewebeschädigungen erklärt. Als rezeptive Felder bezeichnet man die peripheren Areale, die nach entsprechender Reizung einen spinalen Neuron aktivieren. Die rezeptiven Felder der Rückenmarks-Neurone verbreiten sich nach peripheren Gewebeschädigungen [9]. Als Folge darauf kann eine periphere Reizung eine höhere Anzahl von Rückenmarks-Neuronen aktivieren. Somit kann Hyperalgesie durch Reizung von peripherem Gewebe hervorgerufen werden, die sich um den Ort der Verletzung befinden und selber nicht geschädigt sind (sekun-
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däre Hyperalgesie). Vor Kurzem wurde eine Methode zur Untersuchung der rezeptiven Felder mittels Reflexe bei Menschen entwickelt [1]. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, dieses wichtige pathophysiologische Phänomen bei Menschen zu untersuchen. In den letzten Jahren hat die Bedeutung der Glialzellen für die Pathophysiologie der zentralen Sensibilisierung deutlich zugenommen. Diese Zellen werden bei peripheren Verletzungen aktiviert und haben eine bedeutende Rolle in der Etablierung und Aufrechterhaltung der neuronalen Überempfindlichkeit [17]. Noch tiefere strukturelle Veränderungen des zentralen Nervensystems auf Rückenmarksebene wurden dokumentiert, vor allem nach Nervenschädigungen. Unter anderem gewinnt der Untergang von inhibitorischen Neuronen an Bedeutung, so dass Neuropathien zunehmend als degenerative Krankheit des zentralen Nervensystems angesehen werden [11]. Eine Überregulation der Untereinheiten a2–d der Kalziumkanäle beim Hinterwurzelganglion und im Rückenmark wurde als Folge von Nervenverletzungen festgestellt [8]. Diese Überregulierung verursacht eine zentrale Sensibilisierung [8]. Antagonisten dieser Kanäle wirken jedoch nicht nur bei Neuropathien, sondern auch bei postoperativen Schmerzen [16], so dass möglicherweise dieser Mechanismus auch bei anderen Arten von Schmerzen von Bedeutung ist.
] Supraspinale Mechanismen Die Grundlageforschung auf Gehirnebene ist deutlich weniger entwickelt als die Forschung auf Rückenmarksebene. Vor allem wurden die Bemühungen bisher auf die Bedeutung der absteigenden Hemmung konzentriert. Wir wissen, dass opioidergische, serotoninergische und noradrenergische Mechanismen für die absteigende Kontrolle auf den Eintritt und Verarbeitung der nozizeptiven Signale auf Rückenmarksebene verantwortlich sind [20]. Vermutlich ist aber die klinische Bedeutung der absteigenden Verstärkung der Schmerzsignale bei Patienten mit chronischen Schmerzen sehr hoch. Die Einflüsse von psychosozialen Faktoren auf die Schmerzverarbeitung sind schon lange bekannt. Nun fehlen die neurobiologischen Korrelate zum großen Teil für den
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Link zwischen psychosozialen Störungen und Nozizeption. In den letzten Jahren wurden Daten über die Rolle der 5-HT3-Rezeptoren in diesem Zusammenhang veröffentlicht. Die Aktivierung dieser Rezeptoren erfolgt primär durch eine periphere, lokalisierte Entzündung, die Signale durch aufsteigende Bahnen vom Rückenmark ins Gehirn und vom Gehirn diffus im ganzen Rückenmark sendet. Dieser Kreis aktiviert letztendlich die 5-HT3-Rezeptoren im ganzen Rückenmark, was zu einer Überempfindlichkeit dieser Neuronen zur Folge hat [15]. Interessanterweise sind die Gehirnareale, welche in diesem Kreis involviert sind, die gleichen Areale, die für emotionale Antworten auf das Schmerzsignal verantwortlich sind. Somit wurde zumindest auf tierexperimenteller Basis ein Link zwischen somatischen und psychologischen Aspekten der Schmerzverarbeitung erstellt.
Klinische Aspekte ] Zentrale Sensibilisierung bei HWS-Distorsionstrauma Es gibt einheitliche Evidenz, dass Patienten mit chronischen Schmerzen nach HWS-Distorsionstrauma eine tiefere Schmerzschwelle als gesunde Probanden aufweisen [3, 5, 6, 12]. Diese Schwellen wurden nach Applikation eines Schmerzreizes an gesundem Gewebe gemessen. Deswegen geht man davon aus, dass die erniedrigte Schmerzschwelle nicht auf peripheren Mechanismen, sondern auf eine gestörte zentrale Verarbeitung der nozizeptiven Impulse zurückzuführen ist. Die meisten Untersuchungen, welche die zentrale Sensibilisierung bei Patienten analysiert haben, verließen sich auf subjektive Schmerzschwellen. Das heißt, der Patient hat angegeben, bei welcher Schmerzreizstärke der Reiz als schmerzhaft empfunden wird. Eine Untersuchung hat jedoch mittels Reflexschwellen die Hypothese getestet, ob Patienten mit chronischen Schmerzen nach HWS-Distrosionstrauma eine spinale Übererregbarkeit aufweisen [2]. Die Studie war positiv, das heißt die Patienten haben eine niedrigere Reflexschwelle als gesunde Probanden gezeigt, was einen objektiven Beweis für eine zentrale Sensibilisierung darstellt.
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] Klinische Bedeutung Die oben erwähnten Studien können nur ein Phänomen beobachten, geben allerdings keine Hinweise über die Ursache. Da keine Messungen vor dem Trauma vorliegen, ist es unmöglich zu sagen, ob die erniedrigte Schmerzschwelle schon bestehend war oder sie eine Folge des Unfalls ist. Im ersten Fall würde die zentrale Sensibilisierung möglicherweise ein prädisponierender Faktor für die Entwicklung chronischer Schmerzen darstellen. Wenn die zentrale Sensibilisierung eine Folge des Unfalls ist, stellt sich die Frage, durch welche Mechanismen dieses Phänomen hervorgerufen wird. Die Tierforschung zeigt uns einstimmig, dass periphere Verletzungen eine zentrale Sensibilisierung zur Folge haben. Ferner können die daraus resultierenden psychologischen Störungen eine wichtige Rolle für die Modulierung der Schmerzsignale im zentralen Nervensystem darstellen. Ein mögliches Modell ist die Induzierung von initialen Gewebeschädigungen durch das Trauma, die eine Sensibilisierung des zentralen Nervensystems verursachen und zu einer entsprechenden Ausbreitung der Hyperalgesie auf Nebengebiete, oder sogar diffus im ganzen zentralen Nervensystem, führen. Es gibt keine Evidenz, dass die Veränderungen des zentralen Nervensystems alleine – ohne periphere Verletzungen – die Beschwerden verursachen können. Die fehlende Feststellung von peripheren Verletzungen ist per se kein Beweis dafür, dass tatsächlich keine Verletzungen vorliegen. Die Limiten der heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Mittel erlaubt uns keinen sicheren Ausschluss einer peripheren Verletzung. Es ist denkbar, dass gering-gradige nozizeptive Impulse aus nicht geheilten peripheren Verletzungen bei prädisponierten Patienten mit zentraler Sensibilisierung und möglicherweise psychologische Verarbeitungsstörungen zu einem hohen Ausmaß der Beschwerden führen. Von großer Bedeutung ist der Befund, dass die zentrale Sensibilisierung ein prognostischer Wert in Bezug auf eine Chronifizierung besitzen könnte. In der Tat scheint eine generalisierte Hyperalgesie einen Monat nach dem Trauma, das Vorhandensein von Schmerzen sechs Monate nach dem Trauma vorauszusagen [13]. Zusätzlich scheint ein initialer hoher Behin-
derungsgrad, Alter und psychologischer Stress mit einer schlechten Prognose verbunden zu sein [14]. Diese Korrelationsanalysen können keine sicheren Zusammenhänge zwischen zentraler Sensibilisierung und Chronifizierung herstellen. Nichtsdestotrotz könnten aufgrund der entsprechenden Messungen der zentralen Sensibilisierung Patienten frühzeitig erkannt werden, die ein hohes Risiko für eine Chronifizierung aufweisen und sich deshalb für eine intensive Therapie zur Prävention qualifizieren. Wenn die zentrale Sensibilisierung eine Rolle bei den Beschwerden dieser Patienten spielt, stellt sich die Frage nach möglichen therapeutischen Strategien. Eine Dämpfung oder Blockierung der nozizeptiven Impulse aus der Peripherie würde die daraus folgende zentrale Sensibilisierung dämpfen oder verhindern. Dies kann mit nicht steroidale Antiflogistika erreicht werden. Exzellente Resultate wurden mit der Thermokoagulation der Nebenversorgung der Facettengelenke dokumentiert. Diese Therapie ist durch eine hochqualitative, randomisierte, kontrollierte Studie belegt [7] und zeigt, dass eine vollkommene Blockierung der Leitung der Schmerzsignale wahrscheinlich die zentrale Sensibilisierung völlig verhindert oder unbedeutend macht. Leider bestehen keine weiteren Behandlungsmethoden, um die Schmerzsignale aus der Peripherie bei Patienten mit HWS-Distorsionstrauma dauerhaft und total zu blockieren. Verschiedene Medikamente wirken auf Rückenmarksebene und bewirken eine Hemmung der zentralen Sensibilisierung. Unter anderem sind dies nicht steroidale Antiflogistika (wirken auch im zentralen Nervensystem), NMDA-Antagonisten, Antikonvulsiva wie Gabapentin oder Pregabalin, und Opioide. Die supraspinale Modulation kann günstig durch Opioide, Antidepressiva und 5-HT3-Antagonisten beeinflusst werden. Psychologische Verfahren haben möglicherweise ihren Wirkungsort auch auf der Ebene der absteigenden Modulation. Die oben erwähnten therapeutischen Möglichkeiten sind meistens bei Patienten mit chronischen HWS-Beschwerden nach Traumata nicht wissenschaftlich gründlich untersucht. Trotz fehlender Daten sollte vor allem im Frühstadium eine adäquate Schmerzbehandlung zur möglichen Blockierung oder Dämpfung der Entwicklung der zentralen Sensibilisierung eingesetzt werden.
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Neurobiologie der Schmerzchronifizierung nach HWS-Distorsionstrauma
Schlussfolgerungen Die Evidenz ist sich einig, dass Patienten mit chronischen Schmerzen nach HWS-Distorsionstraumata eine Sensibilisierung des zentralen Nervensystems aufweisen. Dieses Phänomen hat sehr wahrscheinlich eine große Bedeutung, indem es die Signale aus der Peripherie amplifiziert und somit das Ausmaß der Beschwerden deutlich erhöht. Die zentrale Sensibilisierung im Frühstadium ist mit einem schlechten Outcome, im Sinne einer begünstigten Chronifizierung, verbunden. Therapeutische Möglichkeiten zur Dämpfung dieses Phänomens bestehen, sind jedoch wenig untersucht. Trotz fehlender Evidenz empfiehlt es sich, eine frühzeitige adäquate Behandlung der zentralen Sensibilisierung zur möglichen Prävention einer Chronifizierung einzusetzen.
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Zentralnervöse Störungen nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma K. Orth, M. Peiper, E. Bölke, M. van Griensven, K. Takagi
Abkürzungen HWS: ZNS: CSF: DPE:
Halswirbelsäule Zentrales Nervensystem zerebrospinale Flüssigkeit Diffuses pachymeningeales enhancement = diffuse Anreicherung der harten Hirnhäute Gd-MRI: Gadolinium unterstützte Kernspintomographie ICP: Intrakranieller Druck RI: Radioisotop Protraktion: Hin-/Vorzug Retraktion: Rück-Zusammenzug Translation: Verlagerung
sich nuklearmedizinisch häufig im lumbosakralen oder unteren thorakalen Bereich. Studien haben hier die Effektivität einer epiduralen „Blut-Patch“-Behandlung bewiesen, wobei diese chronische Kopfschmerzen meist lindert, jedoch nicht von allen neurologischen Symptomen befreit. Kopf- und HWS-Beschleunigungsverletzungen verursachen wahrscheinlich Abnormitäten in der Zirkulation der CSF, aber auch Nervenzellmembran-Dysfunktionen in den Spinalganglien. Diese Störungen können zu langanhaltenden unterschiedlichen neurologischen Symptome ohne makroskopisch sichtbaren Schaden des ZNS führen.
Das kraniozerebrale Beschleunigungstrauma und dessen neurologische Folgeschäden Einleitung Treffen bei einem Verkehrsunfall zwei unterschiedliche Geschwindigkeitsmassen aufeinander, kommt es bei den beteiligten Personen u. U. zu einer impulsartigen mechanischen Belastung der Halswirbelsäule (HWS), deren Verletzungsfolgen allgemein mit Distorsions-, Schleuderoder Beschleunigungstrauma bezeichnet werden. Abgesehen von mechanischen Verletzungen der HWS können spontane oder zeitversetzte zentralnervöse Störungen wie Bewusstlosigkeit, Sehstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Lähmungen, u. a. ohne makroskopisch erkennbares Verletzungsmuster auftreten. Hämodynamische Störungen, Änderungen des Spinalkanalvolumens und plötzliche Druckveränderungen im ZNS verursachen Nervenzellmembranschäden in den Spinalganglien, aber auch in der Hirn- bzw. Spinalhaut mit Verlust von zerebrospinaler Flüssigkeit (CSF). Der Verlust von CSF zeigt
Bei einem Auffahrunfall wird das getroffene Fahrzeug samt Insassen plötzlichen nach vorne beschleunigt. Aufgrund seiner Massenträgheit bleibt der Kopf zurück, während der Torso nach vorne beschleunigt wird. Der Hals wird im Sinne einer Retraktionsbewegung plötzlich überstreckt, geht dann in eine Extensionsbewegung über und endet in einer gebeugten Nackenhaltung (Abb. 4.1). Beim Frontalzusammenstoß treten ähnliche Trägheitsbelastungen wie beim Auffahrunfall auf. In der Initialphase erfährt der Hals eine horizontale Translationsverschiebung gegenüber dem Torso mit reaktiver Protraktionsbewegung, welche später in eine Flexionsbewegung übergeht (Abb. 4.2). Der Hals wird erheblichen mechanischen Belastungen ausgesetzt, nachdem der physiologische Protraktions- und Retraktionsbereich überschritten wird [15]. Diese Kopf-/Halsbewegungen wurden von Ono und Kanno „whiplash motion“ (i.e. Peitschenschlag) genannt [10]. Im deutschen
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Zentralnervöse Störungen nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma
Phase 1
Phase 2
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b
Abb. 4.1 a–c. Vereinfachte Darstellung einer Kopf-/Hals Beschleunigungsbewegung bei einem Auffahrunfall. Die initiale
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Retraktionsbewegung geht in eine Extensionsbewegung über. (Aus [16], mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags).
Phase 1 a
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Phase 2 b
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Abb. 4.2 a–c. Vereinfachte Darstellung einer Kopf-/Hals Beschleunigungsbewegung bei einem Frontalzusammenstoß. Die initiale Protraktionsbewegung geht in eine Flexionsbewe-
gung über. (Aus [16], mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags).
Sprachgebrauch wird dies meist als Schleuderbewegung bezeichnet, wobei der englische Begriff „Peitschenhieb“ die impulsartige Bewegung besser wiedergibt. Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule nach Frontal-, Seiten- oder Rückenstoß haben große Ähnlichkeiten und können vielfältig sein [17]. Abgesehen von mechanischen Verletzungen von Knochen, Sehnen, Nerven und Muskeln werden häufig zentralnervöse Beschwerden wie Bewusstlosigkeit, Sehstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Lähmungen, Einschränkungen der Merkfähigkeit, Konzentrationsprobleme, lumbale Rückenbeschwerden u. a. ohne makroskopisch erkennbares Verletzungsmuster beschrieben [7, 12, 15]. Aldman stellte die Hypothese auf, dass Nervenwurzelverletzungen aufgrund von schnellen Druckänderungen während der kurzzeitigen Extensions- und Flexionsbewegungen der HWS verursacht werden [1]. Ursache ist die anatomische Struktur des Spinalkanals, welcher sich bei Flexion vergrößert und bei Extension verkürzt. Bei der Extension des Halses verrin-
gert sich zudem die Querschnittsfläche des Spinalkanals durch das Vorwölben der Ligg. flava in den Kanal [3]. Hieraus resultiert eine Volumenreduktion bei der Halsextension und eine Volumenzunahme bei Halsflexion. Die Gewebe und Flüssigkeiten im Spinalkanal sind jedoch kaum kompressibel. Um eine Volumenänderung während einer normalen Flexions-Extensionsbewegung ausgleichen zu können, muss ein Flüssigkeitstransport von und zum Spinalkanal stattfinden können. Bei den Flüssigkeiten handelt es sich sowohl um Blut im Venenplexus des Epiduralraums als auch um die zerebrospinale Flüssigkeit (CSF). Im Vergleich zum Blutfluss macht ein relativ hoher Strömungswiderstand im Subarachnoidalraum den CSF-Fluss zur Volumenkompensation relativ unbedeutend [15]. Die Plexus venosi vertebralis externi et interni, welche beide über Brücken durch die Foramen der Zwischenwirbel verbunden sind, haben eine größere Kapazität als die lokalversorgende Arterie für dieses Gebiet. Diese Venenplexus besitzen keine Klappen, so dass eine beliebige Kommunikation innerhalb und zwischen dem inne-
19
20
]
K. Orth et al.
CM D C
D
Th D
LS D a
b
Abb. 4.3 a, b. a Vereinfachtes Modell der Arachnoidalmembran ohne ZNS mit zentraler Cysterna magna (CM) und dem röhrenförmigen spinalen subarachnoidalen Raum, welcher die CSF enthält. Schematisch dargestellt sind die spinalen Hirnhauttaschen auf cervicaler (C), thorakaler (Th) und lumbosakraler (LS) Ebene, welche mit dem subarachnoidalen Raum in Verbindung stehen. Nur die lumbo-sakralen Nervenwurzeln verlaufen schräg zum Rückenmark. b Beim zerebro-spinalen Schleudertrauma wird durch eine plötzliche Flüssigkeitsverschiebung eine Art Wasserhammereffekt ausgelöst. Diese Druckwelle setzt sich fußwärts in den Spinalkanal fort. Durch die vorgegebene Fließrichtung im Spinalkanal werden die cervicalen und thorakalen Arachnoidaltaschen weniger belastet als das Spinalkanalende und die schräg verlaufenden lumbo-sakralen Wurzeltaschen. (Aus [17], mit freundlicher Genehmigung des Holzapfel-Verlags).
ren und äußeren Plexus stattfinden kann. Auf diese Art kann die Blutbewegung die inneren Volumenänderungen des Spinalkanals während der Flexion und Extension kompensieren [15]. Die spinalen Nervenwurzeln ziehen beim Verlassen des Rückenmarks zunächst durch die Cavitas subarachnoidalis und werden von CSF umspült. Aus dem Duralsack treten die Nervenwurzeln in eine trichterförmige Ausstülpung der harten Rückenmarkshaut ein, welche eine Scheide um den nachfolgenden Wurzelabschnitt bildet. Diese stehen im Bereich der HWS und des Thorax senkrecht zum Rückenmark, während sie im Lumbalbereich schräg nach caudal verlaufen. Abbildung 4.3 a zeigt ein vereinfachtes Modell der Arachnoidalmembran mit den typischen thorakalen und lumbalen „Wurzeltaschen“. Bei diesem Modell wurde das ZNS ausgespart, um die CSF bei einer HWS-Beschleunigungsverletzung besser darstellen zu können.
Bei schnellen Extensions-Flexionsbewegungen können Druckgradienten sowohl entlang des Spinalkanals als auch quer über die Foramen der Zwischenwirbel auftreten. Durch den Strömungswiderstand und die beschleunigende Wirkung auf die Flüssigkeitsmasse können die oben erwähnten Druckgradienten Verletzungen des exponierten Gewebes hervorrufen. Tierexperimentelle Studien belegen das allgemeine Bild des Druckimpulses im Spinalkanal während eines Beschleunigungstraumas. Hierbei korreliert die Kürze der Pulsdauer und sein Ausmaß mit der HWS-Beschleunigung [15]. Die maximale Winkelverlagerung des Kopfes findet in einem frühen Stadium statt und wird erwartungsgemäß bei hoher Beschleunigung größer. Vor diesem Stadium erfährt der Kopf hauptsächlich eine Translationsbewegung (Abb. 4.1, 4.2). Eine plötzliche HWS-Beschleunigung kann eine Kontusion der Frontal- und Temporallappen verursachen [13]. Bei einer Peitschenschlagbewegung der Halswirbelsäule wird das Gehirn sehr schnell hin und her bewegt, so dass die Frontal- und Temporallappen am Schädel mit hoher Geschwindigkeit anschlagen, wodurch eine zerebrale Kontusion verursacht wird. Wenn der Kopf aufgrund einer Heckkollision retrahiert, wird das Kleinhirn aufgrund der Trägheit mit hoher Beschleunigung nach hinten bewegt und verschiebt die CSF in der Cisterna magna. Diese beinhaltet einen großen Vorrat an CSF, welche direkt mit dem spinalen Subarachnoidalraum korrespondiert (Abb. 4.4). Ein weiterer Effekt besteht in dem venösen Blutpool entlang des Spinalkanals, welcher gleichfalls eine signifikante Rolle beim Aufbau eines Druckgradienten zu spielen scheint [2]. In tierexperimentellen HWS-Beschleunigungsversuchen wurde eine Art „Wasserhammereffekt“ im Spinalkanal nachgewiesen. Beim Extensionstrauma konnte zunächst eine deutliche Drucksenkung mit anschließendem Druckanstieg im Spinalkanal nachgewiesen werden. Die Charakteristik des Druckimpulses im Spinalkanal war bei allen HWS-Beschleunigungen gleich. Sie variierte lediglich im Ausmaß und Kürze des Impulses, wobei diese direkt mit der Stärke des Beschleunigungstraumas korrelierte. Flexionstraumata zeigten nur negative Druckimpulse, welche jedoch in der Heftigkeit den positiven Druckwellen gleichzusetzen war [16]. Obwohl das Beschleunigungstrauma sich im Kopf-/HWS-Bereich abspielt, kommt es häufig zum Verlust der CSF im lumbosakralen Bereich
4
Zentralnervöse Störungen nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma
a
]
b
Abb. 4.5 a, b. Typische CSF-Leckage bei der RadioisotopenMyelocisternographie. (Aus [17], mit freundlicher Genehmigung des Holzapfel-Verlags). a Früher Nachweis der Radioaktivität in der Harnblase 2 Stunden nach einer intrathecalen Injektion von Indium 111. b Zeichen von CSF-Verlust 4 Stunden nach intrathecaler RI-Injektion. Christbaum ähnliches Phänomen mit Schwerpunkt im lumbo-sakralen Bereich. Abb. 4.4. Ein „T2“ gewichteter senkrechter Schnitt durch das ZNS zeigt die große Menge an CSF in der Cisterna magna (Pfeil), welche direkt mit dem spinalen Subarachnoidalraum in Verbindung steht. (Aus [17], mit freundlicher Genehmigung des Holzapfel-Verlags).
[9, 14]. Mit dem Austreten von CSF aus dem Spinalkanal resultiert ein intrakranieller Unterdruck, welcher klinisch mit primären oder sekundären zentralnervösen Symptomen einhergehen kann [8, 14]. Die Ursache liegt vermutlich in der anatomischen Struktur des Spinalkanals. Da die Arachnoidalmembran elastisch ist, setzt sich eine zerebrospinale Druckwelle von der Cysterna magna nach außen und nach unten in den Spinalkanal fort (Abb. 4.3 a). Da es kaum eine senkrechte Komponente zur Fließrichtung gibt, werden die zervikalen und thorakalen Arachnoidaltaschen kaum oder gar nicht geschädigt. Abbildung 4.3 b zeigt auch, dass der Druckimpuls hauptsächlich das Spinalkanalende und die subarachnoidalen Wurzeltaschen im Lumbalbereich belastet. Wenn die Arachnoidal-Membran einmal geschädigt ist, wird wahrscheinlich auch die Dura mater verletzt, wodurch ein Austreten der CSF in den Epiduralraum eintritt, welche wiederum zu einem niedrigen Kopfinnendruck (ICP) führt. Die verletzten Membranen können nicht
schnell repariert werden, weil Menschen sich meist in aufrechter Position befinden und der hydrostatische Druck diese belastet. Klinisch resultieren meist frühe oder zeitversetzte orthostatische Kopfschmerzen, die lange andauern. Niedriger Kopfinnendruck ICP (£ 60 mm H2O) [14]. Austreten von zerebrospinaler Flüssigkeit und Nachweis mittels Radioisotopen-Myelozisternographie. Hierbei zeigt sich häufig ein Verlust von epiduraler CSF auf der lumbosakralen oder unteren thorakalen Ebene [11]. Eine typische Beobachtung wird in Abbildung 4.5 dargestellt. Keine direkten Zeichen von CSF-Verlust im zervikalen- oder oberen thorakalen Bereich. Jedoch indirekte Zeichen von CSF-Verlust in den Epiduralraum mit vorschnellem Füllen der Blase; Aufspüren der Radioaktivität in der Blase schon 2 Stunden nach einer intrathekalen Injektion von Indium 111. Häufig gelingt der Nachweis eines chronischen subduralen Hygroma oder Hämatom [18]; oder eine diffuse Anreicherung der harten Hirnhäute (DPE) bei einer Gadolinium-unterstützten Kernspintomographie [7, 8]. Obwohl eine HWS-Beschleunigungsverletzung viele Beschwerden und Symptome [14, 19] verursachen kann, werden chronische z. T. lageabhängige Kopfschmerzen am häufigsten beklagt. Beim eindeutigen Hinweis auf orthostatische
21
22
]
K. Orth et al.
a
b Abb. 4.6 a, b. Typisches Gd-MRI. (Aus [17], mit freundlicher Genehmigung des Holzapfel-Verlags). a Coronarer Schnitt ohne Zeichen einer DPE mit beidseitigem vergrößerten subarachnoidalen Raum in der medialen hochkonvexen Region (Pfeil). b Sagitaler Schnitt ohne Erweiterung des Sinus sagitalis jedoch mit vergrößertem fronto-parietalen subarachnoidalen Raum (Pfeil).
Kopfschmerzen als Folge eines Austretens von zerebrospinaler Flüssigkeit belegen Studien die Effektivität einer epiduralen „Blut-Patch“-Behandlung [9]. Diese Behandlung lindert meist chronische Kopfschmerzen, jedoch werden Patienten nicht von allen neurologischen Symptomen befreit. Ursache hierfür sind womöglich Nervenzellmembran-Dysfunktionen in den Spinalganglien welche histomorpholgisch bei Tierversuchen nachgewiesen werden konnten [15, 16]. Abbildung 4.6 zeigt einen typischen Patienten (55 J. 5) auf. Der durchMehrfachverletzungen (ISS schnittliche ISS bei Verletzten mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS (ISS-Mittelwert 2,6, n = 1170) war geringer als bei Verletzten ohne Beschwerden nach Beschleunigung der HWS (ISS Mittelwert 5,8, n = 2624) (t-Test: p = 0,001). Auch bei der Betrachtung der einzelnen ISS waren die Verletzten ohne Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei höherem ISS signifikant häufiger betroffen (Linear-Trend-Test: p < 0,001). Im zeitlichen Verlauf änderte sich die Verteilung des ISS nicht.
] Unfallrahmenbedingungen Der Anstoß des Fahrzeugs ereignet sich unter dem so genannten Impulswinkel; unter diesem Winkel werden die Kräfte auf Fahrzeug und Insassen wirksam. Die Impulswinkel der ausgewerteten Unfälle wurden in 12 Gruppen zu je 30 Grad zusammengefasst. Ein Anprall von 1808 oder –1808 (± 158) entspricht dabei einem von vorn nach hinten gerichteten Anprall. Bei 26% (n = 230) von 938 der untersuchten Unfälle handelte es sich um einen genau von hinten nach vorn gerichteten Anprall (0/3608 ± 158). In über der Hälfte der Fälle (55%, n = 516) betrug der Impulswinkel dagegen 150–2108 (–210 bis –1508, ±158), die Kraft wirkte also von vorn nach hinten auf das Fahrzeug (Abb. 7.2). Bei der Anprallsituation wurde zwischen frontaler, seitlicher und Heckkollision, sowie mehrfacher Kollision und Überschlag unterschieden. Nur in 15,2% (n = 152) der 997 dies-
180° -180°
210 -150°
150 -210°
290
240 -120°
120 -240° 140 86 60 40 29122 818 8 17
270 -90°
90 -270°
100
300 -60°
60 -300°
200 300
230 330 -30°
0 360°
30 -330°
Abb. 7.2. Verteilung der Impulswinkel von 938 der 1176 angeschnallten Fahrer/-innen mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS mit Anzahl der Kollisionen für verschiedene Impulsrichtungen, 1808 oder –1808 (±158) entspricht dem Frontalanprall.
bezüglich auswertbaren Unfallsituationen handelte es sich um reine Heckkollisionen. Zu je gut einem Drittel waren es frontale (35,6%, n = 355) und mehrfache (36,2%, n = 361) Kollisionen. Allerdings waren die frontalen und mehrfachen Kollisionen auch insgesamt bei allen Unfällen mit verletzten gurtgeschützten Pkw-Fahrer/-innen (n = 3838) mit je 36% (frontal: n = 1404, mehrfach: n = 1399) wesentlich häufiger als Heckkollisionen mit nur 6,7% (n = 258). So erlitten 60% der verletzten und angeschnallten Insassen bei Heckkollisionen Beschwerden nach Beschleunigung der HWS, bei den anderen Anprallarten nur etwa 30% (ChiQuadrat-Test: p < 0,001). Die Anprallart änderte sich im zeitlichen Verlauf der Untersuchung nicht. Der wichtigste Parameter für die Unfallschwere stellt die Geschwindigkeitsänderung in Folge der Kollision Delta-V dar. Bei 23,2% (n = 231) der Fälle betrug Delta-V 10 km/h und weniger, was einem sehr leichten Unfall entspricht (Abb. 7.3). Nur 5,8% (n = 20) der Patienten mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS hatten diese bei einem schweren Unfall mit einem Delta-V von mehr als 50 km/h erlitten. Das mittlere Delta-V bei Verletzten mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS war signifikant höher als bei Verletzten ohne Beschwerden nach Beschleunigung der HWS (t-Test: p = 0,005).
Δv in km/h
11–20
≤10
Mehrfach
21–30
31–50
Überschlag
Frontal
36
0
94
20
40
1 0
23 25
4
102
91
20
11 2
22
37
26
2
52
64
Seite
73
5
7
Heck
>50
63
107
98
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen
32
]
104
Beschwerdedauer (Tage)
7
103 102 101 100
sofort
≤6 h
6–12 h
12–24 h
>24 h
Beginn der einzelnen Beschwerden 60
80
100 %
Abb. 7.3. Delta-V nach Kollisionsart von 997 (84,8%) der 1176 gurtgeschützten verletzten Fahrer/-innen mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS.
Die einzelnen Kollisionsarten unterschieden sich bezüglich des Delta-V. Die 152 Heckkollisionen waren in 42% (n = 64) leicht (Delta-V < 10 km/h), bei den Frontalkollisionen waren es nur 10% (36 von 355). Bei frontalen Kollisionen wurde das höchste durchschnittliche Delta-V erreicht. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums kam es weder zu einer Änderung des mittleren Delta-V, noch der Delta-V-Verteilung (Abb. 7.3).
] Beschwerden 1136 (97%) der 1176 Personen, die Beschwerden nach Beschleunigung der HWS erlitten hatten, wurden angeschrieben. 138 (12,1%) von ihnen füllten die Bögen aus („Follow-up-Gruppe“). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf dieses Kollektiv. Der Vergleich der Zusammensetzung der demographischen Daten (Alter, Geschlecht) mit dem Gesamtkollektiv der 3838 angeschnallten und verletzten Pkw-Fahrer/-innen ergab keine Unterschiede. Bei 121 (87,7%) Patienten waren Beschwerden an Nacken (55,3%), Kopf (26,8%) und/oder Schulter (7,5%) aufgetreten. Es handelte sich bei 74% der Patienten um Schmerzen; Verspannungen (6,3%) und Bewegungseinschränkungen (5,3%) traten wesentlich seltener auf. Genau die Hälfte der Beschwerden hatten sofort nach dem Unfall eingesetzt, weitere 26,4% innerhalb der ersten 6 Stunden, 9,2% nach 6 bis 12 Stunden, 6,3% nach 12 bis 24 Stunden und 8,0% nach mehr als 24 Stunden.
Beginn/Dauer n Mittelwert Median
sofort 86 334 42
≤6 h 46 289 21
6–12 h 12–24 h >24 h 16 11 14 347 210 595 42 21 180
Abb. 7.4. Beschwerdebeginn und -dauer der 190 einzelnen Beschwerden.
] Langzeitfolgen 51 (37%) hatten zum Zeitpunkt der Befragung noch Beschwerden. Beschwerden, die nach mehr als 24 Stunden begonnen hatten, hielten dagegen doppelt so lange an (Abb. 7.4). Dieser Unterschied war hoch signifikant (Kruskal-WallisTest: p < 0,001). Die mittlere Dauer aller Beschwerden betrug 336 Tage (Median = 42 Tage). Zwei Gruppen mit einer Beschwerdedauer von höchstens 60 Tagen (Gruppe I, n = 53) und über 60 Tagen (Gruppe II, n = 55) wurden gebildet. 13 Patienten konnten wegen fehlender Angaben bei den folgenden Auswertungen nicht berücksichtigt werden:
] Prognostische Faktoren In einer Entscheidungsbaumanalyse wurden prognostische Faktoren für eine unterschiedliche Beschwerdedauer isoliert [5]. Dieses statistische Verfahren erlaubt die Einteilung einer Kohorte in Gruppen unter definierten Kriterien. Zur Einteilung in Gruppe I und II wurden vom Analyseprogramm Alter, Geschlecht, ISS, Delta-V, Impulswinkel und Kollisionsart als Kriterien für den Entscheidungsbaum benutzt. Der ISS war dabei in der gesamten Gruppe für die Beschwerdedauer der wichtigste prognostische Faktor (p = 0,004). Elf der 12 Patienten mit einem ISS von mehr als 5 hatten eine Beschwerdedauer von mehr als 60 Tagen (d. h. Gruppe II). Für die Patienten mit einem ISS von 5 oder weniger war dann Delta-V der entscheidende Faktor zur weiteren Einteilung in die Gruppen I
51
52
]
M. Richter
n = 108 Patienten Beschwerdedauer: Gruppe I (≤60 Tage): n = 53 (49,1%) Gruppe II (>60 Tage): n = 55 (50,9%)
≤5
ISS
>5
p = 0,004 n = 96 Gruppe I: n = 52 (54,2 %) Gruppe II: n = 44 (45,8 %)
>25 km/h
n = 12 Gruppe I: n = 1 (8,3 (8, %) Gruppe II: n = 11 (91,7 (91, %)
≤25 km/h
ISS Δv p = 0,029
n = 31 Gruppe I: n = 22 (71,0 %) Gruppe II: n = 9 (29,0 %)
n = 65 Gruppe I: n = 30 (46,2 %) Gruppe II: n = 35 (53,8 %) Frontal/Seite/ Heck/Überschlag
Kollisionsart
Mehrfach
p = 0,002 n = 46 Gruppe I: n = 27 (58,7 %) Gruppe II: n = 19 (41,3 %)
n = 19 Gruppe I: n = 3 (15,8 (15, %) Gruppe II: n = 16 (84,2 (84, %)
Abb. 7.5. Entscheidungsbaumanalyse mit CART® (Classification and Regression Trees) von 108 Patienten mit Beschwerden aus der Follow-up Gruppe (n = 138).
und II (p = 0,029). Überraschenderweise gehörten 22 der 32 Patienten mit einem Delta-V von mehr als 25 km/h in Gruppe I (Beschwerdedau< 60 Tage). Die verbleibenden 65 Patienten er wurden nach der Kollisionsart unterteilt. 16 der 19 Patienten mit mehrfacher Kollision hatten länger dauernde Beschwerden (d. h. Gruppe II). Auf der anderen Seite gehörten 60% der Patienten ohne mehrfachen Anprall (Frontal, Seite, Heck, Überschlag) zu Gruppe I. Alter, Geschlecht und Impulswinkel waren nach dieser statistischen Analyse nicht von prognostischem Wert (Abb. 7.5).
] Psychologische Faktoren – Prospektive Studie Im prospektiven Teil der Studie wurden 43 Patienten nach den oben beschriebenen Kriterien eingeschlossen. Das Durchschnittsalter dieser Patienten zum Unfallzeitpunkt betrug 28,9 (19–72) Jahre und 51% (n = 22) waren männlich. 63% (n = 27) waren Fahrer, 23% (n = 10) Beifahrer und 14% (n = 6) Mitfahrer. Alle gaben an, angeschnallt gewesen zu sein. In sieben Fällen befand sich an der entsprechenden Sitzposition ein Airbag, welcher in einem Fall auslöste. In der Hälfte (n = 23) der Fälle handelte es sich um Heckanprälle, in 23% (n = 10) um Frontalkollisionen, je 9% (n = 4) um seitliche oder mehrfache Kollisionen und einmal um einen Überschlag. Die Verteilung des Delta-V unterschied sich bezüglich Mittelwert und Verteilung nicht
7
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen
]
Tabelle 7.1. Beschwerdeart, -lokalisation, -beginn, -stärke und -dauer der prospektiv erfassten Patienten (n = 43) Beschwerdeart
Häufigkeit
Lokalisation
] Schmerzen
81% (n = 35)
60% Nacken, 29% Kopf, 4% Schulter, 6% sonstige
] „Ziehen“
46% (n = 20)
] Bewegungseinschränkung 44% (n = 19)
Beginn (Stunden)
Stärke (VAS)
Dauer (Tage)
4,5 (1–8,5)
28,5 (0–360)
75% Nacken, 15% Schulter, 3,0 (0–24) 10% sonstige
4,8 (3,1–6,7)
21,8 (0–360)
100% Nacken
1,1 (0–12)
1,5 (0–12)
4,0 (0,5–7)
14,7 (0–360)
] Schwindel
18% (n = 8)
2,4 (0–12)
4,7 (2–9,2)
6,7 (0–180)
] Übelkeit
11% (n = 5)
7,6 (0–24)
5,3 (3,9–9,2)
1,2 (0–28)
3,5
1
4,8 (4–5,5)
1,5 (0–3)
] Schluckstörung
2,3% (n = 1)
] Sehstörung
4,6% (n = 2)
] Hörstörung
0
vom retrospektiv untersuchten Kollektiv (t-Test, Linear-Trend-Test: p < 0,05). Auch Inzidenz, Art und Dauer der Beschwerden entsprachen diesem Vergleichskollektiv (Tabelle 7.1). Zwei Patienten (5%) gaben an, neurologische oder psychiatrische Vorerkrankungen zu haben. Die gesamte prospektiv untersuchte Gruppe zeigte zum Zeitpunkt der initialen Erfassung im Durchschnitt in allen Kategorien des FSR, SF36 und EDLQ Normalwerte (Tabelle 7.2). Eine Einteilung nach Geschlecht und unterschiedlichem Alter ergab keine Scoreunterschiede. In einzelnen Kategorien wurden Scoreunterschiede von Gruppen unterschiedlicher Beschwerdestärke (VAS) beobachtet (Tabelle 7.2, t-Test: p = 0,05). Bei unterschiedlicher Beschwerdedauer fanden sich erhebliche Unterschiede in diesen Scores. Tabelle 7.3 zeigt exemplarisch die Scores des EDLQ. Im Vergleich zum entsprechenden gesunden Referenzkollektiv der Fragebögen waren dabei nur die Scores der Patienten mit stärkeren oder länger anhaltenden Beschwerden abweichend. Neben einem geringen Einfluss der Begleitverletzungen auf die Beschwerdedauer waren die individuelle Konstitution und Schmerzverarbeitung bedeutendere Faktoren als unfalltechnische Parameter.
12 6 (0–12)
Diskussion Nach einer erheblichen Zunahme der Verkehrsunfälle in den 1950er, 60er und 70er Jahren mit hohen Verletztenzahlen konnten in den folgenden Jahrzehnten – vor allem durch die Einführung der Anschnallpflicht – eine Abnahme der Verletzungen trotz weiter ansteigender Unfallzahlen registriert werden [35]. Die passive Sicherheit wurde durch Versteifungen der Fahrgastzellen und den Airbags nochmals erheblich verbessert [13, 15, 33, 34, 36]. Trotzdem stieg die Zahl der Beschwerden nach Beschleunigung der HWS auch in den letzten 10 Jahren weiter an [25–27]. Fahrzeugtechnisch dürften verbesserte Rückhaltesysteme in den heutigen Fahrzeugen mit dafür verantwortlich sein. Dadurch vergrößern sich besonders bei frontalen Kollisionen die Bewegungen des nicht fixierten Kopfes und Halses in Relation zum gut stabilisierten Torso. Mit einem Anteil von 36% waren Frontalkollisionen bei unseren Patienten mit Beschwerden nach Beschleunigung der HWS auch wesentlich häufiger Verletzungsursache als reine Heckkollisionen (15%). Das Risiko der Beschwerden nach Beschleunigung der HWS ist zwar bei Heckkollisionen am größten, aber der hohe Anteil der anderen Kollisionsarten widerlegt die Ansicht vieler aktueller Arbeiten, dass als typische Verletzungsursache der Heckanprall beim Auffahrunfall zu sehen ist [3, 8]. Somit können experimentelle Untersuchungen zum Heckanprall auch niemals eine erschöpfende Beurteilung der Verletzungsmechanismen erlauben [20, 32].
53
54
]
M. Richter
Tabelle 7.2. Scores der einzelnen Fragebogenkategorien (V: VAS, Bewegung: Bewegungseinschränkung, Werte bei signifikanten Unterschieden fett gedruckt (t-Test: p < 0,05) Fragebogen
Kategorie
gesamt (n = 43)
EDQL
ALLTAG1
43,2
ALLTAG2
43,1
ALLTAG3
43,5
ALLTAG4
42,9
ALLTAG5
14,1
ALLTAG6
14,4
FSRSK1
35,1
FSRSK2
28,6
FSRSK3
29,5
FSRSK4
24,0
FSRSK5
29,6
FSRSK6
28,3
FSRSK7
33,5
SF36PF
25,9
SF36RP
7,5
SF36BP
3,1
SF36GH
17,8
SF36VT
17,0
SF36SF
8,7
SF36RE
5,8
SF36MH
15,0
SF367E
5,3
SF368E
5,3
SF36BPE
10,6
FSR
SF36
Geschlecht m (n = 22) w (n = 21) 39,0 39,6 38,9 41,2 39,8 40,5 39,9 41,9 13,3 13,5 13,0 13,6 34,3 36,5 28,2 28,1 29,2 29,5 23,7 23,1 30,1 27,8 27,5 28,3 31,7 35,7 25,9 24,7 7,6 7,2 3,0 3,9 18,0 17,5 17,2 16,2 8,7 8,7 5,8 5,7 14,8 14,4 5,4 4,9 5,4 4,7 10,8 9,6
Alter < 30 (n = 29) > > 30 (n = 14) 36,3 40,1 36,8 40,7 37,5 40,9 37,8 41,6 12,9 13,5 13,3 13,2 33,9 36,2 26,6 28,6 29,6 29,6 25,1 23,0 31,6 28,5 28,6 27,2 32,9 33,0 23,0 26,5 7,3 7,5 3,7 3,0 19,3 17,2 16,4 16,8 9,3 8,4 5,9 5,7 14,7 14,7 5,1 5,5 5,0 5,3 10,1 10,7
Schmerz V < 5 (n = 20) > > V 5 (n = 15) 41,1 39,3 41,2 39,7 42,3 40,2 43,4 40,0 14,1 13,3 14,0 13,1 33,1 35,0 30,4 26,8 30,7 29,7 26,4 22,6 30,8 27,0 29,6 26,0 31,7 34,5 24,6 26,7 7,7 7,4 3,1 3,2 17,4 17,6 16,8 17,0 9,5 8,6 6,0 5,7 12,6 15,1 5,4 5,2 5,2 5,3 10,5 10,5
„Ziehen“ V < 5 (n = 12) > > V 5 (n = 8) 41,0 38,9 42,0 38,5 42,4 39,7 43,2 39,3 14,2 13,0 13,8 13,0 36,2 34,7 29,4 26,4 27,8 29,6 24,2 22,9 24,6 30,7 29,2 27,5 38,2 34,1 26,3 26,3 7,3 7,6 4,5 2,4 16,8 17,8 17,2 16,5 9,5 9,2 6,0 5,4 12,7 17,8 4,3 5,7 4,7 5,6 9,0 11,3
Bewegung V < 4 (n = 9) > > V 4 (n = 10) 41,6 41,0 41,9 40,0 41,9 41,8 41,8 41,8 14,1 13,8 13,3 13,6 34,9 38,5 28,4 30,3 31,7 35,0 24,1 26,0 24,4 32,5 26,8 30,8 32,3 33,7 24,9 25,5 7,5 6,7 3,5 4,3 17,1 18,7 17,6 15,8 9,1 8,2 6,0 5,5 14,6 13,8 5,0 4,6 5,1 4,4 10,0 8,7
7
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen
]
Tabelle 7.2 (Fortsetzung) Fragebogen
Kategorie
gesamt (n = 43)
SF36
SF361E
3,8
SF36GHE
19,1
SF36PFT
79,4
SF36RPT
86,9
SF36BPT
85,7
SF36GHT
70,5
SF36VTT
65,2
SF36SFT
83,2
SF36RET
93,9
SF36MHT
75,4
Geschlecht m (n = 22) w (n = 21) 3,8 3,5 19,3 18,2 79,3 73,6 90,8 79,2 87,8 76,1 71,7 66,1 65,8 61,1 83,8 84,1 94,7 90,0 76,9 71,6
Alter < 30 (n = 29) > > 30 (n = 14) 3,2 3,9 19,4 18,8 65,2 82,4 83,3 87,7 80,9 86,7 71,9 68,8 62,2 64,0 91,7 79,8 96,3 91,2 70,7 76,0
Schmerz V < 5 (n = 20) > > V 5 (n = 15) 3,8 3,7 18,7 18,8 72,9 83,3 91,7 84,4 85,3 84,7 68,7 69,0 64,0 65,0 93,2 82,0 100,0 89,6 75,2 74,9
„Ziehen“ V < 5 (n = 12) > > V 5 (n = 8) 4,3 3,8 19,2 19,0 81,3 81,5 83,3 88,9 70,0 93,3 70,8 69,8 65,8 62,5 93,8 90,0 100,0 81,5 73,3 76,0
Bewegung V < 4 (n = 9) > > V 4 (n = 10) 3,5 3,4 18,1 19,3 74,7 77,6 87,5 66,7 79,7 67,0 65,4 71,3 67,9 59,2 89,1 77,1 100,0 83,3 78,3 72,7
Tabelle 7.3. EDLQ-Unterschiede bei unterschiedlicher Beschwerdedauer (Bewegung: Bewegungseinschränkung, d: Dauer in Tagen, p: t-Test) Frage- Kategorie bogen
gesamt (n = 32)
EDQL
ALLTAG1
43,2
ALLTAG2
43,1
ALLTAG3
43,5
ALLTAG4
42,9
ALLTAG5
14,1
ALLTAG6
14,4
Schmerz d < 5 (n = 13) > > d 5 (n = 19) 42,1 44,8 42,1 44,8 42,7 44,7 41,6 44,7 13,7 14,8 14,1 14,8
p
0,019 0,031 0,035 0,022 0,036 0,16
„Ziehen“ d < 5 (n = 18) > > d 5 (n = 14) 41,5 44,5 41,7 41,5 42,4 44,4 40,6 44,7 13,6 14,7 13,6 15,0
p
0,007 0,042 0,033 0,001 0,037 0,007
Bewegung d < 4 (n = 19) > > d 4 (n = 13) 41,0 44,7 40,8 44,8 41,9 44,6 40,1 44,8 13,3 14,9 13,7 14,9
p
0,001 0,001 0,002 0,001 0,004 0,019
55
56
]
M. Richter
Leichte Unfälle treten als „Auslöser“ einer Beschwerde nach Beschleunigung der HWS immer mehr in den Vordergrund. In unserer Untersuchung betrug bei fast 1/4 der Kollisionen die Geschwindigkeitsänderung Delta-V 10 km/h und weniger. Der Anteil dieser ganz leichten Unfälle war bei Frontalkollisionen – möglicherweise biomechanisch bedingt – am geringsten. Anatomisch und funktionell überwiegen am Muskelhalteapparat von Kopf und Hals evolutionsbedingt die Extensoren, da der Schwerpunkt des Kopfes ventral der HWS liegt. Dadurch ist eine höhere Stabilität gegenüber flektierenden Kräften, wie beim Frontalanprall, gegeben. Bei Beschwerden nach Beschleunigung der HWS handelt es sich nach der Abbreviated Injury Scale um leichte Verletzungen Typ 1 der Wirbelsäule, die meist isoliert auftreten. Nur 1/4 der Patienten erreichten einen Injury Severity Score (ISS) von mehr als 3. Trotz dieser geringen gesamten Verletzungsschwere bleiben in einem hohen Prozentsatz chronische Beschwerden zurück [31]. In unserer Untersuchung hielt die Hälfte der Beschwerden länger als 60 Tage an. Einer verbreiteten Hypothese entsprechend soll ein frühzeitiger Beschwerdebeginn mit langer Beschwerdedauer korreliert sein. Dagegen fanden wir bei Patienten mit innerhalb der ersten 24 Stunden beginnenden Beschwerden keinerlei Unterschiede in der Dauer. Ein bisher als günstiger angesehener Beschwerdebeginn nach mehr als 24 Stunden nach dem Unfallereignis war in unserem Krankengut mit doppelt so langer Beschwerdepersistenz verbunden. In der Gruppe mit längerdauernden Beschwerden überwogen geringfügig die Frauen, in der anderen Gruppe waren es die Männer. Allerdings waren die Unterschiede in der Geschlechtsverteilung viel geringer als von anderen Autoren beschrieben [10, 21]. Dies traf auch für das geringfügig höhere Durchschnittsalter der Gruppe mit längerer Beschwerdedauer zu. Die Beschwerdedauer wurde nicht durch den Impulswinkel beeinflusst. Der ISS ließ prognostische Aussagen bezüglich der Beschwerdedauer zu. Dies zeigt sich auch in der unterschiedlichen Rate der Begleitverletzungen. Dabei hatten fast die Hälfte der Patienten mit kurzen Beschwerden eine isolierte Verletzung (ISS 1); in der Gruppe mit länger anhaltenden Beschwerden nur 1/3. Das Delta-V bei kürzer anhaltenden Beschwerden war sogar höher, was sich aber zum Teil durch den höheren Anteil an Frontalkollisionen erklären lässt.
Der im Schrifttum eingehend diskutierte Einfluss der kognitiven Schmerzverarbeitung auf das Spätresultat schien damit auch in unserem Kollektiv die entscheidende Rolle zu spielen [4, 7]. Erstaunlicherweise war in der Gruppe mit gestellten Schadensersatzansprüchen die Beschwerdedauer tendenziell kürzer als bei den Patienten ohne Schadensersatzansprüche an Versicherungen und zwar unabhängig von tatsächlich gezahltem Schadensersatz. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass für die Beschwerdedauer die individuelle Schmerzverarbeitung eine größere Rolle spielt als eventuelle Schmerzensgeldansprüche [6, 10–12, 22–24, 30]. Im Rahmen unserer prospektiven Untersuchung fanden sich dann auch trotz geringer Fallzahl signifikante Unterschiede in einzelnen Kriterien der verwendeten Fragebögen. Im Vergleich zum entsprechenden gesunden Referenzkollektiv der Fragebögen waren nur die Scores der Patienten mit stärkeren oder länger anhaltenden Beschwerden abweichend. Insbesondere im „Every Day Life Questionnaire“ (EDLQ) schnitten Patienten mit längerdauernden Beschwerden deutlich schlechter ab. Obwohl jeweils nur in einzelnen Kategorien Unterschiede bestanden so waren diese in größerem Maße relevant als die unfalltechnischen Parameter.
Schlussfolgerung Bei der Analyse von versicherungsunabhängigen Daten war die Unfallschwere für Beschwerdeausmaß und -dauer nicht prognostisch relevant. Anfängliche Symptome und chronische Beschwerden lassen sich somit nicht hinreichend durch die Unfallbedingungen begründen. Neben einem geringen Einfluss der Begleitverletzungen auf die Schmerzdauer sind die individuelle psychische Konstitution und Schmerzverarbeitung in größerem Maße bestimmende Faktoren als unfalltechnische Parameter. Deshalb kann eine rein biomechanische Betrachtung der „Verletzung“ nicht zur hinreichenden Prophylaxe führen. Dies gilt besonders für mechanische Maßnahmen, welche nur beim Heckanprall wirksam sind, da ein hoher Anteil der Symptome nach anderen Kollisionsarten auftritt. Trotz intensivster Bemühungen konnte bisher weder der Unfallmechanismus noch eine kon-
7
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen
stante morphologische Schädigung, die der Definition einer „Verletzung“ entsprechen würde, ermittelt werden. Im Gegenteil zeigen Untersuchungen unter Einbeziehung unfalltechnischer, klinischer und psychologischer Parameter einerseits keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen unfalltechnischen Parametern und Beschwerden und andererseits einen eindeutigen Zusammenhang zwischen unfallunabhängigen psychologischen Faktoren und Beschwerden. Dies spiegelt auch die Problematik der Beschwerden nach Beschleunigung wider und stellt in Frage, ob eine mechanische Prävention dieser „unmechanischen“ und psychologisch erheblich beeinflussten Beschwerden möglich ist.
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57
58
]
M. Richter: 7
Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen
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8
Einfluss kollisions- und insassenbezogener Faktoren auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule A. Kettler, E. Hartwig, K. Fruth, H.-J. Wilke
Das Risiko, bei einem Verkehrsunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule zu erleiden, hängt von zahlreichen kollisions- und insassenbezogenen Faktoren ab. Ziel dieses Kapitels ist es, anhand einer Serie biomechanischer In-vitro-Studien [5, 11–13] zu erörtern, ob und wenn ja, wie die Beschleunigungscharakteristik des Fahrzeuges, der Grad der muskulären Anspannung des Insassen und der Grad einer degenerativen Vorschädigung der Bandscheiben dieses Verletzungsrisiko beeinflussen. Kenntnisse über diese Zusammenhänge verbessern das Verständnis der einer Verletzung der Halswirbelsäule zugrunde liegenden Pathomechanismen, helfen den Insassenschutz in Fahrzeugen zu verbessern und stellen eine wesentliche Grundlage für die Patientenbegutachtung dar.
Einfluss der Beschleunigungscharakteristik auf das Verletzungsrisiko
um eine Achse quer zur Beschleunigungsrichtung ermöglichte (Abb. 8.1). Zusätzlich wurde ein Dummykopf konstruiert, der auf den Halswirbelsäulenpräparaten befestigt werden konnte. Seine Masse (4,5 kg) und die Lage seines Massenschwerpunktes entsprachen den Werten des menschlichen Kopfes [4, 22].
Faden zur Kopfaufhängung
Dummykopf Präparat
] Beschleunigungsanlage Die im Folgenden zusammengefassten Studien wurden in einer Beschleunigungsanlage durchgeführt, die speziell für In-vitro-Experimente zur Untersuchung des Verletzungsrisikos der Halswirbelsäule entwickelt wurde [13]. Bei reellen Kollisionen wird die Belastung der Halswirbelsäule durch die Bewegungen des Oberkörpers beeinflusst. Da in der Anlage aber isolierte Halswirbelsäulenpräparate getestet werden, mussten diese Bewegungen mechanisch nachempfunden werden. Dies geschah vereinfacht mittels einer Kippplattform zwischen Wagen und Präparat, die passive Drehbewegungen
Kippplattform
Abb. 8.1. Präparat in der selbst entwickelten Beschleunigungsanlage ohne Muskelkraftsimulation. Vor jedem Experiment wurde der Kopf an einem Faden aufgehängt, um ein unphysiologisches Umknicken der Halswirbelsäule zu vermeiden. Dieser wurde bei Beginn der Beschleunigung durchtrennt. Zwischen Nacken und Wagen wurde zur Simulation der Oberkörperbewegungen eine Kippplattform integriert.
]
A. Kettler et al.
fl
Fläche
aWagen
steil
ach
steil
steil
aWagen
amax Wagen
aWagen
60
= Fläche
amitt Wagen 0
120
0
120
Zeit in ms
Zeit in ms
Experiment I
Experiment II
Abb. 8.2. Schematischer Verlauf der Wagenbeschleunigungskurve (aWagen) in den drei Experimenten I bis III.
] Versuchsdesign In dieser Anlage wurde untersucht, ob und wenn ja, wie die Beschleunigungscharakteristik des Fahrzeuges das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule beeinflusst. Hierzu wurden in einer Serie von drei Experimenten achtzehn humane Halswirbelsäulenpräparate mit Dummykopf einer Serie von Seitbeschleunigungen ausgesetzt [5, 11, 12]. Dabei betrug die maximale Beschleunigung des Wagens zunächst 1 g. Bei jeder weiteren Beschleunigung wurde dieser Wert um ein weiteres g erhöht. Die Dauer der Beschleunigung wurde dagegen nicht variiert und betrug stets 120 ms. Das Experiment wurde für jedes Präparat individuell gestoppt, sobald strukturelle Verletzungen sichtbar wurden. Ein Anstoßen des Dummykopfes an Bauteilen des Wagens wurde vermieden. Der einzige Unterschied zwischen den drei Experimenten betraf den Verlauf der Beschleunigungskurve des Wagens (Abb. 8.2): In Experiment I war er rechteckförmig mit einem steilen Anstieg und einem steilen Abfall (steil-steil), in Experiment II sägezahnförmig mit einem flachen Anstieg und einem steilen Abfall (flachsteil) und in Experiment III ebenfalls sägezahnförmig, jedoch spiegelbildlich zu Experiment II mit einem steilen Anstieg und einem flachen Abfall (steil-flach). Diese drei Verläufe spiegeln das breite Spektrum der reell auftretenden Fahrzeugbeschleunigungsverläufe wider.
] Datenerfassung und -auswertung Während jeder Kollision wurde die lineare Beschleunigung des Wagens aufgezeichnet. Seine Geschwindigkeitsänderung wurde durch Integration berechnet. Zur Erfassung des Verletzungsrisikos wurden kollisionsdynamische Kriterien bestimmt. Dies
'v Wagen
t0
Zeit
t1
Abb. 8.3. Definition der drei untersuchten kollisionsdynamischen Kriterien: amax Wagen = maximale Beschleunigung des Wagens im Zeitraum t0 bis t1; amitt Wagen = mittlere Beschleunigung des Wagens im Zeitraum t0 bis t1; Dv Wagen = Geschwindigkeitsänderung des Wagens (entspricht der Fläche unter der Beschleunigungskurve im Zeitraum t0 bis t1).
sind Kriterien, deren Ziel es ist, anhand der Kollisionscharakteristik die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer Halswirbelsäulenverletzung abzuschätzen: ] die maximale Beschleunigung des Wagens (amax Wagen) (Abb. 8.3) ] die mittlere Beschleunigung des Wagens (amitt Wagen) ] die Geschwindigkeitsänderung des Wagens (Dv Wagen) Als kollisionsdynamische Grenzwerte wurden jeweils diejenigen Werte definiert, die in den zu Verletzungen führenden Kollisionen gemessen wurden.
] Ergebnisse und Ergebnisinterpretation Strukturelle Verletzungen traten unabhängig von der Beschleunigungscharakteristik des Wagens ausschließlich im Bereich der mittleren oder unteren Halswirbelsäule auf. Dabei handelte es sich meist um Rupturen der linksseitigen, also stoßabgewandten Gelenkkapsel mit einer inkompletten oder kompletten Ruptur der entsprechenden Bandscheibe. Bezüglich der eingangs gestellten Frage, ob und wenn ja, wie die Beschleunigungscharakteristik des Wagens das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule beeinflusst, zeigte sich abhängig vom betrachteten Verletzungskriterium ein unterschiedliches Bild (Abb. 8.4): Während die zu Verletzungen führende Maximalbeschleunigung des Wagens bei steilem Beschleunigungsanstieg deutlich niedriger ausfiel (im Mittel 2,6 g bei
8
Einfluss kollisions- und insassenbezogener Faktoren auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule
steil-steil und 3,1 g bei steil-flach) als bei einem flachen Anstieg (4,6 g), blieben die Grenzwerte der beiden Kriterien mittlere Beschleunigung (steil-steil: 1,9 g; flach-steil: 1,8 g; steil-flach: 1,7 g) und Geschwindigkeitsänderung (steilsteil: 8,9 km/h; flach-steil: 9,9 km/h; steil-flach: 7,6 km/h) nahezu unbeeinflusst. Wichtig ist zu betonen, dass diese Werte für osteoligamentäre Präparate, also Präparate ohne schützenden Weichteilmantel und Muskulatur, gelten und damit nicht direkt auf reelle Fahrzeugkollisionen übertragen werden dürfen. Was die maximale Wagenbeschleunigung betrifft, scheint damit ein einziger für alle Beschleunigungsverläufe gültiger und damit eindeutiger Grenzwert nicht zu existieren. Dieses Ergebnis bestätigt Beobachtungen aus einer klinisch-kollisionsdynamischen Studie, in der sich zeigte, dass klinische Symptome bei ganz unterschiedlichen maximalen Fahrzeugbeschleunigungen entstehen können [14]. Bei Betrachtung der mittleren Beschleunigung und der Geschwindigkeitsänderung des Wagens schien der Verlauf der Fahrzeugbeschleunigungskurve dagegen keinen Einfluss auf das Verletzungsrisiko zu besitzen. Es wäre also denkbar, dass für diese beiden Kriterien eindeutige Grenzwerte existieren. Für die Geschwindigkeitsänderung des Wagens wäre dies jedoch
]
erstaunlich, da gerade hier in der Literatur ganz unterschiedliche Grenzwerte angegeben werden [3]. Eine Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch liefert die Betrachtung der Kollisionsdauer. Bleibt wie in der vorliegenden Studie die Dauer der Fahrzeugbeschleunigung unverändert, hängen mittlere Beschleunigung und Geschwindigkeitsänderung direkt voneinander ab. Unter diesen Voraussetzungen kann sich der Verlauf der Fahrzeugbeschleunigungskurve nur auf die Grenzwerte beider oder keines der beiden Kriterien auswirken. Bei reellen Kollisionen dagegen variiert die Dauer der Fahrzeugbeschleunigung erheblich [14, 16, 17]. So ist es nicht erstaunlich, dass in Untersuchungen reeller Fahrzeugkollisionen die mittlere Beschleunigung des Fahrzeuges besser mit dem Verletzungsrisiko korrelierte als die Geschwindigkeitsänderung [2, 15].
] Übertragbarkeit auf reale Fahrzeugkollisionen Generell haben In-vitro-Experimente gegenüber Dummyexperimenten oder Freiwilligenversuchen einige klare Vorteile. So können Präparate beliebig stark beschleunigt werden und spiegeln die tatsächliche osteoligamentäre Anatomie der
amax 'v
3,0
14
5
2,5
12
4
2,0
3 2
'v Wagen in km/h
6
amitt Wagen in g
amax Wagen in g
amitt
1,5 1,0
10 8 6 4
1
0,5
2
0
0
0
I
II
III
Abb. 8.4. Maximale Beschleunigung des Wagens (amax Wagen), mittlere Beschleunigung des Wagens (amitt Wagen) und Geschwindigkeitsänderung des Wagens (Dv Wagen) in den
I
II
III
I
II
III
zu Verletzungen führenden Kollisionen. Einzelwerte aller auswertbarer Präparate der drei Experimente I bis III.
61
62
]
A. Kettler et al.
Halswirbelsäule wider. Neben diesen Vorteilen bestehen jedoch auch einige wesentliche Limitierungen, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden sollten: In vitro kann die Realität nur modellhaft nachgebildet werden. Zwar wurde in den beschriebenen Studien großer Wert auf möglichst realistische Versuchsbedingungen gelegt, doch mussten aufgrund der Komplexität reeller Fahrzeugkollisionen einige Kompromisse eingegangen werden: Beispielsweise konnte die dreidimensionale Bewegung des Oberkörpers experimentell nur vereinfacht in Form einer ebenen Drehung nachempfunden werden. Eine weitere Limitierung der vorliegenden Versuche ist ihre Fokussierung auf die Seitkollision. Zwar sind die Ergebnisse nicht direkt auf andere Kollisionsrichtungen wie Heck- oder Frontalkollisionen übertragbar, doch ähnelt sich bei allen drei Kollisionsrichtungen zumindest die Lokalisation der Verletzung [7, 8, 10, 18–21]. In vitro ist es zudem schwierig, den Effekt der Muskulatur zu berücksichtigen. Da eine muskuläre Anspannung aber die Grenzwerte kollisionsdynamischer Kriterien voraussichtlich nach oben verschiebt, dürfen die in Abbildung 8.4 gezeigten Werte nicht direkt auf reelle Fahrzeugkollisionen übertragen werden.
Einfluss der Muskelanspannung auf das Verletzungsrisiko Um den Einfluss der Muskelanspannung auf das Verletzungsrisiko untersuchen zu können, wurde die oben beschriebene Beschleunigungsanlage weiterentwickelt. Mit je zwei Drahtzügen anterior und posterior, die vom Occiput entlang der Wirbelsäule nach caudal geführt und dort pneumatisch vorgespannt werden, können zusätzlich die Nacken- und Halsmuskeln mechanisch simuliert werden. Ihre Vorspannung imitiert den Muskelgrundtonus, der benötigt wird, um die Blickachse vor Beginn der Kollision waagerecht zu halten. Kommt es während der Beschleunigung zu Bewegungen der Halswirbelsäule, werden die Kabel zunehmend angespannt oder entspannt, was zu einem Anstieg oder Ab-
fall der jeweiligen „Muskelkraft“ führt. In Zukunft wäre auch eine direkte Ansteuerung der Pneumatik während der Kollision denkbar, um eine reaktive Muskelkontraktion zu simulieren. In einer ersten Versuchsserie zur Heckkollision konnten die mit einer Muskelkraft von 35 N in den beiden posterioren und 45 N in den beiden anterioren Muskelzügen vorgespannten Präparate bis 6 g (Geschwindigkeitsänderung ca. 17 km/h) beschleunigt werden, ohne strukturelle Verletzungen zu verursachen. Dass derart hohe Beschleunigungen ohne strukturelle Verletzung toleriert werden, deckt sich mit Experimenten von Panjabi und Mitarbeitern [7, 9, 19]. Die Vermutung, dass dieser Effekt auf andere kollisionsdynamische Kriterien übertragen werden kann und dass ein direkter Zusammenhang zwischen Stärke der Muskelvorspannung und Höhe der Verletzungsgrenzwerte besteht, konnte bisher jedoch noch nicht belegt werden. Dennoch deuten die diskutierten Ergebnisse darauf hin, dass Frühwarnsysteme, die beispielsweise durch ein akustisches Signal kurz vor der eigentlichen Kollision beim Insassen eine Muskelkontraktion hervorrufen, zur Vermeidung von Verletzungen der Halswirbelsäule beitragen könnten.
Einfluss des Degenerationsgrades auf das Verletzungsrisiko Eine degenerative Vorschädigung der Bandscheiben (Abb. 8.5) erniedrigt nach derzeitigem Wissen ihre mechanische Belastbarkeit. Dieser Zusammenhang wird für die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule angedeutet [6] und passt zu Festigkeitsuntersuchungen an nicht degeneriertem und degeneriertem Bandscheibengewebe [1]. Die Grenzwerte der kollisionsdynamischen Kriterien, oberhalb derer mit einer Verletzung der Halswirbelsäule gerechnet werden darf, müssten daher bei Degeneration voraussichtlich nach unten korrigiert werden. Weiterführende Untersuchungen müssen zeigen, welche der kollisionsdynamischen Kriterien vom Grad der Degeneration tatsächlich beeinflusst werden und wie stark die Verschiebung ihrer Grenzwerte ausfällt.
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Einfluss kollisions- und insassenbezogener Faktoren auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule
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Für die Abschätzung des Verletzungsrisikos prinzipiell geeignet wären dagegen die mittlere Beschleunigung des Fahrzeuges und seine Geschwindigkeitsänderung (unter der Voraussetzung einer bekannten Kollisionsdauer), denn ihre Grenzwerte wurden vom Verlauf der Fahrzeugbeschleunigungskurve nicht beeinflusst. Neben fahrzeugbezogenen Faktoren nehmen auch insassenbezogene Faktoren Einfluss auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule. Unter der Annahme, dass eine Anspannung der Halsund Nackenmuskeln die Stabilität der Halswirbelsäule – wie in einigen Experimenten angedeutet – erhöht, würde eine Muskelanspannung die Verletzungsgrenzwerte nach oben verschieben. Eine Einführung von Frühwarnsystemen mit dem Ziel, eine Muskelanspannung bereits vor Beginn der Kollision herbeizuführen, scheint daher sinnvoll. Einen weiteren Einflussfaktor stellt der Grad der Degeneration der Bandscheiben dar. Er erhöht dem derzeitigen Wissensstand nach das Risiko einer Halswirbelsäulenverletzung. Daher sollte insbesondere bei der Begutachtung individuell auf den Patienten eingegangen und etwaige Grenzwerte entsprechend angepasst werden. Abb. 8.5. Sagittale Gefrierschnitte durch repräsentative cervicale Bandscheiben ohne Degeneration (oben) und mit Degeneration (unten).
] Anmerkung: Die in diesem Kapitel zusammengefassten Arbeiten wurden vom Universitätsklinikum Ulm (P.648) und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt (HA 3276/1-1, WI 1352/7-3 und -4).
Schlussfolgerungen Ähnlich der Heck- und der Frontalkollision scheint auch bei der Seitkollision die untere und mittlere Halswirbelsäule das größte Verletzungsrisiko zu besitzen. Ob die Beschleunigungscharakteristik des Fahrzeuges dieses Risiko beeinflusst, hängt vom jeweils betrachteten Verletzungskriterium ab. Bei der maximalen Fahrzeugbeschleunigung ist eine solche Beeinflussung gegeben, da bei flachem Beschleunigungsanstieg größere Werte toleriert wurden als bei steilem Anstieg. Damit scheinen Energie absorbierende, weichere Karosserieelemente im Bezug auf das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule von Vorteil. Diese Ergebnisse zeigen aber auch, dass die maximale Beschleunigung für eine Risikoabschätzung ungeeignet ist, da sie keinen klaren Grenzwert besitzt.
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Technik – Unfallrekonstruktion 9
Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls
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Um Kopf und Kragen . . .
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Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
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Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls P. Schmidt, G. Zahner
Der VU als komplexes Ereignis Ein Unfall ist ein komplexes Ereignis, bei dem mehrere ungünstige Umstände zusammen treffen. Ein Verkehrsunfall findet an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und mit bestimmten Gegenständen (Fahrzeugen, motorisiert und nicht motorisiert, Pfeilern, Bäumen usw.) und meistens Personen statt. (Ausnahme: ein geparktes Fahrzeug rollt aufgrund von Straßenneigung, ohne dass jemand im Fahrzeug sitzt, die Straße herunter und rammt ein weiteres parkendes Fahrzeug.) Bei der Betrachtung eines Verkehrsunfalls spielen mehrere physikalische Grundgrößen eine Rolle, wie Geschwindigkeit, Energie, Höhenunterschiede, Neigung, Zeit, Beschleunigung bzw. Verzögerung, Gewicht, um nur einige zu nennen.
Anknüpfungstatsachen Grundlage jeder Unfallanalyse sind die Anknüpfungstatsachen. Unter Anknüpfungstatsachen versteht man alle Details, die im Zusammenhang mit dem zu betrachtenden Unfall zusammenhängen. Das können zum Beispiel sein: Bremsspuren auf der Fahrbahn, Splitterfeld, Deformationen an den Fahrzeugen, usw. Nun gibt es gleich hier das erste Problem zu bewältigen. Zum Anfang einer Unfallanalyse müssen erst einmal alle Anknüpfungstatsachen gefunden werden. Stelle man sich vor, man geht in einen Spielwarenladen und will ein Puzzle kaufen. Normalerweise ist auf dem Deckel der Schachtel ein genaues Bild vom Puzzle zu sehen und in der Schachtel sind auch alle Puzzleteile vollständig und ohne Beschädigung vorhanden. Der Puzzlefreund braucht jetzt nur noch die Puzzleteile zu
nehmen und zusammen zu stecken, indem er ab und zu seinen Vervollständigungsfortschritt mit dem Bild auf dem Deckel der Schachtel vergleicht. In der Praxis der Unfallanalyse ist das anders. Bleiben wir bei dem Beispiel der Puzzleschachtel. Im Fall einer Unfallanalyse fehlen ganze Bildteile auf dem Deckel der Schachtel. Und auch in der Schachtel sind nicht alle notwendigen Puzzleteile enthalten. Dafür sind andere Puzzleteile enthalten, die mit dem Unfall aber nichts zu tun haben. Die Aufgabe besteht also darin, zunächst zu erkennen, was gehört zum Unfall und was nicht. Als weiteres ist die Frage zu klären, woher bekomme ich die fehlenden Puzzleteile und wie müssten diese aussehen. Der technische Sachverständige hat dazu einige Hilfsmittel. In diesem Zusammenhang sei übrigens auf die verschiedenen Unfallsimulationsprogramme hingewiesen. Mittlerweile sind diese zwar auf einem akzeptablen Stand (im Vergleich zur Vergangenheit), aber sie sind Hilfsmittel und keine Beweismittel. Sie ersetzen keineswegs die konkrete Betrachtung des jeweiligen Unfalls. Gleiches gilt auch für bereits durchgeführte Crashversuche. Ein wichtiger Teil in der Arbeit des technischen Sachverständigen ist die Besichtigung des Unfallortes. Natürlich kann man auch vom Schreibtisch her eine Unfallanalyse erstellen, allerdings bleiben dann wichtige Details und Umstände des Unfallortes dem technischen Sachverständigen verborgen, die aber durchaus für die Betrachtung des Unfalls ausschlaggebend sein können (auch wenn ihm Fotos vom Unfallort vorliegen). Hier ein Beispiel: Ein Pkw befährt eine Kreuzung. Ihm folgt ein zweiter Pkw mit einigem Abstand. Nun muss der erste Pkw verkehrsbedingt halten, weil ein Fußgänger, dessen Ampel grün geschaltet ist, die Fahrbahn überquert.
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P. Schmidt, G. Zahner
Abb. 9.1. Die beiden Pkw in Kollisionsstellung nachgestellt.
zeugteilen eingedämmt bzw. ganz verhindert werden, hat aber den Nachteil, dass die Insassenbelastung steigt. Eine Tatsache ist dabei mit zu berücksichtigen. Die Eindringtiefe des Stoßfahrzeuges ist unter Umständen höher, als nachher zu sehen ist. Im vorliegenden Beispiel liegen über die Beschädigungen beider Fahrzeuge jeweils ein Schadengutachten vor. Diesen Schadengutachten sind Fotos über die Schäden der Fahrzeuge beigefügt. Um an die Umstände des Verkehrsunfalls zu kommen, empfiehlt es sich, den Verkehrsfluss am Unfallort zu betrachten. Man bekommt hierbei einen Einblick, wie sich der Durchschnitt der Verkehrsteilnehmer im Unfallabschnitt aufgrund der baulichen und anderen Besonderheiten verhält. Auch Abweichungen dessen lassen sich hier sehr gut beobachten. Zumeist findet man an Ort und Stelle Antworten auf bestimmte Reaktionen.
Der zweite Pkw bemerkt dies zu spät, bremst zwar noch, aber fährt letztendlich doch auf. Solch ein Bild bekommt der technische Sachverständige fast nie zu sehen, es sei denn, die Polizei oder Zeugen oder Beteiligte haben diese Stellung fotografiert. In der Praxis kommen aber eher selten solche Bilder zustande (Abb. 9.1). Das heißt, der technische Sachverständige sucht nach Anknüpfungstatsachen. Im genannten Beispiel sind zwei Pkw beteiligt. Beide hatten Kontakt miteinander. Daraus ergibt sich, dass beide Fahrzeuge Berührungsspuren aufweisen müssen. Je nach Stärke der Kollision und Festigkeit (bzw. Steifigkeit) der betroffenen Karosserieteile sind diese mehr oder weniger verformt. Und selbst, wenn äußerlich für den Laien keine Verformungen zu sehen sind, so weisen die berührten Teile überwiegend Kontaktspuren auf. Um diese zu finden, muss man schon genauer hinsehen. So kann es durchaus sein, dass die hintere Stoßstange völlig intakt aussieht (manche Stoßstangen gehen nach Aussetzen der Stoßkraft bis zu einer bestimmten Stoßgeschwindigkeit wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück), beim Kofferboden aber eine Verformung in Form einer Zusammenfaltung, wie bei einem Fächer, zu sehen ist. Auch Spaltmaßveränderungen zwischen Türen und Türholmen weisen auf tiefgehende Krafteinwirkungen hin. Die zunehmende Festigkeit der Karosserien, speziell der Fahrgastzellen, bringt zwar den Vorteil, dass Berührungen des Insassen mit Fahr-
Berechnungsmöglichkeiten ] Ausgangsgeschwindigkeit Hat der Unfallrekonstrukteur alle Details zusammen, oder zumindest den größten Teil, kann er an die Betrachtungen bzw. Berechnungen gehen, die zu der Antwort der jeweils gestellten Fragen führen soll. Hierzu gehört auch die Berechnung der Kollisionsgeschwindigkeit. Dazu sind natürlich genaue Erkenntnisse über die Endstellung der beteiligten Fahrzeuge, die Bestimmung des Kollisionspunktes, die Einlaufphasen und die beschriebenen Verhaltensweisen der beteiligten Fahrzeugführer notwendig. Es gibt zwei grundlegende Möglichkeiten der Berechnung: die Rückwärtsrechnung und die Vorwärtsrechnung. Was ist darunter zu verstehen? Der Unfall lässt sich im Wesentlichen auf folgende Phasen reduzieren: Die erste Phase ist die Annäherung des Fahrzeuges an den Kollisionspunkt. Die zweite Phase ist die Reaktionsphase, in der meistens ein Bremsmanöver ausgeführt wird. Die dritte Phase ist der eigentliche Kollisionsvorgang und die letzte Phase stellt den so genannten „Auslaufweg“ dar. Das heißt, die Fahrzeuge lösen sich voneinander und rollen bzw. rutschen bis zu ihrer Endstellung.
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] Bei der Rückwärtsrechnung erfolgt die Berechnung der einzelnen Teilgeschwindigkeiten von Endstellung bis Kollisionspunkt, während der Kollision die Energieumwandlung von Bewegungsenergie in Verformungsenergie und letztlich die Reaktionsphase von Kollision bis Ausgangsposition. Danach werden alle Teilgeschwindigkeiten zusammengefasst. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich um eine Vektorenrechnung handelt. ] Innerhalb der Vorwärtsrechnung beginnt die Berechnung mit der Reaktionsphase. Welche Formeln im Einzelnen anzuwenden sind, hängt im Wesentlichen von der Stoßrichtung ab. Diese sind entsprechenden Formelsammlungen zu entnehmen.
] Differenzgeschwindigkeit Unter Differenzgeschwindigkeit, oder auch D V, versteht man die Geschwindigkeit, die das gestoßene Fahrzeug durch den Stoß des Stoßfahrzeuges erreicht. Die nachfolgende Frage lautet: Ist die Belastung der Insassen, die durch die Differenzgeschwindigkeit erreicht wird, dazu geeignet, die von der geschädigten Person vorgetragenen gesundheitlichen Beschwerden hervorzurufen? Hintergrund der Frage ist, dass man auf rechtlicher Basis versucht, eine quantifizierbare Klärung des Sachverhaltes zu erreichen. Sprich, wenn 2+2 = 4 ist und 4 im Bereich der möglichen Schädigungen liegt, dann ist die Schädigung der Person auch auf den Unfall zurückzuführen. Saß aber im selben Fahrzeug eine weitere Person drin und hat keine Verletzungen, dann gibt es bereits ein Problem, weil man davon ausgeht, dass entweder beide verletzt sein müssten oder keiner der beiden Verletzungen aufzeigen dürfte. Rein technisch betrachtet ist das durchaus nachvollziehbar. Die Praxis zeigt aber, dass genau diese Fälle ab und zu auftreten. Auch die Straßenverhältnisse sind von Bedeutung. Hierbei kann es aufgrund unterschiedlicher Ansätze der Bremsverzögerung zu unterschiedlichen Ergebnissen der Kollisionsausgangsgeschwindigkeit und damit zu unterschiedlichen Differenzgeschwindigkeiten kommen. Die Differenzgeschwindigkeit wird im Allgemeinen mittels Energieerhaltungssatz errechnet. Dabei spielen die Massen beider Fahrzeuge eine entscheidende Rolle, aber auch die Festigkeit der jeweiligen Karosse. Wenn das Stoßfahrzeug beispielsweise mit einer Masse von 1000 kg und
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einer Geschwindigkeit von 50 km/h auf ein stehendes Fahrzeug, welches beispielsweise 950 kg wiegt, auffährt, dann trifft es mit einem Energiewert in Höhe von ca. 96 450 Nm auf. Da Energie nicht verloren gehen kann, wird diese lediglich in andere Formen umgewandelt. Zum einen wird dies im Deformationsbild beider Fahrzeuge deutlich, zum anderen bekommt das vorher stehende Fahrzeug eine bestimmte Geschwindigkeit, während das Stoßfahrzeug abgebremst wird.
] Erreichte Beschleunigungen in der Kollisionsphase und Auswirkungen auf die Fahrzeuginsassen Die erreichten Beschleunigungen beziehen sich zumeist auf die Beschleunigung der Fahrzeugkarosse. Die hohen Beschleunigungswerte entstehen durch die äußerst kurze Beschleunigungszeit, die um die 0,1 s dauert. Das heißt, dass ein Fahrzeug, welches auf 30 km/h bzw. 8,33 m/s) beschleunigt, eine Beschleunigung in Höhe von 83 m/s2 oder auch 8,5 g erhält. Die Insassenbeschleunigung wird dabei der Fahrzeugbeschleunigung meistens gleich gesetzt. Dies ist aber so nicht richtig. Der Insasse ist nicht fest mit der Karosse verbunden, so dass er auch im angeschnallten Zustand eine Eigenbewegung erhält. Eine Besonderheit spielt noch der Kopfbereich, da er gegen Schleuderbewegungen überhaupt nicht gesichert ist. Hierbei ist eine Hebelwirkung zu beobachten. Die dabei auftretenden Zug- und Druckkräfte auf den Kopf-Hals-Bereich müssen dabei mit berücksichtigt werden. Interessant ist auch, dass bisher nur mechanische Aspekte berücksichtigt wurden. Da aber der menschliche Körper größtenteils aus Flüssigkeit besteht, wäre an dieser Stelle auch die Wirkung von hydraulischen Kräften mit zu berücksichtigen.
] Kräfte/Energie Kraft ist als eine Beziehung zwischen Masse und Beschleunigung, Energie als eine Beziehung zwischen Masse und Geschwindigkeit definiert. F = m · a (bzw. g) 2
E = m/2 · V
(Kraft) (Energie)
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Insassenbewegung ] Sitzposition/Konstruktive Besonderheiten Wie einige Crashversuche zeigen, macht es einen Unterschied, ob eine Person auf dem Fahrersitz oder auf dem Beifahrersitz sitzt. Zum einen wirken die Festpunkte aufgrund der unterschiedlichen Anordnung der Dreipunktgurte, andererseits kann auch die Beschaffenheit der einzelnen Sitze zu unterschiedlichen Insassenbewegungen führen.
] Sitzhaltung/Körperbau Die Vergangenheit zeigte, dass bei der Beurteilung der Insassenbelastung auch der Körperbau, die Sitzposition und die Sitzhaltung eine große Rolle spielen. Wenn zum Beispiel jemand einen großen Oberkörper hat, so kann es durchaus vorkommen, dass dieser in einer in sich schiefen Körperhaltung auf dem Sitz sitzt. Aber auch kleinwüchsige Personen sitzen nur selten dem Sitz angepasst (Abb. 9.2).
Fazit Jeder Fall ist einzigartig, auch wenn sich manche Fälle durchaus ähneln. Bei der Beurteilung der Möglichkeit einer HWS-Verletzung sind also
Abb. 9.2. Verletzungsfördernde Sitzposition (out of position).
eine ganze Reihe von Anknüpfungstatsachen zu berücksichtigen. Eine Reduzierung auf einen kleinen Standardteil führt unweigerlich zu einer Fehlbeurteilung.
Kritische Auseinandersetzung mit Gutachten zur Beurteilung einer HWS-Verletzung ] Allgemeines Das Thema HWS ist seit Jahren Zankapfel zwischen Versicherungen und Geschädigten. Die aktuelle gesundheitliche Problematik einer HWS-Verletzung und deren unter Umständen zu erwartende Langzeitwirkung sind letztendlich aus medizinischer und technischer Sicht zu beurteilen. Je nach Schwere der HWS-Verletzung schwebt über der in Anspruch genommenen Versicherung das „Schwert des Damokles“, da nicht einzuschätzende Langzeitwirkungen bzw. Folgeschäden eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Betroffenen, wenn nicht sogar Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben können. Für eine Versicherung stößt deshalb schon der Grundansatz einer HWS-Forderung auf Ablehnung. Es stehen nicht nur die Momentankosten in Form von Krankheitskosten und Schmerzensgeld zur Diskussion, sondern auch die – unkalkulierbaren – Folgekosten. Technische als auch medizinische Gutachten sollen letztendlich Klarheit für eine juristische Beurteilung schaffen. Hier ist aber der Wunsch der Vater des Gedankens, da äußerst gegensätzliche Expertenmeinungen und Beurteilungen der jeweiligen Sachlage zur Verwirrung beitragen. Den dann folgenden Parteivorträgen mangelt es in der Regel – oft zu Ungunsten des Betroffenen – an Objektivität in der Beurteilung der Sache. Aus Sicht eines technischen Sachverständigen ergeben sich sicherlich keine rezeptartigen Lösungen für dieses Problem, jedoch lassen sich aus der Erfahrung im Umgang mit dieser Problematik Hilfen für Juristen bei der Beurteilung geben. Grundvoraussetzung ist das äußerst kritische Lesen eines Gutachtens. Das ausschließliche Studium der Zusammenfassung eines Gutachtens ist nicht ausreichend, da dann dem Le-
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ser nicht deutlich wird, auf Grundlage welcher Parameter das Ergebnis des Gutachtens überhaupt zustande gekommen ist. Die nachfolgenden Ausführungen sollen zu einer fundierten kritischen Beurteilung beitragen.
] Gutachten aus unterschiedlichen Sichtweiten Beurteilung aus Sicht des technischen Sachverständigen In der Regel hat sich der technische Sachverständige mit Verkehrsunfällen bei der Beurteilung eines HWS auseinander zu setzen, die sich im Grenzbereich einer möglichen Insassenbelastung bewegen. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder der Begriff der so genannten Harmlosigkeitsgrenze auf. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen wurde in den letzten Jahren versucht, diese so genannte Harmlosigkeitsgrenze aus technisch/physikalischer Sicht zu ermitteln. Die durchgeführten Versuche sollten letztendlich Aufschluss darüber geben, ab welcher Belastungsgrenze mit einer HWS-Verletzung zu rechnen ist. Die präsentierten Grenzgeschwindigkeiten differieren zwischen 10–15 km/h und gelten bei der Beurteilung – ohne weitere Differenzierungen – als Messlatte. Da lediglich ein Bruchteil möglicher Parameter diskutiert wird, bzw. diese häufig schlichtweg vernachlässigt werden, führt ein schablonenartiges Anwenden der errechneten Werte dazu, dass das wirkliche Geschehen zum Nachteil der Beteiligten verzerrt dargestellt wird. Inwieweit dann bei einer gutachterlichen Ausarbeitung noch objektive Betrachtungsweisen vorliegen, kann der Leser eines solchen Gutachtens überhaupt nicht mehr beurteilen. Die Folge derartiger Vorgehensweisen ist, dass das Ergebnis eines Gutachtens erfolgsorientiert gesteuert werden kann. Nicht korrekt ist sicherlich auch, wenn das Gutachtenergebnis ausschließlich mit dem Ergebnis eines vermeintlich ähnlichen durchgeführten Versuches verglichen wird, und somit das Unfallereignis nicht auf den Fall bezogen berechnet und diskutiert wird. Der Zusammenhang zwischen dem präsentierten Beispiel und dem wirklichen Geschehen verwäscht sich. Bei oberflächlichem Lesen des Gutachtens fällt nicht auf, dass in Wirklichkeit die präsentierten Werte im Gutachten gar nicht in Zusammenhang mit dem wirklichen
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Unfallgeschehen stehen, da ausschließlich „Schubladenwerte“ einbezogen wurden und keine detailbezogenen Berechnungen. Eine derartige Vorgehensweise des technischen Sachverständigen gereicht sicherlich nicht zum Vorteil des Betroffenen. Schablonenartiges Vorgehen im technischen Gutachten berücksichtigt häufig nicht die eigentliche Unfallkonstellation. Eine Unterscheidung zwischen Front-, Heck- und Seitenaufprall findet dann nicht statt. Es wird häufig unter Zitierung der umfangreichen allgemeinen Literatur ausschließlich die Möglichkeit einer HWSVerletzung in Verbindung mit einem Heckaufprall diskutiert, obwohl z. B. ein Seitenaufprall erfolgt ist. Die Folge ist eine nicht annähernd genaue Aussage zur möglichen Insassenbelastung. Ein technischer Sachverständiger, der auf Basis seiner Berechnungen die vorgetragenen Verletzungen beurteilt, verfehlt seinen Auftrag. Derartige Aussagen stehen einem technischen Sachverständigen nicht zu und verbleiben ausschließlich der Beurteilung eines medizinischen Fachmannes. Pauschalierte Betrachtungsweisen der in Frage stehenden Verkehrsunfälle bringen es mit sich, dass erforderliche Parameter zur näheren Eingrenzung überhaupt nicht diskutiert werden. Mögliche Parameter bei der Beurteilung, z. B.: ] eine ungünstige Kopfposition ] eine nicht optimal eingenommene Sitzposition oder auch ] relevante Vorschädigungen der verletzten Person fließen nicht in die Beurteilung ein und verzerren somit das Ergebnis eines abschließenden Urteils. Bei der technischen Beurteilung einer möglichen Insassenbelastung sollten nachfolgende Parameter grundsätzlich berücksichtigt werden: ] Unfallablauf und Anstoßposition der Fahrzeuge ] Mögliche Kontaktbereiche ] Intrusion von Karosseriebereichen ] Sitzposition der Insassen und mögliche Sitzpositionsveränderung ] Sitzart und Kopfstützeneinstellung ] Mögliche Personenverlagerung beim Unfallgeschehen ] Mögliche Personenkontakte untereinander während des Unfallablaufes ] Mögliche Kopf-/Rumpfausrichtung zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls
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P. Schmidt, G. Zahner
Das Einbringen der vorstehenden Parameter hilft einem medizinischen Sachverständigen bei der Diagnose und würde sicherlich auch möglichen Imponderabilien bei der abschließenden Beurteilung gerecht.
Fazit Der technische Sachverständige kann bei einem korrekten und fachlich begründeten Gutachten ausschließlich Hilfestellung für eine weitere fundierte medizinische Begutachtung geben, nicht aber ein Urteil darüber abgeben, ob eine HWSVerletzung bei der betroffenen Person eintreten konnte oder nicht.
Hinweise für den Mediziner Häufig wird im Rahmen so genannter interdisziplinärer Gutachten im Anhang zu technischen Gutachten eine medizinische Stellungnahme abgegeben. Kritisch zu prüfen ist bei solchen Gutachten, ob der beauftragte medizinische Sachverständige die betroffene Person überhaupt untersucht hat oder neben umfangreichen allgemeinen Abhandlungen seine Diagnose ausschließlich auf das Ergebnis des technischen Gutachtens stützt. Kritische Nachfragen diesbezüglich unterbleiben nicht selten. In solchen Fällen ist davon auszugehen, dass nicht nur eine Prüfung des Zusammenhangs zwischen Verletzungsmöglichkeit und Unfallgeschehen unterblieben ist, sondern auch eine Begutachtung der körperlichen Konstitution bzw. eine Untersuchung auf evtl. Vorschädigungen. Zu prüfen ist, ob in medizinischen Gutachten die Schweregrade der HWS bagatellisiert und unter Berufung auf öffentliche Lehrmeinungen abgestuft werden, auch die Meinung des erstbehandelnden Arztes bagatellisiert wird, wenn nicht sogar völlig unbeachtet bleibt. In derartigen Fällen drängt sich die Frage nach der Unparteilichkeit des medizinischen Sachverständigen auf. Logischerweise dürfte bei gewissenhafter Untersuchung des Geschädigten durch den erstbehandelnden Facharzt die objektivste Meinung vorliegen. Weitere Untersuchungen im Rahmen der Beweisführung erfolgen meist erst Wochen, wenn nicht sogar Monate später. Zu dieser Problematik haben sowohl das OLG Bamberg als auch das LG Bonn eindeutige Urteile gefällt. So argumentiert z. B. das OLG Bamberg, dass die Kausalität eines Unfallereignisses für ein ärztlich diagnostiziertes HWS-
Schleudertrauma feststehe, wenn im ärztlichen Attest des Durchgangsarztes vom Unfalltag unter Diagnose „HWS-Distorsion“ eingetragen werde, sowie ein verschreibungspflichtiges Medikament als auch das Tragen einer Schanzschen Halskrause verordnet werde und bei einer Nachuntersuchung tastbare Verspannungen im Bereich der Brustwirbelsäule festgestellt würden. Das Landgericht Bonn schließt sich dieser Rechtsprechung an (LG Bonn, Urteil vom 01. 08. 2002, NZV 2002, 504). Nach Überzeugung des Gerichtes ist die Aussage des erstbehandelnden Arztes maßgebend. Es ist folglich zu unterscheiden zwischen gutachterlichen Ausführungen, bei denen der Betroffene überhaupt nicht vom medizinischen Sachverständigen untersucht worden ist, bzw. ärztlichen Gutachten, bei denen der Betroffene erst Wochen, wenn nicht sogar Monate später untersucht worden ist. Weiterhin wäre von juristischer Seite die Frage zu stellen, ob die ärztliche Meinung ausschließlich die Meinung eines einzigen Arztes ist oder das Untersuchungsergebnis verschiedener unabhängiger Fachärzte präsentiert wird. Der Fairness halber ist auf das Urteil des OLG Karlsruhe (Urteil vom 24. 09. 1999, DAR 2001 509-NZV 2001, 511) und auf das Urteil des OLG Hamm (Urteil vom 02. 07. 2001, NZV 2001, 468) hinzuweisen, die ärztlichen Bescheinigungen vom Unfalltag über HWS-Verletzungen nicht uneingeschränkt das entscheidende Gewicht beimessen. Hiernach wären die Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Grundsätzlich sollte man sicherlich nicht uneingeschränkt einem einzigen ärztlichen Urteil folgen, sondern sich im Bedarfsfall alternativ ärztliche Meinungen einholen. Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass der Begriff „Harmlosigkeitsgrenze“ fließend ist. Es bestehen keine festen Grenzen einer erforderlichen Differenzgeschwindigkeit zum Eintreten einer HWS-Verletzung, da eine Fülle von Parametern einzubeziehen ist, die nicht immer erfassbar sind. Dabei wird auch deutlich, dass durch mehr oder weniger gewolltes Weglassen wichtiger Parameter das Ergebnis einer gutachterlichen Aussage beeinflusst werden kann.
Hinweise für den Juristen Aufgabe des Juristen ist es, sich kritisch mit den Ausführungen der beauftragten Sachverständigen sowohl aus dem technischen als auch
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medizinischen Bereich auseinander zu setzen. Eine Harmlosigkeitsgrenze gibt es nicht, d. h. folglich auch keine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung, bei der eine HWS-Verletzung absolut auszuschließen ist. Internationale Studien zeigen auf, dass kein allgemein gültiger Zusammenhang zwischen der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (DV) und der Verletzungsschwere besteht, der es gestatten würde, allein aufgrund Kfz-technisch zu ermittelnder Parameter Prognosen über den Krankheitsverlauf zu stellen. Seriöse Studien (z. B. VW-Studie, Volvo-Studie) beweisen, dass bereits bei geringster Anstoßschwere das Risiko besteht, eine HWS-Distorsion zu erleiden, d. h., dass auch bei einem DV von < 3 km/h ein nicht unerhebliches Verletzungsrisiko besteht. Laut einer Veröffentlichung des niederländischen Biomechanikers Prof. Dr. Wismans (Wismans, Whiplash injuries, biomechanics, lowspeed accidents and prevention research, peopil
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seminar, Nov 1st. 2002) besteht auch bei Geschwindigkeitsänderungen zwischen 0 und 10 km/h ein ganz erhebliches Verletzungsrisiko. Bei einem DV zwischen 3 und 7 km/h lag dieses Verletzungsrisiko bei ca. 15%.
Fazit Schematische Vorgehensweisen bei der Erstellung von Gutachten sowohl von Kfz-technischer als auch medizinischer Seite verbieten sich insofern. Eine kritische Aufbereitung aller gutachterlichen Äußerungen und eine kritisch-sachliche Auseinandersetzung sind zwingend erforderlich. Sicherlich kann nicht zwingend auf ein Kfz-technisches oder auch biomechanisches Gutachten zur Beantwortung der Frage eines Ursachenzusammenhangs zwischen Unfall und HWS-Verletzung verzichtet werden. Jedoch sollten die Parameter, die zu den jeweiligen Gutachtenergebnissen geführt haben, kritisch geprüft werden.
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10 Um Kopf und Kragen . . . K. Brieter
. . . so titelte die ADACmotorwelt den jüngsten der zahlreichen Artikel über das Schutzpotenzial unterschiedlicher Autositze, um seine Mitglieder mit einer wichtigen Information über einen besonderen Aspekt der passiven Sicherheit zu erreichen – den Insassenschutz beim Heckaufprall. Der Zusammenhang zwischen der Sitzkonstruktion und dem Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule (HWS) beim Crash ins Heck interessiert den ADAC schon viele Jahre. Anfangs konzentrierten sich die Verbraucherschutztests, mit denen der Club eine Vorreiterrolle übernahm, mehr auf die Beurteilung der Lehnenstabilität sowie der Form, der Festigkeit und des Verstellbereiches der Kopfstützen. Diese regelmäßigen statischen Untersuchungen wurden seit 2000 durch dynamische Schlittenversuche auf der Crashanlage des ADAC Technik-Zentrums in Landsberg am Lech abgelöst. Die in den Jahren 2000, 2003 und 2005 präsentierten ADAC-Tests deckten die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Sitzmodellen und schwerwiegende Mängel beim HWSSchutz auf. Ähnliche Ergebnisse erzielten auch andere europäische Testprojekte, insbesondere in Schweden (SRA/Folksam) und England (Thatcham) – allerdings wiesen die nationalen Testverfahren einige Unterschiede auf. Um die unabhängigen Verbraucherschutz-Aktivitäten international zu harmonisieren, wurde im Herbst 2006 beim europäischen Crashtest-Konsortium Euro NCAP (eine Vereinigung, in der Verbraucherschutzverbände, Automobilclubs und Regierungsstellen zusammenarbeiten) unter der Federführung des ADAC ein europaweit einheitliches Verfahren entwickelt. Die Ergebnisse der ersten Testreihe wurden in der ADACmotorwelt vom Januar 2007 veröffentlicht (Tabelle 10.1). Bei den Versuchen im Labor vom ADAC und der Bundesanstalt für Straßenwesen (bast) wird der jeweilige Autositz rückwärts gerichtet mit der originalen Befestigungskonsole auf dem
Prüfschlitten befestigt. Auf dem Sitz nimmt ein Dummy Platz, der speziell für den Heckaufprall entwickelt wurde. Eine Besonderheit dieser sensiblen Messpuppe, die auf den Namen Bio RID hört: Die gesamte Wirbelsäule ist der menschlichen nachempfunden – sie weist die gleichen dynamischen Eigenschaften auf wie die einer Person mittlerer Körpergröße (50-Prozent-Dummy). Am oberen und unteren Ende der Halswirbelsäule befindet sich eine Reihe von Kraft- und Beschleunigungssensoren, mit denen die HWSBelastungen und die Relativbewegungen zwischen Oberkörper und Kopf gemessen werden können. Beim Anprall des vorsichtig beschleunigten Testschlittens in eine elektronisch gesteuerte Hydraulikbremse werden Pulse erzeugt, die den Stößen aus dem realen Unfallgeschehen entsprechen. Aus der Unfallforschung ist bekannt, dass HWS-Verletzungen nicht nur bei niedrigem Tempo auftreten. Aus diesem Grund wird die Unfallschwere gleich bei drei verschiedenen Geschwindigkeiten simuliert. Der Aufprall entspricht jeweils dem Impuls, der beim Heckaufprall in ein stehendes Auto von einem gleich schweren Fahrzeug mit Geschwindigkeiten zwischen 30 und 50 km/h verursacht wird. Durch die Auffächerung der Kollisionswucht kann verhindert werden, dass die Sitzhersteller das Gestühl für eine bestimmte Aufprallsituation optimieren. Ein weiterer Vorteil: Mit dem niedrigen Puls kann geprüft werden, wie sensibel die Auslösemechanismen der aktiven Systeme sind, der höhere Puls liefert Aussagen zur Sitzsteifigkeit. Neben den reinen Belastungsmessungen werden für das Gesamturteil zum HWS-Schutz eines Sitzmodells noch folgende Kriterien von den Test-Ingenieuren unter die Lupe genommen: ] Der vertikale und horizontale Verstellbereich der Kopfstütze (dabei werden nur so genannte Hardlock-Positionen berücksichtigt, also Kopfstützenpositionen mit festen Arretierungen).
10
Um Kopf und Kragen . . .
]
Tabelle 10.1. Fahrzeugsitz-/Kopfstützentest (aus: ADACmotorwelt) Modelle
Systeme
Testurteil
] Volvo V50
WHIPS
++
] Volvo S80 (MJ 2007)
WHIPS
++
] Saab 9-3
reaktiv
++
] Honda Civic
reaktiv
+
] Mazda 5
passiv
+
] Peugeot 307
passiv
+
] Ford Focus II
passiv
+
] Ford S-MAX
reaktiv
+
] Opel Corsa
reaktiv
+
] Land Rover Discovery III
passiv
+
] Subaru Legacy
reaktiv
*
] VW Passat
reaktiv
*
] Renault Clio
passiv
*
] Toyota Prius
WIL
*
] Mercedes A-Klasse
reaktiv
*
] VW Golf
reaktiv
*
] Audi A6 *
reaktiv
*
] Mercedes C-Klasse
proaktiv
`
] Audi A4 *
reaktiv
`
] Fiat Grande Punto
passiv **
`
] Lexus IS
WIL
`
] Nissan Almera
reaktiv
`
] Citroën C1
passiv
`
] Toyota Yaris
WIL
`
] BMW 3er
passiv
`
] Citroën C5
passiv
`
] VW Fox
passiv
–
] BMW 5er
passiv **
–
* Bei einem Nachtest mit modifizierten Seriensitzen konnte sich Audi deutlich verbessern: Der A6 erreichte mit Note „sehr gut“ Position vier, der A4 mit Note „gut“ Position sieben. * * reaktive Kopfstütze nur gegen Aufpreis. ++ sehr gut; + gut; * befriedigend; ` ausreichend; – mangelhaft WHIPS Beim „Whiplash Protection System“ von Volvo bilden Kopfstütze und Lehne eine Einheit, die sich beim Stoß horizontal nach hinten verschiebt. Über ein Deformationselement wird die Stoßenergie absorbiert. Reaktiv Die Kopfstütze ist über eine Wippe mit der Lehne verbunden. Drückt beim Heckaufprall der Oberkörper gegen die Wippe, wird die Kopfstütze zum Kopf hin bewegt. Passiv Die Kopfstütze ist fest oder verstellbar an der Lehne befestigt. Ist sie zu weit vom Kopf entfernt, wird erst der Körper und dann der Kopf abgefangen. Das führt zu gefährlichen Relativbewegungen an der Wirbelsäule. WIL Beim „Whiplash Injury Lessening“ von Toyota wird der Insasse beim Heckaufprall in eine Energie aufnehmende Lehnenstruktur gedrückt. So wird der Kopf frühzeitig abgefangen. Proaktiv Bei einem proaktiven System (Mercedes) erfolgt das Vorschnellen der Kopfstütze beim Unfall aktiv, zum Beispiel durch eine vorgespannte Feder, die ab einer bestimmten Aufprallstärke freigegeben wird.
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76
]
K. Brieter
] Die Bedienbarkeit (dabei erhält ein Sitz einen Bonus, bei dem sich die Kopfstütze automatisch mit der Sitzlängsverstellung in die optimale Höhe positioniert. Dieser Bonus wird auch Sitzmodellen mit integrierter und daher nicht verstellbarer Kopfstütze gewährt, wenn eine optimale Kopfstützenposition für alle Körpergrößen selbst ohne Verstellbarkeit gegeben ist). ] Die Sitzstabilität (auch bei der höchsten Unfallschwere darf die Rückenlehne nicht über ein begrenztes Maß hinaus in den Fahrzeugfond eindringen). Wenn das neue Testverfahren in die Gesamtbewertung zum Insassenschutz des Euro NCAPProtokolls eingeflossen ist, werden die Verbraucher im gesamten europäischen Raum bei jedem Fahrzeug-Crashtest auch über den HWSSchutz bei Heckkollisionen informiert. Beim ersten europäischen Testprogramm legten die Prüfer besonderen Wert auf die Auswahl der Sitze, um möglichst viele Fahrzeugklassen sowie die Bandbreite der unterschiedlichen Systeme zum HWS-Schutz abzudecken. Derzeit können die Sitzkonstruktionen in fünf Hauptkategorien eingeteilt werden: ] Passive Kopfstütze: Die klassische Konstruktion, bei der die Kopfstütze mit der Lehne entweder verstellbar verbunden oder fest in ihr integriert ist. Bei einem größeren Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze (er wächst zum Beispiel beim Neigen der Lehne) besteht die Gefahr, dass der Oberkörper beim Heckaufprall deutlich früher gegen die Rückenlehne prallt als der Kopf gegen die Kopfstütze. So entsteht eine Relativbewegung zwischen Kopf und Oberkörper, die eine erhöhte HWSBelastung nach sich zieht. ] Reaktive Kopfstütze: Die Kopfstütze ist über eine Wippe mit der Rückenlehne verbunden. Beim Heckaufprall drückt der Oberkörper des Insassen gegen die Rückenlehne und aktiviert eine Wippe. Sie hebelt die Kopfstütze nach vorn und verringert so den Abstand zum Kopf. ] Proaktive Kopfstütze: Ab einer gewissen Unfallschwere wird die Kopfstütze blitzschnell ein Stück nach vorn bewegt (zum Beispiel bei Mercedes durch eine stark vorgespannte Feder, die beim Aufprall freigegeben wird). ] WHIPS (Whiplash Protection System): Bei diesem von Volvo entwickelten System bilden Sitzlehne und Kopfstütze eine fest integrierte
Einheit. Bei einer Heckkollision schiebt sich die komplette Einheit horizontal nach hinten. Über ein Deformationselement wird die Stoßenergie absorbiert. Weil die Rückenlehne dabei nicht kippt, wird der Kopf schon sehr früh zurück gehalten. Die Kombination aus Stoßabsorbierung und sofortigem Halten des Kopfes verringert die Relativbewegung zwischen Oberkörper und Kopf. Entsprechend niedrig ist die HWS-Belastung (Abb. 10.1 a, b). ] WIL (Whiplash Injury Lessening): Bei diesem von Toyota entwickelten System ist die Tragstruktur der Rückenlehne außermittig im hinteren Bereich des Rückenpolsters angeordnet. In der Kopfstütze ist es genau umgekehrt, da sich die Tragstruktur im vorderen Bereich des Kopfstützenpolsters befindet. Beim Heckaufprall dringt der Oberkörper deswegen tiefer in die Rückenlehne ein, bevor er von der Tragstruktur zurückgehalten wird. Dagegen wird der Kopf bereits sehr früh zurückgehalten. Durch diesen dynamischen Ablauf wird die Relativbewegung zwischen Kopf und Oberkörper erheblich reduziert. Das Ergebnis des Tests macht deutlich, wie unterschiedlich der HWS-Schutz der Sitzkonstruktionen immer noch ausfällt: Die „Hitliste“ reicht von sehr guten bis zu mangelhaften Sitzen. Obwohl das ausgetüftelte System (WHIPS) von Volvo V50 und S80 und die reaktive Kopfstütze vom Saab 9-3 eindeutig die Nase vorn haben, kann auch mit herkömmlichen passiven Kopfstützen durchaus ein gutes Ergebnis erzielt werden, wie das Testurteil für Mazda 5, Peugeot 307 und Ford Focus II beweist. Umgekehrt sind reaktive Kopfstützen oder das System WIL (Toyota Prius und Yaris sowie Lexus IS) keine Garantie für ein gutes Abschneiden. Gleiches gilt für die proaktive Kopfstütze der Mercedes C-Klasse (Fahrzeug-Modell bis Frühjahr 2007), die nur ein ausreichendes Ergebnis erzielt. Besonders enttäuschende Beurteilungen ernteten VW Fox und BMW 5er mit ihren passiven Kopfstützen. Aus diesen Testresultaten leitet der ADAC klare Forderungen an die Hersteller ab, um den HWS-Schutz zu verbessern: ] Rückenlehne und Kopfstütze müssen eine stabile Einheit bilden, um das Überstrecken der Halswirbelsäule zu verhindern. ] Aktive Kopfstützen sollten möglichst wenig nachgeben, sodass der Kopf schon beim ersten Kontakt mit der Stütze abgefangen wird.
10
Um Kopf und Kragen . . .
]
bar sein oder durch ein System ersetzt werden, das nicht vom Insassen eingestellt werden muss und deswegen auch Fehlbedienungen ausschließt.
a
b Abb. 10.1 a, b. Die Zeitlupe deckt es auf: Von Anfang an steht die Volvo-Kopfstütze dicht am Hinterkopf und fängt den Stoß zusammen mit der leicht nachgebenden Lehne bestens ab (Fotohinweis: ADAC).
] Die Energieabsorbierung der Lehne muss durch eine geeignete Polsterung verbessert werden. ] Die Kopfstütze muss auch an Insassen mit der maximal möglichen Körpergröße anpass-
Und was kann der Autofahrer oder die Autofahrerin tun? Der ADAC wird nicht müde, den Verbrauchern Tipps zu geben, wie sie ihren Sitz optimal einstellen, um das Verletzungsrisiko beim Heckaufprall möglichst weit zu verringern – selbst dann, wenn das Kopfstützensystem nicht so gut ist: ] Die Sitzlehne sollte möglichst steil eingestellt sein, damit der Oberkörper beim Crash nicht zu stark gestreckt wird und der Kopf nicht zu stark über die Kopfstütze gleitet (Rampeneffekt). ] Die Kopfstütze sollte möglichst weit nach oben gestellt werden. Am besten ist es, wenn die Oberkante der Kopfstütze mindestens auf Scheitelhöhe liegt. ] Der Abstand vom Kopf zur Kopfstütze sollte möglichst gering sein, damit die Bewegung von Kopf und Oberkörper parallel verlaufen kann. ] Sieht man im Rückspiegel, dass ein Heckaufprall droht, sollte man den Kopf sofort an die Kopfstütze pressen. Auch wenn es immer noch mangelhafte Sitze auf dem Markt gibt, so sind die Sitztests kein verhallender Ruf in der Wüste: Das durchschnittliche Sicherheitsniveau steigt seit der ersten ADAC-Veröffentlichung stetig an. Offensichtlich nützt es, bei den Auto- und Sitzherstellern in der Wunde zu bohren. Eine besondere Überraschung hielt Audi bereit, nachdem die Ergebnisse der ersten europäischen Gemeinschaftsaktion verkündet wurden: Es gingen rasch verbesserte Sitze in Serie. Der Erfolg wurde beim ADAC-Nachtest des Sitzmobiliars der Baureihen A4 und A6 sichtbar: Der Audi A4 schaffte den Sprung vom 19. Platz (Testurteil: „ausreichend“) auf den siebten („gut“) und der A6 kämpfte sich von Platz 17 („befriedigend“) auf die vierte Position („sehr gut“) vor. Audi ersetzte die reaktive Kopfstütze (Wippe) durch ein „BackguardSystem“, das im Prinzip so funktioniert, wie das „WIL“ von Toyota. Audi hat mit der Verbesserung genau die Forderungen umgesetzt, die der ADAC im Zuge des Sitztests laut werden ließ. Ein Beweis, dass sich engagierter Verbraucherschutz lohnt – besonders dann, wenn er mit international gebündelten Kräften vorangetrieben wird. Schließlich geht es um Kopf und Kragen.
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11 Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall W. Gauß
Die Hälfte aller Pkw-Pkw-Unfälle mit Personenschaden sind Auffahrunfälle, bei denen mindestens einer der Insassen an der Halswirbelsäule (HWS) verletzt wird. Im von hinten angestoßenen Pkw ist das Risiko für die Insassen eine HWS-Verletzung zu erleiden größer als im stoßenden Pkw [22]. Zugleich besteht bei dieser Unfallart für die Verletzten in der Regel Anspruch auf Entschädigung oder Versorgung. Wohl deshalb hat sich das durch einen Heckanstoß verursachte Schleudertrauma zum Standardfall wissenschaftlicher und rechtlicher Erörterungen entwickelt. Es ist gängige Übung zahlreicher erstinstanzlicher Richter, zuerst ein biomechanisches Gutachten einzuholen. Immer dann, wenn nach dem Ergebnis der Unfallrekonstruktion die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung Delta-V2 des klägerischen Pkw unterhalb einer so genannten „Harmlosigkeitsgrenze“ liegt, wird gefolgert werden, eine Verletzung könne nicht stattgefunden haben. Übliche Werte für diese Grenze sind 10 km/h oder auch 15 km/h. Eine medizinische Beurteilung wird in vielen Fällen dann als überflüssig angesehen und dem Kläger wird jeder andere Beweisweg verbaut. Er muss auf diesem – für das Gericht einfachsten – Wege selbst dann scheitern, wenn er in Wahrheit verletzt ist und Beweismittel dafür hat. Dieses Verfahren legt die Annahme zu Grunde, das Erkenntnismittel der Biomechanik sei derart zuverlässig, dass es weiterer und vor allem medizinischer Aufklärung der Sachverhalte nicht bedürfe. Der Bundesgerichtshof hat mit einschlägigem Urteil in einem Revisionsfalle die Pflicht zur Einholung eines biomechanischen Gutachtens verneint, nachdem die medizinische Begutachtung die tatrichterliche Überzeugung von der Kausalität begründet hatte. Es sei nicht ersichtlich, „in welcher Weise ein Gutachten über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zu
einer weiteren Aufklärung des Geschehensablaufs beitragen könnte“, heißt es in der Begründung, die sich insgesamt zur schematischen Anwendung der Harmlosigkeitsgrenze kritisch äußert [6]. Gleichwohl scheint in der ersten Instanz das biomechanische Gutachten ein beliebtes Instrument zu bleiben [23]. Wie sicher sind nun die Aussagen solcher Gutachten? Biomechanische Gutachten gehen von der Hypothese aus, dass zwischen den physikalischen Zuständen vor dem Stoß und den gesundheitlichen Zuständen nach dem Stoß ein eindeutiger und mit physikalischen Größen quantifizierbarer Kausalzusammenhang hergestellt werden kann: „Ohne Kraft keine Verletzung“ [16]. In einem ersten Schritt wird dabei allerdings nicht eine Kraft, sondern die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung Delta-V2 des angestoßenen Pkw berechnet. Dieser kinematische Wert wird als geeignetes Maß für die so genannte „biomechanische Belastung“ [10] angesehen. Im zweiten Schritt wird aus diesem Wert eine Aussage zur Verletzungsmöglichkeit abgeleitet. Die physikalischen Zustände vor dem Stoß sind meist nicht bekannt, so dass sie rückwärts entgegen dem Geschehensablauf rekonstruiert werden müssen. Angeknüpft wird dabei vor allem am Beschädigungsbild der Pkw, an Unfallspuren und in selteneren Fällen an den Positionen der Fahrzeuge nach dem Stoß. Eventuell vorhandenen Aussagen der Beteiligten wird mit Skepsis begegnet [9, 16, 29]. Um es vorneweg zu sagen: Alle üblichen Rekonstruktionsmethoden und Computerprogramme haben den gleichen physikalisch harten Kern: Die Fahrzeuge werden als Massenpunkte idealisiert, für deren Stoß die Sätze von der Erhaltung der Energie und der Erhaltung des Impulses sowie die Axiome der klassischen Mechanik gelten. Um den Kern herum gibt es verschiedene Reihenfolgen der Rechnung und unterschiedliche
11
Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
Annäherungen an das, was als sicheres Wissen über den konkreten Unfall fehlt. Im Fall des zentralen Heckaufpralles mit Bewegung beider Pkw längs einer gemeinsamen Geraden bleibt der Impulssatz eindimensional. Drehmomente, Drehimpulse, Drehimpulssatz („Drallsatz“) und Reibung brauchen nicht berücksichtigt werden, weshalb davon im Folgenden nicht mehr gesprochen werden wird. Das Lesen von Gutachten und die gebotene kritische Würdigung ihrer Verfahren erfordern den Umgang mit den grundlegenden Begriffen der Mechanik. Deshalb sollen zunächst die verschiedenen Geschwindigkeitsangaben besprochen werden. Über den Begriff der Relativgeschwindigkeit lässt sich danach erklären, was ein inelastischer und was ein elastischer Stoß ist und welche Bedeutung diese „Stoßcharakteristik“ für die Insassenbelastung hat. Die Beschleunigung erweist sich sodann als der Begriff, der die Insassenbelastung besser beschreibt als Delta-V. Über den Begriff der Kraft gelangt man zum so genannten „Stoßantrieb“ bzw. zum Impulssatz und zum Energiesatz. Danach wird diskutiert werden, wie diese Sätze zur Rekonstruktion von Delta-V eingesetzt werden und wie genau dieses Verfahren ist. Der Begriff der Geschwindigkeit wird mehrfach benutzt, um den Bewegungsablauf in seinen Phasen vor und nach dem Stoß sowie vergleichend zu beschreiben. Vor dem Stoß haben die Fahrzeuge 1 und 2 die Einlaufgeschwindigkeiten V1 und V2, nach dem Ende der Wechselwirkung miteinander bewegen sie sich mit den Auslaufgeschwindigkeiten V1 und V2 weiter. Diese vier Größen werden in Bezug auf die Straße, also relativ zu einem ruhenden Koordinatensystem, gemessen. Für eine Charakterisierung dessen, was der Stoß am Bewegungszustand jedes Stoßpartners ändert, bietet sich die durch den Stoß verursachte Geschwindigkeitsänderung DeltaV1 V1 V1 für den stoßenden Pkw1 bzw. Delta-V2 V2 V2 für den gestoßenen Pkw2 an. Die physikalische Stoßtheorie erlaubt eine Aussage über Delta-V: Die Werte der Geschwindigkeitsänderungen hängen zum Ersten von den Massenverhältnissen der Stoßpartner, zum Zweiten von der Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß und zum Dritten vom Maße der Umwandlung von Bewegungsenergie in Verformungsenergie der Karosserien ab [1, 7, 14, 21]. Die zum Ersten genannte Bedeutung der Massen der Stoßpartner sieht man augenfällig,
]
wenn man auf einer ebenen glatten Unterlage Münzen unterschiedlicher Masse aufeinander schießt. Der Pkw mit der kleineren Masse erleidet die größere Geschwindigkeitsänderung. Richtungsumkehr bedeutet natürlich Vorzeichenwechsel beim Einsetzen in die Differenzbildungen. Bei diesem Münzenstoß ließen sich übrigens aus der Gleitstrecke nach dem Stoß die Auslaufgeschwindigkeiten mit guter Näherung berechnen. Damit wären zwei Bestimmungsstücke des Vorganges bereits gewonnen. Das wäre beim Realunfall ebenfalls möglich, wenn die Verhältnisse im Auslauf sicher bekannt wären. Die zum Zweiten genannte Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß Vrel V1 V2 hat eine anschauliche Bedeutung: Wenn man vom Pkw2 aus vor dem Stoß in den Rückspiegel blickt, dann sieht man den stoßenden Pkw1 mit dieser Relativgeschwindigkeit auffahren. Den Anteil der Geschwindigkeiten relativ zur Straße kann man mit diesem Blick nicht erkennen. Es ist nicht erkennbar, wie hoch das „Geschwindigkeitsniveau“ insgesamt ist. Ob Pkw1 mit V1 18 km/h fährt und Pkw2 steht oder ob V1 72 km/h und V2 54 km/h beträgt, die Relativgeschwindigkeit und mit ihr die Folgen der Kollision bleiben gleich. Entsprechend entfernen sich nach dem Stoß die Pkw mit Vrel V1 V2 voneinander. Auch diese Relativgeschwindigkeit nach dem Stoß hängt nicht vom Geschwindigkeitsniveau ab. Sie erhält übrigens mitunter auch andere Namen, z. B. „Trennungsgeschwindigkeit“. Summarisch sei erwähnt, dass es ein mathematisches Hilfsmittel, die stoßrelevanten Geschwindigkeiten vom „Geschwindigkeitsniveau“ des Vorganges abzukoppeln, gibt. Es ist die Einführung eines sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegenden Koordinatensystems, welches seinen Ursprung im Schwerpunkt (in Abb. 11.1 mit S bezeichnet) des Systems aus beiden Pkw hat. Der Schwerpunkt liegt stets auf der Verbindungsgeraden der Stoßpartner, die er in jedem Moment der Bewegung im Verhältnis der Massen teilt. Die Bewegung jedes Pkw über Grund wird dann dargestellt als Summe aus der Bewegung des gemeinsamen Schwerpunktes und der jeweiligen Geschwindigkeit relativ zum Schwerpunkt. Die Relativgeschwindigkeiten im Schwerpunktsystem sind gleich den Relativgeschwindigkeiten bezüglich der Straße. Der Gesamtimpuls beider Pkw ist in dieser Schwerpunktbewegung enthalten und bleibt erhalten,
79
80
]
W. Gauß V1 = 4 m/s
S
V2 = 0 t = -1s
k=0
t=0 t = 1s
k = 0,1
t=0 t = 1s
k = 0,5
t=0 t = 1s
k=1
t=0
Abb. 11.1. Orte nach dem Stoß bei verschiedenen Stoßzahlen unter sonst gleichen Bedingungen.
t = 1s
sofern kein Kraftschluss mit der Straße besteht. Die Summe der Impulse im Schwerpunktsystem ist null. Die Energie dieser Schwerpunktsbewegung bleibt konstant und kann nicht in die Verformung fließen [21]. Für die Wirkung des zum Dritten genannten Energieverzehrs durch Verformung gibt es deshalb eine strikte physikalische Grenze. Es kann nämlich lediglich der Energieanteil der Relativbewegung der Pkw verzehrt werden. Zu jeder Einlaufkonstellation, die durch die Massen der Stoßpartner und ihre Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß festgelegt ist, gibt es eine untere Schranke der beiden Delta-V-Werte, die physikalisch nicht unterschritten werden können. Dieser Fall der minimal möglichen Delta-V-Werte heißt völlig inelastischer Stoß. Beim Spielen mit Münzen könnte man versuchen, mit Knetmasse an den Partnern zu bewirken, dass sie nach dem Stoß aneinander kleben bleiben. Beim völlig inelastischen Stoß wird die gesamte Energie der Relativbewegung in Verformung umgewandelt, die Stoßpartner bewegen sich nach dem Stoß gemeinsam (im Schwerpunkt liegend) weiter und Delta-V ist minimal. Für den entgegengesetzten Fall gilt: Beim völlig elastischen Stoß dagegen wird keine Energie in Verformung umgewandelt, die Stoßpartner bewegen sich nach dem Stoß mit der gleichen Relativgeschwindigkeit wie vor dem Stoß auseinander und Delta-V ist für beide Stoßpartner maximal. Die Wirklichkeit liegt als teilelastischer Stoß dazwischen. Als Maß für den Elastizitätsgrad bietet sich die Stoßzahl
k
V2 V1 V1 V2
V1 V2 V1 V2
Vrel Vrel
1
an. Das Verhältnis aus Relativgeschwindigkeit nach dem Stoß zu Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß definiert (bis auf ein Minuszeichen) die Stoßzahl. Beim inelastischen Stoß wird also die Relativgeschwindigkeit Vrel und mit ihr die Stoßzahl null, beim elastischen Fall ist sie 1. Für Stahlkugeln bei Normalbedingungen beträgt die Stoßzahl etwa 0,7, beim Barrierenanprall eines Pkw liegen die Stoßzahlen unter 0,7 und können diesen Wert – zumal bei kleinen Geschwindigkeiten – erreichen [24]. Der Bewegungsablauf ist in Abbildung 11.1 für vier verschiedene k-Werte durch die Position der Stoßpartner 1 und 2 und des Schwerpunktes S im Sekundenabstand skizziert. Für die Beurteilung des Gefährdungspotentiales halten wir fest: Der inelastische Stoß zeigt die größeren Schäden am Pkw und das kleinere Delta-V. Der relativ elastische Stoß bewirkt kleinere Schäden am Pkw und geht mit der größeren Geschwindigkeitsänderung einher. Im Vergleich bei gleichen Einlaufgeschwindigkeiten ist der elastische Stoß der für die Insassen gefährlichere. Geringe Blechschäden sind also für sich alleine genommen kein Anzeichen geringer Geschwindigkeitsänderung oder geringer Gefährlichkeit. Ein Zeichen dafür, dass ein relativ elastischer Stoß vorgelegen hat, sind stark unterschiedliche Auslaufgeschwindigkeiten. Welchen Elastizitätsgrad die Rekonstruktion zu Grunde legt, ist an der Stoßzahl, die angegeben sein sollte, abzulesen.
11
Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
Die Geschwindigkeitsänderung Delta-V ist für sich alleine genommen kein geeignetes Maß für die Verletzungswahrscheinlichkeit, denn der Körper ist nicht auf Geschwindigkeiten, sondern auf Kräfte empfindlich. Das Maß für Gefährdung von Körperteilen muss die Kraft F oder von ihr abgeleitete Größen wie Drehmoment, Zug oder Druck sein. Weil Körper träge sind, bedarf es zur Änderung ihres Bewegungszustandes einer Kraft, die um so größer ist, je größer die Masse m und je größer die Geschwindigkeitsänderung pro Sekunde ist. Es gilt die Bewegungsgleichung F m a, also „Kraft F gleich Masse m mal Beschleunigung a“, solange die Masse konstant bleibt. Die Beschleunigung ist im Vergleich mit Delta-V das geeignetere Maß für die Schwere eines Stoßes, denn die zur Beschleunigung erforderliche Kraft ist ihr proportional. Vergleichen wir zur Veranschaulichung eine Vollbremsung aus 18 km/h in den Stand binnen etwa 0,6 Sekunden, bei der übrigens auch schon ernste HWS-Verletzungen beobachtet wurden, mit einem Heckanstoß aus dem Stand, bei dem typischerweise in 0,1 Sekunden das Fahrzeug auf 18 km/h angeschoben wird: Die Vollbremsung verzögert dem Betrage nach mit 8,33 Meter pro Sekundenquadrat. Beim Stoß dagegen wird mit 50 Metern pro Quadratsekunde, also mit dem sechsfachen Wert, beschleunigt. Nach einer Sekunde wäre das Fahrzeug bei einer gedachten Beschleunigung mit einem solchen Betrag 180 km/h schnell. Die beschleunigenden Kräfte wären pro Kilogramm Masse im ersten Fall 8,33 Newton und im zweiten 50 Newton. Es erweist sich deshalb neben der Geschwindigkeitsänderung die Stoßdauer Delta-t als gleich gewichtiger Parameter für die Größe der Beschleunigungskräfte. Der Stoßvorgang selbst läuft in zwei Phasen ab. Es gibt eine Verformungsphase, in der Energie aufgenommen wird, und danach eine Restitutionsphase, in der sich die Verformung teilweise zurückbildet und die den elastischen („zurückfedernden“) Anteil des Stoßes bewirkt. Entscheidend für die Stoßdauer Delta-t ist, wie sich die Fahrzeuge verformen, wie also einzelne Bauteile wie eine Schürze oder ein Längsträger sich verbiegen, verformen, brechen oder auch zurückfedern. Bei der Konstruktion der Fahrzeuge werden hier durchaus Rechnungen durchgeführt, die das „Knautschverhalten“ der Neukonstruktionen simulieren. Im Bereich der Unfallrekonstruktion dagegen
]
sind solche detaillierten Rechnungen wegen fehlender Datensätze und wegen der enormen Rechenzeiten auf Großrechnern undenkbar. Damit ist ein Unsicherheitsfaktor bei der Ermittlung der Beschleunigungswerte unvermeidbar: Die Stoßdauer Delta-t ist nicht zuverlässig rekonstruierbar, denn eine Berechnung würde Kenntnis der Kraft-Weg-Kennlinien der Fahrzeugverformungen voraussetzen. In der Gutachtenpraxis wird Delta-t allenfalls geschätzt. In einer aktuellen Sammlung aus über 80 Versuchen liegt die Stoßdauer zwischen 0,07 Sekunden und 0,19 Sekunden [2]. Berechnet man für den Fall eines Heckanstoßes mit Delta-V2 18 km/h mit diesen Stoßdauern die Beschleunigungswerte, so erhält man 71,4 Meter pro Sekundenquadrat bzw. 26,3 Meter pro Sekundenquadrat. Bezogen auf den Medianwert von 48,9 Metern pro Sekundenquadrat hat der Beschleunigungswert einen Toleranzbereich von 46%. Alleine die unbekannte Stoßdauer bewirkt Abweichungsmöglichkeiten vom unbekannten wahren Wert der mittleren Beschleunigung des Fahrzeuges von 46%. Hier ist eine grundsätzliche Anmerkung vonnöten: In der Theorie der Beobachtungsfehler nennt man solche Abweichungen vom (grundsätzlich unbekannten) wahren Wert „Fehler“. Die Wahl der Fehlerschranken hängt davon ab, mit welcher Sicherheit der wahre Wert innerhalb der Fehlergrenzen liegen soll und dies hängt vom Verwendungszweck der Rechnung ab. Da Delta-V ein sicheres Ausschlusskriterium für Entschädigungsansprüche sein soll, muss die Sicherheit hoch, also z. B. 99%, und entsprechend der Toleranzbereich groß gewählt werden. Dies wollen wir hier tun. Bei geringeren Zuverlässigkeitsansprüchen könnten die Fehler natürlich kleiner gewählt werden. Wenn die Pkw einander stoßen, dann üben sie wechselseitig aufeinander eine Kraft aus, die stets betragsmäßig gleich, allerdings entgegengesetzt gerichtet ist (3. Newtonsches Axiom). Keineswegs gleich sind dagegen die durch die Kräfte bewirkten Beschleunigungen. Sie werden nämlich durch das Verhältnis der Fahrzeugmassen bestimmt. Das Maß für die wechselseitige „Wirkung“ des Stoßes ist nochmals ein anderes und heißt „Stoßantrieb“, „Impulsübertrag“ oder „Kraftstoß“. Eine (konstant gedachte) Kraft zwischen beiden Pkw wird umso mehr Auswirkung haben, je länger die Fahrzeuge im Kontakt sind. Das Produkt aus Kraft und Stoßdauer ist die Größe, die die Auswirkungen beschreibt und
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]
W. Gauß
wird in Newtonsekunden angegeben. Ganz richtig müsste man anstelle des Produktes das Zeitintegral über die Kraft F(t) als Funktion der Zeit berechnen, denn aufgrund der sich unregelmäßig verformenden Blechteile ist die Kraft keineswegs konstant. Setzt man F(t) m a(t) ein und berücksichtigt, dass die Beschleunigung die erste Zeitableitung der Geschwindigkeit ist, dann folgt für den Impuls p m v. Impuls ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Der Impuls ist eine Erhaltungsgröße, er geht nicht verloren. Man kann sich also vorstellen, dass jeder Stoßpartner seine eigene Portion Impuls mitbringt und dass ein Teil davon beim Stoß ausgetauscht wird. Die Summe der Impulse p1 m1 V1 und p2 m2 V2 im Einlauf ist gleich der Summe der Impulse p1 m1 V1 und p2 m2 V2 im Auslauf – so lautet der Impulserhaltungssatz Gl. 2. Ganz deutlich gesagt: „Impuls geht durch verbogenes Blech nicht verloren“. m1 V1 m2 V2 m1 V1 m2 V2 m1 V12 m2 V22 Wdef1 Wdef2 2 2 m1 V12 m2 V22 2 2
2
3
Beim Energieerhaltungssatz Gl. 3 ist das anders: Die Summe der Einlaufenergien ist gleich der Summe der Verformungsenergien Wdef1 und Wdef2 plus der Summe der Auslaufenergien. Der Effekt des Energieinhaltes der rotierenden Räder übrigens hebt sich zwischen den Stoßpartnern in etwa auf und kann vernachlässigt werden. Die Verformungsenergie könnte man prinzipiell als Wegintegral über die Kraft-Weg-Funktion F(s) der Verformung berechnen. Allerdings ist diese Kraft-Weg-Kennlinie unbekannt. Es werden verschiedene Näherungsmodelle dafür diskutiert: Man könnte die Verformungskraft als konstant ansetzen, dann wäre die Verformungsarbeit als (mittlere) Verformungskraft mal Deformationstiefe abzuschätzen. Man könnte einen linearen Zusammenhang ähnlich dem einer Feder, bei dem die Kraft proportional zur Deformationstiefe ansteigt, annehmen. Der Auffahrunfall wäre wie eine „Federreihenschaltung“ zu beschreiben. Die Beschleunigung würde dann zeitlich einen Sinus-Verlauf aufweisen, welcher in wirklichen Unfällen nicht einmal in Andeutung zu beobachten ist (Abbildung 11.2). Die Proportionalitätsfaktoren, die Struktursteifigkeiten der Pkw,
a/g 10 8 6 4 2 0 -2 0
0,02 s
0,1 s
0 0,2 s
Abb. 11.2. Fahrzeugbeschleunigungen a(t) zweier Heckanstöße.
schwanken von Fahrzeug zu Fahrzeug bei Teilüberdeckung etwa zwischen 300 kN/m und 800 kN/m, bei voller Überdeckung zwischen 1000 kN/m und 1800 kN/m, also um 45% bzw. 29% des jeweiligen Medianwertes [1]. Wirklichkeitsgetreuer könnte die Deformationsenergie für jeden Fahrzeugtyp durch ein Energieraster beschrieben werden, welches Front oder Heck in beispielsweise 6 mal 6 36 Felder einteilt und jedem Feld eine Portion Deformationsarbeit zuschreibt [1, 14]. Die gesamte Deformationsarbeit ließe sich dann durch Addition der Werte der von der Verformung betroffenen Felder errechnen. Dieses Verfahren setzt detaillierte Kenntnisse der betroffenen Fahrzeuge voraus, so dass es selten angewendet wird. Üblich ist vielmehr das EES-Verfahren. Man sucht aus den verfügbaren Crashtests einen heraus, bei dem ein möglichst ähnliches Verformungsergebnis entstanden ist. Dies geschieht in der Regel durch bloßen Vergleich von Lichtbildern nach Augenschein. Die Verformungsenergie wird aus den kinematischen Daten des Tests (allerdings ungenau bezüglich des elastischen Stoßanteiles) erschlossen und wird für die Rekonstruktion des realen Unfalles übernommen. EES (Energy Equivalent Speed) ist dann diejenige Geschwindigkeit, die in die Formel für kinetische Energie eingesetzt (Gl. 6) die Verformungsenergie in Joule ergibt. Fassen wir das Bisherige zusammen: Bei der Rekonstruktion unbekannt bleiben die tatsächlichen Kraft-Weg-Kennlinien der Deformationen, der zeitliche Verlauf a(t) der Fahrzeugbeschleunigungen, die Stoßdauer Delta-t und der Elastizitätsgrad k. Impulssatz und Energiesatz können (im vorliegenden eindimensionalen Falle) als jeweils eine Bestimmungsgleichung zur Berech-
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Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
nung je einer unbekannten kinematischen Größe verwendet werden. In solchen Gleichungen sind die Fahrzeugmassen enthalten, die man als bekannt voraussetzen kann, denn sie lassen sich ermitteln. Es ist allerdings auf Passagierzahl und -masse, Gepäckstücke, Betriebsmittelstand (Tank) sowie An- und Einbauten zu achten. Man wird hier wegen ungenauer oder unermittelter Anknüpfungstatsachen mit einem Fehler von bis zu 10% zu rechnen haben. Geeignete Umformung der beiden Sätze liefern Gleichungen, die der jeweiligen Fragestellung angepasst sind. Mit Gl. 4 und Gl. 5 beispielsweise können die Einlaufgeschwindigkeiten V1 und V2 aus der gesamten Verformungsenergie (sie ist in Gl. 4 durch EES1 und EES2 ausgedrückt) und den beiden Auslaufgeschwindigkeiten V1 und V2 berechnet werden. Sie sind dann geeignet, wenn die Auslaufgeschwindigkeiten bestimmt werden können. ( m2 m1 V1 m2 V2 V1 m1 m2 m2 r) m1 m2 m1 m2 EES12 EES22
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V1 V2 2 m2 m1 V2
m1
V1 m2
V1 V2
5
Ein vollständiges Beispiel einschließlich vorbildlicher Fehlerbetrachtung hierzu rechnet Danner [14]. Die übliche Gutachtenkonstellation liegt jedoch anders. Rekonstruiert werden soll die Geschwindigkeitsänderung Delta-V2, die absolute Höhe der Einlaufgeschwindigkeiten interessiert nicht. Ein- und Auslaufgeschwindigkeiten sind unbekannt. Für diesen Fall lassen sich ebenfalls aus den beiden Erhaltungssätzen die Gl. 7, Gl. 8 und Gl. 9 ableiten. Nehmen wir an, Pkw1 (m1 1000 kg) sei zentrisch auf Pkw2 (m2 800 kg) aufgefahren und eine Schätzung habe EES1 9 km/h und EES2 6 km/h ergeben. Außer den Massen ist dann nur die gesamte Deformationsarbeit Wdefges 4236 Nm, die in Gl. 7 vorkommt, bekannt. Selbst wenn man nur nach Delta-V2 fragt, bleibt eine Unbekannte zuviel, entweder die Stoßzahl k oder die Relativgeschwindigkeit Vrel V1–V2 vor dem Stoß. Man erhält keine eindeutige Lösung für Delta-V2, wenn man nur die gesamte Deformationsenergie kennt. Das muss so sein, denn man kennt nur die Verformungsenergie und weiß nicht, wie groß die Gesamtenergie bzw. die für
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eine Verformung verfügbare Energie der Relativbewegung war. Man kann also nur Paare von zueinander gehörenden k- und Vrel-Werten bestimmen. Beispielsweise löst k 0,1 mit Vrel (V1 V2) 15,80 km/h die Gl. 7 ebenso wie k 0,5 mit Vrel 18,15 km/h. Aus Gl. 9 ergibt sich für den ersten Fall DeltaV2 (V2 V2) 9,65 km/h, für den zweiten Delta-V2 15,12 km/h. Der erste Fall wäre der relativ inelastische Stoß, der zweite Fall wäre der relativ elastische Stoß. Es müssen also bei der technischen Rekonstruktion des Heckanstoßes zwei Eingabegrößen als Näherungswert bestimmt werden, nämlich z. B. die Summe der Verformungsenergien Wdefges und die Stoßzahl k. Hier ist anzumerken: In der Gutachtenpraxis mit Programmen wie ANALYZER PRO, CARAT oder PC Crash können natürlich andere Werte wie etwa eine vermutete Einlaufgeschwindigkeit V1 in Verbindung mit einer vermuteten Trenngeschwindigkeit Vrel oder auch zwei Einlaufgeschwindigkeiten geschätzt und als Eingabegröße verwendet werden. An unserer Aussage zur Genauigkeit ändert das nichts. Zur Ermittlung von Delta-V werden zwei kinematische Größen benötigt und deren Ungenauigkeiten bestimmen die Ungenauigkeit des Ergebnisses, gleich welche man wählt. Bleiben wir beispielhaft bei unserer Wahl von Wdefges und k: Die Stoßzahl k nimmt im Allgemeinen mit der Überdeckung (mit zunehmender Steifigkeit) zu und mit der Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß ab. Crashversuche erweisen, dass für PkwPkw-Stöße die oben verwendeten Werte k 0,1 bis k 0,5 die Schranken des Bereiches sind, in welchem die k-Werte zu erwarten sind. Die Mehrfachausrechnung zeigte: Der dadurch verursachte Fehler, bezogen auf den Medianwert von Delta-V2 von 12,39 km/h, beträgt 22%. m1 EES12 2 m2 EES22 Wdef2 2 Wdef1
Wdefges Wdef1 Wdef2 1 m1 m2
V1 V22
1 k2 2 m1 m2
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7
V1 V1
m2
1k
V1 V2 m1m2
8
V2 V2
m1
1k
V1 V2 m1m2
9
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W. Gauß
Die Bestimmung der Verformungsenergien bzw. der EES-Werte wäre dann einigermaßen genau, wenn Schadensbilder der gleichen Fahrzeugpaarung bei gleichem Stoßwinkel, gleicher Relativgeschwindigkeit und gleichem Schadensbild verglichen werden könnten und wenn durch Besichtigungen und Demontage (man muss an verdeckte Schäden denken!) sichergestellt werden könnte, dass die Beschädigungen wirklich gleich wären. Beide Voraussetzungen sind in der Realität nicht erfüllt. Das tatsächliche Deformationsverhalten hängt von der Paarung ab. Die stark unterschiedlichen Steifigkeiten verschiedener Modelle führen direkt zu unterschiedlicher Deformationstiefe bei gleicher Deformationsarbeit, so dass die übliche EES-Bestimmung nach Augenschein bei nicht typgleichen Pkw stark fehlerbehaftet sein muss. Es kommt besonders bei Heckanstößen auch vor, dass der einem Schadensbild zugeordnete EES-Wert selbst schon aus einem Pkw-Pkw-Crash per Näherungsverfahren extrahiert und entsprechend fehlerbehaftet ist. Ungenau muss auch der Vergleich der Verformungen bzw. die Schätzung einer Verformungstiefe zumal nach Bildern bleiben. Burg selbst gab in seinem grundlegenden Artikel, obschon er in seinem Beispiel typgleiche Fahrzeuge zur Verfügung hatte, einen Fehler von 5 km/h für die einzelne EES-Bestimmung an [8]. Trotz vieler hundert am Markt verfügbarer Crashtestdaten wird die Vergleichsmöglichkeit mit einer typgleichen Paarung ein singulärer Ausnahmefall bleiben. Die Verformungsenergien hängen zudem gemäß Gl. 6 quadratisch von den EES-Werten ab und bei niedrigen Geschwindigkeiten – also genau im interessierenden Bereich – wird der prozentuale Fehler anwachsen. Wir schätzen trotzdem – viel optimistischer als Burg – einen Fehler von nur 40% für den gesamten Verformungsenergiewert. In der Praxis ist es wichtig, auf die verschiedenen Heckbauformen mit unterschiedlichen Steifigkeiten (Stufen-, Fließ- oder Kombiheck), auf Anbauteile wie Anhängekupplungen, auf besonders kompakte Konstruktionen (Offroader oder Smart), auf sehr ungleiche Aufteilung der Deformationsarbeit wegen stark unterschiedlicher Steifigkeiten zu achten. Untersucht man, wie die Fehlereinflüsse von Masse m2, Verformungsenergie Wdefges und Stoßzahl k zusammen wirken, so erhält man mit Mehrfachausrechnung (keiner der Fehlereinflüsse ist linear wirksam!) einen prozentualen
Fehler für Delta-V2 von +62% und –41% für den ungünstigsten Fall. Nach dem Fehlerfortpflanzungsgesetz wird der wahrscheinliche Fehler niedriger liegen und um 31% zu erwarten sein, da sich zufällige Fehler teilweise aufheben. Allerdings ist Zufälligkeit nicht gegeben, wenn ein bereits wertender Bearbeiter die Einzelwerte auswählt, und das ist beim EES-Verfahren der Fall. Wird Delta-V als „biomechanische Belastung“ verwendet, müsste noch die Ungenauigkeit von 42% durch die Stoßzeit Delta-t berücksichtigt werden, da die Belastung von der Beschleunigung abhängt. Im Ergebnis wird der (günstige) Fall des wahrscheinlichen Fehlers bei stattlichen 51% liegen, der ungünstigste erheblich höher. Dass diese Schwankungsbreite des Delta-V beim EES-Verfahren realitätsnahe ist, wird durch eine Recherche von Fallenberg und Castro 2001 [4, 10] bestätigt. In einem Versuch sollten 37 Sachverständige anhand von Lichtbildern deformierter Fahrzeuge einen Delta-V-Wert durch Angabe einer unteren und oberen Schranke eingrenzen. Der wahre Wert Delta-V 16,7 km/h war ihnen unbekannt. Bei 24 Sachverständigen entsprechend 65% lag der Toleranzbereich unterhalb des wahren Delta-V- Wertes und erfasste diesen nicht. Die Medianwerte der einzelnen Schätzungen wichen vom wahren Wert um durchschnittlich 4,4 km/h nach unten entsprechend –26% ab. Die von den Sachverständigen selbst angegebenen Toleranzbereiche waren im Mittel nur 2,7 km/h breit. Noch schlechter ist es nach Bartlett [3] mit der Genauigkeit bestellt: Die aus zwei Schadensbildern von 51 verschiedenen Fachleuten ermittelten Delta-V-Werte schwankten nach seinen Angaben um 52% des Medianwertes. Liegt also bei einem realen Unfall die wahre Geschwindigkeitsänderung in der Nähe einer als gültig angenommenen Harmlosigkeitsgrenze, so führt alleine die Ungenauigkeit der Rekonstruktion des Delta-V-Wertes dazu, dass in der Mehrzahl der Fälle die Verletzungsmöglichkeit verneint wird, obschon sie aufgrund der Prämissen als gegeben hätte angesehen werden müssen. Die Selbsteinschätzung der Sachverständigen ist viel zu optimistisch, die von ihnen angegebenen Toleranzbereiche sind regelmäßig zu klein. Von jeder Rekonstruktion, die einen Toleranzbereich von weniger als 50% des rekonstruierten DeltaV-Wertes angibt, ist zu fordern, dass sie diese
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Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
Genauigkeit begründet. Für die Quantifizierung der Insassenbelastung ist die mittlere Fahrzeugbeschleunigung der im Vergleich zu Delta-V besser geeignete Parameter. Die mittlere Fahrzeugbeschleunigung wird durch die unbekannte Stoßdauer zusätzlich mit 43% fehlerbehaftet. Angesichts dieser erschreckend hohen Zahlen für die Fehlergrenzen führt eine Diskussion um einzelne Prozentpunkte nicht weiter, denn entscheidend ist die Größenordnung der Fehler. Sie ergibt sich aus experimentell gesicherten Fakten, bei Delta-t insbesondere aus den Crashtests. Man darf sich nicht durch übergenaue Zahlenangaben bei Computerprogrammen täuschen lassen. Das Programm CARAT [18] beispielsweise berechnet eine Stoßdauer, die auf tausendstel Sekunden genau im Ausdruck angegeben wird. Das ist irreführend, denn die Zahlenrechnung ist fehlerfrei, nicht aber die Eingabedaten und die stillschweigend zu Grunde gelegte Hypothese einer linearen Kennlinie für die Deformation! Grundsätzlich ist ein Computerverfahren nicht genauer als eine altmodische Handrechnung. Dem Leser wird es bei Crash-Programmen schnell unmöglich, Anknüpfungstatsachen, Schätzungen und Folgerungen voneinander zu unterscheiden. Dies verstößt dort, wo nicht sehr gut erläutert wird, gegen den Grundsatz, dass Gutachten nachvollziehbar sein sollen. Für den Fall komplizierterer Verhältnisse (gebremster Stoß, Unterfahren, Reibung, nicht zentrale Stöße) steigen sowohl die Komplexität der Rekonstruktion als auch die Fehlermöglichkeiten, so dass hier keine bessere Genauigkeit zu erwarten ist. Für den zweiten Schritt der Begutachtung stellt sich die Frage, wie sich die Fahrzeugbeschleunigung auf einen Insassen auswirken wird. Wir müssen die Erörterung auf einen Normalfall beschränken, denn die Folgen von individuellen Verfassungen der Insassen und ungewöhnlichen Sitzpositionen vor dem Stoß können nicht in Allgemeinheit abgehandelt werden. Mechanisch führt der Weg der Einwirkung über die tragende Struktur des Pkw, über Sitzbefestigung, Lehnenbefestigung (es entsteht ein Drehmoment bezüglich ihrer Befestigungsachse), Lehnenrahmen, Lehnenfederung bzw. Polsterung sowie Kopfstützenfederung bzw. Polsterung zu Rumpf und Kopf. Die Karosseriestruktur kann unter Stoßbedingungen nur eingeschränkt als steif angesehen werden. Dieser Weg ist eine Zusammenschaltung von Federn, Massen und Reibungsgliedern, die mit dem Rumpf oder Kopf
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als träger Masse und Lehne oder Kopfstütze als Feder endet. In dieses selbst schwingungsfähige System wird eine zeitabhängige Beschleunigung a(t) eingeleitet, die bei Schlitten- oder Skooterversuchen ein Beschleunigungsmaximum zwischen monotonem Anstieg und Abfall aufweist [9, 20], die jedoch beim realen Crash durchaus mehrere Beschleunigungsspitzen vom bis zum Vierfachen des Mittelwertes in Abständen von 10 ms bis 15 ms haben kann – Richtigkeit der Messungen unterstellt [2, 9]. Abbildung 10.2 zeigt einen Verlauf mit Delta-V2 9,6 km/h und einen weiteren mit Delta-V2 11,2 km/h. Wir haben zwei Experimente gewählt, bei denen der zeitliche Verlauf durch jeweils zwei unabhängige Sensoren erfasst wurde. Es ist also gesichert, dass die zahlreichen Beschleunigungsspitzen real vorkommen. Beachtenswert ist die Individualität der Kurven sowie die Tatsache, dass die Maximalwerte der Beschleunigungen sich mit 10 g : 4,6 g 2,17 nicht wie die Geschwindigkeitsänderungen mit 11,2 km/h : 9,6 km/h 1,17 zueinander verhalten. Die Abbildung ist der experimentelle Beleg dafür, dass Delta-V2 kein zur Beschreibung der Insassenbelastung geeignetes Maß ist (Kräfte sind der Beschleunigung proportional!). Castro hält die hochfrequenten Beschleunigungsspitzen „wegen der Trägheit von Kopf und Rumpf“ für irrelevant [9]. Das ist physikalisch grundsätzlich falsch, denn die Trägheit verursacht ja die Beschleunigungskräfte erst: Wären wir masselos, gäbe es die meisten Unfallverletzungen nicht! Nach Löhle [12] dringen die Maximalwerte von a(t) wegen „Dämpfung“ und zeitlicher Kürze nicht bis zum Insassen durch. Zu erwarten ist wohl, dass durch den Federweg (nicht durch die Dämpfung) bzw. durch seine integrierende Wirkung die Fahrzeugbeschleunigung zunächst geglättet wird, denkbar ist aber auch, dass das durch die Fahrzeugbeschleunigung erregte Sitz-Insassen-System selbst wieder Maxima hinzufügt. Das gilt besonders dann, wenn bei Stoßbeginn zwischen Kopf und Kopfstütze ein Abstand besteht. Dann baut sich eine Relativgeschwindigkeit auf, weil der Kopf zunächst an der Beschleunigung nicht teilhaben kann (wohl verformt sich aber die HWS!). Beim Auftreffen entsteht dann eine Beschleunigungsspitze, der noch weitere Maxima folgen können. Sie sind zeitverzögert gegenüber der Fahrzeugbeschleunigung. Insgesamt erscheint die Frage nach der Wirkung von wechselnden Beschleunigungen und Kräften wenig untersucht. Wie schwierig es ist, nur ein Schlit-
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tenversuchsergebnis zur Bewertung eines Sitzes mit gleichem Ergebnis zu wiederholen, zeigt die Anleitung, wie der Dummy auf dem Sitz positioniert werden muss [30]. Man muss davon ausgehen, dass der Übermittlungsweg vom Pkw zum Insassen neben einer zeitlichen Verzögerung zu einer Vergrößerung der Beschleunigung bis zum Faktor 4 führt. Für den genauen Verlauf der Kräfte auf den Insassen ist die individuelle Position relativ zum individuellen Sitz von entscheidender Bedeutung. Es ist derzeit nicht möglich den Vorgang nachzurechnen. Die Vergrößerung der Beschleunigungswerte ist für den einzelnen Unfall nicht rekonstruierbar. Interessanterweise hat Fabriciu˛s [20] bereits 1969 die wesentlichen Merkmale eines Heckanstoßes mit biomechanischem Ansatz untersucht. Er konnte dabei Schlittenversuche zum Heckanstoß und ein einfacheres Rechenmodell aus neigbarer Lehne mit Rumpf, neigbarem Hals und drehbarem Kopf für den Körper des Insassen befriedigend zur Deckung bringen. Gemessen, gefilmt und berechnet wurden neben der Beschleunigung a(t) des Schlittens insbesondere die Kopftranslation in Form des Halswinkels und die Kopfrotation in Winkelgraden als Funktion der Zeit. Abbildung 11.3 zeigt den glatten Verlauf der Schlittenbeschleunigung a(t) und zeigt, wie die Kopfdrehung (c) zeitlich nach der Kopftranslation – hier durch den Halswinkel (b) gemessen – einsetzt. Die an Sitz und Kopfstütze schon damals von Fabriciu˛s gestellten Forderungen sind im Wesentlichen mit den Ergebnissen der Sitztests der letzten Jahre in Übereinstimmung. Insbesondere beschreibt Fabriciu˛s zutreffend, dass der Rumpf vor Hals und Kopf beschleunigt wird und dass dadurch zunächst eine
D/° 60
a/g
50
c
40
20
30 20
10 a
b
10 0 0
0,01 s
0,05 s
0 0,1 s
Abb. 11.3. Schlittenbeschleunigung (a), Halswinkel (b), Kopfwinkel (c). (Nach Fabriciu˛s 1969).
s-förmige Verformung an der HWS, in der Art einer Welle von unten nach oben laufend, eingeleitet wird. Dies entspricht der heutigen Erkenntnis, dass der Hals verletzt sein kann, bevor der Kopf die Kopfstütze erreicht. Es hätte also schon nach dem damaligen experimentellen Wissen nicht heißen dürfen „Flexion oder Extension“ an der HWS. Immerhin werden mittlerweile bei Versuchen sowohl Scher- als auch Zugkraft am Übergang vom Hals zum Kopf gemessen. Dabei ist der verwendete Dummy weit davon entfernt, der HWS eins zu eins zu entsprechen. Alle verletzungsgefährdeten Gelenkstrukturen sind nicht vorhanden. Die Tests liefern lediglich ein relatives Belastungsmaß der HWS, welches zum Vergleich der Sitzeigenschaften dient. Ein konkretes und absolutes Maß für die Belastung einzelner HWS-Strukturen wird nicht gemessen. Es können also aus den Sitztests keine für die Beurteilung der Verletzungswahrscheinlichkeit in realen Unfällen tauglichen Zahlenwerte gewonnen werden. Eine biomechanische Beurteilung im eigentlichen Sinne des Wortes müsste Körperteile, in diesem Fall also die Elemente der HWS, bezüglich ihrer Bewegung und Belastung mit Mitteln der Mechanik beschreiben. Hierzu müsste es möglich sein, von den Beschleunigungen des Fahrzeuges auf Belastungswerte der HWS zu schließen. Für eine Beurteilung der Verletzungswahrscheinlichkeit müssten zum Vergleich zuverlässige Belastungsgrenzwerte der HWS bekannt sein. Dass die tatsächliche Belastung der HWS nicht vorhergesagt oder rekonstruiert werden kann, haben wir gesehen. Die zweite Voraussetzung eines biomechanischen Verfahrens ist ebenfalls nicht erfüllt. Belastungsgrenzwerte für einzelne Strukturen sind nicht vorhanden: „Es existieren bisher keine validen Rechenverfahren zur Quantifizierung von Belastungen (Zug, Druck, Scherung, Torsion), etwa an einzelnen Gelenkfacetten, an Gelenkkapseln, Gelenkmenisken, am Faserring der Bandscheibe, an Spinalästen der Vertebralarterien oder Vertebralvenen, an den Spinalnerven und ihren Seitenästen, an der autochtonen Wirbelsäulenmuskulatur oder an Muskelspindeln und Dehnungsrezeptoren. Es existieren keine wissenschaftlichen Versuche zu den Belastungsgrenzwerten der beispielhaft aufgeführten Strukturen“ (Mattern in [27]). Der biomechanisch nachvollziehbare Ausschluss jedweder Verletzungsmöglichkeit müsste überdies jeden nur denkbaren Verletzungsmechanismus ausschlie-
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Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
ßen können. Er müsste viel größere Hürden überwinden als der positive Nachweis einer Verletzung, der nur Kenntnis eines Weges verlangt und doch schwierig genug ist. Mangels Kenntnis aller denkbaren Mechanismen einer Verletzung ist der sichere Ausschluss jedweder Verletzungsmöglichkeit der HWS mit Mitteln der Biomechanik derzeit und in absehbarer Zukunft nicht möglich. In der Gutachtenpraxis endet die mechanische Betrachtung mit Delta-V2, gelegentlich wird noch die Beschleunigung erwähnt. Für den Ausschluss der Verletzungsmöglichkeit wird danach statistisch mit Unfallexperimenten argumentiert [9, 12, 16, 29]. Die Bezeichnung „biomechanische Beurteilung“ führt in die Irre. Es wird statistisch und nicht mechanisch argumentiert. Damit entfällt die der Mechanik zugeschriebene Sicherheit bei der Berechnung und der Vorhersage von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Eine wissenschaftliche Untersuchung muss in der Mechanik mit „Fehlern“ oder mit „Toleranzen“ umgehen, in der statistischen Schlussfolgerung müssten „Varianzen“ geprüft, müsste die Theorie der Beobachtungsfehler angewendet werden. Von jüngeren Versuchen zum Heckanstoß [9] berichten die Autoren, unterhalb von Delta-V= 11 km/h habe kein Insasse Beschwerden angegeben. Man könne „von der sicheren Seite aus schlussfolgern“, dass ein Schleudertrauma „in der Regel“ unterhalb von Delta-V = 10 km/h auszuschließen sei. Dieser Schluss ist wissenschaftlich unzulässig. Man müsste fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, bei 15 Versuchen keine Verletzung zu beobachten, wenn die (unbekannte) Verletzungswahrscheinlichkeit z. B. bei 5% = 0,05 liegt. Mindestens eine Verletzung zu beobachten oder keine – man könnte statistisch (mit der Binomialverteilung) nachrechnen, dass beides bei dieser Versuchszahl fast gleich wahrscheinlich ist. Die Versuchszahl ist viel zu klein, um daraus wissenschaftlich korrekt eine fehlende Verletzungsmöglichkeit zu folgern. Der Einwand der fehlenden statistischen Aussagekraft gilt für alle Freiwilligenversuche. In dieses Gesamtbild passt, dass die Ergebnisse der Freiwilligenversuche insgesamt keineswegs ganz eindeutig sind. Brault [5] stellt Beschwerden an der HWS im zweistelligen Prozentbereich bei DeltaV 4 km/h und Delta-V 8 km/h fest. Für Delta-V über 11 km/h werden bei Castro [9] in 5 von 9 Fällen (56%) „vorübergehende“ Beschwerden, in einem Fall (11%) auch noch nach 5 Wo-
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chen, angegeben. Es führt hier, wie in anderen Studien auch, eine medizinische „Untersuchung“ zum „Ausschluss“ einer Verletzung. Umfang und Art der Untersuchung offenbart die vorgefasste Lehrmeinung der jeweiligen Arbeitsgruppe, was als Verletzung anzusehen sei. Problem ist das Kriterium, welches „verletzt“ definiert. Bei Castro etwa enthält die Untersuchung neben einer integralen Beweglichkeitsprüfung der HWS vor allem eine Kernspintomographie ohne Funktionsaufnahmen. Empfindlichere Verfahren werden vermieden. Wendet man eine Methode und ein Kriterium an, welche die fragliche Verletzung nicht zuverlässig erfassen können, dann wird man vorhersehbar auch keine Verletzung finden. Das Vorgehen ist tautologisch, denn die scheinbar aus den Experimenten gefolgerte Aussage wird als gültige Hypothese bereits zugrunde gelegt. Spätestens seit Kamieth [25] kann HWS-Diagnostik ohne Funktionsaufnahmen nicht auskommen. Daffner [13] kritisiert in gleichem Sinne das leider oft übliche unzureichende radiologische Vorgehen: „In der Tat können subtile Verletzungen durch weniger schwere Traumen mehr und nicht weniger Aufnahmen zu deren Nachweis erfordern“. Funktionsaufnahmen seien immer schon bei der Erstuntersuchung indiziert. Als Reaktion auf die Ergebnisse von Brault führten Meyer und Kollegen [26] ein Freiwilligenexperiment mit einem „simulierten Heckanstoß“ aus. Pkw2 rollte ersatzweise mit beiden Hinterrädern von einer 6 cm hohen Rampe und ein zeitgleich im Kofferraum im Mittel um 7,5 cm herab fallendes 110-kg-Gewicht verursachte Lärm und Erschütterung. 10 von 51 (20%) Probanden gaben „schleudertraumaähnliche Beschwerden (z. B. Nackenschmerzen, Ohrensausen, Konzentrationsstörungen, Erbrechen, Schwindel)“ an. Richtigkeit dieser Ergebnisse und der Annahme, dass mit Delta-V auch die Verletzungswahrscheinlichkeit steigt, unterstellt, würde man in den beiden älteren Studien [9] aus gleichem Hause von den 28 Probanden mit DeltaV2-Werten bis 11 km/h doch zumindest einige Beschwerdeangaben erwarten. Davon wurde jedoch nicht berichtet. Statistisch genauer gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Beschwerdewahrscheinlichkeit von 20% bei 28 Versuchen keine einzige Beschwerde zu beobachten, liegt bei 0,22%. Die vorgestellten Ergebnisse verschiedener Studien sind also mit einer Sicherheit von 99,8% inkonsistent. Keiner der
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Freiwilligen des „simulierten“ Anstoßes sei übrigens „einer biomechanischen Belastung“ ausgesetzt gewesen, wobei auffallenderweise die Zahlenangabe in km/h unterbleibt und die physikalischen Angaben in sich uneindeutig scheinen: Man muss sowohl wegen der Höhe der Rampe (unter Anwendung des Energiesatzes) als auch wegen der Länge der Auslaufstrecke von 1,7 m (unter Berücksichtigung des Rollwiderstandes) annehmen, dass DeltaV2 2,6 km/h betrug. In der Diskussion des „simulierten Heckanstoßes“ [11] versteht Castro unter „physical injury“ erneut nur eine mechanisch gesetzte Verletzung. Für das Verständnis der Beschwerden schlägt er sinnliche und psychische Prozesse vor, bei denen das erlebte Unfallereignis auf eine erhöhte vorbestehende seelische Verletzlichkeit trifft und bei denen nachfolgend eine körperliche Reaktion möglich ist: Nach seiner Sprachregelung liegt bei solchen Vorgängen keine Verletzung vor. Darin steckt doppelter Irrtum, der die Studie rechtlich irrelevant werden lässt: Körperverletzung im Sinne des Rechts bedarf nicht notwendig einer mechanischen äußeren Einwirkung und das Risiko, dass der Geschädigte nicht zu den Starken der Welt gehört, ist nach ständiger Rechtsprechung dem Schädiger zuzurechnen. Vor diesem Hintergrund wären die 20% der Probanden mit Beschwerden als Verletzte zu werten und die Studie würde eine prozentual zweistellige Verletzungswahrscheinlichkeit bei kleinen DeltaV-Werten (in Übereinstimmung mit anderen Studien) nachweisen. Es gibt weitere Einwände gegen Freiwilligenversuche: Die körperliche Reaktion der Testpersonen entspricht nicht der realen Unfallsituation, da ein Crash (irgendwann) erwartet wird. Nachgewiesenerweise gilt dies erst bei vorsätzlicher Täuschung der Probanden nicht mehr, eine Bedingung, die fast alle Versuche nicht erfüllen. In der Mechanik führe – so vermutet man vorschnell – jeder definierte Ausgangszustand zu dem immer gleichen genau definierten Endzustand. Es gibt den Wunsch, diese Hypothese auf die Gutachtenpraxis übertragen zu können. Zuordnungstabellen für das Schleudertrauma wie die von Schmidt in Moorahrend [27], die den kinematischen Größen gesundheitliche Werte zuordnen, legen sie stillschweigend zu Grunde. Diese Hypothese gilt jedoch nur für hinreichend einfache Systeme und diese Einfachkeitsgrenze wird alltäglich und erst recht beim Un-
fall überschritten: Man wird kaum erwarten dürfen, beim Kegeln alle Neune zweimal auf genau gleiche Art zu Fall zu bringen oder beim Crash zweier Fahrzeuge zweimal ein genau gleiches Schadensbild zu produzieren. Die Komplexität der mechanischen Verhältnisse in Verbindung mit zufälligen Einflüssen wie Sitzhaltung und -einstellung und mit individuellen Verletzlichkeiten der Insassen führt dazu, dass ein mechanisch genau definierter Zustand vor dem Stoß, dass ein bestimmtes Delta-V (und auch eine bestimmte mittlere Fahrzeugbeschleunigung) im Einzelfall zu sehr unterschiedlichen gesundheitlichen Ergebnissen nach dem Stoß führen werden. Einige u. a. schon bei Kamieth [25] und Erdmann [19] berichtete Fälle, bei denen alltägliche Vorgänge, Skooterfahrten, Achterbahnfahrten, normale Pkw-Betriebsbremsungen (mit maximal etwa Erdbeschleunigung), Schleudern ohne Aufprall oder Stürze aus dem Stand zu (teils schweren) Verletzungen führten, sowie jüngere Überlegungen verschiedener Arbeitsgruppen zu alltäglichen mechanisch-kinematischen Belastungen bestätigen dies. Man wird auch bei einstelligem Delta-V alle Ergebnisse von fehlender bis dauerhafter Verletzung (mit unterschiedlichen Eintretenswahrscheinlichkeiten) erwarten dürfen. Aus der Tatsache, dass bestimmte Grade mechanisch-kinematischer Belastung mit nachfolgender Gesundheitsstörung des Körpers sowohl „im Alltag“ als auch durch einen Unfall erzeugt werden können, lässt sich nicht folgern, dass die nach dem Unfall aufgetretene Störung nicht unfallkausal ist. Man muss aber daraus folgern, dass der Grad der mechanischkinematischen Körperbelastung wegen der fehlenden Disjunktivität beider Bereiche keine für die Kausalitätsbeurteilung geeignetes Kriterium sein kann. Man muss sich grundsätzlich von dem Gedanken verabschieden, eine (umkehrbar) eindeutige Zuordnung vom Verletzungsergebnis oder gar vom langfristigen Verlauf der Gesundheitsstörung zur Unfallkinematik, die für den Einzelfall sicher anwendbar wäre, herstellen zu können. Der Anspruch forensischen Denkens, welches in der Verletzung einen „Abdruck“ sowohl vom „Tathergang“ als auch von der Form der „Tatwaffe“ finden will, muss uneingelöst bleiben. Denkbar wäre dagegen die Erforschung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung, aus welcher im Grundsatz allerdings, folgt man den naturwissenschaftlich-mathematischen Regeln schlussfol-
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Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall
gernden Denkens, keine Einzelfallaussagen abgeleitet werden können. Als Beispiel für den – keineswegs seltenen – Fall einer dagegen verstoßenden Folgerung sei Eisenmenger [16] zitiert. Er setzt eine durch Unfallbeobachtungen empirisch ermittelte Verletzungswahrscheinlichkeit (von 20–30% bei Delta-V unter 10 km/h gemäß [31]) dem Wahrscheinlichkeitsgrad des Beweises vor Gericht gleich. Eine objektiv definierte relative Häufigkeit innerhalb einer statistischen Stichprobe wird einem Glaubwürdigkeitsmaß im Einzelfall gleichgesetzt. Für Unfälle mit Delta-V unter 10 km/h wäre dann ein Beweis der haftungsbegründenden Kausalität grundsätzlich immer unmöglich. Die Gleichsetzung der Prozentwerte wäre jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Kläger allein die Tatsache des Unfalles, ohne jeden medizinischen Bericht, als Beweis für die Körperverletzung vortrüge. Jeder Kläger vor Gericht jedoch bringt neben dem Unfallereignis eine Reihe mit einem Schleudertrauma vereinbarer Symptome sowie eine Krankengeschichte mit. Damit gehört er nicht mehr zur gesamten Stichprobe, die symptomatische und asymptomatische Unfallbeteiligte umfasst, sondern nur zum symptomatischen Teil, für den der erstgenannte Prozentsatz nicht mehr gilt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er unfallkausal verletzt ist, bemisst sich als bedingte Wahrscheinlichkeit (auch im naturwissenschaftlichen Sinne des Wahrscheinlichkeitsbegriffes) nach den Umständen des Einzelfalles. Man könnte hier durchaus wahrscheinlichkeitstheoretisch denken: So wäre beispielsweise gleichzeitiges spontanes Auftreten verschiedener unabhängiger Symptome mit bekannten Einzelinzidenzen nach dem Multiplikationssatz extrem unwahrscheinlich, so dass zur Erklärung des Vorganges ein zufälliges Ereignis im Sinne einer Verwirklichung eines allgemeinen Lebensrisikos schon aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Gründen ausscheidet. Die Idee einer „Harmlosigkeitsgrenze“ bedeutet, dass die Verletzungswahrscheinlichkeit als Funktion von Delta-V eine Stufenfunktion ist, die bis zur Harmlosigkeitsgrenze sicher den Wert 0 annähme. Für diese Annahme gibt es a priori keinen Grund. Die Verteilung der Verletzungswahrscheinlichkeit experimentell zu ermitteln, würde Verletzungen in großer Zahl produzieren. Der Großversuch des wirklichen Lebens zeigt mittlerweile mit ausreichend großen „Versuchszahlen“, dass man bis zu kleinsten
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Delta-V-Werten mit prozentual zweistelligen Verletzungswahrscheinlichkeiten rechnen muss. Bei 1297 analysierten Heckanstößen mit Geschwindigkeitsänderungen zwischen 0 und 10 km/h wird von Jakobsson [22] eine Nackenverletzungswahrscheinlichkeit von etwa 25% gefunden, die weitgehend unabhängig von Delta-V ist. Temming [32] berichtet auf Grund einer bei VW erhobenen noch größeren Datenbasis ebenfalls von Verletzungswahrscheinlichkeiten beim gleichen Kollisionstyp, die von 12% bei Delta-V 3 km/h auf 32% bei Delta-V 10 km/h ansteigen. Hier wird also eine etwas andere Geschwindigkeitsabhängigkeit beobachtet. Eine weitere Arbeit mit vierstelligen Fallzahlen [31] beobachtet ebenfalls bei systematisch erfassten Unfällen Schleudertraumata unterhalb der Harmlosigkeitsgrenze. Der Schwere des Unfalls konnte keine prognostische Relevanz beigemessen werden. Diese Studien wurden jüngst von Eisenmenger [16] angegriffen mit der Begründung, sie beruhten auf „Angaben von Personen, die durchaus ein finanzielles Interesse an der Bewertung ihres Unfalles hatten“. Ein Zusammenhang zwischen Krankheitsverlauf und finanziellem Nutzen, „Krankenrecht“ oder „Krankheitsgewinn“ im Sinne der Psychoanalyse konnte allerdings wissenschaftlich nirgendwo nachgewiesen werden, so dass mit Eisenmengers Behauptung der Boden rationalen Argumentierens verlassen wird. Der Aufsatz enthält Richter-, Ärzte- und Verletztenschelte mit wissenschaftlich unbegründeten Vorurteilen und trägt keine neuen naturwissenschaftlichen Argumente vor. Fassen wir zusammen: Der Anspruch der Biomechanik, physikalisch quantifizierte Belastungen an Strukturen der HWS zu ermitteln und diese mit quantifizierten Belastungsgrenzen der betreffenden Strukturen zu vergleichen, wird weder durch den Stand der Forschung noch durch die Gutachtenpraxis erfüllt. Eine Harmlosigkeitsgrenze ist weder biomechanisch noch statistisch begründbar. Es gibt kein Kriterium für die Belastung von Körperstrukturen der Insassen, dessen Maß in kinematischen Größen der Fahrzeugbewegung, also etwa in Delta-V, angegeben werden könnte. Delta-V ist weder im Hinblick auf den Körper der Insassen noch im Hinblick auf die Fahrzeugbewegung eine zur Beschreibung der Gewalteinwirkung allein geeignete Größe. Bei Kenntnis der Auslaufgeschwindigkeiten und bei Anwendung einer Energierastermethode
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kann eine Rekonstruktion zufriedenstellende physikalisch-technische Ergebnisse für die Fahrzeugbewegung liefern. Delta-V-Werte, bei deren Ermittlung nur die Schadensbilder der beteiligten Fahrzeuge als objektive Anknüpfungstatsachen verwendet werden, sind im niedrigen Geschwindigkeitsbereich mit etwa 50% wahrscheinlichem Fehler behaftet und führen in Verbindung mit einer als existent unterstellten Harmlosigkeitsgrenze wahrscheinlich in einem zweistelligen Prozentsatz der verhandelten Fälle zu Fehlentscheidungen zu Lasten der Verletzten bzw. zu Lasten der allgemeinen Versorgungssysteme.
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Diagnostik
Klinische und technische, nicht bildgebende Diagnostik 12
Kraniozervikales Beschleunigungstrauma („Whiplash-Associated Disorder“ = WAD)
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Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion
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Funktionsstörungen des posturalen Kontrollsystems nach HWS-Beschleunigungstrauma und das „Late Whiplash Injury“-Syndrom
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Kinesiologisches Fine-Wire EMG des M. semispinalis capitis zur Darstellung muskulärer Dysfunktionen nach HWS-Beschleunigungsverletzungen QTF II8
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Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion
12 Kraniozervikales Beschleunigungstrauma („Whiplash-Associated Disorder“ = WAD) HWS-Distorsion ohne oder mit zerebraler Beteiligung [26] – Funktionelle und strukturelle Läsionen des kraniozervikalen Überganges – Milde traumatische Hirnschädigung. Diffuse axonale Hirnschädigung P. Böhm Die Abklärung des kraniozervikalen Beschleunigungstraumas ist bis heute noch ganz auf die HWS zentriert. Entsprechend werden auch die Therapien gestaltet. Mit Recht betont Kissel [19], dass das chronifizierte Whiplash-Syndrom aber noch zwei weitere, wesentliche mögliche Hauptursachen der Chronifizierung aufweist: 1. kognitive (hirnfunktionell) und 2. psychiatrische Störungen.
Verletzungsmechanismus Zum Verletzungsmechanismus beschreiben Grifka et al. [11], dass es initial zu einer horizontalen Translation des Kopfes kommt, bevor die Inklination eintritt. Im Umkehrschluss wurde für den Heckaufprall von einer Dorsaltranslation mit sekundärer Reklination der mittleren HWS ausgegangen und diese Hypothese durch die Katapultversuche von Frisch et al. [10] experimentell untermauert. In radiologischen Untersuchungen zeigte Penning [27], dass es zwischen C0 und C2 zu einer Translation mit Bewegungsausmaßen kommt, die diejenigen zwischen C2 und Th1 überschreiten. Walz [35] kommt bei seinen Untersuchungen zu dem Schluss, dass die Bewegung in Inklination bzw. Reklination erst dann erzwungen wird, wenn die Hypertranslation C0/C2 zu einem Anschlag kommt. Auch bei einer Heck-Kollision mit Kopfstütze und Anprall des Hinterkopfes nimmt er einen Abknickmechanismus der HWS an. Alle diese Darstellungen des komplizierten Verletzungsmechanismus sind lediglich auf eine Ebene beschränkte, simplifizierte Betrachtungen. Nimmt man Rotationsstellungen des Kopfes oder Seitneigung hinzu, so ist der Verletzungsablauf noch schwerer einzuschätzen. Statistisch abgesicherte, kollisionsdynamische Untersuchungen bei Rotations- und Seitneigungsstellungen liegen bislang nicht vor [11]. Außerdem besteht dann wegen asymmetrischer Belastung und damit ein-
seitig vermehrt wirkender Beanspruchung ein höheres Verletzungsrisiko [25].
Genesungsrate Zur Genesungsrate haben Radanov et al. [28] einen Verlauf über zwei Jahre bei 117 Patienten dokumentiert. Nach zwei Jahren hatten noch 18% unfallbedingte Beschwerden.
Funktionelle Störungen Funktionelle Störungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule können für persistierende Beschwerden nach Verletzungen oder Erkrankungen verantwortlich sein oder diese primär verursachen. Besondere Relevanz haben hier Störungen der Funktion der Kopfgelenke C0/1 und C1/2 sowie das Übergangssegment C2/3 [16].
Zervikogener Kopfschmerz Grundsätzlich sind alle zervikalen Strukturen, die von den oberen Zervikalwurzeln C1–C3 sensibel innerviert werden, mögliche Ausgangspunkte eines ZK, da ihre primären afferenten Neurone auf Rückenmarksebene mit primären Afferenzen des Hinterkopfes und trigeminalen Afferenzen auf gemeinsame sekundäre Neurone konvergieren [8].
Trigeminozervikalen Komplex Neurone im Trigeminozervikalen Komplex des Hirnstammes sind die primären afferenten Schaltstellen für den nozizeptiven Eingang der Meningen und zervikalen Strukturen in das Rückenmark. Grundlage der Beteiligung des Nackens bei primären Kopfschmerzen können zwei Mechanismen sein: anatomische und funktionelle Konvergenz trigeminaler (meningealer) und zervikaler Afferenzen im spinalen Hinterhorn
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P. Böhm
sowie Sensibilisierung zentraler nozizeptiver Neurone. Die zentrale Sensibilisierung kann zu einer Verstärkung des jeweiligen anderen konvergenten Eingangs führen [3].
Zervikoenzephales Syndrom Keidel et al. [17] stellten für (traumatische) Störungen der lokalen intramuskulären Rezeptoren der oberen HWS weitreichende Zusammenhänge mit immenser Tragweite her. Die hohe Zahl von Propriorezeptoren, die in der Muskulatur der oberen HWS vorhanden sind, projizieren auf unterschiedliche Kerne im Hirnstamm. Bei Fehlerregung werden die Erregungsmuster noradrener, serotonerger und dopaminerger Bahnsysteme verändert. Diese Bahnsysteme wiederum beeinflussen Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Stimmung, Schmerzempfinden und zerebrale Durchblutung. Störungen in diesen Kategorien, sowie zahlreiche weitere Symptome wie Hörstörungen, Tinnitus, Sehstörungen und diverse vegetative Symptome (verminderte Belastbarkeit, Leistungsminderung) könnten so erklärt werden [16].
Radiologische Diagnostik ] Radiologische Diagnostik in subakutem Stadium und in der Spätphase chronifizierter kraniozervikaler Beschleunigungsverletzungen. Auf eine ausführliche Darstellung bei Friedburg [9] sei verwiesen. Der relativ geringe Wert konventioneller Röntgenaufnahmen zum Nachweis unfallbedingter Schäden an der HWS wird durch die schwedische Arbeitsgruppe Jonsson et al. [15] belegt. Die Funktions-Computertomographie war von Dvorak [5] zunächst unter einem anderen Aspekt entwickelt worden. Die ursprüngliche Idee war, durch den Nachweis einer rotatorischen Instabilität in den Kopfgelenken auf eine Verletzung der Ligamenta alaria rückschließen zu können. Durch die direkte Darstellbarkeit der Ligamenta alaria mittels MRT ist der Versuch eines indirekten Nachweises der Ruptur eines Lig. alare weitgehend bedeutungslos geworden. Friedburg [9] beschrieb im Fall eines eindeutigen Ausrisses des rechten Lig. alare eine starke muskuläre Schutzreaktion, so dass keine atlantookzipitale Hypermobilität in der Funktions-CT resulierte. Abschließend betont Friedburg [9], dass die Ligg. alaria im MRT bei Verwendung hochauflösbarer Techniken gut dar-
gestellt werden. Eindeutige Kriterien zur Diagnose einer Teilruptur eines Lig. alare, die mehrheitlich in der Radiologie akzeptiert sind, existieren zur Zeit nicht. Im Widerspruch hierzu stehen rezente skandinavische Arbeiten [14, 21, 24]: die Anzahl der hochgradigen Veränderungen der Ligg. alaria im MRT bei Schleudertraumapatienten im Vergleich zu nicht verletzten Menschen spreche eindeutig dafür, dass diese Läsionen tatsächlich durch das Schleudertrauma verursacht wurden. Das unterschiedliche Spektrum der Läsionen bei frontalen vs. Auffahrunfällen und bei neutralen Positionen vs. Kopfdrehung unterstützen diese Ansicht. Diese Befunde unterstützen ergänzend die Hypothese, dass verletzte Weichteilstrukturen im Bereich der oberen HWS, insbesondere im Bereich der Ligg. alaria, eine wichtige Rolle bei dem Verständnis des chronischen Schleudertraumasyndroms spielen. In einem Seminar der MNR-Klinik der Uni Düsseldorf am 21. 06. 2005 sprach Prof. Takagi von der Neurochirurgischen Universitätsklinik Tokio zum Thema „Liquorfistel nach Schleudertrauma bzw. Niederdruck-SpinalflüssigkeitsSyndrom“. Er hat über 500 Patienten in den vergangenen vier Jahren betreut. Diagnostische Verfahren waren Liquorraum-Szintigraphie und MRT. Es wurden in mehreren Fällen zusätzlich Liquorfisteln im Lumbalbereich nachgewiesen. Hierzu passen Beschreibungen von Hohl [13] und Dvorak [6], welche auffallend oft bei HWSSchleudertraumen initial tiefsitzende Kreuzschmerzen fanden. Squires et al. [31] fanden bei Weichteilverletzungen bei 70% chronische Beschwerden. Nackenschmerzen waren typisch, aber bei 50% bestanden Schmerzen im Lumbalbereich. Zum möglichen Mechanismus hierzu beschreibt Brügger [2]: „Bemerkenswert ist auch die Verkleinerung des Fassungsvermögens des Spinalkanals der Halswirbelsäule. Nach unseren Messungen verkleinert sich das Volumen des Spinalkanals in der Reklinationsstellung um 15–20 ccm. Da der Liquor nicht kompressibel ist, wird bei einer heftigen Reklinationsbewegung des Kopfes Flüssigkeit aus der Halswirbelsäule teils in das Schädelinnere, teils in den Lumbalbereich hinausgepresst, was zu weiteren Störungen insbesondere im intrakraniellen Raum führen kann.“ Auch tierexperimentelle Untersuchungen stützen diese These. Svensson et al. [32] maßen
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Kraniozervikales Beschleunigungstrauma („Whiplash-Associated Disorder“ = WAD)
den Druckpuls im Halswirbelkanal während der Belastung von experimentellen Schleudertraumen an Schweinen. In diesem Zusammenhang ergaben sich Hinweise einer Dysfunktion der Zellmembran bei Nervenzellkörpern der Spinalganglien. Die ganglionären Verletzungen können möglicherweise einige der mit Weichteilverletzungen des Halses nach Autounfällen einhergehenden Symptome erklären.
Funktionelle kraniozervikale Myelopathie Die Erkenntnisse von Volle [33] aus über 1200 fMRTs zeigen, dass die posttraumatischen narbigen Veränderungen von Ligamenten, synovialen Kapseln und Periostinsertionen des KZÜs durch ihren Funktionsverlust zu einer Rückenmark-Kompression führen können. Es kann wissenschaftlich diskutiert werden, ob die oben genannten Strukturveränderungen eine Instabilität bewirken können. Unstrittig ist jedoch, dass der in der fMRT nachweisbare Rückenmarkkontakt bei gleichzeitigem Eintreten von klinischen Symptomen als pathologisch anzusehen ist. Hierbei ist wichtig zu wissen, dass der KZÜ unter normalen physiologischen Bedingungen den größten Subarachnoidalraum unserer Neuroachse aufweist. Die auslösbare klinische Symptomatik beinhaltet z. B. Drop Attacks, Unwohlsein mit Brechreiz und ein von der Rotation abhängiges Vernichtungsgefühl, Dysästhesien etc. [12]. Einseitige retrobulbäre Kopfschmerzattacken wurden von De la Sayette et al. bei Schädigung der gleichen Seite des Rückenmarks in Höhe von C1 beobachtet [4].
