Inmitten der Blue Ridge Mountains in Virginia liegt der ehrwürdige Jefferson-Jagdverein. Als dort bei Erdarbeiten die s...
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Inmitten der Blue Ridge Mountains in Virginia liegt der ehrwürdige Jefferson-Jagdverein. Als dort bei Erdarbeiten die sterblichen Überreste eines Menschen gefunden werden, ist die Bestürzung groß. Jane Arnold, die Vorsitzende des Vereins und eine der mächtigsten Frauen im County, erkennt sofort den Ring am Finger des Skeletts. Der große, von zwei Diamanten flankierte Saphir gehörte Nola Bancroft, die vor einundzwanzig Jahren spurlos aus der Gegend verschwunden war. Da die schöne und charismatische Nola Abenteuern keineswegs abgeneigt war, hatten damals alle vermutet, sie sei mit ihrem Verehrer Guy Ramy durchgebrannt. Als jedoch kurz darauf Guys Skelett in einer Tonne im Fluss gefunden wird, weiß Jane, dass sie handeln muss. Sie mag zwar schon in ihren Siebzigern sein, aber hinters Licht führen lässt sie sich deshalb noch lange nicht. Und sie weiß, dass sie vor einer großen Herausforderung steht, denn der heimtückische Killer könnte aus den Reihen der Vereinsmitglieder stammen. Sie ist wild entschlossen, ihn zu stellen — und zwar noch vor Eröffnung der Jagdsaison im Herbst. Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Roman Rubinroter Dschungel und durch ihre Katzenkrimis mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin.
Rita Mae Brown
AUF HEISSER FÄHRTE Roman Mrs. Paul D. Summers, jun., M.F.H. in tiefer Verehrung gewidmet
1 Steinstaubteilchen, die der Wind aufgewirbelt hatte, glitzerten im Sonnenlicht. An diesem vierzehnten Juli präsentierte sich der Morgen windig und mit achtzehn Grad angenehm mild. Die Equipage und die Freunde des Jefferson-Jagdvereins waren mit den Jagdhunden unterwegs. Da es morgens halb acht war, wäre »engagierte« Freunde vielleicht der zutreffendere Ausdruck, dachte Sister bei sich. Jane Arnold, die Jagdherrin, von allen Sister genannt, ging hinter ihrer Meute. Shaker Crown, der Meuteführer, ein Mannsbild von mittlerer Statur, schritt vor den Hunden.
Zwei Feldpiköre, Doug Kinser und Betty Franklin, flankierten die Meute, und die engagierten Freunde, heute Morgen zwei an der Zahl, trotteten hinter der Jagdherrin her. Der gut drei Kilometer lange Ausflug auf einem Kiesweg diente dazu, den Jagdhunden Bewegung zu verschaffen und die Junghunde, die diesen Herbst zum ersten Mal an der Jagd teilnehmen sollten, an das Meuteverhalten zu gewöhnen. Wenn mit fortschreitendem Sommer die Ausflüge ausgedehnter wurden, schmolz das Fett von den Körpern der Menschen. Die Leute sahen gesünder und trainierter aus. Sister amüsierte sich darüber, dass Millionen von übergewichtigen und überfressenen Amerikanern sich für eine Modediät nach der anderen das Geld aus der Tasche ziehen ließen. Würden sie es sich zur Gewohnheit machen, mit Jagdhunden 3
loszugehen, dann könnten sie abnehmen, Geld sparen und obendrein noch die schönste Zeit des Tages erleben. Morgens sah Sister Drosseln, Indigofinken, Distelfinken, Kardinalvögel, Wanderdrosseln, Raben und Falken auf der Suche nach Frühstück - oder vielleicht nur nach Zerstreuung - über sich hinweg schweben. Kaninchen, Maulwürfe, Spitzmäuse, sogar geschmeidige kleine Wildnerze raschelten im Gras abseits des Wegesrandes. In den Bäumen zirpten in ohrenbetäubendem Überschwang die Zikaden, die mit ihren wachsamen Augen alles überblickten. Schwärme von schwarzgelben Schmetterlingen flogen von den Kuhfladen und Pferdeäpfeln auf, mit denen die grünen Weiden der After All Farm, des herrlichen Anwesens von Theodora und Edward Bancroft, gesprenkelt waren. Leuchtend weiße Zäune, die alle zwei Jahre gestrichen wurden, trennten die Weiden voneinander, und an jedem Zaun prunkte ein hübsches Hindernis. Theodora, Tedi genannt, entwarf gern Hindernisse und führte sie präzise aus. Das Errichten der Hindernisse, auch Sprünge genannt, schien der wohlhabenden, aber unausgefüllten Frau so etwas wie einen Lebensinhalt zu geben. Als die kleine Gruppe flott an den Westweiden der After All Farm vorbeimarschierte, hoben drei ausgediente alte Pferde die weisen Häupter. Peppermint, mit vierunddreißig Jahren der Älteste, hatte zwei Bancroft-Generationen das Jagen gelehrt. Am anderen Ende der Weide begrüßte er wiehernd die Menschen und Jagdhunde, die er so gut kannte. Domino und Merry Andrew hinter ihm hielten ebenfalls kurz mit Mampfen inne. Im Hintergrund führte eine schlichte überdachte Brücke über den Snake Creek. Tedi hatte sie 1981 in der Hitze einer architektonischen Passion gebaut. »Hallo, alter Knabe«, rief Sister dem Schimmel zu und winkte.
»Nett, dich zu sehen«, antwortete Peppermint, dann drehte er sich um und nahm einen tiefen Schluck aus dem Bach. 4
»Ein gutes Pferd vergisst Meute oder Master nie«, rief Shaker über die Schulter. »Stimmt«, bestätigte Betty Franklin lächelnd. Sie war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte fünfundzwanzig Pfund abgenommen und fühlte sich wieder wie ein Teenager. Cora, die Leithündin, ging flott vorneweg, und die Junghunde, die ihr folgten, versuchten die Leithündin nachzuahmen. Die Jagdhunde, die im zweiten Jahr dabei waren, verhielten sich wie fortgeschrittene Schüler. Diese wahrlich »weisen Idioten« hüteten sich wohlweislich, aus der Meute auszuscheren. Unterwegs traten die Hunde kleine Kiesstaubwolken los. Neugierige Grashüpfer flogen aufreizend nahe an ihren feuchten schwarzen Nasen vorbei und schössen im Nu wieder davon. Raleigh, Sisters treuer Dobermann, legte die Ohren an, um das Getöse der Jagdhunde einzudämmen. Er betrachtete sich als zur Equipage gehörend, und wenn ein Junghund aus der Gruppe ausscherte, stieß Raleigh ihn zurück, ehe ein Mensch reagieren konnte. Jagdhunde wie Menschen hüteten sich, mit einem Dobermann in Streit zu geraten. Dr. Walter Lungrun, jung, blond und sportlich, ging neben Bobby Franklin, der schnaufte und keuchte. »Diese verdammte Betty«, schimpfte Bobby laut auf seine Frau. »Sagt sie doch glatt zu mir, wenn ich beim Ausführen der Jagdhunde nicht mitgehe und fünfzig Pfund abnehme, lässt sie sich scheiden.« »Sie muss sich nicht scheiden lassen, weil du vorher stirbst!«, rief Sister ihm zu. »Vielleicht will sie dich deshalb bei diesen morgendlichen Ausflügen dabeihaben, Bobby. Sie wird deinen ungeheuren Reichtum erben«, fügte Walter hinzu, der sehr wohl wusste, dass Bobby und Betty in der Druckerei Franklin Printing wie Hunde schufteten und sich dabei keine goldene Nase verdienten. 4
»Wie du bemerkt haben dürftest, bequeme ich mich nur hierher, wenn ich weiß, dass du da bist, Doc. Wenn ich mir an die Brust greife, weißt du, was zu tun ist«, meinte Bobby augenzwinkernd. Sister sah einen Jagdhund den Kopf heben, verführt von einem verlockenden Duft, der aus dem Gras aufstieg. »Ruhig, Nellie«, sagte Sister leise, und Nellie ließ schnell wieder von ihrer Idee ab, die Fuchswitterung aufzunehmen. Sie gingen plaudernd noch einen knappen Kilometer, dann kehrten sie auf demselben Weg, den sie gekommen waren, nach Hause zurück. Bei der überdachten Brücke sah Shaker Peppermint ausgestreckt am Bachufer liegen. Mit strengem Blick befahl er seiner Meute: »Stopp.« Die Hunde blieben stehen.