Milde traumatische Hirnverletzungen 1993 deklarierte eine interdisziplinäre Expertengruppe des amerikanischen Kongresses der Rehabilitationsmedizin (Mild Traumatic Brain Injurie Subcommittee of the Head Injury Interdisciplinary Special Interest Group of the American Congress of Rehabilitation Medicine) die Beschleunigungsverletzung des Gehirns ohne Kopfanprall ausdrücklich als Ursache von milden traumatischen Hirnverletzungen [38]. Häufig wird die Möglichkeit nicht zur Kenntnis genommen, dass beim zervikocephalen Beschleunigungstrauma selbst ohne harten Aufprall des Schädels (Kontaktverletzung) durch die ultraschnelle Beschleunigung des Kopfes Verletzungen des Kleinhirns, des Okzipitalhirns (Sehrinde)
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und insbesondere der Mittelhirnstrukturen und des Hirnstamms auftreten können. So beschrieb bereits Krämer 1980, dass auch ohne fassbaren pathologischen Befund (im Röntgenbild) bei der klinischen Untersuchung zerebrale Schädigungen vorkommen. Die vielfältigen psychischen Beschwerden können ganz oder zum Teil Ausdruck einer hirnorganischen Läsion oder auch durch psychoreaktive Störungen modifiziert sein [20]. Im Bericht der Kommission „Whiplash-Associated Disorders“ der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft wird festgestellt: Tiermodelle und Fallbeispiele beim Menschen haben gezeigt, dass eine heftige Beschleunigung oder Verzögerung des Kopfes auch ohne Anprall zu einer Hirnverletzung führen kann. Weiter ist belegt, dass nach Anprall des Kopfes eine strukturelle Hirnschädigung auch dann vorliegen kann, wenn die betroffene Person keine Bewusslosigkeit hatte [30]. 43% der neuropsychologisch getesteten Exploranden wiesen eine „typische“ kognitive Störung auf, wie sie sowohl nach milden traumatischen Hirnschädigungen wie auch nach Whiplash-Unfällen beschrieben wird. In keinem der Fälle fanden sich Hinweise auf eine prätraumatische kognitive Störung. Die Exploranden waren zum Zeitpunkt des Unfalles voll berufsfähig, z. T. in Berufen mit hohen Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten [18]. Neuropsychologische Funktionsstörungen sind ein essentielles Merkmal der Whiplash-Associated Disorders. Sie betreffen Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Merkfähigkeitsstörungen, Verlangsamung des kognitiven Tempos kombiniert mit einer schnellen Ermüdbarkeit, zudem Störungen der Affektregulation und zu einer subjektiv und objektiv zum Teil sehr eindrücklichen Beeinträchtigung der kognitiven, intellektuellen und sozialkompetenten Fähigkeiten [7]. In der Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma“ wird u. a. festgestellt, dass die traditionelle Einteilung gedeckter Schädel-Hirntraumata in die Typen der „Commotio“ und der „Contusio zerebri“, wobei die „Commotio“ anhand klinischer Kriterien (z. B. Dauer der Bewusstseinsstörung oder der Amnesie, initiale Symptomatik, früher Verlauf) als Hirnschädigung ohne strukturelles Korrelat von der „Contusio zerebri“ abgegrenzt wurde (und daher nicht mit über ein Jahr hinausgehende Folgen einher gehen sollte) nicht mehr aufrechterhalten werden kann, da keines der genannten Kriterien
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100
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P. Böhm
eine strukturelle Hirnverletzung auszuschließen vermag („contusio sine commotio“, „diffuse axonale Schädigung“) und die Qualität der Befunde aus der Akutphase häufig eine gutachterliche Bewertung nicht rechtfertigt [34]. Bei der diffusen Hirnverletzung entstehen sehr unterschiedliche Läsionsformen: Im mildesten Fall kommt es zu einer vorübergehenden generalisierten Änderung des zerebralen Funktionszustandes ohne Nachweis struktureller Läsionen. Bei Rotationstraumen treten im Rahmen der Winkelbeschleunigung des Kopfes Scher- und Zugkräfte sowie Unterdruckphänomene auf. Abhängig vom Stärkegrad der Beschleunigung wirken diese sich besonders auf zentrale Hirnanteile aus. Dieses Läsionsmuster wird Diffus-axonales Hirntrauma, im englischsprachigen Raum als Diffuse axonal injury (DAI) bezeichnet. Eine traumatisch induzierte metabolische Kaskade von Gewebsveränderungen durch neurotoxische Mediatorsubstanzen mit letztlichem Zusammenbruch der Axonfunktion kann morphologisch das gleiche Bild verursachen. Eine strenge Korrelation zur Schwere klinischer Symptome liegt dabei aber nicht vor, so dass weder das Vorhandensein bildmorphologischer Korrelate eine klinisch relevante Schädigung nachweist, noch das Fehlen von Veränderungen klinisch dauerhafte Folgeschäden ausschließt [22]. Es werden auch DAI bei Patienten beschrieben, die primär nicht bewusstlos waren [1] – ein Sachverhalt, der schon durch die Beobachtungen von Oppenheimer (1968) gestützt wurde. Er fand eine axonale Schädigung bei Patienten, die nach einem leichten SHT an einer begleitenden Verletzung verstarben und deren Hirne deshalb untersucht werden konnten. Mit Recht fragt sich Wildberger [36] im Umgang mit neuroophthalmologischen Patienten, ob ein HWS-Trauma mit einer zerebralen Begleitläsion stattgefunden hat, als vielmehr, ob ein Patient mit einem offensichtlichen Hirntrauma nebenbei auch eine begleitende HWS-Läsion hatte.
Endokrines Psychosyndrom Nach Brügger [2] wird heute noch beinahe vollständig übersehen, dass die Schleuderverletzung der HWS auch eine Rotationsbeschleunigung des Gehirns bewirkt. Im Zusammenhang damit auftretende „neurasthenische Erschöpfungszustände“, die sich in schneller Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen, erhöhter nervöser Erreg-
barkeit mit depressivem Verhalten u. a. m. äußern, sind oft Ausdruck einer postkontusionellen Hirnleistungsschwäche. Aufgrund seiner Erfahrungen an über 370 Fällen von Peitschenhiebverletzungen, weist er darauf hin, dass zerebrale Störungen im Sinne der hypothalamischen Insuffizienz außerordentlich häufig sind und den langen Heilungsverlauf verursachen. Auch Schneider et al. [29] zeigen, dass hormonelle Störungen nach SHT mit einer Prävalenz von 30–70% häufig sind. Diese werden jedoch aufgrund der unspezifischen Symptomatik und Verschleierung durch Folgeerscheinungen des SHT oft nicht erkannt.
Hirnschrankenprotein S-100 Der Normwert bei Erwachsenen beträgt < 0,07 mcg/l. Gliazellen und periphere SchwannZellen bilden das Hirnschrankeneiweiß S-100. Wenn Gliazellen geschädigt werden, verlieren sie nicht nur das S-100 über Liquor in das Blut, sondern sie aktivieren ihre eigene Stickstoffmonoxid (NO)-Synthese. Kuklinski [23] konnte zeigen, dass auch die HWS-Instabilität im täglichen Leben zu S-100-Anstiegen führt. S-100 hat nur eine biologische Halbwertzeit von ca. 25 min, was bedeutet, dass zehn Minuten nach der Provokation die Blutabnahme und -untersuchung sofort durchgeführt werden muss. Mit Kissel [19] ist abschliessend festzuhalten: Wenn der Heilverlauf nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma im zweiten posttraumatischen Monat stehenbleibt, „blockiert“ ist, dann ist der Zeitpunkt gekommen, rasch zu handeln und eine Abklärung entsprechend einem „3-Säulen-Prinzip“ durchzuführen: ] Was sind die Befunde an der HWS? ] Besteht der Verdacht auf kognitive Defizite? Andere Störungen im Zentralnervensystem? ] Besteht der Verdacht auf ein psychisches Leiden? Als Therapie des chronifizierten, posttraumatischen Kraniozervikalsyndroms hat sich bei mir eine multimodale Behandlung mit Atlastherapie nach Arlen, Triggerpunktinfiltration, hochzervikale Fazetteninfiltration, Procain-Basen-Infiltration mit hochdosierten Vitamin-B-Komplexen sowie ganglionäre lokale Opioidanalgesie (GLOA) des Ganglion zervicale supremum bewährt. Bis auf Einzelfälle sind richtungsweisende Besserungen nicht erreichbar. Allerdings ist ein deutlicher Anstieg der Lebensqualität für Tage bis zu zwei bis drei Wochen möglich.
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Kraniozervikales Beschleunigungstrauma („Whiplash-Associated Disorder“ = WAD)
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13 Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion F. Singbartl, A. Ernst
Einleitung Der kraniozervikale Übergang und die Halswirbelsäule als beweglichster Wirbelabschnitt der Wirbelsäule beinhalten eine Vielzahl von komplexen Knochen- und Bandstrukturen, die ein hohes Bewegungspotential in allen Ebenen gewährleisten. Hinzu kommt die Funktion als Schutzkanal für das Rückenmark. Durch diese funktionellen und strukturellen Eigenschaften ist dieser Bereich besonders anfällig für Verletzungen nach Unfällen. Deshalb können stumpfe Traumen des Kopf-/Halsbereiches schwerwiegende Folgen hinterlassen und zu einem Jahre andauernden Siechtum führen. Neben ossären Traumafolgen sind Schäden im Bereich der Weichteile der HWS bzw. der diskoligamentären Strukturen häufig, jedoch aufgrund der eingeschränkten diagnostischen Möglichkeiten nicht immer sofort zu erkennen und neigen leicht zu Chronifizierung. Quantitativ im Vordergrund stehen hierbei die Flexions-Extensions-Verletzungen (sog. Whiplash-Injuries) durch Auffahrunfälle. Die Symptome dieser Verletzungen sind in der Regel vielgestaltig und erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Chirurgen, Unfallchirurgen, Orthopäden, Neurologen und HNO-Ärzten. Besonders Defizite im Bereich der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, wie etwa Höroder Gleichgewichtsstörungen, werden in der Dramatik eines akuten Unfallgeschehens häufig unterschätzt und führen den Patienten erst Tage später in eine geeignete Einrichtung, so dass der Zusammenhang zum Unfallgeschehen meist nur für den erfahrenen Diagnostiker zu erkennen ist. Die folgenden Abschnitte sollen helfen, Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWSWeichteildistorsionen zu erkennen und der richtigen Behandlung zuzuführen.
Pathomechanismus der Hörund Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Die HWS-Distorsion nach Beschleunigungsverletzungen tritt typischerweise im Rahmen von Auffahrunfällen auf. Im Rahmen dieses Unfallgeschehens fährt der betreffende Fahrzeuginsasse auf ein anderes Fahrzeug auf oder wird von hinten angefahren. Hierbei sind die Verletzungen bei einem passiven Unfallteilnehmer, also demjenigen, dem stehend von hinten aufgefahren worden ist, in der Regel ausgeprägter, da dieser unvorbereitet getroffen wird und Schutzreflexe (wie z. B. erhöhter Muskeltonus in Nacken- und Schulterbereich) nur bedingt wirken können. Hinzu kommt, dass der passive Unfallteilnehmer zum Zeitpunkt des Aufpralls in der Regel nicht geradeaus blickt, sondern den Kopf zur Seite gedreht hat, um das Verkehrsgeschehen zu beobachten und so eine zusätzliche Torsionskomponente das Verletzungsrisiko erhöht. Die extreme Fahrzeugbeschleunigung (positiv oder negativ) führt – durch die Masseträgheit des frei beweglichen Kopfes – zu einer FlexionsExtensions-Bewegung des Kopfgelenkbereichs gegenüber der HWS (mit oder ohne Lateralabknickung oder Torquierung) unterschiedlichen Ausmaßes (Abb. 13.1). Dieser Unfallmechanismus schadet besonders dem so genannten „kraniozervikalen Übergang“ mit seiner komplexen Biomechanik und überdehnungsanfälligen Struktur (Hülse et al. 1998). Durch einen Kontakt des Kopfes mit den Innenteilen des Fahrzeuges (z. B. Kopfstütze, Lenkrad, A-Säule, Fenster) können zusätzliche Verletzungsfolgen auftreten (Contact-/Non-contact-Verletzung, nach Hierholzer und Heitmeyer 1994). Zur Beschreibung des Ausmaßes der Verletzung nach HWS-Weichteildistorsion existieren
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F. Singbartl, A. Ernst
Abb. 13.1 a–d. Typischer Ablauf einer Beschleunigungsverletzung in 4 Phasen. Separat angegeben sind die auftretenden
Beschleunigungen (g) über den Zeitverlauf für Kopf, Rumpf und Fahrzeug (aus Ernst et al. 1998).
mehrere Schweregradeinteilungssysteme. Neben den in der modernen Bildgebung schwer fassbaren Weichteilschäden können zusätzlich Frakturen des Dens axis, der Wirbelkörper bis hin zur Kalottenfraktur auftreten. Häufig sind auch begleitende diskoligamentäre Verletzungen (z. B. Ligamentum-alare-Ruptur) (Abb. 13.2–13.5) Aneurysmata der Arteria vertebralis, oder durch intrazerebrale Einblutungen oder Hirnödeme ausgelöste axonale Schäden (Povlishock et al. 1983, Wallesch et al. 2001) ursächlich für die geschilderten Symptome. Entscheidend für die Entstehung der Hörund Gleichgewichtsstörungen sind einerseits Erschütterungen des cochleovestibulären Systems durch stumpfen Kopfanprall (Commotio
labyrinthii) (Ernst et al. 2001, Nölle et al. 2004), andererseits Zerrungen der Nackenmuskulatur und damit einhergehende eingeschränkte Propriozeption und gestörte Funktion der kurzen, tiefen, autochthonen Muskulatur, die zu einer posturalen Instabilität führen (vestibulospinaler Schwindel) (Stapley et al. 2006, Rubin et al. 1995, Berthoz et al. 1992). Weitere Pathomechanismen umfassen eine direkte Schädigung neuronalen Gewebes im Hirnstamm im submikroskopischen Bereich (Povlishock et al. 1983, Wallesch et al. 2001), die zu einer Desintegration der Informationsverarbeitung in den dort liegenden Augenmuskel-, Vestibularis- und Trigeminuskernen führen kann (Fitzgerald et al. 1995, Rubin et al. 1995).
13
13.2
Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion
]
13.3
13.4
13.5
Abb. 13.2–13.5. Beispiele für Ligamentum-alare-Verletzungen nach HWS-Weichteildistorsion. Mit freundlicher Genehmigung der Radiologie des UKB.
] Pathomechanismus der Hörstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Akute Hörstörungen mit Hörverlust sind primär Folge einer Commotio labyrinthii (gestörte cochleäre Mikrozirkulation) oder einer perilymphatischen Fistel (Perilymphverlust aufgrund von Rupturen des ovalen oder runden Fensters). Chronische Hörstörungen sind gekennzeichnet von permanentem Hörverlust, Tinnitus oder Hyperakusis. Obwohl eine permanente Hörminderung nur selten auftritt, klagen etwa 10% der Patienten mit chronischen Beschwerden über Tinnitus und Hyperakusis. Die zugrundeliegenden Pathomechanismen dieser Störungen sind in Kontinuitätsunterbrechung der Axone sowie in Störungen der zentralen Hörbahn zu suchen (Abb. 13.6).
] Pathomechanismus der Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Akute Gleichgewichtsstörungen treten häufig innerhalb von 24 Stunden nach dem Unfallereignis auf. Ursache kann der traumatisch ausgelöste benigne paroxysmale Lagerungsschwindel sein, der aufgrund von frei beweglichen Otolithenkristallen in den Bogengängen auftritt. Ihr Ursprung sind die Otolithenorgane, von deren Oberfläche die Otolithenkristalle aufgrund massiver Beschleunigungsmechanismen losgerissen werden und die Ampulle reizen. Aber auch die pure Erschütterung des Gleichgewichtsorgans kann zu akuten Schwindelbeschwerden führen, da es zu einer Funktionsstörung der Rezeptorzellen kommen kann, ohne strukturelle Schäden zu hinterlassen (ähnlich einer Commotio cerebri).
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]
F. Singbartl, A. Ernst Nucleus lemniscus lateralis
Stapes
Macula sacculi
Rundes Fenster Scala tympani
Macula utriculi
IOC OHC
Ductus cochlearis
Labyrinth
Nucleus cochlearis ventralis
COCB
Nucleus cochlearis dorsalis links
Arachnoidea Saccus endolymphaticus
rechts
Abb. 13.6. Schematische Darstellung des kreuzenden olivocochleären Bündels (COCB), verantwortlich für die kontralaterale Suppression der otoakustischen Emissionen (OHC – äußere Haarzelle, IOC – innere Haarzelle) (aus Nölle et al. 2004).
Aufgrund der hohen Beschleunigungskräfte und der Massenträgheit der Flüssigkeiten im cochleovestibulären System kann es zu Membranrupturen des ovalen oder runden Fensters kommen (Abb. 13.7). Hierbei sind schlagartig einsetzende Schwindelbeschwerden in Verbindung mit einer Schallempfindungsschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes anamnestisch wegweisend. Aber auch zentrale Schwindelbeschwerden als Folge einer Commotio cerebri können in der Akutphase auftreten und sind anhand unspezifischer Nystagmusschlagrichtungen zu vermuten. Chronische Gleichgewichtsstörungen bestehen länger als 3 Monate und können Folge eines posttraumatischen Endolymphhydropses sein. Hierbei kommt es aufgrund von Ionenaustauschstörungen und behindertem Druckausgleich der Reissner’schen Membran zu einem elektrochemischen Ungleichgewicht mit gestörter Signaltransduktion. Eine häufige Folge von HWS-Distorsionen ist eine posturale Instabilität aufgrund von Weichteilschäden der Halswirbelsäule. Begleitend zu den Schwindelbeschwerden schildern die Patienten eine eingeschränkte Halsbeweglichkeit und haubenförmig ausstrahlenden Kopfschmerz.
Diagnostik von Hörund Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Hinweise auf das Vorhandensein einer HWSWeichteildistorsion nach Auffahrunfall geben die Anamnese der Beschwerden sowie deren
Abb. 13.7. Neuroanatomische Druckausgleichsmöglichkeiten bei stumpfem Kopfanprall, mit Schwachstellen im Bereich des runden Fensters und der Stapesfußplatte (aus Ernst et al. 2005).
zeitliches Auftreten nach dem Unfallereignis (Tabelle 13.1). Häufig werden jedoch unmittelbar nach dem Unfallereignis aufgrund von Schmerzen und Schock die sensorischen Störungen (Sehstörungen, Hörminderung, Ohrgeräusche und Schwindel) nicht sofort wahrgenommen oder als nicht so gravierend empfunden (Hülse et al. 1998). Häufig kommen die Patienten erst nach Monaten zur Vorstellung, wenn bereits eine Chronifizierung der Beschwerden eingetreten ist. In seltenen Fällen zeigt sich ein sofort einsetzender, starker Schwankschwindel, der die Patienten zum Arzt führt (Fitzgerald et al 1995). Zur genaueren Evaluation der Unfallfolgen und zur Kontrolle des Krankheitsverlaufs stehen eine Reihe diagnostischer Hilfsmittel zur Verfügung. Die Hörstörung kann in der akuten Phase mittels Reintonaudiometrie gemessen werden. Hier zeigen sich temporäre Hörstörungen, wie sie häufig nach Commotio labyrinthii oder Perilymphfisteln auftreten. In der chronischen Phase sollte die Hördiagnostik durch Hirnstammaudiometrie (BERA), transitorisch evozierten Potentialen (TEOAE) und Stapediusreflexmessung vervollständigt werden. Bei Vorhandensein einer Hyperakusis oder eines Tinnitus aurium bieten sich psychoakustische Messverfahren wie Tinnituslokalisation/-verdeckung und Unbehaglichkeitsschwelle an (Fitzgerald et al. 1996, Nölle et al. 2004) (Tabelle 13.2). Die Schwindelbeschwerden erfordern eine genaue Anamneseerhebung in Hinsicht auf Qualität des Schwindels (Dreh-/Schwankschwindel), der Häufigkeit des Auftretens (stündlich,
13
Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion
wöchentlich, etc.), der Dauer der Anfälle (Sekunden, dauernd, etc.), sowie der vegetativen Begleitsymptomatik. Diagnostische Hilfsmittel sind vestibulospinale Prüfung (Romberg, Unterberger-Test), Messung des vestibulookulären Reflexes (VOR) nach kalorischer Reizung des Labyrinths und im Drehstuhlversuch. Die Funktion der Otolithenorgane kann getrennt durch vestibulär evozierte myogene Potentiale (VEMP) (Sacculusfunktion) (Colebatch et al. 1994) und durch die subjektiv haptiTabelle 13.1. Auftreten klinisch relevanter Störungen in unterschiedlichem zeitlichen Abstand zum Unfallereignis (nach Hierholzer und Heitmeyer 1994)
]
sche Vertikale in exzentrischer Rotation (SHV) (Utrikulusfunktion) (Clarke et al. 1998) gemessen werden. Die Untersuchung der einzelnen Subsysteme (somatosensorisch, visuell und vestibulär) des gleichgewichtserhaltenden Systems erfolgt am besten mit der computer-assistierten dynamischen Posturographie. Diese unterschiedlichen Testverfahren decken alle möglichen peripheren und zentralen vestibulären Störungen ab (Tabelle 13.3). Schwieriger ist die Diagnostik einer gelenkigen Funktionsstörung der HWS (Biesinger et al. 1997) oder eine muskuläre Fehlfunktion, sofern sie nicht manualdiagnostisch ausgebildet ist. Hier sollte ein chirotherapeutisch bewanderter Kollege zurate gezogen werden (Ernst et al. 1998).
Zeitpunkt des Auftretens Art der Störung nach dem Unfallereignis ] akut ] unter 1 Monat ] 1–2 Monate ] ] ] ] ]
1–2 Monate 1–2 Monate 2–3 Monate 2–6 Monate stark variierend
starker Schwankschwindel Hörstörung ungerichteter Schwindel (Unsicherheit) Ohrgeräusche (Tinnitus) Parästhesien und Armschmerz Stimm- und Schluckstörungen Sehstörungen Inappetenz, Befindlichkeitsstörung, Globusgefühl, Merkund Konzentrationsstörungen, Leistungsknick
Therapie von Hörund Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Die Therapie der Beschwerden nach HWSWeichteildistorsion ist komplex und in vielen Fällen langwierig (Tabelle 13.4). Neben der Versorgung der akuten Beschwerden durch frühzeitige Schmerztherapie und Ruhigstellung richtet sich die Therapie nach den vorliegenden Leitsymptomen. Akut auftretende Hörstörungen mit
Tabelle 13.2. Einsatz einzelner audiometrischer Verfahren zur Diagnostik posttraumatischer Hörstörungen und Tinnitus (IOS – Innenohrschwerhörigkeit) Test und Ergebnis
Verdachtsdiagnose
Reintonaudiometrie ] Schallleitungsschwerhörigkeit ] Schallempfindungsschwerhörigkeit
Hämatotympanon bzw. Kettenluxation akute IOS, Perilymphfistel
Stapediusreflexprüfung (wenn keine IOS) ] Reflexe erhalten ] Reflexausfall (mehrere Frequenzen)
kein retrocochleärer Schaden retrocochleärer Schaden (axonal injury)
TEOAE ] Nachweisbarkeit ] Fehlen über mehrere Frequenzen
Normakusis, ggf. geringe IOS cochleärer Schaden
BERA (wenn keine IOS) ] normale Latenzen ] verlängerte Absolut- und Interpeaklatenzen
kein retrocochleärer Schaden retrocochleärer Schaden (axonal injury)
Tinnitussuppression bzw. -charakterisierung ] schwellennah ] schwellenfern
cochleärer Ursprung zentraler Ursprung
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]
F. Singbartl, A. Ernst
Tabelle 13.3. Einsatz einzelner Gleichgewichtsprüfverfahren zur Diagnostik posttraumatischer Gleichgewichtsstörungen (BPPV – benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, SOT – sensorischer Organisationstest, VEMP – vestibulär evozierte myogene Potentiale) Test und Ergebnis
Verdachtsdiagnose
Lage und Lagerungsprüfung ] ohne Provokationsnystagmus ] mit Provokationsnystagmus ] Spontannystagmus
keine Bogengangsstörung BPPV Commotio labyrinthii, Perilymphfistel
vestibulospinale Tests ] Stand- bzw. Gangunsicherheit ] Seitabweichung
posturale Instabilität, Otolithenfunktionsstörung Commotio labyrinthii, Perilymphfistel
kalorische Prüfung ] seitengleiche Erregbarkeit ] Über- oder Untererregbarkeit
keine Bogengangsstörung Commotio labyrinthii, Perilymphfistel
rotatorische Prüfung ] postrotatorisch seitengleich-symmetrisch ] postrotatorisch nicht seitengleich-symmetrisch
keine zentrale Störung retrolabyrinthärer Schaden (axonal injury)
dynamische Posturographie ] pathologischer Zweiwaagentest ] pathologischer SOT
posturale Instabilität komplexe, multifaktorielle Störung
Otolithenfunktionstest ] subjektive Vertikale – einseitige Seitabweichung ] exzentrische Rotation bzw. VEMP
Otolithenfunktionsstörung utrikuläre bzw. sakkuläre Störung
einem Hörverlust sind häufig Folge von Commotio labyrinthii oder einer perilymphatischen Fistel. Die Prognose bei frühzeitigem Einsetzen einer Infusionstherapie ist hierbei sehr gut (Ernst et al. 2004). Chronische Hörstörungen zeichnen sich durch einen permanenten Hörverlust aus, können aber auch Ohrgeräusche (Tinnitus) oder Hyperakusis verursachen. Auch hier kann eine Infusionstherapie nach den gängigen Therapierichtlinien helfen, die Prognose ist jedoch bei weitem nicht so gut wie bei akuten Beschwerden, so dass häufig auf Tinnitus-Retrainingstherapien und Entspannungstechniken zurückgegriffen werden muss (Nölle et al. 2004). Bei Schwindelbeschwerden richtet sich die Therapie ebenfalls nach den geschilderten Leitsymptomen. Akute Beschwerden, etwa verursacht durch den gutartigen Lagerungsschwindel aufgrund von durch Erschütterung gelösten Otolithenkristallen, sprechen gut auf Repositionsmanöver an (Parnes et al. 1993). Bei wiederholtem Therapieversagen sollte eine Bogengangsokklusion durchgeführt werden (Parnes et al. 1991). Wie auch bei den akuten Hörstörungen haben die akuten Schwindelbeschwerden eine
Tabelle 13.4. Gängige Therapieschemata von Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion Art der Pathologie
Therapie
] akute SESH ] chronische SESH ] SLSH ] ] ] ] ] ] ]
Infusionstherapie Hörgeräteversorgung Tympanoskopie, ggf. Kettenrekonstruktion akuter Tinnitus Infusionstherapie chronischer Tinnitus Tinnitus-Retrainingstherapie BPLS Repositionsmanöver Commotio labyrinthii Infusionstherapie posttraumatischer Hydrops ggf. Saccusexposition vestibulospinaler Schwindel Physiotherapie, GG-Training, Manualtherapie Otolithenfunktionsstörung GGT-Training
SESH – Schallempfindungsschwerhörigkeit, SLSH – Schallleitungsschwerhörigkeit, BPLS – benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, GG Gleichgewicht
sehr gute Prognose und bleiben selten länger als 5 Tage bestehen. Die Therapie ist auch hier vorzugsweise symptomatisch (Antiemetika, Analgetika, Sedativa). Bleiben die Beschwerden länger als 3 Monate bestehen so muss von chronischen
13
Hör- und Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Weichteildistorsion
Vestibulopathien ausgegangen werden, die ein komplexeres Therapieregime erfordern. Bei bleibendem Hörverlust in Kombination mit Schwindelgefühl muss an das Vorhandensein einer perilymphatischen Fistel gedacht werden. Hier ist die einzig sinnvolle Therapie eine operative Abdeckung des runden Fensters (Fitzgerald et al. 1996, Ernst et al. 1996). Bei Vorhandensein eines endolymphatischen Hydrops, nach posttraumatischen Störungen der Reissner-Membran, muss bei ausbleibendem medikamentösen Therapieerfolg eine Saccusexposition durchgeführt werden (Shea et al. 1995, Ge et al. 2001). Chronische vestibulospinale Schwindelbeschwerden sind therapeutisch schwer angehbar und erfordern häufig eine längerfristige primäre Physiotherapie mit unterstützender Analgesie und physikalischen Maßnahmen. Ein Gleichgewichtstraining nach klassischem Muster oder mittels neuerer Feedback-Verfahren ist sinnvoll. Die häufig als Schwankschwindel beschriebenen Beschwerden bei posttraumatischer Otolithenfunktionsstörung bessern sich meist ebenfalls durch ein Gleichgewichtstraining, hier ist besonders das Training auf einer Kippplattform sinnvoll (Ernst et al. 2004, Colebatch et al. 1994, Clarke et al. 1998).
Zusammenfassung Die vorliegende Übersicht soll helfen, die Folgen einer HWS-Weichteildistorsion v. a. im Bereich des HNO-ärztlichen Gebietes besser einzuschätzen und der richtigen Behandlung zuzuführen. Häufig besteht für den Patienten, wie auch für den behandelnden Arzt zuerst kein Zusammenhang zwischen den beklagten Beschwerden und dem Unfallereignis, welches unter Umständen schon Monate zurückliegt. Hinzu kommt die große Vielfalt der geschilderten Beschwerden, die nicht immer direkt zur Diagnose führen und dass der Patient eine große Menge an Untersuchungen über sich ergehen lassen muss. In der Literatur findet sich eine lange bestehende Kontroverse, ob das Gleichgewichtssystem nach stumpfem Kopfanprall oder HWS-Distorsion primär Schaden nehmen kann (Fitzgerald et al. 1996, Guyot et al. 2001, Rubin et al. 1995). Hinzu kommen meist unfallbedingte neurologische Begleiterkrankungen (Ernst et al. 2004). Insgesamt zeigen die akuten Hör- und
]
Gleichgewichtsstörungen nach HWS-Distorsion eine gute Prognose (Ernst et al. 2004, Basford et al. 2003). Im Gegensatz dazu sind chronische Hörstörungen schwer zu behandeln und es bleibt meist keine andere Alternative als eine frühzeitige Hörgeräteversorgung (Nölle et al. 2004). Auch akute Gleichgewichtsstörungen zeigen eine gute Prognose und sind häufig nach symptomatischer Therapie über einige Tage rückläufig (Ernst et al. 2004, Basford et al. 2003). Am langwierigsten ist die Therapie von Patienten mit zervikogener posturaler Instabilität und posttraumatischer Otolithenfunktionsstörung. Bei der zervikogenen posturalen Instabilität ist der Verlauf schwer vorherzusagen, da das komplexe muskulo-skeletale System des cephalozervikalen Übergangs, ebenso wie die Fähigkeit, Unfallfolgen durch Habituation und Training zu kompensieren, von einer großen interindividuellen Varianz gekennzeichnet ist (Sjorstrom et al. 2003, Rubin et al. 1995). Hinzu kommen altersbedingte degenerative Erkrankungen, die ein Verletzungsrisiko noch zusätzlich erhöhen. Die Therapie dieser Patienten sollte kombiniert manualtherapeutisch-HNO-ärztlich erfolgen und ist eine langwierige Herausforderung. Besonders unter dem Aspekt der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sind diese Patienten Problemfälle, die im Zweifelsfall in spezialisierten Einrichtungen behandelt und begutachtet werden sollten, da immer noch die Abwertung und Bagatellisierung bzw. Psychologisierung (aufgrund mangelnder Kenntnisse und unzureichender diagnostischer Möglichkeiten) in Begutachtungsverfahren vorkommt.
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14 Funktionsstörungen des posturalen Kontrollsystems nach HWS-Beschleunigungstrauma und das „Late Whiplash Injury“-Syndrom Diagnose und Therapie aus neurootologischer Sicht D. Marincic
Einleitung Das Whiplash-Event, das Ereignis und Erlebnis [2] nach einem HWS-Beschleunigungstrauma, ist in der medizinischen Literatur, in den Medien und der Presse zu einer Diskussionsplattform mit vielen Kontroversen geworden. Viele Gutachter und Vertrauensärzte der Versicherungen, aber auch die medizinischen Laien, von Versicherungsvertretern bis zu Politikern, tragen je nach zu vertretenden Interessen trotz evidenzbasierten, wissenschaftlichen Fakten zur Verwirrung und zu einer diagnostisch-therapeutischen Sackgasse bei. Den provokativen Höhepunkt dieser Arroganz lieferten die schweizerischen SVP-Politiker anlässlich der IV-Abstimmung vom 17. 6. 2007. Im Tages-Anzeiger vom 18. 6. 2007 konnte man bezüglich des IV-Sanierungsplans lesen: „Schleudertraumata dürften nicht mehr als IVUrsache anerkannt werden“! Aufgrund von solchen fragwürdigen, unwissenschaftlichen Äußerungen ist es auch nicht verwunderlich, dass die Richter, welche Objektivierungsmöglichkeiten suchen und über die Kausalitätsfrage entscheiden müssen, eindeutig überfordert sind. Das Whiplash-Event, das zervikozephale Akzelerations-/Dezelerationstrauma, beschreibt die Energie-Übertragung vom „bullet-car“ auf das „target-car“ und auf die Insassen, die zur biomechanischen und kinematischen Überlastung [14, 24] und zu Läsionen der zervikozephalen Strukturen führen kann. Bei ca. 15–20% der Insassen nach einer Frontal-, „T-bone“- und Heckkollision werden dadurch die typischen Symptomenkomplexe ausgelöst [10, 12] (Tabelle 14.1). Wenn diese komplexen Beschwerden länger als 6 Monate andauern und therapieresistent bleiben, spricht man von einem „Late Whiplash
Tabelle 14.1. POST-Whiplash-typischer Symptomenkomplex ] Kognitiv-mnestische Funktionsstörung neuropsychologische Defizite ] Multi-sensomotorische Defizite innerhalb des visuellen, auditiven und Gleichgewichtssystems (Schwindel, Gleichgewichtsstörung, Tinnitus, Hypakusis, visuovisuookulomotorische Symptomatik) ] Funktionsstörung des zervikoproprionozizeptiven Systems Zervikocephalgien, Zervikobrachialgien, „low back pain“ diese führen sekundär zu einer Dysbalance der ] Biopsychosozialen Dynamik (somatischer, psychophysiologischer und psychosozialer Beschwerdekomplex)
Injury“-Syndrom oder auch von „Whiplash Associated Disorders“ (WAD), was auf Deutsch übersetzt heißt: Beschleunigungsassoziiertes Durcheinander, ein Begriff, der leider für die babylonischen Verhältnisse im Umgang mit diesem Thema sehr zutreffend ist. Anhand der neurobiomechanischen und neurophysiologischen Fakten soll versucht werden, das diagnostisch-therapeutische Verfahren aus audioneurootologischer und äquilibriometrischer Sicht zu schildern. Es geht um Untersuchungen, die uns in 70–80% der Fälle ermöglichen, die subjektiven Beschwerden der Patienten zu objektivieren [24, 30] und die Kausalitätsfrage anhand der Korrelation zwischen dem Unfallmechanismus, dem Beschwerdekomplex und dem neurootometrischen Befundmuster mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beantworten. Um verstehen zu können, warum die neurootologische Diagnostik bei der Objektivierung der posttraumatischen Beschwerden nach einem HWS-Beschleunigungstrauma so aussagekräftig sein kann, sollten die wichtigsten neurobiomechanischen und kinematischen [12, 24] sowie
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die neuroanatomischen und neurophysiologischen Aspekte der Symptomentstehung berücksichtigt werden, Pathomechanismen, welche zu multilokulären Läsionen der zervikozephalen neuroanatomischen Strukturen und zur Funktionsstörung des komplexen neuronalen Netzwerkes des posturalen Kontrollsystems führen können. Diese multilokulären Mikroläsionen sind in über 80% der Fälle durch die bildgebenden Verfahren morphologisch nicht erfassbar. Wenn wir auf wissenschaftlicher Basis die diagnostische Aussagekraft der audioneurootometrischen und äquilibriometrischen Testverfahren betrachten und auf den individuell erhobenen neurootometrischen Befunden die evidenzbasierte und „customized“ orientierte therapeutische Strategie aufbauen [4, 30, 40], erscheinen die auf Relikten aufgebauten Leitlinien der deutschen neurologischen Gesellschaft (www.dgn.org) bezüglich der empfohlenen Untersuchungen und Therapien nach einem HWSBeschleunigungstrauma als Konzept voller Absurditäten. Unter der Diagnostik und den Untersuchungen, die „nicht empfohlen werden“, sind unter anderen aussagekräftigen Verfahren auch die neurootologischen Untersuchungen aufgeführt! Man sucht in diesen diagnostischen Leitlinien vergeblich schon längst etablierte diagnostische Verfahren wie das VR-gestützte kinesiologische EMG (M. semispinalis capitis et cervicis mit „fine wire“ Elektroden) der Ulmer Gruppe [27] um Michael Kramer, den schon vor zehn Jahren durch Tjell und Rosenhall [45] publizierten „Smooth Pursuit Neck Torsion“-Test (SPNT) oder das von Nikolai Bogduk [3, 5, 46] entwickelte diagnostisch-therapeutische Verfahren der multisegmentalen komparativen Blockaden der medialen Äste der zervikalen Rr. dorsales [43], welche proprio- und nozizeptiv die Facettengelenke versorgen; dieses Verfahren (mit anschließender Radiofrequenz-Neurotomie) wurde therapeutisch als einziges in einer randomisierten, Doppelblind-Placebo-kontrollierten Studie getestet [31, 46]. In dem anschließenden Literatur-Verzeichnis zu den Leitlinien der deutschen neurologischen Gesellschaft mit 42 Publikationen sucht man vergeblich Namen wie Tjell, Kramer, Bogduk, Ödkvist, Ernst, Croft und viele andere. Auch die therapeutischen Empfehlungen sind alles andere als „up to date“ zu betrachten und keine evidenzbasierten therapeutischen Methoden. Es steht: „fast immer konservativ“ und „ge-
gebenenfalls Wärme, Elektrotherapie, später aktive Bewegungs- und Lockerungsübungen“ und „konsequente psychische Führung“. Keine von diesen Therapiearten wurde in einer kontrollierten klinischen Studie auf ihre Wirksamkeit geprüft. Wo bleiben die Erfolg versprechenden, erfolgsgeprüften, kosteneffizienten therapeutischen Verfahren wie: Radiofrequenz-Neurotomie der zervikalen Rr. dorsales [25], Prolotherapie [21], BotoxInjektionen [25], manual-medizinische [13] und osteopathische Therapie [9], visuo-vestibuläres Schwindel-Habituationstraining [40], neuroorthoptische Rehabilitation und Braintraining oder Brainjoin im Rahmen eines Case-ManagementKonzepts mit interdisziplinärer Beteiligung? Wenn man jedoch die modernen wissenschaftlichen Errungenschaften auf diesem Gebiet in die Diagnostik und Therapie einfließen lässt, ist man in der Lage, eine kosteneffiziente und aussagekräftige neurootometrische und interdisziplinäre Diagnostik und dadurch in vielen Fällen eine Erfolg versprechende Therapie [11, 15, 30] durchzuführen und zugleich einer bio-psycho-sozialen Dysbalance vorzubeugen.
Phylogenetische, neuroanatomische und neurophysiologische Grundlagen Nach einem zervikozephalen Akzelerations-/Dezelerationstrauma vom „head contact“ und/oder „head non-contact“-Typ sind vor allem zwei anatomische Regionen, nämlich die zervikalen Bewegungssegmente mit zerviko-kranialem Übergang sowie die Schädelhirnregion, läsionsgefährdet, was im Rahmen einer milden traumatischen Hirnverletzung und HWS-Distorsion zum klinischen Bild eines posttraumatischen zerviko-enzephalen und zerviko-brachialen Syndroms führen kann. Es darf nicht vergessen werden, dass das HWS-Beschleunigungstrauma in vielen Fällen ein wahres Hirntrauma darstellt, auch wenn kein Kontakt des Kopfes mit einem Objekt des Autoinneren stattfindet. Die HWS und der zerviko-kraniale Übergang sind Teil der kinematischen Gelenkkette. Diese Verkettung kann bei der Funktionsstörung in einem entfernten Segment der WS zur Funktionsstörung im Bereich der zervikalen Bewegungssegmente führen.
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Wie Wolff [49] schreibt, ist die HWS aufgrund ihrer strukturell-funktionellen Eigenschaften prädestiniert für segmentale Bewegungsstörungen, insbesondere im Verletzungsfall, da sie der beweglichste, aber auch der störanfälligste Abschnitt der Wirbelsäule ist. Diese Lädierbarkeit der zervikalen Bewegungssegmente und des zerviko-kranialen Überganges ist phylogenetisch bedingt. Wenn man die wichtigsten phylogenetischen Stufen analysiert, kann man auch die formative Kraft der Funktion mit der Konstruktionsänderung am skeleto-muskulären System und am reflektorischen Netzwerk für die Stabilisierung des Kopfes auf dem Rumpf sowie die Lädierbarkeit dieser Region für die Akzelerationskräfte über 4 G verstehen. Der Prozess der Bipedalisation, der vor ca. 7 Mio. Jahren begann, führte über Formumbau und Stabilitätsverstärkung der WS zur Angulation der Schädelbasis und zur Zentralisierung des Foramen occipitale magnum sowie zur Enzephalisation und Gyrenzephalisation. Die wichtigsten phylogenetischen Etappen und die formative Kraft der Funktion, welche zur Entwicklung des reflektorischen Servomechanismus und des posturalen Kontrollsystems geführt haben, sind in Tabelle 14.2 dargestellt. Durch die Zentralisierung des Foramen occipitale magnum ist die Balancierung des Kopfes auf der
Tabelle 14.2. Phylogenese und die formative Kraft der Funktion Homo habilis ? Homo erectus ? Homo sapiens Bipedalisation – Bipedie (vor 7 Mio. Jahren!) Konstruktionsänderungen wurden notwendig: ] Fuß- und Sprunggelenk ] Becken-Hüftregion ] WS-Formänderung pp HWS ] Anpassung der Muskulatur und neue muskuläre Synergien und Strategien ] Schädelbasis-Angulation, Zentralisierung des Foramen magnum und orthovestibuläre Lage des Kopfes im Raum ] Anpassung der Okulomotorik an das zervikocephale kinästhetische und propriozeptive System ] Umbau des reflektorischen Netzwerks und posturalen Kontrollsystems für die koordinierte Steuerung der Okulomotorik, Cephalomotorik und Lokomotorik Enzephalisation Gyrenzephalisation
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HWS zum Rumpf empfindlicher geworden, und die kräftige Nackenmuskulatur, welche beim exzentrisch gelegenen Foramen occipitale magnum für die Balancierung des Kopfes notwendig war, wurde umgebaut und schwächer, die zervikalen Bewegungssegmente durch die höhere Beweglichkeit störanfälliger. Das Labyrinth/das vestibuläre System mit seinen Beschleunigungsmechanozeptoren wirkt als Stabilisator und Navigator unter der Benützung der Körper- und Raumkoordinaten; es bestimmte phylogenetisch gesehen als das älteste sensorische Organ die Angulation der Schädelbasis und die Lage des Kopfes im Raum mit (orthovestibuläre Lage des Kopfes im Raum) und ist zugleich für die Regulation der Blickmotorik [1, 28] während der Kopfbewegungen über den vestibulo-okulären Reflex verantwortlich. Dabei ist das visuelle (visuo-okulomotorische) System als Teil des Gleichgewichtssystems das dominante und antizipierende („feed forward“) System („Go Where I’m Looking, Not Look Where I’m Going“) verliert jedoch nach HWS-Beschleunigungstraumata häufig seine Dominanz. Das kann zu handicapierender visuo-vestibulärer Integrationsstörung und foveoretinaler Diskrepanz führen, der Symptomatik welche W. Padula im Rahmen eines „post trauma vision“ Syndroms zusammengefasst hat. Sowohl das visuo-okulomotorische als auch das vestibuläre System mussten jedoch für die präzise Steuerung der Okulomotorik, Cephalomotorik und Lokomotorik in das zervikocephale kinästhetische und propriozeptive System integriert und angepasst werden, um effizient arbeiten zu können. Somit hat sich eine anatomisch-funktionelle Einheit gebildet, nämlich das posturale Kontrollsystem [19, 33, 45], welches sich aus drei Teilen zusammensetzt: visuo-visuo-okulomotorischem, vestibulärem und zerviko-propriozeptivem System. Die reflektorischen Servomechanismen dieser drei Subsysteme werden vor allem an drei neuroanatomischen Strukturen integriert und moduliert, nämlich am vestibulären Kernkomplex, im Bereich der parapontinen Formatio reticularis, am Niveau des Colliculus superior und entlang des Vestibulo-Cerebellums [28, 30, 41]. Somit ermöglicht das posturale Kontrollsystem die adäquate posturale Kontrolle, Gangbalancierung, Stabilisierung des Kopfes auf dem Rumpf, Blickstabilisierung während der Kopfbewegungen und Orientierung des Kopfes im Raum.
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Tabelle 14.3. Reflektorischer Servomechanismus des posturalen Kontrollsystems für die Blick- und Kopfstabilisierung Vestibulo (sacculo)-collischer Reflex – VCR Zervikokollischer Reflex (Gammaschleife) – CCR ] Beide schützen Halsmuskulatur vor Verletzungen durch Dämpfung während schnellen Kopfbewegungen und modulieren aufrechte zervikale Haltung ] Beide ermöglichen synchron Kopfstabilisierung auf dem Rumpf während aktiven und passiven Bewegungen ] VCR funktioniert am besten im Frequenzbereich 0–1 Hz und ist vor allem sensitiv für die horizontalen Kopfbewegungen, CCR oberhalb von 1 Hz und ist sensitiver für die vertikalen Kopfbewegungen Vestibulookulärer Reflex – VOR Zervikookulärer Reflex – COR ] Gain des VOR ist 3-mal stärker als Gain des COR im Normalfall. Bei Reizzuständen der zervikalen Propriound Nozizeptoren kann COR-Gain deutlich ansteigen und Funktion des Blickfolgebewegungssystems beeinflussen (Grundlage des SPNT-Tests) ] Beide Reflexe zusammen ermöglichen Blickstabilisierung während den Kopfbewegungen
Die vier wichtigsten reflektorischen Servomechanismen, welche der Blickstabilisierung und Kopfstabilisierung auf dem Rumpf dienen, sind in der Tabelle 14.3 zusammengestellt [33, 35]. Der vestibulo-collische [47] und der zervikocollische Reflex arbeiten synchron bei der Kopfstabilisierung auf dem Rumpf; der vestibulookuläre und der zerviko-okuläre Reflex [18] arbeiten synchron bei der Blickstabilisierung während der Kopfbewegungen. Der vestibulo-okuläre Reflex [1, 28] kann durch elektronystagmographische Testverfahren, der vestibulo-collische Reflex [47] durch vestibulär evozierte myogene Potentiale (VEMP) in seiner Funktion erfasst werden. Der zerviko-collische und zerviko-okuläre Reflex [17, 18, 37] sind durch drei zerviko-okulometrische Testverfahren, SPNT-Test, OKN mit anteflektiertem Kopf und zervikalem Drehtest mit der Technik der Elektronystagmographie erfassbar. Die zwei zusätzlichen reflektorischen Servomechanismen des posturalen Kontroll-Systems, der vestibulo-spinale und zerviko-spinale Reflex, sind in ihrer integrativen Funktion durch die computerisierte dynamische Posturographie und postural evozierte Potentiale erfassbar [7, 8, 40].
Durch die Zerviko-Okulometrie im Rahmen von drei erwähnten Testverfahren erfassen wir die Funktion des zerviko-collischen und zerviko-okulären Reflexes anhand der Gainänderung (Verstärkungsfaktor) innerhalb des Blickfolgebewegungssystems [17, 45] und des optokinetischen Systems. Beim SPNT-Test, der von Tjell und Rosenhall publiziert wurde, wird der Gain bei neutraler Kopflage und bei der Drehung des Körpers nach rechts und links um 458 bestimmt. Beim OKN-Test mit anteflektiertem Kopf werden die Gainwerte mit dem Gain in der neutralen Kopflage verglichen. Wir haben drei zerviko-okulomotorische Testverfahren bisher an über 500 Patienten mit „Late whiplash injury“-Syndrom getestet und konnten eine Sensitivität von 78% und Spezifität von 93% feststellen. Der zerviko-okuläre Reflex ist im Normalfall um das 3fache schwächer als der Gain des vestibulo-okulären Reflexes. Bei starker Reizung der zervikalen Propriozeptoren und Nozizeptoren, wie das nach HWS-Beschleunigungstrauma mit Funktionsstörung im Bereich der zervikalen Facettengelenke der Fall ist, sowie bei reduzierter vestibulärer Funktion kann der Gain des zerviko-okulären Reflexes um ein Mehrfaches ansteigen. Durch die Integration mit dem vestibulo-okulären Reflex am Niveau des N. vestibularis medialis wird die Visuo-Okulomotorik vor allem im Blickfolgebewegungssystem negativ beeinflusst. Da der zerviko-okuläre Reflex inhibitorisch wirkt [17], führt er bei propriozeptiver Reizung zu Gainreduzierung innerhalb des Blickfolgebewegungssystems. Der zerviko-collische Reflex [37], der über die Gammaschleife seine Funktion ausübt, führt vor allem bei der Funktionsstörung der zervikalen paravertebralen Muskulatur zu Gainreduzierung innerhalb des optokinetischen Systems. Wir haben gesehen und Gründe aufgeführt, dass die zervikalen Bewegungssegmente (Arthrone) und der zerviko-kraniale Übergang bei Einwirkung von Beschleunigungskräften über 4 G besonders lädierbar sind. Am häufigsten (ca. 2/3 der Verletzten) kommt es zu Läsionen der zervikalen Facettengelenke [48] und ihrer Kapseln (C2-3, C3-4, C5-6) durch Rotations-, Kompressions-, Traktions- und Scherkräfte, gefolgt von Verletzungen und Funktionsstörungen (primär und sekundär) der paravertebralen Muskulatur (M. semispinalis capitis et cervicis und M. splenius capitis et cervicis) und der Li-
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gamente und Membranen (am häufigsten Ligg. alaria, Lig. transversum atlantis, Lig. longitudinale anterius) [26]. Durch paradoxale S-förmige Verformung der HWS [24] mit Flexion der oberen Segmente (C2-3) und Extension der unteren Segmente (C5-6) in der 1. Phase innerhalb von 60–80 ms entstehen die meisten Verletzungen der Facettengelenke, da die reflektorischen Servomechanismen zu langsam sind, um eine protektive Funktion auszuüben. In der 2. Hyperflexionsphase nach 150–200 ms wären sie dazu in der Lage, jedoch verstärken paradoxerweise die Gurten durch Hypomochlion-Wirkung die Verletzungsgefahr. Die höchste Dichte der Mechanozeptoren, Propriozeptoren und Nozizeptoren entlang der ganzen Wirbelsäule findet sich in Kapseln der zervikalen Facettengelenke [16, 29, 32, 38]. Durch die Einwirkung der Beschleunigungskräfte kommt es zur Dysfunktion bzw. zu erhöhtem Reizzustand des zervikalen Rezeptoren-Pools [29, 36]. Diese Dysafferentation und das „wind up“-Phänomen [33] führen bei Verletzungen über konstante Feuerung (over-shooting) aus dem RezeptorenPool und afferentem „Input“ zu Dysfunktionen im Sinne von Hypersensitisation, multisensorischer Hypersensitivität und erhöhtem Gain in regulativen Reflexbögen. Das ZNS ändert seine Antwort auf die chronischen Reize und verändert seine Neuroplastizität. Zusätzlich kann es zu multilokulären intraaxonalen und synaptischen Mikroläsionen mit Glutamat-Mikrointoxikation [39] wegen der astroglialen Dysfunktion kommen. Durch das neue bildgebende Verfahren MRI-Spektroskopie [6] ist es jetzt möglich, diese NeurotransmitterDysbalance in graphischer Form auf biochemischer Ebene zu erfassen und zu objektivieren. Seit kurzem verfügen wir über diese Objektivierungsmöglichkeit an der Lindberg-Klinik in Winterthur. Wir wollen in der Zukunft die MRI-Spektroskopie mit der Zerviko-Okulographie und dem Verfahren nach N. Bogduk in einer klinischen Studie vergleichen, um die Objektivierbarkeit der subjektiven Beschwerden der Patienten nach HWS-Beschleunigungstraumata noch zu verbessern. Die erhöhte Sensitisation des ZNS und die Dysfunktion der zervikalen Bewegungssegmente, vor allem der zervikalen Facettengelenke
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(höchste Rezeptorendichte), sind die zwei wichtigsten ätio-pathogenetischen Mechanismen der Entstehung des Symptomen-Komplexes nach HWS-Beschleunigungstraumata! Das zerviko-propriozeptive System als Teil des posturalen Kontrollsystems ist neuroanatomisch nicht nur mit dem visuo-okulomotorischen und vestibulären System am Niveau des Nucleus vestibularis medialis verknüpft, sondern weist auch weitere wichtige neuronale Vernetzungen auf [19, 42]. Diese sind zum Teil für die Entstehung der komplexen posttraumatischen, auch nicht Schwindel-Symptomatik mit verantwortlich. Vor allem sind die Verbindungen mit dem ARAS-System (Aszendierendes Retikuläres Aktivierungssystem) wichtig [19], da dadurch die kognitiv-mnestische Funktion negativ beeinflusst werden kann und die Symptomatik des Lobus frontalis, auch ohne Läsion in diesem Bereich, entstehen kann. Eine weitere wichtige neuroanatomische Verbindung ist diejenige zwischen den Zervikalnerven der Segmente C2-3 und dem N. nervi trigemini, welche zusammen den Nucleus trigemino-cervicalis bilden [44]. Dadurch erklärt sich die Ausstrahlung der Zerviko-Cephalgien bis zum Gesicht, welche häufig falsch als Trigeminus-Neuralgie interpretiert wird. Gemäß den neueren Publikationen [42] kann eine relevante Funktionsstörung des vestibulären Systems (mit welchem das zerviko-propriozeptive System direkte neuroanatomische Verbindungen aufweist) über die Verbindung mit dem Hippocampus als Teil des limbischen Systems zur Atrophie des Hippocampus, zur Störung des räumlichen Gedächtnisses und zu weiteren kognitiv-mnestischen Defiziten führen [19, 42]. Dadurch kann es einerseits zur Interaktionsstörung zwischen der posturo-lokomotorischen Funktion, dem Verhalten und kognitiver Funktionen kommen, anderseits zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von „dual task“- und „multi task“-Aufgaben. Zugleich ist die Morphokinese und mentale Kinematik des Körpers gestört, da der Entscheid, motorisch zu agieren, eine Aktion auszuführen, vom limbischen System unter Mitwirkung des assoziativen Kortex und Projektionssystems ausgeht. Die motorische Ausführung erfolgt über den „spinal pattern generator“.
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Das neue Konzept der erweiterten neurootometrischen Diagnostik Nach Objektivierung der zerviko-proprio-nozizeptiven Funktionsstörung und der Läsionen der oberen zervikalen Facettengelenke durch die zerviko-okulometrischen Testverfahren (ENG) und den diagnostischen Teil des Verfahrens nach N. Bogduk (multisegmentale, komparative Blockaden der zervikalen Rr. dorsales) kann man durch die Technik der perkutanen, gepulsten Radiofrequenz-Neurotomie der Rr. dorsales sowohl die zervikocephalgischen Beschwerden und die zervikogene Schwindelkomponente als auch die psycho-emotive Symptomatik der Patienten positiv beeinflussen [5, 31, 46]. Somit kann die Elektronystagmographie (ENG) und/ oder Videookulographie für die Objektivierung der Funktionsstörung innerhalb des posturalen Kontroll-Systems viel breiter eingesetzt werden als das sonst der Fall ist. Eine Zusammenfassung der ENG-Diagnostik ist in der Tabelle 14.4 dargestellt. Die Computerisierte Dynamische Posturographie (CDP) mit CDP-EMG der Firma Neurocom (Portland, USA) und die mechanographische Untersuchung auf der Leonardo-Plattform der Firma Novotec (Pforzheim, Deutschland) erweitern die Objektivierungsmöglichkeiten bei der Erfassung der Funktionsstörung innerhalb des Gleichgewichtssystems erheblich.
Tabelle 14.4. Elektronystagmographische Testbatterie Visuookuläre Kontrolle (Reflex) ] Sakkaden-Test ] Blickfolgebewegungstest (Fovea centralis) ] Optokinetik-Test (Retina) Drehstuhlprüfung und „off axis“-Drehung ] Vestibulookulärer Reflex ] Otolithookulärer Reflex ] Kanalookulärer Reflex Bithermale kalorische Prüfung ] Vestibulookulärer Reflex ] Visuovestibuläre Interaktion Zerviko-propriozeptive Testverfahren ] SPNT-Test ] OKN mit anteflektiertem Kopf ] Zervikaler Drehtest (zervikookulärer und zervikokollischer Reflex)
Durch die CDP [30, 40] kann man keine topo-diagnostische Information gewinnen, aber die Funktionsstörung des trimodalen afferenten Systems und des motorisch-efferenten reflektorischen und willkürlichen Systems (außer Visuo-Okulomotorik, welche durch ENG erfasst wird) und seinen integrativen Zustand erfassen (Tabelle 14.5). Für ein umfassendes Management der Patienten mit Funktionsstörung innerhalb des Gleichgewichtssystems sind diese diagnostischen Informationen, zusammen mit der Erfassung der funktionellen Beeinträchtigung [23] und Quantifizierung der funktionellen Grenzen (Einschränkungen) unabdingbare Voraussetzungen für die Konzipierung einer evidenzbasierten, „customized“ orientierten visuo-vestibulären Rehabilitation, proprio-posturalen Reedukation und Rebalance-Therapie [30, 40]. Diese diagnostischen Informationen sind mit keinem anderen neurootometrischen Testverfahren als mit der Computerisierten Dynamischen Posturographie zu erhalten. Die diagnostische Aussagekraft wird durch die Registrierung der postural evozierten Potentiale und durch die mechanographische Erfassung der neuromuskulären Leistung der unteren Extremitäten auf der Leonardo-Plattform zusätzlich erhöht. Wir ar-
Tabelle 14.5. CDP-Diagnose ] Sensorische Analyse und Integration – 6 Konditionen (Äquilibriumscore) ] Motorischer Koordinationstest – reflektorische motorische Kontrolle – willkürliche motorische Kontrolle ] Test der funktionellen Grenzen – 6 Komponenten ] Rohdatenanalyse (n. J. Goebel) – Ausschluss der Aggravation und Simulation mit 95% Sicherheit ] Postural evozierte Potentiale (CDP-EMG) – vom M. tibialis anterior und M. gastrocnemius bds. – Früh-, Mittel- und Spätlatenzen (spinal-pontin-kortikal) ] Leonardo-Mechanographie – Geschwindigkeit – Kraft – Leistung ] Esslinger Fitnessindex – neuromuskuläre Leistung der unteren Extremitäten
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beiten seit 11 Jahren in unserem Hearing-Balance-Mobility-Center mit CDP. Bis heute haben wir über 4000 Patienten diagnostisch erfasst und über 1000 behandelt. Nach Information von Neurocom gibt es ca. 20 CDP-Geräte im deutschsprachigen Raum, in Europa ca. 70. In der ganzen Welt sind über 600 CDP-Geräte an den Kliniken und Rehabilitationszentren im Einsatz, die sich mit der Diagnostik und Rehabilitation des GG-Systems befassen. Diese Untersuchungsmethode ist aus der neurootometrischen Testbatterie nicht mehr wegzudenken. In der Schweiz wurde ich jahrelang von Versicherungen, vor allem von der SUVA (Schweizerische Unfall Versicherungsanstalt) kräftig bekämpft mit der Begründung, dass es sich bei der CDP um eine nicht wissenschaftliche und nicht aussagekräftige Untersuchungsmethode handle. Diese Stimmen sind seit 2 Jahren verstummt, nachdem die SUVA als Leistungsträger selbst das gleiche CDP-Gerät von Neurocom angeschafft hat. In einem Streitfall hat das oberste schweizerische Versicherungsgericht in Luzern am 29. 3. 2006 (II. Kammer) entschieden, dass die CDP eine aussagekräftige, wissenschaftliche diagnostische Methode darstellt und die Nichtdurchführung der CDP als ein diagnostisches Unterlassen gegenüber dem Patienten betrachtet werden kann. Seit sieben Jahren führen wir an der Klinik St. Georg in Goldach und seit einem Jahr an der Lindberg-Klinik in Winterthur in enger Zusammenarbeit mit Prof. N. Bogduk von der Newcastle University in Australien das diagnostisch-therapeutische Verfahren nach Nikolai Bogduk nach demselben Algorithmus und den ISIS-Kriterien durch. Dr. R. Stein, Facharzt für Anästhesiologie und Schmerztherapie, hospitierte schon 7-mal an der Klinik bei Prof. Bogduk. Anhand dieser Zusammenarbeit und den Kontakten wurde ein kombiniertes diagnostisch-therapeutisches Verfahren entwickelt, welches die zerviko-okulometrischen ENG-Test-Verfahren mit Blockaden der zervikalen Rr. dorsales und Radiofrequenz-Neurotomie (RFN) kombiniert. Dadurch wird die diagnostische Aussagekraft bezüglich der Objektivierung der Läsionen der zervikalen Facettengelenke bzw. der zervikoproprio-nozizeptiven Funktionsstörung nach HWS-Beschleunigungstraumata erhöht. Das ist diagnostisch und therapeutisch sehr wichtig, da die sehr häufigen multisegmentalen Läsionen (bei ca. 2/3 der Verletzten) der zervikalen Facettengelenke mit bildgebenden Verfah-
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ren, auch mit fMRI, morphologisch nicht erfassbar sind. Seit 2002 haben wir ca. 300 Patienten nach HWS-Beschleunigungstrauma diagnostisch erfasst und ca. 180 mit RFN mit einem therapeutischen Erfolg von ca. 80% behandelt. Auf Grund dieser Tätigkeit und der damit verbundenen diagnostisch-therapeutischen Erfahrung sind Kontakte mit der Uni-Klinik in Ulm (Dr. M. Kramer), mit Kollegen der Uni-ORL-Klinik Charité in Berlin (Dr. M. Hölzl) und mit Prof. Dr. A. Ernst vom Unfallkrankenhaus Berlin sowie mit neurootologisch tätigen HNO-Kollegen wie Dr. med. Manfred-Peter Müller-Kortkamp in Soltau zustande gekommen. Mit der Uniklinik in Ulm und ORL-Klinik Charité in Berlin ist eine Zusammenarbeit geplant, um vor allem das Ulmer Verfahren der kinesiologischen EMG mit Zervikookulometrie und das Verfahren nach N. Bogduk zu kombinieren. Nach über 12-jähriger intensiver diagnostisch-therapeutischer Arbeit mit Patienten nach
Tabelle 14.6. Audioneurootologische und äquilibriometrische Diagnostik ] Analytische Erfassung der audioneurootologischen Anamnese – Symptomerfassung (Schwindel, Begleitsymptomatik, Schmerzen, ADL) in Form von: – Schwindel Handicap-Index n. Jacobson – Neck disability Index n. Vernon ] Manualmedizinische Befunderhebung ] Subjektive und objektive Audiometrie – Evozierte Potentiale: akustisch: Früh-, Mittel- und Spätpotentiale visuell ev. vestibulär evozierte Potentiale mit BrainmappingAuswertung ] Vestibulär evozierte myogene Potentiale (sacculokollischer Reflex) ] Elektronystagmographie mit modifizierten Testverfahren (Zervikooculographie) für die Erfassung des zervikalen propriozeptiven Systems und vestibulookulären, visuookulären Reflexes ] Computerisierte dynamische Posturographie mit postural evozierten Potentialen (Erfassung des senso-motorischen posturalen Netzwerks), auch Corpokraniographie ] Leonardo-mechanographische Diagnostik-Plattform (Geschwindigkeit, Kraft und neuromuskuläre Leistung der unteren Extremitäten)
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Tabelle 14.7. Zusätzliche nichtneurootometrisch relevante diagnostische Objektivierungsmethoden ] Schmerzirradiationszonen/klinischer Manualbefund – Blockade, Instabilität ] Röntgen – CT – MRI (HWS-kraniozerebral) – HWS-Alignment, DISCI-Knochen, Hämosiderosis ] Upright dynamic kinetic fMRI – ligamentäre und membranöse Läsionen ] Diagnostischer Teil des Verfahrens nach N. Bogduk – multisegmentale komparative Blockaden der zervikalen Rr. dorsales ] Kinesiologische Elektromyographie mit „fine wire“ Elektroden vom M. semispinalis capitis et cervicis ] MRI-Spektroskopie – metabolische Information auf bio-chemischer Basis ] SPECT: ZNS-Durchblutungsstörung – PET: ZNS-Stoffwechselstörung ] Elektrophysiologische Testverfahren – Neurologie, Neuroophthalmologie ] Psychophysiologische Testverfahren und Neuropsychologische Testverfahren
HWS-Beschleunigungstrauma, ca. 1100 neurootologischen Gutachten und 25-jähriger neurootologischer Erfahrung möchte ich die wissenschaftlichen Errungenschaften der medizinischen Forschung auf dem Gebiet der Audioneurootologie, das diagnostische Vorgehen, das wir in unserem HWS-Schleudertrauma-Forum in St. Gallen aus neurootologischer und interdisziplinärer Sicht praktizieren, in den Tabellen 14.6 und 14.7 zusammenfassen.
Das evidenzbasierte, „customized“orientierte Therapiekonzept aus neurootologischer Sicht Viele, die sich mit der Erfassung und Objektivierung der posttraumatischen Symptomatik der Patienten nach HWS-Beschleunigungstrauma befassen, haben erkannt, dass die Audioneurootologie durch ihre speziellen Untersuchungsverfahren an Objektivität gewonnen hat und somit gegenüber den anderen Fachdisziplinen bei der Erfassung des häufig lädierten posturalen Kontroll-Systems nach HWS-Beschleuni-
gungstrauma der Vorrang zu geben ist. Die neurootologischen Testmethoden sind standardisiert, somit sind die Ergebnisse reproduzierbar. Die Kombination der neurootometrischen Testverfahren mit neuroophthalmologischen, mit kinesiologischer EMG und dem Verfahren nach N. Bogduk sowie mit fMRI und MRI-Spektroskopie kann die diagnostische Aussagekraft aus neurophysiologischer und morphologischer Sicht noch zusätzlich erhöhen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse (Befunde) ermöglichen es, eine evidenzbasierte, „customized“ orientierte, kosteneffiziente und erfolgreiche Therapie durchzuführen. Das erfolgreiche Therapiekonzept des komplexen Beschwerdebildes der Patienten nach HWS-Beschleunigungstraumata funktioniert nach dem Motto: „Not more therapy make better but appropriate therapy may“. Häufig werden durch abortive, rudimentäre Diagnostik und fehlender Symptomobjektivierung, auch durch falsches Vorgehen, die psycho-sozialen Aspekte der Traumatisierung in den Vordergrund gestellt und dadurch unwirksame therapeutische Konzepte eingeleitet. Sehr schnell spricht man bei fehlenden morphologischen und klinischen Befunden aus fehlenden Kenntnissen der Objektivierungsmöglichkeiten bei chronischen Schmerzen von Schmerz-Verarbeitungsstörung, SomatisierungsStörung oder histrionischer Persönlichkeitsstörung und kulturell-ethnischer Problematik. Nikolai Bogduk hat anhand von kontrollierten klinischen Studien gezeigt [46], dass sich die emotiv-psychische Symptomatik nach erfolgreicher RFN der Rr. dorsales und Schmerzfreiheit bei 2/3 der Patienten zurückbildet und Psychotherapie nicht mehr notwendig wird. Das ist auch unsere Erfahrung anhand von über 300 Patienten, welche mit diesem kombinierten therapeutischen Konzept behandelt wurden. Auch die Schwindelbeschwerden werden häufig als psycho-vegetative Störung bezeichnet und falsch mit Psychopharmaka behandelt. Durch die Dämpfung des ZNS werden die Kompensationsprozesse innerhalb des Gleichgewichtsystems total blockiert. Die große Redundanz und Plastizität des ZNS auf biochemischem, elektro-physiologischem, strukturellem und funktionellem Niveau werden auf diese Weise ausgeschaltet. Neurale und Verhaltensplastizität sind die Voraussetzung für ein erfolgreiches Schwindelhabituationstraining [40] und sensorische Substitution mit „dual task“-Übungen.
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Tabelle 14.8. Therapeutische Strategie der Folgebeschwerden nach HWS-Beschleunigungstrauma (mit MTBI) ] Schmerzen (pp Zervikocephalgien/Zervikobrachialgien) – Medikamente – manual-chiropraktisch-osteopathische Therapie – Prolotherapie (20% Dextrose + 0,75% Lidocain) – Blockade (Lidocain) des Ganglion cervicale superior – Botox-Injektionen der befallenen Halsmuskulatur (M. splenius/semispinalis capitis et cervicis) – Radiofrequenz-Neurotomie der medialen Äste der zervikalen Rr. dorsales (Facettengelenke) ] Schwindel und Gleichgewichtsstörung – Medikamente – visuovestibuläres Habituationstraining – Rebalance-Training – proprio-posturale Reedukation – biomechanische Stimulation ] Visuovisuookulomotorische Funktionsstörung mit „post trauma vision“-Syndrom n. Padula – neurooptometrische Rehabilitation – neuroorthoptische Rehabilitation – Syntonic-Therapie ] Neuropsychologische Rehabilitation
Am Schluss möchte ich noch unsere (HWSSchleudertrauma Forum) an mehreren hundert Patienten erprobte therapeutische Strategie aus neurootologischer Sicht übersichtlich im Rahmen der Tabelle 14.8 darstellen. Abschließen möchte ich mit dem Schlusswort von Prof. N. Bogduk anlässlich des WAD-Kongresses in Bern im März 2001: „We seem to keep describing and measuring the problem, but not doing something about it! The challenge lies in doing something about it. The measure of success would be: Has diagnosis improved? Has a greater proportion of patients recovered?“ Heute, 8 Jahre danach, kann man behaupten, dass wir unsere diagnostischen Möglichkeiten erheblich verbessern konnten und ein großer Teil der Patienten bei adäquatem therapeutischem Vorgehen erfolgreich behandelt werden kann. Leider werden, wegen der „Vogel Strauss“Politik vieler Versicherungen und Gutachter, häufig die notwendige Therapie und Rehabilitation abgewürgt und Letztere werden anstatt ein Teil der Problemlösung selber ein Teil des Problems.
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15 Kinesiologisches Fine-Wire EMG des M. semispinalis capitis zur Darstellung muskulärer Dysfunktionen nach HWS-Beschleunigungsverletzungen QTF II8 M. Kramer
Strukturelle Schäden, die nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung autreten, können ohne Schwierigkeiten radiologisch nachgewiesen werden. Die wesentlich häufigeren funktionellen Störungen nach einer solchen Verletzung sind jedoch bislang diagnostisch nicht objektivierbar. Der folgende Buchbeitrag beschäftigt sich mit dem schwierigen diagnostischen Nachweis funktioneller Störungen nach HWS-Beschleunigungsverletzungen. Der Beitrag basiert auf der Habilitationsschrift des Autors. Für Interessierte besteht die Möglichkeit die Habilitationsschrift in ganzer Länge von der Homepage des Universitätsklinikums Ulm herunterzuladen (www.uniklinik-ulm.de/struktur/kliniken/ chirurgie/klinik-fuer-unfall-hand-plastischeund-wiederherstellungschirurgie/home/ abteilung/mitarbeiter/oa-pd-dr-med-michaelkramer.html). Für die Entwicklung der Messtechnik erhielt der Autor 1996 den Innovationspreis der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU), 2002 den Innovationspreis für Medizintechnik des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, 2005 den Josef-Ströbel-Förderpreis und 2006 den Multimedia Preis des Bundesministeriums für Wirtschaft Im Zeitalter des Individualverkehrs hat die Anzahl der HWS-Beschleunigungsverletzungen stark zugenommen. Insbesondere chronische Verläufe verursachen immense Kosten und stellen diagnostisch sowie therapeutisch ein ungelöstes Problem dar. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten klagt über Schmerzen, muskuläre Dysfunktionen und Bewegungseinschränkungen der HWS, ohne dass die Ursache dieser Symptome diagnostiziert werden kann. Strukturelle Verletzungen, zu denen Frakturen und Luxationen zählen, stellen hier eine seltene Ausnahme dar. Die
geklagten Symptome der Patienten bedeuten jedoch häufig erhebliche Beeinträchtigungen des täglichen Lebens, was durch die physiologische Funktion der HWS, die in der statischen und dynamischen Balance des Kopfes besteht, erklärt werden kann. Die Stabilisation des Kopfes im Raum ist notwendig um eine optimale Funktion der im Kopf lokalisierten Sinnesorgane zu gewährleisten. Diese Funktion wird durch komplexe neuro-physiologische Steuermechanismen der Nackenmuskulatur bei Gesunden gewährleistet, wobei der Semispinalis Muskulatur eine bedeutende Rolle beigemessen wird. Vor diesem Hintergrund wird als Hypothese formuliert, dass infolge einer HWS-Beschleunigungsverletzung funktionelle Störungen der Mm. semispinalis capitis und cervicis in Form von pathologischen Muskelaktivitäten auftreten. Diese pathologischen Muskelaktivitäten können elektromyographisch dargestellt werden und unterscheiden sich von den Aktivitätsmuster gesunder Probanden. Ziel dieser Arbeit war daher die Etablierung einer elektromyographischen Methode zur Diagnostik funktioneller Störungen der Mm. semispinalis capitis und cervicis nach HWS-Beschleunigungsverletzungen. Der erste Arbeitsschritt hatte zum Ziel, sichere Richtlinien für die Implantation von fine-wire Elektroden in die Muskulatur zu erarbeiten, um die Verunreinigung des EMG-Signals durch Cross-talk minimieren zu können. Aus CT-Untersuchungen des Halses wurden Daten für Stichwinkel, Stichtiefe und Halsumfang gewonnen. Anhand dieser Daten wurden Gleichungsmodelle entwickelt, mit deren Hilfe – lediglich in Kenntnis des Halsumfanges – Stichwinkel und Stichtiefe bestimmt werden können. Anschließend wurde im anatomischen Modell bei sieben menschlichen Leichen die Gültigkeit
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M. Kramer
der gewonnenen Gesetzmäßigkeiten und der anatomische Verlauf des Stichkanals aus topographischer Sicht überprüft. Die Punktion des M. semispinalis capitis ist dabei unbedenklich, während die Punktion des M. semispinalis cervicis das Risiko einer Verletzung der Vasae cervicales profundae birgt. Im zweiten Arbeitsschritt wurde bei 46 Patienten mit chronischen Beschwerden nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung (QTF II8) und 29 gesunden Probanden die elektromyographische Aktivität des M. semispinalis capitis während Flexion/Extension und beidseitiger axialer Rotation intramuskulär abgeleitet. Ziel dieser Teilstudie war neben der Beschreibung gesunder und pathologischer Aktivierungsmuster eine möglichst exakte Diskriminierung zwischen gesunden Personen und Patienten anhand der elektrischen Aktivität zu ermöglichen. Im Vergleich zu den physiologischen Muskelaktivitäten, die in der Probandengruppe festgestellt wurden, konnten in der Patientengruppe Veränderungen beobachtet werden, die weitgehend mit Lunds „pain-adaptation-Modell“ von 1991 übereinstimmten. Lunds Modell beschreibt, dass Schmerzen eine Erniedrigung der Aktivität des agonistisch wirkenden Muskels und eine Erhöhung der Aktivität des antagonistisch wirkenden Muskels während submaximalen und maximalen dynamischen Belastungen bewirken. So zeigen Probanden in unserer Studie beispielsweise bei Flexion und dadurch bedingter Dehnung des M. semispinalis capitis einen Abfall der elektrischen Aktivität, während die gleiche Bewegung bei Patienten einen Aktivitätsanstieg verursacht. In nahezu allen untersuchten Parametern unterscheiden sich die beiden Kollektive signifikant. Als für eine Diskriminanzanalyse geeignet wurden jedoch nur die Parameter betrachtet, die willentlich nicht beeinflussbar sind. Eine quadratische Diskriminanzanalyse unter Berücksichtigung des Parameters „EMG-Amplitude bei Flexion“ ergab letztlich eine Entscheidungsregel, anhand derer die beiden Kollektive mit einer Spezifität von 93% und einer Sensitivität von 83% richtig reklassifiziert werden konnten. In einer abschließenden Studie sollten die in Teilstudie zwei erarbeiteten Ergebnisse validiert werden. Hierzu wurde bei einer weiteren Probandengruppe (n=20) und Patienten mit akuten Beschwerden infolge einer HWS-Beschleuni-
Abb. 15.1. Position der Fadenelektroden.
Abb. 15.2. Die Untersuchung wird mittlerweile mit Techniken der virtuellen Realität durchgeführt. Die Testperson wird dabei durch ein Head Mounted Display (HMD) in eine virtuelle Szene versetzt. In dieser virtuellen Welt verfolgt die Testperson mit ihrem Blick Bewegungsbahnen eines Signals (z. B. Weltkugel im All). Da Augenbewegungen durch das geringe Blickfeld des HMD ausgeschlossen sind, wird die Testperson gezwungen Kopfbewegungen auszuführen, um den Bewegungsbahnen zu folgen.
gungsverletzung (QTF II8) vor (n=35) und nach (n=30) einer physiotherapeutischen Therapie die elektromyographische Aktivität des M. semispinalis capitis abgeleitet. Im Probandenkollektiv betrug die Spezifität hierbei 88%, während in dem akuten Patientenkollektiv zeitnah zum Trauma (vor Therapie) für die EMG-Messung eine Sensitivität von 86% bestimmt wurde. Nach acht Wochen Therapie betrug die Spezifität in dem akuten Patientenkollektiv 60% und die Sensitivität 70%. Als Ur-
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Kinesiologisches Fine-Wire EMG des M. semispinalis capitis zur Darstellung muskulärer Dysfunktionen
sachen für die geringere Aussagekraft der Untersuchungstechnik zum Zeitpunkt acht Wochen nach Therapie wurden die individuell unterschiedliche Schmerzempfindung, Aggravationstendenzen und zeitlich unterschiedliche Heilungsverläufe diskutiert. Abschließend kann festgestellt werden, dass die anfangs formulierte Hypothese in einem Kollektiv chronischer Patienten nach HWS-Beschleunigungsverletzung und in einem akuten Kollek-
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tiv kurze Zeit nach dem Trauma bestätigt werden konnte. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen ermöglichen mit hoher Spezifität und Sensitivität die Diagnose muskulärer Dysfunktionen anhand der intramuskulär abgeleiteten elektromyographischen Aktivitätsmuster des M. semispinalis capitis. Das Verfahren könnte somit in Zukunft Bedeutung in der Therapiekontrolle und der in Begutachtung von Patienten mit HWS-Beschleunigungsverletzungen erlangen.
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16 Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion P. Kehr
Seit unseren ersten Veröffentlichungen im Jahre 1970 mit A. Jung [1, 2] bleiben die traumatischen Verletzungen der Arteria vertebralis in seiner latero-zervikalen Strecke von Aktualität, selbst wenn ihre Häufigkeit stark zurückgegangen ist. Dieser Rückgang erklärt sich durch die Senkung der Verkehrsunfälle, durch die systematische Benutzung der Sicherheitsgurte und der Kopfstütze in den Kraftwagen. Wir werden hier an unsere Konzeption erinnern, welche seit unseren ersten Veröffentlichungen sich nicht verändert hat.
Beteiligung der Arteria vertebralis an den zervikalen Traumen ] Die enge anatomische Zusammengehörigkeit der Arteria vertebralis mit dem lateralen Teil der HWS bringt es mit sich, dass jegliches Trauma der HWS die Arteria vertebralis in Mitleidenschaft ziehen kann. Im Gegensatz zur a. carotis communis, welche eine gewisse Distanz zum Halsskelett wahrt und somit zu den äußeren Weichteilen gehört, liegt in allen Segmenten die Arteria vertebralis nahe oder in direktem Kontakt mit den Halswirbeln. Trotz dieser anatomischen Evidenz, blieb und bleibt auch heute noch ein Trauma der Arteria vertebralis oft unerkannt. Die einschlägige Symptomatologie kann mit der Symptomatologie der commotio cerebri oder noch mit den nicht seltenen psychischen posttraumatischen Neurosen verwechselt werden. Anderseits glaubten und glauben noch manche Autoren, dass die Arteria vertebralis nur im dritten Segment V3, d. h. in der axoatlantalen Schleife, verletzbar sei, und dass im Gegensatz dazu das zweite Segment V2, d. h. das canalis-transversarius-Segment mit seinen knöchernen Querfortsatz-Brücken, eine schüt-
zende Rolle spiele. Dies mag ja für die seltenen direkten Hieb- oder Stichverletzungen der Fall sein, entspricht aber heute, wegen der anschwellenden Häufigkeit der indirekten HWSTraumen, nicht mehr der Wirklichkeit. ] Die große Beweglichkeit des Halses bringt es mit sich, dass die Arteria vertebralis sich ständig den Verlängerungen, Verkürzungen und Drehungen der HWS anpassen muss. ] Die laterale Beugung erlaubt normalerweise Kontakt von Ohr und Schulter; diese Bewegung ist gezwungenermaßen von einer Rotation begleitet. Durch elastische Dehnung passen sich medulla und Nervenwurzel der Bewegung der HWS an; während die mit der WS eng verbundene dura mater der Konkavität folgt. Der verschlussartige Kontakt der Querfortsätze und der Wirbelbogengelenkflächen blockiert die HWS bevor die Nervenwurzelhüllen und die Arteria vertebralis gefährdet sind. ] Bei der unfallbedingten Bewegung können die normalen Beweglichkeitsgrenzen weitgehend überschritten werden, hauptsächlich bei der Reklination, in welcher die wirksame knöcherne Grenze der Bewegung erst erreicht ist bei Kontakt von Okziput und Rückenwand, da der Kontakt der zervikalen Dornfortsätze keinen genügenden Widerstand bietet. Im Gegensatz hierzu stellt bei der ventralen Beugung der Kontakt zwischen Kinn und Brustbein eine schneller erreichte und dehnungssparende Grenze dar.
Die posttraumatischen zervikalen Syndrome [1, 2, 3] Praktisch und allgemein gesehen gliedern sich die osteoartikulären HWS-Läsionen, welche man nach einem HWS-Trauma antrifft, in a)
16
Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion
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Tabelle 16.1. Die vier möglichen Kombinationen von einerseits schweren oder leichten Skelettläsionen und andererseits von schweren oder leichteren Gefäßläsionen ergeben 4 klinische Zustände, so wie wir sie erfahrungsgemäß antreffen. a’ Schwere Läsionen der A. vertebralis mit irreversibler Ischämie
b’ Erträgliche, intermittierende vaskuläre Symptome
a) Schwere, meist unstabile Frakturen und Luxationen
a+a’ Gruppe I
a+b’ Gruppe II
b) Kontusionen, Distorsionen
b+a’ Gruppe III
b+b’ Gruppe IV (= PTZS)
schwere, meist unstabile Frakturen und Luxationen, die eine sofortige Behandlung verlangen oder b) leichte Verletzungen im Sinne von Kontusionen und Distorsionen oder auch im Sinne einer Fehlrotation mit Läsionen, die oft röntgenologisch nicht sofort nachweisbar sind und Funktionsaufnahmen oder Schichtaufnahmen, oder sogar beide zu gleicher Zeit benötigen. Wenn arterio-vertebrale oder vertebro-basiläre Symptome nach einem HWS-Trauma vorliegen, bestehen diese auch wieder entweder a) in schweren Verletzungen der Arteria vertebralis mit nicht reversiblen Symptomen (Infarkt) und möglicherweise tödlichem Ausgang, oder b) in intermittierenden, erträglichen Symptomen, die oft erst langsam oder spät manifest werden und die dem oben erwähnten zervikoenzephalen Syndrom, im Sinne einer vertebro basilären Insuffizienz, entsprechen. Die vier Möglichkeiten, die in a und b, und a’ und b’ angedeutet sind, können nun in verschiedener Kombination auftreten, so dass wir dazu geführt werden, die „Traumen der HWS mit vaskulären Läsionen“ in vier Gruppen zu unterteilen, welche tatsächlich den klinischen Beobachtungen und Erfahrungen entsprechen. Diese vier Gruppen sind in Tabelle 16.1 ersichtlich. Wir wollen nun diese vier Möglichkeiten an Hand von Beispielen erläuten und beschreiben.
] Gruppe I Sie ist durch das Vorliegen von schweren osteoartikulären Läsionen charakterisiert (Frakturen, Luxationen, meist unstabil), kombiniert mit schweren, nicht reversiblen Läsionen der Arteria vertebralis. W. Lewin [7] gibt einen Fall einer Luxationsfraktur C4/C5 mit Tetraplegie bekannt. Die Luxation wird durch Extension reduziert. Am zehnten Tag Rückgang der sensiblen, nicht aber der motorischen Ausfälle. Tod am siebzehnten
Tag. Obduktion: gute Reduktion der Luxationsfraktur, aber vollständiger Verschluss der Arteria vertebralis in Höhe von C4/C5. Hier sind die wichtigen Untersuchungen von Hinz und Tamaska zu erwähnen. Post mortem Angiographien nach tödlichen Verkehrsunfällen zeigen die Möglichkeit der schweren arteriellen Verletzungen auf.
] Gruppe II Hier bestehen einerseits schwere osteoartikuläre Läsionen, und andererseits erträgliche oder intermittierende arteriovertebrale Symptome. Letztere treten oft erst im weiteren Verlauf nach dem Unfall auf. Bei einem unseren Patienten konnten wir dieses feststellen. Ein 40jähriger Mann hat eine primär nicht erkannte Luxationsfraktur C3/C4. Erst drei Monate nach dem Unfall treten Kopfschmerzen und Schwindelanfälle auf. Die Arteriographie zeigt eine Abwinkelung der Arteria vertebralis im Luxations-Niveau auf. Nach Reduktion der Luxation und Ruhigstellung durch dorsale Metallzuggurtung treten Kopfschmerzen und Schwindelanfälle vollständig zurück. Weshalb treten in solchen Fällen die vertebrobasilären Symptome erst nachträglich auf? Verschiedenes spielt hier mit: besonders die allgemein sofort durchgeführte Ruhigstellung der HWS. Erst wenn später die HWS wieder bewegt wird, kommt es zu Spasmen im Bereich der Arteria vertebralis. Es können hier auch die langsam sich bildende periarterielle Sklerose oder die Organisation eines perivaskulären Hämatoms eine Rolle spielen.
] Gruppe III Es handelt sich hier um das Zusammentreffen von leichteren osteoartikulären Verletzungen, selbst kleinsten oder röntgenologisch schwer
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nachweisbaren Ausmaßes mit unmittelbaren schweren Gefäßverletzungen, die gelegentlich tödlich ausgehen können. Hier ein Beispiel, das wir Roche u. Mitarb. Verdanken [8]: Ein Skilehrer leidet 14 Tage nach einem Skiunfall an Nackenschmerzen und intermittierenden Kopfschmerzen. Ein befreundeter Arzt, bei welchem er zum Abendessen zu Gast ist, untersucht ihn bei dieser Gelegenheit und führt eine RotationsBewegung des Kopfes aus. Sofort bekommt der Patient schwere Nackenschmerzen mit Schwindelanfall, ein Horner-Syndrom und Sprachstörungen. Die Röntgenaufnahmen zeigen keine osteoartikuläre Läsionen irgendwelcher Art. 48 Stunden später stirbt der Patient mit einem Wallenberg’schen Syndrom. Die Obduktion ergibt keine Verletzung weder des Schädels noch des Großhirns, jedoch eine ischämische Nekrose des oberen Rückenmarks und des Kleinhirn, mit Abwesenheit der Arteria communicans posterior und Verschluss der Arteria vertebralis durch ein organisiertes Hämatom in Höhe von C3/C4.
] Gruppe IV: das posttraumatische zervikoenzephale Syndrom (PTZES) Hier bestehen leichtere bis minimale, röntgenologisch oft schwer darstellbare osteoartikuläre Verletzungen, mit sofort oder allmählich nach einer gewisssen Latenzzeit sich entwickelnder Symptomatologie einer vertebrobasilären Insuffizienz, die sich als traumatisches oder posttraumatisches zervikoenzephales Syndrom äußert.
Symptomatologie des PTZES Folgende Symptome werden als klassische Zeichen des PTZES betrachtet und wurden regelmäßig in unserer Kasuistik teilweise oder in ihrer Gesamtheit vorgefunden: ] Zervikalgien oder Nackenschmerzen mit mehr oder wenig starker Einschränkung der Beweglichkeit, meist durch die Reklination oder Drehbewegung der HWS hervorgerufen; vorgefunden bei 73 unserer 80 Fälle (91,2%) ] Kopfschmerzen, hauptsächlich Hinterkopfschmerzen, ausstrahlend in das frontoparietale Gebiet, einseitig oder beidseitig, oftmals mit akuten Anfällen, vorgefunden bei 66 unserer 80 Fälle (82,5%).
] Schwindelattacken, Drehschwindel oder Schwindelgefühle, durch HWS-Bewegungen ausgelöst; vorgefunden bei 64 unsere 80 Fälle (80%). ] Sehstörungen, Sehermüdung, Tränenfluss, Augenbrennenempfindung und besonders retrookuläre Schmerzen; in einigen Fällen objektivierbare Zeichen und Diplopie, Hemianopsie, Skotom oder konzentrische Einengung des Sehfeldes; vorgefunden bei 35 unserer 80 Fälle (44%). ] Gehörstörungen wie Ohrenbrummen bei 32 Fälle (40%), Hörminderungen in 2 Fällen (25%). ] Drop-Attacks („in die Knie fallen“) oder intermittierende Paresen der unteren Gliedmaßen mit oder ohne kurze Bewusstlosigkeit oder die von Gutmann beschriebene synkopale Tendenz; vorgefunden bei 35 unserer 80 Fälle (44%). ] Psychische Störungen, sowie Psychasthenie oder Depression sind oft vorhanden, lassen sich aber schwer zahlenmäßig ausdrücken. Man kann sie erklären: – durch den erheblichen Störungseffekt im alltäglichen Leben, der bei jeder HWS-Erkrankung anwesend ist und der sich psychisch mehr oder weniger auf das Beziehungsleben auswirkt; – durch das häufige Ungerechtigkeitsgefühl, welches sich zu dem primären Unfallgeschehen gesellt, z. B. beim Heckaufprall, so dass der Unfall oft dann wie eine Aggression erlebt wird; – durch die oft nachfolgenden stressreichen Auseinandersetzungen und deren Gutachtern; – durch die Durchblutungstörung im vertebrobasilären Gebiet und dies unabhängig von der vorher beschriebenen Faktoren. Es ist also sehr wichtig, diese psychischen Symptome zu analysieren und ihre Ursache zu präzisieren, zu verstehen und wenn möglich, sie durch eine angepasste ArztPatient-Beziehung zu verhüten. In manchen Fällen sind jedoch diese psychischen Störungen so erheblich, dass sie die erste Stelle einnehmen und sowohl eine konservative als auch eine chirurgische gezielte Therapie behindern oder sogar unmöglich machen. Es verlangt Geschick und Geduld, um die richtige Entscheidung zu treffen und um die zwei folgenden extremen Situationen zu vermeiden:
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Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion
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] Die positive Diagnose und die positiven Zeichen des PTZES stützen sich auf folgende ranggeordnete Faustregeln.
Hämatomyelie, Wurzelabriss, sub-durales zervikales Hämatom oder auch commotion oder contusio medullae. 2. Der Patient wird langfristig oder spät nach dem Schleudertrauma untersucht: – In Abwesenheit von jeglichen neurologischen Ausfällen kann man sofort eine vollständige statische und dynamische röntgenologische Untersuchung durchführen; – Lässt sich irgendwo eine neurologische Störung nachweisen, so sind röntgenologische Untersuchungen sowie CT, MRI und Darstellung der Arteria vertebralis (Abb. 16.1, 16.2), Elektronystagmographie und Elektroenzephalographie erforderlich.
1. Der Patient wird unmittelbar oder kurzfristig nach dem Schleudertrauma untersucht: – Es bestehen keine neurologischen Ausfälle und der Patient klagt über Nackenund Kopfschmerzen, durch HWS-Bewegungen bedingt oder verstärkt und über Schwindelattacken oder Schwindelgefühle. Die Diagnose ruht zuerst auf Standardaufnahmen, A-P, seitlichen und Schrägaufnahmen. Diese Aufnahmen werden gründlich analysiert. Sind sie ohne Befund, müssen dynamische Funktionsaufnahmen in Beugung und Reklination durchgeführt werden. Diese letzteren soll man erst dann verlangen, wenn auf den statischen Standardaufnahmen jegliche Fraktur oder Luxation ausgeschlossen worden ist. Um das rechte und das linke W-Bogengelenk gut zu unterscheiden, ist es nützlich, eine „schlechte“ Seitenaufnahme mit ca. 10 Grad Schrägstellung durchzuführen; diese Methode kann man natürlich auch funktionell auswerten. – Es bestehen objektive neurologische Ausfälle. Hier kann es sich um eine nicht sofort sichtbare rückenmark- und nervenwurzelgefährdende Fraktur handeln; man muss also zuerst diese Möglichkeit untersuchen oder durch Schichtaufnahmen ausschließen, CT und eventuell Myelo oder Myelographie. Es kann sich aber auch um eine schleudertraumabedingte Rückenmarkläsion oder Nervenwurzelläsion handeln, bedingt durch
Abb. 16.1. Beispiel einer traumatischen Läsion der rechten Arteria vertebralis zwischen C4 und C5. Es handelt sich um einen 36-jährigen Patienten, welcher nach einem Sturz von 6 Meter über ein zerviko-enzephalen Syndrome klagte. Es bestand keine Unkarthrose. Das therapieresistente Syndrom wurde analysiert, eine Arteria vertebralis Läsion wurde vermutet und eine Angiographie der Arteria vertebralis wurde durchgeführt. Die Einengung des Gefäßes ist lateral und entspricht einem organisierten Hämatom welches sich am Unfallstag entwickelt hatte und sekundär eine periarterielle Vernarbung produziert hat. Der Patient wurde operiert durch Befreiung der Arteria vertebralis (Transversektomie C5 und C4) mit totaler Beseitigung der Symptomatologie. Zu notieren ist die laterale Position der Einengung im Gegensatz zu unkarthrotisch bedingter Einengung (siehe Abb. 16.2).
– einem Patienten einen chirurgischen Eingriff zu verweigern, obwohl die psychische Symptomatik hauptsächlich auf einer Störung der vertebrobasilären Durchblutung beruht und somit einer chirurgischen Indikation entsprechen kann; – a contrario, bei einem pyschisch belasteten Patienten eine voraussichtlich zu keinem Resultat führende Operation vorzuschlagen und vorzunehmen.
Die Diagnose des PTZES
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des Syndroms vermuten? Wohl kaum; das krisenartige Auftreten der Symptome könnte dafür sprechen, stellt aber kein absolutes Kennzeichen dar.
Abb. 16.2. Beispiel einer unkarthrotisch bedingter Einengung der Arteria vertebralis: die Position der Einengung ist medial und mit einer Deviation (Schleife) verbunden.
Hier das Beispiel eines Patienten von 40 Jahren, Zimmermann, der sich nach einem Fall aus mehreren Metern über Nackenschmerzen beklagt, Drehschwindel, Drop-attacks. Die Radiographien der HWS heben auf den Seitenaufnahmen eine Fehlstellung des Dornvorsatzes von C5 hervor. Das Angiographie der Arteria vertebralis (durch Humeralis retorgradischer Injektion durchgeführt wurden), zeigt eine deutliche Einengung der rechten Arteria vertebralis in C4-C5 (Abb. 16.2). Diese Einengung ist an externer Konkavität entgegen der unkarthrotisch bedingten Einengung, welche immer an interner Konkavität ist. Dieser Patient ist durch Befreiung der Arteria vertebralis durch Transversectomie von C5 und C4 operiert worden; die Arteria vertebralis war von einer faserigen Gangart umgeben, die wir als ein altes Haematom interpretiert haben. Der Patient, total geheilt, kehrte zu seinem Zimmermannhandwerk zurück. ] Differenzialdiagnose zwischen posttraumatischem zervikoenzephalen Syndrom (PTZES) und vertebrobasilärer Insuffizienz (VBI). Das PTZES entspricht einer traumatischen VBI, so dass sich unserer Ansicht nach im Prinzip keine differentialdiagnostische Problematik stellt. Was vorkommen kann ist, dass ein Patient an VBI leidend, dem vorhergehenden Schleudertrauma keine Beachtung mehr schenkt und darüber unbeabsichtigt schweigt. Kann man trotzdem die traumatische Ursache
] Differenzialdiagnose zwischen PTZES und post-commotio-cerebri Syndrom der Schädelverletzten (PCCSSV). Bei vielen Schleudertraumen ist der Kopf an der grenzüberschreitenden Bewegung beteiligt: Dasselbe gilt in noch höherem Maße für Traumen mit direktem Kontakt des Kopfes. Ein PCCSSV kann somit in vielen PTZES-Fällen im Hintergrund stehen; noch häufiger sind die Fälle, in welchen das HWS-Trauma vollständig ignoriert bleibt, weil Arzt und auch Patient dem PCCSSV den Vorrang geben.
Schlussfolgerung Unter den zervikalen posttraumatischen Syndromen nimmt des posttraumatische zervikoenzephale Syndrom (PTZES) einen bedeutenden Platz ein. Dieses PTZES entspricht einer traumatisch bedingten vertebrobasilären Insuffizienz und kann dadurch in den Rahmen der HWSTraumen mit vaskulären (A. vertebralis) Läsionen eingeordnet werden. Hier sind die verschiedenen röntgenologischen Untersuchungen und besonders die Funktionsaufnahmen von größter Wichtigkeit, sowohl für die Darstellung einer Bewegungssegmentsläsion nach Schleudertrauma (Whiplash) als auch für die Diagnose einer meist schwer erkennbaren Wirbelbogenfraktur. Die Differential-Diagnose gegenüber dem Syndrom nach commotio cerebri kann schwierig sein und verdient eine genaue Analyse. Auf das Zusammentreffen mit einem posttraumatischen Skalenuslückensyndrom wird hingewiesen. Unser Standpunkt, was die gerichtsmedizinischen Probleme anbelangt, ist erläutert. Diese Probleme sind nicht zu unterschätzen, denn sie haben oft einen psychisch negativen Einfluss auf Behandlung und Resultat. In therapeutischer Hinsicht kann die Diagnose eines PTZES zur Dekompression der Arteria vertebralis durch Transversektomie und Unkusektomie führen. Die technischen Aspekte dieser Operationen kann der Leser in unseren Beschreibungen finden [4, 5].
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Das posttraumatische zervikale Syndrom und die Arteria vertebralis-Läsion
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Bildgebende Diagnostik 17
Bildgebende Diagnostik bei HWS-Beschleunigungsverletzungen unter besonderer Berücksichtigung funktioneller Untersuchungsmethoden
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Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ)
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Besonderheiten der Untersuchungstechnik
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Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie
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Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion
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Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma
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Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas
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Einleitung In über 80% aller gemeldeten Verkehrsunfälle mit Personenschäden wird gemäß dem Abschlussbericht des IBIS-Projektes (IBIS=Initiative zur Basisdiagnostik an der HWS) im Schädigungsfalle die Diagnose „Schleudertrauma“ bzw. „HWS-Beschleunigungsverletzung“ gestellt [21]. Behandlung und Begutachtung dieser TraumaPatienten war und ist durch fehlende Standards für die Erstuntersuchung und Folgeuntersuchungen zumindest erschwert, weshalb sich im Mai 1999 eine interdisziplinär besetzte Gruppe von Medizinexperten im Auftrag des Instituts für Fahrzeugsicherheit konstituierte, um sich mit dem Problem einer Standardisierung von Untersuchungs- und Diagnosekriterien bei Weichteildistorsionen der HWS auseinander zu setzen. Als wichtiges Ergebnis des IBIS-Projektes konnte ein Dokumentationsbogen „HWS“ erarbeitet werden, der u. a. auf dem 4. Europäischen Unfallchirurgenkongress 2000 vorgestellt wurde. Unter Punkt 6 „Bildgebende Diagnostik“ ist nach wie vor die Anfertigung von Röntgenaufnahmen der HWS in zwei Ebenen ggf. in Kombination mit Spezialaufnahmen der oberen HWS und des Dens an erster Stelle vorgesehen. Obwohl diese Bilddokumente je nach Befund und Verlauf durch Zusatzuntersuchungen wie CT und MRT ergänzt werden können und sollen, gilt letztlich immer noch die Feststellung von Herbert Junghanns aus dem Jahr 1973 [6]: „Der pathologisch-anatomische Kernbefund dürfte bei den allermeisten Fällen in Weichteilschäden bestehen, die im Füllgewebe des intervertebralen Bewegungssegmentes zustande kommen und sich mit röntgenologischen Mitteln nur ausnahmsweise sichtbar machen lassen. Liegen keine knöchernen oder sonstigen schwereren Verletzungen in den konventionellen Röntgenaufnahmen vor, wird von einer Weichteil-Distorsion der Halswirbelsäule aus-
gegangen, die nach vorherrschender Meinung, die maßgeblich von überwiegend gutachterlich tätigen Kollegen geprägt wird, in wenigen Wochen ausheilt und nach spätestens 12 Wochen als folgenlos ausgeheilt anzusehen ist.“
Kügelgen et al. [20] stellten im Rahmen des Koblenzer Konsensus erstmals das Konzept einer Muskelfunktionsstörung vor, die sich nach Pkw-Kollisionen bevorzugt an einer reflektorisch angespannten Halsmuskulatur abspielen soll und mit einem entsprechenden Schmerzbild und einer eingeschränkten Funktion der HWS einhergehen soll. Wenn denn solche Weichteilschäden zu einer „vertebralen Dysfunktion“ führen, lassen sich diese nicht nur manualdiagnostisch, sondern häufig auch mit radiologischen Funktionsuntersuchungen nachweisen, wobei unter einer „vertebralen Dysfunktion“ ein prinzipiell reversibles, pathophysiologisches Leistungsdefizit des Systems „Wirbelgelenk“ zu verstehen ist. Das System „Wirbelgelenk“ darf keineswegs nur auf die knöchernen, knorpelig überzogenen Gelenkpartner reduziert werden. Die Mehrzahl der HWS-Beschleunigungsverletzungen wird, gestützt auf den meist bildmorphologisch negativen Befund, in der Regel rein symptomatologisch behandelt. Mögliche anhaltende Störungen im nozizeptiven und propriozeptiven System als Folge unfallbedingter Weichteilschäden werden jedoch meist ignoriert. Dies gilt insbesondere für Begutachtungen, da diese Störungen mit den diagnostischen Standardverfahren entweder nicht erfasst werden oder diese Störungen mit einer unfallunabhängigen Ursache in Verbindung gebracht werden. Der Stellenwert bildgebender Verfahren und speziell funktioneller Techniken muss dringend hinsichtlich solcher anhaltender posttraumatisch aufgetretener Beschwerdebilder aufgrund von Störungen der Propriozeption und Nozizeption neu definiert werden.
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H. Friedburg
Konventionelle Röntgendiagnostik Konventionelle Röntgenaufnahmen, wie sie im Rahmen der Basisdiagnostik einer HWS-Verletzung angefertigt werden, gehen mit einer diagnostischen Fehlerquote von bis zu 60% einher, was an späterer Stelle ausführlicher diskutiert wird. Ohne zusätzliche Schrägaufnahmen bzw. Zielaufnahmen können selbst Gelenksubluxationen und sogar Luxationen übersehen werden. Konventionelle Funktionsaufnahmen, die vor allem in Gutachten noch eine Rolle spielen, werden häufig nur semiquantitativ ausgewertet, obwohl sich mittels exakter Messung der Kippmobilitäten der einzelnen Segmente und Wiedergabe der Messungen in Form von Diagrammen der Aussagewert sagittaler Funktionsaufnahmen erheblich steigern lässt.
Spiral-CT CT-Untersuchungen gehören bei entsprechend schwerer oder unerklärlicher Symptomatik zur Primärdiagnostik einer HWS-Verletzung. Die Wertigkeit von CT-Untersuchungen im Spätstadium einer HWS-Beschleunigungsverletzung wird von der relativ geringen Anzahl unfallspezifischer pathologischer Befunde bestimmt. So sind Spätfolgen von Frakturen oder übersehene Subluxationen selten. Gelegentlich wird erst im chronischen Beschwerdestadium eine im Akutstadium übersehene fixierte atlanto-okzipitale Rotation [7] aufgedeckt. Dieser Sonderfall einer mechanisch fixierten, rotatorischen Funktionsstörung in der Kopfhalsgelenksregion leitet zu anderen zervikalen Dysfunktionen auf dem Boden einer gestörten Nozizeption und Propriozeption der oberen HWS, also der Segmente C0/1 bis C2/3, über. Klinisch manifestieren sich Dysfunktionen der Kopfhalsgelenke in der Regel als zervikoenzephales Syndrom. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass ca. 80% der HWS-Beschleunigungsverletzungen in wenigen Wochen oder Monaten ausheilen, darf auf keinen Fall übersehen werden, dass es im Gegensatz dazu bei ca. 15–20% dieser Verunfallten jedoch zu keiner raschen Heilung, sondern zu unverhältnismäßig schweren klinischen Unfallfolgen und z. T. sehr stark verlängerten Krankenzeiten kommt. Bei solchen Patienten finden sich in überwiegender Anzahl
funktionelle und/oder somatische Störungen und Leistungsdefizite im kraniozervikalen Übergang [32]. Die Tatsache, dass nicht alle zervikalen Dysfunktionen im kraniozervikalen Übergang manuell diagnostiziert werden können, und wir gesehen hatten, dass manualdiagnostisch gestellte Diagnosen von Kollegen, die keine derartige Ausbildung durchlaufen hatten, nicht akzeptiert wurden, veranlasste uns, die Funktions-CT nach Dvorak [4] zur Identifizierung solcher Dysfunktionen im kraniozervikalen Übergang einzusetzen [8]. Der ursprüngliche Ansatz der FunktionsComputertomographie nach Dvorak galt nur dem Nachweis einer rotatorischen Instabilität mit Hypermobilität in den Atlanto-Occipitalgelenken, um so indirekt auf eine Verletzung der Ligamenta alaria rückzuschließen, weshalb auch eine passive Untersuchungstechnik zwingend war. Im Fall eines von uns gesehenen bildmorphologisch zweifelsfrei gesicherten ligamentären Ausrisses des rechtsseitigen Ligamentum alare [8] war die muskuläre Schutzreaktion jedoch so stark, dass keine atlanto-okzipitale Hypermobilität im Funktions-CT resultierte, ein Phänomen auf das auch Grönewäller und Kopp [11] hingewiesen haben. Letztlich sind diese indirekten Nachweisversuche einer Ruptur der Ligamenta alaria mittlerweile durch die direkte kernspintomographische Darstellung dieser Bänder bedeutungslos geworden. Anstelle der Aufnahme von jeweiligen Einzelschnittbildern durch die Schädelbasis, den Atlas und die Axis, wie es dem technischen Stand der Computertomographie zu Zeiten der Entwicklung der Funktions-CT durch Dvorak in den 80-ger Jahren entsprach, ist es mit den modernen Spiral-CT- bzw. Multidetektor-Geräten sehr viel sinnvoller, komplette 3D-Datensätze mit wesentlich kürzeren Akquisitionszeiten aufzunehmen und die einzelnen Wirbel dreidimensional zu rekonstruieren, um interaktiv in einem 2. Schritt die Rotationswinkel um die Körperlängsachse (= Z-Achse) unter Ausgleich der individuellen Abkippung eines Wirbels um die X- bzw. Y-Achse zu bestimmen. Dadurch lassen sich die Bewegungsmuster zwischen den unterschiedlichen Funktionsstellungen genauer erfassen. Antinnes et al. [1] haben mit 423 ausgewerteten Funktions-Computertomographien bei Patienten mit chronifizierten Symptomen nach einem HWS-Beschleunigungstrauma die bislang größte Studie zu diesem Thema vorgelegt. Die Ergebnisse von An-
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tinnes et al. [1] stehen nicht im Widerspruch zum Ergebnis einer computerbasierten Auswertung von mehr als 200 Funktions-CT-Studien, die wir von 2005 bis 2007 durchgeführt haben. Diese Auswertung erfolgte mittels eines automatisierten PC-Programms [14]. Abweichende Ergebnisse haben Pfirrmann et al. [23] vorgelegt. Diese Gruppe aus Zürich hatte im Auftrag der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei 50 asymptomatischen Probanden mit einem 1-Tesla-Gerät funktionelle MRT-Studie des kraniozervikalen Übergangs mit dem Untertitel „Correlation with alar ligaments and occipito-atlantoaxial joint morphology“ durchgeführt. Ursprünglicher Ausgangspunkt für diese Studie war, wie die Autoren selbst schreiben, der Routineeinsatz rotatorischer Funktions-CT zum indirekten Nachweis einer Verletzung der Ligamenta alaria. Damit unterscheidet sich nicht nur Studiendesign, sondern auch die Gerätetechnik bei dieser Auftragsstudie von den anderen oben angeführten Publikationen. Methodisch bedingt werden feine Knochenkonturen in MRT-Bildern deutlich schlechter abgebildet werden als in CT-Bildern. Außerdem ist die automatisierte Segmentierung der einzelnen Wirbel in MRT-Daten für sekundäre 3D-Rekonstruktion ebenfalls aus methodischen bzw. physikalischen Gründen bislang nicht befriedigend möglich und mit den von Pfirrmann et al. [22, 23] eingesetzten Sequenzen schon gar nicht. Ansätze für Sequenzkombinationen (z. B. SINOP-Sequenz), die eine 3D-Verarbeitung mit Wiedergabe der knöchernen Wirbelsäule ermöglichen, haben Eberhard et al. [5] vorgelegt. Es gibt weitere methodische Gründe, die gegen die Schlussfolgerungen von Pfirrmann et al. sprechen: Zur Bestimmung der Rotationswinkel wurden von diesen Untersuchern entsprechend den Abbildungen in den betreffenden Publikationen interaktiv Linien durch das Nasenseptum und die Crista interna occipitalis, durch die Mitte von C2 und die Foramina der Querfortsätze von C1 und C3 zur Bestimmung der Rotation der Schädelbasis und der Segmente C1–C3 analog der ursprünglichen Technik nach Dvorak [4] gezogen. Nach unserer Erfahrung kommen leichter Messfehler, insbesondere im Segment C0, vor, wenn, wie auch ursprünglich von Dvorak [4] vorgeschlagen, das Nasenseptum und die Crista interna occipitalis als anatomische Landmarken verwendet werden. Sicherer ist es, die Rotati-
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onswinkel der Schädelbasis weiter kaudal in Höhe des Foramen magnum zu bestimmen. Außerdem kann es zu Messfehlern kommen, wenn die Abkippung eines Segments um die X- bzw. Y-Achse nicht berücksichtigt wird. Auch an den Einschlusskriterien für das von Pfirrmann untersuchte Kollektiv ist Kritik zu üben, da sich unter den untersuchten Probanden auch Patienten der Unfallambulanz mit abgelaufener Schulterluxation befanden. Irritationen der Rotatorenmanschette und der übrigen Schultermuskulatur, die zwangsläufig bei einer Schultergelenksluxation auftreten, gehen aber sehr häufig mit zervikalen Dysfunktionen einher, was die Ergebnisse der Pfirrmann-Studie verfälscht. Nach unseren Daten kann das Ergebnis einzelner Funktions-CT-Messungen per se so extrem pathologisch ausfallen, dass an einer gestörten Funktion im Kopfgelenksbereich gar kein Zweifel möglich ist und damit eine eindeutige Diagnose zu stellen ist. Die Autoren Pfirrmann et al. [22, 23] kamen dagegen zu der Schlussfolgerung, dass rotatorische Funktionsstudien der Kopfhalsgelenke sinnlos seien, da sich die von ihnen bei 50 asymptomatischen Probanden ausgemessenen Rotationswinkel nicht von den Winkelmaßen symptomatischer Trauma-Patienten unterschieden. Aus den oben genannten Gründen (Studiendesign, Einschlusskriterien gerätetechnische und methodische Unterschiede) kann diese Schlussfolgerung von Pfirrmann et al. nicht akzeptiert werden, da die Ergebnisse aus o. g. Gründen keinesfalls ausreichen, um generell den Wert von computertomographischen segmentalen Rotationsmessungen im Zusammenhang mit HWS-Beschleunigungsverletzungen in Frage zu stellen. Allerdings stimmen wir mit Pfirrmann überein, dass rotatorische FunktionsCTs als indirekter Nachweis einer Verletzung der Ligamenta alaria ungeeignet sind. Wenn auch aus anderen Gründen, da die aus einer Bandverletzung resultierende Hypermobilität durch entsprechende muskuläre Gegenspannung verdeckt werden kann. Die Diskussion von Verletzungen der Ligamenta alaria wird weiter hinten im Text fortgesetzt. Mit der Frage einer vertebralen Dysfunktion in Form einer Hypomobilität oder aufgehobenen Rotationsmobilität haben sich Pfirrmann et al. [22, 23] nicht auseinandergesetzt, was auch nicht Ziel dieser Studie war. Als erster hat sich Kamieth [16] ausführlicher mit dem radiologischen Nachweis solcher Dysfunktionen der
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Kopfhalsgelenke beschäftigt und seine Ergebnisse in Band 101 bzw. Band 111 der von Junghanns herausgegebenen Reihe „Die Wirbelsäule in Forschung und Praxis“ publiziert. Bereits dieser Autor wies darauf hin, dass es Dysfunktionen im kraniozervikalen Übergang auch ohne vorangegangenes HWS-Beschleunigungstrauma gibt, weshalb der Nachweis einer solchen Dysfunktion noch keinen Vollbeweis hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität darstellt. Der funktionelle Nachweis einer solchen Dysfunktion ist jedoch als wichtiges Indiz zu werten, das im Kontext mit anderen Befunden und der Anamnese gesehen werden muss. Wie oben im Text schon erwähnt, können wir die Ergebnisse von ca. 200 zeitlich aufeinander folgenden automatisierten Winkelberechnungen der Jahre 2004 bis 2007 unter Verwendung hochaufgelöster Funktions-CTs mittels eines objektiven, benutzerunabhängigen PC-gestützten Auswertungsprogramms von FunktionsComputertomographien vorweisen. Das verwendete Software-Paket „ROSE“ war von Hahn [14] im Rahmen einer Kooperation mit dem Lehrstuhl für Algorithmen und kognitive Systeme zur Automatisierung solcher segmentaler Winkelmessungen aus Spiral-CT-Daten realisiert worden. Mit diesem Programm können wir bei einem Großteil der aufgenommenen FunktionsComputertomogramme nicht nur automatisiert segmentale Rotationswinkel um die Körperlängsachse (= Z-Achse) bestimmen, sondern auch mögliche, während einer Rechts- bzw. Linksrotation zusätzlich auftretende, Rotationswinkel um die anderen Raumachsen berechnen lassen. Dabei erlaubt dieses PC-gestützte Programm „ROSE“ zusätzlich eine visuelle Überprüfung der berechneten Rotationswinkel und damit auch eine Kontrolle der automatisiert berechneten Winkel.
Magnetresonanztomographie Mit der Arbeit „Zur Chronifizierung posttraumatischer Zustände der Halswirbelsäule und der Kopfgelenke“ [19] sind mögliche Verletzungen der Ligamenta alaria ins diagnostische Interesse gerückt. Angeregt durch diese Publikation hat dann Saternus eine pathologisch-anatomische Studie [26, 28] vorgelegt. CT-Untersuchungen mit axialer Abbildung dieser Bänder im Spätstadium haben sich für die Beurteilung rein
ligamentärer Verletzungen der Flügelbänder als ungenügend erwiesen. Anders sieht das in der Frühphase aus. Grönewäller und Kopp [11] vermuteten aufgrund einer computertomographisch gesicherten Subluxationsstellung des Atlas nach rechts, in Kombination mit atypischen Dichtewerten zwischen Dens axis und dem Atlas, eine Bandverletzung bei einem 25-jährigen Patienten nach einem Auffahrunfall – im ergänzend angefertigten MRT war dann eindeutig ein Hämatom zu sichern. Dieser Fallbericht ist als Aufforderung zu sehen, die Diagnostik bei entsprechend schweren HWS-Beschleunigungsverletzungen nicht nur auf Bilder, die in HR-Technik errechnet wurden, zu beschränken, sondern auch CT-Bilder mit entsprechender Weichteildarstellung zur Diagnostik heranzuziehen. Für die Diagnose einer knöchernen Ausrissfraktur, bevorzugt aus dem occipitalen Kondylus, ist die CT hingegen die Methode der Wahl [31]. Außer einer optimalen Abbildung dieser Bänder bei anatomisch korrekter Einstellung der Schnitte entlang dem meist schrägen Verlauf dieser Bänder ist die Integrität der Ligamenta alaria in einer zweiten Ebene zu überprüfen. Hierzu müssen notwendigerweise zusätzliche sagittale Schichten, d. h. orthogonal zum Längsverlauf der Flügelbänder, angefertigt werden. Generell ist bei MRT-Untersuchungen nicht nur im Frühstadium, sondern auch im Spätstadium einer HWS-Beschleunigungsverletzung, also auch Jahre nach dem Unfall, sicher zu stellen, dass es sich bei einer asymmetrischen Abbildung der Bänder und fehlenden Hinweisen auf eine abgelaufene knöcherne Verletzung um kein Anschnittphänomen handelt. Wenn obige Bedingungen erfüllt sind und trotzdem eine Diskontinuität eines Ligamentum alare vorliegt, kann anstelle einer Ausrissfraktur eine intraligamentäre Ruptur oder ein Ausriss des Bandansatzes ohne knöcherne Beteiligung angenommen werden. Volle [30] hat auf den Zehnten Enzensberger Tagen einen solchen Fall präsentiert, während in der Studie von Castro et al. [2] kein derartiger Fall beobachtet worden war. Wir selbst haben im Rahmen von ca. 400 MRT-Untersuchungen des kraniozervikalen Übergangs einen rein ligamentären Ausriss aus dem occipitalen Kondylus ebenfalls nur einmal gesehen [10]. Bezüglich einer asymmetrischen Abbildung der Bänder ist darauf hinzuweisen, dass es kongenital asymmetrisch angelegte Ligamenta alaria gibt, so dass bei der Aufdeckung eines asymmetrischen Bandbefundes differentialdiagnos-
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tisch an diese Möglichkeit zumindest gedacht werden muss. Wir stimmen den Ausführungen von Kügelgen [20] insofern zu, dass in den vergangenen Jahren die Diagnose einer Teilruptur eines oder beider Ligamenta alaria zu häufig gestellt wurde, insbesondere unter Verwendung einer der Fragestellung nicht ausreichend angepassten Untersuchungstechnik. Pfirrmann et al. [22, 23] hatten in der schon oben diskutierten MRT-Studie des kraniozervikalen Übergangs vorrangig eine morphologische Studie der Ligamenta alaria durchgeführt. Die MRT-Bilder wurden bei 1 Tesla mit einer so genannten „cervical spine coil“ erstellt, wir selbst verwenden bei 1,5 Tesla die „head coil“ für solche Untersuchungen. Sowohl die höhere Feldstärke wie der bessere Füllfaktor der „head coil“ ergeben ein besseres Signal/Rausch-Verhältnis in den MRT-Bildern. Die von dieser Gruppe verwendeten Imaging-Protokolle beinhalteten außer Spinechotechniken auch Gradientenechosequenzen in 2D- und 3D-Technik. Letzterer Sequenztyp liefert nach unseren Erfahrungen hinsichtlich der Ligamenta alaria absolut unbefriedigende Bildinformationen. Da sowohl Reader 1 wie Reader 2 der Züricher Gruppe bei ca. 1/5 der 50 asymptomatischen Probanden die Ligamenta alaria nicht gegen die umgebenden Strukturen differenzieren konnten, belegt, dass die verwendeten Protokolle und Schichtorientierungen unzulänglich waren. Bei korrekter Doppelangulierung entsprechend dem Verlauf der Bänder von der hinteren oberen Densspitze zum jeweiligen okzipitalen Kondylus sind die Ligamenta alaria bei Normalpersonen in über 99% der Fälle zu identifizieren. Die Feststellung dieser Autoren, dass es keine relevanten Signaldifferenzen zwischen den Ligamenta alaria von HWS-Unfallopfern und Normalpersonen gäbe, ist in dieser Verallgemeinerung schlichtweg falsch. Sie basiert auf falscher Technik und deckt sich weder mit unseren Ergebnissen noch mit der Studie von Krakenes et al. [18 a]. Zugegebenermaßen sind Aussagen über eine mögliche Schädigung der Ligamenta alaria anhand von Aufnahmen in rotatorischer und lateraler Funktionsstellung, ein so genanntes „Funktions-MRT“ (Volle 1998), aus unserer Sicht tatsächlich nicht verlässlich möglich, da die Gefahr von Partialvolumen-Effekten bzw.
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Anschnittphänomenen und Artefakten zu groß ist (Anmerkung: Die von Volle vorgeschlagene Funktions- oder Bewegungs-MRI ist von der funktionellen MRI (fMRI), mit der metabolische Effekte gemessen werden, zu unterscheiden). Ebenso erscheint ein Rückschluss auf die Stabilität der Ligamenta alaria mit der so genannten Bewegungs- oder Funktions-MRT der Kopfhalsgelenke, wie sie Volle propagiert, nicht ausreichend abgesichert. Unsere eigenen Erfahrungen mit diesem Untersuchungsprotokoll waren auch bei 1,5 Tesla unter Verwendung einer ausreichend weiten, so genannten „head-coil“ unbefriedigend, so dass wir diesen Weg nicht weiter verfolgt haben. Hinsichtlich der Ergebnisse von Krakenes et al. [18 a] stellt sich die Situation anders dar, da im Gegensatz zur Interpretation der Aufnahmen, wie sie Volle vornimmt, bei Krakenes und Koautoren anatomische Normvarianten oder Anlagevarianten der Flügelbänder hinreichend berücksichtigt werden. So haben Krakenes et al. [18 a] bei 30 asymptomatischen Probanden und bei 92 Unfallopfern nach Beschleunigungstrauma MRT-Studien der Ligamenta alaria auf einem 1,5 Tesla-Magneten mit einer Schichtdicke von 2 mm durchgeführt. Im Studienprotokoll waren neben transversalen und koronaren Schichten zusätzliche sagittale Schichten vorgesehen. Als Verletzungskriterium eines Bandes wurden intraligamentäre Signalanhebungen herangezogen, die von 3 Befundern unabhängig bewertet wurden. Je nach Ausprägung einer solchen intraligamentären Signalanhebung, bezogen auf die Querschnittsfläche in Sagittalschnitten, wurde eine festgestellte Bandläsion einem von 3 möglichen Stadien zugeordnet, wodurch sich diese Studie fundamental von der Studie von Pfirrmann et al. [22, 23] unterscheidet. In der asymptomatischen Kontrollgruppe von Krakenes et al. [18 a] wurde von allen drei Befundern übereinstimmend kein Band mit Grad 2 oder 3 klassifiziert. Diese Publikation beinhaltet die bislang am besten abgesicherte Zusammenstellung zur Diagnose einer möglichen Verletzung eines Ligamentum alare, so dass es möglich ist, intraligamentäre Signalanhebungen Grad 2 bzw. 3 einer abgelaufenen Bandverletzung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zuzuordnen.
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Gutachterliche Aspekte radiologischer bildmorphologischer und funktioneller Befunde Der relativ geringe Wert konventioneller Röntgenaufnahmen zum Nachweis unfallbedingter Schäden an der HWS wird vor allem durch die Publikation „Hidden cervical spine injuries in traffic accident victims with skull fractures“ Jònsson et al. [13] untermauert und nachhaltig belegt. Insgesamt waren 245 klinisch relevante Band- und/oder Knochenverletzungen in diesen Röntgenaufnahmen nicht erkannt worden, d. h. im Durchschnitt zehn gravierende Verletzungen je Halswirbelsäule. Überraschenderweise hält das vernichtende Ergebnis dieser Studie viele Kollegen nicht davon ab, bei der radiologischtraumatologischen Beurteilung von HWS-Röntgenbildern in diesen Aufnahmen auch den Beweis für nicht stattgehabte Verletzungen der HWS zu sehen. Fragwürdig wird dieses Vorgehen besonders dann, wenn gestützt auf den fehlenden röntgenologischen Nachweis unfallbedingter Verletzungen sogar ein Ausschluss der haftungsausfüllenden Kausalität erfolgt. Vielmehr werden häufig vorkommende degenerative Veränderungen der HWS unkritisch zur unfallunabhängigen Ursache als so genannter Vollbeweis der posttraumatisch aufgetretenen Beschwerden erklärt. Der Beweis, dass diese degenerativen Veränderungen tatsächlich die Ursache der Beschwerden darstellen, wird nicht erbracht, allenfalls wird mit der allgemeinen täglichen medizinischen Erfahrung argumentiert. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass es zahlreiche Studien gibt, die sich mit der Häufigkeit degenerativer Wirbelsäulenveränderungen bei asymptomatischen Probanden auseinandergesetzt haben. Eine dieser Studien stammt aus dem Bunderwehrkrankenhaus Ulm [14 a]. Bei 10922 gesunden jungen Bewerbern für den fliegerischen Dienst waren Röntgenaufnahmen der gesamten Wirbelsäule durchgeführt worden. Nur bei 2,6% waren keine pathologischen Veränderungen der Wirbelsäule erkennbar. In der MRT-Studie von Matsumoto et al. [20 a], die über kernspintomographische Befunde der HWS bei 497 asymptomatischen Probanden berichtet, fanden sich degenerative Veränderungen der zervikalen Bandscheiben bei 17% der untersuchten Männer und 12% der untersuchten Frauen zwischen 20 und
29 Jahren und bei 86% bzw. 89% der untersuchten Männer bzw. Frauen über 60 Jahre. Bei immerhin 7,6% der Probanden waren sogar relevante Bandscheibenprotrusionen mit eindeutiger Rückenmarkskompression nachweisbar und trotzdem waren diese Probanden beschwerdefrei. Andere Studien, in denen ebenfalls asymptomatische Probanden untersucht wurden, kamen zu analogen Resultaten. Nicht zuletzt gaben solche Studien den Ausschlag, dass Grifka et al. (1998) in ihrem Übersichtsartikel zur HWS-Beschleunigungsverletzung entsprechende Empfehlungen für die Erstellung von Gutachten bei Beschleunigungsverletzungen aussprachen. Die nachstehend zitierten Empfehlungen sind unverändert gültig. „Beim Fehlen vorbestehender Beschwerden (leeres Leistungsverzeichnis der Krankenversicherung) und ebenso fehlenden oder aber allenfalls alterstypischen röntgenologischen Veränderungen spricht der Beweis des ersten Anscheins für den Unfallzusammenhang. Es muss zudem von der den Unfallzusammenhang bestreitenden Seite (private oder gesetzliche Unfallversicherung wie auch gegnerische Haftpflichtversicherung) der Nachweis geführt werden, dass andere Ursachen für die Beschwerden verantwortlich bzw. diese nur vorgetäuscht sind. Diese Aufgabe obliegt dann dem Gutachter und ist vielfach unlösbar. Dies sollte im Gutachten auch klar zum Ausdruck gebracht werden. Keinesfalls sollte man sich bei fehlendem, objektivierbarem Nachweis morphologischer oder funktioneller unfallbedingter Störungen auf den Ausweg begeben, behauptete Beschwerden durch röntgenologisch nachweisbare degenerative Veränderungen ohne weiteres als Degeneration zu deklarieren. Versicherungsrechtlich ist der Zusammenhang degenerativer Veränderungen mit aktuellen Beschwerden zu beweisen. Dieses ist gutachterlich bei fehlenden Vorerkrankungen unmöglich. Der orthopädische oder chirurgische Gutachter muss hier klar Stellung nehmen, dass er mit den Mitteln seines Fachgebiets einen Unfallfolgeschaden bzw. Vorschaden nicht nachweisen kann. Liegen an irgendeinem Abschnitt der HWS zumindest klinisch fassbare Veränderungen (z. B. in Form von Minderbeweglichkeit) vor und sind diese mit den vorgetragenen Beschwerden zumindest topographisch in Übereinstimmung?“
Hat demgemäß die funktionelle, segmentale Untersuchung bei global freier Beweglichkeit z. B. eine deutliche Rotationseinschränkung in Kopfflexion gezeigt, also in der oberen HWS, und der Verunfallte klagt über kranial lokalisierte Schmerzen oder ein zervikoenzephales Be-
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schwerdebild, dann spricht die Plausibilität eher für als gegen einen Zusammenhang. Gegen einen Zusammenhang spricht eher, allerdings nicht zwangsläufig, wenn der Untersuchte vor allem über Nacken- und Schultergürtelbeschwerden klagt und die Beweglichkeitsprüfung eine deutliche Rotationseinschränkung in Kopfflexion gezeigt hat. Nach wie vor wird in der überwiegenden Anzahl von Gutachten bei chronifizierten HWS-Beschleunigungstraumata gegen diese Richtlinien verstoßen. Weiterhin hatten Rompe und Fraunhofer [24] nicht nur auf die Bedeutung unphysiologisch rasch fortschreitender degenerativer Veränderungen der HWS nach HWS-Beschleunigungstraumata hingewiesen, sondern die Anfertigung zeitlich serieller HWS-Funktionsaufnahmen nach einem HWS-Beschleunigungstrauma zur Dokumentation einer vorzeitig einsetzenden Spondylose infolge des Unfalls sogar ausdrücklich empfohlen. Kamieth [16] hatte sich im Bd. 111 der Reihe „Die Wirbelsäule in Forschung und Praxis“ ähnlich geäußert. Leider lehrt die Erfahrung, dass in den wenigen Fällen, in denen eine Verlaufsserie mit entsprechenden Befunden vorliegt, mögliche diagnostische Rückschlüsse zur haftungsausfüllenden Kausalität kaum gezogen werden, sondern ungewöhnlich rasch fortschreitende degenerative Veränderungen der HWS fälschlicherweise als normaler Verlauf einer Spondylose abgetan werden. Eigentlich sollte der Hinweis von Krämer et al. [18], dass simulierte Bewegungsstörungen anhand typischer Merkmale in den FunktionsDiagrammen in der Regel erkannt werden können, für die Erstellung von Gutachten von erheblicher Bedeutung sein. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen auch Dall’Alba et al. [3] „Cervical Range of Motion (ROM) discriminates asymptomatic Persons from those with Whiplash“, das in Spine erschien. Dall’Alba et al. führten Vergleichsmessungen bei 200 Versuchsteilnehmern (119 symptomatische Unfallopfer und 81 asymptomatische Probanden) durch. Bei einer Sensitivität von 86,2% und Spezifität von 95,3% kamen diese Autoren zu der Schlussfolgerung, dass Bewegungsanalysen der HWS sehr wohl geeignet sind, um zwischen asymptomatischen Personen und solchen mit persistierenden Beschwerden wie bei Unfallopfern mit einem chronifizierten HWS-Beschleunigungstrauma, zu unterscheiden. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, kommen diese Funktionsuntersuchungen trotzdem kaum noch zur Anwendung.
Bildgebende Diagnostik bei HWS-Beschleunigungsverletzungen
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Zusammenfassung Bei der Bildgebung der HWS sollten mehr als bisher funktionelle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, da ein Großteil der Beschwerden durch eine gestörte Nozizeption und Propriozeption verursacht werden, die bildmorphologisch nicht in Erscheinung treten. Dass Funktionsstörungen der HWS auch ohne eine vorangegangene HWS-Beschleunigungsverletzung vorkommen, ist hinreichend bekannt und wird nicht bestritten. Objektiv nachgewiesene Funktionsstörungen sind daher in einen sinnvollen Kontext mit dem Beschwerdebild, mit der Anamnese und den übrigen klinischen Befunden zu bringen und hinsichtlich eines möglichen Unfallzusammenhanges zu prüfen. Der häufig eingeschlagene Weg, degenerative Veränderungen ohne Abwägung der Plausibilität zur Ursache der Beschwerden zu erklären, ist bei dem heutigen Wissensstand durch pathophysiologische bzw. schmerzphysiologische und neuroanatomische Forschungsergebnisse nicht mehr zu vertreten.
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H. Friedburg: 17
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Bildgebende Diagnostik bei HWS-Beschleunigungsverletzungen
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18 Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ) E. Volle
Im Rahmen von Traumata des Kopf-Hals-Nacken-Bereiches des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ) wird das Kopfgelenk, die biokybernetische Kalibrierungsstation für übergeordnete Kontrollsysteme, verletzt. Gemäß dem biokybernetischen Konzept von Hassenstein [15, 16], zuletzt eingehend von Wolff [71] interpretiert, nimmt die neuronale Verschaltung des „Sockelgelenkes“ des zweiten Halswirbels (HWK 2) hierbei eine Schlüsselstellung ein. Der KZÜ hat nach Neuhuber [38] die höchste Dichte an Nozirezeptoren. Diese Sonderstellung des zweiten Halswirbelkörpers ermöglicht ein dreidimensionales Analyse-System zur Berechnung des Raumstandpunktes der menschlichen KopfHals-Achse, welches mit vielen anderen neuronalen Bahnsystemen, insbesondere dem visuellen Daten-Aufnahmesystem unserer Augen, verschaltet ist [26, 38, 63]. Die schwedische Arbeitsgruppe um Jónsson, Bring und Rauschning [21] konnte anhand von Gefrierschnitten obduzierter Patienten zeigen, dass nach einem Trauma mit komplexem Unfallmechanismus, dem so genannten WAD (Whiplash Associated Disorders, unter WAD versteht man alle Traumata der Kopf-Hals-Achse, auch infolge von Krafteinwirkungen auf mehrere Körperlokalisationen und -positionen), eine Vielzahl von diskoligamentären HWS-Verletzungen, insbesondere Verletzungen der sog. kleinen Wirbelgelenke, sowie Verletzungen der knöchernen Interartikularportionen auftreten. Dies ist sehr eindrucksvoll in dem Artikel von Ivancic/Panjabi (Beitrag in diesem Buch) und durch die Arbeiten von Jónsson et al. [21, 22], sowie durch die Dissertation von Bring [5] aufgezeigt worden. Eine immer wieder zu diskutierende Verletzung ist die der Ligamenta alaria [7, 8]. Hierzu wurden Funktions-CT mit Winkelmessungen von Dvorak [7] initiiert und später von Novak [42] und Friedburg [12] an mindestens über 450 Patienten weitergeführt.
Schröter et al. [55] berichteten über den Nachweis signifikanter Veränderungen nach HWS-Distorsionstrauma bei symptomatischen Patienten in einer BG-Klinik. Bei mehr als 30% der Patienten nach Schleudertrauma ergaben sich bei MRT-Untersuchungen als pathologisch bewertete Veränderungen der Ligg. alaria. Signalerhöhungen, asymmetrisch nur innerhalb eines Lig. alare sowie seitendifferente Kaliber zeigten sich nur in der Gruppe der Patienten mit HWS-Distorsionstrauma. Diese Erkenntnisse decken sich mit unseren frühen Ergebnissen [65, 66] und denen der Arbeitsgruppe um Krakenes [24, 25, 28, 29]. Hyperintense T2-Regionen in nur einem Band sowie Asymmetrie des Kalibers sind Hinweis auf partielle Rupturen (Teilrupturen Typ II a und Typ II b nach Volle und Montazem [66]). Frische Bandläsionen zeigen kernspintomographische Zeichen der Einblutung, eine Flüssigkeitseinlagerung mit Aufquellung und Auffaserung des Bandes, sowie Signaländerungen mit insbesondere Signalerhöhung in den T2-gewichteten Sequenzen und sind manchmal assoziiert mit subligamentären Hämatomen [14, 17]. Briem et al. [4] und die Arbeitsgruppe um Kaale bzw. Krakenes mit ihren Publikationen [23–25, 28–32] sowie die Arbeiten von Bergholm [2] und Bengt H. Johansson [19, 20] bestätigen den allgemeinen Konsens, dass jede Signalalteration und Auffaserung bzw. spindelförmige Verbreiterung dieser Bandstrukturen bei anamnestisch bekanntem Trauma als sichere Bandläsion zu werten ist. Differenzialdiagnostisch müssen entzündliche Bandläsionen, wie sie z. B. bei Kollagenosen, der rheumatoiden Arthritis etc. auftreten, abgegrenzt werden. Kernspintomographisch finden sich dann immer i.v. kontrastmittelaufnehmende Pannusformationen und Denserosionen im Lokalisationsbereich. Der typische Unfallhergang eines Kopf-HalsAchsentraumas ist dabei der Auffahrunfall mit ei-
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E. Volle
nem unerwarteten Aufprall von hinten bei leicht gedrehtem Kopf, wodurch die sich verstärkende Kopfrotation bei entspannter Halsmuskulatur ausschließlich durch die Bandstrukturen abgefangen werden muss. Dadurch kann es nach Saldinger [51] zu einer irreversiblen Überdehnung der fast ausschließlich aus unelastischen kollagenen Fasern bestehenden Bänder oder gar zur Ruptur kommen. Die mechanische Belastung der Ligamenta alaria, welche einer relativ geringen Zugkraft von maximal 240 Newton (Kreuzbänder: bis 800 Newton) standhalten können, betrifft bei einer Kopfdrehung nach rechts die linken Bandstrukturen und umgekehrt [8]. Der kraniale Densanteil besitzt Schutzbursae für eine Milderung der Rotationsreibung der Ligg. alaria am Densperiost, die von Prescher [48] als „Bursa cruciatotectoria“ bezeichnet wurden. Durch Verletzungen der synovialen Kapselstrukturen und einem Insertionstrauma der ligamentären Strukturen am Periost ist nur ein eingeschränktes Funktionieren dieses Kopfgelenkverbandes möglich [6]. Die genauen Erkenntnisse belegen, dass die Basis von Dens axis mit dem Lig. transversum in der Regel fixiert ist. Die Densspitze und deren Stabilität werden jedoch fast ausschließlich von den Ligg. alaria garantiert [56] und nicht einzig und allein von den Ligg. transversaria [62]. In einem Vortrag vor der schwedischen orthopädischen Gesellschaft im Jahre 2001 konnten Volle et al. Ergebnisse aus einem Patientengut von 1200 Unfallpatienten vorstellen. 180 Patienten (= 16%) zeigten eine Rückenmarkskompression mit gleichzeitigem Dens shifting oder einem tanzenden Dens. Weitere 144 Patienten (= 12%) hatten eine Rückenmarkskompression und nur 48 Patienten (= 4%) wiesen eine komplette Bandruptur eines der Kopfgelenksbänder, insbesondere der Ligg. alaria des Kopfgelenkverbandes auf. Jedoch, wie bei allen Gelenkkapseln z. B. des Knies oder des OSG, ist die erste traumatische Gelenkverletzung immer die Gelenkkapsel, in diesem Fall die Gelenkkapsel um den Dens, insgesamt der dens related complex. In diesem oben berichteten Patientengut konnte eine Kapselverletzung/Ruptur in 828 (= 72%) der traumatisierten Patienten erkannt werden. Dies deckte sich mit den Aussagen von Prof. Lang, dass er bei vielen Sektionen sog. traumatische Bursae (auch Pseudobursae genannt) um die Densspitze nachweisen konnte. In dem gesamten Patientengut wurde nur eine Verkleinerung und/oder eine nicht komplette
Aufbrauchung des Subarachnoidalraumes in funktionellen Stresspositionen gegenüber der Normalposition, sowie die strittigen intraligamentären Signalveränderungen oder Dens-Stellungsabweichungen [45] nicht als pathologisch mitberücksichtigt. Immer wieder liest man in Gutachten nach Aktenlage, dass unter traumatischen Bedingungen Verletzungen der Ligg. alaria in keinem Fall isoliert, sondern nur im Rahmen schwerer Mehrfachverletzungen (insbesondere mit knöchernen Verletzungen) gefunden werden können. Saternus [52] und Obenauer [43] konnten in mehreren post-mortem-Studien belegen, dass ligamentäre Verletzungen, insbesondere die der Ligg. alaria, in der Mehrzahl ohne knöcherne Begleitverletzungen vorkommen. Die Gruppe um Crisco [6] wies mit einem Modellversuch nach, dass z. B. bei den Flügelbändern beide Ligg. alaria intakt sein müssen, um die erforderliche Stabilität des Dens während der axialen Rotation zu limitieren. Falls eines der beiden Flügelbänder verletzt wurde, ist der normale Bewegungsablauf unphysiologisch und nach Steel [56] und Volle [62] kann die dorsale Densspitzenlockerung zu einem Rückenmarkskontakt führen. Unter physiologischen Bedingungen ist in der Region des kraniozervikalen Übergangs/Foramen magnum der schützende Subarachnoidalraum (gleichzusetzen mit einem Pufferraum) der am weitesten ausgebildete Subarachnoidalraum, welcher zusätzlich noch durch ein weit verzweigtes VenenplexusSystem unterstützt wird [49]. Im nichtdeutschen Schrifttum, insbesondere im anglo-amerikanischen Raum, ist jedem klinisch untersuchenden Arzt klar, wenn es um eine zervikale Instabilität geht, dann ist damit immer die Auswirkung einer Druckkomponente auf das Myelon, insbesondere die erst unter funktionellen Bedingungen auftretende zervikale Myelopathie, gemeint. Die deutschsprachige Definition eines Schweizer Paraplegiker-Zentrums [17] bestätigt auch in Mitteleuropa diese Erkenntnisse. Die dort vertretene Definition einer Instabilität im Spinalkanal lautet: „Stabilität ist die Fähigkeit, unter physiologischen Belastungen das Alignement zu bewahren, den Körper zu stützen und das Myelon zu schützen“. Dieser Myelonkontakt ist auf keinen Fall degenerativer Art, sondern ist unfallbedingt. In diesem Bereich sind Verschleißerscheinungen extrem selten und zeigen ein anderes Bild.
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Rheumatische Erkrankungen kommen zwar auch hier vor, können aber internistisch nachgewiesen werden. In der oben bereits erwähnten Arbeit von Reesink [49] wird der Nachweis erbracht, dass unter physiologischen Bedingungen die atlantoaxiale Rotation zu keiner Rückenmarkskompression führt. Im Original lautet es: „The dural sac, which contains the zerebrospinal fluid (= SAS) and the spinal cord, is not significantly deformed during rotation.“ Die neuerdings im deutschsprachigen Raum vereinzelt vertretene Meinung, dass eine Rückenmarkskompression ein physiologischer Zustand [45, 46] sei, wird durch diese Publikation und das frühere Lehrbuch von Piepgras [47] widerlegt. Zur Beurteilung von Kapsel- und ligamentären Verletzungen der Kopf-Hals-Übergangsregion mit dem klinischen Resultat einer Instabilität des KZÜ sollen laut Bogduk [3], Bergholm [2] und Johansson [19, 20] immer mehr die funktionellen bildgebenden Untersuchungsmethoden der Arbeitsgruppen Kim [27], Mikkonen [35] und Volle [61, 67] herangezogen werden. Das Kapitel 9.3 des aktuellen Lehrbuchs für Neurochirurgie von Moskopp/Wassmann [62] zeigt, dass die posttraumatischen narbigen Veränderungen des KZÜ durch ihren Funktionsverlust zu einer Rückenmarkskompression führen können. Durch Verletzungen der synovialen Kapselstrukturen, die um den Dens eine Rotationsbewegung erst durch ihr Flüssigkeitspolster möglich werden lassen (die so genannte dens related capsule) [63], und dem Insertionstrauma der ligamentären Strukturen am Knochenperiost ist ein Funktionieren dieses Kopfgelenkverbandes nicht mehr möglich [6]. Es kann wissenschaftlich diskutiert werden, ob die o. g. Strukturveränderungen eine Instabilität bewirken können.
] Unstrittig ist jedoch, dass der in der fMRT
nachweisbare funktionelle Rückenmarkskontakt am kranialen Densspitzenbereich bei gleichzeitigem Eintreten von klinischen Symptomen als pathologisch anzusehen ist. Ein provozierbarer Rückenmarkskontakt ist immer ein durch ein traumatisches Ereignis eingetretener Zustand.
Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass der KZÜ unter normalen physiologischen Bedingungen den größten Subarachnoidalraum unserer Neuro-
Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ)
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achse aufweist (Lang 2003, pers. Mitt. [49]). Die auslösbare klinische Symptomatik beinhaltet z. B. drop attacks, Unwohlsein mit Brechreiz und ein von der Rotation abhängiges Vernichtungsgefühl, direkt auslösbare Atembeschwerden, Dysästhesien etc. [17, 63]. Wir fanden bei vielen Unfallpatienten in der fMRT die Läsion der Ligg. alaria als Ursache für die immer heftiger werdenden kognitiven Symptome, meist im Sinne der zervikookzipitalen Instabilität, die einem erstuntersuchenden Unfallarzt nicht entgehen sollte. An dieser Stelle ist anzumerken, dass in über 40 Diagnostikjahren von der Luftmyelographie über die Myelographie bis hin zur Myelo-CT immer die Aufbrauchung des Subarachnoidalraumes mit seiner Schutzflüssigkeit (die durch ein Myelografikum über eine hohe Zervikalpunktion oder eine Lumbalpunktion dargestellt und als richtungsweisende Diagnostik eingesetzt wurde) entweder zur OP-Indikation oder zur konservativen Vorgehensweise benutzt wurde. Daraus ableitend wurde eine Myelonkompression zum Beispiel als ein neurochirurgisches OP-Kriterium benutzt, wie bei einer knöchernen Zervikalstenose, bei einem sequestrierten Bandscheibenvorfall oder bei einem intra-/periduralen Tumor (Piepgras Aktuelle Neuroradiologie von 1977 [47]). In der Perfektion der Funktionsmyelographie von Nakstadt [37] findet dann in der Befundbeurteilung ein Wechsel vom strukturellen morphologischen Schaden zur funktionellen pathologischen Befundkonstellation statt. Diesen Grundgedanken aufnehmend wurde zur Beurteilung der rotatorischen Instabilität die funktionelle CT-Diagnostik nach Dvorak und die fMRT nach Volle in den 90er Jahren durchgeführt. Zuerst wurde an Leichenpräparaten eine Zunahme der rotatorischen Beweglichkeit zur Gegenseite bei einseitiger Ruptur der Ligamenta alaria von durchschnittlich 30% gefunden [58]. In vivo kann jedoch die Zunahme der rotatorischen Beweglichkeit durch einen erhöhten Muskeltonus der Halsmuskulatur maskiert sein, wodurch es zu falsch-negativen Befunden kommen könnte. Mithilfe der seit 1995 verfügbaren funktionellen Kernspintomographie (fMRT) werden durch spezielle Kopf-Gelenks-Untersuchungstechniken funktionelle Gegebenheiten/Pathologien untersucht. Hierbei können Kompressionen des Rückenmarks erzeugt werden, die sich in anderen statischen Diagnoseverfahren nicht finden, wie etwa intermittierende Kompressionen zentralnervöser Strukturen bei besonderen Bewegungs-
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E. Volle
Tabelle 18.1. Nachweis von Verletzungen der Ligg. alaria im MRT Lit.
Autor
[4] [9] [10] [11]
Briem Eberhardt Eickmeier Ernst
[13] [14] [18] [19] [20] [27] [29] [33] [35] [36] [39] [40] [41] [43] [45] [46] [50] [55]
Geissmann Grönewäller Herold Johansson Johansson Kim Krakenes Lahm Mikkonen Muhle Nidecker Nidecker Niibayaschi Obenauer Pfirrmann Pfirrmann Roy Schröter/BGKlinik Berlin Volle Volle Volle Volle Willauschus Wilmink Wörtler
[67] [61] [65] [66] [68] [69] [70]
Veröffentlichung
Verletzung der Ligg. alaria mit MRT nachweisbar?
Titel
Jahr
ja
Unfallchirurg Electromedica RöFo Traumatologie des Kopf-HalsBereichs Kongressband RöFo RöFo Pain Res Manage Whiplash & Related Disord Skeletal Radiology Neuroradiology Dt Ges für Unfallchirurgie ESSR Bruges RöFo Schweiz Med Wochenschr Whiplash & Related Disord Spine RöFo Schw Med Wschr Radiology Neuroradiology Trauma u Berufskrankheit
2002 2002 1999 2004
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1999 1999 1999 2006 2007 2002 2002 2004 2006 2002 1997 2002 1998 1999 2000 2001 2004 2002
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Ear Nose Throat Int Tinnitus J Manuelle Medizin Manuelle Medizin Spine Neuroradiology RöFo
2001 2000 1996 1997 1995 2001 2000
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exkursionen mit Aufbrauchung des schützenden subarachnoidalen Pufferraumes. Dies wird bei gleichzeitigem Auftreten der vom Patienten beklagten Beschwerden als Ursache für bewegungsabhängige Funktionsstörungen angenommen [17, 56, 67]. Kaale et al. stellten zudem einen Zusammenhang zwischen Kernspinbefund und Beschwerden her: Die 92 Patienten nach HWS-Distorsion und die 30 nicht HWS-Geschädigten mussten einen Fragebogen ausfüllen, welcher 10 Fragen hinsichtlich der Aktivitäten des täglichen Lebens beinhaltete [24]. Dabei stellte sich heraus, dass die Verletzten-Gruppe signifikant schlech-
fraglich
nein
´ ´ ´ ´ ´ ´ ´ ´ ´
´ ´
tere Werte hatte, insbesondere was folgende Faktoren anbelangt: Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Lesefähigkeiten, Konzentration, Autofahren und allgemeines Aktivitätsniveau. Eine Grad 2- bzw. Grad 3-Verletzung der Ligamenta alaria hatte hinsichtlich der gesundheitlichen Beschwerden die höchste Aussagekraft. Diese Studie erbringt u. a. den Beweis, dass die Lig. alaria vor allem dann verletzungsanfällig sind, wenn der Kopf zum Zeitpunkt der Kollision gedreht ist. In diesem Fall rollen sich die Ligamenta alare um den Dens auf. Bei 90 Grad-Drehung des Kopfes sind diese Bänder maximal gespannt und erreichen eine Richtung von vorne
18
nach hinten. Solche von vorne nach hinten (anterior-posterior) ausgerichteten Bänder sind für ein Trauma mit einer Überdehnung des Genickbereichs nach hinten und nach vorne viel anfälliger als Bänder, die 90 Grad zur Stoßrichtung ausgerichtet sind (also gerader Kopf beim Heckoder Frontalaufprall). Die Ligamenta alaria spielen auch in Kombination mit anderen Weichteilverletzungen der oberen Halswirbelsäule die wichtigste Rolle. Dies stützt die schon mehrfach früher aufgestellte These, dass eine diesbezügliche Strukturverletzung der Grund für die nach HWS-Distorsionen auftretenden Schmerzen und für andere gesundheitlichen Beschwerden sind, welche als chronische Beschwerden nach Schleuderverletzung der HWS oder im englischen Sprachbereich als WAD (Whiplash Associated Disorders) bezeichnet werden. Es deuten somit viele Fakten darauf hin, dass ein durch KernspinAufnahmen objektivierter Schaden an den Ligamenta alaria die Ursache für eine Instabilität im kraniozervikalen Übergang ist. Auf dem diesjährigen Whiplash-Kongress erhält Krakenes die Möglichkeit, seine Erkenntnisse der letzten Jahre aus statischen MRT-Untersuchungen den Teilnehmern vorzustellen, die zuletzt in einem Übersichtsartikel in Spine 2006 [28] publiziert wurden. Einige wenige so genannte „Interobserver“-Studien, wie z. B. Roy [50] allesamt mit nur geringer Fallzahl (50 oder deutlich weniger), versuchen die in über 15 Jahren gemachten Erkenntnisse allerdings in Frage zu stellen. Hauptaussage ist, dass alle Bandvariationen und Abstände im Dens-Kapsel-Gelenk als so genannte Normvarianten anzusehen sind und somit nicht als pathologisch zu werten sind. Es gibt weitere Studien, kritische Stimmen zur Abgrenzbarkeit der Ligamenta alaria unter statischen Bedingungen anhand der bildgebenden Diagnostik. Hierzu zählen die beiden Publikationen von Pfirrmann et al. [45, 46]; in diesen Studien wurde eine Magnetresonanztomographie ohne funktionelle Untersuchung angewandt. Auch die Gruppe um Muhle [36] argumentiert anhand einer Zusammenfassung ohne eigenes größeres Patientengut in diese Richtung – ebenfalls ohne Erörterung funktioneller MRTUntersuchungsmethoden. Zur Frage, was derzeit als herrschende Lehrmeinung zu gelten hat, ergibt sich derzeit folgendes Bild: Die Problematik der Verletzung des kraniozervikalen Übergangs nach Beschleunigungsver-
Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ)
]
letzung der Halswirbelsäule wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Vergessen wird, dass Bandpathologien ohne wesentliche Fachdiskussionen bei lateralen OSG-Bandverletzungen, Knieinnenbandverletzungen und RotatorenmanschettenPathologien akzeptiert werden [57]. Es ist unverständlich, dass die aus allen anderen Körpergelenkregionen bekannten Soll-„Bruch“-Stellen von Kapsel und Bändern im KZÜ nicht gleichsinnig gewertet werden können. Mittlerweile ist eine komplette Ruptur der Ligg. alaria nicht mehr strittig. Ebenso unstrittig ist die Tatsache, dass die Kopfgelenksbänder den gleichen traumatischen histochemischen Prozessen unterliegen sollen wie alle Kapseln und Bänder in unserem Körper. Es bleibt festzuhalten, dass z. B. Stressradiographien in der Unfallchirurgie und Sportorthopädie nicht durch statische MRT-Bildvolumenpakete ersetzt werden können. Es wird bei all der Diskussion um die Dicke der Bänder und um Magnetfeldstärke vergessen, dass selbst wenn sich ein Band abgrenzen lässt, über den Funktionszustand, bei nicht vollständiger Ruptur, nichts ausgesagt werden kann. Dennoch sind die Forschungsergebnisse, wie in den Übersichtstabellen (Tabellen 18.1 und 18.2) aufgeführt, doch sehr eindeutig für den Nachweis von Kopfgelenksbändern in der MRT und viele Studien können den Traumanachweis an und in den Bändern erbringen.
] Es
überwiegen zahlenmäßig und qualitativ ganz eindeutig diejenigen Studien, welche die Nachweisbarkeit von Strukturverletzungen in den Kopfgelenksbändern bestätigen.
Längst attestieren auch Veröffentlichungen von Seiten der Berufsgenossenschaften und zum Beispiel Leitfäden zur Begutachtung (z. B. Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DGU oder auch Arbeitskreis Sozialmedizin und Begutachtungsfragen) diese Verletzungen und haben keine Zweifel an deren Objektivierbarkeit durch die Kernspintomographie. Diese Erkenntnisse sind somit nicht nur herrschende Lehrmeinung, sondern auch Teil der Gutachtensmedizin der Versicherungswirtschaft. 1. In diesem Zusammenhang sollen die S-1Leitlinien der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften (LVBG 1) von 2002 erwähnt werden [1]. Darin heißt es wörtlich:
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]
E. Volle
Tabelle 18.2. Nachweis von Verletzungen anderer Kopfgelenksbänder/-strukturen im MRT Lit.
Autor
[1] Baum, Kügelgen, Rompe, Keidel [2] Bergholm [23] Kaale [24] Kaale [25] Kaale [30] Krakenes [31] Krakenes [33] Lahm [42] Novak [53] Schilling [60] Vahlensieck/Reiser
Veröffentlichung
Verletzung anderer Kopfgelenksbänder/ -strukturen mit MRT nachweisbar?
Titel
Jahr
ja
S1-Leitlinien der Berufsgenossenschaft (Rundschr) Whiplash & Relat Disord Journal of Neurotrauma Journal of Neurotrauma Journal of Neurotrauma Neuroradiology Acta Radiologica DGU-Mitteilungen Medizin im Bild Der Orthopäde MRT des Bewegungsapparates
4/2002
´
2004 2005 2005 2007 2003 2003 2004 1994 2006 1997
´ ´ ´ ´ ´ ´ ´ ´ (mit CT) ´ ´
] „Berufsgenossenschaftlich Versicherte müssen bei Verdacht auf einen Arbeitsunfall einen D-Arzt aufsuchen. Die unfallärztliche Diagnostik schließt eine knöcherne Beteiligung und eine diskoligamentäre Instabilität aus, ansonsten erfolgt unfallärztliche Betreuung, die unstrittig ist.“ ] „Nicht akzeptabel ist die Unterstellung einer Distorsion, die dann modellhaft begutachtet wird, nämlich sie habe nach einer bestimmten Anzahl von Wochen auszuheilen.“ Diese verbindlichen Leitlinien der Berufsgenossenschaften weisen zudem darauf hin, dass eine Verletzung der Ligamenta alaria eine „schwere Verletzung“, meist im Sinne einer „zervikookzipitalen Instabilität“ ist. Zudem seien nach diesem Konsenspapier der Berufsgenossenschaft diskoligamentäre Instabilitäten „nicht Gegenstand strittiger Diskussionen“. 2. Exemplarisch sollen hier auch die Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) aufgeführt werden: Im Editorial der elektronischen Version von Lahm/Uhl/Weber/Weise [33] heißt es: ] „Die Darstellung der Ligg. alaria und des Lig. transversum atlantis ist mit hochaufgelösten Sequenzen möglich, typische Traumafolgen sind hier Bandeinblutungen mit Signalveränderungen in den T1- und T2-gewichteten Bildern.“
fraglich
nein
] „Nach allgemeinem Konsens ist aber jede Signalalteration und Auffaserung bzw. spindelförmige Verbreiterung dieser Bandstrukturen bei anamnestisch bekanntem Trauma als sichere Bandläsion zu werten.“ ] „Fazit: Der spinale Band- und Bandscheibenapparat lässt sich mittels Kernspintomographie in überlegener Weise visualisieren. Die Methode hat sich in überprüfbarer Weise als Standarddiagnostik für degenerative und traumatische Läsionen etabliert und ist für gutachterliche Fragestellungen als Untersuchungsmethode der ersten Wahl zu sehen.“ 3. Eine Arbeit aus der berufsgenossenschaftlichen Klinik (Institut für Radiologie, Unfallkrankenhaus Berlin, Krankenhaus BerlinMarzahn mit BG-Unfallklinik e.V.) wurde in der Zeitschrift Trauma und Berufskrankheit 2002 veröffentlicht [55]. Diese Zeitschrift wird herausgegeben von den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken in Zusammenarbeit mit dem Hauptverband und den Landesverbänden der gewerblichen Berufsgenossenschaften, dem Bundesverband der Unfallkassen in Deutschland, von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) in Österreich und von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA). Ziele dieser Arbeit waren die Darstellung der Ligg. alaria in der MRT und der Nachweis signifikanter Veränderungen nach HWS-Dis-
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torsionstrauma bei symptomatischen Patienten. Bei 73 Patienten mit persistierenden Beschwerden nach Schleudertrauma sowie 20 Probanden der Kontrollgruppe wurden die Ligg. alaria mit Hilfe der MRT-Dünnschichttechnik und nicht mittels fMRT untersucht. Die verwendeten MRT-Sequenzen gewährleisteten eine gute Darstellung der Anatomie der Kopfgelenksbänder. Als Fazit wurde gezogen: „Bei > 30% der Patienten nach Schleudertrauma ergaben sich bei MRT-Untersuchungen als pathologisch bewertete Veränderungen der Ligg. alaria. Signalerhöhungen, asymmetrisch nur innerhalb eines Lig. alare, sowie seitendifferente Kaliber zeigten sich nur in der Gruppe der Patienten mit HWS-Distorsionstrauma. Diese Veränderungen der Ligg. alaria wurden signifikant (p < 0,01) häufiger bei einem kaudokranialen Bandverlauf beobachtet. Mit der MRT können nach Schleudertrauma Veränderungen der Ligg. alaria nachgewiesen werden. Hyperintense Regionen in nur einem Band sowie Asymmetrie des Kalibers sind Hinweis auf partielle Rupturen.“ 4. Österreich: Nach den Publikationen von Laubichler [34] in der österreichischen Richterzeitung können mit den Methoden der funktionelle Kernspintomographie Verletzungen an den so genannten Flügelbändern nachgewiesen werden. 5. Schweden: Nach Bergholm [2] erkennen die Staatlichen Schwedischen Gesundheitsbehörden die Nachweismethode mit funktioneller Kernspintomographie an. Wörtlich heißt es: „This method has contributed to the diagnosis of whiplash associated disorders and is accepted in Sweden by the National Board of Health and Welfare.“
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19 Besonderheiten der Untersuchungstechnik J. Naxera
Dieser Abschnitt richtet sich vor allem an Richter, Anwälte, Betroffene und auch an Ärzte, die sich nicht schwerpunktmäßig mit der Radiologie beschäftigen. Den meisten Radiologen sind dagegen die hier angesprochenen Aspekte gut bekannt. Die meisten Erkrankungen des Bewegungssystems sind heute relativ leicht klinisch oder bildlich zu diagnostizieren. Im Bezug auf das Schleudertrauma gilt dies jedoch nicht und es fällt auf, dass Expertenmeinungen bei diesem Thema weit auseinander gehen. Nun soll mit verständlichen Worten erklärt werden, warum dem so ist und wie sich die Problematik des Schleudertraumas aus untersuchungstechnischer Sicht von den übrigen Körperregionen unterscheidet. Bei einer Knieverletzung stehen z. B. heute die Chancen sehr gut, dass dessen Natur und Grad richtig erkannt werden. Da das Gelenk groß genug und gut zugänglich ist, lässt sich bereits bei der klinischen Untersuchung z. B. ein Erguss feststellen und punktieren. Ist dieser blutig, wird klar, dass eine Verletzung vorliegt. Sind Bänder verletzt, lässt sich dies ebenfalls klinisch relativ leicht feststellen. Das genaue Ausmaß der Verletzung und auch feinere Veränderungen, wie z. B. Risse der Menisci können später im MRI erkannt werden. Bestehen auch dann noch Zweifel, lässt sich eine Arthroskopie durchführen, die auch therapeutische Möglichkeiten bietet. Dadurch werden die Bildgebenden Verfahren kontrolliert und es entstehen Lerneffekte. Wird die Halswirbelsäule auf dieselbe Art und Weise verletzt, sind die Chancen des Patienten jedoch viel schlechter. Es handelt sich um eine lebenswichtige, somit sehr empfindliche und von vielen Rezeptoren versorgte Region, die zudem von einem dicken Mantel aus Muskeln umgeben ist. Schon die klinische Untersuchung ist folglich weit weniger präzise als
beim Kniegelenk, vor allem deshalb, weil die verkrampften und unter Umständen verletzten Muskeln dies nicht erlauben. Im Unterschied zu den fünf großen Gelenkflächen im Kniegelenk besitzt die HWS wenigstens 42 kleine Gelenkflächen. Bei der klinischen Untersuchung lässt sich also z. B. nicht ohne weiteres feststellen, welche von ihnen richtig beweglich sind, oder ob ein Gelenkerguss oder sogar Einblutung vorliegt. Trotz dieser Unsicherheit wird aber meistens auf weiterführende Untersuchungen verzichtet – abgesehen von einer Röntgenaufnahme, die jedoch nicht einmal in der Lage ist, alle Frakturtypen auszuschließen. Eine Arthroskopie lässt sich zudem nicht durchführen. I. d. R. werden erst Monate oder Jahre später jene Betroffenen im MRI untersucht, die ein chronisches Whiplashsyndrom (WAD) entwickeln. Die Chancen, in diesem Stadium noch krankhafte Veränderungen nachzuweisen, stehen dementsprechend schlecht, v. a. dann, wenn eine nicht adäquate Untersuchungstechnik verwendet wird, was heute noch meistens der Fall ist. Dennoch ist dies für viele Experten ein Grund zu behaupten, dass diese Beschwerden „psychischer“ Natur sind. Für Ärzte, die sich nicht schwerpunktmäßig mit der Radiologie beschäftigen und mehr noch für Anwälte und Richter, besteht in den meisten Fällen kein Grund, sich mit technischen Details der MRI zu beschäftigen, denn man geht richtig davon aus, dass es sich um robuste und zuverlässige Techniken handelt, die von entsprechenden Fachleuten korrekt gehandhabt werden. Doch wenn diese Techniken bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit oder darüber hinaus ausgereizt werden, entspricht diese Annahme nicht mehr der Wahrheit, denn man gerät messtechnisch in eine Grauzone. Da dies insbesondere bei der Problematik des Schleudertraumas oft der Fall ist, sollen hier jene unter dem Gesichtspunkt der Bildqualität wichtigen Aspekte
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der MR-Tomographie angesprochen werden. (Technisch nicht interessierte Leser können den kursiv gedruckten Absatz überspringen.) Bei der MRI werden körpereigene Wasserstoffatome im Magnetfeld platziert und durch gepulste Radiowellen bestimmter Frequenz angeregt. Die Wasserstoffatome geraten in Resonanz und senden schwache, gepulste Radiowellen zurück, die mit Antenne empfangen werden. Je näher am Objekt die Antenne platziert werden kann, desto stärker ist das empfangene Signal. Aufgrund der Intensität dieser Signale lässt sich die relative Konzentration der Wasserstoffatome bestimmen. Um ein Bild daraus zu erstellen, muss noch der Entstehungsort der Signale bekannt sein. Dies geschieht mit Hilfe der Gradientenfelder. Es handelt sich um schwache Magnetfelder, die unabhängig voneinander in drei verschiedenen räumlichen Ebenen schnell geschaltet werden können und dem starken unveränderlichen Hauptmagnetfeld überlagert werden. Auf diese Art und Weise ändert sich ortsabhängig die Magnetfeldintensität im untersuchten Volumen und es ist aufgrund der proportional dazu sich ändernden Resonanzfrequenz möglich, Atome nur an einem ganz bestimmten Ort anzuregen. Werden auf dieselbe Art und Weise viele Orte in dem untersuchten Volumen ausgelesen, lässt sich daraus nach Fouriertransformation ein Bild errechnen. Aus praktischen Gründen erfolgt das Auslesen des untersuchten Volumens meistens in parallelen Schichten. Diese bestehen aus vielen kleinen Volumina, die Voxel genannt werden und zusammen eine Schicht ergeben. Wenn die Schichtdicke gegeben ist, spricht man oft statt von Voxeln von „Pixeln“. Hiermit wird die Voxelgröße in der Bildebene gemeint. Die Größe der Pixel ist indirekt proportional zu der Bildauflösung. Unterhalb der Voxelgröße lässt sich keine räumliche Information auslesen. Die Voxel- oder Pixelgröße bestimmt folglich die Auflösung. Im Interesse der scharfen Bilder wäre also theoretisch wünschenswert, sehr viele kleine Voxel zu akquirieren. Dies hat jedoch physikalische Grenzen, denn das Signal sinkt und das Rauschen steigt proportional der dritten Potenz mit abnehmender Voxelgröße. Gleichzeitig verlängert sich die Messzeit proportional der zweiten Potenz der Matrix. Jede Bildakquisition ist also ein Kompromiss. Eine lange Messzeit bedeutet bei lebenden Objekten außerdem immer auch die Gefahr der Bewegungsunschärfe. Hochaufgelöste Bilder mit gleichzeitig gutem Signal, exzellentem Signal-zu-
Besonderheiten der Untersuchungstechnik
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Rauschverhältnis und kurzer Messzeit lassen sich also nicht erstellen. Bei den heute üblichen Feldstärken sind die genannten Aspekte nicht kritisch, solange man Voxelgrößen knapp unter 1 ´ 1 ´ 3 mm wählt, denn so lassen sich schon nach wenigen Minuten Messzeit rauscharme Bilder erzeugen. Diese Voxelgröße ist z. B. bei einem Kniegelenk vollkommen ausreichend, denn das gesamte Gelenk ist ca. 10 cm breit und der Knorpelbelag mehrere Millimeter dick. Selbst feine Strukturen wie Menisci, die im Querschnitt ca. 5 ´ 3 mm groß sind, lassen sich in dieser Technik noch gut darstellen. Da die das Kniegelenk umgebenden Weichteile zudem sehr dünn sind, lässt sich die Empfangsspule sehr nah am Objekt platzieren. Hiermit wird ein sehr gutes Signal zum Rauschverhältnis sichergestellt. Im Falle der HWS ist die Situation für die Bildgebung viel ungünstiger als beim Kniegelenk. Die einzelnen Gelenkflächen sind um eine Größenordnung kleiner und auch die Bänder sind entsprechend schmaler. Die Empfangsspule kann aufgrund der Anatomie nicht nah genug am Objekt platziert werden. Die Verwacklungsgefahr ist ebenfalls deutlich größer, da hier große Gefäße und Luftwege verlaufen und auch Atembewegungen stören. Bezüglich der Auflösung und des Signals lässt sich also im Vergleich zum Kniegelenk quasi ca. nur eine halb so gute Bildqualität erreichen, diese muss aber genügen, um etwa zehnmal kleinere Objekte darzustellen. Reicht aber diese Bildqualität aus, um die wesentlich kleineren Bänder und Gelenke mit derselben Sicherheit wie im Falle des Kniegelenkes zu beurteilen? Die Antwort lautet, eindeutig nicht! Denn ein z. B. 0,8 mm großer Pixel ist z. B. größer als die Knorpelschicht der zervikalen Zwischenwirbelgelenke dick ist. Es ist folglich klar, dass mit dieser Auflösung so gut wie keine Knorpelschäden erkannt werden können. Im Falle der Bänder ist die Situation ähnlich. Auch in den Zwischenwirbelgelenken existieren meniskusähnliche Strukturen (sogenannte Meniskoide), die jedoch so winzig sind, dass sie erst in letzter Zeit in High-End-Geräten bei Leichen dargestellt werden konnten. Es gibt viele Gründe für eine Vermutung, dass Meniskoide bei der HWS eine genauso wichtige Rolle spielen wie Menisci im Kniegelenk. Doch alle diese Einschränkungen werden üblicherweise ignoriert und es wird von vielen selbsternannten Experten behauptet, dass organische Verän-
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J. Naxera
derungen nach Schleudertrauma ausgeschlossen werden können. Noch eine andere Problematik ist zu berücksichtigen, nämlich jene der Bildkontraste. Die Anregung der Atome und die Akquisition der Signale kann bei MRI mit verschiedenen Techniken erfolgen, die Pulssequenzen genannt werden. Diese können Bilder mit verschiedenen Kontrasten liefern. Werden mehrere Messungen von der gleichen Region mit verschiedenen Kontrasten angefertigt, lässt sich daraus das Gewebe charakterisieren, wenn auch nicht quantitativ. Heute sind mehrere Hunderte von Pulssequenzen bekannt (viele von ihnen sind allerdings einander sehr ähnlich). Je nachdem, wie im Bild die sog. Relaxation der Atome zum Ausdruck kommt, werden die Pulssequenzen als T1-, T2- oder Protonen-gewichtet bezeichnet (geschrieben wird meistens „T1w, T2w“ oder „PDw“). Weitere wichtige Varianten der Pulssequenzen sind sogenannte fettunterdrückte oder wasserselektive Sequenzen, die sich mit der genannten T1- oder T2-Gewichtung kombinieren lassen. Der Untersucher kann also durch die Wahl der Pulssequenzen die erhaltenen Bildkontraste beeinflussen und somit bestimmen, ob gewisse pathologische Veränderungen erkannt werden können, denn für jede pathologische Veränderung ist eine andere Pulssequenz optimal. Für das Verständnis der Einschränkungen der MRI bei der Abbildung kleiner Objekte ist ferner der Begriff der so genannten Teilvolumeneffekte unerlässlich. Es handelt sich um eine Verfälschung der Signalintensität, die in allen Schnittbildverfahren auftritt, wenn das untersuchte Objekt schmäler ist als die gemessene Schichtdicke. Mit anderen Worten: Nur jene Objekte lassen sich exakt darstellen, die dicker als die verwendete Schicht und innerhalb der Schicht homogen sind. Für inhomogene Objekte, oder Objekte, die vergleichbar dick oder dünner sind als die verwendete Schicht, ergeben sich falsche Signalintensitäten. Diese Objekte werden dann im Bild verfälscht, oder je nach Signalintensität gar nicht dargestellt. Die einzige Möglichkeit, Teilvolumeneffekte zu eliminieren, besteht darin, entweder dünnere Schichten zu verwenden (was aber aufgrund der damit einhergehenden Signalabschwächung oft technisch nicht möglich ist), oder in mehreren Ebenen zu untersuchen. Für lineare oder tubuläre Objekte hat es sich als besonders vorteilhaft erwiesen, die Schichtebene senkrecht zu ihrem Verlauf zu wählen, denn so treten Teilvolumeneffekte praktisch nicht auf.
Im Weiteren soll ausschließlich über die Untersuchungstechnik der kraniozervikalen Region diskutiert werden, denn, obwohl die übrigen Wirbelsäulenabschnitte auch wichtig sind und ebenfalls oft verletzt werden, sind die in diesem Bereich auftretenden technischen Probleme bei weitem nicht so ausgeprägt. Vor allem aber entsteht nach einer Verletzung dieser Segmente nicht das invalidisierende zervikozephale Syndrom. Seit Jahrzehnten wird angenommen, dass Weichteilverletzungen im Bereich des kraniozervikalen Übergangs für die Persistenz von chronischen Beschwerden nach einem HWS-Distorsionstrauma (WAD) verantwortlich sind. Verschiedene Methoden wurden in der Vergangenheit mit dem Ziel entwickelt, diese bildlich darzustellen und die Symptome auf naturwissenschaftlicher Basis zu erklären. Die entsprechenden Arbeiten aus den letzten mehr als 20 Jahren geben auch die technische Entwicklung der bildgebenden Diagnostik wieder. Man muss heute zugeben, dass die Technik der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts aufgrund der oben geschilderten Hindernisse nicht in der Lage war, die im Spätstadium des Whiplashsyndroms noch eventuell verbliebenen feinen anatomischen Veränderungen bildlich darzustellen. Dies wurde in einer Arbeit aus dem Jahre 2001 [13], die unten noch näher angesprochen wird, besonders deutlich. Die Neuzeit der kraniozervikalen bildmorphologischen (nichtfunktionellen) Bildgebung hat 2001 mit der Studie von Krakenes et al. [9] begonnen. Die Autoren untersuchten 30 gesunde Probanden. Die Aufnahmen erfolgten in 3 Ebenen in einem Hochfeldgerät und es wurden verschiedene Pulssequenzen getestet, um die Geeignetsten bezüglich der Kontraste herauszufinden. Alle Bänder waren gut darstellbar und es hat sich herausgestellt, dass die protonengewichtete Sequenz die meisten Details über deren Struktur und Anatomie liefert. Die Voxelgröße betrug 0,5 ´ 0,5 ´ 2 mm und darunter, die Signale wurden mit einer Kopfspule (bestes Signal-zu-RauschVerhältnis) akquiriert. Jeder kann sich mit einem Blick in die genannte Arbeit davon überzeugen, dass Bilder in dieser Technik nicht unbedingt schlechter sind als jene aus einem Anatomiebuch. Fast alle nachfolgenden Autoren haben sich mehr oder weniger an dieser Technik orientiert und konnten die exzellente Darstellbarkeit der anatomischen Strukturen bestätigen [6, 15]. Es wurden größere Gruppen symptomatischer Pa-
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tienten untersucht [15]. Die erstgenannten Autoren benutzten später diese Sequenzen ebenfalls, um symptomatische Patienten zu untersuchen [7, 8]. In allen diesen nachfolgenden Arbeiten wurden die Darstellbarkeit der kraniozervikalen Bänder und Membranen und auch deren Läsionen bestätigt. Zunehmend wurden auch funktionelle Aspekte unter die Lupe genommen. Diese werden unten noch näher angesprochen. In die o. g. Reihe scheint nur die Studie Roy et al. [14] aus dem Jahre 2004 nicht zu passen: Die Autoren untersuchten 15 gesunde Probanden in einem 0,5 T Scanner. Es wurden immerhin auch protonengewichtete Sequenzen eingesetzt und Aufnahmen in 3 Ebenen mit einer „Oberflächenspule“ akquiriert. Die Voxelgröße betrug 1 ´ 1 ´ 3 mm. Fünf der Probanden wurden zusätzlich (zum Vergleich) in einem Hochfeldgerät untersucht. Hier waren die Voxelgrößen kleiner, die übrige Technik war gleich. Die Qualität der publizierten Aufnahmen entspricht dem bescheidenen technischen Equipment und dem Stand der 90er Jahre. Trotz der kleinen Zahl der untersuchten Probanden führten die Autoren an ihren durch zwei Untersucher gewonnenen Daten zahlreiche statistische Auswertungen durch und kamen zu dem Schluss, dass Signalveränderungen oder „Läsionen“ auch bei Gesunden vorkommen, dass Ligamenta alaria nicht immer darstellbar sind und dass folglich MRI nicht die Methode der Wahl ist, um subtile Verletzungen derselben darzustellen. Die Beschreibung und die Diskussion hinterlassen allerdings den Eindruck, dass beide Untersucher nicht über ausreichende Erfahrung verfügten, nicht alle anatomischen Varianten der Bänder kannten und vor allem die wahre Bedeutung der sagittalen Bilder noch nicht entdeckt haben. Dies verwundert bei der o. g. Untersuchungstechnik gewiss nicht, denn mit 3 mm dicken Schichten ist ein Lig. alare sagittal höchstens in einer einzelnen Schicht zu erfassen, und zwar meistens nur dann, wenn keine Varianten vorliegen. Alles in allem, stellt diese Studie also keine ernst zu nehmende Konkurrenz zu den übrigen o. g. Arbeiten dar, wie schon der erste Anblick und Vergleich der Bilder zeigen. Man fragt sich eher, warum sich die Autoren die Mühe machten, eine Arbeit mit derart unterlegener Qualität der Quelldaten 3 Jahre nach Krakenes [9] zu publizieren. Bei der funktionellen Darstellung war die Entwicklung weniger geradlinig, als bei der Morphologischen. Die ursprüngliche Technik der Winkelmessungen in Rotation nach Dvorak aus dem Jahre 1987 [1] wird heute kaum noch
Besonderheiten der Untersuchungstechnik
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eingesetzt, denn sie basierte auf einer Idee, die praktisch schlecht umzusetzen war und Schmerzreflexe der Patienten nicht beachtete. Kim et al. [6] konnten 2003 mit einer modifizierten Technik nach Krakenes die Morphologie des Ligamentum alare und seine Umwickelung um Dens axis während der Kopfrotation bildlich darstellen. Volle und Montazem publizierten 2001 ihre „MRI video diagnosis“ [18]. Die Arbeit fand allerdings keine größere Beachtung. 2006 wurde von Mikkonen et al. bei ESSR ein Poster veröffentlicht [10], bei dem die heutigen Möglichkeiten der funktionellen MRI in einem Tunnel-Hochfeldgerät gezeigt werden. Es wurden 30 verletzte Patienten untersucht. Als Kontrollgruppe untersuchte man gesunde Freiwillige, die in Zahl, Alter und Geschlecht den Kranken entsprachen. Koronare und schräg koronare Doppelechosequenzen (T2- und protonengewichtet) wurden in Neutralposition und in Seitenneigung akquiriert. Die verwendete modernste „Phase array“ Spule (Flex-L coil) gewährleistete im Unterschied zu einer Kopfspule zusätzlich zu einem guten Signal auch eine freie Beweglichkeit. Bei den meisten Verletzten konnte eine erhöhte Beweglichkeit zwischen C0 und Dens axis festgestellt werden und die meisten dieser Patienten hatten auch Signalveränderungen der Ligamenta alaria. Zurzeit werden auch andere funktionelle Techniken evaluiert (Beyer, Naxera, noch nicht publiziert), die aufgrund der Einbeziehung von mehreren Kriterien noch bessere Ergebnisse versprechen als die Obengenannten und welche die morphologische Diagnostik gut unterstützen. Eine kombinierte Untersuchungstechnik (Beyer), die sowohl morphologische als auch funktionelle Aspekte zu erfassen vermag, könnte wie folgt aussehen: ] Coronar: T1w parakoronar re. und li. in Neutralstellung, T2w Fettsupprimiert koronar in Neutralstellung, T1w li. und re. geneigt ] Sagittal: PDw in Neutralstellung, PDw in Hyperextensionsstellung, PDw in Flexionsstellung ] Axial: T2w in Neutralstellung, T2w in endständiger Links- und Rechtsrotation ] Bei allen o. g. Sequenzen: Voxelgröße 0,6 ´ 0,6 ´ 2 mm Selbst wenn heute ein Patient unter Verwendung der aktuellsten Technik untersucht und von einem spezialisierten Radiologen eine richtige Diagnose eines Schadens gestellt wird, wird später
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J. Naxera
mit großer Wahrscheinlichkeit ein Gegengutachten erstellt, in dem dieses Ergebnis wörtlich „in der Luft zerrissen“ wird. Regelmäßig bedienen sich diese Gutachten der Arbeit von Pfirrmann, C. W. et al. aus dem Jahre 2001: „MR morphology of alar ligaments and occipitoatlantoaxial joints: study in 50 asymptomatic subjects“ [13]. Erst aufgrund dieser Gutachten erlangte diese Arbeit ihre heutige Bedeutung und muss hier aus diesem Grunde näher angesprochen werden: Zwischen November 1998 und Juli 1999 untersuchten die Autoren 50 asymptomatische Probanden mittels T1- und T2 gewichteten Aufnahmen in koronarer und axialer Schichtführung. Die Voxelgröße betrug zwischen 0,5 ´ 0,7 ´ 4,0 mm und 0,7 ´ 0,9 ´ 3,0 mm. Die Signale wurden mit einer zervikalen Spule (Antenne) akquiriert. Bei ca. 20% der Probanden fand man Signalveränderungen der Kopfgelenkbänder und kam zu dem Schluss, dass „diese Veränderungen offensichtlich (auch) in der nicht verletzten Population gefunden werden, sodass die klinische Relevanz derartiger Strukturveränderungen eingeschränkt ist . . .“ Außerdem konnten die Bänder bei ca. 20% der Untersuchten nicht identifiziert werden. Gegen diese Feststellungen ist nichts einzuwenden, solange sie nicht aus dem Kontext der zugehörigen, dem Stand der 90er Jahre entsprechenden Untersuchungstechnik gerissen werden. Denn die Autoren wählten ihre Untersuchungstechnik (die heute selbst für eine Darstellung des Kniegelenkes kaum ausreichen würde) anscheinend primär mit dem Ziel, frühere Arbeiten aus den 90er Jahren unter Verwendung der gleichen oder ähnlichen Untersuchungstechnik zu validieren (asymptomatische Individuen wurden bis zu diesem Zeitpunkt nie untersucht), nicht aber, um eine neue, bessere Untersuchungstechnik zu entwickeln. Aufgrund der technischen Fortschritte in diesem Jahrzehnt und der zunehmenden Kenntnisse ist heute klar, dass der Grund für die vermeintlichen Signalveränderungen der Bänder in der Normalpopulation und auch für die fehlende Darstellung der Bänder vor allem die oben angesprochenen Teilvolumeneffekte waren, denn man hat für die Darstellung der 2–3 mm dünnen Bänder zu dicke Schichten, eine ungünstige schräg parallele Schichtführung, einen ungeeigneten T1- und T2-Kontrast und eine nicht optimale Spule mit schlechtem Signal-zuRausch-Verhältnis gewählt. Jene protonengewichteten sagittalen Sequenzen mit 2 mm
Schichtdicke, hoher Auflösung und aufgrund der Verwendung der sog. Kopfspule auch exzellentem Signal-zu-Rausch-Verhältnis, welche heute die Basis jeder morphologischen Diagnostik bilden und in Bezug auf Flügelbänder einzig frei von Teilvolumeneffekten sind [9], wurden in der genannten Studie [13] nicht akquiriert. Die Autoren haben es selbstverständlich nicht zu verantworten, wenn diese eklatanten technischen Unterschiede heute von den Gutachtern verschwiegen oder nicht verstanden werden und wenn die damalige Untersuchungstechnik willkürlich mit der heutigen gleichgesetzt wird. (Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass dieselbe Beurteilung auch für jene Studien aus den 90er Jahren gilt, die gleiche oder ähnliche Technik verwendeten und symptomatische Patienten untersuchten.) Nebenbei sollten die o. g. Gutachter daran erinnert werden, dass praktisch zeitgleich mit der o. g. Pfirrmann-Studie eine andere erschienen ist [9], in der zwar „nur“ 30 gesunde Probanden untersucht wurden, dafür aber mit einer Technik, die schon den Maßstäben von heute entsprach (3 Ebenen, Auflösung, Kontrast, Kopfspule, Signal-zu-Rausch-Verhältnis). Hier ging es jedoch erwartungsgemäß nicht darum, die Bänder bloß zu identifizieren (dies war in jedem der Fälle möglich), sondern um die Beurteilung anatomischer Details. Jeder (selbst ein Laie) kann sich schließlich schnell ein Bild machen, indem er die Qualität der in beiden Studien veröffentlichten Bilder vergleicht. Auf diese Weise würden sich etliche Diskussionen erübrigen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Kernspintomographie im Bereich der HWS und vor allem im Bezug auf das chronische Schleudertrauma wertvolle Informationen liefern kann, die sich mit anderen Verfahren nicht gewinnen lassen, die aber prinzipbedingt nicht so überzeugend und etabliert sind, wie es bei der MRI in anderen Körperregionen und bei anderen Fragestellungen üblich ist. Dies muss bei jeder Begutachtung berücksichtigt werden. In den letzten Jahren wurden bei der Bildgebung große Fortschritte erzielt, die es – eine adäquate Technik und einen spezialisierten Radiologen vorausgesetzt – möglich machen, Schäden auch im Spätstadium festzustellen. Heute spricht man nicht mehr (wie während der Entstehung der o. g. Pfirrmann-Studie) davon, ob Kopfgelenkbänder darstellbar sind (denn das sind sie einschließlich einzelner Faserbündel immer), sondern eher
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über deren Feinstruktur, anatomische Varianten und funktionelle Überprüfung. Heute kann aufgrund der Fülle der neueren Arbeiten kaum noch ernsthaft bestritten werden, dass Kopfgelenkbänder bei einem zervikalen Trauma verwundbar sind und dass diese Schäden auch Jahre später nachgewiesen werden können. Die Untersuchungstechnik und auch die Beurteilung sind allerdings sehr kritisch und liegen auch heute noch sozusagen an der Grenze des Machbaren. Deshalb muss von jedem Gutachter eine genaue Kenntnis der technischen Aspekte und auch reichlich Erfahrung bei der Beurteilung verlangt werden. Es ist zur Routine geworden, dass radiologische Befunde und Gutachten, die im Sinne der Betroffenen lauten, noch einmal (gegen)begutachtet werden, meistens sogar von Ärzten, die keine Radiologen sind oder mit der Untersuchungstechnik und ihren Fallstricken keine eigene Erfahrung haben. Aus diesem Grunde handelt es sich um reine Gefälligkeitsgutachten, die wertlos sind. Daran können auch die in diesem Rahmen üblicherweise zitierten, veralteten Studien nichts ändern.
Literatur 1. Dvorak J, Panjabi M et al (1987) CT-functional diagnostics of the rotatory instability of upper zervikal spine. 1. An experimental study on cadavers. Spine 12(3):197–205 2. Dvorak J, Panjabi MM (1987) Functional anatomy of the alar ligaments. Spine 12(2):183–189 3. Kaale BR, Krakenes J et al (2005) Head position and impact direction in whiplash injuries: associations with MRI-verified lesions of ligaments and membranes in the upper cervical spine. J Neurotrauma 22(11):1294–1302 4. Kaale BR, Krakenes J et al (2005) Whiplash-associated disorders impairment rating: neck disability index score according to severity of MRI findings of ligaments and membranes in the upper cervical spine. J Neurotrauma 22(4):466–475
Besonderheiten der Untersuchungstechnik
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5. Kaale BR, Krakenes J et al (2007) Active range of motion as an indicator for ligament and membrane lesions in the upper cervical spine after a whiplash trauma. J Neurotrauma 24(4):713–721 6. Kim HJ, Jun BY et al (2002) MR imaging of the alar ligament: morphologic changes during axial rotation of the head in asymptomatic young adults. Skeletal Radiol 31(11):637–642 7. Krakenes J, Kaale BR (2006) Magnetic resonance imaging assessment of craniovertebral ligaments and membranes after whiplash trauma. Spine 31(24):2820–2826 8. Krakenes J, Kaale BR et al (2003) MR analysis of the transverse ligament in the late stage of whiplash injury. Acta Radiol 44(6):637–644 9. Krakenes J, Kaale BR et al (2001) MRI assessment of normal ligamentous structures in the craniovertebral junction. Neuroradiology 43(12):1089– 1097 10. Mikkonen R, Paatelma M et al (2006) Functional kine mri in whiplash patients. (E-Poster ESSR 2006) 11. Muhle C, Brossmann J et al (2002) Stellenwert bildgebender Verfahren in der Diagnostik der Ligg. alaria nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule. Röfo 174(4):416–422 12. Pfirrmann CW, Binkert CA et al (2000) Functional MR imaging of the craniocervical junction. Correlation with alar ligaments and occipito-atlantoaxial joint morphology: a study in 50 asymptomatic subjects. Schweiz Med Wochenschr 130(18):645–651 13. Pfirrmann CW, Binkert CA et al (2001) MR morphology of alar ligaments and occipitoatlantoaxial joints: study in 50 asymptomatic subjects. Radiology 218(1):133–137 14. Roy S, Hol PK et al (2004) Pitfalls of magnetic resonance imaging of alar ligament. Neuroradiology 46(5):392–398 15. Schröter T, Paris S (2002) MRT der Ligg. alaria symptomatischer Patienten nach HWS-Distorsionstrauma. Trauma Berufskrankh 4(3):224–229 16. Volle E (2000) Functional magnetic resonance imaging – video diagnosis of soft-tissue trauma to the craniocervical joints and ligaments. Int Tinnitus J 6(2):134–139 17. Volle E, Montazem A (1997) Strukturdefekte der Ligamenta alaria in der offenen Funktionskernspintomographie. Manuelle Medizin 35:188–193 18. Volle E, Montazem A (2001) MRI video diagnosis and surgical therapy of soft tissue trauma to the craniocervical junction. Ear Nose Throat J 80(1): 41–44, 46–48
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20 Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie * B. H. Johansson {
Eine HWS-Distorsion kann viele verschiedene Verletzungen zur Folge haben, die schwer zu objektivieren sind, z. B. kleine Wirbelbrüche, Läsionen von Bandscheiben, Ligamenta und Facettengelenkskapseln, Blutungen, Läsionen des zentralen und peripheren Nervensystems. Röntgenaufnahmen zeigen keine geringfügigen Brüche [10], daher werden Berichte über pathoanatomische Verletzungen unterbewertet [20]. Das Problem wird zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass potentiell ernsthafte Verletzungen anfänglich geringe Symptome zeigen können, während geringfügige Verletzungen später zu sehr ernsthaften Symptomen mit enormem Leidensdruck führen können [14, 18]. Daher ist es entscheidend, Verletzungen sichtbar zu machen. Durch Röntgenuntersuchungen werden für gewöhnlich Veränderungen in den Bandscheiben, gedrückte Nervenwurzeln, Arthritis, degenerierende Veränderungen, eine fortgeschrittene Lordose und gelegentlich Instabilitäten festgestellt. Ende der achtziger Jahre konzentrierten sich Dvorak und Kollegen [6] auf Verletzungen der oberen Segmente der Wirbelsäule (Schädelbasis, Atlas, Axis, und oberes Gelenksegment von C3), das heißt, die Region des sogenannten KranioZervicalen Übergangs = KZÜ (im Englischen: craniocervical joint complex = CCJ). Sie zeigten, dass die Flügelbänder den Komplex stabilisierten und dass Verletzungen an diesen Bändern zu einer erheblichen Hypermobilität der Segmente führten. 1992 beschrieben Radanov und Kollegen [16] zwei verschiedene Gruppen von Syndromen nach Distorsionen der Halswirbelsäule. Eines der Syndrome wurde „Zerviko-enzephales Syndrom“ genannt und wurde durch Kopfschmerzen, Gleichgewichtsprobleme, gestörte Anpassung, schlechte Konzentration, Lichtempfindlichkeit und ausgeprägte Müdigkeit charakteri-
* Für die Übersetzung des Beitrags danken wir Frau Helga Roth
siert. Das andere Syndrom wurde „Zerviko-zephales Syndrom“ genannt und wurde durch zervikalen und zerviko-brachialen Schmerz charakterisiert. Natürlich war auch eine Kombination der beiden Syndrome möglich. 1993 beschrieben Taylor et al. [19] und Schonstrom et al. [17] Verletzungen der oberen Halswirbelsäule an Kadavern, die sie mit an der oberen HWS erlittenen Traumata in Verbindung brachten und stellten eine Hypothese auf, dass diese für das zerviko-enzephale Syndrom verantwortlich waren. Die Unterteilung der auf eine Beschleunigungsverletzung der HWS zurückzuführenden Beschwerden in obere und untere Syndrome ist in der klinischen Praxis im allgemeinen nicht anerkannt worden. Als Folge davon fragen Kliniker nicht nach Veränderungen im Kopfgelenksbereich, wenn sie Patienten zu einer Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule überweisen. Demzufolge beachten Radiologen die obere Region der Wirbelsäule nicht besonders und daher wurden keine entsprechenden Untersuchungsmethoden für dieses Gebiet entwickelt. 1996 beschrieben Volle et al. [22] eine Methode, wie man die Flügelbänder durch Bilder im Kernspintomographen reproduzieren kann und nannten sie funktionelle Kernspintomographie (im Englischen: fMRI). Im Jahr darauf veröffentlichten sie einen Artikel, der eine starke Korrelation zwischen Verletzungen des KZÜs und Symptomen wie Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Tinnitus und Gleichgewichtsstörungen zeigen konnte. Eine funktionelle Kernspintomographie wird ausgeführt, indem man die Nackenwirbelsäule durch manuelle/und Kopfgelenksgrifftechniken in Endstellungen positioniert, so dass pathologische Bewegungsmuster und Verletzungen an den Bändern und Gelenkskapseln entdeckt werden können. Diese Verletzungen können nur dann objektiviert werden, wenn systematisch verschiedene Positionen eingenommen werden. Diese Methode wurde entwickelt und in einem
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Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie
deutschen Lehrbuch für Neurochirurgen [21], einem aktuellen Standardwerk der Neurochirurgie, veröffentlicht. Da viele Symptome der Kopfgelenksverletzung eine Verbindung zur Neurootologie haben, hat kürzlich ein Lehrbuch auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit auf die funktionelle Kernspintomographie gelenkt [3]. 2006 veröffentlichten Mikkonen et al. [15] eine Studie an Schleudertrauma-Patienten, verglichen diese mit einer gesunden Kontrollgruppe und kamen zu der Schlussfolgerung, dass die funktionelle Magnetresonanztomographie eine verlässliche Methode zur Diagnose von Verletzungen der Flügelbänder Ligg. Alaria sei. Weiter wurde festgestellt, dass die Verletzung des kranio-zervikalen Übergangs mit Bewegungsabnormalitäten zwischen C1 und C2 einher ging. In dem vorliegenden Artikel werden 3 Patienten beschrieben, die eine HWS-Distorsion erlitten und daraufhin chronische Symptome entwickelten. In Schweden durchgeführte, eingehende Untersuchungen mit Standardtechnik fanden keinerlei strukturelle Verletzungen. Die Patienten wurden daraufhin in Deutschland mittels funktioneller Kernspintomoghraphie untersucht. Daraufhin wurde eine chirurgische Fixierung bei C0/C3 (entsprechend der Magerl Methode mit Schraubenfixierung bei C1/C2 und Plattenverschraubung von C0–C3) durchgeführt. Während der Operation wurden schwere Verletzungen an den Gelenkkapseln festgestellt, die vorher unentdeckt geblieben waren.
Fallbeispiele Fall 1 (UE) Eine 27-jährige Frau wurde während des Fahrens von einem anderen Auto auf der rechten Seite angefahren. Sie verlor nicht das Bewusstsein, aber entwickelte Nackenschmerzen und Gefühllosigkeit bzw. Kraftverlust an ihrem rechten Arm. Die Computertomographie zeigte keine knöcherne Verletzung, keine Luxation und keinen Bandscheibenvorfall. Bald nach dem Unfall entwickelte sie Kopfschmerzen und eine Überempfindlichkeit hinsichtlich Lärm und Licht, die sich mit der Zeit verschlimmerte. Sie hatte Probleme beim Lesen, vor allem konnte sie den Textzeilen kaum mehr folgen. Sie entwickelte außerdem einen an Intensität zuneh-
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menden Tinnitus und eine gelegentlich auftretende Unempfindlichkeit der Zunge. Sie hatte zuweilen Ohnmachtsanfälle. Durch Physiotherapie nahmen die Symptome zu. Ein paar Jahre nach dem Unfall begannen beide Arme zu zittern und sie hatte Probleme, ihr linkes Bein zu bewegen, das zudem gefühllos war. Sie wurde an einer neurologischen Abteilung einer Universität sorgfältig untersucht. Kernspintomographische Aufnahmen zeigten manche Veränderungen an den Bandscheiben, aber keinerlei Auffälligkeiten, die neurologische Störungen verursachen könnten. Schließlich glaubte man, dass sie an funktionellen Störungen, das heißt an einem psychogenen Beschwerdebild litt. 2004 wurde die Patientin mittels funktioneller Kernspintomographie untersucht und eine ausgeprägte funktionell auftretende zervikale Myelopathie (= Rückenmarksschädigung) wurde diagnostiziert. Um den Odontoidfortsatz war ein Kapsel-Bandansatz-Narbengewebe sichtbar, das bei Rotation des Kopfes mit dem oberen Teil des Rückenmarks in Kontakt kam. Außerdem zeigten sich ausgedehnte Verletzungen mit Narbengewebe bei den Gelenkkapseln C1/C2 und ein ausgesprochenes Instabilitätsmuster auf dieser Ebene und bei C0/C1. Beide Flügelbänder wiesen Zeichen von Verletzungen mit Granulations- und schlaffen Kapselanteilen auf. Als Ergebnis dieser Befunde unterzog sich die Patientin einer Stabilisierungsoperation nach der Magerl Methode, eine Fixierung von C0–C3 wurde durchgeführt. Bei der Operation bewegte sich der Atlas auf paradoxe Weise, wenn der Kopf zur Seite geneigt wurde. Die Gelenkkapseln bei C1/C2 waren auf beiden Seiten deutlich sichtbar zerrissen, und die Kapseln waren durch Narbengewebe verdickt. Die Verletzungen waren so ausgeprägt, dass der Chirurg von dorsal in das Gelenk schauen konnte. Während der Operation wurde eine C0/C1 Instabilität während der Extension des Nackens festgestellt. Nach der Operation ließen die Kopfschmerzen nach, das Zittern der Arme hörte auf, ihre Lesefähigkeit normalisierte sich genau so wie ihre Lichtüberempfindlichkeit. Ihre Lärmüberempfindlichkeit besserte sich aber nicht. Ihr Gleichgewicht normalisierte sich und ihr Schwindel verschwand. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Konzentrationsfähigkeit sich verbesserte und sie konnte wieder an Diskussionen teilnehmen. Der Tinnitus blieb, war aber weniger störend. Sie schlief auch besser.
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B. H. Johansson
Fall 2 (GA) 1989 fuhr ein 38-jähriger Mann sein Auto mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h und stieß gegen ein Straßengeländer. Der Kopf des Patienten wurde mit großer Gewalt gegen seinen Brustkorb geschleudert und er fühlte sofort einen Schmerz im Kopf- und Halsbereich. Er konnte wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und Augenproblemen nicht arbeiten. Er war nicht in der Lage, Texte zu lesen und seine Konzentration war stark eingeschränkt. Er hatte auch von Zeit zu Zeit Schwindelanfälle, Gleichgewichtsprobleme, Schmerzen hinter seinem linken Auge, Kauprobleme, Tinnitus, der in der Intensität variierte und Taubheitsgefühle auf der rechten Seite der Zunge. Diese Probleme verschärften sich, wenn er sich nach vorne beugte, und er fühlte sich besser, wenn er eine feste Halskrause trug. Er wurde im zentralen regionalen Krankenhaus und in einer Rehabilitationsklinik genauestens untersucht. Eine Anzahl von Röntgenuntersuchungen konnten seine Symptome nicht erklären. Nach einer Untersuchung erklärte ihn das National Assurance Board für fit, obwohl er nicht imstande war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 2003 sprach ihm das Gericht Krankengeld zu. 2004 konnte eine funktionelle MRT (f-MRT) Untersuchung einen erst funktionell auftretenden Druck auf das Rückenmark, die funktionelle Myelopathie (Rückenmarkskontakt bei Drehung) der oberen Halswirbelsäule beweisen. Dokumentiert werden konnte eine Verschiebung der Strukturen durch Narbengewebe in Bezug auf den Dens. Bei Kopfdrehungen kam das Narbengewebe in Kontakt mit dem Rückenmark. Die mit dem Dens verbundenen Kapseln zeigten schwerwiegende Verletzungen. Gravierende Läsionen traten auch in den Kapseln der seitlichen atlantoaxialen Gelenke auf. Dieser Bereich war geprägt von Narbengewebe und Anzeichen chronischer Instabilität. Die Flügelbänder hatten Anzeichen von Verletzungen und Vernarbungen. Der Patient unterzog sich einer chirurgischen Fixierung der Segmente C0–C3 (Magerl Methode). Während der Operation fiel die Instabilität von C0/C1 auf, als der Kopf in Extension war. Die Kapsel des rechten seitlichen atlantoaxial Gelenkes war komplett zerrissen, wodurch es zu einem weiten Aufklaffen des Gelenkes kam.
Fall 3 (EJ) Eine 32 Jahre alte Fahrerin wurde durch ein anderes Auto von hinten mit hoher Geschwindigkeit angefahren. Im Moment des Zusammenstoßes wurde der Kopf der Patientin maximal nach rechts gedreht. Ihr Auto war schwer beschädigt. Die Patientin hatte sofort Kopfweh und Schmerzen auf der rechten Seite des Nackens, die in den rechten Arm und in die Hand ausstrahlten. Anfänglich konnte sie ihren rechten Arm nicht bewegen. Sie entwickelte heftige Kopfschmerzen, Übelkeit und ausgeprägten Schwindel. Nach 3 Tagen entwickelte sie Augenstörungen, konnte nur noch verschwommen sehen und hatte Schwierigkeiten beim Lesen eines Textes. Sie hatte auch Gleichgewichtsprobleme und Bewegungseinschränkungen in ihrem linken Bein. Nach einigen Monaten begann ihr rechter Arm zu zittern, sie hatte manchmal Krämpfe und verlor ihr Bewusstsein. Sie wurde wiederholt im Universitätskrankenhaus untersucht und die Diagnose lautete psychosomatische Erkrankung. Zwei Jahre nach dem Unfall unterzog sie sich einer Untersuchung mittels funktioneller Kernspintomographie. Es wurde eine funktionelle zervikale Myelopathie mit Verdickungen/kolbigen Vernarbungen diagnostiziert. Bei Rotation des Kopfes drückte der Dens auf das Rückenmark. Schwere Verletzungen der Flügelbänder Ligg. alaria sowie Verletzungen mit narbigen Veränderungen der Facettengelenkkapseln bei C0/C1 wurden festgestellt. Es gab auch Anzeichen einer Instabilität des Segments C1/C2. Während der folgenden Versteifungsoperation bei C0/C3 wurde festgestellt, dass die Bänder, die C0 und C1 verbinden, teilweise zerrissen waren, was zu einem ungewöhnlich großem Aufklaffen zwischen C0/C1 bei Extension führte. Bei der Operation konnte auch eine mit der Verletzung der Ligg. alare zusammenhängende abnormale Beweglichkeit beobachtet werden. Die Kapsel des linken Atlantoaxialgelenks war zerrissen und vernarbt und die rechte Kapsel hing herunter. Unmittelbar nach der Operation verschwanden die Kopfschmerzen, die Sehprobleme besserten sich und sie hatte keine Krämpfe oder zeitweise Bewusstlosigkeit mehr.
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Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie
Diskussion Die Art der Operation, der sich diese Patienten unterzogen, ermöglicht es nur, Gelenkkapseln der lateralen atlantoaxialen Gelenke direkt zu untersuchen und zu visualisieren. Die festgestellten Verletzungen können nur von einem Trauma herrühren und sind daher zweifelsohne pathologische Veränderungen. Die Flügelbänder Ligg. alaria und die Läsionen des Dens-Kapselgelenkes (insgesamt dens-related Komplex) können nicht während der Operation gesehen werden, aber die daraus resultierende abnormale Beweglichkeit, die der Chirurg beschreibt, stimmte überein mit der Verletzung der Flügelbänder Ligg. alaria und ihrer dadurch eingeschränkten stabilisierenden Funktion. Diese drei Fälle zeigen, dass schwere Verletzungen in der oberen Halswirbelsäule vorkommen können, ohne dass sie von Medizinern in Schweden diagnostiziert werden. Es kann durchaus angenommen werden, dass die Situation in Schweden auch für andere Industrieländer zutrifft. Unter diesen Bedingungen können schwer verletzte Patienten leicht für geistig gestört gehalten werden. Ihnen werden Entschädigungsansprüche verweigert und oftmals werden sie diffamiert. Falsche Diagnosen können auch zu inadäquaten oder gar falschen Behandlungen führen, was scheinbar eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Der vorliegende Buchbeitrag zielt nicht ab auf eine Diskussion der Behandlungsmöglichkeiten bei Verletzungen des Kopfgelenkes. Vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf die dringende Notwendigkeit gelenkt werden, die diagnostischen Methoden zu verbessern. Die funktionelle Kernspintomographie ist die diagnostische Methode der Wahl. Es handelt sich hierbei um eine äußerst gründliche Untersuchungsmethode, die an zwei Tagen jeweils etwa 2 Stunden beansprucht. Eine andere Methode, die sich darauf beschränkt, Läsionen der Bänder zu entdecken, wird von Krakenes et al. [11] beschrieben. Diese Methode beschäftigt sich nicht mit funktionalen Störungen und hat daher beträchtliche Einschränkungen, wie bei allen Studien, wo es nur um morphologische Schädigungen allein und nicht um die dadurch verursachten Funktionspathologien geht. Ein funktionelle Kernspintomographie ist nicht für jeden Patienten mit gesundheitlichen Beschwerden als Folge einer HWS-Distorsion an-
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gezeigt. Diese drei Patienten haben gewisse klinische Befunde gemeinsam, welche eine erste Indikation für eine funktionelle kernspintomographische Untersuchung darstellt, nämlich u. a. Kopfschmerzen, Schmerzen hinter den Augen, Schwierigkeiten beim Lesen, Gefühllosigkeit der Zunge und die Entwicklung von neurologischen Befunden in den oberen und unteren Extremitäten. Alle sind bezeichnend für Verletzungen und eine Instabilität des Segments C1/C2 der oberen Halswirbelsäule. Die Bedeutung der Kopfgelenksregion als ein Zentrum für propriozeptorische Impulse aus der Nackenmuskulatur, den Bändern und aus den Gelenkkapsel-Rezeptoren zusammen mit propriozeptorischen Impulsen der Ohren und Augen wurde von Hassenstein [8] postuliert. Entsprechend seiner Hypothese hat diese Region eine entscheidende Bedeutung für die Einschätzung der Position des Körpers und des Kopfes. Die Tatsache, dass die kleinen Nackenmuskeln in der oberen Nackenwirbelsäule eine extrem hohe Dichte an Muskelspindeln aufweisen, kann darauf hinweisen, dass diese hochempfindliche Region eine besonders wichtige Aufgabe hat. Schmerzen von den atlanto-axialen und atlanto-okzipitalen Gelenken kann auf verschiedenste Regionen des Kopfes zurückzuführen sein [1, 5, 7]. Einen Text während des Lesens zu verfolgen verlangt eine Bewegung des Nackens, was wiederum ein strukturell und physiologisch intaktes Kopfgelenk erfordert. Die Gefühllosigkeit der Zunge wird durch eine Ausrenkung des lateralen atlantoaxialen Gelenkes verursacht. Neurologische Störungen der oberen und unteren Extremitäten deuten auf eine Beeinträchtigung im Rückenmark hin. Wenn solche Befunde vorliegen, sollten die Ärzte ganz stark die Möglichkeit einer Verletzung der kraniozervikalen Gelenke in Betracht ziehen. Um in der Lage zu sein, solche Läsionen diagnostizieren zu können, müssen Radiologen verlässliche Methoden entwickeln. Die funktionale Kernspintomographie könnte sehr wertvoll sein, diese Strukturverletzungen bildgebend zu objektivieren. Unsere Arbeitsgruppe, die funktionelle Bewegungen an der HWS und an allen Körpergelenken durchführen, hält von MRT-Untersuchungen mit Hilfsmitteln, wie etwa einem NeuroSwing (mechanisch einstellbare Funktionspositionen) in dieser Lokalisation nichts. Es verbietet sich, bei drohenden Drop attacks, Brechanfällen, Segmentblockaden oder anderen nicht vorherseh-
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B. H. Johansson
baren Symptomen, nicht die Hände eines erfahrenen Kopfgelenkspezialisten am Gelenk zu haben. Nur zur Erinnerung, während einer intraarteriellen superselektiven Angiographie der A. vertebralis wird bei ausgebildeten Neuroradiologen in Schweden nie eine Kontrastmittel-Injektionspumpe zur Anwendung kommen. Diese Methode oder Pumpe kann nicht auf Spasmen und/ oder Gefäßvariationen reagieren.
Weitere Studie Eine weitere Studie zur Überprüfung der Verlässlichkeit und der Aussagekraft der funktionellen Kernspintomographie wurde gemacht. Man wollte herausfinden, welcher Zusammenhang zwischen den Ergebnissen einer Operation in der Kopfgelenkregion und den Befunden der funktionellen Kernspintomographie besteht. Diese Studie betraf neun Patienten, die eine Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule (Verkehrsunfälle oder Stürze) erlitten und chronische Symptome entwickelt hatten. Sieben Studienteilnehmer waren Frauen, zwei Männer. Diese Patienten waren an einen Radiologen, der eine funktionelle Kernspintomographie durchführte, überwiesen worden. Sie litten an Symptomen, die auf Verletzungen am kranio-zervikalen Übergang hinwiesen. Anschließend wurden die Patienten von demselben Arzt an einen Neurochirurgen überwiesen, der die Kopfgelenkregion operativ stabilisierte. Die funktionellen Kernspintomographien und die Operationen wurden durchschnittlich 11 Jahre (3–14) nach dem Unfall durchgeführt. Die funktionelle Kernspintomographie wurde an einem 1.0 Tesla starken Siemens Magnetom mit flexiblen Coils durchgeführt. Es wurden dünne Schichten, meistens in der Dicke von 2–3 mm durchgeführt, welche nach Multiangulierung ausschließlich in Richtung Kapseln und Bandstrukturen anatomisch ausgerichtet waren. Sie konzentrierten sich auf den jeweiligen Bandverlauf. Dabei wurden verschiedene T1- und T2Aufnahmesequenzen und insbesondere zusätzliche protonendichte (PD) gewichtete Sequenzen benutzt. Die funktionelle kernspintomographische Untersuchung wurde bei einer kontinuierlichen, seitlichen Beugung des oberen Teils der Halswirbelsäule nach rechts und links mit dem Kopf in fixierter Position ausgeführt. Dann wurde
der Kopf ständig nach rechts und links rotiert bis eine maximale endgradige Stellung erreicht war. Die chirurgische Technik bestand aus einer von dorsal durchgeführten Plattenverschraubung und transartikulärer Verschraubung von C1/C2, wie sie von Magerl [13] beschrieben worden war. Die Operationsberichte wurden dahingehend hinterfragt, welche interoperativ erhobenen Befunde von Seiten des Neurochirurgen angegeben wurden. Dies umfasste die Frage nach der Instabilität der oberen Halswirbelsäule, Aspekte einer paradoxen Beweglichkeit und Fragen nach sichtbaren Primärverletzungen, wie etwa Narbengewebe an den Gelenkkapseln von C1/C2. Die interoperativ erhobenen Befunde wurden dann mit den kernspintomographisch gewonnenen Erkenntnissen verglichen. Sowohl der Chirurg als auch der Radiologe diagnostizierten Instabilitäten entsprechend der klinischen Erfahrungen. Die Messmethode wurde in ihrem Bericht nicht erwähnt. Alle neun Patienten zeigten eine ausgesprochene Instabilität bei C1/C2 sowohl bei dem chirurgischen Eingriff als auch bei der funktionellen Kernspintomographie. Eine paradoxe Beweglichkeit als ein Zeichen von Verletzung der Flügelbänder Ligg. alaria wurde in neun Fällen durch die Kernspintomographie und in acht Fällen bei dem chirurgischen Eingriff sichtbar.
Ergebnisse Die Patienten waren zu einer funktionellen Kernspintomographie und einer Operation überwiesen worden, da ihre Lebensqualität infolge schwerer Schmerzen und vieler verschiedener Symptome, wie Schwindel, Benommenheit, Gleichgewichtsstörungen, Kribbelparästesien, Funktionsstörungen der Augen und ernster Schlafprobleme nach einem Schleudertrauma sehr schlecht war. Sie waren daher als schwer verletzte Patienten einzustufen, bei denen man strukturelle Verletzungen erwarten konnte. Die Patienten waren von demselben Arzt zur funktionellen Kernspintomographie und zur Operation überwiesen worden. Der Bericht des Chirurgen war unabhängig vom Bericht des Radiologen abgefasst worden. Vorangegangene Untersuchungen wie Röntgen, herkömmliche Kernspin-Aufnahmen und Computertomographien waren bei allen Patienten normal.
20
Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie
]
Tabelle 20.1. Ergebnisse bzgl. Chirurgie, funktioneller Kernspintomographie und vorangegangene Untersuchungen mittels Röntgen, statischem Kernspin und Computertomographie Operation
Funktionelle Kernspintomographie
Früheres Röntgen, konventionelles Kernspin, Computertomographie
] Deutliche Instabilität C0–C1
8
4
0
] Deutliche Instabilität C1–C2
9
9
0
] Paradoxe Mobilität/Verletzung Flügelbänder Ligg. alare
8
9
0
] Verletzung der Gelenkkapseln C1–C2
5
1
0
] Narbenbildung, Verletzung der Gelenkskapseln C1–C2
6
9
0
Bei dem chirurgischen Eingriff war es nur möglich, die Verletzungen im dorsalen Bereich des Kopfgelenkes und der übrigen Wirbelsäule zu sehen. Auch wurden funktionale Störungen konstatiert. Aus diesem Grund konnten manche Verletzungen, die bei der funktionellen Kernspintomographie festgestellt worden waren, beim chirurgischen Eingriff nicht gesehen werden. Folglich enthält die Studie nur Verletzungen, die sowohl beim chirurgischen Eingriff als auch mit der funktionellen Kernspintomographie gesehen wurden. Die Bewertung der Instabilität zwischen C0/C1 und C1/C2 basiert im wesentlichen auf der klinischen Erfahrung der Ärzte. Beide Ärzte haben langjährige Erfahrung in der Bewertung dieser Verletzungsart. Der Neurochirurg hat auch lange Erfahrung in der Beurteilung von HWS-Veränderungen in Fällen der PCP, wo es sich nicht um die Fragestellung der traumatischen Instabilität handelt. Die übereinstimmende Beurteilung der Instablität durch diese zwei Ärzte zeigt, dass ihre Beobachtungen klinisch relevant sind. Der Begriff „paradoxe Beweglichkeit“ bedeutet „veränderte Beweglichkeit des Atlas gegenüber der Axis“ [4]. Normalerweise rotieren Atlas und Axis in entgegengesetzter Richtung, aber bei paradoxer Beweglichkeit bewegen sie sich in dieselbe Richtung. Dieses Phänomen ist ein objektives Zeichen für eine Verletzung eines Flügelbandes Lig. alare oder gleich von beiden und somit ein objektives Zeichen für eine Instabilität oder das Nicht-Funktionieren des KopfGelenk-Verbandes nach Crisco und Volle. Verletzungen der Gelenkkapsel von C1/C2 wurden bei HWS-Traumata beschrieben. Die chirurgischen Berichte haben gelegentlich Verletzungen verschiedenen Ausmaßes an den Kap-
seln erwähnt. Manchmal wurde beobachtet, dass die Kapseln komplett zerrissen waren und der Chirurg daher direkt in den Gelenkraum schauen konnte. Verletzungen der Gelenkkapseln werden seltener nach funktioneller Kernspintomographie diagnostiziert, was darauf hindeutet, dass so eine Verletzung kernspintomographisch schwieriger zu diagnostizieren ist. Alle Patienten haben sich zuvor einer eingehenden medizinischen Untersuchung durch Röntgen, herkömmlicher Kernspintomographie oder Computertomographie unterzogen, ohne dass irgendwelche Verletzungen, die bei den chirurgischen Eingriffen oder den funktionellen Kernspin-Aufnahmen diagnostiziert wurden, gefunden worden waren. Die funktionelle Kernspintomographie leistet daher einen wertvollen Beitrag, Verletzungen im Kopfgelenkbereich zu diagnostizieren. Die funktionelle Kernspintomographie gibt sehr genaue Informationen über Verletzungen und funktionalen Störungen, die bei Traumata am kranio-zervikalen Übergang gesehen werden können.
] Danksagung/Nachruf Dr. Bengt H. Johansson hat mit seinem Artikel wesentliche Hinweise zur Abklärung von Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule gegeben. Mit Hilfe seiner umgänglichen, liebenswürdigen und unvergleichbar kompetenten Hilfe konnte er weltweit immer wieder Anstöße zum Umdenken bzw. für neue Denkansätze liefern. Die traurige Nachricht von seinem plötzlichen Tod erreichte uns während der Arbeiten an diesem Buch.
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B. H. Johansson: 20
Diagnostik von Schleudertrauma-Folgen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie
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21 Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion * J. M. Elliott
Die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule HWS-Beschleunigungsverletzungen wurden 1928 erstmals von Crowe [6] als die nach Verkehrsunfällen am häufigsten auftretende Verletzung beschrieben. Noch bis vor kurzem waren die Fortschritte zum Verständnis der Pathophysiologie dieser Verletzung sehr spärlich. Leider sind die Gründe für den weltweiten Anstieg der Verunfallten mit HWS-Distorsion und der daraus resultierenden Kosten weitestgehend unbekannt. Man weiß, dass sich die meisten Betroffenen innerhalb von einigen Wochen nach dem Unfall erholen, wobei bei einem beträchtlichen Teil (von bis zu 42%) die akuten Schmerzen chronifizieren [2]. Diese Personengruppe mit persistierenden Schmerzen tragen wahrscheinlich zu dem beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden dieser schwerwiegenden Verletzung bei. Am häufigsten leiden die Betroffenen nach einer HWS-Distorsion an Nackenschmerzen. Es gibt jedoch – abgesehen von Nackenschmerzen – eine große Anzahl von Symptomen, wie z. B. Schwindel, Seh- und Hörstörungen, Kiefergelenkschmerzen, Lichtüberempfindlichkeit, Müdigkeit, kognitive Einschränkungen wie Konzentrationsprobleme und Gedächtnisverlust, Angst, Depression und Schlafprobleme [41, 54, 56–59]. Die Variabilität der Symptome unterstreicht die Schwierigkeiten in der Festlegung einer spezifischen pathoanatomischen Diagnose. Darüber hinaus gelingt es mit modernen bildgebenden Verfahren oft nicht, eine oder mehrere
* Für die Übersetzung und Bearbeitung des Beitrages danken wir Herrn Hartmut Friedburg
ins Auge springende Strukturverletzung(en) zu objektivieren [44]. Folglich gibt es seit langer Zeit einen erbitterten Streit darüber, ob chronifizierte Schmerzen auf körperliche oder auf psychische Mechanismen, wie absichtliche Übertreibung oder auf Simulation (Begehrenshaltung) zurückzuführen sind [12, 23]. Vertretbarerweise würde eine genaue pathoanatomische Diagnose bei Langzeitfolgen nach HWS-Beschleunigungsverletzung zu einer Erstellung einer vernünftigen Prognose führen, die für jene Patienten, die am stärksten zu einer Chronifizierung neigen, eine exakte Vorhersage ermöglichen würde. Leider besteht in dieser Hinsicht ein großes Problem darin, dass man bei den meisten Fällen von SchleudertraumaVerletzungen nicht in der Lage ist, auch mit modernen bildgebenden Verfahren im Akutstadium eine Diagnose der verletzten Strukturen zu erstellen. Bei Patienten, die eine HWS-Beschleunigungsverletzung erlitten haben, ist eine RoutineUntersuchung mit Kernspintomographie nicht gerechtfertigt, weil die Anzahl der nachgewiesenen Abnormalitäten und der prognostische Wert gering sind. Zudem steht die Magnetresonanztomographie nicht in jeder Praxis bzw. in jedem Krankenhaus zur Verfügung und verursacht hohe Kosten [3, 40, 45, 61]. (Anmerkung des Übersetzers: in Deutschland betragen die Kosten für eine MRT-Untersuchung der HWS innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung bei einem Punktwert von ca. 3 Cent pro Punkt, die für Radiologen ausbezahlt werden, zwischen 90 und 100 Euro.) Ein ganz großes Problem bei Patienten nach HWS-Distorsion ist die geringe Anzahl der spezifischen Befunde. Oft ist kein schlüssiger Zusammenhang zwischen den subjektiven Symptomen des Patienten bzw. den klinischen Zeichen und eindeutigen MRT-Befunden möglich. Die meisten Studien haben sich jedoch auf Veränderungen in den
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J. M. Elliott
Bandscheiben, den Facettengelenken oder den Bändern konzentriert und haben anderen Weichteilverletzungen, wie beispielsweise Muskelverletzungen, wenig Augenmerk geschenkt.
Klinischer Gebrauch der Kernspintomographie bei Muskeldegeneration Klinische Beobachtungen veranlassten eine tiefergehende Forschung bzgl. der Verwendbarkeit der Kernspintomographie als mögliches Diagnostikum. Damit sollten bei chronischen Schleudertrauma-Patienten Muskelveränderungen nachgewiesen werden. Bei der Durchsicht der MRT-Bilder dieser Patienten fiel auf, dass bei vielen von ihnen vermehrt Fetteinlagerungen in der zervikalen Streckmuskulatur zu beobachten waren und dass diese in Standard-MRT-Aufnahmen nach zuweisenden Veränderungen mit den zahlreichen Symptomen, die oben beschrieben wurden, im Zusammenhang stehen dürften. Diese klinischen Beobachtungen werden durch die Literatur bis zu einem gewissen Grad gestützt. McPartland et al. [29] fanden einen ausgeprägten Muskelschwund und Fetteinlagerungen im Rectus capitis posterior minor und im Rectus capitis posterior major bei sieben Patienten mit chronischen Nackenschmerzen, die mit sieben asymptomatischen Kontrollpersonen verglichen wurden. Der Muskelatrophie und die Fetteinlagerungen standen – im Vergleich zu Gesunden – bei den Patienten in einem Zusammenhang mit deren abnehmenden Fähigkeit, die Balance zu halten (Schwanken; Unsicherheit). Die Autoren führen dies auf einen geminderten propriozeptiven Output, der von diesen Muskeln ausgeht, zurück. Andary et al. [1] untersuchten bei einem Patienten mit chronischen Nackenschmerzen die elektromyographische (EMG) Aktivität der bilateralen suboccipitalen Muskulatur mit fine wire Elektroden und fanden mit MRT den Beweis für Muskelschwund und Fetteinlagerungen in den Muskeln. Es wurden EMG-Abnormalitäten festgestellt, welche die Autoren als Folge einer Denervation beschrieben, welche auf eine traumatische Nervenverletzung bei C1 dorsal ramus zurückzuführen war. Hayashi et al. [20] zeigten einen abnormen Signalanstieg (ein Indiz für eine Neopathologie, beispielsweise für ein Ödem) in der segmentalen paraspinalen Muskulatur bei Patienten mit
kernspintomographisch gesichertem Abriss der Nervenwurzel. Sie stellten die Hypothese auf, dass der Signalanstieg in der tiefsten zervikalen Muskulatur (Multifidus) ein indirektes Zeichen für einen Abriss der Nervenwurzel sei und dass die Tatsache des Signalanstiegs des Multifidus’ das Resultat einer spezifischen Nervenläsion sei. Eine solche Nervenverletzung kann im Zusammenhang mit der Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms stehen, welches in manchen Fällen wiederum zu den von anderen Wissenschaftlern beobachteten Zeichen abnormaler Schmerzverarbeitungsprozesse bei chronifizierten HWS-Beschleunigungsverletzungen passen würde [7, 25, 32, 49–53]. In aktuellen MRT-Studien wurde überprüft, ob eine Übereinstimmug zwischen den klinischen Beobachtungen und den morphometrischen Veränderungen innerhalb der paraspinalen Muskulatur (Fetteinlagerungen und Volumenänderungen der paraspinalen Muskeln) bei Patienten mit chronifizierten SchleudertraumaFolgen besteht. Es musste herausgefunden werden, ob diese Veränderungen nur einzelne Muskeln betreffen, oder ob diese weitgestreut waren, und ob diese Veränderungen durch quantitative Messungen wissenschaftlich dokumentiert werden können. Dieses Kapitel wird zunächst in die Modalitäten der konventionellen Magnetresonanztomographie (MRT) einführen. Als zweiten Schritt wird dieses Kapitel systematisch den Forschungsstand bzgl. des Vorkommens von Muskeldegenerationen der zervikalen Streckmuskulatur bei Patienten mit chronischen Beschwerden nach HWS-Distorsion diskutieren. Die Entwicklung dieser Grundlagen stellt zum ersten Mal ein analytisches Handwerkszeug zur Verfügung, um das Ausmaß der degenerativen Muskelveränderungen (Fetteinlagerung, Muskelschwund) bei Patienten mit chronischen Schleudertrauma-Folgen zu erforschen.
Messungen mit Magnetresonanztomographie: T1- vs. T2-gewichtet Die Magnetresonanztomographie hat sowohl multiplanare als auch mehrschichtige Bildgebungsqualitäten und liefert verlässliche Messwerte für degenerative Veränderungen in Mus-
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Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion
keln, wie z. B. für Fetteinlagerungen und Muskelschwund [1, 5, 19, 21, 24, 29, 30, 33, 37]. Bei der Kernspintomographie werden üblicherweise zwei verschiedene Sequenztypen verwendet: T1und T2-Gewichtung. Die MRI beruht auf dem kernmagnetischen Resonanzphänomen, also auf einer Interaktion von Atomkernen, in Medizin von Wasserstoffkernen, also Protonen und einem von außen angelegten Hochfrequenzfeld. Neben einer positiven Ladung weist ein Proton eine zweite Eigenschaft auf, es rotiert unter dem Einfluss eines Magnetfeldes auf einer Kegelmantelfläche, die Mittellinie des gedachten Kegels verläuft in Richtung der Feldlinien des Magnetfeldes. Diese Rotation wird Präzession bzw. Spin genannt. Die Rotationsgeschwindigkeit oder Präzessionsfrequenz ist direkt proportional zur Magnetfeldstärke.
Technische Erläuterungen Generell entspricht die Information in einem Bildpunkt eines MRT-Bild der individuellen Präzessions- oder Lamorfrequenz einem Cluster von Protonen bzw. Spins in einem Volumenelement Voxel. Die Größe eines Voxels hängt von der Schichtdicke und der Bildmatrix in Relation zum gewählten Bildausschnitt (field of view = FoV) ab. Die Einstrahlung eines RF-Pulses, also Radiowellenimpulses (bei einer Feldstärke von 1,5 Tesla liegt die Frequenz eines solchen Impulse bei 64 MHz), verursacht infolge einer Energiezufuhr in Form von Quanten eine Störung einer vorher bestehenden Gleichgewichtsverteilung zwischen zwei möglichen unterschiedlichen Energieniveaus. Neben einer Änderung der Verteilung auf diese zwei Energieniveaus induziert ein RF-Puls gleichzeitig auch eine Phasen-Kohärenz der Protonen, die vor dem ersten RF-Puls eine stochastisch verteilte Phasenlage aufweisen. Nach Abschalten des Radiowellenimpulses kehren sich die Vorgänge um, das vorher angeregte System, in diesem Fall der menschliche Körper, gibt die Energie wieder ab und strahlt jetzt selbst Radiowellen ab. Der Intensitätsverlauf dieser Energieabgabe in Form von Radiowellen entspricht einer gedämpften Schwingung und wird freier Induktionsabfall (FID) genannt. Die Zeit bis sich der ursprüngliche Gleichgewichtszustand wie vor dem Einschalten des RF-Pulses wieder einstellt wird Relaxationszeit genannt. Dabei gibt es zwei unterschiedliche jeweils exponential verlaufende Relaxationsvorgänge, die als T1- und T2-Relaxation bezeichnet werden (s. a. nächsten Abschnitt). Das Spektrum der dabei auftretenden Präzessions-Frequenzen ist eine Funktion der auf jeden einzelnen Voxel einwirkenden Magnetfeldstärke. Gegenüber den Kernspin-Messgeräten in der analytischen Magnetresonanz ist für die Bildgebung zusätzlich ein Gradientensystem erforderlich, mit dem
]
in allen drei Raumrichtungen die lokalen Magnetfelder innerhalb eines MR-Tomographen gezielt verändert werden können. Durch Variation von RF-Pulsen, Pulsabständen und unterschiedlichen Gradientenschaltungen können MRT-Bilder mit unterschiedlichem Gewebekonstrast erzeugt werden.
Während es eine zunehmende Anzahl von neuen Sequenzen gibt, wurden T1-gewichtete Sequenzen traditionell dazu benutzt, um das muskuloskelettale System abzubilden. Fett als Gruppe kettenförmiger Kohlenwasserstoffmoleküle enthält überwiegend an Kohlenstoff gebundene Protonen während die anderen Weichteile des Körpers überwiegend H2O-gebundene Protonen enthalten. Die unterschiedlichen Bindungen bzw. lokalen Umgebungen der einzelnen Protonen sind der Grund für unterschiedliche Relaxationszeiten eines Gewebes. Die T1-Zeit eines chemischen Stoffes oder Gewebes wird durch eine spezifische Konstante definiert und ergibt sich mathematisch aus der zugehörigen Exponentialfunktion. Aus dieser unterschiedlichen chemischen Bindung resultiert in T1-gewichteten Bilder ein exzellenter Kontrast zwischen Fett und anderen Weichteilen, z. B. Skelettmuskeln [33], was mit einer außergewöhnlich guten Differenzierung anatomischer Details einhergeht. Zum besseren Verständnis sei auf die Abbildung 21.1 verwiesen, die die exponential verlaufende T1-Relaxation (auch Spin-Gitter-Relaxation [63] genannt) bis zur Rückkehr des thermischen Gleichgewichts der longitudinalen Magnetisierung zeigt. Die T1-Relaxations-Konstante entspricht der Zeit bis 63% des Maximalwertes der longitudinalen Magnetisierung erreicht sind. Fett hat eine kurze T1-Zeit, wohingegen Wasser eine längere T1-Zeit benötigt (Abb. 21.1). Folglich werden Signale von fetthaltigem Gewebe in T1-gewichteten Sequenzen signalreich dargestellt und sind klar gegenüber anderem Gewebe abgegrenzt. Außer der longitudinalen Relaxation gibt es einen zweiten Relaxationsprozess, Spin-Spin-Relaxation oder T2-Relaxation bezeichnet [63]. Die T2-Relaxation beschreibt den Signalabfall nach Anregung durch einen RF-Puls infolge des exponentiell verlaufenden Verlustes der PhasenKohärenz der Protonen (s. o.). Im Gegensatz zu T1-gewichteten Bildern erzeugen T2-gewichtete Bilder einen Gewebskontrast, der von den Unterschieden in den T2-Zei-
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100
100
Signalintensität (%)
Signalintensität (%)
Fett Wasser 63 Kurzes T1 - Fett Langes T1 - Wasser
Kurzes T2 - Fett Langes T2 - Wasser
37 Wasser Fett
T1
Zeit
T1
T2
Zeit
T2
Abb. 21.1. Rückkehr der Längsmagnetisierung: T1-Relaxation.
Abb. 21.2. Zerfall der Quermagnetisierung: T2-Relaxation.
ten zwischen Fett und Wasser abhängt. Die Quermagnetisierung oder transversale Magnetisierung kann infolge von Spin-Spinkopplungen, die zu Phasenverschiebungen führen, nicht aufrecht erhalten werden und baut sich daher exponentiell ab. Die T2-Zeit oder T2-Konstante entspricht der Zeit, in welcher das Signal 63% seines Maximalwertes durch den zunehmenden Verlust der Phasen-Kohärenz der verschiedenen Spins eingebüßt hat [63]. Fett hat eine kurze T2-Zeit und erscheint grau, wohingegen Wasser eine längere T2-Zeit besitzt (Abb. 21.2) und hell erscheint. Folglich liefern T2-gewichtete Sequenzen exzellente Detailinformationen bezogen auf die Umgebung von Wassermolekülen. Während das Signal von freiem Wasser in T2-gewichteten Sequenzen signalreich wird, also hell abgebildet ist, wird der Wassergehalt von Fettgewebe in einem gewissen
Grad das Signal abdunkeln, wodurch es schwierig wird, die Signalintensitäten zwischen Wasser und Fett zu unterscheiden. Daher beinhalten T2-gewichtete Sequenzen gewöhnlich auch fettunterdrückte Techniken, um feinste Unterschiede zwischen abnormen Signalintensitäten herauszuarbeiten, die von einer Verletzung eines Gewebes herrühren (z. B. Bandscheibenvorfälle) [63]. Bei den kernspintomographischen Messungen unserer Studie wurde eine konventionelle T1-gewichtete Sequenz verwendet, die eine präzise Definition hinsichtlich der Frage erlaubt, welches Signal zu Fett (hell) und welches Signal zu Weichteilverletzungen bzw. Muskeln (dunkel) gehört. Derartige Sequenzen sind alltäglich im Gebrauch in der muskuloskeletalen Radiologie und wenn nötig auch leicht reproduzierbar. Die kernspintomographische Messung von Fettein-
a Gesunde Kontrollperson 0,45
b WAD 0,45
Multifidus Semispinalis Cervicis Semispinalis Capitis Splenius Capitis Oberer Trapezius
0,35
0,40
Fett/Muskel-Index
0,40
Fett/Muskel-Index
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0,30 0,25 0,20
0,35 0,30 0,25 0,20
C3
C4
C5
C6
C7
Abb. 21.3 a, b. Durchschnittliche Differenzen der Fettindexe in der zervikalen Muskulatur auf Höhe der angegebenen Wirbelsäuensegmente (C3–C7) in der Gruppe der gesunden Pro-
C3
C4
C5
C6
C7
banden (a) vs. Patienten mit chronischem Schleudertrauma (WAD) (b).
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Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion
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a a
b Abb. 21.5 a, b. Beidseits axiale MRT-Bilder des „rcpmin“-Muskels C0–C1 (s. Text) eines gesunden Probanden vs. Patient mit chronischem Schleudertrauma (WAD).
b Abb. 21.4 a, b. Beidseits axiale MRT-Bilder der tiefen zervikalen Mm. multifidii C3 (s. Text) eines gesunden Probanden vs. Patient mit chronischem Schleudertrauma (WAD).
lagerungen [11] erlaubt die Identifizierung von Veränderungen in der zervikalen Streckmuskulatur bei Patienten mit chronifizierten Schleudertrauma-Folgen. Spezifische Muster von Fetteinlagerungen in der Muskulatur wurden in allen zervikalen Extensoren sowohl bei gesunden Kontrollpersonen als auch bei Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach Schleudertrauma nachgewiesen. Bei der SchleudertraumaGruppe traten jedoch signifikant größere Mengen von Fetteinlagerungen überall in den Extensoren auf (Abb. 21.3).
Die größten Mengen von intramuskulären Fetteinlagerungen wurden bei Patienten mit persistierenden Beschwerden im Muskel rectus capitis posterior minor und major, wie auch in dem tiefen zervikalen Mm. multifidii gefunden (Abb. 21.4 und 21.5). Diese Veränderungen waren vom Alter unabhängig (sowohl bei der gesunden Kontrollgruppe als auch bei der Gruppe mit persistierenden Beschwerden nach HWSDistorsion). Sie waren bei Schleudertrauma-Patienten auch unabhängig von der Dauer der Symptome (Veränderungen traten nach 3 Monaten ein), unabhängig davon, ob eine Schadensregulierung bereits stattgefunden hatte oder nicht, unabhängig vom Body Mass Index und unabhängig vom angegebenen Schmerz- und Behinderungsgrad (Neck Disability Score). Der Neck Disability Score (Mittelwert 45,5 ± 15,9; Bereich 16–82) zeigt an, dass Schleudertrauma-
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J. M. Elliott
Patienten von Symptomen und funktionellen Behinderungen von milder bis stärkerer Intensität berichten. Es gab eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Reduzierung des Fettgehaltes in allen Muskeln bei Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach HWS-Distorsion und bei den gesunden Kontrollpersonen, obwohl bei den Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach HWS-Distorsion in allen Muskeln und auf allen Segmenten der Halswirbelsäule ein signifikant erhöhter Anteil an Fetteinlagerung nachgewiesen werden konnte (Abb. 21.3). Dieses Muster wurde sowohl in den tiefen suboccipitalen und den Multifidus-Muskeln konstatiert, wie auch in den mittleren und an der Oberfläche gelegenen Muskeln, den M. semispinalis zervicis und capitis, M. splenius capitis und oberen M. trapezius. Da es bei den suboccipitalen (M. rectus minor und major), in den Mm. multifidii, speziell im Segment C3 ein größeres Maß an Fetteinlagerungen gab, könnte dies zu der Behauptung führen, dass es in diesen Bereichen eine größere Verletzung gab und sich in diesen Segmenten die Muskeln stärker veränderten. Obwohl bekannt ist, dass eine HWS-Distorsion jedwede Art von Strukturen und jedes Segment der HWS verletzen kann [17, 35, 36, 38], ist es möglich, dass diejenigen Fälle mit Verletzung der oberen Halswirbelsäule vielleicht eher zur Chronifizierung neigen. Es steht fest, dass Kopfschmerzen [8, 42], Schwindelgefühle und Benommenheit [59], die mit Schädigungen der Strukturen in der oberen HWS einhergehen, bei Patienten mit chronischen Beschwerden nach HWS-Distorsion häufig auftreten. Der genaue Grund für die nicht uniform auftretenden Veränderungen in den Muskelschichten und in bestimmten Segmenten der Halswirbelsäule konnte mit dieser Studie nicht herausgefunden werden. Es ist aber durchaus angebracht, über die möglichen in Frage kommenden Mechanismen zu spekulieren, die bei der Gruppe der Schleudertrauma-Verletzten zu Fetteinlagerungen in die Muskulatur führten. Fetteinlagerungen bzw. Muskeldegenerationen können mit folgenden Mechanismen in Zusammenhang gebracht werden: generalisierter Nicht-Gebrauch [21], chronische Denervation [14], neuromotorische Läsion [47], metabolische Veränderungen [26], zunehmendem Alter [62] oder anderen Muskelveränderungen [16]. Es kann auch argumentiert werden, dass der Mechanismus der Muskeldegeneration wahr-
scheinlich nicht von einem direkten Trauma der paraspinalen Muskeln verursacht wird, da die Befunde zu weit gestreut sind. Zunehmendes Alter taugt wahrscheinlich auch nicht als Grund, da die beobachteten Fetteinlagerungen überhaupt keine Korrelation mit dem Alter zeigen. Dies überrascht nicht, da eine altersabhängige Reduzierung der fettfreien Muskelmasse erst viel später im Leben beginnt [15, 48] und die von uns untersuchte Altersgruppe aus Erwachsenen jüngeren und mittleren Alters bestand. Die Tatsache, dass bei der Gruppe aus Schleudertrauma-Patienten die Fetteinlagerungen über die einzelnen Muskeln weit verteilt waren und sich nicht auf eine Ebene in der HWS begrenzten, legt nahe, dass diese Verkümmerung eine Folge von mangelndem Gebrauch der Muskulatur ist. Andere Autoren haben gezeigt, dass Veränderungen wie Muskelschwund nicht einförmig auftreten, sondern dass es größere Veränderungen in langsamen Muskeln gibt (z. B. mehr Typ I Fasern) [13, 18, 22, 31]. Angaben, die man von menschlichen Kadavern gewonnen hat, liefern den Beweis für eine größere Dichte der Typ I Muskelfasern in den tiefen MultifidusMuskeln der HWS [4] und die Verteilung der Muskelfasertypen steht in Zusammenhang mit der Anzahl der Muskelspindeln [9, 43, 46]. Der größere Streitpunkt könnte sich dann daraus ergeben, dass die von uns festgestellte höhere Fetteinlagerung in den tiefen sub-occipitalen Muskeln, die eine hohe Spindeldichte aufweisen [27, 28, 39], und in der tiefen Multifidus-Muskulatur, die vor allem aus Typ I Muskelfasern besteht [4], die Folge von generalisiertem Nichtgebrauch ist. Im Gegensatz dazu könnten die mengenmäßig geringeren Fetteinlagerungen in den mehr an der Oberfläche liegenden Muskeln eine Folge des höheren Anteils von Typ II Muskelfasern [4] sein, die sich bei Patienten mit HWS-Dysfunktion [60] als resistenter gegenüber Faserumbau erwiesen haben. Darüber hinaus ist es derzeit nicht bekannt, wie schnell sich nach einer Verletzung diese Veränderungen vollziehen. Eine alternative Erklärung hierzu wäre, dass die bei Patienten mit chronifizierten Langzeitschäden nach HWS-Distorsion nachweisbare größere Menge von eingelagertem Fett in die tiefen Muskeln der HWS die Folge einer kleinen Nervenverletzung ist, oder aber auf eine Nervenreizung und folglich auf ein durch akute Entzündungsprozesse entstandenes demyeliertes
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Magnetresonanztomographie bei Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion
Nervengewebe zurückzuführen ist [34]. Die andere Variable „Nicht-Gebrauch der Muskulatur“ trägt mit der Zeit zu Muskelveränderungen bei. Andere Studien haben gezeigt, dass ein Schaden in den benachtbarten Strukturen, wie etwa in den Facettengelenken und den Bandscheiben, Entzündungsreaktionen hervorrufen kann und somit das auf mechanische Reize empfindliche Nervengewebe reizen kann [10, 55]. Andere Forscher haben kernspintomographisch ipsilaterale und multisegmentale Muskelveränderungen nachgewiesen, die auf eine präganlionäre Nervenwurzelverletzung zurückzuführen waren [20]. Die bilateralen Veränderungen in den Muskeln der HWS könnten zu den Entzündungsmechanismen entweder aufgrund von kleinen Nervenverletzungen oder aufgrund von Schäden an somatischen Strukturen passen. Weitere Studien werden zeigen müssen, ob kernspintomographisch nachweisbare chronische Muskelveränderungen eine indirekte Folge einer akuten ipsilateralen Nervenverletzung oder eine mögliche sekundäre Folge einer Entzündung des bilateralen Nervengewebes in der oberen HWS ist. Welche Mechanismen die in dieser Studie gezeigten Muskelveränderungen auch auslösen, so gewähren uns diese Veränderungen einen Einblick in die verschiedenen funktionellen Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen, die bei Patienten mit Langzeitfolgen nach HWS-Distorsion in der Regel beobachtet werden können.
Zusammenfassung Diese Forschungsergebnisse liefern uns einen vorläufigen Beweis dafür, dass weibliche Patienten (im Alter von 18–45 Jahren) mit persistierenden Beschwerden nach HWS-Distorsion (Grad II) mittels Kernspintomographie quantifizierbare Veränderungen des Fettanteils in der Streckmuskulatur der HWS aufweisen. Diese Veränderungen liegen bei Personen, die keine HWS-Distorsion erlitten haben, nicht vor. Insbesondere zeigt diese Studie stärkere Signalveränderungen in der tiefen suboccipitalen Streckmuskulatur also in den Segmenten der oberen HWS. Es ist derzeit noch unklar, ob diese Fetteinlagerungsmuster aus einem lokalen Strukturschaden resultieren oder auf eine Nervenverletzung bzw. Nervenreizung. Oder sie sind darauf
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zurückzuführen, dass diese Muskulatur nicht oder wesentlich weniger in Gebrauch ist. Weitere Studien sind notwendig, um die potentiellen, daran beteiligten Mechanismen zu erforschen und um aufzuzeigen, ob die beobachtete Fetteinlagerung in die zervikalen Streckmuskulatur mit den klinischen Zeichen und den Symptomen bei chronifizierten HWS-Beschleunigungsverletzungen zusammenhängen. Letzten Endes würden diese Informationen die Basis für eine Bewertung bzw. Begutachtung liefern und würden möglicherweise einige prognostische Informationen liefern.
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22 Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma H.-K. Beyer
Einleitung Das HWS-Schleudertrauma oder auch Whiplash ist eines der häufigsten traumatischen Ereignisse überhaupt und kommt in nahezu der Hälfte aller Unfälle mit PKW-Beteiligung vor. In Deutschland wurden im Jahr 2005 etwa 421 000 Verkehrsunfälle registriert, davon erlitten 231 000 Personen ein HWS-Schleudertrauma. Während die daraus resultierenden anschließenden Beschwerden in ca. 80% in wenigen Wochen oder Monaten ausheilen, kommt es in ca. 20% zu Langzeitsymptomen, wobei die betreffenden Personen noch viele Jahre nach dem Unfall im Hinblick auf ihre Arbeit und ihre täglichen Aktivitäten beeinträchtigt waren [2, 35]. Der unbestreitbaren Tatsache, dass es in einem Teil der Unfallopfer nicht zu einer folgenlosen Ausheilung kommt, wird allerdings insbesondere von gutachterlich tätigen Kollegen nur unzureichend Rechnung getragen. Nach wie vor beruft man sich auf eine Monographie von Erdmann [6], in der das Schleudertrauma als eine Weichteildistorsion der Halswirbelsäule definiert wurde, die ausnahmslos in spätestens 12 Wochen folgenlos ausheilt, wenn röntgenologisch knöcherne Verletzungen nicht festgestellt werden können. Dieses Statement, das zu einem späteren Zeitpunkt von Erdmann selbst relativiert wurde, wird also auch heute noch von vielen Gutachtern als Begründung dafür angesehen, einen Unfallzusammenhang bei Langzeitsymptomen abzulehnen und das, obwohl in den offiziellen Anhaltspunkten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) für die Begutachtung des WAD diese Einteilung als obsolet angesehen wurde [40]. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Probleme, mit denen Experten aus mehreren Fachrichtungen bei Verletzungen nach Beschleunigungstraumen konfrontiert werden, vielfältig
sind, so z. B. das Vorkommen von unerwarteten oder das Fehlen von erwarteten Symptomen, das Fehlen objektiver Beweise für geklagte Beschwerden, die damit schwierig zu überprüfen sind, die Diskrepanz zwischen der nachgewiesenen Kraft des Aufpralls und den daraus resultierenden Verletzungen, ebenso wie die Unmöglichkeit zu beweisen, dass ein potentielles verletzungsverursachendes Ereignis ohne Zweifel die Ursache der beobachteten Veränderungen ist. Dies sind nur einige der Probleme, die ein medizinischer Experte zu berücksichtigen hat, wenn er sich mit der Analyse von Verletzungen der Halswirbelsäule beschäftigt. Häufig fehlt auch eine ausreichende Erstdokumentation sowohl was den Ablauf des Unfallereignisses als auch die Erstbeschwerdesymptomatik des Patienten angeht. Ebenso ist die durchgeführte klinische und bildgebende Erstdiagnostik häufig unzureichend. So liegt in der Mehrzahl der Fälle als bildgebende Dokumentation allein eine Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule in 2 Ebenen vor, die lediglich in der Lage ist, knöcherne Verletzungen auszuschließen, jedoch keinerlei Hinweise auf ein Funktionsdefizit erlaubt. Die Schwierigkeit, Zeugen zu beschaffen, die eine spezifische biomechanische Beurteilung des Unfalls erlauben, in erster Linie, ob es sich hierbei um einen direkten oder indirekten Anprall des Körpers oder des Halses der verletzten Person handelt, sowie auch die Schwierigkeit zwischen den Folgen zervikaler Verletzungen oder geringgradiger Hirnverletzungen zu unterscheiden, sind weitere Unsicherheitsfaktoren. Ebenso dann, wenn posttraumatisch Symptome auftreten, die an eine psychiatrische Erkrankung denken lassen. Auch eine Aggravation oder eine Vortäuschung von Beschwerden macht es in einem, wenn auch geringen Prozentsatz, den medizinischen Experten schwierig und manchmal unmöglich zu einem objektiven Urteil zu kommen.
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Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma
Seit längerem ist außerdem bekannt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Unfallmechanismus (Frontalkollision, Seitenkollision, Heckkollision) sowie der Geschwindigkeit des Anpralls einerseits und den unterschiedlichen Folgen der Verletzung der Halswirbelsäule andererseits besteht. Über die dabei ablaufenden unterschiedlichen Mechanismen wird an anderer Stelle berichtet. Aufgrund dieser Unfallmechanismen ist eine Vielzahl von diskoligamentären Verletzungen der Halswirbelsäule möglich. Ca. 60% der schleudertraumabedingten Verletzungen betreffen den Halswirbelsäulenbereich zwischen C3 und C7, 40% betreffen den zervikookzipitalen Übergang. Die hierbei auftretenden Beschwerden werden als zervikoenzephales Syndrom bezeichnet, die dann von dem Verunfallten geklagten Beschwerden sind vielfältig, neben Kopfschmerzen, einem Leistungsdefizit wird auch über Konzentrationsstörungen, Burnout-Syndrom sowie auch über weitere funktionelle oder somatische Defizite geklagt. Aus den vorgenannten diagnostischen Unsicherheiten werden jedoch gerade diese Symptome nicht als unfallspezifisch und unfallbedingt anerkannt und ein Unfallzusammenhang abgelehnt. Hierbei wird nicht zur Kenntnis genommen, dass das Krankheitsbild eines zervikoenzephalen Syndroms als Folge der Störungen von Neurorezeptoren mit partiellen Unterbrechungen der neuroenzephalen Verbindungen bereits fest definiert ist. Kann bildmorphologisch nach einem HWSSchleudertrauma ein pathologischer Befund nicht erhoben werden, oder wird ein erhobener Befund in Frage gestellt, oder in manchen Fällen auch nicht zur Kenntnis genommen, bedeutet dies, dass in vielen Fällen die klinische Symptomatik als unfallunabhängig angesehen wird. Hierbei wird auch die Tatsache ignoriert, dass Störungen im nozizeptiven und propriozeptiven System als Folge unfallbedingter Weichteilschäden bildmorphologisch nicht direkt erfasst werden können. Sie sind umso wahrscheinlicher je ausgedehnter pathologischanatomische Veränderungen im Dens related Komplex nachgewiesen werden können. Es gilt im Umkehrschluss jedoch auch, dass eine Instabilität, z. B. durch eine Verletzung des Ligamentum alare oder des Ligamentum transversum, nicht unbedingt allein eine Voraussetzung für eine Schädigung des neurorezeptiven Systems darstellt, sie können theoretisch auch bereits bei reinen Dens-Kontusionen auftreten.
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Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Frage einer Schädigung der Neurorezeptoren und das damit verbundene Auftreten diverser zerebraler Symptome kontrovers diskutiert wird, z. B. in den Empfehlungen zur Begutachtung von Halswirbelsäulenverletzungen werden die entsprechenden zerebralen Symptome dem weiten Feld einer psychosomatischen Störung zugeordnet [40].
Bildgebende posttraumatische Funktionsuntersuchungen nach HWS-Schleudertrauma Man muss zunächst differenzieren zwischen konventionellen bildgebenden statischen Untersuchungen und Funktionsuntersuchungen. Ich möchte mich, nicht nur aus Platzgründen, im Folgenden ausschließlich mit der Wertigkeit der bildgebenden MRT-Funktionsdiagnostik beschäftigen und die eigenen Erfahrungen vorstellen. Seit langem ist bekannt, dass konventionelle Röntgenaufnahmen, die im Rahmen einer Basisdiagnostik bei Verletzungen der Halswirbelsäule angefertigt werden, lediglich dem Ausschluss gröberer, knöcherner Verletzungen dienen können. Konventionelle Funktionsaufnahmen geben, z. B. im zervikookzipitalen Übergang, Hinweise auf eine mögliche Instabilität des Dens, sind jedoch ohne Aussagen über die Ursache. Das Gleiche gilt für evtl. nachweisbare Segmentinstabilitäten. Bezüglich der Wertigkeit der CT-Untersuchung beim HWS-Schleudertrauma verweise ich auf die ausgezeichneten Ausführungen von Herrn Friedburg in seinem Beitrag.
Kernspintomographische bildgebende Funktionsdiagnostik Wie bereits erwähnt, kommen 60% pathologisch-anatomische Folgeerscheinungen nach Schleudertraumen der Halswirbelsäule im Bereich zwischen C3–C7 vor. Neben Verletzungen des vorderen und hinteren Längsbandes sind in erster Linie die Wirbelgelenke als Folge der extremen Hyperextension und Flexion sowie der zusätzlichen Lateralbewegung betroffen. Hierbei kommt es als Folge von Zerrungen im Bereich der Gelenkkapsel nicht selten zu Kapselrupturen
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mit daraus resultierender abnormer Beweglichkeit sowie auch zu Knorpelarrosionen. Die Folge ist nicht nur eine mögliche perifokale Einblutung und eine Gelenkergussbildung, sondern in einigen Fällen kommt es auch zu einer abnormen Beweglichkeit des Wirbelsegmentes, die dann durch Funktionsuntersuchungen im Sinne einer Retro- oder Anterolisthesis nachgewiesen werden kann. Die Kernspintomographie erlaubt darüber hinaus auch direkte Aussagen über eine mögliche vermehrte Aufklappbarkeit des Gelenkes, eine Dislokation und über perifokale Reaktionen, wie Einblutung oder Gelenkergüsse. Seit langem ist bekannt [6], dass traumatisch bedingte Diskushernien bei einer intakten nicht degenerativ veränderten Bandscheibe nur im Verletzungsstadium nach Erdmann III und IV vorkommen. Dies allerdings gilt nicht für bereits degenerativ, d. h. vorgeschädigte Bandscheiben, bei denen bereits eine Ausdünnung des Anulus fibrosus vorliegt, wobei das Trauma dann zu einer endgültigen Ruptur des Nucleus pulposus mit daraus resultierender Diskushernie führt. Bekannt geworden ist allerdings [25], dass es auch bei gesunden Bandscheiben während des Traumaablaufes zu einer Lockerung der Verbindungen zwischen Bandscheibe und der Deckund Abschlussplatten kommen kann. Die daraus resultierende Mikroinstabilität führt dann in bis zu 10% zum Auftreten einer protrahierten Degeneration der Bandscheibe innerhalb von 2 Jahren. Wir selbst haben bei 3 Verunfallten posttraumatisch bei zunächst intakter Bandscheibe innerhalb der nächsten 2 Jahre mehr oder weniger ausgedehnte Diskushernien nachweisen können. Fragwürdig ist es daher, wenn auch bei glaubhafter Versicherung, dass der Verunfallte prätraumatisch niemals über Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule geklagt hat, die posttraumatisch nachgewiesenen degenerativen Veränderungen als unfallunabhängig angesehen werden, obwohl der Beweis, dass diese degenerativen Veränderungen tatsächlich die Ursache der Beschwerden sind, nicht erbracht wurde. Von außerordentlichem Interesse ist auch eine von Rompe und Frauendorfer [28] vorgelegte Studie, in der auf die Bedeutung unphysiologisch rasch fortschreitende degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule nach WhiplashTrauma hingewiesen wird. Gerade diese nicht seltene posttraumatische Verlaufsform einer rasch fortschreitenden Degeneration wird gut-
achterlich in nahezu allen Fällen nicht in Zusammenhang mit dem Trauma gebracht. Auch Nidecker et al. [24] kommen zu dem Schluss, dass, wenn ein Vorschaden an der Halswirbelsäule vorliegt, von einem protrahierten weiteren degenerativen Verlauf ausgegangen werden kann. Dall’Alba et al. [3] haben ferner im Vergleich von symptomatischen Unfallopfern und asymptomatischen Personen mit einer hohen Sensitivität und Spezifität praktisch bewiesen, dass es durch Funktionsaufnahmen möglich ist, zwischen asymptomatischen Personen und Personen mit persistierenden posttraumatischen Whiplash-Beschwerden zu unterscheiden. Eine interessante Studie von Hald et al. [13] hat ferner ergeben, dass bei 10 922 gesunden jungen asymptomatischen Probanden nur in 2,6% pathologische Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule nicht nachweisbar waren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Matzumoto et al. [21]. Vor Erörterung der Wertigkeit der kernspintomographischen Funktionsuntersuchung des zervikookzipitalen Überganges bei Z. n. HWSSchleudertrauma sei ein kurzer Einblick in die Anatomie erlaubt, weil nur die anatomische Kenntnis und deren Darstellung in der Kernspintomographie eine exakte Bewertung und Beurteilung erlaubt. Die Halswirbelsäule ist weitaus beweglicher als die übrigen Wirbelkörperabschnitte. Die beiden oberen Halswirbel weichen in ihrem Bau von den übrigen wesentlich ab, da der oberste Halswirbel, auch Atlas genannt, als Drehwirbel ausgebildet ist. Ihm fehlt der Wirbelkörper, der durch einen aus dem 2. Halswirbel sich bildenden nach kranial gerichteten dornförmigen Fortsatz ersetzt wurde, dem sog. Dens. Dieser Fortsatz ermöglicht die Rotation des Kopfes und wird durch ein kompliziertes Bandsystem fixiert, das aus den Ligamenta alaria, dem Ligamentum transversum atlantis sowie dem Ligamentum apicis dentis besteht. Die Ligamenta alaria fixieren den Dens am Occiput und zum geringen Teil auch am hinteren Atlasbogen und haben sowohl Sicherungs- als auch Hemmfunktion bei der Kopfdrehung. Es gibt drei Verlaufsformen der Ligamenta alaria: craniokaudal, horizontal und caudokranial. Die Variationsbreite und die Verlaufsform dieses Bandes ist wegen ihrer Multifunktionalität daher enorm groß. Bei Rechtsdrehung des Kopfes spannt sich das linksseitige Ligamentum alare an und stellt damit eine Hemmfunktion dar. Bei
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Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma
Linksdrehung des Kopfes erfolgt die Anspannung des rechtsseitigen Ligamentum alare. Das Ligamentum transversum atlantis umschließt den Dens von dorsal her und fixiert ihn bds. am Arcus anterior des Atlas. Dieses Ligament ist sehr kräftig ausgebildet und außerdem durch den obersten Anteil des hinteren Längsbandes verstärkt. Beide Bänder zusammen bilden das Ligamentum cruciatum. Diese Bänder werden überdacht von der breiten kräftigen Membrana tectoria, die als Fortsetzung des hinteren Längsbandes angesehen werden kann, das bis zum Foramen magnum reicht. Dorsal umschließt die Membrana atlanto occipitalis posterior als Fortsetzung des Ligamentum flavum zwischen dem Atlas und dem Occiput den Wirbelkanal ab. Zur Funktionserhaltung sind entwicklungsgeschichtlich einzelne Bursae entstanden, die sich in die Verschiebeschicht zwischen der Membrana tectoria und dem kranialen Densanteil als Bursa cruciato tectoria sowie in die Gleitschicht zwischen dem kaudalen Densanteil und dem Ligamentum transversum atlantis als Bursa atlantodentalis eingeschoben hat. Diese Strukturen arbeiten funktionell zusammen und werden auch als „Dens related Komplex“ bezeichnet. Die Ligamenta alaria werden bei Extension des Kopfes angespannt, bei Flexion entspannt. Man kann sie vergleichen mit einem unregelmäßigen vierseitigen Pyramidenstumpf, wobei die viereckige Basis den kranialen Zweidritteln der Densseitenfläche angelagert ist. Die kraniale, dorsale und die ventrale Fläche verbinden den Dens mit dem Condylus occipitalis, die kaudale und laterale Fläche verbinden hingegen den Dens mit der Massa lateralis atlantis. Ferner können durch anhaltende Mehrbeanspruchungen, z. B. durch Instabilitäten, zusätzlich auch rudimentär angelegte Gleitbeutel ausgebildet bzw. reaktiviert werden (posttraumatische Bursae). Die rotatorischen Bewegungen, die Nickbewegungen und auch die Flexions-/Hyperextensionsbewegungen erfolgen in 4 Gelenkspalten, von denen eine als Gleitbeutel bezeichnet wird, nämlich die Bursa atlantodentalis, die in einem Spalt zwischen dem Ligamentum transversum atlantis und dem Dens lokalisiert ist. Die Articulatio atlantoaxialis mediana liegt zwischen dem Dens und der Rückfläche des vorderen Atlasbogens. Die wesentlichen 2 Gelenkspalten sind allerdings die Articulationes atlantoaxialis laterales. Die Gelenkflächen sind rundlich, gelegentlich dreieckig mit einem Knorpelbelag von
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1,4–3,2 mm Dicke. Die Axisgelenkflächen sind konvex, die Gelenkflächen des Atlas relativ flach. Dadurch findet sich zwischen dem lateralen Atlasbogen und dem Dens ein Klaffen von 2–5 mm. Die Gelenkkapsel ist weit und schlaff, eine keilförmige Synovialfalte ragt von der medialen Wand in den Gelenkspalt als sog. Meniskoid. Die knöcherne Anlage der Gelenkflächen und die sichernde Funktion des Bandapparates erlauben nur eine geringgradige Bewegung bei der Flexion und Hyperextension von maximal 10–158 um die Transversalachse. Eine Seitenneigung im Sinne einer Lateralflexion ist nur gemeinsam mit einer Rotation des Dens möglich. Diese wird auch als Zwangsrotation bezeichnet und ist weitgehend Ausdruck der physiologischen Funktion der Ligamenta alaria. Bei forcierter Seitenneigung kommt es zu einer Atlasverlagerung in Richtung der Beugung. Bei der Rotation drehen Kopf und Atlas gemeinsam um den Dens herum. Das Ligamentum transversum atlantis bestimmt und sichert die durch den Dens verlaufende Rotationsachse. Die Rotationsausschläge betragen normalerweise je 40–508, was ungefähr die Hälfte der gesamten HWS-Rotation ausmacht. Aus Studien nach Fielding [8] wurde bekannt, dass bei Rotation des Kopfes aus der Mittelstellung die Rotation zunächst in den unteren Kopfgelenken stattfindet und erst nach deren Erschöpfung die oberen HWS-Segmente zu rotieren beginnen. Die Rotation wird in erster Linie durch die Ligamenta alaria limitiert. Die intersegmentale Bewegung ist besonders in der frontalen und in der Transversalebene als eine kombinierte Bewegung anzusehen, wobei bei der Lateralflexion des Kopfes eine spontane axiale Rotation des Kopfes mit dem Atlas in die entgegengesetzte Richtung und eine axiale Rotation des Epistropheus in die gleiche Richtung der Lateralflexion erfolgt. Ein Abweichen des Dens bei Seitenneigung aus der Mittellinie ist nach beiden Seiten hin jeweils mit 1,5 mm als physiologisch anzusehen.
Welche Möglichkeiten bietet nun die Kernspintomographie, diese doch recht komplexe Anatomie darzustellen? Aufgrund des ausgezeichneten Weichteilkontrastes, der Möglichkeit des Einsatzes unterschiedlicher Sequenzen stets mit anderen Aussagemög-
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lichkeiten und die Tatsache, dass dies ohne jeden Einsatz von ionisierenden Strahlen geschieht, stellt dieses Verfahren in die erste Reihe der diagnostischen bildgebenden Möglichkeiten. Leider hat sich für die Untersuchung des zervikookzipitalen Überganges noch kein allseits akzeptiertes Untersuchungsschema fest etabliert. So sind die im Folgenden von mir vorgeschlagenen Sequenzen und Schichtrichtungen sowohl für die Darstellung der Anatomie als auch später der Pathologie nur als Empfehlungen zu betrachten, die sich bei uns bewährt haben. Fest steht, dass für die Darstellung der Anatomie in der Kernspintomographie eine Untersuchung unter statischen Bedingungen ausreicht, während zur Analyse der Pathologie Funktionsuntersuchungen als wertvolle Ergänzung nahezu einstimmig empfohlen werden. So können Untersuchungen, die allein der anatomischen Darstellung der komplexen Strukturen im zervikookzipitalen Übergang dienen, auch in Tunnelgeräten ohne aufwendige Einstellungshilfen durchgeführt werden. Wichtig ist ferner, dass bestimmte Qualitätskriterien unbedingt eingehalten werden müssen, die z. B. durch Niederfeldgeräte nicht erfüllt werden können. Hierzu gehört eine Schichtdicke von 1–2 mm, eine Matrix von mindestens 256 ´ 256, die Möglichkeit der zusätzlichen Anfertigung von 3D-Schichten sowie auch die Anfertigung von fettsupprimierten Bildern. Die bei uns durchgeführten Untersuchungen des zervikookzipitalen Überganges erfolgte mit einem Fonar Upright Gerät, das eine Magnetfeldstärke von 0,6 Tesla aufweist, also in die Rubrik der Mittelfeldgeräte eingeordnet werden kann. Zudem werden die eben aufgeführten Qualitätskriterien, ebenso wie die in Deutschland aufgestellten Leitlinien für die Durchführung kernspintomographischer Untersuchungen, erfüllt. Der Vorteil dieses kernspintomographischen Gerätes besteht darin, dass die Untersuchung am sitzenden Patienten durchgeführt werden kann, wobei der Kopf frei beweglich ist und die physiologische gewichtstragende Position der Halswirbelsäule aufsitzend einnimmt. Untersuchungen von Smith und Pope [34] haben für die Lendenwirbelsäule ergeben, dass aus der Möglichkeit der Untersuchung in aufrechter Position sich im Vergleich zur liegenden Position eine Mehrinformation von 90% einer möglichen Pathologie ergibt. Die gleichzeitige Untersuchung der Halswirbelsäule in liegender und in sitzender bzw. stehender Position ist bisher in einer Studie
noch nicht im Hinblick auf die Ergebnisse pathologischer Veränderungen durchgeführt und analysiert worden, jedoch kann man davon ausgehen, dass auch in diesem Bereich Vorteile für die physiologische gewichtstragende Position bestehen. Dieses MRT-Upright Gerät ist das erste in Deutschland und wird von uns seit 1½ Jahren betrieben. Folgende Sequenzen und Schichtrichtungen haben sich für die exakte anatomische Darstellung der Strukturen im Bereich des kraniozervikalen Übergangs als optimal herausgestellt. Die zur Anwendung kommenden Sequenzen und Schichtrichtungen werden an anderer Stelle dieses Beitrags ausführlich behandelt.
Mechanismus des Schleudertraumas Das Schleudertrauma stellt einen Beschleunigungsabbremsmechanismus dar, mit der Folge der Energieübertragung auf die Halswirbelsäule, die im weiteren Verlauf zu einer Reihe von Verletzungen mit klinischer Symptomatik führen kann. Man unterscheidet zwischen Frontalkollisionen, Seitenkollisionen und Heckkollisonen, auf die in anderen Buchbeiträgen speziell und gesondert eingegangen wird. Wichtig für die bildgebende Diagnostik ist, dass es aufgrund unterschiedlicher Unfallmechanismen auch zu unterschiedlichen HWS-Verletzungen kommen kann. Wie bereits erwähnt, betreffen die Verletzungen in 60% den Halswirbelsäulenbereich zwischen C3–C7, in 40% den zervikookzipitalen Übergang. Folgende Pathologien können vorkommen und u. U. auch durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden: ] Subchondrale Facettengelenkimpressionen ] Traumatische Bandscheibenschäden ] Knochenfragmentationen ] Dissektionen der Arteria vertebrale ] Hämarthros der Gelenke zwischen C0–C2 mit möglichen Kapselrupturen ] Hämatombildung paradental ] Kontusion des Hirnstamms und des proximalen Hirnstamms mit der Folge einer Myelopathie ] Prä- und postganglionäre zervikale Nervenwurzelausrisse
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] Irritationen der paradentalen Bursae mit der Folge einer chronischen Bursitis ] Verletzungen der Ligamenta alaria Offensichtlich spielt eine mögliche Verletzung der Ligamenta alaria eine Schlüsselrolle bei dem Auftreten von Symptomen und bei der Prognose des sog. zervikoenzephalen Syndroms. Aus diesem Grunde ist die Beantwortung der Frage wichtig, welche Treffersicherheit das Verfahren der Kernspintomographie bei der Auffindung von Läsionen des Ligamentum alare hat. Es gibt eine Vielzahl von Publikationen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Die anschließende Aufzählung gibt nur eine begrenzte Auswahl wieder. So wurde durch Kim et al. [14] eine Überprüfung der Qualität der MRT-Untersuchung bei der Demonstration des Ligamentum alare und möglicher morphologischer Veränderungen derselben während einer axialen Rotation des Kopfes bei asymptomatischen Patienten vorgenommen. Es fand sich, dass für die Demonstration des Ligamentum alare in erster Linie die koronare Schnittrichtung geeignet ist. Während der Kopfrotation fanden sich ziemlich konstant morphologische Veränderungen des kontralateralen Ligamentum alare und zwar im Bereich der dentalen Aufwickelung mit leichter Aufwärtsbewegung. Dies kann u. U. fälschlicherweise als traumatisch bedingte Läsion des Ligamentum alare interpretiert werden. Muhle et al. [23]: Posttraumatische Veränderungen der Ligamenta alaria sind mit großer Wahrscheinlichkeit der Grund für chronische Schmerzen bei Patienten nach Whiplash-Verletzungen der zervikalen Wirbelsäule. Es wird ferner festgestellt, dass ergänzend zu der asymmetrischen Densposition die Erweiterung des atlantodentalen Abstands auf mehr als 12 mm ein indirektes Zeichen einer Ruptur des Ligamentum alare darstellt. Auch in dieser Studie wird jedoch darauf hingewiesen, dass posttraumatische Verletzungen der Ligamenta alaria gegenüber normalen Varianten abgegrenzt werden müssen. Dvorak/Hayek [4] fanden nach einem Schleudertrauma eine leichte Hypermobilität in Spätstadien im Bereich der mittleren und oberen Halswirbelsäule im Vergleich zu einer gesunden Population. Saternus/Thrun [8] fanden dagegen eine signifikant verminderte Mobilität bei chronischem Whiplash-Syndrom im Vergleich zu asymptomatischen Individuen. Er beschreibt in einer
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weiteren Studie bei 21 traumatisch bedingten Kopf-/Halsverletzungen, dass auch ohne Dislokation des Dens’ Läsionen im Bereich der Ligamenta alaria in 20 Fällen nachgewiesen werden konnten. In 13 Fällen bestand gleichzeitig eine Läsion der Dura mater und der Membrana tectoria sowie in 1 Fall auch eine Läsion des Ligamentum transversum. Pfirrmann et al. [27] untersuchten 50 asymptomatische Freiwillige in einem 0,5 Tesla Gerät statisch. Er fand asymmetrische Signalintensitäten in der Mehrzahl der Fälle und schloss daraus, dass die klinische Relevanz von Signalerhöhungen bei Whiplash-Traumen sehr eingeschränkt sei. Es fand sich jedoch auch in seiner Studie, dass die Abgrenzbarkeit des Ligamentum alare nur in 80% als Folge eines inadäquaten Bildprotokolls gelang. Roy et al. [29] beschäftigten sich mit den Pitfalls des MRT bei der Identifikation des Ligamentum alare ebenfalls mit einem 0,5 Tesla Gerät. Die Untersuchung erfolgte in Neutralposition koronar sowie parakoronar in Protonenwichtung sowie axial in maximaler Rotationsstellung in T2 Wichtung. Die Ligamenta alaria wurden in erster Linie in der koronaren Schnittrichtung in den meisten Fällen dargestellt, jedoch fanden sich deutliche Unterschiede bei der Bewertung durch zwei Radiologen im Hinblick auf das Grading (0 – III). Die Schlussfolgerung war, dass die MRT-Bildgebung nicht das Verfahren der Wahl sein sollte, um subtile Verletzungen der Ligamenta alaria zu diagnostizieren. Friedburg [10, 11] untersuchte 51 Patienten mit HWS-Schleudertraumen. Es fanden sich bei 3 Patienten eine erhebliche Asymmetrie der Ligamenta alaria mit unterschiedlichen Kaliber und Seitendifferenz in der Signalgebung, die als Z. n. Teilruptur mit Einblutung eingestuft wurde. Umschriebene Hyperintensitäten sowie im Seitenvergleich nachweisbare Kaliberasymmetrie wurden als Ausdruck einer partiellen Ruptur bewertet. Signifikant häufiger kam in der pathologisch bewerteten Patientengruppe ein caudokranialer Verlauf der Ligamenta alaria vor. Dieser Bandverlauf ist möglicherweise als Prädisposition für eine Verletzung der Flügelbänder zu bewerten. Schilling et al. [32] kamen unter Berücksichtigung des im Laufe der letzten Jahre erfolgten technischen Fortschrittes zu dem Schluss, dass die MRT ein ausgezeichnetes Instrument für die Diagnostik von Whiplash-Veränderungen darstellt.
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Schröter et al. [33] haben ebenfalls den Wert der MRT bei der Untersuchung der Ligamenta alaria symptomatischer Patienten nach WiplashTrauma untersucht. In die Studie wurden 73 Patienten mit persistierenden Beschwerden nach Schleudertrauma sowie 20 Probanden in eine Kontrollgruppe aufgenommen. Die Untersuchung erfolgte mit Protonenwichtung, eine Schichtdicke von 2 mm axial koronar und sagittal. Bei 30% der Schleudertraumapatienten ergab die MRT-Untersuchung pathologisch bewertete Veränderungen der Ligamenta alaria. Eine Asymmetrie des Dens konnte allerdings nur in 1 Fall festgestellt werden. Die Veränderungen der Ligamenta alaria betrafen das seitendifferente Kaliber. Signifikant häufiger wurden Veränderungen an einem kaudokranialen Bandverlauf beobachtet, hyperintense Regionen in nur 1 Ligament, eine Asymmetrie des Kalibers wurde als Hinweis auf eine partielle Ruptur gewertet. Volle und Montazem [38] beschrieben Strukturdefekte der Ligamenta alaria mittels Funktionsuntersuchung an einem offenen Kernspintomographen mit 0,2 Tesla. Es wurden 95 Patienten untersucht und zwar in Rechts- und Linksneigung koronar sowie axial bei maximaler Rechts- und Linksrotation. Eine komplette Ruptur (Typ I) fand sich in 3%, eine intraligamentäre Faserruptur mit späterer narbiger Auftreibung in 11% sowie eine zentrale intraligamentäre Signalveränderung in 39%. Bei Vorliegen von Bandstrukturveränderungen konnte insbesondere bei der Rotation ein Abweichen des Dens mit daraus resultierender Instabilität in nahezu allen Fällen nachgewiesen werden. Die Ergebnisse dieser Studie wurden in erster Linie wegen des unzureichenden Bildprotokolls kontrovers diskutiert. Volle und Montazem [39] haben ein Video der Ligamenta alaria vorgestellt, das postmortal angefertigt wurde. Zunächst wurde gezeigt, dass, wenn beide Ligamenta alaria intakt sind, die Stabilität des Dens’, insbesondere bei der Rotation, gewährleistet ist. Die Funktion der Ligamenta alaria besteht einmal darin, eine Extension des Kopfes zu vermeiden, d. h. die Hinterhautschuppe kann bei intaktem Ligamentum alare nicht angehoben werden. Viel wichtiger allerdings ist die Funktion der limitierenden Drehbeweglichkeit. Eine Überdehnung der Ligamenta alaria führt zu einer Abstandsänderung zwischen C1 und C2 bei Seitenneigung, was insbesondere im Bereich der Facettengelenke erkennbar wird. Nach Durchtrennung des Liga-
mentum alare rechts wird sofort erkennbar, dass die Drehbeweglichkeit von C1 gegenüber C2 auf der kontralateralen Seite deutlich zunimmt. Die Extension des Kopfes weist darüber hinaus eine erhebliche Zunahme des Abstandes zwischen C1 und C2 auf, die Seitenneigung ließ außerdem eine vermehrte Beweglichkeit insbesondere in den Gelenken C0/C1 erkennen. Werden beide Ligamenta alaria durchtrennt, so findet sich eine ungehinderte Bewegungszunahme zwischen C0 und C1 sowie auch zwischen C1 und C2 im Sinne einer vermehrten Drehbeweglichkeit. Hierbei kann es bei bestimmten Bewegungen sogar zu einer Luxation zwischen dem 1. und 2. Halswirbel kommen. Krakenes/Kaale [17] verdienen mit ihrer im Oktober 2006 publizierten Studie besondere Beachtung. Es wurden 92 schleudertraumaverletzte Personen untersucht, die eine frontale oder auch eine Heckkollision erlitten hatten, wobei zwischen dem Trauma und der Untersuchung 2–9 Jahre lagen. Alle Patienten wiesen erhebliche posttraumatische Beschwerden auf. Als Kontrollgruppe wurden 30 asymptomatische freiwillige Personen untersucht, die keinerlei Verletzungen erlitten hatten. Die Schleudertraumagruppe und die Kontrollgruppe wurden zur Randomisierung gemixt und die Signalintensität innerhalb der Ligamente durch 3 erfahrene Radiologen ohne klinische Kenntnis zweimal innerhalb eines dreimonatigen Abstandes in Graden eingeteilt, festgelegt. Für die Ligamenta alaria basierte das Grading auf der Beurteilung des axialen Querschnittes auf den sagittalen Schnitten und zwar auf dem Verhältnis zwischen jedem hohen Signalanteil und dem gesamten Areal auf den sagittalen Schnitten. Eine Bewertung erfolgte dann, wenn die Läsion auch auf koronaren Schnitten zusätzlich dargestellt werden konnte. Des Weiteren erfolgte eine Beurteilung evtl. Läsionen der Membrana tectoria, der Membrana atlantookzipitale posterior ebenfalls auf sagittalen Schnitten durch 3 Radiologen zu zwei unterschiedlichen Zeiten. Es fand sich eine gute Übereinstimmung zwischen den Observern für die Membrana atlantookzipitale posterior sowie auch für die Ligamenta alaria. Hochgradige signifikante Veränderungen (Grad II–III) fanden sich nur in der Schleudertraumagruppe verglichen mit der Kontrollgruppe für alle untersuchten Strukturen. Grad III Veränderungen ließen sich in der Kontrollgruppe nicht nachweisen, jedoch wurden 2 Ligamenta alaria in der Kontrollgruppe als Grad
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II Läsion eingestuft. Bei diesen fand sich eine intermediäre Signalintensität. Es wurde dann der Versuch unternommen, eine Korrelation zwischen den MRT-Befunden und der Kopfposition während des Unfalls herzustellen. 45 der 92 Schleudertraumapatienten hatten während des Unfalls eine Neutralposition, 47% wiesen eine Rotationsposition des Kopfes im Augenblick des Unfalls auf. Hochgradige Läsionen (Grad II und III) fanden sich signifikant häufiger bei Patienten, die eine Rotationsposition eingenommen hatten (85%) als bei denen in Neutralposition (46%). Davon hatten 61% eine Grad II Veränderung, während nur 4,4% Grad III Veränderungen in der Gruppe der neutralen Kopfposition aufwiesen. Die Assoziation zwischen der rotierten Kopfposition und den Highgrade-Läsionen wurde noch deutlicher, wenn der Auffahrunfall von hinten im Vergleich zur Frontalkollision erfolgte (94% versus 32%). Es wurde ferner untersucht, inwieweit die Art des Anpralls (Frontal- oder Heckanprall) einen Einfluss auf die Verletzung des Ligamentum transversum hat. Die Läsion des Ligamentum transversum war bei Frontalanprall signifikant häufiger als bei Heckkollisionen (61% versus 10,5%). Dies galt in gleicher Weise für die Verletzung der Membrana atlantookzipitale posterior. Des Weiteren konnte eine Korrelation zwischen dem Ausmaß des MRT-Befundes und dem klinischen Behinderungsgrad festgestellt werden: Von den 92 Schleudertrauma-Verletzten und den 30 Kontrollpatienten wurde der ScoreIndex für den Einschränkungsgrad, der die Aktivität des täglichen Lebens wiedergab, bestimmt, wobei der Score in 10 einzelne Grade unterteilt wurde. Dieser Score betraf sowohl die lokalen Schmerzen als auch die Schwierigkeit, bestimmte Aktivitäten auszuüben. In der Schleudertraumagruppe stieg der NDE-Score signifikant mit zunehmendem Grading für das Ligamentum alare an. Die gleiche Tendenz wurde auch für das Ligamentum transversum gefunden. Es fand sich darüber hinaus ein hochsignifikanter Anstieg des NDE-Scores bei höhergradigen Läsionen (Grad III). Diese ausgezeichnete Studie, die als statische Untersuchung durchgeführt wurde, lässt die Diskussion erneut entflammen, ob Funktionsuntersuchungen für die Darstellung und Beurteilung der Ligamenta alaria überhaupt erforderlich sind. Wir sind der Meinung, dass die Überprüfung der Funktion ein wesentlicher Bestandteil der
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Untersuchung insbesondere des zervikookzipitalen Überganges bleiben wird. Sie ist deshalb unverzichtbar, weil nur sie die Diagnose einer Densinstabilität oder auch eine Instabilität im Bereich der Wirbelgelenke erlaubt. So ist z. B. bei einer Überdehnung der Ligamenta alaria, die bei Unfällen häufig vorkommen kann, die Abstandsänderung zwischen C1 und C2 erheblich größer als bei intakten Ligamenta alaria, auch die Seitenneigung weist eine größere Überlappung und eine größere Abstandsänderung des Facettengelenkes zwischen C1 und C2 auf. Diese vermehrte Beweglichkeit kann neben erheblichen Kopfschmerzen auch zervikoenzephale Symptome verursachen. Eine einseitige Überdehnung des Ligamentum alare kann in der Folgezeit zu einer kolbigen Auftreibung dieses Bandes führen mit der Folge eines narbigen Strukturdefektes. Eine Verletzung des Ligamentum transversum führt zu einer Instabilität des Dens in ventrodorsaler Richtung. Wichtig ist auch, daran festzuhalten, dass eine Instabilität des atlantookzipitalen Komplexes nur dann diagnostiziert werden darf, wenn gleichzeitig eine pathologische Beweglichkeit des Dens oder der atlantookzipitalen Gelenke vorliegt und nachgewiesen werden kann. Eine reine Läsion des Dens Related Komplexes, z. B. als Folge einer Dens-Kontusion mit umschriebener Einblutung in den Bereich der Densspitze oder mit Ausbildung einer chronischen Bursitis im Bereich der paradentalen Schleimbeutel geht nur dann mit einer Dens-Instabilität einher, wenn gleichzeitig eine Läsion des Ligamentum transversum oder der Ligamenta alaria vorliegt. Diese Instabilität kann nur durch Funktionsaufnahmen bewiesen werden und zwar durch den Nachweis der Abweichung des Dens aus der Mittellinie und durch die Vergrößerung des Abstandes zwischen Dens und Atlas sowie durch eine pathologische Rotationsbeweglichkeit des Kopfes. Die Funktionsuntersuchung der Halswirbelsäule stellt daher nicht nur eine wertvolle Ergänzung zur statischen Untersuchung dar, sondern ist aus den o. g. Gründen unverzichtbar. Ferner darf differentialdiagnostisch nicht außer Acht gelassen werden, dass die wichtigste Komplikation der primär chronischen Polyarthritis im Bereich der Wirbelsäule eine Manifestation im Bereich des Dens und des densrelated-Komplexes darstellt. Hierbei kommt es zunächst zu einer Synovitis im Bereich der Bursae und der Dens-Gelenke und im weiteren Verlauf zu einer Pannusbildung, die nicht nur die
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knöchernen Strukturen des Dens, sondern auch die umgebenden Ligamente zerstört mit der Folge einer Dens-Instabilität. Es ist daher absolut notwendig, bei Vorliegen von pathologischen Veränderungen im Bereich des Dens posttraumatisch eine PCP auszuschließen. Wir haben dann, basierend auf den Ergebnissen wichtiger Studien und basierend auch auf eigene Erfahrungen von insgesamt mehr als 200 Untersuchungen von Schleudertrauma-Patienten, ein eigenes Untersuchungsprotokoll erarbeitet, das speziell auf die Verhältnisse des Upright Kernspintomographen abgestimmt wurde und daher lediglich als Empfehlung bei Einsatz anderer MRT-Geräte angesehen werden kann. Dieses Untersuchungsprotokoll erfüllt die in einer Reihe von Studien geforderten Untersuchungskriterien im Hinblick auf die Schichtdicke, Bildauflösung und Field of View, es kann im Hinblick auf die angegebenen Sequenzen und Schichtrichtungen trotzdem nur orientierende Hinweise geben, weil die Voraussetzungen insbesondere im Tunnelgerät und bei stärkeren Magnetfeldern sicherlich unterschiedlich sind. Ergänzend haben wir zu den üblichen noch einige zusätzliche Sequenzen routinemäßig durchgeführt, weil wir diese aus bestimmten noch aufzuführenden Gründen für sinnvoll und notwendig halten (z. B. Fettsuppression). Wir möchten ferner noch auf einen wichtigen Umstand hinweisen: Leider besteht bisher in der Mehrzahl der Fälle zwischen dem Unfall mit HWS-Schleudertrauma und dem Untersuchungsdatum ein sehr langer Zeitraum. Aus diesen Gründen ist dann bei der Interpretation der Befunde Zurückhaltung geboten, weil mehrere Jahre nach einem Unfall Reparationsvorgänge das ursprüngliche Ausmaß der Verletzung nicht mehr wiedergeben. Daher ist als wichtigster Punkt zu fordern, Untersuchungen der Halswirbelsäule bei Whiplash-Patienten möglichst innerhalb der ersten 4 Wochen mittels Funktionskernspintomographie durchführen zu lassen. Wir selbst haben bei 2 Patienten, die innerhalb von 24–48 Stunden nach dem Unfall untersucht wurden, erstmalig auch akute Blutungen sowohl im Bereich der Wirbelgelenke als auch insbesondere im Bereich des Dens’ nachweisen können, als wertvolles Kriterium für das Ausmaß der Verletzung. Eigenes Bildprotokoll für die MRT-Funktionsuntersuchung bei Z. n. HWS-Schleudertrauma kraniozervikaler Übergang:
Neutralposition: ] Koronar: Neutralstellung, SE T1 gew. parakoronar re. und li., GRE T2* gew., fettsupprimiert koronar, SE T1 gew. li. und re. geneigt ] Sagittal: FSE protonengew. in Neutralstellung, FSE protonengew. in Hyperextensionsstellung, FSE protonengew. in Flexionsstellung ] Axial: FSE T2 gew. in Neutralstellung, FSE T2 gew. in endständiger Links- und Rechtsrotation ] Bei Bedarf Kontrastmittelgabe, z. B. bei dem V. a. Myelonkontusion, dann GRE T1 gew. sagittal ] Für alle Sequenzen: Schichtdicke 2 mm, Field of View 15 ´ 15 xm, Matrix 256 ´ 256 Der zeitliche Aufwand für diese Untersuchung betrug ca. 75 Minuten. Es wurde eine Kopfspule, für die Funktionsuntersuchung eine spezielle Halsspule verwendet. Die hier zur Anwendung kommenden Schichtebenen und unterschiedlichen Sequenzen erfolgten aus folgenden Gründen: In der Neutralebene war eine gute Übersichtlichkeit, insbesondere des Dens in den verschiedenen Schichtebenen gegeben, wobei insbesondere die Inspektion der Densspitze und der Umgebung im Vordergrund steht. War der Zeitraum zwischen dem Trauma und dem Untersuchungsdatum kürzer als 5 Wochen, wurde speziell auch sorgfältig auf evtl. Einblutungen geachtet und zwar nicht nur im Bereich der Densspitze sondern auch im Bereich der Gelenkkapsel zwischen C0 C1 und C1 C2. Der endgültige Beweis eines derartigen Befundes erfolgte dann durch eine T2 gewichtete Fettsuppression in koronarer Schichtrichtung evtl. auch KM-Gabe. Des Weiteren eignen sich protonengewichtete Bilder in sagittaler Schnittrichtung ausgezeichnet für die axiale Darstellung der Ligamenta alaria (Krakenes), wenn die Schichten über die Wirbelsäule hinaus etwa 0,5 cm jeweils nach lateral fortgesetzt werden. Im Hinblick auf das unterschiedliche Ausmaß einer Verletzung der Ligamenta alaria gingen wir von den gleichen Grad-Kriterien aus, die Krakenes in seiner Studie vorgegeben hat. Ferner erwies sich die parakoronare Schnittrichtung entlang des Bandverlaufes für die Darstellung der Ligamenta alaria als deutlich günstiger als die rein koronare Schnittebene. Wir benutzten diese Schnittrichtung daher als ideale Ergänzung zur Darstellung der Ligamenta alaria in der sagittalen Schnitt-
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richtung. Mit den seitlich li. und re. geneigten koronaren Schnittrichtungn kann ein pathologisches Abweichen des Dens aus der Mittellinie jeweils auf die kontralaterale Seite gut dargestellt werden. Die axiale Schnittrichtung in endständiger Rotationsposition eignet sich in erster Linie für die Darstellung des Ligamentum transversum und für die Überprüfung der Position des Myelons in Beziehung zum Ligamentum transversum. Gelegentlich war auch das Ligamentum alare in dieser Ebene gut differenzierbar. Auch in dieser Ebene wurde die Densspitze einer besonderen Betrachtung unterzogen und bei Vorhandensein einer haubenförmigen Verdichtung eine Abklärung und Differenzierung durch eine fettsupprimierte Aufnahme erreicht. Die Flexions- und Hyperextensionsaufnahmen in sagittaler Schnittrichtung eignen sich neben dem möglichen Nachweis einer Densabweichung in dorsoventraler Richtung ebenfalls für die Beurteilung eines evtl. Aufbrauchs des subarachnoidalen Raumes zwischen Myelon und Ligamentum transversum. Ist dieser Raum praktisch vollständig aufgebraucht, d. h. besteht ein direkter Kontakt des Myelons zum Ligamentum transversum, stellt dies eine wichtige Voraussetzung für das Auftreten einer Myelonkontusion während eines Schleudertraumas dar. In diesem Fall wurde neben einer T1 gew. ergänzenden sagittalen Schnittrichtung auch Kontrastmittel dann verabreicht, wenn der Zeitraum zwischen dem Schleudertrauma und dem Untersuchungsdatum nicht länger als 5 Wochen betrug. Hierbei konnte in 2 Fällen der Beweis einer posttraumatischen Myelopathie durch den Nachweis einer umschriebenen Signalanhebung in der T2-Wichtung und nach KM-Gabe in der T1-Wichtung erbracht werden. Die Gelenkformationen zwischen C0 und C1 sowie zwischen C1 und C2 wurden in erster Linie in der koronaren Schnittebene, aber auch in der sagittalen Schnittebene sorgfältig inspiziert und beurteilt. Eine mögliche Abstandsvergrößerung des dorsalen Anteils der Gelenke zwischen C0 und C1 erfolgte in der sagittalen Flexionsposition. Diese Verbreiterung des Gelenkspaltes ist bekanntlich ein indirekter Hinweis auf das Vorliegen einer Läsion des Ligamentum alare. In einer 2. Sitzung erfolgte dann die kernspintomographische Funktionsuntersuchung der übrigen Halswirbelsäule mit folgendem Ablauf: ] Se T1 gew. sagittal ] FSE T2 gew. sagittal
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] FSE T2 gew. sagittal in Hyperextensionsposition ] FSE T2 gew. sagittal in Hyperflexionsposition ] FSE T2 gew. parasagittal zur Darstellung der Neuroforamina bds. ] GRE T2* gew. 3D axial bandscheibenparallel von C3–D1 Im Vordergrund der diagnostischen Bemühungen stand dabei die Inspektion des vorderen und hinteren Längsbandes, der Ausschluss einer möglichen Spondylolisthesis und die Beurteilung der Wirbelgelenke im Hinblick auf mögliche Kapselläsionen und Irritationen. Des Weiteren stand im Mittelpunkt der Diagnostik der Versuch einer Abgrenzung möglicher degenerativer Veränderungen, die bereits prätraumatisch bestanden haben, zu den bestehenden posttraumatischen Läsionen. Hierbei gilt ebenso wie für den zervikookzipitalen Übergang, dass diese Abgrenzung mit zunehmenden zeitlichen Abstand zum Trauma immer schwieriger wird. Die statistische Auswertung und Analyse der Ergebnisse, insbesondere in Korrelation mit der klinischen Symptomatik ist einer in Kürze zur Veröffentlichung anstehenden Publikation vorbehalten.
Zusammenfassung Wie aus einer Vielzahl aus Publikationen ersichtlich und durch eigene Untersuchungsergebnisse gestützt stellt bei richtiger Anwendung die Kernspintomographie als statische und als Funktionsuntersuchung einen wertvollen und inzwischen unverzichtbaren Teil als Ergänzung der klinischen Diagnostik dar. Da die Ursache eines Großteils der Beschwerden im Bereiche des zervikookzipitalen Übergangs gesucht werden muss und als Störung und Unterbrechung der in diesem Bereich lokalisierten Neurorezeptoren anzusehen ist, ist insbesondere eine sorgfältige Bildanalyse dieser Region erforderlich. Wichtig ist jedoch nach wie vor, dass die evtl. gefundenen Läsionen in diesem Bereich sorgfältig in einen sinnvollen Kontext mit dem Beschwerdebild, mit der Anamnese und mit den übrigen klinischen Befunden zu bringen ist. Nur auf diese Weise ist es möglich, die Beschwerden mit großer Wahrscheinlichkeit dem Unfallgeschehen zuzuordnen oder nicht.
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Die Tatsache, dass auch heute noch gutachterlich auch von sog. Kapazitäten bestimmte Beschwerden, die auf ein zervikoenzephales Syndrom hinweisen, trotz eindeutiger bildmorphologischer Veränderungen zunächst negiert werden und diverse andere unfallunabhängige Gründe für das bestehende Beschwerdebild gesucht werden, ist nach dem heutigen Wissensstand nicht mehr vertretbar.
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Kernspintomographische Funktionsdiagnostik bei HWS-Schleudertrauma
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23 Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas * Neue Aspekte der funktionellen Bildgebung A. Otte
Zusammenfassung Patienten mit andauernden Symptomen nach einer Schleudertraumaverletzung (dem so genannten Late-Whiplash-Syndrom) werden oft alleine gelassen. Ihre Beschwerden beschränken sich jedoch nicht nur auf neuropathische Schmerzen in der Kopf- und Nackenregion, sondern manche Symptome gehen vom Gehirn aus. Zu diesen Gehirn-Symptomen gehören Schwindel, Benommenheit, Tinnitus, Störungen der Konzentration, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. Auch Augensymptome wie Flimmersehen oder Verschwommensehen können auftreten. Die Schleudertrauma-Verletzung ist häufig, obwohl nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten ein chronisches Schleudertrauma-Syndrom entwickelt. Das Vorkommen von Schleudertrauma-Verletzungen in den industrialisierten Ländern wird auf 3,8 Fälle per 1000 Einwohner pro Jahr geschätzt. Auffahrunfälle sind die häufigste Ursache von Schleudertraumaverletzungen, und nur geringe Geschwindigkeiten von 10–20 km pro Stunde sind notwendig, um große Beschleunigungskräfte auf den Kopf auszuüben. Die für gewöhnlich angewendeten Methoden zur Diagnose des Schleudertraumas, wie die neurologische Untersuchung oder das Röntgen der Halswirbelsäule lassen leider außer Acht, dass das Gehirn (zusätzlich zur Halswirbelsäule) durch ein Beschleunigungstrauma verletzt werden kann. Deshalb sind Forschungsmethoden notwendig, die den Zustand des Gehirns objektiv wiedergeben. Die üblichen bildgebenden Verfahren wie Computertomographie oder die Kernspintomographie des Gehirns können nur die morphologischen Strukturen, nicht aber die etwaigen funktionellen Veränderungen des Ge-
* Für die Übersetzung des Beitrags danken wir Frau Helga Roth
hirns, die das Schleudertraumasyndrom ausgelöst haben, sichtbar machen. Im Gegensatz dazu bieten die relativ neuen Methoden der Nuklearmedizin gegenwärtig die einzige Möglichkeit, solche funktionellen Veränderungen bildlich zu erfassen. Bei Patienten, die unter den chronifizierten Folgen einer Schleudertraumaverletzung leiden, findet man eine statistisch signifikante metabolische Reduktion der parietookzipitalen Region des Gehirns. Dies wurde in verschiedenen Studien an über 500 Patienten bestätigt, deren zerebrale Durchblutung sowohl mit der Single-PhotonenEmissions-Computertomographie (SPECT) als auch mit der Fluorodeoxyglukose (FDG) Positronenemissionstomographie (PET) untersucht wurde. In einzelnen Fällen zeigten Patienten auch Regionen mit vermindertem Metabolismus, der nicht im parietookzipitalen Gebiet lag. Statistisch signifikante Gruppenunterschiede zwischen diesen Patienten und einer gesunden Kontrollgruppe konnten allerdings nicht festgestellt werden. In einer weiteren Studie einer Forschungsgruppe aus Zürich wurden andere Ergebnisse gefunden. Diese Ergebnisse scheinen jedoch zweifelhafter Natur zu sein. Parietookzipitale Auffälligkeiten können auch bei anderen Krankheiten festgestellt werden, bei denen das Gehirn betroffen ist, z. B. beim systemischen Lupus erythematodes, bei M. Alzheimer oder bei Migräne. Diese anderen Erkrankungen können leicht durch gezielte klinische und neurologische Untersuchungen ausgeschlossen werden. Es gibt auch Erkrankungen, die ein ähnliches klinisches Erscheinungsbild wie das Late-WhiplashSyndrom zeigen, z. B. die primäre Depression. Bei diesen Erkrankungen ist jedoch die parietookzipitale Region nicht betroffen. Wegen der noch andauernden medizinischrechtlichen Diskussion auf diesem Gebiet ist eine kritische Haltung gegenüber der Interpretation dieser neuen Forschungsdaten von SPECT und PET von großer Bedeutung. Alle
23
auf diesem Gebiet behandelnden Ärzte sollten mit diesen diagnostischen Möglichkeiten vertraut sein.
Einführung Das Halswirbelsäulen-Schleudertrauma (HWSSchleudertrauma) und seine Folgen sind ein anhaltend kontroverses medizinisches und versicherungstechnisches Problem. Die fortbestehende Unklarheit über das Vorhandensein und Ausmaß dieser Verletzung führt vielfach zu Verunsicherung nicht nur bei den betroffenen Unfallopfern, sondern auch bei betreuenden Ärzten, Rechtsanwälten, Richtern und Versicherungen. Definitionsgemäß darf nämlich mit einem HWS-Schleudertrauma kein Kopfanprall verbunden sein. Seit Einzug der Kopfstütze in das moderne Automobil trifft dies jedoch in den meisten Fällen nicht mehr zu. So können Aufprallkräfte, die nicht unbedingt Spuren hinterlassen müssen, zu sogenannten Hirnverletzungen führen. Selbst bei einem reinen Schleudermechanismus ohne Kopfanprall kann es zu direkten zerebralen Verletzungen kommen, wie Ommaya et al. (1968) im Affenexperiment gezeigt haben. Bei allen Verletzungsgraden eines HWSSchleudertraumas durch Beschleunigungsmechanismus kann es zusätzlich zu peripheren Symptomen wie Nackenschmerzen und Nackensteifigkeit zum Auftreten von zentralen, d. h. zerebralen Beschwerden kommen. Diese zerebralen Beschwerden bestehen in Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, Gehörstörungen, Ohrgeräuschen (Tinnitus), Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Schluckstörungen und temporomandibulären Dysfunktionen, wie dies die Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders (Spitzer et al. 1995) zusammengestellt hat. Nicht selten bestehen auch Augensymptome wie Flimmersehen oder Verschwommensehen. Sowohl die peripheren wie auch die zentralen Symptome treten typischerweise mit einer charakteristischen Latenz von 0–72 Stunden auf. Gerade die zerebralen Zusatzsymptome sind es, die bei einer Chronifizierung der Erkrankung maßgeblich sind und bei der Kausalitätsbeurteilung Kontroversen auslösen. Insbesondere das häufige Fehlen objektiver Parameter beim HWSSchleudertrauma macht dieses zu einem Problem.
Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas
]
In dieser Situation sind Methoden willkommen, die den objektiven Zustand des Gehirns erfassen. Aufgrund der Brisanz der Thematik, vermutlich aber auch aus „politischen“ Gründen, wurden und werden solche Methoden jedoch immer noch abgelehnt. Das HWS-Schleudertrauma ist vielerorts anzutreffen: Es kann bei Unfällen im Verkehr, beim Sport und bei der Arbeit entstehen. Es muss nicht an einen Pkw-Unfall mit Heckauffahrmechanismus gebunden sein, wenngleich Heckauffahrunfälle die häufigste Ursache für das Schleudertrauma darstellen. Entscheidend ist nur der Unfallmechanismus, nämlich das Vorhandensein einer HWS-Distorsion mit oder ohne zerebrale Beteiligung, d. h. das Auftreten eines typischen Peitschenhiebmechanismus, wie wir ihn in Abbildung 23.1 vorstellen. Nach der Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders (Spitzer et al. 1995) chronifizieren nur etwa 5% der Unfallopfer, die ein HWS-Schleudertrauma erlitten haben, d. h., 95% zeigen keine Langzeitsymptome im Sinne von Beschwerden, die über ein Jahr nach dem Unfall persistieren. Die Inzidenz des HWS-Schleudertraumas in den industrialisierten Ländern wird von Schmid (1999) auf bis zu 3,8 Fälle pro 1000 Einwohner pro Jahr geschätzt. Evans schreibt bereits 1992, dass in den USA pro Jahr mehr als eine Million Schleudertrauma-Fälle auftreten. Eine vorsichtige Schätzung des Generalverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft in München (1998) geht beim HWS-Schleudertrauma von jährlich etwa 0,5–1 Milliarde Euro Folgekosten in Deutschland aus. Innerhalb der Europäischen Union werden die Kosten auf jähr-
Abb. 23.1. Bild eines typischen Peitschenhiebmechanismus beim HWS-Schleudertrauma, z. B. durch Heckauffahrunfall. Bei plötzlicher Beschleunigung des fixierten Rumpfes wird der nicht fixierte Kopf – der Trägheit folgend – zunächst nach hinten und dann nach vorn geschleudert. Dabei kann das im Schädel enthaltene Gehirn durch Aufprall auf die Knochenwand ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden.
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A. Otte
lich rund 10 Milliarden Euro geschätzt. Dabei besteht der größte Anteil dieser Kosten im Ersatz des ausfallenden regulären Einkommens.
Diagnostik Die üblichen Methoden des diagnostischen Wegs beim HWS-Schleudertrauma sind in Abbildung 23.2 aufgelistet. Leider sind Methoden häufig nicht berücksichtigt, die den Zustand des Gehirns erfassen. Dies sind: ] die morphologischen bildgebenden Verfahren Computertomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns. Hier lassen sich beim HWS-Schleudertrauma in der Regel keine pathologischen Befunde feststellen ] die Neuropsychologie ] die funktionellen bildgebenden Verfahren. Sie sind recht empfindliche Messinstrumente, die gerade beim HWS-Schleudertrauma neue Wege aufzeigen.
Feststellung des Unfallhergangs
Klinische Untersuchung
Neurologischer Status
„Einfaches” HWS-Schleudertrauma Verdacht auf HWS-Distorsion
Röntgen: HWS (ap/seitlich), evtl. zusätzliche Schrägaufnahmen, Zielaufnahmen (z.B. Dens)
Ohne Befund
Frakturverdacht
CT der HWS zur Beurteilung des Wirbelkanals bei neurologischem Defizit
Abb. 23.2. Üblicher diagnostischer Weg beim HWS-Schleudertrauma. Bildgebende Methoden zum Zustand des Gehirns werden hierbei – leider – nicht berücksichtigt. (Stark modifiziert nach Schmid 1999 und Jörg u. Menger 1998; mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags.)
Insbesondere sind funktionelle bildgebende Verfahren wertvoll, welche die Single-PhotonenEmissions-Computertomographie (SPECT) oder die Positronen-Emissions-Tomograpie (PET) in Kombination mit stereotaktischen Hirnatlanten (z. B. Talairach und Tournoux 1988, 1993) und das statistische parametrische Mapping (SPM), entwickelt von Friston et al. (1991, 1995 a, b), verwenden. Darüber hinaus könnten in diesem Anwendungsbereich die funktionelle Kernspintomographie oder die Magnetresonanzspektroskopie in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Aktueller Stand der Forschung ] Milde traumatische Hirnverletzung Zur Thematik der milden traumatischen Hirnverletzung gibt es eine stattliche Anzahl an Arbeiten. Viele dieser Arbeiten dokumentieren, dass bei milden traumatischen Hirnverletzungen die bildgebenden Verfahren SPECT und PET den morphologisch orientierten Verfahren, wie etwa der CT oder der MRT überlegen sind, da SPECT und PET auch funktionelle Veränderungen der Hirnregionen abbilden können. Oft sind diese funktionellen Läsionen größer und zahlreicher als jene, die mittels CT-Befunden objektiviert werden konnten. Jacobs et al. (1994) gingen in einer Studie der Frage nach, ob die oben beschriebene Überlegenheit der funktionellen gegenüber der morphologischen Bildgebung auch relevant sei. Diese Forschergruppe fand, dass die PerfusionsSPECT einen hohen negativen Vorhersagewert für den klinischen Outcome hat. Es zeigte sich, dass bei einem initial negativen SPECT-Befund 97% der Patienten drei Monate nach einer milden bis moderaten Hirnschädigung keine klinischen Symptome mehr aufwiesen. Diese Ergebnisse sind sehr wichtig im Hinblick auf eine Rehabilitation und für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Patienten. In der Arbeit von Ichise et al. (1994) wurden bei Patienten mit chronischen Beschwerden nach Schädel-Hirn-Trauma die PerfusionsSPECT-Befunde mit denen einer neuropsychologischen Untersuchung verglichen. Dabei korrelierte das Vorhandensein eines pathologischen
23
SPECT-Befundes mit einer Reihe von neuropsychologischen Tests. Im Speziellen wurde herausgefunden, dass durch die Bestimmung des Verhältnisses der Aktivität von anteriorer zu posteriorer Gehirndurchblutung der Grad der morphologischen Defizite vorhergesagt werden kann. Im Gegensatz dazu korrelierte die Ventrikel-zu-Kortex-Ratio nur schwach mit den neuropsychologischen Tests. Im Gegensatz zu der Arbeit von Ichise et al. zeigte eine Studie von Goldenberg et al. (1992) eine weitaus schlechtere Korrelation von SPECT mit der Neuropsychologie. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass eine normale SPECT- oder PET-Untersuchung eine leichte traumatische Hirnschädigung nicht ausschließt, da mit diesen Methoden eine diffuse axonale Schädigung nicht dargestellt werden kann.
] HWS-Schleudertrauma Es gibt weniger Studien zu SchleudertraumaVerletzungen und zu deren Langzeitfolgen verglichen mit der Literatur über milde traumatische Gehirnverletzungen, obschon sie in den
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con pat
1,35 1,30 1,25 PI
1,20 1,15 1,10 1,05 1,00 0,95
par. occ. L glob
par. occ. R glob
par. occ. RL glob
Abb. 23.3. Perfusionsindizes, ermittelt durch PerfusionsSPECT (99mTc-ECD) und Region-of-Interest-Technik in der parietookzipitalen Region, bezogen auf die globale Perfusion in Höhe der Basalganglien. Verglichen wurden 10 Patienten mit chronischen Beschwerden nach HWS-Schleudertrauma mit 11 Kontrollen. Par.occ. L_glob ist der Perfusionsindex für parietookzipital bezogen auf global für die linke Seite, par.occ. R_glob für die rechte Seite und par.occ. LR_glob für das Mittel aus beiden Seiten; con steht für Kontrollgruppe, pat für Patientengruppe. Die Untersuchung ergab statistisch signifikante Unterschiede zwischen der Patienten- und der Kontrollgruppe. (Nach Otte et al. 1996; mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlages.)
Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas
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letzten paar Jahren stetig zunahmen. Nichtsdestoweniger gibt es mittlerweile bedauerlicherweise auch eine zunehmende Zahl von vermeintlich neuen Forschungsarbeiten, die das HWS-Schleudertrauma und seine Langzeitfolgen negieren. Diese Arbeiten sind es, die die Thematik polarisieren und unseres Erachtens die Fronten auf beiden Seiten verhärten. Insbesondere aber PET- oder SPECT-Daten zu zerebralen Symptomen nach HWS-Schleudertrauma durch Beschleunigungsmechanismus sind weiterhin selten und derzeit nur von einigen wenigen Forschungsgruppen erhältlich. Während der letzten Jahre haben Otte et al. (Otte 1998, 1999, 2000, 2001; Otte und MuellerBrand 1997; Otte et al. 1995, 1996, 1997, 1998) verschiedene Studien mit SPECT und PET bei Anwendungen mit verschiedenen Tracern durchgeführt (99mTc-HMPAO, 99mTc-ECD und 18 F-FDG). Für diese Studien wurden über 500 Patienten, die am Late-Whiplash-Syndrom litten, in Ruhestellung untersucht. Bei vielen dieser Patienten wurde, verglichen mit der gesamten Kontrollgruppe, eine statistisch signifikante relative Verringerung des Markers in der parietookzipitalen Region festgestellt, die meist beide Seiten betraf. Dabei konnte der Nachweis des parietookzipitalen (= seitliche Hinterhauptregion) Befundes an verschiedenen SPECT-Kamerasystemen (Doppelkopf-, Dreikopfkamera), mit verschiedenen Filtersystemen und auch mit verschiedenen Perfusionstracern (HMPAO, ECD) bestätigt werden. Die mittels der SPECT nachgewiesene parietookzipitale Durchblutungsverminderung konnte sowohl visuell als auch semiquantitativ, aber auch mit Hilfe des beobachterunabhängigen SPM-Verfahrens nachgewiesen werden (Otte 1998, 1999, 2000, 2001; Otte und Mueller Brand 1997; Otte et al. 1995, 1996, 1997, 1998). Bei einem Teil der Patienten fanden sich zusätzlich umschriebene frontal und/oder temporal lokalisierte Zonen mit verminderter Traceraufnahme. Diese Veränderungen waren jedoch nicht gruppenspezifisch signifikant. Das bedeutet, dass die Gruppe der Schleudertraumapatienten gegenüber einer Normalgruppe nicht das gemeinsame Merkmal einer Perfusionsverminderung in einer frontalen oder temporalen Region hatte, jedoch ein einzelner Patient im Vergleich zu der Normalgruppe durchaus statistisch signifikante Perfusionsverminderungen in diesen nicht-parietookzipitalen Regionen aufweisen konnte.
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A. Otte
Abb. 23.4. HWS-Schleudertrauma, Beispiel 1: Oben: gesunde Vergleichsperson; unten: Schleudertrauma-Patient mit seit 2 Jahren anhaltenden Symptomen. Repräsentative transversale Schnitte einer Hirnperfusions-SPECT. Eine reduzierte Perfusion kann auf beiden Seiten der parietookzipitalen Region gesehen werden (siehe Pfeile). (Adaptiert nach Otte et al. (1997), mit freundlicher Genehmigung des WB Saunders und des Springer Verlages.)
In den Abbildungen 23.4 und 23.5 sind einige Fallbeispiele zur funktionellen Bildgebung beim HWS-Schleudertrauma mit ausführlichen Erläuterungen dargestellt. In einer Studie aus dem Jahr 1997 wurden unter Verwendung von Perfusions-SPECT (Tracer: 99mTc-ECD) und Glukosemetabolismus-PET (Tracer: 18F-FDG) HWS-Schleudertrauma-Patienten zusammen mit einer Gruppe von normalen Kontrollen doppelt untersucht. Es wurden standardisierte elliptische Regions-of-Interest in mehreren Talairach-normierten transversalen
Schichten in verschiedenen Hirnregionen bestimmt und auf die Perfusion bzw. Glukoseutilisation in Höhe der Basalganglien normiert. Bei beiden Bewertungen wurde eine statistisch signifikante und an gleicher Stelle, d. h. sowohl im Perfusions-SPECT als auch im FDGPET vorhandene Verringerung von Perfusion oder Stoffwechsel in der parietookzipitalen Region auf beiden Gehirnseiten gefunden. Diese Verringerung war gruppenspezifisch. Im Einzelfall traten auch andere umschriebene Regionen signifikant verminderter Perfusion bzw. verminderten Stoffwechsels auf, wie frontal, parietal, temporal oder im Hirnstamm. Allerdings gab es in diesen anderen Regionen keine statistisch signifikanten Gruppenunterschiede. Es wurde bislang von der Arbeitsgruppe angenommen, dass der beschriebene Hypometabolismus (= Minderdurchblutung) durch Aktivierung nozizeptiver Afferenzen (aufsteigender Schmerzbahnen) aus der oberen HWS verursacht werden kann. Die Hypothese beruht auf einer Arbeit von Moskowitz et al. (1991). Seit dieser ist bekannt, dass die Reizung nozizeptiver Afferenzen der Projektionen des N. trigeminus zu verschiedenen Effekten auf lokale vasoaktive Peptide und das kranielle Gefäßsystem führt. Dass dabei das hintere Gefäßgebiet, insbesondere das Gebiet der „letzten Wiese“ zwischen A. cerebri media und A. cerebri posterior (das ist vornehmlich die parietookzipitale Region) hauptsächlich betroffen ist, lässt sich dadurch erklären, dass dieses Gebiet als vulnerabelste Region des Gehirns gilt (Graham und Brierly 1984; Otte 2000). Auf dem Gebiet des HWS-Schleudertraumas gibt es auch andere Arbeiten mit funktioneller Bildgebung. Bicik et al. (1998) untersuchten in einer Studie mit FDG-PET, HMPAO-SPECT und MRT in Zürich 13 Patienten mit „typischen HWS-Schleudertrauma-Syndromen“. Sie verglichen die PETund SPECT-Daten, jedoch nicht die MRT-Daten mit 16 Kontrollen. Unter den Kontrollen waren 4 gesunde Studenten und 12 Patienten, die an einem Melanom (Hautkrebs) litten. Sie fanden mittels SPM einen signifikant verminderten Metabolismus frontopolar, temporolateral sowie im Putamen. Die frontopolaren Veränderungen korrelierten signifikant mit einer Depressionsskala (Beck Depression Inventory). Parietookzipital zeigte sich zwar eine verminderte Perfusion bzw. Glukoseutilisation, je-
23
Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas
links
sagittal
]
rechts
koronar links
rechts
transvers
Abb. 23.5. HWS-Schleudertrauma, Beispiel 2: Statistische parametrische Map-Projektionen, die Hirnareale mit signifikant verminderter relativer Perfusion (Signifikanzniveau: p < 0,01) bei 15 Patienten nach HWS-Schleudertrauma im Vergleich zu 15 gesunden Kontrollen zeigen. Von diesen 15 HWS-Schleudertrauma-Patienten konnten sich alle daran erinnern, dass
sie beim Aufprall nach rechts gesehen hatten; 10 Patienten berichteten, dass sie sich dabei ihren Kopf am Lenkrad angeschlagen hatten. Signifikante Unterschiede sind auf sagittale, koronare und transversale Talairach-Koordinaten projiziert. (Adaptiert nach Otte et al. 1998 a; mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlages.)
doch korrelierte dieser Hypometabolismus mit einer kortikalen Ausdünnung im MRT. Die Gruppe schlussfolgerte, dass die FDG-PET oder HMPAO-SPECT als diagnostische Routineuntersuchung bei HWS-Schleudertrauma-Patienten nicht empfehlenswert sei. Diese Studie wurde in einer der späteren Ausgaben der international renommierten Zeitschrift Neurology kommentiert und von einem der Autoren (A. Buck) stellvertretend für die Arbeitsgruppe beantwortet (Buck 1999; Otte 1999). Hierbei wurde darauf hingewiesen, dass die Kontrollgruppe hauptsächlich aus Melanompatienten bestand, einer Gruppe von Patienten also, die hochwahrscheinlich allein durch das Wissen um ihre Krebserkrankung neuropsychologische Veränderungen aufweist. Eine neuropsychologische Untersuchung wurde bei dieser sogenannten Kontrollgruppe nicht vorgenommen. In einer Studie von Tashiro et al. (2000) konnten jedoch eindrucksvoll mittels SPM und FDG-PET statistisch signifikante Hirnverän-
derungen (vornehmlich in den frontalen und parietalen Regionen) bei onkologischen Patienten nachgewiesen werden. Weiterhin wurde in der Studie von Bicik et al. für die Kontrollgruppe keine MRT-Untersuchung durchgeführt. Gerade dies ist aber der Hauptkritikpunkt, den man an der Studie üben muss: Es wäre nämlich von großem Interesse gewesen, die kortikale Dicke im Vergleich zur Hirndurchblutung auch bei den Kontrollen anzusehen. Dies hätte herauszufinden geholfen, ob die kortikale Dicke in der parietookzipitalen Region, die bei der Patientengruppe mit der HMPAO-Aufnahme korrelierte, bei den Patienten und den Kontrollen gleich ist oder nicht. Aus diesem Grund bleibt die Schlüsselfrage, ob die parietookzipitale Region bei Schleudertrauma-Patienten funktionell oder morphologisch verdünnt ist, in dieser Studie unbeantwortet. Die Studie von Radanov et al. (1999) besteht nahezu aus der gleichen Arbeitsgruppe wie diejenige von Bicik und Kollegen. Der Unterschied
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A. Otte
1,25 1,20 1,15 1,10 1,05 1,00 0,95 0,90 0,85 0,80
GMI con pat
p-o R
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con pat
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p-o R
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Abb. 23.6. FDG-PET. Repräsentativer transversaler Schnitt in Höhe der Basalganglien; oben: gesunde Kontrollperson; unten: HWS-Schleudertrauma-Patient mit persistierenden Symptomen 2 Jahre nach Unfall. Perfusionsverminderung beidseits parietookzipital. (Mit freundlicher Genehmigung des SpringerVerlages.)
Abb. 23.7. Oben: Glukosemetabolische Indizes (GMI) ermittelt durch PET (18F-FDG) und Region-of-Interest-Technik in der parietookzipitalen Region, bezogen auf den globalen Traubenzuckerstoffwechsel in Höhe der Basalganglien. Unten: Perfusionsindizes (PI) ermittelt durch Perfusions-SPECT (99mTcECD) und Region-of-Interest-Technik in der parietookzipitalen Region, bezogen auf die jeweils 6 Patienten mit chronischen Beschwerden nach HWS-Schleudertrauma bzw. 12 Kontrollen. Beide Untersuchungen – SPECT wie PET – ergaben statistisch signifikante Unterschiede zwischen der Patienten- und der Kontrollgruppe. Daten adaptiert nach Otte et al. (1997). (Mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlages.)
zur Publikation von Bicik et al. besteht darin, dass jetzt noch die neuropsychologischen Untersuchungen in Kontext mit den funktionellen bildgebenden Verfahren wie PET und SPECT gesetzt werden. Die Forschergruppe fand hierbei heraus, dass die HWS-Schleudertrauma-Patienten zwar sehr schlecht in neuropsychologischen Tests zur kognitiven Leistung abschnitten, jedoch keine signifikante Korrelation zwischen der regionalen Hirnperfusion oder dem Glukosemetabolismus in jeglicher Hirnregion und den Punktwerten in den Tests zur geteilten Aufmerksamkeit oder dem Arbeitsgedächtnis bestand. Zusätzlich war die verminderte geteilte Aufmerksamkeit signifikant mit der Schmerzintensität zur Zeit der neuropsychologischen
Tests korreliert. Die Autoren schlussfolgern, dass es beim Schleudertrauma-Syndrom keine Hinweise auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen diagnostizierbaren morphologischen oder funktionellen Hirn„schäden“ und der kognitiven Leistungsfähigkeit gebe und die Ergebnisse auf ein „Triggern“ von emotionalen und kognitiven Symptomen als Folge einer initialen Verletzung der zervikalen Wirbelsäule hinwiesen. Das meiste davon widerspricht jedoch der o. g. Arbeit von Ichise et al. (1994). Alexander (1998) stellt in einem Leitartikel fest, dass eine reine Schleudertrauma-Verletzung eine traumatische Hirnverletzung verursachen kann, und dass funktionelle Hirnschäden nach einer Schleudertrauma-Verletzung gemessen
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werden können. Allerdings ist Alexander kein Befürworter von SPECT-Untersuchungen bei der Diagnose der Ursachen für Hirnverletzungen, selbst wenn diese mit neuropsychologischen Tests übereinstimmen. Poeck (1999) konstatiert, dass die Erkenntnisse der neuen funktionellen bildgebenden Verfahren nicht für die Diagnose eines LateWhiplash-Syndroms zu empfehlen sind. Sowohl Alexander als auch Poeck stützen ihre Argumentation auf die Studie von Bicik et al., weshalb unserer Meinung nach deren Kommentare kritisch hinterfragt werden sollten (Otte 2000). Im Gegensatz dazu wurden in einer neueren Studie von Lorberboym et al. (2002) 20 Patienten mit einem Late-Whiplash-Syndrom mit Hilfe von HMPAO-SPECT und Tests für Wahrnehmung und logisches Denken untersucht. Die Tests umfassten die Bestimmung des P300-Wertes (einem elektrophysiologischen Marker für die Denkfähigkeit), den „Digit Span Test“, einen Test, Wörterlisten zu bilden, zwei Bedside Gedächtnistests, die Hamilton Depression Rating Scale, die Hamilton Anxiety Scale und den Rivermead Postconcussion Symptome Fragebogen. Eine Kontrollgruppe ohne Schleudertraumabzw. Schädel-Hirntrauma wurde ebenfalls getestet. Die Autoren fanden die folgenden interessanten Ergebnisse, die für die Gültigkeit der oben erwähnten Studien von Otte et al. wichtig sind: ] Obwohl kein struktureller Hirnschaden in irgendeinem Patienten mittels MRI gesehen wurde, wiesen 13 der 20 Patienten Abnormalitäten bzgl. der Hirnperfusion in einer oder mehreren Regionen auf. 8 dieser 13 Patienten hatten eine verringerte Perfusion in den Schläfenlappen, 3 Patienten hatten abnorme okzipitale Perfusionen, 2 Patienten zeigten Abnormalitäten des Frontallappens und 2 Patienten hatten eine asymmetrische Perfusion in den Basalganglien. ] Acht von den 15 Patienten zeigten abnormale P300-Werte und sieben von acht Patienten mit abnormalen P300-Resultaten hatten abnormale SPECT-Ergebnisse. Von den sieben von 15 Patienten mit normalen P300-Resultaten zeigten sechs eine normale SPECT. ] Obwohl keine signifikante Korrelation zwischen den SPECT-Ergebnissen oder den P300-Resultaten und den Scores bzgl. Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis bestand, waren sich die Ergebnisse aus den SPECTund den P300-Untersuchungen sehr ähnlich.
Langzeitfolgen des HWS-Schleudertraumas
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Daten von größeren Patientengruppen zur Diagnose des Late-Whiplash-Syndroms mit Hilfe funktioneller Kernspintomographie und Magnetresonanz-Spektroskopie existieren unseres Wissens bis heute nicht, obwohl sie sicher wünschenswert wären. Dennoch kennen wir eine ermutigende Pilotstudie an fünf symptomatischen Schleudertrauma-Patienten, fünf asymptomatischen Patienten nach einem Schleudertrauma und einer Kontrollgruppe von sieben Freiwilligen ohne Trauma. In dieser Studie wurden Tests zur visuellen Wahrnehmung von Bewegungen und Messungen mittels funktioneller Kernspintomographie während visueller Bewegungsstimulation durchgeführt (Freitag et al. 2001). Symptomatische Patienten zeigten im Vergleich zu den gesunden Kontrollpersonen eine deutlich herabgesetzte Fähigkeit, zusammenhängende visuelle Bewegungen wahrzunehmen, wohingegen asymptomatische Patienten diese Auswirkung nicht zeigten. Die mittels funktioneller Kernspintomographie gemessene Aktivierung war während beliebiger Punktbewegung in allen 3 Gruppen ähnlich. Diese Aktivierung war aber während der kohärenten Punktbewegung bei den symptomatischen Patienten im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen signifikant vermindert. Eine bei Patienten, die an den Langzeitfolgen einer Schleudertrauma-Verletzung leiden, herabgesetzte Leistungsfähigkeit in der psychophysischen Bewegung und geminderte Signale in der funktionellen Kernspintomographie deuten auf funktionelle Einschränkungen von Gehirnarealen hin, die für kohärente Bewegungen sensitiv sind. Diese Ergebnisse aus dem Bereich der visuellen Bewegungswahrnehmung stehen im Einklang mit den Ergebnissen, die mit SPECT und PET im parietookzipitalen Bereich gewonnen wurden. Sie stellen einen ersten und wichtigen Beweis dafür dar, dass mit einem anderen bildgebenden Verfahren diese objektiven Befunde bestätigt werden konnten.
Differentialdiagnostische Liste Parietookzipitale Befunde können auch bei verschiedenen anderen Erkrankungen auftreten, wie z. B. der rheumatischen Erkrankungen des systemischen Lupus erythematodes (Otte et al. 1997, 1998; Weiner et al. 2000), der Multiinfarkt-
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A. Otte
links
sagittal
rechts
koronar links
rechts
transaxial
Abb. 23.8. Statistische parametrische Map-Projektion mit signifikant verminderter Hirndurchblutung in den schwarz angefärbten Arealen (getestet wurden 18 Fibromyalgie-Patienten gegenüber 15 gesunden Probanden), 99mTc-ECD-SPECT, Sig-
nifikanzniveau p < 0,01. (Nach Otte et al. 1998; mit freundlicher Genehmigung des WB Saunders und des Springer-Verlages.)
demenz, der vaskulären Enzephalopathie, dem Schlafapnoesyndrom, der zerebralen Hypoxie, der Migräne mit Aura und dem M. Alzheimer. Gerade aufgrund dieser langen differentialdiagnostischen Liste ist der Stellenwert der parietookzipitalen Veränderungen beim HWS-Schleudetrauma-Patienten umstritten. Durch eine gezielte klinische, serologische bzw. neurologische Abklärung können jedoch solche anderen Erkrankungen leicht ausgeschlossen werden. Es wird manchmal behauptet, dass sich bei Schleudertrauma-Patienten, die ähnliche Symptome besonders bzgl. Denkfunktionen wie fibromyalgische Patienten aufweisen, die Symptome auf der Grundlage einer Fibromyalgie entwickeln, die bereits vor der SchleudertraumaVerletzung vorhanden war. Eine Studie von Otte et al. (1998), die mit SPM und SPECT durchgeführt wurde, ergab jedoch statistisch signifikante Mangeldurchblutungen im Frontalhirn auf beiden Seiten, im rechten Temporallappen und in den Basalganglien. Läsionen im Parietookzipitalbereich wurden bei Fibromyalgiepatienten hingegen nicht gefunden.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen stehen auch im Einklang mit anderen Studien (z. B. Johansson et al. 1995; Costa et al. 1995). Auch die primäre Depression wird gerne als Ursache für die nach einem HWS-Schleudertrauma entwickelten Symptome angeführt (u. a. Alexander 1998). Die SPECT- und PET-Veränderungen bei der primären Depression sind jedoch primär frontal lokalisiert und nicht parietookzipital (u. a. Liotti und Mayberg 2001).
Ausblick Die Diagnose des Schleudertrauma-Syndroms ist ein medizinisch-rechtlich herausforderndes Unterfangen. Bis dato wurde die funktionelle Bildgebung zugunsten der rein morphologisch orientierten Bildgebung vernachlässigt. Während die rein morphologische Bildgebung meist keine Ergebnisse liefert, zeigt die funktionelle Bildgebung erhebliche Schäden im parietookzipitalen Bereich des Gehirns. Trotz der Ergebnis-
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se in der funktionellen Bildgebung bleibt bis heute das Late-Whiplash-Syndrom ein medizinisches, politisches, ethisches und kritisch zu betrachtendes Thema. Zukünftige Tierforschung, die funktionelle bildgebende Verfahren verwenden und ein qualitativ hochwertiges Instrumentarium zur Bildanalyse verwenden, könnten dazu beitragen, die Ursache der Hirnläsionen bei Schleudertrauma zu beweisen. Außerdem sollten unserer Ansicht nach neue funktionelle Bildgebungsmodalitäten, wie die funktionelle Kernspintomographie oder Magnetresonanz-Spektroskopie, in die vorklinische und klinische Forschung auf diesem Gebiet eingeführt werden. Viele Schleudertrauma Patienten mussten ihr soziales Leben, ihre Partnerschaften und ihre Arbeit aufgeben. Versicherungsansprüche stehen bei ihren Klagen nicht immer an erster Stelle. Häufig werden ihre Probleme als bloße Behauptung abgetan oder, nur wenig besser, auf die psychische Ebene geschoben. Es sollte daher das Hauptziel der Kliniker und Forscher sein, Auswege aus diesem Dilemma zu finden. Jeder Arzt, der direkt oder indirekt mit der Thematik von Schleudertrauma-Patienten zu tun hat, sollte zumindest die überwiegend zerebrale Komponente des Late-Whiplash-Syndroms kennen, die zu einer verwirrenden diagnostischen Situation am Rande einer kontroversen medizinischen und rechtlichen Diskussion führen kann. Ein Ausweg aus dieser Situation könnte in der fundierten Kenntnis der neuesten Forschungsdaten der funktionellen Bildgebung und ihrer Rolle bei diesem Beschwerdebild liegen. Das gilt für jeden Arzt auf diesem Gebiet, für Radiologen, Psychiater und Allgemeinärzte. Auch andere Forschungsgruppen, wie z. B. experimentelle Tierforscher, werden ermutigt, dieses Wissen zu mehren. Der vorliegende Beitrag stellt im Wesentlichen eine Übertragung des folgenden Beitrags ins Deutsche dar: Otte A, Audenaert K, Peremans K, Otte K, Dierckx RA (2004) The late whiplash syndrome: Current aspects of functional neuroimaging. In: Otte A, Audenaert K, Peremans K, Van Heering C, Dierckx RA (eds) Nuclear Medicine in Psychiatry. Springer, Berlin Heidelberg New York pp 273–288
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Therapeutische Ansätze
Therapeutische Ansätze 24
Radiofrequenzbehandlung
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Schleudertrauma und Schmerzen in den Wirbelbogengelenken
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Zahnärztliche Behandlung kraniozervikaler mandibulärer Funktionserkrankungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
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Neurofeedback
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Das leichte Schädel-Hirn-Trauma im Sport
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Physikalische Therapie nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
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Osteopathie nach HWS-Schleudertrauma
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Atlastherapie nach Arlen
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Alternative Behandlungsansätze nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
24 Radiofrequenzbehandlung M. E. Sluijter, T. Stokke
Einleitung Es gibt wenige Bereiche in der Medizin, wo die Meinungen so diametral entgegengesetzt stehen wie beim HWS-Schleudertrauma. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Die Folgen einer HWS-Distorsion kann man nicht auf einem MR-Bild sehen. Es gibt auch keine andere Untersuchungsmethode, die zuverlässig diesen Zustand bestätigt oder ausschließt. Vorbestehende psychologische Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Dies gilt sowohl für das klinische Erscheinungsbild wie auch für die Möglichkeiten der Genesung. Und schließlich sind bedeutsame wirtschaftliche Interessen involviert. Es überrascht deswegen nicht, dass die Bedeutung der Radiofrequenz (RF) für die Behandlung von HWS-Distorsionen ihre Grenzen hat. Bislang wurde über ermutigende Ergebnisse berichtet und seitdem wir über die gepulste RF verfügen, haben sich die Möglichkeiten erweitert. Für Leser, die mit der Methode nicht vertraut sind, geben wir in diesem Kapitel zunächst einen kurzen Überblick der Grundlagen der RF-Behandlung, bevor wir die Anwendung an Patienten mit Beschwerden nach HWSSchleudertrauma besprechen.
Radiofrequenz Es gibt zwei Arten von RF: kontinuierliche RF (CRF) und gepulste RF (PRF). CRF haben wir einige Jahrzehnte als ein Werkzeug für die Behandlung von Wirbelsäulen-Schmerzen benutzt. Es ist das Ziel der CRF, Nerven, die nozizeptive Stimuli leiten, zu erhitzen.
Physikalische Prinzipien der CRF RF wird appliziert durch eine Nadel, die bis auf ein aktives Ende von 4 bis 10 mm elektrisch isoliert ist. Die Temperatur wird mittels eines Thermocouplers in der Nadelspitze überwacht. Das elektrische RF-Feld mit einer Frequenz von 400 bis 500 kHz verursacht Ionenreibungen im Gewebe und deshalb Wärme. Die sich daraus ergebende Temperatur an der Nadelspitze ist einerseits abhängig von der Stromspannung und andererseits vom Abtransport der Wärme. Die Energie-Absetzung (P) im Gewebe ist abhängig von der Zeit (t), von der Spannung (V) und von der Impedanz (R): 1 P tV2 =R 2 Der Abtransport der Wärme wird bestimmt von der Wärmeleitung und der Blutdurchströmung und kann sehr unterschiedlich sein. Deshalb ist die nötige Ausgangsspannung des RF-Generators zur Erzeugung einer bestimmten Temperatur auch sehr unterschiedlich. Die CRF-Behandlung hat eine Initialphase von etwa 10 s Dauer, um die vorbestimmte Temperatur zu erreichen und eine Phase der Aufrechterhaltung von 60–90 s Dauer, während der die Temperatur konstant gehalten wird. In einem typischen Fall beträgt die Ausgangsspannung des Generators 30 V während der Initialphase und 16 V während der Phase der Aufrechterhaltung.
Wirkungsweise der CRF Ursprünglich war es die Absicht, den medialen Nervenast des R. dors. spin., der die Facettengelenke innerviert, mit einer Thermoläsion zu
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schädigen. Das Prinzip war somit sehr einfach: Wenn man einen Nerv erhitzt, der nozizeptive Stimuli von einem nozizeptiven Fokus zum Rückenmark leitet, soll der Schmerz verschwinden. Weil dieses Prinzip so einfach war und weil die Methode in einem Teil der Patienten wirksam erschien, stellte keiner diese Wirkungsweise in Frage. Fragen, warum diese Behandlung eine der ganz wenigen ablativen Verfahren mit positivem Effekt ist, obwohl diese unserem Wissen über Veränderungen im Zentralnervensystem bei Patienten mit chronischen Schmerzen widerspricht, wurden – und werden – einfach ignoriert.
Die Entwicklung der PRF Was nicht ignoriert werden konnte, war die Tatsache, dass RF auch bei andersartiger Geometrie als bei den Facetten wirksam sein kann. Ein Beispiel hierfür ist, dass RF die Schmerzen bei einem akuten Bandscheibenvorfall effektiv lindern kann. In diesem Fall wird die Läsion distal des Ortes der Nozizeption appliziert. Ein anderes Beispiel ist die Behandlung der ClusterKopfschmerzen durch eine Läsion am Ganglion sphenopalatinale. Solche Tatsachen führten dazu, dass die Bedeutung der Hitze und der Zerstörung bzgl. der klinischen Ergebnisse der RFBehandlung zur Diskussion gestellt wurde. Schließlich führte dies zur Entwicklung der PRF [16]. Bemerkenswert ist, dass die PRF keine neue Erfindung sein sollte. Das einzige Ziel war, die Bedeutung der Hitze bei der konventionellen RF-Läsion zu untersuchen. Die Parameter wurden zufällig gewählt und es gab kein Konzept bzgl. der Frage, wie RF ohne Hitze wirksam sein könnte.
die Spannung jedoch größer und somit auch das elektrische Feld. PRF verursacht wie CPR eine Wärmeentwicklung im Gewebe. Diese wird auf zweierlei Art und Weise entwickelt. Während des aktiven Pulses verursacht die Wärmeentwicklung eine schnelle und kurze Erhöhung der Temperatur an der Nadelspitze. Da der Strompuls kurz ist, ist die Größe dieser Temperaturerhöhung (so genannte „heat-spikes“) ausschließlich von der Energie-Absetzung und nicht von dem Abtransport der Wärme abhängig. Berechnungen haben ergeben, dass die „heat-spikes“ bei Applikation von 45 V in der Größenordnung 5–10 8C betragen. Diese Zahl wurde experimentell mittels Messungen mit ultraschnellem Thermocoupler bestätigt [4]. Berechnungen zeigen, dass die Temperatur sehr schnell mit Zunahme der Entfernung von der Elektrode abfällt. Bei einer Entfernung > 0,2 mm ist die Temperaturerhöhung der „heat-spikes“ praktisch gleich Null. Die Temperaturerhöhung der „heat-spikes“ kann mit den handelsüblichen RF-Generatoren nicht gemessen werden. Die konventionellen Thermocoupler sind so langsam, dass nur Mittelwerte der Nadelspitzentemperatur angegeben werden. Dieser Mittelwert wird auch von der Wärmeentwicklung im Gewebe beeinflusst. Er erhöht sich bis auf einen Wert, der von der Energie-Absetzung und dem Wärmeabtransport abhängt, wie bei CRF. Ein üblicher Wert wäre 41 8C. Auch bei PRF entsteht während des aktiven Pulses ein elektromagnetisches Feld (E). E ist abhängig von der Form der Elektrode und von der applizierten Spannung. Die Größe von E kann berechnet werden. Das stärkste Feld liegt genau vor der Spitze der Elektrode, aber es nimmt mit dem Abstand zur Elektrode schnell ab. E entlang der zylinderförmigen Elektrode ist schwächer, aber nimmt nicht so schnell mit dem Abstand ab (Abb. 24.1).
Physikalische Parameter der PRF Bei PRF wird der radiofrequente Wechselstrom in Pulsen von 2 Hz und von 20 ms Dauer durch die Elektrode appliziert. Die Spannung ist üblicherweise 45 V. Die Energie-Absetzung im Gewebe ist sehr viel geringer als bei CRF (weil die effektive Zeit t in der obenstehenden Gleichung sehr viel kürzer ist). Während eines Pulses ist
Wirkungsweise der PRF Die Wirksamkeit der PRF wurde in zwei placebokontrollierten Doppelblindstudien bewiesen [15, 20]. Die Suche nach der Wirkungsweise konzentriert sich um das primum agens und um die Mechanismen des primum agens. Der erste Teil ist ziemlich gut etabliert, während die
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elektrisches Feld (V/m)
106 vor der Nadelspitze entlang der Nadel 105
104
103 0
1
2
mm
Abb. 24.1. Das berechnete elektrische Feld vor der Nadelspitze und entlang der Nadel.
Antworten des zweiten Teils noch gesucht werden. Bei primum agens gibt es vier Möglichkeiten: ein ablativer Effekt, ein Temperatureffekt, ein Effekt des elektromagnetischen Feldes und ein Effekt der Stromdichte. PRF hat aus verschiedenen Gründen einen sehr geringen destruktiven Effekt [5]. Die „heat spikes“ könnten eine Rolle spielen, aber die Wirkung dieser kurzen Temperaturerhöhung auf das Gewebe ist nicht bekannt. Das elektromagnetische Feld vor der Nadelspitze ist stark genug, um eine Zelle zu töten. Dies ist sicherlich dann der Fall, wenn es 20 ms anhält, was in zellenbiologischem Zusammenhang eine sehr lange Zeit ist. Ein dritter Faktor ist die Tatsache, dass wir mit einem Wechselstrom arbeiten. Das hieraus resultierende Erschüttern der Moleküle hat eine zusätzliche destruktive Wirkung, die eher zeit- als spannungsabhängig ist [2]. Somit kann man die Ablation nicht vollständig ausschließen, aber weil die ablative Wirkung nur in einem kleinen Abstand von der Elektrode auftritt, ist diese Erklärung unwahrscheinlich. Bezüglich der Temperatur hat man keinen Zusammenhang zwischen Mitteltemperatur an der Nadelspitze und dem klinischen Ergebnis gefunden [17]. Weil die „heat spikes“ räumlich sehr begrenzt sind, können wir mit Sicherheit annehmen, dass die Temperatur den klinischen Effekt der PRF nicht vermittelt. Die Bedeutung der Stromdichte wurde in einer Studie über das Verhältnis zwischen der Impedanz und dem klinischen Ergebnis untersucht. Es zeigte sich, dass es eine negative Korrelation gibt: Je niedriger die Impedanz, desto besser waren die Chancen für ein gutes Ergebnis. In einer anderen Patientengruppe wurde
Radiofrequenzbehandlung
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der Stromfluss konstant gehalten und die Spannung entsprechend den Anforderungen verändert. In den Fällen mit hoher Impedanz waren die klinischen Ergebnisse schlechter. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die Stromdichte per se eine Wirkung hat. Da andere Möglichkeiten ausscheiden, kann daraus gefolgert werden, dass wahrscheinlich das elektrische Feld den Effekt der PRF verursacht. Da der E-Bereich während PRF so umfassend ist, ist es von großem Interesse herauszufinden, welcher E-Bereich für den klinischen Effekt verantwortlich ist. Wir müssen dann eine standardisierte Situation der geometrischen Verhältnisse zwischen Elektrode und Zielpunkt bei einer Prozedur mit nachgewiesenem Effekt betrachten. Eine solche wäre die Behandlung des Ganglions der Hinterwurzel (DRG). Während dieser Prozedur wird die Elektrode so nahe ans Ziel herangeführt, dass eine 50 Hz-Stimulierung bei 0,2–0,3 V gespürt wird. Der entsprechende Abstand wurde mit Hilfe von CT-Aufnahmen bestimmt und betrug 1,5–2 mm. Die Berechnung von E ergibt dann Werte in der Größenordnung 1500 bis 2500 V/m. Es überrascht, dass diese niedrige Stärke des elektrischen Feldes der biologisch aktive Faktor sein muss. Wie können denn diese schwachen elektrischen Felder überhaupt eine Wirkung erzielen? Schon im Entwicklungsstadium der gepulsten Radiofrequenztherapie (PRF) gab es den Verdacht, dass PRF eine irgendwie geartete modulierende Wirkung auf zentrale Nervenstrukturen haben könnte. Tatsächlich wurde in experimentellen Arbeiten festgestellt, dass eine PRF-Applikation auf das Ganglion der hinteren Wurzel zu einer erhöhten Aktivität von c-fos in der Hinterwurzel führt [6, 19]. Eine andere Hypothese [4] schließt ein, dass der aktive Puls eine teilweise Depolarisation der Zellmembran verursacht, und dass dies wiederum eine subliminale Stimulation hervorruft. Subliminale Stimulation kann je nach der aktuellen Frequenz eine Langzeitpotenzierung oder Langzeitdepression (LTD) zur Folge haben. Im Fall von PRF mit 2 Hz würde eine LTD der ersten Synapse resultieren. Diese beiden Hypothesen – Neuromodulation und LTD – sind verlockend, aber leider geht die Wirklichkeit unsanft mit den Theorien um. Beide Theorien setzen einen unmittelbaren Effekt voraus. Tatsächlich haben viele Patienten, die mit PRF ohne Anwendung von Lokalanästhetikum behandelt werden, eine solche unmittel-
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bare Wirkung. Sie werden gleich während der Behandlung schmerzfrei. Aus diesem Grund hat man diese Zeit die „sprachlose Phase“ genannt. Der Schmerz bleibt jedoch nicht sprachlos. Nach einigen Tagen folgt eine Zeit mit Behandlungsschmerzen. Diese Periode kann ein paar Wochen anhalten und der Schmerz kann sogar vorübergehend stärker sein als vor der Behandlung. Die Frage nach der Wirkungsweise der PRF ist bislang unbeantwortet geblieben. Das ist frustrierend, wenn es darum geht, die Methode zu verbessern. Wie erwähnt, sind die Parameter der PRF zufällig entstanden. Es gibt aber sechs Variablen: Pulsdauer, Pulsfrequenz, RF-Frequenz während des Pulses, Spannung, Pulsmuster (z. B. regelmäßig oder unregelmäßig) und Behandlungsdauer. Es ist nicht möglich, die optimale Einstellung der Parameter in klinischen Versuchen zu ermitteln. Wir brauchen ein biologisches Modell, um das Problem zu lösen.
Algorithmen für RF-Behandlung Die Wirbelsäule hat einen komplizierten Aufbau und Wirbelsäulenschmerzen können deshalb auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein. Zum Beispiel gibt es oft nach einer erfolgreichen Behandlung von ausstrahlenden Schmerzen ins Bein infolge eines Bandscheibenvorfalles Restschmerzen im Kreuz. Diese müssen gesondert behandelt werden. Das ist der Fall bei chirurgischer Behandlung und gilt auch für die RF. Aus diesem Grunde geht man bei der RF-Behandlung schrittweise vor. Es gibt Algorithmen für die Reihenfolge dieser Schritte [17]. Die Indikation für den nächsten Schritt wird oft durch diagnostische Nervenblockaden bestätigt, es sei denn, dass anatomische Abnormalitäten mit entsprechendem Schmerz vorliegen.
Zustände nach Traumen der Halswirbelsäule Der Halsteil der Wirbelsäule ist wahrscheinlich der am häufigsten traumatisierte Teil. Der aktuelle Schaden schien vielleicht zunächst bedeutungslos oder wurde sogar vergessen. Trotzdem
können sich später Schmerzzustände in Form von zervikogenen Kopfschmerzen oder als Folgen einer einzelnen geschädigten Bandscheibe im Bereich C 3–5 bei einer sonst ungeschädigten HWS entwickeln. Diese Patienten haben keine spezifischen psychologischen oder anderen Probleme und sie reagieren normalerweise gut auf eine RF-Behandlung. Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach HWS-Distorsionen (Whiplash Associated Disorders = WAD) haben eine Reihe von Merkmalen, die man üblicherweise bei nicht Distorsions-Geschädigten nicht findet.
Psychologische Probleme der Schleudertrauma-Patienten Viele Patienten mit chronischen Beschwerden nach HWS-Distorsionen sind in Gerichtsprozesse involviert. Die Meinungen über die Konsequenzen sind unterschiedlich. Einige Untersucher finden, dass Symptome häufig übertrieben werden [14]. Andere wiederum finden, dass ein Rechtsstreit keinen Einfluss auf die Besserung nach Neurotomie des medialen Astes des R. dors. hat [13]. Depressionen kommen bei Patienten mit chronifizierten Schleudertrauma-Beschwerden häufig vor. Es gibt eine starke Korrelation zwischen einer bleibenden Symptomatik nach HWS-Schleudertrauma und den bereits vor dem Unfall bestehenden Depressionen [1, 10]. Andererseits wurde über das Verschwinden von psychologischen Symptomen nach erfolgreicher Neurotomie berichtet [21]. Der Widerspruch ist vielleicht nicht so groß wie er aussieht, weil Patienten, die für eine Neurotomie ausgewählt wurden, offenbar eine fokale Pathologie haben. Sie wurden deswegen ausgewählt und brauchen somit nicht für Patienten mit chronifizierten Schleudertrauma-Beschwerden als Gruppe repräsentativ zu sein. Die Schlussfolgerung ist, dass Patienten mit nachgewiesener fokaler Pathologie auch Kandidaten für RF-Behandlungen sind, selbst wenn sie unter Depressionen leiden und selbst wenn sie sich im Rechtsstreit befinden. Patienten mit umfassender Symptomatik, wie man sie regelmäßig bei Schleudertrauma-Patienten findet, müssen vielleicht an erster Stelle psychologisch diagnostiziert und behandelt werden.
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Symptomatologie von Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach HWS-Distorsion Die Symptome dieser Patienten sind nicht auf den Nacken beschränkt. Eine Beteiligung der oberen Gelenke im Nacken kann zu Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Sehstörungen, Ohrensausen, Konzentrationsschwäche und Fotophobie führen [8]. Zentrale Störungen können Hypersensitivität und allgemeine muskuläre Hyperalgesie [3] sowie einen Verlust an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit verursachen [9]. Brachialgien sind bei diesen Patienten sehr häufig [7]. Diese werden oft als „thoracic outlet syndrome“ diagnostiziert und man vermutet einen Zusammenhang mit einer Schädigung der Scalenusmuskulatur. Die Symptome sind typischerweise an der Ulnarseite des Unterarms. Diagnostische Blockaden der Nervenwurzel C5 und C8 sind oft positiv. Seltener ist dies bei C6 und C7 der Fall. Diese sind häufiger bei degenerativen Leiden positiv.
RF-Behandlung bei Patienten mit chronifizierten Beschwerden nach HWS-Distorsion RF ist nicht geeignet für das akute HWS-Schleudertrauma. Wegen der Möglichkeit der Spontanheilung innerhalb der ersten drei Monate nach dem Unfall wird allgemein akzeptiert, dass man RF-Behandlung nur anbietet, wenn es nach Ablauf dieser Zeit keine Besserung gibt. Langzeitbeschwerden nach HWS-Distorsion sind ein Zustand mit vielen interaktiven Faktoren. Es überrascht deswegen nicht, dass RF kein Universalmittel für alle Patienten ist. RF wird dann aktuell, wenn eine Verdachtsdiagnose von einem Schmerzfokus gestellt werden kann. Da die bildgebende Diagnostik zum Ausschluss von Frakturen oder Luxationen limitiert ist, wird diese Schmerzdiagnose aufgrund der Anamnese und einer klinischen Untersuchung gestellt. Der Schmerzfokus kann in einem oder mehreren Facettengelenken liegen, er kann ein Segment der HWS oder ein Kopf-Hals-Gelenk betreffen. Aber solche Befunde dürfen nicht überall in der gesamten HWS vorhanden sein.
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RF-Behandlung des medialen Nervenastes Es gibt zwei Zugänge zu diesem Nerven, beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile. Die erste Methode bedient sich eines Zugangs von hinten, wobei sich der Patient in Bauchlage befindet. Bei dieser Technik gehen der RF-Behandlung mehrere diagnostische Blockaden voraus. Das Vorgehen besteht aus einem völligen Durchbrennen des medialen Nervenastes durch mehrere Läsionen in einer mehrstündigen Behandlungssitzung. Die Wirkung wurde in einer prospektiven Doppelblind-Untersuchung demonstriert [11]. Das Ergebnis war in 60% der Fälle positiv. In Anbetracht der sorgfältigen Auswahl der Patienten ist das ein bescheidenes Ergebnis. Die Auswahl war jedoch klein und die Untersuchung war nicht darauf ausgerichtet, die Wirksamkeit der Behandlung zu prüfen. Bei der zweiten Methode werden diagnostische Blockaden nur verwendet, wenn man Zweifel hat, ob die Diagnose richtig ist. Der Grund hierfür ist die Auffassung, dass man die Diagnose des zervikalen Facettenschmerzes zuverlässig durch Palpation stellen kann. Sie entspringt dem Wunsch, die Anzahl der Prozeduren niedrig zu halten. Dies umso mehr, weil es bei Schleudertrauma-Patienten üblich ist, in einem späteren Stadium der Behandlung auch eine RFBehandlung einer Nervenwurzel durchzuführen, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Diese Technik benutzt einen lateralen Zugang zum Nerven mit dem Patienten in Rückenlage in einer halbstündlichen Sitzung. Diese Behandlung wird normalerweise mit CRF durchgeführt.
RF-Behandlung der Hinterwurzel PRF wird für die Behandlung der Hinterwurzel benutzt. Voraus geht immer eine diagnostische Blockade, weil das Unterscheiden der verschiedenen segmentalen Höhen durch die klinische Untersuchung allein schwierig sein kann. Die Kanüle wird unter Röntgendurchleuchtung mit schrägem Strahlengang und parallel zum Strahlengang („tunnel vision“) zum Zielpunkt kaudal posterior im Foramen intervertebrale vorgeführt, bis eine Stimulation mit 50 Hz und einer Spannung < 0,5 V spürbar ist (Abb. 24.2).
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b Abb. 24.2 a, b. Behandlung der Hinterwurzel C8. a Schräger Strahlengang; b AP-Strahlengang.
b Abb. 24.3 a, b. Behandlung der Hinterwurzel C2. a Seitlicher Strahlengang; b AP-Strahlengang.
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Abb. 24.4 a, b. Behandlung der Hinterwurzel C1. a Seitlicher Strahlengang; b AP-Strahlengang.
Für die zwei oberen zervikalen Höhen ist die Technik anders. Der Zugang zum C2 Ganglion erfolgt von lateral (Abb. 24.3). Die Behandlung von C1 [18] (Abb. 24.4) ist für Patienten mit Schmerzen von den oberen Gelenken sehr nützlich. In dieser Höhe vermeiden wir eine vorausgehende diagnostische Blockade, weil die Umgebung des Ganglion/Nerven sehr stark vaskularisiert ist. Der Zugang erfolgt von lateral, ähnlich wie bei C2, aber um eine Punktion der A. vertebralis zu vermeiden, sollte die Elektrode nicht zu tief vorgeführt werden.
Ergebnisse der RF-Behandlung Die Wirksamkeit der CRF-Behandlung des medialen Astes wurde überzeugend bewiesen [11]. Gute Ergebnisse wurden auch in einer anderen Studie erzielt [12]. Hier wurde der laterale Zugang gewählt, aber in dieser Publikation hat eine Reihe von Patienten zusätzliche RF-Behandlungen bekommen. Kontrollierte Studien mit PRF-Behandlung der medialen Nervenäste stehen noch aus. Auch die Wirksamkeit der PRF-Behandlung der Hinterwurzel bei Patienten mit chronifizierten Schleudertrauma-Beschwerden wurde in einer prospektiven placebokontrollierten Doppelblind-Studie bewiesen [15]. In dieser Untersuchung befanden sich Patienten mit Brachialgie, die auf RF-Behandlung des medialen Astes keine Besserung erzielen konnten. 19 Patienten wurden behandelt und 12 Patienten bekamen Placebo. PRF ergab sechs Monate nach der Behandlung einen signifikant besseren Effekt als Placebo auf Schmerzen und Invaliditätsparameter.
Neue Entwicklungen Eine neue Anwendung der PRF steckt immer noch in den Kinderschuhen und wird hier mit dem Vorbehalt erwähnt, dass die Ergebnisse von kontrollierten Studien noch nicht vorhanden sind. Man hat herausgefunden, dass PRF Gelenkschmerzen lindert, indem man die Elektrode intraartikulär platziert. Das Prinzip basiert auf den speziellen elektrischen Verhältnissen in einem Gelenk. Weil Knochen elektrisch isolieren, wird der Strom während eines Pulses an die Gelenkkapsel weitergeleitet. Die Stromdichte und somit das elektrische Feld in der Kapsel ist stärker als man es sonst in diesem Abstand von der Elektrode erwarten würde. Es wurde berechnet, dass die Stärke des elektrischen Feldes in der Kapsel mit Leichtigkeit Werte erreicht, die man für den klinischen Effekt der PRF verantwortlich macht. Die Methode wurde sowohl in großen wie in kleinen Gelenken ausprobiert. Speziell bei Patienten nach HWS-Distorsion, die Symptome in den atlantoaxialen Gelenken hatten, war sie hilfreich. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass der Zugang nicht schwierig ist, dass das Einspritzen von Flüssigkeit in das Gelenk nicht erforderlich ist und dass die Wirkung über längere Zeit anhält (längste Nachuntersuchungszeit: 9 Monate). Das Gelenk wird durch einen leicht schrägen Strahlengang dargestellt und die Kanüle wird von kaudal und lateral an den vorderen Teil des Gelenkes geführt. Die Punktion des Gelenkes erfolgt dann unter AP-Strahlengang (Abb. 24.5). Die PRF wird mit 40 V, Pulsdauer 10 ms während 10 min durchgeführt.
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b Abb. 24.6 a, b. Intraartikuläre PRF im Facettengelenk C3/4. a CT-Aufnahme; b Spiral CT-Aufnahme.
b Abb. 24.5 a, b. Intraartikuläre PRF im atlantoaxialen Seitengelenk. a Leicht schräger Strahlengang; b AP-Strahlengang.
Schmerzen, die von einem einzelnen Facettengelenk ausgingen, wurden ebenfalls mit großem Erfolg behandelt. Der Zugang zum Gelenk kann aber in Einzelfällen durch eine individuell verschiedene Anatomie oder durch arthrotische Veränderungen versperrt sein. Die Verwendung der Computertomographie bietet bei diesem Verfahren deutliche Vorteile (Abb. 24.6).
Schlussfolgerungen PRF wurde entwickelt, um die Bedeutung der Temperatur bei der CRF zu erforschen. Jetzt, da die klinische Wirksamkeit bewiesen ist, sucht man nach Erklärungen für diese Wirkung. Die Wirkung ist wahrscheinlich von einem schwachen elektrischen Feld abhängig. Chronifizierte Folgen nach HWS-Distorsion stellen einen komplizierten Zustand mit vielen interaktiven Faktoren dar. Die Anwendung der RF sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn ein Schmerzfokus identifiziert werden kann, der drei Monate nach dem Unfall immer noch vorhanden ist. Chronifizierte Beschwerden nach HWS-Distorsion können von Schmerzfoki in einem oder zwei Facettengelenken verursacht werden. Dies kann durch RF-Behandlung der medialen Ner-
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venäste mit Erfolg durchgeführt werden. In der Mehrzahl der Fälle ist aber die Symptomatologie komplexer Natur und schließt Brachialgie und/ oder Kopfschmerzen mit ein. Dies macht die Behandlung einer oder mehrerer Hinterwurzeln nötig. Die Wirksamkeit sowohl der Behandlung der medialen Nervenäste mit CRF als auch der Hinterwurzel mit PRF wurden in placebokontrollierten Doppelblind-Studien bewiesen. Intraartikuläre Applikationen von PRF können eine Lösung für WAD-Patienten mit bis jetzt schwierig behandelbaren Zuständen sein.
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25 Schleudertrauma und Schmerzen in den Wirbelbogengelenken * N. Bogduk
Die Wirbelbogengelenke sind kleine Diarthrosen, die entlang der Rückseite der Wirbelsäule angeordnet sind. Sie kommen paarweise auf beiden Seiten vor und verbinden die aufeinanderfolgenden Wirbel vom zweiten Halswirbel (C2) bis zum ersten Brustwirbel (Th1) miteinander. Auf Röntgenaufnahmen erscheinen diese Gelenke als flache Schlitze zwischen den Verbindungsstellen zwischen Bogenfuß und Bogenplatte von benachbarten Wirbeln (Abb. 25.1). Bei typischen Halswirbeln wird jedes Gelenk durch Nerven aus den medialen Ästen der Rami dorsalis der Halsnerven mit denselben Segmentnummern wie die jeweiligen Gelenke versorgt
[8]. Diese Nerven verlaufen seitlich über die entsprechende Verbindungsstelle zwischen Bogenfuß und Bogenplatte, bevor die artikulären Äste zu den entsprechenden Gelenken von ihnen abgehen (Abb. 25.2). Das C2/3-Gelenk wird vom dritten Okzipitalnerv versorgt, der über der Kapsel dieses Gelenks verläuft (Abb. 25.2). Schmerzen in den Wirbelbogengelenken sind die häufigste Ursache chronischer Nacken-
DON
C3 MA C4 MA C5 MA C6 MA C7 MA
Abb. 25.1. Eine seitliche Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule, die die Wirbelkörper von C2 bis C6 zeigt und die Wirbelbogengelenke von C2/3 bis C6/7. * Für die Übersetzung des Beitrags danken wir Herrn Hartmut Baltin
Abb. 25.2. Zeichnung einer Seitenansicht der Wirbelsäule, die die medialen Äste der Rami dorsalis der Halsnerven (MA) zeigt, die über die Verbindungsstellen zwischen Bogenfuß und Bogenplatte verlaufen, bevor die artikulären Äste zu den Wirbelbogengelenken von ihnen abgehen. Der dritte Okzipitalnerv (DON) verläuft über das C2/3-Gelenk und versorgt es.
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Schleudertrauma und Schmerzen in den Wirbelbogengelenken
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intraartikuläre Hämorrhagie Kapselriss MeniskoidQuetschung
Distraktion
Gelenk, subchondrale Fraktur
Anulusriss
Impaktion S-Form
Verbindungsstellen zwischen Bogenfuß und Bogenplatte, Fraktur
Abb. 25.4. Mögliche Arten von Verletzungen, die durch Schleudertrauma hervorgerufen werden können. Abb. 25.3. Verformung und Mechanismus von Verletzungen der Halswirbelsäule während einer Peitschenhiebbewegung. Die Halswirbelsäule wird von unten zu einer S-Form zusammengedrückt. Auf der Vorderseite werden die Wirbelkörper auseinandergezogen. Auf der Rückseite werden die Wirbelbogengelenke zusammengedrückt.
schmerzen nach einem Schleudertrauma. Biomechanische Studien haben gezeigt, wie diese verletzt werden können. Postmortale Studien haben die Verletzung dargelegt, die sie schädigen kann. Klinische Studien haben gezeigt, wie häufig diese Gelenke eine Schmerzquelle sind, wie dieser Schmerz diagnostiziert und wie er behandelt werden kann. Während eines Auffahrunfalls wird der Rumpf des Körpers durch die Wucht nach oben und nach vorne geschleudert. Dadurch wird die Wirbelsäule von unten zusammengedrückt. Etwa 100–150 ms nach dem Aufprall verformt diese Beschleunigung nach oben die Wirbelsäule zu einem S-förmigen Gebilde [18] (Abb. 25.3). Während dieser Verkrümmung kommt es bei den unteren Halswirbeln zu einer Drehung nach hinten um eine ungewöhnlich hohe Rotationsachse herum [18]. Während dieser Drehbewegung werden die vorderen Enden der Wirbelkörper auseinandergezogen, während die Wirbelbogengelenke auf der Rückseite zusammengedrückt werden (Abb. 25.3). Im Bereich C2/3 wird die Gelenkkapsel während der Dehnungsund Beugungsphasen der Peitschenhiebbewegung größeren Belastungen als üblich ausgesetzt [26, 27]. Diese abnormalen Bewegungen können eine Reihe von verschiedenen Verletzungen hervorrufen (Abb. 25.4). Auf der Vorderseite kann der
Anulus fibrosus der Zwischenwirbelscheibe reißen. Auf der Rückseite kann die Kapsel eines Wirbelbogengelenks reißen; einer der intraartikulären Meniskoide kann gequetscht werden, wodurch eine intraartikuläre Hämorrhagie verursacht wird; oder es können Brüche auftreten – im Gelenkknorpel, im subchondralen Knochen, oder sogar in der Verbindungsstelle zwischen Bogenfuß und Bogenplatte. Jede dieser Verletzungen ist in postmortalen Studien demonstriert worden [17, 31–33]. Verletzungen der Wirbelbogengelenke sind auf einfachen Röntgenaufnahmen oder herkömmlichen Kernspintomografien nicht erkennbar. Die Auflösung dieser Bildgebungsmethoden ist nicht hoch genug, um die Verletzungen sichtbar zu machen. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass sie durch eine 3-Tesla-Magnetresonanzspektroskopie sichtbar gemacht werden können. In Zukunft könnte eine solche leistungsfähige Bildgebungsmethode die derzeitige Methode zur Diagnose von Schmerzen in den Wirbelbogengelenken ersetzen [1]. Studien bei normalen Freiwilligen [10] und bei Patienten mit Nackenschmerzen [9, 11] haben gezeigt, dass durch die Wirbelbogengelenke verursachte Schmerzen in typischen segmentalen Mustern auftreten (Abb. 25.5). Schmerzen an diesen Stellen bedeuten nicht unbedingt, dass die Schmerzen in einem Wirbelbogengelenk entstehen, denn dieselben Muster werden durch Schmerzen hervorgerufen, die von den zervikalen Zwischenwirbelscheiben ausgehen [14, 29]. Die Muster sind ein Hinweis auf die segmentalen Nerven, die die Schmerzquelle versorgen. Die Wirbelbogengelenke sind jedoch die
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Abb. 25.5. Durch die zervikalen Wirbelbogengelenke verursachte Schmerzmuster in den angegebenen Segmenten. Die
Schattierungen zeigen die Häufigkeit an, mit der die Patienten in den gezeigten Bereichen über Schmerzen berichten.
häufigste Schmerzquelle. Das Gebiet, in dem die Schmerzen eines Patienten auftreten, kann daher als Hinweis darauf dienen, in welchen Segmenten Untersuchungen durchgeführt werden sollten. Schmerzen im oberen Nacken, die sich auf den Kopf übertragen, entstehen mit größter Wahrscheinlichkeit in den C2/3-Segmenten [9]. Schmerzen im unteren Nacken, die sich auf den Schultergürtel übertragen, können von C5/6 oder C6/7 ausgehen. Wenn die Schmerzen über den Bereich des Deltamuskels in den Arm ausstrahlen, ist es eher wahrscheinlich, dass sie von C5/6 ausgehen, während wenn sie auf der Rückseite auf das Schulterblatt ausstrahlen, es wahrscheinlicher ist, dass sie von C6/7 ausgehen [9]. Es ist zwar nicht unmöglich, aber selten, dass die Gelenke C3/4 und C4/5 isolierte, alleinige Schmerzquellen sind [9]. Normalerweise treten von C3/4 ausgehende Schmerzen eher zusammen mit Schmerzen auf, die von C2/3 ausgehen; und von C4/5 ausgehende Schmerzen treten zusammen mit Schmerzen auf, die von C5/6 ausgehen. Von einem Wirbelbogengelenk ausgehende Schmerzen können diagnostiziert werden, indem diagnostische Blockaden der Nerven durchgeführt werden, die das in Verdacht stehende Gelenk innervieren [16]. Bei Gelenken von typischen Halswirbeln müssen die medialen
Äste, die sie versorgen, anästhetisiert werden. Beim C2/3-Gelenk muss der dritte Okzipitalnerv anästhesiert werden. Zur Durchführung von diagnostischen Blockaden wird eine dünne Nadel (23 oder 25 Gauge) unter fluoroskopischer Führung an der Stelle angesetzt, an der sich der Nerv oder die Nerven befinden, die das Gelenk innervieren (Abb. 25.6) und 0,3 ml eines Lokalanästhetikums werden injiziert, um den Nerv zu betäuben. Blockaden des medialen Astes haben sich bei der Diagnose von Schmerzen in den zervikalen Wirbelbogengelenken als zuverlässig erwiesen. Sie betäuben keine anderen Strukturen, welche eine alternative Schmerzquelle sein könnten [3]. Einzelne diagnostische Blockaden sind jedoch nicht aussagekräftig. Die Rate von falschpositiven Ergebnissen ist zu hoch [5]. Um zuverlässig zu sein, müssen die Blockaden bei jedem einzelnen Patienten kontrolliert werden [15]. Placebokontrollen bieten die höchste Zuverlässigkeit, aber es ist unter Umständen schwierig, sie in der gewöhnlichen Praxis durchzuführen. Ein praktischer Ersatz ist es, lokalanästhetische Vergleichsblockaden anzuwenden [4, 15]. Zu verschiedenen Zeitpunkten werden dieselben Nerven unter Verwendung von Betäubungsmitteln mit unterschiedlicher Wirkungsdauer anästhesiert, z. B. Lignocain und Bupivacain. Eine positive Reaktion bedeutet, dass die Schmerzen
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Abb. 25.6. Ein seitliches fluoroskopisches Bild einer Halswirbelsäule zeigt eine Nadel, die für eine Blockade des medialen Astes von C5 platziert wurde, um Schmerzen in den C5/6Wirbelbogengelenken zu untersuchen.
des Patienten jedes Mal vollständig verschwinden, aber für kurze Dauer, wenn das kurz wirksame Mittel verwendet wird, und für lange Dauer, wenn das lang wirksame Mittel verwendet wird. Die Ergebnisse von lokalanästhetischen Vergleichsblockaden sind nicht einwandfrei. Sie haben eine Spezifität von 65% und eine Sensitivität von 85%; aber dies ist für praktische Zwecke ausreichend [19]. Die hohe Sensitivität zeigt an, dass praktisch alle Patienten, die Wirbelbogengelenkschmerzen haben, ermittelt werden, aber die geringere Spezifität bedeutet, dass einige Patienten als positiv registriert werden, aber in Wirklichkeit keine Wirbelbogengelenkschmerzen haben. Durch die Anwendung von kontrollierten Blockaden haben epidemiologische Studien gezeigt, dass bei ungefähr 60% der Patienten mit chronischen Nackenschmerzen Schmerzen in den Wirbelbogengelenken vorhanden sind [7, 21, 22, 30, 24]. Bei Fahrern, die Opfer eines Aufpralls mit hoher Geschwindigkeit sind, ist die Häufigkeit höher [12]. Die am häufigsten betroffenen Segmente sind C2/3 und C5/6, entweder allein oder in Kombination, gefolgt von C6/7. Schmerzende Gelenke können auf einer Seite oder auf beiden Seiten auftreten.
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Schmerzen in den Wirbelbogengelenken sind die einzige Ursache chronischer Nackenschmerzen, für die es gesicherte diagnostische Tests gibt. Es ist gezeigt worden, dass keine anderen Ursachen für Nackenschmerzen so häufig sind wie Schmerzen in den Wirbelbogengelenken. Keine Form der physikalischen Therapie und keine Form der medikamentösen Behandlung hat sich für die Behandlung von Schmerzen in den Wirbelbogengelenken als wirksam erwiesen. Intraartikuläre Injektionen mit Kortikosteroiden haben sich als nicht wirksamer erwiesen als ausschließliche Injektionen mit Lokalanästhetika [6]. Obwohl es bei manchen Patienten durch eine der Injektionsarten zu einer langfristigen Linderung kommt, treten die Schmerzen bei den meisten innerhalb weniger Tage erneut auf. Die einzige Form der Behandlung, die sich als wirksam erwiesen hat, ist die RadiofrequenzNeurotomie des medialen Astes. Bei einer Radiofrequenz-Neurotomie des medialen Astes wird eine Elektrode an den Nerven angesetzt, die das schmerzende Gelenk innervieren, und die Elektrode wird benutzt, um diese Nerven zu koagulieren [16] (Abb. 25.7). Dadurch wird das Leitvermögen in diesen Nervenbahnen blockiert und so der Schmerz beseitigt. Bei der einzigen gesicherten Technik für die zervikale Radiofrequenz-Neurotomie werden multiple Läsionen entlang eines obliquen und eines sagittalen Einführungskanals angebracht [16]. Es sind zwei Einführungsstellen erforderlich, um die Länge des koagulierten Nervs zu maximieren. Der oblique Einführungskanal trifft über die vordere Außenseite der Verbindungsstelle zwischen Bogenfuß und Bogenplatte auf den Nerv. Der sagittale Einführungskanal trifft über die Seite der Verbindungsstelle auf den Nerv. Multiple Läsionen müssen bei jedem Einführen angebracht werden, um mögliche Variationen der genauen Lage des Nervs abzudecken. Weniger Läsionen sind erforderlich, wenn Elektroden mit großem Durchmesser verwendet werden. Multiple Läsionen von oben nach unten über die Verbindungsstelle zwischen Bogenfuß und Bogenplatte sind erforderlich, wenn Elektroden mit kleinem Durchmesser verwendet werden. Wenn man versucht, eine einzige Läsion mit einer Elektrode mit kleinem Durchmesser anzubringen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man den Nerv verfehlt oder nicht ausreichend koaguliert. Richtlinien für die korrekte Durchführung einer zervikalen RadiofrequenzNeurotomie sind veröffentlicht worden [16].
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Abb. 25.7 a, b. Seitliche fluoroskopische Ansichten einer für eine Neurotomie des medialen Astes von C5 angesetzten Elektrode. a Oblique Einführung, die über den anterolateralen Bereich der Verbindungsstelle zwischen Bogenfuß und Bogen-
platte von C5 auf den Nerv abzielt. b Sagittale Einführung, die über den lateralen Bereich der Verbindungsstelle auf den Nerv abzielt. Eine Blockadenadel bleibt bereit, um bei Bedarf eine zusätzliche Anästhesie durchzuführen.
Diese Variante der zervikalen RadiofrequenzNeurotomie ist in einem placebokontrollierten Versuch [20] und durch anschließende langfristige Folgestudien [2, 13, 23, 25] validiert worden. Etwa 70% der behandelten Patienten können damit rechnen, dass sie für die Dauer von ungefähr einem Jahr vollständig von ihren Schmerzen befreit werden. Wenn die Schmerzen wieder auftreten, kann die Behandlung wiederholt werden, um eine erneute Befreiung von den Schmerzen herbeizuführen. Die Behandlung kann anscheinend beliebig oft wiederholt werden, falls dies erforderlich ist. Folgezeiten von bis zu 8 Jahren sind beschrieben worden [13, 23, 25]. Die zervikale Radiofrequenz-Neurotomie ist die einzige Behandlung, die erwiesenermaßen in der Lage ist, eine vollständige Befreiung von Nackenschmerzen herbeizuführen. Dadurch, dass sie die Schmerzen beseitigt, löst sie auch die sekundären psychischen Symptome der chronischen Nackenschmerzen [34]. Ihre Wirksamkeit wird durch den Kompensationsstatus nicht maßgeblich beeinträchtigt [2, 13, 25, 28]. Andere Varianten der Radiofrequenz-Neurotomie werden praktiziert, insbesondere in Europa und in den Vereinigten Staaten. Bei diesen Varianten wird auf andere Bereiche abgezielt, es
werden kleinere Elektroden verwendet oder nur eine Läsion pro Nerv angebracht. Keine dieser anderen Varianten hat sich als wirksam erwiesen.