»Was gibt's?«, fragte Betty. Sie strich sich eine vorwitzige blonde Locke aus der Stirn. »Walter, können Sie mal rübergehen und nach Peppermint sehen?«, rief Shaker dem Arzt zu. Walter, ein ehemaliger Football-Star, stützte sich mit einer Hand auf dem Zaun ab und schwang sich elegant hinüber. Er spurtete zu dem reglosen Pferd, das von seinen zwei alten Freunden bewacht wurde. Walter rief Peppermint an. Keine Reaktion. Als er bei dem alten Tier ankam, kniete er sich hin und fühlte an Peppermints Hals nach dem Puls. »O Pepper, du warst so ein braves Pferd.« Er klopfte dem toten Tier sanft auf den Hals, stand auf und lief quer über die grüne Wiese zu der wartenden Gruppe zurück. Er beugte sich über den Zaun und sagte nur: »Vorbei.« Sister senkte für einige Momente den Kopf, während ihr die Nachricht ins Bewusstsein sickerte. Sie hatte das Pferd gut drei Jahrzehnte lang gekannt. Sie war betrübt, aber Tedi würde untröstlich sein. »Shaker, Bobby, bringt die Hunde in den Zwinger«, ordnete io
sie an. »Betty und Walter, wenn ihr noch Zeit habt, bleibt bei mir. Wir müssen den Burschen begraben, ehe Tedi kommt und ihn findet. Sie hat ihn so geliebt.« Sister hielt inne. »Die letzte Verbindung zu Nola.« »Und es ist Juli, er wird rasch auftreiben«, sagte Shaker leise vor sich hin. Dann rief er den Hunden mit Singsangstimme zu: »Hier, Hunde.« Die Hunde folgten ihm, Cora allerdings konnte nicht widerstehen, über die Schulter noch einen Blick auf das Pferd zu werfen, an das sie sich so gut erinnerte. »Walter, bist du so nett und suchst jemand von Tedis Leuten? Sag ihm, er soll mit dem Bagger zur Brücke kommen. Schärf ihm ein, dass er den Mund hält. Ich sag's Tedi, sobald wir Peppermint anständig begraben haben.« Walter sprintete über die Brücke, während Betty und Sister zu dem Kadaver am Bachufer gingen. Betty kniete nieder und berührte das große Tier an der Schulter. »Er war ein Prachtkerl. Gute Reise, Peppermint. Du hattest ein wunderbares Leben.« Mit Raleigh an ihrer Seite tröstete Sister Domino und Merry Andrew, dann setzte sie sich neben Peppermint. »Herrje, Betty ich werde alt. Ich kenne Pepper, seit er stahlgrau war. Jetzt ist er schneeweiß.« Schimmel werden bekanntlich dunkelhaarig geboren und mit zunehmendem Alter heller. »Weißt du noch, wie Tedi bei der Jagdreiterprüfung sämtliche Hindernisse perfekt genommen hat? Tedi konnte sich nicht bremsen, und wenn man ihr selbst Zügel angelegt hätte. Aber Himmel noch mal, sie hat damals die blaue Schleife errungen. Ich glaube, das war einer der glücklichsten Momente in ihrem Leben.« Betty streichelte den schönen Kopf des Tieres. »Er hat es für sie getan. Pepper lag nicht viel an Zurschaustellung. Er liebte die Jagd.« Betty lächelte und staunte über die
Fähigkeit der Tiere, Menschen zu lieben, Lebewesen, die es so oft an Gegenliebe vermissen ließen. »Gott, hoffentlich werden wir fertig, bevor Tedi es erfährt. Ich meine, hoffentlich ist sie nicht im Stall oder bei der Gartenarbeit oder so was. Wenn sie den Bagger aus dem Geräteschuppen rattern sieht, wird sie neugierig.« Sister zupfte einen Grashalm aus und saugte den süßen Saft heraus. »Peppermint war das letzte Pferd, mit dem Nola gejagt hat. Tedi wird todunglücklich sein.« »Deswegen hast du Walter hingeschickt - für den Fall, dass man es ihr jetzt beibringen muss.« »Ja, hab ich wohl, nicht?« Sister lächelte. Es war ein verlockendes, mädchenhaftes Lächeln für eine Frau von einundsiebzig Jahren, die dünn war wie eine Klinge und ebenso scharf. »Arme Tedi, aber mir würde es nicht anders ergehen; ich würde mir die Augen ausweinen, wenn Outlaw stürbe.« Betty sprach von ihrem geliebten, robusten Pferd. »Würden wir doch alle. Sogar Crawford Howard, dieses Arschloch, würde heulen, wenn Czapaka stürbe.« Crawford, Mitglied des Jagdvereins, war ein reicher Angeber, und sein Pferd Czapaka ertrug ihn und lehnte sich nur gelegentlich auf, aber das durchaus zu Recht. Sister und Betty kannten sich, seit Betty vor gut vierzig Jahren auf die Welt kam, deshalb nahm Sister bei ihr kein Blatt vor den Mund. Bei jemand anderem als einer alten Freundin hätte sie Crawford niemals offen kritisiert. »Tedi ist eine Seele von Mensch.« Betty seufzte. »Ein seltsames Leben.« »Ich wünsche niemandem ererbten Reichtum. Das ist ein wahrer Fluch«, erklärte Betty. »Einen Haufen Geld erben ist eine Sache, aber nie für irgendwas arbeiten, das ist was ganz anderes.« »Sehr richtig. Ich habe nur wenige kennengelernt, die sich nicht auf die eine oder andere Art die Finger daran verbrannt haben.« »Tedi hatte bestimmt ihr Päckchen an Leid zu tragen.« »Wohl wahr.« Sie brachen das Gespräch ab und erhoben sich, als ein großer Bagger über den Hügel und die Farmstraße entlang getuckert kam, dann über die überdachte Brücke ratterte. Walter stand hinter dem Fahrer Jimmy Chirios, einem fleißigen, frohgemuten jungen Mann, der erst seit zwei Jahren bei den Bancrofts beschäftigt war. Jimmy stellte den Motor ab und sah auf Peppermint hinunter. »Einfach so?« »Ein friedlicher Tod.« Um Jimmy in der Morgensonne ansehen zu können, musste Sister die Augen beschatten. Walter sprang vom Bagger. »Jimmy, hier können wir ihn nicht begraben. Der Bach hat alle paar Jahre starkes Hochwasser. Wir müssen höher rauf.« Domino und Merry Andrew, die verschwunden waren, als der Bagger kam, kehrten zurück und stellten sich neben ihren gestürzten Freund.