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26 Zahnärztliche Behandlung kraniozervikaler mandibulärer Funktionserkrankungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung H. Gelb, H. Baltin
In der Zahnmedizin wie auch in der Medizin ist die Diagnose und Behandlung des chronischen Schmerzpatienten eines der schwierigsten Probleme, mit denen der Mediziner konfrontiert ist. Zum Teil liegt dies daran, dass in unserem Grundstudium und der Facharztausbildung der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Umgang mit akuten Schmerzpatienten gelegt wird. Infolge der Veränderungen in der Art und Weise, wie wir heute an die Behandlung dieser Patienten herangehen, haben wir unseren Horizont erweitert und schließen jetzt einen dreifachen Ansatz in unsere Diagnose ein, welcher auch die Zähne und ihren Halteapparat, den Oberkiefer und den Unterkiefer, Muskel-, Nerven- und Gefäßsysteme sowie die Strukturen innerhalb jedes Kiefergelenks berücksichtigt. Diese Trias ist keine geschlossene Einheit, sondern weist einen wesentlichen Zusammenhang mit dem übrigen Organismus auf. Die meisten seiner Symptome würden den Patienten normalerweise nicht in erster Linie zum Zahnarzt führen, um sich behandeln zu lassen. Darüber hinaus erkennen die meisten Ärzte kraniozervikale mandibuläre Funktionsstörungen nicht als Erkrankung, weil sie dies nie gelernt haben und es daher nicht in eine Differenzialdiagnose einbeziehen. Das ist eigentlich ziemlich verwunderlich, denn chronischer Schmerz ist in den USA eine 60- bis 90-Milliarden-Dollar-Industrie, wobei 40% auf Kopf und Gesicht entfallen. Außerdem hat die Internationale Kopfschmerzgesellschaft zwei von dreizehn Kopfschmerztypen dem zahnärztlichen Bereich zugeordnet. Beim einen handelt es sich um den Spannungskopfschmerz, beim anderen um Kopf- oder Gesichtsschmerzen in Verbindung mit einer Funktionsstörung von Schädel, Hals, Augen, Ohren, Nase, Nebenhöhlen, Zähnen, Mund oder anderen Gesichtsoder Schädelstrukturen. Kopfschmerzen werden in drei Hauptkategorien eingeteilt, 2% sind
Kopfschmerzen durch Traktion und Entzündungen, 8% Migräne und 90% durch Muskelkontraktion/-spannung verursachte Kopfschmerzen, bei denen der Zahnarzt Abhilfe schaffen kann. Insgesamt leiden in den USA 50 Millionen Menschen unter Kopfschmerzen. Eine weitere Gruppe von Symptomen, bei denen Zahnärzte helfen können, ist Tinnitus und Schwindel, wo die Patientenzahlen in die Millionen gehen. Bei der Durchführung einer Differenzialdiagnose bei kraniozervikalen mandibulären Funktionsstörungen könnte man sagen, dass sich die möglichen Ursachen in drei Hauptgruppen unterteilen lassen [2]: ] Allgemeine Systemerkrankungen, wie HerzKreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen oder arthritische Erkrankungen. ] Lokale Symptomatik, z. B. in Ohren, Nase, Nebenhöhlen, Hals oder Halswirbelsäule. ] Anomalien des kraniozervikalen mandibulären Systems. Es ist unbedingt erforderlich, dass wir zuerst durch Beratung mit verschiedenen Fachärzten die folgenden möglichen Ursachen aus den Gruppen I und II ausschließen, bevor wir zu Gruppe III übergehen. – Aurale, nasale und nasopharyngeale Erkrankungen. Es ist erforderlich, das Vorhandensein von möglichen nasopharyngealen Beschwerden, wie z. B. lymphoider Hypertrophie, Zysten oder Tumoren, auszuschließen. Es sollten audiometrische Tests vorgenommen werden, um die genaue Art des Gehörverlusts zu bestimmen, welcher möglicherweise durch den physiologischen Verlust des Hörvermögens im Alter verursacht wird. – Lymphadenie, besonders der Parotis, und Infektionen durch durchbrechende und impaktierte Weisheitszähnen, sowie Restinfektionen.
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Zahnärztliche Behandlung kraniozervikaler mandibulärer Funktionserkrankungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
– Funktionsstörungen neuralen Ursprungs, wie z. B. isolierte oder assoziierte Lähmungen von Hirnnerven. – Kollagenosen, wie rheumatoide Arthritis oder Osteoarthritis, und Sclerodermie, welche das Kiefergelenk beeinträchtigen können. – Dyskrasie der Knochen, einschließlich Osteoporose. – Traumatische Funktionsstörungen [4], egal wie lange sie schon vorhanden sind. Burns [1] stellt dar, dass eine normale Zirkulation zum Gehirn durch folgende Faktoren gewährleistet wird: durch ] Schwankungen im systemischen Blutdruck, ] die Nerven, die die meningeale Zirkulation steuern und ] den Vasomotor für die Blutgefäße des Gehirns. Wenn ein Trauma zwischen der oberen Thoraxöffnung und der Schädelbasis auftritt, kann dies Grenzstränge, Hirnnerven, Venen, Arterien und Lymphgefäße beeinträchtigen. Als Folgeerscheinung treten Blutandrang im Gehirn, ein gestörter Stoffwechsel der Zerebrospinalflüssigkeit, Gewebeschwächen, Funktionsstörungen und Beschwerden wie Kopfschmerzen und Neuralgien auf. Eine Schädigung der Blutgefäße und Nerven, die durch die Foramina transversaria verlaufen, führt zu einer vielfältigen Symptomatik von neurologischen und neurovaskulären Beschwerden, welche auf dem Röntgenbild nicht zu erkennen sind. Dem Patient wird dann vielleicht geraten, einen Psychiater aufzusuchen, obwohl die Beschwerden in erster Linie struktureller Natur sind. Dies könnte erklären, warum Schleudertrauma-Patienten weniger aktiv und aufmerksam sind, warum geistige Aktivität zur Anstrengung wird, warum es zu Schlafstörungen und einer Beeinträchtigung der gewohnten Fähigkeiten kommt und warum der Patient den Anforderungen seiner Umwelt gegenüber weniger stabil ist und Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Angst und Leistungsschwäche zeigt. „Eine Schleudertraumaverletzung (des Nackens)“, schreiben Leopold und Dillion [5], „ist psychologisch einzigartig, insofern als sie sowohl durch ihre Plötzlichkeit als auch durch ihre unbewusste Bedeutung (dass die Kontrolle – der Kopf und der Nacken, welche verletzt wurden – vom Körper abgetrennt werden könnte)
]
die Tendenz hat, auch bei normalerweise stabilen und gut integrierten Menschen größere Angstgefühle auszulösen als andere Krankheitsprozesse und Verletzungen an anderen Körperteilen. Wir behaupten, dass die emotionalen Aspekte fester Bestandteil der Schleudertraumaverletzung sind, dass sie nicht von den in der Literatur hervorgehobenen Begleitumständen abhängig sind, und dass sie nicht maßgeblich mit vorher bestehenden psychologischen Erkrankungen zusammenhängen“ [5]. Die vorhergehende Einschätzung ist größtenteils gut, außer dass sie auf einer falschen Voraussetzung aufbaut: dass die Verletzung auf den Kopf- und Nackenbereich beschränkt ist. Wenn der ganze Körper einen derartigen Schock erleidet, ist es kein Wunder, dass es sogar bei „stabilen und gut integrierten Leuten“ mit keiner „vorher bestehenden psychologischen Erkrankung“ zu ernsthaften Störungen kommt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir Burns darin zustimmen, dass solche Probleme in erster Linie mehr physisch als psychisch sind, wenn man die vollständige Bedeutung der Verletzung in ihrem größeren Zusammenhang berücksichtigt. Für die Herstellung und Aufrechterhaltung einer normalen kraniozervikalen mandibulären Artikulation ist es notwendig, dass das System als ganzes und seine Bestandteile zur Adaption fähig sind. Die knöchernen Teile des mastikatorischen Systems passen vielleicht in ihrer Größe nicht zusammen, die Zwischenräume sind vielleicht mit der Kieferbewegung nicht vereinbar und die Zähne selbst sind vielleicht zu groß oder zu klein. Diese genetischen Variationen wirken sich bei jedem unterschiedlich aus, und weil Adaption eine Funktion des Gewebeverhaltens und der Lernfähigkeit ist, funktioniert der Gebissapparat bei manchen Menschen besser als bei anderen. Die Funktionalität bleibt trotz Verlust oder Beschädigung erhalten, aber es gibt große Unterschiede, wie viel das System tolerieren kann, bis es Anzeichen von Überlastung zeigt, indem es andere dysfunktionelle Zustände aufweist. Letztere können extreme Abnutzung sein und generalisierte traumatische Effekte in Zusammenhang mit Parodontalerkrankungen, die Zerstörung und Verschiebung von Zähnen ohne ausreichenden Halt oder degenerative Gelenkveränderungen. Wenn solche Symptome auftreten, zeigt dies, dass die Grenzen der physiologischen Anpassungsfähigkeit überschritten worden sind und der schwächste Teil dieses spezifischen
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H. Gelb, H. Baltin
mastikatorischen Systems zusammengebrochen ist. Bei manchen Patienten ist das vielleicht das Parodontalgewebe, während es bei anderen vielleicht entweder das neuromuskuläre System ist oder die Kiefergelenke und ihre Bestandteile. Die Erhebung einer gründlichen allgemeinmedizinischen, zahnärztlichen und kraniomandibulären Anamnese in Verbindung mit einer umfassenden klinischen Untersuchung wird sich immer noch als der effektivste Ansatz erweisen, um den Zustand des Patienten zu diagnostizieren. Es gibt einige diagnostische Tests und Beobachtungen, die bei der Erstellung einer vorläufigen Diagnose einer Funktionsstörung des Kiefergelenks nützlich sein können. Einer besteht darin, die Gelenke seitlich mit erheblichem Druck abzutasten und den Patienten den Mund öffnen zu lassen. Wenn der Patient über Schmerzen klagt, weist dies auf eine Verletzung oder Irritation im eigentlichen Gelenk hin. Ein anderer sehr wichtiger Test besteht darin, den kleinen Finger in den rechten und linken äußeren Gehörgang des Patienten zu legen und ihn den Mund öffnen und schließen zu lassen. Viele Patienten werden nicht in der Lage sein, den Mund ohne Schmerzen bis auf die hinteren Zähne hinunter zu schließen. Beim Schließen wird man ein Knacken wahrnehmen können sowie ein Reibegeräusch. Dies, in Verbindung mit Röntgenbildern sowie einer dreidimensionalen Modellanalyse, bestätigt dem Zahnarzt ein orthopädisches Ungleichgewicht. Auch Gelenkgeräusche weisen auf eine Erkrankung hin. Durch Anlegen eines Stethoskops über den Gelenken können Geräusche hörbar werden, wenn der Patient den Mund öffnet und schließt. Ein Reibeoder Knirschgeräusch zeigt bei gewissen Kieferbewegungen an, dass möglicherweise ein Riss im Meniskus oder Diskus vorhanden ist. Dies ist ein wichtiges Anzeichen, welches auf eine osteoarthritische Veränderung hinweist. Unser erstes Ziel im Therapieablauf ist, dem Patienten Zuversicht zu geben, dass ihm geholfen werden kann. Dies verbessert sich im Laufe der Zeit und durch Erfahrung. Es wird mit dem Patienten auch der Zusammenhang zwischen Kieferposition, Muskelverkrampfungen, myofaszialen Triggerpunkten und das Konzept einer Schmerzübertragung von Kaumuskeln, supraund infrahyoidalen Muskeln und den prä- und postvertebralen Muskeln besprochen. Auch das Konzept der stomatognathen Trias wird besprochen.
Manchmal lindern palliative Maßnahmen in Verbindung mit psychologischer Beratung, Stressbewältigungs- und Entspannungstherapie die Symptome. In schwereren Fällen jedoch, in denen schon eine langjährige Gewebeveränderung in Verbindung mit einer genetischen Disposition bestanden hat, kann eine aggressivere Therapie erforderlich sein. Bei Fällen mit Kiefergelenkschmerzen und Knacken im Gelenk in Verbindung mit einer myofaszialen Erkrankung kann eine orthopädische Therapie nötig sein. Bevor dieses orthopädische Ungleichgewicht korrigiert wird, gibt es normalerweise keine andauernde Linderung. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Ausmaß dieser Erkrankung noch nicht von allen betroffenen Parteien voll erkannt worden. Der unglückliche Zustand desjenigen, der an dieser Erkrankung leidet, ist in keiner Weise nur auf den Patienten beschränkt, sondern betrifft auch Familie und Freunde. Es gibt ausreichende Beweise dafür, dass kraniozervikale mandibuläre Funktionsstörungen in gewissem Maße Angstzustände hervorrufen und umgekehrt, obwohl dies nicht das ganze Bild ist. Wir müssen logischerweise daraus schließen, dass diese Erkrankungen häufiger auftreten werden, wenn sich die Zivilisation weiter entwickelt und mechanisiert oder wenn wir uns den Veränderungen in unserer Umwelt nicht anpassen können. Weichere Nahrung, Mangelernährung und kürzere Stillzeiten werden zu vermehrter Malokklusion führen und die kraniofasziale Morphologie der Bevölkerung verändern. Dies wird zu einem vermehrten Auftreten von kraniozervikalen mandibulären Funktionsstörungen führen. Ein Trauma der Halsmuskulatur nach einer Schleudertraumaverletzung verursacht auch Veränderungen in der Anordnung der Halswirbel. Der daraus resultierende Verlust der lordotischen Krümmung stört das orthostatische Gleichgewicht des Zungenbeins, des Kiefergelenks und den Zusammenhang zwischen kraniomandibulärem System und der Wirbelsäule [3]. Rocabado [6], ein Physiotherapeut, entwickelte eine Methode der kephalometrischen Untersuchung, durch die man den Schädel, die Halswirbelsäule, den Unterkiefer und das Zungenbein in den Zusammenhang einer biomechanischen Funktionseinheit bringen kann. Dies zeigt auch, dass diese Strukturen nicht isoliert sind. Diese Methode ermöglicht es dem Mediziner, zwischen normalen und abnormen Krüm-
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Zahnärztliche Behandlung kraniozervikaler mandibulärer Funktionserkrankungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
mungen der Halswirbelsäule zu unterscheiden, sowie zwischen normalen und abnormen kraniozervikalen Zusammenhängen. Diese Zusammenhänge können durch herausnehmbare orthopädische Korrektur-Apparaturen verändert werden, in Verbindung mit manuellen orthopädischen Techniken, wobei die beiden Behandlungen medizinisch aufeinander abgestimmt werden müssen.
]
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219
27 Neurofeedback M. B. Sterman, T. Egner, H. Baltin
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die neurophysiologischen Grundlagen, die Grundlagenliteratur sowie über die zur Zeit angewandten Methoden bei dem Neurofeedbacktraining. Grundlage für das Neurofeedback sind die gut dokumentierten Ergebnisse, die von Sterman in den 60er Jahren im Rahmen einer Studie entdeckt wurden, in der es darum ging, die Toxizität eines Treibstoffgases an Katzen zu untersuchen. Ab einer gewissen Konzentration bekamen die Katzen epileptische Anfälle. Es fiel bei dieser Versuchsserie auf, dass ein Teil der Katzen viel höhere Konzentrationen vertrug. Diese Gruppe war vorher in einer völlig anderen Versuchsreihe mit operant-conditioning darauf trainiert worden, im Bereich des sensomotorischen Gyrus die Frequenz 12–15 Hz zu trainieren, um eine Belohnung zu bekommen. Die Beobachtung, dass mit dem Hochtrainieren dieser Frequenz epileptische Anfälle verhindert werden konnten, war dann die Basis für die weiteren Forschungen Stermans, u. a. in den folgenden Jahrzehnten. Die Fortschritte in der Computertechnologie erleichterten diese Entwicklung, so dass heute sehr subtile Diagnoseund Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Auch ergaben sich für viele andere Störungen breite Behandlungsoptionen mit dem Neurofeedback. Voraussetzung dafür ist eine genaue Analyse der quantitativen EEG-Messungen, deren Vergleich mit einer gesunden Vergleichspopulation und daraus resultierend die Erstellung einer Behandlungsstrategie. Die klinischen Ergebnisse schlagen sich dann auch nieder in einer Normalisierung des EEGs. Aufgrund der Ergebnisse ist diese Behandlung heute eine gute Ergänzung bzw. teilweise auch ein guter Ersatz für die medikamentöse Therapie. Die theoretischen Grundlagen sprengen den Rahmen dieses Beitrages, deshalb sei auf die beigefügte Literaturübersicht hingewiesen.
Neurofeedback heute Die Neurofeedbackbehandlung machte große Fortschritte durch die Entwicklung der Computertechnologie und der Software. Jedoch hat die Leichtigkeit in der Entwicklung neuer Softwareprogramme für die Bedienungsfreundlichkeit und Animationen zusammen mit einer sehr unterschiedlichen Gruppe an Professionalisten und Halbprofessionalisten dazu geführt, dass sich Defizite hinsichtlich Methodologie und Behandlungsstandards ergaben. Auf der anderen Seite kam es hierdurch zu gemeinsamen Forschungen innerhalb verschiedener akademischer und medizinischer Fachrichtungen, was bis dahin in der Form nicht stattgefunden hatte. Ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung erfordert die Praxis des Neurofeedbacks ein elementares Verständnis für die Grundprinzipien der Neurophysiologie, der Verhaltenstherapie, der Neuropathologie und letztlich eine elementare klinische Routine. Der intensive Kontakt mit dem Klienten erfordert Verständnis für die klinische Problematik. Da die Objektivität des EEGs, die Durchführung des operant conditioning und deren klinische Ergebnisse das Königreich sozusagen des Neurofeedbacks sind, ist die Dokumentation und die Verantwortlichkeit des Therapeuten unabdingbar. Da es Behandler mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen und auch verschiedene Behandlungsstrategien gibt, basieren diese Zusammenfassung und die darin enthaltenen Empfehlungen auf einer Praxiserfahrung, die diese Prinzipien verfolgt hat. Vernünftige Standards erfordern, dass der Behandlungsplan für ein Neurofeedbackprotokoll mit einer umfassenden Analyse des quantitativen EEGs (qEEG) beginnt. Dies beinhaltet die Aufnahme von 19 vorgegebenen Ableitungen über den gesamten cerebralen Cortex (entspre-
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Neurofeedback
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chend dem internationalen 10/20 System) während verschiedener Aufnahmebedingungen, nämlich: entspannter Zustand mit geschlossenen und offenen Augen, sowie mit aktiven Aufgaben wie Lesen, Gedächtnisübungen, Rechnen und Problemlösen. Diese Daten werden dann digital verarbeitet und einer Frequenz- und Amplitudenanalyse unterworfen, wobei verschiedene Versionen von spektralen Umformungs- und Grundlagendaten verwendet werden (Etevenon 1986; Johnston, Gunkelman u. Lunt 2005; Lorensen u. Dickson 2004). Es werden sodann die quantitativen und beschreibenden Daten, welche die Magnitude oder deren Quadratzahl, nämlich die Spectralpower, sowie deren Verteilung, die während dieser einzelnen Aufnahmekonditionen aufgenommen wurden, in verschiedenen Tabellen und Graphiken aufgezeigt und dann statistisch mit geeigneten Daten verglichen. Abweichende lokale Muster sowie gestörte Interaktionen zwischen verschiedenen Ableitungsorten können durch
diese Analyse erkannt und für das Neurofeedbackprotokoll benutzt werden. Die letzten Neuerungen dieser Methodik konnten Verzerrungen durch Artefakte, circadiane Rhythmen und statistische Fehler reduzieren (Kaiser u. Sterman 2001, 2005). Die Bedeutung und Genauigkeit bei dieser Analyse kann nicht genügend hervorgehoben werden, da von diesen Befunden die Entwicklung der Neurofeedbackbehandlungsstrategien abhängt und darüber hinaus die Qualität der Anwendung. Follow-up qEEGs nach einer Serie von Neurofeedbacksitzungen belegen die Veränderungen, die sich auch im klinischen Behandlungsergebnis niederschlagen. Ein solches Beispiel eines statistisch signifikant abweichenden Frequenzmusters eines 37jährigen Epileptikers zeigt Abbildung 27.1. Dieser Patient litt unter Anfällen mit einem dokumentierten Fokus im li. Temporallappen und den angrenzenden Gebieten, was ausgelöst worden war durch einen schweren Schlag an den Kopf.
Abb. 27.1. BrainMaps einer „Augen-offen“ Ableitung, welche die durchschnittlichen Magnitudenverteilung von fünf 3 HzBändern zeigt, vor und nach Neurofeedbackbehandlung, bei einem Patienten mit fokaler Epilepsie nach einem SchädelHirntrauma. An der linken Bande ist die Standardverteilung
farblich abgebildet. Pinkfarbige Bereiche zeigen eine > 2 Standabweichung. Vor der Behandlung sah man signifikant erhöhte Werte links zentrotemporal und präfrontal bei 5–7 und 7–9 Hz. Nach einem Behandlungszyklus, ca. 1 Jahr später, zeigte sich eine völlige Normalisierung. Details siehe Text.
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]
M. B. Sterman et al.
Die abgebildeten Brain-maps sind aus dem qEEG-Analyse Programm des Sterman-KaiserImaging-Laboratory (SKIL). Aufgezeichnet ist die Verteilung der durchschnittlichen SpektralMagnituden in 5 Frequenzbändern an den 19Standardableitungspunkten. Die Daten stammen von einer 3 Minuten Aufnahme bei geöffneten Augen und wurden statistisch verglichen mit einem altersentsprechendem Normalbefund. Im oberen Bild sieht man deutlich die normabweichende Magnitudenerhöhung im linken Temporallappen bei den Frequenzen 5–7 und 7–9 Hz. Die umliegenden zentralen und präfrontalen waren ebenfalls betroffen. Es wurde, basierend auf diesem Befund, ein Neurofeedbackprotokoll erstellt und das Behandlungsergebnis sieht man in dem unteren Bild. Es ist wichtig zu vermerken, dass diese Behandlungsstrategie die Relevanz des SMR-Rhythmus berücksichtigte sowie sich an den qEEG Befunden orientierte, beides von essentieller Bedeutung für ein sinnvolles Behandlungsprogramm. Die Hardware und die Software, die beim Neurofeedback Training benutzt wird, muss für die Datensammlung und die Auswertung geeignet sein. Es gibt eine große Anzahl an Ausrüstungsoptionen für das qEEG mit großen Preisunterschieden, was abhängt von der Qualität und der Softwarefunktion. Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass die sehr teuren Systeme für Forschung und medizinische Applikationen entwickelt wurden, jedoch nicht für die Belange, wie sie für das Neurofeedback notwendig sind. Hier liegen die Unterschiede hauptsächlich in der Software. Das Wesentliche des qEEGs, welches für Neurofeedback herangezogen werden soll, ist die Möglichkeit, Frequenz/Topographie-Besonderheiten entsprechender EEG Pathologien darzustellen. Die Software für die Analyse muss deshalb genaue Auskunft über topografische Frequenzabweichungen geben, sowie Störungen in der Koordination zwischen verschiedenen Gehirnregionen anzeigen, wie dies mit der Comodulation und der Kohärenz möglich ist (Sterman u. Kaiser 2001; Thatcher 1992). Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass für das Neurofeedback niemals die quadrierten Magnituden hergenommen werden. Dementsprechend haben manche Programme gar nicht diese Möglichkeit, sie können nur die Magnitude anzeigen. Außerdem erfordert die Spezifizierung normaler und abnormer Frequenzen die Analyse einzelner Frequenzbänder, wobei die Bezeichnung Alpha
oder Theta nicht benutzt wird. Diese „traditionellen Bänder“ übersehen signifikante individuelle Unterschiede und verdrehen so die Bedeutung relevanter Frequenzen (Kaiser 2001; Klimesch, Schminke u. Pfurtscheller 1993). Neurofeedbacktrainingssoftware muss es ermöglichen, operant-conditioning sinnvoll in die Zielsetzungen umzusetzen. Aus der einschlägig etablierten wissenschaftlichen Literatur ergeben sich die Maximen, die für ein effektives operant-conditioning Training notwendig sind. Zum Beispiel muss beim Feedbacktraining der Test sehr subtil sein, dies gilt sowohl beim klassischen wie beim operant-conditioning (Brogden 1952; Ferster u. Skinner 1957). Das bedeutet, dass jede Belohnung ein unabhängiges Ereignis ist, dem eine kurze Pause folgt bis zum nächsten Anlauf. Wie empirische Daten zeigen, muss Antwort und Belohnung wirklich bedingt sein, um optimales Lernen zu ermöglichen, wobei die Belohnung unmittelbar auf die Erwiderung erfolgt (Felsinger, Gladstone, Yamaguchi u. Hull 1947; Grice 1948). Weiter dürfen Ereignisse, die sowohl mit der Antwort als auch mit Belohnung assoziiert werden, nichts enthalten, wodurch die erwünschte EEG-Antwort blockiert oder sonst wie beeinflusst werden kann (Pearce u. Hall 1978; Williams 1999). Zum Beispiel kann ein visueller oder auditiver Stimulus, der einer Belohnung vorausgeht, aber nicht in Verbindung steht, mit der erwünschten EEG-Antwort den Verstärkungseffekt einer Belohnung annehmen. Nicht alle Entwickler von Neurofeedbackprogrammen erfüllen diese Anforderungen. Schließlich vielleicht ebenso wichtig wie die technischen Vorraussetzungen ist es, darauf hinzuweisen, dass die Softwareprogramme und Trainingsstrategien Stress üben sollten und nicht nur Entertainment. Definitionsgemäß wird das Neurofeedbacktraining bei Epilepsie heute bestimmt durch die EEG-Pathologie, wie sie durch das qEEG herauskristallisiert wurde und unter Berücksichtigung des antiepileptischen Effekts durch des SMRTraining. Betreffs der EEG Pathologie sei darauf hingewiesen, dass sich die Epilepsiepathologie im EEG auf vielerlei Weise äußern kann, außerdem kann die antikonvulsive Medikation das EEG verändern. Man beobachtet atypische langsame oder schnelle EEG-Muster. Manchmal werden sie begleitet von flüchtigen Spike-and-wave Entladungen, sharp waves oder Paroxysmen genannten hochamplitudigen Entladungen, die man zwar registriert, aber für die qEEG Analyse
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eliminiert, damit man für das Trainingsprotokoll ein stabiles Hintergrund EEG bekommt. Das Wissen um diese EEG-Charakteristiken und Komplexitäten ist unabdingbar, um Neurofeedbacktraining durchzuführen. Auf der anderen Seite ist aus der einschlägigen Literatur ersichtlich, dass trotz der medikamentenbedingten Veränderungen Feedbackstrategien sehr erfolgreich sind, die auf eine Unterdrückung sowohl der abnormalen Hintergrundmuster als auch der transienten abnormalen Ereignisse abzielen in Verbindung mit einer Erhöhung des zentralen SMR-Rhythmus (Literaturüberblick siehe: Sterman 2000). Oft sind die EEG-Pathologien, die sich im qEEG zeigen, sehr spezifisch. Zum Beispiel war in dem obigen Beispiel die stärkste Pathologie auf die linke zentro-temporale Region beschränkt (Abb. 27.1, oben), dort, wo der Aufprall stattgefunden hatte. Diese Verletzung resultierte in lokalisierter Hyper-Exitabilität mit kognitiven Störungen und dem Auftreten von generalisierten fokalen Anfällen. Dieser Patient war in gehobener Stellung als Finanzverwalter tätig gewesen, und konnte zu Beginn der Neurofeedbackbehandlung seiner Tätigkeit in keiner Weise nachkommen. Er litt unter Gedächtnisproblemen und Affektinkontinenz, die durch den Unfall verursacht war, außerdem war er durch die antiepileptische Medikation verlangsamt. Er wollte wieder so werden wie früher. Für das Neurofeedbackprotokoll wurde die Version „Augen offen“ hergenommen, da dies der Trainingssituation entspricht (Abb. 27.1). Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass ähnliche abnorme Muster auch beim Rechnen und Lesen zu sehen waren. Der am meisten betroffene Frequenzbereich war bei 6–8 Hz, der signifikant erhöht war. Dementsprechend wurde im Neurofeedbackprotokoll angestrebt, bei T3 6–8 Hz zu unterdrücken, während gleichzeitig 12–15 Hz bei C3 erhöht werden sollte. Eine Belohnung kam nur zustande, wenn beide Parameter gleichzeitig für mindestens 250 Millisekunden getroffen wurden. Wöchentlich wurden 2 einstündige Behandlungssitzungen für 6 Wochen durchgeführt, danach 1mal/Woche für 30 Minuten. Die oben erwähnten Behandlungsprinzipien wurden befolgt. Im Display, das der Patient sah, erschienen zwei senkrechte Balken, in hellblau und dunkelblau. Der hellblaue Balken (6–8 Hz bei T3) musste unterhalb einer Schwelle kommen, die 20% unter dem durchschnittlichen Wert dieser Fre-
Neurofeedback
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quenz lag, während gleichzeitig der dunkelblaue Balken (12–15 Hz bei C3) 20% über dem Durchschnittswert kommen musste. Immer wenn beide Ereignisse für eine viertel Sekunde zusammentrafen, wurde als Belohnung auf dem Schirm mitgezählt und es ertönte zusätzlich ein akustisches Signal. Danach pausierte das System für 2 Sekunden, bis es wieder aktiviert wurde. Vor Beginn der 3-minütigen Sitzungsabschnitte wurde das Behandlungsziel (Anzahl der Belohnungen) definiert. Je nach Fortschritt wurden die Schwellen angepasst. Es gibt verschiedene Animationen für Neurofeedback. Es gibt Bildsequenzen, Videoclips mit Stop/Start Funktion, Man kann diese benutzen, um anfänglich eine Fokussierung für eine Aufgabe zu erreichen. Immer sollte darauf geachtet werden, wie bereits erwähnt wurde, dass das Training im Vordergrund zu stehen hat, vergleichbar mit einem körperlichen Ausdauertraining. Bei dem eben geschilderten Patienten war es nach 42 Trainingssitzungen von 2–4 Anfällen pro Woche nach einem Monat zu 1–2 Anfällen gekommen. Nach 4-monatigem Training wurde er in einen Gerichtsprozess involviert mit schweren persönlichen Verwicklungen. Dabei erhöhte sich die Anfallshäufigkeit wieder. Dies war, bedingt durch den Stress, zu erwarten gewesen. Nach dieser Stressphase wurden die Anfälle wieder weniger und er erlebte lange anfallsfreie Perioden. Die Medikamente wurden reduziert, er konnte wieder seine Arbeit aufnehmen und ein normales Leben führen. Ein Kontroll-qEEG nach einem Jahr zeigte keine fokalen Abnormitäten mehr sowie eine völlige Normalisierung (Abb. 27.1, unten). Dieser Fall war relativ einfach und nicht kompliziert durch zusätzliche Erkrankungen, eine lange Vorgeschichte mit falsch verordneten Medikamenten und deren Nebenwirkungen, Verhaltensstörungen oder anderen negativen Einflüssen. Oft erlebt man solche Patienten mit zusätzlichen Erschwernissen, deshalb ist eine enge Zusammenarbeit mit den anderen Ärzten, die den Patienten betreuen, notwendig, um die Medikation zu koordinieren, wie auch eine Rückkoppelung mit dem familiären Umfeld unerlässlich ist. Die vielleicht wichtigste Variable, die den Erfolg einer Neurofeedbackbehandlung mitbestimmt, ist die ständige Motivierung des Patienten bzw. dessen Umfeld. Es erscheint wichtig, darauf hinzuweisen, dass die meisten Epilepsiepatienten, die an wissen-
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M. B. Sterman et al.
schaftlichen Neurofeedbackstudien teilgenommen haben, und viele, die heute diese Behandlung suchen, Therapieversager der antikonvulsiven Behandlung sind. Ganz besonders ist darauf hinzuweisen, dass oft positive Ergebnisse bei dieser schwer zu behandelnden Untergruppe von Epilepsiepatienten zu erreichen sind. Deshalb ist es bedauerlich, dass einige Fachleute die Neurofeedbackbehandlung bei Epilepsie mangels noch besser reproduzierbaren und noch erfolgreicheren Ergebnissen kritisieren. Es ist doch im Gegenteil evidenzbasiert so, dass die meisten dieser schwierigen, ansonsten chancenlosen Patienten einen Benefit haben, und einige einen dramatischen. Unter Berücksichtigung der normalen Nebenwirkungsraten und Kosten, die mit einer lebenslangen Pharmakotherapie verbunden sind, betrachten wir die Neurofeedbackbehandlung nicht als letzte Behandlungsoption ausschließlich für Medikamentenversager, sondern als machbare Alternative für jeden Epileptiker. Im Gegensatz zum medikamenten-induzierten Symptommanagement kann sich die Anfallsschwelle im Rahmen einer Neurofeedbackbehandlung durch eine Modulation der thalamocorticalen Erregbarkeit so erhöhen, dass sich dadurch eine weitere Behandlung oft oder zum Teil erübrigt. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Neurofeedbackbehandlung gut ausgebildete und sachverständige Behandler voraussetzt.
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28 Das leichte Schädel-Hirn-Trauma im Sport „Mild Traumatic Brain Injury“ mTBI N. Biasca *
Zusammenfassung Das leichte Schädel-Hirn-Trauma (engl. Mild Traumatic Brain Injury mTBI) ist eine der häufigsten Verletzungen überhaupt, sowohl in der Hausarztpraxis als auch in der Notaufnahme des Spitals. Oft tritt diese Art der Verletzung im Sport bzw. beim Sportler auf, so dass sich nicht nur die Frage nach der korrekten Behandlung stellt, sondern auch nach dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme der sportlichen Tätigkeit. Diese Verletzungsart wird im Sport leider oft bagatellisiert. Der behandelnde Arzt geht meist davon aus, dass es sich hierbei in den meisten Fällen um eine nicht-strukturelle Hirnverletzung handelt, die in jedem Fall eine blande Prognose hat. Dieser Artikel zeigt, dass es sich auch beim mTBI um eine behandlungsbedürftige strukturelle Hirnschädigung mit potentiell lebensbedrohlichen Folgen handeln kann. Die Therapie sollte nach genau festgelegten Richtlinien – wie die der Concussion in Sports (CIS) Gruppe – erfolgen und eine Rückkehr zum Sport sollte erst nach Abklingen jeglicher physischen, aber auch kognitiven Symptome erfolgen. Besonderer Wert ist auf die Erhebung von bereits früher durchgemachten leichten Schädel-Hirn-Traumata zu legen, da wiederholte mTBIs zu chronisch-degenerativen Schädigungen des Gehirns führen können. Neuropsychologische Tests helfen, eine mTBI korrekt zu diagnostizieren und sind wertvolle Parameter in der Verlaufsbeobachtung. Biochemische Marker könnten in Zukunft sowohl zur Diagnosestellung als auch zur Verlaufsprognose eingesetzt werden, ersetzen die Neuroradiologie heute jedoch noch nicht. * N. Biasca ist „Medical Consultant“ des Internationalen Eishockey Verbandes (IIHF). Der Inhalt dieses Artikels gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder, die nicht unbedingt den Ansichten der „Concussion in Sports (CIS) Group der IOC/IIHF/FIFA“ entspricht.
Einführung Dieser Artikel zum Thema des leichten SchädelHirn-Traumas im Sport stellt die neuen Erkenntnisse basierend auf den ersten drei „Internationalen Meetings on Mild Traumatic Brain Injury“ im März 2005, 2006 und 2007 in Samedan und St. Moritz vor. Schwerpunkte sind neben den Mechanismen, Neuropathologie, Neuropsychologie und der primären Therapie vor allem Komplikationen durch Bagatellisierung, Auswirkungen bei Kindern und Verletzungsprävention. Grundlage dieser Meetings waren die Ergebnisse, die im Rahmen des Ersten und Zweiten Internationalen Symposiums der IOC/IIHF/FIFA in Wien 2001 bzw. in Prag 2004 erarbeitet wurden (detailliertere Informationen sind u. a. unter: www.olympic.org, www.iihf.com und www.fifa.com ersichtlich) [3, 47]. Das leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT, Commotio cerebri, Gehirnerschütterung, engl. „mTBI“: mild Traumatic Brain Injury) ist eine der häufigsten Verletzungen überhaupt, sowohl in der Hausarztpraxis als auch in der Notaufnahme des Spitals. Die große Gefahr liegt aber in der Bagatellisierung dieser Verletzungsmuster. MTBIs werden zum Bedauern der Spezialisten nicht immer erkannt und ihre Auswirkungen oft unterschätzt. Diese Tatsache allein rechtfertigt es, dass Kopfverletzungen besonders aufmerksam verfolgt und auch behandelt werden. Aus dieser Überlegung heraus ist auch die folgende Zusammenstellung entstanden. Sie soll den Spieler besser schützen, das Umfeld des Spielers sensibilisieren und den behandelnden Arzt des Sportlers mit dem heutigen Wissenstand aufdatieren.
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N. Biasca
Definition der mTBI seitens der CIS-Group Das Committee on Head Injury Nomenclature of Neurological Surgeons regte 1966 folgende verbindliche Definition des Begriffs Gehirnerschütterung „Concussion“ an: „Eine Gehirnerschütterung ist ein klinisches Syndrom, das gekennzeichnet ist durch eine unmittelbare, vorübergehende posttraumatische Beeinträchtigung der Gehirnfunktionen, wie Bewusstseinsveränderungen, Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen und so weiter auf Grund einer Dysfunktion des Gehirnstammes nach einer mechanischen Energieeinwirkung“ [24]. Obwohl diese Definition auf weitgehende Akzeptanz stieß, wurde vor kurzem im Rahmen des Ersten und Zweiten Internationalen Symposiums der IOC/IIHF/FIFA in Wien 2001 bzw. in Prag 2004 weiter verhandelt [3, 47]. Die mTBI im Sport ist definiert als ein komplexer pathophysiologischer Prozess, welcher das Gehirn beeinträchtigt und von traumatischen biomechanischen Kräften induziert wird (detailliertere Informationen sind u. a. unter www.olympic.org, www.iihf.com und www.fifa. com ersichtlich) [3, 47].
Klinische Zeichen und Symptome einer mTBI Detailliertere Informationen sind unter www. orthopaedie-samedan.ch ersichtlich: Eine mTBI ist eine Verletzungsform, die bei allen Sportarten, bei welchen Geschwindigkeit und Kraft zusammenwirken, insbesondere durch Beschleunigung mit abrupten Rotationsbewegungen, vorkommen kann. Es handelt sich dabei um eine gedeckte Gehirnverletzung, die von einer kurzzeitigen oder längeren neurologischen Dysfunktion begleitet wird. Die typischen Zeichen sind Verwirrtheit und Amnesie. Der Bewusstseinsverlust ist nicht obligatorisch. Warnsymptome sind Kopfschmerz, Schwindel oder Übelkeit. Frühere mTBIs müssen unbedingt auch erkannt und dokumentiert werden. Eine wenig starke mTBI kann, wenn sie einer vorhergegangenen mTBI folgt, Symptome einer schweren komplexen mTBI auslösen. Daher sollten alle vorhergegangenen Verletzungen des Kopfes, des Gesichtes und des Nackens erfragt werden. Ge-
rade bei Risikosportarten sollte eine detaillierte Basisuntersuchung entweder einen kognitiven Test wie den ImPACT Test (ImPACT: Immediate Post-Concussion Assessment and Cognitive Testing [23, 38, 41]) oder wenigstens einen Symptom-orientierten Evaluationsbogen beinhalten. Im Gegensatz zur früher vertretenen Meinung, in welcher die Dauer des Bewusstseinsverlustes als Parameter für die Einteilung des Schweregrades einer Verletzung angesehen wurde, wird heute die Amnesie als der beste Parameter zur Voraussage der Prognose nach einer mTBI angesehen [10–12]. Neue Studien zeigen keine Voraussage für den Bewusstseinsverlust im Hinblick auf die Prognose nach einer mTBI [10–12]. Dagegen ist jegliche Form einer retrograden Amnesie mit einem 10fach höheren Risiko eines schlechteren Krankheitsverlaufs assoziiert. Bei einer anterograden Amnesie ist die Wahrscheinlichkeit eines schlechten Verlaufs immerhin noch um das 4 fache erhöht.
Mechanismen der mTBI Die häufigste mechanische Krafteinwirkung auf den menschlichen Kopf ist eine dynamische Stoßkraft entweder vom impact oder impulsive Typ [4, 16, 28, 35, 77] (detailliertere Informationen sind unter www.orthopaedie-samedan.ch ersichtlich). Das Gehirn, das geschützt durch die das Gehirn umgebende zerebrospinale Flüssigkeit (CSF) in einer schützenden knöchernen Hülle liegt, berührt bei normalen Bewegungen den knöchernen Schädel nicht. Die CSF stellt einen natürlichen Stoßdämpfer dar, der äußerlich fokal einwirkende Kraft in diffus wirkende Kräfte umwandelt, die sich an den Gyri und Sulci orientieren und die Kräfte gleichmäßig verteilt. Die zerebrospinale Flüssigkeit schützt nicht vollständig davor, dass Scherkräfte auf das Gehirn übertragen werden, insbesondere wenn Rotationskräfte auf den Kopf wirken und Scherkräfte dort auftreten, wo ein Rotationsgleiten verhindert wird. Die Auswirkungen der positiven und negativen Beschleunigung (Acceleration/Decceleration) sind die Hauptursache einer mTBI [28, 31, 32, 35, 39]. Diesen Effekten zugrunde liegt die Massenträgheit des Kopfes, entweder verursacht durch einen direkten Schlag oder durch impulsive Kraftübertragung. Wenn eine positive Beschleunigung eine
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geradlinige Bewegung des Kopfzentrums verursacht, dann resultiert daraus eine lineare Beschleunigung; wenn sich das Kopfzentrum dabei auf einer Art Kreisbahn bewegt, dann resultiert daraus eine Rotationsbeschleunigung [4, 14–16]. Fokale Gehirnverletzungen sind nach einer linearen Beschleunigung häufiger und diffuse Gehirnverletzungen sind nach Rotationsbeschleunigungen prinzipiell häufiger [14–16]. Es muss jedoch festgestellt werden, dass fast jedes Trauma eine Kombination beider Beschleunigungen beinhaltet und eine Trennung der Reaktion des Gehirns zwischen linearer und Rotationsbeschleunigung nahezu unmöglich ist. Oftmals ist der Verletzungsmechanismus einer Kopfverletzung komplex und beinhaltet eine fokale wie auch eine diffuse Komponente. Ein direkter Kopfaufprall kann sowohl eine Rotationsbeschleunigung, die eine diffuse Gehirnverletzung verursacht, als auch Linearbeschleunigung, die fokale Schädigungen des Gehirns verursacht, beinhalten [14–16, 32, 35, 39]. Die Richtung, in die der Kopf bewegt wird, spielt eine wichtige Rolle bei der Feststellung der Menge und Verteilung des axonalen Untergangs in der jeweiligen Situation [32]. Eishockeyhelme wurden ursprünglich entwickelt, um vor traumatischem Hirntod und/ oder intrakraniellen Blutungen zu schützen und das Risiko schwerwiegender Gehirnverletzungen zu reduzieren, die durch direkte, stumpfe Traumen verursacht werden [14–16, 27, 52, 55, 56, 73, 76]. Drei unterschiedliche Entstehungsmechanismen für mTBI im Eishockey wurden vorgeschlagen [8, 16, 17] (detailliertere Informationen unter: www.orthopaedie-samedan.ch) ] Ein direkter exzentrischer Schlag auf den Kopf ] Ein direkter Schlag ins Gesicht ] Ein Schlag an das Kinn ] Ein direkter exzentrischer Schlag auf den Kopf, nicht durch das Massenzentrum des Kopfes, kann viele Kräfte auf das Gehirngewebe verursachen. Diese verschiedenen Kräfte können in eine Kraft Ft, die Translationskomponenten beinhaltet (mit transversalen und axialen Kräften), und eine Kraft Ff mit Rotationskomponenten in der Frontal-, Sagittal- und Transversalebene zusammengefasst werden (Abb. 28.1) [32]. Die Rotationskomponente in der Frontalachse, wie z. B. ein seitlicher Schlag gegen den Kopf, verursacht die
Das leichte Schädel-Hirn-Trauma im Sport
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Abb. 28.1. Ein direkter exzentrischer Schlag auf den Kopf: a Ein Helm kann mit seiner Polsterung die definitive Kraft F auf das Gehirn reduzieren und somit die Gefahr einer fokalen Kopfverletzung vermindern. Protektiver Kopfschutz mit Polsterung hilft den Effekt der resultierenden Kraft F zu reduzieren, was ebenfalls die Auswirkungen des Kontaktund Rotationsphänomens reduziert. Obwohl die Polstermaterialen in der Hinsicht der Energieabsorption verbessert wurden, scheint der Hauptfaktor für die Entstehung von mTBI die Rotationsbeschleunigung zu sein. Mt: Drehmoment in der transversalen Ebene, Ms: Drehmoment in der sagittalen Ebene, Mf: Drehmoment in der frontalen Ebene, Ft1: Kraft 1 in der transversalen Ebene, Ft2: Kraft 2 in der axialen Ebene (mit freundlicher Genehmigung des Spielers).
schwersten Verletzungen, hingegen werden Schläge in der Sagittalebene (Flexion/Extension) am besten toleriert [32]. Die kritischen Punkte des Eishockeyhelmes sind zum einen die Abminderung der Auftreffenergie und die Lastverteilung. Diese Eigenschaften reduzieren die am Kopf anliegende Kraftamplitude, indem die Belastung und Spannung des Schädels und des Gehirns reduziert werden. Durch diesen Mechanismus können schwerere Kopfverletzungen vermieden und der Schweregrad von Gehirnerschütterungen kann reduziert werden. Folglich reduziert protektiver Kopfschutz in erster Linie das Risiko einer fokalen Gehirnverletzung. ] Ein direkter Schlag gegen das Gesicht kann ebenso eine Kraft Ft mit translatorischen und eine Kraft Fr mit rotationalen Komponenten hervorrufen. Im Eishockey gibt es viele Kie-
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Abb. 28.2. Ein direkter Schlag gegen das Gesicht: Es gibt keine Schützausrüstung, wie ein Eishockeyhelm und/oder ein Mundschutz, die eine Rotationsbeschleunigung des Gehirnes überhaupt vermindern kann. Aus diesem Grund hat die Regelkommission des Internationalen Eishockeyverbandes im Jahr 2002 neue „Head-Checking Regeln“ (IIHF Regel 540) verabschiedet, um jeden Check oder Schlag zum Gesicht oder Hals zu eliminieren. Vorbeugungsstrategien, wie die Einführung der „Checking from behind“-Regel im Jahre 1994, zeigten in den letzten Jahren Wirkung und führten zu einer Verminderung der Anzahl schwerer Wirbelsäulenverletzungen weltweit. Deshalb erwarten wir, dass mit der Einführung der neuen „Head checking“ Regel die Anzahl und Schwere von mTBIs ebenso zurückgeht [8] (detailliertere Informationen sind u. a. unter www.iihf.com erhältlich). Mt: Drehmoment in der transversalen Ebene, Mf: Drehmoment in der frontalen Ebene, Ft: Kraft in der transversalen Ebene (mit freundlicher Genehmigung des Spielers).
Abb. 28.3. Ein Schlag direkt zum Kinn: Ein Mundschutz kann die Kräfte, die an Maxilla, Schädel und Temporomandibulargelenk weitergeleitet werden, wenn die Mandibula von einem Schlag von vorne getroffen wurde, durch die Absorption der Energie mit seinem Material und durch die Verteilung der Energie auf einer größeren Fläche vermindern. Das Regelkomitee der IIHF hat das Tragen eines speziell angefertigten Mundschutzes als einen ersten Schritt für Spieler unter 20 Jahren, die keine Vollgesichtsmaske tragen, verpflichtend gemacht. Als nächster Schritt wird diese Regel für Spieler, die nach dem 31. 12. 1975 geboren sind, verpflichtend und ebenso für Spieler, die eine Vollgesichtsmaske tragen, da eine Vollgesichtsmaske nicht die Kräfte, die aus einem Schlag gegen das Kinn oder den Kiefer an das Gehirn weitergeleitet werden, reduzieren kann [8] (detailliertere Informationen sind u.a. unter www.iihf.com erhältlich). Ft: Kraft in der transversalen Ebene (mit freundlicher Genehmigung des Spielers).
fer- und Gesichtskontakte, die mit einem K.O.-Schlag im Boxen zu vergleichen sind, und oftmals in einer signifikanten Rotationsbeschleunigung des Kopfes und des Gehirns resultieren (Abb. 28.2). Gennerelli et al. fanden in Experimenten heraus, dass der Schweregrad einer Gehirnverletzung mit der Ebene der Rotationsbeschleunigung in Zusammenhang zu stehen scheint [30]. Das Gehirn scheint für äquivalente Winkelbeschleunigungswerte mehr verwundbar zu sein, je weiter lateral es bewegt wird. Das Gehirn scheint sagittale Bewegungen am besten zu tolerieren. Kopfbewegungen in der Horizontalebene scheinen zwischen den lateralen und sagittalen Bewegungen anzusiedeln zu sein [30]. Kürzlich haben Smith et al. herausgefunden,
dass der Schweregrad einer experimentellen mTBI mehr als eine Spiegelung des Schweregrades des axonalen Zelluntergangs in spezifischen Regionen, besonders im Hirnstamm, sein könnte, insbesondere da die Gesamtsumme des AI im Gehirn verteilt wird [71]. Diese Studie zeigt, dass nach einer Rotationsbewegung in axialer Ebene wesentlich mehr axonale Schäden im Hirnstamm gefunden wurden, verglichen mit Verletzungen in koronaler Ebene [71]. Diese Ergebnisse zeigen als erste den wichtigen Zusammenhang der Ebene der Kopfbeschleunigung und der Verteilung der AI. Diese Studie ergab im Speziellen, dass Verletzungen der Axone des Hirnstamms eine große Rolle bei der Entstehung eines direkten posttraumatischen Komas spielen und DAI
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auch ohne Koma entstehen kann [71]. Leider jedoch gibt es bis jetzt keine protektive Ausrüstung, die die Auswirkungen der Rotationskraft Fr vermindern könnte. Aus diesem Grund müssen wir jeden absichtlichen Kontakt mit dem Kopf verhindern, der eben diese Rotationskräfte auf das Gehirn wirken lässt. ] Ein Schlag direkt zum Kinn kann eine translatorische Kraft Ft hervorrufen, die vom Kinn (A) über die Mandibula (B) über das temporo-mandibulare Gelenk zur Schädelbasis (C) und schließlich zum Gehirn weitergeleitet wird (Abb. 28.3). Diese Kräfte können auch eine Schockwellen-Weiterleitung durch das Gehirn auslösen, welche ebenso eine mTBI auslösen kann (D). Ein Mundschutz allein oder in Verbindung mit zusätzlichem Gesichtsschutz ist, wie gezeigt wurde, ein effektives Mittel, um Zahnverletzungen und orofazialen Verletzungen vorzubeugen und die Anzahl dieser Verletzungen zu reduzieren [8, 59]. Zahlreiche Berichte haben eine mögliche Korrelation zwischen der Benutzung eines Mundschutzes und der Verminderung der Anzahl an mTBIs gezeigt. Piccininni konzentriert sich auf zwei Hauptmechanismen, um diesen Zusammenhang zu erklären [59]. Der erste Mechanismus ist die Verminderung der Kräfte, die an Maxilla, Schädel und Temporomandibulargelenk weitergeleitet werden, wenn die Mandibula von einem Schlag von vorne getroffen wurde. Der zweite Mechanismus ist begründet in der Stabilisation des Schädels durch die durch Zusammenbeißen aktivierte Nackenmuskulatur, wie es beim Tragen eines Mundschutzes sein könnte [59]. Aus diesem Grund behauptet Piccininni, dass der Mundschutz als effektives Mittel zur Verhinderung dentaler und orofazialer Verletzungen gefördert werden sollte, und dass ein gut angepasster Mundschutz eine Rolle bei der Verminderung der Inzidenz und Schwere von Gehirnerschütterungen spielt [59]. Es muss jedoch gesagt werden, dass der Beweis einer Verletzungsprophylaxe des Mundschutzes auf Fallstudien und retrospektiven Verletzungsanalysen begründet ist. Die geringen Kosten eines optimal angepassten Mundschutzes würden in der Tat viele Vorteile im Sinne von Reduktion der medizinischen, finanziellen, kognitiven, psychologischen und sozialen Konsequenzen einer Zahn- oder Gehirnverletzung, wie z. B. mTBI, bringen.
Das leichte Schädel-Hirn-Trauma im Sport
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Neuropathologie einer mTBI Die Pathologie der menschlichen TBI ist komplex und vielschichtig, einschließend Einzelverletzungen und Kombinationen fokaler und diffuser Verletzungen [7, 8, 26, 28, 31, 35, 36, 76]. Ein Trauma des Schädels und/oder des Gehirns zeigt verschiedene pathologische Kennzeichen basierend auf der Verteilung der Auftreffenergie auf Schädel und Gehirn. Scharfe Gegenstände mit hoher Geschwindigkeit verursachen perforierende, fokale kortikale Kontusionen (engl.: focal cortical contusions, FFC), Anprallen gegen scharfe Ecken führt zu nicht penetrierenden, meist fokalen kortikalen Kopfverletzungen (engl.: focal head injuries, FHI), ein stumpfes Trauma führt häufig zu einer diffusen Schädigung, z. B. diffuse axonale Verletzung (engl.: diffuse axonal injury, DAI). FCC, FHI und DAI kommen häufig in Kombination und jedem Schweregrad vor [28, 35]. ] Fokale Kopfverletzungen (engl.: focal head injuries, FHI) entstehen durch Kräfte, die durch Kontakt und Kopfbeschleunigung durch ein direktes, stumpfes Trauma, wie z. B. durch einen Schlag mit einem Hockeyschläger, einem Pucktreffer, einem Sturz mit dem Kopf auf das Eis, ausgelöst werden. Diese Verletzungstypen können eine fokale kortikale Kontusion hervorrufen, die durch einen gut gekennzeichneten Parenchymschaden und begleitende Gefäßverletzungen (arteriell und venös) im betroffenen Gebiet gekennzeichnet ist. Diese Verletzungen können leicht im Rahmen einer Autopsie mit bloßem Auge erkannt werden, aber ebenso in CT- und MRIUntersuchungen. Der Zellschaden entsteht durch direkte mechanische Zerstörung der Gehirnzellen, Kompression durch interstitielle Blutung oder sekundär durch Infarzierung als Folge einer fehlenden Blutversorgung. Fokale Kopfverletzungen entstehen oft auf Grund von Schädelfrakturen mit oder ohne begleitendem epiduralem Hämatom, kortikale Kontusion und intrakranieller Blutung [14, 15, 28, 31, 35, 39, 76]. ] Diffuse Kopfverletzungen (engl.: diffuse head injuries, DHI), auf der anderen Seite, werden durch den Trägheitseffekt eines mechanischen Schlages auf den Kopf mit einer Winkelbeschleunigung (negativ und positiv) hervorgerufen [28, 31, 35, 76]. Diese Verletzungen können zu einer axonalen Schädigung (engl.: axonal in-
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juries, AI) durch starke Winkelbeschleunigung (engl.: diffuse axonal injuries, DAI) führen, hervorgerufen entweder durch direkte oder indirekte Trägheit des Kopfes und sind charakterisiert durch eine globale Beeinträchtigung der neurologischen Funktionen [28, 31, 35, 76]. Es ist mittlerweile wissenschaftlich akzeptiert, dass diffuse axonal injuries DAI ein beständiger Faktor bei der menschlichen mTBI ist, insbesondere bei diesen Verletzungen, die mit einer schnellen Akzeleration/Dezeleration des Gehirns einhergehen [28, 35]. Es bestehen auch Hinweise, dass diese Verletzungen ein durchgängiges Spektrum derselben Pathologie zeigen: eine progressive, ausgedehnte aber verschiedenartige Verletzung von Axonen [28, 31, 35, 76]. Obwohl neueste Studien vorhanden sind, stand die TBI lange im Zusammenhang mit dem Vorkommen von diffuse axonal injuries, welche wiederum mit der Morbidität, die mit diesen Umständen bei Mensch und Tier in Verbindung steht, verknüpft war [2, 22, 30, 44, 51, 54, 57, 58, 60, 74, 75]. In letzter Zeit konnten große Fortschritte im Verständnis der Natur und des zeitlichen Ablaufs von AI nach einer TBI durch In-vivo- und In-vitro-Studien beim Mensch und bei Tieren gemacht werden [19, 28, 32, 34, 35, 44, 58, 60–67]. Neueste Arbeiten haben gezeigt, dass alle Verletzungsfolgen wie strukturelle Zellschädigungen, kognitive Beeinträchtigungen sowie somatische Beschwerden auch erst Stunden bis Tage nach dem Unfall auftreten können. Anders als bisher angenommen konnte jetzt nachgewiesen werden, dass es auch bei mTBIs zu strukturellen Veränderungen an den Gehirnzellen kommen kann [9–12]. Nach einer mTBI können die axonalen Fasern überdehnen, mit dem Ergebnis, dass diese anschwellen, wulstig aufgetrieben und perlschnurartig werden [4, 11, 22, 28, 32, 33, 39, 44, 49, 69, 70]. Dadurch werden die Neuronen funktionslos und wenn diese Fasern bis zum Zerreißen überdehnen, können sogar bleibende Hirnschäden auftreten [11, 44]. In Abhängigkeit von der Schwere des Schädel-Hirn-Traumas können an Tier- und Humanmodellen fokale intra-axonale Veränderungen im Neurofilament/Zytoskelett-Netzwerk sowie Schädigungen des axoplasmatischen Transportes nachgewiesen werden. Dies wiederum kann zu fortschreitender axonaler Schwellung, Ablösung oder sogar zum Zelltod innerhalb von Stunden bis Tagen führen, und wird als sog. Prozess der verzögerten Axotomie (engl.: process of delayed
axotomy) bezeichnet [11, 44]. Diese Scherverletzungen verursachen nicht nur eine Schädigung der axonalen Struktur, sondern führen vor allem zu unmittelbaren Veränderungen im axoplasmatischen Transport. Diese Veränderungen unterbinden die Fähigkeit, Ionen-Gradienten aufrechtzuerhalten, was zu einer Störung der Homöostase führt. Dies bedeutet, dass eine mTBI nicht nur temporäre Störungen des axonalen Systems verursacht, sondern auch persistierende strukturelle Schädigungen auch noch Tage nach dem Unfall hervorrufen kann. Beim Menschen tritt eine sekundäre Axotomie frühestens 12 Stunden nach der initialen Schädigung des Axons auf. Die größte Sensitivität der Kennzeichnung verletzter Axons sowohl bei der post-mortemDiagnose, als auch unter experimentellen Bedingungen, zeigt die immunozytochemische Markierung mit b-Amyloidvorläuferprotein b-APP [18, 33, 48, 67, 68]. Aus diesem Grund wurde b-APP als Marker der Wahl bei der Entdeckung von AI im Gehirn vorgeschlagen [68]. Die Untersuchung der immunologisch wirksamen Region von b-APP hat gezeigt, dass ein axonaler Schaden weit mehr verbreitet ist, als bisher unter der Benutzung herkömmlicher Färbemethoden angenommen worden ist [19, 21, 34, 44, 48, 63, 67, 68]. Die Benutzung der APP-Immunozytochemie hat eine kontinuierliche Rekrutierung der Anzahl an reaktiven Axonen nach einer TBI gezeigt. Ebenfalls wurde die Möglichkeit gewonnen, Veränderungen der axonalen Form zu zeigen. Es scheint eine ähnliche Abfolge an morphologischen Reaktionen der Axone auf eine TBI zu geben. Die immunozytochemische Markierung hat ebenso eine Anhäufung von b-APP in relativ normal aussehenden Axonen gezeigt. Dies könnte in normalen Umbauvorgängen des axoplasmatischen Transportes begründet sein. Neuere Studien haben die originalen Beobachtungen des axonalen Schadens nach einer mTBI ebenfalls bestätigt [18, 34, 35, 44, 52, 60, 78]. Die APP-Immunohistochemie hat eine multifokale AI nach mTBI mit einem Bewusstseinsverlust von wenigstens 60 Sekunden dokumentiert [18]. Diese Ergebnisse unterstützen den konzeptionellen Ansatz, dass reaktive Axone eine fortschreitende Pathologie nach einer mTBI zeigen und dass mTBI wohl die mildeste Form einer diffusen axonalen Verletzung darstellt [19, 21, 28, 32, 58, 60, 64, 65, 78]. Neben den mechanischen und strukturellen axonalen Veränderungen treten eine Reihe neu-
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rochemischer Veränderungen ein, die paralysierte und funktionslose Hirnzellen zur Folge haben, welche ihrerseits eine erhöhte Anfälligkeit für weitere Verletzungen aufweisen. Diese Veränderungen können in der ersten Stunde nach der Verletzung beginnen und sich bis Tage nach Erleiden der Verletzungen erstrecken. Diese Zellen befinden sich dann in einem Reparaturzustand (engl.: vulnerable phase) [11, 12, 44, 78]. Diese neurometabolischen Veränderungen werden durch Zellen verursacht, die nicht unbedingt irreversibel zerstört sind, sondern noch am Leben sind, jedoch in einem verletzungsanfälligen Zustand. Diese erhöhte Verletzungsanfälligkeit wird auch durch einen erhöhten Glukosebedarf sowie einen reduzierten zerebralen Blutzufluss gekennzeichnet. Das neurovaskuläre System ist danach nicht mehr in der Lage, auf den Energiebedarf zu reagieren, der erforderlich ist, um zur neurochemischen Funktionsfähigkeit zurückzukehren [18, 20, 31, 32–35, 44, 58, 71, 78]. Innerhalb der ersten Stunden tritt durch die Ausschüttung von Neurotransmittern, vor allem Glutamat, aus der Zelle eine Kaskade von Veränderungen ein [4, 10, 18, 20–22, 28, 29, 32, 34, 35, 44, 58, 61–68]. Durch diese Glutamatausschüttung, welche einen Anstieg der extrazellulären Glutamatkonzentration auslöst, wird ein massiver Kaliumaustritt in Gang gesetzt, der bis zum Siebenfachen der normalen Menge erreichen kann. Dadurch ist die Zelle nicht mehr in der Lage, ein Aktionspotential zu erzeugen und die Natrium/Kalium-Pumpe funktioniert nicht mehr. Der Anstieg des Kaliumspiegels bewirkt eine Ingangsetzung der ATP-abhängigen Natrium/Kalium-Pumpe, was einen erhöhten metabolischen Stress auf das geschädigte Nervengewebe zur Folge hat. Parallel dazu ist auch der zerebrale Blutfluss CBF reduziert. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Brennstoffnutzung (Glukose) und Brennstofflieferung (CBF). Im Gehirn stellt sich ein Zustand des Hypometabolismus ein. Während dieses Zeitraumes besteht eine Abnahme von Glukose, des oxidativen Metabolismus sowie des zerebralen Blutflusses, was zu einer Hypoxie führen kann. Gibt man den Zellen in dieser Phase genügend Zeit für die Heilung, heilt die Verletzung in fast allen Fällen folgenlos aus. Die große Gefahr liegt aber in der Bagatellisierung dieser Verletzungsmuster. Eine mTBI muss ebenso als „Verletzung“ des Gehirns angesehen werden, wie z. B. ein Knochenbruch zweifelsohne als Verletzung des Bewegungsapparates gilt. Dementspre-
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chend muss auch dem Schädel-Hirn-Verletzten genügend Zeit für die Heilung respektive Regeneration zugestanden werden [23, 44, 49]. Entsprechend zeigen neuropsychologische Tests, dass Athleten nach einer mTBI auch ohne Präsenz initialer klinischer Symptome wie Bewusstseinsverlust, Amnesie, Schwindel, Kopfschmerzen oder Übelkeit im Zeitraum von bis zu 7 Tagen nach dem Trauma noch pathologische Befunde entwickeln können [10, 29, 38, 43, 69]. Störungen der ionischen Homöostase, akute metabolische Veränderungen sowie Beeinträchtigungen des zerebralen Blutflusses gefährden die Funktionsfähigkeit der Neurone und halten die Gehirnzellen für unbestimmte Zeit in einem vulnerablen Zustand mit erhöhter Verletzungsanfälligkeit. Im Labor zeigen wiederholte experimentelle Zellverletzungen sowohl bei Gliazellen als auch bei Neuronen eine Abhängigkeit des Ausmaßes der Schädigung von der jeweils zwischen den einzelnen Experimenten verstrichenen Zeit.
Rolle der neuropsychologischen Untersuchungen Die Neuropsychologie kann zur Verstärkung normaler kognitiver Funktionen, zur Behebung kognitiver Dysfunktionen und zur Dokumentation der Einschränkung eines Sportlers nach einer mTBI angewendet werden. Die neuropsychologische Beurteilung eines Spielers vor und nach einer mTBI liefert zur Evaluation einer mTBI essentielle Werte. Sie stellt somit einen separaten Faktor dar, welcher in der Beurteilung der Wettkampffähigkeit eines Athleten nach einer mTBI berücksichtigt werden muss. Es wurden einige computergestützte neuropsychologische Tests entwickelt (wie z. B. Cogsport, Headminders, ANAM und ImPACT), welche die kognitiven Fähigkeiten des Sportlers nach einer mTBI entweder im Vergleich zu den Basiswerten eines Athleten vor einer mTBI oder zu den Werten eines Referenzkollektivs beurteilen. Die Testdurchführung kann zudem durch den Teamarzt durchgeführt werden und bedarf nicht mehr der primären Vorstellung bei einem Neuropsychologen. Die weltweite Verwendung des ImPACT-Systems zeigt, dass es sich um ein sehr sensitives Hilfsmittel für die mTBI-Diagnostik bei Sportlern handelt [41]. Diese computergestützten neuropsychologi-
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schen Tests erheben messbare Daten bezüglich Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen auf einem PC oder Laptop. Diese Tests werden durchgeführt, wenn weder ärztliche Untersuchungen noch radiologische Verfahren wie Computertomographie einen Hinweis auf Verletzung des Gehirns ergeben. Durch Hinzuziehen eines neuropsychologischen Tests kann die Rate der nicht-diagnostizierten mTBI auf 12% erniedrigt werden. Mit diesem System ist es deswegen möglich, einerseits eine mTBI bei fehlenden klinischen und neurologischen Symptomen sowie negativen radiologischen Befunden (konventionelle CT- und MRI-Untersuchung des Schädels) zu diagnostizieren, anderseits können diese Tests den Schweregrad und den Verlauf der Verletzung dokumentieren. Werden zur Diagnosestellung einer mTBI alleine physische Symptome herangezogen, bleiben bis zu 35% aller mTBIs unentdeckt [23, 38, 41]. Selbst wenn ein Athlet für weniger als 5 Minuten Zeichen einer mTBI zeigt, können kognitive Defizite noch bis zu 4 Tage nachgewiesen werden; bei einer Symptomdauer von mehr als 5 Minuten sind kognitive Defizite für mehr als 1 Woche nachweisbar [23, 38, 41]. Erleidet der Sportler in dieser Zeit der „physischen Normalität“ und kognitiven Defizitphase eine erneute mTBI, ist, wie oben erwähnt, das Risiko einer persistierenden Schädigung des Gehirns (sog. „persistierendes postkommotionelles Syndrom“) deutlich erhöht [23, 38]. Zusätzlich ist eine Verlaufsbeobachtung ohne invasive oder neuroradiologische Maßnahmen möglich. Eine zu frühe Rückkehr zur sportlichen Aktivität wird verhindert und so das Risiko für ein Auftreten von chronischen Krankheiten wie permanentem Kopfschmerz verringert. In der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga (NHL) sind neuropsychologische Tests vor und während der Saison beispielsweise bereits seit 1997 obligatorisch.
Therapie und Rehabilitation Detailliertere Informationen sind unter www. orthopaedie-samedan.ch, www.olympic.org, www.iihf.com und www.fifa.com erhältlich: Grundsätzlich sollte ein Spieler nie als wettkampffähig beurteilt werden, bevor er nicht absolut symptomfrei ist. Aufgrund dieser Erkenntnisse sollte ein Spieler daher unabhängig von
einer bestehenden Amnesie für mindestens 72 h Sportverbot erteilt bekommen und im Anschluss nach dem folgenden Stufenschema rehabilitiert werden [3, 47]:
] ] Der Spieler darf nicht mehr in den aktuellen
Wettkampf oder die aktuelle Trainingssession zurückkehren, ] der Spieler sollte nicht unbeaufsichtigt gelassen werden und regelmäßige Überwachung bezüglich einer Zustandsverschlechterung ist in den ersten Stunden nach dem Ereignis unablässig, ] der Spieler sollte nach dem Unfall medizinisch untersucht werden, und ] die Beurteilung der Wettkampffähigkeit sollte durch ein medizinisch kontrolliertes, schrittweise durchgeführtes Protokoll erfolgen.
Die absoluten Kontraindikationen zur Rückkehr zum Sport (engl.: return-to-play, RTP) sind: ] die neurologische Abklärung bleibt pathologisch, ] die postkommotionellen Symptome bleiben in Ruhe und/oder unter Belastung, ] die neuropsychologischen Testwerte bleiben unter den Baselinetestwerten, ] die CT- oder MRI-Untersuchungen zeigen pathologische Befunde wie z. B. Ödem, Blutungen, Hydrozephalus, Cavum septum pellucidum und Arachnoidalzyste.
Komplikationen der mTBI Die Schwierigkeit bei der initialen Versorgung der Patienten nach einer mTBI liegt in deren großen Anzahl, mindestens 80% der Gesamtzahl aller SHT-Patienten, und in der Notwendigkeit, die zahlenmäßig sehr kleine Gruppe derjenigen zu definieren, die intrakranielle Verletzungen aufweisen, insbesondere solche, die eines neurochirurgischen Eingriffs bedürfen [37]. Die Hauptfaktoren zum Abschätzen des Risikos bezüglich des Vorliegens eines intrakraniellen Hämatoms sind der Grad der Bewusstseinsstörung und das Vorliegen bzw. Fehlen einer Schädelfraktur [37]. Das Risiko, ein akutes intrakranielles Hämatom nach mTBI bzw. wiederholten Traumatisierungen zu entwickeln, liegt bei wenigen Patienten (4–20%) [10, 13, 50]. Die allei-
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nige klinische Beurteilung des Verletzten ist zweifellos ungenügend, um eine intrakranielle Blutung zu diagnostizieren. Deshalb ist die Computertomographie des Schädels notwendig. Gefährliche Komplikationen können auch nach wiederholten mTBIs (wie z. B. permanente Invalidität und Sudden death) auftreten. Selten, aber mit katastrophalem Verlauf assoziiert, präsentiert sich das sog. Second Impact Syndrom „SIS“ [20]. Das sog. Second Impact Syndrom entsteht, wenn ein Spieler nach einer primären Kopfverletzung, oft eine mTBI, eine erneute zweite Kopfverletzung erleidet, ohne dass die ersten Posterschütterungssymptome verschwunden sind. Das Syndrom ist gekennzeichnet durch ein massives Hirnödem, das auftritt, wenn das verletzte Gehirn eine zweite Verletzung erleidet, auch durch ein minimales Trauma wie z. B. nach einer Thoraxkontusion mit einer indirekten Beschleunigung des Gehirns, ohne sich zuvor von der ersten erholt zu haben. Der Patient entwickelt innerhalb der nächsten Sekunden bis Minuten einen raschen Kollaps mit Entwicklung eines semikomatösen Zustandes, dilatierten Pupillen, Verlust der Augenbewegungen und Verlust der respiratorischen Funktion. Kommt es nämlich in der sog. vulnerable phase nach einer mTBI zu einer erneuten Traumatisierung des Gehirns, kann es zur Entwicklung eines Hirnödems oder zu einem subduralen Hämatom kommen und infolgedessen zu irreparablen Folgeschäden, die sogar zum Tod des Patienten führen können [6, 10, 43, 49, 69]. Die Pathogenese dieser Komplikationen besteht in einer Dysfunktion der Autoregulation der Gehirndurchblutung, die zu einer Zunahme des intrakraniellen Druckes und zu einer Herniation des Gehirns und Schädigung des Hirnstamms führt. Diese Komplikationen hat eine Mortalität von 50% und eine Morbidität von ca. 100% und kann vermieden werden. Hauptsächlich Sportler sind vom „Second Impact Syndrom“ betroffen, da diese häufig zu schnell nach Erleiden einer mTBI zum Wettkampf zurückkehren.
Chronic Traumatic Brain Injury in Sport (CTBI) Neben den vorgängig genannten lebensbedrohlichen Komplikationen können bei den Athleten auch chronische kognitive Beschwerden, wie
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z. B. Aufmerksamkeits- und Gedächtnis-Störungen, Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Informationen sowie chronische Müdigkeit etc., als Folge der beschleunigten und/oder gesteigerten Degeneration der Gehirnzellen auftreten. Diese Ergebnisse werden durch die Daten aus Langzeitstudien von US-Profiboxern unterstützt. Funktionelle neuroradiologische Untersuchungen (z. B. mit Diffusion Weighted MRI, Magnetisation Transfer Imaging, Proton Magnetic Resonance Spectroscopy) zeigen, dass nach einer mTBI strukturelle Veränderungen in der weißen und grauen Hirnsubstanz auftreten können [11, 12, 23, 49, 69]. Erstaunliche morphologische Parallelen sind so zwischen Morbus Alzheimer und wiederholten mTBIs erkennbar [43, 49, 69, 70]. Sowohl immunhistochemisch und neuropsychologisch zeigen sich Veränderungen ähnlich wie beim Morbus Alzheimer. Die funktionellen neuroradiologischen Untersuchungen haben jedoch nicht nur bei Profiboxern, sondern auch bei „normalen“ Patienten nach wiederholten mTBIs-Befunde wie beim Morbus Alzheimer gezeigt. Im Übrigen scheint auch eine genetische Disposition (Apolipoprotein e4) als Risikofaktor sowohl für die Entwicklung eines Morbus Alzheimer als auch für die Entwicklung einer Morbus Alzheimer-ähnlichen Demenz nach repetitiven Schädel-Hirn-Traumen vorzuliegen [43, 49]. Neue Studien im Boxsport und Profifußball haben gezeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen und der Möglichkeit, bleibende Gehirnschäden davonzutragen, besteht [43, 49]. Chronische Schädigungen des Frontallappens äußern sich dabei in Veränderungen der Gedächtnisleistung, der Motivation, der Situationsübersicht, des Ehrgeizes, der Koordination und der Feinregulierung des Spielers. Frontale Kontusionen bleiben zudem nicht nur auf den Frontallappen begrenzt. Durch intrazerebrale Weiterleitung der Kontusionen des Frontalbereichs werden auch die Purkinje-Neurone des Zerebellums geschädigt, wodurch eine Ataxie entstehen kann [29, 43, 49, 69, 70]. Obwohl Muhammad Alis gesundheitliche Folgen der Karriere als Boxer weltweit bekannt sind, ist der Boxsport immer noch sehr verbreitet und beliebt. Die Hälfte der professionellen Boxer haben schwere, im Schädel-CT oder MRI nachweisbare Gehirnschäden mit unspezifischer Gehirnatrophie. Jeder fünfte Boxer entwickelt eine Demenz vor dem dreißigsten Lebensjahr. Unter den professionellen Boxern leiden 90% an
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Gedächtnisstörungen und 17% entwickeln eine motorische Abnormalität, welche mit der Parkinson-Krankheit vergleichbar ist [8]. Die Gefahr der Entwicklung eines sog. „Punch-Drunk Syndroms“ ist im professionellen Boxsport groß. Die Anzahl der gesamten Knock-outs (KO) sowie die Anzahl der absolvierten Trainingseinheiten scheinen im direkten Zusammenhang mit der Entwicklung einer „Box-Demenz“ zu stehen [8]. In Holland ist darum beispielsweise Boxen für Jugendliche unter 16 Jahren verboten [7]. Die holländische Gesundheitsbehörde geht sogar noch weiter und will den Boxsport generell verbieten, wie das in Skandinavien bereits seit den frühen achtziger Jahren der Fall ist. Auch für Fußballspieler besteht ein Risiko für bleibende Gehirnschäden [10]. Im Profifußball erleiden zwei von elf Spielern jede Saison einen K.O., bis zum Karriereende erleidet jeder zweite Fußballspieler mindestens einmal eine mTBI. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass durch die 800–1000 Kopfbälle, die ein Profifußballer pro Saison absolviert sowie in Abhängigkeit von der Anzahl erlittener K.O.s bleibende Gehirnschäden verursacht werden können. Fußballprofis, die eine große Anzahl Kopfbälle gespielt haben, entwickelten gemäss der Studie vermehrt und insbesondere räumliche Gedächtnisstörungen. Gemäß Studien wiesen Fußballprofis, die bereits eine große Anzahl Kopfbälle gespielt haben, vermehrt Gedächtnisstörungen auf. Als direkte Folge dieser Studie wird in Holland inzwischen Kindern unter 16 Jahren empfohlen, weder Kopfbälle zu spielen noch Kopfballtrainings zu absolvieren [10].
Rolle der biochemischen Marker im Serum Eine wichtige Rolle werden in Zukunft neurobiochemische Marker spielen. Vor allem Proteine, welche nur in Astroglia-Zellen oder Neuronen synthetisiert werden und dadurch „gehirnspezifisch“ sind, wurden auf ihr Potential als biochemische Marker einer Gehirnschädigung untersucht. Die heutzutage bekanntesten Marker sind das glial fibrillary acid protein, myelin basic protein, creatine kinase izoenzyme BB, neuron specific enolase (NSE) und das Serum S-100b protein (S-100b) [12, 13, 25, 40, 50]. NSE und S-100b sind heute bereits kommerziell erhältlich (Elecsys S100 der Firma Roche Diag-
nostics GmbH, Sangtec 100 der Firma AB Sangtec Medical) und werden als spezifische Marker sowohl der ischämischen als auch der traumatischen Gehirnschädigung angesehen. Das S-100b Protein ist als Marker der Dysfunktion der BlutHirn-Schranke (sowohl nach mild TBI als auch nach TBI) wissenschaftlich anerkannt. Der Nachweis dieses Proteins im peripheren Blut kann auf eine Schädigung des Gehirns hinweisen. Ziel ist es, das S-100b Protein in Zukunft für die Diagnose und die Einteilung des Schweregrades eines Schädel-Hirn-Traumas einzusetzen. Seit kurzem ist eine direkte Korrelation zwischen der S-100b Protein-Konzentration im peripheren Blut und dem Auftreten von postkommotionellen Symptomen, neuropsychologischen Dysfunktionen (v. a. Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Bearbeitung der Informationen) und pathologischen radiologischen Befunden (CT, MRI) nach einer mTBI bekannt. Eine neuste prospektive Multicenter-Studie aus vier Spitälern in Europa (das Universitätsspital Tromso in Norwegen, das Universitätsspital Salford in UK, das Universitätsspital Lund in Schweden und unsere Abteilung Orthopädie, Sportmedizin und Traumatologie im Samedan, Schweiz) hat die Rolle des S-100b-Proteinwertes bei Patienten nach mTBI gegenüber den CT-Untersuchungen des Schädels analysiert. Wir kamen zu folgenden Schlussfolgerungen [50]: ] Die Bestimmung des S-100b-Wertes kann nicht die klinische Untersuchung oder die CT-Untersuchung des Schädels nach einer mTBI ersetzen. ] Die Bestimmung des S-100b-Wertes mit einem Cutoff von 0,10 lg/L zeigt eine Spezifität von 31% und eine Sensitivität von 95% zum Ausschluss einer intrazerebralen Blutung. Das bedeutet, dass Patienten mit einem Serumlevel > 0,10 lg/L 12% intrakranielle pathologische Veränderungen haben und bei denjenigen mit einem Serumlevel < 0,10 lg/L solche Veränderungen nur in 1,5% dokumentiert werden. Wir fanden auch, dass obwohl ein Cutoff von 0,15 lg/L den besten Kompromiss zwischen Sensitivität und Spezifität zeigt, keine ausreichende Sensitivität vorliegt. Die tiefe Spezifität (0,31) bei einem Cutoff von 0,10 lg/L ist auf eine ungenügende Erfassung einer mTBI in der CT-Untersuchung des Schädels, auf eine extrakranielle Quelle der S-100b-Proteins oder auf eine Kombination von diesen Faktoren zurückzuführen.
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Eine ähnliche prospektive Multicenter-Studie aus Deutschland zeigte auch eine Spezifität von 30% und eine Sensitivität von 99% bei der Bestimmung des S-100b-Wertes mit einem Cutoff von 0,10 lg/L zum Ausschluss einer intrazerebralen Blutung [13]. Beide Studien kommen zum Schluss, dass der S-100b-Wert die Indikation für die CT-Untersuchungen des Schädels und eine Selektion der Patienten anhand des S-100b-Wertes möglich ist [13, 50]. Zudem wurde nun auch eine neuroprotektive Wirkung des S-100b Proteins nachgewiesen. Dies könnte, weitere erfolgreiche klinische und experimentelle Forschungsergebnisse vorausgesetzt, einen wichtigen Schritt zur erstmaligen Entwicklung einer oralen Medikation nach Schädel-Hirn-Traumata darstellen.
Mild Traumatic Brain Injury bei Kindern Kinder erscheinen häufig in der Notfallstation eines Spitals nach einem Schädel-Hirn-Trauma. TBI sind die häufigste Ursache einer tödlichen Verletzung bei Kindern in den zivilisierten Ländern [1, 46, 53]. In den USA wird die Anzahl der TBI auf ca. 1 Million pro Jahr geschätzt, mit mehr als 300 000 Hospitalisationen und circa 6 000 bis 7 000 Todesfällen pro Jahr. Die Inzidenz beträgt 180 TBIs pro 100 000 Kinder pro Jahr. Ca. 80% der Schädel-Hirn-Traumata sind mTBIs. Trotzdem existieren noch keine einheitlichen Behandlungsrichtlinien für eine mTBI nach einer kindlichen Sportverletzung. Die kognitiven Folgen einer mTBI sind beim Kind im Prinzip ähnlich wie beim Erwachsenen: Eingeschränkte Informationsbearbeitung, Aufmerksamkeitsstörungen, inadäquates Verhalten etc. [46]. Charakter, Ausmaß und Dauer dieser kognitiven Veränderungen nach mTBI sind aber bei Kindern viel größer respektive länger als bei Erwachsenen [46, 53]. Sogar nach Normalisierung der klinischen und neuropsychologischen Symptome können Kinder weiter eine Verminderung von Aufmerksamkeit und Auffassungsvermögen in der Schule zeigen [46, 53]. Schädel und Gehirn weisen beim Kind sowie in den verschiedenen Entwicklungsphasen vom Säugling zum Heranwachsenden andere biomechanische und physiologische Eigenschaften als beim Erwachsenen auf [53]. Zwei- bis drei-
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fach größere Kräfte und höhere Winkelbeschleunigungen sind vonnöten, um bei einem Kind eine Gehirnverletzung von gleichem Ausmaß hervorzurufen wie bei einem Erwachsenen [53]. Beim Erwachsenen ist eine rotatorische Beschleunigung des Kopfes von ca. 45008/s2 notwendig, um eine mTBI verursachen zu können. Hingegen ist bei Kindern eine Beschleunigung von 10 0008/s2 notwendig. Dies bedeutet, dass bei Kindern, die nach einer Schädelverletzung symptomatisch sind, wesentlich höhere Kräfte eingewirkt haben. Der Kortex von Neugeborenen weist dünnere und weniger Gefäße auf als der reife Kortex und die Blut-Hirn-Schranke ist noch nicht vollständig entwickelt. Der kindliche Blutfluss im Gehirn sowie der Sauerstoffverbrauch sind doppelt so hoch wie beim Erwachsenen. Kinder zeigen nach mTBI gegenüber Erwachsenen eine relative zeitliche Verlängerung der zerebralen Schwellung, wodurch das Risiko einer intrakraniellen Hypertension und Ischämie ansteigt und ein potentiell erhöhtes Risiko für ein Second Impact Syndrom besteht [1, 53]. Es besteht folglich eine verlängerte Erholungszeit für das Gehirn eines Kindes. Aus diesem Grund sind Kinder nach einem Schädel-Hirn-Trauma auch verletzungsanfälliger für eine sekundäre Hirnverletzung als Erwachsene. Die posttraumatische Dysautonomie der Regulation der zerebralen Blutversorgung kann bei Kindern mit einer zeitlichen Verzögerung von bis zu 3 Tagen nach dem eigentlichen Unfallgeschehen auftreten und oft für mehr als eine Woche anhalten. Die Überwachung eines Kindes nach einer mTBI ist darum unbedingt notwendig, eine Rückkehr zum Sport ist erst nach Abklingen aller physischen und kognitiven Symptome, frühestens aber nach 4–7 Tagen angezeigt. Die Richtlinien der Vienna bzw. Prague „Concussion in Sports (CIS) Group“ wurden für Erwachsene und nicht für Kinder erstellt [3, 47]. Heutzutage existieren, außer Empfehlungen für die Überwachung und die Durchführung von bildgebenden Verfahren, keine Richtlinien für die Diagnose und Behandlung einer mTBI bei Kindern. So wird beispielsweise die Notwendigkeit zum Anfertigen eines Schädel-CTs beim Kind nach mTBI zurzeit noch äußerst kontrovers diskutiert. Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat 1999 in ihren Richtlinien zum Management einer mTBI bei Kindern vorgeschlagen, ein vor dem Unfall neurologisch unauffälliges Kind ohne fokale Abnormalitäten bei
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der neurologischen Untersuchung und ohne klinischen Hinweis auf eine Schädelfraktur ohne weitere bildgebende Verfahren wie Schädel-CT lediglich klinisch zu überwachen [1]. Bei allen Kindern nach einer mTBI mit einem kurzzeitigen Bewusstseinsverlust empfiehlt die AAP eine klinische Überwachung mit Schädel-CT. Kinder nach mTBI mit stattgehabter Bewusstlosigkeit, Amnesie, Kopfschmerz oder Erbrechen zeigen eine Prävalenz für eine intrakranielle Verletzung im Schädel-CT von bis zu 7%. Obwohl die Mehrzahl dieser intrakraniellen Läsionen klinisch insignifikant bleibt, benötigen 2% bis 5% dieser Kinder eine neurochirurgische Intervention [53]. Es ist essentiell zu wissen, dass Kinder mit einer intrakraniellen Verletzung klinisch oft nicht von Kindern ohne intrakranielle Verletzungen differenziert werden können. Kinder mit unspezifischen Zeichen, wie Kopfschmerzen, Erbrechen, oder Lethargie nach einer mTBI können eher eine intrakranielle Verletzung aufweisen als diejenigen ohne diese Symptome [53]. Die Indikation für die Durchführung eines Schädel-CTs bei Kindern nach einer mTBI muss aus diesem Grund mit einer gewissen Großzügigkeit gestellt werden, da ein Schädel-CT beim Kind viel sensitiver als die klinischen und neurologischen Untersuchungen ist. Das Risiko einer zerebralen Schwellung ist auch nach nur einer weiteren mTBI möglich. Es wird empfohlen, Kinder nach einer stattgehabten mTBI weder zu Sport, Training oder Schule zu schicken, solange sie nicht absolut beschwerdefrei sind. Die Sportpause nach einer mTBI sollte bei Kindern mindestens 4 bis 7 Tage betragen. Kinder ab 15 Jahren zeigen eine kognitive Reife wie Erwachsene, sodass für sie die Richtlinien für Erwachsene befolgt werden können [46].
Rolle der Prävention Neben der ständigen Verbesserung und vor allem Durchsetzung bestehender Regeln bei den verschiedenen Sportarten und der permanenten Weiterentwicklung und Anpassung der Ausrüstungen spielt auch der Respekt der Spieler untereinander, insbesondere bei Kontaktsportarten, eine wichtige Rolle. Auch die sicherheitstechnische Ausstattung der Wettkampfstätten kann maßgeblich zur Reduzierung von Verletzungen beitragen, z. B. kann eine spezielle Be-
schaffenheit der Bande beim Eishockey eine Reduktion der auf den Spieler wirkenden Kräfte herbeiführen [7, 9, 42, 52, 55]. Detailliertere Informationen sind unter www.orthopaediesamedan.ch ersichtlich.
Fazit für die Praxis Die Benützung moderner sensitiver immunologischer Verfahren erlaubt den Nachweis verletzter Axone bei Menschen sogar bei mild Traumatic Brain Injury (mTBI) und den Nachweis geschädigter Axone in frühen posttraumatischen Phasen. Die mTBI im Sport ist keine Bagatelle, mTBI kann in den weniger schweren Fällen eine nur vorübergehende Störung der Gehirnfunktionen, verursacht durch neuronale, chemische und neuroelektrische Veränderungen ohne große strukturelle Schäden, bewirken. Wir wissen jetzt, dass in Abhängigkeit von der Schwere des Rotations-Beschleunigungstraumas strukturelle Schäden der Gehirnzellen möglich sind und eine delayed axotomy (sekundärer Zelltod) möglicherweise existiert. Es existieren genaue Definitionen und Behandlungsrichtlinien. Eine mTBI bei Kindern bedarf eines eigenständigen Behandlungsalgorithmus, da höhere Kräfte geringere Symptome als beim Erwachsenen auslösen und pathologische Symptome oft nicht eindeutig von nicht-pathologischen Symptomen zu unterscheiden sind. Präventiv sollten im Sport Regeln zum Schutz vor Schädel-Hirn-Verletzungen eingehalten werden und nach weiteren Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden. Das „Vierte International Meeting on Minor Traumatic Brain Injury“ fand vom 10.–17. 03. 2008 in Samedan/St. Moritz, Schweiz statt. Für weitere Fragen steht Dr. N. Biasca, Leiter Orthopädie und Sportmedizin, Leitender Arzt Traumatologie, am Spital Oberengadin jederzeit zur Verfügung (
[email protected]; www.orthopaedie-samedan.ch).
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Einleitung Die zur Zeit gängige Einteilung der posttraumatischen Verletzungsfolgen in ein zervikales, zervikobrachiales, zervikomedulläres und zervikoenzephales Syndrom gliedert zwar die Symptomkomplexe, berücksichtigt jedoch nicht, dass die chronischen Zervikalgien bzw. das so genannte Zervikalsyndrom kein einheitliches Krankheitsbild darstellen. Zudem ist diese grob orientierende Einteilung für ein differenziertes und befundorientiertes physikalisch-therapeutisches Vorgehen nur bedingt geeignet. Die unterschiedliche Akuität der Beschwerdesymptomatik, die Schmerzintensität und -charakteristik, die vielfältigen Begleitsymptome der knöchernen und/oder weichteilstrukturellen Anteile des zervikalen Wirbelsäulenabschnittes sowie die Ausprägung neurologischer Funktionsstörungen lassen voneinander abgrenzbare muskuloskelettale und neurogene Syndrome des Halsbereichs vermuten.
Klinische posttraumatische Syndrome des Halsbereichs Nach Analyse und Wertung aller klinisch und röntgenologisch erfassbaren Variablen lassen sich Anamnese- und Befundkriterien ableiten, die folgende Unterteilung der zervikalen posttraumatischen Krankheitsfolgen gestatten: ] Zervikale segmentale Funktionsstörungen. Diese Funktionsstörungen sind durch eine segmentale Mobilitätseinschränkung (Hypomobilität) und/ oder durch vermehrte segmentale Beweglichkeit (Hypermobilität oder diskoligamentäre Instabilität) der kraniozervikalen und/oder zervikalen Bewegungssegmente charakterisiert.
] Zervikales Irritationssyndrom. Der zervikale Irritationsschmerz imponiert als intensiver Spontan-, Druck- und Bewegungsschmerz gereizter Wirbelbogengelenke und ligamentärer Weichteilstrukturen, wobei schon geringfügige Bewegungsexkursionen der Halswirbelsäule und kurzfristige Belastungen einen intensiven und vor allem lang anhaltenden Schmerz auslösen. ] Zervikales Überlastungssyndrom. Der Überlastungsschmerz der Halsmuskulatur und Ligamentstrukturen ist durch einen mäßigen bis noch erträglichen, eher diffusen Nackenschmerz gekennzeichnet, der vor allem im Verlauf einer gleichförmigen, statischen Belastung an Intensität zunimmt und in der Regel nicht ausstrahlt. ] Zervikales myofasziales Syndrom. Das myofasziale Syndrom besteht aus isolierten Muskelverspannungen, -verhärtungen bzw. -verkürzungen und erzeugt bei aktiver Anspannung, Dehnung oder Druck einen als bohrend, reißend oder dumpf drückend empfundenen Schmerz. Fakultativ können sich die Schmerzempfindungen über Muskelketten ausbreiten. ] Zervikales radikuläres Syndrom. Hier handelt es sich um durch Wurzelirritation bzw. Wurzelkompression ausgelöste radikuläre Schmerzausbreitung, die in unterschiedlicher Dauer, Intensität und Häufigkeit Dermatom, Myotom und Sklerotom betreffen kann. Die gezielte Unterscheidung dieser Syndrome dient der therapeutischen Schwerpunktsetzung, auch wenn im Einzelfall verschiedene Syndrome anteilsmäßig an der Entstehung des Beschwerde- und Befundbildes beteiligt sein können.
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Physikalische Therapie nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
Physikalisch-medizinische Therapie Von den zahlreichen Studien, die es zur Problematik der HWS-Beschleunigungsverletzung gibt, beschäftigen sich nur wenige mit der physikalisch-medizinischen bzw. physiotherapeutischen Behandlung akuter und chronischer posttraumatischer Symptome. Diese wenigen Studien belegen jedoch sehr eindrücklich, dass jene Patienten, die durchschnittlich längere Tragezeiten der Halskrawatte angaben, länger über persistierende Schmerzen klagten. Das heißt, dass eine längere initiale Immobilisierung die Beschwerdesymptomatik prolongieren kann. Der Heilungsverlauf konnte durch ein frühzeitiges aktives Vorgehen beschleunigt werden. Für den wirkungsvollen Einsatz einer physikalisch-medizinischen Therapie ist die differenzierte Wahl eines sich am klinischen Befund orientierenden Behandlungskonzeptes entscheidend. In Abhängigkeit von der Akuität und dem zeitlichen Verlauf der Beschwerdesymptomatik sowie der differentialdiagnostischen Zuordnung der Befunde und Einteilung schlagen wir folgendes, seit Jahren bewährtes, zweistufiges Therapiekonzept vor: Die erste Therapiestufe ist als Basisbehandlung gedacht, die unabhängig von dem später festgestellten Schmerzsyndrom für alle Patienten mit Beschwerden nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung durchgeführt wird. Diese Therapie beginnt unmittelbar nach dem Unfall bzw. nach der initialen Befunderhebung und umfasst das Zeitintervall zwischen Unfallereignis und der 3.–4. posttraumatischen Woche. Die Anzahl der Behandlungseinheiten, jeweils ca. 30 min, soll dabei mindestens 2–3 pro Woche betragen. Erfahrungsgemäß sind bei ca. zwei Drittel der Patienten die Beschwerden im Spontanverlauf oder mit therapeutischer Unterstützung nach ca. 3–4 Wochen und dann noch einmal nach einer zweiten Phase nach 6–8 Wochen soweit abgeklungen, dass auf eine weitere Behandlung bzw. Fortführung der Therapie verzichtet werden kann. Bestehen jedoch weiterhin nicht tolerierbare Beschwerden über die 3.–4. Woche hinaus, werden die Patienten einer zweiten Therapiestufe zugeführt. Sie beginnt unmittelbar nach der differentialdiagnostischen Zuordnung, spätestens nach der 6.–8. posttraumatischen Woche. Sie dauert in der Regel 2–3 Monate, mit jeweils 2–3 Sitzungen in der Woche. Sie ist als Kombinationstherapie aufgebaut, bestehend aus Elementen der Basistherapie und spezifischen, syndrombezogenen Therapiemaßnahmen.
]
] Therapieinhalte der Basistherapie Im Vordergrund stehen genaue Anweisungen zum Tragen der Halskrawatte (in der Regel „Schanzkrawatte“). Bei fehlendem Verdacht auf eine diskoligamentäre Instabilität wird im Allgemeinen für maximal zwei Wochen eine Schanzsche Krawatte verordnet, die jedoch nur intermittierend getragen werden soll, d. h. schon frühzeitig tagsüber nur stundenweise. Das nächtliche Tragen der Krawatte wird allgemein empfohlen. Insgesamt wird unter Berücksichtigung von Schmerz und Haltevermögen des Kopfes eine frühzeitige Entwöhnung von der Halskrawatte angestrebt. Bei klinisch und radiologisch begründetem Verdacht auf eine diskoligamentäre Instabilität ist eine physikalische Therapie nicht indiziert. Aus der Rückenlage werden assistiv-geführte Kopfbewegungen in allen Richtungen mit Ausnahme der Extension induziert, zunehmend auch geführte HWS-Bewegungen gegen leichten Widerstand unterhalb der Schmerzgrenze. Das Ziel dieser assistiv-geführten Bewegungen mit und ohne Widerstand ist die Rückgewinnung des Vertrauens in die vorhandenen Bewegungsmöglichkeiten, die Wiederfindung der Mitte und die therapeutische Ausnützung der postisometrischen Relaxation. Es folgen frühzeitig, häufig zu wiederholende, lockere Wackelbewegungen des Kopfes im Liegen alternierend mit vorsichtigen rhythmischen manuellen Traktionen. Mit der Haltungs- und Gleichgewichtsschulung auf dem Therapieball wird die achsengerechte Einstellung des Kopfes mit Aufrichtung sowie die dynamische Stabilisation vom Becken her angestrebt. Damit verbunden sind rhythmisch-dynamische Schultergürtelbewegungen und Kopfretraktionsübungen. Ziel ist es, indirekt über eine sensomotorische Aktivierung der Schultergürtelund oberen Rumpfmuskulatur eine dynamische Stabilisation der aufrechten Haltung insbesondere des Kopfes zu schulen und zu trainieren. Gleichzeitig soll auf die Retraktionshaltung des Kopfes geachtet werden (nicht Reklination des Kopfes). Mittels der reflektorischen Atmungstherapie wird über Reizgriffe und so genannte Ausgleichsgriffe eine muskuläre Detonisierung der Nackenmuskulatur angestrebt. Muskelmassagen sollen sich unter Berücksichtigung entsprechender Befunde lediglich auf den Schultergürtel beschränken. Die Kissenberatung erfolgt individuell, den Schlafgewohnheiten und der Beschwerdesymptomatik des Patienten angepasst.
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P. Schöps
Weitere Therapiemöglichkeiten sind trockene Wärme (Rotlicht, Lichtbogen, Heißluft etc.) oder feuchte Wärme (z. B. Fango). Bei einzelnen Patienten, die unter Wärme eine Zunahme ihrer Beschwerden verzeichnen, können auch Kälteanwendungen angewandt werden. So können bei starken Schmerzen kühle Kompressen oder Wickel im Nackenbereich aufgelegt werden. Nicht zu empfehlen sind in diesem Bereich Eis oder so genannte Cold-Packs. Von den elektrotherapeutischen Verfahren ist lediglich die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) zu empfehlen. Insgesamt sollen alle frühtherapeutischen Maßnahmen dazu dienen, dem Patienten von Anfang an die Angst vor der Bewegung zu nehmen und frühzeitig von immobilisierenden Maßnahmen (z. B. Halskrawatte, Bettruhe) zu entwöhnen.
] Therapieinhalte der Therapiestufe II Diese Phase setzt sich zusammen aus ausgewählten Elementen der Basisbehandlung, wobei die Maßnahmen eine langsame Dosissteigerung bzgl. der zeitlichen und körperlichen Anforderungen beinhalten, und befundorientierten, syndrombezogenen und damit spezifischen Therapieverfahren. ] Zervikale segmentale Funktionsstörungen. Langsame, assistiv-geführte Kopfbewegungen gegen dosierten Widerstand (muskuläre Aktivierungstechniken) unter Vermeidung einschießender Schmerzen; intensive Haltungsschulung und rhythmisch-dynamische Stabilisation, Kopfretraktion und Thoraxaufrichtung: ] Hypomobilität: Vorsichtige manuelle Traktionen und segmentale Mobilisierung der Halswirbelsäule ] Hypermobilität: Isometrische und dynamische muskuläre Stabilisation; Muskelaktivierung mit Rumpfmustern der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation unter Einbeziehung des Kopfes ] Diskoligamentäre Instabilität: Keine physikalische Therapie. ] Zervikales Überlastungssyndrom. Aktives Schultergürtel- und HWS-Training im Intervallverfahren; Dehnen verkürzter Weichteilstrukturen (Ligamente und Muskulatur); Massage der Nacken-
und Schultergürtelmuskulatur; Querfriktion der Muskelansätze an der Hinterhauptsschuppe; Intensive Haltungsschulung mit rhythmisch-dynamischer Stabilisation, Kopfretraktion und Thoraxaufrichtung. ] Zervikales Irritationssyndrom. Manuelle Mobilisation nach dem Maitland-Konzept; Reflektorische Atemtherapie; Kühle bis kalte Kompressen/ Wickel; Intensive Haltungsschulung mit rhythmisch-dynamischer Stabilisation, Kopfretraktion und Thoraxaufrichtung; Vermeidung langer Belastungsphasen und großamplitudiger Bewegungen der HWS. ] Zervikale myofasziale Syndrome. Muskelmassage der Nacken- und Schultergürtelmuskulatur, passive Dehntechniken, deep friction; Dehntechniken und postisometrische Relaxation; Warme Moorerde; Intensive Haltungsschulung mit rhythmisch-dynamischer Stabilisation, Kopfretraktion und Thoraxaufrichtung.
Zervikale radikuläre Syndrome ] Wurzelirritation ohne neurologische Ausfälle: Kurzdauernde kalte Wickel um den ganzen Arm und Schultergürtel ] Wurzelkompression mit neurologischen Ausfällen: Schanzsche Krawatte; Isometrische Stabilisation der Schulter- und oberen Thoraxmuskulatur, später dynamische Stabilisation; Sensomotorische Aktivierung der betroffenen Schulter- und Armmuskulatur (Techniken der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation); Kopfretraktionsübungen.
Schlussbemerkung Die genannten Verfahren der physikalischen Therapie müssen in Abhängigkeit vom aktuellen Befund und dem Zeitverlauf der posttraumatischen Krankheitsfolgen in ein Gesamtkonzept eingebettet sein, bestehend aus medikamentöser und physikalischer Therapie als Basiselemente und eventueller zusätzlicher interventioneller und psychosozialer Maßnahmen. Alle therapeutischen Interventionen müssen darauf ausgerichtet sein, einen Chronifizierungsprozess nicht entstehen zu lassen bzw. zu verhindern.
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Physikalische Therapie nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
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30 Osteopathie nach HWS-Schleudertrauma S. Tempelhof
Die Osteopathische Medizin wurde im Jahre 1874 von dem amerikanischen Arzt Dr. Andrew Taylor Still begründet. Osteopathie ist ein manualmedizinisches Konzept, das sich mit einer ganzheitlichen Sichtweise von Körperfunktionen verbindet. Die sogenannte osteopathische Philosophie, in der umfassende Body-Mind-Ansätze zu finden sind, geht von im Körper verankerten Selbstheilungskräften und einer gegenseitigen Abhängigkeit von Körperstruktur und Körperfunktion aus. Das osteopathische Behandlungskonzept versucht, funktionelle Störungen wie Dysfunktionen und Läsionen im Bereich der Knochen, der Gelenke, der Muskeln, der Ligamente, der Faszien, der Organe, sowie der vaskulären, lymphatischen und neuronalen Strukturen zu beseitigen und die ungestörte Beweglichkeit aller Gewebestrukturen wiederherzustellen. Dabei genießen alle bindegewebigen Strukturen eine besondere Aufmerksamkeit. Während die Manualtherapie/Chirotherapie vornehmlich im parietalen System (also im Stütz- und Haltesystem des Körpers) arbeitet, unterteilt sich das osteopathische System in 3 zusammengehörige, nichttrennbare Subsysteme, das parietale, viszerale und kraniosakrale System. Die Osteopathie hat Sichtweisen entwickelt, in denen Gewebezüge wie ein Kontinuum durch den gesamten Körper laufen und Störeinflüsse in einem Gewebeabschnitt immer adaptive Reaktionen des gesamten Körpers hervorrufen. Diagnostisch wird die Mobilität (passive Bewegungsfähigkeit), Motilität (rhythmische Eigenbeweglichkeit) und Motrizität (Gewebebewegungen aufgrund des Einflusses anderer sich bewegender Strukturen) untersucht. Die angewendeten osteopathischen Techniken sind vielfältig, einige sollen beispielhaft aufgeführt werden: Myofasziale Release, Muskel-Energie-Techniken, Funktionelle Techniken, Still-Techniken, Strain-Counterstrain, Balancierte Ligament-Techniken, Impulstechniken, Allgemeine Osteopathische Behandlung, Spezifische Adjustment Techniken, Reflexpunkt-
anwendungen, Lymphatische Manipulation, Viszerale Manipulation, Kraniosakrale Techniken. Osteopathen in den USA sind ausschließlich Ärzte, die an eigenen medizinischen Fakultäten den Grad des D. O. (Doctor of Osteopathy) erwerben und den allopathischen Ärzten, die den Grad M. D. (Medical Doctor) tragen, gegenüberstehen. Allerdings betreiben weniger als 10% der amerikanischen Osteopathen die Manuelle Osteopathische Medizin, der überwiegende Anteil beschäftigt sich mit konventionellen schulmedizinischen Methoden. Eine osteopathische Behandlung führt als Monotherapie selten zu einer Auflösung des geklagten Symptomenkomplexes. Eine Ausnahme stellen ausgesprochen leichtere Fälle dar, bei denen eindeutig funktionsgestörte Gelenke oder Weichteilabschnitte ohne vegetative Beteiligung und ohne Fernwirkungen eine schnelle Regredienz vermuten lassen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die geschilderte Aufprallheftigkeit in keinem abzuleitenden Verhältnis zu den im Körper verteilten Dysfunktionen steht. Eine osteopathische Behandlung kann sehr wirkungsvoll im Kontext mit anderen Behandlungsformen erfolgen, interdisziplinäre und multimodale Konzepte lassen sich mit osteopathischen Ansätzen sehr gut kombinieren. Ist es infolge des Traumas zu Stellungsänderungen des Atlas gekommen, eventuell sogar in Kombination mit Strukturläsionen, wie Bandzerreißungen oder Kapselschädigungen im Kopfgelenksverband, so sind diese Veränderungen erfahrungsgemäß mit osteopathischen Techniken nicht zu bessern. Bei diesen Stellungsveränderungen des Atlas hat sich die Atlas-Therapie nach Arlen als sehr effektiv erwiesen, die wiederum sehr gut mit osteopathischen Techniken kombiniert werden kann, um die immer vorhandenen begleitenden funktionellen Gewebeläsionen aufzulösen. Die osteopathische Diagnostik und Therapie vermag Gewebefehlfunktionen im parietalen,
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viszeralen und kraniosakralen System aufzuspüren und anzugehen, deren Persistenz zu einer veränderten Nozizeption und Propriozeption, zu veränderten Stoffwechselreaktionen, zu veränderten Stellungsreflexen und zu alterierten myofaszialen Reaktionen führen können. Um zu einer adäquaten Beurteilung osteopathischer Dysfunktionen zu gelangen, bedarf es erfahrener und entsprechend ausgebildeter osteopathisch/manualmedizinischer Ärzte, die ein großes manuelles Einfühlungsvermögen in den Körper besitzen. Innerhalb der osteopathischen Literatur finden sich nur äußerst selten Behandlungs-Hinweise zu traumatischen HWSDistorsionen. Die Zahl der Erfahrenen ist entsprechend leider noch gering. Im Folgenden sollen einige Gewebebereiche, die diagnostisch und therapeutisch für die Osteopathie interessant sind, beispielhaft und vereinfacht herausgestellt werden, um das osteopathische Herangehen verständlicher zu machen. Das Schleudertrauma ist durch die S-förmige Verformung der HWS gekennzeichnet, durch die Beschleunigung des Rumpfes nach ventral mit Hyperextension der unteren und Flexion der oberen HWS, abgelöst von einer Hyperflexion der HWS. Seitens der Osteopathie sind die Überdehnungen der faszialen, myofaszialen, vaskulären und neuronalen Bahnen, die zervikothorakal verlaufen, relevant. Hinzu kommen Verlagerungen der viszeralen mesenterialen Aufhängestrukturen, Organverlagerungen, insbesondere der Niere, die nur locker in einem bindegewebigen Verbund liegt, und des Lenden-Becken-Komplexes. Im Bereich der unteren Extremitäten und der lumbopelvinen Region kommen stauchende Kräfte mit hinzu. Schulmedizinisch werden mit Ausnahme der Lumbalregion, die auch bei kleinen Aufprallgeschwindigkeiten hohen Versetzungskräften ausgesetzt ist, keine Strukturläsionen diskutiert, im Diagnosesystem der Osteopathie sind jedoch im Bereich der myofaszialen Ketten, faszialen Umhüllungen und Aufhängungsstrukturen teilweise erhebliche Dysfunktionen zumeist in Form von Bewegungsverlusten, Adhäsionen und Spannungspunkten feststellbar. Da die Beschleunigungskräfte des Kopfes infolge der individuellen Ausgangsstellungen mit nachfolgenden Auswirkungen auf den Rumpf nicht vorhersagbar sind, können vielfältige Traktions-, Kompressions- und Schermuster der myofaszialen Gewebe entstehen, exzentrische und konzentrische Belastungen wechseln unkontrolliert in schneller Folge. Wir kennen aus banalen Alltagssituatio-
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nen unkoordiniert ablaufende Bewegungen, bei denen das Agonisten-Antagonisten-Spiel (wie im Strain-Counterstrain-Konzept mit auftretenden Tenderpunkten) gestört wird und in vielfältigen, individuell unterschiedlichen artikulären und myofaszialen Dysfunktionen resultieren kann. Entsprechend hoch ist die Wahrscheinlichkeit für ein funktionelles Störmuster bei hohen Beschleunigungs- und Bremskräften, wie sie beim Schleudertrauma auftreten. Es lassen sich häufig Fehlspannungen (sogenannte viszerale Läsionen) im Bereich der zwerchfellnahen Kolon- und Duodenum-Aufhängestrukturen finden, die reflektorisch dorsale Muskelverspannungen und Wirbelkörperfehlstellungen verursachen und Schmerz aufrechterhalten können. Tenderpunkte, myofasziale Adhäsionspunkte, die dorsal und ventral auftauchen, geben Hinweise auf Bewegungslimitierungen von Gelenk- und Weichteilstrukturen, die lokal nicht unbedingt schmerzen, aber weiter entfernt liegende Regionen beeinflussen können. Das Zwerchfell muss innerhalb des osteopathischen Behandlungskonzeptes immer behandelt werden. Das Trauma führt zu einem plötzlichen Atemstop, der zumeist zu einer nachfolgenden Expirationsdysfunktion (nach osteopathischer Definition Blockierung der Inspiration) führt. Die Atemfehlfunktion resultiert in einer Hochatmung mit einem vermehrten Einsatz der Atemhilfsmuskeln, die wiederum durch den Ansatz im Bereich der HWS eine zunehmende zervikale Belastung darstellen. Das Zwerchfell stellt eine Art horizontale Verspannung dar und ist eines von 5 osteopathischen Diaphragmen im Körper, die eine wichtige statische und dynamisch-druckregulatorische Aufgabe haben. Das Zwerchfell ist Bestandteil der „Zentralen Sehne“, eine Art zentral verlaufende myofasziale Kette, zu der die subdiaphragmal aufgehängten Organe gehören, die zentralen faszialen Umhüllungen und ligamentären Fixierungen im Thorax, und nach kranial aufsteigend die ösophageal-trachealen und pharyngealen-laryngealen Strukturen. Die Zentralsehne ist im Bereich der HWS und der Schädelbasis aufgehangen. Betrachtet man auf diese Weise die fortlaufende Kontinuität von Gewebeketten, wird es verständlich, dass z. B. eine viszeroligamentäre oder diaphragmale Dysfunktion die Stellung der HWS verändern und artikuläre Dysfunktionen hervorrufen bzw. aufrechterhalten kann. Auch die Innervierung des Zwerchfells aus C3–5 kann über Segmentfaszilitierungen zu dia-
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phragmalen Dysfunktionen führen, die wiederum die zervikalen Segmentdysfunktionen unterhalten können. Ein HWS-Schleudertrauma führt zu einer typischen kypholordotischen Fehlhaltung, die zu einer Verkürzungstendenz der Zentralsehne führt und Gewebeadhäsionen verursachen kann. Posttraumatische muskuläre Triggerpunkte, die auch in Folge von auf- oder absteigenden Verkettungen eine diaphragmale Dysfunktion hervorrufen können, sind ebenso eine Quelle chronischer HWS-Beschwerden. Von den Organen sei die Niere als sehr wichtiges zu behandelndes Organ benannt, die Leber als sehr häufig übersehenes Organ nur erwähnt. Die Niere sitzt relativ locker in einer bindegewebigen Hüllschicht und wird bei Beschleunigungstraumata leicht verlagert und nachfolgend fixiert. Ihre organofaszialen Verbindungen zum Zwerchfell, zum Psoas und Quadratum lumborum, zum Colon, unteren Rippen und einigen nach kaudal ziehenden Nerven aber auch ihre Rolle im osteopathischen Verständnis der Lymphregulation unterstreichen den hohen Behandlungsstellenwert. Die Osteopathie beschäftigt sich auch mit der emotionalen Speicherung von Traumata in bestimmten Geweben. Ähnlich wie in der TCM wird auch in der Osteopathie die Niere, wie auch Psoas und Zwerchfell unter diesem Aspekt der Emotionalität betrachtet und unter Umständen in ein Behandlungskonzept miteinbezogen. Die Behandlungsform des Emotional Release ist sicherlich nicht unumstritten, gehört aber zu einem erweiterten osteopathischen Verständnis und stellt in der Hand des Erfahrenen gerade bei Schleudertrauma-Patienten einen möglichen zusätzlichen integrativen Behandlungsansatz dar. Eine sehr große Bedeutung innerhalb des osteopathischen, aber auch chirotherapeutischen Konzeptes besitzen die peripheren distalen Gewebedysfunktionen, die oftmals vernachlässigt werden. Schon im Mutterleib ist bei Fersenkontakt mit der äußeren Umhüllung die reaktive Nackenstreckung zu beobachten. Die Füße haben beim Menschen eine herausragende Stellung (bereits Lewitt, Janda und Brügger haben darauf verwiesen und die therapeutische Bedeutung herausgestellt) in Bezug auf Haltungsregulation und Gleichgewichtsreaktionen des aufrechten Ganges. Sie werden dem tiefen muskulären Stabilisierungssystem zugerechnet. Bei ausgeprägten HWS-Distorsionen sind wohl infolge der Abstützreaktionen Dysfunktionen der Füße als auch der aufsteigenden Gewebeebenen
im Sinne von Verkettungsreaktionen nahezu ausnahmslos zu beobachten. Eine Aktivierung der distalen Extensorenkette kann bis hinauf zu den zervikalen Extensoren mit Hypertonisierung und Verkürzung führen. Eine mögliche Störung der Tonusregulation infolge von Blockierungen des kraniozervikalen Überganges ist weithin anerkannt, auf die Aufrechterhaltung und Therapieresistenz zervikaler Dysfunktionen, gestörter Haltungsregulation und craniozervikaler Beschwerden aufgrund von Verkettungen der unteren Extremitäten infolge von artikulären Störungen Trigger-, Tender- und Adhäsionspunkten sowie myofaszialen Torsionen und Stauchungen wird weit weniger verwiesen. Eine andere wichtige Region ist die ventrale Halskulisse, über myofasziale Zuggurtungsfunktionen sind Hyoid, Sternum, Claviculae, obere Rippen und die Kiefergelenke eingebunden. Auch Chirotherapeuten beziehen diese Region sehr sorgsam in ihre therapeutischen Überlegungen mit ein, Osteopathen setzen daneben einen Focus auf die faszialen Verbindungen, die wiederum bis in den Thorax und das Abdomen reichen können. Der Diagnostik mit „Listening“-Techniken, das heißt ein manuelles Hineinhorchen in den Körper mit Bewertung der Körperbewegungsrhythmen (inhärente Gewebebewegungen) und Induzierung subtiler Bewegungen und Prüfung deren Gewebedurchgängigkeit, um Bewegungsverlusten und Spannungsanreicherungen auf die Spur zu kommen, werden spezielle therapeutische ReleaseTechniken zur Seite gestellt. Die Störanfälligkeit des Nervensystems mit Ausnahme von großen, leicht zu diagnostizierenden Strukturschäden und nachfolgenden neurologischen Ausfallserscheinungen wird in der medizinischen Literatur eher wenig beachtet. Innerhalb der Osteopathie, aber auch zunehmend innerhalb der Physiotherapie (z. B. Butler), wird der Mobilisierung des Nervensystems ein wichtiger Stellenwert zuerkannt. Die ungestörte Verschieblichkeit der neuronalen und paraneuronalen Gewebe ist eine notwendige Voraussetzung für eine Aufrechterhaltung der Gewebe-Homöostase und kann durch Traumata infolge Überdehnungen empfindlich gestört werden. Spannungsüberhöhungen können zu entzündlichen Reaktionen und nachfolgenden Immobilitäten und Verklebungen führen. Anatomische Studien konnten zeigen, dass Änderungen der Körperstellungen Bewegungen des Nervensystems, ähnlich wie es bei faszialen Geweben zu beobachten ist, in weit entfernten Körperregionen hervorrufen
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können. Die Spannung im Nervensystem kann erheblich zunehmen, wenn andere Körperteile sich in Nervengewebe verkürzenden Positionen befinden. Das gilt natürlich besonders für Rotations- und Seitneigungsbewegungen der HWS. Butler prägte den Begriff der „Tensionspunkte“ für Areale, die Bewegungsumschaltpunkte sind und durch ihre geringe Verschieblichkeit einer besonderen Spannung unterliegen und durch Stoffwechselveränderungen Schwellungszuständen und Verklebungen unterliegen können. Exemplarisch sind die Bereiche auf Segmenthöhe C6, T6 und L4 zu nennen, die aber aus der Erfahrung heraus auch andere Segmente betreffen können. Gerade wenn ausstrahlende Schmerzen in den Schulter-Arm-Komplex, den Thorax, die BWS oder sehr häufig im Bereich der LWS zu beobachten sind, sollte auch frühzeitig das Nervensystem mitbehandelt werden. Da diese Beschwerden oftmals mit einer Latenzzeit (sogar bis zu Monaten) zum Unfallzeitpunkt einsetzen, sollte bereits im Akutzustand ein entsprechendes „Listening“ erfolgen. Im Bereich der Wirbelsäule sind der Osteopathie weitere Segmente bekannt, die Umschaltpunkte von Bewegungslinien darstellen und somit einer verminderten Bewegung bzw. einer erhöhten Spannung ausgesetzt und regelmäßig auf Dysfunktionen überprüft werden sollten: C3, T4, L3. Die frühzeitige Wiederherstellung von verlorenen physiologischen Bewegungsmöglichkeiten unterschiedlicher Gewebearten stellt das Grundelement einer erfolgreichen osteopathischen Therapie dar. Eine der Osteopathie sehr eigene und in ihren Ausprägungsformen diskutable Therapieform stellt die Kraniosakraltherapie mit ihren Ansätzen der rythmisierenden Korrektur von Fehlstellungen und Fehlspannungen im Bereich des Schädels, des Sacrums und des Nervensystems dar. Manualtherapeutisch gut nachvollziehbar sind die nahezu immer nachweisbaren Verfestigungen bzw. Fixationen suturaler Verbindungen, die weniger von Anpralltraumata (z. B. der Kopfstützen) herrühren, sondern eher über myofasziale okzipital ansetzende Strukturen im Bereich der Galea zu Dysfunktionen der Suturen oder auch innerhalb des bindegewebigen Kontinuums der Falxen führen können. Myofasziale Release Techniken haben sich hier zur Auflösung von Kopf- und Nackenschmerzen als sehr wirkungsvoll erwiesen. Auch die häufig anzutreffenden Sakrum- und ISG-Dysfunktionen in Kombination mit funktionellen Beckenfehl-
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stellungen, die durch die sakralen duralen Anheftungen und myofaszialen Relationen über die autochthone Rückenmuskulatur, aber auch durch direkte mechanische Traumatisierung hervorgerufen werden, müssen über kraniosakrale und myofasziale Techniken beseitigt werden. Eine klassische Kraniosakraltherapie, die rhythmusorientiert oder über fluide Medien angewendet wird, kann zu einer Tiefenentspannung führen und bei einer Störung des Kopfgelenkverbundes die kurzen, tiefen Nackenmuskeln anstelle der erwünschten Tonisierung relaxieren mit der Folge einer Verstärkung der funktionellen Instabilität des Atlas. Das gilt besonders, wenn über die Atlastherapie eine Stellungskorrektur eingeleitet wurde. Häufig sind bei Frischtraumatisierten eher hypermobile zervikale Segmente festzustellen, nach Stunden bzw. erst Tagen kommt es zu Muskelverspannungen, Trigger-, Tenderund Irritationspunkten und myofaszialen Adhäsionspunkten oder Zonen, die Ausdruck oder Folge der artikulären Dysfunktionen sind. Die Kraniosakraltherapie bei Frischverletzten, insbesondere mit Atlasstellungsstörungen, muss daher als kontraproduktiv, zum Teil sogar als kontraindiziert bezeichnet werden. Nach erfolgter Atlaskorrektur bzw. Normalisierung der Tonusregulation der tiefen autochtonen Nackenmuskeln kann die Kraniosakraltherapie dann gewinnbringend integriert werden.
Literatur Butler DS (1995) Mobilisation des Nervensystems. Springer, Berlin Heidelberg Cloet E et al (1999) Praxis der Osteopathie. Hippokrates, Stuttgart Helsmoortel J (2002) Lehrbuch der viszeralen Osteopathie. Thieme, Stuttgart Lewitt K (2007) Manuelle Medizin. Urban & Fischer, München Liem T, Dobler TK (2005) Leitfaden Osteopathie. Urban & Fischer, München Meert GF (2007) Das venöse und lymphatische System aus osteopathischer Sicht. Urban & Fischer, München Tempelhof S, Weingart J (2001) Osteopathische Medizin/Übersicht in Erfahrungsheilkunde, S 119-126 Tempelhof S (2006) Osteopathie. Gräfe und Unzer, München Upledger JE, Vredevoogd JD (2000) Lehrbuch der Craniosakralen Therapie. Haug, Stuttgart Ward RC et al (1997) Foundations for Osteopathic Medicine. Williams & Wilkins. Zeitschrift: „Osteopathische Medizin“, Urban & Fischer, München
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31 Atlastherapie nach Arlen K. Schaumberger
Der Name Atlas kommt aus der griechischen Mythologie und bezeichnet einen Halbgott, der auf seinen Schultern das Himmelsgewölbe zu tragen hatte. Abbildung 31.1 zeigt die antike griechische Skulptur. Der erste Halswirbel, der den Kopf „trägt“, wird deshalb seit dem späten Mittelalter „Atlas“ genannt. Der Begriff Atlastherapie bezeichnet eine ganz spezielle Manualtherapie direkt am ersten Halswirbel und wird nur von extra dafür ausgebildeten Ärzten durchgeführt. Der französische Arzt und Unfallforscher Dr. Albert Arlen hat als erster mit Manipulationen am Atlas experimentiert und hat diese Methode nicht nur perfektioniert, sondern diese Art der Behandlung in die moderne Medizin eingeführt. Seit etwa 1985 wird deshalb diese Behandlungsform als Atlastherapie nach Arlen bezeichnet.
Abb. 31.1. Atlasstatue: Dogenpalast Venedig, Photo des Autors.
Die zwei wichtigsten Gründe, warum eine Manipulation am Atlaswirbel vorgenommen wird, sind zunächst einmal die schmerzhaften Folgen eines erlittenen HWS-Schleudertraumas, bei dem sich der Atlas aus seiner normalen Stellung verschoben hat und meist in einer teilfixierten Fehlstellung stehen bleibt. Man bezeichnet dies als „posttraumatische Atlasdislokation“, also als eine unfallbedingte Atlasfehlstellung. Fast in allen dieser Fälle ergibt sich daraus eine schwere Kopfgelenkstörung, die bei Bewegung im Kopfgelenk C0/C1 und C1/C2 zu einer mechanisch ausgelösten Irritation des Rückenmarks führt. Diesen Kontakt der inneren Atlasspange mit dem Rückenmark bei Bewegung bezeichnet man als „funktionelle kraniozervikale Myelopathie“. Dadurch kommt es sehr schnell zu einer entzündlichen Reaktion des Rückenmarks und des Stammhirns, wodurch Interferon-1-Beta in die Blutbahn ausgeschüttet wird. Gleichzeitig kommt es fast immer zur Bildung von Stickoxid (Stickstoffmonoxid), welches dann in der Atemluft nachweisbar ist. Auch die Erhöhung der Blutwerte von Interferon-1-Beta ist im Labor nachweisbar. Beides schädigt in erheblichem Maße die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, die dann durchlässiger wird, so dass auch Giftstoffe bis ins Gehirn gelangen können, die bei Gesunden von einer intakten Hirnschranke zurückgehalten werden. Eine weitere direkte Folge einer entzündlichen Reaktion des Rückenmarks und des Stammhirns ist eine Abnahme des Neurotransmitters Serotonin. Ausgelöst wird der Serotoninmangel durch eine beständige Produktion von Kynurenin, das die endogene Inflammation hemmen soll. Diese Bildung von Kynurenin erfordert viel L-Tryptophan, das dabei verbraucht wird, so dass dann zu wenig L-Tryptophan für die Serotoninproduktion zur Verfügung steht.
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Im Februar 2003 erfolgte erstmals durch Kuklinski eine vielbeachtete wissenschaftliche Veröffentlichung über das Hirnschrankenprotein S 100 als Marker bei Kopfgelenkstörungen nach erlittenem HWS-Schleudertrauma mit Kopfgelenkinstabilität. S 100 ist ein kalziumbindendes Protein, das im Gehirn gebildet wird und im Liquor in höheren Konzentrationen vorkommt. Wegen der Molekülgröße von S 100 kann normalerweise dieses Protein eine intakte Hirnschranke nicht passieren. Falls jedoch im peripheren Blut S 100 nachweisbar ist, so ist dies ein absoluter Beweis für eine durchlässige Blut-Hirn-Schranke. Bei allen Schädigungen im Kopfgelenkbereich C1/C2 ist deshalb immer S 100 im peripheren Blut nachweisbar, was dann gleichzeitig auch ein Beweis für eine sogenannte offene Hirnschranke ist. Kuklinski hat mit objektiven Laborwerten nachgewiesen, dass bei Patienten mit Kopfgelenkstörungen schon durch eine leichte Provokation, wie normales Gehen oder besonders durch Rotationsbewegungen im Kopfgelenk sofort eine Erhöhung des S 100-Wertes ausgelöst werden kann. Beispiele sind Erhöhungen von 0,08 Mikrogramm/l auf 0,35 oder von 0,06 auf 0,14 Mikrogramm/l nach erfolgter Provokation. Normal wäre ein Wert von 0,05 bis maximal 0,07 Mikrogramm/l. Die Provokation besteht darin, dass bei vielen Schleudertrauma-Geschädigten im Kopfgelenk zwischen Hinterkopf und Atlas bzw. zwischen Atlas und dem 2. Halswirbel schon bei relativ geringen Bewegungen ein Kontakt zwischen dem inneren Atlasbogen und dem Rückenmark ausgelöst wird. Dies ist durch die besondere Form des Atlaswirbels möglich. Der Atlas ist ein Zwischenelement zwischen Hinterkopf und dem 2. Halswirbel und ist völlig andersartig geformt als die anderen Halswirbel. Durch die frei bewegliche scheibenartige Form besteht keine Verzahnung mit dem 2. Halswirbel oder dem Hinterkopf. Aus diesem Grund kann sich der Atlas bei allen Kopfbewegungen jeweils ein wenig zur Seite, vorwärts oder rückwärts bewegen. Im Normalfall, d. h. wenn keine Instabilität der oberen HWS vorliegt, ist durch diese freie Atlasbewegung keinerlei Kontakt mit dem Rückenmark möglich. Kommt es zu einem Kontakt der inneren Atlasspange mit dem Rückenmark, so kommt es immer – neben vegetativen Störungen – auch zu einer Vielzahl von anderen Beschwerden, wie z. B.:
Atlastherapie nach Arlen
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] Störungen der Raumorientierung (eingeschränktes dreidimensionales Sehen) ] Kalkulationsprobleme beim Autofahren bei Nacht durch falsche Abschätzung von Geschwindigkeit und Entfernung ] Verschwommenes Sehen; schwarze Flecken im Blickfeld; generelle Einschränkungen des Gesichtsfeldes; Lesestörungen ] Schwindel, Schwanken, Unsicherheit, Radfahruntauglichkeit ] Ausgeprägte Störungen des Kurzzeitgedächtnises; Wortfindungsstörungen ] Übelkeit bei Überkopfarbeiten ] Fallneigung nach schnellem Kopfdrehen ] Dauerschmerzen Instabilitäten im Kopfgelenkbereich können auch dazu führen, dass der Blutfluss in der Arteria vertebralis eingeschränkt wird. Die direkte Folge davon ist, dass alle Gehirnbereiche, die vom Blut dieser abgebogenen Arteria vertebralis mit Sauerstoff versorgt werden müssen, einen entsprechenden Sauerstoffmangel haben, was immer zu Ausfällen der Hirnleistungstätigkeit führt. Der Nachweis dieser Minderdurchblutung ist mit einer SPECT-Hirnperfusionsszintigraphie möglich. Diese Dysfunktion, die sich aus einer Atlasfehlstellung ergeben hat, ist jedoch gut behandelbar, nämlich mit der klassischen Atlastherapie nach Arlen. Nur diese Behandlung ist als einzige Methode kausal wirksam und kann eine Kopfgelenkfehlfunktion wieder normalisieren und damit eine offene Hirnschranke wieder schließen. Was bedeutet eine offene Hirnschranke? Etwas vereinfacht gesagt könnte man dies so zusammenfassen: Alle Blutgefäße im Gehirn sind zusätzlich von einer besonderen Zellschicht umhüllt, den sogenannten Perizyten, die eine sehr wichtige Funktion zu erfüllen haben. Sie sorgen nämlich dafür, dass nur diejenigen Stoffe aus dem Blut direkt in das Gehirn übergehen können, die für das Gehirn benötigt werden, also z. B. Nahrungsstoffe wie Zucker und Sauerstoff, der mit den roten Blutkörperchen transportiert wird etc. Sind die Perizyten funktionsfähig, so können keine gefährlichen Stoffe in das Gehirn übertreten, auch wenn sich solche im Blut befinden würden. Die Perizyten verhindern also den Durchtritt gefährlicher Stoffe, wie z. B. Giftstoffe, Botenstoffe und Krankheitserreger. Durch eine Schädigung der Perizyten wird die Hirnschranke durchgängig. Bestimmte Neurotoxine
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Atlastherapie nach Arlen
schädigen diese Perizyten genauso wie z. B. ein chronischer Sauerstoffmangel bei Atlasfehlstellungen. Besonders wichtig ist auch die Feststellung, dass durch das Zusammenwirken von mehreren schädigenden Faktoren, die bei einem Patienten mit bereits offener Hirnschranke (z. B. nach Unfall mit HWS-Distorsion) zusätzlich auf diesen einwirken, eine dramatische Entwicklung ausgelöst wird, die dann zu ganz massiven Erkrankungen führen kann. Das erste Glied dieser Entwicklung zur Multimorbidität ist aber in fast allen Fällen eine Kopfgelenkfehlstellung wegen Atlasdislokation mit der daraus resultierenden Minderdurchblutung bestimmter Gehirnbereiche. Das zweite Glied ist die Folge eines Blut- und damit Sauerstoffmangels. Sauerstoffmangel führt immer auch zu einem Energiemangel, d. h. die Zellorgane der Gehirnzellen, die für die Energiebildung zuständig sind, nämlich die Mitochondrien, arbeiten dann nicht mehr richtig, was als „Mitochondriopathie“ bezeichnet wird. Das dritte Glied ist wiederum die Folge des Energiemangels, nämlich eine zunehmende Abwehrschwäche des Organismus und dies kann angesichts der offenen Hirnschranke sehr bald in dem Vollbild einer MCS, CFS oder Elektrosensitivität etc. resultieren. Eine wegen einer offenen Hirnschranke bereits bestehende reduzierte Körperabwehr wird durch viele weitere mögliche Schädigungsfaktoren weiter dramatisch reduziert. Eine genaue klinische, röntgenologische und kernspintomographische Untersuchung des Gehirns und der Gehirndurchblutung einschließlich SPECT-Hirnperfusionsszintigraphie ist hier unerlässlich. Die Untersuchung sollte ebenso eine Zonographie des kraniozervikalen Über-
gangs umfassen. Zusätzlich ist in vielen Fällen ein Funktions-MRT des gesamten Kopfgelenkband-Apparates einschließlich des Dens-KapselBursa-Apparates nötig. Mit der klassischen Atlastherapie nach Arlen ist es nachweisbar möglich, die Hirnschranke wieder zu schließen. Dadurch kann die Minderdurchblutung des Gehirns behoben werden, indem die richtige Position des Atlas soweit als möglich wieder hergestellt wird und somit eine Abbiegung der Arterie vertebralis rückgängig gemacht wird. Abschließend soll noch kurz erklärt werden, wie der Arzt die Atlastherapie nach Arlen beim Patienten durchführt. Zunächst wird durch klinische Untersuchung und Tastbefund die genaue Stellung des Atlaswirbels bestimmt. Grundsätzlch wird dann immer auch eine konventionelle Röntgenaufnahme in AP und seitlich angefertigt, sowie eine Zonographie des kraniozervikalen Übergangs, wobei damit auch evtl. Kontraindikationen der Therapie erkannt werden. In manchen Fällen muss zusätzlich auch noch ein Funktions-MRT des Kopfgelenkverbandapparates durchgeführt werden. In einer zwei- bis dreiwöchigen täglichen Behandlung wird ein manueller Impuls gesetzt. Dieser sogenannte „Input“ auf das Nackenrezeptorenfeld wird direkt auf den jeweiligen Querfortsatz des Atlaswirbels abgegeben. Die genaue Impulsrichtung ergibt sich aus der o. g. Stellungsdiagnostik und wird immer in der Richtung durchgeführt, die den verschobenen Atlaswirbel wieder in seine ursprüngliche Position zurückbringt. Bei der Impulsabgabe steht der Arzt hinter dem sitzenden Patienten und nimmt mit dem entsprechenden Querfortsatz des Atlaswirbels festen Kontakt auf.
32 Alternative Behandlungsansätze nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule H. Baltin
Glücklicherweise bedeuten diese Befunde nicht, dass nichts dagegen getan werden kann. Im Gegenteil, durch differenzierte Diagnosemöglichkeiten haben wir auch verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Bevor auf die wichtigsten alternativen Behandlungsansätze eingegangen werden soll, halte man sich noch einmal die Situation vor Augen: Es besteht ein HWS-Trauma, Funktionsaufnahmen im Röntgen und/oder Kernspin bestätigen dies - oder auch nicht. Es kommen viele der Beschwerden nicht nur primär von der Halswirbelsäule, sondern ggf. von einem geschlossenen Schädel-Hirn-Trauma oder/und von einer Malträtierung der Kiefergelenke, welche ein großes Niemandsland in der medizinischen und zahnmedizinischen Landschaft darstellen. Es besteht ein pathologisches qEEG (= quantitatives Elektroenzephalogramm), welches mit moderner Digitaltechnik subtil analysiert werden kann und Erklärungen für die geklagten Beschwerden, vor allem für die Langwierigkeit und die zunehmende Dissoziierung des Betroffenen – sowohl im beruflichen wie auch im privaten Bereich – abgibt. Das heißt wiederum: Ein Schleudertrauma ist bei persistierenden Beschwerden immer auch ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, solange dies nicht mit modernster „state of the art“ Diagnostik ausgeschlossen wurde. „State of the art“ bedeutet hier mit Nachdruck die Inanspruchnahme gerade auch der neuesten technologischen Diagnosemöglichkeiten und die Abgleichung mit anamnestischen und manuellen Befundungen, auch und gerade bevor diese der Segen der wissenschaftlichen Evaluation erreicht hat. Dieser Segen gereicht doch den Institutionen vortrefflich als Vorwand, alles zu negieren, was nicht gesegnet wurde. Anders sind die diametral entgegengesetzten Befundinterpretationen verschiedener Gutachter nicht zu verstehen.
Therapeutische Möglichkeiten Es bieten sich etliche therapeutische Möglichkeiten an. Im Fall einer Verletzung der Kopfgelenke und deren Kapselapparat kommt als Ultima ratio die Operation in Frage. Die Entscheidung hängt ab von der konservativen Therapieresistenz und der Schwere der Beeinträchtigung und nicht allein von den erhobenen Befunden. Ein schlanker, graziler Mensch spricht anders auf Behandlungen an als ein Mensch, den ein dickes Muskelpaket ummantelt. Ein bewegungsabhängiges Touchieren des Rückenmarks durch den Dens des zweiten Halswirbels, wie dies in den Bewegungsaufnahmen von Dr. Volle eindrucksvoll belegt wird, irritiert natürlich auch ständig die Informationszentrale „Gehirn“ und kann den Menschen nicht gesunden lassen. Wird mit Hilfe der kurz dargestellten qEEGDiagnostik eine funktionelle Schädigung (d. h. nicht mit MRI darstellbar, allerdings auch mit PET oder SPECT) des Gehirns festgestellt, kommen folgende Maßnahmen in Betracht, die hier kurz aufgezählt werden. Hierbei gilt der Grundsatz, dass möglichst bald nach dem Unfall eine Behandlung begonnen werden sollte. Die Rehabilitation ist dann viel schneller und leichter zu erzielen, als wenn man erst nach Jahren beginnt und zusätzlich die erlittenen Demütigungen, die Hoffnungslosigkeit, den Dauerschmerz etc. bereinigen muss. Durch meine langjährige Weiterbildung bei Prof. Sterman und Prof. Gelb und durch verschiedene Studienaufenthalte in amerikanischen Schmerzkliniken hat sich für mich ein Therapieschema entwickelt, welches im Folgenden dargestellt und erläutert werden soll. ] Akupunktur und/oder Neuraltherapie, ] Atlastherapie nach Arlen, zusätzlich Kraniosakraltherapie bzw. Osteopathie, ] Kiefergelenkbehandlung (am besten von einem Arzt – der sich damit auskennt – und mit einem Zahnarzt zusammen – der sich
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auch auskennen sollte, es reicht nicht das Attribut biologischer Arzt oder Zahnarzt), Ozon-Sauerstoff-Behandlung, Homöopathie, Phytotherapie, Entschlackungstechniken, Entspannungstechniken (Autogenes Training, Meditation, Tai Chi, computergesteuertes Atemtraining – kann man am eigenen Computer installieren), und als großen Hoffnungsträger Neurofeedback.
Akupunktur und/oder Neuraltherapie Im beginnenden 3. Jahrtausend blickt die Akupunktur auf eine lange Geschichte zurück und erfährt durch die Kommunikationsmöglichkeiten eine rasante Verbreitung weltweit. Vor allem werden auch sog. „familiengeheime“ Techniken weitervermittelt und Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Therapien. Die Akupunktur hat über die Haut, welche die Chinesen als den „verlängerten Teppich des Gehirns“ bezeichnet haben, einen direkten Einfluss auf das Gehirn. Es ist möglich, dies mit qEEG oder auch mit Kernspinuntersuchungen zu messen. Ein wesentlicher Effekt ist die Ausschüttung von Endorphinen, also Substanzen, welche zu einer Schmerzlinderung und zu einem vegetativen Ausgleich führen. Auch ist die Akupunktur in der Lage, bestimmte „Programme“ in der Informationsverarbeitung zu löschen, was besonders bei chronischem Schmerz wichtig ist. Es gibt verschiedene Techniken, die alle dem gleichen Ziel dienen, nämlich: Muskelentspannung und dadurch Schmerzreduktion. Die sog. Periostakupunktur – eine etwas schmerhafte Tortur – ist sehr schnell wirksam und hat anhaltenden Effekt. Die Schädelakupunktur nach Yamamoto ist letztlich auch eine Periostakupunktur, welche in verschiedenen japanischen Kliniken besonders auch zur Rehabilitation nach Schlaganfällen mit großem Erfolg angewandt wird und hiesige Reha-Maßnahmen weit in den Schatten stellt. Je nach Erfahrung des Therapeuten kommen Ohrakupunktur und konstitutionelle Akupunktur zur Anwendung, wobei ich bei diesem Krankheitsbild allerdings den zuerst Erwähnten den Vorzug gebe. Dann gibt es noch eine völlig andere Akupunkturtechnik, mit der schwerste Schädigungen des Rückenmarks behandelbarer werden, die von
einem mittelamerikanischen Arzt entwickelt wurde. Hierbei wird die Schicht, welche das Rückenmark ummantelt, über eine Akupunkturnadel mit elektrischem Strom gereizt. Diese Technik wende ich gerade auch bei HWS-Traumen mit gutem Erfolg an. Die Neuraltherapie als die „große oder kleine Schwester“ ähnelt vom Angriffspunkt sehr der Akupunktur. Hierbei wird ein Lokalanästhetikum an bestimmte Nervenknoten, Nervenaustrittspunkte, Gelenkkapseln, Unterhautverschlackungen (Gelosen) gespritzt und bewirkt, dass die Zellelektrizität sich wieder normalisiert. Da sämtliche Körpervorgänge eng verknüpft sind mit einem normal funktionierenden elektrophysiologischen Zusammenspiel, gewinnt auch die erwähnte elektrische Reizung einen Sinn. Das Nervensystem kann ohne Elektrizität gar nicht funktionieren, die gesamte Informationskybernetik ist elektrisches Zusammenspiel.
Atlastherapie nach Arlen, Kraniosakraltherapie, Osteopathie, Chirotherapie Diese so verschieden klingenden Bezeichnungen greifen an denselben Strukturen an, sie gehören deshalb auch zusammen erwähnt. Die Physiotherapie hat eine Tradition in sämtlichen Medizinkulturen. Hieraus entwickelten sich dann verschiedene Spezialtechniken wie die Chirotherapie und die Osteopathie, eine sanfte Technik, die an den Muskelfaszien arbeitet und eine muskuläre und statische Harmonisierung erreicht und damit Gesundung auf vielen Ebenen. Eine Sonderform hiervon ist die Kraniosakraltherapie, die sich mit ähnlicher Technik auf den Schädel, die Kaumuskulatur, die Halswirbelsäule und das Becken konzentriert und für meine Arbeit unverzichtbar bei chronischen Beschwerden nach HWS-Trauma ist. Die Atlastherapie nach Arlen ist eine spezielle Technik am ersten Halswirbel. Durch diese Technik in Höhe der Kopfgelenke kommt es zu einer Reizung eines Teils des Trigeminusnerven (der größte Gehirnnerv, der für die Innervation des Kauapparates und in diesem speziellen Bereich auch für die Informationsweiterleitung sämtlicher Bewegungsinformation aus der Peripherie zum Gehirn zuständig ist). Es ist auch eine wichtige Instanz in der Schmerzverarbei-
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Alternative Behandlungsansätze nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
tung. Ein gezielter Impuls führt innerhalb von Sekunden zu einer Herabsetzung der allgemeinen Muskelspannung, einer Verbesserung der Gehirndurchblutung. Diese Therapie diente in Frankreich dem Begründer dieser Therapie über Jahrzehnte zur Behandlung von MS Patienten, zur Skoliosebehandlung und war auch Anlass, bei bestimmten Epilepsieformen Studien in deutschen Kliniken durchzuführen. Sie ist sehr erfolgreich bei den sog. KISS Kindern, die als „schiefe Säuglinge“ auf die Welt kommen.
Kiefergelenkbehandlung Häufig kommt es durch eine HWS-Distorsion zu einer sog. Verrenkung oder Subluxation oder Kompression der Kiefergelenke. In der Regel wird dies nicht diagnostiziert und auch nicht behandelt. Durch den engen Zusammenhang zwischen Kauapparat und Halswirbelmuskulatur ist eine optimale Funktion dieses Organs bei der Rehabilitation sehr wichtig. Einige Kieferkliniken beschäftigen sich seit einigen Jahren interdisziplinär mit diesem Symptomenkomplex. Interdisziplinär heißt in Zusammenarbeit mit Osteopathen/ Kraniosakraltherapeuten, Ärzten und Zahnärzten. Harold Gelb, der „Erfinder“ der „Gelbschiene“ hat sich im Laufe von nunmehr 4 Jahrzehnten diesem Problem gewidmet und im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeit unter anderem an der Taft Universität in Boston viel zur Aufklärung der Zusammenhänge beigetragen mit einem großen Arsenal an Falldokumentationen. Er behandelte mit seiner Methode viele Skoliotiker und HWS-Trauma-Patienten mit vorzeigbaren Ergebnissen. Bei entsprechenden Befunden ist diese Behandlung ein unverzichtbarer Bestandteil bei diesem Krankheitsbild.
Ozon-Sauerstoffbehandlung Diese Behandlungsform wird seit gut 100 Jahren medizinisch erfolgreich angewandt, wird aber in der Wissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert. Bekannt sind die keimtötenden Effekte bei viralen oder bakteriellen Infektionen sowie die durchblutungsverbessernden Eigen-
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schaften. Seit wenigen Jahren ist nun auch bewiesen, dass bestimmte weiße Blutkörperchen selbst Ozon generieren, womit sich deren bakterizide Wirkung erklärt. Ozon oder auch intravenöse Sauerstoffgaben haben einen synergistischen Effekt bei dem hier geschilderten Behandlungskonzept und sind deshalb unverzichtbar. Durch die verbesserte Sauerstoffverwertung kommt es zu einer Entsäuerung des Gewebes und dadurch zu einer Schmerzreduktion.
Phytotherapie, Homöopathie, „Entschlackungstechniken“ Die gerade erwähnte Entschlackung kann man sehr gut unterstützen durch eine gezielte Entsäuerung. Hierfür bieten sich verschiedene Diätkuren an, bestimmte Medikamente aus dem pflanzlichen Bereich und auch gezielte „Leberentgiftungen“ wie sie in der biologischen Medizin angewendet werden. Hierdurch verbessert sich vor allem die Aufnahme und die Verwertung von Sauerstoff.
Meditation, Entspannungstechniken, autogenes Training, Atemtechniken (computergestützt) Meditationstechniken sind immer gut, nicht nur im Fall einer Erkrankung oder eines Schicksalschlages. Allerdings lassen sie sich oft schwer in den Alltag integrieren. Das autogene Training hat Tradition, ist anerkannt, wird allerdings aus meiner Erfahrung oft ohne ständige „Animation“ nach einiger Zeit vergessen oder nicht mehr ausgeübt. Gut ist es deshalb, sich entsprechenden Zirkeln anzuschließen, um bei der Stange zu bleiben. Eine „moderne“ Form der optimierten Atemtechnik ist das „heart math“. Hierbei wird eine Software auf den PC installiert, den man mit einem Pulsmesser verbindet. Der Puls ist ein sehr sensitiver Maßstab für die vegetative Regulation. Man lernt hiermit am Computer, durch die Optimierung des Atmens in eine vegetativ harmonische Ausgangslage zu kommen, Voraussetzung für einen Gesundungsprozess.
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H. Baltin: 32
Alternative Behandlungsansätze nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule
Neurofeedback Das Neurofeedback ist eine Behandlungsform, bei der nach entsprechender Analyse mittels dem beschriebenen qEEG eine computergesteuerte audiovisuelle Animation am PC durchgeführt wird. Hierbei steuern die Gehirnströme selbst die Animation. Es erfolgt in Form einer Belohnung ein positives Feedback, wenn bestimmte Gehirnfrequenzen an einem bestimmten Ableitungspunkt in einen Sollbereich kommen. Wird diese Voraussetzung nicht erfüllt, so kommt es nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Dieses Training ist zwar mittels modernster Technologie erst heute möglich und erfolgreich, basiert jedoch auf entwicklungsgeschichtlich
uralten Mechanismen des Verhaltens, mit dem wir überhaupt erst lebensfähig geworden sind. Es wird seit vielen Jahren mit zunehmender technischer Verfeinerung und zunehmendem Erfolg praktiziert, ist gut überprüfbar und deshalb eine segensreiche Bereicherung bei der Behandlung eines Krankheitsbildes, das zur Zeit noch nicht seinen angemessenen Platz im Bewusstsein der Mediziner, Juristen, Technokraten und Versicherer gefunden hat. Der Entdecker dieser Therapiemöglichkeiten ist Barry Sterman, der in den 60er Jahren im Rahmen verschiedener Forschungsaufträge mit dieser Technik erfolgreich Epilepsie behandelte. Bei einer Epilepsie ist diese Behandlungsform dank der weit fortgeschrittenen Technologie heute ein sehr effektives Instrument.
„Sonderprobleme“ bei Schleudertrauma
„Sonderprobleme“ bei Schleudertrauma 33
Schleudertrauma und Kiefergelenk
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Aktivität, Reaktivität und negative Feedback-Sensitivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom
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Hormonstörungen durch Schleudertrauma
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HWS-Distorsion und Multiple Sklerose
33 Schleudertrauma und Kiefergelenk M. Hülse, B. Losert-Bruggner
Funktionelle Störungen im Kiefergelenk, der Halswirbelsäule und im kraniozervikalen und im kraniomandibulären Bereich sind beim Erwachsenen nahezu ubiquitär zu beobachten. Werden Erwachsene gezielt untersucht, finden sich in der täglichen Praxis nur wenige, bei denen eine Störung im kraniomandibulären System oder in der kraniozervikalen Region nicht vorliegt, auch wenn eine subjektive Schmerzsymptomatik oder andere funktionelle Störungen noch nicht beklagt werden. Es ist nicht bekannt, welche Faktoren bei diesen funktionellen Störungen plötzlich akute subjektive Beschwerden verursachen. Es erscheint aber gesichert, dass, wenn zu diesen „stummen“ kraniomandibulären-kraniozervikalen Dysfunktionen ein traumatisches Ereignis, wie z. B. ein Schleudertrauma, hinzukommt, die funktionellen Störungen im Kopfgelenk- und im Kiefergelenkbereich „aktiv“ werden und dann zu deutlichen und stark belastenden multiplen Beschwerdebildern führen. Auf der anderen Seite ist sehr häufig zu beobachten, dass viele Patienten, die über Schmerzen im Kiefer und den Kiefergelenken, Gesichtsschmerzen, Kopfschmerzen u. a. als Folge einer aktiv gewordenen kraniomandibulären Dysfunktion klagen, ein früheres, teilweise Jahre zurückliegendes Unfalltrauma berichten und angeben, dass sie bis zu dem Unfallereignis meist beschwerdefrei waren. Diese Feststellung kann auch von Patienten erhoben werden, bei denen die gesamte juristische Aufarbeitung des Unfalles abgeschlossen ist oder auf Grund eines Eigenverschuldens von vornherein kein Versicherungsbegehren angenommen werden muss. Unter dem Begriff des Schleudertraumas der Halswirbelsäule wird ein Syndrom verstanden, das häufig nach PKW-Unfällen – unmittelbar oder nach Stunden (in der Schweiz bis nach 72 Stunden, was von obersten Gerichten anerkannt wurde) – auftritt. Sind bei dem Unfall erhebliche strukturelle Läsionen (knöcherne Betei-
ligungen oder diskoligamentäre Instabilität) aufgetreten, spricht man nach dem „Koblenzer Konsensus 2002“ [22] vom „Stadium 2“ des Schleudertraumas. Diese Verletzungen, die mit bildgebenden Verfahren sofort nach dem Unfall objektiviert werden können, stellen kein diagnostisches Problem dar und werden unfallchirurgisch primär versorgt. Die Mehrzahl der Schleudertraumen der Halswirbelsäule weisen jedoch keine radiologisch erkennbaren strukturellen Verletzungen auf und dennoch finden sich sehr häufig Schmerzen mit Nackensteife, Schulter-Nackenverspannung, Nacken-Kopfschmerzen und teilweise deutlichen vegetativen und neurasthenischen Symptomen. Bei 80–85% der Betroffenen heilen diese Unfallfolgen in einer Zeitspanne von 6–8 Wochen folgenlos aus. Bei den restlichen 15–20% der Verkehrsopfer ist nach diesem Zeitraum keine Beschwerdefreiheit erreicht. Diese Patientengruppe stellt für uns alle eine ernsthafte ärztliche Herausforderung dar [53]. Diese Patienten berichten nach wenigen Jahren über eine wahre Odyssee bei einer Unzahl von Ärzten, auch bei verschiedenen Orthopäden und Manualtherapeuten, ohne dass ihnen geholfen werden konnte. Die Chronifizierung der Beschwerden ist in einigen Fällen sicherlich auch mit einer inadäquaten primären Untersuchung und Behandlung zu erklären, sehr häufig scheint aber ein Grund darin zu liegen, dass die behandelnden Ärzte nicht an eine kraniomandibuläre Dysfunktion gedacht haben. Fragt der Arzt jedoch nach, ob der Betroffene trotz einer ausgeprägten Gesichtsskoliose, Bruxismus usw. in zahnärztlicher Behandlung war, wird häufig nur berichtet, dass der Zahnarzt nach Karies und Parodontose geschaut, nicht aber an die CMD gedacht hat. Werden diese Patienten unter manualtherapeutischen Gesichtspunkten und von neuromuskulär orientierten Zahnärzten untersucht, sind regelmäßig sehr
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M. Hülse, B. Losert-Bruggner
ausgeprägte Befunde einer kraniozervikalen (CCD) und einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) feststellbar. Eine konsequente Behandlung durch den Manualtherapeuten und durch den neuromuskulär orientierten Zahnarzt kann noch selbst viele Jahre nach dem Unfall eine deutliche Beschwerdelinderung erreichen. Die Diagnose einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) und einer kraniozervikalen Dysfunktion (CCD) wird mit zunehmendem Kenntnisstand immer häufiger diagnostiziert. Werden die engen reflektorischen Verbindungen zwischen Kiefergelenk und Kopfgelenk berücksichtigt, muss bei jeder funktionellen Kopfgelenkstörung mit einer subjektiven Beschwerdesymptomatik nach einer Kiefergelenkstörung und auch umgekehrt bei jeder Kiefergelenkstörung nach einer Kopfgelenkstörung gefahndet werden. Bewegungen im Kiefergelenk sind nur in einem engen Zusammenspiel von Nacken-, Kau- und Zungenbeinmuskulatur möglich. Sollen Bewegungen im Kiefergelenk (Mundöffnen und -schließen) bei ruhiger Kopfhaltung erfolgen, muss eine Stabilisierung in den Kopfgelenken durch kompensatorische Anspannungen der Nackenmuskulatur erfolgen. Andererseits erfordert eine Reklination des Kopfes die gleichzeitige Aktivierung der Kaumuskeln, soll der Mund dabei geschlossen bleiben. Ein so fein abgestimmtes Muskelspiel von Kau- und Halsmuskulatur ist nur durch eine hohe Rezeptorendichte im Bereich der Kiefergelenkkapseln und der tiefen Muskulatur des kraniozervikalen Bereichs und deren enge nervale Verknüpfung möglich [32, 33]. Neurale Verbindungen von Kiefergelenk zur dorsalen Wurzel von C2 bis C5 wurden von verschiedenen Arbeitsgruppen histochemisch nachgewiesen [1, 7, 52]. Ebenso wie im Kopfgelenkbereich findet sich im Kiefergelenkbereich, besonders im hinteren Kapselbereich, eine hohe Rezeptorendichte. Störpotentiale sind also vor allem bei einer Irritation der hinteren Anteile der Kiefergelenkkapsel zu beobachten [6, 47, 48]. Die Kopfgelenke und die Kiefergelenke stellen zwei sehr empfindliche und komplexe kybernetische Systeme dar, die reflektorisch und auch neural direkt miteinander verbunden sind und sich gegenseitig stark beeinflussen [34]. Der Afferenzeinstrom aus dem Bereich der Kopfgelenke läuft über den dorsalen Spinalnerven von C2. Dieser Ramus dorsalis von C2 erhält afferente Informationen aus den benachbarten Wirbelsegmenten, das heißt auch aus C1
und C3. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus auch ein Afferenzeinstrom aus dem Propriozeptorensystem des Mundboden-, Zungenund Kiefergelenkbereichs. Dies erklärt, dass eine Störung der Afferenzen zum Rückenmark, Stammhirn und Mittelhirn ausgelöst wird von einer Gelenkstörung Okziput/C1 bis C2/C3, aber auch von einer Rezeptorenstörung im Mundboden und Zungenbereich und auch im Kiefergelenkbereich. Die reflektorische Verknüpfung von Kiefergelenk und Kopfgelenk erklärt, warum eine Störung in einem System nahezu zwangsläufig zu einer Störung im anderen System führen muss. Die Literatur der letzten Jahre (besonders Schupp [47, 48], Schöttl [43–46] und LosertBruggner [23–29] von zahnärztlicher Seite sowie Neuhuber [32–34] von neuroanatomischer, Marx [31] von orthopädischer und Hülse [17] von HNO-ärztlicher Seite) unterstreichen, dass die Kiefergelenkstörungen und die Kopfgelenkstörungen nicht mehr isoliert betrachtet werden dürfen. Das bedeutet, dass auch eine funktionelle Störung der HWS nach einem Schleudertrauma nicht mehr isoliert betrachtet werden darf, sondern immer auch eine Untersuchung und gegebenenfalls Therapie der CMD erfolgen muss. Diese Zusammenhänge, die im Detail unbestritten sind, haben eine enorme klinische Bedeutung: eine Störung im Bereich der Wirbelgelenke z. B. C2/3 oder eine Verspannung der tiefen Kopfgelenkmuskulatur führt reflektorisch zu einer Kiefergelenkstörung und umgekehrt. Damit ist die Möglichkeit eines Auftretens einer CMD nach einem HWS-Trauma nicht mehr ernsthaft zu bezweifeln. Schwierig ist jedoch zu entscheiden, ob primär eine CMD durch das HWS-Trauma verursacht wurde, was durch einige Patienten belegt werden kann, oder ob bei dem HWS-Trauma eine CMD reflektorisch durch die Kopfgelenkstörung ausgelöst wurde. In der Vielzahl der Fälle muss bei einer noncontact Verletzung der HWS eine CMD am ehesten sekundär als über die CCD ausgelöst gewertet werden. Dass nach einer reinen Halswirbelsäulendistorsion, bei der es nicht zu einem Aufprall des Schädels – „non-contact“ – kommt, kraniomandibuläre Dysfunktionen beobachtet werden können, wurde bereits mehrfach beschrieben [2, 4, 5, 20, 30, 35, 51]. Der Pathomechanismus der Entstehung einer CMD nach einer HWS-Distorsion kann in einigen Fällen als Folge einer Schädigung durch Schleuderung des Unterkiefers während der HWS-Distorsion, be-
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sonders beim Auffahrunfall gesehen werden. Auch O’Shaughnessy [35] und Howard et al. [8] nehmen eine primäre Schädigung des Kiefergelenkes während des Unfalles an. Eigene Beobachtungen bestätigen, dass eine primäre CMD nach einem non-contact-HWS-Schleudertrauma möglich ist. Besonders bei direkten Traumen mit einem Impuls gegen Kinn, Kiefer und Kiefergelenk muss an eine primäre, traumatisch ausgelöste CMD gedacht werden. Es sollte in diesen Fällen jedoch nie vergessen werden, dass bei diesem Unfallmechanismus der Schlag über eine Schleuderung des Kopfes direkt zu einer funktionellen Kopfgelenkstörung führt und zusätzlich die primäre CMD reflektorisch zu einer CCD führt. Eine Halswirbelsäulendistorsion gehört zu den häufigsten Ereignissen, die zur vollen Entwicklung eines subjektiven Beschwerdebildes einer CMD oder CCD führen kann. Vor dem Ereignis bestand Beschwerdefreiheit, direkt nach dem Unfall entwickelt sich sehr rasch die volle subjektive Beschwerdesymptomatik. Die Folgen einer aktiv gewordenen kraniomandibulären Dysfunktion, die auf Grund neuromuskulärer Verknüpfungen auch immer mit einer Störung des oberen HWS-Bereiches einhergeht, sind Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen, aber auch anderen funktionellen Beschwerdebildern, wie Schwindel, cochleären Störungen, Tinnitus, vasomotorischer Rhinitis, pharyngealen Missempfindungen (Globus), Dysphonie, Konzentrationsstörungen und funktionelle Herzbeschwerden. Bei diesen Patienten bestehen sehr häufig Störungen im Bereich der Kiefergelenke wie auch im Bereich der Kopfgelenke (Okziput/C1 bis C2/C3). Werden die kraniozervikalen Dysfunktionen (CCD) und die kraniomandibulären Dysfunktionen (CMD) erfolgreich behandelt, verschwinden häufig bei diesen Patienten die gesamten Beschwerdebilder. Zusammenhänge zwischen den Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, cochleären Störungen einschließlich Tinnitus, pharyngealen Missempfindungen, Stimmstörungen und den Störungen im Kiefer- und kraniozervikalen Bereich wurden zunächst nur empirisch gesehen [12–17]. Bisher behandelten die Zahnärzte die Kiefergelenkstörungen und die Manualtherapeuten, Orthopäden und HNO-Ärzte den kraniozervikalen Bereich isoliert und sahen nicht die sehr engen Wechselbeziehungen zwischen diesen bei-
Schleudertrauma und Kiefergelenk
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den. Neuere Untersuchungen zeigen sehr enge Wechselbeziehungen zwischen beiden Gelenksystemen, so dass eine funktionelle Störung in dem einen System auch zu einer Störung in dem anderen System führen kann [12, 15]. Wird nun nur ein System, das kraniomandibuläre oder das kraniozervikale, behandelt, tritt sehr schnell ein Rezidiv der Störung ein, eine andauernde Beschwerdefreiheit wird nicht erreicht. Denn noch wird in der Diagnostik und Therapie der Schleudertraumapatienten die kraniomandibuläre Dysfunktion zu wenig berücksichtigt. Und umgekehrt wird im zahnärztlichen Bereich die HWS-Problematik häufig zu wenig oder gar nicht beachtet, insbesondere, wenn das Trauma weit zurück liegt und scheinbar keine Folgen daraus erwachsen waren. Vielen Schleudertraumapatienten könnte schneller und effektiver geholfen werden, wenn Manualtherapeut und Zahnarzt gemeinsam in die Behandlung eingreifen würden. Die Wechselwirkung kraniozervikaler und kraniomandibulärer Dysfunktionen ist in der Literatur umfangreich beschrieben [12, 14, 15, 17, 27, 29, 40]. Leider wird diese nosologische Einheit Kiefer-Kopf-Gelenk im täglichen Umgang mit Schleudertraumapatienten immer noch zu wenig beachtet. Besonders wenn Schmerzen im Bereich der Kiefergelenke oder des Kiefers nicht vorhanden sind, und eine kraniomandibuläre Dysfunktion nur stumm besteht, wird an diese reflektorische Beziehung nicht gedacht. Als Folge davon treten nach fundierten manualtherapeutischen Maßnahmen rezidivierende Beschwerdebilder auf, ohne dass deren Ursache in der Art der Behandlung zu suchen ist. Vergleichen wir die tabellarisch aufgelisteten subjektiven Krankheitssymptome ] nach HWS-Beschleunigungsverletzung [21] ] bei CMD [19] ] bei CCD [17] muss festgestellt werden, das die subjektiven Beschwerdebilder aller drei Krankheitsbilder einander sehr gut entsprechen (diskrete Unterschiede sind durch die Autoren: Neurologe/ Zahnarzt/HNO-Arzt zu erklären). Dies bedeutet, dass von der subjektiven Beschwerdeschilderung her eine differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen HWS Schleuderverletzung, CMD und CCD nicht möglich ist. Auch die Klinik weist auf einen gemeinsamen Pathomechanismus hin.
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Posttraumatische Beschwerden nach HWS-Beschleunigungsverletzung [21] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ]
Nackenkopfschmerz 100% Nackensteife 88,8% Kopfschmerz 87,5% Vegetative Beschwerden 71,2% Halsmuskelschmerz 70% Neurasthenische Beschwerden 60% Kopfschwere 48,8% Schwindel 38,7% Armbeschwerden 27,5% Kreuzbeschwerden 25% Hörstörungen 21,3% Handsymptome 20% Sehstörungen 20% Kloßgefühl im Hals 12,5% Schluckschmerz 7,5 % Kieferschmerz, Mundbodenschmerz 3,7%
Symptome bei CMD, die durch eine Aufbissschienenbehandlung deutlich positiv beeinflusst werden [19] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ]
Gesichtsschmerzen Nackenschmerzen Kopfschmerzen Schulterschmerzen Kiefergelenkschmerzen Schwindel Schwerhörigkeit Ohrdruck Tinnitus Otalgie Schlafstörung Schnarchen
Symptome bei CCD, die durch eine manuelle Therapie der Kopfgelenke deutlich positiv beeinflusst werden [17] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ] ]
Nackenschmerzen Hinterkopfschmerzen Gesichtsschmerzen Otalgie Hyoidtendopathie Schulter-, Armschmerzen Schwindel und Gleichgewichtsstörung Ohrdruck, Tinnitus Schwerhörigkeit Rhinitis vasomotorica Globus Dysphonie
Klinisch evident wird die gegenseitige Beeinflussung von Kopfgelenkstörungen und Kiefergelenkstörungen, wenn von einem Triggerpunkt des M. trapezius ein Hypertonus und ein Schmerz im M. pterygoidoideus lateralis ausgelöst werden kann. Eine Kontraktion des M. pterygoideus lateralis kann zu einer anterioren Verlagerung des Diskus im Kiefergelenk führen [47]. Referred Pain aus dem M. trapezius: Triggerpunkte im M. trapezius führen sekundär zu Triggerpunkten im M. pterygoid. lateralis ! Schmerz und Hypertonus ! Kiefergelenkscheibe wird nach anterior verlagert. Außerdem können Gesichts-, Kopf-, Kiefer- und Zahnschmerzen, Beschwerden in den Ohren und Kiefergelenken über die Verspannung des Schultermuskels ausgelöst werden. Gestützt wird die Annahme eines gemeinsamen Pathomechanismus der CMD und der CCD durch verschiedene Untersuchungsbefunde: ] EMG von Kau- und von Halsmuskulatur ] Stellung des Unterkiefers nach neuromuskulärer Entspannung. ] Deutlich kann der Einfluss der kraniozervikalen Dysfunktion auf das kraniomandibuläre System auch dargestellt werden, wenn die Spannung der Kaumuskulatur bei einer Kopfgelenkblockierung elektromyographisch registriert wird und dieselbe Untersuchung bei unverändert liegenden Elektroden nach Manualtherapie der Kopfgelenke durchgeführt wird (Abb. 33.1). ] Umgekehrt kann der Einfluss des kraniomandibulären Systems auf das kraniozervikale System über elektromyographische Aufzeichnungen bei der Untersuchung von 130 CMDPatienten gezeigt werden (Abb. 33.2). Wird alleine im Bereich der Kaumuskulatur eine Entspannung vorgenommen, in unserem Fall mittels niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur an der Incisura Semilularis, ist zu beobachten, dass auch und gerade die Halsmuskulatur entspannt werden kann. Typisch für CMD-Patienten ist eine Fehlstellung des Unterkiefers. Eigene Untersuchungen und Literaturstudien belegen, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle dieser in der gewohnheitsmäßigen Schlussbisslage (IKP) zu weit hinten liegt und damit besonders den hinteren Kiefergelenkbereich mit seiner hohen nervalen Innervation empfindlich gestört wird. Nach neuromuskulärer Entspannung der Kau-, Kopf- und
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Schleudertrauma und Kiefergelenk
]
450 400
383,9
Spannung (μV)
350 300 250
201,6
200
165,2
145,2
150 100 50 0
Ausgangswert
nach Therapie der Kopfgelenke
nach Therapie der Kopfgelenke und zusätzlich niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur
Normwerte
Muskelgruppe A
Abb. 33.1. Spannung der Kaumuskulatur bei 21 Patienten mit kraniomandibulären und kraniozervikalen Dysfunktionen. Linke Säule = Ausgangswert. Zweite Säule von links = nach Therapie der Kopfgelenke. Zweite Säule von rechts = nach Therapie der Kopfgelenke und zusätzlich niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur. Rechte Säule = Normwerte. Deutliche Beruhigung der eigentlichen Kaumuskulatur (Muskelgruppe A,
9000
8564,8
8000 Spannung (μV)
7000 6000 4784,8
5000 4000
3276,0
3000 2000 1000 0
Ausgangszustand
nach TENS
Normwerte
Abb. 33.2. Die linke Säule (Ausgangszustand) gibt die Spannung der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur vor, die mittlere Säule (nach TENS) nach niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur an. Die rechte Säule entspricht den Normwerten. Gemessen wurden M. Masseter, M. Temporalis anteriore, M. Digastricus anterior, hintere Halsmuskulatur, M. Sternocleidomastoideus und M. Trapezius. Alle Muskelgruppen, auch die, die speziell der Halsmuskulatur zugeordnet werden, konnten durch 45-minütige niedrigfrequente TENS-Therapie der Kaumuskulatur beruhigt werden.
Halsmuskulatur kann fast immer beobachtet werden, wie sich der Unterkiefer bei entspannter Muskulatur nach vorne bewegt. Bei der Untersuchung von 24 CMD-Patienten konnte gezeigt werden, dass die anteriore Verschiebung
Masseter und anteriore Temporalismuskeln) schon alleine nach Therapie der Kopfgelenke. Dies zeigt deutlich, dass Verspannung der Kaumuskulatur alleine durch die Therapie der Kopfgelenke beseitigt werden kann, ohne dass direkt an der Kaumuskulatur gearbeitet werden muss. Dies ist wiederum nur möglich, wenn die kraniomandibuläre Region in direkter Wechselwirkung zum kraniozervikalen Bereich steht.
des Unterkiefers alleine nach Entspannung der Kaumuskulatur fast gleiche Ergebnisse liefert, wie die alleinige Therapie des oberen HWS-Bereiches, den sog. Kopfgelenken (C0–C3). Dies wiederum bedeutet, dass sich diese Bereiche, das kraniomandibuläre und das kraniozervikale System, gegenseitig beeinflussen, sonst könnten keine vergleichbaren Kieferpositionen ermittelt werden. Die anteriore Verschiebung des Unterkiefers alleine nach TENS-Therapie beträgt 1,5 mm, nach Atlastherapie alleine 1,2 mm und nach Kombination von Atlas- und TENS-Therapie 1,4 mm. Schon eine Retrallage des Unterkiefers von nur einigen zehntel mm kann beträchtliche neuromuskuläre Störungen und Dysfunktionen im hinteren Kiefergelenkbereich hervorrufen. Die manuelle Therapie einer Kopfgelenkstörung allein mit osteopathischen Techniken, zum Beispiel „occipital base release“, bewirkt schon eine messbare Propulsion des Unterkiefers. Ausgeprägter ist die anteriore Verschiebung des Unterkiefers nach der Atlasimpulstherapie nach Arlen. Werden diese Untersuchungsergebnisse berücksichtigt, wird deutlich, dass besonders bei chronifizierten Fällen eine optimale Bissnahme für eine Aufbissschiene am ehesten in Zusammenarbeit mit einem Manualtherapeuten erfolgen sollte.
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M. Hülse, B. Losert-Bruggner
Fallbeispiel: Stumme CMD, Aktivierung der CMD nach erlebtem Schleudertrauma Frau S. B., 35-jährige Patientin, erlitt im Dezember 2001 einen typischen Auffahrunfall. Nach kurzer Latenz begannen Nackenkopfschmerzen und Schwindelbeschwerden. Der Schwindel klang nach einigen Tagen ab, während sich die Schmerzsymptomatik deutlich verstärkte. Hinzu kamen Schmerzen im rechten Schläfenbereich, sowie Schmerzen über Zahn-, Kiefer-, Gesichtsbereich rechts und erhebliche Rückenschmerzen. Frau B. klagte über einen schlechten Schlaf, deren Ursache möglicherweise im nächtlichen Schmerzgeschehen zu suchen war. Bei der letzten HNO-fachärztlichen Begutachtung standen neben den täglich auftretenden Schmerzen noch eine Lärmüberempfindlichkeit im Vordergrund. Fünf Jahre lang führten allgemeinärztliche, HNO-ärztliche, orthopädische, manualtherapeutische, physiotherapeutische, osteopathische, neurologische, zahnärztliche und schmerztherapeutische Abklärungen und Behandlungen zu keiner nennenswerten Besserung des Beschwerdebildes. Unfallchirurgische, neurologische und HNO-ärztliche Begutachtungen konnten keinen Weg weisenden Befund aufzeigen. Aufgrund der Beschwerden im Kiefer und der diffusen Zahnschmerzen wurden die Weisheitszähne entfernt, es fand eine Amalgamsanierung statt und der Zahn 46 wurde endodontisch und endochirurgisch versorgt, ohne dass die Kiefer- und Zahnschmerzen beseitigt werden konnten. Im HNO-Gutachten wurde abschließend eine Vorstellung in der HNO Klinik in Mannheim empfohlen. Hier wurde ein deutliches funktionelles Defizit zwischen Okziput und C1 rechts ausgeprägter als links sowie zwischen C2/3 und C4/5 rechts festgestellt. Es fanden sich deutliche Hinweise auf eine CMD. Zunächst wurde die Patientin nur manualtherapeutisch behandelt. Nach der 2. Therapie berichtete die Patientin, zum ersten mal seit Monaten ohne Schmerzmittel durchgeschlafen zu haben. Nach 14 Tagen war der gesamte pathologische Befund jedoch wieder nachweisbar. Die Patientin wurde nach erneuter Manualtherapie einer neuromuskulär orientierten Zahnärztin vorgestellt, die die Diagnose der CMD über die manuelle und instrumentelle Funktionsuntersuchung bestätigte. Es wurden ausgeprägte neuromuskuläre und artikuläre Störungen diagnostiziert, die sich u. a. in einer hypersensiblen und starken Palpationsempfindlichkeit der Kau-, Kopf- und Halsmus-
kulatur, in Knack- und Reibegeräuschen der Kiefergelenke, in Bradykinesie und Dyskinesie der Kieferbewegungen, in einer deutlichen Retrallage des Unterkiefers, in einem schlecht definierten Kaufeld und in Ermüdungserscheinungen in der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur zeigten. In den Abbildungen 33.3–33.5 wird die intraorale Situation von Frau B. dargestellt, die deutliche CMD-Zeichen zeigt, welche aber bis zu einem Unfall im Dezember 2001 nie in Erscheinung getreten waren und nie Beschwerden verursacht hatten, daher auch zähnärztlich nicht behandelt wurden. Zusätzlich zu den kraniomandibulären Dysfunktionen zeigten sich in der Haltungsanalyse von Frau B. deutliche Störungen der Körpersymmetrie, die reflektorisch fortgeleitet über die kraniozervikalen Dysfunktionen zu einer CMD führen müssen und die das vorher schon belas-
Abb. 33.3. Intraoraler Befund mit deutlichen Zeichen kraniomandibulärer Dysfunktionen (Engstände der Unterkieferfrontzähne, Schlifffacetten, Zahnfleischrückgang, Schmelzaussprengungen im Zahnhalsbereich). Die CMD verlief bis zum erlebten Schleudertrauma stumm.
Abb. 33.4. Ausgangssituation (gewohnheitsmäßige Schlussbisslage) bei Frau B., die schwarzen Striche stehen übereinander.
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Abb. 33.5. Situation nach Therapie der Kopfgelenke und niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur. Der Unterkiefer stellt sich zum Oberkiefer deutlich weiter vorne ein. Die Überprüfung des Bisses in dieser Position, in Verbindung mit einer zusätzlichen Hebung des Bisses um 0,8 mm zeigt störungsfreie Kiefer- und Kopfgelenke und eine entblockiert Hüfte. Diese Position wurde als Ausgangspunkt für die Aufbissschienentherapie gewählt.
tete, aber kompensierte Kiefersystem entgleisen lassen. Auch im Elektromyogramm spiegelt sich das Haltungsproblem besonders über die verspannte Schultermuskulatur wider. Es zeigt sich zudem eine deutliche Gesichtsasymmetrie mit Schwellung der rechten Wange (erstmals einige Zeit nach dem Unfall aufgetreten) auf Grund der Verspannung und Hyperaktivität des Massetermuskels (verstärkt und initiiert durch die Verspannung der Schultermuskulatur) und ein tiefstehendes Auge. Ebenso manifestierte sich eine Steilstellung der HWS, die als Unfallfolge gewertet werden muss. Nach einer Therapie der Kopfgelenke mit der Methode von Arlen und zusätzlicher niedrigfrequenter TENS-Therapie kann im Elektromyogramm eine deutliche Beruhigung der Spannung in den Kau-, Kopf- und Halsmuskeln nachgewiesen werden. Nach gemeinsamer Therapie der CMD/CCD stellte sich eine deutliche Beruhigung der Schultermuskeln ein. Bei Frau B. wurde der kompensierte Zustand und die stumme CMD durch das Unfalltrauma in einen dekompensierten Zustand überführt, die CMD wurde aktiv und es traten Kiefer-, Zahn-, Geschichts- und Kopfschmerzen auf. Dies erklärt auch die vergeblichen zahnärztlichen Bemühungen, über die Versorgungen bestimmter Zähne selbst Beschwerdefreiheit zu erlangen. Nicht die Zähne waren für den Schmerz verantwortlich, sondern die Verspannung der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur. Diese hatten
Schleudertrauma und Kiefergelenk
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einen Projektionsschmerz, hervorgerufen durch ein Triggerpunktgeschehen, wie es von Travell und Simons [49] schon 1983 und von Jankelson [18] 1990 beschrieben wurde, ausgelöst und die Schmerzausstrahlung erfolgte in bestimmte Zahn- und Kieferregionen. Als Folge davon traten Zahn- und Kieferschmerzen auf, ohne dass die Zähne selbst erkrankt und ursächlich dafür verantwortlich waren. Eine deutliche Erleichterung des Beschwerdebildes konnte erst Jahre nach dem Unfallereignis über die gemeinsame Therapie der kraniomandibulären und kraniozervikalen Dysfunktion durch Manualtherapeut und Zahnarzt erreicht werden. Die zahnärztliche Therapie bestand in der Eingliederung einer neuromuskulär ausgerichteten Aufbissschiene im März 2006. Die Kieferzuordnung und Bissnahme für die Schiene wurde in Verbindung mit manualtherapeutischen und osteopathischen Maßnahmen ermittelt. Ebenso wird die Schiene noch heute in Verbindung mit diesen Maßnahmen korrigiert und eingestellt. Das Überprüfen der Schienenposition über die Beißkraft zeigt deutlich die Kraftzunahme in der Kaumuskulatur und die ausgewogene Symetrie der Muskelkontraktion beim Zubeißen. Auch wurde die Schienenposition über den Hüftabduktionstest nach Patrick-Kubis überprüft und es zeigte sich, dass mit und ohne Aufbeißen auf die Schienenkaufläche die Hüfte frei und nicht blockiert und beide Beine gleich lang waren. Neben den elektromyographischen Aufzeichnungen sind dies eindeutige Zeichen dafür, dass über die Schiene eine gute Kieferzuordnung eingestellt werden konnte und sich Kiefergelenke und Kaumuskulatur in einem ausgewogenen, physiologisch günstigen Zustand befinden. Entsprechend positiv konnte das Beschwerdebild beeinflusst werden. Einige Wochen nach Eingliederung der Aufbissschiene traten Nacken-, Rücken-, Kopf- und Zahnschmerzen deutlich weniger auf. Der Schlaf war deutlich besser, Frau B. konnte wieder durchschlafen, allerdings klagte sie über Müdigkeit am Morgen. Nachdem der Schlaf auf Grund der Schmerzfreiheit besser war, zeigte sich ein vorher maskiertes mittelgradiges REM-abhängiges SchlafapnoeSyndrom (AHI = 22/h). Zurzeit wird versucht, über eine neuromuskulär ausgerichtete ApnoeSchiene, auch Protrusions- oder Schnarcherschiene genannt, diesem Geschehen entgegenzuwirken [26, 28]. Neben einer Aufbissschiene, die in der Nacht und zum Essen getragen wird, erhielt Frau B.
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M. Hülse, B. Losert-Bruggner
noch eine geteilte Schiene, ohne Einbeziehung der Frontzähne, für den täglichen Gebrauch. Durch Aussparen der Frontzähne im Schienenkörper wird die Sprache nicht behindert, die Zunge hat genügend Platz und die Schiene ist unsichtbar, so dass sie auch während der beruflichen Tätigkeiten ohne Probleme getragen werden kann.
Fazit Therapieerfolge in der Behandlung der Patienten mit HWS-Schleudertrauma können nur dann erzielt werden, wenn dem Manualtherapeuten bewusst wird, dass die CCD mit der CMD eine nosologische Einheit darstellt, und wenn umgekehrt auch dem Zahnarzt bewusst wird, dass die CMD mit der CCD eine nosologische Einheit bildet. Während die Erfolge der Behandlung der CCD und der CMD für den Patienten mit stattgehabtem Schleudertrauma kaum mehr bestritten werden können, ist die Schlussfolgerung, dass das gesamte subjektive Beschwerdebild alleinige Unfallfolge ist, nicht korrekt! Dies darf aber sicher nicht bedeuten, dass eine CMD im Rahmen einer HWS-Traumatisierung nicht akzeptiert werden kann. Entscheidend ist die Erhebung eines korrekten Ausgangsbefundes nach dem Trauma. Die Beurteilung eines betroffenen Individuums darf nicht unter Heranziehung von großen Statistiken erfolgen, da genau diese Statistiken sich nicht selten widersprechen. Besonders deutlich wird dies bei einer Literaturrecherche „Ist eine CMD als Folge eines HWSTraumas möglich?“
Nein: es besteht kein Zusammenhang zwischen HWS-Trauma und CMD ] Ferrari et al. [3] in Litauen bei 210 HWSTraumen 3,3% ] Kasch et al. [20] 19 Patienten mit whiplash: „CMD eher selten“ ] Probert et al. [42] bei 20 673 Verkehrsopfern nur 28-mal CMD (= 0,135%)
Aber 40–75% aller Erwachsenen weisen Zeichen einer CMD auf [50], bei Jugendlichen beträgt dieser Anteil 37,6% [36].
In anderen Worten ausgedrückt: Bei fast 2/3 der erwachsenen Bevölkerung und 1/3 der Jugendlichen sind Zeichen kraniomandibulärer Dysfunktionen nachweisbar. Im Gegensatz dazu zeigen die Statistiken der untersuchten Schleudertraumapatienten, dass eine CMD nach einem Trauma verschwindend gering ist und bei höchstens 3% der Patienten anzutreffen ist. Die Konsequenz aus dieser Statistik könnte nur lauten: Nach einem Verkehrsunfall ist das Risiko, an einer CMD zu erkranken statistisch hoch signifikant verringert. Dies ist eine Bestätigung für die häufig zitierte Feststellung, dass mit Statistik alles zu beweisen ist. Oben genannte Statistiken lassen nur den Schluss zu, dass das Risiko an einer CMD zu erkranken durch einen Verkehrsunfall fast ausgeschlossen wird. Eine Schlussfolgerung, die in sich schon kurioser nicht sein kann. Wie Eingangs schon erwähnt, häufen sich in den letzten Jahren die Zahl der Patienten, die deutliche Zeichen kraniomandibulärer Dysfunktionen (CMD) aufweisen, ohne dass sie aber über Schmerzen klagen müssen. Die CMD bleibt stumm. Dieser kompensierte Zustand kann ein Leben lang anhalten, genauso wie er durch ein Ereignis, wie das eines Schleudertraumas, entgleisen kann. Findet solch eine Entgleisung und Aktivierung der CMD statt, kann im nachhinein nicht mehr gesagt werden, wie es ohne dieses Ereignis in der Zukunft für den Patienten ausgesehen hätte. Fakt ist aber, dass auf Grund eines Traumas eine kompensierte, stumme CMD aktiv in Erscheinung getreten ist, die vorher ohne Beschwerden vorhanden war. Ist dies im Einzelfall eindeutig nachweisbar, muss die aktiv gewordene CMD als Folge des Schleudertraumas gewertet werden. Im Einzelfall wurde ein derartiger Zusammenhang auch durch ein Urteil des Landesgerichtes Halle anerkannt.
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34 Aktivität, Reaktivität und negative Feedback-Sensitivität der Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom * J. Gaab, S. Baumann, U. Ehlert
Theoretischer Hintergrund Das Halswirbelsäulen-Syndrom ist durch verschiedene somatische und psychische Beschwerden, wie Schmerzen im Schulterbereich, Armen und Nacken, Kopf- und Kieferschmerzen, Schwindel, Tinnitus sowie Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, gekennzeichnet (Spitzer et al. 1995). Auch wenn das Erleben dieser Symptome bei akuten Belastungen der Wirbelsäule, wie beispielsweise durch Beschleunigungsmechanismen bei Auffahrunfällen, durch somatische Verletzungen miterklärt werden kann, lassen sich keine objektiven oder spezifischen Ursachen zur Erklärung eines chronischen Verlaufs nachweisen (Rodriquez et al. 2004). Entsprechend ist die Ätiologie des chronischen HWS-Syndroms Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse. Als Gegenentwurf zu der Annahme einer spezifischen, anatomisch identifizierbaren Erkrankung wurde kürzlich eine Perspektiverweiterung im Sinne einer Abkehr von der weit verbreiteten Grundannahme, dass Verletzungen des Halswirbelsäulenbereichs die einzige und allumfassende Erklärung der erlebten Beschwerden sein können, vorgeschlagen (Ferrari et al. 2005). Aus einer solchen systemischen Sicht ist es sinnvoll die Funktion physiologischer Systeme, die an der Prozessierung und Regulation unspezifischer Symptome beteiligt sind, zu untersuchen. Hierbei ist die Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse (HHNA) von zentraler Bedeutung, da HHNA-Hormone über periphere und zentrale Prozesse Einfluss auf chronische Schmerz- und Erschöpfungsbeschwerden haben (Clauw u. Chrousos 1997, Lariviere u. Melzack * Diese Arbeit wurde durch einen Forschungskredit der Universität Zürich und einem Forschungsbeitrag der Rehaklinik Bellikon an PD Dr. phil. Jens Gaab unterstützt.
2000). Entsprechend lassen sich Dysregulation der HHNA bei verschiedenen chronischen Schmerz- und Erschöpfungssyndromen nachweisen, die in der Regel, und im Gegensatz zu neuroendokrinen Veränderungen bei affektiven Störungen, auf eine hypofunktionale Aktivität und/ oder Reaktivität der HHNA hinweisen: Fibromyalgie und chronisches Erschöpfungssyndrom (Parker, Wessely u. Cleare 2001), chronische Unterbauchbeschwerden (Heim, Ehlert, Hanker u. Hellhammer 1998), chronische Rückenschmerzen (Griep et al. 1998) und Reizdarm (Böhmelt, Nater, Franke, Hellhammer u. Ehlert 2005). Als Ursache solcher HHNA-Veränderungen bei chronischen unspezifischen Beschwerden werden chronische und/oder traumatische psychosoziale Belastungen diskutiert (Ehlert, Gaab u. Heinrichs 2001). Beispielsweise konnten eigene Untersuchungen an Patienten mit chronischer Erschöpfung zeigen, dass das Ausmaß einer HHNA-Hypofunktion sowohl mit der Symptomausprägung als auch mit dem Ausmaß der psychischen Belastung assoziiert ist (Gaab et al. 2004). Entsprechend kann eine hypofunktionale HHNA einerseits als ein systemischer Erklärungsansatz unspezifischer Beschwerden dienen, sowie andererseits auch als ein möglicher physiologischer Mediator zwischen erlebten chronischen Schmerz- und Erschöpfungssymptomen und psychosozialen Belastungen betrachtet werden.
Eine psychobiologische Untersuchung des HWS-Syndroms – Ziele und Methoden Auch wenn das Halswirbelsäulen-Syndrom Gegenstand einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen ist, fehlen bislang Untersuchungen
]
J. Gaab et al.
der HHNA an betroffenen Patienten. Ausgehend von Untersuchungen an Patienten mit chronischer Erschöpfung (Gaab et al. 2002) wurde in einer quasiexperimentellen Untersuchung die Aktivität, Reaktivität und negative Feedbacksensitivität der HHNA bei HWS-Syndrom-Patienten mit chronischem Verlauf untersucht. Dazu wurden der Speichelkortisolspiegel vor und nach der Administration von 0,5 mg Dexamethason zwischen Patienten mit chronischem Halswirbelsäulen-Syndrom und gesunden altersund geschlechtsentsprechenden Kontrollpersonen verglichen (Gaab et al. 2005). Die HHNA, mit den Hormonen Corticotropin Releasing Hormone (CRH), Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) und Kortisol, ist ein komplex reguliertes und interagierendes Hormonsystem, welches über verschiedene Mechanismen in seiner Funktion gesteuert wird. Über die Administration von Dexamethason, einem künstlichen Glukokortikoid, kann über die anschließende Erfassung der peripheren Kortisolkonzentrationen die negative Feedbackregulation der HHNA auf der Höhe der Hypophyse (Dexamethason kann nur in sehr geringem Maß die Blut-HirnSchranke überwinden) gemessen werden. Zur Erfassung möglicher Hypofunktionen der HHNA wird in der Regel eine niedrige Dexamethasondosis (0,5 mg) eingesetzt, da damit auch subtile Dysregulationen bestimmbar sind. Der Einsatz von Speichelproben erlaubt eine ambulante und invasionsfreie Bestimmung der Kortisolkonzentration. Zur Differenzierung der HHNA-Funktion werden zwei verschiedene
Messbereiche definiert. Die basale Aktivität über den zirkadianen Rhythmus wird mit vier Messungen (8.00, 11.00, 16.00 und 20.00 Uhr) erfasst, wobei sich in der Regel der charakteristische Abfall der Kortisolkonzentrationen über den Tagesverlauf abbilden lässt. Die Reaktivität der HHNA kann einfach über die Bestimmung der Kortisol-Aufwach-Reaktion operationalisiert werden, bei der nach dem Aufwachen im Abstand von 15 Minuten fünf Kortisolproben erhoben werden. In der Regel zeigt sich hierbei ein deutlicher und kurzfristiger Anstieg der Kortisolkonzentrationen (Prüssner et al. 1997).
Ergebnisse Insgesamt wurden 20 Patienten mit chronischem Halswirbelsäulen-Syndrom und 20 gesunde Kontrollpersonen (KG) untersucht. Beide Untersuchungsgruppen unterschieden sich nicht signifikant in Bezug auf Alter (HWS-Syndrom: 35,8 Jahre, KG: 36,3 Jahre), Body Mass Index (HWS-Syndrom: 25,2, KG: 23,3) und Geschlechterverteilung (jeweils 10 Frauen und 10 Männer). Alle HWSSyndrom-Patienten erlebten den Beginn ihrer Beschwerden nach einem Auto-Auffahrunfall. Die durchschnittliche Symptomdauer bei den HWSSyndrom-Patienten war 29,9 Monate. Die Analyse der Speichelkortisolkonzentrationen zeigte, dass die Kortisol-Aufwach-Reaktionen bei der Gruppe der HWS-Patienten signifikant niedriger als die der Kontrollgruppe waren
vor DST Cortisol-Aufwach-Reaktion
30 25 20 15 10
Kontrollgruppe HWS-Gruppe
5
zirkadianer Cortisol-Tagesverlauf
30 Speichelcortisol (nmol/l)
Speichelcortisol (nmol/l)
272
0
Kontrollgruppe HWS-Gruppe
25 20 15 10 5 0
0
15
30
45
60
Minuten nach dem Aufwachen
Abb. 34.1. Kortisol-Aufwach-Reaktion (linke Darstellung) und zirkadianer Kortisol-Tagesverlauf (rechte Darstellung) bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom und bei gesunden
8
12
16
20
Tageszeit in Stunden
Kontrollpersonen vor Verabreichung von 0,5 mg Dexamethason, d. h. unter basalen Bedingungen.
34
Aktivität, Reaktivität und negative Feedback-Sensitivität der HHNA bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom
]
nach dem DST Cortisol-Aufwach-Reaktion Kontrollgruppe HWS-Gruppe
25
zirkadianer Cortisol-Tagesverlauf
30
20 15 10 5 0
Speichelcortisol (nmol/l)
Speichelcortisol (nmol/l)
30
Kontrollgruppe HWS-Gruppe
25 20 15 10 5 0
0
15
30
45
60
Minuten nach dem Aufwachen
8
12
16
20
Tageszeit in Stunden
Abb. 34.2. Kortisol-Aufwach-Reaktion (linke Darstellung) und zirkadianer Kortisol-Tagesverlauf (rechte Darstellung) bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom und bei gesunden
Kontrollpersonen nach Verabreichung von 0,5 mg Dexamethason, d. h. unter supprimierten Bedingungen.
(Abb. 34.1, linke Darstellung). Diese endokrinen Unterschiede zeigten sich aber nicht in den Kortisolverläufen über den Tag, d. h. HWS-SyndromPatienten unterschieden sich darin nicht von gesunden Kontrollpersonen (Abb. 34.1, rechte Darstellung). Nach der Administration von 0,5 mg Dexamethason wiesen Patienten mit HWS-Syndrom im Vergleich mit den gesunden Kontrollpersonen eine signifikant stärkere Suppression der Kortisolspiegel in der Kortisol-Aufwach-Reaktion als auch über den Tagesverlauf auf (Abb. 34.2, linke und rechte Darstellung).
Parker et al. 2001, Roberts, Wessely, Chalder, Papadopoulos u. Cleare 2004) sowie auch psychischen Störungen mit primär somatischem Erscheinungsbild, wie beispielsweise der atypischen Depression (Geracioti, Loosen u. Orth 1997). Es ist deswegen möglich, dass die beobachteten endokrinen Dysregulationen einen symptom- und nicht syndrom-spezifischen Erklärungsansatz chronischer Schmerz- wie auch Erschöpfungssyndrome darstellen. Dabei bieten sich sowohl periphere HHNA-Effekte, wie beispielsweise die komplexe Regulation pro-inflammatorischer Zytokine bei Schmerzsyndromen durch Kortisol (Kivioja et al. 2001, WieselerFrank, Maier u. Watkins 2005, Geiss et al. 2005), als auch zentrale Mechanismen, wie beispielsweise die Modulation von opioid-induzierter Analgesie sowie die Beeinflussung der Schmerzprozessierung in limbischen und präfrontalen Arealen durch CRH (Mousa, Bopaiah, Stein u. Schafer 2003, Lariviere u. Melzack 2000), als mögliche Mediatoren von HHNA-Dysregulationen auf die beobachtete Symptomatik an. Darüber hinaus stellte sich die Frage, inwieweit die beobachteten HHNA-Dysregulationen Folge von psychosozialen Belastungen sind, die auch bedeutende Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerz- und Erschöpfungssyndromen darstellen (Wessely et al. 1995, Kivioja, Sjalin u. Lindgren 2004).
Diskussion Die dargestellten Ergebnisse zeigen erstmals, dass Patienten mit chronischem Halswirbelsäulensyndrom eine hyporeaktive und supersupprimierbare HHNA aufweisen, wohingegen keine Hinweise auf Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Kortisolspiegel über den Tagesverlauf nachgewiesen werden konnten. Das beobachtete endokrine Reaktionsmuster ähnelt den bislang publizierten Befunden bei anderen funktionellen somatischen Syndromen, wie z. B. dem chronischen Erschöpfungssyndrom und der Fibromyalgie (Gaab et al. 2002,
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J. Gaab et al.: 34 Aktivität, Reaktivität u. negative Feedback-Sensitivität der HHNA bei Patienten mit chronischem HWS-Syndrom
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35 Hormonstörungen durch Schleudertrauma H. Etzrodt
Einleitung Viele Patienten klagen nach einem Schleudertrauma über Störungen in der Aufmerksamkeit, schnelle Erschöpfbarkeit, Änderungen im Schlaf- Wach-Rhythmus [16]. Sie haben das Problem, dass diese Beschwerden oft nicht als Folge des Schleudertraumas anerkannt werden [6]. Die Literaturübersicht ergibt wenig aussagekräftige Daten, so dass die geschilderten Beschwerden auf einen kulturellen und psychosozialen Hintergrund reduziert werden [9]. Versicherungen vermuten unangebrachte Aggravierung mit unberechtigten Forderungen der Verletzten [12]. Ähnliche Probleme gibt es auch bei Patienten nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Hier konnten aber in den letzten Jahren bei vielen Patienten eindeutige endokrinologische Störungen als Folge des Unfalls nachgewiesen werden [4, 14], was nach erfolgter Diagnostik zu einer für den Patienten sehr hilfreichen Behandlung führt. Außerdem ermöglicht die Feststellung von hormonellen Ausfällen, dass der Patient ein ihm bisher nicht bekanntes Krankheitsbild besser verarbeiten kann. Die versicherungsrechtliche Situation der Patienten wird durch den Nachweis von hormonellen Ausfällen verbessert. Auf Grund dieser Erkenntnisse ist es naheliegend, auch Patienten mit anhaltenden Beschwerden nach einem Schleudertrauma endokrinologisch zu untersuchen. Die Interpretation endokrinologischer Störungen erscheint bei Patienten nach einem Schleudertrauma einfacher zu sein als bei Patienten nach einem schweren Schädel-HirnTrauma. Letzteres führt in Abhängigkeit von den erlittenen Schäden zu tiefen Eingriffen in die Integrität des Verletzten. Es kann zu Veränderungen der Soll-Werte im „milieu intérieur“ [22] des Betroffenen kommen.
Patienten mit einem Schleudertrauma können eine posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder) aufweisen mit Folgen für die verschiedenen Regelkreise, wie es von Patienten mit einer Angststörung bekannt ist [18].
Prinzip des endokrinologischen Regelkreises Der endokrinologische Regelkreis ist ein Regelkreis, in dem Hormone wichtige Steuerungselemente sind. Geregelt werden viele Zustände in unserem Organismus, „milieu intérieur“, wie z. B. der Blutzucker, der Kalziumgehalt des Blutes, die Körpertemperatur, die Sauerstoffversorgung der Gewebe, die Festigkeit der Knochen. Über diese Zustände wird der Regler durch das autonome Nervensystem informiert. Abweichungen des Ist-Wertes vom Soll-Wert werden durch das autonome Nervensystem oder vorort an das Zwischenhirn (Hypothalamus) gemeldet. Bei Abweichungen vom Sollwert oder bei Vorgabe eines neuen Sollwertes wird über das Zwischenhirn die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) und hiervon abhängige Hormondrüsen zur Aussendung von Hormonen veranlasst, die in den Organen des Körpers einen neuen Ist-Wert herbeiführen. Die Hormone, die man im Blut messen kann, sind somit Steuerungselemente, die den Ist-Wert von Körperzuständen verändern. Sie sind erhöht, wenn eine Änderung erforderlich ist, sie sind niedrig, wenn eine Änderung nicht erforderlich ist. Die Konzentration der Hormone kann im Blut und im Liquor gemessen werden, die Funktionsfähigkeit der Hormondrüsen kann durch endokrinologische Stimulationstests festgestellt werden. Kommt es z. B. zum Abfall des Blutzuckers, werden Hormone ausgeschüttet, die dafür sorgen, dass Leber und Niere solange Trauben-
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zucker herstellen, bis der Sollwert des Blutzuckers wieder erreicht ist. Ist der Blutzucker zu hoch, werden andere Hormone freigesetzt, die dafür sorgen, dass der Blutzucker von den Zellen aufgenommen wird und somit wieder auf das erforderliche Niveau sinkt. Die Information der Schaltstellen im Hypothalamus erfolgt lokal und über das vegetative Nervensystem (sehr schnell). Der Hypothalamus steuert durch die Abgabe von Hormonen an die Hypophyse, die ihrerseits andere Hormondrüsen stimuliert oder hemmt. Rückführungs-(Feedback)-Mechanismen verhindern eine Überantwort und garantieren einen gewissen Grundspiegel an Hormonen. Das afferente System besteht aus dem N. Vagus und anderen Fasern des Parasympathikus, das efferente System besteht wesentlich aus den Hormonen der Hypophyse und den von ihr abhängigen Hormondrüsen, wie Nebenniere, Schilddrüse, Geschlechtsdrüsen, Leber.
Schleudertrauma, Hirntrauma und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD posttraumatic stress disorder) Das Rückenmark in der Halswirbelsäule hat Platz und ist in der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) vor Schäden durch ein Schleudertrauma geschützt. Das Schleudertrauma kann zu Hirnschädigungen führen. Wie oft es zu milden Hirnschädigungen kommt, ist umstritten, aber auch Schädigungen, die mit nuklearmedizinischen oder radiologischen Methoden (nach [1]) nicht nachzuweisen sind, können für den Patienten von großer nachteiliger Bedeutung sein. Kommt es zu einer Verletzung des Gehirns, so sind oft die in der Mittellinie angeordneten Zentren betroffen, wie der Hypothalamus und die Hypophyse. Es ist unklar, wie Störungen der Hormonsekretion entstehen. Untersucht man Patienten mit Hormonausfällen, so findet man bei vielen Patienten Veränderungen im Hypothalamus und in der Hypophyse, 20% der Patienten in einer Serie von 15 Patienten mit einer Hypophysenunterfunktion wiesen aber weder in der Computertomographie noch in der Magnetresonanz-Untersuchung eine Veränderung auf [18]. Völlig unklar ist, warum eine Hypophyseninsuffizienz mit einer Latenz von Jahrzehnten
nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten kann [8]. Durch das Schleudertrauma werden wahrscheinlich die Sollwerte im Vergleich zu Menschen, die kein Schleudertrauma erlebt haben, nicht verstellt. Es wurden nach Schleudertrauma niedrige periphere Schilddrüsenwerte, ein niedriges TSH (= Thyroid-stimulating hormone) und eine erniedrigte Körpertemperatur gemessen; ob dies Folge einer Anpassung oder ob es sich um eine vorübergehende hypothalamischhypophysäre Störung gehandelt hat, ist unbekannt [15]. Posttraumatische Belastungsstörungen sind nach Schleudertrauma häufig [11]. Bei der posttraumatischen Belastungsstörung kann es zu Veränderungen in den Sollwerten des „milieu intérieur“ kommen, da auf erneute Gefahr anders reagiert wird als von Personen, die diese Angststörung nicht aufweisen. Dies betrifft besonders die Hypophysen-NebennierenrindenAchse mit Kortisol als nachweisbarem Substrat [19]. Die basal gefundenen Kortisolwerte sind oft erniedrigt, während die Stimulation von Hypophyse und Nebenniere Normalwerte ergeben.
Diagnostik ] Afferenter Schenkel des Regelkreises (vom „milieu intérieur hin zum Hypothalamus) Störungen im afferenten Schenkel sind nicht bekannt. N. vagus und andere Fasern des Parasympathikus verlaufen außerhalb der Halswirbelsäule. ] Der Regler im Hypothalamus Störungen im Regler (Hypothalamus) finden sich bei Patienten nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma [14]. Hormonstörungen können mit großer Latenz nach dem Unfall auftreten [8]. Nachdem der Pathomechanismus dieser Schäden nicht bekannt ist, sollte auch bei Fortbestehen von Beschwerden nach einem Schleudertrauma eine endokrinologische Diagnostik erfolgen. Hinweise auf eine Störung des Reglers sind bei Frauen Zyklusstörungen, das Fehlen hoher Gonadotropin-Spiegel in der Menopause, Elektrolyt-Störungen mit niedrigem Serum-Natrium bei Verdacht auf Fehlsteuerung der Vasopressin-Sekretion, eine Hyperprolaktinämie.
35
Als endokrinologischer Stimulationstest des Hypothalamus steht die Insulin-Hypoglykämie zu Verfügung. – Um die Regulation des Blutzuckers zu überprüfen, spritzt man den Patienten Insulin und beobachtet, wie schnell wieder der Blutzuckerausgangswert erreicht wird. Gleichzeitig zeigt die Bestimmung von Wachstumshormon, ACTH und Kortisol, und Prolaktin, ob die Hypophyse auf diesen Stimulus ausreichend reagiert. ] Efferenter Schenkel des Regelkreises (vom Hypothalamus über die Hypophyse zu weiteren Hormondrüsen) Störungen im efferenten Schenkel finden sich beim Schädel-Hirn-Trauma, sind aber beim Schleudertrauma nicht beschrieben. – Diabetes insipidus. Beim schweren Schädel-Hirn-Trauma selten, keine Untersuchungen bekannt beim Schleudertrauma – Hypophyseninsuffizienz kann durch endokrinologische Tests sehr präzise untersucht werden. Auch hierzu gibt es bisher bei Patienten mit Schleudertrauma keine Veröffentlichungen. In unserer Praxis weist eine Patientin eine Störung der Hypophysen-Nebennierenrindenachse auf, die mit Kortison substituiert werden musste. Bei der Subarachnoidalblutung ist vorwiegend ein Ausfall der Kortikoidachse beschrieben [10]. – Hyperprolaktinämie als Zeichen der Störung im Bereich des Hypophysenstiels. ] Veränderung des Sollwertes bei posttraumatischer Belastungsstörung Bei Veränderung des Sollwertes ist die Funktionsweise der Hormondrüsen nicht beeinträchtigt, d. h. in den Stimulationstests finden sich normale Stimulierbarkeit, während die Hormonkonzentrationen im Blut niedriger sein können als bei Gesunden [20].
Hormonstörungen durch Schleudertrauma
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Diskussion und Ausblick Befindlichkeitsstörungen finden sich bei Patienten mit Schleudertrauma und mit mildem Schädel-Hirntrauma. In der Regel können keine pathologischen Veränderungen mit den üblichen bildgebenden Verfahren wie Computertomographie und magnetischer Resonanztechnik nachgewiesen werden. Bei mildem Schädel-HirnTrauma lassen sich mit funktioneller Untersuchungstechnik aber morphologische Veränderungen nachweisen, die die Beschwerden der Patienten erklären können [7]. Die Ursache für die Entstehung von Hormonstörungen nach einem Schädel-Hirn-Trauma ist nicht bekannt, ischämisch durch erhöhten Hirndruck, Verletzung von Gefäßen, die den Hypothalamus versorgen, Narbenbildung, Autoimmungeschehen, Auftreten einer im bildgebenden Verfahren nicht sichtbaren Subarachnoidalblutung wie beim Schütteln von Kleinkindern [3]. Warum Störungen noch nach großem Abstand zum stattgehabten Ereignis auftreten können, bedarf der Klärung [5].
Schlussfolgerungen ] Patienten mit Schleudertrauma sollten klassifiziert werden, um endokrinologische Störungen der Schwere des Traumas zuordnen zu können, z. B. nach der ASIA Spinal Cord Injury Classification [21] in Analogie zur Glasgow Coma Scale für traumatische SchädelHirn-Traumata [17]. ] Es sollte differenziert werden zwischen Patienten mit und ohne Kopfanprall, mit und ohne die milde Form einer traumatischen Hirnverletzung. ] Patienten mit fortbestehenden Beschwerden, die nicht auf Verletzungen im Halsbereich zurückgeführt werden können, sollten gezielt endokrinologisch untersucht werden und nicht psychiatrisch klassifiziert werden. Sollten sich Hormonstörungen finden, können die Hormonausfälle gut behandelt werden. Die richtige Substitution führt zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität des Patienten.
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H. Etzrodt: 35
Hormonstörungen durch Schleudertrauma
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36 HWS-Distorsion und Multiple Sklerose * P. O. Behan, A. Chaudhuri
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische neurologische Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS, Gehirn und Rückenmark), die bei meist jüngeren Betroffenen zu zunehmenden Behinderungen führt. Die genaue Ursache und Pathogenese der MS sind unbekannt, aber es ist allgemein anerkannt, dass komplexe Wechselbeziehungen zwischen genetisch vorbelasteten Personen und Umweltfaktoren die Krankheit auslösen. Diese führt dann zur Bildung von multi-fokalen Bereichen der Demyelinisierung um Blutgefäße herum („Plaques“), zur Degeneration von Nervenzellen und ihren Fortsätzen und zur Wucherung („Sklerose“) von Gliazellen, die normalerweise strukturelle Komponenten des ZNS sind und zur Ernährung der Nervenzellen beitragen. Es gibt keine ausreichende Evidenz für eine spezifische, ursächliche Rolle bestimmter Umweltfaktoren. Epidemiologische Studien deuten jedoch darauf hin, dass eine Anzahl von potenziell relevanten Umweltfaktoren die Krankheit bei anfälligen (suszeptiblen) Personen auslösen können, Faktoren, die manchmal auch „potentielle Demyelinatoren“ genannt werden. Eine positive MS-Familiengeschichte bei den Eltern oder Geschwistern wird als bester Marker der genetischen Prädisposition für diese Krankheit angesehen. Unter den Umweltfaktoren ist eine Infektion der wahrscheinlich bedeutendste Faktor. Es wird angenommen, dass eine Infektion in jungen Jahren mit spezifischen Viren (wie z. B. Epstein Barr Viren) die Anfälligkeit für eine symptomatische MS im späteren Leben erhöht, wenn ein weiterer Umweltfaktor hinzukommt.
* Für die Übersetzung des Beitrages danken wir Herrn Jürgen Mertin
HWS-Trauma und Multiple Sklerose Traumen sind – genauso wie Infekte – alltäglich. Die Rolle von Traumen in Bezug auf die Verursachung oder Verschlimmerung von MS wird seit vielen Jahren diskutiert. Der erste Verdachtsfall von MS war Lidwina Van Scheidam (später als Schutzheilige der Schlittschuhläufer heilig gesprochen) im 14. Jahrhundert. Sie entwickelte erstmals Symptome der Erkrankung nach einem Sturz, als ihr Fuß beim Gehen ausgeglitten war. Trotz der Erfahrung vieler Klinikärzte eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Hals- oder Kopf-Traumen und MS wurden in diesem Aspekt bislang nur sehr wenige systematische Studien durchgeführt. Insbesondere gibt es keine einzige kontrollierte Studie, die speziell das Risiko von Personen untersucht hat, nach einer HWS-HyperextensionsHyperflexions-Verletzung (Schleudertrauma) eine MS zu entwickeln. Historisch gesehen war Keschner der erste, der im Jahre 1950 die Vermutung aufstellte, dass spezifische Traumen des Schädels oder der Wirbelsäule MS-Symptome verstärken können. In den 1960er Jahren untersuchte Lord Brain 17 Patienten, bei denen die klinischen Daten auf einen zeitlichen Zusammenhang des Auftretens einer zervikalen spondylogenen Myelopathie mit MS hinwiesen. Zwei dieser Patienten starben und bei der Autopsie fanden sich Plaques überall im Rückenmark und im Gehirn. Der außergewöhnlichste Fund war aber, dass die ausgeprägtesten Entmarkungsherde im Rückenmark an derjenigen Stelle festgestellt wurden, an welcher sich die durch Spondylose verursachte Kompression befand. In der Weiterführung dieser Studien führte Oppenheimer 1978 in Oxford eine detaillierte histopathologische Untersuchung bei 18 Patienten mit MS durch und entdeckte, dass Demyelinisierung im Hals-
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mark doppelt so häufig vorkam als in anderen Teilen des Rückenmarks, mit einem Übergewicht an fächerförmigen Läsionen in dem Bereich der Seitenstränge. Seine Erklärung war, dass die bei Beugung der Halswirbelsäule entstehende mechanische Belastung durch die Ligamenta denticulata auf das Rückenmark übertragen wird, und er postulierte, dass dies auf Dauer zur Schädigung der Blut-Hirn-Schranke und damit zur Demyelinisierung führen könnte. Der derzeitige generelle Konsens in Bezug auf Trauma und MS ist, dass eine nicht spezifische oder geringe Körperverletzung das Risiko der Erkrankung nicht erhöht, während spezifische Traumen, die den Kopf und/oder das Genick betreffen, sowie durch elektrischen Strom verursachte Verletzungen, die möglicherweise die anatomische Barriere zwischen Blut und Gehirn und/oder Rückenmark unterbrechen, als Auslöser wirken können, die entweder erste MSSymptome verursachen oder bei einer bereits bestehenden Erkrankung diese verschlimmern. Das pathologische Indiz, welches für einen Zusammenhang von HWS-Verletzungen und MS spricht, besteht in der Tatsache, dass die Halsregion der beweglichste und am häufigsten betroffene Bereich des Rückenmarks ist und in Autopsiebefunden MS-Plaques im Halsmark häufig in den Bereichen chronischer, einer durch Traumata verursachten zervikalen Spondylose, gefunden werden. Es kann daher argumentiert werden, dass wiederholte Episoden von geringen Traumen des Halsmarks höchstwahrscheinlich die Erklärung für die klinische Assoziation zwischen HWS-Spondylose und MS darstellen. Wir teilen die Erfahrung mit anderen, dass bei vielen Patienten mit MS ohne irgendwelche vorhergegangenen Schleudertrauma-Verletzungen die Magnetresonanztomographie (MRT) oft eine enge anatomische Beziehung zwischen Kompression des Halsmarks durch zervikale Bandscheibenvorfälle einerseits und intraspinalen Plaques auf der gleichen Ebene andererseits erkennen lassen. Ähnliche Veränderungen im Rückenmark sind bei Nicht-MS-Patienten, die den gleichen Grad einer spinalen Stenose aufweisen, nicht nachweisbar. Das legt nahe, dass HWS-Traumen zu einer Entwicklung von Plaques bei „potentiellen Demyelinatoren“ beitragen, wodurch MSKrankheitssymptome ausgelöst oder verschlimmert werden.
Die Bildung von MS-Plaques Während HWS-Verletzungen wohl nicht die Ursache von MS sind, geht man doch davon aus, dass sowohl akute (Schleudertraumen) als auch chronische (Spondylose) Verletzungen bei suszeptiblen Personen durch Störung der Blut-Hirn/ Rückenmark-Schranke zur Bildung von Plaques führen können. Physiologischerweise besteht die Schranke aus Endothel-Zellen, die die Kapillaren beschichten und mit der Hirnsubstanz über Fortsätze der Astrozyten verbunden sind, welche Nährstoffe vom Blut in das Netzwerk der Nervenzellen und auch zur Myelin bildenden Glia (Oligodendrozyten) weiterleiten. Jedwede signifikante Störung der normalen Schrankenfunktion hat die Folge, dass die normale Funktion der GliaNervenzell-Einheit verändert wird, wodurch sich auch ihre Verletzbarkeit hinsichtlich ihres Stoffwechselbedarfs erhöht. Zusätzlich ermöglicht die Unterbrechung der anatomischen Schranke einen direkten Kontakt mit humoralen Faktoren des Blutes, gegen welche die Zellen zuvor geschützt waren. Eine Kombination dieser Effekte führt zu einer Kaskade von Veränderungen, die sich dann als MS-Symptome manifestieren. Eine Veränderung der Blut-Hirn-Schranke wird häufig als ein obligatorisch notwendiger Schritt zur Entstehung der MS-Erkrankung angesehen – ohne eine Schädigung der Schranke würde eine Myelin-Schädigung, die Ausbildung von demyelinisierten Bereichen, nicht erfolgen. Die Tatsache, dass spezifische Symptome der MS oft mit einer schweren Verletzung zusammenhängen, kann durch die lokale Schädigung der Schranke an der Stelle der Verletzung, so z. B. im Halsmark, erklärt werden.
HWS Schleudertraumaverletzung, Blut-Hirn/Rückenmark-Schranke und MS Es gibt sowohl aus klinischer Erfahrung als auch aus experimentellen Tiermodellen den Nachweis, dass Hirn- und Rückenmarks-Traumen eine Schädigung der Blut-Hirn/Rückenmark-Schranke verursachen können, sowohl direkt an der betroffenen Stelle als auch in benachbarten Bereichen. Eine signifikante Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn/Rückenmark-Schranke wurde
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in ZNS-Regionen von Tieren beobachtet, die einem Schleudertrauma ohne Kopftrauma ausgesetzt wurden. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass der Verletzungsgrad der betroffenen Knochen und Weichteile nach Nacken-Traumen (wie Schleudertrauma-Verletzung) keine direkte Beziehung zu dem Ausmaß der Blut-Hirn/Rückenmark-Schrankenstörung oder nachfolgende neurologische Defizite hat. Den Auswirkungen von fokalen Nacken-Traumen auf die Entwicklung bzw. Verschlimmerung von MS muss Beachtung beigemessen werden, da Schleudertrauma-Verletzungen häufig die Folge von Autounfällen sind. Wir haben über 39 Fälle berichtet, bei denen MS definitiv durch ein spezifisches Hyperextensions-Hyperflexions-Halsmarktrauma verursacht oder verschlimmert wurde. Die Verschlechterung oder der Anfang der symptomatischen Erkrankung zeigte einen auffälligen zeitlichen Zusammenhang zur fokalen Verletzung. In dieser Untersuchungsserie entwickelten Patienten entweder klinische MS oder erfuhren ein schnelles Fortschreiten einer zuvor stabilen MS-Erkrankung mit minimalen Einschränkungen zu einer rasch progredienten klinischen Verlaufsform, und dies innerhalb von einigen Tagen oder Wochen nach einer akuten Hyperextensions-Hyperflexions-Verletzung des Halsmarks. Alle Patienten stellten sich innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt ihrer akuten HWS-Rückenmarks-Verletzung durch Auto-, Arbeits- oder Umweltunfälle vor. Davon wurde bei 24 Patienten erstmals MS diagnostiziert mit innerhalb von 12 Stunden bis 12 Wochen nach dem Trauma erstmals auftretenden Symptomen, wobei bei der Mehrzahl das Intervall zwischen 2 und 3 Wochen lag. In den anderen 15 Fällen mit milder MS, deren Zustand rapide zu einer progressiven Verlaufsform voranschritt, trat diese Verschlechterung zwischen 1 und 12 Wochen nach dem Trauma ein, wobei die Spitze in der 1.–2. Woche lag. Halsmarkatrophie ist der deutlichste Korrelator für den Grad der Behinderung bei MS. Folglich wäre es nur logisch anzunehmen, dass das rapide
HWS-Distorsion und Multiple Sklerose
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Fortschreiten der MS-bedingten Behinderungen in unseren Fällen eine direkte Folge der HWS/ Halsmark-Schädigung war. Es gab bei keinem der Patienten eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der Verletzung und der nachfolgenden Verschlechterung der MS-Symptomatik, insbesondere fanden wir als Trauma-Folge keine Halswirbelfraktur, Wirbeldislokation oder Rückenmarks-Kompression. Bei dem überwiegenden Teil der Fälle war die Schwere der Weichteilverletzung mild bis moderat.
Schlussfolgerung Schleudertraumen und andere Formen von HWS/Halsmark-Traumata können MS-Zeichen und Symptome bei vollkommen gesund erscheinenden Personen mit asymptomatischer („stiller“) MS auslösen und haben das Potential, den weiteren klinischen Verlauf einer stabilen MSErkrankung nachteilig zu beeinflussen. Nach unserer Erfahrung kann das Auftreten von MSSymptomen nach einem HWS-Trauma sich innerhalb von Stunden manifestieren, erreicht den Höhepunkt innerhalb von Tagen bis Wochen, selten nach erst 3 Monaten. Wir haben eine Arbeit mit den Befunden der 39 Patienten veröffentlicht, die symptomatische MS nach einem HWS-Schleudertrauma entwickelt haben und haben diese Befunde nun auf über 100 Patienten mit gleichen Phänomenen ausgedehnt. Dies und eine Vielfalt von anderen Publikationen über die Rolle der Blut-Hirn/RückenmarkSchranke, inklusive auch über therapeutische Versuche, lassen wenig Zweifel daran, dass ein Patient mit einer MS-Diathese nach einer akuten Verletzung des zentralen Nervensystems dazu neigt, die Symptomatik der MS-Erkrankung zu entwickeln. Wir müssen jedoch wiederholen, dass HWS- oder Kopf-Traumen nicht der Primärauslöser für eine MS sind, sie könnten jedoch als auslösender Faktor bei anfälligen Personen wirken.
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Psychologie – Psychiatrie – Psychosomatik
Psychologie – Psychiatrie – Psychosomatik 37
Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule
38
Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung
39
Schleudertrauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
40
Neurostressfragmentierung (NSF) bei Schleudertrauma: Ein Ausweg
41
Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
42
Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung
43
Das Risiko der Stressnachschlageffekte
37 Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule E. Riederer
Einleitung Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der HWS sind häufig, sie betreffen das gesamte Spektrum der Psychopathologie. Unmittelbar nach dem Unfall sind es emotionale Sofortreaktionen, Wut, Entsetzen, Betroffenheit. Dauern die körperlichen Beschwerden an, sind es in erster Linie Depressionen, die auftreten. Es kommen aber auch, wenngleich selten, psychotische Reaktionen vor. Hat man den Eindruck von Übertreibungen, spricht man von einer gestörten Schmerzverarbeitung oder gar von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Psychische Störungen können über Jahre chronifizieren, meistens ist es eine Mischung aus Depression und Resignation, vor dem Hintergrund ständiger Schmerzen. Im Zentrum steht aber immer der Schmerz. Die psychische Veränderung ist eine Reaktion auf diesen Schmerz und oftmals auch auf den Unfall selbst, vor allem wenn dieser in der Erinnerung nachhallt. Die Physiologie des Schmerzes und die primäre kortikale Verarbeitung sind in den Grundzügen bekannt. Weniger bekannt sind die sekundären kortikalen Verarbeitungen in den angrenzenden Rindenfeldern und nur vage Vorstellungen existieren über die Verbindungen zwischen Schmerz und Psyche. Dieser Beitrag soll versuchen, eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen zu erstellen. Der Arzt und alle Personen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sollten neben psychopathologischen Kenntnissen auch über neurologische Kenntnisse verfügen. Übergeht oder ignoriert man sie, fühlt sich der Patient nicht verstanden: Es kommt zu Spannungen, die Beschwerden nehmen zu, das Unverständnis wächst, ein Teufelskreis beginnt sich aufzubauen, eine erfolgreiche Rehabilitation ist dann kaum mehr möglich.
Die Neuroanatomie des Schmerzes Der Schmerz ist eine der Sinnesmodalitäten wie Kälte-, Wärme- und Druckempfindung. Die Schmerzwahrnehmung ist komplex und oft mit einer starken seelischen Komponente verbunden. Die „International Association for the Study of the Pain“ definiert den Schmerz wie folgt: ] „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht, oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.“
] Die Entstehung des Schmerzes Der Schmerz entsteht in den Schmerzrezeptoren oder Nozizeptoren. Das sind nicht-myelinisierte Nervenendigungen, die in fast allen Körpergeweben vorhanden sind. Sie werden durch schädigende Einflüsse aktiviert. Vermutet werden Kinine, die bei der Gewebeverletzung freigesetzt werden. Durch chemische Prozesse bewirken diese Kinine an den Nervenendigungen Membranveränderungen: Es entsteht ein elektrisches Signal, welches in den Schmerzfasern zum Rückenmark und dann zum Gehirn geleitet wird, wo das Signal als Schmerz wahrgenommen wird. Vom Ort der Entstehung des Schmerzes bis zum Rückenmark erfolgt die Übertragung in zwei Fasertypen: Den myelinisierten, schnell leitenden A-Delta-Fasern und den nicht-myelinisierten, langsam leitenden C-Fasern. Die A-Delta-Fasern verursachen umschriebene, gut lokalisierte Schmerzen. In den C-Fasern werden diffuse dumpfe Schmerzen weitergeleitet. Dies erklärt die Beobachtung, dass dem
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akuten Schmerzreiz, welcher in den schnellen A-Delta-Fasern geleitet wurde, meistens ein dumpfer diffuser Schmerz folgt, welcher in den langsamen C-Fasern geleitet wurde. Zur Schmerzwahrnehmung gehört die Tiefensensibilität, die bewusste Wahrnehmung der Lage des Körpers im Raum. Die Impulse entstehen in den Spray-Nervenendigungen, welche sich an den Gelenken befinden. Verändert sich die Statik in einem Gelenk, was an den Gelenken der HWS nach einem Trauma praktisch immer der Fall ist, kommt es zu einer erhöhten Aktivität in diesen Spray-Nervenendigungen, was vom Patienten als dumpfer, bohrender Schmerz wahrgenommen wird.
] Die zentrale Weiterleitung des Schmerzes Nachdem das Schmerzsignal das sensible Ganglion in der Hinterwurzel, dem Sitz des ersten Neurons, erreicht hat, erfolgt die Weiterleitung zum
Rückenmark, zum zweiten Neuron im Hinterhorn des Rückenmarks (Lamina I und V). Die Axone des zweiten Neurons kreuzen auf gleicher Höhe die Mittellinie und steigen im lateralen Tractus spinothalamicus aufwärts. Im Gehirn enden die Fasern der Tractus spinothalamici im dorsalen Thalamus (VPL, Nucleus ventro-postero-lateralis). Von dort gehen die meisten Signale in den Gyrus postcentralis, dem Ort der bewussten Wahrnehmung des Schmerzes. Vom Kopf gelangen die Schmerz- (und auch die Temperaturempfindungen) ebenfalls via spinothalamische Bahnen in den Thalamus. Die Schmerzsignale vom Nervus trigeminus werden dagegen zuerst im Nucleus N. spinalis n. trigemini, dem Sitz des zweiten Neurons, umgeschaltet, und gelangen via Lemniscus medialis in den Thalamus. Von dort gehen die Schmerzsignale wiederum in den Gyrus postcentralis. Die Impulse der Tiefensensibilität gelangen über das sensible Ganglion der Hinterwurzel in die Hinterstränge und werden, ohne die Mittellinie zu kreuzen, nach kranial geleitet und kreuzen die Mittellinie erst im Hirnstamm, nach der Umschaltung in den Nuclei cuneatus und gracilis. Von dort gelangen die Impulse in den VPL des Thalamus und danach in den Gyrus postcentralis.
3. Neuron
] Die kortikale Schmerzverarbeitung
Thalamus
Tractus spinothalamicus lateralis Lemniscus medialis
2. Neuron
Substantia gelatinosa
2. Neuron
1. Neuron
Tiefensensibilität, Lagesium Druck, Berührung Schmerz, Temperatur
Abb. 37.1. Vereinfachte Darstellung der afferenten sensorischen Leitungssysteme.
Der Gyrus postcentralis hat die Funktion der primären Schmerzwahrnehmung. Die Thalamusstrahlung ist so geordnet, dass die einzelnen Körperregionen entlang dieses Gyrus repräsentiert sind (Homunculus). Dank dieser Anordnung können wir den Ort der Schmerzentstehung erkennen. Qualitativ ist dies aber eine nur rudimentäre Wahrnehmung. Aus dem Alltag wissen wir, dass der Schmerz viele Gesichter hat. Er ist stechend, brennend, bohrend, klopfend, einschießend oder dumpf. Er kann an andere Ereignisse erinnern, Emotionen oder psychische Reaktionen auslösen. Diese Differenzierung des Schmerzes erfolgt über die sekundären, rezeptiven Rindenfelder, die Assoziationsgebiete im Bereich des Parietal-, Okzipital- und Temporallappens. In diesen Assoziationsarealen werden die Schmerzsignale integriert, gespeichert und verglichen mit vorhandenen Mustern und so der Wahrnehmung zugeführt.
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Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule
Schmerz und Psyche Die Wirkung der Schmerzsignale auf die Psyche geschieht in mehreren Ebenen. Es wird angenommen, dass eine erste Beeinflussung bereits über das Rückenmark erfolgt, infolge Aktivierung enkephalinerger Neurone im Hinterhorn, in der Substantia gelatinosa. Vom Hirnstamm gelangen Fasern von der Formatio reticularis (ARAS) sowohl in die primären als auch in die sekundären rezeptiven Rindenfelder. Dann existieren, neben den thalamischen Projektionen in den Gyrus postcentralis, auch solche in den Gyrus cinguli, womit die Verbindung ins limbische System hergestellt ist. Das limbische System ist ein komplexes Fasersystem, der Papez circuit (Gyrus cinguli – Amygdala – Hippocampus – Fornix – Corpus mammilare – Nucleus anterior thalami). Der Gyrus cinguli hat Verbindungen mit dem Kortex, diese sind eher dürftig (vom Thalamus und vom Frontallappen). Emotionen können daher nicht einfach willentlich an- und abgeschaltet werden. Das limbische System hat zudem lang dauernde Nachentladungen, was die lang anhaltenden emotionalen Reizantworten erklärt. Es ist somit verständlich, dass Erregungen im limbischen System zu Emotionen und somit zu psychischen Störungen führen. Es kann aber auch zu vegetativen Störungen kommen, wie Blutdruckerhöhung, Störung der Atmung oder abnormes Schwitzen. Weitere zentrale Schmerzintegrationen finden im Frontallappen und im Hypothalamus statt. Eine schmerzregulierende Wirkung wird dem System Frontalhirn, Hypothalamus, zentrales Höhlengrau, Raphekerne und Substantia gelatinosa zugeschrieben. Daraus lässt sich ableiten, dass der Schmerz individuell wahrgenommen wird. Jeder empfindet den Schmerz anders. Derselbe Schmerz kann für eine Person sehr intensiv, für eine andere dagegen nur schwach sein. Psychische Reaktionen nach Traumatisierungen sind somit eine geradezu logische Konsequenz. Wenn sich ein Kind verletzt, schreit es; ein Erwachsener reagiert komplexer, wobei die Form der psychischen Reaktionen individuell und weitgehend durch Biographie und Persönlichkeit bestimmt sind.
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] Erste psychische Reaktionen nach dem Unfall Grundsätzlich lassen sich psychische Reaktionen nach Unfällen weder steuern noch voraussagen. Sie sind in der Regel archaisch: Kommen aus dem Unterbewusstsein als Reaktion auf die hereinbrechende Gewalt. Erste Reaktionen nach dem Knall sind häufig Wut und Aggressionen und sind logischerweise gegen den Unfallverursacher gerichtet. „Warum konnte er nicht rechtzeitig bremsen? Warum musste das ausgerechnet mir passieren?“ Es kann auch nur Betroffenheit oder Fassungslosigkeit sein, dass man unschuldig zum Unfallopfer geworden ist. Aus diesen Verhaltensmustern lässt sich aber nicht ablesen, ob im weiteren Verlauf psychische Störungen auftreten oder nicht. Ein Wutausbruch nach einem Unfall kann befreiend sein. Es können aber auch Hass- und Rachegefühle entstehen und wenn diese andauern, ist die Gefahr der Entstehung psychischer Störungen groß. Eine wichtige Rolle für die Entstehung psychischer Störungen kommt dem Verhalten des Unfallverursachers zu. Ist er verständnisvoll, entschuldigt er sich für sein Fehlverhalten, bemüht er sich um sein Opfer auch nach der Zeit des Unfalls, ist viel an Druck vorweggenommen. Aus dem Praxisalltag wissen wir jedoch, dass ein solch vorbildliches Verhalten die Ausnahme ist. Desinteresse, Beschimpfungen bis Fahrerflucht sind an der Tagesordnung. Die Heftigkeit eines Unfalls ist mehrheitlich von untergeordneter Bedeutung. Für den Betroffenen kann ein äußerlich leichtes Ereignis mit nicht sonderlichen Kollisionskräften als äußerst heftig empfunden werden, aber auch das Umgekehrte kommt vor. Die als heftig empfundenen Ereignisse haben den Nachteil, dass sie im späteren Verlauf eher psychische Störungen verursachen. Nicht unbedeutend ist die soziale Stellung des Opfers. Ein sozial integriertes Opfer neigt erfahrungsgemäß viel weniger zu psychischen Störungen als ein Opfer, welches am Rande der Gesellschaft lebt.
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] Psychische Störungen bei anhaltenden Beschwerden nach HWS-Trauma Je länger die Schmerzen andauern, in der Regel sind es Nacken- und Kopfschmerzen, desto höher ist die Gefahr der Entstehung psychischer Störungen. In erster Linie sind es Depressionen, die auftreten – was verständlich ist. Die ständigen Schmerzen wirken zermürbend und belasten die Psyche. Diagnostisch handelt es sich somit um eine reaktive Depression als Antwort auf den chronischen Schmerz. Neurophysiologisch bewirkt die ständig erhöhte Aktivität in der zentralen Schmerzverarbeitung eine erhöhte Aktivität im limbischen System und wahrscheinlich auch in anderen, noch unbekannten Systemen. Neurochemisch kommt es zu einer Aktivierung serotonerger Systeme, was beim Betroffenen zu einer depressiven Verstimmung führt. Die Depression selber führt zu einer gesteigerten Schmerzwahrnehmung, was wiederum zu einer Aktivitätszunahme im limbischen System führt, so dass es zu einem gegenseitigen Aufschaukeln kommt. Die Depression nimmt ein zunehmend schweres Ausmaß an und der Patient gerät in eine Sackgasse. Ihn aus dieser Situation heraus zu holen, fordert vom Arzt und von allen anderen Beteiligten viel Zuwendung und Geduld. Antidepressiva haben erfahrungsgemäß wenig bis keine Wirkung. Der Patient kennt ja die Ursache seiner Verstimmung, den ständigen Schmerz. Dieser zermürbt ihn, macht ihn aggressiv, mutlos und apathisch. In solchen Situationen bleiben meistens nur noch körperorientierte Therapien, wie Entspannungsübungen oder leichte körperliche Aktivierungen. Es ist jetzt nicht einfach, den Patienten zu führen. Hinzu kommt der Druck der Versicherung, die Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt, was den Patienten und oftmals auch den Arzt zusätzlich belastet. Fehlt ein klarer Befund, der die Beschwerden erklärt, wird bald einmal von einer gestörten Schmerzverarbeitung gesprochen, was die Glaubwürdigkeit des Patienten weiter schwächt. Er gibt plötzlich Gefühlsstörungen an, manchmal einer ganzen Körperseite, ohne dass sich diese Gefühlsstörung durch ergänzende Befunde objektivieren lässt. Oder der Nackenschmerz dehnt sich in den ganzen Rücken aus, was bei normaler Beweglichkeit der Wirbelsäule und normalem Palpationsbefund der paravertebralen Muskulatur schwer nachvollziehbar ist.
Symptomenausweitungen oder Übertreibungen in der Schilderung der Beschwerden sind als Appell zu verstehen, dass der Patient nicht genügend verstanden und/oder nicht genügend ernst genommen wurde. Sie kommen am häufigsten bei Patienten vor, die sich schlecht artikulieren können, wozu in erster Linie die Fremdsprachigen mit tiefem Bildungsstand gehören. Bei der Symptomenausweitung ist immer ein organischer Kern vorhanden. Ein reines Anschwindeln von Symptomen ist selten und sollte, wenn nicht gleich in der ersten Konsultation, so doch im Laufe der Zeit erkannt werden. Wenn Schmerzen und psychische Beschwerden lang anhalten, findet man gelegentlich die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Eine solche Diagnose verlangt ein schwer belastendes Ereignis mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter körperlicher Verletzung. Typische Symptome sind wiederholte Erinnerungen, Bilder, Gedanken über den Unfall, Flashbacks (Handeln oder Fühlen, als ob das Ereignis wieder vorgekommen sei) oder Albträume. Eine Heckauffahrkollision, bei der der Patient ein Schleudertrauma der HWS erleidet, gehört in der Regel nicht in diese Kategorie. Psychotische Symptome sind selten, sie lassen sich in der Regel ambulant behandeln. Die von mir beobachteten Fälle sprachen auf niedrig dosierte Neuroleptika prompt an, und nach einigen Behandlungsmonaten konnten diese wieder abgesetzt werden. Grundsätzlich lässt sich nicht voraussagen, ob nach einem HWS-Trauma psychische Symptome auftreten oder nicht. Ungünstige Faktoren sind Wut, Rachegefühle, Unverständnis des Arztes, der Versicherungen und schlechte gesellschaftliche Integration. Wenn solche Faktoren entstehen, ist der Schritt zur Resignation und schließlich zur Depression klein. Eine erfolgreiche Behandlung ist dann fast nicht mehr möglich. Die Patienten klagen über ständige und oftmals zunehmende Schmerzen, die Therapien werden als nutzlos empfunden und die berufliche Wiedereingliederung rückt in weite Ferne. Ein neuer Teufelskreis ist entstanden. Eine nicht unwichtige Bedeutung haben die psychischen Vorerkrankungen. Ein Unfall kann weit zurückliegende psychische Traumatisierungen wieder bewusst werden lassen. Solche Vorerkrankungen haben aber nur dann eine Bedeutung, wenn nach dem HWS-Trauma psychische Symptome auftreten. Wenn im posttraumati-
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Psychische Störungen nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule
schen Verlauf keine oder nur unbedeutende psychische Symptome auftreten, haben die psychischen Vorerkrankungen keine Bedeutung mehr. In meinem Praxisalltag machte ich aber immer wieder die Erfahrung, dass den Unfallopfern in Begutachtungen solche Vorerkrankungen zu Unrecht zur Last gelegt wurden, obwohl im posttraumatischen Verlauf keine psychischen Störungen vorkamen. Die Wurzeln der psychischen Störungen sind also vielschichtig. Sie haben häufig ihren Anfang in den ersten Sekunden und Minuten nach dem Unfall. Die Hauptrolle übernimmt dann der Schmerz mit all seinen körperlichen und psychischen Belastungen. Die weitere Entwicklung verflicht sich dann zunehmend mit der psychosozialen Verfassung des Unfallopfers.
] Die „zentrale Fixierung“ des Schmerzes Ein chronischer Schmerz bedeutet neurophysiologisch eine ständig erhöhte neuronale Aktivität im entsprechenden afferenten System. Die zuständigen Hirnareale bekommen somit in tausendfachen Wiederholungen dieselbe Information „Schmerz“, welche der Kortex mit der Zeit als ein eigenständiges Programm integriert. Je nach persönlicher Veranlagung kann es nach einer gewissen Zeit zu einer Verselbständigung dieser kortikalen Schmerzaktivität kommen. Der Patient klagt dann weiterhin über Schmerzen, obwohl in der Peripherie der Schmerzauslöser längst nicht mehr vorhanden ist. Gerät ein Patient in eine solche Situation, wird er meistens nicht mehr verstanden. Er klagt über anhaltende Schmerzen, und man glaubt ihm dies nicht mehr. Der Schritt zur Diagnose der gestörten Schmerzverarbeitung ist dann klein. Die Schmerzphysiologie sagt jedoch etwas Anderes und lässt eine solche Schlussfol-
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gerung niemals zu: Es hat eine kortikale Verselbständigung des Schmerzes stattgefunden, die ohne den erlittenen Unfall niemals zustande gekommen wäre. Die Behandlung des zentral fixierten Schmerzes ist eine weitere Herausforderung und verlangt viel Geschick und Geduld aller Beteiligten. In erster Linie ist die Psychotherapie gefordert. Gelingt es dem Therapeuten, das Wesen dieses Schmerztyps verständlich zu machen, ist ein wichtiger Schritt getan. Antidepressiva können unterstützend wirken, Schmerzmittel sollten dagegen vermieden werden. In meinem Praxisalltag mache ich immer wieder die Erfahrung, dass bei derartigen Schmerzpatienten enorme Mengen an Schmerzmitteln eingenommen werden. Oft liegt ein eigentlicher Abusus vor mit all seinen Konsequenzen, wie gastrointestinale Folgekrankheiten, oder die Schmerzmittel selber verursachen Schmerzen; am bekanntesten ist das Schmerzmittelkopfweh.
Literatur 1. Berde CB (1996) Technical corner from Newsletter September/October 1996. International Association for the Study of Pain 2. Brodal A (1981) Neurological anatomy in relation to clinical medicine, the somatic afferent pathways. Oxford University Press 3. Joslin CC, Kahn SN, Bannister GC (2004) Longterm disability after neck injury. A comparative study. J Bone Joint Surg Br 86:1032–1034 4. Mayou R, Bryant B (2002) Psychiatry of whiplash neck injury. Br J Psychiatry 180:441–448 5. Thomann K-D, Rauschmann M (2003) Die „posttraumatische Belastungsstörung“. Urban & Fischer, Med hist J:103–138
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38 Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung P. Henningsen
Einleitung Auseinandersetzungen um die Hintergründe und die Bedeutung des sog. Halswirbelsäulen (HWS)-Schleudertraumas konzentrieren sich häufig auf die Frage, inwieweit sich an der HWS oder im Hirnstamm und Rückenmark organische Schädigungen finden lassen, die die Beschwerden des Betroffenen ausreichend erklären. Immer wieder findet sich ein regelrechter Streit der Experten: wo der eine mit speziellen Methoden bedrohliche Befunde und zwingende Indikationen zu operativen Interventionen sieht, findet der andere nur Normalbefunde. Der als pathologisch interpretierte Befund gilt mehr oder weniger explizit als Nachweis, dass die Beschwerden legitim und entschädigungswürdig sind, die Interpretation als Normalbefund oder unwesentliche Bagatelle dagegen wird verstanden als Nachweis, dass sich der Patient die Beschwerden einbilde oder gar simuliere. Eine weitere Möglichkeit wird häufig von Patienten, Behandlern und Gutachtern übersehen, und davon soll dieser Beitrag handeln. Dass das sog. HWS-Schleudertrauma „in Wahrheit“ eine somatoforme Störung darstellt – die zum Teil auch erheblichen Schweregrad haben und ggf. entschädigungswürdig sein kann.
Somatoforme Störungen Somatoforme Störungen sind primär definiert als anhaltende Körperbeschwerden, für die sich trotz angemessener Untersuchung keine ausreichende organische Erklärung finden lässt. In der Primärversorgung fallen ca. 25% aller Patienten in diese Kategorie, in der somatischen Fachversorgung je nach Fachrichtung zwischen 5 und über 50%. Drei Typen somatoformer Körperbeschwerden bestimmen das klinische Bild:
] Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation (am häufigsten Kopf, Rücken, Extremitäten) ] Funktionsstörungen (Herz-Kreislauf, MagenDarm, Schwindel, Zittern, Gefühlsstörungen etc.) ] Erschöpfung/Müdigkeit, inklusive geistiger Erschöpfbarkeit und Konzentrationsstörungen. Das Gefühl körperlicher Schwäche ist ein besonders typisches Charakteristikum somatoformer Störungen. Charakteristischerweise treten mehrere, im Zeitverlauf wechselnde Beschwerden auf. Während bei einzelnen Beschwerden das Ausmaß der organischen Erklärbarkeit zwischen Untersuchern nicht selten umstritten ist, steigt bei wachsender Zahl von unklaren Körperbeschwerden die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht Ausdruck einer organischen Erkrankung, sondern einer somatoformen Störung sind. Für das Stellen der Diagnose einer somatoformen Störung ist aber nicht nur die Zählung entsprechender Körperbeschwerden wichtig. Von entscheidender Bedeutung ist ein Aspekt, der sich aus der allgemeinen Definition ergibt, die sich im IDC-10 am Anfang des Kapitels F45 „Somatoforme Störungen“ findet und die 4 Punkte enthält: ] Wiederholte Darbietung körperlicher Symptome. ] Hartnäckige Forderung nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. ] Patienten widersetzen sich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren. ] Das zu erreichende Verständnis für die Verursachung der Symptome ist häufig für Patienten und Arzt enttäuschend.
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„Somatoforme Störung“ ist somit eine Diagnose, die nicht nur durch eine Symptomatik definiert ist, sondern durch das Erklärungsmodell des Patienten, also seine Art, die Symptome zu präsentieren, über das Symptom zu denken und sich bzgl. des Symptoms zu verhalten. Von dieser körperlichen Krankheitsüberzeugung lassen sich viele Patienten mit somatoformen Störungen schwer abbringen; vielmehr suchen sie nach Ärzten, die ihrem Krankheitskonzept zustimmen und darauf bezogen rasch und umfassend wirksame Behandlungsmethoden anbieten. In therapeutischen Ansätzen, die auf dieses Ansinnen eingehen und die nicht selten aus medizinischen Randbereichen stammen, kommt es zur vorübergehenden Entlastung des Patienten, mit einiger Regelmäßigkeit folgt aber der Symptomrückfall und die zunehmende Enttäuschung des Patienten. Somatoforme Störungen lassen sich auch als „Beziehungsstörungen im Gesundheitswesen“ beschreiben. Für den Patienten geht es darum, dass einzig eine nachgewiesene organische Störung eine legitime Krankheit sei. Viele Interaktionsschwierigkeiten lassen sich als „Kampf um Legitimität“ der Beschwerden verstehen. Somatoforme Störungen werden häufig von depressiven oder Angststörungen begleitet. Somatoforme Störungen unterteilen sich in einzelne Formen, von denen die Somatisierungsstörung im engeren Sinn, das ist die seltene Extremform somatoformer Störungen mit mehrjährigen multiplen Beschwerden und deutlicher Beeinträchtigung, sowie die somatoforme Schmerzstörung, die bei einer anhaltenden somatoformen Schmerzbeschwerde vergeben werden kann, die bedeutsamsten sind. Ein praktisches Problem der diagnostischen Klassifikation besteht darin, dass somatoforme Störungen in den für das Leitsymptom zuständigen somatisch-medizinischen Fachgebieten häufig als funktionelle Störung diagnostiziert werden, z. B. als Reizdarm-Syndrom (ICD-10, K58), in der Gastroenterologie oder Fibromyalgie (ICD-10, M79) in der Rheumatologie. Solche symptombezogenen Diagnosen werden vom Patienten besser akzeptiert, weil ihnen der stigmatisierende Psychoaspekt fehlt; sie begünstigen jedoch zugleich die Fixierung des Patienten auf die somatische Ursachenüberzeugung. Auf Behandlerseite unterstützen sie einen Scheuklappenblick auf das jeweilige Leitsymptom, die regelhaften Überlappungen mit anderen somatoformen Beschwerden sowie mit Depressivität und Angst gerät gar nicht erst in den Blick.
Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung
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Angesichts der Tatsache, dass sich eine periphere Organpathologie als Ursache somatoformer Störungen per definitionem nicht finden lässt, stellt sich die Frage, was das physiologische Korrelat dieser Beschwerden sein könne. Die frühere Annahme, dass funktionelle Überaktivierungen der peripheren Organe z. B. via autonomem Nervensystem dieses Korrelat darstelle, ließ sich empirisch nie sichern. Heute geht man eher von Störungen der Körperrepräsentanz im Gehirn aus, d. h. Überaktivierungen in denjenigen Arealen des Gehirns, die die sensorischen, affektiven und auch kognitiven Anteile des Körpererlebens repräsentieren. Die modernen Untersuchungen der Hirnfunktionen z. B. mit funktioneller Kernspintomographie belegen eindrücklich, dass das Erleben auch von gar nicht körperlich, sondern psychosozial, z. B. durch Hypnose oder in einem unfairen Spiel ausgelöste Schmerzen und unangenehme Empfindungen, mit der Aktivität dieser Areale u. a. im limbischen System und im somatosensorischen Kortex korreliert. Insofern kann man sagen, dass es für „psychisch“ ausgelöste Schmerzen genauso eine körperliche Basis im Sinne der neurobiologischen Korrelate gibt wie für „körperlich“ ausgelöste, sie sind nicht weniger real. In der Disposition für somatoforme Störungen sind genetische Faktoren nicht klar gesichert, belastende Beziehungserfahrungen in der Kindheit erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit einer späteren Erkrankung, ebenso eine langanhaltende übermäßige Arbeitsleistung („workaholic“), die nicht reiner Lust am Schaffen entspringt, sondern der Kompensation von Selbstwertunsicherheiten dient. Somatoforme Störungen können durch unlösbare Konfliktspannungen und Stressoren ausgelöst werden, auch durch äußere Anlässe wie organische Erkrankungen oder auch Unfälle. Gelegentlich spielen auch Medienberichte eine auslösende Rolle: wenn die schädigende Wirkung von bestimmten Stoffen, z. B. Zahnamalgam oder Elektrosmog, verbreitet wird, dient das regelhaft Menschen als Erklärung ihrer unspezifischen Beschwerden, ganz unabhängig davon, ob die entsprechenden Zusammenhänge wissenschaftlich haltbar sind oder nicht. Aufrechterhalten werden somatoforme Störungen nicht zuletzt durch ärztliches Verhalten: Überhören von Hinweisen auf psychische Belastungen, vorschnelle Mitteilung ungesicherter organischer Verdachtsdiagnosen oder anhaltende or-
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ganische Diagnostik und Therapie fixiert die Überzeugung des Betroffenen, an einer organischen Erkrankung zu leiden. Die Tatsache des Versichertseins, also der Anspruch auf Entschädigung, trägt auch zur Chronifizierung somatoformer Beschwerden bei – wobei aber wichtig ist, dass dieser Zusammenhang in den allermeisten Fällen unbewusst vermittelt ist im Sinne der sog. operanten Konditionierung, die keinesfalls mit bewusster Aggravation oder Simulation verwechselt werden darf. Therapeutisch sind somatoforme Störungen einer psychosomatischen-psychotherapeutischen Behandlung zugänglich, wobei besonderes Augenmerk auf die Anfangsphase der Behandlung gelegt werden muss: Wenn man dem Patienten verdeutlichen kann, dass es um Unterstützung bei der Bewältigung der Beschwerden und nicht um die Heilung einer unterstellten psychischen Ursache geht, lässt sich in der Mehrzahl der Fälle ein tragfähiges Arbeitsbündnis herstellen und deutliche Besserungen der symptombedingten Beeinträchtigungen erreichen. Eine Haltung des „Sowohl-als-auch“ statt eines „Entweder-Oders“ von organischen und psychosozialen Faktoren in der Erklärung wie in der Behandlung dieser Störungen ist dabei hilfreich. Kompetente Krankengymnastik und bei Bedarf psychopharmakologische Medikation sind insofern auch Teil dieser Behandlung. Grundsätzlich ist gestufte Aktivierung ein wichtiges Prinzip dieser Behandlungen, während anhaltende Schonung vermieden werden sollte [1, 2].
Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung: was bedeutet das? Aus der obigen Beschreibung ergibt sich bereits, warum das sog. HWS-Schleudertrauma häufig auch als somatoforme Störung angesehen werden kann: ] Die Beschwerden reichen oft weit über lokale Schmerzen im HWS-/Nackenbereich hinaus und gehen mit einem starken Gefühl körperlicher Schwäche einher, sie chronifizieren über ein Akutstadium von einigen Wochen hinaus und sind in den allermeisten Fällen nicht durch übliche organische Diagnostik erklärbar.
] Es gibt einen offenkundigen Auslöser in einem Unfall, nicht selten trifft es dabei Menschen, die vor dem Unfall sehr arbeitsam waren. ] Schon die Bezeichnung legt ein bestimmtes organisches Erklärungsmodell (Entstehung von Schmerzen und anderen Beschwerden durch ein Trauma der HWS) nahe, das durch das Verhalten von Ärzten weiter fixiert werden kann (zu den oben erwähnten iatrogenen Faktoren kommt spezifisch Schonung und Fixierung durch langanhaltende Verordnung einer Schanzschen Krawatte hinzu). Psychische Faktoren werden meist vehement als Faktoren der Beschwerdeaufrechterhaltung abgelehnt. Weil die Bezeichnung wegen dieser Bahnung der Ursachenüberzeugung nicht unproblematisch ist, wurde im Titel und anderswo „so genannte“ vorgesetzt. ] Entschädigung spielt gerade beim häufigsten Auslösemechanismus, dem Auffahrunfall mit Kfz, regelmäßig eine wichtige Rolle. Die Zuordnung als somatoforme Störung erfordert selbstverständlich auch eine professionelle Differentialdiagnose im psychisch/psychosomatischen Bereich: Überprüft werden muss u. a. das Vorliegen einer eigenständig behandlungsbedürftigen Depression oder Angststörung sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung. Für Anhänger des Konzepts des HWS-Schleudertraumas als einer organisch begründbaren Störung muss diese Zuordnung zwangsläufig inakzeptabel sein. Sie werden vor allem darauf verweisen, dass die Fortschritte der Wissenschaft schon oft Erklärungen für unklare Körperstörungen geliefert haben, die anfangs fälschlich als psychisch verursacht angesehen wurden. Das ist im Prinzip zwar richtig, und Vorsicht ist immer in beiden Richtungen angebracht, aber es ist auch so, dass die Forschung in den letzten Jahren eindeutig erwiesen hat, dass die Chronifizierung und Prognose von Schmerzen, soweit sie nicht tumor-bedingt sind, generell nicht von organischen, sondern von psychosozialen Faktoren (z. B. Depressivität und Angst, aber auch Ausmaß der sozialen Unterstützung etc.) bestimmt wird – auch dann, wenn die Auslösung der Schmerzen klar organisch begründbar (und insofern die Diagnose einer somatoformen Störung gar nicht gerechtfertigt) ist [2]. Was sind die Konsequenzen aus der Zuordnung des HWS-Schleudertraumas zu somatoformen Störungen? Am wichtigsten ist vielleicht
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die Feststellung, dass es sich auch dann um eine ernstzunehmende, legitime, oft sehr beeinträchtigende und ggf. entschädigungswürdige Erkrankung handelt. Darüber hinaus ergibt sich aus dieser Zuordnung natürlich eine Umorientierung in Diagnostik und Therapie. Die Diagnostik sollte frühzeitig das gesamte Muster an Körperbeschwerden sowie mögliche psychische Symptome erfassen und sich auch ein Bild von der psychosozialen Lage des Betroffenen machen, darüber hinaus sollte sie – nach angemessenem Ausschluss gravierender organischer Ursachen – die Fixierung des Patienten auf eine organische Ursache vermeiden. Therapeutisch sind nach einer Akutphase, in der Schonung und Analgesie angemessen sein können, möglichst frühzeitig gestufte Aktivierung, ggf. mit krankengymnastischer Unterstützung anzustreben. Eine möglichst frühzeitige Unterstützung und Klärung der Entschädigungsansprüche verbessert vermutlich ebenfalls die Prognose der
Das sog. HWS-Schleudertrauma als somatoforme Störung
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Erkrankung. Je mehr es gelingt, den Patienten davon zu überzeugen, dass er an einer vorübergehenden, durch (nicht überzogene) Eigenaktivität positiv beeinflussbaren Störung leidet, desto eher wird sie auch vorübergehender Natur sein. Je mehr der Patient davon überzeugt ist, dass er selbst machtlos, die Situation seiner HWS bedrohlich und die Prognose ungünstig ist, desto eher wird es so kommen.
Literatur Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007) Management of functional somatic syndromes. Lancet 369: 946–955 Schiltenwolf M, Henningsen P (2006) Muskuloskelettale Schmerzen: Diagnostizieren und Therapieren nach biopsychosozialem Konzept. Dt Ärzteverlag, Köln
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39 Schleudertrauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) A. Möllering
Traumadefinition Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS ICD-10: F43.1) (PTSD Posttraumatic stress disorder) ist eine klar umschriebene Traumafolgestörung, die durch drei Symptomkomplexe gekennzeichnet ist: Intrusionen, Hyperarousal und Vermeideverhalten. PTBS tritt im Anschluss an ein oder mehrere traumatische Ereignisse auf. Im ICD-10 [8] wird die Symptomatik der Intrusionen und des Vermeideverhaltens zur Diagnosestellung gefordert. Die Hyperarousalsymptomatik tritt meist auf, ist für die Diagnosestellung aber nicht zwingend gefordert. Im DSM-IV ist neben den Symptombereichen Intrusionen und Vermeideverhalten auch eine Hyperarousalsymptomatik zur Diagnoseerstellung erforderlich (Definition der PTBS nach ICD-10 und DSM-IV s. S. 301). Voraussetzung für die Vergabe der Diagnose in beiden Diagnosekategorien ist, dass ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat. Ohne traumatisches Ereignis gibt es keine Traumafolgestörung. Und damit ergibt sich bereits ein erstes Problem, wenn eine PTBS als mögliche Folgeerkrankung im Rahmen eines Schleudertraumas diskutiert wird. Im ICD-10 ist die Traumadefinition wie folgt festgelegt: (. . . diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion) auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (ICD-10, F43.1 . . . 1). Bei der Beschreibung des Schleudertraumas wird nun i. d. R. betont, dass es sich um einen Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus mit einem Energietransfer zum Nacken handelt, der meist eine Folge von Auffahrunfällen oder anderen Verkehrskollisionen ist, aber auch durch andere Unfälle entstehen kann. Oft handelt es sich
um Bagatellunfälle. Dass schwere Unfälle mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einhergehen ist sicherlich mittlerweile unbestritten. Vergleicht man nun die Ursachen, die i. d. R. zu einem Schleudertrauma führen mit der Definition „ . . . mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde . . .“, so muss gesagt werden, dass nicht davon auszugehen ist, dass Auffahrunfälle etwa bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen. In der Literatur wird jedoch häufig genau dieser Zusammenhang beschrieben (vgl. Buitenhuis et al. 2006 [1], Sterling M et al. 2006 [5], Ursano RJ et al. [6], Jaspers JP [3]). Dies erklärt sich nicht zuletzt damit, dass im internationalen Forschungsbereich in der Regel nicht die Traumadefinition nach ICD-10, sondern nach DSM-IV verwendet wird. In Deutschland ist mit der Bindung an die ICD-10 die Traumadefinition in die Bewertung des Betrachters gestellt. Der Diagnostiker entscheidet, ob ein Ereignis ausreicht, um sagen zu können, dass es bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde oder ein katastrophenartiges Ausmaß annimmt. Diese eher Betrachter-subjektive Begriffszuschreibung ist sicherlich nicht unproblematisch. Im Gegensatz zur ICD-10 bedient sich etwa auch das DSM-IV einer anderen Begriffsklärung. Hier sind die geforderten Voraussetzungen zur Erfüllung des Traumakriteriums: ] (DSM-IV Kriterium A (Traumakriterium): Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: (1) die Person erlebte oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltete
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Schleudertrauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
(2) die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen (bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern). Dadurch ist das Traumakriterium wesentlich weiter gefasst und v. a. um die subjektive Bedeutung des Ereignisses für den Betroffenen ergänzt worden. Unter dem Aspekt der subjektiven Bedeutung für den Betroffenen, was auch als „subjektive Realität“ gegenüber einer „objektiven Realität“ bezeichnet werden kann, können auch Bagatellverkehrsunfälle im DSM-IV unter bestimmten Umständen die Traumakriterien erfüllen. Doch auch in der engen ICD-10 Traumadefinition kann das Traumakriterium bei sog. Bagatellunfällen erfüllt sein. Dazu ein Fallbeispiel:
Fallbeispiel 1 Frau A. kam am Stauende gerade noch mit ihrem Wagen zum Stehen, ihre beiden kleinen Kinder weiß sie sicher angeschnallt auf dem Rücksitz. Da sieht sie im Rückspiegel einen Pkw ungebremst auf das Stauende zufahren. Sie realisiert sofort, dass sie nicht mehr die Möglichkeit hat, noch rechtzeitig aus dem Auto zu kommen, um ihre Kinder vor dem Aufprall zu schützen. Sie ist sich sicher, der Pkw fährt auf ihr Auto auf. Der Fahrer konnte jedoch zuvor noch erheblich abbremsen. Die Kinder bleiben unverletzt. Die Mutter jedoch erleidet ein Schleudertrauma und einen Schock. Von außen betrachtet ein Unfall, der glimpflich verlief. Was ist die Sicht der Mutter? Ist das ein Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde? Dazu muss man aus der biografischen Anamnese wissen, dass Frau A. als Kind mit ihren Eltern, auf dem Rücksitz sitzend, einen schweren Auffahrunfall erlebte, bei dem der neben ihr sitzende Bruder sehr schwere Verletzungen erlitt. Frau A. hatte damals das Ereignis dank ihres aktiven Stiles, Probleme zu bewältigen, ohne psychische Auffälligkeit überstanden. Für den Augenblick, als sie im Rückspiegel das Auto auf ihr Auto zukommen sieht, und sie nicht weiß, ob dieses noch rechtzeitig zum Stehen kommen wird, berichtet sie in der Exploration einen Zustand von Hilflosigkeit, da sie glaubt, die antizipierte massive Bedrohung für ihre Kinder und für sich nicht abwenden zu können. Hier wiederholt sich eine biografische Erfahrung.
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In der ICD-10-Klassifikation bleibt es nun in der Hand des Betrachters, ob diese Situation insbesondere vor dem Hintergrund der Biographie die Traumakriterien erfüllt. Damit ist nicht nur die Tatsache des Auffahrunfalles alleine von Bedeutung, sondern das subjektive Erleben der Gesamtsituation. Dies scheint ein Extrembeispiel zu sein. Die klinische Realität einer Traumaambulanz zeigt aber immer wieder, dass auch scheinbare „Bagatellereignisse“ das Vollbild einer PTBS auslösen, wogegen objektiv schlimmste Ereignisse nicht zu einer solchen Erkrankung führen müssen. Ein aus psychosomatischer Sicht wesentlicher Gesichtspunkt ist die genaue biografische Exploration der Betroffenen. Nur darüber ist zu erfahren, ob es durch das Ereignis zu einer Überforderung der Bewältigungsmechanismen kommt. Es geht darum, das Verhältnis von subjektiver Realität und objektiver Realität zu ermessen und zu bewerten. Damit verdeutlicht das Fallbeispiel die Komplexität der Thematik. Ob, wann und wie die bewährten eigenen Bewältigungsmechanismen greifen oder zum Erliegen kommen, das hängt von multiplen objektiven und subjektiven Faktoren ab (vgl. Wagner et al. [7]).
Epidemiologie Die Lebenszeitprävalenz der PTBS wird für die Allgemeinbevölkerung laut AWMF (Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften) mit 2–7% angegeben, wobei subsyndromale Störungsbilder als wesentlich höher eingeschätzt werden. Die Wahrscheinlichkeit einer PTSD nach Verkehrsunfällen wird mit 15% angegeben (vgl. Flatten et al. [2]). An dieser Stelle sei allerdings auch erwähnt, dass in der Literatur auch immer wieder deutlich geringere Prävalenzwerte zu finden sind (Schnyder [4]). Unfälle jeglicher Art sind häufige Ereignisse. Eigentlich ist davon auszugehen, dass Traumafolgestörungen in diesem Bereich nicht selten sind. Es ist eine interessante Frage, warum das eher wenig im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist, trotz des damit verbundenen Leids für die Betroffenen und auch der finanziellen Auswirkungen für die Gesellschaft.
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Risikofaktoren, protektive Faktoren Zur Frage nach Risikofaktoren und protektiven Faktoren im Rahmen von Traumatisierungen gibt es mittlerweile vielfache Untersuchungen, in denen immer wieder Faktoren wie Alter, Geschlecht, sozialer Status, Vortraumatisierungen, Komorbiditäten herausgestellt werden. Wichtige Faktoren scheinen aber insbesondere auch die soziale Unterstützung und die peritraumatische Dissoziation zu sein. Peritraumatische Dissoziation beschreibt eine Veränderung des normalen Zeit-, Raum- und Selbsterlebens in der traumatischen Situation. Das Geschehen wird wie ein Film erlebt, als wäre man nicht Teil des Geschehens. Oft erfolgt ein automatisches Handeln, als sei der eigene Körper nicht betroffen. Hierbei handelt es sich initial um einen Schutzmechanismus, der jedoch im weiteren Verlauf als Risikofaktor gewertet werden kann. Es hat sich aus klinischer Sicht als hilfreich erwiesen, darauf zu achten, ob Betroffene diese peritraumatische Dissoziation erlitten haben, und inwieweit diese dissoziativen Zustände anschließend wieder rückläufig waren. Gleichzeitig berichten viele Betroffene nach traumatischen Erlebnissen darüber, wie wichtig die sich anschließende soziale Unterstützung war. Auch hieran sollte man denken, gerade auch dann, wenn Verletzungsfolgen nicht so offensichtlich sind, die Betroffenen aber noch einen hohen Leidensdruck aufweisen. Mangelnde soziale Unterstützung kann sich durch allgemeine schwierige soziale Umstände zeigen (fehlende familiäre Unterstützung, finanzielle Schwierigkeiten etc.) aber auch durch Reaktionen von Ersthelfern gekennzeichnet sein. So ist es nicht selten für Betroffene erheblich belastend, wenn z. B. im Rahmen eines Bagatellunfalles eine berichtete Symptomatik verlacht wird oder Unterstützung (z. B. Information von Angehörigen, Begleitung zur Polizei etc.) versagt bleibt.
Neurobiologie Die neurobiologische Forschung der letzten Jahre hat noch einmal entscheidend zum Verständnis der Folgen psychischer Traumatisierungen beigetragen und unterstreicht, dass sich nicht nur eine veränderte Stressphysiologie finden lässt, sondern dass auch hirnstrukturelle Verän-
derungen beschrieben werden können. Im Zentrum der zentralnervösen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen stehen hierbei die Thalamusregion sowie die im limbischen System direkt benachbarten Strukturen von Amygdala und Hippocampus. Der Mandelkern (Amygdala) fungiert hierbei quasi wie eine Alarmzentrale, die die eingehenden Informationen affektiv bewertet. Die Amygdala (implizites Gedächtnis) kann somit im Sinne einer Notfallreaktion entsprechende vegetative und motorische Reaktionsmöglichkeiten vermitteln. Im Hippocampus wird dann – parallel zur affektiven Bewertung der Amygdala – eine Kontextualisierung der Information vorgenommen, die eine Bewertung der eingehenden Informationen hinsichtlich Zeit und Raum bedingt (explizites Gedächtnis). Die affektive Bewertung im Sinne einer Notfallreaktion ist für Menschen unabdingbar, um das Überleben der Art zu garantieren. Hierzu ein Beispiel: Man stelle sich vor, man macht Urlaub in einem Dschungelcamp und erkundet die Umgebung. Plötzlich sind unbekannte Geräusche zu hören und es ragen unbekannte Ohren aus dem Gras auf. In dieser Situation empfiehlt es sich, dass der Körper eine Notfallreaktion in Gang setzt, um – sollte es sich um ein gefährliches Tier handeln – umgehend mit Flucht oder Kampf reagieren zu können. Erst wenn dann z. B. deutlich wird, dass es sich um einen Pflanzenfresser handelt, das Tier sich zeigt, und zu erkennen ist, kann man hippocampal und zuletzt kortikal vermittelt mit dieser Situation angemessen umgehen. Was passiert aber nun bei einem traumatischen Ereignis, in dessen Folge sich eine PTSD ausbildet? Im Rahmen eines traumatischen Ereignisses findet sich zunächst einmal auf neurobiologischer Ebene eine wie oben beschriebene Notfallantwort des Körpers (Amygdala!). Diese initiale Reaktion ist erforderlich, um dem Individuum die Möglichkeit zu geben, auf Gefahrenreize mit einer angemessenen sympathikogenvermittelten Reaktion antworten zu können: „Fight-Flight!!!“. Eine traumatische Situation ist allerdings dadurch gekennzeichnet, dass dem Organismus eine angemessene Kampf- oder Fluchtreaktion, die eine Lösung der Situation mit sich bringen würde, nicht möglich ist, sondern die Bewältigungsmechanismen überfordert sind. In einem Auto an einem Stauende angeschnallt sitzend, das Auto hinter einem im Rückspiegel ungebremst auf das eigene Auto zufahren sehend, kann man weder kämpfen noch fliehen! Dies kann zu
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einem Verharren in einer sympathikogen gesteuerten Reaktion führen, die sich wie folgt zeigen kann: Übererregtheit, Unruhe, Gereiztheit, Konzentrationsstörung, Herzrasen, Blutdruckanstieg, Muskulaturversteifung etc. oder zu einer parasympathikogen gesteuerten Reaktion im Sinne eines „Einfrierens, Totstellreflexes“. Dies kann sich äußern in einem Gefühl der Erstarrung, absoluter Empfindungslosigkeit und ist etwa der Totstellreaktion (z. B. Oppossum) bei Tieren vergleichbar. Warum ein Mensch auf die ein oder andere Art und Weise reagiert, ist noch nicht genau geklärt. Oftmals sind diese Reaktionen von außen auch nur schwer zu erkennen, wobei es vielen Betroffenen auch schwer fällt, hierüber zu sprechen. Diese Reaktionen gehen selbstverständlich mit entsprechenden Körperreaktionen einher. So kann es etwa über diesen Mechanismus – über das eigentliche Schleudertrauma hinaus gehende – stressbedingte Kontraktionen der Skelettmuskulatur geben, was eine weitere Fehlstellung der Wirbelsäule mit bedingen kann. Da im Rahmen traumatischer Erlebnisse darüber hinaus eine „Desorientierung“ auch in der Zeit besteht, werden Körpersymptome i. d. R. übermäßig wahrgenommen und als Bedrohung interpretiert („als wäre der Betroffene noch in der primär traumatischen Situation“), was wiederum im Sinne eines Circulus vitiosus zu einer erhöhten Aktivierung der Stressachse führen kann. Da traumatische Ereignisse oftmals schon durch Bagatellreize wieder reaktiviert werden können (Hören einer Sirene, Quietschen von Autoreifen etc.), ist es den Betroffenen oft nicht möglich, das Erlebte als ein Ereignis der Vergangenheit zu interpretieren, sondern sie „rutschen“ quasi erneut in diese Situation mit allen Körperreaktionen. Wenn sich nach einem Bagatellunfall und einem Schleudertrauma auch eine posttraumatische Störung entwickelt hat, so kann man heute schon davon ausgehen, dass das Vollbild einer PTBS nach einem Bagatellunfall bei einem psychisch zuvor unauffälligen Menschen doch eher die Ausnahme darstellt und einer besonderen Konstellation bedarf (siehe Beispiel der Mutter mit den Kindern auf dem Rücksitz). Dennoch dürfte es sehr viel häufiger sein, dass auch Bagatellunfälle für Betroffene ein traumatisches Ereignis darstellen in dem Sinne, dass es ein Ungleichgewicht zwischen äußeren Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten gibt, und „alte“ Muster, die zwar partiell bewältigt werden
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konnten, wieder aufbrechen. Wenn man nun davon ausgeht, dass ein Bagatellunfall eine bestimmte Situation konstelliert, etwa das Erleben von völliger Hilflosigkeit und Ohnmacht oder das Gefühl einen „schweren Schlag“ zu bekommen, ohne sich wehren zu können, so kann dies, besonders wenn es eine Entsprechung dieser Themen in der Vergangenheit (auch ohne bisherigen Krankheitswert!) gibt, zu einer posttraumatischen Symptomatik führen und den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen (subjektive versus objektive Realität).
Fallbeispiel 2 Herr B. ist ein Mann mittleren Alters, der in seiner Kindheit durch einen sadistischen Vater sehr gequält wurde, keinen Schutz durch die Mutter erhielt und sich durch einen aktiven Bewältigungsstil stabilisierte. Über viel Engagement und Arbeit erlangte er eine führende Position und vermied Situationen, in denen er sich abhängig oder ohnmächtig fühlen könnte, durch Aktivität: „Er hatte alles im Griff“. Wenn dieser Mann nun in einer vielleicht schwierigen Lebenssituation (Belastungen am Arbeitsplatz, Konflikte in der Familie, eigene vorausgegangene körperliche Erkrankung etc.) in einen Unfall verwickelt wird, bei dem ihm ein Autofahrer die Vorfahrt nimmt und in die Seite seines Autos fährt, so kann die Situation des Erlebens des Aufpralls u. U. ein „altes“ Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht seiner Kindheit reaktivieren und seine erworbenen aktiven Copingmechanismen außer Kraft setzen, was u. U. neben einem Schleudertrauma zu einer posttraumatischen Symptomatik mit Chronifizierungstendenz führt, wenn dies nicht entsprechend erkannt wird.
Sekundärer Krankheitsgewinn und Identitätsstiftung über den Unfall Sicherlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass je nach Begleitumständen auch der sekundäre Krankheitsgewinn sowohl bei der PTSD als auch beim Schleudertrauma nicht außer Acht gelassen werden darf. Wobei hier mehrere Ebenen zu unterscheiden wären. Die eine Ebene könnte sein, dass es über das Erleben der körperlichen Beeinträchtigung und des „sich
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Kümmerns“ anderer zu einer Reaktivierung früherer Bedürftigkeit kommt. „Endlich versteht jemand das Leid, über das bisher nie gesprochen werden konnte“. Somit könnte es unbewusst zu einer Verankerung in diesen Unfall kommen, dem unbewusst eine viel größere Bedeutung zugeschrieben wird, als ihm zukommt, und über den andere Themen abgehandelt werden; „Kampf um Legitimation, Anerkennung, endlich einmal nicht stark sein müssen etc.“. Eine andere Ebene ist der reale Gewinn etwa finanzieller Art (Entschädigungszahlungen etc.) über eine bestehende Symptomatik. Wenn hier der Gewinn einer Symptomatik zu groß ist, wird es dem Betroffenen kaum möglich sein, diese Symptomatik zu verlieren, wobei betont werden muss, dass dies in der Regel unbewusste Vorgänge sind, die vom Betroffenen nicht gezielt zu steuern sind und somit deutlich von der Simulation abgegrenzt werden müssen. Die posttraumatische Belastungsstörung hat die Tendenz, oftmals innerhalb der ersten 6 Monate nach einem traumatischen Ereignis auch wieder auszuheilen, dennoch ist die Chronifizierungsgefahr nicht zu unterschätzen. Und wenn sich eine chronifizierte PTBS entwickelt hat, ist die Behandelbarkeit umso schwerer. Es sollte somit beim Auftreten eines verkomplizierten Schleudertraumas und/oder einer nicht ausreichend anders zu klassifizierenden Symptomatik auch immer an die Möglichkeit einer Traumafolgestörung wie etwa der PTBS gedacht werden, um hier Behandlungsoptionen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Unerwähnt sollte dabei auch nicht bleiben, dass neben dem Vollbild einer PTSD subsyndromale Krankheitsbilder mit z. T. v. a. körperlicher Symptomatik noch weitaus häufiger sind, aber im ICD-10 nicht ausreichend verschlüsselt werden können. Auch soll an dieser Stelle nicht auf weitere psychische Erkrankungen eingegangen werden, die sich im Anschluss an traumatische Ereignisse und belastende Lebensereignisse entwickeln können wie eine große Zahl von Anpassungsstörungen, Angsterkrankungen, depressiven Erkrankungen, somatoformen Störungen, Suchterkrankungen, dissoziativen Störungen etc.
Zusammenfassung Orientiert man sich streng an der Traumadefinition der ICD-10, so ist es eher selten, dass eine posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen eines Bagatellunfalls mit Schleudertrauma diagnostiziert werden kann. Aber schon wenn man sich die DSM-IV-Traumakriterien anschaut, ändert sich diese Situation deutlich. Da die posttraumatische Belastungsstörung eine auch heute noch oft unerkannt bleibende Erkrankung ist, die unbehandelt allerdings eine hohe Chronifizierungsgefahr birgt aber behandelt gute Heilungschancen aufweist, erscheint es sinnvoll, im Rahmen von komplizierten Verläufen eines Schleudertraumas auch eine mögliche Traumafolgestörung mit zu diskutieren. Sehr viel häufiger als eine PTBS werden sicherlich subsyndromale Störungsbilder sein, ferner finden sich viele weitere psychische Erkrankungen, die im Anschluss an einen Unfall auftreten können. Im Rahmen der „notfallvermittelten“ Körperreaktion bei Traumatisierungen ist zu berücksichtigen, dass diese Reaktionen einen ungünstigen Einfluss auf eine bestehende Schleudertraumasymptomatik haben können und diese chronifizieren können. Posttraumatische Reaktionsmuster, wie etwa die Information des Gehirns, dass es sich weiterhin um „Notfallsituationen“ handelt, führen u. U. auf längere Sicht dazu, dass „ungefährliche“ Körperwahrnehmungen katastrophisiert werden, was wiederum einen Einfluss auf die Stressreaktionen des Körpers haben kann und eine Schleudertraumasymptomatik verstärken kann. Es empfiehlt sich von daher auch bei Bagatellunfällen psychische Faktoren auch unter Traumagesichtspunkten zu berücksichtigen, und gerade bei komplizierten Verläufen auch die Frage einer möglichen Traumafolgesymptomatik nicht unbedacht zu lassen, um Betroffene hier auch entsprechenden Behandlungsoptionen zuführen zu können.
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Diagnostische Kriterien der PTBS im ICD-10 (F43.1) ] F43.1. Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren, wie bestimmte z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über.
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Diagnostische Kriterien der PTBS nach DSM-IV (1996) 309.81 A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: (1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten (2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt: (1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können (2) Wiederkehrende belastende Träume von dem Ereignis (3) Handeln oder fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder Intoxikationen auftreten (4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern (5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen ,die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens 3 der folgenden Symptome liegen vor: (1) Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen
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(2) Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen (3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern (4) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten (5) Gefühl der Losgelöstheit und Fremdheit von Anderen (6) Eingeschränkte Bandbreite des Affektes (z. B. Unfähigkeit zärtliche Gefühle zu erleben) (7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z. B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben) D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor: (1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen (2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche (3) Konzentrationsschwierigkeiten (4) Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz) (5) Übertriebene Schreckreaktionen E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen Bestimme ob: ] Akut: wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern ] Chronisch: wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern Bestimme ob: ] Mit verzögertem Beginn: wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor liegt.
Literatur 1. Buitenhuis J et al (2006) Relationship between posttraumatic stress disorder symptoms and the course of whiplash complaints. J Psychosomatic Research 61:681–689 2. Flatten G et al (2004) Posttraumatische Belastungsstörung – Leitlinie und Quellentext, 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart New York 3. Jaspers JP (1998) Whiplash and post-traumatic stress disorder. Disabil Rehabil 20(11):397–404 4. Schnyder U (1998) Die psychosozialen Folgen schwerer Unfälle. Habilitationsschrift an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich für das Fach Psychiatrie 5. Sterling M et al (2006) The relationship between sensory and sympathetic system changes and posttraumatic stress reaction following whiplash injury – a prospective study. J Psychosomatic Research 60(4):387–393 6. Ursamo RJ et al (1999) Acute and chronic posttraumatic stress disorder in motor vehicle accident victims. Am J Psych 156(4):589–595 7. Wagner FE et al (2004) Das problematische Ereigniskriterium der posttraumatischen Belastungsstörung: ein Beitrag zur Konstruktbildung. ZPPM 2:9–16 8. Dilling H et al (1991) (Hrsg) WHO/Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10
40 Neurostressfragmentierung (NSF) bei Schleudertrauma: Ein Ausweg H. Kraemer
Posttraumatische Symptome, die eine Heilung auch nach einem „Bagatellunfall“ verhindern und zu einer permanenten Verschlimmerung führen, werden am Beispiel ,Schleudertrauma‘ erläutert. Die Aufmerksamkeit des IPAS Instituts [5] richtete sich schwerpunktmäßig darauf, wie sich das Wissen und Können verschiedener Disziplinen ergänzen kann, statt zu konkurrieren. Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht ein Thema, das uns am meisten beschäftigt: Welchen Einfluss haben erlebte Ereignisse auf die Entwicklung und besonders auf die Entgleisung von Zuständen und Verhalten von Menschen? Also dem „Psychotrauma“. Als theoretische Grundlage entstand das 4 Säulenmodell. Es beschreibt die Zusammenhänge zwischen den Ansätzen verschiedener Theorien und der Entstehung von Psychotraumata, hervorgerufen durch die Speicherung von belastenden Ereignissen. Die dafür relevanten Theorien sind: ] Beziehungs- und Bindungstheorie (Grundlage für die Bildung von sozialer Sicherheit) ] Kommunikationstheorie (Bedürfniserfüllung) ] Territorialtheorie (Bedeutung von Raum, Nähe, Distanz, Grenzen und Regeln) ] Erkenntnisse der Neurobiologie Diese 4 Säulen stehen auf tiefenpsychologischem Boden, dem Angst- und Aggressionsmodell [6]. Auf Grundlage dieses Modells haben wir verschiedene psychotherapeutische Methoden und Lösungsansätze zur Verarbeitung von belastenden Ereignissen auf ihre Ergebnisse hin analysiert. Nach der Analyse begann die Synthese: Wir haben Extrakte verschiedener Schulen und hervorragender Vorreiter der Psychotraumatologie zu einem neuen Ganzen zusammen gefügt, experimentiert und evaluiert. Das Ergebnis ist
die Methode Neuroimagination®, [MSOffice1]1 die nach einer Erprobungsphase seit 2002 vom IPAS Institut gelehrt wird [7]. Während sich die Entwicklung und Erprobung bis ins Jahr 2002 eher auf psychologische Problemstellungen konzentrierte, war es einem Zufall zu verdanken, dass ich bei einem Seminar die folgende Entdeckung machte: Die körperlichen Symptome eines 36-jährigen Mannes mit der Diagnose „Schleudertrauma“ wie Kopfschmerzen, Verspannung von Muskeln im HWS-Bereich, Blockade von Gelenken in Nacken und Schulter, Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme waren nach einer Behandlung mit der Methode Neuroimagination restlos und nachhaltig beseitigt. Und da der Zufall weiter helfen wollte, bekam dies eine Führungskraft einer Versicherungsgesellschaft mit, der mir dann das Thema Schleudertrauma näher brachte und mich aufforderte, mich damit weiter zu befassen. So entstand das Projekt Brainjoin: Im Rahmen einer Studie, zuerst an der medizinischen Fakultät der Uni Zürich, dann am Lehrstuhl für Verhaltensimmunbiologie der ETH Zürich (Professor Dr. Manfred Schedlowski) angesiedelt, erforschten wir, inwieweit das Posttraumatische Belastungssyndrom (Mit-)Ursache für die Chronifizierung nach Unfällen mit der Diagnose Schleudertrauma ist. Und wir überprüften, ob den davon betroffenen Menschen mit der Methode Neuroimagination geholfen werden kann. Im April 2004 startete die Studie, eine Zwischenauswertung liegt gerade vor. Eine Veröffentlichung ist in Kürze geplant, sodass ich hier auf einige Ergebnisse Bezug nehmen kann. 1
Geschützte Methode. Auskünfte und Rechte bei IPAS Institut, CH-9500 Wil
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] Schleudertrauma, HWS-Distorsion und andere Beschreibungen: Chronifizierung hat die gleiche Ursache Eine als hochsignifikant zu bezeichnende Gruppe in unserer Studie zeigt eine klassische Kombination (mehr als vier!) von Psychotraumasymptomen, und dies, obwohl der laut ICD10 wesentliche Faktor für eine Psychotraumadiagnostik nicht vorliegt: Es fehlt in vielen Fällen das „objektivierbare schwere, lebensbedrohliche Ereignis“. Damit lässt sich erklären, dass sich die Psychotraumatologie bislang nur am Rande mit der Problematik auseinandergesetzt hat: Ist doch ein schwerwiegender Irrtum in der Fachwelt noch recht verbreitet: Der Schweregrad einer Traumatisierung ist bedingt durch den objektiven Schweregrad des belastenden Ereignisses. Nach unserem Kenntnisstand ist dies jedoch nicht richtig. Der objektive Schweregrad des belastenden Ereignisses ist gerade keine Voraussetzung für die Psychotraumasymptome! Rein das subjektive Erleben und Bewerten der betroffenen Person steuert die neurobiologische Reaktion als Antwort auf ein traumatisierendes Ereignis. Ist diese individuelle Reaktion heftig, wird ein massiver Stress hormonell ausgelöst und der Mensch gerät in einen schockartigen Ausnahmezustand. Das Wesen einer massiven Stressreaktion ist es, dass die Wahrnehmung sich dadurch verändert. Die Wahrnehmung funktioniert nicht mehr als Ganzes, sie bricht auseinander, wird fraktioniert. Diese Fragmentierung der Wahrnehmung durch den Extremstress bewirkt, dass die betroffene Person auch ihre Erinnerung an das traumatisierende Ereignis und seine Umstände nur noch fragmentiert abrufen kann. Dieser Mechanismus verhindert somit aber auch eine genaue objektive Erfassung des Geschehenen, z. B. des genauen Unfallhergangs durch Aussenstehende. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Frau S. ist 33 Jahre alt, seit drei Jahren nach einem Autobahnaufprallunfall arbeitsunfähig und in einer körperlich und psychisch schlechten Verfassung. Sie galt als austherapiert, als sie zu uns kam. Dauerschmerzen auf höchstem Niveau, das soziale Umfeld zerrüttet. Sie schilderte den Unfall als dramatisch. Sie war Beifahrerin, das Auto wurde mit Tempo hundert von der Seite gerammt und begann zu schlingern. Das
war alles. Die Gutachten sprachen von einer neurotischen Schmerzstörung. Sie galt als Patientin mit schlechter Compliance: Ein Suizidversuch wurde gesehen als Ausdruck einer vermutlich bereits vor dem Unfall bestehenden psychischen Erkrankung. Und das, obwohl es aus der Zeit vor dem Unfall nur beste Arbeitszeugnisse und keine Hinweise auf psychische Erkrankung gab. Die unfallmechanischen Gutachten kamen zu dem Beweis, dass die Symptome nicht durch die beim Unfall einwirkenden Kräfte ursächlich erklärbar sind. Im Laufe unserer Arbeit, bei der sich der Zustand schnell verbesserte, ergab sich folgende Erinnerung über den Unfallhergang. Der Crash wie geschildert; der Kopf ist seitlich angeschlagen während eines Schleudervorgangs – erste Stresssituation. In diesem Moment sieht Frau S. eine Tankstelle in der Nähe und nimmt die Kraft war, die das Auto, in dem sie sitzt, in Richtung Tankstelle katapultiert. Sie sieht sich in Gedanken dort explodieren – zweite Stresssituation. Kaum steht das Auto still, riecht es verbrannt (Air-Bag) und ihr Mann ruft: „schnell aus dem Auto“ – dritte Stresssituation. Dort will ihr Ehemann sich wutentbrannt auf den Unfallgegner stürzen – vierte Stresssituation. Dann kommt die Polizei, die sie grob anspricht und ein Schuldgefühl in ihr auslöst – fünfte Stresssituation. Eine solche Kettenreaktion ist ziemlich häufig, ist jedoch auf den ersten Blick nicht erkennbar und es braucht eine sehr gekonnte Erinnerungsarbeit, um dies rekapitulieren zu können.
] Wie kommt es zu psychotraumatischem Stress und einer Fragmentierung? Eigentlich handelt es sich dabei um eine normale Überlebensreaktion auf ein unnormales Ereignis. Ein Ereignis, das die Stresstoleranz eines Menschen übersteigt, löst in seinem Gehirn einen neurobiologischen Fragmentierungsprozess aus, der von ihm nicht mehr beeinflussbar ist, denn seine Selbstregulationsmöglichkeiten sind außer Kraft gesetzt. Auch mit noch so großer Willenskraft kann der betroffene Mensch nicht gegen diesen Prozess angehen. Psychotrauma ist die Folge dieses fragmentierten Wahrnehmungsprozesses.
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Neurostressfragmentierung (NSF) bei Schleudertrauma: Ein Ausweg
] Wie geht das vor sich? Sinnesreize kommen ungefiltert und unsortiert in unserem limbischen System, genauer in der Amygdala, an. Dort wird jeder Reiz mit den in der Großhirnrinde abgelegten Erfahrungen verglichen. Wenn die Erfahrung ein Bedrohungssignal auslöst, wird die Hormonproduktion angeregt und vermehrt Adrenalin produziert, um Kraft zu entwickeln, mit der der Bedrohung begegnet werden kann. Alle Sinnesreize werden dann einzeln zum Hippocampus weitergeleitet, der die einzelnen Sinneseindrücke zu einer ganzen und zusammenhängenden Wahrnehmung zusammenführt. Erst jetzt wechselt die Information die Hirnseite und kann bewusst wahrgenommen werden. Im Brocazentrum wird dann diese Information mit Sprache verbunden und kann so als Erfahrung bewusst werden. Diese wird anschließend in der Großhirnrinde, der Bibliothek, als verarbeitet abgespeichert. Dies ist der normale Ablauf, wenn die Umstände ein Bewältigen der Situation ermöglichen und das Adrenalin in Handlung umgesetzt werden kann. Kann das Adrenalin aus dem subjektiven Erleben oder den objektiven Umständen heraus nicht in Aktion umgesetzt werden, gibt es einen Stressstau. Dieser kann durch die vermehrte Bildung des Stresshormons Cortisol verstärkt werden. Das Cortisol greift aber in die neurobiologische Weiterleitung von Sinnesinformationen zwischen Amygdala und Hypocampus ein. So wird dieser Prozess teilweise bis ganz unterbrochen. Der betroffene Mensch hat dadurch erstens eine veränderte Wahrnehmung seiner selbst (betroffene Menschen schildern sich als komplett neben sich stehend, als aus ihrem Körper gefahren, etc.) und teilweise oder ganze Erinnerungslücken bei eigentlich vorhandenem Bewusstsein. Die Sinnesinformation bleibt quasi auf dem Weg zum Hypocampus stecken und blockiert die neuronalen Netze. Bei jedem Unfall und im besonderen einem Schleudertrauma auslösenden wirken immer zeitgleich mehr oder weniger starke Kräfte auf den evtl. in unphysiologischer Haltung sich befindlichen Körper ein. Der dadurch gedehnte, gezerrte, verletzte Körperzustand wird bei der fragmentierten Sinnesspeicherung mit dieser zusammen unverarbeitet fixiert, gespeichert. Dabei gilt es zu bedenken, dass gerade bei Auffahrunfällen durch das Angegurtetsein und die
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moderne Autotechnik jede aktive Beeinflussungsmöglichkeit der Situation gerade auch für Beifahrer unmöglich ist.
] Memory-Effekt des Schreckens Die Software im Kopf sendet von nun an Störsignale an den Körper, ähnliche Signale wie die des Unfallmoments. Das Schutzprogramm, das im Unfallmoment sehr sinnvoll war, damit die Muskeln reflexartig im Halsbereich und entlang der ganzen Wirbelsäule sich zusammenziehen, um vor Überdehnung und Verletzung zu schützen, wird nach dem Unfall nicht mehr beendet. So werden fortgesetzt die Schutzbefehle an die Muskulatur gesendet und so verspannt sich der Körper an den Stellen immer wieder, er geht immer wieder oder bleibt in (Mikro-)fehlstellungen. Die gehäuft vorkommenden neuropsychologischen Symptome können sehr gut durch die Stressfragmentierung erklärt werden. Durch die fragmentierte Abspeicherung der Sinnesinformation in dem Bereich zwischen Amygdala und Hypocampus sind die neuronalen Informationsleitungen teilweise blockiert. Jeder neue Sinneseindruck wird durch die blockierten neuronalen Netzwerke gestört und wird zusätzlich noch durch die aktive Störfunktion beeinflusst. So verwundert es auch nicht, dass die Informationssynchronität einzelner Sinnesreize gerade von Augen und Ohren, gestört ist. Und dies erklärt dann auch, wieso die betroffenen Menschen Störgeräusche hören, so schnell ermüden, Konzentrationsprobleme haben, die Merkfähigkeit so schlecht wird. Da das Erlebnis nicht verarbeitet ist, bleibt es auf der noch „Aktiv-Liste“ im Gehirn. Das Gehirn gibt dem Körper weiterhin Anweisungen, so zu reagieren, wie es im Moment der Belastung angezeigt und sinnvoll war. So produziert es immer wieder ähnliche und schmerzhafte Körperzustände wie im Unfallmoment. Da der normale Rhythmus von Anspannung und Entspannung nicht mehr möglich ist, kann der betroffene Mensch sich nicht mehr seiner gewohnten Regenerationsmöglichkeiten bedienen. Schlafstörungen sorgen dann noch dafür, dass sich ein Zustand von Überreizung (Hyperarousal bei 97,2%) einstellt – das ganze bekannte bunte Beschwerdebild.
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H. Kraemer
] Psychotrauma versus Neurostressfragmentierung – NSF
] Wenn das Gehirn den Körper heilt: Die Methode Neuroimagination®
Nachdem einerseits für eine Vielzahl von betroffenen Menschen die Diagnose PTBS an dem fehlenden gravierenden Ereignis scheitert und andererseits die Verwechslung von Trauma mit psychisch krank sehr unheilvoll ist, haben wir in unserem Forscherteam nach einer Bezeichnung gesucht, die das, was bei einer extremen Stressbelastung im Gehirn geschieht, bezeichnet und haben uns so für den Begriff Neurostressfragmentierung entschieden. Und erst seitdem wir mit diesem Begriff arbeiten, haben wir so richtig gemerkt, wie sinnvoll das ist. Ist die Gefahr doch sehr groß, dass Menschen nach einem Belastungsereignis als psychisch krank bezeichnet werden, wenn herkömmliche Methoden versagen. Oft ist dann der latente Vorwurf nicht aus der Welt zu bringen, dass es eine Frage des Willens sei, von dem eine Genesung abhängig ist. Und dies führt neben weiterem sozialem Stress zu einer ganzen Diskriminierungsspirale. Mit der Bezeichnung Neurostressfragmentierung gelingt es uns, das, was im Körper abläuft, zu benennen und es ermöglicht auch vielen Betroffenen einen Zugang zu ihrer Problematik ohne Vorurteile und Stigmatisierung rund um den Begriff „Psycho“.
Obwohl die Methode nach sehr strengen Vorgaben und engen Trainingsleitlinien durchgeführt wird, ist wohl die größte Herausforderung für den Coach wie für den Coachee, dass die Methode für jeden einzelnen Menschen „neu erfunden“ werden muss. Zu unterschiedlich sind die Menschen und die dadurch erforderlichen Zugangswege. Wie schon eingangs erwähnt, ist die Neuroimagination eine Synthese aus verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Die Neuroimagination ist eine Kombination von lösungsorientierter Gesprächsführung, Körper- und Atemübungen, bildhaftem Vorstellen, Vor- und Nachempfinden in Gedankenspielen, Entspannungstechniken bis hin zu einer Verarbeitungstechnik zur Auflösung von Ereignisspeichern. Gestalterische Techniken werden unterstützend eingesetzt. Und das ganz Besondere: Der Klient macht alles selbst. Selbst in der körperabgesenkten Auflösungsimaginationssitzung bleibt er ständig in Bewegung und stimuliert mit Klängen seine neuronalen Verknüpfungsspeicher – selbstständig. Nur ausgebildete und geprüfte GKT-Coaches®, [MSOffice2], die sich einem ständigen Qualitätszirkel verpflichtet haben, sind in der Lage und dürfen die geschützte Methode anwenden.
] Coaching statt Therapie Auf der Grundlage des 4 Säulen Modells ist die Gestaltung der Beziehung der sicherheitsgebende Faktor Nummer 1 für alle Menschen. Nach einem belastenden Ereignis weicht das Grundsicherheitsempfinden einem Unsicherheitsempfinden, was sich je nach Erlebtem sehr gravierend darstellt. Alle Bemühungen zielen somit darauf, das Grundsicherheitsgefühl wieder herzustellen. Somit braucht es einen ganz besonderen Rahmen, bei dem die unsicherheitsbildenden Faktoren durch sicherheitsgebende Faktoren ersetzt werden. Die Wiedererlangung der durch ein Ereignis abhanden gekommenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten verlangt eine konsequente Bemündigung des Klienten. Als Patient mit dem herkömmlichen Patientenbewusstsein ist dies nicht möglich. Darum arbeiten wir konsequent nach den Coachingrichtlinien und sprechen von Coachees und von Klienten. Dabei ist das ganze Arbeitssetting der Neuroimagination auf Wahlfreiheit und Selbstbestimmung ausgerichtet.
] Unfallverarbeitungscoaching mit Neuroimagination Das Coaching findet in verschiedenen Phasen statt. Diese sind nicht als lineare Abfolge zu verstehen, sondern als Schwerpunkte, die sich auch überlappen oder parallel verlaufen können.
Motivationsphase Hier wird erreicht, dass der betroffene Mensch sich seiner Chancen wieder bewusst ist, und ein Minimum an Hoffnung (bei jahrelangen Misserfolgen und schlechten Prognosen sogenannter Experten oft recht schwierig) soweit Beweggrund gibt, sich auf die Arbeit ein zu lassen. Der Klient realisiert, dass er von niemandem gesund gemacht wird, sondern dass er mit einem Coach als Begleiter sich selbst helfen kann. Diese Vorstellung wird mit ersten Erfahrungen
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Neurostressfragmentierung (NSF) bei Schleudertrauma: Ein Ausweg
gepaart und es entsteht auch ein Eindruck, wie anstrengend die Arbeit werden kann.
Stabilisierungsphase Die Coach – Coachee-Beziehung beginnt verlässlich zu werden und die Technik der Neuroimagination wird geübt. Der Klient lernt, Einfluss auf seine Stresssituation zu nehmen und beendet den „Ausgeliefertsein-Modus“. In der Neuroimagination® kann relativ schnell eine erste positive Wirkung auf das persönliche Empfinden realisiert werden. Erste Selbststeuerungsmöglichkeiten werden trainiert und können im Alltag integriert werden.
Verarbeitungs- und Auflösungsphase Der bewusste und willentliche Wechsel zwischen Gefühlen ist wieder möglich und ist Vorraussetzung für die folgende Arbeit. Eine distanzierte Betrachtungsweise der eigenen Person wird trainiert. In einem dissoziierten Zustand kann die betroffene Person mit genügend Distanz und in sehr kleinen Schritten sich selbst und vergangenes Erlebtes betrachten. Mit der Technik der Neuroimagination werden die belastenden Situationen wie in der Filmtechnik in kleine Einheiten zerlegt und dann wie ein innerer Film wieder erlebt. Gleichzeitig stimuliert die Person selbstständig ihre Hirnfunktionen, indem sie mit Klangstäben in einem persönlich herausgefundenen Rhythmus zwei unterschiedliche Töne erzeugt. Die Rechts-Links Stimulation aktiviert einerseits verschiedene Hirnregionen (Ganzhirnstimulation), andererseits verhindert sie ein Abgleiten in eine für traumatisierte Menschen schädliche Trance. Während der intensiven Verarbeitungsphase wird bei allen Erlebnissen minutiös die komplette Sinneswahrnehmung vom Coach abgefragt, der Körperausdruck und die Atmung beobachtet und korrigiert. Wenn das gesamte Ereignis oder eine Ereigniskette auf diese Art vollständig durchgearbeitet ist, ist an der lückenlosen Verlaufsschilderung mit Beschreibung aller Sinneseindrücke zu erkennen, dass die negativen Speicherungen jetzt durch den Hippocampus sortiert sind und als erlebte Erfahrungen im Großhirn abgelegt und erinnert werden können. Wir sprechen hier von einer Stressauflösung.
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] Körpercoaching – Integration Wenn sich der ungute Zustand lange Zeit unverändert oder in einem dauernden Verschlechterungsprozess befunden hat, gibt es leider eine Gewöhnung des Körpers daran. Die neuronale Plastizität sorgt im Gehirn dafür, dass die schmerzhaften neuronalen Bahnen gut eingefahren sind, während die jetzt neuen, positiven Bahnen ungewohnt sind [4]. Die Körpererinnerung und somit die Körpererwartungshaltung sind noch durch die Fehlstellung und Schmerzsituation geprägt. In dieser Phase wird ganz bewusst und sehr intensiv die Integration der neuronalen Veränderung auf die Körperebene übertragen und mentale Übungen und Training in physische Übungen übergeleitet. Hier ist jetzt eine intensive Fleißarbeit und Durchhaltewille angesagt, muss doch der Klient diese Übungen mehrmals täglich selbstständig durchführen. Das Ergebnis lohnt sich meistens.
] Neuausrichtung – Vom Opfer zum selbst bestimmten Lebensgestalter In dieser Phase geht es darum, sich von dem eingeschränkten Zustand zu verabschieden und sich einem selbstbestimmten Leben wieder vollumfänglich zuzuwenden. Oft ist hier ein Rollenwechsel vom Opfer zum Lebensgestalter angezeigt. Hier wird im Coaching Orientierungshilfe gegeben und auch die Möglichkeiten in der Arbeitswelt ausgelotet und nach den Regeln des Coaching Unterstützung ermöglicht.
] Nachcoaching In immer größer werdenden Abständen wird je nach Bedürfnis die nötige Unterstützung gewährt und ein besonderes Augenmerk auf eine Rückfallvermeidung gelegt. Ausführlichere Angaben, Fallbeispiele und auch ein Selbstcheck mit Übungen zur Selbsthilfe für Betroffene wie Angehörige finden Sie in dem Buch Schleudertrauma [8].
] Die Ergebnisse der Brainjoin Studie Die an der ETH Zürich durchgeführte Zwischenauswertung ergibt ein eindeutiges Resultat: Eine signifikante Verbesserung der Symptoma-
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H. Kraemer
tik, eine deutliche Steigerung der Lebensqualität und der Arbeitsfähigkeit sind hier mit der Methode Neuroimagination belegt. Das Ergebnis ist auch deshalb überzeugend, da bei allen Fällen das Schleudertrauma bereits mindestens länger als zwei Jahre zurücklag, der längste traumatisierte Zustand dauerte 12 Jahre. Alle Fälle waren von den mitarbeitenden Versicherungen zugewiesen – wir hatten keinen Vertrauensvorschuss bei den betroffenen Menschen und deren Anwälten. Die meisten Probanden hatten von mindestens drei Fachexperten mündlich oder schriftlich das Testat, dass sie unheilbar krank sind. Wir konnten keine Selektion vornehmen, da die Eintrittsbedingung „von einer Versicherung zugewiesen“ war. Externe Befrager haben die subjektiven von den Klienten wahrgenommenen und benannten Veränderungen erfasst. Der gesamte Behandlungsverlauf beträgt ca. 18 Monate und das hier abgebildete Zwischenergebnis der Studie bezieht sich auf einen Zeitraum von 12 Monaten Coaching mit Neuroimagination. Die Studie wird Ende 2007 mit einer letzten Befragung abgeschlossen werden und schon jetzt sind aus den Ergebnissen der Zwischenauswertung eindeutige und hochsignifikante Verbesserungen bei den Probanden erkennbar. Die Abbildung 40.1 gibt einen ersten Überblick. Während sich die Symptome deutlich verringern, steigt die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit deutlich an. Ausführlicher Studienbericht mit genauen Angaben und Zahlen kann beim IPAS Institut angefordert werden.
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Fazit und Ausblick – Neurosomatik Wenn man unser Ergebnis insgesamt betrachtet, kann ich sagen, dass wir vor drei Jahren gestartet sind, um der Bedeutung von Psychotrauma bei Heilungsverläufen am Beispiel des gesellschaftlich sehr präsenten Themas Schleudertraumas nachzugehen. Und wo stehen wir heute? Einige wenige Antworten und viele neue Fragen. So haben wir den Begriff „Psycho“ ganz verlassen. Zu unpräzise verleitet er zu einer ganzen Reihe von Irrwegen und schädlichen Reaktionen und lenkt von dem ab, was die Hirnforschung eindeutig belegt: Die Abhängigkeit und Relation von Heilung von neuronalen Vorgängen und hochkomplexen Prozessen im Gehirn. Wir sind der Auffassung, dass jede Form der Heilung im Ganzen gesehen werden muss, und dass gerade Heilung nach belastenden Erlebnissen immer auch neuronale Prozesse mit berücksichtigen muss. Hier stehen wir ganz am Anfang – die Neurosomatik zu begreifen und zu entwickeln – statt dem wenig aussagekräftigen Begriff der Psychosomatik. Ich leiste hiermit einen Beitrag zu einer hoffentlich bald stattfindenden Diskussion – zum Wohle aller Beteiligter.
Präambel ] Interdisziplinäres Forschen ohne Standesdünkel muss zum Standard werden bei Fragestellungen, insbesondere wenn einzelne Fachrichtungen keine Lösungen finden. ] In solchen Forschungsgruppen kann die Medizin ein nicht dominierender Teil sein, die
Körperliche Symptome
70 60
PTBS Symptome
50
Einnahme von Medikamenten
40 30
Arztbesuche
20
Allgemeine Verbesserung der Symptome
10 0
Arbeitsfähigkeit
Erstrating
Verlaufsrating
Abb. 40.1. Brainjoin Gruppe.
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Biologie, die Hirnforschung, die Stressforschung, die Verhaltenswissenschaften etc. müssen gleichberechtigt mitwirken. ] Die medizinische Forschung darf sich nicht mehr nach dem „Eminenz-Space“-Prinzip richten, nach dem immer der ranghöchste Mediziner Recht hat. Wirklich Neues kann nicht von falschem Alten abgeleitet werden („Evidenz-Space“-Prinzip). Man sollte sich bewusst werden, dass die meisten wirklichen Fortschritte der Menschheit von Querdenkern und Außenseitern geschaffen wurden – entgegen dem herrschenden und etablierten System. ] Die Zeit ist nicht nur reif für ein Umdenken – die Tausenden von betroffenen Menschen, denen geholfen werden soll, wollen nicht mehr wegen Standesdünkeln und Besitzbewahrungsstrategien in ihrem Leid verharren. Und die Gesellschaft kann es nicht mehr bezahlen.
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Literatur 1. Bauer J (2004) Das Gedächnis des Körpers. Piper 2. Fischer/Riedesser (2003) Lehrbuch der Traumatologie. UTB 3. Hüther G (2006) Die Macht der inneren Bilder. Vandenhoeck & Ruprecht 4. Hüther G (2006) Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Vandenhoeck & Ruprecht 5. IPAS: 1996 wurde das IPAS Institut zur Interdisziplinären Forschung und Entwicklung von Methoden von einem Arzt, einer Psychologin, einer Sozialarbeiterin und Horst Kraemer, damals therapeutischer und pädagogischer Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung, gegründet und war zunächst auf den psychosozialen Bereich fokussiert 6. Kraemer H (2003) Das Trauma der Gewalt. Kösel 7. Kraemer H (2005) Trauma-Bewältigung. Orell Füssli 8. Kraemer H, Wichmann A (2006) Schleudertrauma. Orell Füssli 9. Wichmann A (2005) Schmerzzustände als Folge von Traumatisierung. Krankengymnastik 57:4
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41 Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung W. Kaiser
Einleitung Bei dem momentanen Stand der Forschung zum Thema „Neuropsychologische Defizite nach HWS-Beschleunigungsverletzung (HWS-BV)“ ist zukünftig nicht mehr die Frage des „Ob“ sondern vielmehr des „Warum“ zu klären. Die Möglichkeit des Auftretens von kognitiven Beeinträchtigungen nach HWS-BV ist beim derzeitigen Kenntnisstand als gesichert anzusehen. Die subjektiven Äußerungen der Betroffenen spiegeln sich in objektiven neuropsychologischen Diagnostikbefunden wider und sind keineswegs nur Ausdruck eines Rentenbegehrens oder einer prätraumatischen Persönlichkeitsstörung, um nur zwei häufiger vorgebrachte Einwände zu erwähnen; dies mag vielleicht in individuellen Einzelfällen zutreffen. Kessels et al. (2000) konnten in einer Metaanalyse von 22 entsprechenden neuropsychologischen Studien zeigen, dass nach HWS-BV ein über die verschiedenen Studien hinweg konsistentes Muster von kognitiver Dysfunktion auftritt, im Vergleich sowohl zu den Gesunden als auch zu den asymptomatischen Kontrollgruppen, welche subjektiv keine Angaben über kognitive Defizite gemacht haben. In der genannten metaanalytischen Studie wurden die kognitiven Funktionen Aufmerksamkeit, kognitive Flexibilität, die visuelle Explorationsleistung, das Arbeitsgedächtnis, der unmittelbare Abruf sowie der verzögerte Abruf von verbalen Informationen als Variablen in die Metaanalyse eingeschlossen. Es wurde sowohl ein Vergleich der HWS-BVPatienten mit einer gesunden Kontrollgruppe als auch ein Vergleich der Patienten, die kognitive Defizite angegeben haben (symptomatische Gruppe), mit denen, die keine entsprechende Klage nach ihrem Unfall geäußert haben (asymptomatische Gruppe), durchgeführt. Die Erhebungs-
zeitpunkte fanden in unmittelbarer Zeit (innerhalb von zwei Wochen) nach dem Ereignis statt. Positiv hervorzuheben ist die Berechnung der einzelnen Effektstärken (nach Cohen 1977) in dieser Studie, wodurch die Relevanz dieser Unterschiede im Einzelnen gewichtet werden konnte: Demnach gab es zwischen den Betroffenen und der gesunden Kontrollgruppe die größten Effektstärken (d. h. ausgeprägtesten Unterschiede) bei den Faktoren Aufmerksamkeit und unmittelbare Wiedergabe. Aber auch bei allen anderen Variablen fanden sich signifikante Unterschiede (wenn auch nur mit moderater Effektstärke). Weniger ausgeprägt, aber immer noch signifikant, fanden sich Unterschiede zwischen den symptomatischen und asymptomatischen Patienten hinsichtlich Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und visueller Explorationsleistung. Bei einem Vergleich innerhalb der symptomatischen Gruppe bezüglich der Testergebnisse unmittelbar nach dem Ereignis mit denen sechs Monate später zeigten sich Verbesserungen in allen erhobenen kognitiven Variablen, bis auf die verzögerte Wiedergabe und die kognitive Flexibilität, welche gleich schlecht über die Zeit hinweg geblieben sind. Leider wurde nur in einer einzigen dort zitierten Studie (Di Stefano und Radanov 1996) die Gruppe der symptomatischen Patienten mit einer gesunden Kontrollgruppe sechs Monate nach dem Ereignis verglichen: Dort fanden sich, bei mittlerer Effektgröße, die Aufmerksamkeitsprozesse immer noch schlechter in der Patientengruppe. Die Aufmerksamkeitsleistungen der Patientengruppe haben sich zwar im Verlauf der sechs Monate wieder verbessert, bleiben aber immer noch unter dem Niveau der gesunden Kontrollgruppe. Es wurde eingangs deswegen ausführlicher auf diese metaanalytische Studie eingegangen, weil sie zeigen konnte, dass die von den Betroffenen subjektiv geäußerten Beschwerden über standardisierte neuropsychologische Testverfah-
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Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
ren objektiviert werden können. Es wird nun im Einzelnen auf die unterschiedlichen kognitiven Teilleistungsbereiche eingegangen.
Aufmerksamkeit In einer Literaturanalyse konnte Keidel (2000) zeigen, dass in den unterschiedlichen Studien am häufigsten Aufmerksamkeitsdefizite dargestellt wurden, gefolgt von Störungen mnestischer Funktionen und anderen kognitiven Teilleistungen. Sehr inhomogen sind hierbei retrospektive Studien, welche z. T. ausgeprägte Aufmerksamkeitsdefizite aufzeigen (z. B. Kischka et al. 1991, Kessels et al. 1998, Schmand et al. 1998, Blokhorst 2005) und z. T. nur geringe oder gar keine Hinweise auf kognitive Defizite beinhalten (z. B. Taylor et al. 1996, Smed 1997). Aussagekräftiger sind prospektive Studien, welche den Verlauf festgestellter kognitiver Defizite über die Zeit erfassen und zusätzlich diejenigen Betroffenen von der Studie ausschließen, die zusätzlich ein Schädelhirntrauma erlitten haben (Ettlin et al. 1992, Di Stefano et al. 1995, Radanov et al. 1995, Di Stefano 1999). Die dort festgestellten Defizite betreffen v. a. Aufmerksamkeit und Gedächtnis, sind kurz nach dem Unfall am stärksten ausgeprägt und bilden sich im späteren Verlauf teilweise wieder zurück. Bei einem Teil der Patienten sind im weiteren Verlauf Defizite zu finden, die v. a. im komplexen Aufmerksamkeitsbereich liegen. Dabei sind diese Beeinträchtigungen v. a. bei denjenigen Patienten noch ausgeprägter, bei welchen im Verlauf eine starke Schmerzsymptomatik persistierte (Radanov et al. 1993). In einer prospektiven Studie von Di Stefano (1999) mit 106 initial erfassten Patienten zeigten ca. 20% bei einer Follow-up-Erhebung nach zwei Jahren noch persistierende subjektive Beschwerden. In dieser Gruppe nahm die Intensität der subjektiv geäußerten Aufmerksamkeitsund Gedächtnisprobleme zu, wobei im komplexen Aufmerksamkeitsbereich (gemessen über PASAT und TMT-B) signifikant schlechtere Leistungen bei der symptomatischen Gruppe (im Vergleich zu der nicht-symptomatischen Gruppe) gemessen worden sind. Beim PASAT lagen diese Ergebnisse auch unterhalb des Normbereiches der Einstichprobe.
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Lernen und Gedächtnis In retrospektiven (z. B. Kischka et al. 1991, Krajewski 1993) und danach auch in methodisch besseren prospektiven Studien (Keidel et al. 1992, Di Stefano und Radanov 1996, Di Stefano 1999) wurden Lern- und Gedächtnisprozesse mit erfasst. Häufig wurden dabei in der Akutphase sowohl Störungen des verbalen als auch visuellen Gedächtnisses festgestellt, die sich jedoch zumeist innerhalb der darauf folgenden 12 Wochen wieder zurückgebildet haben. Di Stefano (1999) berichtet trotz dieser Verbesserungen trotzdem noch von signifikanten quantitativen Unterschieden (hinsichtlich kurz- und mittelfristigen Abrufs unter Cue-Vorgabe sowie bei längerfristigem Abruf) zwischen der symptomatischen und asymptomatischen Gruppe. In der metaanalytischen Studie von Kessels et al. (2000) zeigen sich hochsignifikante Unterschiede zwischen der symptomatischen Gruppe und der gesunden Kontrollgruppe in der Akutphase. Es ergaben sich jedoch zu diesem Zeitpunkt keine relevanten Unterschiede zwischen der symptomatischen und asymptomatischen Gruppe. Bei einem in dieser Studie vorgenommenen Vergleich der Werte in der Akutphase mit denen 6 Monate später (Vergleich innerhalb der symptomatischen Gruppe) ergab sich eine signifikante Verbesserung bei der unmittelbaren freien Wiedergabe (immediate recall), aber nicht bei der verzögerten Wiedergabe (delayed recall). Zusammengefasst scheinen die Lern- und Gedächtnisstörungen nicht so ausgeprägt zu sein wie die oben geschilderten Aufmerksamkeitsdefizite und sich in den Monaten danach schneller (z. T. sogar vollständig) wieder auf ein normales Niveau zurückzubilden. Dies deckt sich auch mit der eigenen Erfahrung der neuropsychologischen Diagnostik von HWS-BV-Patienten in der neurologischen oder orthopädischen Rehabilitation bzw. bei entsprechenden neuropsychologischen Begutachtungen. In Einzelfällen wurden aber auch über einen Mehrjahreszeitraum persistierende Gedächtnisdefizite festgestellt. Möglicherweise sind diese (auch die in der Literatur geschilderten Defizite in der Akutphase) auf zugrunde liegende schwerere (und länger persistierende) Aufmerksamkeitsdefizite zurückzuführen, also als eine Art sekundärer kognitiver Defizite zu betrachten.
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W. Kaiser
Zerebrale Sehleistungen Es ist verwunderlich, dass zu diesem (basalen) kognitiven Teilleistungsbereich kaum verlässliche Daten aus der Literatur vorliegen, obwohl HWSBV-Patienten häufig – zumindest initial, in Einzelfällen auch persistierend – Probleme mit der visuellen Wahrnehmung angeben. Dies lässt sich nach meiner Erfahrung auch in vielen Fällen durch entsprechende Diagnostik objektivieren. Bei einer Befragung von 106 Patienten nach einem Verkehrsunfall (Claussen et al. 1999) gaben immerhin über 20% der Betroffenen Sehstörungen an, 7% nach einem initial beschwerdefreien Intervall. Aus der eigenen Diagnostik und Begutachtung von HWS-BV-Patienten ist ebenfalls auffällig, dass die Betroffenen über eine Reihe visueller Wahrnehmungsstörungen klagen, die am ehesten den einfachen zerebralen Sehleistungen zuzuordnen sind und sich häufig auch mit entsprechenden Diagnostikverfahren objektivieren lassen: Klagen über Störungen des Kontrastsehens, erhöhte Blendempfindlichkeit, Verschwommensehen, erhöhte visuelle Ermüdbarkeit, Defizite bei der Einschätzung der eigenen Position im Raum, Defizite beim Einschätzen von Abständen bis hin in Einzelfällen zur Instabilität des visuellen Bildes, mit entsprechenden Auswirkungen auf den Alltag, wie Auto fahren oder auch Lesen. In den größeren retrospektiven und prospektiven Untersuchungen finden diese Leistungen in der jeweiligen Testbatterie nur vereinzelt Berücksichtigung. Möglicherweise wurde aufgrund theoretischer Vorannahmen über die Pathogenese der neuropsychologischen Defizite auf eine entsprechende Miterhebung meistens verzichtet. So beschränkte sich auch Di Stefano (1999) in seiner aufwändigen Studie auf die Erhebung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen. Yarnell und Rossie (1988) fanden bei 86% der Untersuchten im sog. Letter-Vigilanz-Test (eine Aufgabe, die visuelle Explorationsleistung erfordert) eine Beeinträchtigung. Weder bei der Untersuchung von Ettlin et al. (1992) noch bei Keidel et al. (1992) fanden sich signifikante Defizite im visuell-räumlichen Bereich oder bei der mentalen Rotation, gemessen über die Untertests 9 und 10 des Leistungsprüfsystems (LPS) nach Horn. Smed (1997) fand in seiner prospektiven Untersuchung keine Hinweise der Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung und der visuell-räumlichen Funktionen (Parallelogramm-Test, Bourdon-Wiersma-Test).
Bei prospektiven Untersuchungen mit (Keidel et al. 1996) und ohne (Keidel et al. 1992) Kontrollgruppe zeigten die Untersuchten zwar kein Leistungsdefizit hinsichtlich des Vergleiches mit den Normwerten in den entsprechenden LPSUntertests, jedoch im Verlauf der prospektiven Studie eine signifikante Verbesserung der damit erfassten visuell-kognitiven Leistungen, was Keidel (2000) in seiner Literaturübersicht „auf eine initiale kognitive Beeinträchtigung“ in diesem Bereich rückschließen lässt. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass in dieser Studie bei drei Testterminen innerhalb von drei Monaten möglicherweise ein Lerneffekt dieses Ergebnis maskiert hat (auch wenn beim LPS zwei Parallelversionen existieren). In einer Studie (Freitag et al. 2001), in welcher die visuelle Wahrnehmung für Bewegung bei gleichzeitiger Ableitung eines funktionellen Kernspins (fMRI) erhoben wurde, zeigten Patienten aus der symptomatischen Gruppe eine signifikante Einschränkung in dieser visuellkognitiven Fähigkeit, verbunden mit einer entsprechenden Minderaktivität in den korrespondierenden kortikalen Arealen. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Arbeitsgruppe um Otte et al. (z. B. Otte 1999, 2001, Otte et al. 1996, 1997), welche in mehreren Studien mit SPECT und PET insgesamt über 500 Patienten mit chronischer Symptomatik nach HWS-Schleudertrauma untersucht haben. In seiner Review von 2004 (Otte et al. 2004) berichtet er von Minderperfusionen in der posterioren parieto-occipitalen Region in beiden Hemisphären, verglichen mit einer gesunden Kontrollgruppe. In zukünftigen Studien sollten daher diese visuell-kognitiven Leistungen systematischer und besser operationalisiert erfasst werden. Hinweise aus der Literatur sowie die Beschwerdeäußerungen der Betroffenen sollten Anlass geben, diesen Bereich zukünftig gründlicher zu erforschen.
Weitere kognitive Funktionen Dies ist bei vielen Autoren eine Art „Restkategorie“ für sog. höhere kognitive Funktionen (verbales und nonverbales abstraktes Denken, Kategorien und Regeln bilden, logisch-schlussfolgerndes Denken, Erhebung von Intelligenzmaßen), also v. a. „frontal gesteuerte kognitive“ Leistungen.
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Yarnell und Rossi (1988) fanden Leistungsstörungen bei 68% der untersuchten Patienten (bei einer Erhebung mindestens ein Jahr nach dem erlittenen Unfall) im Category-Test, einem Test zum kategorienbildenden und abstrakten Denken im nonverbalen Bereich. In der prospektiven Studie von Smed (1997) fand der Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST, computerisierte Version) Anwendung. Der Autor beobachtete, dass die Untersuchten aus der symptomatischen Gruppe weniger effizient die Aufgabe lösten, und er fand signifikante Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der sog. „Set-Errors“ zwischen symptomatischer und asymptomatischer Gruppe. Di Stefano (1999) erfasst in seiner prospektiven Studie aus ähnlichen Vorerwägungen heraus, wie hinsichtlich der visuell-kognitiven Leistungen, ebenfalls nicht die höheren kognitiven Leistungen (er geht davon aus, dass beim HWS-BVals Ursache für die kognitiven Defizite fokale Hirnläsionen unwahrscheinlich sind und daher in seiner „Patientengruppe“ kaum hemisphären- bzw. modalitätenspezifische Ausfälle zu erwarten“ seien). Solange die Pathogenese der neuropsychologischen Defizite jedoch letztlich noch unklar und spekulativ bleibt, sollte auch dieser kognitive Leistungsbereich in der weiteren Forschung mit berücksichtigt werden. Selbst unter der Annahme (die nach Durchsicht der Literatur nahe liegt), dass bei HWS-BV-Patienten vorwiegend Aufmerksamkeitsprozesse betroffen sind, welche z. T. schlechtere Leistungen in anderen kognitiven Teilbereichen indirekt hervorrufen, wäre es jedoch wichtig, die Leistungsfähigkeit auch in den höheren kognitiven Funktionen zu objektivieren, im Rahmen einer „Bestandsaufnahme“, die immer noch nicht abgeschlossen scheint.
Moderator-Variablen Diese umfassen die psychische Störungs- bzw. Traumaverarbeitung, psychiatrische Symptome, das Schmerzerleben, die aktuelle Medikation, den vegetativen und hormonellen Status. Auf diese Aspekte wird in diesem Buch in anderen Artikeln von den entsprechenden Fachautoren ausführlicher eingegangen. Im Rahmen eines Übersichtsartikels zu den neuropsychologischen Defiziten nach HWS-BV muss jedoch auch auf diese Aspekte kurz Bezug genommen werden, da eine häufige Co-Morbidität der neuropsycho-
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logischen Defizite mit psychischer bzw. psychiatrischer Symptomatik und mit dem Schmerzgeschehen zu beobachten ist. In einem Übersichtsartikel von Kissel (1999), in welchem 80 Gutachtensfälle in der Schweiz analysiert worden sind, wird festgestellt, dass 66% der Exploranden eine psychiatrische Begleitstörung mit deutlicher Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufwiesen. Diese Fälle erstrecken sich in dieser Studie über ein breites Spektrum psychiatrischer Diagnosen, so unterschiedlich wie die betroffenen Individuen mit ihren zugrunde liegenden individuellen Persönlichkeiten und Krankheitsverarbeitungsprozessen, vom chronischen Schmerzsyndrom und der somatoformen Schmerzstörung über neurotisch-depressive Entwicklung und posttraumatische Anpassungsstörung bis hin zur Neurasthenie und zum Verdacht auf Konversionsneurose. In der gleichen Studie zeigt W. Kissel, dass bei 43% der neuropsychologisch getesteten Probanden eine für ihre Berufsfähigkeit relevante neuropsychologische Störung vorliegt. Der Autor weist in der Diskussion darauf hin, dass häufig das kognitive Defizit durch den „psychiatrischen Überbau“ maskiert wird, und dass auch in Erwägung gezogen werden müsse, dass sowohl neuropsychologische Defizite als auch psychogene Reaktionen gleichzeitig vorliegen können. In England (Squires et al. 1996) wurden in einer lang angelegten prospektiven Studie 40 HWS-BV-Patienten 15 Jahre nach dem Unfallereignis nachuntersucht: In 70% der Fälle bestanden nach wie vor Schmerzen (Nacken und Rücken), die laut Autoren auf den Unfall zurückzuführen waren. Von diesen Fällen zeigten noch 52% psychische Störungen (Depression, Angststörung). Diese persistierten auch dann noch, nachdem die Entschädigungsfrage gerichtliche Klärung gefunden hatte. Bei der Untersuchung auf neuropsychologische Defizite ist daher stets auch an die Erhebung einer psychiatrischen Begleitsymptomatik durch einen Psychiater oder klinischen Psychologen zu denken. Zumindest sollten, wie von Di Stefano (1999) in seiner Studie durchgeführt, ein Persönlichkeitsfragebogen (z. B. FPI-R) und eine Befindlichkeitsskala (z. B. BfS) mit erhoben werden. Auch das zum Erhebungszeitpunkt vorliegende Ausmaß der Angst (z. B. Hamilton Anxiety Scale) und Depression (z. B. Hamilton-Depression Rating-Scale) sollten mit erfasst und als mögliche Moderator-Variablen für die Ausprägung der einzelnen Testergebnisse mit erwogen werden.
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Dasselbe gilt auch für Art und Ausmaß des Schmerzgeschehens (z. B. über eine visuelle Analogskala, Schmerzempfindungsskala (SES); Geissner 1996). So fanden sich in mehreren Studien Hinweise, dass ein Teil der neuropsychologischen Ergebnisse mit dem Ausmaß der Kopf- und Nackenschmerzen kovariiert (Keidel et al. 1992, Di Stefano und Radanov 1995, Radanov et al. 1999). Di Stefano hat in seiner Arbeit von 1999 nicht nur die symptomatische mit der asymptomatischen Gruppe nach HWS-BV verglichen, sondern schloss in seine Untersuchung eine Vergleichsgruppe von Patienten mit (rheumatisch bedingtem) Zervikalsyndrom ein. Dort stellte sich heraus, dass letztere Gruppe und die Gruppe der symptomatischen HWS-BV-Patienten gleichermaßen beeinträchtigte Aufmerksamkeitsleistungen (v. a. geteilte Aufmerksamkeit) aufwiesen. Eine interessante Ergänzung zu diesem Kenntnisstand ist eine neuere neuropsychologische Studie (von Bueren-Jarchow et al. 2005) mit dem Titel „Pain influences several levels of attention“. Dort wurden 24 ambulant behandelte chronische Schmerzpatienten (mit unterschiedlichen zugrunde liegenden medizinischen Diagnosen wie Spondylarthritis, Fibromyalgie, Hüftarthrose etc.) mit einer nach Alter, Geschlecht und Ausbildung parallelisierten schmerzfreien Kontrollgruppe hinsichtlich der Leistungen in der „Testbatterie zur Erfassung von Aufmerksamkeitsstörungen“ (TAP; Zimmermann und Fimm 1993) verglichen. Hierbei ergaben sich in fast sämtlichen verwendeten Subtests (tonische und phasische Alertness, selektive Aufmerksamkeit, verdeckte Aufmerksamkeit, Vigilanz und visuelles Scanning) mit Ausnahme des Subtests „Geteilte Aufmerksamkeit“ signifikant langsamere Reaktions- und Verarbeitungszeiten bei der Schmerzgruppe. Mit einer Effektgröße (nach Cohen 1977) > 0,5 sind diese auch als praktisch relevante Unterschiede einzustufen. Nach Aussagen der Autoren befinden sich diese Effekte in Größenordnungen, wie sie sonst nur bei psychiatrisch oder neurologisch (z. B. nach leichtem bis mäßigem Hirntrauma) erkrankten Probanden anzutreffen sind. Psychiatrische bzw. neurologische Begleiterkrankungen wurden in dieser Studie ausgeschlossen. Diese Ergebnisse zeigen, dass chronische Schmerzen in hohem Maße Aufmerksamkeitskapazität binden können, die dann nicht mehr als Ressource zur Bearbeitung aufmerksamkeitserfordernder Aufgaben zur Verfügung steht. Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass bei einer neuropsychologischen Untersu-
chung oder Begutachtung neben den oben angesprochenen Moderator-Variablen auch mögliche andere, die Testergebnisse moderierende Faktoren bei der Interpretation der Ergebnisse mit berücksichtigt werden müssen: Die aktuelle Medikation (potentiell psychotrop wirkende Medikamente), der vegetative und hormonelle Status (s. Beitrag von H. Etzrodt in diesem Buch), Schlafstörungen und eine mögliche zerebrale Mitbeteiligung.
Ausblick In diesem kurzen Überblick über den Kenntnisstand bzgl. der neuropsychologischen Defizite nach HWS-BV wurde bewusst nicht über eine zugrunde liegende Pathogenese spekuliert. Dazu scheint der momentane Kenntnisstand noch zu gering, und es liegt dem wahrscheinlich ein multikausales Gefüge zugrunde, welches möglicherweise noch von Individuum zu Individuum variiert. Sieht man sich jedoch Studien an, in denen eine Schmerzgruppe ohne zugrunde liegende HWS-BV als Vergleichsgruppe mit hinzugezogen wird (Di Stefano 1999, oder die im letzten Kapitel zitierte Schmerzstudie von von Bueren-Jarchow et al. 2005), so ist hier ein Schlüssel zum Verständnis der neuropsychologischen Defizit-Muster nach HWS-BV sicherlich enthalten. Schmerz nach HWS-BV scheint eine wichtige Ursache (von mehreren) für die gemessenen Defizite, v. a. im Aufmerksamkeitsbereich, zu sein. Aber eben nicht die einzige, worauf andere Studien hinweisen (z. B. Ettlin et al. 1992, Radanov et al. 1993): Zum einen korrelieren dort nicht alle kognitiven Parameter (wie z. B. Gedächtnisleistungen) mit dem Ausprägungsgrad der Schmerzen und zum anderen konnten neuropsychologische Defizite z. T. auch dann noch nachgewiesen werden, nachdem das Schmerzsyndrom nachgelassen hat, wie Keidel (2000) in seiner Literaturübersicht richtig angemerkt hat. In zukünftigen (möglichst prospektiven) Studien sollte auch mehr Wert auf eine saubere Operationalisierung der zu messenden kognitiven Teilleistungsbereiche gelegt werden. Vor allem im Bereich der Aufmerksamkeitsprozesse fällt auf, dass bis hin zu den neueren Studien ältere Testverfahren Anwendung finden, bei denen zweifelhaft ist, ob sie das gemessene Auf-
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Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
merksamkeitskonstrukt auch wirklich messen (z. B. TMT-B: Was misst dieser Test wirklich: geteilte Aufmerksamkeit, kognitive Flexibilität oder Arbeitsgedächtnis? Möglicherweise gehen Anteile von all diesen Aufmerksamkeitsleistungen in die Testleistung ein). Seit 1993 (Zimmermann und Fimm 1993) existiert mit der Testbatterie zur Erfassung von Aufmerksamkeitsstörungen (TAP) ein solches Messinstrument, um die verschiedenen Aufmerksamkeitskonstrukte valide und reliabel zu erfassen. So ist bspw. verwunderlich, dass Di Stefano in seiner Studie von 1999 nicht auf diese Testbatterie zurückgegriffen hat. Mittlerweile liegt mit der WAFTestbatterie (Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen) nach Sturm (2006) eine Alternative und Ergänzung zur TAP vor. Aber auch der Faktor einer strukturellen Schädigung im Gehirn scheint keineswegs ausgeschlossen zu sein, wie in neueren PET- und SPECT-Studien (Otte et al. 1997, 2004) aufgezeigt wurde (bilaterale Minderperfusionen in der posterioren parieto-occipitalen Region). Alle hier zitierten Studien zeigen jedoch eines klar auf: Eine einseitige Betrachtung der neuropsychologischen Befundlage durch eine rein psychiatrisch gefärbte Brille bzw. die schlichte Leugnung von Folgen im Rahmen einer HWS-BV, soweit sie außerhalb des reinen Pathomechanismus der HWS liegen, ist angesichts der Datenlage wissenschaftlich nicht nachvollziehbar und wird auch nicht den Betroffenen gerecht, die hart darum kämpfen, trotz oder mit ihren Defiziten möglichst gut im beruflichen und sozialen Leben integriert zu bleiben. Denen, die dies nicht schaffen, muss die volle Unterstützung unserer Solidargemeinschaft zukommen und sie dürfen auch nicht als „Simulanten“ abgestempelt werden. Sog. Aggravationen können zwar stattfinden, aber nach der Erfahrung des Autors sind diese auch nicht häufiger zu finden als bei Begutachtungen von anderen Störungen (z. B. nach Schädelhirntrauma). Außerdem persistieren in vielen Fällen die Symptome auch nach gelöster Entschädigungsfrage weiter. Wichtig ist gerade bei der Patientengruppe, die einen Abfall ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und allgemeinen psychischen Belastbarkeit realisiert, frühzeitig stützende psychotherapeutische Maßnahmen einzuleiten. In manchen Fällen – die Patienten versuchen ihre verminderte Leistungsfähigkeit durch Mehranstrengung in Beruf und Alltag eine Zeit lang auszugleichen – kann daraus ein Burned-out-
]
Syndrom und reaktiv eine depressive Symptomatik entstehen. Eine frühzeitige neuropsychologische Diagnostik könnte somit eine eventuelle kognitive Leistungsminderung und eingeschränkte psychomentale Belastbarkeit feststellen, bevor daraus sekundär eine psychische Problematik entstanden ist (was beispielsweise in gutachterlichen Fragestellungen eine zum Teil große Relevanz besitzt). Die Datenlage spricht also dafür, bei HWSBV-Patienten, falls sie entsprechende Beschwerden angeben, noch im akuten Stadium einen neuropsychologischen Befund zu erheben und durch darauf aufbauende frühzeitige Therapieund Trainingsmaßnahmen einer möglichen Chronifizierung vorzukommen. Dazu müssten aber auch die Schmerzsymptomatik einerseits und psychische Verarbeitungsprobleme andererseits frühzeitig mit behandelt werden. Dies ist nur in einem multidisziplinären Rahmen und stationären Setting möglich. Zum Schluss soll Kissel (1999) aus seiner bereits vorgestellten Studie zitiert werden: „In der Abklärung des chronischen Whiplash-Syndroms muss eine Trendwende erfolgen. Es darf nicht nur schwerpunktmäßig die Pathologie der Halswirbelsäule beurteilt und deren Therapie betrieben werden, sondern es müssen umfassend und frühzeitig neuropsychologische Störungen gesucht und psychiatrische Differenzialdiagnosen evaluiert werden!“
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315
316
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Neuropsychologische Beeinträchtigungen nach HWS-Beschleunigungsverletzung
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42 Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung Eine Studie H. Keller-Wossidlo
Einleitung Diese Studie wurde durchgeführt mit der Frage: Gibt es Hinweise in den Nachtschlafableitungen von Patienten mit Tagesschläfrigkeit nach mildem Schädelhirntrauma, im Vergleich zu Patienten mit Tagesschläfrigkeit ohne durchgemachtes mildes Schädelhirntrauma, wodurch der nicht erholsame Schlaf aus schlafmedizinischer Sicht erklärt werden könnte? Aus der Literatur ist bekannt, dass Patienten mit mildem Schädelhirntrauma signifikant häufiger über Schlafstörungen und Tagesschläfrigkeit klagen als andere Menschen [1]. Die exzessive Tagesschläfrigkeit ist ein Leitsymptom für chronisch nicht erholsamen Schlaf, dieses sowohl in Hinblick auf die Schlafqualität, als auch in Hinblick auf die Schlafquantität. Störungen im Schlafaufbau sind assoziiert mit einer Schlaffragmentation durch kurze Weckreize und daraus nachfolgenden körperlich bedingten psychophysischen Defiziten, aber auch durch eine disproportionale Verteilung der Schlafstadien (Hypnogramm). Da sämtliche Körpersignale aus allen Regionen auch während des Schlafes vom Rückenmark aufsteigend über das Mittelhirn zur Hirnrinde geleitet werden und diese Bahn bei der Entstehung von nächtlichen Weckreizen eine Rolle spielt [2], ist eine entsprechende schlafmedizinische Abklärung mit NachtschlafEEG eine entscheidende Möglichkeit diese Weckreize (= arousals) zu identifizieren.
tierender Tagesschläfrigkeit, obwohl sich ihr Verhalten in Hinblick auf die Schlafhygiene oder der Lebensumstände nicht verändert hat. Da die Tagesschläfrigkeit bei diesen Patienten als „posttraumatisches Stress-Syndrom“ bezeichnet wird, haben wir uns zum Ziel gesetzt abzuklären, ob anhand einer detaillierten Analyse der Schlafparameter mittels Polysomnographie diese posttraumatische Tagesschläfrigkeit erklärt werden kann [3]. Denn Schlafstörungen werden gemäß internationalen Standards definiert und diagnostiziert durch die Polysomnographie: Eine Polysomnographie zeichnet ein standardisiertes Elektroenzephalogramm (EEG) zur Beurteilung der Schlafstruktur auf, außerdem Körpersignale wie Atembewegungen, Elektrokardiogramm (EKG), Arm- und Beinbewegungen, Geräusche über der Luftröhre, Pulsfrequenz und Sauerstoffgehalt im Blut, Muskeltonus über der Kinnregion und Augenbewegungen zur Identifizierung von Traumschlafphasen (rapid eye movements REM). Nur mittels der Polysomnographie kann die Schlafstruktur qualitativ und quantitativ beurteilt werden, einschließlich der Schlaf-Feinstruktur, denn nur anhand dieser exakten Methodik können die Faktoren einer Schlafstörung als Ursache für den nicht erholsamen Schlaf objektiviert werden.
Studienaufbau und Methode Ziel der Studie Zahlreiche Patienten klagen unmittelbar nach einem milden Schädelhirntrauma (mild traumatic brain injury MTBI) über sofort auftretenden nicht mehr erholsamen Schlaf mit daraus resul-
Die Untersuchungen wurden prospektiv in den Jahren 2002–2003 an 55 Patienten durchgeführt, welche nach Zufallsverteilung unserer schlafmedizinischen Ambulanz zugewiesen wurden. Die Patienten hatten keinerlei Hinweise auf ein Schlafapnoe-Syndrom [4], auf psychische Schlafstörungen, nächtliche Myoklonien wie Restless
318
]
H. Keller-Wossidlo
Legs, Narkolepsie oder andere Schlafkrankheiten. Alle Patienten klagten indessen über eine exzessive Tagesschläfrigkeit welche seit länger als einem Jahr bestand, mit Erreichen von über 10 von 24 möglichen Punkten anhand der Epworth-Skala [5]. 25 Patienten (Gruppe 1) hatten ein Akzelerationstrauma der Halswirbelsäule mit erstmaliger kurzer Bewusstseinsstörung erlitten, die hinweisend auf ein MTBI ist [6]. Die übrigen 30 Patienten wiesen kein Trauma und keine Bewusstlosigkeiten in der Anamnese auf (Gruppe 2). Die weitere diagnostische Abklärung erfolgte mit der schlafmedizinischen Anamnese, der Systemanamnese, physikalischen Untersuchung und Anwenden der validierten und standardisierten Fragebogen-Technik [4, 5]. Danach schloss sich die diagnostische Polysomnographie an, welche fachgerecht gemäß den geltenden internationalen Richtlinien und Standards durchgeführt und analysiert wurde. Aufgrund der polysomnographischen Ergebnisse wurde sodann noch eine erweiterte Selektion vorgenommen, um definitiv andere relevante Schlafstörungen auszuschließen, welche die Tagesschläfrigkeit ausreichend erklärt hätten, so zum Beispiel Patienten mit erhöhtem Apnoe/Hypopnoe-Stundenindex von über 10 pro Stunde oder einem Index für nächtliche Myoklonien von über 5 pro Stunde. Ausschlusskriterien für die Untersuchung waren: Verweigerung der schriftlichen Einwilligung zur polysomnographischen Nachtableitung; polysomnographische Diagnosen mit einem relevanten Apnoe/Hypopnoe-Stundenindex >10/h und/oder einem Index für nächtliche Myoklonien >5/h; keine Bewusstseinsstörung im Rahmen des Akzelerationstraumas der Halswirbelsäule; Tagesschläfrigkeit kürzer als ein Jahr; außerdem wurden Patienten ausgeschlossen, die bereits in der früheren Anamnese Hinweise für Bewusstlosigkeiten hatten wie: Synkopen, Epilepsien oder entzündliche Hirnerkrankungen sowie Verdacht auf Medikamenten/Drogen-Konsum und wenn die diagnostische Polysomnographie subjektiv nicht der gewohnten Schlafqualität entsprach im Sinne einer situativen Schlafstörung während der Nachtableitung.
Auswertung der Polysomnographie Die Polysomnographie wurde visuell und manuell seitenweise in 30–10 Sekunden Seiten nach Rechtschaffen + Kales-Richtlinien durchgelesen [7]. Die Interpretation wurde von jeweils demselben Schlafmediziner durchgeführt in Unkenntnis der medizinischen Vorgeschichte und damit in Unkenntnis, ob der Patient eine Bewusstlosigkeit erlitten hatte oder nicht. Die Definition der Weckreize (arousals) wurde gemäß internationalen Kriterien [8] durchgeführt und wurden klassifiziert anhand des arousal-Spektrums [9], Weckreize durch behinderte Atmung (ARI), durch Beinzuckungen (PRI), spontane Weckreize über der Hirnrinde (EEI) und Weckreize, die durch eine veränderte Atmung entstehen und nicht auf Apnoen/Hypopnoen zurückzuführen sind (RERA). Die Beurteilungskriterien der Atemstillstände (Apnoen) oder deren Vorläufer (Hypopnoen) wurden gemäß allgemein angewendeten internationalen Richtlinien vorgenommen, die Atemzyklen wurden anhand des endexspiratorischen Kohlendioxyd-Plateaus und des Zeitfensters von 0,2 Sekunden beurteilt.
Charakteristika der Patientenkollektive Es wurden 55 Patienten vollständig untersucht, davon 25 Patienten in der Gruppe 1 mit Akzelerationstrauma und MTBI sowie 30 Patienten in der Gruppe 2 ohne MTBI. Die Analyse der Polysomnographie diskriminierte in der Gruppe 1 mit mildem Schädelhirntrauma zusätzlich 2 Untergruppen, die anhand der Schlafstruktur signifikant unterschiedlich waren: Gruppe 1 A (n = 19) mit vermehrten Weckreizen und Schlaffragmentation gegen Gruppe 1 B (n = 6) mit fehlender Schlaffragmentation jedoch mit überproportionalen Anteilen von Tiefschlaf. Die einzelnen Kollektive zeigten in den folgenden Basis-Parametern keine signifikanten Unterschiede anhand des t-Tests: Verhältnis Männer zu Frauen 33 : 22, Altersmittelwert in der Gruppe 1: 39 ± 13 Jahre gegen Gruppe 2: 39 ± 13 Jahre (Gruppe 1 A: 42 ± 12 Jahre und Gruppe 1 B: 31 ± 12 Jahre). Der Bodymass-Index (BMI kg/m2) war im Mittelwert Gruppe 1: 25 ± 4 kg/m2 gegen Gruppe 2: 26 ± 5 kg/m2 (Gruppe 1 A: 25 ± 3 kg/m2 versus Gruppe 1 B: 26 ± 6 kg/m2). Die Tagesschläfrigkeit anhand der Epworth-Skala (ESS) zeigte in
42
Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung
der Gruppe 1: 14 ± 3 Punkte gegen Gruppe 2: 15 ± 3 Punkte (Gruppe 1 A: 14 ± 3 Punkte und Gruppe 1 B: 14 ± 3 Punkte). Somit sind die biometrischen Daten in den untersuchten Gruppen sowohl im Alter, Bodymass und Tagesschläfrigkeit vergleichbar und zeigen keine Unterschiede, welche allenfalls die Ergebnisse beeinflussen könnten, dieses trifft im übrigen auch für die Untergruppen 1 A und 1 B zu.
Ergebnisse Die Tabellen 42.1 und 42.2 zeigen alle wesentlichen Resultate und statistische Berechnungen, welche anhand der Nachtschlafstudie gemäß den oben erwähnten Definitionen ausgewertet werden konnten.
]
Zusammenfassung der Resultate ] In dieser prospektiven Untersuchung an 55 Patienten mit Tagesschläfrigkeit unklarer Ursache (Gruppe 1 mit MTBI 25 Patienten) verglichen mit Patienten ohne mildes Schädelhirntrauma, aber ebenfalls mit Tagesschläfrigkeit (Gruppe 2: Anzahl 30 Patienten) konnte die diagnostische Nachtschlafableitung (Polysomnographie PSG) eine abschließende Diagnose vereinbar mit dem internationalen DiagnoseCode ICD-9 ausschließen: relevante schlafbezogene Atemstörungen wurden bei einem Apnoe/Hypopnoe-Stundenindex < 10 Ereignisse pro Stunde Schlaf ebenso ausgeschlossen, wie eine relevante nächtliche Muskelaktivität mit einem Stundenindex für nächtliche Myoklonie < 5/h. ] Auch die polysomnographischen Basiswerte in Hinblick auf Schlafstadienverteilung, Anzahl und Spektrum der Weckreize, Sauerstoffgehalt im Blut und Atemstillständen ergaben keine Abnormitäten, welche die Tagesschläf-
Tabelle 42.1. Basisergebnisse der Polysomnographie mit Mittelwerten (mittel) und Standardabweichung (sd) in Hinblick auf die Schlafstruktur, das arousal-Spektrum (Weckreize) und Bewertung der Atmung einschließlich der Beinbewegungen, Glossar für den Abkürzungs-Code: Gruppenvergleich der Gruppe 1 (n = 25) Patienten mit Tagesschläfrigkeit (EDS) und mildem Schädelhirntrauma (MTBI) gegen Gruppe 2 (n = 30) Patienten mit Tagesschläfrigkeit (EDS) ohne mildes Schädelhirntrauma (MTBI). Die Basisresultate zeigen keine signifikanten Gruppenunterschiede (p = ns) in Hinblick auf die polysomnographischen Ergebnisse Code
Group 1 A n = 19/sd
t-test 1 A/1 B
Group 1 B n = 6/sd
t-test 1 B/2
Group 2 n = 30/sd
t-test 1 A/2
] TRPmin
425/49
ns
423/45
ns
439/58
ns
] TSTmin
382/70
382/40
ns
ns
383/57
ns
] SLmin
9/6,4
ns
11/10,4
ns
10/6,3
ns
] REMlat
100/50
ns
90/76
ns
107/61
ns
90/50
ns
90/10
ns
87/7
ns
] SE% ] Wach %
ns
10/7
ns
] Stadim I %
21/8
ns
18/5
ns
23/9
ns
] Stadium II %
42,5/8
ns
35/6
ns
38,5/9
ns
] Delta %
23/9
0,004
36/9
ns
25/11
ns
] REM %
11,3/5
ns
11/4
ns
10/5
ns
0,006
58/21
0,03
95/38
0,05
] AWsumme
7/4,7
120/48
ns
7,1/10
] AWI
19,5/8
0,003
9,2/3
0,01
15/5,5
0,01
] EEI
15,1/6,1
0,0006
5,4/2,5
0,01
9,9/4
0,001
] RERA
1,5/1,6
ns
1,5/1,4
ns
2,6/2
0,03
] PRI
1,2/1,5
ns
0,7/1
ns
0,4/1
0,028
] ARI
1,6/1,8
ns
1,6/1,6
ns
2/2,4
ns
319
320
]
H. Keller-Wossidlo
Tabelle 42.2. Ergebnisse der Polysomnographie im statistischen Vergleich zwischen den Gruppen 1 A (n = 19): Tagesschläfrigkeit (EDS) mit mildem Schädelhirntrauma (MTBI), Gruppe 1 B (n = 6): Tagesschläfrigkeit (EDS) mit mildem Schädelhirntrauma (MTBI) und gegenüber Gruppe 2 (n = 30): Tagesschläfrigkeit ohne mildes Schädelhirntrauma. Hochsignifikante Gruppenunterschiede in Bezug auf die Summe der arousals/Weckreize (AWsumme) und auch indexiert pro Stunde Schlaf (AWI), diagnoseführende Signifikanzunterschiede zwischen den Gruppen bezogen auf die spontanen kortikalen Weckreize der Hirnrinde mit disproportionaler Verteilung in den Subgruppen A 1 und B 1 Glossar
Code
Gr. 1 mittel
± sd
Gr. 2 mittel
± sd
p
] Totale Aufnahmezeit (Min)
TRP
424
47
439
58
ns
48
383
57
ns
] Totale Schlafzeit (Min)
TST
382
] Schlafeffizienz (%)
SE
90
] Schlaflatenz I (Min)
SL
] REM-Latenz (Min)
REMlat
9,4 98
6,3
87
7,4
ns
7,4
10
16,3
ns
61
ns
55
107
] Wachzeit (%)
W
6,7
6,1
10
7,2
ns
] Leichtschlaf I (%)
I
19,2
7,3
23
9
ns
] Stadium II (%)
II
39,2
8,2
38
9
ns
4,5
10
] REM Traumschlaf (%)
REM
11
] Delta Tiefschlaf (%)
D
25,2
] Beinbewegungen/Std
MI
1,7
] Apnoe/Hypopnoe/Std
AHI
3,3
4,7
ns
25,3
11,3
ns
1,6
1,3
1,4
ns
3,3
3,3
3,4
ns
11
] Sauerstoff-Basiswert %
bSat
94
1,4
95
1,5
ns
] tiefster Sauerstoffwert %
nSat%
90
3,2
90
3,5
ns
] Weck/Wachreize/Std
AWI
17,4
8,4
15
5,5
ns
] Weckreiz Anoen/Std
ARI
1,6
1,8
2
2,4
ns
] Weckreiz Muskel/Std
PRI
1,1
1,4
0,4
1
ns
] Weckreiz Atmung/Std
RERA
1,5
1,5
2,6
2
ns
] Weckreiz spontan/Std
EEI
12,8
7,9
4
ns
rigkeit hätte erklären können (vgl. Tabelle 42.1). Erst die präzise Differenzierung der Ursache von den Weckreizen anhand des arousal-Spektrums [9] konnte statistische Unterschiede zwischen den Gruppen erfassen; nämlich eine krankhafte Schlafzerstückelung bedingt durch signifikant gehäufte spontane Weckreize im Gehirn (EEI) in der Gruppe 1A mit durchgemachtem Akzelerationstrauma der Halswirbelsäule und MTBI im Gegensatz zur Gruppe 1B und zur Kontrollgruppe 2 ohne durchgemachtem Trauma. Die beiden Untergruppen in der Gruppe 1 (1 A und 1 B mit mildem Schädelhirntrauma und Tagesschläfrigkeit) wurden ausschließlich durch eine verschiedene und hoch signifikant unterschiedliche Anzahl von spontanen Weckreizen im Gehirn gefunden: Die Gruppe 1 A zeigte mit einem hohen Ereignisindex von spontanen Weckreizen (15/h ± 6/h) eine sig-
10
nifikant stärkere Schlaffragmentation sowohl verglichen mit der Subgruppe 1 B, als auch verglichen mit der nicht traumatisierten Gruppe 2 (vgl. Tabelle 42.2). Die Untergruppe 1B zeigt eine zwar erheblich geringere Anzahl von spontanen Weckreizen wie sie bei einem Normalkollektiv anhand der arousal-Definition [8] zu erwarten wäre, hingegen einen signifikant überproportionalen Anteil von Tiefschlaf als Ausdruck einer posttraumatischen Hypersomnie (vgl. Tabelle 42.2). Diese Ergebnisse bestätigen somit eindrücklich, wie wichtig es ist, bei einer Nachtschlaf-Ableitung besonders die gehäuften spontanen Hirnweckreize (EEI) zu beachten, damit die substantiellen Unterschiede in der Schlafqualität dieser Patienten erfasst werden können. Die numerische Anzahl der Weckreize allein kann die Ursache einer Tagesschläfrigkeit in diesen Fällen nicht ausreichend er-
42
Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung
klären. Ebensowenig auch nicht die lediglich prozentuale Verteilung der Schlafstadien: Eine „Grob-Analyse“ der Nachtschlafableitung verpasst offenkundig eine traumatisch verursachte Störung der Schlaf-Feinstruktur.
Diskussion Um Patienten mit einer unklaren Tagesschläfrigkeit gerecht zu werden und sie insbesondere nicht einer falschen Diagnosegruppe zuzuführen, ist eine Analyse der Schlaf-Feinstruktur erforderlich. Damit lässt sich die Störung des Schlafaufbaus als Ursache für chronisch nicht erholsamen Schlaf nach einem Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule mit kurzer Bewusstlosigkeit identifizieren und auch graduieren. Möglicherweise wurde jedoch selbst bei der vorliegenden Studie eine Störung der Schlaf-Wach-Balance unterschätzt, indem neue Forschungsergebnisse inzwischen zeigen konnten, dass es über die üblichen Analysen der Weckreize hinaus noch zusätzliche Schlafhirnfrequenzen gibt, die den nicht erholsamen Schlaf mit anschließend Tagesschläfrigkeit erklären könnten [10]. Eine Analyse der Nachtschlaf-Hirntätigkeit bei diesen Patienten mit diesen neusten wissenschaftlichen Analyseverfahren wird künftig noch weitere Erkenntnisse erbringen. Inwieweit eine Vorselektion durch die gezielte Patientenzuweisung das Studienergebnis beeinflusst und die disproportionale Verteilung in den Subgruppen bedingt, muss offen bleiben. Die auslösenden Ursachen für diese spontanen Weckreize können jedoch mit der Polysomnographie nicht identifiziert werden. So stellt sich insbesondere die Frage: sind die Aktivierungen der Hirnrinde (Weckreize) schmerzinduziert und/oder in der Gruppe der Trauma-Patienten durch mikrostrukturelle Verletzungen der Nervenbahnen bedingt? Obwohl die Trigger insbesondere der pathologischen Schlaffragmentation noch offen sind, so muss man derzeit mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Schlafstörung und der chronisch nicht erholsame Schlaf mit resultierender Tagesschläfrigkeit doch auf das Trauma zurückzuführen ist. Anhand der Studie lässt sich auch nicht erklären, wieso die eine Gruppe (1 A) mit einer
]
nächtlichen Schlaffragmentation auf das Akzelerationstrauma mit MTBI „antwortet“ und die Gruppe 1 B mit überproportionalen Tiefschlafanteilen und einer Dämpfung der kortikalen Weckreize. Aus der Literatur ist auch diese posttraumatische Ursache der Schläfrigkeit als sogenannte posttraumatische Hypersomnie bekannt [11]. Der Nachweis dieser Gruppenunterschiede ist auch im Hinblick auf mögliche therapeutisch-medikamentöse Behandlungsstrategien höchst relevant.
Schlussfolgerung Prinzipiell sollte bei Patienten mit posttraumatisch aufgetretenen Schlafstörungen und nachfolgender Tagesschläfrigkeit in jedem Fall die Schlaffragmentation und die Analyse der Schlafstruktur vorgenommen werden, um krankhafte Störungen des Schlafs nicht zu verpassen, da sich daraus auch therapeutische Konsequenzen ergeben werden. Insbesondere diejenigen Patienten, welche in Folge eines milden Schädelhirntraumas nach Akzeleration der Halswirbelsäule eine unklare Tagesschläfrigkeit entwickeln, benötigen eine Nachtschlafableitung (Polysomnographie), um Art, Ursache und Schweregrad der Schlafzerstückelung und Störung der Schlafstruktur anhand der differenzierten Analyse der Weckreize zu objektivieren: Ein relevanter Anteil von Patienten mit Tagesschläfrigkeit nach mildem Schädelhirntrauma wird indessen mit den üblichen Auswertungs-Verfahren der Polysomnographie unterschätzt, sofern nicht auch die spontanen nächtlichen Weckreize analysiert werden. Anhand dieses differenzierten Analyseverfahrens kann eine krankhafte Schlafzerstückelung und Störung der Schlafarchitektur zuverlässiger identifiziert werden.
] Die Identifizierung und Differenzierung der
Weckreize ist eine wichtige diagnostische Maßnahme, um Ursachen einer exzessiven posttraumatischen Tagesschläfrigkeit bei Patienten mit durchgemachtem Akzelerationstrauma der Halswirbelsäule und mildem Schädelhirntrauma zu objektivieren. Daraus können sich außerdem wichtige therapeutische Konsequenzen ergeben, wie z. B. die medikamentöse Unterdrückung der nächt-
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322
]
H. Keller-Wossidlo: 42
Gestörter Nachtschlaf und schwere Tagesschläfrigkeit nach milder Schädelhirnverletzung
lichen Weckreize oder bei überproportionalen Tiefschlaf-Anteilen eine Therapie mit Tagesstimulantien. Im Umgang mit Patienten, die über Tagesschläfrigkeit nachfolgend einem Schädelhirntrauma klagen, ist eine systematische Schlafanalyse notwendig und hier schließe ich mich einem der Pioniere der Schlafmedizin, Prof. Guilleminault, an [12], der dieses auch in Hinblick auf forensische oder rechtliche Konsequenzen forderte! Solange bei Patienten mit diesem Verletzungsprofil eine schlafmedizinische Ursache für die krankhafte Tagesschläfrigkeit nicht ausgeschlossen wurde, ist von einer somatischen und nicht von einer psychischen Ursache auszugehen – im Interesse der Betroffenen.
4.
5. 6. 7.
8.
9.
Literatur 10. 1. Smith-Seemiller L, Fow NR, Kant R (2003) Presence of post-concussion syndrome symptoms in patients with chronic pain vs mild traumatic brain injury. Brain Injury 17(3):199–206 2. Leone M, Proietti A, Mea E, Tullo V et al (2006) Neuroimaging and pain: a window on the autonomic nervous system. Neurol Sci 27(2):134– 137 3. Keller-Wossidlo H, Suter N (2004) Polysomnography (PSG) in patients with mild traumatic brain
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injury (MTBI) and excessive daytime somnolence (EDS). J Sleep Res 13 Keller-Wossidlo H, Suter N, Borer P, Keller R (1996) Polysomnographic validation of a stepwise diagnostic procedure in patients with suggested obstructive sleep apnea syndrome (OSAS). Am J Respir Crit Care Med 153:A716 Johns MW (1994) Sleepiness in different situations measured by the Epworth Sleepiness Scale. Sleep 17:703–710 Esselman PC, Uomoto JM (1995) Classification of the spectrum of mild traumatic brain injury. Brain Injury 9(4):417–424 Rechtschaffen A, Kales A (1968) A manual of standardized terminology: techniques and scoring system for sleep stages of human subjects. UCLA Brain Information Service/Brain Research Institute, Los Angeles, Calif American Academy of Sleep Medicine (1999) Sleep related breathing disorders in adults: recommendations for syndrome definition and measurement techniques in clinical research. Sleep 22:667–689 Keller-Wossidlo H (1997) Arousal-spectrum in patients with suspected sleep-related breathing disorders (SRBD) and daytime somnolence. Somnologie 1:34 Terzano MG, Parrino L (2004) Origin and significance of cyclic alternating pattern (CAP). Sleep Med Rev (4):101–123 Baumann CR, Werth E, Bassetti CL Sleep-wake disorders after traumatic brain injury: results from a prospective study. Sleep 29(Suppl):880 Guilleminault C, Yuen KM, Gulevich MG, Karadeniz D, Leger D (2000) Hypersomnia after headneck trauma: a medicolegal dilemma. Neurology 54(3):653–659
43 Das Risiko der Stressnachschlageffekte D. Ungerer
Vorbemerkungen Nach der erfolgreichen Bewältigung einer lebensgefährlichen Situation häufen sich oftmals Verhaltensauffälligkeiten, die zu Unfällen führen. So kann die Fahrzeugbenutzung nach außergewöhnlichen Belastungen das Fahrrisiko beachtlich steigern. Die meisten Fahrzeuglenker kennen das unangenehme Gefühl nach einem Beinaheunfall oder nach einem beobachteten Unfall. Verursacht wird dieser Gefühlszustand durch das Nachdenken über die erlebte Gefahrensituation. So ist jeder froh, dass er die Unfallsituation ohne Schaden überstanden hat oder nicht davon betroffen war. Eine verhaltensanalytische Fundgrube ist die Zeit zwischen dem Augenblick des Unfallereignisses und den Konsequenzen des Nachdenkens darüber. Die Verhaltensauffälligkeiten, ihre Ursachen und die präventiven Maßnahmen dazu sind in den folgenden Themenblöcken dargestellt.
Symptome als beobachtbare Verhaltensauffälligkeiten Auffälligkeiten im Verhalten wecken die Aufmerksamkeit der Unfallforscher meistens erst dann, wenn sie direkt in Verbindung mit irgendwelchen Unfällen auftreten. Läuft dagegen der Unfall ohne Verletzte ab, schwindet rasch das Interesse der Unfallanalytiker. Daher soll mit einigen Fallstudien das Phänomen des Stressnachschlageffektes näher erläutert werden. Tritt er doch nach dem Unfall risikosteigernd auf. Die ersten Symptombeschreibungen tauchten auf den Verbandplätzen des 2. Weltkrieges und in den Lazaretten des Vietnamkrieges auf. Aufgefallen sind dort Soldaten, die z. B. einen Hin-
terhalt überlebten, als Kriegsgefangene ausbrachen und sich zu den eigenen Linien durchschlugen oder extreme Kampfhandlungen unverletzt oder mit nur kleinen Verwundungen überstanden haben. Sie starben plötzlich, während sie noch auf die ärztliche Versorgung warteten oder bereits im Lazarett lagen. Das Phänomen gab damals viele Rätsel auf, weil keine lebensbedrohlichen Verletzungen vorlagen. Kreislaufversagen oder Schock als Ursachen zu deklarieren, war zu einfach und unbefriedigend. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte konnten weitere Fälle mit ähnlicher Symptomatik nachgewiesen werden. Ein SAR-Hubschrauberpilot rettete mit etwas riskanten Flugmanövern einigen Menschen das Leben. In der Nacht darauf bekam er Atemnot und beklemmende Gefühle. Nach Polizeieinsätzen mit hohem Gefahrenpotential häufen sich Bagatellunfälle. Die Einsatzrisiken nehmen zu. Nach einer gefährlichen Fahrzeugkontrolle keimen beim Weiterfahren mehr oder weniger Stressprofile, welche die nachfolgenden polizeilichen Maßnahmen und die Fahrsicherheit beeinträchtigen können. Unverletzte Erdbebenopfer werden nach dem Beben plötzlich von panikartigem Verhalten erfasst. Schweißausbrüche und Atemnot stellen sich ein. Leichtverletzte eines Verkehrsunfalls sterben auf dem Weg in die Klinik. Eine unverletzte Frau ist nach einem Verkehrsunfall sitzend im Notarztfahrzeug verstorben, während die Rettungskräfte noch dabei waren, ihren Mann aus dem beschädigten Auto zu bergen. Manche legen sich nach erschreckenden Erlebnissen einfach hin und sterben. Ursachen dazu lassen sich nicht ohne weiteres finden. Ein besonderes Symptomfeld der genannten Art sind die Minuten nach Explosionen, MassenPaniken in Stadien, Unglücken wie z. B. Ramstein oder 09/11 in New York. Ruhiges Verhalten mancher Menschen kurz nach einem psychisch gravierenden Ereignis mündet plötzlich in Zusam-
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D. Ungerer
menbrüche oder exzessive Aktionen. Das zeigt sich besonders deutlich bei Massenunfällen auf Autobahnen. Auch die Luftfahrt ist von diesem Phänomen betroffen. Die Symptomvielfalt markiert ein breites Spektrum. Um überhaupt Klärungsansätze entdecken zu können, richtet sich eine erste Frage auf Gemeinsamkeiten, die in den einzelnen Risikoprofilen zu finden sind. Folgende Zustände und Prozesse lassen sich darunter fassen: ] individuelles Erfahren einer lebensbedrohlichen Situation; ] mehr oder weniger erfolgreiche Bewältigung der Gefahrensituation; ] größtenteils körperliche Unversehrtheit; ] ruhiges Verhalten nach einer Gefahrensituation; ] anschließend Auffälligkeiten. Bei diesen Gemeinsamkeiten und der Bandbreite der Gefahrensituationen sind zentrale Ursachen anzunehmen.
Ursachen Die betroffenen Personen waren in einer lebensgefährlichen Situation, die sie größtenteils ohne körperlichen Schaden überstanden haben. Akute Bedrohungen generieren allerdings selbst bei erfolgreicher Bewältigung unterschiedlich hohe Stressprofile. Diese schränken wiederum die Informationsverarbeitung der Betroffenen ein. Sie erreicht rasch ihre belastungsgebundenen Grenzen, wodurch die konkreten Gefahren nicht mehr vollständig übersehen werden können. Limitierung und Ressourcen-Allokation tragen zwar zur Bewältigung der Gefahren bei, die noch vorhandene informationelle Restkapazität reicht aber nicht mehr aus, um eine nachträgliche Bewertung der Bedrohungssituation vorzunehmen. Fahrzeuglenker setzen ihre Fahrmanöver ein, um einem Massenunfall zu entrinnen, Polizeibeamte nutzen ihre Eigensicherung, um bei einem Schusswechsel zu überleben. Lebensgefährliche Situationen werden so oftmals durch den Einsatz überlebensstrategischer Praktiken bewältigt. Die Internalisierung der bedrohlichen Situation ist allerdings in vielen Fällen unvollständig oder läuft überhaupt nicht ab. Eine konkrete Gefahr wird zwar gespeichert, der seman-
tische Kontext mit der Umwelt und dem eigenen Risikoverhalten aber nicht hergestellt. So entsteht eine erfahrungsbiographische Zäsur. Die subjektive Gefahrenbewertung geht in einen Bereitschaftszustand, um bei passender Gelegenheit das Gefahrenbild nachträglich zu vervollständigen. Diese passende Gelegenheit liegt nach den vorliegenden Studien zwischen wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden. Der Vorgang ist von der Regenerationsfähigkeit des Informationshaushaltes des Betroffenen abhängig. Erst bei einer ausreichend vorhandenen Ressourcenreserve gelingen dann die notwendigen Nachbewertungen. Sie binden allerdings eine größere Menge an Information. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass in außergewöhnlichen und lebensgefährlichen Situationen die Bewertungsfähigkeit und die Explorationsfähigkeit zuerst ausfallen. Das führt z. B. in einer akuten Überlastung im Straßenverkehr zu falschen Einschätzungen der Verkehrssituationen und zu orientierungslosen und sinnlosen Fahrmanövern. Das Bewertungsdefizit fördert außerdem den Ungewissheitsgrad über das Geschehene. Der Einzelne will aber Klarheit haben. Er entwickelt mentale Aktivitäten, um die Unsicherheit zu beseitigen und Gewissheit über die erlebte Bedrohung herzustellen. Vor allem steht hierbei der Gedanke im Vordergrund, was wohl passiert wäre, wenn er die Gefahren nicht bewältigt hätte oder in sie verwickelt worden wäre. Eine solche retrospektiv ausgerichtete Risikoabwägung muss die kognitiven und emotionalen Verarbeitungsoperationen der durchlebten Bedrohungssituation erreichen, um Gewissheit zu erlangen. Während die Nachbewertung den konkreten Anteil des erlebten Bedrohungspotentials relativ leicht erreicht, ist der semantische Anteil mit seinem Bedeutungsgehalt für den Betroffenen nicht immer eindeutig. An dieser Stelle ist eine Gesprächsintervention hilfreich. Der angestrebte Nachholbedarf ist gedeckt, wenn es gelingt, eine vollständige Nachbewertung des Bedrohungsgepräges vorzunehmen. Die Nachbewertung der bedrohlichen Situation reaktiviert allerdings Stress mit psychischen und somatischen Folgewirkungen. Der Schreck stellt sich jetzt nachträglich ein. Das kann zu Regulationsstörungen der kardiopulmonalen Funktionen beitragen, die im Zuge der Aktivierung des biochemischen Haushaltes zu einem Hochstressprofil generieren, das die Leistungsfähigkeit und die Verhaltenssicherheit beeinträchtigt.
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Der beschriebene Vorgang wird daher Stressnachschlageffekt genannt. Durch Introspektion, mentale Rekapitulation und subjektive Nachbewertung erfolgt dabei die zeitlich verzögerte Evozierung eines dysfunktionalen Stressprofils mit den eingangs geschilderten Symptomen. Dysfunktionaler Stress, er ist risikosteigernd, beherrscht jetzt das Verhalten. Durch die retrospektive Bewertung der Bedrohungen werden nicht nur die konkreten Gefahren erinnert, sondern auch ihre möglicherweise lebensbedrohlichen Auswirkungen. Da die Insuffizienzen, die durch den Stressnachschlageffekt ausgelöst werden, vom psychophysischen Allgemeinbefinden und der Leistungsfähigkeit determiniert sind, wird in den amerikanischen Streitkräften vom Old Sergeant Syndrom gesprochen. Dort hat sich gezeigt, dass nach einem heftigen Bedrohungszustand in Verbindung mit einer verminderten psychophysischen Leistungsfähigkeit oder einem Erschöpfungszustand bereits leichte Verletzungen durch Nachbewertungen der Bedrohungslage zum Tod führen können. Bewertungsinformation wirkt neurokognitiv, in dem sie erfahrungsgebundene semantische Felder im Gedächtnis aufruft und sie zur Skalierung der Gefahren heranzieht. Gedankliche Kodierung und akute Stressvulnerabilität steuern jetzt den Grad der psychosomatischen Akutstörungen und der Auffälligkeiten im Verhalten der Betroffenen. Die Wirksamkeit des Nachdenkens hängt jeweils vom Ausmaß der nachbewerteten Bedrohungssituation ab. Ein Vorgang, der den subjektiven Bedrohungsgrad und seine Auswirkungen bestimmt. Objektives Ausmaß des Sachschadens und der eigenen Verletzungen spielen hierbei nur eine untergeordnete Rolle. So kann eine objektiv nicht lebensbedrohliche Situation und sogar Unverletztheit dennoch bei Unfallbeteiligten zu Stressnachschlageffekten führen. Wesentlich ist, welchen subjektiven Bedrohungsgrad sie jeweils dem erlebten Unfall beimessen. Die Auswirkungen des Stressnachschlageffektes zeigen eine beachtliche Breitbandsymptomatologie. Tödliche Effekte treten meistens zusammen mit einem instabilen Kreislaufsystem auf; trifft doch der Nachschlageffekt einen Menschen, der
Das Risiko der Stressnachschlageffekte
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sich in einer Ruhephase befindet, sich den überstandenen Gefahren bewusst wird. Ein plötzlich heftig einsetzender Stress, ein Burst stress, überrumpelt ihn geradezu. Bei Massenunfällen und Sprengstoff-Attentaten bietet sich außerdem eine beachtliche Variationsbreite des Stressnachschlages an. Allerdings gibt es hier diagnostische Schwierigkeiten, weil die Rettungskräfte erst nach mehreren Minuten am Einsatzort eintreffen. Daher sind nur noch die Verhaltensresultate der Betroffenen von diagnostischer Relevanz. Zu unterscheiden sind z. B. bei Massenunfällen die Kollisionsverursacher von den Kollisionsopfern. Für den Stressnachschlag sind der Augenblick vor dem Unfall und der Unfallhergang entscheidend, ob in diesen Augenblicken Lebensgefahr wahrgenommen wird oder nicht. Bei Kollisionsverursachern ist außerdem weniger Stressnachschlag beobachtbar als bei Kollisionsopfern. Rasche Unterscheidungen sind nicht immer möglich, wodurch sich die Verhaltensprognosen für den Stressnachschlag abschwächen. Daher ist zu empfehlen, auf jene besonders zu achten, die ruhig und nachdenklich herumstehen und den Unfall ohne Verletzungen überstanden haben. Bei alltäglichen Verkehrsunfällen heben sich folgende Verhaltensprofile ab, die Stressnachschlag-gefährdend sind: ] Unfallbeteiligte Person ist unverletzt oder nur leicht verletzt und harrt der Dinge. ] Unfallbeteiligte Person setzt nach der Erledigung der Formalitäten die Fahrt fort. Im ersten Fall liegen die Risiken in der Wartephase. Sie veranlasst zum Nachdenken und Nachbewerten. Im zweiten Fall häufen sich Risiken nach der Weiterfahrt. Auch hier bilden sich jetzt Reserven, über das Erlebte nachzudenken. Nach einem ersten Stressgipfel, der in der ursprünglichen Gefahrensituation entsteht, entwickelt der Stressnachschlag anschließend noch einen zweiten. Dieser ist weitaus gefährlicher als der erste. Folgende Volksmund-Weisheiten treffen hier zu: „Duplizität der Unfall-Ereignisse“; „Ein Unglück kommt selten allein“.