»Diese Seite der Brücke ist auf hohem Gelände verankert. Du brauchtest ihn nur ein paar hundert Meter zu schleppen. Hast du eine Kette mitgebracht?«, fragte Sister. »Klar.« Jimmy reichte Walter die dicke Kette. Walter schlang sie um Peppermints Hinterbeine und klemmte dann den schweren Haken an eine zweite Kette, die hinten an dem großen gelben Bagger befestigt war. »Langsam«, ordnete Walter an. Die zwei Frauen gingen zu dem Flecken oberhalb des Brückenpfeilers, den sie als idealen Platz ausersehen hatten. Als Peppermint zu seiner letzten Ruhestätte geschleppt wurde, folgten ihm Domino, den braunen Kopf gesenkt, und Merry Andrew, neugierig wie stets, und verwischten ein wenig die Spur, die Peppermints Kadaver hinterließ. Walter hakte die Kette los und löste sie sodann von Peppermint. Jimmy begann zu baggern. Die Erhebung unmittelbar oberhalb des Brückenpfeilers war ein guter Platz. Regen hatte die Erde vor zwei Tagen aufgeweicht, und der Greifer des Baggers fraß sich mühelos hinein. Jimmy hob geschwind eine zwei Meter tiefe Grube aus, begradigte die Seiten, so dass ein ordentliches Rechteck ent !3 stand. Als Landbewohner wussten sie alle, dass Tiere Fäulnis unter der Erde wittern konnten. Eine Tiefe von mindestens einsachtzig war für ein Grab vorgeschrieben, andernfalls würde, was immer beerdigt war, mit Sicherheit von Aasfressern ausgegraben werden. Und sosehr man den Verstorbenen vermissen mochte, die Auferstehung eines Hufes oder eines Beins war nicht erwünscht. »Sieht gut aus«, rief Walter ihm zu. Aber Jimmy befand, dass die Seite der Grube, die am nächsten an der Brücke lag, noch mehr Sorgfalt benötigte. Er senkte den Greifer in die Erde. Ein Brocken fruchtbaren Schwemmbodens kullerte in die Tiefe, als er die ausgebaggerte Erde über die Seite der Grube hievte. »Halt!«, rief Sister und setzte alle in Erstaunen, als sie in die Grube sprang. »Um Himmels willen, was machst du da?«, fragte Betty. Walter beugte sich über die Grube. Dann sprang auch er hinein. Am unteren Rand des frisch ausgebaggerten Lochs starrten Walter und Sister auf gebleichte Knochen, die wie ein Ellenbogen aussahen. »Von einem Menschen?«, fragte Sister. »Sieht so aus.« Walter wischte vorsichtig die Erde fort, bis mehr Knochen freigelegt waren. Betty, die nicht widerstehen konnte, kam hinzu. Jimmy kletterte vom Fahrerhaus des Baggers und kniete sich an den Rand des klaffenden Lochs. »Ich fass es nicht«, keuchte Betty. Walter wischte weiter. Weitere Armknochen. Dann eine Hand. Eindeutig von einem Menschen. Die langen Strahlen der Morgensonne krochen in die Grabstätte, und ein großer, von zwei Diamanten flankierter Saphir glitzerte im Licht. »Der Habsburg-Saphir«, stieß Betty leise hervor.
»Du liebe Güte.« Sisters Hände zitterten, als sie nach dem Saphir greifen wollte, aber dann ließ sie es bleiben. 8
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ilchig weiß strudelte das Desinfektionsmittel in den breiten Abfluss des
Zwingers, als Shaker den Fütterraum ausspritzte. Die Hündinnen, schläfrig nach dem Ausflug und ihrem Frühstück, räkelten sich auf den Bänken auf ihrer Seite des Zwingers. Die Rüden, getrennt von den Weibchen, machten auf ihrer Seite dasselbe oder hatten sich im Auslauf hingestreckt, so dass sie wie lauter Hundeskulpturen aussahen. Einige Hunde spitzten die Ohren und legten sie wieder an, als Sister Jane und Betty in den Zwinger kamen. Shaker stellte den Spritzreiniger ab. »Traurig, den alten Pepper unter die Erde zu bringen.« Er hängte die Spritzdüse an einen Wandhaken, dann sah er seine Chefin und liebe Freundin an. »Janie, du machst ein Gesicht, als hättest du einen Geist gesehen.« Aschfahl und noch etwas zittrig erwiderte sie: »Hab ich auch.« Die drei zogen sich in Shakers Büro neben dem Zwinger zurück. Durch die geöffneten Fenster wehte der Wind den scharfen Jagdhundegeruch herein. »Komm, setz dich erst mal.« Er zog seinen Schreibtischstuhl für Sister hervor. »Du auch, Betty.« Er rückte den spartanischen Reservestuhl für Betty zurecht, und sie ließ sich darauf fallen. Betty schluckte immerzu. »Wir haben einen Geist gesehen. Wirklich und wahrhaftig.« Tränen traten in Bettys ausdrucksvolle Augen. Shaker, in bewegenden Situationen immer ein bisschen unbeholfen, aber dennoch ein gefühlvoller Mensch, klopfte Betty auf den Rücken. »Auf dem Hangman's Ridge?« Sie waren nicht auf diesem Weg losgegangen, aber es war das Erste, das ihm in den Sinn kam. Auf besagtem Hügelkamm spukte es angeblich, seit Lawrence Pollard an der Eiche gebaumelt hatte, weil er der führende Kopf bei einer Landspekulation gewesen J5 war, die alle, die 1702 in sie investiert hatten, arm gemacht hatte. Sister schüttelte den silberhaarigen Kopf. »Nola Bancroft.« Shaker pflanzte sein mageres Gestell auf die Schreibtischkante, ein Anflug von Zweifel huschte über sein sonnengebräuntes Gesicht. »Was redest du da?« Sister schloss die Augen und atmete tief ein. »Als du die Hunde zurückgebracht hattest, hat Walter Jimmy geholt, um Peppermint zu begraben. Wir konnten ihn nicht am Snake Creek lassen; Betty und ich fanden, gleich oberhalb des Pfeilers der überdachten Brücke wäre hoch genug.« Sie holte tief Luft. »Also Jimmy hat gute
Arbeit geleistet, aber dann hab ich Knochen gesehen. Ich bin reingesprungen, Walter mir nach ...« »Ich auch«, schaltete sich Betty ein. »Es war ein Ellenbogen.« »Walter hat die Erde weggewischt, die Armknochen sind zum Vorschein gekommen, dann die Hand. Der Habsburg-Saphir steckte noch an ihrem Finger ...« Raleigh quetschte sich dicht an Sisters Bein, weil er merkte, dass sie verstört war. »Mein Gott, ich fass es nicht! Nach so vielen Jahren.« »Einundzwanzig Jahre«, fügte Betty hinzu. »Nur ein Haufen weiße Knochen und der Ring. Die kleine Gürtelschnalle von ihrem Kleid war auch da. Wisst ihr noch, wie Paul Ramy jeden von uns immer wieder gefragt hat, was Nola anhatte, als wir sie das letzte Mal gesehen haben? Wir hatten sie ja eben noch auf der Party von Sorrel Buruss gesehen.« »Sie hatte ein blaues geblümtes Sommerkleid an«, erinnerte sich Sister. »Alle haben sie aufgezogen, sie hätte das Kleid gekauft, weil das Blau zu ihren Augen passte, und sie hat frech geantwortet, sie hätte es gekauft, weil es ihr Dekollete hervorhob.« Sister lächelte bei der Erinnerung an die unverschämt schöne jüngere Tochter von Tedi und Edward Bancroft. Nola war vierundzwanzig gewesen, als sie vor mehr als zwei Jahrzehnten verschwand. »Äh, ist sie noch in dem Grab?«, fragte Shaker mit gesenkter Stimme. »Ich weiß nicht.« Betty rutschte auf ihrem Sitz herum. »Der Sheriff ist mit Gaston Marshall angerückt, dem Gerichtsmediziner. Ben hat von uns allen Aussagen aufgenommen, dann konnten wir gehen.« Ben Sidell war der Sheriff. Wie viele andere Landbewohner auch, nannte Betty ihn oft beim Vornamen. »Was hat Gaston gemacht?«, fragte Shaker. »Er hat den Assistenten des Sheriffs Aufnahmen machen lassen, dann ist er in das Grab gestiegen, und sie haben angefangen, die Erde zu entfernen, ganz vorsichtig. Wir konnten gehen, ehe sie damit fertig waren. Vielleicht gibt es ja irgendwelche Anhaltspunkte.« »Zu schade, dass der alte Sheriff Ramy das nicht mehr erleben kann«, sagte Betty. »Ich dachte immer, Sheriff Ramy ist eigentlich an dem Tag gestorben, als sein Sohn Guy verschwand. Sein Körper hat einfach noch eine Weile weitergemacht«, meinte Sister. Guy Ramy hatte Nola umworben. Die Bancrofts sahen im Sohn des Sheriffs keine passende Partie für ihre Tochter. Sie widersetzten sich entschieden, was Guy für die eigensinnige Nola nur umso attraktiver machte. Und er sah überdies nicht schlecht aus. Er verschwand gleichzeitig mit Nola, so dass man natürlich zuerst annahm, sie seien durchgebrannt, um ohne den elterlichen Segen zu heiraten. Doch es vergingen Tage, dann Wochen, ohne dass jemand einen Pieps hörte. Selbst Sybil, Nolas ältere Schwester, hörte nichts von Nola, dabei standen die zwei Schwestern sich sehr nahe. Sybil, die erst seit einem Jahr mit Ken Fawkes verheiratet war, verfiel in eine tiefe Depression. Das tat gewissermaßen die ganze
Familie, als aus den Wochen Monate wurden. Da Sybil unter ihrem Stand geheiratet hatte, um mit Tedi zu reden, fühlte sie sich schuldig, weil sie meinte, ihre Heirat hätte Nola erst recht unter Druck gesetzt, einen Randolph, einen Valentine, einen i10
Venable, einen De-Jarnette zu ehelichen, lauter Namen, die in Virginia etwas galten. Niemand hatte nach dem 5. September 1981, einem Samstag, je wieder etwas von Nola Bancroft oder Guy Ramy gesehen oder gehört. »Walter ist noch dort. Ben bat ihn zu bleiben, weil er Arzt ist. Das Schlimmste war, wie man es Tedi beibringen sollte. Wir waren uns einig, dass sie ihre Tochter und Peppermint nicht auf einmal finden durfte. Der Sheriff hat gestattet, dass Jimmy Peppermint auf den Hügelkamm schleppte und dort begrub, damit Tedi das nicht sehen muss. Und er sagte, er wird Tedi und Edward erst holen, wenn Nolas Leiche vollständig aus dem Grab befreit ist. Hm, Grab ist wohl nicht der richtige Ausdruck, aber du weißt, was ich meine. Oh, es ist einfach schrecklich, Shaker.« Bei der Vorstellung, dass Tedi Bancroft die skelettierten Überreste ihrer geliebten Tochter in Augenschein nehmen sollte, verzog Shaker das Gesicht. »Kann sie nicht jemand anders identifizieren?« »Das kann niemand von uns. Nicht mal Tedi. Wir nehmen an, dass es Nola ist, wegen dem Saphir. Der Gerichtsmediziner wird sich die Zahnarztunterlagen vornehmen müssen.« »Vorausgesetzt, der Schädel ist da.« Betty runzelte die Augenbrauen. »Betty«, sagte Sister und sah sie streng an. »Na ja, wir wissen nicht, wie sie gestorben ist. Mörder machen abartige Sachen. Manche sind regelrecht fasziniert vom Tod. Sie kommen immer wieder zurück. Und wer weiß, vielleicht finden sie Guy direkt bei ihr. Vielleicht hat er sie umgebracht und sich dann erschossen.« »Er hätte Nola niemals umgebracht. Er hat das Mädchen geliebt«, sagte Shaker bestimmt. »Außerdem, wie hätte er sich selbst begraben können?«, fragte Sister. »Du hast recht. Ich bin ganz durcheinander und kann nicht 10
mehr logisch denken. Aber ich kann's nicht ändern. Den Anblick von dem Ring an dem Fingerknochen werde ich nie mehr vergessen.« »Ich auch nicht.« Sister seufzte. Sie ließ die Hand sinken, um Raleighs glänzenden Kopf zu streicheln. »Beten wir, dass Walter Ben davon abbringen kann, Tedi zu holen. Edward kann kommen. Oder Ken oder Sybil oder irgendwer, nur nicht Tedi. Ich denke, Ben würde es ihnen aus dem einzigen Grund zumuten, um zu sehen, ob er etwas aus ihnen herauslocken kann«, sagte Sister scharfsinnig. »Niemand von ihnen hat das getan«, erklärte Betty entschieden.
»Aber die Menschen verdrängen allerhand, Betty. Vielleicht lässt der grausige Anblick eine Erinnerung aufleben, die hilft, die Puzzleteile zusammenzufügen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin sicher, ich habe in meinem Leben sehr viel verdrängt.« »Das haben wir doch alle.« Betty ließ die Knöchel knacken, eine nervöse Geste. »Wisst ihr, wie ich Nola in Erinnerung habe?«, fragte Shaker. »Ich sehe das schöne Mädchen auf Peppermint über die Hindernisse fliegen. Zum Beispiel die Mauer auf Duelling Grounds.« Shaker sprach von einer Farm, wo sie zu jagen pflegten. »Alle setzten über das niedrige Ende, aber sie ist mit ihm zu der einszwanzig hohen Stelle geritten und rübergesegelt, die Hände vorgestreckt, die Augen aufwärts gerichtet, und hat dabei übers ganze Gesicht gestrahlt.« »Das Mädel konnte reiten.« Betty lächelte bei der Erinnerung. In dieser Gegend, eigentlich fast in ganz Virginia, gehörte die Fähigkeit zu reiten zu den gesellschaftlichen Erfordernissen. Es hatte nichts mit Geld und sehr viel mit Begabung zu tun. Oder zumindest Entschlossenheit, sollte es mit der Begabung hapern. Nola hatte alles besessen: Begabung, Entschlossenheit und Geld. 11
Sybil, ebenfalls eine ausgezeichnete Reiterin, wetteiferte mit Nola oder sie ritten zusammen als Jagdpaar bei Reitjagdprüfungen und Geländerennen. Es war eine Freude, ihnen zuzuschauen. Golliwog, eine große gescheckte Katze, schlenderte in den Zwinger. Sie hatte im Haus auf Sisters Rückkehr gewartet und war sehr verstimmt über die Verspätung. Denn Sister war nicht nur überfällig, Golliwog hatte überdies eine große Feldmaus auf die hintere Veranda gelegt, um Sister zu ergötzen. Aber die Hitze nahm zu, und mit ihr schritt die Verwesung der Maus voran. Golly fand keinen Geschmack an solch unappetitlichen Dingen, Raleigh natürlich schon. Dies war nur ein weiterer Grund, weswegen Hunde in Gollys Augen den Katzen unterlegen waren. »Ich Habs satt, auf alle zu warten!«, beschwerte sie sich. »Still, Golly!«, befahl Sister der Katze, was freilich auf taube Ohren stieß. »Wir haben die Leiche von Nola Bancroft gefunden«, berichtete Raleigh dem hochnäsigen Geschöpf. Nola war lange vor Gollys Geburt verschwunden - die Katze stand jetzt in der Blüte ihres Lebens, hatte aber im Laufe der Jahre das eine oder andere über die Bancroft-Tochter aufgeschnappt, die ein Filmstar hätte sein können. Was sie allerdings nicht sehr interessierte, weil es ihr stets lieber war, selbst das Gesprächsthema zu sein. »Was, ist sie einfach plötzlich irgendwo aufgetaucht?« »Peppermint ist heute Morgen gestorben, und wir haben sie gefunden, als Jimmy Chirios mit dem Bagger das Grab geschaufelt hat.« Während Hund und Katze die morgendlichen Ereignisse besprachen, stand Sister auf. »So, wir müssen etwas tun, aber ich weiß nicht recht was.« »Einen Besuch abstatten«, schlug Betty vor.