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Das Risiko der Stressnachschlageffekte
Präventive Maßnahmen Der Stressnachschlageffekt löst einen Verhaltenszustand aus, der Unfälle auslösen kann. Daher sind präventive Sofort-Maßnahmen unerlässlich. Präventive Interventionen sind darauf zu richten, dass der Betroffene in die Lage versetzt wird, den Stressnachschlageffekt abzufangen. Seine Auswirkungen lassen sich verhindern oder abschwächen. Folgende Sofort-Maßnahmen sind nach einem Unfall zu empfehlen: ] Bekannt sein muss der erlebte Bedrohungsgrad des Betroffenen, und zwar seine subjektive Einschätzung des erlebten Unfalls. Ausschlaggebend ist die subjektive Lebensbedrohung, die der Betroffene empfindet, und nicht das objektive Schadensausmaß eines Unfalls. ] Daraus lässt sich die Wahrscheinlichkeit eines Stressnachschlageffektes prognostizieren. ] Personen, die gerade eine Gefahrensituation bewältigt haben, sind mental und körperlich zu aktivieren. Der durch Nachdenken provozierte Stressnachschlageffekt trifft so auf einen psychophysischen Zustand, durch den
der plötzlich einsetzende Hochstress leichter verarbeitet werden kann. ] Während der Aktivitäten ist mit dem Betroffenen über das Erlebnis zu sprechen, um die Nachbewertungen der Gefahren zu erleichtern. Die Risiken und Wirkungszusammenhänge der Stressnachschlageffekte sind noch wenig bekannt. Sie sind nach überlebten Unfällen eine zweite Gefahr. Daher ist die Aufmerksamkeit vermehrt auf sie zu richten.
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Recht und Gutachten
Recht 44
Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma
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Schleudertrauma – Recht der gesetzlichen Unfallversicherung
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Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule
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Haftungsverteilung bei zwei Unfällen mit Verletzungen der Halswirbelsäule – Auswirkung von Vorschädigungen
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Unfallbedingte Distorsionsschädigung einer degenerativ vorgeschädigten Halswirbelsäule
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Wenn die Seele Schaden nimmt: Psychische Unfallfolgen in der Rechtsprechung und deren „Bewertung“
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Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung
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Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz
44 Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma L. Jaeger
Entscheidung des BGH vom 28. 1. 2003 – VI ZR 139/02 – Es ist nun fünf Jahre her, dass der BGH 1 eine Aufsehen erregende Entscheidung zum HWSSchleudertrauma erließ, zu der der Leitsatz lautete: Allein der Umstand, dass sich ein Unfall mit einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung („Harmlosigkeitsgrenze“) ereignet hat, schließt die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO von seiner Ursächlichkeit für eine HWS-Verletzung nicht aus.
Feststellung eines Schleudertraumas ohne Gutachten zur Differenzgeschwindigkeit In dieser Entscheidung hat der BGH es gebilligt, dass das Berufungsgericht eine HWS-Distorsion „nach Erdmann I“ festgestellt hatte, ohne ein Gutachten zur Differenzgeschwindigkeit eingeholt zu haben. Auch ohne ein solches Gutachten soll eine Überzeugungsbildung des Gerichts von einem Schleudertrauma nach dem strengen Maßstab des § 286 ZPO möglich sein, wenn das Gericht seine Überzeugung auf der Grundlage eines medizinischen Gutachtens eines Sachverständigen gebildet hat. Ausdrücklich billigt der BGH diese Überzeugung, wenn sie gestützt wird auf einen Befund des erstbehandelnden Arztes, der den Verletzten am Unfalltag untersucht und dabei u. a. Röntgenaufnahmen und Funktionsaufnahmen der HWS vorgenommen hat. Hat dieser Arzt eine
äußerlich unauffällige, frei bewegliche endgradig schmerzhafte HWS sowie einen leichten Stauchungsschmerz diagnostiziert und darüber hinaus angegeben, der 6. und 7. Halswirbelkörper seien deutlich druckschmerzhaft, und sind ähnliche Befunde in der Folgezeit auch von anderen Ärzten erhoben worden, so reichen diese medizinischen Erkenntnisse aus, den Vollbeweis für ein Schleudertrauma zu führen.
Feststellung des Schleudertraumas allein durch medizinisches Gutachten Eindeutig ist die Aussage des BGH, dass das Instanzgericht in einem solchen Fall nicht verpflichtet sei, hinsichtlich des Umfangs der Beschädigungen der beteiligten Fahrzeuge und der sich daraus ergebenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ein Sachverständigengutachten einzuholen und sodann mittels eines biomechanischen Gutachtens der Frage nachzugehen, ob der Unfall geeignet war, eine HWSDistorsion hervorzurufen. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Verletzung verursacht habe, seien stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen 2. Die Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit einer bestimmten, im Niedriggeschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, die im Bereich zwischen 4 und 10 km/h anzusetzen sei („Harmlosigkeitsgrenze“), eine Verletzung der HWS generell auszuschließen sei 3, sei in Recht2
3 1
BGH, Urteil vom 28. 1. 2003 – VI ZR 139/02 – mit Anm. Jaeger, VersR 2003, 474 = NZV 2003, 167 = NJW 2003, 1116.
Vgl. OLG Hamm VersR 2002, 992 [994] = NZV 2001, 468 [469]; vgl. OLG Celle OLGR 2002, 81; vgl. OLG Frankfurt/M. NZV 2002, 120. Vgl. OLG Hamm NJW 2000, 878 [879]; r+s 2000, 502 [503]; DAR 2001, 361; NZV 2001, 303; KG Berlin VersR 2001, 597; r+s 2002, 111; vgl. auch KG Berlin KGR 2001, 163 (164).
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L. Jaeger
sprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik 4 gestoßen und werde insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen 5.
Harmlosigkeitsgrenze – nur ein Gesichtspunkt – weitere Faktoren beachten Der BGH fährt fort, dass gegen die schematische Annahme einer solchen „Harmlosigkeitsgrenze“ auch spreche, dass die Beantwortung der Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhänge, wobei u. a. ] der Körpergröße, ] der Sitzposition des betreffenden Fahrzeuginsassen und ] etwa vorhandenen Gesundheitsstörungen des Verletzten Bedeutung beizumessen sein könne 6 . Die Kollision sei erfolgt, als der Kläger mit schräg nach rechts oben gewendetem Kopf nach oben geblickt habe, um einen Blick auf die Lichtzeichenanlage zu werfen. Gesicherte medizinische Erkenntnisse zu der Frage, ob und in welcher Weise derartige Muskelanspannungen und Kopfdrehungen die Entstehung einer HWSDistorsion beeinflussen könnten, seien bisher nicht bekannt 7. In einem solchen Fall sei nicht ersichtlich, in welcher Weise ein Gutachten über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zu einer weiteren Aufklärung des Geschehensablaufs beitragen könne, nachdem das Berufungsgericht aufgrund eingehender medizinischer Begutachtung und ausführlicher Anhörung des Klägers in tatrichterlicher Würdigung die Überzeugung gewonnen habe, dass durch den Unfall eine Körperverletzung des Klägers verursacht worden sei.
4
5 6 7
Vgl. OLG Celle OLGR 2002, 81; OLG Frankfurt/M. NZV 2002, 120; vgl. auch OLG Bamberg NZV 2001, 470 = VersR 2002, 77 L; Kuhn DAR 2001, 344 [345 ff.] m. w. N. Castro/Becke zfs 2002, 365 (366). Vgl. Mazzotti/Castro NZV 2002, 499 (500) m. w. N. Vgl. OLG Hamm NZV 2002, 322 (324); Castro/Becke zfs 2002, 365.
Die Entscheidung des BGH lässt sich mit Wedig 8 wie folgt zusammenfassen: ] Es gibt keine Harmlosigkeitsgrenze. ] Es gibt keine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung, unter der eine HWS-Verletzung absolut auszuschließen ist. ] Wichtige internationale Literatur wird von den Befürwortern einer Harmlosigkeitsgrenze schlicht ignoriert. ] Es wird übersehen, dass die Frage, ob jemand durch einen Unfall (an der HWS) verletzt worden ist oder nicht, von ganz anderen Parametern abhängt, als nur von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung. Deshalb vermag ein Kfz-technisches Gutachten über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zu einer Aufklärung des Geschehensablaufs nichts beitragen, wenn aufgrund eingehender medizinischer Begutachtung feststeht, dass durch einen Unfall eine Körperverletzung verursacht worden ist.
Entwicklung der Rechtsprechung seit dieser Entscheidung In der Literatur ist die Entscheidung auf Zustimmung, aber auch auf Ablehnung gestoßen. Dabei kann man nicht feststellen, dass die Diskussion immer sachlich geführt wird. Lemcke 9 greift die BGH-Entscheidung mit scheinbar grundsätzlichen Erwägungen an. Er ist der Auffassung, das OLG hätte in dem der BGH-Entscheidung zugrunde liegenden Fall trotz der medizinischen Beurteilung ein unfallanalytisches Gutachten einholen sollen und müssen. Er fragt, was geschehen wäre, wenn dieses ergeben hätte, dass die biomechanische Belastung praktisch gleich null gewesen wäre. In diesem Fall hätte das OLG den medizinischen Sachverständigen ergänzend anhören müssen zu der Frage, ob er seine Beurteilung angesichts des Ergebnisses des unfallanalytischen Gutachtens aufrechterhalten könne. Lemcke übersieht hierbei, dass das OLG zu einem solchen (hypothetischen) Vorgehen schon deshalb keine Veranlassung hatte, weil es als Berufungsgericht, worauf der BGH in seiner Entscheidung aus8 9
Wedig, DAR 2003, 393 ff. Lemcke, Unfallbedingte HWS-Beschwerden und Haftung, r+s 2003, 177 ff.
44
drücklich hingewiesen hat, „auf Grund eingehender medizinischer Begutachtung und ausführlicher Anhörung des Klägers“ die Überzeugung gewonnen habe, dass durch den Unfall eine Körperverletzung des Klägers verursacht worden sei. Daraus folgt, dass das von Lemcke dem OLG vorgeschlagene Vorgehen auf der Unterstellung beruht, das OLG habe den medizinischen Sachverständigen ohne ausreichende Feststellungen sozusagen ins Blaue hinein sein Gutachten erstatten lassen. Die vom BGH getroffene Feststellung, nicht alle Sonderfaktoren für die Beurteilung von Unfallfolgen seien bisher ausreichend wissenschaftlich untersucht worden, wird in der Literatur nur zu zwei Fragen aufgegriffen, nämlich zur Sitzposition und zur Frage der Vorschädigung der Wirbelsäule. Einwendungen gegen die Berücksichtigung der Körpergröße bei der Beurteilung der Frage, ob ein Fahrzeuginsasse auch bei geringer Differenzgeschwindigkeit ein Schleudertrauma erlitten haben könnte, sind nicht erhoben worden.
Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma
]
Mitarbeiter des Orthopädischen Forschungsinstituts (OFI) haben einen verletzungsfördernden Faktor der „out of position“ verneint 10. Sie stützen ihr Ergebnis, dass die „out of position“ keinen signifikanten Einfluss auf Unfallfolgen habe, auf die Überprüfung bereits vorliegender eigener interdisziplinärer Gutachten, in denen eine abweichende Sitzhaltung beschrieben worden sei. In diesem Beitrag führen sie selbst aus, dass für eine solche Untersuchung richtigerweise eine vorausschauende vergleichende Studie – und nicht, wie geschehen, eine retrospektive –
gewählt werden müsse, um eine aussagekräftige Antwort zu erhalten. Das leuchtet unmittelbar ein, denn ob ein Verletzter die Frage nach der Sitzhaltung zuverlässig in Erinnerung hat und beantworten kann, bedarf sorgfältiger Klärung. Auf bereits abgeschlossene Gutachten, in denen solche Angaben oft nur zufällig enthalten sind, darf deshalb nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden. Die vom OFI gewählte Methode ist deshalb, wie in dem Beitrag eingeräumt wird, eine „weniger aussagekräftige“ und „logistisch einfachere Vorgehensweise“. Aus diesem Grund weisen die Autoren einleitend darauf hin, dass bereits 2002 festgestellt worden sei, dass die zur Verfügung stehende Literatur zur These der verletzungsfördernden Wirkung der „out of position“ eher Zweifel begründe, obwohl keine neueren Publikationen zu diesem speziellen Thema vorlägen. Dies sei auch zu vereinbaren mit den Erkenntnissen aus dem Autoskooter; abweichende bzw. verdrehte Kopfhaltungen seien im Autoskooter sicherlich keine Ausnahme, dennoch werde auch nach Teilnahme im Autoskooterbetrieb nicht gehäuft über HWS-Beschwerden berichtet. Mazotti/Kandaouroff/Castro 11 haben Gutachten ausgewählt, die jeweils 55 Personen – vergleichbar nach Alter und Geschlecht – mit und ohne Kopfhaltung „out of position“ betrafen. Das OFI-Institut ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Personengruppen keine signifikanten Unterschiede aufwiesen. In nahezu allen Fällen (93% bzw. 98%) klagten die Probanden über Nackenschmerzen und in 75% bzw. 71% über Kopfschmerzen. Die Differenzgeschwindigkeit betrug in der Gruppe „out of position“ 2 bis 21 km/h, bei der Vergleichsgruppe 3 bis 19 km/h. Die Autoren wollen keine signifikanten Unterschiede festgestellt haben. Selbst wenn man dieses Ergebnis respektiert, fällt doch auf, dass weit über 90% der begutachteten Personen über Verletzungen der Halswirbelsäule, Nackenschmerzen, Kopfschmerzen und/oder Bewegungsbeeinträchtigungen geklagt haben. Man hätte auf der Basis der sonst vom OFI-Institut vertretenen Auffassung, dass bei einer Differenzgeschwindigkeit von bis zu 10 km/h kein HWS-Schleudertrauma auftreten kann, erwarten müssen, dass bis zu 20% oder mehr der untersuchten Personen beider Gruppen keine Beschwerden gehabt hätten, nämlich die, bei deren Fahrzeug eine ganz geringe Differenzgeschwindigkeit von 2 oder 3 km/h oder eine
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] Sitzposition – out of position Die Frage der Sitzposition (out of position), die in der BGH-Entscheidung eine wichtige Rolle spielte, ist jedoch alsbald diskutiert worden, wenn auch – soweit ersichtlich – Gerichte sich mit dem Problem nicht zu beschäftigen brauchten.
Auswertung von Gutachten – retrospektive Forschung
Mazzotti, Kandaouroff, Castro, NZV 2004, 561 ff.
NZV 2004, 561 ff.
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L. Jaeger
nur geringfügig höhere vorgelegen hat. Dieser Widerspruch wird nicht erläutert. Man hätte doch erwarten dürfen, dass die Ergebnisse kritisch hinterfragt werden würden, um die These zu belegen, dass bei geringer Differenzgeschwindigkeit ein HWS-Schleudertrauma nicht auftreten kann. Diesen Widerspruch haben sie offenbar nicht erkannt. Es fällt auch auf, dass Mazzotti/Castro 12 zwei Jahre zuvor die Auffassung vertreten haben, dass bei Unfällen eine abnormale Sitzposition ebenso berücksichtigt werden müsse, wie die Tatsache, dass ein Anstoß aufgrund einer überlagerten Querkomponente stattgefunden hat. Auch sonstige potenziell die Verletzung fördernde Faktoren, die ggf. die Belastbarkeit der Halswirbelsäule im Einzelfall verringern könnten, wie z. B. Voroperationen, angeborene Anomalien, die darüber hinaus nur von einem medizinischen Sachverständigen beurteilt werden könnten, müssten berücksichtigt werden. Sie kommen 2002 – im Gegensatz zur Studie aus dem Jahre 2004 – zu dem Ergebnis, dass bei herabgesetzter Belastbarkeit des Betroffenen eine Verletzung auch bereits bei geringer Differenzgeschwindigkeit möglich sei. Um im Einzelfall überhaupt beurteilen zu können, ob verletzungsfördernde Faktoren insbesondere vonseiten der Konstitution des Betroffenen vorliegen würden, bedürfe es immer einer medizinischen Begutachtung, da sich diese Beurteilung eindeutig dem technischen und juristischen Sachverstand entziehe. ] Fazit. Genau das sagt der BGH, dessen Aussage aber von den Mitgliedern des OFI-Instituts nicht nur nicht akzeptiert, sondern bekämpft wird. Das Ergebnis der retrospektiven Betrachtung der jeweils 55 bereits vorliegenden Gutachten kann so nicht zutreffen. Es kommt hinzu, dass Mazzotti/Castro in dem 2002 verfassten Aufsatz mit Nachdruck – wie der BGH – die These vertreten haben, dass auch bei Unfällen mit nur geringer Differenzgeschwindigkeit ein medizinisches Gutachten schon deshalb eingeholt werden muss, um festzustellen, ob das Unfallopfer verletzungsfördernde Faktoren aufweist, die auch bei geringer Differenzgeschwindigkeit zu einem Schleudertrauma führen können.
Praktische Erfahrung – Autoskooter Lemcke 13 vertritt ebenfalls die Ansicht, dass eine Haltung „out of position“ bei geringer Differenzgeschwindigkeit nicht zu einem HWSSchleudertrauma führen kann. Er verweist zur Stütze seiner Argumente – wie auch Mazotti/ Kandaouroff/Castro 14 – auf das Phänomen Autoskooter: Bei Skooter-Kollisionen auf Jahrmärkten träten ebenfalls kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 15 km/h auf; HWS-Verletzungen in der Art, wie sie nach Verkehrsunfällen geklagt würden, kämen hier offensichtlich nicht oder allenfalls äußerst selten vor. Wäre es anders, würden die Betreiber schon aus haftungsrechtlichen Gründen die Anlagen mit niedrigeren Geschwindigkeiten betreiben. Allein unter biomechanischen Aspekten ließen die gewonnenen Erfahrungen aus diesen „Massenversuchen“ den Schluss zu, dass die hier auftretenden biomechanischen Belastungen der HWS zumindest i. d. R. schadlos überstanden würden. Lemcke irrt: Kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 15 km/h können im Autoskooter nicht vorkommen. Autoskooter erreichen nur deutlich geringere Geschwindigkeiten. Bei dem Stoß eines von hinten auffahrenden Skooters ist die Beschleunigung des vorderen Skooters – die Differenzgeschwindigkeit – nur minimal. Stöße von hinten sind beim Autoskooter nicht das Problem. Versucht wird von den meist jugendlichen Benutzern, andere Skooter – möglichst unter Ausnutzung eines Überraschungseffektes – von vorne (frontal) oder seitlich von vorne oder von hinten zu rammen. Der Frontalzusammenstoß stoppt zwar beide Skooter, es kommt aber nicht zu der typischen Einwirkung von Kräften auf die HWS. Zusammenstöße von der Seite, insbesondere von seitlich-hinten, beschleunigen zwar das vordere Fahrzeug, auch hier kommt es aber nicht zu nennenswerten Geschwindigkeitsänderungen im Sinne eines whiplash (Peitschenschlagsyndrom). Die Skooter werden durch einen solchen Anstoß nicht nennenswert beschleunigt. Selbst wenn das gerammte Fahrzeug steht, setzt es sich nach einem Aufprall nicht in Bewegung. Die Räder werden elektrisch angetrieben. Die Skooter lassen sich nur sehr schwer und nur sehr langsam durch eine von außen wirkende Energie bewegen. 13
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NZV 2002, 499.
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r+s 2003, 177 ff. NZV 2004, 561 ff.
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Der immer wieder vom OFI-Institut und von Lemcke strapazierte Vergleich mit dem Autoskooter ist realitätsfern. Die von ihnen gezogenen Schlussfolgerungen sind Spekulation. Wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse liefern die sog. Massenversuche nicht. Darüber hinaus spricht Lemcke 15 der Kopfhaltung eines Fahrzeuginsassen für die Entscheidung, ob im Harmlosigkeitsbereich eine HWS-Verletzung eintreten könne, jede Bedeutung ab, weil bei Autoskooter-Kollisionen Stöße aus allen Richtungen und mit jeder nur denkbaren Kopfhaltung vorkämen, und zwar nicht nur erwartete, sondern auch nicht erwartete Stöße. Das spreche gegen die Annahme, die Kopfhaltung könne von erheblichem Einfluss auf die Verletzungsgefahr sein. Wer gegenteiliger Auffassung sei, solle einmal eine Kirmes besuchen 16 und das Skooterfahrgeschäft beobachten; dort sehe man z. B. auch den Großvater mit seinem Enkel. Erwache der Skooterfahrer am nächsten Morgen mit „steifem Nacken“, werde er diese Befindlichkeitsstörung bagatellisieren mit der Folge, dass sie schnell wieder verschwinde. Nach einem Verkehrsunfall werde er einen Arzt aufsuchen, der ihm ein HWS-Schleudertrauma attestieren, ihn krankschreiben und das Tragen einer Schanz’schen Krawatte verordnen werde, und das Verhängnis nehme seinen Lauf. Um künftig diese realitätsfernen „Massenversuche“ aus der Diskussion heraus zu halten, sollte das Phänomen Autoskooter, aber auch der „simulierte Heckaufprall“ zum Anlass genommen werden, über psychische Folgen von Verkehrsunfällen nachzudenken, ohne jedoch ungeprüft davon auszugehen, dass ein Heckaufprall im Bereich der Harmlosigkeitsgrenze eine Bagatelle sei und dass etwaige gesundheitliche Folgen zu diesem Anlass außer Verhältnis stünden. Das gilt auch für Vorschäden des Verletzten. Denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH zu den psychischen Folgeschäden, die häufig als Folge von HWS-Verletzungen geltend gemacht werden, dass sich die Einstandspflicht des für einen Körper- oder Gesundheitsschaden verantwortlichen Schädigers grundsätzlich auch auf sie erstreckt 17. Das gilt 15 16
17
r+s 2003, 177 (180). Hätte Lemcke das getan, hätte er feststellen müssen, dass die Geschwindigkeiten der Skooter deutlich 15 km/h sei. In dem zur Entscheidung anstehenden Fall betrug diese jedoch nur 7 bis 12,9 km/h, jedoch kam eine Querbeschleunigung des Kopfes von etwa 3 km/h hinzu. Das KG Berlin beruft sich auf die Entscheidung des BGH und hält sich für verpflichtet, einen Mediziner als Sachverständigen zu befragen. Diesem folgt es dann in seiner Aussage, dass der Ursachenzusammenhang deshalb nicht gegeben sei, weil bei einer bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von nur 7 km/h eine Verletzungsmöglichkeit der HWS mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vorgelegen habe. Auch bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 13 km/h sei eine Verletzungsmöglichkeit der HWS weder mit an Sicherheit grenzender noch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bejahen, weil die von der Klägerin gemachten Angaben über Beschwerden (Nackenschmerzen, Schwindel und Übelkeit, Kopfschmerzen) sowie die in den Attesten und Durchgangsberichten festgehaltenen Beschwerden und Befunde in Bezug auf die HWS im Wesentlichen unspezifisch seien, d. h. sie könnten sowohl bei unfallunabhängigen als auch bei unfallabhängigen Erkrankungen der Halswirbelsäule vorliegen. Das gelte auch für die bei der Röntgenaufnahme festgestellte Steilstellung der Halswirbelsäule, denn nach medizinischen Untersuchungen läge eine steilgestellte HWS bei 42% der Normalbevölkerung vor 23. Die Querbeschleunigung des Kopfes wird sodann – isoliert betrachtet – ebenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alleine als nicht ausreichend angesehen, ein Schleudertrauma auszulösen. Auch wenn man die Differenzgeschwindigkeit mit berücksichtige, könne aus orthopädischer Sicht eine Verletzungsmöglichkeit der HWS weder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch mit überwie-
22 23
KG Berlin, Urteil vom 12. 2. 2004 – 12 U 219/02 – NZV 2004, 460 f. Eine Auffassung, die der 12. Zivilsenat des KG Berlin aufgegriffen und wiederholt in Entscheidungen zu Lasten der Kläger verwendet hat.
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gender Wahrscheinlichkeit bejaht werden. Begründungen für diese Aussage fehlen. Das LG Lüneburg 24 hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der technische Sachverständige eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 7–11 km/h festgestellt hatte. Es verweist sodann ausdrücklich auf die Aussage des BGH, dass bei Heckunfällen im Niedriggeschwindigkeitsbereich nicht generell eine Verletzung ausgeschlossen werden dürfe, so dass ein medizinisches Gutachten eingeholt werden müsse. Das Gericht fährt dann fort, dass der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten dargelegt habe, dass eine Verletzung der Klägerin im Bereich der Halswirbel durch den Auffahrunfall mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Zu diesem Ergebnis sei der Sachverständige unter Berücksichtigung der geringen Geschwindigkeitsänderung und auf Grund des Fehlens verletzungsfördernder Faktoren in der gesundheitlichen Gesamtkonstitution der Klägerin gelangt. ] Einzelne Gerichte folgen dem BGH nicht. Beide Entscheidungen zeigen, dass dem BGH nicht wirklich gefolgt wird. Liegt ein unfallanalytisches Gutachten vor, wird der Mediziner nur noch eingeschaltet, um dem Anspruch des BGH Genüge zu tun. Der Logikfehler, der darin liegt, dass der Mediziner seine medizinische Beurteilung mit dem Ergebnis des unfallanalytischen Gutachtens begründet, wird nicht erkannt. Ohne jede Kritik hat das KG Berlin sogar die Aussage des Mediziners übernommen, dass 42% der Normalbevölkerung eine steilgestellte HWS vorweisen können, eine unglaubliche Aussage, deren Richtigkeit nicht hinterfragt wurde. Und zu guter Letzt wird die Querbeschleunigung des Kopfes isoliert betrachtet und (natürlich) als alleine nicht ausreichend für ein Schleudertrauma angesehen. Eine Addition der hier festgestellten Umstände, nämlich ] der maximalen Differenzgeschwindigkeit von 13 km/h, ] der sich aus den Angaben der Klägerin ergebenden Nackenschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen, ] der durch Röntgenaufnahmen festgestellten Steilstellung der Halswirbelsäule und ] der festgestellten Querbeschleunigung des Kopfes der Klägerin, 24
LG Lüneburg, Urteil vom 23. 2. 2004 – 1 S 45/01 – SVR 2004, 348 f.
Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma
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die normalerweise für den Beweis eines Schleudertraumas ausreichen müssten, hat das KG Berlin einfach nicht vorgenommen. ] Die Rechtsprechung ändert sich längerfristig. In zahlreichen Entscheidungen hat die Rechtsprechung jedoch anerkannt, dass diese und andere Einflussparameter für die Entscheidung, ob im Harmlosigkeitsbereich eine HWS-Verletzung eintreten kann, von Bedeutung sind. Als solche Einflussparameter für die Verletzungswahrscheinlichkeit werden genannt: ] Art des Aufpralls: Heckanstoß oder Seitenkollision, Streifberührung, ] Größe der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung – je größer, desto größer die Verletzungswahrscheinlichkeit, ] bei von-bis-Werten ist der untere Wert maßgeblich 25, ] Sitzposition zur Zeit des Unfalls – vorgelehnt, zur Seite verdreht, „out of position“, ] Kopfdrehung zur Zeit der Kollisionen – z. B. Blick zur Ampel 26, ] Sitz- und Kopfstützenkonstruktion, Einstellung der Kopfstütze, ] Konstitution und Alter des Verletzten, ] Vorerkrankungen und Vorschädigung der HWS, z. B. durch einen früheren Unfall oder infolge degenerativer Veränderungen, Verschleißerscheinungen, ] überraschende oder erwartete Kollision, ] zeitlicher Zusammenhang zwischen Kollision und erstmaligem Auftreten von Beschwerden ] je kürzer das beschwerdefreie Intervall, desto größer die Verletzungsfolgen. Dagegen soll der Blick in den Innenspiegel keine „out of position“ darstellen 27. ] Atteste des erstbehandelnden Arztes oft unbeachtlich – notfalls: Flucht in die Bagatelle Nicht alle Gerichte messen ärztlichen Attesten die ihnen zukommende Bedeutung zu. Das OLG Brandenburg 28 misst der ärztlichen Diagnose einen gewissen Beweiswert zu, 25 26 27 28
OLG Köln, Urt. vom 2. 3. 2004 – 9 U 188/00 – SP 2004, 261 f. BGH, Urt. vom 28. 1. 2003 – VI ZR 139/02 – VersR 2003, 474 ff.= NJW 2003, 1116 ff. KG Berlin, Urt. vom 9. 5. 2005 – 12 U 14/04 – NZV 2005, 470 ff. OLG Brandenburg, Urt. vom 15. 1. 2004 – 12 U 117/03 – VersR 2006, 237.
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338
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L. Jaeger
] wenn diese unverzüglich nach dem Unfall getroffen wurde und ] wenn der Verletzte zuvor beschwerdefrei war. Einfacher lassen sich Klagen von Unfallopfern abweisen, wenn die medizinischen Erkenntnisse insbesondere des erstbehandelnden Arztes unberücksichtigt bleiben. So hat das LG Hanau 29 seine Entscheidung auf ein medizinisches Gutachten gestützt, das ein Schleudertrauma, unter Berufung auf eine 13 Tage nach dem Unfall gefertigte Computertomografie und Arztberichte, verneint hat mit der Begründung, dass die Computertomografie keine unfallbezogenen Verletzungen erkennen lasse und dass die am Tag nach dem Unfall ausgestellte ärztliche Bescheinigung ohne Überzeugungskraft sei, weil sie ersichtlich nur auf den Angaben des Verletzten beruhe. Ärztlichen Bescheinigungen sei kein entscheidendes Gewicht beizumessen, weil es nicht Aufgabe des behandelnden Arztes sei, eine Kausalität zwischen dem Unfallereignis und den beklagten Beschwerden herzustellen oder die subjektiven Angaben des Patienten über Beschwerden kritisch infrage zu stellen. Die Bewertung eines ärztlichen Attestes hänge davon ab, welche objektiven Feststellungen der Arzt getroffen habe; in dem Attest sei aber nur festgestellt, dass die HWS leicht druckschmerzhaft und ohne wesentliche Einschränkung der Beweglichkeit sei. Daraus hat das Landgericht Hanau 30 gefolgert, dass dem Verletzten lediglich eine leichte Zerrung ärztlich bescheinigt worden sei, eine Bagatellverletzung, bei der eine Entschädigung zu versagen sei. Es hat jedoch bei seiner Entscheidung nicht bedacht, dass bei einer HWSVerletzung mit dem Schweregrad I selbst am Unfalltag durchgeführte bildgebende Verfahren nichts hergeben. Aus einer 13 Tage nach dem Unfall gefertigten Computertomografie durfte deshalb nichts Nachteiliges für den Kläger geschlossen werden. Zwar stellt das Gericht zu Recht fest, dass es nicht Aufgabe des behandelnden Arztes ist, eine Kausalität zwischen dem Unfallereignis und den beklagten Beschwerden herzustellen oder die subjektiven Angaben des Patienten über Beschwerden kritisch infrage zu stellen. Es ist aber Aufgabe des Gerichts, diesen
Arzt als Zeugen zu hören und festzustellen, ob dieser die Angaben des Patienten für glaubhaft gehalten hat und ob sein Attest gar auf eigenen, objektivierbaren Feststellungen beruht. Richter sollten eigene medizinische Feststellungen – wie hier: leichte Zerrung – ohne sachverständige Unterstützung unterlassen. Das gilt auch für das AG Böblingen 31, das ebenfalls festgestellt hat, dass die Diagnose des behandelnden Arztes allein auf den Angaben der Klägerin beruhe. Angesichts der festgestellten Beschleunigungswerte von 5–7 km/h könne die Klägerin bei dem Unfall nur geringfügig verletzt worden sein, sodass ihr Wohlbefinden allenfalls nur kurzfristig unerheblich beeinträchtigt gewesen sei. In diesen Fällen, in denen eine Bagatellschwelle nicht überschritten sei, entfalle ein Anspruch auf Schmerzensgeld. In einer anderen Entscheidung befindet das AG Böblingen 32, dass die subjektiven Befunde (eines Arztes oder des Verletzten?) zwar nicht von vornherein ungeeignet seien, als Folge eines HWS-Schleudertraumas angesehen zu werden. Für sich alleine seien sie jedoch bei geringer Differenzgeschwindigkeit nicht geeignet, den dem Kläger obliegenden Beweis zu führen. Das LG Berlin 33 wertet einen Auffahrunfall wegen einer nur geringen Differenzgeschwindigkeit der Einfachheit halber als Bagatelle, mit der Folge, dass eine Belastungsreaktion des Unfallopfers als unangemessene Überreaktion anzusehen sei. Der Anlass sei für das Erleiden eines psychischen Schadens zu geringfügig gewesen. Damit ist es aller Sorgen um eine vertiefte Begründung enthoben. Und wenn sich eine Bagatelle nicht begründen lässt, weist ein Gericht die Klage ab, weil doch einiges dafür spreche, dass für die Beschwerden nicht der Verkehrsunfall verantwortlich war, sondern eine der leider nicht ganz unüblichen Schwindeleien mit einer HWS-Verletzung nach einem Unfall. Selbst wenn ein Arzt die Beschwerden des Patienten attestiert hat, wird dies abgetan mit der Begründung, die attestierten Beschwerden „sind im Wesentlichen unspezifisch, d. h. derartige Beschwerden werden häufig auch bei unfall31 32
29 30
Vgl. LG Hanau, Urt. v. 8. 4. 2005 – 2 S 276/04 – SP 2005, 267 f. Vgl. LG Hanau, Urt. v. 8. 4. 2005 – 2 S 276/04 – SP 2005, 267 f.
33
AG Böblingen, Urt. v. 27. 7. 2004 – 11 C 1450/04 – SP 2005, 272. AG Böblingen, Urteil vom 10. 1. 2005 – 19 C 2735/04 – SP 2005, 412. LG Berlin, Beschl. vom 4. 4. 2005 – 58 S 54/05 – SP 2005, 229 f.; so auch AG Böblingen, Urt. v. 27. 7. 2004 – 11 C 1450/04 – SP 2005, 272.
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unabhängigen Erkrankungen der HWS beklagt“. Deswegen reiche der zeitliche Zusammenhang des Auftretens der Beschwerden mit dem Unfall nicht aus, um mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit eine unfallbedingte Primärverletzung im orthopädischen Bereich festzustellen. Ebenso entschied das LG Köln 34, das das Gericht der ersten Instanz rügt, allein auf die von der Klägerin selbst geschilderten und von deren Mutter bestätigten Beschwerden (Kopf-, Nackenschmerzen sowie Schwindel) und die vom behandelnden Arzt festgestellte Verhärtung der Muskulatur mit Bewegungseinschränkung im Nacken und Schultergürtel abgestellt zu haben. Die Kammer weist den Vorderrichter zusätzlich darauf hin, dass sie in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertritt, dass eine Verletzung der HWS bei einer Differenzgeschwindigkeit unter 10 km/h i. d. R. ausgeschlossen sei. Daran ändere auch die Entscheidung des BGH 35 nichts, die einen anderen Fall betreffen soll. ] Stellungnahme All das ist so nicht richtig. Die entscheidende Frage für den Nachweis eines HWS-Syndroms ist, ob der ärztliche Befund ausreichend in einem Attest objektiviert worden ist. Das Attest darf sich (natürlich) nicht in einer ungeprüften Übernahme der Angaben des Patienten erschöpfen, sondern muss eigene Feststellungen des Arztes enthalten. Mit einem solchen Attest kann der Nachweis des HWS-Syndroms geführt werden 36. Diese Auffassung vertritt auch Müller 37, die das Ergebnis einer medizinischen Erstuntersuchung durchaus für bedeutsam hält, allerdings nur als eines von mehreren Indizien, das regelmäßig alleine zum Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfall und HWS-Schaden nicht ausreichen wird, zumal eine solche Verletzung erfahrungsgemäß oft nur vorsorglich bescheinigt wird.
34 35
36 37
LG Köln, Urt. vom 9. 7. 2003 – 26 S 244/02 – SP 2003, 345 f.= NZV 2004, 580 f. BGH, Urt. vom 28. 1. 2003 – VI ZR 139/02 – VersR 2003, 474 ff. mit eingehender Anm. von Jaeger = NJW 2003, 1116 ff. = NZV 2003, 167 ff = BGHR 2003, 487 ff. Diel in Anm. zu LG Lüneburg, Urt. vom 22. 10. 2002 – 6 S 119/02 – ZfS 2003, 123. Müller, ZfS 2005, 54 (59).
Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma
]
Dennoch wird der BGH bei einer Überzeugungsbildung des Tatrichters aufgrund eines ärztlichen Attestes diese Feststellung zu akzeptieren haben. Erforderlich ist nur, dass der erstbehandelnde Arzt sorgfältig begründet und sich mit den Angaben des Verletzten kritisch auseinander setzt. So hat das OLG Düsseldorf 38 ausdrücklich festgestellt, dass die bei der Erstuntersuchung des Verletzten erhobenen medizinischen Befunde nicht einfach als nicht objektivierbare Angaben marginalisiert werden dürften. Eine leichte Distorsionsbeeinträchtigung der HWS dürfe differenzialdiagnostisch nicht alleine aufgrund der Tatsache ausgeschlossen werden, weil sich in einem bildgebenden Verfahren kein morphologisches Korrelat für eine Verletzung finde. Druckschmerzangaben des Verletzten dürften nicht unberücksichtigt bleiben, weil ein Facharzt unterscheiden könne, ob es sich lediglich um eine subjektive Angabe des Untersuchten handele oder um die in der klinischen Untersuchung feststellbare Befundkonstellation eines HWS-Schleudertraumas, wenn kein Verdacht in Richtung einer Simulation oder Aggravation besteht. Auch das OLG Brandenburg 39 lässt der ärztlichen Diagnose eines unfallbedingten HWSSchleudertraumas einen gewissen Beweiswert zukommen, wenn der Geschädigte zuvor beschwerdefrei war und die Diagnose unverzüglich nach dem Unfall gestellt wurde. Dennoch hat es die Klage abweisen müssen, weil die erstbehandelnde Ärztin zwei Tage nach dem Unfall ein Schleudertrauma nicht diagnostizierte, und zudem ausdrücklich in der ärztlichen Bescheinigung festhielt, dass die dokumentierten Beschwerden (nur?) auf den Angaben des Verletzten beruhten.
Vorhandene Gesundheitsstörungen des Verletzten Betrachtet man das dritte Argument des BGH, dass auch vorhandene Gesundheitsstörungen des Verletzten eine Rolle spielen können, so wird dieses in der Rechtsprechung teilweise positiv aufgenommen. Vorhandene Gesundheitsstörungen können sowohl zugunsten als auch zulasten des Verletz38 39
OLG Düsseldorf, Urt. vom 29. 8. 2005 – I-1 U 11/05 – unveröffentlicht. OLG Brandenburg, Urt. vom 15. 1. 2004 – 12 U 117/03 – VersR 2006, 237.
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ten verwertet werden. Das OLG Stuttgart 40 hat eine beim Verletzten bestehende Veränderung der knöchernen Band- und Bandscheibenstrukturen dafür verantwortlich gemacht, dass beim Verletzten durch eine bloße Schonhaltung eine muskuläre Dysbalance auftrat, die zu den beklagten Beschwerden führte. Auf dieser Basis konnte sich der Senat von der Ursächlichkeit des Unfalls für die geklagten Beschwerden und somit von der Arbeitsunfähigkeit des Verletzten überzeugen. Weil der Gesundheitsstatus für die Beurteilung, ob ein Unfallbeteiligter ein Schleudertrauma erlitten hat, wichtig ist, ist Mazotti/ Castro 41 zuzustimmen, die früher (2002) gefordert haben, zur Klärung dieser Frage immer ein medizinisches Gutachten einzuholen. Beispielhaft ist insoweit die oben besprochene Entscheidung des OLG Stuttgart 42, das nach Anhörung eines medizinischen Sachverständigen und des Unfallopfers zu dem Ergebnis kommt, dass eine beim Verletzten vorhandene unfallunabhängige Schadensanlage im Lendenwirbelsäulenbereich ausreichen kann, durch eine bloße Schonhaltung eine muskuläre Dysbalance auszulösen, die zu Beschwerden führt. Auch das OLG Schleswig 43, das in ständiger Rechtsprechung der BGH-Entscheidung vom 28. 1. 2003 folgt 44, hat sich auch bezüglich der Prädisposition der BGH-Entscheidung angeschlossen und bemisst den Schaden bei einer auf der Prädisposition beruhenden Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens wegen dieses gesundheitlichen Vorschadens auf 50%. Nach den Ausführungen des Sachverständigen handelte es sich bei dem Kläger um eine schadensveranlagte Persönlichkeit, er war schon vor dem Unfall krank. Er hatte sich auf Grund innerseelischer Gebote und Schranken in hohem Maße erschöpft; in seiner Kindheit und Jugend war er starken seelischen Belastungsfaktoren ausgesetzt gewesen. Sein seelisches Gleichgewicht hatte er stets durch überdurchschnittliche Leistungen im 40 41 42 43
44
OLG Stuttgart, Urt. vom 5. 10. 2004 – 1 U 59/04 – NZV 2004, 582 (583) = DAR 2005, 33 (34). NZV 2002, 499 ff. OLG Stuttgart, Urt. v. 5. 10. 2004 – 1 U 59/04 – NZV 2004, 582 f. Vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 6. 7. 2006 – 7 U 148/01 – OLGR 2006, 821 = NJW-RR 2007, 171 = NZV 2007, 203. OLG Schleswig, Urt. vom 6. 7. 2006 – 7 U 148/01 – OLGR 2006, 821 = NJW-RR 2007, 171 = NZV 2007, 203; ebenso OLG Schleswig, Urt. v. 2. 6. 2005 – 7 U 124/01 – OLGR 2006, 5 ff.
beruflichen Bereich aufrecht zu erhalten versucht. Bei dieser vorgeschädigten Persönlichkeit hält das OLG Schleswig eine Anspruchskürzung um 50% für gerechtfertigt. Das Gericht sieht zwar, dass der Schädiger auch für seelisch bedingte Folgeschäden grundsätzlich voll haftet, meint aber, dass der Schaden auf Grund der psychischen Vorschädigung des Verletzten auch ohne den Unfall früher oder später eingetreten wäre. Hätte das OLG Schleswig den Sachverständigen gefragt, wann denn in etwa bei dem Verletzten ein ähnlicher Schaden eingetreten wäre, hätte der Sachverständige diese Frage nicht beantworten können. Die einzig mögliche Antwort wäre gewesen: „Ich bin doch kein Prophet“. So sehr eine prozentuale Kürzung auch gerechtfertigt erscheinen mag, sie lässt sich in der Regel nicht begründen. Allerdings billigt es der BGH 45, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, wenn die zum Schaden führende Handlung des Schädigers auf eine bereits vorhandene Schadensbereitschaft in der Konstitution des Verletzten trifft und so den Schaden ausgelöst hat und die Gesundheitsbeeinträchtigungen Auswirkungen dieser Schadensanfälligkeit sind 46. In einem solchen Fall trifft der Unfall zwar keinen gesunden, aber doch einen – im Vergleich zum derzeitigen Zustand – beschwerdefreien Menschen. Im Rahmen der schadensausfüllenden Kausalität ist nach § 287 ZPO die wahrscheinliche Entwicklung maßgebend. Gelingt es dem Schädiger, konkrete Anhaltspunkte dafür aufzuzeigen, dass Fehlentwicklungen gleichen Ausmaßes auch ohne den Unfall eingetreten wären, können Abschläge aufgrund der besonderen Schadensanfälligkeit gemacht werden. 47
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Vgl. BGH, Urt. v. 5. 11. 1996 – VI ZR 275/95 – VersR 1997, 122 ff.; so auch OLG Saarbrücken, Urt. vom 14. 3. 2006 – 4 U 326/03-5/05 – OLGR 2006, 761 ff.; OLG Hamm, Urt. vom 2. 4. 2001 – 6 U 231/99 – NJW-RR 2001, 1676 g. m. w. N. Vgl. BGH, Urt. v. 16. 11. 1961 – III ZR 189/60 – NJW 1962, 243; BGH, Urt. v. 2. 4. 1968 – VI ZR 156/66 – VersR 1968, 648 (650); BGH, Urt. v. 19. 12. 1969 – VI ZR 111/68 – VersR 1970, 281 (284); BGH, Urt. v. 29. 9. 1970 – VI ZR 74/69 – VersR 1970, 1110 (1111); BGH, Urt. v. 22. 9. 1981 – VI ZR 144/79 – VersR 1981, 1178 (1180); Born, OLGR, Kommentar, 2003, alle Hefte Nr. 4. Vgl. Born, OLGR, Kommentar, 2003, alle Hefte Nr. 4.
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Ausdrücklich aber weist der BGH 48 darauf hin, dass die Schadensanfälligkeit nicht ohne weiteres dazu führe, dass der Verletzte nicht das einem gesunden Menschen zustehende Schmerzensgeld verlangen könne. Sei der Verletzte vor dem Unfall für einen längeren Zeitraum beschwerdefrei gewesen, dann habe der Unfall zwar nicht einen gesunden, aber doch einen beschwerdefreien Menschen getroffen und eine Kürzung des Schmerzensgeldes müsse ausscheiden. Das LG Berlin 49 wertet dagegen einen Auffahrunfall wegen einer nur geringen Differenzgeschwindigkeit der Einfachheit halber nur als Bagatelle, mit der Folge, dass eine Belastungsreaktion des Unfallopfers als unangemessene Überreaktion anzusehen sei. Der Anlass sei für das Erleiden eines psychischen Schadens zu geringfügig gewesen. Damit ist es aller Sorgen um eine vertiefte Begründung enthoben.
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Vgl. BGH, Urt. v. 5. 11. 1996 – VI ZR 275/95 – VersR 1997, 122 ff. LG Berlin, Beschl. vom 4. 4. 2005 – 58 S 54/05 – SP 2005, 229 f.; so auch AG Böblingen, Urt. v. 27. 7. 2004 – 11 C 1450/04 – SP 2005, 272.
Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma
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Ergebnis So schließt sich der Kreis. Der BGH hat den Instanzgerichten Vorgaben gemacht, die diese aber nicht immer beachten und gelegentlich unterlaufen. Ob die Argumente der Instanzgerichte logisch sind, spielt keine Rolle. Die Feststellungen des erstbehandelnden Arztes werden im Wege vorweggenommener Beweiswürdigung als allein auf den Angaben des Verletzten beruhend abgetan. Eggert 50 hat Recht: Von der Rechtsprechung wird eine Hürde aufgebaut, die der Verletzte jedenfalls in den Fällen niedriger Differenzgeschwindigkeit nicht überwinden kann. Und das ist gut so?
50
Eggert, Verkehrsrecht aktuell 2004, 204 (205); Lemcke, r+s 2003, 177 (185).
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45 Schleudertrauma – Recht der gesetzlichen Unfallversicherung O. E. Krasney
Versicherter Personenkreis Erste Voraussetzung für den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (UV), z. B. beim Erleiden eines Schleudertraumas ist, dass der Verunglückte zum gesetzlich oder freiwillig versicherten Personenkreis gehört. Wie auch in den anderen Zweigen der Sozialversicherung sind kraft Gesetzes versicherte Personen vor allem die Beschäftigten (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Noch stärker als in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung gehören jedoch nach § 1 Abs. 1 Nrn. 2 bis 17 SGB VII weitere Personenkreise kraft Gesetzes zu dem Kreis der UV versicherten Personen. So sind in der UV u. a. kraft Gesetzes versichert: Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten sowie nicht nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige; Personen, die selbständig oder unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege oder in Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich, tätig sind; Personen, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr Nothilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Hinzu kommen noch die Personen, die kraft Satzung versichert sind (§ 3 SGB VII) oder sich freiwillig versichert haben (§ 6 SGB VII).
Versichertes Risiko Versicherungsfälle der UV sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Für das Schleudertrauma kommt jedoch nur der Versicherungsfall des Arbeitsunfalls in Betracht. Dieser setzt zunächst
voraus, dass es sich um einen Unfall handelt. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 sind Unfälle im Sinne der UV zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tode führen. Diese Voraussetzungen liegen bei einem Schleudertrauma vor. Das Tatbestandsmerkmal, „von außen“ auf den Menschen einwirken, soll zum Ausdruck bringen, dass ein aus innerer Ursache aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist. Dieses Merkmal hat den Zweck, äußere Vorgänge von krankhaften Vorgängen im Inneren des menschlichen Körpers sowie von vorsätzlichen Selbstbeschädigungen abzugrenzen.
Innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall Der Versicherungsschutz der UV beschränkt sich jedoch nur auf Arbeitsunfälle (und Berufskrankheiten). Er erfasst somit von den Unfällen nur solche, die „infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit)“ eintreten. Diese Unfälle sind die Arbeitsunfälle im Sinne der UV. Der innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der zum Unfall führenden Verrichtung ist keine Frage des Kausalzusammenhangs, sondern eine rechtliche Wertung. Der innere Zusammenhang ist gegeben, wenn sich der Unfall infolge einer Verrichtung ereignet hat, die dazu bestimmt war, dem Unternehmen zu dienen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff des „Unternehmens“ hier nicht nur Gewerbebetriebe erfasst, sondern weitergehend alle die Institutionen und die Bereiche mit einschließt, auf die sich der Versicherungsschutz gründet. So werden bei den Be-
45
schäftigten in der Regel gewerbliche Unternehmen in Betracht kommen, aber es gibt eben auch Beschäftigte z. B. in einem privaten Haushalt. Ebenso dient die Hilfe bei Verkehrsunfällen eben dem „Unternehmen der Hilfeleistung“. Im Hinblick auf die in der UV versicherten Millionen Personen, die bei ihrer versicherten Tätigkeit täglich noch viel mehr Millionen Verrichtungen tätigen, ist es kaum möglich, alle die vom Versicherungsschutz in der UV umfassten Verrichtungen aufzuzählen oder auch nur näher zu umschreiben. Für den Versicherungsschutz bei einem Schleudertrauma ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass unter dem Schutz der UV insbesondere die Dienst- und Geschäftsreisen stehen, die dazu bestimmt sind, dem Unternehmen zu dienen, in dem der Beschäftigte oder die sonst tätige Person versichert sind. Ebenso sind aber kraft Gesetzes in den Versicherungsschutz als versicherte Tätigkeiten einbezogen das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit sowie die in § 8 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGB VII zusätzlich aufgeführten Wegevarianten. Da der weitaus größte Teil der in der UV versicherten Personen auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit ein Verkehrsmittel benutzt, wird auch insoweit der Versicherungsschutz beim Erleiden eines Schleudertraumas von besonderer Bedeutung sein. Ebenso bedeutsam ist aber die Regelung in § 7 Abs. 2 SGB VII, dass verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließt. Dies bedeutet für die hier aufgezeigte Problematik des Schleudertraumas, dass selbst wenn die versicherte Person ein Schleudertrauma bei einem Verkehrsunfall erleidet, den sie selbst verschuldet hat, dies den Versicherungsschutz nicht beseitigt. Dies gilt selbst dann, wenn es sich dabei um grob fahrlässiges Verhalten gehandelt hat. Lediglich die Leistungen der UV können ganz oder teilweise versagt oder entzogen werden, wenn der Versicherungsfall bei einer vom Versicherten begangenen Handlung eingetreten ist, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichen Urteil ein Verbrechen oder ein vorsätzliches Vergehen ist (§ 101 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Selbst bei Verurteilung wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung ist deshalb der Versicherungsschutz in der UV nicht grundsätzlich ausgeschlossen (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr. 10).
Schleudertrauma – Recht der gesetzlichen Unfallversicherung
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Ursachenzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und der Gesundheitsstörung Da in der UV nur die gesundheitlichen Folgen von Arbeitsunfällen zu entschädigen sind, erfordert dies einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung, infolge der sich der Arbeitsunfall ereignet hat, und der beim Versicherten bestehenden Gesundheitsstörung. Auf dem Gebiet der Sozialversicherung, insbesondere der UV, wird in ständiger, im Schrifttum nahezu einhellig gebilligter Rechtsprechung die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung vertreten (s. u. a. BSGE 1, 254, 256; 66, 156, 158; BSG SozR 4-2200 § 589 Nr. 1). Das BSG hat in seinem Urteil vom 9. 5. 2006 (SozR 4-2700 § 8 Nr. 17) die Grundsätze der Rechtsprechung des BSG zur Anwendung der Kausalität der wesentlichen Bedingung noch einmal zusammengefasst. Danach ist Voraussetzung für die Anerkennung von Unfallfolgen die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen. Je genauer und klarer die bei dem Versicherten bestehenden Gesundheitsstörungen bestimmt sind, umso einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen. Die feststellbaren Gesundheitsstörungen sind klar zu definieren. Dabei weist das BSG zusätzlich darauf hin, dass angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglicher Schulenstreite diese Feststellungen nicht nur begründet sein sollen, sondern aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüsselbezeichnungen erfolgen sollen, damit die Feststellungen nachvollziehbar sind. Auch beim Schleudertrauma ist das vom BSG in der vorstehend angeführten Entscheidung betonte Erfordernis einer sorgsamen, genauen und differenzierten Befunderhebung von besonderer Bedeutung. Dabei ist der Faktor einer zeitlich möglichst gleich nach dem Unfall einzuleitenden und noch nicht von Medikamenten beeinflussten Befunderhebung besonders bedeutsam. „Zustand nach Schleudertrauma“ ist keine Befunddarstellung in dem vorstehend angeführten Sinne. Welche Befunde generell und im Einzelfall wesentlich und wie sie zu erheben sind, ist eine medizinische Frage. Die Befunde müssen, wie das BSG weiter zutreffend ausführt, genau beschrieben
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sein. Deshalb entspricht diesen Anforderungen z. B. nicht ein Hinweis, ein Schleudertrauma führe regelmäßig zu einer Hirnschädigung. Für jede Diagnose bedarf es der hierfür wissenschaftlich abgeklärten Einzelbefunde. Erst nach der Feststellung der „klar definierten Gesundheitsstörungen“ folgt die weitere Prüfung des Kausalzusammenhangs zwischen diesen festgestellten Gesundheitsstörungen und dem Arbeitsunfall. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob das Ereignis, das zu der Gesundheitsstörung geführt haben soll, überhaupt eine conditio sine qua non, also eine Ursache im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie und damit ein Ereignis war, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der „Erfolg“ (hier: die Gesundheitsstörung) nicht eingetreten wäre. In dem zweiten Prüfungsabschnitt folgt die Bewertung, ob das nach der Bedingungstheorie als Ursache festgelegte Ereignis auch eine wesentliche Bedingung und damit Ursache für den „Erfolg“ bildete. Welche Bedingungen als wesentlich angesehen und deshalb rechtlich Ursache oder Mitursache sind, ist eine Wertentscheidung. Schon aus der Bezeichnung „wesentliche Bedingung“ zeigt sich, dass auch bei einer Gesundheitsstörung mehrere Bedingungen an ihrer Entstehung oder Verschlimmerung mitgewirkt haben können. Sind zwei oder mehrere Ereignisse im gleichen Maße wesentlich für den Erfolg, dann sind sie alle wesentliche Bedingungen und damit Ursachen im Rechtssinne. Aber auch eine „nicht annähernd gleichwertige“, sondern verhältnismäßig niedriger zu bewertende Bedingung kann doch noch eine für den Erfolg rechtlich wesentliche Bedingung und damit Mitursache sein (vgl. u. a. BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 17; Brackmann/Krasney/Becker/Burchardt/Kruschinsky, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, Bd. 3, § 8 RdNr. 314; Mehrtens Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 RdNr. 8.2.3; Hauck/Noftz/ Keller, Sozialgesetzbuch, SGB VII, § 8 RdNr. 9; Schmitt, SGB VII, § 8 RdNr. 87). Sowohl die differenzierte Feststellung der Gesundheitsstörungen als auch der Ursachenzusammenhang zwischen ihnen und dem Unfall haben aufgrund der gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erfolgen. Eine Ursachenbeurteilung auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes setzt, wie das BSG in der schon mehrfach zitierten Entscheidung vom 9. Mai 2006 ausführt, voraus, dass es wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über
den Ursachenzusammenhang zwischen bestimmten traumatischen Ereignissen und bestimmten Gesundheitsstörungen gibt. Und auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes hat die Beurteilung des Einzelfalles in Würdigung des konkreten Versicherten zu erfolgen und darf nicht von einem fiktiven Durchschnittsmenschen ausgehen (BSG aaO). Allerdings ist eine Schwierigkeit bei der Beurteilung des wissenschaftlich abgesicherten medizinischen Erkenntnisstandes nicht zu verschweigen. Einerseits liegt es auch im Interesse der Versicherten, dass die Feststellung ihrer Gesundheitsstörungen und des Kausalzusammenhanges zwischen ihnen und dem Versicherten ebenso auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht wie z. B. allgemein die in Betracht kommenden Therapien. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass zumindest sehr häufig der wissenschaftlich begründete Erkenntnisstand einmal auf der Grundlage der Erkenntnisse einzelner Wissenschaftler gegen eine zunächst vorherrschende Auffassung begründet wurde. Die Berufung auf den wissenschaftlich begründeten Erkenntnisstand dient dem Schutz der Versicherten, darf aber nicht zu einer Erstarrung des medizinischen Fortschritts führen. Dies gilt auch für die Beurteilung der Gesundheitsstörungen, die nach einem Unfall als mögliche gesundheitliche Folgen zu beurteilen sind. Weder darf eine medizinische Beurteilung ohne wissenschaftliche Absicherung, die nur vereinzelt von Medizinern vertreten wird, zur Entscheidung herangezogen werden, noch rechtfertigt dies, wohl begründete und vor allem neue medizinische Erkenntnisse enthaltende ärztliche Meinungen von vornherein nur deshalb nicht zu beachten, weil zunächst die rein rechnerische Mehrheit der Mediziner noch eine andere Auffassung vertritt.
Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung Als Leistungen der UV hat der Unfallversicherungsträger „mit allen geeigneten Mitteln möglichst frühzeitig“ ] den durch den Versicherungsfall verursachten Gesundheitsschaden zu beseitigen oder zu bessern, seine Verschlimmerung zu verhüten und seine Folgen zu mildern,
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] die Versicherten nach ihrer Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung ihrer Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern, ] Hilfen zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens und zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft unter Berücksichtigung von Art und Schwere des Gesundheitsschadens bereitzustellen, ] ergänzende Leistungen zur Heilbehandlung und zur Rehabilitation sowie ] Leistungen zur Pflegebedürftigkeit zu erbringen (§ 26 Abs. 2 SGB VII). Noch einmal ausdrücklich betont das Gesetz den bereits seit Jahrzehnten beachteten Grundsatz, dass die Leistungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation Vorrang vor den Rentenleistungen haben. Deshalb ist es auch bei einem Schleudertrauma nach Feststellung der vorliegenden Gesundheitsstörungen so wichtig, zunächst die möglichen Maßnahmen der Heilbehandlung und ggf. der anschließenden Rehabilitation durchzuführen. Aber gerade für diese Leistungen gilt im Interesse der Versicherten gleichfalls, dass sie auf wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen beruhen. Die Leistungen der UV werden ebenfalls grundsätzlich als Dienst- und Sachleistungen zur Verfügung gestellt, soweit das SGB keine Abweichungen vorsieht. Dabei bestimmen die Unfallversicherungsträger im Einzelfall Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung und Rehabilitation sowie die Einrichtungen, die diese Leistungen erbringen, nach pflichtgemäßem Ermessen. Allerdings gilt auch für die Träger der UV, dass nach § 33 Satz 2 SGB I bei der Ausgestaltung von Rechten und Pflichten den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden soll, soweit sie angemessen sind. Darüber hinaus regelt § 9 SGB IX das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten für die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und somit für die gesamte Rehabilitation, dass bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe den berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen wird (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Dabei wird auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen Weltanschauungen und Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; im Übrigen gilt – wie hier bereits erwähnt – § 33 SGB I (s.
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§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Die Sachleistung zur Teilhabe, die nicht in Rehabilitationseinrichtungen auszuführen sind, können auf Antrag der Leistungsberechtigten als Geldleistung erbracht werden, wenn die Leistungen hierdurch voraussichtlich bei gleicher Wirksamkeit wirtschaftlich zumindest gleichwertig ausgeführt werden können (vgl. § 9 Abs. 2 SGB IX). Ist für die Entscheidung des Trägers der UV über eine Leistung ein ärztliches Gutachten erforderlich, so ist § 200 Abs. 2 SGB VII zu beachten, wonach vor Erteilung eines Gutachtenauftrages der Unfallversicherungsträger dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen soll. Wiederum ist zur Teilhabe für die Leistungen verstärkend § 14 Abs. 5 Satz 3 SGB IX zu berücksichtigen, wonach der Rehabilitationsträger den Leistungsberechtigten in der Regel drei möglichst wohnortnahe Sachverständige unter Berücksichtigung bestehender sozialmedizinischer Dienste zu benennen hat. Haben sich Leistungsberechtigte für einen bestimmten Sachverständigen entschieden, wird dem Wunsch Rechnung getragen (§ 14 Abs. 5 Satz 4 SGB IX).
Ausblick Für alle diese Leistungen, vor allem aber für die Durchführung der Heilbehandlung und die Rehabilitationsleistungen, ist, wie bereits betont, eine genaue Diagnostik unmittelbar nach dem Schleudertrauma von ganz wesentlicher Bedeutung. Nur wenn Art und Ausmaß von Verletzungen am Bewegungssystem durch Anamnese und klinische Befunde diagnostiziert sind und ggf. durch apparative Diagnostik bestätigt werden, können gezielte Maßnahmen der Heilbehandlung und der Rehabilitation durchgeführt werden. Wiederum ist zu beachten, dass sowohl bei der Diagnostik als auch bei den einzelnen Maßnahmen der Heilbehandlung und der Rehabilitation die gesicherten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft maßgebend sind. Gerade die Entwicklungen in den beiden letzten Jahrzehnten haben gezeigt, wie Erfolg versprechend es in der Regel ist, wenn unmittelbar nach einem Schleudertrauma aufgrund genauer Diagnostik sogleich die gebotenen Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt werden. Dabei sollte noch stärker als bisher die Notwendigkeit einer möglichst zeitnahen genauen Feststellung der Gesundheitsstörungen nach einem für ein
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Schleudertrauma in Betracht kommenden Ereignis und die ggf. bestehende Notwendigkeit von Maßnahmen der Heilbehandlung gerade in den Fällen beachtet werden, in denen auch unklar ist, ob es sich um einen Arbeitsunfall handelt und der Träger der UV zuständig ist, oder ob, falls kein Arbeitsunfall vorliegt, eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als Träger gegeben ist. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall, dass zunächst als Träger die gesetzliche Krankenversicherung angegangen wird. In beiden Fällen sollten zunächst die Maßnahmen durchgeführt werden und dann die entstandenen Kosten ggf. von dem abschließend
als zuständig erkannten Träger der Sozialversicherung erstattet werden. Dies wäre auch für die gesamte Sozialversicherung der regelmäßig sonst wesentlich höhere finanzielle Mittel vermeidende Weg. Schließlich wäre damit vor allem das Vertrauen der Versicherten in den Schutz der gesamten Sozialversicherung gestärkt, wenn erforderliche Maßnahmen und notwendige Leistungen nicht durch Zuständigkeitsfragen verzögert werden, insbesondere dann, wenn lediglich fraglich ist, welcher Träger in welchen Sozialversicherungszweig die gesetzlich vorgesehenen entsprechenden Leistungen zu erbringen hat.
46 Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule G. Dannert
Der folgende Beitrag wendet sich gegen die so genannte Harmlosigkeitsgrenze, soweit diese dazu benutzt wird, Schadensersatzforderungen für (behauptete) HWS-Verletzungen zurückzuweisen. Er beschränkt sich allerdings auf eine zum Teil stichwortartige Begründung, weil der zur Verfügung stehende Raum eine ausführliche Argumentation nicht immer zulässt.
] Abkürzungen AG BGH BGHZ
= Amtsgericht = Bundesgerichtshof = Entscheidungen des BGH in Zivilsachen DAR = Deutsches Autorecht (Rechtszeitschrift des ADAC) KG = Kammergericht (Berlin) LG = Landgericht NJW = Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR = NJW-Rechtsprechungsreport NZV = Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht OLG = Oberlandesgericht r+s = Recht und Schaden (Informationsschrift für Versicherungsrecht und Schadenersatz) VersR = Versicherungsrecht (Juristische Rundschau für die Individualversicherung) VUuFT = Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik (Fachzeitschrift für Kfz-Sachverständige) zfs = Zeitschrift für Schadensrecht
Das Feststellungsdilemma bei „leichten“ HWS-Verletzungen Für den Zivilrichter, der über Schadensersatzansprüche zu entscheiden hat, gehören unfallbedingte HWS-Verletzungen zum täglichen Brot. Die Beschäftigung mit ihnen ist jedoch nicht immer erfreulich. Wenn nämlich der Anspruchsteller Beeinträchtigungen geltend macht, die nach der Klassifikation des Orthopäden Erdmann (1973) 1 den Schweregrad I aufweisen und damit nach gängiger Auffassung als „leicht“ einzustufen sind, dann ist es für Ärzte in aller Regel nicht möglich, diese Beeinträchtigungen mit Hilfe der üblichen bildgebenden Verfahren zu erfassen. Damit scheiden die zuverlässigsten Mittel zur Feststellung der Verletzung und ihres Umfangs aus. Unter diesen Umständen bleibt dem Anspruchsteller in der Regel nichts anderes übrig, als sich auf seine behandelnden Ärzte zu berufen. Deren Diagnosemöglichkeiten sind indessen ebenfalls eng begrenzt, denn ihnen bleiben nur die Angaben des Verletzten (Anamnese) und dessen körperliche Untersuchung. Die Untersuchung ergibt aber oft nichts oder nur Befunde, die auch ohne einen Unfall häufig auftreten und somit für HWS-Verletzungen „nicht spezifisch“ sind. Dass die Darstellung des Verletzten nicht unbedingt zuverlässig ist, liegt ebenfalls auf der Hand, zumal dann, wenn eine Schadensersatzforderung im Raum steht. Die Atteste, die ein Arzt dem Verletzten ausstellt, sind deshalb für ein Gericht nicht ohne weiteres beweiskräftig. 2
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Erdmann, Schleuderverletzung der Halswirbelsäule – Erkennung und Begutachtung, Stuttgart 1973, S. 72 ff. Vgl. Lemcke, Das „HWS-Schleudertrauma“ aus juristischer Sicht, NZV 1996, 337 ff (339 f).
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G. Dannert
Die Gerichte, die sich mit HWS-Verletzungen befassen müssen, desgleichen die Versicherungsgesellschaften, die für solche Verletzungen Ersatz leisten sollen, befinden sich daher in einem üblen Dilemma: Sie müssen befürchten, dass viele Ersatzforderungen zu Unrecht erhoben werden, denn das Wissen, dass es Beeinträchtigungen gibt, die häufig vorkommen, sich aber der Überprüfung durch Ärzte entziehen (so dass Lügen kaum zu widerlegen sind), fordert natürlich dazu heraus, sie wahrheitswidrig zu behaupten (Simulation) oder aufzubauschen (Aggravation). Auf der anderen Seite ginge es jedoch entschieden zu weit, wenn jetzt alle Anspruchsteller, die eine HWS-Verletzung des Schweregrades I geltend machen, als Simulanten oder Aggravanten behandelt würden. Immerhin sind genügend Fälle bekannt, in denen unbedenklich davon ausgegangen werden kann, dass der Anspruchsteller tatsächlich die behauptete „leichte“ HWS-Verletzung davongetragen hat.
Biomechanische Grenzwerte – ein Ausweg aus dem Feststellungsdilemma? Angesichts des vorstehend geschilderten Feststellungsdilemmas ist es kein Wunder, dass die betroffenen Juristen eine Art deus ex machina zu sehen glaubten, als ihnen eines Tages eine neue Wissenschaft, die „Biomechanik“, Hilfe anbot. Diese Wissenschaft geht davon aus, dass Verletzungen eines menschlichen Körpers dann entstehen, wenn (1) eine bestimmte mechanische Kraft auf ihn einwirkt, die (2) seine Belastungsgrenze übersteigt. Einfaches Beispiel: Stößt ein Kraftfahrzeug gegen das Schienbein eines Fußgängers, so bricht dieses, wenn der Stoß eine bestimmte Stärke erreicht hat. Ist der Stoß weniger stark gewesen, unterbleibt eine Fraktur. Wichtig ist also die Ermittlung von Belastungsgrenzwerten, und zwar in zweifacher Weise: Ein unterer Wert zeigt an, bis zu welchem Punkt die Belastung unschädlich und somit „harmlos“ ist; einem oberen Wert kann entnommen werden, ab wann sie immer schädlich ist; in der Zwischenzone hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, ob es zu einer Schädigung kommt oder nicht. Für die Untergrenze bietet sich demnach die Bezeichnung „Harmlosigkeitsgrenze“ an. Zu er-
mitteln sind die Grenzwerte in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Technikern und Ärzten. Erstere müssen die mechanische Einwirkung ermitteln. Aufgabe der Letzteren ist es dann, die Auswirkungen einer bestimmten Einwirkungsstärke auf den menschlichen Körper und seine Gesundheit zu untersuchen und festzustellen. 3 Die Verlockung dieser Denkweise für den Juristen liegt auf der Hand. Sollte es nämlich für HWS-Verletzungen naturwissenschaftlich definierte Belastungsgrenzen geben, so müsste er in erster Linie diese ermitteln lassen. Insbesondere dann, wenn die Untergrenze, also die Harmlosigkeitsgrenze, unterschritten wäre, läge der Fall klar: Der Anspruchsteller hat keine Verletzung erlitten; jedenfalls keine, die durch den behaupteten Unfall verursacht worden ist; sein Ersatzanspruch ist zurückzuweisen. Erst bei Überschreitung der Harmlosigkeitsgrenze ist ein Ersatzanspruch denkbar.
Die gängigen Grenzwerte für „Harmlosigkeit“ Die Forschungen zur Ermittlung von biomechanischen Belastungsgrenzen für HWS-Verletzungen beruhen überwiegend auf der Auswertung von planmäßig herbeigeführten Kollisionen, deren „Opfer“ vorher und nachher auf etwaige Verletzungen untersucht worden sind. Außerdem sind Autoskooter-Anstöße überprüft sowie Versuche mit Tieren, Dummys und Leichen unternommen worden. Ganz überwiegend beziehen sich diese Untersuchungen auf Heckkollisionen, bei denen ein stehendes (oder langsam fahrendes) Fahrzeug von hinten angefahren und nach vorn gestoßen wird. Frontal- und Seitenkollisionen sind demgegenüber zunächst in den Hintergrund getreten. In Deutschland sind biomechanische Untersuchungen vor allem durch das Ingenieurbüro Schimmelpfennig & Becke in Münster/Westfalen in Zusammenarbeit mit Ärzten der dortigen Universität (Prof. Dr. Castro u. a.) durchgeführt worden. (Man ist daher versucht, von einer 3
Eingehend hierzu Eisenmenger/Beier, Medizinische Rekonstruktion von Straßenverkehrsunfällen, DAR 2004, 633 ff, sowie Eisenmenger, Die Distorsion der Halswirbelsäule, Festschrift für Kay Nehm, Bonn 2006, S. 387 ff. – Siehe auch den Beitrag von Gauß in diesem Werk.
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Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule
„Westfälischen Schule“ zu sprechen. 4) Ergebnis dieser biomechanischen Forschung soll sein, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des vom Anspruchsteller benutzten Fahrzeugs, abgekürzt „Delta v“, der entscheidende Faktor für die HWS-Belastung und damit für die „Harmlosigkeitsgrenze“ ist. Die Höhe der Geschwindigkeitszunahme, die das Fahrzeug durch den erlittenen Stoß erreicht hat, soll also anzeigen, ob eine Verletzung der Insassen in Betracht kommt oder nicht. Die Grenze, bis zu der Delta v für die HWS erträglich sein soll, wird für Heckkollisionen ganz überwiegend mit 10 km/h angegeben. 5 Dieser Wert wurde anfangs ersichtlich als eine absolute Grenze aufgefasst, deren Nichterreichen eine HWS-Verletzung unter allen Umständen ausschließen sollte. 6 Inzwischen sind die Verfechter der Harmlosigkeitsgrenze allerdings erheblich vorsichtiger geworden. Sie formulieren ihre These durchweg nur noch dahin, dass unterhalb der Harmlosigkeitsgrenze „im Normalfall“ eine Verletzung „äußerst unwahrscheinlich“ sei. Einen Normalfall hält man hierbei dann für gegeben, wenn der betroffene Fahrzeuginsasse vor dem Unfall „gesund“ war und eine „normale Sitzposition“ eingenommen hatte. 7 Diese neue Formulierung bedeutet im Ergebnis den Schritt von einer absoluten zu einer nur noch relativen oder besser eingeschränkten Harmlosigkeitsgrenze. Ein wichtiger Grund für diese Einschränkung dürfte 4
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Siehe z. B. Stefan Meyer/Hugemann/Michael Weber, Zur Belastung der Halswirbelsäule durch Auffahrunfälle, Teil I: VUuFT 1994, 15 ff, Teil II: VUuFT 1994, 187 ff; Michael Weber, Die Aufklärung des Kfz-Versicherungsbetrugs, Münster 1995 (insbes. S. 497 ff: Das vorgetäuschte HWS-Trauma); Stefan Meyer, Das technische Belastungsgutachten als Grundlage der interdisziplinären Beurteilung von HWS-Verletzungen nach Heckkollisionen, Kongressbericht 1997 der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin, S. 230 ff; Becke/Castro/Hein/ Schimmelpfennig, „HWS-Schleudertrauma“ 2000 – Standortbestimmung und Vorausblick, NZV 2000, 225 ff; Born/Rudolf/Becke, Die Ermittlung des psychischen Folgeschadens – der „BoRuBeck-Faktor“, NZV 2008, 1 ff. Wehner, Das HWS-Schleudertrauma, in: Madea/ Mußhoff/Berghaus (Hrsg.), Verkehrsmedizin, Köln 2007, S. 733 ff (737). So z. B. Stefan Meyer/Hugemann/Michael Weber, aaO (Fn. 4), S. 21. Siehe z. B. Becke/Castro/Hein/Schimmelpfennig, aaO (Fn. 4), S. 232.
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darin zu sehen sein, dass die geschilderten Harmlosigkeitslehren nicht unbestritten geblieben sind und dass es in einigen Fällen trotz geringer unfallbedingter Geschwindigkeitsänderung zu nachgewiesenen HWS-Verletzungen gekommen ist. Man wird freilich auch ein kommerzielles Interesse vermuten dürfen: Wenn nämlich – nachdem die abstrakten Grenzwerte geklärt sind – ein bestimmter konkreter Wert von Delta v darüber entscheidet, ob eine HWS-Verletzung denkbar ist oder nicht, dann genügt es in vielen Fällen, dass ein technischer Sachverständiger diesen konkreten Wert ermittelt; ein medizinischer Sachverständiger ist überflüssig. Die Ärzte, die sich bislang intensiv mit diesem Thema befasst haben, bringen sich damit insoweit um Arbeit und Brot. Die Sorge, sich von einer Tätigkeit als Gutachter weitgehend auszuschließen, ist dagegen unbegründet, sofern Delta v nur eine Vermutung aufstellt, die durch die Umstände des jeweiligen Einzelfalls entkräftet werden kann. Die Einschränkung der Harmlosigkeitsgrenze gilt naturgemäß nicht nur für die Heckkollision, sondern auch für die anderen Kollisionsarten. Auch für diese hat man inzwischen Grenzwerte postuliert. 8 Sie unterscheiden sich allerdings von denen für den Heckaufprall, weil die physischen Bedingungen anders sind. Bei der Frontalkollision wirkt sich aus, dass die Muskeln im Nacken kräftiger sind als im Bereich des vorderen Halses. Sie sind daher einer stärkeren Belastung gewachsen. Der Grenzwert wird demgemäß höher angesetzt und meist mit Delta v = 15 bis 20 km/h angenommen. Bei seitlichen Kollisionen soll er dagegen niedriger sein – die Rede ist von 8 oder 5 oder sogar 3 km/h – , da die Kopfstütze den Kopf nicht fixieren kann und auch der Sicherheitsgurt kaum Schutz gewährt; bei entsprechender Stoßrichtung liegt zudem ein Anprall gegen einen Fahrzeugholm nahe.
Es gibt keine Harmlosigkeitsgrenze Die Freude darüber, dass mit der „Harmlosigkeitsgrenze“ ein anscheinend handfestes Kriterium für die juristische Bewältigung von HWS8
Siehe z. B. Wehner, aaO (Fn. 5), S. 741 f; Becke/ Castro/Hein/Schimmelpfennig, aaO (Fn. 4), S. 230 und 232; Löhle, Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS) – neuester Stand, zfs 2000, 524.
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Schadensfällen gefunden sein könnte, sollte freilich nicht dazu verleiten, die biomechanischen Formeln zu übernehmen. Es erscheint im Gegenteil angezeigt, sie sehr kritisch zu hinterfragen. 9
] Feststellungsschwierigkeiten bei Delta v Die Feststellung einer im konkreten Fall gegebenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ist alles andere als einfach. Sie verlangt einen erheblichen Aufwand, und die Gefahr, dass dem mit dieser Aufgabe betrauten Sachverständigen Fehler unterlaufen, ist entsprechend groß, zumal die Beschaffung der notwendigen Daten sehr oft auf große Schwierigkeiten stoßen wird.
] Vernachlässigung der Stoßzeit Delta v ist jedoch nicht nur wegen der Gefahr, falsch gemessen zu werden, fragwürdig. Es ergeben sich vielmehr grundsätzliche Bedenken. Soweit nämlich als Ursache für eine stoßbedingte HWS-Verletzung die unterschiedliche Beschleunigung von Kopf und Oberkörper in Betracht kommt, kann Delta v nicht der entscheidende Faktor für die Beurteilung der Verletzungsmöglichkeit sein, denn „Beschleunigung“ (= a) ist nicht die durch den Stoß schließlich erreichte Geschwindigkeit, sondern die Geschwindigkeitsänderung in einer bestimmten Zeitspanne. Es ist daher auch die Dauer der Stoßzeit (= Delta t) zu berücksichtigen (die sehr unterschiedlich sein kann), und zwar nach der Formel a = Delta v/Delta t. Lediglich auf Delta v abzustellen, ist eine unzulässige Vereinfachung.
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Die nachfolgende Kritik versteht sich als Fortführung der vom Verfasser bereits an anderer Stelle genannten Einwände. Siehe Dannert, Rechtsprobleme bei der Feststellung und Beurteilung unfallbedingter Verletzungen der Halswirbelsäule, NZV 1999, 453 ff (459), und: Schadensersatzforderungen nach unfallbedingter Verletzung der Halswirbelsäule, Teil I: zfs 2001,2 ff (6 ff), Teil II: zfs 2001, 50 ff. – Die Einwände stützen sich (auch hier) überwiegend auf Löhle, HWS-Problematik, zfs 1997, 441 ff. – Siehe auch den Beitrag von Gauß in diesem Werk.
] Vernachlässigung der Insassenbeschleunigung Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass auch durch den Quotienten aus Delta v und Delta t noch nicht der entscheidende Belastungsfaktor gefunden werden kann. Dieser gibt nur die Beschleunigung des gestoßenen Fahrzeugs an. Wenn aber geklärt werden soll, ob eine beschleunigungsbedingte HWS-Verletzung vorliegt, so muss naturgemäß entscheidend sein, wie die Fahrzeuginsassen, und zwar im Bereich von Kopf und Oberkörper, durch den Stoß beschleunigt worden sind. Diese Beschleunigungswerte können erhebliche Unterschiede aufweisen.
] Vernachlässigung weiterer belastungsrelevanter Umstände Die auf den Körper der Fahrzeuginsassen einwirkenden Kräfte hängen darüber hinaus von weiteren Faktoren ab, die von Delta v (und auch von Delta t) unabhängig sind. Hier ist vor allem an den Kollisionsablauf (z. B. den Anstoßwinkel), die Steifigkeit der Fahrzeugkarosserie sowie an die Ausrüstung des Fahrzeugs mit Sicherheitseinrichtungen (z. B. Kopfstützen und Sicherheitsgurten) und an deren Benutzung durch die Fahrzeuginsassen zu denken, desgleichen an Art und Benutzung der Sitze. Nicht zu vergessen sind ferner Überlagerungsvorgänge, wenn also stoßbedingte Bewegungen eines Fahrzeuginsassen durch andere Vorgänge, z. B. einen nachfolgenden zweiten Stoß, beeinflusst werden. Typisches Beispiel ist die Heckkollision mit Aufschieben des gestoßenen Fahrzeugs auf das Fahrzeug des Vordermannes, wodurch der nach vorn zurückpendelnde Kopf eines Insassen einen zusätzlichen Impuls in dieser Richtung erhält.
] Vernachlässigung persönlicher Faktoren Wenn eine Harmlosigkeitsgrenze für unfallbedingte HWS-Verletzungen festgestellt werden soll, so darf sie naturgemäß nicht nur auf solche Umstände abstellen, von denen die Krafteinwirkung auf die Unfallopfer abhängt. Sie muss ebenso berücksichtigen, welche Widerstandskraft die Opfer haben. Gerade hier be-
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Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule
steht jedoch Anlass zu deutlicher Kritik, denn Delta v hat mit dem Zustand der Opfer gar nichts zu tun. Es sollte auf der Hand liegen, dass die körperliche Konstitution der Opfer im Zeitpunkt des Unfalls eine wichtige Rolle spielt. In Betracht kommen insbesondere Körpergröße, Gewicht, Geschlecht, Alter, Gesundheit, anatomische Besonderheiten, frühere Verletzungen (vor allem, wenn sie noch nicht ausgeheilt waren) und Verschleißerscheinungen. Für die Kopf- und Sitzhaltung soll z. B. eine Rolle spielen, ob der Fahrzeuginsasse eine „normale“ Position mit Anlehnung an den Sitz und Blick nach vorn einnahm oder ob bei ihm eine „out of position“ vorlag, er sich also nach vorn oder zur Seite beugte, oder ob er, mit entsprechender Kopfdrehung, z. B. schräg nach oben („Ampelblick“), zur Seite oder nach hinten sah. In der Tat dürften derartige Bewegungen oder sogar Verrenkungen die Widerstandsfähigkeit der HWS-Region nicht unerheblich beeinflussen, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, dass die obersten Halswirbel (Atlas und Axis) gegen Stöße besonders empfindlich sind. Von immenser Bedeutung können schließlich psychische Umstände sein.
] Insbesondere: Nichtbeachtung psychischer Einflüsse Dass auch die menschliche Psyche zur Ursache von Verletzungen und Beschwerden werden kann, entspricht alltäglicher Erfahrung. Sie kann die Wirkung physischer Faktoren verstärken. Sie kann aber auch zur alleinigen Ursache werden, namentlich dann, wenn ein Unfall als besonders schwerwiegend und damit gefährlich empfunden wird. Dasselbe gilt, wenn jemand eine (tatsächlich oder vermeintlich) lebensbedrohende Situation auf sich zukommen sieht und ihr hilflos gegenübersteht. Andererseits kann das bewusste Angehen einer Gefahr die damit vielleicht verbundene körperliche Belastung relativieren, z. B. wenn Jahrmarktbesucher Fahrten mit Autoskootern unternehmen und es hierbei als spaßig empfinden, sich gegenseitig anzustoßen. Auch die Aktivitäten von Sportlern und Artisten können in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Besonders deutlich geworden ist die Möglichkeit einer rein psychischen Verursachung durch Versuche, die seitens des Ingenieurbüros Schimmelpfennig & Becke (in Zusammenarbeit mit
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Ärzten aus Münster und Bochum) um 1999 durchgeführt worden sind. Hierbei wurden die 51 Probanden keiner echten Kollision ausgesetzt. Diese wurde vielmehr durch entsprechende Geräusche und Bewegungen vorgetäuscht. Es war also Delta v = 0. Gleichwohl klagten 10 Probanden (= 19,6%) später über Beschwerden der Art, wie sie bei HWS-Verletzungen immer wieder angegeben werden. 10 Alle vorgebrachten Beschwerden wurden offensichtlich ernstgenommen und nicht etwa als Simulation oder Aggravation gewertet. Sie zeigen also handgreiflich, dass entsprechende Beschwerden keiner mechanischen Einwirkung bedürfen. Damit haben die Verfechter einer mechanisch definierten Harmlosigkeitsgrenze – soweit diese ein Mittel gegen den Anspruchsteller sein soll – den Ast abgesägt, auf dem sie sitzen. Es bleibt nur der Schluss übrig, dass eine solche Grenze nicht nur in ihrer absoluten, sondern auch in ihrer eingeschränkten Fassung nicht haltbar ist. Demgegenüber ist eingewandt worden, mit „Verletzungen“ seien „morphologische“ und keine psychischen Schäden gemeint. 11 Dieses Argument ist jedoch verfehlt, denn für die rechtliche Bewertung macht es keinen Unterschied, ob Schäden physischer oder psychischer Art sind (sofern Letztere „Krankheitswert“ besitzen). Desgleichen ist es unerheblich, ob sie eine physische oder eine psychische Ursache haben. Alle diese Formen sind „gleichberechtigt“. Vorsorglich sei auch noch darauf hingewiesen, dass psychisch bedingte Schadensfolgen auch bei geistig völlig „normalen“ Personen auftreten können und keineswegs die Folge einer auffälligen oder gar krankhaften Veranlagung sein müssen.
] Fazit Aus dem Nichterreichen eines bestimmten Delta v-Werts kann nach allem weder abgeleitet werden, dass unfallbedingte HWS-Verletzungen „ausgeschlossen“ noch dass sie „im Normalfall äußerst unwahrscheinlich“ sind.
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Einzelheiten bei Becke/Castro/Hein/Schimmelpfennig, aaO (Fn. 4), S. 232 f. Castro/Stefan Meyer/Becke, Replik auf Löhle (zfs 2000, 524), zfs 2001, 152.
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Die Grenzwerte in der Rechtsprechung (bis 2003) Obwohl die vorstehende Kritik deutlich gemacht hat, dass es in HWS-Fällen keine Harmlosigkeitsgrenze gibt, mit deren Hilfe Ersatzansprüche zu Fall gebracht werden können, ist gerade letzteres in der Rechtsprechung immer wieder geschehen. Die Ursache hierfür wird darin zu sehen sein, dass die Richterschaft sehr oft über Sachverhalte zu befinden hat, die außerhalb ihrer persönlichen Erfahrung liegen. Für deren Beurteilung kann sie also von sich aus nur auf Schulwissen zurückgreifen. Da dieses in der Regel lückenhaft und unzureichend sein wird, ist sie dann gezwungen, Sachverständige als Gutachter einzuschalten und sich von ihnen die nötigen Erklärungen geben zu lassen. Diese Ausführungen werden dann nicht selten blindlings übernommen. Die nachfolgende Darstellung will versuchen, einen kurzen Überblick über den Gang der Rechtsprechung zu geben, indem auf einige signifikante Urteile hingewiesen wird, nach Möglichkeit durch wörtliche Wiedergabe so genannter Leitsätze, die bei der Veröffentlichung von Gerichtsurteilen den Urteilsgründen üblicherweise vorangestellt werden (allerdings nicht immer von den Richtern selbst verfasst sind). Berücksichtigt werden dabei vor allem die Entscheidungen der Oberlandesgerichte. Die ebenfalls zahlreichen Urteile der Land- und Amtsgerichte müssen überwiegend vernachlässigt werden.
] Urteile zu Gunsten einer Harmlosigkeitsgrenze a) Das erste Gericht, das sich zur Harmlosigkeitsgrenze bekannt hat, dürfte das AG Winsen/ Luhe gewesen sein. Es hat einem Gutachten des „Ingenieurbüros S und B“ entnommen, der von hinten angestoßene Pkw der Klägerin sei auf „6 bis maximal 12 km/h“ beschleunigt worden. Durch einen medizinischen Gutachter hat es sich sodann dahin belehren lassen, dass bei einer Geschwindigkeitsänderung von maximal 12 km/h eine wesentliche Verletzung der HWS nicht habe eintreten können (was der absoluten Form der Harmlosigkeitsgrenze entspricht). Mit
Urteil vom 30. 11. 1994 12 hat es demgemäß die Schmerzensgeldklage der Klägerin abgewiesen. Der diesbezügliche Leitsatz lautet: „Bei einem Auffahrunfall reicht eine Geschwindigkeitsänderung von 6 bis maximal 12 km/h nicht aus, um eine HWS-Verletzung hervorzurufen.“ b) In den folgenden Jahren hat sodann das OLG Hamm eine Art Vorreiterrolle im Einsatz für die Harmlosigkeitsgrenze übernommen – was angesichts der räumlichen Nähe zur „Westfälischen Schule“ (s. ,Die gängigen Grenzwerte für „Harmlosigkeit“ ‘) kein Wunder ist. Es hat sich (durch verschiedene Senate) sowohl zu einer absoluten als auch zu einer eingeschränkten Formel bekannt. Am Anfang stehen mehrere Urteile, in denen apodiktisch erklärt worden ist, dass kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen bis zu 10 km/h völlig harmlos und unschädlich seien. Hierzu als Beispiel der folgende Leitsatz: „Bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 6 km/h ist die biomechanische Insassenbelastung so gering, dass es aus orthopädischer Sicht nicht vorstellbar ist, dass die Halswirbelsäule geschädigt worden ist.“ 13 Schon ab 1998 kam es jedoch zu Entscheidungen, die vorsichtiger formuliert waren und damit nicht mehr der absoluten, sondern der eingeschränkten Variante der Harmlosigkeitsgrenze folgten. Es wurde also eingeräumt, dass Delta v nicht der allein ausschlaggebende und Gewissheit verschaffende Faktor für die Verursachung von HWS-Verletzungen ist, sondern dass es daneben, zumindest in Ausnahmefällen, auch noch auf weitere Umstände ankommen kann. Auch hierzu ein Leitsatz als Beispiel: „Beträgt bei einem Auffahrunfall die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des vorderen Fahrzeugs und damit auch die des Insassen maximal 7,4 km/h, kann normalerweise eine HWS-Verletzung nicht eintreten.“ 14 Es fragt sich freilich, ob der Übergang von der absoluten zur eingeschränkten Harmlosigkeitsgrenze für die tägliche Gerichtspraxis zu nennenswerten Änderungen geführt hat. Eine Durchsicht der veröffentlichten Entscheidungen spricht nämlich dafür, dass letzten Endes alles beim alten geblieben ist, weil die nunmehr als relevant anerkannten „weiteren Umstände“ im 13 14
12
r+s 1996, 442.
Urteil des 27. Zivilsenats vom 16. 1. 1997, r+s 1998, 325. Urteil des 6. Zivilsenats vom 26. 6. 2000, r+s 2000, 502.
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Einzelfall einfach zu „quantités negligeables“ herabgestuft worden sind (sehr oft unter Mitwirkung der Sachverständigen Schimmelpfennig/Becke und Castro). Im Ergebnis ist dann fast immer Delta v siegreich geblieben, und die auf Schadensersatz klagende Partei hatte das Nachsehen. Es hat naturgemäß auch Fälle gegeben, in denen das OLG Hamm die Unfallbedingtheit von Beschwerden trotz eines niedrigen Delta-v-Wertes nicht verneinen konnte oder wollte. Hier wurde dann vielfach eine psychische Störung angenommen, was den Weg zu einer anderweitigen Abweisung der Klage eröffnete: Man konnte nämlich wegen dieser psychischen Ausrichtung den Krankheitswert der Störung ablehnen 15 oder (falls das nicht gut möglich war) ihren „Zurechnungszusammenhang“ mit dem Unfall verneinen, weil es sich bei diesem – wegen des geringen Delta-v-Wertes – um eine „Bagatelle“ im Sinne der BGH-Rechtsprechung (BGHZ 132, 341) gehandelt habe. 16 c) Auch zahlreiche andere Oberlandesgerichte haben sich der Harmlosigkeitsgrenze bedient, um Klagen, die ihnen nicht berechtigt erschienen, abzuweisen. Zu nennen sind die Gerichte in Berlin (= KG), Hamburg, Karlsruhe, Frankfurt/Main, Köln, Nürnberg und München. 17
] Kritische Urteile Das stürmische Vordringen der Harmlosigkeitsgrenze hat erfreulicherweise das kritische Denken der Richterschaft nicht völlig ausgeschaltet, so dass es auch zu Entscheidungen gekommen ist, die dieser Grenze reserviert gegenüberstehen. a) Hier können zunächst diejenigen Urteile genannt werden, die eine Harmlosigkeitsgrenze nicht endgültig ablehnen, sondern sich nur gegen eine zu weitgehende Fassung (also eine ab15 16 17
So z. B. das vorstehend (Fn. 14) genannte Urteil. Siehe z. B. Urteil des 9. Zivilsenats vom 10. 3. 2000, NZV 2001, 303. KG, 3. 7. 1997, VersR 1997, 1416; Hamburg, 28. 11. 1997, NZV 1998, 415; Karlsruhe, 14. 5. 1998, zfs 1998, 375; Frankfurt/Main, 16. 12. 1998, zfs 1999, 516; Köln, 18. 12. 1998, VersR 2000, 1165; KG, 21. 10. 1999, NJW 2000, 877; KG, 12. 3. 2001, OLGReport 2001, 163; Nürnberg, 22. 11. 2001, zfs 2002, 524; München, 25. 1. 2002, r+s 2002, 370.
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solute Formulierung im Sinne der vorstehenden Ausführungen) wenden und stattdessen die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles fordern. Ein gutes Beispiel ist das Urteil des Landgerichts München I vom 21. 10. 1999 18 mit folgendem Leitsatz: „Eine starre Grenze für die Kausalität eines HWS-Traumas in Folge eines Verkehrsunfalls kann nicht festgestellt werden. Eine HWS-Verletzung kann sich auch bei Geschwindigkeitsänderungen in einem sehr niedrigen Bereich (z. B. 4 km/h) ergeben.“ Im gleichen Sinne haben am 7. 9. 2001 das OLG Frankfurt/Main 19 und am 13. 12. 2001 das OLG Celle 20 entschieden. Interessant ist auch die Urteilsbegründung des Landgerichts München I: Zunächst werden der Inhalt eines ärztlichen Attests und die Angaben des Unfallopfers über das Geschehen am Unfalltage dargestellt. Dem Unfallopfer wird sodann bescheinigt, einen „ausgesprochen glaubhaften und ehrlichen Eindruck“ gemacht zu haben. Es folgt der Hinweis auf einen durch die Beklagte vorgelegten Bericht des Ingenieurbüros Schimmelpfennig und Becke, wonach unterhalb einer Geschwindigkeitsänderung von 11 km/h (was hier vorliege) eine Verletzung im HWS-Bereich nicht möglich sei. Diesem Bericht hält das Landgericht entgegen, dass insoweit auch die rechtsmedizinischen Sachverständigen verschiedener Meinung seien. Während Prof. Dr. Eisenmenger (München) den Eintritt eines HWSTraumas unter einer Geschwindigkeitsänderung von 13 km/h verneine, halte Prof. Dr. Mattern (Heidelberg) dies für möglich. Unter diesen Umständen gibt es der Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes statt. b) Andere Entscheidungen lassen grundsätzliche Bedenken gegen die Harmlosigkeitsgrenze anklingen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang ein Urteil des OLG Bamberg vom 5. 12. 2000. 21 Es orientiert sich bei der Frage, ob der Kläger eine HWS-Verletzung erlitten hatte, allein an der Diagnose und den Verordnungen eines Durchgangsarztes sowie an einer von diesem durchgeführten Nachuntersuchung. Ein Gutachten, das eine Kollisionsgeschwindigkeit von 7 bis 7,8 km/h errechnet haben soll, hält es dem18 19 20 21
NZV 2000, 173. NZV 2002, 120. OLG-Report 2002, 81. DAR 2001, 121.
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gegenüber für unerheblich. (Eine nähere Begründung wird nicht mitgeteilt.) Das bedeutet im Ergebnis, dass die Diskussion über Bestehen und Umfang einer Harmlosigkeitsgrenze in vollem Umfange für gegenstandslos erklärt wird. Angesichts der hier (unter ,Es gibt keine Harmlosigkeitsgrenze‘) geübten Kritik an dieser Grenze ist gegen dieses Verdikt an sich nichts einzuwenden. Die etwas unbedacht wirkende Hinnahme des ärztlichen Befundes lässt jedoch den Verdacht aufkommen, dass die Beweiskraft ärztlicher Verlautbarungen deutlich überschätzt wurde. Eine ähnlich kritische Einstellung gegenüber der Harmlosigkeitsgrenze lässt das LG Heidelberg in seinem Urteil vom 22. 8. 1996 22 erkennen. Dieses Urteil verweist auf das Gutachten eines von ihm bestellten Sachverständigen – es könnte sich um Prof. Dr. Mattern handeln –, demzufolge „selbst bei geringen Aufprallgeschwindigkeiten unter ungünstigen Umständen gravierende Beschwerden im Nackenbereich auftreten können, sogar Todesfälle“. Zu den von Grenzwertbefürwortern immer wieder erwähnten Kollisionsversuchen mit Freiwilligen bemerkt das Urteil ferner, dass deren Ergebnisse auf reale Unfälle nicht übertragbar seien, weil die Identität der Rahmenbedingungen nicht gesichert sei.
] Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich vor dem Jahre 2003 mit der Harmlosigkeitsgrenze nicht ausdrücklich befasst. Er hat allerdings in mehreren Fällen, in denen ein OLG bzw. das KG für die Anwendbarkeit einer solchen Grenze eingetreten war, die Annahme der Revision abgelehnt. 23 Das ist von den Befürwortern der Grenze sicher als Bestätigung ihrer Ansicht angesehen worden, lässt aber einen derartigen Rückschluss kaum zu. Es ist eher anzunehmen, dass der BGH die Streitfrage nicht entscheiden wollte, weil er die angefochtenen Urteile im Ergebnis für vertretbar hielt. Dabei darf nicht außer Acht bleiben, dass die Beweislast für eine Schadensersatzforderung grundsätzlich beim Anspruchsteller liegt. Es ist also gut denkbar, dass eine 22 23
DAR 1999, 75. So z. B. bei den in Fn. 13 bzw. 17 genannten Urteilen des OLG Hamm, des KG (vom 21. 10. 1999) und des OLG Nürnberg.
an der Harmlosigkeitsgrenze gescheiterte (also – nach Ansicht der Gegner dieser Grenze – mit falscher Begründung abgewiesene) Klage auch beim Wegdenken der Grenze wegen Beweisfälligkeit erfolglos geblieben wäre.
Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. 1. 2003 Erst mit Urteil vom 28. 1. 2003 (VI ZR 139/02) hat sich der BGH ausdrücklich zur Harmlosigkeitsgrenze geäußert. 24 In diesem Falle ging es um die Folgen einer Pkw-Heckkollision vom 25. 3. 1992. Der Kläger hatte hierzu behauptet, er habe als Fahrzeugführer ein HWS-Schleudertrauma davongetragen und leide immer noch an erheblichen Beschwerden. – Mit der Klage verlangte er ein (weiteres) Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für den Unfallschaden. – Die Klage hatte in erster Instanz (LG Stuttgart) teilweise und in zweiter Instanz (OLG Stuttgart) in vollem Umfange Erfolg. Das OLG folgte hierbei weitgehend den Angaben des Klägers, die es auf Grund eines ärztlichen Gutachtens für bewiesen hielt. Ein biomechanisches Gutachten war nicht eingeholt worden. – Mit der Revision beanstandeten die Beklagten u. a., dass das OLG es unterlassen habe, mittels eines solchen biomechanischen Gutachtens der Frage nachzugehen, ob wegen der Harmlosigkeitsgrenze eine HWS-Verletzung auszuschließen sei. Der BGH hat das Vorgehen des OLG Stuttgart indessen gebilligt und sich dabei kritisch zur Lehre von der Harmlosigkeitsgrenze geäußert. Er stellt darauf ab, es sei nicht zu beanstanden, dass das OLG (allein) auf der Grundlage „eingehender medizinischer Begutachtung und ausführlicher Anhörung des Klägers“ zu dem Ergebnis gelangt sei, der Kläger habe am 25. 3. 1992 eine HWS-Distorsion erlitten. Demgemäß verneint es eine Pflicht des OLG zur Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung und zur Einholung eines biomechanischen Gutachtens. In diesem Zusammenhang verweist der BGH auf zwei Gesichtspunkte, nämlich (1) auf die zunehmende Kritik in Rechtsprechung und 24
Abgedruckt (u. a.) in NZV 2003, 167; VersR 2003, 474; zfs 2003, 287; DAR 2003, 218; r+s 2003, 172.
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Schrifttum, insbesondere auch „aus orthopädischer Sicht“, und (2) auf die Abhängigkeit der „Kausalitätsfrage“ von „einer Reihe anderer Faktoren“, u. a. der Sitzposition des betroffenen Fahrzeuginsassen; zu Letzterer seien gesicherte medizinische Erkenntnisse bislang nicht bekannt. Einer näheren Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Harmlosigkeitsgrenze geht er jedoch aus dem Wege. Letztlich hält es der BGH für entscheidend, dass eine Harmlosigkeitsgrenze nicht „schematisch“ angewandt wird und dass „stets die Umstände des Einzelfalls“ berücksichtigt werden.
Die Bedeutung des Urteils vom 28. 1. 2003 Das Urteil vom 28. 1. 2003 hat eine Fülle von Kommentaren und Aufsätzen ausgelöst. 25 Das könnte dafür sprechen, dass es sich um eine Grundsatzentscheidung handelt, die klare Richtlinien für die Bearbeitung von HWS-Fällen liefert. Leider besteht zu einer solchen Beurteilung kein Anlass. Die einzige Folgerung, die den Ausführungen des BGH mit Sicherheit entnommen werden kann, ist die Ablehnung der absoluten Fassung der Harmlosigkeitsgrenze. Es soll ja auf die Umstände des Einzelfalles ankommen. Damit rennt der BGH jedoch offene Türen ein, weil die führenden Verfechter des Harmlosigkeitsdogmas den Unsinn der absoluten Variante inzwischen selbst erkannt haben und auch ihrerseits für eine Einzelfallbewertung eintreten (jedenfalls in der Theorie). Was bei der Einzelfallbewertung im Einzelnen zu beachten ist, bleibt dagegen weiterhin offen. Ungeklärt ist insbesondere, welchen Stellenwert die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung hierbei künftig haben soll. Ihre Anwendung ist ja weder „verboten“ noch für „not25
Aus dem Jahr 2003 sind die folgenden Stellungnahmen zu erwähnen: Jaeger, Urteilsanmerkung in VersR 2003, 476 ff; Burmann, Urteilsanmerkung in NZV 2003, 169 ff; Lemcke, Unfallbedingte HWS-Beschwerden und Haftung, r+s 2003, 177 ff; Steiger, Urteilsanmerkung in DAR 2003, 220 f; Wedig, DAR 2003, 393 ff; Oppel, DAR 2003, 400 ff/450; Staab, Psychisch vermittelte und überlagerte Schäden, VersR 2003, 1216 ff; Notthoff, HWS-Verletzungen im Fall geringer Geschwindigkeiten, VersR 2003, 1499 ff.
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wendig“ erklärt worden. Auch die Einholung diesbezüglicher Gutachten wird den Gerichten freigestellt. Das bedeutet zwangsläufig, dass es im Ermessen der Richter liegt, ob sie den Gesichtspunkt der Harmlosigkeit auswerten und die dafür notwendigen Untersuchungen veranlassen wollen. Richter, die Anhänger der Harmlosigkeitsgrenze sind, können also im Prozess weiterhin viel Geld für eine biomechanische Aufklärung ausgeben und die aus Delta v abzuleitende (geringe) körperliche Belastung in den Vordergrund stellen. Sie müssen lediglich darauf achten, dass in der Urteilsbegründung ein Satz des Inhalts steht, dass die aus Delta v folgenden Bedenken gegen die Klageforderung durch andere Gesichtspunkte nicht erschüttert würden und dass demgemäß unter Würdigung aller Umstände des Falles eine unfallbedingte Verletzung eben nicht festzustellen sei. Richter als Gegner der Harmlosigkeitsgrenze brauchen ihr prozessuales Vorgehen ebenfalls nicht zu ändern. Sie können von jeder biomechanischen Aufklärung absehen, da diese aus ihrer Sicht unerheblich ist. Müssen sie sich gleichwohl mit diesbezüglichen Gutachten befassen, so reicht es aus, wenn sie auf das Urteil vom 28. 1. 2003 verweisen und zugleich die Überzeugungskraft der im medizinischen Bereich vorliegenden Beweismittel betonen. Man wird allerdings sagen können, dass das Urteil vom 28. 1. 2003 den Gegnern der Harmlosigkeitsgrenze insofern den Rücken stärkt, als es eine Pflicht zur Einholung biomechanischer Gutachten ablehnt. Auch eine gewisse „moralische“ Stärkung der Gegner wird man bejahen können. Diese werden von engagierten Befürwortern der Grenze gern als Ignoranten dargestellt, die sich hartnäckig weigern, naturwissenschaftlich begründete und deshalb über jeden Zweifel erhabene Erkenntnisse zu akzeptieren. 26 Wenn der Bundesgerichtshof insoweit eine Art „Gleichberechtigung“ schafft, kann ihm nur beigepflichtet werden. Eine Änderung der Prozesslage, wie sie nach allem zur Zeit gegeben ist, wäre nur zu erwarten, wenn der Bundesgerichtshof sich bereit fände, den Stellenwert
26
So z. B. Eisenmenger, aaO (Fn. 3), insbesondere S. 408 f. – Ähnlicher Stil auch schon bei Castro/Becke, Das „HWS-Schleudertrauma“ – einige kritische orthopädische/unfallanalytische Anmerkungen, zfs 2002, 365 ff.
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der Biomechanik bei der Sachverhaltsaufklärung zu präzisieren, was aber wohl vorerst nicht zu erwarten ist.
Die Rechtsprechung in HWS-Fällen nach dem Urteil vom 28. 1. 2003 Die Schlussfolgerung, dass eine wesentliche Änderung der Rechtsprechung nicht zu erwarten ist, wird vollauf bestätigt, wenn man die seitdem ergangenen (und veröffentlichten) Urteile in HWS-Fällen Revue passieren lässt. a) Die Urteile, die an der Harmlosigkeitsgrenze festhalten, stellen regelmäßig darauf ab, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ausschlagebend sei und dass die außerdem berücksichtigten Faktoren und medizinischen Daten demgegenüber nachrangig seien. 27 Die Relativierung der medizinischen Befunde wird zum Teil sogar unumwunden in die Leitsätze aufgenommen. Diese lauten z. B. beim OLG München 28 wie folgt: „Wenn die durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen festgestellte kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung bei 1–2 km/h liegt, so kann aufgrund dieser geringen biomechanischen Insassenbelastung eine HWS-Verletzung grundsätzlich nicht vorgelegen haben. Insoweit kommt es auf den Inhalt der Arztberichte nicht mehr an. Diese Ausführungen haben zwar für die Erstdiagnose Bedeutung, werden aber aufgrund der Feststellungen zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung derart relativiert, dass sie bei der Überzeugungsbildung unberücksichtigt gelassen werden können.“ Die Relativierung wird selbst dann vorgenommen, wenn der Grenzwert von Delta v = 10 km/h innerhalb der Bandbreite der ermittelten Geschwindigkeitsänderung lag (so z. B. in einem Fall des OLG Köln: 29 Delta v = 7 bis 14 km/h). Die Einordnung in den Niedriggeschwindigkeits27
28 29
Als Beispiele seien die folgenden OLG-Entscheidungen genannt: Hamm (23. 6. 2003), r+s 2003, 434; KG (28. 8. 2003), NZV 2004, 252; Brandenburg (15. 1. 2004), VersR 2006, 237; KG (12. 2. 2004), VersR 2006, 235; Köln (2. 3. 2004), VersR 2005, 422; München (2. 7. 2004), VersR 2005, 424; KG (19. 9. 2005), VersR 2006, 1233. Urteil vom 2. 7. 2004, VersR 2005, 424. Urteil vom 2. 3. 2004, VersR 2005, 422.
bereich erscheint dann aber nur gerechtfertigt, wenn man den Maximalwert außer Acht lässt und vom Minimalwert ausgeht – was in der Regel geschieht, indessen unter Beweislastgesichtspunkten durchaus zweifelhaft ist. b) Urteile, die trotz einer niedrigen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung eine zu entschädigende HWS-Verletzung bejahen, sind ebenfalls nicht selten. 30 Für diese Gerichte haben nicht die technischen und biomechanischen Gutachten im Vordergrund gestanden, sondern die Ergebnisse der medizinischen Aufklärung, und bei Abwägung der Umstände des Einzelfalles hat sich daraus die Berechtigung der Klageforderung ergeben, weil der medizinische Befund – aber auch die Überlegung, dass andere Verletzungsursachen als der umstrittene Unfall nicht erkennbar waren – stärker wog als Grenzwertbetrachtungen. Während also die Befürworter der Harmlosigkeitsgrenze bei der Einzelfallbetrachtung die technisch-biomechanischen Ergebnisse groß herausstellen und den medizinischen Befund daneben als mehr oder weniger bedeutungslos darstellen, gehen die Gegner der Grenzwerte den umgekehrten Weg. Für sie ist der medizinische Befund wichtig und die biomechanische Betrachtung von eher geringem Gewicht (wenn nicht sogar überflüssig).
Neueres Schrifttum zur Grenzwertfrage Während das Urteil des BGH vom 28. 1. 2003 auf die Rechtsprechung kaum Auswirkungen gehabt hat, ist sein Einfluss auf das wissenschaftliche Schrifttum, das seitdem publiziert worden ist, durchaus beachtlich. Vor allem die Befürworter der Harmlosigkeitsgrenze haben sich veranlasst gesehen, zu den Äußerungen des BGH kritisch Stellung zu nehmen und ihren Standpunkt engagiert, mitunter auch grobschlächtig, 31 zu verteidigen. Sie haben offenbar befürchtet, ihnen
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Als Beispiele sind die folgenden OLG-Entscheidungen zu nennen: Celle (10. 6. 2004), OLG-Report 2004, 483; Stuttgart (5. 10. 2004), VersR 2005, 424; Köln (25. 10. 2005), DAR 2006, 325; Schleswig (6. 7. 2006), NJW-RR 2007, 171. Vgl. oben Fn. 26.
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könnten jetzt, volkstümlich gesprochen, die Felle – vielleicht auch die (gewinnträchtigen) Begutachtungsfälle – davonschwimmen.
] Ablehnung der Harmlosigkeitsgrenze Gegner der Harmlosigkeitsgrenze haben mit dem Urteil vom 28. 1. 2003 wenig Schwierigkeiten. 32 Teilweise wird freilich dem Urteil entnommen, der BGH habe der Harmlosigkeitsgrenze eine „Absage“ erteilt. Das wird dem Urteil indessen nicht gerecht, denn es hat ja nicht die Harmlosigkeitsgrenze insgesamt, sondern lediglich deren (ohnehin überholte) absolute Variante verabschiedet. Nicht ganz berechtigt ist auch die Klage, die Gerichte weigerten sich, dem Bundesgerichtshof zu folgen. 33 Wie oben dargelegt, bleibt es weitgehend den Richtern überlassen, in welcher Weise sie das Verfahren führen wollen.
] Verteidigung der Harmlosigkeitsgrenze Die Anhänger der Harmlosigkeitsgrenze sind naturgemäß daran interessiert, im Rahmen der Einzelfallprüfung Delta v als den im Vordergrund stehenden Faktor zu erhalten. Sie widersprechen der Behauptung, dieser Grenze sei eine Absage erteilt worden, und halten es für geboten, dass die Gerichte kraftfahrzeugtechnische und biomechanische Gutachten einholen. Den Stellenwert anderer Faktoren lassen sie möglichst gering erscheinen. Es wird auch versucht, „harmlose“ Fälle für rechtlich unerheblich zu erklären. a) Weit verbreitet sind die Bemühungen, die „anderen Faktoren“ in den Hintergrund zu drängen. Man kann sogar von einer deutlichen Bagatellisierungstendenz sprechen. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass man den Einfluss solcher Faktoren für ungeklärt oder gar für widerlegt erklärt. Bei der Begutachtung eines konkreten Falles wird auch gern darauf hingewiesen, dass bestimmte Umstände nicht feststellbar seien. Deutlich wird dies vor allem bei dem Faktor „Sitzposition“. Hier liegen nach Ansicht einer 32 33
Vgl. die Urteilsanmerkungen von Jaeger und Steiger sowie den Aufsatz von Wedig, aaO (Fn. 25). So Jaeger, Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma, VersR 2006, 1611 ff.
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Reihe von Autoren 34 noch keine gesicherten Forschungsergebnisse vor. Das mag in der Tat so sein, wirft dann aber die Frage auf, zu wessen Lasten eine solche Unsicherheit geht. (Diese Frage ist mit derjenigen vergleichbar, ob bei einem nur rahmenmäßig ermittelten Delta-v-Wert der untere oder der obere Wert maßgeblich sein soll. Vgl. ,Die Rechtsprechung in HWS-Fällen‘ a).) Für den Faktor „Verschleißerscheinungen“ gibt es ähnliche Äußerungen. 35 Sie sind indessen nicht besonders überzeugend. Nach gesundem Menschenverstand ist ein verschlissener menschlicher Körper äußeren Belastungen gegenüber nicht so widerstandsfähig wie der Körper eines jungen und gesunden Erwachsenen. Demgemäß ist auch in gerichtlich eingeholten medizinischen Gutachten jahrzehntelang betont worden, dass z. B. bei einer degenerierten HWS die Verletzungsgefahr sehr hoch sei und dass „bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen“ jede „Banalität“ ausreiche, um Beschwerden auszulösen. Ein Unfall sei hier „wie der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. 36 Auf dieser Basis (in Verbindung mit einem zivilrechtlich falschen Kausalitätsbegriff) wurden dann viele Schadensersatzansprüche geradezu abgewürgt. 37 Man kommt daher aus dem Staunen nicht heraus, wenn jetzt Ärzte auf einmal das Gegenteil verkünden und die Relevanz von Degenerationserscheinungen im Grundsatz anzweifeln. b) Im Zusammenhang mit den Bestrebungen, die angeblich harmlosen HWS-Fälle für rechtlich unerheblich zu erklären, ist zunächst die Auffassung zu nennen, bei Unterschreitung der 34
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Vgl. Burmann, aaO (Fn. 25), S. 169 f; Becke/Castro/ Hein/Schimmelpfennig, aaO (Fn. 4), S. 234 f; Castro/ Meyer/Becke, aaO (Fn. 11), S. 152; Mazzotti/Kandaouroff/Castro, „Out of Position“ – ein verletzungsfördernder Faktor für die HWS bei der Heckkollision? NZV 2004, S. 562 f; Eisenmenger, aaO (Fn. 3), S. 409. Vgl. Burmann, aaO (Fn. 25), S. 169 f; Castro/Meyer/ Becke, aaO (Fn. 11), S. 152; Eisenmenger, aaO (Fn. 3), S. 409. Siehe hierzu das Urteil des OLG Hamm vom 2. 10. 2001 (zfs 2002, 177), das diesbezügliche Gutachter-Aussagen sehr deutlich wiedergibt. Einzelheiten bei Dannert, Erneute Schädigung einer bereits vorgeschädigten Halswirbelsäule, NZV 2000, 9 ff. – Siehe auch den Beitrag von Krücker in diesem Werk.
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Harmlosigkeitsgrenze seien etwaige HWS-Verletzungen zwar im Sinne der Äquivalenztheorie, aber nicht im Sinne der (im Zivilrecht herrschenden) Adäquanztheorie durch den Unfall verursacht worden. Außerdem entspreche dann ein Schadensersatz nicht dem Schutzzweck der Schadensersatznormen. 38 Diese Auffassung verdient keinen Beifall. Der adäquate Kausalzusammenhang entfällt nach der Rechtsprechung nur in seltenen Ausnahmefällen, nämlich bei ganz außergewöhnlichen, nicht voraussehbaren Folgen (BGHZ 3, 261). Davon kann in HWS-Fällen grundsätzlich keine Rede sein. Auch den Schutzzweck der Schadensersatznormen kann man schwerlich verneinen. Das deutsche Zivilrecht geht davon aus, dass ein Schädiger, der den Körper oder die Gesundheit eines anderen verletzt, allen hieraus entstehenden Schaden zu ersetzen hat. Fallgruppen, die schwer aufzuklären sind und deshalb leicht zu Betrugszwecken missbraucht werden können, von vornherein aus der Ersatzpflicht herauszunehmen, ist nicht vertretbar. c) Ein anderer Weg, um in angeblich harmlosen HWS-Fällen eine Ersatzpflicht aus Rechtsgründen zu verneinen, könnte darin bestehen, die Anspruchsteller in die Schar der so genannten Unfallneurotiker einzureihen. Er ist jedoch sehr problematisch. In derartigen Fällen ist nach der Rechtsprechung für eine Schadensersatzleistung dann kein Raum, wenn es sich um eine so genannte Begehrensneurose handelt, das heißt, wenn der Anspruchsteller sich von dem Begehren leiten lässt, materiell sichergestellt zu werden, ohne den Schwierigkeiten des Arbeitslebens ausgesetzt zu sein. Bei anderen Neuroseformen – z. B. der zweckfreien Aktualneurose oder der Konversionsneurose – bleibt es dagegen bei der Ersatzpflicht des Schädigers. 39 Ein Unfallopfer allein deswegen zum Begehrensneurotiker zu erklären, weil sein Unfallfahrzeug nur eine sehr geringe kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung aufwies, dürfte indessen kaum überzeugen. Eine derartige Feststellung wird sich immer nur nach einer gründlichen Erforschung seiner Persönlichkeit und seines Lebensschicksals treffen lassen. Da38 39
So Notthoff, aaO (Fn. 25), S. 15o2 ff. Siehe z. B. die Urteile in BGHZ 20, 137; VersR 1968, 396; VersR 1979, 718; VersR 1986, 241; VersR 1993, 589.
bei müssen sich etwaige Zweifel – wegen der hier gegebenen Beweislast des Schädigers – zu seinen Gunsten auswirken. 40 d) Dass mit dem Gesichtspunkt der Unfallneurose keine nennenswerte Eindämmung der auf HWS-Verletzungen gestützen Ersatzansprüche zu erreichen ist, wird wohl allgemein anerkannt. 41 Alle diejenigen, die mit dieser Erkenntnis nicht gerade zufrieden sind und in den Schadensersatz fordernden Opfern leichter Verkehrsunfälle mit Vorliebe Schwindler oder „Spinner“ sehen, haben daher mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass der BGH mit Urteil vom 30. 4. 1996 42 – in Weiterentwicklung seiner Neurosen-Rechtsprechung – für Schadensersatzpflichten eine weitere Einschränkungsmöglichkeit geschaffen hat. Er hat nämlich entschieden, dass die „Zurechnung“ eines „seelisch bedingten Schadens“ dann entfällt, „wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und nicht gerade speziell auf die Schadensanlage des Verletzten trifft.“ Insbesondere die Verfechter der Harmlosigkeitsgrenze haben diese Rechtsprechung lebhaft begrüßt und insbesondere ein Mittel in ihr gesehen, um psychisch verursachte HWS-Schäden (wie sie z. B. nach den simulierten Unfällen – s. ,Insbesondere: Nichtbeachtung psychischer Einflüsse‘ – entstanden waren) von der Ersatzpflicht auszunehmen. 43 Ihre Argumentation entspricht etwa dem folgenden Muster: (1) Bei stoßbedingten Fahrzeugbewegungen unterhalb der Harmlosigkeitsgrenze kann im Normalfall nichts passieren, weil die Einwirkung auf die Fahrzeuginsassen nur ganz geringfügig ist und damit eine Bagatelle darstellt. (2) Gibt ein In40
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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Wedig in diesem Werk, ferner Wedig, HWS-Distorsionen aus juristischer Sicht, in: Hans Schmidt/Jürg Senn (Hrsg.), Schleudertrauma – neuester Stand, Zürich 2004, S. 236 ff (263 ff). Vgl. z. B. Staab, aaO (Fn. 25), S. 1225. BGHZ 132, 341; NJW 1996, 2425; NZV 1996, 353; VersR 1996, 990; zfs 1996, 290; DAR 1996, 351; r+s 1996, 303. Vgl. Burmann, aaO (Fn. 25), S. 170; Staab, aaO (Fn. 25), S. 1225; Wessels/Castro, Ein Dauerbrenner: das HWS-Schleudertrauma, VersR 2000, 284 ff (insbes. S. 288); Heß, Noch einmal: Psychische Erkrankungen nach Unfallereignissen: HWS und die posttraumatische Belastungsstörung, NZV 2001, 287 ff (291); Eisenmenger, aaO (Fn. 3), S. 407; Born/Rudolf/Becke, aaO (Fn. 4), S. 9 f.
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Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule
sasse – im Normalfall – gleichwohl an, unter unfallbedingten Beschwerden zu leiden, so sind diese (falls man sie ihm abnehmen kann) nicht physischen, sondern psychischen Ursprungs. (3) Es handelt sich also um psychische Beschwerden, die die Folge einer Bagatelle sind und somit keine Ersatzpflicht auslösen. Die Harmlosigkeitsgrenze wird damit regelrecht „umfunktioniert“: Bislang diente der Umstand, dass sie nicht erreicht war, dazu, unfallbedingte Beschwerden zu verneinen – es gab solche Beschwerden entweder nicht oder sie hatten eine andere Ursache. Jetzt schließt das Nichterreichen des Grenzwerts zwar unfallbedingte Beschwerden nicht aus; diese sind dann aber (im Normalfall) psychischer Art und wegen ihrer Abhängigkeit von einer Bagatelle schadensrechtlich unerheblich. Derartige Schlussfolgerungen auf das Vorliegen einer Bagatelle sind indessen keineswegs überzeugend. Gegen sie könnte sprechen, dass der BGH mit dem Urteil vom 11. 11. 1997 44 ausdrücklich erklärt hat, es komme bei der Frage, ob eine Bagatelle vorliege, nicht auf die Schwere des Unfalls, sondern auf die Schwere der unfallbedingten Primärverletzung an. Es hat allerdings nicht an Stimmen (auch aus BGH-Kreisen) gefehlt, die von einem doppelten Bagatellbegriff ausgehen 45. Diese beziehen die Urteile vom 30. 4. 1996 und 11. 11. 1997 nur auf solche psychische Schäden, die die Folge eines Körperschadens sind; hier soll es in der Tat auf die Schwere der primären Verletzung ankommen. Wenn dagegen schon die Primärverletzung in psychischen (oder psychisch verursachten) Beschwerden besteht, dann soll für die Frage, ob eine Bagatelle gegeben sei, das Unfallereignis ausschlaggebend sein. Einer Verdoppelung des Bagatellbegriffs wird jedoch nicht zu folgen sein. Der wichtigste Einwand gegen sie dürfte sein, dass sie einen eklatanten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung körperlicher und psychischer Schäden beinhaltet: Löst ein als Bagatelle eingestufter Unfall bei einem Unfallbeteiligten körperliche Beeinträchtigungen aus, so stellen diese einen ersatzfähigen Schaden dar. Leidet dagegen ein 44 45
NJW 1998, 810 = NZV 1998, 65; VersR 1998, 201; DAR 1998, 63; zfs 1998, 93; r+s 1998, 20. Siehe Wessels/Castro, aaO (Fn. 43), S. 288 f; Gerda Müller, Der HWS-Schaden – Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Homburger Tage 2002, S. 7 ff (27 f, 38 ff); VersR 2003, 137 ff (144, 147 f).
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Unfallbeteiligter allein unter psychischen Beschwerden (mit Krankheitswert!) und kann er diesen Zustand (unter den erschwerten Bedingungen des § 286 ZPO) nachweisen, so geht er auch dann, wenn alle Haftungsgrundlagen gegeben sind, leer aus. Diesen Widerspruch verstehe, wer will! e) Fazit: Auch die neuere Literatur gibt keinen Anlass, eine Harmlosigkeitsgrenze zu bejahen, mit deren Hilfe die Ansprüche eines (angeblich) Verletzten zu Fall gebracht werden können.
Zusammenfassung und Ausblick a) Die Ergebnisse dieser Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: ] Die Feststellung „leichter“ HWS-Verletzungen (als Folge eines Verkehrsunfalls) bereitet bei Schadensersatzforderungen erhebliche Schwierigkeiten (s. ,Das Feststellungsdilemma bei „leichten“ HWS-Verletzungen‘). ] Als ein wertvolles Hilfsmittel zur Behebung dieser Feststellungsschwierigkeiten bot sich das Abstellen auf die „biomechanische“ Belastung der Unfallopfer an. Deren Ausmaß sollte sich aus der „kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung“ (Delta v) eines Unfallfahrzeugs ergeben. Blieb diese unterhalb eines bestimmten Grenzwertes („Harmlosigkeitsgrenze“), so sollten unfallbedingte HWSVerletzungen (zumindest im „Normalfalle“) ausgeschlossen sein. Für Heckkollisionen wurde der Grenzwert überwiegend bei 10 km/h angenommen (s. ,Biomechanische Grenzwerte – . . .‘ u. ,Die gängigen Grenzwerte für „Harmlosigkeit“ ‘). ] Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass es keine Harmlosigkeitsgrenze gibt (s. ,Es gibt keine Harmlosigkeitsgrenze‘). ] Die Harmlosigkeitsgrenze ist gleichwohl in vielen Fällen dazu benutzt worden, auf HWSVerletzungen gestützte Schadensersatzansprüche zurückzuweisen (s. ,Die Grenzwerte in der Rechtsprechung (bis 2003)‘). ] Der Bundesgerichtshof hat sich erstmals am 28. 1. 2003 zur Harmlosigkeitsgrenze geäußert, und zwar in dem Sinne, dass sie nicht „schematisch“ angewandt werden dürfe, sondern dass stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien (s. ,Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. 1. 2003‘).
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G. Dannert: 46
Die sog. Harmlosigkeitsgrenze für Verletzungen der Halswirbelsäule
] Das Urteil vom 28. 1. 2003 stärkt zwar den Gegnern der Harmlosigkeitsgrenze den Rücken, lässt aber letztlich offen, welchen Stellenwert diese Grenze in einem Prozess hat (s. ,Die Bedeutung des Urteils vom 28. 1. 2003‘). Seine Auswirkungen auf die Rechtsprechung sind daher begrenzt (s. ,Die Rechtsprechung in HWS-Fällen nach dem Urteil vom 28. 1. 2003‘). ] Das neuere Schrifttum zur Harmlosigkeitsgrenze lässt erkennen, dass deren Verfechter sich verstärkt bemühen, die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung als das entscheidende Beurteilungskriterium zu erhalten. Darüber hinaus wird versucht, HWS-Verletzungen, die trotz Unterschreitens der Harmlosigkeitsgrenze nicht zu bestreiten sind, als psychisch bedingte Auswirkungen eines Bagatellunfalls darzustellen; als solche sollen sie nach der Rechtsprechung des BGH keine Schadensersatzpflicht auslösen – was indessen eine falsche Interpretation dieser Rechtsprechung darstellt.
b) Das eingangs aufgezeigte Feststellungsdilemma ist nach allem mit den Mitteln der Biomechanik nicht zu beseitigen. Wer als Jurist über diesbezügliche Fälle zu entscheiden hat, ist daher (wieder) darauf angewiesen, die ihm zur Verfügung stehenden medizinischen Befunde und die Glaubwürdigkeit des Anspruchstellers eingehend zu prüfen; er darf sich nicht hinter einem (ohnehin meist zweifelhaften) Delta-vWert verstecken. Notfalls muss er auch den Mut zu einer Beweislastentscheidung haben. Helfen kann letzten Endes nur eine verbesserte medizinische Diagnostik. Fortschritte auf diesem Gebiete werden immer wieder einmal behauptet, stellen sich aber nur zu oft als voreilige Behauptung heraus oder werden von der so genannten Schulmedizin abgelehnt. Die Hoffnung auf wirkliche Verbesserungen sollte aber nicht aufgegeben werden.
47 Haftungsverteilung bei zwei Unfällen mit Verletzung der Halswirbelsäule – Auswirkung von Vorschädigungen P. Kuhn
Einleitung Oftmals kommt es durch eine unglückliche Verquickung von Umständen dazu, dass eine Person in zwei – von einander vollständig unabhängige – Unfälle verwickelt wird. Hatte diese Person bereits beim ersten Mal eine HWS-Distorsion erlitten, stellt sich die Frage, wer haftet, wenn bei dem zweiten Unfall wiederum die Halswirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen wird. Schwierigkeiten ergeben sich für eine verletze Person auch dann, wenn die Halswirbelsäule bereits vorgeschädigt war. Versicherer wenden in diesem Fall häufig ein, dass die noch vorhandenen Beschwerden nur der Vorschädigung zuzuschreiben sind und keine Entschädigungsverpflichtung oder aber eine solche in nur geringerem Umfang besteht.
Rechtsprechung des BGH In zwei Urteilen hatte sich der BGH mit Verletzungsfolgen zu befassen, die eine Person erlitt, die bereits bei einem längere Zeit zurückliegenden ersten Unfall geschädigt worden war. Im Urteil vom 20. 11. 2001 (Aktenzeichen VI ZR 77/00, DAR 2002, 115) stellt der BGH fest, dass der Erstschädiger mangels abgrenzbarer Schadenteile grundsätzlich auch dann für den Dauerschaden haftet, der sich aus dem zweiten Unfall ergibt, wenn die Folgen des Erstunfalls erst durch den Zweitunfall verstärkt wurden. Dies gilt selbst dann, wenn der Zweitunfall lediglich mitursächlich für den Dauerschaden ist. Dem BGH lag ein Fall zur Entscheidung vor, in welchem die Klägerin am 7. 8. 1987 und am 5. 8. 1988 jeweils einen Verkehrsunfall erlitten hatte. Die Klägerin nahm alle Beklagten als Gesamtschuldner auf Ersatz des über die bisherigen Zahlungen hinausgehenden weiteren mate-
riellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Beim ersten Unfall hatte die Klägerin ein HWS-Schleudertrauma erlitten. Auch beim zweiten Unfall war sie unter anderem im Bereich der HWS verletzt worden. Das Berufungsgericht hatte Sachverständigengutachten eingeholt. Danach war offen geblieben, ob der zweite Unfall entweder keinen Einfluss auf den von der Klägerin erlittenen und vom Sachverständigen festgestellten Körperschaden (rezidivierende Blockierungen der oberen HWS mit einer dauernden Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20% aus orthopädischer Sicht) hatte oder gerade erst zu der Schwere der Verletzungen geführt hatte, weil die beim ersten Unfall erlittenen Verletzungen ohne den zweiten vollständig hätten ausgeheilt werden können. Das Berufungsgericht hatte die Klage abgewiesen, nachdem eine Zuordnung zu einem der beiden Unfälle nicht möglich war. Der BGH kam zu einem anderen Ergebnis: Es besteht ein Anspruch gegen den ersten Unfallverursacher und dessen Versicherung aus §§ 823, 847 BGB, 7, 18 StVG, 3 PflVG, weil die Klägerin bei dem ersten Unfall ein HWS-Schleudertrauma erlitten hatte. Die Frage, ob die vom Berufungsgericht als bewiesen angesehenen Blockierungen mit Dauerfolgen aus orthopädischer Sicht auf dieser Verletzung beruhen, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die mit der erleichterten Beweiswürdigung nach § 287 Absatz 1 ZPO zu beurteilen ist. Der Unfallverursacher und dessen Kfz-Haftpflichtversicherung haften laut BGH nicht nur dann, wenn die Folgen ausschließlich auf den Erstunfall zurückzuführen sind. Zumindest sind der Unfallverursacher und dessen Versicherung für die Schwere der Verletzungen im Zusammenhang mit dem zweiten Unfall mitverantwortlich. Die haftungsausfüllende Kausalität entfällt nicht schon dann, wenn ein weiteres Ereignis mitursächlich für den endgültigen Schaden geworden ist (vgl. Senatsurteile VersR 1999,
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P. Kuhn
862; VersR 1998, 200; VersR 1997, 122). Es kommt demnach nicht darauf an, ob die Verletzungen des ersten Unfalls ohne den zweiten ausgeheilt wären. Vielmehr ist entscheidend, ob die Verletzungsfolgen des ersten Unfalls am Tag des zweiten bereits vollständig ausgeheilt waren und deshalb der zweite Unfall alleine zu den nunmehr vorhandenen Schäden geführt hat, oder ob sie noch nicht ausgeheilt waren. Das Berufungsgericht ist offensichtlich davon ausgegangen, dass die Verletzungen durch den ersten Unfall noch nicht ausgeheilt waren. Die Kausalität des ersten Unfalls für die Folgen des zweiten vermag auch die Tatsache nicht in Frage zu stellen, dass der medizinische Sachverständige festgestellt hatte, dass der Zweitunfall die Verletzung des Erstunfalls möglicherweise „richtunggebend verstärkt“ hat. Diese aus dem Sozialversicherungrecht stammende Formulierung gibt für die Beurteilung der für die zivilrechtliche Haftung notwendigen Ursächlichkeit – im naturwissenschaftlichen und logischen – Sinn nichts her (vgl. Senatsurteil BGHZ 132, 341, 347). Der BGH bringt weiterhin zum Ausdruck, dass der haftungsrechtliche Zusammenhang in Ausnahmefällen unterbrochen sein kann, wenn bei wertender Betrachtung das erste Schadensrisiko schon vollständig abgeklungen war und sich deshalb zwischen den beiden Eingriffen nur ein „äußerlicher“, gleichsam „zufälliger“ Zusammenhang ergibt. In diesem Fall kann vom Erstschädiger billigerweise nicht verlangt werden, dass er dem Geschädigten auch für die Folgen des zweiten Eingriffs einzustehen hat (vgl. Senatsurteile VersR 1988, 1273; VersR 1992, 498; VersR 1997, 458). Liegt nach dem ersten Unfall noch eine Schadensanfälligkeit vor, auf die die zweite Verletzungshandlung trifft, kann sich der Erstschädiger nicht darauf berufen, dass er für die Verschlechterung des Zustands des Geschädigten nicht haftet. Auch der Verursacher des zweiten Unfalls kann sich nicht der Haftung entziehen, nur weil die Ursache für die Verschlimmerung des Zustands des Geschädigten ihre Ursache in der Vorschädigung hat. Vielmehr gilt auch hier, dass jede Mitursächlichkeit zu einer Haftung für den ganzen Schaden ausreicht. Selbst eine besondere Schadenanfälligkeit des Geschädigten ist unschädlich. Auch hier ist § 287 ZPO maßgeblich. Danach ist keine sichere Gewissheit des Gerichts im Sinne einer vollen Überzeugung für eine Mitursächlichkeit der durch den zweiten Unfall erlittenen Verletzungen für den Dauerschaden erforderlich.
In einem weiteren Urteil vom 16. 3. 2004 (Aktenzeichen VI ZR 138/03, DAR 2004, 382; Berufungsurteil abgedruckt in R + S 2003, 477) hatte der BGH sich ebenfalls mit den Folgen zweier sich in zeitlichem Abstand ereignenden Unfälle auseinanderzusetzen. In diesem Fall ging es darum, dass der Kläger bei einem ersten Unfall am 18. Februar 1990 ein HWS-Schleudertrauma erlitten hatte mit einer Veränderung der HWS und psychischen Folgeschäden. Durch den zweiten Unfall am 12. Juni 1992 war es nach Angaben des Klägers zu einer Verschlimmerung des dauerhaften Leidens gekommen. Alle Beschwerden und Funktionsstörungen gehen nach seinen Ausführungen nunmehr über das übliche Maß eines Zervikal-Syndroms hinaus. Nach seiner Meinung ist hierfür alleine der erste Unfall maßgeblich. Der BGH bestätigt das Urteil des Berufungsgerichts, das dem Kläger lediglich ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 1000 DM gegenüber dem Fahrer des am ersten Unfall beteiligten Fahrzeugs zuerkannte. Danach haben die Beklagten für die bis April 1991 eingetretenen Folgen des Erstunfalls zu haften. Der BGH verweist auf seine ständige Rechtsprechung, wonach sich die Ersatzpflicht des für einen Körper- oder Gesundheitsschaden einstandspflichtigen Schädigers grundsätzlich auf psychisch bedingte Folgewirkungen des von ihm zu vertretenden Ereignisses erstreckt. Dies gilt auch für eine psychische Fehlverarbeitung als haftungsausfüllende Folgewirkung des Unfalls, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre (vgl. BGH, VersR 1991, 432; VersR 1998, 200; VersR 2000, 327). Im zu entscheidenden Fall geht der BGH davon aus, dass die Primärverletzung, als deren Folge die psychische Beeinträchtigung zu sehen ist, nicht als eine für die Begründung des haftungsrechtlichen Zusammenhangs unzureichende Bagatelle anzusehen ist. Der BGH definiert eine Bagatelle wie folgt: ] eine vorübergehende ] im Alltagsleben typische und ] häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigung des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens. Hierzu zählen Beeinträchtigungen, die sowohl von der Intensität als auch der Art der Primärverletzung her nur ganz geringfügig sind und
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Haftungsverteilung bei zwei Unfällen mit Verletzung der Halswirbelsäule – Auswirkung von Vorschädigungen
üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken. Ein HWS-Schleudertrauma, das zu einer sechswöchigen Arbeitsunfähigkeit führt, geht über eine Bagatelle auf alle Fälle hinaus. Solche Verletzungen sind nach Ansicht des BGH für das Alltagsleben nicht typisch, sondern regelmäßig mit einem besonderen Schadenereignis verbunden. Anders als im vorhergehend dargestellten Fall kommt der BGH mit dem Berufungsgericht jedoch zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdesymptomatik und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen aus dem ersten Unfall beim zweiten Unfall nicht mehr vorhanden waren und durch diesen nicht verstärkt wurden, sondern lediglich die bereits vorhandene allgemeine Disposition zur Fehlverarbeitung eines HWSSchleudertraumas relativ geringfügig erhöht worden ist. Der Erstunfall hat in diesem Fall nur die allgemeine Anfälligkeit für neurotische Fehlentwicklungen verstärkt, für die der Schädiger grundsätzlich nicht einstehen muss. Die unter diesen Umständen gebotene Wertung des Zurechnungszusammenhangs rechtfertigt es deshalb nicht, in diesem Fall den Erstschädiger auch für die Folgen des Zweitunfalls haften zu lassen.
Folgerungen Aus den beiden dargestellten BGH-Entscheidungen lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen: ] Wurde bereits einmal eine Verletzung festgestellt, so bedarf es nicht mehr des vollen Beweises für die Unfallursächlichkeit der noch vorhandenen Verletzungsfolgen. Es genügt die Annahme der „haftungsausfüllenden Kausalität“. Eine sichere Gewissheit im Sinne einer vollen Überzeugung für eine Ursächlichkeit des Unfalls ist nicht mehr erforderlich. Es genügt eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, die dem Richter zur freien Beweiswürdigung ausreicht (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 61. Auflage, Verlag C. H. Beck, § 287, Rdnrn 2 ff). ] Kommt es zu einem zweiten Unfall, so haftet der Verursacher des ersten Unfalls und seine Kfz-Versicherung nur dann nicht mehr neben dem Verursacher des zweiten Unfalls, wenn die Verletzungsfolgen des ersten Unfalls am Tag des zweiten Unfalls bereits vollständig ausgeheilt waren.
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] Die Beweissituation im Zivilrecht entspricht nicht derjenigen im Sozialrecht (vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 5. 5. 1998, VersR 1998, 1249). Aussagen eines Gutachers im Zivilprozess, wonach der zweite Unfall die Verletzungen aus einem ersten Unfall möglicherweise „richtunggebend verstärkt“ hat, sind im Zivilprozess nicht relevant. ] Eine Primärverletzung ist nur dann als Bagatelle und damit keinesfalls haftungsbegründend für psychische Beeinträchtigungen anzusehen, wenn eine vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigung des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens vorliegt.
Bedeutung für andere Fallkonstellationen Die Ausführungen des BGH zu Verletzungsfolgen bei zwei voneinander unabhängigen Unfällen führen zu Erkenntnissen in zwei weiteren Fallkonstellationen:
] Zwei unmittelbar aufeinander folgende Unfälle Kommt es zu einem Auffahrunfall und fährt auf die beiden Unfallfahrzeuge ein weiteres Kfz unmittelbar danach auf, so stellt sich die Frage, wer für die Verletzungen einer bei dem ersten Unfall bereits geschädigten Person haftet. Geht man in diesem Zusammenhang von den beiden BGH-Entscheidungen aus, so ist auf alle Fälle festzustellen, dass die beim ersten Aufprall erlittenen Verletzungen keinesfalls bereits abgeklungen sind, wenn das zweite Kfz unmittelbar darauf auffährt und hierdurch weitere Verletzungen entstehen bzw. die bereits vorhandenen verstärkt werden. Den Ausführungen des BGH folgend ist die haftungsbegründende Kausalität für die weiteren Verletzungen bzw. die Verstärkung der beim ersten Unfall erlittenen auf alle Fälle zu bejahen. Die Unfallverursacher haften als Gesamtschuldner im Sinne des § 830 Absatz 1 BGB. Dem Geschädigten wird bei dieser Auslegung die Verpflichtung genommen, konkret darlegen zu müssen, welcher Körperschaden
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durch welchen Aufprall entstanden ist. Die Haftung des Fahrers des zweiten Fahrzeugs würde allenfalls entfallen, wen er nachweisen kann, dass er seinerseits gestanden hatte und erst durch das dritte Fahrzeug aufgeschoben worden war.
] Auswirkungen für die Haftung bei Vorliegen einer Vorschädigung Oftmals werden Anwälte mit der Situation konfrontiert, dass die gegnerische Versicherung die Zahlung von Schmerzensgeld entweder insgesamt verweigert oder aber summenmäßig begrenzt mit der Begründung, degenerative Vorschädigungen seien zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung weist in diesem Zusammenhang unterschiedliche Tendenzen auf. Einige Gerichte gehen davon aus, dass bereits vorhandene, erst durch einen Unfall manifestierte Körperschäden (z. B. chronische Veränderung der HWS) bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht berücksichtigt werden (OLG Köln, Urteil vom 7. 7. 1995, Az 19 U 283/94, VRS 90, 321). Auch das OLG Frankfurt am Main bringt zum Ausdruck, dass bei einer durch degenerative Veränderungen bereits vor dem Unfall vorgeschädigte Wirbelsäule danach bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sämtliche Beschwerden zu berücksichtigen sind, wenn Ursache der Schmerzen der Unfall war (Urteil vom 26. 10. 1994, Az 17 U 171/92, VersR 1996, 864). Hinsichtlich der Ersatzpflicht für den weiteren unfallbedingten Schaden, der dargelegt werden muss, stellt das Gericht allerdings geringe Anforderungen. Das OLG Hamm sieht den Beweis für die Unfallbedingtheit nicht für geführt an, wenn ein Geschädigter bei einem Unfall ein mittelschweres HWS-Schleudertrauma mit vorübergehender Arbeitsunfähigkeit erlitten hatte und für länger andauernde Beschwerden aus medizinischer Sicht keine hinreichende Anhaltspunkte bestehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Geschädigte schon vor dem Unfall wegen vorübergehender HWS-Beschwerden ärztlich behandelt worden war und die damaligen Röntgenaufnahmen bereits altersentsprechende degenerative Veränderungen der HWS zeigen. Laut Gericht finden in diesem Fall die jetzigen Beschwerden eine naheliegende Erklärung in den schicksalsbedingten Altersveränderungen (Urteil vom 9. 10. 1997, Az 6 U 98/92, R + S 1999, 63).
Das LG Heilbronn lehnt ein Schmerzensgeld ab in dem Fall, dass durch ein Sachverständigengutachten festgestellt wird, dass wegen der degenerativen Vorschäden an der HWS jederzeit im Alltag mit einem Bandscheibenvorfall zu rechnen gewesen wäre. Unter diesen Umständen sieht das Gericht den Beweis für die Unfallursächlichkeit nicht für gegeben (Urteil vom 8. 1. 2004, Az 2 O 2/03 SCH, ADAJUR-Dok. Nr. 62112). Kann der Geschädigte nicht beweisen, dass der von ihm geltend gemachte Schaden nicht bereits vor dem Unfall bestanden hatte, sieht das AG München keinen Anspruch auf Schmerzensgeld für gegeben, selbst wenn die vorhandenen Beschwerden auch durch den Unfall hervorgerufen worden sein können (Urteil vom 19. 8. 1997, Az 332 C 04802/96, ADAJUR-Dok. Nr. 49941). Bei Vorschäden unbekannten Ausmaßes kommt – so das Gericht – ein Schadenersatzanspruch nicht in Betracht. Der BGH vertritt die Ansicht, dass die Teilnahme am modernen Straßenverkehr ein sozialadäquates Verhalten darstellt. Jeder Unfall verwirklicht deshalb ein Zivilisationsrisiko. Dennoch ist der Umstand alleine, dass sich jemand in eine solche risikobehaftete Situation begibt, nicht geeignet, ein Mitverschulden im Sinne des § 245 BGB zu begründen. Dieser Umstand kann dem Betroffenen im Wege der Billigkeit nicht schmerzensgeldmindernd angelastet werden. Es kann jedoch geboten sein, zu berücksichtigen, dass die zum Schaden führende Handlung des Schädigers nur eine bereits vorhandene Schadenbereitschaft in der Konstitution des Geschädigten ausgelöst hat und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Auswirkung dieser Schadenanfälligkeit ist (Urteil vom 5. 11. 1996, Az VI ZR 275/95, DAR 1997, 70, so schon BGH, VersR 1991, 432). In seinem Urteil vom 26. 1. 1999 konkretisiert der BGH seine Aussagen (Az VI ZR 374/97, DAR 1999, 215). In einem Fall, in dem durch einen Unfall hervorgerufene Verletzungen als „Auslöser“ im Sinn einer Mitverursachung gewirkt haben, müssen die Beklagten für die Folgen der anhaltenden Beschwerden der Klägerin haften. Dies gilt auch dann, wenn die Unfallverletzungen nur deshalb eingetreten sind, weil die Klägerin auf Grund ihrer besonderen Konstitution und ihrer Vorschädigungen für die jetzigen Beschwerden besonders anfällig war. Dies gilt selbst dann, wenn das jetzige Beschwerdebild in einer psychischen Fehlverarbeitung der Unfallfolgen seine Ursachen hat.
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Haftungsverteilung bei zwei Unfällen mit Verletzung der Halswirbelsäule – Auswirkung von Vorschädigungen
Diese Rechtsprechung des BGH führt dazu, dass Gerichte vermehrt davon ausgehen, dass der Schädiger das Risiko trägt, auf ein Unfallopfer zu treffen, das nicht zu den Starken dieser Welt zählt. In einem Urteil vom 2. 4. 2001 geht das OLG Hamm von dieser These aus. Es stellt darauf ab, dass dem Schädiger auch im Falle physischer Schäden die besondere Schadenanfälligkeit des Geschädigten grundsätzlich zuzurechnen ist (Az 6 U 231/00, NZV 2002, 36). Ähnlich sieht es auch das Kammergericht. Der Zusammenhang zwischen Handlung und Verletzung ist laut Gericht auch dann zu bejahen, wenn der Schaden auf ein Zusammenwirken von Vorschäden und Unfallverletzung beruht. Lediglich dann, wenn sich feststellen lässt, dass der degenerative Vorschaden vergleichbare Beeinträchtigungen bewirkt hätte, ist zu prüfen, ob ein prozentualer Abschlag oder eine zeitliche Begrenzung des Ausgleichs vom Verdienstausfall geboten ist (Urteil vom 2. 9. 2002, Az 12 U 10719/99, VRS 104, 81). Selbst dann, wenn der durch einen Unfall Verletzte bereits durch mehrere Unfälle Gesundheitsschädigungen erlitten hat und hierdurch in höherem Maß für weitere Schädigungen empfänglich ist, wird die beim Unfall erlittene Verletzung dennoch dem Schädiger angelastet. Die schon bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie die damit zusammenhängenden Gefahren sind allerdings bei der Berechnung einzubeziehen, soweit dies angemessen ist. Lediglich dann, wenn bei dem Unfall Beeinträchtigungen entstanden sind, die auch ohne den Unfall zu Tage getreten wären, kann ein immaterieller Schadenersatz nicht zugesprochen werden (OLG Schleswig, Urteil vom 13. 9. 2003, Az 7 U 107/01, SVR 2004, 188). Auch das LG Potsdam berücksichtigt in seiner Entscheidung vom 8. 9. 2003 die Tatsache, dass eine Vorschädigung in Form einer Bandscheibenprotusion vorgelegen hatte (Az 13 S 42/03, SP 2004, 49). Es kommt zu dem Ergebnis, dass die Beschwerden nicht alleine auf den Unfall zurückzuführen sind und bezieht sich dabei auf das Sachverständigengutachten. Der Sachverständige konnte nicht feststellen, ob die Schmerzen auf die Distorsion der Halswirbelsäule oder die Bandscheibenprotusion zurückzuführen sind. Nachdem die Klägerin be-
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weisbelastet ist, musste die Klage abgewiesen werden. Das OLG Hamm lastet die volle Beweisführung ebenfalls dem Geschädigten an, wenn eine bereits vorgeschädigte Wirbelsäule vorliegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Geschädigte über Beschwerden klagt, die über das Maß eines in einem solchen Fall zu erwartenden HWSSyndroms hinausgehen (Urteil vom 2. 10. 2001, Az 27 U 41/01, MDR 2002, 334).
] Schlussfolgerungen bei Vorliegen von Vorschädigungen Aus der unterschiedlichen Behandlung von Vorschäden lassen sich folgende Schlüsse ziehen: ] Die Kausalität zwischen dem Schadenereignis und den Beschwerden darf nicht alleine wegen bloßen Zeitablaufs verneint werden. ] Auch wenn eine Vorschädigung vorliegt, muss der Zustand vor dem Unfall mit demjenigen ohne Unfall verglichen werden. ] Wäre das gleiche Beschwerdebild allein auf Grund der Vorschäden eingetreten, ist die Unfallursächlichkeit zu verneinen. ] Gegebenenfalls kann das Schmerzensgeld reduziert werden, wenn Vorschädigung auch ohne den Unfall in absehbarer Zeit zu dem nunmehr durch den Unfall früher ausgelösten Zustand geführt hätte. ] Ein Anspruch besteht auch dann, wenn das nach dem Unfall vorhandene Beschwerdebild entscheidend durch den Vorschaden geprägt ist, aber ohne den Unfall nicht aufgetreten wäre. Bei einer Vorschädigung der HWS muss deshalb immer geprüft werden, ob die nach dem Unfall aufgetretenen Beschwerden überhaupt und – gegebenenfalls – zu welcher Zeit aufgetreten wären. Die Trennung wird oftmals nicht gelingen. Wegen der Beweispflicht der geschädigten Person ist unter diesen Umständen mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen zu rechnen. Unter dem Aspekt der erleichterten Beweisführung gemäß § 287 ZPO sollte in diesen Fällen durch Zeugen nachgewiesen werden, in welchem Umfang sich die Vorschädigung zum Beispiel bei der Ausübung von Sport bemerkbar gemacht hatte.
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48 Unfallbedingte Distorsionsschädigung einer degenerativ vorgeschädigten Halswirbelsäule R. Krücker
] I Mit dieser Problemstellung tut sich die Rechtsprechung in den Tatsacheninstanzen schwer. Die Thematik ist von großer praktischer Bedeutung, sind doch etwa degenerative Bandscheibenschäden in der Bevölkerung so häufig anzutreffen, dass sie in der Presse als regelrechte Volkskrankheit bezeichnet worden sind (Der Spiegel 1991, Nr. 23). Relativ groß ist deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unfallfahrer auf ein an der Halswirbelsäule degenerativ vorgeschädigtes Unfallopfer trifft und diesem dann in dem kritischen HWS-Segment anstoßbedingt noch eine Distorsionsverletzung zufügt. Die Rechtsprechung in den Tatsacheninstanzen lässt die Tendenz erkennen, die Bedeutung der Vorschädigung für die Einstandspflicht des Unfallfahrers und seiner Haftpflichtversicherung zu Lasten des Unfallopfers überzubewerten. Dies insbesondere dann, wenn der Geschädigte bei einer leichten bis mittleren traumatischen Schädigung der Halswirbelsäule noch nach einem längeren Zeitraum monatelang, teilweise über Jahresfrist hinaus, Schmerzen beklagt, die er auf das Unfallereignis zurückführt. Demgegenüber wendet der Schädiger typischerweise ein, die – hinsichtlich der Fortdauer ohnehin zumeist bestrittenen oder als unspezifisch bezeichneten – Beschwerden seien auf die HWS-Vorschädigung(en) zurückzuführen. Für die juristische Kausalitätsbetrachtung ist problematisch, dass degenerativ bedingte zervikale Bandscheibensyndrome als sehr häufige Vorschadensfälle sich in ihrer Symptomatik kaum von posttraumatischen Zervikalsyndromen unterscheiden lassen. Die Gerichte, sachverständig beraten oder nicht, stellen häufig auf eine Art Regelrekon-
valeszenzzeit ab, etwa von sechs Wochen (OLG Köln VRS 90, 321), drei bis sechs Monaten (OLG Hamm MDR 2002, 334, 335) oder bis zu einem Jahr (OLG Frankfurt NZV 1994, 26, 27), innerhalb der die unfallbedingten Beschwerden bei leichteren bis mittleren Distorsionsschädigungen als gewöhnlich abgeklungen angesehen werden. Nur dieser Zeitraum wird dann für die Bemessung der klagegegenständlichen Schmerzensgeld- oder sonstigen Schadensersatzforderung zugrunde gelegt, obwohl sich der Geschädigte auf lang andauernde – zumeist in einem bildgebenden Verfahren aber medizinisch nicht als Unfallfolgen objektivierbare – Beeinträchtigungszustände beruft. Diese werden dann oft mit schicksalbedingten Altersveränderungen in Verbindung gebracht, die in ihrer Entwicklung nur vorübergehend durch das HWS-Schleudertrauma überlagert worden sein sollen (OLG Hamm OLGR 1999, 119, 120). Diese Betrachtungsweise kann richtig sein, muss es aber nicht. Nachhaltige Bedenken kommen für die gar nicht so seltenen Fälle auf, in welchen der Anspruchsteller vor dem Unfallereignis nachweislich im HWS-Bereich beschwerdefrei war. Dort vorhandene degenerative Vorschäden waren bis dahin ,klinisch stumm‘ oder symptomlos. Verneinte man auch für solchermaßen bis zur Kollision beeinträchtigungsfreie Kläger den Ursachenzusammenhang zwischen dem Schadensereignis und dem über eine Regelrekonvaleszenzzeit hinausreichenden persistierenden Schmerzzustand mit der Begründung einer schicksalhaften Eigenaktivierung einer latent vorhandenen Vorschädigung, lässt sich dies in aller Regel nicht mit der Kausalitätsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs der letzten Jahre in Übereinstimmung bringen (dazu nachfolgend III bis IV).
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Unfallbedingte Distorsionsschädigung einer degenerativ vorgeschädigten Halswirbelsäule
] II In diesem Zusammenhang drängt sich in tatsächlicher Hinsicht zunächst die Frage auf, ob eine degenerativ vorgeschädigte Halswirbelsäule verletzungsanfälliger ist als eine gesunde. Nach einer Entscheidung des 9. Zivilsenats des OLG Hamm (NZV 2002, 322, 324) soll eine vorgeschädigte Wirbelsäule nicht verletzungsanfälliger als eine unbeeinträchtigte sein. Die Vorschädigung wirke sich lediglich auf Intensität und Dauer der Beschwerden aus. Lemcke (NZV 1996, 341 ff) vertritt die Ansicht, bei degenerativen Vorschäden sei die HWS-Verletzungsgefahr größer. Denn es sei eine geringere biomechanische Einwirkung erforderlich. Eine Veröffentlichung des orthopädischen Forschungsinstituts Münster aus dem Jahre 2002 zu dem Thema ,HWS-Schleudertrauma‘ – Autoren Mazzotti, Hein, Castro – verweist auf verschiedene Analysen und Untersuchungen. Danach brachte eine Untersuchung von Wittenberg und anderen im Jahre 1998 mit Wirbelsäulenpräparaten über Extensionsbelastungen der HWS als Ergebnis, dass die Verletzungen am häufigsten in den unteren Segmenten C 5 bis C 7 auftraten – also genau in den Segmenten, die am häufigsten von der Degeneration betroffen sind. Eine Untersuchung von Bylund und Björnstig ebenfalls aus dem Jahre 1998 über die Arbeitsfähigkeit 16- bis 64-jähriger Unfallbeteiligter ergab die Erkenntnis, dass HWS-Verletzungen in der Altersgruppe unter 30 Jahren am häufigsten auftraten – also in einer Gruppe mit dem geringsten prozentualen Anteil degenerativer Veränderungen. Nach einer Analyse der Quebec Task Force aus dem Jahre 1995 fanden sich Schleudertrauma-Verletzungen vornehmlich in den Altersgruppen zwischen 25 und 50 Jahren. In Anbetracht dieser unterschiedlichen Ergebnisse vertreten Mazzotti, Hein und Castro die Ansicht, die Hypothese, eine degenerierte HWS sei verletzungsanfälliger, könne nicht als wissenschaftlich gesichert gelten und könne deshalb nicht unkritisch übernommen werden. Ohne eine abschließende Stellungnahme abgeben zu wollen, wird sich im Ergebnis jedenfalls feststellen lassen, dass die degenerative Vorgeschädigung einer Halswirbelsäule sich auf Intensität und Dauer der Beschwerden nach ei-
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ner unfallbedingten Distorsion der HWS auswirkt (so auch OLG Hamm NZV 2002, 322, 324). Im Fallle einer degenerativen Vorschädigung kann der Heilungsverlauf nach Art und Dauer auch im Falle einer leichten HWS-Verletzung also andere Formen annehmen, als wenn eine gesunde Halswirbelsäule betroffen wäre. Der Heilungsverlauf muss sich insbesondere nicht durch einen Prozess kontinuierlicher Besserung der Beschwerden auszeichnen, sondern kann auch ein Rückfallmuster aufweisen. Deswegen darf der Ursachenzusammenhang zwischen einer Distorsionsschädigung und einer Dauerbeeinträchtigung der Halswirbelsäule jedenfalls nicht ohne weiteres mit der Begründung in Abrede gestellt werden, die Tatsache einer kontinuierlichen Verbesserung der anfänglichen Beschwerdesymptomatik über einen längeren Zeitraum stehe der Annahme entgegen, dass sich ein erst danach einstellendes persistierendes Beschwerdebild mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Unfallverletzungen zurückführen lasse; es spreche alles dafür, dass nach Monaten der Besserung die degenerativen Veränderungen fortgewirkt hätten (so aber OLG Hamm MDR 2002, 334, 335; anders OLG Düsseldorf, Urteil v. 29. 8. 2005, Az.: 1 U 11/55).
] III Oft sieht sich ein klagender Unfallbeteiligter, der behauptet, eine Distorsionsschädigung erlitten zu haben, mit überzogenen Beweismaßanforderungen der Gerichte konfrontiert. Zum Verständnis der Zusammenhänge folgendes: Im Unfallschadensrecht ist zu unterscheiden zwischen der haftungsbegründenden Kausalität (1) einerseits und der haftungsausfüllenden Kausalität (2) andererseits. Erstere betrifft die Frage, ob durch den Unfall überhaupt eine Verletzung, die sog. Primärverletzung, z. B. in Form einer Distorsionsschädigung der Halswirbelsäule, eingetreten ist. Letztere bezieht sich auf die Frage, welcher Schadensersatzanspruch sich der Höhe nach aus der festgestellten Verletzung ergibt. Dazu gehört dann die Tatsachenprüfung, welche Folgebeeinträchtigungen sich aus dem eingetretenen Primärschaden ergeben, z. B. Cephalgien oder Bewegungseinschränkungen nach einer HWS-Distorsion.
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] (1) Der zivilprozessual an den Nachweis der Verletzung im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität anzulegende Beweismaßstab ist derjenige des § 286 ZPO, der sog. Strengbeweis. Dieser ist allerdings nicht als so streng zu verstehen, dass er einen naturwissenschaftlich exakten Nachweis erfordert. Notwendig ist also keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (BGH NJW 2003, 1116, 1117). Zumeist ist streitig, ob bei einem Auffahrunfall der Geschädigte, wie von ihm behauptet, eine Distorsion der Halswirbelsäule als Primärverletzung erlitten hat. Der Nachweis ist bei leichten bis mittleren Schädigungen problematisch, weil diese mangels knöcherner oder ligamentärer Verletzungen gewöhnlich in einem bildgebenden Verfahren (Röntgen, CT oder MRT) nicht nachweisbar sind. Groß ist die Skepsis, die teilweise von den Instanzgerichten der Diagnose ,HWS-Schleudertrauma‘ in den Untersuchungsberichten der erstbehandelnden Ärzte oder in Attesten der weiterbehandelnden Ärzte entgegengebracht wird. Richtig ist, dass ein Arztbericht/Arztattest nur eines von mehreren Indizien für die Annahme einer Unfallverletzung der Halswirbelsäule sein kann. Ein Attest dokumentiert oft nur die Beschwerdeangaben des Patienten (Dannert, ZfS 2001, 2, 6); eine darin enthaltene Diagnose rückt dann in die Nähe einer Verdachtsfeststellung. Man kann andererseits nicht jedem Arzt, der einem Unfallbeteiligten ein Attest ausstellt, das auf eine Schädigung der HWS lautet, eine Gefälligkeitsbescheinigung unterstellen. Ein ärztliches Attest nur mangels eines sog. morphologischen Substrates in die Nähe eines Gefälligkeitsattestes zu rücken, wird ärztlichem Fachwissen und Verantwortungsbewusstsein nicht gerecht (Ziegert, DAR 1998, 336). Geschädigtenfreundlich ist das OLG Bamberg: Danach soll es für den Nachweis einer HWS-Verletzung genügen, dass der entsprechende Befund in einem ärztlichen Attest ausreichend objektiviert wird (NZV 2001, 470). ] (2) Steht die Distorsionsschädigung der Halswirbelsäule als Primärverletzung fest, so betrifft die Feststellung der Folgebeeinträchtigungen des Geschädigten die haftungsausfüllende Kausalität. Dabei profitiert der Geschädigte von der Beweismaßerleichterung des § 287 ZPO. Es
reicht also eine deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass etwa die beklagten Kopfschmerzen auf den Unfall und nicht auf eine andere Ursache, konkret die degenerativen Vorschäden, zurückzuführen sind (BGH NJW 2004, 2828). Eine Mitursächlichkeit des Unfalls reicht (BGH NJW-RR 2005, 897). Es ist der Zustand des Klägers vor dem Unfall mit seinem Zustand nach dem Unfall zu vergleichen (so BGH NJW-RR 2005, 897). Ergibt der Vergleich, dass nachher ein ,Mehr‘ an Verletzungen oder Beschwerden vorlag, so ist diese Verschlimmerung gegenüber dem Vorzustand eine Folge des Unfalls. Die Verschlimmerung entfällt nämlich, wenn man den Unfall wegdenkt. Zumindest ist die Verschlechterung durch den Unfall mitverursacht (Dannert, ZfS 2001, 50, 53, 54).
] IV Oft findet sich in klageabweisenden Entscheidungen die Begründung, das klagende Unfallopfer habe den ihm obliegenden Nachweis nicht erbracht, dass der Unfall zu einer richtungsweisenden Verschlimmerung der vorbestehenden degenerativen Veränderung der Wirbelsäule geführt habe (OLG Frankfurt NZV 1994, 26, 27). Dies steht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BGH. Danach ist im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität eine richtunggebende Veränderung nicht erforderlich; vielmehr kann auch die Mitverursachung einer Verschlechterung im Befinden ausreichen, um die volle Haftung auszulösen (BGH NJW-RR 2005, 897, 898). Ebenso wenig vermag die Begründung zu überzeugen, wegen der degenerativen Vorschädigung sei der Unfall – gleichsam wie der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringe – nur der zufällige ,Auslöser‘ der auf den Vorschaden zurückzuführenden Beschwerden (OLG Hamm MDR 2002, 334, 335). Auch eine Mitursächlichkeit des Unfallereignisses, sei sie auch nur ,Auslöser‘ neben erheblichen anderen Umständen, steht einer Alleinursächlichkeit in vollem Umfang gleich (BGH NJW-RR 2005, 897). Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass es im Zivilrecht den etwas sperrigen Begriff der überholenden Kausalität gibt. Bezogen
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auf die degenerative Vorschädigung der Halswirbelsäule bedeutet dies: Ein unauffällig gebliebener Vorschaden wird zwar durch die Unfallverletzung in dem Sinne aktiviert, dass er nunmehr als Schmerzzentrum in Erscheinung tritt. Es wäre aber beim Wegdenken der Unfallverletzung eines späteren Tages ohnehin eine derartige Schmerzhaftigkeit aufgrund einer schicksalhaften Eigendynamik der Verschleißerscheinungen der HWS eingetreten. Ließe sich dieser spätere Tag mit hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostizieren, so endete mit diesem Zeitpunkt die Einstandspflicht des Schädigers für die Unfallfolgen wegen der sog. überholenden Kausalität (vgl. dazu Dannert ZfS 2001, 50, 55). Die sich nunmehr hypothetisch allein auswirkenden degenerativen Veränderungen hat er ja nicht zu vertreten. Das Problem liegt in der Tatsachenfeststellung, zu welchem Zeitpunkt denn die schicksalhafte Eigendynamik der HWS-Degeneration die unfallbedingten Auswirkungen der HWS-Distorsion (wie Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit) hypothetisch überholt. Dies ist eine nur schwer zu beantwortende medizinische Fachfrage, die sich ohne sachverständige Hilfe nicht klären lässt. Abhängig vom Ausmaß der Vorschädigung wird sich ein orthopädischer Sachverständiger in vielen Fällen außerstande sehen, diese Frage abschließend zu beantworten. Dann muss das Gericht auf der Grundlage der Beweislast entscheiden, die allerdings im Ansatz für den Geschädigten günstig ist. Denn für die Umstände, welche den Wegfall seiner Schadensersatzverpflichtung zur Folge haben, ist der Schädiger beweisbelastet (BGH NJW 1983, 1053). Indes profitiert auch er für den Wegfallnachweis von der Beweiserleichterung des § 287 ZPO (BGH VersR 1972, 834, 835; OLG Schleswig, Urteil v. 23. 11. 1995, Az. 7 U 224/92).
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Kommt das sachverständig beratene Gericht zu dem Ergebnis, zu einem gegebenen Zeitpunkt sei eine (Mit-)Verursachung der fortwirkenden Beschwerden durch den Unfall deutlich weniger wahrscheinlich als eine unfallunabhängige Alleinverursachung durch eine eigendynamische Entwicklung der degenerativen Vorschäden, so hat der Schädiger den ihm obliegenden Nachweis geführt. Ein solcher Beweis wird wohl nur relativ selten gelingen. Problematisch ist es, diesen Nachweis mit der Begründung des OLG Hamm zu bejahen, die Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule seien so gravierend, dass sie durch gewöhnliche Alltagsereignisse – wie unwillkürliche Bewegungen, Zug, Kälte oder Verspannungen – jederzeit vorübergehend oder dauerhaft schmerzaktiviert werden könnten (OLG Hamm NZV 1995, 151, 152; ähnlich OLG Köln VRS 90, 321). Der Fall betraf einen zum Unfallzeitpunkt 57 Jahre alten Fahrer eines ADAC Pannenhilfsfahrzeuges. Mit gewöhnlichen Alltagsereignissen war dieser bis zum Kollisionsereignis offenkundig problemlos zurechtgekommen. Warum sollten die nach dem Unfall aufgetretenen Nackenschmerzen, die eine Behandlung mit schmerzstillenden Spritzen in den Hinterkopf erforderlich machten, gerade durch die bis dahin unauffälligen Vorschäden allein verursacht worden sein? Ein Schädiger hat jedenfalls keinen Anspruch darauf, auf ein gesundes Unfallopfer zu treffen. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre. Dementsprechend ist die volle Haftung auch dann zu bejahen, wenn der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und den Unfallverletzungen beruht, ohne dass die Vorschäden richtunggebend verstärkt werden (BGH NJW-RR 2005, 897, 898).
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Der Mensch ist eine Synthese aus Seelischem und Körperlichem. Doch eine Synthese ist nur denkbar, wenn sich die beiden Teile in einem Dritten vereinigen. Dieses Dritte ist der Geist. Søren Kierkegaard
Einleitung „Die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist ein interessengesteuertes Modekonstrukt, an dem Sie Ihre Patienten nach Möglichkeit vorbeisteuern sollten. [. . .] Es ist bis heute nicht möglich, das Konstrukt PTSD von politischen und historischen Wertungen, von ökonomischen Interessen der Betroffenen und neuerdings auch von ökonomischen Interessen der Helfer zu trennen“ [27]. Wäre diese Auffassung eines angesehenen Psychiaters zutreffend, könnte dieser Beitrag, der sich damit befassen soll, unter welchen Voraussetzungen die posttraumatische Belastungsstörung oder andere psychische Störungen als Unfallfolgen unter rechtlichen Aspekten entschädigungspflichtig sind, bereits sein Ende nehmen. Dann wären aber auch diverse Beiträge in diesem Buch von psychiatrischer, psychosomatischer und psychologischer Seite überflüssig, könnten ganze psychologische bzw. psychiatrische Bibliotheken eingestampft werden und wären viele höchstrichterliche Entscheidungen falsch, weil sie ihren Entscheidungen etwas zugrunde legen,
was es gar nicht gibt. Da es ganz offensichtlich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und andere psychische Störungen sehr wohl gibt und auch nach Verkehrsunfällen geben kann, sind die folgenden Ausführungen nicht überflüssig. Dementsprechend hat dann auch Wehking im selben Heft wie Dörner eine ganz andere Auffassung vertreten und nicht nur bestätigt, dass es eine PTBS gibt, sondern dass diese, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird, zu schweren Beeinträchtigungen führen kann [40]. Worum geht es praktisch? Hierzu einen Beispielsfall. Die hier zu besprechende Problematik lässt sich an einem Fall verdeutlichen, den das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken am 14. 03. 2006 zu entscheiden hatte [30]: Der Kläger macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, bei dem der Unfallgegner aus Unachtsamkeit auf sein Fahrzeug aufgefahren war. Der Streit der Parteien dreht sich darum, ob und welche Gesundheitsbeschädigungen der Kläger durch die streitgegenständliche Kollision erlitten hat. Der Kläger macht geltend, er habe durch den Unfall ein HWS-Schleudertrauma, einen Gehörschaden sowie eine bleibende psychische Beeinträchtigung erlitten. Aufgrund dessen sei er unfallbedingt dauerhaft erwerbsunfähig. Die Erwerbsunfähigkeit sei als konversionsneurotische Fehlverarbeitung des Unfallereignisses anzusehen. Er leide nach wie vor unter den folgenden unfallbedingten Symptomen: ständigen Kopfschmerzen, Schmerzen im Nackenbereich mit einer Einschränkung der Drehbeweglichkeit des Kopfes, ausstrahlenden Schmerzen in beide Arme, Gefühlsstörun-
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gen an den Handkanten, Schwindelgefühl, Verminderung der Hörfähigkeit beidseits, chronischem Tinnitus, Sprachstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schluckstörungen, Niedergeschlagenheit, Müdigkeit, Erschöpfung, Herzbeklemmungen, Lichtempfindlichkeit, Brechreiz, chronifiziertem Schmerzsyndrom Stadium III. Das Landgericht Saarbrücken hatte in 1. Instanz die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt, der Kläger habe als Folge des Unfallereignisses lediglich eine HWS-Distorsion 2. Grades erlitten. Die hierdurch bedingten Beeinträchtigungen seien nach drei Wochen wieder abgeklungen gewesen. Die übrigen bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien nicht kausal auf den Unfall zurückzuführen. Insbesondere habe der Kläger durch den Unfall weder eine posttraumatische Belastungsstörung noch eine protrahierte Anpassungsstörung noch eine Konversionsneurose erlitten. Bei dem Kläger lägen vielmehr eine tiefgreifende Depression sowie eine somatoforme Störung vor, die in keinem Zusammenhang mit dem Unfall stünden. Bevor dargestellt wird, wie dieser Fall zu behandeln ist, soll die Gesamtproblematik und die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundesozialgerichts (BSG) erläutert werden.
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ist, z. B. allein durch das Miterleben (selbst ohne eigene Beteiligung) eines schweren Unfalls. Welche psychischen Störungen kommen als Unfallfolge in Betracht? Ausgehend von der Klassifikation im ICD 10 (Kapitel V-F) (vgl. Beitrag „Klassifikationen“ in diesem Buch) kommen folgende Erkrankungen in Betracht: F 43: Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, im Einzelnen: ] F 43.0: Akute Belastungsreaktion, ] F 43.1: Posttraumatische Belastungsstörung, ] F 43.2: Anpassungsstörungen, ] F 62.0: u. U. auch: Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. In Betracht kommen aber auch F 45: Somatoforme Störungen, im Einzelnen: ] F 45.0: Somatisierungsstörung, ] F 45.4: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung ] und ggf. andere somatoforme Störungen.
Psychische Unfallfolgen in der Rechtsprechung Die in Betracht kommenden psychischen Störungen Wie können – nach einem Unfall – psychische Störungen/Erkrankungen entstehen? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten: ] Psychische Defizite können sich unmittelbar aus einer posttraumatischen Schädigung des Gehirns (hirnorganische Störungen) ergeben. Diese Störungen können kognitive Störungen sein (u. a. Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisstörungen etc.). Es kann sich aber auch um hirnorganisch bedingte Wesensveränderungen o. ä. handeln. ] Psychische Probleme (wie z. B. Depressionen) können aber auch Folge von ständigen körperlichen Symptomen/Beeinträchtigungen, z. B. Folge einer ständigen Schmerzüberflutung (Kopfschmerzen etc.) sein. ] Sie können aber auch entstehen, ohne dass ein körperliches Substrat hierfür vorhanden
Insbesondere dem Bundesgerichtshof wurde in der Vergangenheit und wird auch heute noch von medizinischer Seite oft der Vorwurf gemacht, er würde die Anerkennung psychischer Symptome als Unfallfolgen ausufern lassen; so z. B. von Wessels und Castro, die befürchten, die Anerkennung psychischer Unfallfolgen durch den BGH, ja das Schadensersatzrecht könnte ausufern mit negativen Konsequenzen in versicherungs- und volkswirtschaftlicher Hinsicht [41]. Diese Autoren versuchen, die Rechtsprechung einzudämmen mit einer Delta-v-Argumentation, die seit der Entscheidung des BGH vom 28. 01. 2003 [14] keine Rolle mehr spielen sollte. Man könnte manchmal den Eindruck haben, als handele es sich hier um eine ganz neue „Erfindung“ des Bundesgerichtshofes. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Anerkennung psychischer Störungen als Folgen eines Unfalls, die eine Entschädigungspflicht auslösen können, sowohl in der Sozial- als auch in der Zivilgerichtsbarkeit seit Langem anerkannt sind. So
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hat bereits im Jahr 1926 das damals für die gesetzliche Unfallversicherung in letzter Instanz zuständige Reichsversicherungsamt (RVA) erkennen lassen, dass psychische Störungen als Folge von Hirnkrankheiten, also auch von unfallbedingten Hirnschäden, eine Entschädigungspflicht unter Umständen auslösen können. Diese Störungen wurden damals als „traumatische Psychosen“ bezeichnet [35]. Im zu entscheidenden Fall hatte das RVA allerdings ausgeführt, dass eine sog. Unfallneurose nicht entschädigungspflichtig ist. Gemeint war hiermit der Fall, dass die Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten ihren Grund lediglich in seiner Vorstellung, krank zu sein, bzw. in mehr oder minder bewussten Wünschen ihren Grund hat. So sei ein vorangegangener Unfall auch dann nicht eine wesentliche Ursache der Erwerbsunfähigkeit, wenn der Versicherte sich aus Anlass des Unfalls in den Gedanken, krank zu sein, hineingelebt hat, oder wenn die sein Vorstellungsleben beherrschenden Wünsche auf eine Unfallentschädigung abzielen oder die schädigenden Vorstellungen durch ungünstige Einflüsse des Entschädigungsverfahrens verstärkt worden sind [35]. In einer Entscheidungsbesprechung wurden bereits 1927 Zweifel daran geäußert, ob diese Auslegung des RVA richtig sei [32], ob nicht psychische Erkrankungen auch gerichtlich stärker berücksichtigt werden müssten. Hatte sich das RVA für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung also noch zurückgehalten mit der Anerkennung psychischer Unfallfolgen, so ist für den Bereich des zivilen Haftpflichtrechts das Reichsgericht (RG) erheblich weiter gegangen und hat einem Unfallopfer Schadensersatzansprüche zugesprochen, bei dem das Erschrecken beim Unfall und die über längere Zeit ausgestandene Todesangst „akute Schäden psychischer Art“ hervorgerufen haben. Diese so bezeichnete „Unfallneurose“ sei Unfallfolge und entschädigungspflichtig, selbst dann, wenn die Veranlagung des Klägers und der Unfall zur Herbeiführung des tatsächlichen Zustandes zusammengewirkt hätten [33, 34]. So neu, wie oft getan wird, ist die Anerkennung psychischer Störungen als Unfallfolge also nicht. Wie sehen nun die heute für den Haftpflichtbereich und die gesetzliche Unfallversicherung zuständigen höchsten Gerichte, der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) und der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG), die Frage psychischer Unfallfolgen?
] Die Rechtsprechung des BGH Der BGH verwendet – abweichend von den Diagnosebezeichnungen der ICD 10 – folgende Begriffe Aktualneurose: Bei dieser Form wird die Neurose (die psychische Erkrankung) unmittelbar durch das Erleben des Unfallgeschehens ausgelöst. Dabei wird die psychische Deformität primär und unmittelbar durch das Unfallereignis geprägt. Rentenneurose: Hier wurzelt die psychische Fehlleistung in einer anderen Art der Fehlverarbeitung. Das Unfallgeschehen wird, wie der BGH einmal ausgeführt hat, zum Anlass genommen, in körperliche Beschwerden zu flüchten. Hieraus resultiert dann eine durch Begehrensvorstellungen geprägte Verweigerungshaltung gegenüber dem Erwerbsleben. Konversionsneurose: Bei dieser Neuroseform besteht die Kompensation nicht in direkter Arbeitsverweigerung. Hier wird vom Geschädigten vielmehr der ihm zugefügte Schmerz in somatische Beschwerden (z. B. Schmerzen) konvertiert. Diese Beschwerden ihrerseits beeinträchtigen dann seine Arbeitsfähigkeit. Bei der Rechtsprechung des BGH beschränke ich mich auf Fälle des Schadensersatz-(Haftpflicht-)rechts. Für Ansprüche aus einer privaten Unfallversicherung gelten andere Kriterien. Der BGH hat die Rechtsprechung des Reichsgerichts [33, 34] aufgegriffen und in einer Entscheidung aus dem Jahr 1956 ausgeführt: „Der Schädiger hat grundsätzlich auch Beeinträchtigungen zu ersetzen, die auf einer durch die Körperverletzung ausgelösten seelischen Störung des Betroffenen beruhen.“ Diese Entscheidung enthält 2 Punkte: Auch wenn – wie im damals zu entscheidenden Fall – nach dem Inhalt des Gerichtsgutachtens beim Kläger ein organisch-neurologischer Befund nicht vorliegt, beim Kläger also nur psychische Störungen festgestellt werden, können diese sehr wohl als entschädigungspflichtige Unfallfolge angesehen werden. Es gehe nicht an, die Schadensersatzpflicht auf körperlich feststellbare Schäden zu beschränken. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und neurotischen Störungen könne auch dann angenommen werden, wenn der Unfall eine Person betraf, die aufgrund einer neurotisch-labilen
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Veranlagung den sich ihr aufdrängenden Zweckund Begehrensvorstellungen nicht den erforderlichen Widerstand entgegenzubringen vermochte und die hierdurch in ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt war. Es gehe nämlich weiter nicht an, die durch den Unfall ausgelösten Störungen nervöser oder seelischer Art deshalb von der Schadensersatzpflicht auszunehmen, weil sie auf einer besonderen Veranlagung des Geschädigten beruhten. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt habe, könne nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre. Ob eine bereits gegebene gesundheitliche Beeinträchtigung auf einem körperlichen Mangel oder auf einer in der Persönlichkeitsstruktur liegenden seelischen Anfälligkeit beruhe, mache rechtlich keinen Unterschied [1, in neuerer Zeit noch einmal bestätigt von 31]. Es entlastet den Schädiger nicht, wenn der Geschädigte nicht zu den Starken dieser Welt gehört. In dieser Entscheidung macht der BGH weiter darauf aufmerksam, dass die Frage des Ursachenzusammenhangs eine Rechtsfrage ist, die vom Gericht entschieden werden muss, und dass der rechtlichen Betrachtungsweise eine Auffassung fremd sei, die den Ursachenzusammenhang auf körperlich-organische Geschehnisse beschränke. Die Entscheidung zu den „Unfallneurosen“ aus dem Jahr 1956 kann – bis heute – als ständige Rechtsprechung des BGH angesehen werden, mit einigen im Laufe der Jahre folgenden Modifikationen und Grenzziehungen. So hat der BGH in einer Entscheidung vom 08. 07. 1960 [2] die grundsätzliche Entschädigungspflicht für „Neuroseschäden“ bejaht, dann jedoch ausgeführt: „Die Schadensersatzpflicht für sog. Neuroseschäden kann dann entfallen, wenn der seelische Zustand des Geschädigten im Wesentlichen nur durch das – bewusste oder auch unbewusste – Streben nach Versorgung und Sicherheit oder durch eine starre Anklammerung an eine vorgestellte Rechtsposition zu erklären ist. Die Schadensersatzpflicht des Schädigers geht nicht so weit, dass er auch die Auswirkungen charakterlich bedingter abartiger Begehrensvorstellungen und Rechtsvorstellungen eines Geschädigten zu ersetzen hat, der den Unfall zum Anlass nimmt, fortan der Arbeit und dem Lebenskampf auszuweichen“ [2].
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Mit anderen Worten: Für die Folgen einer sog. „Begehrensneurose“ hat der Schädiger nicht mehr aufzukommen. Ähnlich, wenn auch nicht so pointiert, hatte der BGH schon in seiner Entscheidung von 1956 entschieden [1]. Auch dies ist ständige, gefestigte Rechtsprechung des BGH bis heute. In einer Entscheidung vom 25. 01. 1968 hat der BGH die bisherige Rechtsprechung weiter spezifiziert und eine Abgrenzung einer „Unfallrentenneurose“ von einer durch den Unfall primär hervorgerufenen „zweckfreien Aktualneurose“ vorgenommen [3]. Bekräftigt hat der BGH in dieser Entscheidung seine Auffassung, dass der Schädiger für die Auswirkungen einer bei dem Geschädigten durch das Unfallereignis zwar ausgelösten, letztlich aber charakterlich bedingten und in abartigen Rechts- und Sicherheitsvorstellungen oder in unangemessenen Wunschund Begehrenstendenzen wurzelnden seelischen Reaktion nicht einzustehen hat. Der BGH wörtlich: „Danach hat zwar der Schädiger grundsätzlich auch solche Beeinträchtigungen zu ersetzen, die auf einer durch die Körperverletzung ausgelösten seelischen Störung des Betroffenen beruhen. Ist aber der seelische Versagenszustand des Betroffenen im Wesentlichen nur durch das – bewusste und unbewusste – Streben nach Versorgung und Sicherheit oder durch ein starres Anklammern an eine vorgestellte Rechtsposition zu erklären, durch das erst das Bestehen eines Unfallschadens psychisch fixiert wird, so entspricht es sowohl dem Sinn des Schadensausgleichs als auch dem Gedanken der Billigkeit, dem Schädiger nicht zuzumuten, durch Ersatzleistungen zu der Verfestigung dieses Zustandes beizutragen [3]“. Aber: Ist die Neurose im Wesentlichen durch die Schwere der körperlichen oder seelischen Einwirkung des schädigenden Ereignisses, den erlittenen Schrecken, die erheblichen Einwirkungen einer sich anschließenden ärztlichen Behandlung oder durch schwere Unrechtsmaßnahmen zu erklären (zweckfreie Aktualneurose), so hat der Schädiger für die Folgen auch dann einzustehen, wenn das schädigende Ereignis bei einer stärker gefestigten seelischen Konstitution des Betroffenen nicht Folgen dieser Art hervorgerufen hätte [3, 5]. Dass es bei Anerkennung psychischer Störungen als Unfallfolge, die eine Entschädigungs-
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pflicht auslösen, nicht auf eine organische Hirnschädigung ankommt, hat der BGH in einer Entscheidung vom 09. 04. 1991 [6] bestätigt. In diesem Verfahren hatte ein Sachverständiger die Auffassung vertreten, es sei „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Gefühl, unschuldig in einen Unfall verwickelt und dadurch geschädigt worden zu sein, wesentlich die Gesamtentwicklung des Klägers bestimmt“ habe. Ein anderer Sachverständiger hatte festgestellt, der heutige Zustand des Klägers ergäbe sich „aus einem Zusammenwirken zwischen Unfallschädigung und ungünstiger psychogener Verarbeitung“. Dies reicht nach Auffassung des BGH aus, die psychischen Störungen als Unfallfolge zu werten [6]. In einer Entscheidung vom 16. 03. 1993 hat der BGH noch einmal festgestellt, dass psychische Störungen, auch wenn sie, gutachterlich festgestellt, „auf eine konversionsneurotische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens zurückzuführen“ sind, zu entschädigen sind. Etwas Anderes gilt auch dann nicht, wenn in einem Gutachten festgehalten wird, dass sich die Mehrzahl der Krankenhausaufenthalte des Klägers samt Operationen als Folgen der krankhaften Erlebnisverarbeitung darstellen. Abgesehen davon (insoweit eine persönliche Anmerkung), dass es schon als durchaus zweifelhaft angesehen werden muss, Operationen auf konversionsneurotische Zusammenhänge zurückzuführen, führt der BGH hier seine bisherige Rechtsprechung zutreffend fort. Es wurde bereits ausgeführt, dass der BGH Schadensersatzansprüche für psychische Unfallfolgen nicht einschränkungslos gewährt, dies also z. B. für rentenneurotische, begehrensneurotische Haltungen des Klägers nicht gilt. In mehreren Entscheidungen nimmt der BGH eine andere Grenzziehung vor. Eine Zurechnung psychischer Störungen zum Unfall (ein kausaler Zusammenhang) kommt dann nicht mehr in Betracht, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig (eine Bagatelle) ist und nicht gerade speziell auf die Schadensanlage des Verletzten trifft [8]. In dieser Entscheidung wird zunächst Folgendes festgestellt: Handelt es sich bei den psychisch vermittelten Beeinträchtigungen hingegen nicht um schadensausfüllende Folgewirkungen einer Verletzung, sondern treten sie haftungsbegründend erst durch die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen ein, wie dies in den sog. Schock-
schadensfällen regelmäßig und bei Aktual- oder Unfallneurosen häufig der Fall ist, so kommt eine Haftung nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen selbst Krankheitswert besitzen, also eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen und für den Schädiger vorhersehbar waren [8, so auch 30]. Wiederholt wird dann die Auffassung vertreten, dass psychische Störungen auch dann Unfallfolge sind, wenn sie auf eine besondere Anfälligkeit des Geschädigten treffen. Wenn die psychischen Unfallfolgen nicht auf körperliche Störungen zurückzuführen sind, sondern z. B. auf den beim Unfall erlebten Schock, gehören sie zum Haftungsgrund, so dass dann der Beweismaßstab des § 286 ZPO [8, 30] gilt. Der BGH schränkt jedoch weiter ein: „Ebenso wie im Bereich körperlicher Schäden sich Grenzen der Zurechenbarkeit in Extremfällen ergeben können, kann eine Haftungsbegrenzung in Fällen extremer Schadensdisposition auch bei psychisch bedingten Schäden eintreten. Das ist freilich nur dann der Fall, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle), und nicht gerade speziell die Schadenanlage des Verletzten trifft und deshalb die psychische Reaktion im konkreten Fall, weil in einem groben Missverhältnis zum Anlass stehend, (schlechterdings) nicht mehr verständlich ist. Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für die Konversionsneurose“ [8, aber auch 9]. Für die Frage, ob ein schädigendes Ereignis so geringfügig ist, dass nach den Grundsätzen der genannten Urteile (insbesondere [8]) die Zurechnung psychischer Folgeschäden ausgeschlossen sein kann, kommt es auf die bei dem Unfall erlittene Primärverletzung des Geschädigten an [10]. Am 11. 11. 1997 hatte sich der BGH mit zwei „Schleudertrauma-Fällen“, insbesondere mit psychischen Unfallfolgen, zu befassen [10, 11]. Bei einem dieser Fälle hatte sich der Kläger bei einem Unfall verletzt. Er war angeschnallt und ist bei einem Diagonalanstoß von vorn mit dem Kopf gegen den Türrahmen gestoßen. Röntgenologisch und grob neurologisch untersucht, wurde primär eine „Schädelprellung bei HWS-Schleudertrauma ohne äußere Verletzungen oder Anzeichen für eine Gehirnerschütterung“ festgestellt. Der Kläger war 5 Tage krankgeschrieben. In der Folgezeit klagte der Kläger über weitere körperliche Beeinträchtigungen und Lähmungserscheinungen, die er auf bei dem Unfall erlittene Verletzungen zurückgeführt hat. Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen.