»Ja, das ist mir klar. Wir müssen es den Vereinsmitgliedern sagen. Sie war schließlich Mitglied des Jefferson-Jagdvereins.« 12
»Du hast recht. Ich starte den Telefon-Rundruf«, sagte Betty. Shaker zog das Vereinstelefonbuch aus der breiten mittleren Schreibtischschublade und gab es ihr. »Ich rate davon ab«, sagte er. »Wieso?« Beide Frauen sahen ihn verwundert an. »Sprecht erst noch mal mit dem Sheriff. Er möchte vielleicht nicht, dass es so schnell bekannt wird.« »Shaker, wir leben in Jefferson County. Klatsch verbreitet sich schneller als Licht«, erklärte Sister offenherzig. »Schon jetzt klingeln im ganzen Bezirk die Telefone.« »Aber wir sollten das jetzt nicht vorantreiben. Er wird mit allen sprechen wollen, die Nola gekannt haben, und das sind in unserem Verein alle Personen über fünfundzwanzig, also so gut wie jeder.« »Er hat recht.« Betty gab das Telefonbuch zurück. Sister, in diplomatischen Dingen gewöhnlich sehr beschlagen, sah ein, dass Shakers Vorschlag klug war und dass sie von der Entdeckung stärker mitgenommen war, als sie gedacht hatte. »Ja.« Sie rieb sich die Schläfen. »Wisst ihr, was mir dauernd durch den Kopf geht? Peppermint. Er hat sie geliebt. Er hätte alles für Nola getan. Er hat dann und wann alle Bancrofts auf dem Rücken getragen, aber Nola hat er von allen am meisten geliebt, und jetzt hat er uns zu ihr geführt.« »Im Tod«, sagte Betty, was sogar in ihren eigenen Ohren ein bisschen morbid klang. »Schicksal.« Shaker griff nach seiner alten Bruyerepfeife, die seinem Vater gehört hatte. »Sind Tod und Schicksal nicht eins?«, überlegte Betty. »Nein, Ma'am, nicht auf lange Sicht.« Shaker lehnte sich an den Schreibtisch. »Nicht auf lange Sicht.«
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A
ls der letzte Mensch die Grabstätte verlassen hatte, erschütterte ein gewaltiger
Donnerschlag die Erde. Inky, die zur Familie der Graufüchse zählte, aber zufällig schwarz war, hatte den Aufruhr an der Grabstätte so aufmerksam verfolgt, dass der Donnerschlag sie zusammenzucken ließ. Sie blickte nach Westen. Die heranwälzenden tiefhängenden Wolken würden in spätestens fünfzehn Minuten direkt über ihr sein. Ihre Neugierde, die das Wetter ihr austrieb, wurde von einem stürmischen Lauf zu ihrem Bau abgelöst, einer schmucken Behausung gut drei Kilometer westlich der After All Farm. Inky wohnte auf Sister Janes Roughneck Farm am Rande eines Maisfeldes, nicht weit von einem mächtigen alten Walnussbaum auf einer Anhöhe oberhalb eines kleinen Wasserlaufes, der in den Broad Creek mündete. Sie hatte ein
schönes Leben; mit ihren eineinhalb Jahren war sie ein geschmeidiges, gesundes Tier mit außergewöhnlich hellen Augen. Die ersten dicken Regentropfen platschten herab, gerade als sie die Grenze der Roughneck Farm erreichte. In wenigen Minuten würde sie zu Hause sein. Der verdüsterte Himmel schien so nahe, dass man meinte, ihn berühren zu können. Sister bog in ihrem neuen roten GMC Transporter in die Farmstraße ein. Die Scheinwerfer erfassten den Fuchs kurz, aber Inky blieb nicht stehen, um der alten Dame das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu gönnen. Sie rannte zu ihrem Bau und stürmte hinein, als der Donner grollte und ein Blitz den Himmel sekundenlang lavendelgrün färbte. Inky wurde ungern nass. Sie kuschelte sich in ihr süß duftendes Bett aus Heu, das sie nach der letzten Ernte in ihr Heim geschafft hatte. Wie alle Füchse, rote wie graue, war Inky ein hochintelligentes und anpassungsfähiges Geschöpf. Diese Anpassungs13
fähigkeit rührte teils daher, dass Füchse Allesfresser waren, ganz wie die Menschen. Jedes Mal, wenn Golliwog, die unerträgliche Katze, sich über Inky aufregte, weil sie den Zwinger besuchte, um mit der jungen Jagdhündin Diana zu plaudern, hielt Inky ihr beim Abschied vor, dass sie, Golliwog, eine ausgemachte Fleischfresserin sei. Das erzürnte Golliwog, die aus Rache die Hunde rebellisch machte. Worauf Shaker die Tür seines Schindelhäuschens öffnete und den Hunden gut zuredete, um sie zu beruhigen. Golly konnte rachsüchtig sein, aber sie war klug, das musste Inky ihr lassen. Während Inky sich trocknen ließ, fragte sie sich, wer dort in dem Grab liegen mochte. Die Emotionen der Menschen hatten ihr eine starke Duftspur zugetragen. Sobald das Gewitter vorbei war, gedachte sie wieder auszugehen und ihre Eltern zu besuchen, die tiefer im Wald unweit des stark strömenden Broad Creek wohnten. Vielleicht wussten sie etwas. Zudem wollte sie ihrer Familie berichten, dass Peppermint gestorben war. Er hatte gern mit seinen ehemaligen Widersachern, wie er die Füchse genannt hatte, geplaudert. Als der ältere Herr, der er war, hatte Peppermint sich einer kuriosen Ausdrucksweise befleißigt. Inky wusste, wenn Menschen sich miserabel fühlten, ließen die Schockwellen den ganzen Landstrich erzittern. Ihre Neugierde war daher mehr als mentales Training; sie war der Schlüssel zum Überleben. »Hallo, Inky«, sagte Sister, als sie das schöne Tier neben der Straße sausen sah. »Ich befürchte, dass sie allmählich zu zahm wird«, sagte Shaker und befühlte seinen Krawattenknoten. So unwohl er sich in Sakko und Schlips fühlte, er wusste, was sich gehörte. Unter den gegebenen Umständen würde er nicht anders als geziemend gekleidet über die Schwelle der Bancrofts treten. Der magere, drahtige Shaker strahlte eine Zähigkeit aus, die über seine gutmütige Natur hinwegtäuschte.
23 Shaker und Sister hatten sich eilends gesäubert, nachdem Betty in ihr Auto gestiegen war. Sie wollte Bobby abholen, ihn informieren, sich selbst säubern und dann Jagdherrin und Meuteführer auf der After All Farm treffen. »Die Schwarzfuchs-Legende.« »Quatsch. Bei uns hat es immer schwarze Füchse gegeben«, sagte er protestierend. »Wir sehen sie bloß nicht immer.« »Ich weiß.« Sie schaltete die Scheibenwischer auf schnell. Weil sie mit ihrem neuen Transporter noch nicht hundertprozentig vertraut war, musste sie an dem Schalter an der Lenksäule herumfummeln. »Wäre nett, wenn du lernen würdest, das Vehikel zu fahren.« »Wäre nett, wenn du lernen würdest, mich mit Respekt zu behandeln.« »Oh ha«, trällerte er. »Janie, die Sache lässt nichts Gutes ahnen, was meinst du?« »Nein. Und mir ist klar, dass ich Inky als Vorwand benutze, aber du wirst dich erinnern, dass ein schwarzer Fuchs uns kurz vor Rays Tod eine höllische Jagd geliefert hat, und dann wieder, bevor Raymond starb.« Ray, ihr Sohn, war 1974 bei einem grässlichen Ernteunfall ums Leben gekommen. Raymond, ihr Mann, war 1991 an einem Lungenemphysem gestorben. »Und Raymonds Großmutter hat andauernd davon gequasselt, ihre Mutter hätte geschworen, dass sie 1860 nichts als Schwarzfüchse gejagt hatten.« »Danach haben sie Yankees gejagt.« Shaker, in Mount Sid-ney, Virginia, geboren und aufgewachsen, sagte dies mit einem halben Lächeln. »Jesses, meinst du, wir kommen da jemals drüber weg?« »Die Juden haben die Pyramiden des Pharao gebaut, und sie sprechen noch heute davon. Die Iren machen immer noch ein Getue um Elisabeth I., als habe sie eben erst den Thron verlassen. Die Menschen brauchen was, worüber sie meckern und jammern können.« Er holte kurz Luft. »Wenn du mich fragst, 14
den Menschen fehlt was ohne ihre Tragödien. Ohne die kommen sie sich bedeutungslos vor.« »Da könntest du recht haben. Die Bancrofts sind aber nicht so, Gott sei Dank! Shaker, ich kann das noch gar nicht fassen. Uber Jahre nicht wissen, wo dein Kind ist, und dann erfahren, dass sie die ganze Zeit auf deinem eigenen Grund und Boden begraben war. Ein Ring an einer Knochenhand.« »Schrecklich.« Obwohl er kein Vater war, konnte er mitfühlen wie fast jeder, der ein Herz hatte. »Als ich Ray verlor, da warst du da. Ja, es war furchtbar. Ja, ich wollte mit ihm sterben. Aber ich konnte mich verabschieden. Ich konnte trauern. Jahrelang haben Tedi und Edward gehofft und gebetet und sich dann mit einem dumpfen, schmerzvollen Leben abgefunden. Und jetzt endlich zu wissen, wo Nola ist. Wo sie die ganze Zeit gewesen ...« »Ich glaube, Tedi hat es gewusst.«
»Im Innersten - ja, ich glaube, sie wusste, dass Nola tot ist, seit sie vermisst wurde. Aber Edward konnte nicht aufgeben.« »Alice Ramy ist daran zerbrochen.« »Wer wird es ihr wohl sagen?« Alice Ramy, Guy Ramys Mutter, war nach dem Verschwinden ihres Sohnes verbittert und abweisend geworden. Ihre einzigen positiven Betätigungen waren anscheinend die Zucht von Edelhühnern und ihr Garten. Aber selbst diese Tätigkeiten mündeten in Enttäuschung, denn mindestens einmal jährlich wurden ihre Dahlien zerfetzt, wenn die Edelhühner in ihren Garten entkamen und einen Festschmaus hielten. Shaker rutschte nervös auf seinem Sitz herum, als sie durch das majestätische, mit vergoldeten Speerspitzen bestückte schmiedeeiserne Haupteingangstor der After All Farm führen. »Ben Sidell wird es Alice sagen.« »Viele Leute glauben noch heute, dass Guy Nola umgebracht hat und dann verschwunden ist. Irgendwelche Esel sind von einem Urlaub in Paris zurückgekommen und haben behauptet, >hab Guy Ramy am linken Seineufer gesehen. Er hat 2 5 jetzt eine Glatze.< Wir wissen genau, dass sie nichts gesehen haben, rein gar nichts.« Sisters Knöchel am Lenkrad waren weiß. Auch sie war nervös. »Guy Ramy hätte vielleicht jemand wegen Nola umgebracht, aber Nola - niemals«, sagte Shaker. Sie sahen aus dem Fenster durch den strömenden Regen. Die Hälfte der Vereinsmitglieder war schon da. Der jefferson-Jagdverein war eine eng verbundene Gemeinschaft; man unterstützte sich gegenseitig in allen Krisen nahm sich aber mit demselben Eifer die Freiheit heraus, übereinander herzuziehen. Ein roter Mercedes S500 parkte direkt beim Hauseingang, gefolgt von einem silbernen Jaguar, einem 1987er Ford Pick-up, einem jägergrünen Explorer und einem Tahoe. Die zahlreichen Transporter ließen vermuten, dass die Leute direkt von ihrer Farmarbeit zu den Bancrofts geeilt waren. Ein Toyota Land Cruiser verkündete, dass Ralph Assumptio da war. Er war ein Cousin mütterlicherseits von Guy Ramy. Sister musste auf halbem Weg zum Stall parken. Shaker griff nach dem Regenschirm, der schräg zu seinen Füßen lag. »Bleib sitzen. Ich komm zu deiner Seite rüber.« Er öffnete die Tür und der Regen peitschte herunter. Als der aufgespannte rotweiße Schirm vor dem Fenster erschien, öffnete Sister die Tür, stieg aus und duckte sich unter den Schirm. Sie fasste Shakers kräftigen Unterarm. »Nun denn, sehen wir, was wir tun können.« Eine große, an vier schweren Ketten aufgehängte Glaslaterne warf ein diffuses Licht in den regnerischen Abend. Die weißen Säulen und das Schieferdach des im klassischen Stil gehaltenen Prachtbaus glänzten. Das Fächerfenster über der mächtigen schwarzen Tür sowie sämtliche Fensterscheiben waren aus mundgeblasenem Glas.
After All, eines der prachtvollsten Herrenhäuser des frühen 16
achtzehnten Jahrhunderts, hatte zahlreiche Besucher empfangen, in Freude wie in Leid. Als Sister und Shaker zur Haustür kamen, wurde diese von Walter Lungrun geöffnet, bevor der überlastete Butler herbei hasten konnte. Beim Anblick von Walter beschlich Sister einen Moment lang ein merkwürdiges Wohlgefühl - ähnlich wie bei einer Heimkehr. Sie schüttelte das unerwartete Gefühl ab, das sie darauf zurückführte, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Natürlich freute sie sich, ihn zu sehen. Sie hatte Walter seit seiner Kindheit gekannt, wenn auch nur von ferne. »Sister, Gott sei Dank, dass du da bist.« Walter küsste sie auf die Wange. »Sie auch, Shaker. Tedi und Edward sind im Wohnzimmer. Ken und Sybil auch.« Ein Diener hängte ihre tropfenden Regenmäntel an die Garderobe. Sister hörte Betty und Bobby und hinter ihnen andere Leute zur Tür hereinkommen. Walter nahm Sister an die Hand und führte sie in das Wohnzimmer, wo sich die Menschen drängten. Shaker ging an ihrer anderen Seite. Die Menschen bildeten eine Gasse für Sister, was sie meistens taten. Tedi hockte auf der Kante ihres Sheraton-Sofas, für dessen Preis sich die meisten Amerikaner ein hübsches Haus kaufen könnten. Als sie hochblickte und eine ihrer ältesten Freundinnen sah, die auch ihre Jagdherrin war, brach sie wieder in Tränen aus; sie stand auf und schlang die Arme um Sister. »Janie.« Edward, der ebenfalls feuchte Augen hatte, stellte sich neben seine Frau und umarmte Sister, als Tedi sie losließ. Dann umarmte Tedi Shaker, und Edward gab ihm die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, Shaker.« »Mr. Bancroft, ich bedaure die Umstände außerordentlich.« Shaker, als Angestellter des Jagdvereins stets korrekt, sprach Edward, der Mitglied war, mit dem Nachnamen an. »Ja, ja.« Edwards Lippe zitterte, und Shaker nahm abermals seine Hand und umfasste sie mit seinen beiden. 16
»Janie, setz dich zu uns.« Tedi zog Sister aufs Sofa. Ein Diener in Livree - so liebenswert die Bancrofts waren, sie hatten hohe Ansprüche -, bot auf einem Tablett Erfrischungen an. Vielleicht waren sie gar nicht anspruchsvoll. Es war die Welt, in der sie beide erzogen worden waren. Es gehörte zum Leben dazu. »Du hast erkannt, dass es Nola war.« Tedi wischte sich die Augen. »Der Ring.« Sister legte den Arm um Tedis schmale Schultern. »Edward ist hingegangen, um sie zu sehen. Ich konnte es nicht. Ich konnte einfach nicht.« Tedi schluckte, dann fasste sie sich. »Ich weiß nicht, wie Edward das geschafft hat.«
Sister sah zu dem großen Mann hoch, der unverschämt gut aussah mit dem vollen, kurz geschnittenen weißen Haar und dem akkurat gestutzten Schnurrbart. Er begrüßte die Gäste und führte sie fort von Tedi, damit sie sich einen Moment mit Sister unterhalten konnte. »Er ist sehr stark.« »Muss er wohl.« Tedi lehnte sich an Sister. »Man kann so ein Geschäft nicht führen, ohne dass die Leute versuchen, einen in Stücke zu reißen.« »Tedi, ich weiß nicht, ob eine Entdeckung wie die heutige Gutes bringen kann. Aber - vielleicht kann sie Frieden bringen.« Tedi schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie das mit dem Frieden ist, aber ich muss herausfinden, was mit meinem - Baby passiert ist.« Ein Frösteln streifte Sister am Hals, als unweit vom Haus ein Blitz einschlug. Funken flogen, rosa Funken, die sich zu einem ringförmigen Feuerwerk ausweiteten, und dann wurde es dunkel im Zimmer. Ken Fawkes, der Schwiegersohn der Bancrofts, sagte: »Dad, es muss den Transformator erwischt haben. Ich kurbel den Generator an.« Die Dienstboten traten leise ein, zündeten Kerzen an und 17