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Das Oberlandesgericht Hamm hatte die Berufung des Klägers hiergegen zurückgewiesen. Der BGH [10] hat Unfallfolgen bejaht und ausgeführt, zwar sei bei der Frage, ob eine Bagatelle vorliegt, auf die beim Unfall erlittene Primärverletzung abzustellen. Diese könne jedoch im entschiedenen Fall nicht als geringfügig im Sinne eines Bagatellschadens bezeichnet werden. Das Berufungsgericht gehe nämlich von einer Schädelprellung mit HWS-Schleudertrauma aus. Auch wenn diese Verletzungen organisch folgenlos ausgeheilt sein mögen, wären sie jedenfalls bei ihrer Entstehung nicht so unerheblich gewesen, wie dies für einen Ausnahmefall im dargelegten Sinne erforderlich wäre. Als Bagatellverletzung hat der BGH nämlich eine Verletzung nur dann angesehen, wenn es sich nur um vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens handelt. Es muss noch einmal ausdrücklich hervorgehoben werden, dass bei der Frage, ob es sich um eine „Bagatelle“ im Sinne der BGH-Rechtsprechung handelt, auf das Ausmaß der Primärverletzung abzustellen ist und nicht auf die Schwere des Unfalls, wie dies von Wessels und Castro propagiert wird [41], wobei dann die Harmlosigkeitsgrenze in das Problem „psychische Unfallfolgen“ eingeführt wäre, was der BGH gerade nicht vollzogen hat. Hier darf noch einmal darauf hingewiesen werden, dass nach der Auffassung des BGH die Bejahung des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfall und hieraus sich ergebenden psychischen Beeinträchtigungen die Regel ist, deren Versagung (wegen einer Bagatelle) hingegen die Ausnahme. An Ausnahmen von der Regel sind aber nach allgemeinen rechtlichen Grundsätzen strenge Anforderungen zu stellen. Ausführlich bespricht dann der BGH in dieser Entscheidung noch einmal die Abgrenzung zwischen einer nicht zu entschädigenden Begehrensneurose und einer als Unfallfolge zu bejahenden, zu entschädigenden Konversionsneurose. Der BGH hat diese Rechtsprechung wiederholt bestätigt [12]. Auch diesem Fall lag ein „Schleudertrauma“ zugrunde. Interessant neben den ständig vom BGH wiederholten Ausführungen (Bagatelle, Begehrensneurose) ist an diesem Urteil, dass der BGH ausgeführt hat, bei der Frage nach einem Bagatellunfall komme es allein auf die konkret eingetretenen Primärverlet-
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zungen und nicht auf die bestimmte Stufe einer abstrakten Schweregradskala an [11], also auch nicht auf eine Schweregradtabelle nach Erdmann o. ä. Der BGH führt die Linie, dass auch „psychisch vermittelte“ Unfallfolgen zu entschädigen sind, fort [13, 14]. Diese Entscheidungen des BGH, insbesondere die vom 11. 11. 1997 [10, 11] zeigen darüber hinaus, dass die Tatsacheninstanzen, auch die Oberlandesgerichte, in großem Umfang die Rechtsprechung des BGH, die dieser nunmehr seit über 50 Jahren vertritt, nicht verinnerlicht haben, und die vom BGH aufgestellten Grundsätze nach wie vor nicht berücksichtigen. So musste sich das OLG Hamm vom BGH vorwerfen lassen, das Urteil lasse nicht erkennen, ob es eine Zurechnung der Haftung unter dem Blickpunkt eines Bagatellschadens oder einer Begehrensneurose verneint habe. Beide Begründungen wären überdies fehlerhaft [10]. Zu den sog. „Schockschadensfällen“ darf noch auf ein relativ neues BGH-Urteil hingewiesen werden [16], bei dem es um folgenden Fall ging: Zwei Polizeibeamte kamen zufällig an einen Ort, an dem sich zuvor ein schwerer Unfall ereignet hatte. Ein Versicherungsnehmer des verklagten Haftpflichtversicherers hatte als „Geisterfahrer“ auf der Autobahn einen Frontalzusammenstoß verursacht, in dessen Folge beide verunglückten Fahrzeuge samt Insassen (eine vierköpfige Familie) verbrannten. Die beiden hinzugekommen Polizeibeamten konnten nicht helfen und mussten zusehen, wie die Fahrzeuginsassen verbrannten. Das klagende Land, in dessen Dienst die Beamten standen, machte für die Leistungen, die es für sie erbracht hatte, Schadensersatz geltend mit der Begründung, die Polizeibeamten hätten ein posttraumatisches Belastungssyndrom erlitten. Der BGH hat hier mit Urteil vom 22. 05. 2007 Schadensersatzansprüche verweigert. Es ist bereits oben ausgeführt worden, dass für psychische Unfallfolgen auch dann Ersatz zu leisten ist, wenn es für diese Störungen kein körperliches Korrelat geben sollte, vorausgesetzt, die Störung besitzt Krankheitswert. Dies gilt unter bestimmten Umständen sogar dann, wenn der Antragsteller nicht einmal selbst betroffen ist; z. B. die Mutter, die miterleben muss, wie ihr Kind bei einem Unfall stirbt. In einem Urteil vom 12. 11. 1985 hatte der BGH in einem an-
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deren Fall Schadensersatzansprüche für „rein“ psychische Störungen zugesprochen und ausgeführt: „Nach den Feststellungen im Berufungsurteil gehen die körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers infolge der unfallbedingten Neurose weit über das hinaus, was an Beeinträchtigungen bei Miterleben schrecklicher und seelisch belastender Ereignisse gewöhnlich aufzutreten pflegt und was als zum allgemeinen Lebensrisiko gehörig jedermann ersatzlos zu tragen hat [4].“ Damals hatte der BGH noch offen gelassen, ob auch völlig fremde, mit den eigentlichen Unfallbeteiligten nicht in einer näheren Beziehung stehende Personen bei besonders schweren Unfällen Schadensersatz für eine psychische Gesundheitsbeschädigung erhalten können. Diese Frage hat der BGH in der Entscheidung vom 22. 05. 2007 nachgeholt und ausgeführt: „Diese Frage ist [ . . . ] zu verneinen. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob es sich bei den Geschädigten um Polizeibeamte oder andere Personen handelt, die zufällig das Geschehen miterleben. In beiden Fällen ist eine Schädigung, die aus der bloßen Anwesenheit bei einem schrecklichen Ereignis herrührt, dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen“ [16] und damit nicht zu entschädigen. Unberührt bleibt allerdings die vom BGH in den letzten Jahren zunehmend über die zum Schockschaden entwickelten Grundsätze hinaus akzeptierte Haftung für psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht am Unfall Beteiligter, die in einer besonderen Nähebeziehung zum Unfallopfer standen, also insbesondere seiner Angehörigen [15].
] Die Rechtsprechung des BSG Hier ist in erster Linie die Rechtsprechung des für die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) zuständigen 2. Senats zu besprechen, aber auch ergänzend die Rechtsprechung des 9., bzw. des 9 a-Senats (zuständig für das soziale Entschädigungsrecht), da dort dieselben Kausalitätsgrundsätze gelten. Im Bereich der GUV gilt ein anderer Kausalitätsbegriff als im Zivilrecht [36]. Hier – im Bereich der GUV – kommt es nicht auf Adäquanzgesichtspunkte an. Hier gilt der Begriff der wesentlichen Bedingung. *
Hatte noch das RVA [32] allenfalls psychische Beeinträchtigungen als Folge organischer Hirnschäden als Unfallfolge akzeptieren wollen, so ging das BSG bereits sehr früh andere Wege. Bereits in einer heute noch sehr lesenswerten Entscheidung vom 29. 10. 1958 hat das BSG ausgeführt, dass jede Störung der körperlichen Unversehrtheit „in mehr oder weniger großem Ausmaß das seelische Gleichgewicht beeinträchtigt“ [17, 18]. Hier ging es noch um seelische Folgen körperlicher Schmerzen/Beeinträchtigungen. In einem Urteil vom 18. 12. 1962 ging das BSG dann einen Schritt weiter und hat auch „nur“ psychische Beeinträchtigungen als Unfallfolge anerkannt [19]. Denn auch – so das BSG – psychische Beeinträchtigungen könnten rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis verursacht sein. Bei der rechtlichen Prüfung ursächlicher Zusammenhänge sei auch zu berücksichtigen, dass nach den Erkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft eine scharfe Trennung zwischen Vorgängen, die nur im organischen Bereich abliefen, und solchen, die sich im Psychischen und Geistigen abspielten, nicht berechtigt und vielfach praktisch nicht einmal möglich sei. Wie der BGH (s. o.), so führt auch das BSG weiter aus, ein Unfallereignis oder seine Auswirkungen im Körperlich-Organischen seien nicht schon deshalb für die psychischen Reaktionen des Verletzten als Ursache rechtlich unwesentlich, weil diese Reaktionen eine entsprechende psychische Anlage voraussetzten. Auch dürfe bei der rechtlichen Wertung nicht von vornherein nur darauf abgestellt werden, wie ein „normaler“ Verletzter reagiert hätte. Diese Rechtsprechung hat das BSG bis heute beibehalten und hat sich dabei von vehementer Kritik an seiner Rechtsprechung nicht beirren lassen, so wenn etwa in einer Besprechung des Urteils von ärztlicher Seite geäußert wurde: „Im Sozialrecht wird Willensschwäche und Verantwortungslosigkeit nicht nur nicht bestraft, sondern sogar honoriert! Wo wird uns eine solche Sozialrechtsprechung hinführen?“ [42].
* Vgl. zu den allgemeinen Voraussetzungen für Ansprüche aus der GUV auch den Beitrag von Krasney in diesem Buch.
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So hat der 9. Senat des BSG in einem Urteil vom 12. 06. 2003 sogar die Kausalität im Sinne der wesentlichen Bedingung bei einem Kläger bejaht, der überhaupt keine körperlichen Schäden davon getragen hat, sondern psychisch „nur“ wegen des Erlebens der Folgen einer schrecklichen Gewalttat krank geworden ist und für diesen Fall die bisherige Rechtsprechung des 9. und des 2. Senats für derartige Fälle konkretisiert. Das BSG: „Maßgebliches Kriterium für den erforderlichen engen Zusammenhang zwischen der das Primäropfer betreffenden Gewalttat und den psychischen Auswirkungen beim Sekundäropfer ist die zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Ereignis und/oder die personale Nähe zum Gewaltopfer. Eine zu einem Schockschaden führende Schädigung im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes liegt vor, wenn das belastende Ereignis eine – unter Umständen symptomlose – seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirkt“ [23]. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das BSG psychische Reaktionen auch dann als Unfallfolge anerkennt, wenn der Unfall auf eine Schadensanlage des Geschädigten trifft. In einer Entscheidung vom 02. 02. 1999 hat der 2. Senat des BSG das Problem der „Schadensanlage“ sehr ausführlich behandelt [22]. In einem weiteren Punkt bestand in der Rechtsprechung des BSG und der Literatur bisher Einigkeit. In der Frage nämlich, ob es bei der Frage der Kausalität auch auf die Geeignetheit des Traumas für die geltend gemachten Beeinträchtigungen ankommt, oder ob ausschließlich auf die individuellen Gegebenheiten beim Geschädigten abzustellen ist. Die Antwort des BSG war – bisher? – eindeutig: „Die Frage, ob eine Bedingung im Sinne der Kausalitätsnorm des Rechts der Kriegsopferversorgung neben anderen Bedingungen die wesentliche Bedingung gewesen ist, kann nicht danach beurteilt werden, ob die Bedingung erfahrungsgemäß im Allgemeinen unter gleichen Umständen bei anderen Personen den gleichen Erfolg herbeigeführt hätte, sondern nur nach den besonderen Umständen und der besonderen Einzelpersönlichkeit; es kommt nicht darauf an, ob die versorgungsrechtlich erheblichen Ereignisse sich im „Rahmen durchschnittlicher, gewöhnlicher“ Anforderungen
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gehalten haben, sondern auf die besondere individuelle Belastbarkeit des Betroffenen [18]“. Dieser Rechtsprechung hat sich der 2. Senat des BSG angeschlossen [19]. Auch der 9. Senat des BSG hat ausdrücklich ausgeführt, die Theorie der wesentlichen Bedingung gebiete eine individualisierende Prüfung; zu untersuchen sei nicht der typische Geschehensablauf, sondern die singuläre Situation des Menschen und seine Befindlichkeit [24]. Die Literatur folgt dieser Auffassung [28, 38]. Sowohl der 9. Senat [23] als auch der 2. Senat des BSG in zwei Entscheidungen vom 09. 05. 2006 [24, 25] scheinen – zumindest teilweise – von dieser Auffassung abzurücken. Den Entscheidungen vom 09. 05. 2006 waren jeweils Urteile des Sächsischen LSG vorausgegangen, mit denen psychische Unfallfolgen und die Kausalität anerkannt und ausdrücklich der Auffassung des 9. BSG-Senats [18] widersprochen und ausgeführt wurde, dass es bei der Kausalitätsprüfung nicht auf die allgemeine Geeignetheit, sondern auf die individuellen Verhältnisse beim Kläger ankomme [36, 37]. Der 9. Senat hatte am 26. 04. 1994 zur Anerkennung (nicht nur) psychischer Beeinträchtigungen verlangt, dass ein Gutachten, das zur Grundlage einer Gerichtsentscheidung herangezogen werden soll, Ausführungen enthalten muss, u. a. ob und in welchem Umfang es in der medizinischen Wissenschaft Erfahrungen und Erkenntnisse darüber gebe, dass schädigende Vorgänge ohne bleibenden körperlichen Schaden dazu geeignet sind, das seelische Dauerleiden als gesundheitliche Folgeschädigung herbeizuführen, an dem der Kläger leidet [21, so auch 24, 25]. Hierzu hat Brandenburg angemerkt, diese Forderung sei mit der nach dem Kausalitätsprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung gebotenen individuellen Beurteilung nicht zu vereinbaren [26]. Der Kritik von Brandenburg ist zuzustimmen. Das Sächsische LSG hat es zu Recht abgelehnt, der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG zu folgen. Das Kriterium der Geeignetheit bedeutet einen Bruch zur bisherigen Rechtsprechung des BSG, wonach es auf individualisierende Gesichtspunkte ankommt. Dass eine „Schadensanlage“ nicht in jedem Fall dazu führt, dass eine noch so geringe traumatische Einwirkung als Ursache für psychische Beeinträchtigungen angenommen und entschädigt wird, wird m. E. dadurch gewährleistest, dass sog. Gelegenheitsursachen nicht als wesentliche Ursachen angesehen werden.
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] Konsequenzen für den Beispielsfall Der eingangs in der Einleitung geschilderte Fall ist danach also wie folgt zu lösen: Sämtliche vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen im Beispielsfall, der vom OLG Saarbrücken verhandelt wurde, sind vom Schädiger zu entschädigen, auch wenn sie nicht auf einem organischen Korrelat beruhen. Dies insbesondere auch unter dem Blickwinkel, dass der vom OLG gehörte Sachverständige Folgendes ausgeführt hat: Der Kläger leide an einem chronifizierten Schmerzsyndrom, einem neurasthenischen Syndrom mit Ermüdbarkeit, Reizbarkeit und Schwäche, einer stark eingeschränkten Beweglichkeit im Kopf- und Halsbereich durch schmerzhafte muskuläre Verspannung, eine Commotio labyrinthi mit Hochton-InnenohrSchwerhörigkeit und ständigem Tinnitus sowie Vertigo bei persistierender SchallempfindungsSchwerhörigkeit, einem vegetativem Syndrom mit Schwindel und anderen Symptomen. Auch aus medizinischer Sicht wären, so der Sachverständige, diese Gesundheitsbeeinträchtigungen in ihrer konkreten Gestalt ohne das Unfallereignis und insbesondere ohne die von dem Unfallgegner verursachte Primärverletzung nicht aufgetreten. Das OLG Saarbrücken hat danach das Urteil des Landgerichts zurecht aufgehoben und ausgeführt, der Schädiger und sein Haftpflichtversicherer würden gesamtschuldnerisch für die beim Kläger bestehenden und durch den Unfall ausgelösten Gesundheitsbeeinträchtigungen haften [30]. Auch wenn es sich bei dem Unfall um einen Arbeitsunfall gehandelt hätte, wenn also der Kläger auch Ansprüche gegenüber der Berufsgenossenschaft auf Bewilligung der Verletztenrente geltend machen würde, wären diese Ansprüche dem Grunde nach zu bejahen. Auch nach den oben geschilderten Grundsätzen des BSG zur Frage „psychische Unfallfolgen“ wären sämtliche Beschwerden als wesentlich durch den Unfall anzusehen. Wie (mit welcher MdE) diese einzuschätzen wären, ist eine andere Frage, die sich aus den Informationen nicht klären lässt.
„Bewertung“ psychischer Unfallfolgen Wenn die Frage, ob psychische Beeinträchtigungen im Einzelfall als Unfallfolge anerkannt werden, bejaht wird, stellt sich die weitere Frage, welche Konsequenzen sich hieraus ergeben, bzw. wie diese Unfallfolgen zu quantifizieren sind.
] „Bewertung“ im Haftpflichtrecht Anders als im Bereich der GUV (s. unten) gilt im Bereich des Haftpflichtrechts nicht die generalisierende Bewertung. Hier ist nach der konkreten Beeinträchtigung zu fragen, also danach, was z. B. das Unfallopfer vor dem Unfall beruflich gemacht hat. Das wird dann mit dem Zustand nach dem Unfall verglichen. Kann der Geschädigte den vor dem Unfall ausgeübten Beruf nicht mehr, aber auch keine andere Tätigkeit mehr ausüben, so muss der Schädiger ihm den vollen Ausfall des Gehalts erstatten, gegebenenfalls unter Abzug der als Lohnersatz erhaltenen Leistungen von Sozialversicherungsträgern. Kann er nur noch weniger arbeiten oder eine geringer vergütete Arbeit ausführen, so muss der Schädiger die Differenz zwischen dem Gehalt vor dem Unfall und dem jetzt erzielten Einkommen erstatten. Verbleibt eine nur geringe Restarbeitsfähigkeit, ist diese aber auf dem Arbeitsmarkt nicht zu verwerten, so schuldet der Schädiger vollen Lohnersatz.
] Bewertung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung Im Bereich der GUV erhält der Verletzte von dem Unfallversicherungsträger (u. a. der BG), wenn die gesundheitlichen Störungen Folge eines Arbeitsunfalls sind, zunächst Verletztengeld, vergleichbar mit dem Krankengeld der gesetzlichen Krankenkassen, längstens jedoch für einen Zeitraum von 78 Wochen. Dauern Beeinträchtigungen über die 26. Woche hinaus an, erhält der Versicherte eine Verletztenrente. Dies jedoch nur dann, wenn die Erwerbsfähigkeit (Maßstab ist der gesamte Arbeitsmarkt) um mindestens 20 vom Hundert gemindert ist (§ 56 SGB VII). Wie nun psychische Beeinträchtigungen zu bewerten sind, wie hoch die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) anzusetzen ist, ist ein Problem. In den üblichen Standardwerken zur GUV (z. B. [38]) werden Versuche in dieser Rich-
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tung unternommen, die jedoch nach m. M. eher unbefriedigend sind. Einen guten Ansatz bietet ein Versuch von Foerster et al. [29], auch wenn hier im Detail sicher noch Verbesserungen erforderlich sind. Hier werden MdE-Schätzungen für die akute Belastungsreaktion (ICD-10 F 43.0), die Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.2), die depressive Episode (ICD-10 F 32 und F 33), die anhaltende affektive Störung (ICD-10 F 34 und F 38.8), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (ICD-10 F 43.1), die somatoforme Störung (ICD-10 F 45) und einige andere Störungsbilder versucht. Beispielhaft soll auf zwei Komplexe eingegangen werden. Die PTBS kann danach wie folgt bewertet werden [29]: ] Unvollständig ausgeprägtes Störungsbild
MdE bis 20 v. H.
] Üblicherweise zu beobachtendes Störungsbild, geprägt durch starke emotionale und durch Ängste bestimmte Verhaltensweisen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und gleichzeitig größere sozialkommunikative Beeinträchtigungen
MdE bis 30 v. H.
] Schwerer Fall, gekennzeichnet durch massive Schlafstörungen mit Alpträumen, häufige Erinnerungseinbrüche, Angstzustände, die auch tagsüber auftreten können, und ausgeprägtes Vermeidungsverhalten
MdE bis 50 v. H.
Somatoforme Störungen können nach Foerster mit 20 bis 30 v. H. bewertet werden. Für die somatoforme Schmerzstörung gilt: ] Schmerzzustand mit leicht- bis MdE bis 10 v. H. mäßiggradiger körperlich-funktioneller Einschränkung ] Chronifizierter Schmerzzustand mit MdE bis 30 v. H stärkergradiger körperlich-funktioneller Einschränkung und psychischemotionaler Beeinträchtigung ] Chronifizierter Schmerzzustand mit schwerwiegender körperlichfunktioneller Einschränkung und erheblicher psychisch-emotionaler Beeinträchtigung
MdE bis 40 v. H
]
Foerster et. al. räumen allerdings ein, dass hier – im Einzelfall zu begründende – Abweichungen möglich sind.
Zusammenfassung ] Haftungsrecht Hat jemand (schuldhaft) die Körperverletzung eines Anderen verursacht, so haftet er für alle daraus resultierenden organischen und psychischen Folgen. Dies gilt unabhängig davon, ob die psychischen Folgen eine organische Ursache haben (z. B. sog. Schockschäden). Der Schädiger haftet auch für seelisch bedingte Folgeschäden, die auf einer psychischen Prädisposition oder einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen. Es reicht aus, dass der Unfall Auslöser für die psychischen Folgereaktionen war, auch wenn die pathologische Persönlichkeitsstruktur des Geschädigten bereits vor dem Unfall angelegt war. Eine Zurechnung psychischer Störungen zu dem Unfall (ein kausaler Zusammenhang) kommt dann nicht mehr in Betracht, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist und nicht gerade speziell auf die Schadensanlage des Verletzten trifft (Bagatelle). Für die Folgen einer sog. „Begehrensneurose“ hat der Schädiger nicht mehr aufzukommen.
] Sozialrecht – Gesetzliche Unfallversicherung Auch psychische Beeinträchtigungen können im Sinne der wesentlichen Beeinträchtigungen durch einen Arbeitsunfall verursacht worden sein. Sie sind dann in der GUV zu entschädigen. Dies gilt auch, wenn keine organischen Schäden vorliegen, wenn „nur“ psychische Beeinträchtigungen festzustellen sind (z. B. bei sog. Schockschäden). Dies gilt auch bei einer schon vor dem Unfall bestehenden entsprechenden Prädisposition.
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* Gerichtsentscheidungen werden zitiert nach Gericht, Datum und Aktenzeichen (Az.) sowie, soweit vorhanden, den gebräuchlichsten Zeitschriften, in denen sie veröffentlicht sind, in erster Linie der Zeitschrift für Versicherungsrecht (VersR) und der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), diese zitiert nach Jahrgang und Seite.
22. BSG (1999) Urteil vom 02. 02. 1999 – Az. B 2 U 6/98 R. VersR 2000:789–790 23. BSG (2003) Urteil vom 12. 06. 2003 – Az. HB 9 VG 1/02. NZV 2005:318 24. BSG (2006) Urteil vom 09. 05. 2006 – Az. B 2 U 1/05 R 25. BSG (2006) Urteil vom 09. 05. 2006 – Az. B 2 U 26/04 R. NZS 2007:212–218 26. Brandenburg S (1999) Psychische Unfallfolgen – juristische Aspekte. Trauma und Berufskrankheit 1:192–197 27. Dörner K (2004) Posttraumatische Belastungsstörungen – Neues Fass im Gesundheitsmarkt. Trauma und Berufskrankheit 6:(Suppl 3): S327–S328 28. Erlenkämper A, Fichte W, Fock M (2002) Sozialrecht. Heymanns, Köln Berlin Bonn München, S 65–67 29. Foerster K, Kaiser V, Grobe M, Tegenthoff M, Weise H, Badke A, Schreinicke G, Lübcke J (2007) Vorschläge zur MdE-Einschätzung bei psychoreaktiven Störungen in der gesetzlichen Unfallversicherung. MedSach 103:52–56 30. OLG Saarbrücken (2006) Urteil vom 14. 03. 2006 – Az. 4 U 326/03. Schadenspraxis 2007:174 31. OLG München (2002) Urteil vom 08. 02. 2002–10 U 3448/99. NZV 2003:474 32. Levy-Suhl M (1928) Soziale Medizin und Hygiene. DMW 21:887–888 33. RG (1934) Urteil vom 24. 10. 1934 – Az. VI 69/36 RGZ 151:279–286 34. RG (1938) Urteil vom 30. 11. 1938 – Az. VI 131/38 RGZ 159:257–264 35. RVA (1926) Urteil vom 24. 09. 1926 – Az. I a 1609/25 und 1610/25 – Amtliche Nachrichten des RVA 1926:480–485 36. Sächsisches LSG (2004) Urteil vom 22. 01. 2004 – Az. L 2 U 165/99 37. Sächsisches LSG (2004) Urteil vom 16. 09. 2004 – Az. L 2 U 55/01 38. Schönberger S, Mehrtens G, Valentin H (2003) Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Schmidt, Berlin, S 79 39. Wedig HD (2004) HWS-Distorsionen aus juristischer Sicht (Deutschland). In: Schmidt H, Senn J (Hrsg) Schleudertrauma – neuester Stand – Medizin, Biomechanik, Recht und Case Management. Zürich 40. Wehking E (2004) Posttraumatische Belastungsstörung. Neuer Anspruch eines alten Problems. Trauma und Berufskrankheit 6:(Suppl 3)S324–326 41. Wessels U, Castro WHM (2000) Ein Dauerbrenner: das „HWS-Schleudertrauma“. VersR 2000: 284–289 42. Witter H (1963) Anmerkung zum Urteil des BSG vom 18. 12. 1962 – 2 Ru 189/59. NJW 1963:1694
50 Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung H.-P. Schwintowski
Die Rechtsschutzlücke Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu ist der Kampf – so beginnt Rudolf von Jhering seinen weltberühmt gewordenen Vortrag über den Kampf ums Recht vor der Wiener Juristischen Gesellschaft im Jahre 1872. Das alles klingt für heutige Ohren etwas pathetisch. Wir würden formulieren, dass das Recht die ihm immanenten Funktionsziele zu erreichen hat, dass Funktionsdefizite zu vermeiden sind, insbesondere solche, die aus dem Auseinanderfallen zwischen materiellem Recht einerseits und seiner prozessualen Durchsetzung andererseits entstehen. 1 Tatsächlich haben wir aber erheblichen Anlass über die Worte Jherings nachzudenken, denn unserer Rechtsordnung ist eine Rechtsschutzlücke immanent, die unmittelbar mit den Kosten, der Mühe und der Zeit der Rechtsdurchsetzung und der Tatsache zusammenhängt, dass wir – anders als im amerikanischen Recht – keinen Strafschadensersatz für eine unangemessene, unfaire und womöglich psychisch zermürbende Schadensregulierung haben. 2 Die Gründe für die unserem Rechtssystem immanente Rechtsschutzlücke hat der Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli bereits im Jahre 1738 beschrieben. Das Bernoulli-Theorem besagt, dass menschliches Handeln bei einer Entscheidung unter Unsicherheit nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Zustandes in seiner Entscheidung berücksichtigt, sondern vor allem auch seine subjektive Bewertung des 1 2 3
Wolfgang Zöllner, Materielles Recht und Prozessrecht, AcP 190 (1990), 471–495. Peter Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, 2000, 369 ff. Ausführlich zum Erwartungsnutzenprinzip Bamberg-Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre, 10. Aufl., S. 82 ff.
Nutzens dieses Ereignisses für ihn mit einfließen lässt. 3 Darin unterscheidet sich der Erwartungsnutzen von dem bloßen Erwartungswert eines Ereignisses, der ja lediglich die Summe aus den mit ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichteten möglichen Ereignissen darstellt. 4 Der sehr abstrakt klingende Unterschied zwischen Erwartungswert einerseits und Erwartungsnutzen andererseits hat außerordentlich große praktische Folgen bei der Entscheidung darüber, ob ein Geschädigter einen Prozess führt oder nicht. ] Beispiel: Ein Anspruchsinhaber will 50 000 Euro geltend machen. Die gesamten außergerichtlichen und gerichtlichen Kosten betragen hierfür ca. 27 100 Euro. Die Erfolgsaussichten für den Prozess sind sehr gut, sie liegen bei 90%. Der Anspruchsinhaber verfügt über ein Bankvermögen genau in Höhe der möglicherweise entstehenden Prozesskosten, also 27 100 Euro. Obwohl er den Prozess mit einer 90%igen Wahrscheinlichkeit gewinnen würde (der Erwartungswert beträgt also 24 390 Euro), wird er diesen Prozess nicht führen, weil er nicht ausschließen kann, den Prozess zu verlieren. Erst nach einer Ausstattung mit einem einsetzbaren Vermögen von 50 000 Euro wird der Anspruchsinhaber bei gleichen Erfolgsaussichten den Prozess wagen. 5 Die Konsequenzen aus dieser – im Einzelnen sehr viel feiner und differenzierter – zu entwickelnden Rechtsschutzlücke sind fatal. Für den Einzelnen bedeutet dies den Anspruchsverlust selbst bei hohen Erfolgsaussichten. Beson-
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Williams, Smith, Young, Risk Management and Insurance, 6. Aufl., Boston 1998, S. 5. Beispiel von Moritz Dimde, Rechtsschutzzugang und Prozessfinanzierung im Zivilprozess – eine ökonomische Analyse des Rechts, 2003, 125 ff.
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ders tragisch ist, dass hiervon gerade diejenigen betroffen sind, die einen besonders großen (meist Personen-)Schaden erleiden. Denn die wenigsten, die von einem solchen Schaden betroffen werden, verfügen über nennenswerte Vermögensreserven. Aber auch gesamtwirtschaftlich wirkt sich die Rechtsschutzlücke negativ aus – sie entlastet nämlich Schädiger von materiell bestehenden Ansprüchen und setzt damit den Anreiz, für Schäden dieser Art gar nicht oder nur schlecht vorzusorgen. Beispiele für Fehlverhaltensweisen dieser Art lassen sich insbesondere im Bereich global agierender Unternehmen finden. Verluste werden strategisch sozialisiert, Gewinne dagegen privatisiert. 6 Aber auch für Versicherer entsteht ein strategischer Anreiz, Geschädigte am langen Arm verhungern zu lassen, zumal, wenn sie wissen, dass die Geschädigten über keine oder nur sehr geringe finanzielle Polster verfügen. Die Prozesskostenhilfe ist nach Einschätzung von Praktikern in diesen Fällen ein stumpfes Schwert. Zum einen sind die Anwälte in komplexen und schwierigen Fällen, um die es hier geht, kaum bereit, für umgerechnet etwa 1,50 Euro pro Stunde zu arbeiten. Infolgedessen werden schwierige Mandate auf der Basis der Prozesskostenhilfesätze abgelehnt. Außerdem muss der Anwalt der Gegenseite im Falle des Verlustes voll bezahlt werden. Auch die Einschaltung eines Prozesskostenfinanzierers hilft nur in einigen sehr wenigen Fällen. Das hängt damit zusammen, dass es bisher nur sehr wenige Prozesskostenfinanzierer gibt, dass diese in der Regel erst Streitwerte oberhalb von 100 000 Euro finanzieren und diese im Normalfall auch erst dann, wenn der Prozess mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewonnen wird. Vor allem aber – und das ist das eigentliche, die Rechtsschutzlücke verursachende Problem – greifen Prozesskostenhilfe und Prozessfinanzierung immer erst ein, wenn eine Klage vorbereitet oder erhoben wird. Eine angemessene und faire Schadensregulierung müsste aber sehr viel früher, nämlich mit Eintritt des Schadensereignisses beginnen. Von diesem Zeitpunkt an soll der Geschädigte nach dem Vorstellungsbild des § 249 BGB so gestellt werden, als wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten.
Der Anspruch auf angemessene, faire Schadensregulierung Das System besteht aus zwei Bausteinen, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig beeinflussen. Auf der einen Seite ist der Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre (§ 249 Abs. 1 BGB). Auf der anderen Seite steht der Anspruch auf Ersatz ideellen Schadens bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechtes. 7 Dieser Anspruch auf Ersatz ideellen Schadens steht neben dem Schmerzensgeldanspruch (§ 253 Abs. 2 BGB) und wird heute unmittelbar aus § 823 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet. 8 Dies ist der Grund, warum der Gesetzgeber das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht in die Regelung des § 253 Abs. 2 BGB einbezogen hat. 9 Das rohe, rücksichtslose, auf Zermürbung eines körperlich und seelisch schwer getroffenen Geschädigten zielende Verhalten einer Haftpflichtversicherung, die jahrelang hartnäckig jegliche Schmerzensgeldzahlung verweigert, beinhaltet folglich eine Persönlichkeitsrechtsverletzung und nicht nur – wie bisher angenommen wird – einen Umstand, der sich schmerzensgelderhöhend auswirkt. 10 Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, wie die zwei Bausteine des Systems einer angemessenen, fairen Schadensregulierung konkret beschaffen sind und wie sie aufeinander wirken.
] Wiederherstellung des Zustands Nach § 249 Abs. 1 BGB hat der Schädiger den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Schaden ist grundsätzlich durch Naturalrestitution auszugleichen. Dies bedeutet Herstellung des gleichen wirtschaftlichen
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6
Hans-Werner Sinn, Ökonomische Entscheidungen unter Unsicherheit, 1980, S. 249.
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BGH NJW 1995, 861, 2000, 2195 – so auch bereits BGH NJW 1961, 2059. BGH NJW 1995, 861. BT-Drucks. 14/7752, S. 25; Däubler JuS 2002, 627; Wagner NJW 2002, 2056; Münch. Komm.-Oetker, § 253, Rn. 27. So beispielsweise LG Dortmund vom 19. 3. 2004, 6 O 218/01.
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Zustands, der ohne das schädigende Ereignis bestehen würde. 11 Bei der Verletzung einer Person oder Beschädigung einer Sache kann der Geschädigte statt Naturalrestitution Geldersatz verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Zu ersetzen ist das Integritätsinteresse, d. h. der Geldbetrag, der zur Herstellung des Zustands erforderlich ist, der ohne das schädigende Ereignis bestehen würde. Die Dispositionsbefugnis liegt beim Gläubiger – also beim Geschädigten. 12 Der Geschädigte kann also statt der Herstellung den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen. Erst wenn die Herstellung nicht mehr möglich oder zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend ist, hat der Ersatzpflichtige den Gläubiger vollständig in Geld zu entschädigen (§ 251 Abs. 1 BGB). Ganz im Vordergrund steht also der Restitutionsanspruch, ergänzt um den Kompensationsgedanken in § 251 BGB. Was bedeutet dies nun alles konkret? Konkret bedeutet dies, dass der Schädiger – oder sein Regulierer – sich zunächst einmal in die Lage des Geschädigten so zu versetzen hat, als wäre er selbst geschädigt. Hiervon ausgehend würde der Schädiger versuchen, den Zustand wiederherzustellen, wie er bestand, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Versuch, den Zustand wiederherzustellen, der ohne schädigendes Ereignis bestand, besteht im Wesentlichen aus drei Kernkomponenten: ] Pflicht zur umfassenden, wahrheitsgemäßen und objektiven Sachverhaltsaufklärung ] Pflicht zur zeitnahen Entwicklung eines (Vor-)Finanzierungskonzeptes ] Pflicht zur Entwicklung eines Konzeptes zur angemessenen psychischen Betreuung. Nimmt man diese drei Kernelemente des Anspruchs auf angemessene, faire Schadensregulierung ernst, so obliegt es dem Schädiger, aktiv und fördernd bei der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, aktiv und fördernd die Finanzierungsfrage zu klären und aktiv und fördernd für eine psychologische Betreuung im angemessenen Umfang zu sorgen.
Es ist seit langem anerkannt, dass Haftpflichtversicherer verpflichtet sind, die Schadensregulierung von sich aus zu fördern und angemessene Abschlagszahlungen zu leisten, sobald ihre Einstandspflicht bei verständig-lebensnaher, objektiver Betrachtungsweise erkennbar wird. Verstoßen sie hiergegen unter Verletzung von Treu und Glauben in der Weise, dass dies auf den Geschädigten als ein Zermürbungsversuch wirken kann, so sind die Gerichte nach Gesetz und Verfassung dazu verpflichtet, einem Missbrauch wirtschaftlicher Macht entgegenzuwirken. 13 Stellt sich der Haftpflichtversicherer des Schädigers in nicht mehr verständlicher und in hohem Maße tadelnswerter Weise dem berechtigten Entschädigungsverlangen des Geschädigten entgegen, so muss dies berücksichtigt werden. 14 In ähnlicher Weise haben das OLG Köln 15, das OLG Naumburg 16, das OLG Düsseldorf 17, das OLG Nürnberg 18, das OLG Karlsruhe 19 und das OLG München 20 entschieden. Am 19. 03. 2004 hat das Landgericht Dortmund entschieden, dass das rohe, rücksichtslose, auf Zermürbung eines körperlich und seelisch schwer getroffenen Geschädigten abzielende Verhalten einer Haftpflichtversicherung, die jahrelang hartnäckig jegliche Schmerzensgeldzahlung verweigert, sich schmerzensgelderhöhend auswirkt. 21 Genau besehen handelt es sich in all diesen Fällen um einen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die „engere“ persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen. 22 Es sichert „jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann.“ 23 Geschützt wird in diesem 13 14 15 16 17
19 20 21 12
BGH NJW 1985, 793. BGH NJW 1993, 727.
]
] Die schwerwiegende Beeinträchtigung des Anspruchs auf angemessene, faire Schadensregulierung
18
11
Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung
22 23
OLG Karlsruhe, NJW 1973, 851. OLG Frankfurt a. M., NJW 1999, 2447. NJW-RR 2002, 962. VersR 2002, 1569. NVersZ 2000, 40. VersR 1998, 732 sowie NJW-RR 1998, 1040 sowie VersR 1997, 1108. VersR 1992, 370. NZV 1993, 434. Az. 6 O 218/01. BVerfG 54, 148/153; 72, 155/170. BVerfG 79, 256, 268.
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Sinne das „Person-Sein“ 24 um die personale und soziale Identität 25. Dieser Schutz entfaltet sich in unterschiedlichen Bereichen, insbesondere bei der Darstellung der eigenen Person 26, beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung 27 und beim Zwang zu selbstbelastenden Äußerungen. 28 Ganz grundsätzlich bietet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Schutz gegen eine umfassende Einschränkung der personalen Entfaltung bzw. der Privatautonomie. 29 Es geht um die Grundbedingungen freier Entfaltung 30, also um die Fähigkeit, selbstbestimmt und privatautonom eine individuelle Lebensentfaltung im Rahmen der Privatrechtsordnung zu entwickeln. Genau dies ist aber den Opfern einer grob rücksichtslosen, auf Zermürbung des Geschädigten gerichteten Schadensregulierung jedenfalls dann verwehrt, wenn sie entweder schwerste Körperschäden oder aber sehr große Sachschäden davongetragen haben, wenn sie sich also in einer Situation befinden, in der sie ohne Wiederherstellung des Zustands, der vor der Schädigung bestand, praktisch nicht mehr selbstbestimmt am Privatrechtsverkehr teilnehmen können. In diesen Fällen ist die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Geschädigten grundlegend in Frage gestellt, sie befinden sich gegenüber dem Schädiger in einer strukturellen Abhängigkeit, die sie hilflos und damit auch ausbeutungsfähig macht. Sie sind – je nach Einzelfall stärker oder schwächer – strukturell unterlegen und akzeptieren häufig völlig unteroptimale Vergleichsangebote auch deshalb, weil sie in ihrer ohnehin sehr geschwächten Situation das Trauma der Schadensregulierung endlich hinter sich haben wollen. In diesen Fällen der rücksichtslosen, auf Zermürbung eines Geschädigten gerichteten Schadensregulierung wird häufig mehr Schaden angerichtet, als beim Eingriff in die Darstellung der eigenen Person oder in das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Es geht noch fundamentaler um die Fähigkeit, überhaupt noch selbstbestimmt und privatautonom am Privatrechtsverkehr teilnehmen zu können und damit um eine Verletzung des 24 25 26 27 28 29 30
Jarass, NJW 1989, 859. Schmitt/Glaeser, HbStR VI 59. BVerfG 63, 161, 142; 35, 202, 220; 54, 148/155. BVerfG 65, 1/43. BVerfG 56, 37/49; 95, 220/241; 96, 171/181. BVerfG 72, 155/170. Dreier, DR 50.
Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in besonders schwerer Weise. Würde man demgegenüber schwerste Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch zermürbende Schadensregulierung ausschließlich dem Geltungsbereich des § 253 Abs. 2 BGB zuweisen, so könnte es sein, dass ein Regulierer, der rücksichtslos und auf Zermürbung gerichtet einen reinen Sachschaden reguliert, wegen des daraus resultierenden ideellen Schadens nicht in Anspruch genommen werden kann, weil die Voraussetzungen von § 253 Abs. 2 BGB, also die Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung nicht vorliegen. Tatsächlich passt der Anspruch auf Schmerzensgeld auch nicht für die Fälle des rücksichtslosen, auf Zermürbung gerichteten Regulierungsverhaltens. Der vom BGH für die vorsätzliche Verletzung entwickelte Grundsatz, dass bei der Bemessung der Entschädigung aus Gründen der Prävention auch der vom Schädiger erzielte oder angestrebte (Regulierungs-) Gewinn zu berücksichtigen ist, gilt nämlich insbesondere bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten. 31 Bei Verletzung der durch § 253 Abs. 2 BGB geschützten Rechtsgüter ist eine präventive Wirkung des Schmerzensgeldes nur eine – wenn auch durchaus erwünschte – Nebenfolge des Schmerzensgeldes. 32 Dogmatisch ließe sich der Anspruch auf Ersatz des durch grob rücksichtslose, auf Zermürbung des Geschädigten gerichtete Schadensregulierung auch aus der Verletzung der Pflicht zur angemessenen, fairen Schadensregulierung (§§ 249, 241, 242, 280 BGB) und aus §§ 826, 226, 249 BGB herleiten. Entscheidend ist in allen Fällen die Erkenntnis, dass eine grob rücksichtslose, auf Zermürbung des Geschädigten gerichtete Schadensregulierung jedenfalls dann einen Eingriff in das von Art. 1 GG geschützte Allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt, wenn es dem Regulierer ersichtlich um die Erzielung von Regulierungsgewinnen geht. Insoweit sind die hier gemeinten Fälle in ihrem rechtsethischen Unrechtsgehalt den Eingriffen in Persönlichkeitsrechte vergleichbar, die seit dem Jahre 1954 bis heute zur Caroline-von-Monaco-Doktrin 33 geführt haben.
31 32 33
BGH NJW 1995, 861, 2000, 2195 – so bereits BGH NJW 1961, 2059. Palandt-Heinrichs, BGB-Komm., 64. Aufl., § 253, Rn. 10. BGH NJW 1995, 861.
50
Wegbereiter waren die Entscheidungen des BGH vom 25. Mai 1954 34 zur erstmaligen Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie des GS vom 6. Juli 1955 35 über die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes. Dabei zeigt sich, dass die Bedeutung gerade letzterer Entscheidung nicht so sehr auf dem Terrain des Schmerzensgeldes, sondern dem des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts liegt. 36 Das gilt erst recht für den Herrenreiter-Fall vom 14. Februar 1958 37, der Pate für die konstitutive Begründung eines immateriellen Schadensersatzanspruchs für Persönlichkeitsverletzungen stand. Dadurch wurde die Persönlichkeit aus dem Schadensbereich in den Verletzungsbereich vorverlegt. 38 Noch offener ausgesprochen wird der Sanktionscharakter des Schadensersatzes bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen in der Ginsengwurzel-Entscheidung des BGH vom 19. September 1961 39, in der auch erstmals für diese Fälle eine strafrechtliche Ausdifferenzierung des Verschuldensmaßstabes des § 276 Abs. 1 BGB erfolgte. Mit Beschluss vom 14. Februar 1973 hat das Bundesverfassungsgericht 40 die Rechtsprechung zur Ersatzfähigkeit des ideellen Schadens bei schweren Persönlichkeitsverletzungen verfassungsrechtlich bestätigt. Danach ist der Anspruch auf Geldentschädigung nicht im eigentlichen Sinne ein Schmerzensgeldanspruch, sondern folgt aus dem Schutzauftrag von Art. 1 und 2 GG. Letztlich hält das Bundesverfassungsgericht die Zubilligung einer Entschädigung bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als mit der Verfassung in Einklang, weil „es gerade der Durchsetzung und dem wirksamen Schutz eines Rechtsgutes dient, das diese Verfassung selbst als Mittelpunkt ihres Wertesystems ansieht.“ 41 Die Kritik an dieser Rechtsprechung ist auch nach ihrer verfassungsrechtlichen Billigung
43 35 36 37 38 39 40 41
BGHZ 13, 335. BGHZ 18, 149. Bötticher, AcP 158 (1959/60), 385. BGHZ 26, 349. Deutsch, JuS 1969, 197, 202. BGHZ 35, 363. BVerfG 34, 269–293. BVerfG 34, 269, 291.
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durch das BVerfG nicht verstummt. 42 Sie richtet sich aber nach wie vor nicht gegen das Ergebnis als solches – die Notwendigkeit eines umfassenden zivilrechtlichen Ehrschutzes wird selbst von den schärfsten Kritikern dieser Rechtsprechung weitgehend anerkannt – als vielmehr gegen den methodisch-dogmatischen Weg dorthin. 43 Den vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung bilden zwei Urteile des BGH vom 15. November 1994 44 und vom 5. Dezember 1995 45, beide in Sachen Caroline von Monaco. In diesen Grundsatzentscheidungen hat der BGH neben dem im Vordergrund stehenden Genugtuungsgedanken erstmals ausdrücklich den Gedanken der Prävention herangezogen. Im praktischen Ergebnis wird man in vielen Fällen damit leben können, dass die „Erzielung von Gewinnen aus der Rechtsverletzung als Bemessungsfaktor in die Entscheidung über die Höhe der Geldentschädigung einzubeziehen ist.“ 46 Dogmatisch überzeugend ist dieses Ergebnis jedoch nicht, denn der BGH selbst hat immer wieder betont, dass der immaterielle Schadensersatz im Persönlichkeitsrecht seine Wurzeln gerade nicht im Schmerzensgeld, sondern in den Grundwertungen unserer Verfassung, insbesondere in Art. 1 und 2 GG hat. Dem hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zugestimmt. In Konsequenz dessen hat der Gesetzgeber das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ausdrücklich nicht in § 253 Abs. 2 BGB einbezogen. 47 Dem hat die Literatur zugestimmt. 48 Folglich ist in Zukunft zwischen dem Anspruch auf Schmerzensgeld auf der einen Seite und dem Anspruch auf Ersatz des ideellen Schadens aus Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts scharf und präzise zu trennen. Gegenstand des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist insbesondere auch der Anspruch auf angemessene und faire Schadensregulierung.
42
34
Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung
44 45 46 47 48
Honsell, VersR 1974, 205; Knieper, ZRP 1974, 137; Schiemann, Argumente und Prinzipien, 27 ff. Vertiefend Peter Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, 2000, S. 286 ff. NJW 1995, 861. NJW 1996, 984. BGH NJW 1995, 861, 865. BT-Drucks. 14/7752, S. 25. Däubler JuS 2002, 627; Wagner NJW 2002, 2056; Münch.-Komm.-Oetker § 253, Rn. 27; Palandt-Heinrichs § 253, Rn. 10.
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51 Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz J. Senn
Statistische Angaben In der Schweiz leiden ca. 10 000 Personen nach Verkehrsunfällen an Nackenschmerzen etc. Gestützt auf das Zahlenmaterial der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt SUVA wird davon ausgegangen, dass sich jährlich ca. 7 000 Personen bei einem Unfall eine Halswirbelsäulenverletzung zuziehen 1. Bestehende Statistiken beruhen auf hochgerechneten Stichprobenergebnissen ohne genaue Angaben; aus derjenigen der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung UVG (SSUV) fielen im Jahr 2004 in der Deutschschweiz pro 1000 Vollbeschäftigte 7,7 Fälle mit der Unfalldiagnose HWS-Distorsion und HWS-Schleudertrauma an. Weiter wird davon ausgegangen, dass in der Schweiz chronische Folgen nach Schleudertrauma bei etwa 1000 Personen pro Jahr diagnostiziert werden. Ein großer Teil dieser Diagnosen wird nach Verkehrsunfällen, insbesondere Auffahrunfällen gestellt.
Zusammenwirken von Schadenausgleichssystemen HWS-Distorsionen sind häufig Folgen von Unfällen im Straßenverkehr. Dabei resultieren als Personenschäden etwa Heilbehandlungskosten, Erwerbsausfall, Rentenschaden, Haushaltsschaden. Personenschäden werden heute zu einem großen Teil von den Sozialversicherungen getragen. Die einzelnen Zweige sind sehr unterschiedlich ausgestaltet mit Bezug auf den Kreis der erfassten Personen und knüpfen auch an 1
Dvorak J/Graf-Baumann T (1999) Halswirbelsäulenverletzungen. In: Halswirbelsäulen-Diagnostik und Therapie. Stuttgart/New York, 151 ff.
verschiedene soziale Risiken an (Tod, Alter, Invalidität). Bei anderen Zweigen, wie zum Beispiel der Unfallversicherung (UV), wird an die Ursache angeknüpft. Die Koordination ist komplex 2. Hat ein Dritter den Schaden verursacht, so nimmt die Sozialversicherung bei ihm Regress. Das direkte Forderungsrecht der geschädigten Person gegenüber der obligatorischen Haftpflichtversicherung für Fahrzeuge geht direkt auf den regressierenden Versicherungsträger über. Der Versicherungsträger tritt im Zeitpunkt des Ereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der versicherten Person ein (Subrogation) 3. Theoretisch müssten also die Kosten für HWS-Verletzungen im Straßenverkehr die Sozialversicherungen nicht belasten, weil ja eine Regressmöglichkeit besteht. Praktisch wird dies aber nicht umgesetzt, indem die betroffenen Sozialversicherungszweige (vor allem Invalidenversicherung und obligatorische Unfallversicherung) die Regressansprüche ungenügend durchsetzen; es werden wenige Regressprozesse durchgeführt, stattdessen werden in den Sozialversicherungsverfahren zunehmend die Ansprüche der HWS-Geschädigten verneint; dies ist eine Folge des politischen Systems, in welchem die Geschädigten keine Lobby haben und kein politischer Wille besteht, dem übermächtigen Einfluss der Versicherungswirtschaft etwas entgegenzusetzen 4. Der politische Diskurs in der Schweiz wird dominiert durch eine Kontroverse über die Fi2 3
4
Ueli Kieser (2007) Leistungskoordination im Sozialversicherungsrecht, Zürich/St. Gallen. Art 72 Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG); Ueli Kieser (2003) ATSG-Kommentar zu Art 72 mit Literaturhinweisen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung kann unter www.bger.ch abgerufen werden.
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Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz
nanzierbarkeit der Sozialversicherungen, insbesondere der Invalidenversicherung 5. Von gewissen politischen Kreisen mehr oder weniger polemisch ausgeschlachtet werden Themen wie Missbrauch, Moral, Hazard. Federführend werden solche Positionen in der schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge vertreten 6. Der Herausgeber dieser Zeitschrift, Erwin Murer, schreibt seit Jahren unter Berücksichtigung einer einseitigen Literaturauswahl vom „sog. Schleudertrauma“, von Versicherungsfällen unklarer Kausalität, er fordert eine Entmedizinalisierung der Rechtsprechung, welche er als mitverantwortlich betrachtet für die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungen 7. Die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung hat sich in den letzten Jahren diesem „Zeitgeist“ nicht verschließen können 8. Im Zusammenhang mit zunehmenden depressiven Erkrankungen hat der Psychiater Daniel Hell treffend darauf hingewiesen, den wirtschaftlich Starken würden kaum mehr Grenzen gesetzt. Rechtliche oder andere Beschränkungen seien verpönt. Gleichzeitig werde die Hilfestellung bei Hilfsbedürftigen administrativ kontrolliert und eingeschränkt. Hier propagiere vor allem der rechte politische Flügel bürokratische Hürden, die sonst abgelehnt werden 9.
Einfluss des Sozialversicherungsrechts auf das Haftpflichtrecht ] Natürlicher Kausalzusammenhang Die Voraussetzungen für die Durchsetzung haftpflichtrechtlicher Ansprüche unterscheiden sich grundlegend von denjenigen des Sozialversicherungsrechtes (andere Zuständigkeiten, andere Verfahrensgrundsätze, andere Beweisgrundsätze). Gerade bei der entscheidenden Frage des natürlichen Kausalzusammenhangs ist der Einfluss aber groß, auch wenn dies kaum themati5
6 7 8 9
Peter Beck (2007) Leistungsabbau im Sozialversicherungsrecht, in: HAVE Personenschadenforum (Hrsg Weber S), 249 ff. Vgl etwa SZS 2006, 169 ff; SZS 2007, 133 ff. SZS 2006, 248 ff. Thöny C (2007) Richter foutieren sich um medizinische Fortschritte, plädoyer, 20 ff. Tages Anzeiger (14. April 2007), 55.
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siert wird. Eine Ursache ist dann für einen Erfolg relevant, wenn sie nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch dieser Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Dieser Begriff wird im Sozialversicherungsrecht (UV) und Haftpflichtrecht gleich verstanden. Im Zusammenhang mit einer HWS-Verletzung geht es dabei um den medizinischen Sachverhalt, für welchen die Gerichte auf Sachverständige angewiesen sind 10.
] Adäquater Kausalzusammenhang Die Kausalität ist nicht nur ein Tatsachen- und Beweisproblem, sondern auch ein Wertungsproblem, das unter dem Begriff des adäquaten Kausalzusammenhanges beurteilt wird. Die Adäquanzformel ist in beiden Rechtszweigen gleich umschrieben. Ein Ereignis ist dann eine adäquate Ursache eines Erfolges, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des Eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt des Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint. Diese Wertfrage wird in der Sozialversicherungsrechtsprechung anders beurteilt als im Haftpflichtrecht. Begründet wird dies mit einer unterschiedlichen rechtspolitischen Zielsetzung der beiden Rechtsgebiete 11. An die maßgebende Bedeutung der Unfallursache in der sozialen Unfallversicherung sollen höhere Anforderungen gestellt werden als im privaten Haftpflichtrecht. Die Frage stellt sich aber, welche Überlegungen dazu führen, dass die Wertungsfrage im Sozialversicherungsrecht strenger ausfällt. Rechtliche Überlegungen sind es offensichtlich nicht. Das Postulat, das zusätzlich haftungsausschließende Element der komplizierten Adäquanzprüfung im Sozialversicherungsrecht aufzugeben, entspricht nicht der politischen Wertung der heute im Sozialversicherungsrecht maßgebenden Richter oder Richterinnen 12.
10 11 12
BGE 129 V 181. BGE 123 III 110; BGE 123 V 98. Gomm P (1997) Kausalität in der Unfallversicherung, plädoyer, 28 ff; Sidler M (2002) Adäquanzprüfung bei Schleudertraumen, AJP, 791 ff.
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] Verfahrensfragen Das Sozialversicherungsverfahren ist bei der Abklärung des Sachverhalts geprägt durch den Untersuchungsgrundsatz (Abklärung von Amts wegen). Die Versicherten haben sich den Anordnungen der Sozialversicherungsträger zu unterziehen. Bei der Anordnung von Gutachten können sie zwar Gegenvorschläge machen, in der Praxis und Rechtsprechung werden die Mitwirkungsrechte der Versicherten aber zum Papiertiger degradiert, die verfahrensleitenden Sozialversicherungsträger bestimmen weitgehend selbst über die Gutachter und Gutachterstellen 13. Wer aus Erfahrung die involvierten Gutachter kennt, weiß in der Regel schon im Voraus, wie das Gutachten ausfallen wird, durch die Wahl der Gutachter bestimmen also die Versicherungsträger über die Grundlagen ihrer Leistungspflicht. Diese in der Praxis ausschlaggebende Problematik wird jedoch rechtlich kaum thematisiert. Von großer Bedeutung ist die realitätsfremde, versichertenfeindliche Rechtsprechung zur geforderten Unabhängigkeit der Gutachter. Ein Ablehnungsgrund kann nur in der persönlichen Beziehung der Experten zur versicherten Person bestehen. Wenn ein Gutachter sich in einem Artikel äußert, bei HWS-Verletzungen könne es keine Langzeitfolgen geben, so ist das ebenso wenig ein Ablehnungsgrund wie der Zweifel an der fachlichen Qualifikation oder eine Kontroverse um die medizinische Fachrichtung; auch die wiederholte Beauftragung des Gutachters durch den gleichen Versicherungsträger lässt nicht auf seine mangelnde Objektivität schließen, nicht einmal ein Angestelltenverhältnis des Arztes zum Versicherungsträger soll seine Neutralität beeinträchtigen 14. Solche Fragen sollten gemäß Rechtsprechung in der Beweiswürdigung diskutiert werden. Diese Beweiswürdigung ist grundsätzlich frei. Im Sozialversicherungsrecht wird diese freie Beweiswürdigung aber eingeschränkt durch Richtlinien. Gemäß der Regelrangordnung haben Gerichtsgutachten und vom Versicherungsträger eingeholte externe Gutachten den höchsten Rang, Gutachten versicherungsinterner Ärzte und Parteigutachten können ebenfalls gewürdigt werden, gegenüber Berichten von Hausärzten darf und soll der Richter der Erfahrungstatsa-
che Rechnung tragen, dass sie mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zugunsten ihrer Patienten aussagen 15. In der Praxis hat das zur Folge, dass die Beweiswürdigung medizinischer Sachverhalte häufig fragwürdig ausfällt, wenn Urteile überhaupt eingehendere Begründungen enthalten, so muten die Begründungen als Rechtfertigung des angestrebten Ergebnisses an. Sodann wird immer öfter auf den Grundsatz der antizipierten Beweiswürdigung verwiesen, wonach weitere Abklärungen den Sachverhalt nicht weiter erhellen vermöchten, ohne dass dies jeweils begründet wird 16. Diese Verschärfung der Praxis durch die „richtige“ Auswahl der Gutachterstellen hat bereits bewirkt, dass die Ablehnungsquoten im Sozialversicherungsrecht steigen. Eine polemische Scheininvalidenkampagne hat offensichtlich bereits auf die Rechtsprechung durchgeschlagen. Es scheint die Sozialversicherungsgerichte nicht einmal zu interessieren, wenn Spezialgutachten als Teil eines Gesamtgutachtens vom Leiter der Gutachterstelle nach unten „korrigiert“ werden. In der Schweiz werden medizinische Gutachter nicht zertifiziert und kontrolliert 17. Im Haftpflichtprozess gilt nicht der Untersuchungsgrundsatz, sondern die Verhandlungsund Dispositionsmaxime. Es ist das Recht und die Pflicht der Parteien, die für die Beurteilung des Streits erheblichen Tatsachen den Richtern zu unterbreiten und die dafür erforderlichen Beweismittel zu bezeichnen 18. In den meisten Kantonen gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, insbesondere für die Würdigung von Gutachten 19. Beweiserhebungen in anderen Prozessen können nur beschränkt verwendet werden 20. Eine antizipierte Beweiswürdigung darf aber erst vorgenommen werden, wenn die Parteien ihre Beweismittel abschließend genannt haben, weshalb im Gegensatz zum Sozialversicherungsrecht dem Beweisver15 16 17 18 19
13 14
Art 43 und 44 ATSG. SZS 2007, 7 f mit Hinweisen auf die Rechtsprechung.
20
Zur Rechtsprechung und Kritik vgl SJZ 96 (2000) 461 ff. Zur Kritik Ueli Kieser (2003) ATSG-Kommentar, Rz 16 zu Art 42. plädoyer 2007, 18 ff; soziale medizin 1.07, 52 f. Für den Kanton Zürich vgl Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur ZPO § 54. Für den Kanton Zürich vgl Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur ZPO Rz 5 zu § 181. Für den Kanton Zürich vgl Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur ZPO Rz 13 zu § 140.
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Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz
fahren eine maßgebende Bedeutung zukommt 21. An die Neutralität eines Gutachters werden höhere Anforderungen gestellt und die Richtlinien des Sozialversicherungsrechtes im Sinne einer Rangordnung des Beweiswertes einzelner Beweismittel würden gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen 22. Weil aber von den Versicherungen die im Sozialversicherungsverfahren vorhandenen ärztlichen Gutachten im Haftpflichtprozess ebenfalls gewürdigt werden müssen, kommt ihnen eine große Bedeutung zu. Es liegt an den Geschädigten, private Gegengutachten zu finanzieren und in den Prozess einzubringen. Gegenüber den Versicherungen sind sie benachteiligt, weil die Finanzierbarkeit für die Geschädigten eine ganz andere Rolle spielt als für die Versicherungen 23.
Sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung ] Rechtsprechung im Unfallversicherungsrecht (UVG) bis 1991 Ein Leistungsanspruch gegenüber dem obligatorischen Unfallversicherer wurde generell verneint, wenn keine nachweisbaren pathologischen Befunde erhoben werden konnten. Die von Schleudertrauma-PatientInnen geklagten Beschwerden wurden als psychische Fehlverarbeitung beurteilt. Der adäquate Kausalzusammenhang wurde wegen ungenügender Erheblichkeit der erlittenen Verletzungen abgelehnt 24.
] Die Praxisänderung im Urteil vom 4. Februar 1991 Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der neueren medizinischen Forschung wurde festgestellt, dass bei Schleudertraumen der HWS ohne nachweisbare pathologische Befunde zufolge (möglicher) Mikroverletzungen funktionel21 22 23
24
z. B. ZR 1996 Nr 73. Glanzmann L (2005) Der Beweiswert medizinischer Erhebungen, AJP, 73 ff. Atilay Ileri (1999) § 7. In: Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd V (Hrsg Münch/Geiser), Helbing & Lichtenhahn. Urteil vom 18. November 1985, SZS 1986, 84.
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le Ausfälle verschiedenster Art auftreten können, auch wenn sie organisch nicht nachweisbar sind. Deshalb werde auf eine Differenzierung in primär organische und psychische Komponenten verzichtet, wenn ein typisches Beschwerdebild vorliege (Häufung von Beschwerden wie diffuse Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rasche Ermüdbarkeit, Visusstörungen, Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression, Wesensveränderung usw.). Der natürliche Kausalzusammenhang sei in der Regel anzunehmen. Für die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs sei analog zur Methode vorzugehen, wie sie 1989 für psychische Störungen entwickelt wurde 25. Die gleichen Überlegungen wurden auch auf bildgebend nicht nachweisbare Schädel-Hirntraumen ausgedehnt 26. Bei organischen Unfallfolgen gilt der bejahte natürliche Kausalzusammenhang auch als adäquat, im praktischen Ergebnis wird auf die Adäquanzprüfung verzichtet. Beim Vorliegen eines typischen Beschwerdebildes ohne beweisbare organische Unfallfolgen werden seither die Unfallereignisse eingeteilt in schwere, mittelschwere und leichte Unfälle. Der adäquate Kausalzusammenhang wird bei schweren Unfällen vermutungsweise bejaht, bei leichten Unfällen vermutungsweise verneint. Die Einteilung erfolgt ausgehend vom augenfälligen Geschehensablauf und den erlittenen Verletzungen. Unfallanalytische und biomechanische Überlegungen sind keine hinreichende Grundlage, es braucht eine sämtliche Aspekte umfassende (medizinische) Gesamtbeurteilung. Auffahrkollisionen werden regelmäßig als mittelschweres, im Grenzbereich zu den leichten Unfällen liegendes Ereignis eingestuft 27. Bei mittelschweren Unfällen hängt der adäquate Kausalzusammenhang davon ab, ob verschiedene Kriterien in der maßgebenden Weise erfüllt sind: Besonders traumatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des Unfalls; die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen; ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung; Dauerbeschwerden; ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert; schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen; 25 26 27
BGE 117 V 359 mit Hinweis auf BGE 115 V 138. BGE 117 V 369. Urteil vom 24. Juni 2003 U 193/01, plädoyer 2003, 73.
389
390
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J. Senn
Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Dabei wird auf eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten verzichtet 28.
] Stillschweigende Rückkehr zur Rechtsprechung von 1991? Erwartungsgemäß löste diese Rechtsprechung eine Kontroverse aus und stieß vor allem bei der Versicherungswirtschaft auf Ablehnung 29. Einer kantonalen Rechtsprechung, wonach bei Vorliegen des natürlichen Kausalzusammenhanges ohne weiteres auch der adäquate Kausalzusammenhang bejaht werden müsse, erteilte das EVG eine Absage 30. Eine erste Abschwächung der Rechtsprechung erfolgte 1997 dahingehend, dass bei Fällen, in welchen die typischen Beschwerden im Vergleich zu einer ausgeprägten psychischen Problematik ganz in den Hintergrund treten oder im Verlauf der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt die physischen Beschwerden gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund getreten sind, der adäquate Kausalzusammenhang nach den (strengeren) Kriterien für psychische Unfallfolgen beurteilt wird 31; in diesen Fällen wird bei der Beurteilung der Kriterien nur auf körperliche Dauerschmerzen abgestellt und es wird nur die physisch bedingte Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt. Seither wurde die Rechtsprechung zu diesen Adäquanzkriterien in unzähligen, zum Teil widersprüchlichen Urteilen 32 verfeinert und ad absurdum geführt. Wenn ur28 29
30 31 32
BGE 117 V 359. Steinegger RP (1991) Das EVG auf Schleuderkurs?, SJZ, 385; Senn J (1992) EVG und Schleudertrauma: Wer schleudert eigentlich?, plädoyer 36; Steinegger RP (1995) Das „Schleudertrauma“ der Halswirbelsäule – Stand der Diskussion, SZS, 241; Senn J (1996) Das „Schleudertrauma“ der Halswirbelsäule – Bemerkungen zum Stand der Diskussion, SZS, 314, 403; Steinegger RP/Walz F/Dvorak J/Jenzer G/ Radanov BP/Kind H (1996) Das sogenannte „Schleudertrauma“ und der Grenzbereich zum leichten Schädel-Hirn-Trauma – Zum Erkenntnisstand, SZS, 433. BGE 122 V 415. BGE 123 V 99; RKUV 2002, 437; plädoyer 2003, 61. Sidler M (2002) Betrachtungen nach einer Dekade der besonderen Adäquanzprüfung bei sog. Schleudertraumen, AJP, 791.
sprünglich für das Kriterium der Behandlungsdauer mehrere Monate genügten, so kann dieses Kriterium heute nicht mehr erfüllt werden mit der Begründung, zwei bis drei Jahre Behandlungsdauer seien durchaus üblich; bei einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit von 20% kann das entsprechende Kriterium nicht mehr erfüllt werden etc. Das hatte zur Folge, dass gegen Ende der 90er Jahre die Zusprechung von Renten nach HWS-Traumen immer mehr zurückging, seit der Jahrhundertwende gibt es kaum mehr Fälle, in welchen die Adäquanz bejaht wird. Ehrlicherweise könnte zur Rechtsprechung vor 1991 zurückgekehrt werden, offensichtlich traut man sich aber (noch?) nicht, einen solchen Rückschritt als Fortschritt zu verkaufen. Die Motive können gar nicht rechtlicher Natur sein, weil auf dem Papier die Rechtsprechung vom 4. 2. 1991 ja immer noch gültig ist, der politische Hintergrund ist offensichtlich.
] Somatoforme Schmerzstörung Die gleiche Tendenz ist auch bei anderen Diagnosen zu beobachten. Bei der Rechtsprechung der Invalidenversicherung hat sich ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage eine Rechtsprechung entwickelt, welche das in der Medizin geltende bio-psycho-soziale Krankheitsmodell verengt auf ein bio-psychisches Krankheitsverständnis unter Ausschluss sozialer Faktoren. Weil seriöserweise sozio-kulturelle oder psychosoziale Faktoren von den bio-psychischen Faktoren gar nicht getrennt werden können, erlauben sich die Juristen, deren Einfluss selbst zu bestimmen resp. zu behaupten. Bei den Schwierigkeiten mit der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei Schmerzen 33 geht die Rechtsprechung davon aus, dass bei der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung definitionsgemäß 34 soziale Belastungsfaktoren in den Vordergrund treten und in der Regel keine Arbeitsunfähigkeit anerkannt wird; für Ausnahmen wird wieder ein Kriterienkatalog vorgesehen: Chronische körperliche Begleiterscheinungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf; ein sozialer Rückzug in allen Bereichen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich 33 34
Baliarda A (2006) Arbeitsunfähigkeit nicht bestimmbar – was nun?, Schweiz med Forum, 871. ICD-10.
51
Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz
missglückten Konfliktbewältigung; unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter Behandlung 35. Diese Rechtsprechung wurde in der Folge ebenfalls auf die Fibromyalgie angewendet 36. Sie setzt sich darüber hinweg, dass es kein medizinisch-wissenschaftliches Datenmaterial gibt, mit welchem sie sich begründen ließe 37, dass die einseitige Einführung des Kriteriums des guten Willens nur für psychische und nicht für physische Gesundheitsschäden verfassungsrechtlich nicht haltbar ist 38, und dass sich schwerwiegende Fragen mit Bezug auf das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot zufolge methodischer Ungleichbehandlung verschiedener Krankheitsbilder stellen 39. Diese Rechtsprechung hat sich indirekt auch schon auf die HWS-Rechtsprechung ausgewirkt, indem in gewissen Fällen die somatoforme Schmerzstörung nicht als Unfallfolge, sondern als selbständige sekundäre Gesundheitsschädigung beurteilt wird 40.
] Organische Unfallfolgen Bei organischen Unfallfolgen findet keine Einschränkung der Zurechnung im Sinne einer Adäquanzprüfung statt. So könnten verschiedene Beschwerden des typischen Beschwerdebildes als organische Unfallfolgen objektiviert werden. Ein Tinnitus kann medizinisch mit den anerkannten und üblichen radiologischen Methoden bestimmt und objektiviert werden 41. Auch Schwindelbeschwerden können in funktionsdiagnostischen Untersuchungen inkl. Posturographie als organische Unfallfolgen objektiviert werden 42. Sehstörungen können neuroophthalmologisch abgeklärt und als organische Unfallfolgen objektiviert werden 43. Organische Befunde kön35 36 37
38 39 40 41 42 43
BGE 130 V 353. BGE 132 V 65. Jeger J (2006) Somatoforme Schmerzstörungen und Arbeitsunfähigkeit. In: Medizin und Sozialversicherung im Gespräch (Hrsg Schaffhauser/Schlauri) St. Gallen, 155. Kieser U (2003) ATSG-Kommentar, Rz 9 zu Art 7. Bundesverfassung Art 9. Urteil vom 14. 12. 2005 U 341/2004. Urteil vom 8. Februar 2001 U 40/00; Urteil vom 27. März 2003 U 71/02. Urteil vom 29. 3. 2006 U 197/2004. Siegel AM (2004) Beschwerdebild nach Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule. In: Die neurologische Begutachtung (Hrsg Siegel/Fischer) 169.
]
nen sich auch aus klinischen Untersuchungsmethoden ergeben 44. Auch eine neuropsychologische Beurteilung kann objektivierbare organische Unfallfolgen ergeben, ja oft der einzige verlässliche Parameter sein 45. Wenn Geschädigte innert 48 Stunden mit den modernsten MRI-Geräten untersucht würden, könnten verschiedene Verletzungen objektiviert werden 46. Es könnten bei Geschädigten auch Verletzungen der Ligamenta alaria im MRI gefunden werden 47. Selbst bei chronifizierten Schmerzsyndromen kann heute die organische Grundlage objektiviert werden. Sie zeichnen sich aus durch die typischen Erscheinungsformen der initialen Hyperalgesie und der schließlich sich einstellenden Allodynie. Es finden Veränderungen des Nervensystems auf der Ebene des Rückenmarks statt, des spinothalamischen Systems, des limbischen Systems und des sensomotorischen Kortex, die sich mit herkömmlichen Verfahren der Bildgebung schwer nachweisen lassen und zudem zusätzlich neurochemischer Art sind. Die neuroanatomischen und neurochemischen Veränderungen könnten aber objektiviert werden, wenn der entsprechende Aufwand betrieben würde (MRT, fMRT, MRT-Spektroskopie, PET, MEG, 256-Kanal-EEG usw.) 48. Ohne Durchführung dieser Abklärungen ist es nicht seriös, wenn von einer psychiatrischen Diagnose im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung ausgegangen wird.
] Zeitgeist und Diskriminierung Wie erklärt sich, dass die Rechtsprechung in der Regel ohne Durchführung aller Untersuchungen zur Objektivierung eines organischen Gesundheitsschadens mit Adäquanzüberlegun-
44 45 46
47
48
Ettlin T (2003) Schleudertrauma: Chronischer Muskelschmerz (Hrsg Mense/Pongratz), Darmstadt, 125. BGE 117 V 379. Nationales Forschungsprogramm „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NPF 53) – Inselspital Bern. Krakenes J/Kaale BR (2006) MRT-Darstellung der cranio vertebralen Ligamente und Membranen nach einem Schleudertrauma, SPINE, Vol 31, Nr 24, 2820. Baviera B (2001) Bewegen durch Bewegung, Zürich 2001, 133 ff.; Loeser/Metzak et al (1999) Pain: An Overview, The Lancet 1999, 353: 1607; Banic et al (2004) Pain 107: 7.
391
392
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J. Senn
gen Dauerfolgen und damit einen Rentenanspruch verneint 49? Im Sozialversicherungsverfahren ist das eine Folge davon, dass Geschädigte kaum Einfluss haben auf die Wahl der GutachterInnen und die durchzuführenden Untersuchungsmethoden 50. Der in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommende Zeitgeist mit dem polemischen Stichwort der Scheininvalidität hat sogar zur Forderung geführt, Behinderte mit gewissen Diagnosen (psychische Erkrankungen, Rückenleiden, Schleudertraumata usw.) in einer Gesetzesänderung von der Versicherungsdeckung bei der Invalidenversicherung auszunehmen. Immerhin wurde dieser Vorschlag bisher unter dem Hinweis auf das verfassungsrechtlich gewährleistete Diskriminierungsverbot nicht umgesetzt 51. Dieser Zeitgeist hat aber zur Folge, dass auf der Ebene der Rechtsprechung solche diskriminierenden Ansichten sich immer mehr durchsetzen.
Zivilrechtliche Rechtsprechung Diese diskriminierende Tendenz hat sich zumindest im Grundsatz in der zivilrechtlichen Rechtsprechung bisher nicht niedergeschlagen. Innovative Fortentwicklungen werden aber auch hier schubladisiert 52. Die Zurechnung über die Definition des natürlichen Kausalzusammenhangs unterscheidet sich in den verschiedenen Rechtsgebieten nicht. Allerdings wird die freie Beweiswürdigung der medizinischen Aktenlage als Tatfrage im Haftpflichtrecht nicht eingeschränkt durch rechtspolitische Überlegungen über ein Abweichen vom bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell oder die Diskriminierung gewisser Krankheitsbilder oder Diagnosen. So können sogar Begehrungsneurosen zu entschädigungspflichtigen Ansprüchen führen 53. 49 50 51
52
53
Thöny C (2007) Richter foutieren sich um medizinische Fortschritte, plädoyer, 20. vgl. vorstehend unter 3.3 Verfahrensfragen. Locher T (2006) Invalidität, Invaliditätsgrad und Entstehung des Rentenanspruchs nach dem Entwurf zur 5. IV-Revision. In: Medizin und Sozialversicherung im Gespräch (Hrsg Schaffhauser/Schlauri), St. Gallen, 273. Schaetzle M (2004) Versicherungen und Anwälte im Clinch – Auswirkungen des allgegenwärtigen Kostendrucks, Anwaltsrevue 2004, 172. BGE 96 II 398.
Der größte Unterschied besteht in der Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang. Dieser wird im Haftpflichtrecht nicht aufgrund der Schwere des Unfallereignisses beurteilt, es wird also nicht eine Einengung über eine Objektivierung vorgenommen, sondern die Person der Geschädigten wird zum Ausgangspunkt genommen, das Unfallerlebnis spielt eine bedeutende Rolle 54. Unfallanalytischen und biomechanischen Überlegungen kommen dabei keine ausschlaggebende Bedeutung zu, insbesondere auch nicht einer immer wieder postulierten Harmlosigkeitsgrenze 55. Beim adäquaten Kausalzusammenhang hält die zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichtes daran fest, dass sie zufolge der unterschiedlichen rechtspolitischen Zielsetzung nicht gleich ausfallen müsse wie im obligatorischen Unfallversicherungsrecht. Die „haftungsbegrenzende Funktion“ der Adäquanzprüfung im Sozialversicherungsrecht soll gerade nicht gelten 56. Unfallfremde Faktoren als Mitursachen vermögen die Adäquanz kaum je auszuschließen, wenn der natürliche Kausalzusammenhang festgestellt ist 57. Ein leichter Unfall mit ungewöhnlichen Folgen schließt die Zurechnung im Haftpflichtrecht nicht aus, führt aber auch nicht regelmäßig zu einer Anspruchskürzung. Kürzungen im Rahmen der Schadenersatzbemessung, insbesondere bei konstitutioneller Prädisposition, sind zwar möglich im Rahmen von Art. 43 und 44 OR, sind jedoch in der Regel zurückhaltend vorzunehmen 58.
Fazit Der Einfluss der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsprechung hat zunehmend zur Folge, dass letztlich viele Geschädigte im Straßenverkehr nicht oder ungenügend entschädigt werden, die Prämiengemeinschaft über die obligatorische Haftpflichtversicherung dafür nicht umfassend 54 55
56 57 58
BGE 123 III 110. Senn J (2002) Harmlosigkeitsgrenzen bei Unfällen mit HWS-/Hirnverletzungen?, AJP, 274; Sidler M (2002) Adäquanzprüfung bei Schleudertraumen, AJP, 791. Urteil vom 22. 12. 2004 4C.327/2004. Urteil vom 21. Juni 2001 4C.79/2001. Weber S (2007) Umstände, für die der Geschädigte nicht einstehen muss, HAVE, 108.
51
Entwicklung der Rechtsprechung zu HWS-Distorsionen in der Schweiz
aufkommt. Das ist weniger eine Folge der Gesetzgebung, als der rechtspolitischen Argumentation der Rechtsprechung. Politischer Hintergrund ist die „Krise“ des Sozialstaates resp. der politische Streit um seine Finanzierung. Sozialpolitik wird zunehmend verstanden als Instrument für die Wettbewerbsfähigkeit, bei Behinderten wird zunehmend die Eigenverantwortung in den Vordergrund gestellt, für „mangelnde Eigenverantwortung“ werden Sanktionen eingeführt, hier erfolgen individuelle Verhaltenskontrollen, währenddem auf der anderen Seite für wirtschaftlich potente Unternehmungen, so auch
]
die globalen Versicherungskonzerne, im Sinne der Deregulierung ein Abbau von Vorschriften und staatlicher Aufsicht gefordert wird. Die im angelsächsischen Raum bereits viel weiter fortgeschrittene Globalisierung der Märkte mit Deregulierungstendenzen werden verspätet und immer deutlicher auch in der Schweiz nachvollzogen. Das Verständnis für den dort und in der EU als Korrektiv entwickelten Verbraucherschutz 59 muss erst noch wachsen. 59
Schaer R (2007) Modernes Versicherungsrecht, Bern.
393
Gutachterliche Probleme 52
Der „Peitschenschlag“-Bericht des EEVC 2005, die Sozialisierung der Kosten für Langzeit-Schäden und die Barrieren gegen Entschädigungszahlungen
53
Kuriosum HWS-Schleudertrauma
54
Handwerkliche Fehler in Gutachten
55
Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin
56
Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun
57
Die Leugnung von Schleudertrauma-Folgen: Cui bono?
58
Primärschaden – kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung – Schweregradtabellen
59
Das leichte Schleudertrauma – ein Irrtum des Gutachters?
60
Die RAND-Studie, oder als es das Schleudertrauma noch gab. . .
61
Wie das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen wird
52 Der „Peitschenschlag“-Bericht des EEVC 2005, die Sozialisierung der Kosten für Langzeit-Schäden und die Barrieren gegen Entschädigungszahlungen M. Frank
Wissenschaftliche Erkenntnisse des EEVC widerlegen die herrschende österreichische Meinung zum „Peitschenschlag“ Jeder Teilnehmer am Straßenverkehr kann plötzlich ohne Verschulden in einen Unfall verwickelt werden und ein „Peitschenschlag“-Trauma erleiden. Für mindestens 5% der Betroffenen folgen langfristige Beschwerden und Behinderungen. Die daraus entstehenden volkswirtschaftlichen Schäden in Milliarden-Höhe mit steigender Tendenz haben die Europäische Kommission zum Handeln veranlasst. Das European Enhanced Vehicle-safety Committee (= EEVC) wurde von der Europäischen Kommission beauftragt, die „Peitschenschlag“Traumen zu erforschen. Das EEVC war 1970 von der EU-Kommission und einigen europäischen Staaten gegründet worden. Ihre Ziele sind unter anderem die Durchführung unparteiischer Forschungen auf dem Gebiet der Fahrzeug-Sicherheit und deren Koordinierung in Europa. Im Rahmen des hier gegenständlichen EEVCProjekt „WHIPLASH“ (= englische Bezeichnung für „Peitschenschlag“) haben große Auto-Produzenten und Versicherungen sowie angesehene Universitäten und Forschungs-Institute zusammengearbeitet.
] Die Ergebnisse dieser unabhängigen wissen-
schaftlichen Forschungen widerlegen grundlegend die herrschende Meinung zum „Peitschenschlag“ in Österreich. So haben vor allem die langfristigen Beschwerden und Behinderungen nach „Peitschenschlag“-Traumen dramatisch zugenommen, weil durch immer steifere Fahrzeugstrukturen und dafür ungeeignete Sitze die Beschleunigung
und damit das Verletzungsrisiko, erhöht wurden. Langzeit-Folgen können durch unterschiedliche Weichteil-Verletzungen verursacht werden. „Harmlosigkeits-Grenzen“ sind wissenschaftlich nicht nachweisbar. Das EEVC hat den aktuellen Kenntnisstand zuletzt in dem Bericht „Updated State-of-the-Art Review on Whiplash Injury Prevention, Oktober 2005“ veröffentlicht. Inhaltlich im Wesentlichen gleich lautend war bereits der Bericht 2004 [1], auf welchen die folgenden Seiten-Angaben bezogen sind: ] Die sozioökonomischen Kosten aus whiplashVerletzungen haben heute volkswirtschaftliche Bedeutung erreicht. Die Schätzungen betragen in den USA pro Jahr 10 Mrd. USD, in der Europäischen Union 10 Mrd. Euro; in Deutschland aus Heck-Auffahrunfällen 2 Mrd. Euro jährlich (S. A1-1). ] Für den Großteil dieser Kosten sind die wenigen Fälle mit Langzeit-Folgen verantwortlich (S. A1-1). Die meisten Beschwerden und Behinderungen vergehen innerhalb von zwei Wochen, jedoch variiert die Erholungszeit bis zu mehreren Jahren (S. A1-3). ] Zwischen 5 und 20% (abhängig von der Unfalldaten-Quelle und der Definition von Langzeit-Verletzungen) aller „Peitschenschlag“Traumen enden als Langzeit-Fälle (S. A1-1). ] Die Häufigkeit von HWS-Verletzungen bei Autounfällen hat sich in den letzten 20 Jahren beinahe verdoppelt (S. A1-1). ] Das Risiko von „Peitschenschlag“-Verletzungen mit Langzeit-Folgen bei einem HeckCrash hat sich in den neuen Fahrzeugmodellen verdoppelt (!) gegenüber Autos vor 20 Jahren. Beinahe 60% aller Verletzungen mit Langzeit-Behinderungen in Schweden werden heute auf „Peitschenschlag-Traumen“ zurückgeführt (S. A1-1).
398
]
M. Frank
] Ein höheres Risiko für Langzeit-Beschwerden besteht bei Heck-Kollisionen (S. A2-1). Auch leichte Auffahrunfälle können zu Nackenverletzungen führen, die in weiterer Folge Langzeitschäden mit den damit verbundenen Beschwerden verursachen (S. 1). ] Ursache von jahrelangen chronischen Schmerzen und Behinderungen sind meist Verletzungen von Weichteilen. Betroffen sind Muskel, Bänder, Facetten-Gelenke, Bandscheiben und Nervengewebe (Nervenwurzel-Ganglien, zentrales Nervensystem). Diese Weichteil-Verletzungen entstehen nicht nur in Hals und Nacken, sondern auch in den Schultern und im Kopf und in Brust- und Lendenwirbelsäule (S. A2-1, A4-4). ] Die mit Peitschenschlag verbundenen Beschwerden (WAD = Whiplash Associated Disorders) werden eingeteilt in WAD Grad 1 = Mikroläsion (mikroskopische Muskelschäden) WAD Grad 2 = Makroläsion (bedeutende Schäden an Muskeln/Knochen/Bändern etc.) WAD Grad 3 = Nervenzelldefekte/Irritation (S. A1-3). ] Die typischen Verletzungssymptome sind in der Medizin gut bekannt (S. 2, A2-7). ] Jüngste Studien haben gezeigt, dass Sitz- und Kopfstützendesign, Sitzsteifheit, -festigkeit und -geometrie von entscheidender Bedeutung in der Verletzungsverursachung sind (S. A4-2). Auch andere Faktoren beeinflussen das Verletzungsergebnis, etwa die Masse der Fahrzeuge, die Steifheit von Fahrzeugstrukturen und das relative strukturelle Ineinandergreifen der Fahrzeuge (S. A1-2, A4-1). ] Die Streckgrenze der Sitzlehnen wurde erhöht und führt zusammen mit anderen Parametern zu einem Anstieg nachgewiesener Verletzungen (S. 3, A4-5). ] Es wurde festgestellt, dass ein höherer Impuls auftritt, wo steife Fahrzeugstrukturen ineinandergreifen (S. A4-1). Die Crash-Intensität hat einen starken Einfluss auf die Dauer der Symptome. Auch die Grade von WAD (= Whiplash Associated Disorders = mit Peitschenschlag verbundene Beschwerden) stehen in direktem Zusammenhang mit der Crash-Intensität (S. A1-3). ] Die Fahrzeugstrukturen und die Sitze wurden seit den 90er Jahre steifer, und dieser Trend zu erhöhter Steifigkeit hält an (S. A4-3, A4-5). Spezielle Versicherungs-Crashtests können sehr wohl zur erhöhten Steifigkeit der Autos beigetragen haben (S. A4-1 unten).
] Jüngste Real World-Versicherungsdaten weisen einen entsprechenden Anstieg im Versicherungsrisiko für diese neuesten steifen Fahrzeuge aus im Vergleich zu älteren weniger steifen Fahrzeugen mit ähnlichen Sitzdesigns (S. A4-1). ] Auch der Rebound (= Schleudern aus dem Sitz nach vorn) gilt beim Heck-Aufprall als Verletzungskriterium (S. ii, 3, 5, A1-4, A2-6). ] Sowohl der Durchschnitts- als auch der Spitzenwert der Beschleunigung zeigen sich als wichtige Crash-Schweregrad-Parameter, zusammen mit D-v (S. ii). Die Beschleunigung g ist wichtiger für die Risikobeurteilung von Peitschenschlagverletzungen als die Geschwindigkeitsänderungen delta-v. Aktuelle Verletzungskriterien basieren auf der Beschleunigung g (S. 3). ] Allgemeingültige so genannte „Harmlosigkeits-Grenzen nach D-v“ wurden nicht bestätigt (siehe dazu weiter unten). Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) hat im Jahr 2005 neueste Testergebnisse veröffentlicht, wonach 55% (!) aller Autositze (Modell 2006) nur schlechten oder mäßigen Schutz gegen „Peitschenschlag“ bieten, 26% sind immerhin akzeptabel, nur 19% gut. Ursache ist die kontinuierliche Erhöhung der Steifigkeit der Crash-Strukturen moderner Autos, die zu immer höheren Insassen-Beschleunigungen vor allem beim HeckAufprall geführt hat [2]. Die zunehmend steiferen Crash-Strukturen der Autos (und der Sitze) schützen die Insassen beim Front- und Seiten-Aufprall und beim Überschlag besser vor dem Eindringen von Teilen in die Fahrerkabine. Wieso aber wurde die dadurch wachsende Verletzungsgefahr durch die erhöhte Beschleunigung nicht erkannt? Das EEVC hat im Bericht „Updated State-ofthe-Art Review on Whiplash Injury Prevention, Oktober 2005“ veröffentlicht: ] Damit nicht ein Verletzungsrisiko (Nacken) auf Kosten eines Anstiegs bei anderen Verletzungen (z. B. Wirbelsäule oder Weichteile) vermindert wird, sollte ein holistischer Ansatz für die Heckaufprall-Verletzungsrisikoreduktion angemessen beachtet werden (S. 1). ] Künftige Crashtest-Verfahren müssen zu anderen Aufprallbedingungen und Aufprallintensitäten in Bezug stehen, um eine Suboptimierung beim Sicherheitssystem-Design zu vermeiden (S. 1, 2, 4, A4-4, A4-5, A5-1).
52
] Die modernen Crashtest-Verfahren, Verletzungsparameter und Crash-Dummys sind noch immer eingeschränkt biofidelic (=lebensecht, menschenähnlich, S. A3-3 u. a.). Die Auto-Crashtest-Programme von Euro-NCAP und NHTSA haben trotz Einwänden nur Frontund Seiten-Crash und Überschlag getestet, nicht jedoch den Heck-Aufprall [3]. Die Europäische Kommission hat auf Basis der Forschungsergebnisse des EEVC Verbesserungen für die Peitschenschlag-Prävention bis 2010 beschlossen [4]. Das Europäische Parlament hat im Juni 2005 die Umsetzung von Präventivmaßnahmen gefordert [5]. Auch die Weltgesundheitsorganisation hat die Problematik der Beschleunigungsverletzungen aufgegriffen [6].
Kostenvergleiche in der EU und die Sozialisierung der langfristigen Peitschenschlag-Kosten Der EEVC-Bericht „Updated State-of-the-Art Review on Whiplash Injury Prevention, Oktober 2005“ bestätigt international eine Zunahme an „Peitschenschlag“-Verletzungen und dramatisch steigende Kosten, die vor allem durch die vermehrten Langzeitfolgen verursacht werden. In Österreich mehren sich Beschwerden von „Peitschenschlag“-Verletzten mit Langzeitfolgen über unangemessen niedrige Schadenersatz-Zahlungen von den Versicherungen und über unfaire Gerichtsverfahren.
] Abnehmende Peitschenschlag-Kosten für die Kfz-Versicherer in Österreich seit 1999 im Vergleich zum Anstieg der Peitschenschlag-Kosten in der EU Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen europäischen Ländern ist gemäß Angaben von Vertretern österreichischer Kfz-Versicherungen [7, 8] die Zahl der jährlich angemeldeten Forderungen wegen „Peitschenschlag“-Traumen von 1999 bis 2006 um 9 000 Fälle gesunken, also um 40%! Österreichische Versicherungen haben Ende 2006 in den Medien dennoch wieder „zu viel Peitschenschlag-Betrug“ beklagt. Österreichische Versicherungen waren 1999 von Simulation in 20% der Fälle ausgegangen. Eine erfolgreiche
Der „Peitschenschlag“-Bericht des EEVC 2005
]
Bekämpfung der früheren Peitschenschlag-Simulation allein kann also den 40%-igen Rückgang seit 1999 nicht erklären – noch dazu bei international steigender Anzahl. Wurden seit 1999 in Österreich wirksame Barrieren gegen Peitschenschlag-Forderungen aufgebaut, sodass heute auch berechtigte Ansprüche nicht mehr geltend gemacht werden?
] Österreich und Deutschland im EU-Vergleich auf sehr niedrigem Niveau Die Ersatzleistungen der Kfz-Versicherer pro Peitschenschlag in Österreich und Deutschland sind auf sehr niedrigem Niveau: Der Durchschnittsaufwand der Versicherer pro HWS-Fall beträgt in Deutschland 1 2 500,–, in Österreich mit 1 2 300,– noch weniger. Ein Mittelwert von repräsentativen europäischen Ländern liegt gemäß dem Comité Européen des Assurances geringfügig unter 2 9 000,– pro Fall [9]. In Deutschland und Österreich werden somit weniger als 1/3 dieses Mittelwertes gezahlt. Viermal so hoch wie in Österreich ist beispielsweise der Anteil der Peitschenschlag-Kosten der britischen Versicherer an deren gesamten Kfz-Versicherungskosten; viermal so hoch wie in Österreich ist auch deren Peitschenschlag-Kostenanteil an den PersonenschadenKosten [7, 10]. Wie sind diese vergleichsweise niedrigen und noch weiter verringerten Peitschenschlag-Kosten der Versicherer in Österreich erklärbar?
] Werden die „Peitschenschlag“-Kosten bei Langzeitfolgen sozialisiert? Nach dem Gesetz haften die Kfz-Versicherer grundsätzlich für die Schäden, die mit den bei ihnen versicherten Kfz verursacht werden. Da die meisten „Peitschenschlag“-Traumen beim Heck-Aufprall verursacht werden und dabei zumeist das anstoßende Fahrzeug das Verschulden trifft, müssten die Kfz-Versicherungen für den Großteil aller „Peitschenschlag“-Folgekosten haften. In wissenschaftlichen Untersuchungen wurde als typisches Verhalten global agierender Unternehmen nachgewiesen, dass Verluste strategisch sozialisiert werden [11]. Verluste sozialisieren bedeutet, dass das Unternehmen Kosten, die es sonst tragen müsste, auf die Öffentlichkeit oder
399
400
]
M. Frank
auf andere Unternehmen oder Personen abwälzt. Nach herrschender Meinung in Österreich gäbe es langfristige Folgen nach „Peitschenschlag“ nicht. Also werden diese Langzeitfolgen noch heute grundsätzlich nicht entschädigt. Der EEVC-Bericht 2005 bestätigt, dass mindestens 5% (bis zu 20%) aller PeitschenschlagUnfälle im Straßenverkehr mit chronischen Beschwerden oder Langzeit-Behinderungen enden und dass diese Langzeit-Kosten den Großteil aller sozioökonomischen „Peitschenschlag“-Kosten verursachen [7, 8, 10]. Land
Durchschnittliche „Peitschenschlag“ -Kosten der Versicherer/ Peitschenschlag
„Peitschenschlag“Gesamtkosten der Versicherer pro Jahr
] Schweiz ] Österreich
1 35 000,– 1 2 300,–
1 350 000 000,– 1 31 000 000,–
Die durchschnittlichen „Peitschenschlag“-Kosten der Schweizerischen Versicherer pro Peitschenschlag sind mehr als 15-mal höher als in Österreich. Nach der in Österreich vorherrschenden Meinung werden langfristige Beschwerden und Behinderungen nach „Peitschenschlag“ grundsätzlich nicht als unfallbedingt anerkannt. In der von der Schweizerischen Unfall-Versicherungsanstalt SUVA empfohlenen Literatur werden Ursachen, Diagnose und Behandlung der Langzeitfolgen gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen detailliert dargestellt [12]. Wird diese Literatur in anderen Ländern nicht anerkannt? Warum? Mehr als 10% der in der Schweiz pro Jahr gemeldeten kraniozervikalen Beschleunigungstraumen zeigen einen protrahierten oder chronischen Verlauf, verbunden mit einem hohen Invaliditätsrisiko. Nach SUVA-Daten waren mehr als 25% der nicht berenteten Patienten mit einer Weichteil-Verletzung der HWS auch 4 bis 7 Jahre nach dem Unfall intermittierend oder dauernd in ärztlicher oder physiotherapeutischer Behandlung wegen unfallbedingter Schmerzen; bei den berenteten Patienten waren es sogar über 70% [13]. Die großen LänderUnterschiede bei „Peitschenschlag“-Kosten der Kfz-Versicherungen hängen also offensichtlich zu einem erheblichen Teil davon ab, ob die langfristigen Beschwerden und Behinderungen als „Peitschenschlag“-Folge anerkannt werden.
In Österreich werden diese Kosten offenbar sozialisiert.
] Wie viel Prozent der „Peitschenschlag“Kosten werden sozialisiert? Laut EEVC-Bericht 2005 verursachen die relativ wenigen Fälle mit langfristigen „Peitschenschlag“-Beschwerden und -Behinderungen den Großteil der sozioökonomischen Gesamtkosten. Da die österreichischen Kfz-Versicherungen diese Langzeit-Kosten nicht zahlen müssen, sparen sie den Großteil der „Peitschenschlag“-Kosten, für welche sie als Haftpflicht-Versicherer nach dem Gesetz einstehen müssten. Mit Kosten von 1 500 Mio/Jahr tragen die Kfz-Versicherer in Deutschland 1/4 der geschätzten gesamten sozioökonomischen „Peitschenschlag“-Kosten von 2 Mrd. 1 pro Jahr [8, 10]. Gemäß dem Größenverhältnis Deutschland : Österreich = 10 : 1 würden die gesamten sozioökonomischen „Peitschenschlag“-Kosten in Österreich pro Jahr rund 200 Mio 1 betragen. Die Kfz-Versicherer in Österreich zahlen 2006 nur mehr 31 Mio 1 pro Jahr [8]. Das entspricht einem Anteil von 1/6 an den gesamten Kosten – noch weniger als in Deutschland. 5/6 der gesamten sozioökonomischen Kosten werden demnach in Österreich sozialisiert.
] Welche langfristigen „Peitschenschlag“Kosten werden sozialisiert? Wen trifft dies? Der Arbeitsausfall verursacht nach Daten der SUVA bei weitem den größten Anteil am sozioökonomischen Schaden, ein Bruchteil davon sind die Kosten für Spital- und Kuraufenthalte, relativ unbedeutend schließlich die Kosten für Arztbesuche und Physiotherapie [13]. Kosten der Arbeitsunfähigkeit und Kompensation des Arbeitsausfalles nach „Peitschenschlag“ werden in Österreich – jedenfalls für längere Zeiträume – grundsätzlich nicht ersetzt, weil ja die Langzeitfolgen nach „Peitschenschlag“-Traumen nicht als unfallbedingt anerkannt werden. Diese Kosten werden in Österreich von den Kfz-Versicherern zu einem hohen Anteil sozialisiert bzw. nicht ersetzt. Die tatsächlichen Kosten zahlen dann: ] Peitschenschlag-Opfer, ] deren Familie und die von den Opfern Abhängigen bzw. ihre Unterstützer,
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] Arbeitslosenunterstützungsgeld und Notstandshilfe, ] Arbeitgeber, die Entgeltfortzahlungen für Ihre Mitarbeiter im Krankenstand leisten und Ersatz-Arbeitskräfte zahlen, ] öffentliches Gesundheitswesen. Bei 20% der Peitschenschlag-Fälle wurde Simulation angenommen. 20% von jährlich 31 Millionen Euro in Österreich ergäben jährlich 6,2 Millionen Euro für simulierten Peitschenschlag. Hat die nachvollziehbare Empörung über gehäuften Betrug bei den „kleinen Peitschenschlagerln“ dazu beigetragen, dass österreichische Versicherer heute das Zigfache dieser Kosten bei den langfristigen Folgen nach „Peitschenschlag“-Traumen sparen?
Der „Peitschenschlag“-Bericht des EEVC 2005
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im Hinblick auf die Verbindung von Wissenschaft und Praxis“ (§ 2 Z 8 der VVO-Satzung vom 15. 12. 2004). Der VVO „gestaltet den erfolgreichen Weg der österreichischen Versicherungswirtschaft durch modernes, effizientes Lobbying und umfassende Dienstleistungen aktiv mit“ [17]. Indirektes Lobbying erfolgt auch durch „unabhängige“ Personen. Das Risiko, dass übermittelte Information nicht vollständig oder parteiisch selektiert ist, kann gemindert werden, wenn eine Vielzahl von Lobbyisten unterschiedlicher Interessengruppen vorhanden ist und angehört wird. Ein der Wahrheit nahe kommendes Gesamtbild ergibt sich dadurch meist von selbst [18]. Welche Gruppe vertritt die Interessen der Verletzten?
] Vorurteile gegen Peitschenschlag-Opfer
Strukturelle Hindernisse für die Durchsetzung von Ansprüchen (in Österreich) Nur 1% der Anspruchsteller in Österreich bringen ihre „Peitschenschlag“-Forderungen vor Gericht [14]! In anderen Ländern sind es durchschnittlich 5–10%. Daniel Kahnemann (Wirtschafts-Nobelpreisträger 2002) hat das Bernoulli-Theorem empirisch belegt und verfeinert: Je höher das Prozesskosten-Risiko, desto weniger wird geklagt, auch wenn die Ansprüche berechtigt sind [15, 16]. Wodurch wird das Prozess (kosten)-Risiko in Österreich so außergewöhnlich erhöht?
] Lobbying und Fortbildung Der Bericht des EEVC „Updated State-of-the-Art Review on Whiplash Injury Prevention, Oktober 2005“ belegt den wissenschaftlichen Kenntnisstand zum „Peitschenschlag“, wonach viele in Österreich heute vorherrschenden Meinungen zum „Peitschenschlag“ unrichtig sind. Das Comité Européen des Assurances empfiehlt seinen nationalen Versicherungsverbänden, die Schulung von Sachverständigen und Ärzten zu unterstützen und ihnen Literatur zur Verfügung zu stellen [10]. Der Versicherungsverband Österreich VVO „richtet Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen ein, auch für außerhalb der Versicherungsbranche Tätige, insbesondere auch
Im Jahr 2000 las man in der Zeitschrift für Verkehrsrecht [19] über eine Zunahme behaupteter Beschwerdebilder mit sinkender Kollisionsgeschwindigkeit, obwohl die Sicherheitseinrichtungen der Fahrzeuge, vor allem auch die Sitze, ständig weiter verbessert würden. Das schien freilich verdächtig. In Wahrheit war jedoch das Verletzungsrisiko durch die zunehmende Steifigkeit der Fahrzeuge und ungeeignete Sitze stark gestiegen. Dazu gab es damals bereits Hinweise in der Literatur [3, 20]. Eine weiter beobachtete Häufung von HWSVerletzungen bei „informierten“ Berufsgruppen sollte den Verdacht der Simulation in betrügerischer Bereicherungsabsicht nahe legen [19]. Die beispielsweise angeführten „informierten“ Taxifahrer und Polizisten sind mehr als andere gefährdet, wenn sie ihren Beruf im Straßenverkehr ausüben. Ein österreichisches Berufungsgericht hat solche „pauschale Verdächtigungen hinsichtlich ganzer Berufsstände unangebracht und unsachlich“ erkannt, die Staatsanwaltschaft nannte es eine „neue Form der Klassenjustiz, diesmal geordnet nach Berufsgruppen“. Dennoch wurde weiter vor solchen „informierten Personenkreisen“ gewarnt, etwa bei Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte, Juristen etc. [21].
] „Harmlosigkeitsgrenzen nach D-v“ Bereits 1999 wurde in der „WHIPS“-Studie von VOLVO an Hand von Messdaten aus tausenden Realunfällen erkannt, dass allgemeine „Harmlo-
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sigkeitsgrenzen“ für den individuellen Menschen und den individuellen Unfall nicht gelten können, und dass vor allem die Beschleunigung g und weniger die Geschwindigkeitsänderung D-v relevant ist für das Verletzungsrisiko [20]. Einige Studien belegen erstaunlich ungenaue Ergebnisse von D-v-Berechnungen in verkehrstechnischen Gutachten [22]. Der Deutsche Bundesgerichtshof hat die Geltung der in Deutschland verbreiteten „Harmlosigkeitsgrenzen nach D-v“ in einer richtungweisenden Entscheidung im Jahr 2003 eingeschränkt [23]. Das EEVC hat in „Updated State-of-the-Art Review on Whiplash Injury Prevention, Oktober 2005“ die wissenschaftliche Unhaltbarkeit von „Harmlosigkeitsgrenzen nach D-v“ belegt. Sogar die meisten Whiplash-Verletzungen entstehen bei Zusammenstößen mit mittlerer Aufprallintensität (!) bei Geschwindigkeitsänderungen zwischen 10 und 15 km/h. Nur bei einer durchschnittlichen Beschleunigung unter 3 g hat man in den durchgeführten Studien keine Fälle von Langzeit-WAD-Symptomen festgestellt. Die meisten Verletzungen, die zu WAD-Symptomen mit einer Dauer von länger als einem Monat führten, entstanden bei ungefähr 20 km/h D-v und 5 g durchschnittliche Beschleunigung. Verletzungen mit WAD-Symptomen von Grad 2 und 3 entstanden durchschnittlich bei ungefähr 16 km/h D-v und 5 g durchschnittlicher Beschleunigung (S. A1-5) bzw. 11 g Spitzen-Beschleunigung (S. A1-3). Für Verletzungen mit WAD Grad 1-Symptomen betrugen die Werte durchschnittlich 10 km/h D-v und 4 g (S. A1-5). „Aktuelle Unfalldaten zeigen ähnliche Trends weltweit – ausgenommen Abweichungen bei verschiedenen Sozialversicherungs- und Versicherungssystemen in verschiedenen Ländern“ (S. 3)! Das Comité Européen des Assurances empfiehlt seinen nationalen Verbänden die Verbreitung dieser „Harmlosigkeitsgrenzen“, die nur in wenigen Ländern Europas (Österreich, Deutschland, zunehmend Schweiz) beachtet werden [10]. Wieso gerade in diesen Ländern? Wird die Geschwindigkeitsänderung D-v unterhalb der „Harmlosigkeitsgrenzen“ festgestellt, gilt dies für viele medizinische „Peitschenschlag“-Gutachter in Österreich als bindender Rahmen. In Österreich wurde veröffentlicht, dass D-v gegenüber g die sehr viel anschaulichere Maßzahl darstelle und „Spitzfindigkeiten“ nur Verwirrung schaffen. Gemäß „neuerer Literatur (1990–1999)“ wäre die Verletzungsmög-
lichkeit bei D-v < 10 km/h im Allgemeinen ausgeschlossen; bei D-v = 10–15 km/h bestünden u. a. prinzipielle Zweifel an der Verletzung, subjektive Beschwerden nicht länger als eine Woche, keine Behinderung an der Berufsausübung, Aggravationstendenz?; bei D-v > 15 km/h wären Verletzungen nicht unbedingt zu erwarten, denn auch bei „Realunfällen“ mit D-v = 20–30 km/h waren Insassen völlig unverletzt geblieben; bei gegebener Glaubwürdigkeit Aggravationstendenz? [19]. In medizinischen Gutachten ist immer wieder die Begründung zu lesen, dass festgestellte Verletzungen wie Bandscheibenvorfälle „degenerativ“ wären und nicht unfallbedingt sein könnten, weil der gegenständliche Aufprall zu gering gewesen wäre. Versicherungen holen verkehrstechnische Gutachten vor der gerichtlichen Geltendmachung von „Peitschenschlag-Forderungen“ grundsätzlich nicht ein [14]. Dann bleibt zu fragen, warum solche Feststellungen über zu „harmlose“ Stöße auch in medizinischen PrivatGutachten für Versicherungen noch vor Gerichtsanhängigkeit zu lesen sind. In der Praxis erweist sich, dass „aussichtslose“ medizinische Versicherungs-Gutachten die Geltendmachung vor Gericht hindern.
] Unabhängigkeit der Gutachter? Es ist bekannt, dass viele „Peitschenschlag“-Gutachter für Gerichte und Versicherungen tätig sind. Von 13 500 „Peitschenschlag“-Fällen pro Jahr in Österreich [8] werden heute nur 1% gerichtsanhängig [14]. Die Anzahl der Gerichtsaufträge ist daher im Vergleich zu den Versicherungsaufträgen sehr gering. Wenn in Gerichtsverfahren Gutachter beauftragt werden, die regelmäßig nicht unerhebliche Umsätze mit Versicherungsaufträgen erzielen, bleibt fraglich, inwieweit sich Gutachter unter solchen Umständen „frei bewegen“ können?
] Die österreichische Allgemeine Unfallversicherungsanstalt AUVA Die Anspruch stellenden „Peitschenschlag“-Kläger sind vor Gericht beweispflichtig. Sie sind dabei von einer ausreichenden Dokumentation ihrer Verletzungen, Beschwerden und Behinderungen und von Gutachtern abhängig.
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Viele „Peitschenschlag“-Opfer werden in den Unfall-Spitälern der AUVA behandelt. Die AUVA hat eine 3fache Funktion als ] Unfallversicherung, ] Erhalter der Unfall-Spitäler und Arbeitgeber der behandelnden Ärzte, die die Verletzungen und Krankengeschichten dokumentieren, ] Arbeitgeber von „Peitschenschlag“-Gutachtern. Als Unfallversicherung haftet die AUVA nach dem Gesetz für Versehrten-Renten und für 50% Zuschuss zur Entgelt-Fortzahlung an Mitarbeiter ab dem 1. Tag des Krankenstandes, sofern unfallbedingte Folgen nachgewiesen werden. Kostenersatz vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger/den Krankenkassen erhält die AUVA für die Untersuchungen/Behandlungen in ihren Anstalten nicht, sofern unfallbedingte Verletzungen/Beschwerden dokumentiert werden; sehr wohl aber bei „Krankheit“ oder „degenerativen“ Schäden. Der Unfallversicherer AUVA trägt also die Kosten selbst, wenn Unfallverletzungen als solche dokumentiert oder (längerfristige) Beschwerden und Behinderungen als Unfallfolge nachgewiesen werden. Diese Dokumentation und die Auswahl der Untersuchungen, die die Verletzungen und die Unfallbedingtheit von Beschwerden und Behinderungen nachweisen können, erfolgt in Unfallspitälern der AUVA durch Ärzte, die Mitarbeiter der AUVA sind! Viele medizinische Gutachter für „Peitschenschlag“ (Chirurgen, Orthopäden und Neurologen) sind auch Mitarbeiter der AUVA oder wurden in den Spitälern der AUVA ausgebildet und werden dort fortgebildet. Ein zusätzlicher Interessenkonflikt könnte sich für den Gutachter ergeben, wenn die behandelnden Ärzte direkte Arbeitskollegen von ihm sind oder zumindest beim selben Arbeitgeber beschäftigt sind. Dieser gemeinsame Arbeitgeber ist oft die AUVA. Die AUVA würde als Spitalserhalter haften, wenn der Gutachter einen Fehler in der Untersuchung, Behandlung oder Dokumentation aufzeigen würde. Die AUVA selbst könnte bei Straßenverkehrsunfällen mit guter Dokumentation der Verletzungen von den Kfz-Versicherern oft Regress erlangen. Straßenverkehrsunfälle sind jedoch nur ein geringer Teil aller Arbeitsunfälle. Und bei diesen vielen anderen als den Straßenverkehrsunfällen gibt es oft keinen Regresspflichtigen
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(z. B. Arbeitgeber haften gemäß § 334 ASVG nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit) – gleichgültig wie gut die Dokumentationen sind. Nach einer schriftlichen Mitteilung von der Statistikabteilung der AUVA vom 7. 11. 2006 wurden zur Gruppe „Behandlung von Zerrung im Hals“ in den Jahren 2000–2005 in den Unfall-Spitälern der AUVA insgesamt 64 424 Arbeits-Verkehrsunfälle behandelt. In nur 13 Fällen (0,02%) hat die Unfallversicherungsanstalt AUVA eine Rente wegen „Zerrung im Hals“ anerkannt. Das entstehende Gesamtbild regt zum Nachdenken an.
] Medizinische Untersuchungen, „degenerative Vorschäden“ und psychische Ursachen Nur objektiv-bildgebende Nachweise, die möglichst schon bei der Erstuntersuchung erbracht werden, sollen vor Gericht als Beweis reichen [19]. Bei Erstuntersuchungen nach „Peitschenschlag“-Traumen werden (f)MRTs in den UnfallSpitälern nicht aufgenommen. Oft aber können die verlangten „pathomorphologischen Substrate“, welche die Ursache chronischer Beschwerden und Behinderungen nach „Peitschenschlag“-Traumen sein können, nur mit (f)MRTs objektiv-bildgebend nachgewiesen werden [24]. MRTs sind nicht finanzierbar mit durchschnittlich nur 1 178,–, welche die Kfz-Versicherer an die Spitäler als Ersatz für Untersuchungs- und Behandlungskosten pro „Peitschenschlag“ leisten [8]. Durch die Einsparung von Untersuchungskosten (auch EMG) werden Nachweise von Verletzungen versäumt, die der Kläger im „Peitschenschlag“-Prozess für die „Kausalitätskette“ benötigt. Mangels objektiv-bildgebender Nachweise von Verletzungen behaupten Gutachter oft, langfristige „Peitschenschlag“-Beschwerden hätten nur psychisch-seelische Ursachen. Letztere können freilich Folge langfristiger Schmerzen und zermürbender (Gerichts-)Verfahren sein. Festgestellte Bandscheibenvorfälle, Verengungen des Wirbelkanals etc. werden oft als „degenerativ“ und nicht unfallbedingt dargestellt, auch wenn die dafür typischen Symptome unmittelbar nach dem Unfall auftreten. Als „Beweis“ werden oft „degenerative Vorschäden“ der Wirbelsäule geführt. Bei einer unabhängigen
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Untersuchung eines großen Kollektivs gesunder junger Menschen ohne jede Beschwerden hatten nur 2,6% von ihnen keine „degenerativen Vorschäden“ der Wirbelsäule [25].
] Beschränkte Patienten-Rechte für beschränkte medizinische Dokumentation Medizinische Begutachtungen von „Peitschenschlag“-Verletzungen und deren Folgen sollen vor allem auf der Krankengeschichte von der Erstversorgung und den dabei erstellten Röntgenbildern beruhen [19]. Krankenanstaltengesetze gewährleisten nicht die Herausgabe aller Unterlagen an den Patienten/Gutachter. Gemäß Krankenanstaltengesetzen haben Patienten ein Recht auf Kopien ihrer Krankengeschichte. Letztere muss u. a. die „Leistungen der medizinischtechnischen Dienste darstellen“, aber nicht ausdrücklich auch die Ergebnisse der Untersuchungen. Ausdrücklichen Anspruch auf alle Röntgenbilder haben nur die Sozialversicherungsträger.
Verbesserungsvorschläge ] Gerichtsverfahren Der ÖAMTC hat jüngst als Voraussetzung für fair trial in „Peitschenschlag“-Prozessen und außergerichtlichen Verhandlungen gefordert [26]: ] Beseitigung der „Geringfügigkeitsgrenzen“ ] Mut zu opfergerechter Beweislastverteilung etc. ] technisch und medizinisch differenziertes Vorgehen ] Vorrang des medizinischen Sachverständigen vor dem (nur im Zweifel heranzuziehenden) Techniker. Weiter sind nötig: ] Untersuchungen mit fMRT bei starken Beschwerden zwischen 3. und 8./9. Tag nach dem Trauma, weiter EMG-Untersuchungen [27, 28], ] gesetzliche Pflicht zur Herausgabe vollständiger medizinischer Unterlagen an Patienten,
] detailliertes Vorbringen vor Gericht über Verletzungen, Beschwerden und Behinderungen und besondere Verletzungsrisiken, ] verstärkte Überwachung der Unparteilichkeit der Gutachter und Sanktionen bei offensichtlichen Parteilichkeiten, ] verstärkte Überprüfung des gesamten Gutachtens auf Schlüssigkeit und Vollständigkeit, ] der Richter muss ausreichend Sachinformation erhalten, um die Beweiswürdigung vorzunehmen; Letztere obliegt nicht behandelnden Ärzten oder Gutachtern.
] Eine ausgewogene Beweislastverteilung im Prozess Obige Umstände zeigen das besondere Ungleichgewicht in der Beweislast zum Nachteil für den „Peitschenschlag“-Kläger auf. Insbesondere hat der Kläger nur sehr beschränkten Zugang zu Beweismitteln für den Nachweis der Unfallkausalität langfristiger Beschwerden. Die Ähnlichkeit mit den Beweisschwierigkeiten eines Klägers bei der Arzthaftung ist offensichtlich. WAD (Whiplash Associated Disorders) beschreibt ein Krankheitsbild mit typischen langfristigen Beschwerden nach einem Peitschenschlag. Werden Unfall und typische Beschwerden/Behinderungen nach Peitschenschlag bewiesen, die der Verletzte zuvor nicht hatte, ist nicht nachvollziehbar, warum dem Peitschenschlag-Kläger der Beweis der Unfallbedingtheit seiner langfristigen Beschwerden/Behinderungen durch die zusätzliche Erfordernis „objektiver“ technischer Nachweise seiner physischen Verletzungen erschwert wird – statt dass ihm der Nachweis erleichtert wird (vgl. zum typischen Risiko OGH 15. 9. 1999, 3Ob123/99 f). Beweist der Kläger besonders verletzungsgefährliche Umstände beim Unfall, ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von unfallbedingten Verletzungen umso höher (vgl. zu typischen Kausalabläufen und Anscheinsbeweis OGH 30. 1. 1996, 1Ob5/96, und OGH 11. 3. 1996, 1Ob2029/ 96 f). Um eine gerechte Rollenverteilung für die Prozessführung zu schaffen, hat der Oberste Gerichtshof jüngst eine der Schwere einer Dokumentationspflicht-Verletzung entsprechende Beweiserleichterung anerkannt (vgl. OGH 28. 3. 2006, 10Ob19/06 a).
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13. Schmid S (1988) Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule in der Schweiz 14. Reisinger (2006) Forum Haftpflichtprozess im BMJ 2006 15. Schwintowski (2005) Der Anspruch auf angemessene Schadensregulierung. Freie Universität Berlin, 18. 4. 2005 16. Reusch/Holland (2004) Entscheiden unter Unsicherheit und Vagheit. Universität Dortmund, Vorlesung, SS 2004 17. http://www.vvo.at/vvo-leitbild.html 18. http://de.wikipedia.org/wiki/Lobbyismus 19. Wielke/Wielke (2000) Strittige HWS-Verletzungen nach Auffahrunfällen. ZVR, 152 ff 20. Jakobsson et al (1999) WHIPS – VOLVO’s whiplash protection study 21. Wielke B (2006) Skriptum ARS-Seminar 6. 7. 2006 22. Castro/Mazzotti (2006) Stellenwert der verkehrstechnischen Analyse zur Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung beim „HWS-Schleudertrauma“. Med Sach 2006 23. Deutscher Bundesgerichtshof BGH NJW 2003, 1116 24. Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DGU – Mitteilungen und Nachrichten (Suppl/2004) In: Lahm et al (Hrsg) Die Bedeutung der Kernspintomographie für die gutachterliche Beurteilung von Verletzungen des Stütz- und Bewegungsapparates 25. Hald et al (1995) Röntgenologisch nachweisbare Wirbelsäulenveränderungen asymptomatischer junger Männer. RöFö 1995, 4 26. www.oeamtc.at/netautor/download/document/ akvo/Forderungen1006_oeamtc.pdf 27. Laubichler W (2003) Zur Begutachtungsproblematik von Verletzungen der Halswirbelsäule bei Verkehrsunfällen. Der Sachverständige, S 198 ff 28. Laubichler W (2007) Halswirbelsäulenverletzungen nach Auffahrunfällen aus der Warte des Mediziners
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53 Kuriosum HWS-Schleudertrauma W. Laubichler
Das Halsschleudertrauma ist insofern ein Kuriosum, als es die einzige Körperverletzung darstellt, bei der, zumindest bei gutachterlicher Aufarbeitung, der medizinische Sachverständige sozusagen die „Erlaubnis“ durch ein verkehrstechnisches Gutachten erhalten muss (musste?), um die Diagnose einer Verletzung der HWS zu stellen. Durch die berühmte Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 28. 01. 2003 (VI ZR 139/02) wurde wohl ein Zeichen gesetzt; – doch scheinen sich viele Anhänger der „Harmlosigkeitsgrenze“ zu versteifen. Kurios auch, dass viele medizinische Sachverständige sich nicht gegen diese Bevormundung durch Fachfremde wehrten, sondern eifrig mitspielten. „Die Beschwerden der Patientin sind glaubwürdig, aber nicht unfallkausal, weil das Ergebnis des verkehrstechnischen Gutachtens die Annahme einer Verletzung der HWS nicht zulässt“ . So aus einem Vorgutachten eines unfallchirurgischen Sachverständigen, immerhin Vorstand eines unfallchirurgischen Krankenhaus Österreichs. Zuvor wurde vom technischen Sachverständigen ein Delta-V von 5–10 km/h errechnet und kommentarlos noch bemerkt, dass auf den Rücksitzen dieses alten Pkw-Modells, auf dem die Betroffene saß, keine Kopfstützen vorhanden waren. Der unfallchirurgische Vorgutachter räumte im Weiteren ein, dass für den Fall von Delta V 10 km/h Erdmann I doch annehmbar wäre. Auch er hielt fest, dass am Sitz der Betroffenen keine Kopfstütze vorhanden war. Dass damit die „Harmlosigkeitsgrenze“ illusorisch ist, berücksichtigte er nicht. Wie konnten derartige Denkfehler (fast?) zur Regel werden. Zunächst ist auf die besondere afferente Innervation speziell des kraniozephalen Übergangs zu verweisen [6], weshalb die
Verletzungen der HWS besonders unangenehm sein dürften. Dagegen hat die diagnostische Aufklärungsmöglichkeit die HWS lange ausgelassen und hat auch jetzt wohl noch nicht das Niveau bezüglich anderer Körperregionen erreicht. Ferner: Wenn Patienten über Beschwerden permanent klagen, die nicht objektivierbar sind, dann werden sie bald für alle eine Plage. Die Patienten selbst sind meist überfordert zu begreifen, dass die Unfallkausalität ihrer Beschwerden nicht belegbar sein soll und damit auch eine Haftung nicht durchsetzbar ist. In dieser verzwickten Situation war es für viele wohl eine Art Befreiungsschlag mit der „Harmlosigkeitsgrenze“ ein schier unlösbares, lästiges Problem vom Tisch zu bekommen; offenbar beruhigte es auch viele, diese Patientengruppe als potentielle Betrüger, Schwindler oder zumindest als psychisch gestört zu diffamieren. – Die Betroffenen selbst reagierten darauf oft mit einer Art „posttraumatischen Verbitterungsstörung“, was alles noch komplizierter macht. Auch ohne die eingangs zitierte obergerichtliche Entscheidung ist die in der Vergangenheit praktizierte Handhabung der „Harmlosigkeitsgrenze“ wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Der kollektive Denkfehler war, alles an dieser „Harmlosigkeitsgrenze“ aufzuhängen, die überdies an freiwilligen Versuchspersonen experimentell auf durchaus kritikwürdige Art ermittelt wurde (eigene ältere Publikationen wie auch [1]). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit führt Tabelle 53.1 die verschiedensten Faktoren an, die eine Verletzung der HWS begünstigen. Auch bei niedrigem Delta V kann durch das Zusammenwirken mehrerer anderer Faktoren eine HWSVerletzung entstehen.
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Tabelle 53.1. Faktoren, die eine Verletzungsvoraussetzung der HWS darstellen ] Delta V: Geschwindigkeitsänderung des gestoßenen Pkw ] Kopfstützen: überhaupt vorhanden?, richtig eingestellt ] Kopf-Körperhaltung: in or out of position ] Konstitution: Vorschäden der HWS, Körpergröße, Geschlecht, Alter, allgemeiner Gesundheitszustand, Muskel/Skelettstatus ] Fahrzeugausstattung bzw. -konstruktion ] Physikalische Details des Unfallablaufs ] Psychische Vigilanz und Resonanz ] Delta t
In letzter Zeit ist immer häufiger zu hören, dass Delta t (Stoßgeschwindigkeit) ausschlaggebender sei als Delta V! Im Weiteren muss für die „Harmlosigkeitsgrenze“ vorausgesetzt werden, dass die Kopfstützen exakt eingestellt sind. Kerbl [4] zufolge ist das aber nur in 25% der Fall; bei diesen befindet sich der obere Rand der Kopfstütze in Scheitelhöhe oder knapp darüber. Ein Drittel der Kopfstützen ist völlig insuffizient, d. h. viel zu niedrig eingestellt. Ähnliches haben auch Hell [3] aus Deutschland und Croft [1] aus den USA berichtet. Kerbl [4] wies weiter darauf hin, dass von 460 in Österreich üblichen Pkw-Typen 51% für Personen von 1,8 m oder darüber wegen zu niedriger Fahrgastzellenhöhe ungeeignet sind. Auf ein solches Missverhältnis wird in der Praxis nie eingegangen. Abschließend soll nur noch auf die Bedeutung der Muskulatur und des Muskeltonus eingegangen werden. Frauen sind gefährdeter und überwiegen in allen Patientenkollektiven wegen ihrer geringer ausgeprägten Muskulatur. In den publizierten Crashtests usw., die zur Feststellung der Harmlosigkeitsgrenze führten, fehlen Frauen aber überhaupt oder sind nur minimal und mit niedrigem Lebensalter vertreten. Vigilanz bedeutet den Grad von Aufmerksamkeit und Wachheit, was durch erhöhten Muskeltonus schützt. Von allen Insassen ist die Vigilanz des Fahrers üblicherweise am höchsten, weshalb dieser seltener verletzt wird als Fahrgäste; was allerdings dann nicht stimmt, wenn er infolge eines Sekundenschlafes in eine Karambolage gerät. Durch Erschrecken wird der schützende Muskeltonus erhöht, weshalb frontale Auffahrunfälle weniger gefährlich sind als
Kuriosum HWS-Schleudertrauma
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Heckauffahrunfälle, von denen die Insassen in der Regel überrascht werden usw. Zum Problem der Lig. alaria (Flügelbänder) usw.: Noch im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts waren diese radiologisch schwer nachweisbar. Mit den heutigen Tomographen (Tesla 1,5 bzw. 3,0) gelingt dies aber immer häufiger, leider wird aber das MR in der Begutachtung zu selten eingesetzt. Die Bandverletzungen der Kopfgelenke sind sehr weitgehend das Ergebnis von insuffizient, d. h. zu niedrig eingestellten Kopfstützen. Bei Hyperextension, aber auch bei Hyperflexion, wird die konkave Seite der HWS zusammengedrückt, die konvexe auseinandergezogen, was bei fehlender Kopfstütze gelegentlich zu Kompression und Abbrüchen der Dornfortsätze, seltener der Bogenfortsätze führte. Bei insuffizient eingestellten Kopfstützen wird die untere und mittlere HWS von dieser noch aufgefangen, der nach oben verlagerte Kopf kippt über den Oberrand der HWS nach hinten. Durch diese Retroflexion mit Drehpunkt in der oberen HWS wird die hintere Schädelbasis gegen den Dornfortsatz des 2. Halswirbels gedrückt, das vordere Längsband, die vorderen Gelenkkapseln kommen unter Zug [7]. Im Extremfall kann durch diese Retroflexion des Kopfes der Dens axis aus dem vorderen Atlasbogen herausgezogen werden und ist bei Obduktion vor dem vorderen Atlasbogen vorfindbar – ohne Fraktur. Bei den banaleren durchschnittlichen Heckauffahrunfällen ist dies nicht zu befürchten. Eine aber nur geringe kurzfristige Abwärtsbewegung (1, 2 oder 3 mm?) des Dens kann die Flügelbänder überfordern, die nur ein Drittel der Zugfestigkeit der Kreuzbänder aufweisen sollen. Bei frontalem Auffahren ist Krakenes u. Kaale [5] zufolge das Lig. transversum infolge einer horizontalen Translationsbewegung von Atlas und Kopf nach vorne mehr gefährdet. Zu erinnern ist an Folgendes: Eine Stoßwelle, die Knochengewebe durchläuft, auch wenn sie nicht zu einer Fraktur führt, kann ab einem gewissen Intensitätsgrad zu einem Spongiosaödem führen. Dieses ist ab dem 2. bis 3. Tag nach dem Trauma im MR darstellbar, evtl. gleichzeitig mit Ergüssen in den Kopf- und Facettengelenken usw. Nach acht bis zehn Tagen verschwinden diese Symptome wieder. Durch Einsatz des MR in diesem Zeitraum könnte damit ein zwar flüchtiges, aber „objektives“ Verletzungszeichen festgehalten werden, wohl zumindest bei den Verletzungen, die nach Erdmann II
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Kuriosum HWS-Schleudertrauma
einordbar wären. Bei Persistenz von Beschwerden sind auch später evtl. nach Jahren im MR (heute) Bandverletzungen usw. darstellbar, wobei funktionelle oder dynamische MRI-Untersuchungen wahrscheinlich die Trefferquote erhöhen. Angeblich wird an der Entwicklung von Tesla 7,0- und Tesla 9,0-Geräten gearbeitet. Wenn geeignete Tomographen flächendeckend vorhanden sind und man diese routinemäßig einsetzt, werden die vergangenen und jetzigen Kontroversen Geschichte sein.
Literatur 1. Croft A (1996) Low speed rear impact collisions: In search of an injury threshold. J Musculosceletal Pain 4 (4):39–46 2. Halswirbelsäulenverletzungen nach Auffahrunfällen aus der Warte der Mediziner, Techniker und Juristen. Seminare an der Akademie für Recht und Steuern (ARS) Wien 2006, 2007.
[email protected], http://www.ars.at 3. Hell W in Haupt H (2007) Schmerzhaftes Schleudertrauma. Mit dem Kopf im Nacken. Spiegel online 5. Juni 2007 4. Kerbl S (2006) Peitschenschlag-Syndrom. www.automotor.at. Artikel vom 13. 10. 2006 5. Krakenes J, Kaale BR (2006) Magnetic resonance imaging assessment of craniovertebral ligaments and membranes after whiplash trauma. Spine 15, 31(24):2820–2826 6. Neuhuber WL, Bankoul S (1992) Der „Halsteil“ des Gleichgewichtsapparates – Verbindungen zervikaler Rezeptoren zu Vestibulariskernen. Man Med 30:53–57 7. Penning L (1994) Backward hypertranslation of the head: participation in the whiplash injury mechanism of the cervical spine? Orthopäde 23(4):268–274
54 Handwerkliche Fehler in Gutachten R. Verhasselt
Die sachverständige Beurteilung der Folgen von HWS-Beschleunigungsverletzungen ist aus einer ganzen Reihe von Gründen häufig nicht einfach. Umso wichtiger ist deshalb die Vermeidung typischer handwerklicher Fehler bei der Gutachtenerstellung. Gerade vor dem Hintergrund der neu geregelten Haftung des gerichtlich beauftragten Sachverständigen in § 839 a BGB werden nachfolgend die häufigsten Fehler kurz dargestellt, um auf diese Weise sowohl den auf diesem Gebiet gutachterlich tätigen Ärzten als auch den begutachteten Unfallopfern einen schnellen Überblick zu verschaffen.
Ungenaue Sachverhaltsermittlung Ein sehr häufiger Fehler ist die ungenaue Ermittlung des zu begutachtenden Sachverhalts. Bei der Sachverhaltsermittlung ist auf das exakte Erfragen des Unfallhergangs besondere Sorgfalt zu verwenden. Hierbei ist z. B. zu prüfen, ob im konkreten Fall eine Gurt- bzw. Airbagwirkung gegeben war oder ob sich beispielsweise ein nicht angeschnallter Fahrer im Augenblick der Kollision mit Händen und Füßen an Fahrzeugstrukturen abgestützt hat. Gab es einen Schädelanprall, bestanden nach dem Unfall Prellmarken oder sonstige Verletzungszeichen durch Gurt bzw. Airbag oder Kontakt zum Fahrzeuginnenraum? Die Beurteilung des Sachverhalts durch den Sachverständigen wird zusätzlich erschwert durch die oft nur unzureichende Erstuntersuchung des Verunfallten. In einer Studie [1] konnte z. B. gezeigt werden, dass bei den Untersuchungen in der Notaufnahmestation eines Krankenhauses erstaunliche 66% der Kopfverletzungen übersehen wurden.
Ein weiteres häufiges Problem ist die fehlende ärztliche Dokumentation von Prellmarken, sie darf nicht einfach gleichgesetzt werden mit dem tatsächlichen Fehlen von Prellmarken. In schwierigen Fällen kann hier die Computersimulation der Insassenbewegung zur Aufklärung beispielsweise eines fraglichen Kopfanpralls an Fahrzeugbinnenstrukturen beitragen. Zu überprüfen ist, ob alle beurteilungsrelevanten Behandlungsunterlagen sowie nach Möglichkeit auch die Aufnahmen der eingesetzten bildgebenden Verfahren vorliegen. Fehlende medizinische Unterlagen und Aufnahmen sollten vor Gutachtenerstellung noch angefordert werden. Nur so kann der Sachverständige die Hauptfehlerquellen bei der initialen Diagnostik von Verletzungsfolgen ausschließen: die unvollständige oder qualitativ unzureichende Anfertigung von Aufnahmen der eingesetzten bildgebenden Verfahren sowie deren fehlerhafte Befundung [2]. Zur eigenen Absicherung des Sachverständigen empfiehlt sich daher der ausdrückliche Hinweis im Gutachten auf das Fehlen beurteilungsrelevanter Unterlagen oder aber eine beispielsweise nur eingeschränkte Beurteilbarkeit aufgrund schlechter Qualität oder Unvollständigkeit der vorgelegten Aufnahmen. Wichtig ist zudem die korrekte Wiedergabe der von anderen Ärzten oder Sachverständigen erhobenen Befunde und Diagnosen. Andernfalls kann leicht der Eindruck einer einseitigen Begutachtung entstehen. Immer wieder ist festzustellen, dass sich Fehler in Gutachten durch die ungeprüfte Übernahme von Textpassagen aus Vorgutachten fortpflanzen. Da die korrekte Ermittlung des Sachverhalts die Grundlage der Begutachtung ist, führen Ungenauigkeiten und Fehler zwangsläufig zu unzutreffenden Schlussfolgerungen, die einerseits das gesamte Gutachten wertlos machen können, die sich andererseits aber durch eine sorgfältige Vorgehensweise besonders leicht vermeiden lassen.
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]
R. Verhasselt
Verletzungsmöglichkeiten Bei der Beurteilung der Verletzungsmöglichkeiten werden immer wieder einige wichtige Faktoren von Sachverständigen übersehen. So ist neben dem wohl inzwischen allgemein bekannten Wegfall der sog. Harmlosigkeitsgrenze zu beachten, dass die HWS- und Kopfbeschleunigung beim Fahrzeuginsassen wesentlich höher ist als die auf das Fahrzeug wirkenden Kräfte. Oft wird nicht berücksichtigt, dass unabhängig von einem Kopfanprall schon die infolge der massiven Kopfbeschleunigung bzw. -verzögerung auf das Gehirn einwirkenden Kräfte geeignet sind, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Vielen Sachverständigen scheint nicht bekannt zu sein, dass die Gurt- und Airbagwirkung gerade bei Frontalkollisionen trotz des anzunehmenden schützenden Effekts sogar zu einer stärkeren Beschleunigung des Kopfes gegenüber dem relativ fixierten Rumpf führt und dadurch das Verletzungsrisiko in diesem Bereich noch erhöht. Falsch ist auch die verbreitete Annahme einer durch Sitz und Gurt gut fixierten und deshalb nicht verletzungsgefährdeten LWS. Auch hierzu gibt es neuere Untersuchungen [3], die die erhebliche Gefährdung der LWS bei typischen Unfallsituationen beweisen. Zu beachten ist außerdem die erhöhte Verletzungsgefahr im Falle komplexer Bewegungen wie bei Mehrfachkollisionen, Kollisionen mit rotatorischer Komponente oder seitlich einwirkenden Kräften.
Aussagefähigkeit der eingesetzten Diagnostik Sehr häufig wird die Aussagefähigkeit der nach einem Unfall von behandelnden Ärzten und Gutachtern eingesetzten diagnostischen Verfahren erheblich überschätzt. Es ist keinesfalls so, dass im MRT der HWS oder des Kopfes Verletzungsfolgen grundsätzlich nachgewiesen werden können. Daher kann ein unauffälliger MRT-Befund auch eine mögliche oder tatsächlich bestehende Verletzung der untersuchten Strukturen nicht etwa ausschließen. Dies muss jeder Sachverständige, der Unfallfolgen beurteilt, wissen. Neben diesen grundsätzlichen diagnostischen Schwierigkeiten, die gerade die hinsichtlich ih-
rer Prognose ungünstigen Verletzungen der Weichteilstrukturen der HWS und des Kopfes betreffen, ist das in zeitlicher Hinsicht enge diagnostische Fenster zu beachten. In den ersten Tagen nach einem Trauma gelingt der Nachweis sog. frischer Verletzungszeichen wie Einblutung oder Ödem mittels MRT noch am ehesten, jedoch längst nicht in jedem Fall. Wird die Untersuchung aber erst viele Wochen oder Monate nach einem Unfall durchgeführt, ist von vornherein schon nicht damit zu rechnen, dass sich entsprechende Hinweise finden lassen. Es ist daher grundfalsch, wenn Sachverständige in ihren Gutachten allein anhand der unauffälligen Befunde einer zu spät durchgeführten MRT Unfallfolgen ausschließen wollen. Wenig aussagefähig ist auch die nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung regelmäßig durchgeführte Röntgenuntersuchung der HWS. In Versuchen an Leichen konnte eindrucksvoll nachgewiesen werden, dass ein erheblicher Teil tatsächlich vorhandener klinisch relevanter Band- und/oder Knochenverletzungen selbst von besonders erfahrenen Untersuchern auf den Röntgenaufnahmen nicht erkannt werden konnte [4]. Es ist allerdings auch nicht der Sinn dieser routinemäßigen Röntgenuntersuchung der HWS, die Folgen einer HWS-Beschleunigungsverletzung abzubilden, sondern eine für den Patienten möglicherweise gefährliche und deshalb akut behandlungsbedürftige (eher selten diagnostizierte) Fraktur auszuschließen. Aus den genannten Gründen kommt dem Grundsatz, dass die Diagnose einer HWS-Distorsion primär klinisch gestellt wird, besondere Bedeutung zu. Ein geeigneter Unfallhergang, das Auftreten bestimmter Beschwerden sowie ein bestimmter körperlicher Untersuchungsbefund sind für die Diagnose „HWS-Distorsion“ praxisgerecht und damit vollkommen ausreichend. Überzogene Anforderungen an die ärztliche Dokumentation der Erstbehandler sind ebenso verfehlt wie das Fordern eines positiven Nachweises mittels bildgebender Verfahren. Dies wird in Zusammenhangsgutachten häufig übersehen. Bei Verletzungsfolgen auf neurologischem Fachgebiet wird immer wieder nicht beachtet, dass die unmittelbar nach einem Unfall durchgeführte neurologische Diagnostik sich meist nur auf einfachste Untersuchungen beschränkt und die initiale Symptomatik von anderen im Vordergrund stehenden Beschwerden häufig maskiert wird. Dabei ist die detaillierte Überprüfung des neurologischen Status beim Ver-
54
dacht auf das Vorliegen eines HWS-Beschleunigungstraumas von besonderer Wichtigkeit [2]. Ist keine oder eine nur unzureichende neurologische Untersuchung unmittelbar nach dem Unfallereignis erfolgt, müssen die Befunde gegebenenfalls erst später durchgeführter Spezialuntersuchungen besondere Beachtung finden, selbst wenn der zeitliche Abstand dieser Untersuchungen zum Unfallereignis groß ist. Wenn nach einem Unfall Schäden an den Bandscheiben der HWS und häufig auch der LWS festgestellt werden, wird ein Unfallzusammenhang von vielen Gutachtern mit der Begründung abgelehnt, es sei nicht sogleich eine typische und ausgeprägte Symptomatik aufgetreten. Diese Auffassung ist jedoch unzutreffend, da sich die Symptomatik in etwa 50% der Fälle erst viele Wochen nach dem Unfallereignis zeigt [5]. Bei der Beurteilung einer radikulären bzw. pseudoradikulären Symptomatik ist zudem zu beachten, dass eine lehrbuchgemäße Ausbreitung der Dermatome nicht bei jedem Patienten gegeben ist. Für unfallbedingte Einschränkungen der kognitiven Funktionen ist es geradezu typisch, dass diese erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zum Unfallereignis von dem Betroffenen oder häufig zunächst von seinem sozialen Umfeld bemerkt werden. Auch dies scheint nicht jedem Sachverständigen geläufig zu sein.
Gutachterliche Untersuchung Bei der eigentlichen gutachterlichen Untersuchung sind einige Besonderheiten zu beachten. Während die Einbestellung zur Untersuchung durch den Sachverständigen zu einem festen Termin erfolgt, sucht der Patient seine behandelnden Ärzte in aller Regel genau dann auf, wenn die Beschwerden besonders ausgeprägt sind. Daraus ergeben sich für die behandelnden Ärzte in aller Regel bessere Beurteilungsmöglichkeiten als für den Gutachter. Zusätzlich verfügen die behandelnden Ärzte wegen der ihnen möglichen unmittelbaren Verlaufsbeobachtung über wichtige Erkenntnismöglichkeiten zum Krankheitsverlauf und der Prognose, die dem Sachverständigen ebenfalls fehlen. Besonders bedeutsam ist aber das Auftreten bzw. die Verstärkung der Beschwerden nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung in be-
Handwerkliche Fehler in Gutachten
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stimmten Situationen, vor allem unter körperlicher Belastung. Die Untersuchung durch den Sachverständigen erfolgt jedoch in der Regel in einer Ruhesituation. Dadurch ergibt sich für den Sachverständigen ein weniger ausgeprägtes Beschwerdebild, was bei der Beurteilung der Untersuchungsergebnisse zu berücksichtigen ist. Einige Beschwerden treten nur bei bestimmten Bewegungen auf, andere Beschwerden verstärken sich im Laufe des Tages. Dies alles schränkt den Aussagewert der gutachterlichen Untersuchung deutlich ein. Umso größere Aufmerksamkeit sollte der Sachverständige daher den dokumentierten Befunden der behandelnden Ärzte widmen. Vor allem muss vor einer unreflektierten Annahme einer Simulationsbzw. Aggravationstendenz ebenso gewarnt werden wie vor einer voreiligen Psychiatrisierung. Vielen Gutachtern ist zudem nicht geläufig, wie die von dem Begutachteten geklagten Beschwerden zu bewerten sind. Das Angeben von Schmerzen ist immer subjektiv, jedoch ist geklagter Schmerz als solcher anzunehmen, solange dem Gutachter keine Anhaltspunkte vorliegen, die die geklagten Beschwerden als ungewöhnlich oder nicht nachvollziehbar erscheinen lassen. Ein wichtiger Punkt ist noch bei von einem Sachverständigen veranlassten Untersuchungen zu beachten, bei denen es zu einer Strahlenbelastung des Patienten kommt. Hier muss der Sachverständige zunächst prüfen, ob z. B. eine neuerliche Röntgen- oder CT-Untersuchung überhaupt erforderlich ist, sei es, weil bereits aussagefähige Aufnahmen vorangegangener Untersuchungen vorliegen, sei es, weil von vornherein kein nennenswerter Erkenntnisgewinn durch die erneute Untersuchung zu erwarten ist. Die Praxis zeigt immer wieder, dass gerade die bildgebenden Verfahren bei einem erheblichen Teil der Begutachtungen einfach routinemäßig eingesetzt werden, obwohl aus gutachterlicher Sicht hierzu aus den o. g. Gründen überhaupt kein Anlass besteht.
Unfallfolge oder unfallunabhängiger Verschleiß? Die Differenzierung zwischen Unfallfolgen und unfallunabhängigem Verschleiß oder anderen unfallunabhängigen Erkrankungen fällt nicht
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immer leicht. Gefährlich ist die pauschale Betrachtungsweise vieler Sachverständiger, die eine Vielzahl ganz unterschiedlicher nach dem Unfall aufgetretener Beschwerden mit degenerativen Veränderungen erklären wollen. Angezeigt ist hier vielmehr eine differenzierte Betrachtung, bei der zu prüfen ist, welche degenerativen Veränderungen überhaupt für welche der vorhandenen Beschwerden verantwortlich gemacht werden können. Bei genauer Überprüfung zeigt sich immer wieder, dass ein vom Gutachter behaupteter Zusammenhang medizinisch überhaupt nicht haltbar ist. Wenn nach einem geeigneten Unfallereignis bei vorheriger Beschwerdefreiheit plötzlich zahlreiche Beschwerden in engem zeitlichem Zusammenhang auftreten, dann ist dies zunächst einmal ein beachtliches Indiz für das Vorliegen von Unfallfolgen. Degenerative Veränderungen infolge des in Gutachten viel bemühten natürlichen Verschleißes entwickeln sich hingegen relativ langsam über lange Zeiträume. Selbst wenn keine direkte Korrelation zwischen der Entwicklung und Ausprägung degenerativer Veränderungen besteht, so ist es nach gutachterlicher Erfahrung eher ungewöhnlich, dass im Zusammenhang mit einem Unfallereignis schon vor dem Unfall bestehende degenerative Veränderungen urplötzlich symptomatisch werden. In jedem Fall ist hier eine sorgfältige Prüfung angezeigt. Keinesfalls ausreichend ist die in Gutachten sehr häufig anzutreffende Erklärung der Beschwerden mit deren häufiger Verbreitung in der Allgemeinbevölkerung. Gleiches gilt für die Bewertung eines Symptoms oder eines einzelnen Befundes als unspezifisch. Für sich genommen unspezifisch ist nahezu jedes Symptom und fast jeder isoliert betrachtete Befund. Dem Wesen der ärztlichen Diagnosefindung entspricht jedoch gerade nicht die isolierte Bewertung einzelner Symptome oder Befunde, sondern die Gesamtbetrachtung aller vorliegenden Informationen. Dieser Grundsatz gilt ebenso für die gutachterliche Vorgehensweise bei der Beurteilung von Unfallfolgen. Im Bereich der Zusammenhangsbegutachtung kann die Gesamtbeurteilung anhand von vier Voraussetzungen erfolgen, bei deren sorgfältiger Prüfung ein Sachverständiger in aller Regel zu einem nachvollziehbaren und zutreffenden Ergebnis gelangt. ] Erste Voraussetzung ist die Beschwerdearmut bzw. Beschwerdefreiheit zeitnah vor dem Un-
fallereignis. Dem vor dem Unfall leeren Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse ist dabei erhebliche Bedeutung zuzumessen. ] Zweite Voraussetzung ist die Geeignetheit des Unfallhergangs, die nach dem Unfall aufgetretenen Beschwerden hervorzurufen. ] Dritte Voraussetzung ist das Auftreten typischer Symptome bzw. die Erhebung typischer Befunde in dem nach medizinischer Erfahrung zu erwartenden zeitlichen Abstand zum Unfallereignis. Hierbei ist zu beachten, dass bestimmte Beschwerden bzw. Befunde auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auftreten können, ohne dass dies einem ungewöhnlichen Verlauf entspräche. Zu beachten ist vor allem, welche Diagnostik wann durchgeführt wurde, denn bestimmte Beschwerden und Befunde können naturgemäß erst festgestellt werden, wenn insoweit aussagefähige Diagnostik eingesetzt worden ist. ] Die letzte und sehr wichtige Voraussetzung ist das Fehlen alternativer, unfallunabhängiger Erklärungen für die nach dem Unfall aufgetretenen Beschwerden bzw. die nach dem Unfall erhobenen Befunde. Das bedeutet: Werden vom Gutachter Unfallfolgen abgelehnt, müssen in einem weiteren Schritt andere geeignete Ursachen für die Beschwerden des Verunfallten nachgewiesen werden [6], wobei auch hier das Prinzip des Vollbeweises gilt. Dieser sehr wichtige Punkt wird in vielen Gutachten nicht beachtet. Durch eine sorgfältige Prüfung der genannten Voraussetzungen lässt sich die häufig gravierend fehlerhafte Bewertung der Bedeutung der im Zeitpunkt des Unfalls bereits bestehenden unfallunabhängigen degenerativen Veränderungen vermeiden. In einer sehr umfangreichen Untersuchung an über 10 900 Probanden von jungen, gesunden, beschwerdefreien Bewerbern für den fliegerischen Dienst der Bundeswehr konnten in nur 2,6% der Fälle keine pathologischen Veränderungen der Wirbelsäule festgestellt werden [7]. Dies zeigt nachdrücklich, wie geringe Aussagekraft dem bloßen Vorhandensein pathologischer Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule zukommt. Die Beachtung der o. g. vier Voraussetzungen führt auch zur Vermeidung der widersprüchlichen Begutachtungsergebnisse bei ein und demselben Patienten in den häufigen Fällen, in denen parallel zu den Unfallfolgen auch die Frage einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu beur-
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teilen ist. Während in der Unfallangelegenheit unfallunabhängige degenerative Veränderungen den weitaus größten Teil oder sogar sämtliche der nach einem Unfall aufgetretenen bzw. verbliebenen Beschwerden erklären sollen, wird denselben unfallunabhängigen Veränderungen bei der Bewertung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nur geringe Bedeutung beigemessen.
Ausheilungsdauer Besonders gravierend sind die Fehler bei der Beurteilung der Ausheilungsdauer von Unfallfolgen. Obwohl vom aktuellen Erkenntnisstand zur HWS-Beschleunigungsverletzung längst überholt, wird immer noch nahezu regelmäßig mit Schweregradeinteilungen (Erdmann, Krämer, Schmidt, Quebec Task Force etc.) gearbeitet. Diese Tabellen berücksichtigen jedoch nur einige wenige Kriterien, die für die Ausheilungsdauer auch nur ganz grobe Anhaltspunkte bieten können. Tatsächlich ist in jedem einzelnen Fall eine ganz unterschiedliche Kombination zahlloser Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, von Bedeutung. Zu beurteilen ist daher grundsätzlich der individuelle, nach Möglichkeit ärztlich dokumentierte Heilungsverlauf. Nur wenn hierzu keinerlei Anhaltspunkte vorliegen, kann eine Schweregradtabelle als Hilfestellung benutzt werden. Berücksichtigt werden müssen prognostisch ungünstige Faktoren wie z. B. das zeitweise Tragen einer Schanz’schen Krawatte oder initial nicht bzw. falsch behandelte muskuläre Funktionsstörungen, die dann eine hohe Chronifizierungsrate zeigen bei fast regelhaft weitgehender Therapieresistenz. Gerade die nach einem Unfall sehr häufig übersehenen Verletzungen mit der Folge einer nicht, unzureichend oder verspätet durchgeführten Therapie sollen für einen erheblichen Teil der langwierigen Heilungsverläufe und Dauerschäden nach einem HWS-Beschleunigungstrauma verantwortlich sein. Dies führt zunehmend zu haftungsrechtlichen Konsequenzen für die den Patienten nach einem Unfall behandelnden Ärzte, muss aber auch gerade von einem Sachverständigen bei der Beurteilung eines protrahierten Beschwerdeverlaufs berücksichtigt werden, insbesondere wenn der Gutachter den Eindruck hat, dass ein Missverhältnis zwischen den
Handwerkliche Fehler in Gutachten
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festgestellten Unfallfolgen und der aus seiner Sicht anzunehmenden Ausheilungsdauer besteht.
Überblick über den aktuellen Kenntnisstand und Zitieren von Fachpublikationen Dass die zitierte Fachliteratur angesichts des enormen Erkenntnisgewinns gerade der letzten Jahre möglichst aktuell sein sollte, versteht sich von selbst. Dennoch werden in zahlreichen Gutachten Literaturquellen angegeben, die bereits vor Jahrzehnten publiziert wurden und damit ein für medizinische Verhältnisse geradezu biblisches Alter aufweisen. Auch höchst fragwürdige Untersuchungen wie die immer wieder gerne zitierte „Litauenstudie“ haben in einem seriösen Sachverständigengutachten nichts zu suchen. Im Unterschied zu den Ergebnissen dieser Fragebogenaktion kommen andere Studien zu stark abweichenden Ergebnissen [8]. Gleiches gilt für Untersuchungen mit nur sehr geringer Probandenzahl oder die bekannt praxisfernen Versuche mit Schlitten oder Autoscootern. Interessant ist, dass in einer bereits 1997 als Dissertation publizierten umfangreichen Arbeit aus der Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Universität München [9] die bis heute gültigen wesentlichen Erkenntnisse zur HWS-Beschleunigungsverletzung differenziert dargestellt worden sind, diese aber nach wie vor von vielen Sachverständigen weitgehend ignoriert werden. In sehr vielen Gutachten wird die medizinisch-wissenschaftliche Fachliteratur zudem falsch zitiert. Hauptproblem ist dabei die unzureichende Zuordnung der Ausführungen des Gutachters zu der von ihm zitierten Literaturstelle. So genügt es nicht immer, nur ganz allgemein auf ein bestimmtes Fachbuch oder einen Aufsatz zu verweisen ohne genaue Angabe zumindest der Seitenzahl der vom Gutachter bemühten Textpassage. Die Fundstelle lässt sich nicht ausreichend nachvollziehen, das Literaturzitat ist damit wertlos. Noch problematischer ist die bloße Bezugnahme auf eine Fundstelle zur Bestätigung der von dem Sachverständigen getroffenen Behauptung ohne jede Wiedergabe eines Literaturzitates.
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Handwerkliche Fehler in Gutachten
Im Ergebnis gilt: Dem Sachverständigen muss der aktuelle Erkenntnisstand zur HWS-Beschleunigungsverletzung geläufig sein und sich auch so im Gutachten wiederfinden. Im Gutachten wiedergegebene Literaturzitate, Lehrmeinungen oder Studienergebnisse müssen für den Leser nachzuvollziehen sein.
Zusammenfassung Die Zusammenhangsgutachten im Bereich der HWS-Beschleunigungsverletzungen weisen in sehr vielen Fällen gravierende handwerkliche Fehler auf. Die auf diesem Gebiet tätigen Sachverständigen sollten daher trotz und gerade wegen ihrer jahrelangen Routine auf diesem Gebiet unbedingt regelmäßig den aktuellen Erkenntnisstand nachfragen und bei ihren Begutachtungen berücksichtigen. Es ist wohl zu erwarten, dass Gutachterhaftungsverfahren schon in näherer Zukunft wegen der Neuregelung der zivilrechtlichen Haftung des gerichtlich beauftragten Sachverständigen (§ 839 a BGB) eine deutlich zunehmende Bedeutung erlangen werden. Im Zusammenhang mit der Begutachtung von Unfallfolgen deuten sich allerdings auch positive Entwicklungen an. In naher Zukunft werden beispielsweise neue Diagnoseverfahren wie z. B. die hochauflösende MRT ganz beachtliche Fortschritte bringen. Den Gutachtern werden sich dann ganz neue Möglichkeiten eröffnen bei der heute immer noch schwierigen Beurteilung des Unfallzusammenhangs.
Literatur 1. Moss NEG, Wade DT (1996) Admission after head injury: how many occur and how many are recorded? Injury 27 (3):159–161 2. Leidel BA, Kanz K-G, Mutschler W (2005) Evidenzbasiertes diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf stumpfes HWS-Trauma. Unfallchirurg 108:905–919 3. Fast A, Sosner J, Begemann P et al (2002) Lumbar spinal strains associated with whiplash injury: a cadaveric study. Am J Phys Med Rehabil 81 (9): 645–650 4. Rauschning W, Jonsson H (1998) Injuries of the cervical spine in automobile accidents: pathoanatomic and clinical aspects. In: Günzburg R, Szpalski M (eds) Whiplash injuries. Philadelphia, pp 33 ff 5. Jonsson H et al (1994) Findings and outcome in whiplash-type neck distorsions. Spine 9 (24):2733– 2743 6. Leidel BA, Keßler S, Mutschler W (2006) Trauma der Wirbelsäule und Bandscheibe – Gutachterliche Herausforderungen bei „Bagatellverletzungen“. Unfallchirurg 109:1109–1116 7. Hald HJ et al (1995) Röntgenologisch nachweisbare Wirbelsäulenveränderungen asymptomatischer junger Männer. Fortschr Röntgenstr 163 (1):4–8 8. Makarov GV, Levin OS (2004) The peculiarities of vertebral and muscular tonic syndromes in acute and remote periods of whip cervical trauma. Zh Nevrol Psikhiart Im Korsakova 104 (7):10–14 9. Roemer FW (1997) Die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule – Metaanalyse unter besonderer Berücksichtigung der klinischen Symptomatik. Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität zu München
55 Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin H.-D. Wedig, M. Graf
Einleitung Dieser Beitrag wendet sich in erster Linie an die mit medizinischen Sachverhalten befassten Juristen, aber auch an Mediziner, soweit sie – mit Ausnahme der obligatorischen ICD-10 – nicht regelmäßig mit Klassifikationssystemen arbeiten. Generell besteht der Sinn und Zweck der Klassifikationssysteme darin, ein System in die unüberschaubar gewordenen Diagnosen, Behinderungen etc. zu bringen.
Krankheit – Diagnostik ] ICD-10-GM Auch jeder Nichtmediziner kennt die aus einem Buchstaben und mehreren Zahlen zusammengesetzten Schlüssel der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) und verwandter Gesundheitsprobleme. Gem. § 295 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) müssen Diagnosen auf Abrechnungsunterlagen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach dieser Klassifikation verschlüsselt werden. Für die Krankenhausbehandlung gilt gleiches gem. § 301 SGB. So heißt in AU-Bescheinigungen der Grund für die Krankschreibung z. B. nicht mehr „Zervikaler Bandscheibenschaden mit Myelopathie“ sondern – verschlüsselt – „M50.0“. Bei dem Klassifikationssystem handelt es sich um die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) he-
rausgegebene deutsche Fassung der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten Klassifikation (International Statistical Classification of Diseases an Related Health Problems, ICD). Gültig ist im Augenblick die 10. Revision (Version 2007, Stand Oktober 2006) [12]. Die ICD-10 unterteilt sich in 22 Kapitel. Für den Bereich, mit dem sich dieses Buch befasst, sind von besonderem Interesse das Kapitel XIII, Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes und das Kapitel XIX, Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen sowie das Kapitel V, Psychische und Verhaltensstörungen. Die einzelnen Kapitel gliedern sich in diverse Gruppen, diese dann in die jeweiligen Schlüsselnummern. Die einzelnen Gruppen des Kapitel XIII (s. o.) lauten: M00–M25 M30–M36 M40–M54 M60–M79 M80–M94
Arthropathien Systemkrankheiten des Bindegewebes Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens Krankheiten der Weichteilgewebe Osteopathien und Chondropathien
Die Gruppe M40–M54 (in der Tabelle grau hinterlegt), die im Rahmen der Erörterung von „Schleudertrauma“ besondere Bedeutung erlangt, ist noch einmal unterteilt: M40–M43 M45–M49 M50–M54
Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens Spondylopathien Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens
416
]
H.-D. Wedig, M. Graf
Die Gruppe M50–M54 ist wiederum untergliedert in: Zervikale Bandscheibenschäden (M50.-), sonstige Bandscheibenschäden (M51.-), sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens, andernorts nicht klassifiziert (M53.-) und Rückenschmerzen (M54.-). Auf drei für die HWS-Distorsionen („Schleudertrauma“) wichtigen Diagnosen aus der Gruppe M53 sei besonders hingewiesen: M53.0 M53.1 M53.2
Zervikozephales Syndrom Zerviko-Brachial-Syndrom Instabilität der Wirbelsäule
Für das Buchthema weiter von Bedeutung ist das Kapitel XIX, hier die Gruppen S10–S19 (Verletzungen des Halses) mit folgenden Diagnosegruppen: S10.S11.S12.S13.S14.S15.S16.S17.S18.S19.-
Oberflächliche Verletzung des Halses Offene Wunde des Halses Fraktur im Bereich des Halses Luxation, Verstauchung und Zerrung von Gelenken und Bändern in Halshöhe Verletzung der Nerven und des Rückenmarks in Halshöhe Verletzung von Blutgefäßen in Halshöhe Verletzung von Muskeln und Sehnen in Halshöhe Zerquetschung des Halses Traumatische Amputation in Halshöhe Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des Halses
Wegen der einzelnen hier in Betracht kommenden Diagnosen sei auf die Veröffentlichung der ICD-10 im Internet verwiesen (u. a. www.dimdi. de). Von besonderer Bedeutung sind aus dem Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) folgende Gruppen, die auch oft neben oder anstelle von körperlich bezogenen Störungen diagnostiziert werden:
F40–F48 Neurotische, Belastungsund somatoforme Störungen F40.Phobische Störungen F41.Andere Angststörungen F42.Zwangsstörung F43.F43.0 Akute BelastungsReaktionen reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung F43.2 Anpassungsstörungen F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung F43.9 Reaktionen auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet F45.F45.0 Somatisierungsstörung Somatoforme Störungen F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.2 Hypochondrische Störung F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.8 Sonstige somatoforme Störungen F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
55
Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin
Von herausragender Bedeutung als mögliche Folge eines „Schleudertraumas“ sind die Gruppen F43.- [3, 4] und F45.- [3, 8] 1. Gerade bei den psychischen Störungen zeigt sich in der Praxis oft, wie wichtig es sein kann, dass auch der Jurist Gutachten kritisch zu lesen vermag, wozu auch die Kenntnis zumindest der ICD-10 gehört. Hier wird z. B. nicht selten, insbesondere bei psychischen Erkrankungen in fachfremden (chirurgischen/unfallchirurgischen, orthopädischen, neurologischen) Gutachten mit „Phantasiediagnosen“ gearbeitet, die im entsprechenden Klassifikationssystem zu finden auch bei intensivster Suche nicht gelingen mag. „Selbst entwickelte Diagnosen haben in Gutachten keinen Platz und in Rechtsstreitigkeiten auch keinen Bestand“ [15]. Der Rechtsanwalt und der Richter sollten sich bemühen, Sachverständige mit den Mitteln der jeweils anzuwendenden Prozessordnung anzuleiten, hier Farbe zu bekennen und die ICD-10 oder DSM-IV-Diagnosen (hierzu genauer unten) zu benennen und zu erläutern, weshalb sie zu dieser Diagnose kommen. Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass in Gutachten psychische Störungen nach der ICD-10 oder dem DSM IV klassifiziert werden müssen. Sachverständige machen es sich jedoch nicht immer klar, dass ihre Gutachten nicht zwangsläufig so hingenommen werden, sondern auch überprüft werden und daher überprüfbar sein müssen. Eines der komplexesten diagnostischen Probleme (Kopfschmerz) wird in einem gesonderten Kapitel erläutert werden.
] DSM-IV Außer der (nach §§ 295, 301 SGB V verbindlichen) Klassifikation der ICD-10 ist für psychische Störungen von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association) das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen, entwickelt worden, inzwischen in 4. Auflage (DSM-IV) [1]. Statt einer näheren Erläuterung soll hier nur eine Gegenüberstellung der somatoformen Störungen nach ICD-10 und DSM-IV erfolgen:
1
Vgl. hierzu in diesem Buch u. a. die Beiträge von Henningsen, Möllering und Ungerer
ICD-10
DSM-IV
Schlüssel Diagnose
Schlüssel Diagnose
F45.0
Somatisierungsstörung
300.81
Somatisierungsstörung
F45.1
Undifferenzierte somatoforme Störung
300.81
Undifferenzierte somatoforme Störung
F45.3x
Somatoforme autonome Funktionsstörung
F45.4
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
307.xx
Schmerzstörung
F44.x
Konversionsstörung
300.11
Konversionsstörung
]
Die posttraumatische Belastungsstörung wird im DSM-IV unter 309.81, die akute Belastungsstörung wird unter 308.3 (unter Angststörungen, 300) klassifiziert. Die diagnostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV sind unterschiedlich, sodass es schon darauf ankommen kann, nach welchem System klassifiziert wird, um z. B. zur Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ zu kommen [4] 2.
Schmerz ] Kopfschmerzklassifikation der IHS Da die Klassifikation von Kopfschmerzen ein besonders komplexes und schwieriges Problem darstellt, hat die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (International Headache Society, IHS) im Jahre 1988 ein eigenes Klassifikationssystem für diese Leiden erstellt, die Classification and Diagnostic Criteria for Headache Disorders, Cranial Neuralgias an Facial Pain (ICHD), die 2004 in einer 2. Auflage erschien (ICHD-II) [9, 10]. Eine hervorragende Darstellung der ICHDII bringt Göbel in seinem umfassenden Werk zum Kopfschmerz, das er nach den IHS-Kriterien gliedert [7]. Die ICHD, deren Einteilungs-
2
Vgl. in diesem Buch den Beitrag von Möllering
417
418
]
H.-D. Wedig, M. Graf
ICHD-II
ICD-10 NA
Diagnose
5.
G44.88
5.1 5.1.1
G44.880 G44.880
5.1.2
G44.880
5.2 5.2.1
G44.3 G44.30
5.2.2
G44.31
5.3 5.4 5.5
G44.841 G44.841 G44.88
5.5.1 5.5.2 5.6
G44.88 G44.88 G44.88
5.6.1
G44.88
5.6.2
G44.88
5.7
G44.88
Kopfschmerz zurückzuführen auf ein Kopf- und/oder HWS-Trauma Akuter posttraumatischer Kopfschmerz Akuter posttraumatischer Kopfschmerz bei mittl. oder schwerer Kopfverletzung Akuter posttraumatischer Kopfschmerz bei leichter Kopfverletzung Chronischer posttraumatischer Kopfschmerz Chronischer posttraumatischer Kopfschmerz bei mittl. und schwerer Kopfverletzung Chronischer posttraumatischer Kopfschmerz bei leichter Kopfverletzung Akuter Kopfschmerz nach HWS-Beschleunigungstrauma Chronischer Kopfschmerz nach HWS-Beschleunigungstrauma Kopfschmerz zurückzuführen auf ein traumatisches interkraniales Hämatom Kopfschmerz zurückzuführen auf ein epidurales Hämatom Kopfschmerz zurückzuführen auf ein subdurales Hämatom Kopfschmerz zurückzuführen auf ein anderes Kopfoder HWS-Trauma Akuter Kopfschmerz zurückzuführen auf ein anderes Kopf- oder HWS-Trauma Chronischer Kopfschmerz zurückzuführen auf ein anderes Kopf- oder HWS-Trauma Kopfschmerz nach Kraniotomie
schema von der ICD-10 und der ICD-10 NA (Neurological Application) übernommen wurde, gliedert Kopfschmerz in 14 Gebiete (z. B. 1. Migräne, 2. Kopfschmerz vom Spannungstyp, 3. Clusterkopfschmerz und andere trigemino-autonome Kopschmerzerkrankungen etc). Jede dieser Gruppen enthält dann verzweigte weitere Einteilungen (Codes). In der ICD-10 ist Kopfschmerz unter Zugrundelegung der Kriterien der IHS unter G43-F44 klassifiziert. Für das Thema dieses Buches von besonderer Bedeutung ist das Kapitel 5 „Kopfschmerz, zurückzuführen auf ein Kopf- und/oder HWSTrauma“. Da IHS und ICD-10 hier wortgleich klassifizieren, sollen die entsprechenden Diagnosen hier einander gegenüber gestellt werden. Die einzelnen Codes sind mit diagnostischen Kriterien und mit einem Kommentar versehen. Bei „Chronischer Kopfschmerz nach HWS-Beschleunigungstrauma“ (5.4) heißt es:
ICD-10 Kode für sekundäre Kopfschmerzerkrankungen
S06 S09.9
S06 S09.9 S13.4 S13.4
S06.4 S06.5 S06 S06 S06
„Diagnostische Kriterien: A. Kopfschmerz, der die Kriterien C und D erfüllt (keine typischen Charakteristika bekannt). B. Anamnese eines HWS-Beschleunigungstraumas (plötzliche und bedeutsame Akzelerations- oder Dezelerationsbewegung der HWS) in Verbindung mit einem Nackenschmerz. C. Der Kopfschmerz tritt innerhalb von 7 Tagen nach dem HWS-Trauma auf. D. Der Kopfschmerz persistiert für über drei Monate nach dem HWS-Beschleunigungstrauma. Kommentar: Der chronische Kopfschmerz nach HWS-Beschleunigungstrauma ist häufig Bestandteil eines posttraumatischen Syndroms. Der Zusammenhang zwischen Rechtsstreitigkeiten bzw. einer noch ausstehenden Regelung
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Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin
von Kompensationsansprüchen und dem zeitlichen Verlauf chronischer posttraumatischer Kopfschmerzen ist noch nicht eindeutig geklärt. Es gibt keine Beweise, dass eine noch ausstehende Regelung von Kompensationsansprüchen Einfluss auf die Chronifizierung von Kopfschmerzen hat. Es ist aber wichtig, Patienten im Hinblick auf eine mögliche Simulation und/oder den Wunsch nach einer überhöhten Kompensation zu beurteilen“ [7, 10].
Zervikogener Kopfschmerz ] Zervikogener Kopfschmerz nach IHS-Kriterien Die Diagnostischen Kriterien der International Headache Society (2. Aufl.) zum zervikogenen Kopfschmerz sind unter Kapitel 11.2. Kopfschmerz zurückzuführen auf Erkrankungen des Halses und dort unter 11.2.1. „Zervikogener“ Kopfschmerz zu finden [7, 10 ] und lauten wie folgt: A. Schmerz, der von seinem zervikalen Ursprung in einen oder mehrere Bereiche des Kopfes und/oder Gesichtes projiziert wird und die Kriterien C und D erfüllt. B. Eine Störung oder Läsion in der Halswirbelsäule oder den Halsweichteilen, die als valide Ursache von Kopfschmerzen (1) bekannt oder allgemein akzeptiert ist, wurde klinisch, laborchemisch und/oder mittels Bildgebung nachgewiesen. (1): Tumoren, Frakturen, Infektionen . . . rheumatoide Arthritis . . . sind formell nicht als Kopfschmerzursache validiert, werden bei Nachweis im Einzelfall . . . akzeptiert) C. Der Nachweis, dass der Schmerz auf eine zervikogene Störung oder Läsion zurückzuführen ist, beruht auf wenigstens einem der folgenden Kriterien: 1. Nachweis klinischer Zeichen, die eine zervikale Schmerzquelle nahe legen (2). 2. Beseitigung des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade einer zervikalen Struktur bzw. des versorgenden Nervens unter Verwendung einer Placebo- oder anderen adäquaten Kontrolle. (2) Für klinische Zeichen müssen Reliabilität und Validität nachgewiesen sein, bevor sie für C1 akzeptiert werden . . .
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Klinische Merkmale wie Nackenschmerz . . . Einseitigkeit . . . eingeschränkte HWS-Beweglichkeit, zervikaler Beginn, Übelkeit . . . Photophobie . . . sind nicht spezifisch für zervikogene Kopfschmerzen. Sie können Merkmale . . . sein, beweisen aber keinen Zusammenhang.) D. Der Kopfschmerz verschwindet innerhalb von 3 Monaten nach erfolgreicher Behandlung der ursächlichen Störung oder Läsion.
] Zervikogener Kopfschmerz nach CHISG Die für die Diagnostik und Beurteilung eines zervikogenen Kopfschmerzes (auch nach HWSDistorsion) relevante Klassifizierung wird von der Cervikogenic Headache International Study Group (CHISG) [12] wie folgt angegeben:
Hauptsymptome I.
Symptome und Zeichen für eine Beteiligung des Nackens (a) Provokation typischer Kopfschmerzen (1) durch Kopfbewegungen und/oder Beibehaltung unangenehmer Kopfhaltungen und/oder (2) durch Druck auf die Okzipital- oder obere Zervikalregion der symptomatischen Seite. (b) eingeschränkte HWS-Beweglichkeit (c) ipsilaterale eher nichtradikuläre Schmerzen von Nacken, Schulter oder Arm, gelegentlich auch radikuläre Armschmerzen II. Erfolgreiche Durchführung diagnostischer Blockaden III. Halbseitigkeit ohne Seitenwechsel
Schmerzcharakteristika IV. (a) mittlere-schwere Intensität, nicht pulsierend, nicht lanzinierend, Schmerzbeginn üblicherweise im Nacken (b) Schmerzattacken variabler Dauer oder (c) fluktuierender Dauerschmerz
Sonstige wichtige Kriterien V. (a) fehlender oder geringer Effekt von Indometacin
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(b) fehlender oder geringer Effekt von Ergotamin und Sumatriptan (c) Frauen häufiger als Männer betroffen (d) nicht selten anamnestisch Zustand nach Kopf- oder HWS-Trauma.
Seltene und weniger wichtige Kriterien VI. (a) Übelkeit (b) Phonophobie und Photophobie (c) Schwindel (d) ipsilaterales Verschwommensehen (e) Schluckbeschwerden (f) Ipsilaterales periokuläres Ödem.
Stadieneinteilung nach Gerbershagen Schmerz lässt sich nicht quantitativ und schon gar nicht apparativ messen. Um Schmerz „quantifizierbar“ zu machen, bedarf es einer umfassenden Anamnese und einer genauen apparativen und klinischen Diagnostik. Eine Tabelle zur „Bewertung“ von Schmerz, aufgeteilt nach mehreren Stadien, hat Gerbershagen entwickelt [6]. Gerbershagen untersucht zunächst folgende Komponenten, aus denen sich dann der Schmerz zusammensetzt: ] zeitliche Aspekte (Schmerzverlauf, wann tut es weh?), ] räumliche Aspekte (Schmerzlokalisation, wo tut es weh?), ] Medikamenteneinnahmeverhalten (Schmerzmittelabhängigkeit?), ] Beanspruchung der Einrichtungen des Gesundheitswesens und ] psychosoziale Belastungsfaktoren. Für jede dieser Komponenten hat Gerbershagen in der Folge drei Stadien entwickelt. Die Bewertung kann anhand eines Koordinatensystems vorgenommen werden, wobei die Komponenten als Achsen bezeichnet werden. Für jede Achse werden dann die Stadien einzeln ermittelt, z. B. hier für die zeitlichen Aspekte: ] bei intermittierendem, zeitlich begrenztem Schmerz mit wechselnden Intensitäten = Stadium 1, ] bei lang anhaltendem, fast kontinuierlichem Schmerz mit seltenem Stärkewechsel = Stadium 2 und ] bei Dauerschmerz ohne oder mit seltenem Intensitätswechsel = Stadium 3.
Über die Auswertung der einzelnen Achsen erhält man durch Addition die Bewertung des Schmerzes entsprechend dem jeweiligen „Stadium nach Gerbershagen“ von I, II oder III [6]. Es wäre wünschenswert, wenn das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (MPSS) in der Begutachtung öfter angewandt würde, allerdings nur, wenn auch jeweils die einzelnen Komponenten/Achsen dargestellt und erläutert werden. Dies würde auch Nichtmedizinern die Vorstellung von dem Ausmaß des Schmerzes und der hieraus resultierenden Beeinträchtigung erleichtern.
Funktionsfähigkeit – Behinderung – Teilhabe Wie für Diagnosen allgemein (ICD-10) ist von der WHO auch für Behinderungen ein Klassifikationssystem entwickelt worden, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [13, 14]. Diese ist sicherlich schwieriger anzuwenden als die „Schweregradtabellen“, die in der deutschen Begutachtung gebräuchlich sind (vgl. u. a. zum Schleudertrauma [11]), ermöglicht aber umso präziser eine differenzierte Einstufung. Die ICF klassifiziert separat jeweils für Körperfunktionen und Körperstrukturen. Körperfunktionen sind nach der Definition der ICF die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologischer Funktionen). Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Schädigungen, ein weiterer wichtiger Begriff, werden definiert als Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur, wie z. B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust. Die Körperfunktionen werden systematisch eingeteilt und mit „b.“ plus einer dreistelligen (bei Oberbegriffen) bzw. vierstelligen Zahl gekennzeichnet: z. B.: (b230-b249): Hör- und Vestibularfunktionen b230: Funktionen des Hörens (Hörsinn) b2300 Schallwahrnehmung b2301 Auditive Differenzierung b2303 Ortung der Schallquelle etc. Ähnlich werden die Körperstrukturen mit „s“ und Zahlen gegliedert.
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Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin
Schädigungen sowohl der Körperfunktionen als auch der Körperstrukturen werden – jeweils für sich – wie folgt bewertet: xxx.0 xxx.1 xxx.2 xxx.3 xxx.4 xxx.8 xxx.9
Schädigung nicht vorhanden Schädigung leicht ausgeprägt Schädigung mäßig ausgeprägt Schädigung erheblich ausgeprägt Schädigung voll ausgeprägt Nicht spezifiziert Nicht anwendbar
ohne, keine, 0–4% unerheblich . . . schwach, 5–24% gering. . . mittel, 25–49% ziemlich . . . hoch, 50–95% äußerst . . . komplett, 96–100% total . . .
Als zweites Beurteilungsmerkmal wird die Veränderung dokumentiert wie folgt: 0 keine Veränderung 1 nicht vorhanden 2 teilweise nicht vorhanden 3 zusätzlicher Teil 4 von der üblichen Form abweichend (aberrand) 5 Diskontiuität 6 abweichende Lage 7 qualitative Strukturveränderungen, einschließlich Ansammlung von Flüssigkeit 8 nicht spezifiziert 9 nicht anwendbar Als drittes Beurteilungsmerkmal wird die Lokalisation vorgeschlagen wie folgt: 0 mehr als eine Region 5 dorsal 1 rechts 6 proximal 2 links 7 distal 3 beidseitig 8 nicht spezifiziert 4 frontal 9 nicht anwendbar. Diese immerhin schon einige Jahre alte Klassifikation sollte baldmöglichst als verbindlich erklärt werden, zumindest für die medizinische Begutachtung. Immerhin lässt sie erheblich mehr Differenzierungen zu als die oft grob vereinfachenden „Schweregradtabellen“, die in Deutschland in der Begutachtung üblich sind. Sachverständige würden so angehalten, präziser zu begutachten. „Diagnosen“ wie „Die Beschwerden sind keine Unfallfolge“, wie sie in Gutachten häufig zu lesen sind, wären dann nicht mehr möglich. Die Frage, ob die nach der ICF festzustellende Beeinträchtigung Folge eines Unfalls ist, wäre
]
dann als nächstes zu stellen (und letztlich ohnehin vom Gericht zu beantworten). Die Diagnosen sollten sich dabei zunächst an der Nomenklatur der ICD-10 orientieren und dann nach der ICF bewertet werden [15].
Schlussbemerkung Wie schon bei einzelnen Klassifikationssystemen angesprochen, halten es die Verfasser für wünschenswert, wenn die einzelnen Systeme von Sachverständigen, gleichgültig, ob sie von Verwaltungsbehörden, Sozialversicherungsträgern, privaten Versicherern und – ganz besonders – von Gerichten beauftragt werden, angewandt würden. Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass die Gutachtenserstellung hierdurch mehr Sorgfalt erfordert, als dies bisher oft üblich ist. Sachverständige kämen damit aber ihrem Auftrag erheblich näher, dem Auftraggeber und den übrigen – nicht medizinisch ausgebildeten – Beteiligten mit ihrem Sachverstand, der den genannten Personen fehlt (sonst bräuchten sie kein Gutachten), bei der Lösung der Fälle zu helfen.
Literatur 1. American Psychiatric Association (2007) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM IV, übersetzt nach der 4. Aufl. des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association/ dt. Bearbeitung und Einführung von Henning Sass. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle 2. Bundessozialgericht (BSG) (2006) Urteil vom 09. 05. 2006 – Aktenzeichen B 2 U 1/05 R 3. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2000) Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch diagnostische Leitlinien. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle 4. Flatten G, Gast U, Hofmann A, Liebermann P, Reddemann L, Siol T, Wöller W, Petzold ER (2004) Posttraumatische Belastungsstörung, Leitlinie und Quellentext. Schattauer, Stuttgart New York 5. Flatten G (2003) Abriss über den aktuellen Stand bei den Traumafolgestörungen ASD und PTSD. In: Seidler GH, Laszig P, Micka R, Nolting BV (Hrsg) Aktuelle Entwicklungen in der Psychotraumatologie. Psychosozial-Verlag, Gießen
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Krankheit – Schmerz – Behinderung: Klassifikationssysteme in der Medizin
6. Gerbershagen HU (1998) Chronifizierungsschema der Schmerzen bei Schmerzkrankheiten nach Gerbershagen, www.neuro24.deshow_glossar.phd? d=628 7. Göbel H (2004) Die Kopfschmerzen, Ursachen, Mechanismen, Diagnostik und Therapie in der Praxis, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Hongkong London Mailand Paris Tokio 8. Henningsen P, Hartkamp N, Loew T, Sack M, Scheidt C, Rudolf G (2002) Somatoforme Störungen, Leitlinien und Quellentexte. Schattauer, Stuttgart New York 9. International Headache Society (2004) International Classification of Headache Disorders, 2nd edn, ICHD-II. Cephalgia 24 (Suppl 1) 10. International Headache Society (2004) Die internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, ICHD.II, 2. Aufl. Deutsche Übersetzung von Heinze-Kuhn K, Heinze A, Göbel H, www. schmerzklinik.de 11. Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (2003) Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Schmidt, Berlin, S 556
12. Sjaastad O, Fredriksen TA, Pfaffenrath V (1998) Cervicogenic Headache: Diagnostic Criteria Headache. Headache 38:442–445 13. WHO (2007) ICD-10-GM 2007, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, Version 2007 – Stand 9. Oktober 2006, herausgegeben vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD-10 des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen 14. WHO (World Health Organisation) (2001) International Classification of Functioning, Disability and Health 15. WHO (2005) Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, herausgegeben vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen (u. a. www.dimdi.de) 16. Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) (2007) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York
56 Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun B. Kügelgen
Ausgangslage Das Schleudertrauma wird in die Medizingeschichte eingehen. Schon in den zwanziger Jahren wurde hierüber diskutiert, Crowe [3] prägte 1928 den Begriff „whiplash injury“, erst recht als 1953 Gay und Abbott [5] ihre Arbeit „Common whiplash injuries of the neck“ veröffentlichten. Dabei erbrachte die Metaanalyse der Quebec Task Force [14] unter über 10 000 wissenschaftlichen Publikationen gerade einmal 62 seriöse Arbeiten. Dabei fällt nicht nur die fragliche Qualität vieler Publikationen auf, sondern auch, dass selbst diese 62 seriösen Arbeiten das Rätsel nicht lösen konnten. Auch immer neue Benennungen und immer neue Einteilungen [8] helfen nicht weiter. Erst recht ist eine solche Diskussion nicht in der Begutachtung zu lösen, vielmehr muss gerade hier bei ungeklärten klinischen Fragen die Diskussion eskalieren. Auch darf nicht verwundern, dass dann findige Rechtsanwälte die Unwissenheit und Unsicherheit der Fachleute ausnutzen und auch in unberechtigten Fällen Forderungen angemeldet werden. Dieses Ärgernis kann nur durch Klärung der klinischen Sachverhalte behoben werden, nicht aber durch eigene Verfahren in der Begutachtung, wie klinische Diagnosen gestellt oder ausgeschlossen werden. Eine medizinische Diagnose wird in der klinischen Medizin und in der Begutachtung nach den gleichen Regeln erstellt. Aus klinischer Sicht ist zunächst die Frage zu klären, ob es sich um ein neues Krankheitsbild handelt oder nicht. Nun ist kein einziges Symptom, erst recht keine Symptomenkonstellation zu finden, die neu ist. Ein zervikoenzephales Syndrom gibt es nicht [7]. Es lassen sich also keine hinreichenden Indizien für ein neues Krankheitsbild finden. Vielmehr fällt nur ein erhebliches Defizit in der klinischen Diagnostik
auf: Es sind kaum Ausführungen in der gesamten Literatur zu finden, welche klinischen Daten denn nun zur Annahme einer solchen Verletzung führen sollen, bzw. deren Fehlen eine solche Verletzung ausschließen lassen. Auch fällt auf, dass eine ganze Reihe von Problemkreisen berührt wird, von denen jeder für sich im Alltag von Klinik und Begutachtung Probleme aufweist und zu Schwierigkeiten führt: ] es handelt sich um eine chronische Schmerzerkrankung, ] es handelt sich häufig um fremdverschuldete Unfälle, ] es finden sich keine apparativen Befunde.