brachten Sturmlampen. Auf dem Land war es nichts Ungewöhnliches, plötzlich im Dunkeln zu stehen. Sister überlegte, ob sie Tedi sagen sollte, was sie fühlte, so stark fühlte, dass ihr war, als wäre sie von dem Blitzstrahl getroffen worden. »Tedi, du wirst es herausfinden.« Tedi sah ihrer Freundin in die gütigen Augen. »Ja, das glaube ich auch. Aber ich glaube nicht, dass ich davon erbaut sein werde.« Sister gab ihrer Freundin noch einen Kuss. »So viele wollen mit dir reden, Tedi. Ich komm morgen vorbei.« »Nein, nein, lass mich zu dir kommen. Ich will mal hier raus.« »Gut.« Tedi umarmte sie noch einmal, drückte sie an sich und ließ sie dann los. Sister nickte den Leuten zu, schüttelte hier und da eine Hand, während sie sich einen Weg zu Sybil bahnte, Nolas älterer Schwester. Sybil, eine attraktive Frau von sechsundvierzig, hatte sich die Augen rot geweint. Die Schwestern hatten sich ähnlich gesehen, aber in Nola hatten Sybils Züge ihre Vollendung gefunden. Sybils Kinn war eine Spur zu lang, ihre Augen waren hellblau, wohingegen Nolas von einem elektrisierenden Blau waren, genau wie Tedis. Im ganzen Haus waren Familienfotos verteilt. Wäre Nola nicht auf den Fotos gewesen, würde der Blick bei Sybil verweilt haben, einem hübschen Mädchen. Aber Nola war da, und man konnte den Blick nicht von ihr wenden. Einige Male hatte sich Sybils Groll gegen ihre Schwester Luft gemacht. Alle hatten Verständnis dafür gehabt, sogar Sybils Altersgenossen, als sie Kinder waren. Es war verdammt hart, von der vorwitzigen kleinen Schwester in den Schatten gestellt zu werden, dennoch hatte Sybil sie geliebt. Die zwei konnten in ungebärdiges Kichern ausbrechen, Streiche aushecken, im ersten Jagdfeld mitreiten. Beide waren gute Schülerinnen, beide konnten gut mit Menschen umgehen, und beide hingen
aneinander, wie es Kinder der sehr Reichen oft tun, sobald sie entdecken, dass sie sehr reich sind. 18
»Sister ...« Sybil konnte vor Tränen nicht zu Ende sprechen. Sister nahm sie in ihre Arme. »Stark sein. Mähne greifen. Blick nach oben.« Dasselbe hatte sie immer zu ihr gesagt, wenn Sybil als kleines Kind vor einem großen Hindernis stand. Und Sybil war nett zu Ray junior gewesen. Sister liebte sie dafür. Sybil war ein paar Jahre älter als ihr Sohn, hatte ihm aber stets Beachtung geschenkt und war mit ihm geritten. Beide konnten reiten wie die Musketiere. Nola war zwar immer nett zu Ray junior, war aber schon als Vierzehnjährige zu sehr damit beschäftigt gewesen, Männer zu erobern, als dem Jungen allzu viel Beachtung zu schenken. Nola hatte ihre Macht frühzeitig entdeckt und war entschlossen, sie zu nutzen. »Mach ich.« Sybil schniefte. Ken trat zu ihnen. »Danke, dass du gekommen bist.« Er umarmte Sister. »Ich bin so froh, dass ihr und die Kinder hier seid.« »Wir haben den Kindern nicht alles gesagt. Nur, dass man ihre Tante Nola endlich gefunden hat. Was soll man einem zehnjährigen und einem sechsjährigen Kind in so einer Situation erzählen?« Ken zuckte die Achseln. »Die Wahrheit - so schonend es geht, denn wenn ihr es nicht tut, tun es andere«, antwortete Sister freimütig. »Eure Kinder werden es verkraften.« »Mutter möchte, dass wir in das große Haus ziehen, aber wir können nicht. Wir wohnen in Hunter's Rest, ich bin aber jeden Tag bei Mutter«, sagte Sybil. Hunter's Rest, ein zweistöckiges Farmhaus, lag an der südlichsten Grenze des großen Anwesens. Es hatte einst den Gutsverwalter beherbergt. »Wenn ihr die Kinder mal loswerden wollt, bringt sie zu mir. Der S-Wurf« - Sister sprach von robusten Jagdhundwelpen, die Mitte Mai geworfen worden waren »muss ausgeführt und betreut werden. Und ihr wisst, eure Kinder sind mir jederzeit ebenso willkommen wie ihr.« 3° »Danke.« Ken legte ihr seine große Hand auf die Schulter. Von einer leichten Wampe abgesehen, hatte er sich für sein mittleres Alter gut gehalten. Ein paar graue Strähnen zeigten sich in seinen rotblonden Haaren und Augenbrauen. Eine kleine tonsurartige kahle Stelle zeugte von den voranschreitenden Jahren, aber um sie zu sehen, musste man größer sein als Ken. Als Sister und Shaker später im Dauerregen zurückfuhren, lockerte Shaker seine dunkelblaue Krawatte. »Ich hatte ein verdammt komisches Gefühl.« »Was für ein Gefühl?« »Hm«, er hielt inne und sah dann betreten zu Sister hinüber, »ich hab wohl zu viele Fernsehkrimis gesehen.« »Was für ein Gefühl?«, beharrte sie. Sie wusste, er musste sich vorsichtig an etwas herantasten, das sich nicht mit Logik erklären ließ.
»Na ja, ich hatte das Gefühl, jemand im Zimmer wusste -wusste, was wirklich mit Nola passiert ist.« «
4
D
ie Scheibenwischer des Mercedes S500 klackten mit Höchstgeschwindigkeit,
als Crawford Howard und seine Frau Marty wieder in die Stadt fuhren. Sie hatten sich an der Universität von Indiana kennengelernt und dort geheiratet, mit Einkaufszentren ein Vermögen verdient, waren nach Mittelvirginia gezogen, hatten sich scheiden lassen und wieder geheiratet, alles bevor sie siebenundvierzig waren. Erstaunlicherweise wirkte keiner von beiden durch diese Prozeduren erschöpft. »Schatz, fahr langsam.« Marty wich unwillkürlich zurück, als das Wasser der Pfützen an ihr Seitenfenster spritzte. 19 »Dieser Motor schafft alles.« »Dieser Motor unterliegt trotzdem den physikalischen Gesetzen«, erwiderte sie trocken. Da sie aber wusste, wie sehr es ihm widerstrebte, zurechtgewiesen zu werden, fügte sie rasch hinzu: »Edward hat sich gefreut, dich zu sehen. Ich weiß, du hattest einen langen Tag, und ich danke dir, dass du dir die Mühe gemacht hast.« Er verlangsamte auf fünfundsechzig Stundenkilometer. »Das Mädchen muss umwerfend gewesen sein. Die Fotos von ihr im ganzen Haus - echt umwerfend.« Die Howards waren erst nach Nolas Verschwinden in den Jefferson-Jagdbezirk gezogen. Marty hob die Stimme. »Findest du nicht, dass die Leute vorschnelle Schlüsse ziehen?« »Was? Dass sie ermordet wurde?« »Ja.« »Schatz, kein Mensch nimmt sich das Leben und begräbt sich dann selbst. Wenn sich jemand umbringt, wird die Leiche früher oder später gefunden. Und das Mädchen ist im September verschwunden, da wäre sie ziemlich bald gefunden worden.« »Betty Franklin sagt, das letzte Mal, dass irgendwer sie lebendig gesehen hat, war auf einer Party, die Sorrel Buruss anlässlich des ersten Einjagdtags gegeben hat. Aber du hast recht. Im September ist es noch heiß.« »Eine Party zum ersten Einjagdtag. Gute Idee.« Bei der Eröffnung der Fuchsjagd ging es nicht gleich in die Vollen. Bei der Einjagd wurden die Junghunde, die zum ersten Mal jagten, mit den jungen Füchsen bekannt gemacht, die zum ersten Mal gejagt wurden. Die älteren Jagdhunde und die Equipage sorgten dafür, dass die Junghunde in der Spur blieben und nicht mitten ins Jagdfeld streunten. Mit etwas Glück lernten die Jungfüchse die Regeln