Diagnose Eine Diagnose wird nach wie vor zu 70% aus der Anamnese und zu 90% aus Anamnese plus klinischem Befund erstellt. Wenn nun aber keine pathophysiologischen Konzepte bestehen, was sich eigentlich bei einem so genannten Schleudertrauma abspielen soll, können solche Kriterien zur Diagnose eines sog. Schleudertraumas bzw. dessen Ausschluss nicht erstellt werden. Statt dieses Defizit nun aufzuhellen, wird von einer Distorsion gesprochen. Die gerade in Gutachten zum Schleudertrauma immer wieder bemühten Kriterien „Harmlosigkeitsgrenze“ und „Vorstellbarkeit“ sind keine Kriterien in der normalen klinischen Diagnostik, sie spielen in der klinischen Medizin keine Rolle, es sind Laienbegriffe. Diagnosen werden über Differentialdiagnosen gestellt. Hierbei sind Wahrscheinlichkeiten anzugeben. Das gilt in der klinischen Medizin ebenso wie in der Begutachtung. Keinesfalls sind Restkategorien erlaubt, erst recht nicht „Psyche“.
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B. Kügelgen
Distorsion Eine Distorsion (lat: Verdrehung, deutsch: meist Verstauchung) im Bereich der Halswirbelsäule sollte zunächst einmal dahingehend definiert werden, welches der 18 Gelenke der Halswirbelsäule verstaucht wird. Aus anatomischen Gründen ist eine Verstauchung nur bei einer Bewegung nach hinten möglich, bei einer Bewegung nach vorn oder zur Seite kommt es eher zu einem Wirbelbruch oder zu einer diskoligamentären Zerreißung. Bereits 1975 haben daher Wiessner und Mumenthaler [15] von einer Abknickverletzung gesprochen. Tatsächlich aber kommen Schleudertraumata bei jeder Aufprallrichtung vor, sogar beim Überschlag. Gerade hierbei findet ja bisweilen überhaupt kein Aufprall statt im Sinne einer Kollision. Die offensichtliche Unabhängigkeit von der Richtung der einwirkenden Kraft spricht schon gegen eine Distorsion. Auch die Trainierbarkeit der betroffenen Struktur, wie sie aus dem Fehlen von Schleudertraumata im Formel 1-Rennsport erkennbar ist, spricht gegen eine Distorsion. Eine Distorsion erleidet auch ein Sportler wie Michael Schumacher, sogar sein Bein bricht wie jedes andere Bein, eben weil Bänder, Gelenke und Knochen nicht trainierbar sind, wohl aber Muskeln. Hinzu kommt das häufig anzutreffende zeitliche Intervall, das ebenfalls gegen eine Distorsion spricht. Es ist völlig undenkbar, dass jemand eine Verstauchung des Sprunggelenkes erleidet und Stunden später erste Schmerzen bekommt. Dann müsste die ganze Traumatologie neu geschrieben werden! Wie der Begriff „Distorsion“ in die Diskussion um die Verletzung der HWS gekommen ist, kann man aus folgenden Äußerungen von Erdmann [4] nachverfolgen: „Bei der Benutzung der Bezeichnung „Schleudertrauma“ sollte man vor allem die folgenden Punkte beherzigen: 1. Dieser Terminus bezeichnet zunächst einmal lediglich den Unfallhergang, nämlich nach aller Regel einen Auffahrunfall. Bezeichnet wird damit nur die Einwirkung der von außen einwirkenden mechanischen Gewalt; nicht bestimmt ist damit die Art und Weise, wie sich der mechanische Insult am biologischen Substrat ausgewirkt hat, hier also – an der HWS.
2. Der traumatische Effekt besteht in einer speziellen Form von HWS-Distorsion. Es mag sein, dass diese Sonderform gewisse Eigenheiten aufweist; dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass es bei dem Gros dieser HWS-Verletzungen gleichwohl um echte Distorsionen geht. Beginnen wir also mit dem Oberbegriff der Distorsion. Bei den Distorsionen der HWS handelt es sich, wie dies LOB seinerzeit definierte, um Verletzungsformen, bei denen röntgenologisch fassbare Verletzungen am Wirbelsäulenskelett nicht zu erkennen sind. Dies ist also ein Sammelbegriff; denn er umschließt ja potentiell ganz verschiedene Einzelläsionen am Organ HWS.“ Es ist zu erkennen, dass „Distorsion“ hier völlig anders gebraucht wird, nämlich als ein unklarer Sammelbegriff zwischen gesund und röntgenologisch nachweisbarer struktureller Verletzung. Ein solcher Sammeltopf ist natürlich völlig ungeeignet als präzise Vorstellung über ein Unfallereignis und als Grundlage für eine plausible Begutachtung. Zur Begutachtung äußert sich Erdmann [4]: „In der Ausfüllung der oben zitierten Nebelkammer besteht die eigentliche Kunst des Gutachters.“
Unfallanalyse Die Unfallanalyse wird gehandhabt wie apparative Diagnostik, dabei wird sie nicht als Ergänzung zum klinischen Befund, sondern höher bewertet. Immer wieder werden Fälle trotz unfallchirurgisch dokumentierten HWS-Befundes kurz nach dem Unfall und dann monatelanger physiotherapeutischer Behandlung unter meist orthopädischer beziehungsweise unfallchirurgischer Überwachung rückwirkend aufgrund von Unfallanalysen als nicht unfallbedingt deklariert. Das Ergebnis dieses mittlerweile weit verbreiteten Vorgehens beschreibt Hehling für das Jahr 2000 (Hauptverband der BG): ] 67 292 meldepflichtige HWS-Unfälle ] daraus 150 Renten (Tendenz fallend) ] Anerkennungsquote: 2,2‰
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Es handelt sich tatsächlich um nichts Anderes als um eine Untersuchung an Kraftfahrzeugen mit dem Ziel, die bei dem Zusammenprall der Kraftfahrzeuge einwirkende Kraft möglichst genau zu rekonstruieren. Weltweit würde kein Unfallchirurg einen positiven klinischen Befund wegen einer solchen Unfallanalyse in Frage stellen. In Deutschland wurde die Unfallanalyse mit dem 1998 erschienenen Buch Das „Schleudertrauma“ der Halswirbelsäule [2] bekannt gemacht. Die dort gemachten präzisen Aussagen mit einem klaren Grenzwert von Delta-V, unterhalb dem eine Verletzung gar nicht möglich sei, war natürlich höchst willkommen bei den vielen klinischen Unklarheiten, die sich in der Begutachtung verheerend auswirken mussten. Das ändert aber nichts daran, dass die Argumentation in keiner Weise überzeugend ist. Es ist schlicht vermessen, anhand eines solchen Experimentes einen solchen Wert, gemessen an den Veränderungen an Kraftfahrzeugen, angeben zu wollen, der eine Verletzung ausschließt, deren pathophysiologischer Ablauf gar nicht bekannt ist. Es fällt zudem auf, dass bei den mittlerweile weit verbreiteten unfallanalytischen Gutachten nie der Messfehler mitangegeben wird. Nach einer persönlichen Mitteilung eines solchen Gutachters vor einem Gericht soll dieser in diesem Bereich ± 5 Delta-V betragen! Mazzotti und Castro [11] haben eine Beziehung zwischen Belastung und Belastbarkeit unterstellt. Diese zunächst banal anmutende Behauptung ist hoch problematisch. Hiermit wird ein Kriterium in die medizinische Diagnostik eingeführt, das es sonst so nicht gibt. Kein Unfallchirurg untersucht bei einem Patienten mit einem Beinbruch die einwirkende Belastung, um die klinische Diagnose eines Beinbruchs zu stellen oder auszuschließen. Nochmals sei darauf verwiesen, dass in der Begutachtung und in der klinischen Medizin die Kriterien, wie eine Diagnose gestellt wird, gleich sind. Zudem ist unter experimentellen Bedingungen die Belastbarkeit eines Knochens sicher in einem gewissen Bereich zu messen. Hierbei bliebe dann aber anzumerken, dass die tatsächlichen Einwirkungen praktisch nie den experimentellen Bedingungen mit definierter Krafteinwirkung entsprechen. Bei den Weichteilen ist dies aber mit Sicherheit völlig anders. Die tägliche Beobachtung lehrt doch, dass im Leistungssport extreme Weichteilbelastungen möglich sind, ohne dass es zu Verletzungen kommt, während beim Untrainierten alltägliche Verrichtungen
Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun
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ausreichen, um Verletzungen auslösen zu können. Davon können Berufsgenossenschaften sehr viel berichten. Die Verhältnisse im Formel 1-Rennsport zeigen ja gerade, wie belastbar eine Halsmuskulatur werden kann, wenn sie extrem trainiert wird. Dort kommen solche Verletzungen wie beim Schleudertrauma bzw. der sog. HWSDistorsion gar nicht vor. Bei der Unfallanalyse und auch bei den Ausführungen zu Belastung und Belastbarkeit wird nicht nur der jeweilige Trainingszustand der Weichteile viel zu wenig berücksichtigt, sondern auch noch das Frühmanagement als für eine Chronifizierung offensichtlich notwendigem weiteren Faktor. Erst Ruhigstellung und Schonung führen in den Immobilitätsschmerz. Aus den Ergebnissen der Unfallanalyse wurde eine Harmlosigkeitsgrenze erschlossen, unterhalb derer eine unfallbedingte HWS-Verletzung nicht vorstellbar sei. Zu keiner Zeit konnte eine Korrelation zwischen den klinischen Befunden und den gemessenen Veränderungen an den Fahrzeugen durchgeführt werden, da das Krankheitsbild gar nicht genau definiert war, vielmehr als HWS-Distorsion bezeichnet wurde. Nie wurde ein klinischer Befund mitgeteilt, welcher erhoben wurde, damit klinisch eine unfallbedingte Verletzung bestätigt oder ausgeschlossen werden konnte. Es ist ja gerade die Erfahrung in der Unfallchirurgie, wie erstaunlich unterschiedlich die äußeren Einwirkungen sein können, die bei Menschen Verletzungen hervorrufen. Das lässt sich ganz besonders am Vergleich zwischen trainierten Sportlern, zum Beispiel bei Kampfsportarten, im Verhältnis zu körperlicher Betätigung in der Freizeit von völlig Untrainierten sehr gut beobachten. Erst recht ist die Nachvollziehbarkeit oder Einfühlbarkeit kein diagnostisches Kriterium. Vielmehr ist die überwiegende Zahl der Krankheiten eben nicht nachvollziehbar oder einfühlbar, das gilt für somatische wie psychiatrische Erkrankungen. Nur psychoreaktive Störungen können zum Teil für den Außenstehenden einfühlbar und nachvollziehbar sein. Die Behandlung des Schleudertraumas in den letzten Jahren, zumal die Etablierung der Unfallanalyse als überragendes diagnostisches Instrument, das in vielen Fällen zum Ausschluss einer Verletzung führte, ist ein gigantischer Fehlschluss, weil sich eine eigenständige Gutachtenmedizin entwickelt hat, fern ab von den Vorgaben der wissenschaftlichen Medizin, wie eine Diagnose zu stellen ist.
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Noch verwegener ist es, einen nicht bekannten Unfallmechanismus unter Placebobedingungen zu untersuchen und daraus dann den Schluss zu ziehen, dass anschließend zu beobachtende klinische Phänomene psychisch bedingt seien. So überzeugend dies für Juristen und Verwaltungsfachleute sein mag, medizinisch ist es ein glatter Fehlschluss. Nicht nur dass die Interpretation von Placeboeffekten allergrößte methodische Sorgfalt erfordert, hier wird in keiner Weise eine psychiatrische Diagnose positiv nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft belegt, sondern vom orthopädischen Autor fachgebietsfremd als Restkategorie missbraucht.
Unser Konzept Aus der täglichen klinischen Beobachtung heraus fällt auf, dass die Schleudertrauma-Verletzten viele Parallelen zum chronischen Rückenschmerz haben, wenn man sich an den europäischen Leitlinien nach dem Paradigmenwechsel beim chronischen Rückenschmerz (www.backpaineurope.com) orientiert. Auch hier sind harmlose und flüchtige Verläufe häufig (Hexenschuss, steifer Hals), in etwa 10 bis 15% kommt es zu einer Chronifizierung. Das gilt unabhängig von der Ursache. Wesentliche Voraussetzung für eine solche Entwicklung sind ein unzureichender Trainingszustand und eine nur einige Tage bis allenfalls wenige Wochen andauernde Schonung, die zu einer solchen muskulären Insuffizienz hinsichtlich Maximalbelastung, vor allem aber Ausdauer und dann Defiziten in der Koordination führen können, dass der Kranke daraus nicht zurückfindet. Auch hier spielen psychologische Faktoren und die sog. gelben Flaggen (biopsychosoziale Belastungen) eine vielfältige Rolle. Es handelt sich aber um eine organisch begründete Erkrankung, die mittlerweile eine gute Prognose aufweist, wenn in der Therapie diesen Gegebenheiten Rechnung getragen wird, die aber nicht nur die Organebene, sondern auch die Besonderheiten der chronisch Kranken und dann insbesondere der chronisch Schmerzkranken berücksichtigt. Es bleibt zu klären, wie es in 2/3 der Fällen zu einem Phänomen kommt, das freies Intervall genannt wird, eigentlich aber Latenz heißen müsste. Hierfür bietet sich ein in der Sportphysiologie gut bekanntes Modell an: Untrainierte Muskeln reagieren auf Dehnung im angespannten Zustand
mit einer Stoffwechselaktivierung, die in der Regel einige Zeit später, in der Größenordnung weniger Stunden, nie später als 24 Stunden, zu einer Schwellung des Muskels führt, der eingeschränkt leistungsfähig und bei Dehnung schmerzhaft ist. In der Sportphysiologie wird dies eine supramaximale exzentrische Muskelkontraktion genannt; wir schlagen den Ausdruck Dehnungsmyalgie vor. Die hier vorliegende Veränderung der Muskulatur ist dem Muskelkater ähnlich, diesem aber nicht gleich zu setzen. Die Veränderungen sind experimentell gut untersucht. Die entsprechenden Beschwerden sind am Anfang bei den meisten Patienten sehr ähnlich, die Patienten beklagen Schmerzen, eingeschränkte Beweglichkeit und eingeschränkte Belastbarkeit der Nackenmuskulatur. Die Befunde sind auch immer gleich und nach Schöps et al. [13] reproduzierbar: Ohne ein Frühmanagement im Sinne der Schonung klingen diese Erscheinungen in kurzer Zeit von selbst wieder ab. Andernfalls kann sich hieraus wie beim Rückenschmerz ein zunehmend chronifizierender Schmerz infolge insuffizienter Muskulatur entwickeln, insbesondere wegen eingeschränkter Ausdauer bei Haltearbeit. Aus anatomischen Gründen ist verständlich, dass Frauen häufiger betroffen werden. Es handelt sich um eine passive Dehnung angespannter kleiner Halsmuskulatur. Wie kommt es zur Anspannung der Muskulatur? Und warum ist dies beim Pkw-Unfall besonders häufig? Beim Aufprall in einem Pkw kommt es über die Fahrgastzelle zu einer Bewegung des Rumpfes, die in der Regel über den Sitz auf Rücken und Gesäß einwirkt, 60 ms danach zu einer Anspannung dieser Halsmuskeln, wiederum 30 ms danach erst zu einer Bewegung des Kopfes [12], und zwar in die Richtung, wie es dem Aufprall entspricht, also bei einem Frontaufprall nach vorne, bei einem Seitaufprall zur Seite, bei einem Heckaufprall nach hinten, soweit es die Kopfstütze zulässt. ] Bewegung der Fahrgastzelle: Vermittlung von Be- oder Entschleunigung über den Sitz auf Rumpf und Gesäß ] Anspannung der Nackenmuskulatur: 60 ms später ] Erste Bewegung des Kopfes: 90 ms später. Diese Bewegung kann ausreichen, um die reflektorisch angespannte Halsmuskulatur zu dehnen. Eine solche Dehnungsmyalgie tritt nun sowohl bei einem Unfall wie auch ohne Unfall auf. Hierfür lassen sich viele Beispiele benennen.
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Wenn dies so ist, so ist damit die Unfallanalyse endgültig ad absurdum geführt, da eine Dehnung der Muskulatur ausreicht, hierfür aber überhaupt kein Delta-V angegeben werden muss und kann. Damit kann ein pathophysiologisches Substrat für die dem Schleudertrauma zugrunde liegende Verletzung geliefert werden.
Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun
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fallspezifisch seien. Dabei wird verkannt, dass die allermeisten Befunde nicht unfallspezifisch sind, noch nicht einmal eine Bewusstlosigkeit ist unfallspezifisch.
Psyche
Was spricht für, was spricht gegen unser Konzept? In einer empirischen Wissenschaft wie der Medizin können sich Vorstellungen über Krankheiten ändern. Vor einigen Jahren ist dies zu beobachten gewesen, als sich die zu hohe Säureproduktion der Magenschleimhaut in vielen Fällen als eine Infektion erwies, die durch geeignete Antibiotika gut behandelbar zeigte. Ausschlaggebend ist die Plausibilität des gesamten Konzeptes von der pathophysiologischen Vorstellung inklusive der unfallbedingten Umstände bis hin zur Beschwerdepalette und den klinischen Befunden und dann natürlich dem vorhersagbaren Verlauf, insbesondere der erfolgreichen Behandlung. Ungeeignet, um ein Konzept zu entkräften, sind Argumente gegen die Handhabbarkeit in der Begutachtung oder die geringe Verbreitung der Kenntnisse über die Untersuchungsmethoden. Dies ist insbesondere bei Weichteilbefunden nicht unproblematisch, das ist aber ein Zustand, der eher beklagenswert ist. Ebenfalls ungeeignet sind eher wenig kenntnisreiche Klagen, dass „erstmals dauerhafte Muskelfunktionsstörungen nach HWSSchleudertrauma für chronische Schmerzen in einem Gutachtenverfahren anerkannt worden seien“ [16]. Diese Anmerkung zeugt nicht von großer Erfahrung der Autoren, da die gesamte Rückenschmerzproblematik, seit Tom Mayer 1985 seine Functional Restoration in Dallas beschrieb und damit den Paradigmenwechsel des Rückenschmerzes einleitete, in Muskelveränderungen plus psychologischen Faktoren besteht. In dieser Erkenntnis und den daraus abgeleiteten Konzepten besteht der Paradigmenwechsel beim Rückenschmerz. Dementsprechend sind auch alle neuen Rehabilitationskonzepte darauf ausgerichtet, in Deutschland insbesondere das Göttinger RückenIntensivProgramm (GRIP), ansonsten nachzulesen in den europäischen Leitlinien (www.backpaineuropoe.com). Auch ungeeignet sind Argumente, dass diese Befunde nicht un-
Bei chronisch Schmerzkranken, insbesondere beim Schleudertrauma-Patienten, fällt auf, dass in der Begutachtung auffallend häufig eine eigenständige psychiatrische Diagnose gestellt wird. Dies ist als Differenzialdiagnose selbstverständlich legitim, jedoch muss auch in der Begutachtung in der Differenzialdiagnose sorgfältig abgewogen werden und die psychiatrische Diagnose gut belegt werden; keinesfalls eignet sie sich als Restkategorie bei unverständlichem klinischen Bild und Verlauf. Die infrage kommenden Diagnosen sind eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F 45.4) oder eine Anpassungsstörung. Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung setzt voraus, dass der Schmerz durch körperliche Befunde nicht hinreichend geklärt werden kann. Dies setzt aber eine sehr sorgfältige körperliche Untersuchung voraus inklusive der Weichteile, wie auch sonst außerhalb der Begutachtung. Nun werden solche Weichteilbefunde durch Schmerzmittel nivelliert, die Untersuchung muss also durchgeführt werden, wenn der Proband mindestens für einen Tag die Schmerzmittel abgesetzt hat. Dies wird aber nur ausnahmsweise so gehandhabt. Die meisten Patienten, die uns in die Therapie geschickt werden, kommen mit der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bei körperlich nicht erklärbarem Befund. Tatsächlich handelte es sich um chronisch Kranke, die sich auf der ICD 10-Systematik nicht mehr hinreichend abbilden lassen. Wendet man die rehabilitationsspezifische Systematik an, nämlich die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), so ist zu erkennen, dass es sich um Kranke mit einer Teilhabestörung handelt. Im Rahmen dieser Teilhabestörung kommt es zu psychischen Auffälligkeiten. Die sichere diagnostische Zuordnung mag im Einzelfall schwierig sein. Neben dem nachweisbaren somatischen Befund als hinreichende Erklärung für die Schmerzen ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung ausschlaggebend. Wenn es gelingt, die muskulären Funktionen wieder herzustellen und
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Das sog. Schleudertrauma – warum wir uns so schwer tun
den Betreffenden wiedereinzugliedern, ist die Teilhabestörung behoben und die Verstimmung abgeklungen. Damit ist eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung ausgeschlossen. Dies gilt es selbstverständlich auch in der Begutachtung zu berücksichtigen.
Ausblick Wir sind zuversichtlich, dass wir nach dem Pilotprojekt mit dem Landesverband RheinlandWestfalen [9, 10] nun im Rahmen des Modellprojektes posttraumatische Chronifizierungen mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz (s. Jahresbericht), das auch Patienten mit Schleudertrauma einschließt, zeigen können, dass es für die Fälle von Schleudertrauma-Verletzungen ohne nachweisbaren Strukturschädigungen, die unstrittig sind, sehr wohl eine pathophysiologische Erklärung gibt, und zwar Weichteilprellungen für Fälle mit sofort auftretenden Beschwerden und Befunden sowie Dehnungsmyalgien für Fälle mit Latenz (auch freies Intervall genannt). Beide können in kurzer Zeit durch Schonung und Ruhigstellung zu immer stärkeren, muskulär bedingten Schmerzen führen. Die therapeutische Strategie ist identisch wie beim chronifizierten Rückenschmerz [1]. Damit wäre die wichtigste Voraussetzung geschaffen, um solche Patienten reproduzierbar und für andere plausibel klinisch diagnostizieren zu können bzw. solche Erkrankungen klinisch sicher ausschließen zu können. Damit dürfte dann auch der Gutachterstreit allmählich abklingen. Die bereits jetzt vorliegende Zustimmung namhafter Vertreter aller beteiligter Fachgebiete unterstützt unsere Aktivitäten [12].
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57 Die Leugnung von Schleudertrauma-Folgen: Cui bono? * H. Merskey
Historische Muster Auseinandersetzungen über die Ursachen von Schmerzen haben anscheinend eine lange Geschichte, aber diese Geschichte ist nicht so alt wie der Schmerz selbst. In den gesammelten Werken des Hippokrates [11] ist Schmerz ganz einfach Schmerz und die Vorstellung, dass der Schmerz nur ein Symptom von psychologischen Problemen sein könnte, gibt es im wesentlichen vom Altertum bis zum 18. Jahrhundert nicht. Während dieses Zeitraums wurden heftige Schmerzen als ein schrecklicher Zustand beschrieben [21]. Selbst sogenannte „hysterische Schmerzen“ wurden von Autoren wie Sydenham [26] als ein körperliches Leid angesehen. Das tatsächliche Vorhandensein des Schmerzes und der posttraumatischen Symptome wurden erst dann in Frage gestellt, als jemand anderer herangezogen werden konnte, um eine Entschädigung für die Verletzung zu leisten. Als es offensichtlich wurde, dass Industrieunternehmen, Eisenbahnbetreiber, Landwirte, staatliche Arbeitgeber und viele andere herangezogen werden könnten, um Schadenersatz an Verunfallte mit chronischen Schmerzen zu bezahlen, kam es zu zweierlei Entwicklungen: Erstens, wenn der Verletzungsmechanismus nicht bekannt war, begannen Versicherungsgesellschaften, vielen chronischen Schmerzpatienten Betrug zu unterstellen. Diese Behauptung konnte oft bewiesen werden, oft blieb man aber den Beweis auch schuldig. Zweitens, wenn der Verletzungsmechanismus in Frage gestellt wurde oder dieser nicht auf einfache Art und Weise dargestellt werden konnte, wurden kulturelle Faktoren, wie etwa psychologische Einflüsse dafür verantwortlich gemacht. * Für die Übersetzung des Beitrags danken wir Herrn Christian Grill
Streitfrage Schadensersatz Preußen war vielleicht das erste Land auf der Welt, welches ein Schadenersatzsystem für einige verletzte Arbeiter und Reisende entwickelte. Schmiedebach [24] skizziert die Entwicklung der ersten preußischen Schadenersatzsysteme von 1828. Er zeigt die Reaktionen auf, die es bei den Schadenersatzstreitigkeiten in Großbritannien, Amerika und bei den Wirbelsäulenverletzungen nach Eisenbahnunfällen in Deutschland gab. Die Bandbreite der geschichtlichen Informationen ist immens, aber die Quintessenz zeigt, dass es zu all dem gelegentlichen Versicherungsbetrug (den keiner leugnen kann) ebenso beträchtliche Manipulationen bei den Ärzten in deren Sichtweise von Schmerz kam. Diese Manipulationen wurden von Medizinern vorgenommen, die vielleicht unschuldig, aber leichtfertig – weil sie im Namen und im Auftrag von Arbeitgebern aus der Industrie oder im Auftrag von Versicherungsgesellschaften tätig waren – zu dem Schluss kamen, dass Schmerz ohne eine offensichtliche Läsion „psychogen“ sei. Man solle – nach deren Worten – solche psychogenen Schmerzen doch besser mit psychologischen Methoden behandeln und man solle Abstand nehmen von Schadenersatzzahlungen. Eine Folge dieser Taktik war die Förderung der Ansicht, dass Schmerzen im allgemeinen doch gar nicht so schlimm seien und dass Leuten, die sich über Schmerzen beklagten – sei es aufgrund von Verletzungen oder irgendwelchen anderen Gründen – geholfen werden soll, ihre Schmerzen zu „kontrollieren“. Wenn sie dies nicht schaffen, dann kann man sie als „unvernünftige Jammerer“ abtun. Hinzu gesellten sich die im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bedenken hinsichtlich des Gebrauchs von Opiaten. Ärzten wurde davon abgeraten, Opiate für Patienten zu verwenden, deren Schmerzen man
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nicht sicher erklären konnte [1]. Dieses Abraten von Opiaten ist bis heute weit verbreitet und ist ein allgemeiner Teil der täglichen Erfahrung in der Schmerzmedizin in allen Industrieländern. Mediziner versuchen – wie andere Berufsgruppen auch – in deren Lehrmeinungen und Behandlungsrichtlinien so weit wie möglich einheitlich zu sein. Wenn Ärzte anlässlich einer medizinischen Begutachtung im Auftrag einer Versicherunggesellschaft zu der Meinung kommen, dass die Schmerzen dieser zu begutachtenden Person „nicht so schlimm“ seien oder als „unwesentlich“ abgetan werden können, dann laufen sie Gefahr, deren Geisteshaltung auf andere Fälle zu übertragen, bei denen es nicht um Schadenersatz geht, aber bei denen Schmerz auch nicht eindeutig verstanden wird. Deshalb werden Schmerzpatienten – ob sie nun ein Recht auf Schadenersatz haben oder nicht – so behandelt, als seien sie weinerlich, oder ihnen wird unterstellt, sie jammern nur. Oft werden sie auch als psychisch Kranke angesehen, die man herablassend behandeln kann, und denen man erklären muss, dass deren Krankheit nicht „echt“ sei. Selbst wenn es eine erkennbare und objektivierbare organische Ursache gibt, schwebt diese abweisende Haltung im Raum [16]. Da diese Geringschätzung von Schmerz anscheinend zum Teil institutionalisiert worden ist, ist es interessant festzustellen, welche Artikel in der Literatur die ablehnende Haltung vertreten und welche nicht, und von wem die Studien ganz oder zum Teil finanziert worden sind. Da Verletzungen nach HWS-Distorsionen bekanntermaßen eine der führenden Ursachen für strittige Schadensersatzansprüche darstellen, und weil es der Intention des Buches entspricht, ist es hier angebracht, Artikel aus verschiedenen Quellen und verschiedener Qualität zu berücksichtigen. Dementsprechend habe ich (aus einem großen Angebot) Arbeiten aus vier verschiedenen Kategorien ausgewählt, die ich wissenschaftlich am überzeugensten halte. Diese habe ich mit Studien aus einer anderen Richtung verglichen.
Standard-Muster Es wird allgemein behauptet, dass die beste prospektive Studie über das Verhältnis von HWS-Distorsionen, körperlicher Verletzung und psychischen Ursachen von Radanov et al. [22] stammt. Hier wurden frischverletzte Unfallopfer in einer
prospektiven Studie in der Schweiz (Bern) untersucht. Die Patienten wurden von ihren Hausärzten überwiesen und bekamen eine angemessene Entschädigung, falls sie sich krankschreiben lassen mussten. Sie wurden innerhalb einer Woche nach dem Unfall untersucht. Die Geschädigten mussten sogleich einen Fragebogen, der das Freiburger Persönlichkeitsinventar beinhaltete, ausfüllen. Details aus einer klinischen Untersuchung wurden festgehalten. Sechs Monate nach dem Unfall war die Intensität der anhaltenden chronischen Schmerzen proportional zu den initial geklagten Schmerzen. Hinsichtlich des Freiburger Persönlichkeitsinventars wurde kein Unterschied beobachtet zwischen den Verunfallten, die chronische Schmerzen entwickelten und jenen, bei denen es zu keiner Schmerzchronifizierung kam. Psychologische Probleme wie etwa Depressionen und Konzentrationsstörungen hingen auch erheblich von der Intensität der Schmerzen im Anfangsstadium ab. Die zweite wesentliche Beweisschiene ist allseits bekannt und wurde auf zweierlei Art und Weise erbracht. Erstens konnte durch Experimente, bei denen Affen HWS-Distorsions-Verletzungen zugefügt wurden, nachgewiesen werden, dass es zu schweren Verletzungen der Nackenmuskulatur und anderen Strukturen im HWSBereich kommen kann [13]. Diese Verletzungen bleiben klinisch meist unbemerkt. Da in den letzten Jahren immer ausgereiftere bildgebende Verfahren – einschließlich der funktionellen Kernspintomographie – entwickelt wurden, zeigten Studien Beweise von organischen Veränderungen und Verletzungen, welche für die Schmerzen nach Schleudertrauma verantwortlich sind. Solche Verletzungen konnte man in der Vergangenheit nicht finden [10]. Die dritte bedeutende Gruppe von Studien kommt von Bogduk und Kollegen [12, 30]. Diese Studien zeigen sehr deutlich einen relevanten Verletzungsmechanismus auf, der mit positiven Ergebnissen behandelt werden kann. Die Behandlung erfordert große Sorgfalt und einen sehr genauen Vergleich zwischen lang und kurz wirkenden Injektionen unter Bildwandlerkontrolle. Wird diese Methode fachmännisch durchgeführt, erzielt sie hervorragende Behandlungsergebnisse [12], welche belegen, dass die Schmerzen nicht psychogen sind [30]. Vielmehr waren die psychologischen Effekte eine Folge der körperlichen Verletzung. Wenn die Schmerzursache beseitigt ist, dann erfolgt eine Besserung bzw. Beseitigung der psychischen Folgen.
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Die von dieser Schule eingeführte Radiofrequenz-Therapie ist sehr erfolgreich und findet nun ziemlich große Verbreitung. In einigen Ländern wird sie – vielleicht zum Teil aus wirtschaftlichen Gründen – nur bei einer begrenzten Zahl von Fällen angewendet, obwohl sich diese Methode bezahlt macht, wenn sie fachmännisch durchgeführt wird. Die vierte wesentliche Informationsquelle, aus der man das Wissen über HWS-Distorsionen der Halswirbelsäule gewinnt, formiert sich aus epidemiologischen Studien von leichten Weichteilverletzungen, den sogenannten „Minor Injuries to Soft Tissue“ [7]. Die weitverbreitete Behauptung, dass HWS-Beschleunigungs-Verletzungen „nur Weichteilverletzungen“ seien, hätte eigentlich schon mit den Arbeiten von Macnab [13] und insbesondere mit denen von Bogduk und Kollegen [12, 30] als irreführend angesehen werden müssen. Dennoch wird diese Behauptung immer noch in Kanada propagiert, wenn auch in den vergangenen Jahren weniger stark. Eine systematische Betrachtung der biomechanischen Faktoren der Verletzung zeigt auf, dass sogenannte „geringfügige“ Zusammenstöße für den menschlichen Körper gravierende Auswirkungen haben können [7]. Als praktizierender Kliniker, der Patienten mit HWS-Distorsionen hinsichtlich ihres körperlichen und psychologischen Zustands untersucht, erkenne ich an, dass die meisten meiner Kollegen in der Tat unterscheiden können, wann Ansprüche aus chronischen SchleudertraumaFolgen überzeugend sind und wann nicht. Gewöhnlich gibt es bei schweren und mittelschweren Distorsionen der Halswirbelsäule anfänglich eine beträchtliche Bewegungseinschränkung im HWS-Bereich, welche sich im weiteren Verlauf zwar bessert, aber nicht vollständig. In Abhängigkeit von der Schwere der fortbestehenden Beschwerden mag man großen Nutzen aus der Zeit selbst und aus physiotherapeutischen Maßnahmen ziehen. Bei einem Teil der Patienten aber, der nach Angaben anderer Langzeitstudien aus verschiedenen Ländern bei bis zu 40% von denen liegt, die zur Behandlung ein Krankenhaus aufsuchen, gibt es nach einem Jahr noch persistierende Symptome und einen gewissen Prozentsatz an Behinderung [8, 9]. Diese Zahlen werden von Kritikern bestritten. Sie sind der Meinung, es handle sich bei Distorsions-Verletzungen der HWS immer um geringfügige oder um primär sich aus psychologischen Einflüssen herleitbaren Beeinträchtigun-
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gen. Aus diesen Gründen werden DistorsionsVerletzungen der Halswirbelsäule als nichtig abgetan und nicht entschädigt. Nun wollen wir die Studien, welche die Bedeutung von Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule leugnen, näher betrachten.
Leugnung der Verletzung Die Bedeutung von Distorsions-Verletzungen der Halswirbelsäule oder von Kopfschmerzen nach sogenannten leichten Kopfverletzungen wurden früher durch den prominenten britischen Neurologen Dr. Henry Miller [19] verneint. Er behauptete, dass er in einer Nachuntersuchung herausgefunden hatte, dass praktisch jeder Patient, den er (für Versicherungsgesellschaften) untersucht hat, nach Erledigung der Schadensersatzfrage gesundet war. Millers Meinung wurde in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, welche durch Mendelson [14] zusammengefasst wurden, angezweifelt. Mendelson fand zehn Langzeitstudien, die alle beweisen konnten, dass die langanhaltenden Symptome und die gesundheitlichen Arbeitseinschränkungen andauerten, und zwar bei denjenigen, die entschädigt worden waren oder bei Verletzten, die gar nicht in der Lage gewesen waren, eine Schadenersatzklage einzureichen. Mendelson folgerte daraus, dass Miller unrecht hatte und dass ihm alle zehn Langzeitstudien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu diesem Zeitpunkt widersprachen. Im Jahr 1995 veröffentlichte die Quebec Task Force, die sich mit Langzeitfolgen nach Beschleunigungsverletzungen der HWS befasste, einen Bericht, der von der staatlichen kanadischen Monopol-Versicherung aus der Provinz Quebec [29], der sogenannten Societé de l’Assurance Automobile du Québec, in Auftrag gegeben worden war. Dieser Bericht bestand u. a. aus einer Langzeituntersuchung von allen Patienten mit HWSDistorsionen aus der Provinz Quebec im Kalenderjahr (1985). Man kam zu der Schlussfolgerung, dass am Ende des Jahres 1,9% von denen, die eine unkomplizierte HWS-Beschleunigungsverletzung erlitten hatten, immer noch verletzt waren. Das Kriterium für „Gesundung“ war dann erfüllt, wenn die Versicherungsgesellschaft die Zahlungen an die Patienten eingestellt hatte und sagte, dass das Unfallopfer nunmehr fit war, um zur regulären Arbeit oder zum normalen Leben zurückzukehren. Die Entscheidung der Versiche-
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rungsgesellschaft wurde durch ihre eigenen Angestellten getroffen, in jedem Fall durch einen Regulierer der Versicherung. Wenn man Unfallopfer, die außer einer HWSDistorsion noch mehr als eine Zusatzverletzung hatten, bei der QTF-Studie berücksichtig hätte, dann wären nach einem Jahr immer noch 2,9% krank gewesen [29]. Hieraus folgerten einige Autoren der Quebec Task Force und andere, die daran nicht teilgenommen hatten, dass HWSDistorsionen eine „selbstlimitierende Verletzung“ sei und dass nach einem Jahr jeder Verunfallte, der über die Symptome einer HWSDistorsion klagt, nur noch über Nackenschmerzen klagt, welche er wahrscheinlich ohnehin gehabt hätte. Die Wahrscheinlichkeit von Nackenschmerzen war nach dieser Versicherungsstudie angeblich bei den Personen, die eine HWS-Beschleunigungsverletzung erlitten hatten, identisch mit der Wahrscheinlichkeit von Nackenschmerzen bei denjenigen Personen, die keinerlei Verletzung erlitten hatten. Diese Sichtweise wurde in Kanada und anderswo so lange verbreitet, bis der Hinweis [27] erfolgte, dass erstens – was allgemein anerkannt wurde – das Urteil eines Versicherungs-Regulierers kein ausreichender Beweis für die Gesundung eines Patienten war. Zweitens, haben es die Autoren seltsamerweise nicht geschafft, eine sehr wichtige kleine Gruppe von Verletzten zu berücksichtigen. Während man nach Betrachtung jedes Einzelfalls bei 89 Personen aus der Kohorte davon ausging, dass sie nach mindestens einem Jahr immer noch „echte“ Symptome einer HWS-Beschleunigungsverletzung hatten, wurden 204 Personen von der Analyse ausgeschlossen, weil diese Fälle wieder aufgegriffen werden mussten. Diese Enthüllung erschien in zwei Sätzen in der Mitte einer großen Abhandlung [29] und wurde überraschenderweise nicht weiter diskutiert. Es herrscht eine gewisse Unsicherheit darüber, was die Versicherungs-Gesellschaft mit dem Ausdruck „Wiederaufgreifen“ meinte. Es scheint bei Versicherungen ein Fachausdruck zu sein, wenn man auf die Aufzeichnungen in der Akte einer verletzten Person zurückgreift, nachdem die Akte eigentlich schon zeitweise oder permanent geschlossen war, weil man keinen weiteren Handlungsbedarf sieht. Dies scheint kaum eine geeignete Methode zu sein, um nach einem Jahr festzulegen, ob eine verletzte Person gesundet ist oder nicht. Vielleicht kommt man auf eine Akte zurück, weil ein Scheck fällig ist. Dann kann die Akte eventuell ganz abgeschlossen werden.
Es ist aber auch möglich, dass man sie wieder öffnen muss, weil die verletzte Person zunächst dachte, dass er oder sie wieder gesund ist. Es kann aber auch sein, dass die gesundheitlichen Probleme nach erfolgter Arbeitsaufnahme erneut auftreten, oder dass die verletzte Person vielleicht die Medikation reduziert hat und wieder Schwierigkeiten hat, mit den Schmerzen zurecht zu kommen. Weil wir es für wahrscheinlich ansahen, dass hier unvollständige Heilungsverläufe, also erneut auftretende „Rückfälle“ gemeint waren, berechneten wir die Auswirkungen, wenn wir die 204 Fälle der noch nicht gesundeten Personen miteinbeziehen. Somit gingen unsere Beobachtungen und Schlussfolgerungen dahingehend, dass nach 12 Monaten noch immer 9,5% unter den Symptomen einer HWS-Beschleunigungsverletzung zu leiden hatten. Dies ist ein realistischerer Wert als 2,9% und liegt näher an den Prozentwerten, die des öfteren von klinischen Studienreihen [8, 19] berichtet werden und die sich auf eine Chronifizierungsrate von bis zu 45% belaufen. Der mittlerweile verstorbene Dr. W. Spitzer, ein leitender Epidemiologe der McGill Universität (Montreal), der kein Kliniker war, stand der Quebec Task Force (QTF) vor. Der Bericht der QTF wurde von Dr. J. David Cassidy – einem Chiropraktiker – geschrieben, der zu dieser Zeit eine begrenzte epidemiologische Ausbildung hatte.
Die Schleudertrauma-Initiative British Columbias Nach dem Bericht der Quebec Task Force führte eine Organisation in British Columbia, die „Physical Medicine Research Foundation“ hieß (jetziger Name: Canadian Institute for the Relief of Pain and Disability), im Jahre 1998 eine Konferenz durch, um die Ergebnisse der Quebec Task Force zu verbreiten. Sowohl die Konferenz selbst als auch die Stiftung wurden kräftig unterstützt durch die Versicherungsgesellschaft British Columbias, durch die Versicherungsgesellschaft State Farm und durch Woodbridge Industries, eine Firma, die schaumstoffgefüllte Teile (Sitze) für die Autoindustrie in zehn Länden macht. Wie anständig und schicklich es ist, wenn sich eine Gruppe mit engen Verbindungen zur Versicherungswirtschaft und zur Industrie als unvoreingenommene Partner und Mitarbeiter
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der Mediziner darstellt und in Kongressen deren Botschaft verbreitet, darf hinterfragt werden. Dieser Kongress wurde darüber hinaus durch die Versicherungswirtschaft und durch Industrieunternehmen, die aktiv an der Planung teilnahmen und immer oder fast immer einen direkten Repräsentanten im Vorstand der Stiftung Physical Medicine Research hatten, unterstützt. Dieser Repräsentant der Versicherungswirtschaft war im allgemeinen ganz offen in die Aktivitäten der Organisation involviert und finanzierte sie. Aus diesen Gründen scheint es, dass die Sponsoren von den ethischen Erfordernissen der kanadischen Mediziner-Vereinigung für industrielle Zusammenarbeit abwichen. Diese Vorschriften, welche primär in Bezug auf die Pharmaindustrie, die sich daran hält, konzipiert wurden, verlangen, dass Forschungsgelder „nicht ergebnisorientiert“ sein dürfen. Die Vorstellung, dass beispielsweise ein Pharmakonzern bei der Organisation eines Kongresses mitmischt und sich aktiv an der Planung beteiligt und die Zusammensetzung des Komitees plant, wäre nach kanadischen Standards und nach unserer Meinung auch nach den Standards in anderen Ländern inakzeptabel [27].
Die Studien der staatlichen Versicherung in Saskatchewan Als Dr. J. David Cassidy aus Quebec, wo er an der Arbeit der Quebec Task Force teilgenommen hatte, nach Saskatchewan zurückgekehrt war, nahm er eine Studie in Angriff, die von der staatlichen Versicherung in Saskatchewan finanziert wurde und die – ähnlich wie die Société de l’Assurance Automobile du Québec – ein halb unabhängiger Monopolversicherer für Krafthaftpflicht in der kanadischen Provinz Saskatchewan ist. Zu dieser Zeit wurde ein rigoroses „no-fault“ (= verschuldensunabhängiges) Gesetz eingeführt, welches Personen, die in Saskatchewan eine Verletzung erlitten, untersagte, einen „tort“ Anspruch (das heißt, umfassende Ansprüche gegen den Schädiger) zu fordern. Anstatt dessen wurde eine Versicherung eingeführt, die angeblich unparteiisch war und die nicht mehr dahingehend unterschied, ob der Unfall verschuldet oder unverschuldet war. Diese Versicherung deckte zwar einige Behandlungs- und Reparaturkosten ab, es wurden aber keinerlei Schmerzensgelder bezahlt. Darüber hinaus deckte diese Versicherung nur einen Teil
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des Verdienstausfalles ab. Überall in Saskatchewan gab es heftige Proteste gegen dieses Gesetz *. In der Zeitschrift New England Journal of Medicine [3] wurde eine Studie veröffentlicht, welche eine sehr große Anzahl von Fällen vor und nach dieser Gesetzesänderung verglich. An anderer Stelle wurde diese Studie von uns kritisiert [17, 18]. Die Autoren veröffentlichten Zahlen, welche den Zustand der Patienten in beiden Gruppen verglichen. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine Abschaffung des Schmerzensgeldes die Schmerzdauer selbst und die Zeitspanne der Schadensersatzzahlungen verkürzten. Einmal mehr waren die Schlussfolgerungen von der Versicherungswirtschaft abhängig. Einmal mehr – wie schon bei der Studie der Quebec Task Force – berücksichtigte Cassidy in seiner Studie keine Patienten mit Rückfällen. So wurden von den 7462 für die Studie relevanten Fälle immerhin 2064 Fälle, also 27,7%, unter den Teppich gekehrt. Cassidy und Kollegen gaben diesbezüglich folgende Erklärung ab: Wenn die staatliche Versicherung von Saskatchewan eine Unfallakte geschlossen hat, und diese dann wieder geöffnet werden muss, so „überschrieb“ der Zeitpunkt der Wiedereröffnung das Datum der ursprünglichen Erledigung des Falles. Aus diesem Grund wurden diese Fälle von der Studie ausgeschlossen. Auf die Kritik unsererseits [15] behaupteten Cassidy und Kollegen [4], dass es ihnen untersagt war, auf die Daten der Unfallopfer zurückzugreifen, mit denen sie es schon mal zu tun gehabt hatten. Die Muster wiederholen sich. Die Stellungnahme Cassidys und seiner Kollegen war sehr bemerkenswert. Dies gilt insbesondere in Bezug darauf, dass diese Stellungsnahme folgendes implizierte: Die staatliche Versicherung von Saskatchewan war eine Versicherungsgesellschaft, die nach Einstellung der Schadensersatzzahlungen und nach Wiederaufnahme der Zahlungen den Autoren der eigenen Studie nicht mehr mitteilen konnte, wann der Schadenersatzanspruch begann, wann er aufhörte, wann die Versicherung die Zahlungen einstellte und wann diese wieder aufgenommen wurden. Ein anderer, nur sehr schwer zu verstehender Vorgang in einer ordentlichen Studie ist, dass der Hauptverantwortliche der Studie, ein respektierter orthopädischer Chirurg, von der Uni* Das Gesetz ist inzwischen vom Courts of Queen’s Bench für verfassungswidrig erklärt worden; so eine Nachricht im Edmonton Journal vom 08. 02. 2008 (Anm. d. Hrsg.).
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versität auf Drängen der Versicherungsgesellschaft von seinen Pflichten entbunden wurde. Als Ersatz wurde Dr. Cassidy genommen, von dem die Versicherungsgesellschaft anscheinend glaubte, dieser könne besser zu deren Zufriedenheit mit dem Datenmaterial der Studie umgehen [28]. Wenn die Universität dieser Forderung nicht nachgekommen wäre, so wären die Forschungsgelder – so die Vereinbarungen – gestrichen worden. Solche Konstellationen halten einer ethischen Kritik oder einer genaueren Untersuchung nicht stand [28]. Eine weitere Reihe von Studien, welche auf die geistige Einstellung zu HWS-BeschleunigungsVerletzungen in verschiedenen Ländern abzielten, stößt auf Ablehnung. Die am weitesten verbreitete Studie dieser Art war die norwegisch-litauische Studie von Schrader et al. [25], die zu der Schlussfolgerung kam, dass „das Schleudertrauma-Syndrom all seinen Wert verloren habe“. Schrader und Kollegen begannen mit einer retrospektiven Studie an 202 Personen, die ein Jahr nach einer Heckkollision einen Fragebogen ausfüllten und mit einer gesunden Vergleichsgruppe verglichen wurden. Die Studie hatte einen bemerkenswerten Fehler: nur 31 der 202 Personen aus der Kollisionsgruppe litten anscheinend wirklich unter Nackenschmerzen nach dem Heckaufprall. Zudem hatten von denen, die Nackenschmerzen hatten, nur neun Patienten diese Schmerzen noch nach einer Woche, also zu einem Zeitpunkt, zu dem beispielsweise die Teilnehmer zu der oben genannten schweizer Studie von Radanov aufgenommen wurden. Es wurde errechnet, dass 1500 bei einer Heckkollision verunfallte, aber nicht notwendigerweise verletzte Personen und 1500 Personen aus einer gesunden Vergleichsgruppe nötig gewesen wären, damit man eine statistisch verlässliche Aussage hätte treffen können [7]. In der Schrader-Studie nahm man fälschlicherweise an, ein Heckaufprall sei mit einer Wirbelsäulenverletzung gleichzusetzen. In der Regel kommt es nur bei jedem sechsten oder siebten Auffahrunfall in Norwegen zu einer Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule mit Symptomen einer HWS-Distorsion [7]. Aus diesem Grund kommt die Organisation „Centre for the Study of Medical Evidence in Norway“ zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Freeman et al. Diese norwegische Institution für evidenzbasierte Medizin [23] lehnte dementsprechend sowohl die ursprüngliche Studie von Schrader und die gemeinsam mit Schrader erstellte Studie von Obelieniene [20] ab. Beiden Stu-
dien fehlt es erheblich an Substanz, um zu den Langzeitfolgen von Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule Stellung beziehen zu können. Auch von anderen Studien, die den Beweis dafür antreten wollten, dass Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule angeblich keine ernst zu nehmende Verletzung darstellen sollen, kann gesagt werden, dass sie mit dem einen oder anderen oben genannten Fehler behaftet sind. Eine weitere Reihe von Studien sind sogar noch unrealistischer. Ferrari und Kollegen [5] bringen einen interkulturellen Vergleich zwischen Kanada und Deutschland hinsichtlich der Erwartung von Schleudertrauma-Symptomen. Zwei Gruppen wurden nach ihrer Meinung gefragt, was passieren würde, wenn sie eine Beschleunigungs-Verletzung der Halswirbelsäule erleiden würden. Man fand einige Unterschiede in den Checklisten. Natürlich wird die Erwartung, welche ein Unfallopfer nach einer Verletzung hat, von den jeweiligen örtlich geprägten Meinungsbildern abhängen. Dies kann uns aber nichts darüber sagen, was einer Person passieren wird, die tatsächlich verletzt worden ist. Die Hypothese, dass diejenigen, die erwarten, mehr Schmerzen zu erleiden, tatsächlich auch unter vermehrten Schmerzen zu leiden haben, kann durch solch eine Arbeit nicht bewiesen werden. In der Tat ist man als Behandler nur allzu vertraut mit bedauerlichen Patienten, die von einigen ihrer schmerzhaften Symptomen sagen: „Ich dachte immer, es kann so tragisch nicht sein, bis ich es eines Tages selbst erlitten habe.“ Die oben erwähnte Studie aus der Schweiz ist hinsichtlich des Ländervergleiches von chronifizierten Schleudertrauma-Folgen hoch angesehen und allseits akzeptiert. Diese Studie wurde einwandfrei konzipiert, ausreichend groß angelegt und mit einer adäquaten Kontrollgruppe versehen. Zudem wurden die Primärsymptome der Studienteilnehmer gleich zu Beginn der Studie gründlich festgehalten. Diese schweizer Studie präsentiert Informationen aus dem richtigen Leben und nicht von theoretischen Erwartungshaltungen, die in höchster Weise von kulturellen Einflüssen abhängen. Diese schweizer Studie sagt uns – genau wie die Studie aus Australien –, was wirklich passiert ist und dies in einer Art und Weise, die glaubhaft ist. Andererseits sind die Daten und die Ergebnisse, die uns die oben erwähnten Studien aus Kanada, Deutschland, Norwegen und Litauen präsentieren, hinsichtlich der Symptomenausprägung und der Langzeitprognose wissenschaftlich inakzeptabel.
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Die Leugnung von Schleudertrauma-Folgen: Cui bono?
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58 Primärschaden – kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung – Schweregradtabellen Medizinisch gutachterliche Täuschungsmanöver U. Oppel
Primärschaden Vor jeglicher ärztlichen Entscheidung muss die begründende Diagnose = der gesundheitliche Primärschaden im medizinischen „Vollbeweis“ gesichert sein und hierbei können ausschließlich die Beweisregeln/-maßstäbe der ärztlichen Kunst der Istzeit zur Anwendung kommen. Formaljuristisch gilt: ohne medizinisch bewiesene Diagnose ist jede ärztliche Therapie, z. B. auch eine chirotherapeutische Manipulation, Injektion, Kur- und Rehamaßnahme oder auch nur die Verschreibung von Medikamenten eine durch nichts zu rechtfertigende Körperverletzung des Patienten – d. h. eine kriminelle Handlung! Dies gilt unabhängig davon, ob ein eigenständiger oder unfallbedingter Primärschaden behandelt werden soll. Dass der jeweilige medizinische Erkenntnisstand den diagnostischen Möglichkeiten immer zeitgemäße Grenzen setzt, ist unvermeidbar; trotzdem bleiben diese zeitgemäßen medizinischdiagnostischen Möglichkeiten dabei völlig unabhängig davon, welche ärztliche Entscheidung (therapeutisch/gutachterlich) getroffen werden soll. Konkret bedeutet dies, dass gerade auch für eine nachträgliche gutachterliche Bewertung des finalen Gesundheitszustandes keine bessere diagnostische Basis geschaffen werden kann, als sie Grundlage der vorangegangenen Therapieentscheidungen war. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft und der bestehenden Rechtsordnung muss ein Verunfallter schon bei einem befürchteten Körperschaden aufgrund seiner Schadensminderungspflicht einen Arzt aufsuchen, der Nachweis eines tatsächlichen Körperschadens ist zudem unumgänglich an ein ärztliches Attest gebunden. Nach der gleichen Rechtsordnung trägt dabei nicht der Verunfallte, sondern exklusiv der behandelnde Arzt die Verantwortung dafür, zwi-
schen körperlichen Verletzungen und unspezifischen Befindlichkeitsstörungen zu unterscheiden und in akut und langfristig wirksame Bewältigungsstrategien/medizinische Therapiekonzepte umzusetzen. Solange ein Verunfallter während einer konkreten Unfallbehandlung den spezifischen therapeutischen Vorgaben des behandelnden Arztes nachkommt, trifft ihn keinerlei Verantwortung auch für ein tatsächlich schlechtes Behandlungsergebnis, für das aber die gleiche Rechtsordnung Unfallverursacher und beteiligte Versicherungen uneingeschränkt in Haftung nimmt. Da die Medizin bei allen eigenständigen und unfallbedingten gesundheitlichen Primärschäden Ausnahme- und Regelverläufe kennt, bleibt die nachträgliche, medizinisch gutachterliche Argumentation über die Regelverläufe „gleichartiger“ Primärschäden den Ärzten vorbehalten, für die der posttraumatische Gesundheitszustand des Erkrankten/Verunfallten im Rahmen eines Ausnahmeverlaufes ein medizinisch völlig unerklärliches Phänomen darstellt. Über diese Hilfskonstruktion kann dann damit den Verunfallten zumindest ein durchschnittlicher Entschädigungsanspruch als medizinisch denkbar attestiert werden. Der medizinisch kompetente Gutachter dagegen bestimmt den posttraumatischen Gesundheitszustand zum Begutachtungszeitpunkt durch aktuell gebräuchliche Diagnosen aus dem ICD 10 und dies mittels zeitgemäßer diagnostischer Methoden.
Kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung Aus den Blechbeulen der Autos kann mit großen Unsicherheiten auf die physikalische Energie der automobilen Kontaktaufnahme geschlos-
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sen werden. Wenn der Arzt dann akzeptiert, dass damit nicht bekannt ist, wie der Fahrer bei welcher Neigung der Rückenlehne wie in seinem Sitz gesessen und den Kopf gehalten hat, könnte mit großer Zurückhaltung auf die direkte physikalische Belastung geschlossen werden, die die HWS der Insassen als Verbindungsglied zwischen Rumpf und Kopf ereilt hatte. Welche muskulär reflektorischen Bewegungen hinzukommen, kann aus den Blechbeulen der Autos nicht im mindesten kalkuliert werden – dennoch stellen ggf. daraus resultierende Verletzungsrisiken unmittelbare Unfallfolgen dar. Praktisch habe ich es zudem noch nie erlebt, dass bei mehreren Insassen eines verunfallten Autos alle die gleichen Verletzungen aufwiesen. Die epidemiologische Forschung [1–6] beweist zudem, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung der Fahrzeuge keine individuell verwertbaren Rückschlüsse auf den posttraumatischen Gesundheitszustand der Frontpersonen dieser automobilen Kontaktaufnahme zulässt. Auch der BGH [7] hält diesbezüglich technische Gutachten für wirkliche medizinische Feststellungen für entbehrlich. Stolpern, hinfallen und unverletzt aufstehen dürfte der statistische Normalfall sein. Angesichts der schieren Häufigkeit ist dieses Bagatelltrauma trotz der geringen Frequenz von sturzbedingten Primärschäden dafür verantwortlich, dass neben anderen schmerzhaften Primärverletzungen sogar 42% aller in Deutschland überhaupt entstehenden Frakturen (bei Frauen 59%, bei Männern 33%) durch einfaches Stolpern und Hinfallen hervorgerufen werden [8]. Kein Arzt verlässt seinen gestürzten Patienten, weil er glaubt, durch Untersuchungen der Unfallstelle medizinisch relevante Informationen zur Schmerzursache des Gestolperten zu erhalten. Dass die Blechbeulen der Autos solche Informationen liefern könnten, ist eine durch die epidemiologische Forschung widerlegte Behauptung/Hoffnung/Unterstellung. Der Arzt, der in einem medizinischen Gutachten mit den Schätzungen zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung der Autos argumentiert, verbirgt sein individuelles Unwissen hinter scheinbar medizinischen und vorgeblich entscheidungserheblichen Feststellungen, die im Ergebnis aber regelmäßig den Verunfallten benachteiligen und die Versicherungen begünstigen.
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Schweregrad In der Tumortherapie werden diese Erkrankungen zum Diagnosezeitpunkt entsprechend der lokalen Größe (T), dem regionalen Lymphknotenbefall (N) sowie Fernmetastasen (M) mit dem TNM-Schema klassifiziert. Es entspricht nun der Tatsache, dass die leichteren Erkrankungen, das heißt ein kleiner regionaler Tumor, kein regionaler Lymphknotenbefall und keine Fernmetastasen im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung haben als Patienten, die zum Diagnosezeitpunkt einen großen Primärtumor mit regionalem Lymphknotenbefall und Fernmetastasen aufweisen. Diese regelmäßige Beobachtung hindert jedoch im Einzelfall nicht daran, trotz großem örtlichen Tumor, mit regionalem Lymphknotenbefall und Fernmetastasen auf die Behandlung oder sonstiges so zu reagieren, dass eine längere Überlebenszeit resultiert als bei einer Person, bei der zeitgleich ein nach derzeitigen Unterscheidungsmöglichkeiten gleichartiger, aber kleinerer regionaler Tumor ohne Lymphknotenbefall und Fernmetastasen diagnostiziert wurde. Es ist an der Nahtstelle medizinischem zu juristischem Denken immer wieder zu beobachten, dass die Juristen sich entsprechend ihrer Denkgewohnheit und ihrer Ausbildung darum bemühen, den Primärschaden, das heißt den vorgeblich regulierungsrelevanten Sachverhalt, möglichst präzise zu fassen, da nach ihrer Ausbildung konkrete Sachverhalte mit konkreten juristischen Konsequenzen, Sanktionen, Entschädigungen etc. verbunden sind. In der Medizin ist das gerade nicht so zu handhaben, da einerseits eine große individuelle biologische Varianz besteht (z. B. die Fülle des männlichen Haupthaares bei 50-Jährigen) und somit nicht nur biologische Variablen für Primärschaden und individuelles Heilungspotential bestehen, sondern auch Besonderheiten der Therapie und Weiteres hineinspielen. Aus der Primärdiagnose kann daher niemals eine für den Einzelfall verbindliche Prognose hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufes, geschweige denn des Behandlungsergebnisses gemacht werden. Vor diesem Hintergrund trifft der erstbehandelnde Arzt aber nicht nur für den Verunfallten, sondern für alle Verfahrensbeteiligten absolut verbindliche Entscheidungen, ob ein unfallbedingter Primärschaden vorhanden ist und bleibt hierbei nur den Regularien zur aktuellen ärztlichen Kunst unterworfen.
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Eine Klassifikation des Schweregrades eines „Schleudertraumas“ wird daher auch von der Mehrheit (> 60%) entsprechender Unfallambulanzen [9] für entbehrlich und überflüssig gehalten, weil dadurch keine individuell verwertbare Prognose gewonnen werden kann.
Medizinisch gutachterliche Täuschungsmanöver Die Behauptung eines approbierten Arztes, dass es gesichertes medizinisches Wissen sei, dass mit der ersten diagnostischen Leidensbezeichnung/Beschreibung des Primärschadens das individuelle Ausheilungsergebnis samt Zeitpunkt irgendeiner Erkrankung/Verletzung vorherbestimmt sei, wäre schlicht und ergreifend bewusst falsch! Grundsätzlich und ohne jede Ausnahme wird keine Arzt-Patient-Beziehung jemals den Regeln eines Werkvertrages unterworfen, sondern muss wegen der prinzipiell und kategorisch nicht vorhersehbaren Therapieergebnisse nur den Anforderungen aus einem Dienstvertrag genügen und es gibt keine Bagatellerkrankung oder -verletzung, die eine Ausnahme bilden könnte. Die Medizin als Wissenschaft kann derzeit nicht absolut zweifelsfrei sagen, welche Körperstrukturen bei derartigen Unfällen wie verletzt/ belastet werden, so dass bei einem Teil der Betroffenen der insofern unbestreitbare und dabei typische posttraumatische Symptomenkomplex entsteht. Die Regelverläufe, in denen keine Symptome einsetzen oder anfangs auch gravierende Symptome sich innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen durch Ausheilen der Primärverletzung zurückbilden, stellen weder individuelle, medizinisch-therapeutische/gutachterliche noch wirklich gesellschaftliche Probleme dar, die entstehen aber bei den 10–20% der Ausnahmeverläufe, in denen ausgeprägte und anhaltende Schmerzen und ihre sekundären Folgen das Geschehen bestimmen [10–19]. Schönberger/Mehrtens/Valentin (7. Aufl.) schreiben dann auch auf S. 204 im 2. Absatz, dass die schwierige Unterscheidung zwischen Personen, die tatsächlich unter ausgeprägten Schmerzen leiden und denen, die solche nur vorgeben, nicht immer einfach und absolut zweifelsfrei ist, weil sie sich nur auf ärztliche Menschenkenntnis und große klinische Erfahrung stützen kann. Diese Ein-
schätzung gilt sicherlich nur für akute ärztliche Entscheidungen und Bewertungen oder in frühen Krankheitsstadien hinsichtlich der Prognose. Bei einer ärztlichen Sicht ex post auf einen langjährigen Verlauf wird aber dann ein entsprechendes Schmerzerleben offensichtlich: andere, insbes. eigenständige psychische Krankheiten oder sonstige körperliche (z. B. Rheuma, Osteoporose, Tumoren etc.) Ursachen für derartige primär regionale Beschwerden und Begleitphänomene nehmen eindeutig einen anderen klinischen Verlauf. Die Vielzahl der Arztkontakte, die verschiedenen Krankenhausaufenthalte, der Verlust beruflicher Erfolgserlebnisse, die tatsächlich fehlende Partizipation am gesellschaftlichen Leben und die Einnahme entsprechender Medikamente beweisen die entgleisten Schmerzen als Krankheit, so dass sich spätestens bei ärztlich-fachkundiger Betrachtung eines zurückliegenden Verlaufes die anfänglichen Glaubwürdigkeitsprobleme und differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten vollständig auflösen. Aus primärem Schweregrad der Verletzung ergeben sich lediglich allgemeine Prognosen für den Regelverlauf, trotzdem liefert die primäre Klassifikation keinen individuell verwertbaren, geschweige denn medizinischen Hinweis, wie die sozialmedizinische Kausalität eines Ausnahmeverlaufes einzuschätzen ist. Aus den Schätzungen des Technikers zu der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung der Autos können schon keine individuell verwertbaren, medizinischen Erkenntnisse hinsichtlich des tatsächlichen Primärschadens, geschweige denn zu den konkreten Heilungspotenzialen der Verunfallten oder den tatsächlichen Behandlungseffekten gewonnen werden. Dass mit derzeitigen medizinischen Behandlungsmethoden ein positiver oder negativer Effekt auf den tatsächlichen posttraumatischen Verlauf gewonnen werden könnte, muss aufgrund aktueller und prospektiver Untersuchungen eigentlich in Abrede gestellt werden. In einer prospektiv randomisierten Studie haben Kongsted und Kollegen [20] in Dänemark untersucht, ob unterschiedliche Behandlungsstrategien zu unterschiedlichen Chronifizierungsraten der Akutschmerzen nach einem „Schleudertrauma ohne objektiven Erstbefund“ führen. Verglichen wurden die Ergebnisse nach der Behandlung mittels Halskrawatte (156 Personen), mobilisierender Krankengymnastik (149) oder mit dem gut gemeinten ärztlichen Ratschlag, doch einfach so zu tun, als ob nichts
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Primärschaden – kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung – Schweregradtabellen
passiert wäre (153). Diese unterschiedlichen Behandlungsstrategien hatten keinen mess- und erkennbaren Einfluss auf den tatsächlichen posttraumatischen Verlauf, so dass festgestellt werden musste, dass auch nach 12 Monaten noch etwa die Hälfte der Verunfallten über beträchtliche Nackenschmerzen und Funktionseinschränkungen berichtete; 14% waren deswegen nach 12 Monaten immer noch arbeitsunfähig krank. In einer weiteren Studie [21] verglichen Borchgrevink et al. die Behandlungsergebnisse, die bei Patienten erzielt wurden, die in den ersten beiden posttraumatischen Wochen mit einer weichen Halskrause versorgt wurden, mit denen, die sich auf ärztliche Empfehlung hin wie gewohnt verhalten sollten. Die ernüchternden Ergebnisse dieser Studie: 6 Monate nach dem Unfall litten noch 15% der „Halskrause“-Patienten unter gravierenden Nackenschmerzen, in der Vergleichsgruppe aber auch noch 11%; ob dies dem höheren Leidensdruck (28 : 17) zu Behandlungsbeginn geschuldet ist, kann dahingestellt bleiben. Diese Studien beweisen also, dass momentan mit medizinischem Wissen den Verunfallten keine gesicherte Hilfe geboten werden kann, sie beweisen aber auch, dass die gravierenden Defektheilungen nicht Folge ärztlicher Fehl- oder Übertherapie sind. Diese symptomatischen Primärschäden entziehen sich derzeit sowohl unmittelbar wie auch im weiteren Verlauf dem medizinisch technischen Nachweis. Die nachträgliche Behauptung eines ärztlichen Gutachters, retrospektiv durch spezifisch ärztliche Fähigkeiten erkennen zu können, dass dieser unbestreitbare, dabei immer noch unbekannte, aber unfallbedingte Primärschaden als Schmerz- und Symptomursache abgeheilt sei, ist eine bewusste Falschaussage und vorsätzliche Irreführung der Entscheidungsträger bei Verwaltung und Gericht. Mangels medizinisch inhaltlichen Wissens kann die Kausalitätsbewertung posttraumatisch anhaltender Beschwerden nicht mit Beweisen absolut zweifelsfrei gestellt werden, sondern es muss eine medizinisch begründete Wahrscheinlichkeitsabwägung dahingehend erfolgen, ob sich hier einer der insofern typischen Ausnahmeverläufe derzeit unbenennbarer Primärschäden realisiert oder eine eigenständige/unbekannte Schmerzursache als konkurrierende Erkrankung eingestellt hat. Diese alternative/konkurrierende Schmerzursache als medizinische Ursache für das seitdem
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anhaltend ausgeprägte Schmerzerleben muss dann mit konkreten medizinischen Befunden auf das Beweisniveau des Unfallgeschehens [22–26] gehoben werden können; der pauschale Hinweis, dass die Mehrzahl der HWS-Beschwerden eigengesetzlichen Ursachen folgt, genügt hierbei bei weitem nicht. Wenn dem medizinischen Gutachter die unbestreitbaren Erkenntnislücken in der lückenlosen pathogenetisch-inhaltlichen Erklärung posttraumatischer Ausnahmeverläufe entscheidungserheblicher als die zulässig anderslautenden Schlussfolgerungen (= 10–20% gravierender Defektheilungen) aus der epidemiologischen Forschung (z. B. Contergan) erscheinen, muss und sollte er dann auch offen und ehrlich von medizinisch völlig unerklärlichen posttraumatischen Phänomenen sprechen. Die Rechtsordnung mit ihren Beweisregeln reguliert dann die weiteren sozialmedizinischen Konsequenzen, die sich aus den jeweils aktuellen Grenzen medizinischer Diagnostik und Therapie für die Beteiligten derartiger Unfälle ergeben.
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59 Das leichte Schleudertrauma – ein Irrtum des Gutachters? M. Schneider
Der Begriff „ein leichtes Schleudertrauma“ als Erstdiagnose nach einem Unfall birgt in sich bereits die Tendenz der Bagatellisierung. Man negiert die Erkenntnis, dass sich die Symptomatik häufig erst innerhalb von 2 Tagen entwickelt und dann von dem Betroffenen alles andere als harmlos empfunden wird. Die Schwierigkeiten, die Verletzungen primär zu erfassen, sollten nicht Anlass für eine Verharmlosung sein, sondern eine exakte klinische Untersuchung zwingend notwendig erscheinen lassen. Die obligatorische Röntgenaufnahme dürfte nicht ausreichend sein. In jedem Fall sollte bei einem stattgehabten Schleudertrauma nach zwei Tagen eine Nachuntersuchung erfolgen und möglichst unter Beachtung des Unfallmechanismus nach Verletzungen regelrecht gefahndet werden. Wir schließen uns der Ansicht Castros (Castro 2003) an, dass vom Unfallarzt ein gewisses technisches Verständnis erwarten werden sollte. Es kann nicht sein, dass ein Gutachter keine Kenntnis vom Prinzip der Impulsfortpflanzung besitzt und in einem Gutachten schreibt: „Die Beschwerden des Fahrers an der Spitze der Fahrzeugschlange sind schon deswegen unglaubhaft, weil der eigentliche Auffahrunfall 3 Fahrzeuge hinter dem seinen stattgefunden hat.“ Die Erstellung des exakten Muskelstatus der verletzten Region ist von großer Bedeutung, ebenso wie die Beurteilung der Schmerzhaftigkeit der Wirbelbogengelenke. Es ist zu ermitteln, wann die Erstsymptome aufgetreten sind und ob in den 2 Tagen eine Veränderung der Intensität nachweisbar ist. Man sollte das als erweiterte Akutdiagnostik bezeichnen. Diese Befunde können wesentlich zur differentialdiagnostischen Abklärung eines vorbestehenden Leidens beitragen. Als Arzt ist man gehalten, jedes Schleudertrauma als ernstzunehmende Verletzung zu betrachten, bis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schwere Folgezustände ausgeschlossen sind.
Technische Gutachter setzen bei ihren Überlegungen voraus, dass der Verunfallte zum Zeitpunkt des Unfalls uneingeschränkt beweglich war und leiten daraus seine Reaktionsweise ab. Umfang und Art der Bewegung bei Verunfallten mit vorbestehenden Wirbelsäulenveränderungen können jedoch erheblich von der Norm abweichen und zu völlig anderen Verletzungsbildern führen. So bildet die Verspannung der Muskulatur eines Gesunden beim rechtzeitigen Erkennen der Gefahr einen Schutzmechanismus, während die isolierte Verspannung einer Muskelgruppe im Rahmen einer Erkrankung einen locus minoris resistentiae darstellt und bei einem Unfall einer besonders hohen Gefährdung ausgesetzt ist. Die Ursache liegt in der Verkürzung des Beschleunigungsweges infolge der isolierten Muskelkontraktion. Muskelkontraktionen sind häufig verbunden mit einer Schädigung unterschiedlicher Wirbelsegmente, insbesondere mit einer Schädigung der Wirbelbogengelenke. Da die Zahl der Patienten mit einer Wirbelsäulenerkrankung sehr hoch ist, muss dies bei jeder Begutachtung bedacht werden. Es sind die Verletzungen im Einzelfall zu beurteilen, die in diesen Fällen nicht von allgemeinen Mechanismen abgeleitet werden können. Technische Gutachten sind für Art und Richtung der Krafteinwirkung von großer Bedeutung. Sie helfen uns wesentlich bei der Lokalisation der Verletzungen. Eine genaue Kenntnis des Unfallmechanismus wäre auch bei der Erstuntersuchung von großem Wert. Technische Parameter lassen jedoch nur begrenzte Aussagen über die Wirkung auf den Insassen zu. Dies ist besonders bei vorbestehenden Erkrankungen zu beachten, bei denen eine statische Wirbelsäuleninsuffizienz eine dynamische nach sich zieht. Mit dem BGH-Urteil vom 28. 1. 2003 wird diesem Tatbestand Rechnung getragen. Damit dürfte sich eine schematische Annahme einer Harmlosigkeitsgrenze verbieten.
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M. Schneider b
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Abb. 59.1. Verletzungsmechanismus im Rahmen eines Schleudertraumas bei einem Patienten mit ausgeprägtem fixiertem Rundrücken, temporäre traumatische Querschnittslähmung. a Normales Segment C6/7. b Riss des vorderen Längsbandes. Spinalkanal wird immer enger. Blutgefäße im
Kanal komprimiert. Die Wurzel C7 wird gequetscht. c Wirbelbogen von C7 wird unter Wirbelbogen von C6 gepresst. Der Wirbelbogen reißt. Das Rückenmark wird dadurch gerettet. Die Wurzelschädigung bleibt bestehen.
Wie schwer solche Verletzungen selbst bei geringer Kollisionsgeschwindigkeit sein können, soll im Folgenden aufgezeigt werden (Abb. 59.1). Ein VW Polo steht an einem Vorfahrtsschild. Hinter ihm steht ein Mercedes C-Klasse. Als der Polo anfährt, fährt auch der Mercedes an. Der Polo bremst jedoch sofort wieder und der Mercedes fährt voll auf das Heck auf. Der Fahrer des Polo ist sofort querschnittsgelähmt. 10 Minuten nach dem Unfall wird er in die Klinik eingeliefert. Es wird eine Querschnittslähmung in Höhe C6 diagnostiziert. Im MRT sieht man einen Bogenbruch von C6 und einen Riss des vorderen Längsbandes. Bereits während der MRT-Untersuchung bildete sich die Lähmung allmählich zurück. Nach 3 Tagen war der Patient zwar noch sehr schwach, konnte aber mit Unterstützung laufen. Innerhalb von 6 Monaten bildete sich die Lähmung völlig zurück. Die schwere Verspannung des Nackenbereichs verbunden mit erheblicher Schmerzsymptomatik blieb bis zu 8 Monaten. Ein C7-Syndrom rechts und brennende Parästhesien an der Innenseite des Oberarmes bilden sich nie ganz zurück. Was war passiert? Es handelt sich hier um eine spezielle Form eines Hyperextensionstraumas ähnlich dem von Schneider 1989 erstmals beschriebenen und analysierten (Schneider 1989, 1992). Er fand nach solchen Verletzungen eine temporäre traumatische Querschnittslähmung, die sich innerhalb von Stunden zurückbildete. Nur war hier nicht ein Sturz aus geringer Höhe, sondern ein Schleudertrauma die Ursache. Der Verunfallte hatte nach einer entzündlichen Wirbelsäulenerkrankung eine schwere Kyphose der Brustwirbelsäule mit erheblicher Bewegungseinschränkung zurückbehalten. Kompensatorisch entwickelte sich eine extreme Hyperlordose der
Halswirbelsäule. Da dies für den Krümmungsausgleich nicht ausreichte, entstand zusätzlich ein hypermobiles Segment C6/C7. Um beim Autofahren ausreichend sehen zu können, musste der Fahrer eine weitere Überstreckung der Halswirbelsäule erzwingen. Auf diese extrem nach hinten gebogene Halswirbelsäule traf das Schleudertrauma. Das vordere Längsband riss und es erfolgte eine Translation des 7. Halswirbels gegenüber dem 6. Infolge dessen kam es zur akuten Verengung des Wirbelkanals. Das weitere Vordringen des 7. Halswirbels wurde durch den Wirbelbogen des 6. Halswirbels abgefangen. Es erfolgte eine Verkeilung der beiden Wirbel. Dann riss der Wirbelbogen, wodurch die Verengung des Kanals aufgehoben wurde. So kam es „nur“ zu einer temporären traumatischen Querschnittslähmung, nicht aber zur Quetschung des Rückenmarks (Abb. 59.1).
Schädigung des Rückenmarks Es handelt sich hier um einen extremen Fall. Ein ähnlicher Mechanismus, wenn auch in erheblich geringerer Ausprägung und ohne Lähmung, ist bei einer Reihe von Patienten mit Vorschädigungen der Wirbelsäule möglich. Patienten mit Osteochondrosen oder Spondylosen der Brustwirbelsäule weisen eine Einschränkung der Beweglichkeit und verstärkte Krümmung der Brustwirbelsäule auf. Diese Störung wird durch die Halswirbelsäule mit einer Gegenkrümmung im Sinne einer Hyperlordose kompensiert. Der M. sternocleidomastoideus ändert seine Zugrichtung und verspannt so den Krümmungsbereich (Abb. 59.2 c).
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c Abb. 59.2. a Seitliche Röntgenaufnahme (Zustand nach Morbus Scheuermann). Abrupter Übergang der Brust-Halswirbelsäule. Ausgangspunkt für eine Hyperlordose der HWS. b Veränderung der Belastbarkeit bei Hyperlordose der Halswirbelsäule. Erhöhung der Druckspannung im Bereich der Wirbelbogengelenke durch reklinatorische Wirkung des M. sternocleidomastoideus (modifiziert nach Brügger; Zugrichtung eingezeichnet). c Schleudertrauma bei Patienten mit fixiertem Rundrücken. Die Brustwirbelsäule ist stärker gekrümmt und teilversteift. Das Trauma trifft den Übergangsbereich zur Halswirbelsäule.
Das leichte Schleudertrauma – ein Irrtum des Gutachters?
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Erleidet der Patient ein Schleudertrauma, so sind einerseits das vordere Längsband, vor allem aber die Wirbelbogengelenke des Übergangsbereichs besonders gefährdet. Es sollte daher immer auch eine Aufnahme des thorakozervikalen Übergangs vorgenommen werden, um Störungen zu erkennen (Abb. 59.2 a, b). Aber nicht nur bei älteren Patienten sondern auch bei jüngeren ist diesem Mechanismus Rechnung zu tragen. Es handelt sich dabei um die stark zunehmende Gruppe der Patienten, die in der Jugend einen Morbus Scheuermann erlitten haben. Diese Erkrankung heilt meist mit einer Teilversteifung der Brustwirbelsäule aus, die von der Halswirbelsäule durch eine verstärkte Krümmung ausgeglichen wird (Abb. 59.2 a). So können selbst bei 20–30-Jährigen nach einem geringen Trauma erhebliche Störungen auftreten. Erkennbar sind solche Patienten häufig an einer Muskellücke zwischen den Schulterblättern. Die Schulterblattinnenränder stechen infolge einer Schwäche der Muskulatur zwischen Wirbelsäule und Schulterblättern massiv hervor. Ändert sich die Beweglichkeit der Wirbelsäule nicht allmählich, sondern schnell, so wie es bei Versteifungsoperationen im Hals- oder Brustwirbelsäulenbereich der Fall ist, so kann sich der darüberliegende Wirbelsäulenabschnitt nicht anpassen und es kommt zu einer Überlastung des unmittelbar angrenzenden Wirbelgelenkes mit den Folgen eines hypermobilen Segmentes. Dieses Gelenk kann schon bei geringer Belastung Beschwerden verursachen und um vieles mehr bei einem Schleudertrauma. Bei Patienten mit einer Versteifung im Lendenwirbelbereich rückt die sonst weniger gefährdete Lendenwirbelsäule in den Blickpunkt (Abb. 59.3 und Abb. 59.4). Beim Vorliegen eines solchen hypermobilen Segmentes kann der Gurt, zumal wenn die Rückenlehne weich ist, als Drehpunkt in Erscheinung treten und das Trauma in dem hypermobilen Segment zur Wirkung bringen. Wurzelquetschungen sind hier vorprogrammiert. Aber schon ein „leichter“ Bandscheibenvorfall im Hals- oder LWS-Bereich hat eine schmerzbedingte Fehlhaltung zur Folge und verändert die Wirbelsäulenmotilität. Damit wächst die Gefahr einer Schädigung bei einem Schleudertrauma. Ein großes Problem bei der Beurteilung sog. „leichter Schleudertraumen“ ist der im Erstbefund erhobene unzureichende neurologische Untersuchungsbefund. So wird z. B. eine Bewegungseinschränkung der Hand oft auf eine
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Abb. 59.5. MRT-Aufnahme des 6. Halswirbels. Deutlich erkennbar der Bandscheibenvorfall. Abb. 59.3. Verplattung L4/5. Das angrenzende Wirbelgelenk ist überlastungsbedingt erweitert.
C7 Fingerextensoren
C8 C8 Mm. interossei Mm. interossei
Fingerflexoren Fingerflexoren
Abb. 59.6. Störungen der Fingerbewegungen, die bei C7und C8-Syndromen auftreten können (Darstellung in Anlehnung an Stanley Hoppenfeld). Abb. 60.4. Hypermobiles Wirbelbogengelenk L3/4. Die Pfeile geben die unterschiedliche Belastbarkeit des gesunden und des veränderten Gelenks an.
lokale Schädigung zurückgeführt, wenn nicht gleichzeitig eine Sensibilitätsstörung vorliegt. Dies ist umso fataler, als gerade die Diskrepanz zwischen motorischer Störung und erhaltener Sensibilität einen wichtigen Hinweis für einen Bandscheibenvorfall im Halswirbelsäulenbereich darstellt (Abb. 59.5). Ein Befund, der operiert werden sollte, um fortschreitenden motorischen Störungen entgegenzuwirken. Vorsicht, ein normaler CT-Befund kann eine trügerische Sicherheit darstellen. Manchmal zeigt erst das MRT die vorliegende Schädigung. Andererseits werden häufig sensible Dermatome
beschrieben und die weniger ins Auge fallenden Störungen der Fingermuskulatur übersehen (Abb. 59.6). Nun zur Beurteilung brennender Schmerzen. Folgen diese Schmerzen einem Dermatom, so handelt es sich um eine Quetschung einer Wurzel. Sind sie nicht genau lokalisierbar, so ist eine Schädigung im Rückenmarksbereich (Hinterhorn) wahrscheinlich. Brennende Schmerzen im Schulterbereich werden am häufigsten fehlgedeutet. Wenn die Röntgendiagnostik der Schulter keinen pathologischen Befund erbringt und auch die Schulterbeweglichkeit nicht eingeschränkt ist, wird der Patient häufig als Simulant hingestellt und die eigentliche Schädigung der Wurzel C5 übersehen. Ein Befund, der lange
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anhalten kann und häufig mit einer Störung der Funktion des M. deltoideus korrespondiert. Bei der Untersuchung unmittelbar nach einem Schleudertrauma muss man sich darüber im Klaren sein, dass ein Patient, der gerade noch in dem Glücksgefühl schwebt, einen Unfall unbeschadet überstanden zu haben, nur unzureichende Angaben macht. Wenn er gefragt wird: „Können sie alles bewegen?“, wird er „Kleinigkeiten“ wie Probleme beim Spreizen der Finger, falls er sie überhaupt bemerkt, als Bagatelle betrachten. Dies ist jedoch dann nicht mehr der Fall, wenn er später am Computer arbeiten muss. Der Untersucher muss daher gezielt untersuchen. Bei dem großen Arbeitsvolumen des Unfallchirurgen ist es häufig sehr schwer, Zeit für eine exakte neurologische Untersuchung zu finden. So ist es ihm sehr willkommen, wenn der Patient keine Beschwerden angibt. Aber auch der nicht neurologisch tätige Erstbehandler ist zu einer exakten neurologischen Untersuchung verpflichtet und darf sich nicht allein auf die Angaben des Patienten verlassen.
Zur Behandlung des leichten Schleudertraumas Zum pathomorphologischen Substrat bei Schleudertraumen gibt es ebenso viel unterschiedliche Meinungen wie zur Frage, warum die muskulären Verspannungen des Nackenbereichs so schwer zu therapieren sind. Bekannt ist, dass in der ersten Phase des Schleudertraumas vorwiegend die Wirbelbogengelenke belastet werden, während in der zweiten Phase mehr die Muskulatur betroffen ist. Will man als Verletzungsmechanismus des Schleudertraumas dem Prinzip der Peitschenschlagverletzung folgen, so stehen zwei Belastungsbereiche in der Betrachtung. Das ist einmal der Ursprung der dorsalen Wirbelsäulenmuskulatur und auf Grund der Impulsübertragung in weit stärkerem Maße der Ansatz der Muskulatur. Das würde bedeuten, dass genau dort, wo der Muskel mit dem Knochen verbunden ist, die höchsten Belastungen auftreten. Infolgedessen kommt es zu einer schweren Reizung der Sehne des Muskel beim Eintritt in den Knochen. Die über dem Knochen ausgespannte Knochenhaut wird gezerrt. Wir glauben, dass diese sog. Insertionstendinosen die Grundlage der schweren muskulären Verspannungen darstellen.
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Warum aber treten die Beschwerden erst nach einer Latenzzeit von Stunden bis zu 2 Tagen auf? Es gäbe dafür zwei Erklärungen: ] Die Ausprägung der Symptomatik der Insertionstendinose hängt von der biologischen Reaktion des Periosts ab. Mikroeinblutungen und Schwellung entwickeln sich erst allmählich. ] Während des Schleudertraumas werden die Wirbelbogengelenke in eine Art Subluxationsstellung gepresst. Der unmittelbar über dem Gelenk verlaufende Nervenast wird dabei geschädigt. Dieser Ast der Spinalnerven (Ramus dorsales) innerviert die dorsale Rückenmuskulatur. Auch hier ist eine allmähliche Zunahme der Störungen zu erwarten. Das Zusammenwirken beider Mechanismen führt nach einer Latenzzeit zum Dauerkrampf. Auffällig ist die Übereinstimmung zwischen schmerzhaften Wirbelbogengelenken und der verspannten Muskelgruppe. Ist z. B. das Gelenk C2/3 stark druckschmerzhaft, so findet man eine Insertionstendinose des M. splenius capitis. Bei C4/5 ist dagegen der M. splenius cervici betroffen (Travell 2003). Betrachten wir nun die zur Bewegung der Halswirbelsäule erforderliche Muskulatur. Bei der reinen Streckbewegung sind die beiden Mm. splenius capitis sowie die Mm. semispinalis angespannt. Bei der Rotation sind ein M. capitis, der M. levator scapulae und der gegenseitige Pars descendens des M. trapezius beteiligt (Travell 2002). In Abhängigkeit vom Unfallmechanismus sind auch andere Muskeln einer erhöhten Belastung ausgesetzt. Welche Bedeutung hat das für die Behandlung? Die schier unerträglich erscheinenden Nackenschmerzen sprechen für den starken Periostreiz. In den ersten 2 Tagen verbietet sich jede Manipulation, da auch schon durch eine leichte Massage ein Zug an dem Muskelansatz ausgeübt wird, der zur Schmerzverstärkung führt. Eine kurzzeitige Ruhigstellung für 2 Tage dürfte nicht verkehrt sein. Analgetika beeinflussen neben den Schmerzen auch den Entzündungsreiz und sind damit sinnvoll, ebenso die Ohrakupunktur. Zu einer sachgemäßen Schmerzevaluation nach Schleudertraumen gehört eine gründliche Untersuchung auf aktive Triggerpunkte. Es muss eine frühzeitige Inaktivierung von Triggerpunkten erfolgen. Kühlspray, vorsichtiges Dehnen unter leichter Mithilfe des Patienten
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und anschließend feuchte Wärme sind in dieser Phase empfehlenswert. Erst nach 3–5 Tagen kann dann die aktive physiotherapeutische Behandlung beginnen, die unter ständiger Kontrolle erfolgen sollte, um Fehlinnervationen zu verhindern. Was sollte man unternehmen, wenn nach 6 Wochen Behandlung immer noch unerträgliche Nackenschmerzen bestehen? Eine MRT-Aufnahme der Halswirbelsäule halten wir für angezeigt. Wir führen dann eine nochmalige genaue Analyse der Wirbelbogengelenke durch. Trotz der Verspannungen sind die Gelenke über die Sternocleidomastoideusloge gut tastbar. Dann erfolgt ein genauer Muskelstatus, um die Insertionstendinosen exakt zu ermitteln. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass der M. sternocleidomastoideus und der M. pectorales minor Antagonisten der Extensoren sind und die Beschwerden durch diese Muskeln unterhalten werden könnten. Es folgt eine mikroinvasive Facettendenervierung und Lysis der Insertionstendinosen unter Bildwandlerkontrolle. Die Insertionstendinosen werden genau eingestellt. Das Periost wird mit einem Spezialinstrument unterfahren und freipräpariert. Anschließend erfolgt die Spülung mit Procain-Kochsalz-Lösung. Liegen bereits Verdickungen des Periosts vor, wird der Spülung eine geringe Dosis Dexamethason beigegeben. Es erfolgt jetzt die Präparation der bis 2 cm oberhalb des Periosts liegenden Veränderungen. Der Erfolg ist bereits am nächsten Tag spürbar. Der Eingriff erfolgte bisher 22-mal. 16 Patienten waren bereits 2 Tage nach dem Eingriff beschwerdefrei, 4 Patienten gaben eine eindeutige Besserung an und 2 Patienten verspürten keine Änderung. Wir setzen den Eingriff neuerdings auch bei Patienten mit therapieresistenten Schwindelerscheinungen ein, wenn folgende Befunde vorliegen und andere
Ursachen ausgeschlossen wurden: eine Störung des Atlasbogengelenkes oder des Facettengelenkes C2/C3, eine Insertionstendinose eines M. splenius capitis sowie des M. levator scapulae der gleichen Seite und zusätzlich muss der Pars descendens des kontralateralen M. trapezius eine Störung aufweisen. Noch fehlen Erfahrungen, um diesen wenig belastenden mikroinvasiven Eingriff als Behandlungsmethode bei Schwindelerscheinungen dieser Grundlage anzubieten. Die ersten Ergebnisse stimmen jedoch optimistisch.
Literatur 1. Brügger A (1980) Die Erkrankungen des Bewegungsapparates und seines Nervensystems. Gustav Fischer, Stuttgart New York 2. Castro WHM (2003) Thesen zur Rolle der Biomechanik bei der Begutachtung von HWS-Beschwerden nach Unfällen. In: Moorahrend U (Hrsg) Kontroverses zum Schleudertrauma. Steinkopff, Darmstadt 3. Hoppenfeld Stanley (1985) Klinische Untersuchungen der Wirbelsäule und der Extremitäten. Volk und Gesundheit, Berlin 4. Moorahrend U (1993) Die Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule. Fischer 5. Meyer L (2003) „Harmlosigkeitsgrenze“ bei HWSVerletzungen. DAR 9/03 6. Oppel Uwe (2003) Medizinische Komponente beim HWS. DAR 9/03 7. Rauschelbach HH et al (Hrsg) (2000) Das neurologische Gutachten. Thieme, Stuttgart New York 8. Schneider M (Hrsg) (1989) Traumatologie der Wirbelsäule. Gesundheit 9. Schneider M et al (1992) Hyperextensionsüberschlagstrauma. Springer 10. Travell JG, Simons DG (2002) Handbuch der Muskeltriggerpunkte, 2. Aufl. Urban & Fischer
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Zu Beginn des Jahres 2000 beauftragte der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) die renommierte RAND-Organisation [7] mit der Durchführung einer breit angelegten Studie zum so genannten Schleudertrauma-Syndrom (WAD, Whiplash Associated Disorder). Gegenstand der Studie bildeten zwei Fragen: ] Welche Faktoren – bezogen auf den Unfall und die Person, die ein Schleudertrauma erlitten hat – begünstigen die Entstehung eines chronischen Schleudertrauma-Syndroms? ] Welche Behandlungen sind – unter Berücksichtigung der gefundenen Chronifizierungsfaktoren – angemessen bzw. geeignet? Aus heutiger, sozusagen historischer Sicht, sind nicht nur die vom Schweizerischen Versicherungsverband aufgeworfenen Fragen und die gewonnenen Ergebnisse von Interesse. Spannend ist vielmehr auch, was der Schweizerische Versicherungsverband nicht fragte bzw. nicht in Frage stellte: Die Existenz des Schleudertraumas. Bereits im Jahre 1988 hatte die Untersuchung von Stefan Schmid [11] gezeigt, dass in den Jahren 1978 bis 1981 von bei der SUVA [12] versicherten Personen nach Auffahrunfällen ohne sichtbare Frakturen im Röntgenbild nur ganze 1% berentet wurden. Ein Viertel bis ein Drittel aller nichtberenteten Patienten litt aber auch vier bis sieben Jahre nach dem Unfall noch an unfallkausalen Beschwerden. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser unter Leitung des Neurologen Jiri Dvorak [4] verfassten Dissertation fällte das Eidgenössische Versicherungsgericht im Jahre 1991 das Grundsatzurteil Salanitri [2]. Das Bundesgericht anerkannte, dass bei einem typischen Schleudertrauma-Beschwerdebild mit einer Häufung von Beschwerden der natürliche Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit in der Regel anzunehmen ist, und dass
ein solcher Unfall nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung eine Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit herbeiführen kann. Auch wenn als Voraussetzung der Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers zahlreiche Bedingungen erfüllt sein müssen, hat diese Rechtsprechung doch zu einer Verbesserung der Situation gegenüber der Zeit vor 1991 und einer gewissen Anerkennung des Schleudertrauma-Syndroms geführt [1]. Dies hat im Verlauf der 1990er Jahre zu einem Umdenken in der Versicherungswirtschaft geführt. Das Schleudertrauma-Syndrom schien als Beschwerdebild akzeptiert und der Fokus sollte nun auf die möglichst gute Behandlung von Schleudertraumapatientinnen und -patienten gerichtet werden (selbstverständlich in der legitimen Hoffnung, dadurch gleichzeitig die Kosten senken zu können). Zwar soll man sich keinen Illusionen hingeben. Auch im Jahre 2000 gab es im Schweizerischen Versicherungsverband noch bzw. bereits wieder Vertreter, die die Existenz des Schleudertraumas als gesundheitliche Störung in Frage stellten. Die Vertreter der damals herrschenden Strömung akzeptierten aber pragmatisch den Umstand, dass Personen nach Unfällen mit Schleudermechanismus häufig an einem Schleudertrauma-Syndrom leiden, auch wenn zum damaligen Zeitpunkt medizinisch weniger Erkenntnisse vorlagen, als uns heute zur Verfügung stehen. Entsprechend lauteten damals auch die Äußerungen der Versicherungsvertreter im so genannten nichtmedizinischen Experten-Panel der RAND-Studie, dem auch der Autor angehörte. Zwischenzeitlich haben sich im Schweizerischen Versicherungsverband wieder diejenigen Kräfte durchgesetzt, welche das Schleudertrauma allein als Ausdruck eines kulturellen Phänomens bezeichnen, dem unterschiedliche kultu-
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relle Einstellungen, nicht jedoch ein objektivierbarer Gesundheitsschaden zu Grunde liege [19]. Dabei berufen sich diese Vertreter u. a. auf eine Studie des Psychiaters Prof. Dr. med. A. Stevens [15] von der Universität Tübingen, der im Wesentlichen behauptet, es handle sich beim Schleudertrauma-Syndrom um den Ausdruck von Aggravation und Simulation oder Ausdruck einer psychischen Störung. Dass die Studie von Prof. Stevens wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügt, zeigt eine im Rahmen eines Hearings vom 9. Januar 2007 der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Schweizerischen Ständerats eingereichte Studie des Instituts für Expertisen in Recht und Medizin REM vom 4. Januar 2007 [13]. Die Psychiaterin Barbara Rüttner Götzmann und der Neurologe PD Dr. med. Adrian M. Siegel zeigen darin aus medizinischer Sicht auf, dass Prof. Stevens als Psychiater nicht qualifiziert ist, neurologische Beurteilungen abzugeben, dass seine Studie auf einer ausgesprochen einseitigen Literaturauswahl beruht, dass er Arbeiten falsch zitiert etc. etc. Nachdem zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten [16, 17, 20] gezeigt haben, dass dem Schleudertrauma-Syndrom (allerdings häufig schwer fassbare) Verletzungen zu Grunde liegen, und mittlerweile auch Krakenes und Kaale [8] nachgewiesen haben, dass verletzte Weichteilstrukturen im Bereich der oberen Halswirbelsäule, insbesondere im Bereich der Ligamenta alaria, eine wichtige Rolle bei der Entstehung des chronischen Schleudertrauma-Syndroms spielen, ist davon auszugehen, dass sich früher oder später allgemein die Überzeugung durchsetzen wird, dass das Schleudertrauma-Syndrom eine medizinische Tatsache ist, der sich alle Beteiligten zu stellen haben. Zeit deshalb, sich wieder der RAND-Studie zuzuwenden, die 2003 unter dem Titel „Risk Profiles and Appropriate Treatment Therapies for Whiplash Associated Disorders“ [5] publiziert wurde. Die RAND-Studie, die einerseits Faktoren identifizieren sollte, die zur Chronifizierung eines Schleudertrauma-Syndroms führen, und andererseits Aussagen über die Angemessenheit verschiedener Therapien machen sollte, besteht aus drei Teilen: 1. Einer statistischen Analyse von über 800 Versicherungsfällen;
2. Einem so genannten Literatur-Review der bestehenden Schleudertrauma-Literatur (mit Schwergewicht auf der Prognose und der Behandlung); 3. Der Diskussion in zwei so genannten Experten-Panels, wobei im einen Experten-Panel medizinische Experten und im anderen Panel nicht-medizinische Experten angehört wurden [9]. Aus diesen drei Erkenntnisquellen ergaben sich folgende Resultate: ] Faktoren mit Einfluss auf den Verlauf eines Schleudertraumas ] Pre-trauma factors (Faktoren, die bereits vor dem Unfall bestanden). In der von den RAND-Autoren berücksichtigten Literatur werden die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und ein höheres Alter als Faktoren genannt, die eine Chronifizierung des Schleudertrauma-Syndroms begünstigen. Eine Studie kam zum Resultat, dass der Umstand, dass jemand für Familienangehörige finanziell aufzukommen hatte, sowie der Umstand, dass jemand nur teilzeitbeschäftigt war, mit einer langsameren Erholung assoziiert waren. Die statistische Analyse der über 800 Versicherungsfälle konnte diese Hypothesen nicht bestätigen. Geschlecht und Sprache schienen die Erholung kaum oder überhaupt nicht zu beeinflussen. Auch das Alter hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Genesung. Hingegen hat der Umstand, ob jemand einer Berufstätigkeit nachgeht oder nicht, auch nach der statistischen Analyse der über 800 Versicherungsfälle einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung eines Schleudertrauma-Syndroms. Vorbestehende Kopf- oder Nackenschmerzen haben laut der von den RAND-Autoren berücksichtigten Literatur einen Einfluss auf die Entwicklung eines (chronischen) SchleudertraumaSyndroms. Diese Hypothese konnte aufgrund der statistischen Analyse nicht bestätigt werden, da in den Versicherungsakten regelmäßig wenig bis keine Informationen über Vorzustände enthalten waren (diese Bemerkung bildet möglicherweise den Hintergrund dafür, dass Versicherungen in den letzten Jahren energisch Informationen über allfällige Vorzustände einfordern).
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Post-trauma factors (Faktoren, die nach bzw. beim Unfall bestehen) Nach der in der Studie berücksichtigten Literatur sind folgende Faktoren mit einer langsameren Erholung von Schleudertrauma-Patienten assoziiert: Kopfrotation oder -inklination im Zeitpunkt des Aufpralls, Aufprall, ohne dass das Opfer darauf vorbereitet gewesen wäre, sowie der Umstand, dass es sich um eine Heckkollision handelt. Eine Studie verband zudem folgende Faktoren mit einer schlechteren Entwicklung: Belegung eines Busses oder Lastwagens, Fahrt als Passagier in einem Auto, Kollision mit einem bewegenden Objekt, und Frontal- oder seitliche 908-Kollision. Die Analyse der Versicherungsakten konnte diese Hypothesen nicht bestätigen. Bestätigt wurde einzig der Umstand, dass Passagiere auf den Vordersitzen des Fahrzeugs eher Gefahr laufen, ein SchleudertraumaSyndrom zu entwickeln.
Post-trauma symptoms (Symptome nach dem Unfall) In der Literatur werden als häufigste Symptome von Schleudertrauma-Patienten Nacken- und Kopfschmerzen erwähnt. Daneben wird aber über zahlreiche weitere Symptome berichtet, wie Schulter- und Armschmerzen, Schwindel, Konzentrationsprobleme und Sehstörungen. Diese Feststellungen stimmen im Großen und Ganzen mit den Resultaten der statistischen Analyse der 800 Versicherungsfälle überein. Aufgrund der berücksichtigten Literatur lassen sich keine Einzelsymptome identifizieren, die allein mit einer schlechteren Erholung bzw. einer Chronifizierung verbunden wären. Sowohl aus der Literatur als auch aus der statistischen Analyse ergibt sich aber, dass eine Korrelation zwischen der Zahl der Symptome und der Chronifizierung des Schleudertrauma-Syndroms besteht. Chronische Schleudertrauma-SyndromPatienten weisen häufig eine höhere Zahl von Symptomen auf. Aus der statistischen Analyse lässt sich zudem vorsichtig vermuten, dass Schmerzen in den Beinen, Hörverlust, Tinnitus und Aufmerksamkeitsprobleme bei chronischen Schleudertrauma-Patienten häufiger auftreten als in Akut-
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fällen. Da sich aus den vorhandenen Akten offenbar nicht erschließen ließ, wann diese Probleme aufgetreten waren, konnten die RAND-Autoren allerdings keine Aussage darüber machen, ob es sich dabei um so genannte prädiktive Faktoren oder aber um die Folgen einer Chronifizierung handelte. Aufgrund ihrer Erkenntnisse entwickelten die RAND-Autoren ein Software-Prognose-Werkzeug, mit dem sich ein Risiko-Profil von Schleudertrauma-Fällen erstellen lässt. Die Autoren merken aber einschränkend an, dass weder die Analyse noch die zu Grunde liegenden Daten vorläufig ausreichen, das Prognosewerkzeug in der Praxis anzuwenden. Dazu sei weitere Analyse und Entwicklung erforderlich. Dazu ist es aber offenbar nicht gekommen.
Angemessene Behandlung Aufgrund der Ergebnisse der Literatur-Review sowie des Experten-Panels stellen die RANDAutoren eine weitgehende Übereinstimmung über die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit zahlreicher Behandlungsmethoden wie Mobilisation, Immobilisation, Chiropraktik, manuelle Medizin, pharmazeutische Interventionen, Akupunktur, Homöopathie und multidisziplinäre Behandlung fest. Eine überraschende Differenz zwischen der Literatur-Review und dem medizinischen Panel ergab sich in Bezug auf passive Physiotherapie sowie Injektionen. Das medizinische ExpertenPanel stand der passiven physikalischen Therapie deutlich positiver gegenüber als die Literatur. Gerade umgekehrt verhielt es sich bei den Injektionen, denen die Literatur weit positiver gegenübersteht als das medizinische ExpertenPanel. Aus den Diskussionen im medizinischen Experten-Panel ergab sich für die RAND-Autoren die Erkenntnis, dass die SchleudertraumaSyndrom-Patienten im Hinblick auf die Behandlung nach zwei Kriterien zu unterscheiden sind: Dauer der Beschwerden sowie Stärke des körperlichen Schmerzes. Diesen Umständen wird nach Ansicht der RAND-Autoren in der Literatur bislang zu wenig Rechnung getragen. Übereinstimmend wurden sowohl in der Literatur als auch im medizinischen Experten-Panel die folgenden Behandlungsmethoden als angemessen betrachtet: Mobilisation (und/oder „act-
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as-usual“), Schmerzmittel (nicht-steroidale Antirheumatika, Analgetika), multidisziplinäre oder psychosoziale Behandlung sowie Psychopharmaka. Interessanterweise hat die RAND-Studie keine Indizien dafür gefunden, dass Personen, die im Sinne der herrschenden Meinung falsch behandelt wurden, eher zu einer Chronifizierung der Beschwerden neigen würden.
Angemessene Behandlung im Vergleich zur tatsächlichen Behandlung Die statistische Analyse der Versicherungsakten ergab, dass die tatsächliche Behandlung vor allem in zwei Punkten von der als angemessen betrachteten Behandlung abwich. Immerhin 60% der analysierten Versicherungsfälle erhielten zum damaligen Zeitpunkt einen so genannten Schanz-Kragen verschrieben, eine Behandlungsmethode, die sowohl von der Literatur als auch vom medizinischen Experten-Panel klar als ungeeignet bezeichnet wurde. Insbesondere unter den nicht-deutschsprachigen Schleudertrauma-Syndrom-Patienten wurden rund 25% mit Muskelrelaxantien behandelt. Auch dies eine Behandlung, die von Literatur und Experten-Panel übereinstimmend als ungeeignet bezeichnet wurde. Die Ansichten der nicht-medizinischen Experten stimmten im Großen und Ganzen mit denjenigen der medizinischen Experten überein, allerdings hatten die nicht-medizinischen Experten den Eindruck, dass die medizinischen Experten aus ihrer traditionell-schulmedizinischen Warte die Bedeutung und Nützlichkeit alternativmedizinischer Behandlungen unterschätzten. Zudem empfahlen die nicht-medizinischen Experten, dass man sich in der Behandlung von Schleudertrauma-Syndrom-Patienten vermehrt auf die Behandlung und weniger auf die Diagnose fokussieren sollte, und dass Schleudertrauma-Syndrom-Patienten durch ein Case Management auf ihrem Weg durch das medizinische und Versicherungssystem begleitet werden sollten. Überdies müsse dafür gesorgt werden, dass das medizinische Wissen breiter gestreut werde (insbesondere bis hinunter zu den erstbehandelnden Hausärztinnen und -ärzten).
Schlussfolgerungen Zusammenfassend gelangen die Autoren der RAND-Studie zu folgenden Schlussfolgerungen: ] Mobilisation (bzw. act-as-usual), Schmerzmittel (nicht-steroidale Antirheumatika, Analgetika), multidisziplinäre und psychosoziale Behandlung sowie die Behandlung mit Psychopharmaka sind angemessen, wobei die Behandlung im Einzelfall nach der Dauer und der Intensität der Beschwerden abzustimmen ist. ] Auf Grund der zahlreichen Unsicherheiten bezüglich der geeigneten Behandlungsformen kann die medizinische Behandlung nur ein Puzzlestück im Kampf gegen die Chronifizierung eines Schleudertrauma-Syndroms darstellen. ] Ein Case Management kann dazu beitragen, eine Chronifizierung zu verhindern (übereinstimmende Ansicht des nicht-medizinischen Experten-Panels).
Würdigung Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist der Umstand, dass sämtliche an der Studie beteiligten Experten die Existenz des Schleudertraumas als gegeben voraussetzten. Dies war insbesondere angesichts der Zusammensetzung des medizinischen Experten-Panels nicht selbstverständlich, zeigt aber wie eine Momentaufnahme die damalige Stimmung in der schweizerischen Versicherungs- bzw. versicherungsmedizinischen Landschaft. Nach wie vor Gültigkeit beanspruchen kann sicher die Überzeugung v. a. der nicht-medizinischen Experten, dass ein Case Management dazu beitragen kann, eine Chronifizierung zu verhindern. Beinahe alle Versicherer haben in der Zwischenzeit Versuche mit einem Case Management gemacht bzw. dieses fest implementiert. Allerdings hat das Case Management wohl nur teilweise die erhofften Resultate erbracht. Dies hat meines Erachtens insbesondere folgende Gründe: Die Case Management-Maßnahmen fielen in eine wirtschaftlich schwierige Zeit mit Arbeitsplatzabbau und einer starken Steigerung der Produktivität. Die Bereitschaft, Teilarbeitsunfähige oder gesundheitlich angeschlagene Mit-
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arbeiter anzustellen bzw. nicht zu entlassen, ging in dieser Zeit allgemein zurück. Die verstärkten Case Management-Anstrengungen wurden deshalb von einer gegenläufigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt teilweise zunichte gemacht. Allgemein ist anerkannt, dass einer der wichtigsten Faktoren für ein erfolgreiches Case Management die frühe Erfassung der chronifizierungsgefährdeten Fälle ist. Ziel müsste es sein, die Fälle spätestens nach 6 Wochen einem Case Management zu unterwerfen. Bis heute ist diese Vorgabe weder von unabhängigen noch – meines Wissens – von versicherungsinternen Case Management-Abteilungen umgesetzt worden. Beispielsweise wurden die Fälle bei der Activita Care Management AG [6], einem ursprünglich von Geschädigtenanwälten und den Versicherungen SUVA, Allianz, Zürich und Winterthur gegründeten Case Management-Unternehmen mit paritätischer Verwaltung [10], im Durchschnitt nach 29 Wochen (2005) bzw. 32 Wochen (2004) angemeldet. Dies ist nach den heute allgemein anerkannten Erkenntnissen zu spät, um einer allenfalls bereits einsetzenden Chronifizierung Einhalt zu gebieten. Zentral für ein erfolgreiches Case Management ist nebst der frühen Erfassung das so genannte Rehabilitationsgeheimnis. Erfolgreiches Case Management kann nur betrieben werden, wenn die oder der Verunfallte dem Case Manager oder der Case Managerin auch über Nebenaspekte berichten kann, die möglicherweise die Rehabilitation zu beeinträchtigen drohen (beispielsweise über die nach Unfällen regelmäßig auftretenden Eheprobleme etc.). Das dafür erforderliche Vertrauensverhältnis wird aber nur aufgebaut, wenn die Verunfallten darauf vertrauen können, dass das im Rahmen des Case Management Besprochene dem Rehabilitationsgeheimnis unterliegt und nicht ungefiltert dem Versicherer mitgeteilt wird. Müssen die Verunfallten befürchten, dass derart berichtete persönliche Umstände ungefiltert dem Versicherer zugetragen und später möglicherweise gegen sie verwendet werden, wird sich das für ein erfolgreiches Case Management notwendige Vertrauensverhältnis nicht entwickeln. Dies ist wohl der Hauptgrund, weshalb die von den Versicherern entwickelten internen
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Case Managementlösungen nur beschränkt Erfolg haben können. Versicherungsinterne Case Manager werden, auch wenn sie behutsam und verständnisvoll vorgehen, stets als Vertreter der Versicherung wahrgenommen. Sie werden sich deshalb immer wieder mit der Frage konfrontiert sehen, die schon Rotkäppchen gestellt hat: „Großmutter, was hast du für eine tiefe Stimme?“ Wohl wegen der teilweise fehlenden Erfolge der Case Management-Anstrengungen, aber auch auf dem Boden einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung sind die Versicherer deshalb in den letzten Jahren zunehmend dazu übergegangen, die Kosten im Schleudertraumabereich nicht mehr in erster Linie durch eine gute Betreuung der Betroffenen anzugehen, sondern dadurch, dass das Schleudertrauma als Verletzungsbild diffamiert oder gar als nicht existent dargestellt werden soll [21]. Rückblickend sind sicher Zweifel an gewissen von der RAND-Studie als angemessen bezeichneten Behandlungsmethoden angebracht. Nichtsteroidale Antirheumatika, die einst als eigentliche Wundermittel galten, sind durch die Entdeckung, dass Vioxx und verwandte Medikamente Schädigungen des Herzens bewirken können, in Verruf geraten. Der Gebrauch von Analgetika an über 15 Tagen pro Monat über eine Dauer von drei Monaten kann nach den Empfehlungen der International Headache Society sog. Analgesic-overuse headache verursachen und wird deshalb nicht mehr empfohlen [18]. Zusammenfassend bildet die Studie aber auch heute noch eine gute Grundlage, auf der sich durch weitere Forschung und Anpassungen in der Praxis aufbauen ließe. Zur Zeit allerdings scheinen in der Versicherungswirtschaft diejenigen Kräfte in der Überzahl, die die Existenz des Schleudertrauma-Syndroms generell bestreiten bzw. dessen gesundheitliche Folgen verharmlosen. Es bleibt die Hoffnung, dass sich einerseits in der Versicherungswirtschaft die pragmatischeren Kräfte wieder durchsetzen und dass andererseits die medizinische Forschung weitere Erkenntnisse über die Pathophysiologie des Schleudertrauma-Syndroms liefert (und diese Erkenntnisse die entsprechende Würdigung in Medizin und Rechtsprechung erfahren).
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Die RAND-Studie, oder als es das Schleudertrauma noch gab . . .
Literatur/Anmerkungen 1. Allerdings ist seit einigen Jahren eine massive Verschärfung der Anerkennungspraxis zu beobachten 2. BGE 117 V 359 (vgl. http://relevancy.bger.ch/cgibin/JumpCGI?id=BGE-117-V-359&lang=de) 3. Bunketorp L, Nordholm L, Carlsson J (2002) A descriptive analysis of disorders in patients 17 years following motor vehicle accidents. Eur Spine J 11:227–234 4. Dieser hatte sich bereits sehr früh mit der besonderen Funktion der sog. Kopfgelenke, insb. der Ligamenta alaria auseinandergesetzt; vgl. etwa: Dvorak J (1988) Funktionelle Anatomie der oberen Halswirbelsäule. In: Wolff H-D (Hrsg) Die Sonderstellung des Kopfgelenkbereichs 5. Frinklin E, Kahn JP, van Het Loo M, Vader J-P (2003) RAND Europe, Institut Universitaire de médicine social et préventif, Lausanne (publiziert auf der Website des Schweiz Versicherungsverbands: http://med.svv.ch/) 6. http://www.activita.ch 7. http://www.rand.org 8. Krakenes J, Kaale B (2006) MRT-Darstellung der craniovertebralen Ligamente und Membrane nach einem Schleudertrauma. Spine 31(24): 2820–2826 9. Mitglieder des medizinischen Expertenpanels: Peter Bon (Chiropraktor), Jacob Roffler (Allgemeinmediziner), Roger Darioli (Innere Medizin), Otmar Meienberg (Neurologie), Philippe Vuadens (Neurologie), Giuseppe Di Stefano (Neuropsychologie), Norbert Boos (Orthopädische Chirurgie), Stefan Jan (Physiotherapie), Bogdan Radanov (Psychiatrie), Renato Marelli (Psychiatrie), Rudolf Kissling (med. Rehabilitation). Mitglieder des nicht-medizinischen Expertenpanels: Felix Walz (Biomechanik), Rolf Bauser (Case Management), Herbert Koenig (Case Management), Ulrich Meyer-Blaser (Bundesrichter), Daniel Herzog (Vertreter der Versicherungswirtschaft), Hansueli Reiter (Vertreter der Versicherungswirtschaft), Hans Schmidt (GeschädigtenRechtsanwalt), Jean Baptiste Huber (Geschädigten-Rechtsanwalt), Erwin Murer-Frei (Rechtsprofessor)
10. Per 17. 11. 2006 hat die Stiftung Chancenhaus, die die Interessen der Geschädigten innerhalb der Activita vertrat, ihre Aktien verkauft. Die Activita ist seither nicht mehr paritätisch organisiert, verpflichtet sich aber in ihrem Regelwerk nach wie vor zu strikter Neutralität und zur Einhaltung des sog. Rehabilitationsgeheimnisses (vgl. http:// www.activita.ch/newsletter/newsletter_03.htm) 11. Schmid S (1988) Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule in der Schweiz (Diss). Bern 12. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt 13. Siegel A, Rüttner Götzmann B, Kieser U, Poledna T (2007) Wissenschaftliches Gutachten zu einem Referat vom 22. November 2006 und zu einer Publikation in „Der medizinische Sachverständige“ von 2006 von Herrn Prof. Andreas Stevens, Psychiater am Uniklinikum Tübingen (vom 4. Januar 2007) http://www.rahuber.ch/# 14. Squires B et al (1996) Soft-tissue injuries of the cervical spine. 15-year follow-up. J Bone Joint Surgery (Br) 78-B:955–957 15. Stevens A (2006) Das Halswirbelsäulen-Schleudertrauma in der Begutachtung. Die neurologisch-psychiatrische Sicht. In: Med Sach 101(4): 13 ff 16. Taylor JR, Twomey LT, Kakulas BA (1998) Dorsal root ganglion injuries in 109 blunt trauma fatalities. Injury, Spine 29(5):335–339 17. Taylor JR, Twomey LT (1993) Acute injuries to cervical joints. An autopsy study of neck sprain. Spine 18(9):1115–1122 18. The International Classification of Headache Disorders, 2nd edn (ICHD-II)7revision of criteria for 8.2 Medication-overuse headache (http:// www.i-h-s.org/) 19. Vgl. Chappuis G, Soltermann B (2006) Schadenhäufigkeit und Schadenaufwand bei leichten Verletzungen der Halswirbelsäule: Eine schweizerische Besonderheit? Schweiz Med Forum 6:398– 400 20. Vgl. statt vieler: Twomey LT, Taylor JR, Taylor MM (1989) Unsuspected damage to lumbar zygapophyseal (facet) joints after motor-vehicle accidents. Med J Aust 151(4):210–212, 215–217 21. Vgl. [15, 19]
61 Wie das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen wird * Ûber die BeweisfuÈhrung mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen bei gerichtlichen Auseinandersetzungen wegen KoÈrperschaÈden G. Bring, J. Bring
Wahrscheinlichkeitsberechnungen werden heutzutage in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen angewandt. Obwohl wir praktisch jeden Tag Betrachtungen zu Wahrscheinlichkeiten hören, gibt es Kontroversen hinsichtlich der Definition des Begriffes „Wahrscheinlichkeit“ und Meinungsverschiedenheiten dahingehend, wie solche Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen zu interpretieren sind. Fienberg et al. meinen hierzu: „Der wichtigste Grund, warum Gerichte Beweisführungen mit statistischen Beweisen begrüßen, besteht darin, dass hiermit eine Kausalitätsbeziehung hergestellt werden kann. Für manche Fälle gibt es keine anderen beweiserheblichen Tatsachen“ [4]. Zwei kontrovers diskutierte Fragen mit hoher Relevanz für die Gesetzgebung und für Gerichtsprozesse sind beispielsweise: ] Sollte der Begriff „Wahrscheinlichkeit“ als objektive, relative Häufigkeit oder als subjektives Maß der Glaubwürdigkeit definiert werden? ] Ist es möglich, Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen von individuellen Ereignissen abzuleiten, z. B. die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Herr X schuldig an einem bestimmten Verbrechen ist, oder die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Behinderung von Frau X durch eine Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule verursacht wurde, die sie vor einigen Jahren erlitten hatte? Selbst wenn man sich bei der Definition des Begriffs „Wahrscheinlichkeit“ einig wäre, so kön* Dieses Kapitel ist eine Zusammenfassung von zwei Artikeln in schwedischer Sprache [2, 3] Für die Übersetzung des Beitrags danken wir Herrn Christian Grill
nen bei der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten dennoch sehr leicht Fehler in der Logik und der Berechnung auftreten. Aus diesen Gründen ist die Verwendung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen vor Gerichten alles andere als eindeutig. Heutzutage gibt es in der Frage, wann und wie Wahrscheinlichkeiten zu gebrauchen sind, keinen Konsens. Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele für unrichtige Beweisführungen mit Wahrscheinlichkeiten bei gerichtlichen Fällen. Gerichtsprozesse stellen einen Bereich dar, in dem die Beweisführung mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen eine zentrale Rolle spielen können. Insbesondere gilt dies bei den heutzutage häufig vorkommenden Fällen von schweren posttraumatischen Syndromen nach leichten Verletzungen der Halswirbelsäule oder des Kopfes. Die Symptome, die zu körperlichen Behinderungen und/oder zu wirtschaftlichen Einschränkungen führen, sind meist nur subjektiv. Im Allgemeinen sind objektive Befunde selten oder fehlen ganz und die Entwicklung des voll ausgeprägten Beschwerdebildes kann verzögert sein und sich erst nach und nach entwickeln. In diesen Fällen ist es oft schwierig, den Zusammenhang zwischen Trauma und dem Krankheitsbild zu beweisen. Es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen diesen Fällen und jenen, bei denen die akute Situation dramatischer bzw. manchmal lebensbedrohlich ist und die Verletzungen leichter zu objektivieren sind, wie z. B. schwere Hirnverletzungen, Knochenbrüche usw. Die Symptomentwicklung in diesen schweren Fällen verläuft anders: Sie sind am Anfang am schwersten ausgeprägt und nehmen in einem fest vorhersagbaren Ausheilungszeitraum immer mehr ab und
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können (bestenfalls) ganz verschwinden (z. B. Einschränkungen im Sehen oder in der Bewegungsfähigkeit). In diesen Fällen ist die Schadenregulierung meist einfach, und auf Gerichtsprozesse kann oft verzichtet werden. Eine der häufigsten Gründe für medico-legale Auseinandersetzungen stellt heute das posttraumatische, chronische Schmerzsyndrom nach Verletzungen der Halswirbelsäule dar, die so genannten Beschleunigungsverletzungen der HWS. Diese Verletzungsart wurde zu der am häufigsten vorkommenden Verletzung nach Verkehrsunfällen in den meisten Ländern der westlichen Welt. Sie ist mit enormen Kosten für die Gesellschaft und für Versicherungsunternehmen verbunden [8]. Die Zunahme sowohl der akuten als auch der chronischen Beschleunigungsverletzungen hat diverse Gründe, z. B. den vermehrten Gebrauch von Sicherheitsgurten, die gestiegene Verkehrsdichte in den Städten, die zunehmende Anzahl an weiblichen Verkehrsteilnehmern und die gestiegene Anzahl an Verkehrsampeln und Kreisverkehren. Als ein weiterer Grund wird u. a. auch die Möglichkeit genannt, dass der Geschädigte einen Anspruch auf Schadensersatzzahlungen bei den Versicherungen geltend machen kann. In diesen Fällen ist es oft schwierig, die Kausalität herzustellen. Erstens sind die Symptome im Akutstadium meist wenig gravierend. Viele HWS-Verletzten entwickeln auch gar kein chronisches Beschwerdebild. Diejenigen, die chronische Beschwerden und eine Behinderung entwickeln, tun dies nach und nach. Mit der Zeit nehmen die gesundheitlichen Einschränkungen immer mehr zu. Aus diesem Grund beanspruchen sie erst nach einigen Monaten, manchmal auch erst nach einigen Jahren Schadensersatz für Krankheitstage und Arbeitsunfähigkeit. Eine Erklärung hierfür ist in der Tatsache zu sehen, dass sich das chronische Beschwerdebild nach einer Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule aufgrund einer Narbenbildung, einer Arthrose und/oder einer segmentalen Instabilität, manchmal auch durch die Herabsetzung der Schmerzschwelle im zentralen Nervensystem, entwickelt. All dies kann zu erheblich verspätet auftretenden Beschwerden führen. Zweitens, da die Symptome vor allem subjektiv sind und objektive Anzeichen – wenigstens im akuten Stadium – fehlen, ist es für die verletzte Person sehr schwierig zu beweisen, dass die Symptome durch die Verletzung der Halswirbelsäule verursacht wurden. HWS-Distorsio-
nen sind per definitionem Weichteilverletzungen, die wegen der komplizierten anatomischen Verhältnisse in der Halswirbelsäule nur sehr schwer mit Röntgenstrahlen nachzuweisen sind [1, 6, 9]. Drittens können die Symptome anderen, mehr oder wenig stark ausgeprägten subjektiven Beschwerdebildern unterschiedlicher Genese ähneln. Darüber hinaus hatten viele Personen schon vor dem Unfall Kopfschmerzen und Probleme mit der Halswirbelsäule. Es kann daher schwierig sein zu beweisen, dass die Verschlimmerung der Symptome auf den Unfall zurückzuführen ist. Andere wiederum haben sich schon mehrmals an der Halswirbelsäule verletzt. Es könnte sich daher auch als problematisch herausstellen zu beweisen, welcher Unfall welche Symptome verursacht hat. All diese Umstände führen zu der heutigen Situation: Eine Schleudertrauma-Verletzung der HWS ist diejenige Verletzungsform, die am häufigsten zu Kontroversen und zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führt. Wenn die außergerichtlichen Streitigkeiten weit genug gediehen sind, werden sie vor Gericht gebracht. Die Aufgabe des Gerichts ist es dann, die Problematik zu lösen, das heißt zu entscheiden, ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Unfallereignis und den gesundheitlichen Beschwerden besteht. Da objektive Beweise oft fehlen, hat der Kläger oft Schwierigkeiten, den Kausalzusammenhang zwischen Verletzung und Beschwerden herzustellen. Daher kann ein kleiner Unterschied zugunsten einer Seite entscheidend sein. In diesen Fällen muss sich das Gericht oft sehr stark auf Gutachter verlassen. Diese Sachverständigen stützen jedoch ihre Argumentation oft auf statistische Angaben. Die Entscheidung des Gerichts wird sich daher auf mehr oder weniger fundierte statistische Angaben und Wahrscheinlichkeitsberechnungen stützen. Jedoch ist es wegen all der Probleme hinsichtlich der richtigen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ziemlich einfach, das Wahrscheinliche als unwahrscheinlich darzustellen und das Unwahrscheinliche als wahrscheinlich. Um darzustellen, wie man falsche Schlussfolgerungen ziehen kann, wenn die Statistik und die Beweisführung mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht korrekt durchgeführt wird, werden wir im Nachfolgenden zwei authentische Beispiele aus Gerichtsgutachten anführen. Eine Klägerin mit chronifizierten Beschwerden nach einer HWS-Beschleunigungsverletzung meldet einige Jahre nach dem Unfall bei ihrer Ver-
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sicherungsgesellschaft Schadenersatzansprüche wegen unfallbedingter Krankheitstage und ihrer Verrentung an. Das Gericht muss schließlich entscheiden, ob es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden kann, dass es einen Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung und der Arbeitsunfähigkeit gibt. Der Gutachter der Versicherungsgesellschaft gab hierzu folgende Informationen: Zitat aus dem Gutachten: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person während ihres Lebens irgendwie geartete Probleme mit der Wirbelsäule hat, liegt in Schweden bei 80%. Dies entspricht auf die Lebenszeit gerechnet einer Häufigkeit von 80 000/100 000. Solche Rückenprobleme betreffen in zwei Drittel der Fälle den Lumbalbereich und in ein Drittel der Fälle die Halswirbelsäule. Daher liegt die – auf die Lebenszeit gerechnete und von der Ursache unabhängige – Häufigkeit für HWS-Probleme bei 26,6%.“ Nach einigen offensichtlich falschen Berechnungen der Prävalenz und der Inzidenz (der Gutachter verwendete diese Ausdrücke nicht korrekt) kam er zu der Schlussfolgerung: Zitat aus dem Gutachten: „Die Prävalenz von chronischen Beschwerden nach Beschleunigungsverletzungen der HWS liegt in dem Bereich von 27–53/100 000. Diese epidemiologische und demographische Beschreibung muss bei der Einschätzung des wahren Ausmaßes der einerseits durch HWSBeschleunigungsverletzungen, andererseits durch unfallfremde HWS-Beschwerden in der schwedischen Bevölkerung verursachten Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt werden.“ Die Information an das Gericht besagt, dass eine beliebig gewählte Person aus der schwedischen Bevölkerung ungefähr ein 26,6%iges Risiko hat, während seines Lebens Probleme mit der Halswirbelsäule zu haben. (Diese Zahlen beziehen sich meist auf leichte, nur vorübergehend vorhandene HWS-Probleme und meist nicht auf Symptome, die zu einer Arbeitsunfähigkeit führen.) Darüber hinaus gibt es ein Risiko von 0,027–0,053%, dass eine x-beliebige Person wegen eines Schleudertraumas an chronischen Beschwerden und einer Arbeitsunfähigkeit leidet. Daraus können wir folgern, dass es wahrscheinlicher ist, dass eine Person vorüber-
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gehend vorhandene HWS-Probleme hat als chronische Beschwerden und eine Arbeitsunfähigkeit wegen einer Schleudertrauma-Verletzung. Diese Fakten sind jedoch für den Einzelfall irrelevant und helfen dem Gericht nicht, eine richtige Entscheidung bzgl. der Kausalität zu treffen. Diese Zahlen wären selbst dann kaum relevant, wenn wir eine x-beliebige Person aus der schwedischen Bevölkerung ausgesucht hätten, was in diesem Beispiel nicht der Fall ist. Wir wissen, dass der Kläger: ] einem Beschleunigungstrauma ausgesetzt war ] chronifizierte Beschwerden mit einer Arbeitsunfähigkeit davongetragen hat. Daher ist die hier relevante Personengruppe, mit der man einen Vergleich anstellen muss, jene, die sowohl einem HWS-Beschleunigungstrauma ausgesetzt waren und chronifizierte Beschwerden mit einer Arbeitsunfähigkeit davongetragen haben. Wir müssen nun wissen, wie hoch der Anteil derjenigen Personengruppe ist, deren chronifizierte Beschwerden und deren Arbeitsunfähigkeit durch die Verletzung verursacht wurde. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, nach einem Beschleunigungstrauma eine chronifizierte Behinderung/Arbeitsunfähigkeit davonzutragen sehr gering ist, kann die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs dennoch sehr groß sein, wenn vorausgesetzt werden kann, dass eine chronifizierte Behinderung/eine Arbeitsunfähigkeit bereits eingetreten ist. Um dies zu illustrieren, nehmen wir ein einfaches Beispiel. Die Wahrscheinlichkeit ist ein quantitatives Maß, welches jeden Wert zwischen 0 und 1 einnehmen kann, wobei mit 0 eine gänzliche Unmöglichkeit eines Zusammenhangs beschrieben wird und mit 1 eine absolute Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit wird üblicherweise mit P für englisch „probability“ bezeichnet. Die Formel P (A/B) wird verwendet, um eine so genannte bedingte (= konditionale) Wahrscheinlichkeit anzugeben. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für A durch die Wahrscheinlichkeit von B geteilt wird. Diese kennen wir als vorausgesetzte Bedingung für die jeweilige Annahme. Beispiel zur Illustration: Wir wollen annehmen, dass 5% der Raucher, aber nur 1% der Nichtraucher an Lungenkrebs stirbt. Wenn ein Raucher an Lungenkrebs stirbt, wie groß ist dann die Annahme, dass der Lungenkrebs durch das Rauchen verursacht wurde? Wir wollen die Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang
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]
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zwischen dem Rauchen und dem Lungenkrebs möglichst genau abschätzen, wenn bekannt ist, dass die Person geraucht hat und an Lungenkrebs verstorben ist. Nehmen wir an, dass wir eine Gruppe von 1000 Rauchern haben. Von diesen 1000 Leuten werden 50 Menschen (5% von 1000) an Lungenkrebs sterben. Einige von ihnen wären auch an Lungenkrebs gestorben, selbst wenn sie nicht geraucht hätten, da 1% der Nichtraucher ebenfalls an Lungenkrebs sterben. Daher können wir erwarten, dass 10 von 1000 Rauchern (also 1%) an Lungenkrebs verstarben, der nicht durch das Rauchen verursacht worden ist. Unter den Rauchern gibt es 40 Leute, die wegen ihres Rauchens Lungenkrebs bekommen haben und 10 Leute, die wegen anderer Ursachen Lungenkrebs bekommen haben. Wenn wir einen x-beliebigen Raucher, der an Lungenkrebs verstorben ist, auswählen, dann gibt es eine 80%ige Wahrscheinlichkeit (40/50 = 0,80), dass es einen Kausalzusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs für diese spezielle Person gibt. Daher ist – selbst wenn das Risiko für einen Raucher an Lungenkrebs insgesamt gering ist (5%) – die bedingte Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs hoch (80%). Was vorher als unwahrscheinlich angesehen wurde, ist durch eine Beweisführung mit korrekter Wahrscheinlichkeitsrechnung wahrscheinlich geworden. Es sollte betont werden, dass es natürlich selten ist, dass die Berechnungen so einfach wie bei unserem fiktiven Fall „Raucher – Lungenkrebs“ sind. Beispiel: Wenn es sich bei dem Verstorbenen um einen Mann gehandelt hat, soll dann nicht auf die Gruppe „Männer, die rauchen“ Bezug genommen werden? Vielleicht war er auch ein aktiver Athlet. Dann müsste die Referenzgruppe heißen „männliche Raucher, die viel Sport treiben“. Je detaillierter wir eine Person beschreiben, desto kleiner wird die Referenzgruppe sein. Es kann somit schwierig werden zu entscheiden, welche Eigenschaften wir dieser Referenzgruppe zuschreiben. Folgerung: Selbst wenn die Prävalenz von chronischer Behinderung/Arbeitsunfähigkeit, die durch eine Beschleunigungsverletzung der HWS verursacht wird, in der schwedischen Population sehr klein ist (0,027–0,053% nach Angaben des oben genannten Gutachters), so kann es dennoch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang in einem konkreten Fall geben. Wenn die von dem obigen Gutachter verwendeten Zahlen korrekt verwendet werden,
dann wäre die bedingte Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang zwischen stattgehabter Beschleunigungsverletzung der HWS und einer chronischen Behinderung/Arbeitsunfähigkeit in dem Bereich von 85% bis 97%! Daher war die Art und Weise, wie die Fakten von dem obigen Gutachter präsentiert worden sind, eindeutig irreführend. Ein weiteres relevantes Beispiel ist die folgende authentische Aussage eines schwedischen Neurologen, der für eine Versicherung als Gutachter vor Gericht auftrat. Der Kläger hatte 1984 eine Beschleunigungsverletzung der HWS erlitten und in der Folgezeit ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelt. 1989 erlitt er abermals eine Beschleunigungsverletzung der HWS, welche noch schlimmere Schmerzen in der Halswirbelsäule verursachte. 1990 wurde ein Bandscheibenvorfall in der HWS diagnostiziert. Es musste bewiesen werden, ob der Bandscheibenvorfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen war. Zitat aus dem Gutachten: „Zu der Frage, ob ein Bandscheibenvorfall eine späte Folge eines Traumas sei, variieren die Angaben in der wissenschaftlichen Literatur. Es wird angenommen, dass etwa 10 bis 60% der akuten Bandscheibenvorfälle eine frühere Verletzung, welche sich vor Monaten oder Jahren ereignet hat, vorausgeht. Wenn man eine Art Mittelwert annimmt, so würde man zu dem Schluss kommen, dass etwa ein Drittel der Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule traumatischer Genese sind. Aber da in diesem Fall die Verletzung schon Jahre und nicht nur Monate zurückliegt, so wäre es richtiger, die Wahrscheinlichkeit eher bei 10% anzusetzen. Welchen Prozentwert man auch immer nimmt, so würde dies in jedem Fall besagen, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang klar unterhalb von 50% liegt.“ Die statistische Beweisführung in diesem Zitat ist nicht relevant für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Kausalität, die zwischen dem stattgehabten Trauma und dem HWSBandscheibenvorfall besteht. Erstens ist der Kläger nicht eine x-beliebige Person mit einem Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule, sondern eine Person, die einem adäquaten Trauma ausgesetzt war und einen solchen zervikalen Bandscheibenvorfall bekommen hat. Die
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Frage, um die es hier geht, muss lauten: Wie oft verursacht eine Beschleunigungsverletzung zervikale Bandscheibenvorfälle bei der Gruppe von Leuten, die sowohl ein Beschleunigungstrauma als auch einen zervikalen Bandscheibenvorfall erlitten haben? Ein Problem liegt darin, dass es keine direkte Verbindung gibt zwischen: ] der Wahrscheinlichkeit P (zervikaler Bandscheibenvorfall/stattgehabte Beschleunigungsverletzung der HWS), das heißt mit anderen Worten der Wahrscheinlichkeit, einen Bandscheibenvorfall in der HWS zu bekommen, wobei eine Beschleunigungsverletzung als bekannt vorausgesetzt werden darf, ] und der Wahrscheinlichkeit P (stattgehabte Beschleunigungsverletzung der HWS/zervikaler Bandscheibenvorfall), das heißt mit anderen Worten der Wahrscheinlichkeit einer vorangegangenen Beschleunigungsverletzung der HWS bei einem als bekannt vorausgesetztem zervikalen Bandscheibenvorfall. Um die Unzulänglichkeit der Beweisführung des oben erwähnten Gutachters zu illustrieren, werden wir ein Beispiel von einer hypothetischen Gruppe von Menschen anführen, bei denen die Wahrscheinlichkeit P (Trauma/Bandscheibenvorfall) 1/3 ist, aber die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs mehr als 50% beträgt. Die gewählte Gruppe von Menschen besteht aus 300 Schweden mit so gravierenden Symptomen eines zervikalen Bandscheibenvorfalls, dass eine Operation diskutiert wird. Wir können annehmen, dass mindestens ein Drittel von ihnen, also 100 Leute, eine vorangegangene adäquate Beschleunigungsverletzung der HWS hatten, in der Zeit bevor der Bandscheibenvorfall diagnostiziert wurde [5, 7, 9].
Wie das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen wird
Was wir wissen wollen ist Folgendes: Wenn wir einen Patienten in dieser Gruppe haben, der eine Beschleunigungsverletzung der HWS erlitten hat und schließlich einen gravierenden zervikalen Bandscheibenvorfall aufweist, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass das Beschleunigungstrauma der HWS diesen zervikalen Bandscheibenvorfall verursacht hat? Wir wollen jetzt ein Beispiel mit Hilfe von hypothetischen, aber doch nicht unrealistischen Daten konstruieren. Wir nehmen an, dass in einer Gruppe von 1 Million Menschen etwa 9 000 Personen jedes Jahr eine erhebliche Beschleunigungsverletzung erleiden (nicht ganz 1% der Bevölkerung) [1]. Für dieselbe Gruppe von 991 000 Personen ohne adäquates Trauma nehmen wir an, dass nur 0,02% (200 von 1 000 000) solch invalidisierende Bandscheibenvorfälle in der HWS entwickeln [5]. Dann können wir annehmen, dass 0,02% von diesen Leuten, d. h. zwei Personen von 100, mit einem invalidisierenden Bandscheibenvorfall diesen auch ohne stattgehabtes Trauma bekommen haben (Tabelle 61.1). Folglich haben 98 von 100 Personen den Bandscheibenvorfall in der HWS als Folge der Beschleunigungsverletzung. Die bedingte Wahrscheinlichkeit für einen Ursachenzusammenhang ist somit 98%. Diese Beispiele illustrieren, wie schwierig es sein kann, Wahrscheinlichkeiten richtig zu berechnen und richtig zu werten. In welchem Umfang Wahrscheinlichkeitsrechnungen vor Gericht verwendet werden sollten, ist eine schwierige Frage. Wenn solche Wahrscheinlichkeitsüberlegungen jedoch angewandt werden, so ist es von größter Wichtigkeit, dass die Berechnungen und die Interpretationen dann auch korrekt erfolgen.
Tabelle 61.1. Bandscheibenvorfall in Halswirbelsäule
]
Kein Bandscheibenvorfall in Halswirbelsäule
Gesamt
] Trauma ja
100
8 900
9 000
] Trauma nein
200
990 800
991 000
] Gesamt
300
999 700
1 000 000
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458
]
G. Bring, J. Bring: 61
Wie das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen wird
Literatur 1. Bring G (1996) Whiplash-relaterade skador och följdtillstånd. Umea University Medical Dissertations, New Series no 472 – ISSN 0346-6612 – ISBN 91-7191-213-4 (in Schwedish) Bring G (2000) Whiplash-associated injuries and disorders – biomedical aspects of a multifaceted problem. Arbete och Hälsa, National Institute for Working Life 2000:13 (in English) 2. Bring G, Bring J (1994) Hur det osannolika blir sannolikt – Om sambandsfragor i skadestandsmal. Advokaten, p 58–61 (in Swedish) 3. Bring J, Bring G (1996) Pisksnärtskador kniviga försäkringsärenden – Sannolikhetsresonemang i skaderegleringen. Läkartidningen 93:2852–2854 (in Swedish) 4. Fienberg SE, Krislov SH, Straf ML (1995) Understanding and evaluating statistical evidence in litigation. Jurimetrics Journal 36:1–32
5. Johansson B (1999) Diskdegeneration i halskotpelaren sällan enda faktor bakom diskbrack. Läkartidningen 96:3540–3541 (in Swedish) 6. Jónsson H Jr, Cesarini K, Sahlstedt B, Rauschning W (1994) Findings and outcome in whiplash-type neck distorsions. Spine 19:2733–2743 7. Leichsenring F (1964) Pathologisch-anatomische Befunde in der Halswirbelsäulenregion bei verstorbenen Patienten mit Schädeltraumen. Dtsch med Wschr 89:1469–1474 8. Spitzer et al, Quebec Task Force on WAD (1995) Redefining whiplash and its management. Spine 20(Suppl 8):1–73 9. Taylor JR, Taylor MM (1996) Cervical spinal injuries: an autopsy study of 109 blunt injuries. Pain 4:61–79
Sachverzeichnis
A Abbreviated Injury Scale (AIS) 48 Abknickverletzung 424 Achterbahnfahrten 88 Adäquanz 376 Adäquanztheorie 358 A-Delta-Fasern 287 Afferenzeinstrom 262 Afferenzen 5 Afferenzmuster 24 Aggravation 27, 116, 294, 315, 339, 348, 448 Aggressionsmodell 303 Agonisten-Antagonisten-Spiel 247 Aktivität, elektromyographische 122 Aktualneurose 372 – zweckfreie 358 Akupunktur 253 Akutdiagnostik 441 Akzeleration /Dezeleration 228, 232 Akzelerationstrauma 318 Alertness 314 Allgemeine Persönlichkeitsrechte 383, 384, 385 Allodynie 27 Amnesie 234 – retrograde 228 Amplitudenanalyse 221 Amygdala 298, 305 Analgetika 31 ANALYZER PRO 83 Anamnese 347, 423 Angiographie 128 Angst 294 Angsterkrankungen 300 Angstmodell 303 Angststörung 275, 293, 313 Anhängekupplung 84 Anknüpfungstatsachen 67 Anpassungsstörung 300, 371, 379, 416 – posttraumatische 313 Anprallarten 50
Anspannung, muskuläre 62 Anspruch 381 – Schadensregulierung 382 Anstoßwinkel 350 Antagonisten 13 Antidepressiva 290, 291 Antiflogistika 16 Äquivalenztheorie 358 Arbeitsgedächtnis 190, 191, 310 Arbeitsunfähigkeit 70 Arbeitsunfall 342, 378, 400 Armschmerzen 449 Arousal 318 Arteria vertebralis 104, 124, 125, 127, 176, 251 Arztattest 368 Aspekte, gutachterliche 138 Asymmetrie 177 Atlasdislokation, posttraumatische 250 Atlasfehlstellung 252 Atlaskorrektur 249 Atlastherapie 100, 250, 265 – nach Arlen 246, 250, 253 Attest 339, 347, 353 Audiometrie 117 Aufbissschiene 265, 267 Aufmerksamkeit 98, 184, 191, 310, 311 – geteilte 190 – selektive 314 – verdeckte 314 Aufmerksamkeitsprobleme 449 Ausdauerleistungsfähigkeit 31 Ausgangsbefund 268 Ausheilungsdauer 413 Ausheilungsergebnis 438 Auslaufgeschwindigkeit 83 Ausnahmeverlauf 436, 438 Auto-Crashtest-Programme 399 Autogenes Training 254 Autositze 398 Autoskooter 333, 348 Axoplasmastrom 27
460
]
Sachverzeichnis B
Bagatelle 335, 353, 358, 362, 363, 374, 375 Bagatellisierung 227 Bagatellschwelle 338 Bagatelltrauma 437 Bagatellunfall 299 Bagatellverletzung 338 Bandeinblutungen 146 Bänder, kraniozervikale 153 Bänderbelastbarkeit 45 Bandläsion 141, 146 Bandruptur 40, 41 Bandscheibe 60, 411 Bandscheibenprotrusionen 138 Bandscheibenschäden, traumatische 176 Bandscheibenvorfall 166, 202, 204 – zervikaler 280 Bandstrukturveränderung 178 Bandverletzung 39, 45, 137 Bandzerreißungen 246 Beck Depression Inventory 188 Bedingung, wesentliche 343, 376, 377 Bedrohungssituation 324 Beeinträchtigung, neuropsychologische 310 Beeinträchtigung, psychische 362 Befund, klinischer 423, 424 Befunderhebung 343 Begehrensneurose 358, 373, 392 Begutachtung 10, 13, 63, 423 – biomechanische 78 Behandlung – angemessene 450 – zahnärztliche 216 Behandlungsansätze, alternative 253 Behandlungskonzepte 243 Behandlungsmethoden 449 Behandlungsstrategien 220 Behandlungsunterlagen 409 Behinderung 420 Behinderungsgrad 16 Belastbarkeit 425 – der Halswirbelsäule 334 – mechanische 62 Belastung – biomechanische 78, 334 – biopsychologische 84, 426 – mechanische 18 – psychologische 273 – Quantifizierung 86 Belastungsgrenze 71, 348 Belastungsreaktion, akute 379, 416 Belastungsstörung, posttraumatische (PTBS) 275, 276, 294, 296, 370, 416 Benommenheit 160, 168, 184 Berührungsspuren 68 Beschleunigung 61, 67, 81, 402 Beschleunigungscharakteristika 59, 60
Beschleunigungsspitze 85 Beschleunigungstrauma 18, 20, 172 – Folgeschäden 18 – kraniozervikales 97 Beschleunigungsverletzung 10, 39, 104 – der Halswirbelsäule 156, 163, 169 Beschwerdebeginn 51, 56 Beschwerdedauer 48, 51 Beschwerdefreiheit 263 Beschwerdehäufigkeit 48 Beschwerden – kognitive 235 – neurasthenische 264 – therapieresistente 111 – vegetative 264 Betäubungsmittel 212 Bewältigungsmechanismen 297 Bewältigungsmöglichkeiten 299 Beweglichkeit, paradoxe 161 Bewegungseinschränkungen 51, 53, 121, 431 Bewegungsprogramme 6 Bewegungsrichtung 79 Bewegungstherapie 31 Beweiserleichterung 369 Beweisführung 454 – statistische 456 Beweislast 369 Beweislastverteilung 404 Beweismaßerleichterung 368 Beweismaßstab 368, 374 Beweismittel 67, 355 Beweisregeln 439 Beweiswürdigung 388 Bewusstlosigkeit 18, 158, 238 Bewusstseinsstörungen 234 Bewusstseinsveränderungen 228 Bewusstseinsverlust 228, 238 Bildakquisition 151 Bildprotokoll 178 Bildqualität 151 Biomechanik 78, 87, 348 Blechbeulen 437 Blechschäden 80 Blockade, diagnostische 207 Blockierung 12 Blut-Hirn-Schranke 237, 250, 280 Botox-Injektion 119 Bradykinin 8, 25, 27 Brain-maps 222 Bremsspur 67 Bruxismus 261 Bundesanstalt für Straßenwesen (bast) 74 Bundesgerichtshof 78 Bursitis 179
Sachverzeichnis C CARAT 83, 85 Case Management 112, 450 Category-Test 313 Cephalomotorik 113 Cervikogenic Headache International Study Group (CHISG) 419 C-Fasern 287 Chirotherapie 254 Chronifizierung 14, 16, 17, 103, 163, 168, 261, 300, 304, 425, 426 Chronifizierungsprozess 27, 244 Chronifizierungsrate 432 Coaching 306 Cogsport 233 Commotio 99 Commotio cerebri 105, 124, 128, 227 Commotio labyrinthii 105 Computertomographie (CT) 134, 136, 186, 208 – Funktion-CT 141 Conditio sine qua non 344 Cortisol 305 Crash-Programme 85 Crashtest 74, 76, 82, 407 Crashtest-Verfahren 399 Crashversuche 70, 83 Cytokine 14
D Dämpfung 85 Daten, demographische 51 Dauerschmerzen 251 Defektheilung 439 Defizite – multi-sensomotorische 111 – neuropsychologische 111, 313 Deformationsarbeit 82 Deformationsbild 69 Deformationselement 75, 76 Deformationstiefe 82, 84 Degeneration 62, 63, 138 Dehnungsrezeptoren 86 Dekonditionierung 29 Delta-V 50, 79, 81, 84, 87, 349, 406, 425 Delta-V-Verteilung 51 Demyelinisierung 279, 280 Denken – nonverbales abstraktes 312 – verbales abstraktes 312 Dens related complex 142, 173, 175 Dens-Instabilität 180 Dens-Kontusion 173, 179 Depression 126, 273, 287, 294, 313, 371, 430 – primäre 184 – reaktive 290
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) 172 Diagnose, post-mortem 232 Diagnosesysteme 343 Diagnostic Criteria for Headache Disorders, Cranial Neuralgias and Facial Pain (ICHD-II) 417 Diagnostik 93 – bildgebende 133 – neurootometrische 116 – radiologische 98 Differenzgeschwindigkeit 69, 331 Differenzialdiagnose 216 Diffuse axonal injury (DAI) 231, 232 Diffuse head injury (DHI) 231 Diskushernie 174 Dissoziation, peritraumatische 298 Distorsion 39, 423 Distorsions-Verletzungen 431 Distraktion 211 Doppelblindstudie 202 Drehschwindel 126 Drop Attacks 99, 126, 128 Druck, intrakranieller 18 Druckänderungen 19 Druckanstieg 20 Druckausgleich 106 Druckgradient 20 DSM-IV 296, 301, 417 Dummy 12, 86 Dummyexperimente 61 Dummykopf 60 Dura mater 177 Dysfunktion – kognitive 310 – kraniomandibuläre (CMD) 262, 266, 268 – kraniozervikale (CCD) 262 – muskuläre 121, 123 – neuropsychologische 236 – vertebrale 133 – zervikale 135
E Eigenkontraktion 11 Einblutung 177 Eindringtiefe 68 Einflüsse, psychische 351 Einklemmung 45 Einlaufgeschwindigkeit 83 Einzelfall, Umstände 72 Elastizitätsgrad 80 Elektroenzephalogramm, quantitatives (qEEG) 220, 253 Elektroenzephalographie 127 Elektromyogramm 267 Elektronystagmographie (ENG) 116, 117, 127 Elektrostimulation, transkutane 26 Elektrotherapie 25, 26, 30, 112
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Sachverzeichnis
EMG-Amplitude 122 EMG-Messung 122 Endorphine 26, 254 Energieabsorbierung 77 Energieerhaltungssatz 82 Energy Equivalent Speed (EES) 82 – Verfahren 84 Entscheidungsbaumanalyse 52 Entspannungstherapie 218 Entzündungsmediatoren 27 Entzündungsprozesse 168 Enzephalopathie 192 Epilepsie 221, 222, 256 Erbrechen 87 Erdmann 172 Erkenntnisstand, wissenschaftlicher 344 Erkrankungen – psychosomatische 158 – rheumatische 143 Erregungsverarbeitung 26 Erschöpfbarkeit 275 Erschöpfungssyndrom 271, 273 Erstdiagnose 441 Erstdiagnostik 172 Erstsymptome 441 Erstunfall 361 Erstuntersuchung 409 Erwerbsunfähigkeit 372 European Enhanced Vehicle-safety Commitee (EEVC) 397 Evidenz 45 Explorationsleistung, visuelle 310 Extension 19 Extremstress 304
F Facettengelenke 114, 169, 201, 208 Facettengelenkskapseln 156 Facettengelenksverletzungen 14 Fachliteratur 413 Fahrgastzellen 68 Fahrzeugausstattung 407 Fahrzeugkonstruktion 407 Fahrzeugverformung 81 Faktoren – prognostische 51 – psychologische 48, 52 – verletzungsfördernde 334 Fasern – A-Delta-Fasern 287 – C-Fasern 287 Fehlstellung 249 Fehlverarbeitung 340, 370 Fehlverarbeitung, neurotische 379 Fetteinlagerungen 164, 167 Fibromyalgie 192, 273, 391 Fine-Wire EMG 121
Flexibilität, kognitive 310 Flexion 19 Flexions-Extensions-Verletzungen 103 Flügelbänder 136, 137, 142, 156 Flüssigkeit, zerebrospinale 18, 228 Folgebeeinträchtigung 367 Folgekosten 70 Folgen – psychische 335, 379 – sozio-psychologische 24 Folgeschäden 18 Formatio reticularis 289 Forschung, epidemiologische 437 Fotophobie 205 Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) 430 Frequenzmuster 221 Frontalhirn 289 Frontalkollision 39, 51, 52, 349 Frühmanagement 425 Frühwarnsysteme 62 Funktionsaufnahmen 87, 134 Funktionsdiagnostik, kernspintomographische Funktionseinschränkungen 32 Funktionsfähigkeit 420 Funktionskernspintomographie 180 Funktionspathologien 159 Funktionsstörungen 107, 114, 144, 292 – mandibuläre 216 – neuropsychologische 99 – rotatorische 134 – traumatische 217 Funktionsstudien 135 Funktionsuntersuchung 133 Funktionszustand 145
G Ganglion 288 Gedächtnis 311 Gedächtnisstörungen 236 Gedächtnisverlust 39 Gefäßpermeabilität 27 Gefrierschnitte 63, 141 Gehirndurchblutung 187, 255 Gehirnerschütterung 227, 228 Gehirnfrequenz 256 Gehirnschäden 235, 236 Gehirnstamm 228 Gehirnverletzung 187, 229 Gehirnzellen 232 Gehörstörungen 126 Geldersatz 383 Gelegenheitsursache 377 Gelenkfacetten 86 Gelenkinstabilität 30 Gelenkkapsel 60 Gelenkschmerzen 207 Genesungsrate 97
172
Sachverzeichnis Gesamtschuldner 363 Geschwindigkeitsänderung 50, 61, 78, 79, 402 – Delta-V 56 – kollisionsbedingte 73, 331, 350, 437 Gesichtsschmerzen 216, 261, 264 Gesundheitsbeschädigung 374 Gesundheitsschaden 344 Gesundheitsstörung 343, 344 – vorhandene 332, 339 Gesundungsprozess 255 Gewalteinwirkung 10, 40 Gewebeschädigung 16, 25, 28 Gewebeschwäche 217 Gewebeveränderung 218 Gleichgewichtsprobleme 158 Gleichgewichtsschulung 243 Gleichgewichtsstörungen 42, 103, 104, 109, 111, 205, 228, 264 Gleichgewichtssystem 113 Gleichgewichtstraining 109 Glialzellen 15, 100, 233 Globusgefühl 107 Glukosemetabolismus 190 Glukosemetabolismus-PET 188 Grenzwerte 61, 62, 63 – kollisionsdynamische 60 Grundlagen, neurophysiologische 112 Gurt- und Airbagwirkung 410 Gutachten 409 – neurootologisches 118 – unfallanalytisches 335 Gutachtenpraxis 88 Gutachter – Unabhängigkeit 402 – Unparteilichkeit 404 Gutachterliche Untersuchung 411
H Habituation 109 Haftpflichtrecht 372, 387 Haftpflichtversicherung 382 Halleffekt-Sensor 41 Halsmarkatrophie 281 Halsmuskulatur, kleine 426 Halspropriozeptoren 7 Halswirbelsäule (HWS) 76, 368, 424 – degenerative vorgeschädigte 366, 367 – Belastbarkeit 334 – Beschleunigungstrauma 136, 139 – Beschleunigungsverletzungen 121, 133, 135, 156, 163, 169, 263, 410 – Beweglichkeit 419 – Distorsion 11, 163, 168, 252, 263, 369, 371, 386, 410, 430 – – Schweiz 386 – Distorsionstrauma 14, 15
– Hyperextensions-Hyperflexions-Verletzung 279 – Schleudertrauma 366, 367, 368, 370, 375, 386 – – Langzeitfolgen 184 – Trauma 418 – Verletzung 32, 63, 78, 332, 347, 349 – Weichteildistorsion 133, 172 – Weichteilstrukturen 410 Halswirbelsäulenpräparate 59 Hämorrhagie 211 Harmlosigkeitsgrenze 71, 72, 78, 84, 89, 90, 331, 348, 349, 355, 392, 397, 401, 406, 410, 423, 441 Head checking Regel 230 heat spikes 203 Heckanprall 52 Heckanstoß 337 Heckanstoß, simulierter 88 Heckaufprall 39, 71, 77, 78 Heckkollision 48, 50, 348 Heilbehandlung 345 Heilungspotential, individuelles 437 High-End-Geräte 151 Hinterhorn 289, 444 Hinterkopfschmerzen 264 Hippocampus 115, 298 Hirnanhangsdrüse 275 Hirndurchblutung 189 Hirnläsion 193 Hirnödem 235 Hirnperfusion 190 Hirnperfusions-SPECT 188 Hirnperfusionsszintigraphie 252 Hirnschranke 252 Hirnschrankenprotein S-100 100, 251 Hirnstamm 98, 104, 230, 288 Hirntrauma 100 Hirnverletzung 99, 185, 187, 191, 232, 276 – axonale 97 – milde traumatische 97, 186 Histamin 27 Hochfeldgerät 152 Hochfrequenzfeld 165 Hochgeschwindigkeitsversuche 41 Hormonproduktion 305 Hormonstörungen 277 Horner-Syndrom 126 Hörstörungen 53, 98, 109, 163, 264 Hörverlust 105, 449 Hüftabduktionstest 267 Hyperakusis 105, 106 Hyperalgesie 14, 28, 39, 205 Hyperarousal 296, 305 Hyperextension 173, 247 Hyperextensionsaufnahmen 181 Hyperflexion 247 Hyperflexionsphase 115 Hypermobilität 98, 134, 242, 244 Hypersensitivität 115, 205 Hypersomnie, posttraumatische 320, 321 Hypertranslation 97
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463
464
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Sachverzeichnis
Hypometabolismus 188, 233 Hypomobilität 135, 242, 244 Hypophyse 272, 275 Hypophyseninsuffizienz 277 Hypophysenunterfunktion 276 Hypothalamus 271, 276, 289 Hypothese 88 Hypoxie 233
I ICD-10 296, 301, 304, 415, 427 ICF 420, 427 Identitätsstiftung 299 IHS 417 Immobilisation 29, 32 Impaktion 211 Impuls 82 Impulsfortpflanzung 441 Impulsübertragung 81 Impulswinkel 50 Informationsverarbeitung 324 Infusionstherapie 108 Injektionen 213 Innenohrschwerhörigkeit 107 Innervation 5 Insassenbelastung 70, 71, 79, 85 Insassenbeschleunigung 350 Insassenbewegung 70 Insertionstendinosen 445 Instabilität 45, 156, 160, 251 – diskoligamentäre 14, 146, 243, 244, 261 – posturale 106, 108 – – zervikogene 109 Internationale Kopfschmerzgesellschaft 216 Interobserver-Studien 145 Intervall, freies 426 Intrusionen 296 In-vitro-Studien 59, 232 In-vivo-Studien 232 Inzidenz 455
K Kälteeinwirkung 26 Kapselligament (CL) 44 Kapselriss 211 Kapselrupturen 173 Kapselschädigungen 246 Kapselverletzung 142 Karosseriestruktur 85 Kaumuskel 7 Kaumuskulatur 264 Kausalität 78, 338, 353, 377 – haftungsausfüllende 363, 367, 368 – haftungsbegründende 367
– überholende 368, 369 Kausalitätsbetrachtung 366 Kausalitätsbewertung 439 Kausalitätsfrage 111, 355 Kausalitätslehre 343 Kausaltitätsbegriff 376 Kausalzusammenhang 78, 344, 358, 454 – adäquater 387, 392 – natürlicher 387 Kernspin, funktionelle (fMRI) 137, 312 Kernspintomographie 87, 154, 156, 163 – funktionelle (fMRT) 143, 147, 156, 157, 159, 161 Kiefergelenk 7, 216, 218, 261 Kiefergelenkbehandlung 255 Kiefergelenksschmerzen 163, 218 Kiefergelenksstörungen 262 Kinine 287 Klassifikation 347 Klassifikationssysteme 415 Knorpelschäden 39 Koblenzer Konsensus 133 Kollisionen, seitliche 349 Kollisionsablauf 350 Kollisionsdauer 61, 63 Kollisionsgeschwindigkeit 48, 68, 401, 442 Kollisionsphase 69 Kollisionsrichtungen 62 Kollisionsstellung 68 Kollisionsversuche 354 Koma, posttraumatisches 230 Kombinationstherapie 243 Kompensationsansprüche 419 Kompensationsstrategien 29 Komplex, dens related 159, 173 Konditionierung, operante 294 Konstitution 56 – individuelle 53 – körperliche 72, 351 Kontaktspuren 68 Kontraktion, reflektorische 11 Kontrollgruppe 42 Kontusion 231 Konversionsneurose 313, 358, 371, 372, 374 Konzentration 184 Konzentrationsfähigkeit 31, 157 Konzentrationsprobleme 19, 163, 271, 449 Konzentrationsschwäche 87, 99, 205, 263, 430 Konzepte, pathophysiologische 423 Kopfbeschleunigung 230 Kopfdrehung 337 Kopfgelenk 97, 141, 159, 262 Kopfgelenksbänder 142, 146, 147, 155 Kopfgelenksstörungen 262 Kopfhaltung 335 Kopfinnendruck 21 Kopf-Körperhaltung 407 Kopfposition 71 Kopfrotation 86, 142, 177
Sachverzeichnis Kopfschmerz 8, 12, 18, 24, 185, 205, 216, 261, 264, 290, 417, 418, 449 – posttraumatischer akuter 418 – orthostatischer 21 – posttraumatischer chronischer 418 – zervikogener 97, 419 Kopfschmerzgesellschaft, internationale 216 Kopfschmerztyp 216 Kopfstütze 74, 76, 407 – aktive 76 – passive 76 – reaktive 76 Kopfstützeneinstellung 71 Kopfstützenkonstruktion 337 Kopfstützenposition 74 Kopftranslation 86 Kopfverletzungen 227, 231, 235 – diffuse 231 – fokale 231 Körperbau 70 Körperbelastung, mechanisch-kinematische 88 Körperbeschwerden, unklare 292 Körperfunktionen 420 Körpergröße 332 Körperhaltung 70 Körperschaden 436 Körperstrukturen 420 Körperverletzung 332, 333, 379 Korrelat, morphologisches 339 Kortex 291 – somatosensorischer 293 Kortikosteroide 213 Kortisol 277 Kortisol-Aufwach-Reaktion 272 Kortisolkonzentration 272 Kortisolspiegel 273 Kräfte, biomechanische 228 Krafteinwirkung 68, 425 Kraft-Weg-Funktion F(s) 82 Kraft-Weg-Kennlinien 82 Kraniosakraltherapie 249, 253, 254 Krankenversicherung, gesetzliche 342 Krankheitsgewinn 89 – sekundärer 299 Krankheitsverlauf 73, 228 Kriterien, diagnostische 301
– des HWS-Schleudertrauma 184 Langzeitschäden 168, 397 Langzeitstudien 235 Langzeitsymptome 185 Langzeitwirkung 70 Lärmüberempfindlichkeit 157, 266 Läsionen 10, 213 – der Ligamenta alaria 143 – strukturelle 97 Late Whiplash 111 Latenz 266, 426 Latenzzeit 249, 445 Late-Whiplash-Syndrom 184, 187, 191 Lebensentwürfe 32 Lebensrisiko, allgemeines 89, 376 Lehrmeinungen 145 Leichenpräparate 40 Leistungen, visuell-kognitive 312 Leistungsfähigkeit 191 Leistungsminderung 98 Leistungsreserven 31 Leistungsschwäche 217 Leitlinien 145 Lernen 311 Letter-Vigilanz-Test 312 Lichtempfindlichkeit 156 Lichtüberempfindlichkeit 157, 163 Ligamenta 156 Ligamenta alaria 98, 115, 134, 135, 136, 137, 141, 142, 144, 145, 146, 153, 159, 160, 173, 174, 177, 407, 448 – Läsion 143 Ligamenta interspinosa 44 Ligamentum apicis dentis 174 Ligamentum cruciatum 175 Ligamentum flavum (LF) 41 Ligamentum transversum 173, 179 Ligamentum transversum atlantis 115, 174 Ligamentum-alare-Ruptur 104 Ligamentum-alare-Verletzung 105 Linearbeschleunigung 229 Liquorfistel 98 Litauen 434 Lobbying 401 Lokalanästhetikum 203, 212, 213 Lokomotorik 113 LPS-Untertest 312 Luxationsfraktur 125
L M Labyrinth 113 Lagerungsschwindel 108 Lähmungen 18 Länderunterschiede 400 Längsband – hinteres (PLL) 43 – vorderes (ALL) 43 Langzeitbeschwerden 205, 398 Langzeitfolgen 51, 187, 400, 431, 434
]
Magerl Methode 157 Magnetfeld 165 Magnetresonanz-Spektroskopie 193 Magnetresonanztomographie (MRT) 136, 163, 186 – Funktionsdiagnostik (fMRT) 137, 173, 404 Magnitudenverteilung 221 Mangeldurchblutungen 192 Manualtherapie/Chirotherapie 246
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Sachverzeichnis
Marker, biochemische 227, 236 Massagen 25 Massenverhältnis 79 Maximalbeschleunigung 60 Mechanorezeptoren 29, 45, 115 Medianwert 83 Mehrfachkollision 410 Mehrfachverletzungen 50 Membrana tectoria 175, 177 Membranrupturen 106 Messfehler 425 Methode, elektromyographische 121 Mikroeinblutungen 445 Mikroinstabilität 174 Mikroläsionen 112 Mild Traumatic Brain Injury (mTBI) 227, 237 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 378, 379 Mitursache 344 Mitursächlichkeit 362 Mitverschulden 364 Mobilisierung des Nervensystems 248 Mobilitätseinschränkung 242 Möglichkeiten, therapeutische 253 Morbus Scheuermann 443 Mortalität 235 Motilität 246 Motoneuronen 5 MTBI 318 Multiple Sklerose 279 Muskelaktivitäten, pathologische 121 Muskelanspannung 62, 63 Muskelatrophie 164 Muskeldegeneration 168 Muskelfaserriss 10 Muskelfaserstimulation 59 Muskelfunktionsstörungen 133, 427 Muskelgrundtonus 62 Muskelkontraktion 10, 441 – Begutachtung 10 – reaktive 62 – supramaximale exzentrische 426 Muskelkräfte 40 Muskelmassenkontraktion 13 Muskelschwund 164 Muskelspasmus 45 Muskelspindel 5, 86, 159 Muskeltonus 30, 103, 407 Muskelveränderungen 169 Muskelverkrampfung 218 Myelographie 127 Myelonkompression 143 Myelonkontakt 142 Myelonkontusion 181 Myelopathie 99, 157, 158, 176, 279 – posttraumatische 181
N Nachtschlaf-Hirntätigkeit 321 Nachweis, technischer 439 Nackenkopfschmerz 264 Nackenmuskel 5, 7 Nackenmuskelverletzungen 45 Nackenmuskulatur 231 Nackenschmerzen 24, 42, 87, 126, 164, 211, 290, 432, 445, 449 – chronische 210 Naturalrestitution 382, 383 NCAP – Protokoll 76 Neck Disability Score 167 Nervenäste 209 Nervenblockade 204 Nervenreizung 169 Nervenstimulation, transkutane elektrische (TENS) 244 Nervenstrukturen 203 Nervensystem – Mobilisierung 248 – zentrales 14, 16, 18 Nervenverletzungen 168 Nervenwurzel 20, 205 Nervenzellmembran-Dysfunktion 22 Nervenzellmembranschäden 18 Neuraltherapie 253 Neurasthenie 313 Neuroanatomie 5 Neurobiologie 14, 298 Neurofeedback 220, 254, 256 Neurofeedback Training 222 Neurofeedbackbehandlung 220, 224 Neuroimagination 303 Neuroleptika 290 Neuromodulation 203 Neuron 288 Neuropathologie 227 Neurophysiologie 186, 220, 227, 233 Neuroradiologie 227 Neurorezeptoren 173, 181 Neurose 376 Neurosomatik 308 Neurostressfragmentierung (NSF) 303, 306 NeuroSwing 159 Neurotransmitter 233 Newtonsches Axiom 81 Niedriggeschwindigkeit 331 Niedriggeschwindigkeitsbereich 356 No stress – no whiplash? 90 Non-contact-Verletzungen 103 Normalpopulation 154 Nozizeption 6, 15, 24, 25, 133, 139, 202, 247, 287 Nucleus pulposus 174 Nuklearmedizin 184
Sachverzeichnis O Obduktion 126 Oberkiefer 216 Ohrdruck 264 Ohrensausen 87, 205 Ohrgeräusche 106, 185 Okulomotorik 113 Okzipitalnerv 210 Opioide 16 Optokinetik-Test (Retina) 116 Organpathologie, periphere 293 Osteochondrosen 442 Osteopathie 246, 253, 254 Österreichische allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) 403 Otalgie 264 Otolithenfunktionsstörung 108 Otolithenkristalle 105 out of position 70, 333, 351 outcome 17
]
Prävalenz 455 Pre-trauma factors 448 Primärschaden 436, 439 Primärverletzung 359, 362, 367, 368, 374, 375, 378 Probanden, asymptomatische 139. 154 Probleme, psychologische 204 Prolotherapie 119 Propriorezeptoren 98 Propriozeption 5, 45, 133, 139, 247 Prozesse, histochemische 145 Prozesskostenhilfe 382 Psyche 287, 290 Psychopathologie 287 Psychopharmaka 31, 118 Psychotrauma 303 Psychotraumatologie 303
Q Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders 185 Querbeschleunigung 336
P Pain-adaptation-Modell 122 Palpationsempfindlichkeit 266 Paraästhesie 42 Paradoxe Beweglichkeit 161 Parameter, unfalltechnische 53 Partialruptur 39 PASAT 311 Pathogenese 314 Pathomechanismus 263 Pathophysiologie 15 PC Crash 83 Peitschenhiebbewegung 211 Peitschenschlag 397 Peitschenschlagbewegung 20 Peitschenschlag–Kosten 399 Perfusionsminderung 187, 190 Perfusions-SPECT 188, 190 Personendaten 49 Personenschaden 78 Persönlichkeitsrecht 385 – allgemeine 383, 384, 385 Persönlichkeitsrechtsverletzung 382 Persönlichkeitsveränderungen 32 Pharmakotherapie 224 Physiologie 287 Placebo-Nullversuche 12 Plattenverschraubung 160 Polysomnographie 317 Positronenemissionstomographie (PET) Post-trauma factors 449 Posturographie 107, 114, 116, 117 Prädisposition 340, 379 Prätraumatisierung 30
R
184
Radiofrequenz (RF) 201 Radiofrequenzbehandlung 201 Radiofrequenz-Neurotomie (RFN) 112, 117, 213, 214 Radiofrequenztherapie (PRF) 203 Randomisierung 178 RAND-Studie 447 Raumorientierung 251 Reaktionen, psychische 289 Rebalance-Training 119 Rechtsgüter, geschützte 384 Rechtsprechung 331, 352 Rechtsschutzlücke 381, 382 Reflex – vestibulookulärer (VOR) 113 – zervikokollischer (CCR) 113 – zervikookulärer (COR) 113 Reflexdystrophie 28 Reflexschwelle 15 Regelverläufe 436 Regions-of-Interrest 188 Rehabilitation 116, 234, 345 – neuropsychologische 119 Reizbarkeit 217 Reizverarbeitung 24 Reklination 124 Rekonstruktion 49, 67, 83, 84 Rekonstruktionsmethoden 78 Relativitätsbewegung 76 Relativitätsgeschwindigkeit 79, 80 Relaxation, postisometrische 244 Rentenneurose 372
467
468
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Sachverzeichnis
Rentenversicherung, gesetzliche 342 Ressourcen-Allokation 324 Restitutionsphase 81 Retraktionsbewegung 18 Rezeptordichte 262 Rindenfelder 287, 288 Risikoabschätzung 63 Romberg-Test 107 Röntgenaufnahme 150 Röntgendiagnostik 134 Röntgenuntersuchung 410 Rotation 153 Rotationsbeschleunigung 229, 230 Rotations-Beschleunigungstrauma 238 Rotationseinschränkung 138 Rotationsmobilität 135 Rotationsstellung 97 Rotationstraumen 100 Rückenmark 288 Rückenmark-Kompression 99, 138, 142, 143, 281 Rückenmarkskontakt 158 Rückenmarksschädigung 157 Rückenschmerzen 24, 263 – chronische 426 Rückhaltesysteme 53 Rücknickbewegung 11 Ruhigstellung 425 Rupturen 11, 39, 60, 134, 142, 178 – partielle 147 Rupturkräfte 42 S S1-Leitlinien der Berufsgenossenschaft 146 Sachleistung 345 Sachverhaltsaufklärung 383 Sachverhaltsermittlung 409 Sachverständiger, technischer 67, 70 Sakkaden-Test 116 Sanktionscharakter des Schadensersatzes 385 Saskatchewan 433 Sauerstoffmangel 27 Schädelfrakturen 231 Schädel-Hirn-Trauma 186, 221, 227, 236, 237, 253, 275 Schädelhirnverletzung, milde 317 Schäden – axonale 104 – psychische 351 – strukturelle 238 Schadenanfälligkeit 362 Schadenbereitschaft 364 Schadenersatzanspruch 56, 367, 370, 372, 430 Schadengutachten 68 Schadensanlage 336, 358 Schadensbereitschaft 340 Schadensbilder 90
Schadensersatz 454 Schadensersatzforderung 347 Schadensersatzzahlungen 433 Schadenslage 377 Schadensregulierung 382 Schadensrisiko 362 Schädigungen 420 Schallempfindungsschwerhörigkeit 106 Schaltstelle 8 Schanz’sche Halskrause 72 Scherkräfte 114 Schichtdicke 152 Schlafapnoesyndrom 192 Schlaffragmentation 320 Schlafprobleme 160 Schlafqualität 317 Schlafquantität 317 Schlafstörungen 12, 31, 217, 264, 305, 317 Schlafzerstückelung 320 Schleuderbewegung 69 Schleudertrauma 8, 78, 87, 128, 150, 166, 423 Schleudertrauma-Mechanismen 40 Schleuderverletzungen 40 Schlittenbeschleunigung 86 Schlittenversuche 74 Schluckbeschwerden 12 Schluckschmerz 264 Schluckstörungen 53, 107, 185 Schlüsselbezeichnung 343 Schmerzausbreitung 242 Schmerzausstrahlung 267 Schmerzbehandlung 16 Schmerzcharakteristika 419 Schmerzchronifizierung 14, 45 Schmerzempfindung 28, 98, 123 Schmerzempfindungsskala 314 Schmerzen 24, 51, 53,287, 429, 438, 444 – chronische 39, 202 – psychogene 429 Schmerzensgeld 341, 354, 364, 433 Schmerzensgeldansprüche 56 Schmerzfokus 208 Schmerzgedächtnis 30 Schmerzgeschehen 24, 25, 313 Schmerzhemmsysteme 26 Schmerzmedizin 430 Schmerzmittel 291 Schmerzmuster 27, 212 Schmerzpatienten, chronische 216 Schmerzrezeptoren 24, 287 Schmerzschwelle 15 Schmerzsignal 288 Schmerzstörung – anhaltend somatoforme 390 – somatoforme 293, 313, 427 – – anhaltende 416 Schmerzsyndrom 40, 164 – chronisches 313 Schmerztherapie 26
Sachverzeichnis Schmerzverarbeitung 15, 26, 53, 56 – gestörte 118, 291 Schmerzwahrnehmung 7, 27, 28, 287 Schnittrichtung 177 Schockschadensfälle 375 Schockwellen-Weiterleitung 231 Schonmechanismen 30 Schonung 425 Schulter-Arm-Komplex 249 Schultergürtelmuskulatur 244 Schulterschmerzen 39, 449 Schutzreaktion, muskuläre 134 Schutzzweck 358 Schwankschwindel 107 Schweizerische Unfallversicherung (SUVA) 117, 135, 146 Schwellung, axonale 232 Schweregrad 347, 437, 438 Schweregradeinteilung 413 Schweregradtabelle 420 Schwindel 8, 39, 53, 87, 111, 263, 264, 449 Schwindelanfälle 158 Schwindelbeschwerden 108, 391 Schwindelgefühl 168 Schwindel-Symptomatik 115 Second Impact Syndrom 235 Segmentdysfunktion 248 Segmentinstabilitäten 173 Sehen 39 Sehleistungen, zerebrale 312 Sehstörungen 18, 53, 106, 126, 156, 228, 264, 449 Seitenaufprall 71 Seitenkollision 337 Seitneigung 97 Selbstbestimmung, wirtschaftliche 384 Selbstbestimmungsrecht, informationelles 384 Selbstbewusstsein, Störung 30 Sensibilisierung 14, 17 Serotonin 27 Serotoninmangel 250 S-Form 211 Shaken Sense of Self 30 Sicherheit, passive 74 Sicherheitseinrichtungen 350 Sicherheitsniveau 77 Signalalteration 141, 146 Signalanhebungen, intraligamentäre 137 Signalintensität 152 Signalveränderung 153, 169 Signalveränderung, intraligamentäre 178 Simulation 27, 116, 294, 339, 348, 401, 419 Single-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPECT) 184, 312 Sitz- und Kopfstützendesign 398 Sitzhaltung/Körperbau 70 Sitzposition 70, 71, 332, 337, 349, 357 Sitzstabilität 76 Sitzsteifigkeit 74 Skooterfahrten 88
Somatisierungs-Störung 118, 293, 416 Sozialversicherung 342 Sozialversicherungsrecht 387 Speichelkortisolspiegel 272 Spinalganglien 6, 23 Spinalkanal 19, 98 Spinalnerven 86 Spindelafferenzen 6 Spindeldichte 168 Spiral-CT 134 Spondylose 279, 442 Spongiosaödem 407 Sprachstörungen 126 Stadieneinteilung nach Gerbershagen 420 Steifigkeit 84 – der Fahrzeuge 401 Stenose – spinale 280 – zervikale 280 Steuermechanismen, neuro-psychologische 121 Stimulation 448 Störungen – dissoziative 300 – endokrinologische 275 – funktionelle 97, 121, 261 – hormonelle 100 – kognitive 223 – psychische 126, 287, 290, 353, 370, 372, 376, 417 – psychoreaktive 99 – psychosomatische 173 – somatoforme 292, 300, 371, 379, 416 – zentrale 18 – zentralnervöse 18 Stoß – elastischer 79 – inelastischer 80 Stoß, teilelastischer 80 Stoßdauer, Delta-t 81 Stoßenergie 75 Stoßfahrzeug 69 Stoßgeschwindigkeit 407 Stoßrichtung 69 Stoßwelle 407 Stoßzahl k 83 Stoßzeit 350 Straßenverhältnisse 69 Streifberührung 337 Stress, psychotraumatischer 304 Stressauflösung 307 Stressfragmentierun 305 Stresshormon 305 Stressnachschlageffekt 323 Stressphase 223 Stressprofile 324 Stressreaktionen, posttraumatische 32 Stressresistenz 31 Stresssituationen 30 Stressvulnerabilität 325 Strukturdefekte 179
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469
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Sachverzeichnis
Strukturläsionen 246 Strukturschaden 169, 248 Struktursteifigkeit 82 Studien, postmortale 211 Subarachnoidalraum 19, 21, 99, 142 Sympathikusaktivität 28 Symptomausweitungen 32 Symptome – klinische 61 – neurologische 22 – neuropsychologische 305 – psychotische 290 – vegetative 98 – vertebrobasiläre 125 Symptomenausweitungen 290 Syndrom – myofasziales 242 – posttraumatische zervikale 124 – zervikoenzephales 98, 126, 173, 182, 242 Synovitis 179 System – limbisches 289, 293, 298, 305 – vestibuläres 113, 115
T Tagesschläfrigkeit 317 TAP 314 Taubheitsgefühl 158 Techniken, kraniosakrale 246 Teilrupturen 141, 177 Teilüberdeckung 82 Temporallappen 221 Temporomandibulargelenk 230, 231 Tenderpunkte 247 TENS-Therapie 265 Test, neuropsychologische 227, 233, 234 Testverfahren, äquilibriometrische 112 Tetraplegie 125 Thalamus 7, 288, 298 Therapie – manuelle 26, 265 – osteopathische 112 – physikalische 242, 243 Therapieansätze 24 Therapiekonzept 118 Therapieresistenz 248 Therapieversager 224 Thermocoupler 202 Thermoläsion 201 Thermotherapien 26 Tiefensensibilität 288 Tierforschung 193 Tierversuche 39 Tinnitus 12, 111, 157, 263, 391, 449 Tinnitus-Retrainingstherapie 108 TMT-B 311 Toleranzbereich 81, 84
Tonusregulation 248, 249 Torsion 86 Tractus 288 Trägheitseffekt 231 Training, autogenes 254 Trainingsprotokoll 223 Trainingstherapie 29 Trainingszustand 425 Traktionen 243 Translationsbewegung 20 Translationskomponente 229 Transport, axoplasmatische 232 Traumafolgestörung 296 Traumakriterium 297 Traumatic Brain Injury 235 Trigeminus 6 Trigeminusnerven 254 Triggerpunkte 30, 248 – myofasziale 218 Triggerpunktinfiltration 100
U Übelkeit 53 Überbelastung 29 Überdehnung 145 Übergang – kraniozervikaler (KZÜ) 5, 12, 103, 134, 136, 141, 180 – zervikookzipitaler 174 Überlagerungsvorgänge 350 Überraschungseffekt 11 Überreaktion, unangemessene 338 Überschlag 50, 52 Umbauprozesse 28 Umknicken 59 Umstände des Einzelfalls 72 Unfallanalyse 67, 424, 427 Unfallbeteiligung, asymptomatische 89 Unfälle, zwei 361 Unfallfolge 12 – organische 389 – psychische 377, 390 Unfallfolgeschäden 138 Unfallforschung 49, 74 Unfallhergang 424 Unfallkausalität 406 Unfallkinematik 88 Unfallmechanismen 22, 48, 49 Unfallneurose 372, 373, 374 Unfallneurotiker 358 Unfallrahmenbedingungen 50 Unfallrekonstrukteur 68 Unfallrekonstruktion 78, 81 Unfallschwere 56 Unfallsimulationsprogramme 67 Unfallursächlichkeit 363 Unfallversicherung 342
Sachverzeichnis – gesetzliche (GUV) 10, 372 Unfallzahlen 53 Unfallzusammenhang 139, 411 Unterberger-Test 107 Unterdruckphänomene 100 Unterkiefer 216 Unterstützung, soziale 298 Untersuchung – gutachterliche 411 – histopathologische 22 – neurootologische 112 Untersuchungsgrundsatz 388 Untersuchungstechnik 155 Ursachen 368 – psychische 430 – psychisch-seelische 403 Ursachenzusammenhang 73, 339, 343, 366, 367, 373, 375
V Varianz 437 Veränderungen – degenerative 412 – metabolische 168 – neuropsychologische 189 Veranlagung 372, 373 Verarbeitung, kortikale 287 Verarbeitungsstörungen 16 Verbraucherschutz 393 Verformung 68, 81 Verformungsenergie 69, 79, 82, 83, 84 Verhaltensauffälligkeit 323 Verhaltensstörung 223, 416 Verhandlungs- und Dispositionsmaxime 388 Verkehrsunfallforschung 49 Verlaufsbeobachtungen 227 Verletzungen – diffuse axonale 231, 232 – diskoligamentäre 173 – intrakranielle 234 – strukturelle 60 Verletzungsgrenzwerte 62 Verletzungsmechanismus 97, 229, 430 Verletzungsmöglichkeit 72, 84, 336, 350, 410 Verletzungsrisiko 59, 60, 61, 73, 77, 97 Verletzungsschwere 48, 56 Verletzungswahrscheinlichkeit 81, 86, 88, 89, 337 Vermeideverhalten 296 Verschleiß, unfallunabhängiger 411 Verschleißerscheinung 351, 357 Verschlimmerung 344 Verschwommensehen 184 Versehrten-Rente 403 Versicherungswirtschaft 432 Verspannung 51, 72 Versuchsbedingungen 62 Vertebravenen 86
]
Verursachung, psychische 351 Verzögerung 67 Vestibulariskern 7 Vigilanz 314 Vollbeweis 138, 331 Vollbremsung 12, 81 Volumenänderung 20 Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkassen 412 Vorschäden 138, 335, 369 – degenerative 369, 403 Vorschädigung 71, 72, 333, 361, 364, 366, 367, 442 – degenerative 62, 364 Vorspannung 11 Vorstellbarkeit 423 Voxelgröße 151
W WAF-Testbatterie 315 Wahrnehmung, zerebrale 312 Wahrnehmungsprozesse, fragmentierte 304 Wahrscheinlichkeit 367, 368, 369, 453 – bedingte 89 Wahrscheinlichkeit, überwiegende 455 Wahrscheinlichkeitsabwägung 439 Wahrscheinlichkeitsberechnung 453 Wahrscheinlichkeitsgrad 89 Wahrscheinlichkeitsverteilung 88 Wasserhammereffekt 20 Weckreize 318 Weichteildistorsion 107 – Halswirbelsäule 133, 172, 410 Weichteilverletzungen 48, 164, 281, 398 Whiplash Protection System (WHIPS) 75, 76 Whiplash 128, 172, 397 Whiplash Associated Disorders (WAD) 97, 111, 141, 145, 204 Whiplash Injury Lessening (WIL) 76 Winkelbeschleunigung 100, 231 Winkelmessungen 153 Wirbelbogengelenke 210, 211, 441, 445 Wirbeldislokation 281 Wirbelkörper 210 Wirbelsäulenmotilität 443 Wirbelsäulenmuskulatur 445 Wirbelsäulenschmerzen 204 Wirbelsäulenveränderungen, degenerative 138 Wisconsin-Card-Sorting-Test 313
Z Zahnmedizin 216 Zellmembran 99, 203 Zellschädigung 25 Zelluntergang, axonaler 230 Zentralnervensystem 6, 202
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Sachverzeichnis
Zerrung 12, 338 Zervikalsyndrom, posttraumatisches 366 Zervikocephalgien/Zervikobrachialgien 119 Zungenbein 218 Zungenbeinmuskulatur 8 Zungenmuskulatur 6 Zurechnungszusammenhang 353, 363 Zusammenhang
– haftungsrechtlicher 362 – innerer 342 – kausaler 374 – ursächlicher 372, 376 – zeitlicher 339 Zweitunfall 361 Zwerchfell 12 Zytokine 273