von den älteren Füchsen, aber wenn ein junger Fuchs versehentlich gestellt wurde, lenkten die meisten Meuteführer ihre Hunde ab, um den Fuchs 20 zu retten. Wenn die Meute sich nicht ablenken ließ, weil die Witterung einfach zu heiß war, setzte ein Feldpikör alles daran, den Fuchs zu warnen. Waren die Hunde weit genug entfernt, sprach der Pikör zu dem Fuchs. Der Klang einer menschlichen Stimme ließ den Fuchs gewöhnlich Reißaus nehmen. Waren die Hunde nah, schlug der Pikör mit der Peitsche an seinen Stiefel. Der Knall warnte den Fuchs. Unter diesen Umständen arbeitete ein Pikör nicht gern mit der Stimme, weil die Hunde die Menschenstimme erkennen würden. Niemand wollte einen Fuchs töten, unter keinen Umständen, weder bei der Einjagd noch später bei der offiziellen Jagd. Bei der amerikanischen Fuchsjagd ging es nur um die Aufregung des Jagens, um die Freude an guter Meutearbeit und am scharfen Reiten. Leider leiteten die meisten Amerikaner ihre Vorstellung von der Fuchsjagd von der englischen Tradition her. Das war ein Missverständnis, über das sich die amerikanischen Fuchsjäger ständig ärgerten. »Warum gibt es solche Partys bei uns nicht mehr?« »Schlechte Organisation.« Crawford ließ sich selten eine Gelegenheit zur Kritik entgehen, was stillschweigend nahelegte, dass er es besser machen könnte. Wie alle Freiwilligen-Organisationen ruderten Fuchsjagdvereine mit der Ebbe und Flut der individuellen Passion. Ein Mitglied gab vielleicht über Jahre ein alljährliches Frühstück oder eine Party und verlor dann die Lust. Der Jagdherr oder die Jagdherrin mochte vorschlagen, dass jemand anders das Ruder übernahm, doch konnte er oder sie es nicht direkt anordnen. Anordnungen werden gewöhnlich bezahlten Angestellten erteilt. »Liebling, vielleicht sollten wir so eine Party ausrichten. Eine hübsche Tradition wieder aufleben lassen.« Er bremste scharf, weil ein Reh über die Straße lief. »Große Ratten sind das.« Dann wandte er sich wieder seiner seit kurzem erneut Angetrauten zu. »Würde nicht schaden. Und wenn schon, dann anständig. Keine Platten mit Schinkenhäppchen 20 und haufenweise Doughnuts. Mumm de Cramant.« Er nannte einen Champagner, dem er besonders gerne zusprach. »Cristal.« Sie liebte Louis Roederer. »Ich denke nicht dran, Champagner zu 270 Dollar die Flasche anzubieten. Der Cramant liegt bei etwa 70 Dollar, und wenn ich bei Sherry-Lehmann mehrere Kisten bestelle, kann ich den Preis drücken. Keine Bange, mein Herzblatt, die werden verdammt beeindruckt sein, wenn sie ihn kosten.« »Du hast bestimmt recht.« Sie sah das Schild, das auf die kleine Farm der Franklins hinwies, wild im stärker werdenden Wind schaukeln. »Das wird eine scheußliche Nacht. Es ist fast so, als hätte Nolas Geist den Wind aufgerüttelt.« »Also wirklich, Marty.« Er lachte.
»Ich glaube an Geister. Was ist mit denen am Hangman's Ridge? Man hat sie gesehen, und das waren Leute, die nicht« - sie wägte das nächste Wort - »labil sind.« »Alles Humbug. Außerdem wird das alles verwehen, um beim Wind zu bleiben. Wenn es an der Leiche überhaupt noch irgendwelche Beweisspuren gibt, dann führen sie garantiert zu Guy Ramy. Es fügt sich einfach. Irgendwer hier in der Gegend weiß bestimmt, wo er ist, oder hat ihm geholfen, die Stadt zu verlassen. Der Vater von dem Jungen war der Sheriff. Der Mann mag zwar Sheriff gewesen sein, aber ich bin überzeugt, er hat sein Fleisch und Blut beschützt.« »Aber Schatz, alle, die sie gekannt haben, sagen, Guy hat sie geliebt.« »Jeden Tag töten Männer Frauen, die sie zu lieben vorgeben.« »Da frag ich mich, warum es umgekehrt nicht genauso ist.« »Frauen sind moralischer.« »Glaubst du das wirklich?« »Ja. Ich weiß, du bist mir moralisch überlegen. Und ich wünschte, ich hätte dich früher, als wir jünger waren, nach viel mehr gefragt. Hab ich aber nicht.« Er rutschte auf seinem Sitz herum. »Obwohl ich natürlich nach wie vor glaube, wo geho 21 belt wird, da fallen auch Späne. Nicht, dass ich es gutheiße, Menschen restlos fertigzumachen, aber Wettbewerb ist der Lebensnerv des Geschäfts, er ist der Lebensnerv dieses Landes. Jemand muss gewinnen und jemand muss verlieren.« »Dann hat Nola wohl verloren.« »Gräme dich nicht darüber, Marty. Alles wird sich klären, da nun die Leiche aufgetaucht ist. Wirklich. Und wir können dabei nichts tun außer die Bancrofts unterstützen bei dem, was getan werden muss.« Er nahm für die Einfahrt zu ihrer Beasley Hall Farm den Fuß vom Gaspedal. Die Farm hieß schon lange so, bevor sie sie kauften. Sie war nach Tobias Beasley benannt, dem ersten Besitzer des von Charles II. zugeteilten Landes. »Ob Edward Bancroft mehr Geld hat als ich? Wenn ich geerbt hätte, was er geerbt hat, hätte ich inzwischen vier, fünf Milliarden Dollar daraus gemacht. Leute, die ein Vermögen erben, lassen ihr Geld von Investoren ihres Vertrauens verwalten. Der Kapitalertrag beträgt vielleicht drei, vier Prozent im Jahr. Ich verstehe nicht, wie jemand dermaßen passiv mit seinem Geld umgehen kann.« »Ich weiß nicht, ob Edward so viel hat wie du, Schatz, aber passiv ist er nicht. Er hat das Bancroft-Imperium geleitet, bis er sich vor ein paar Jahren zur Ruhe gesetzt hat.« »Kaffee.« »Wie bitte, Schatz?« »Ihr erstes Geld haben sie mit Kaffee gemacht, ausgerechnet. Ich würde mein Geld nie da reinstecken, wo Mutter Natur mein Partner wäre. Aber das waren wohl andere Zeiten damals. Frühes neunzehntes Jahrhundert. Dieser Vorfahre von ihm muss verdammt gerissen gewesen sein.« »Jetzt sind sie nur noch verdammt, was?«
»Die Bancrofts? Nein. Marty, nimm dir die Sache mit Nola nicht so zu Herzen. Die Bancrofts haben sich schon vor zwanzig Jahren arrangieren müssen. Sybil hat einen anständigen Kerl geheiratet, sie haben zwei Enkelkinder, und sicher, ein Kind vergisst man nie, aber ich glaube nicht, dass man sagen 22 kann, sie sind verdammt.« Er fuhr in die neue Garage, einen Anbau an das ursprüngliche Haupthaus, den Crawford in Auftrag gegeben hatte. Der neue Flügel war geschmackvoll gestaltet und sah nicht aus wie eine Garage. Er war höchstens ein ganz kleines bisschen übertrieben. Das Garagentor rollte hinter dem roten Mercedes herunter. Das erste Gebäude auf diesem Gelände war eine Blockhütte gewesen, die der Enkel von Tobias Beasley 1730 errichtet hatte. Im Laufe der Jahre war sie durch ein hübsches Ziegelhaus ersetzt worden, das mit einer großen Diele in der Mitte und quadratischen Fenstern aufwartete. Jede Generation, die Geld verdiente, hatte das Haupthaus erweitert. Was hieß, dass alle dreißig, vierzig Jahre ein Ballsaal oder weitere Schlafzimmer mit Schlaf-Balkonen gebaut wurden. Was immer die Phantasie des Besitzers anregte, wurde angefügt, und das verlieh Beasley Hall einen ganz eigenen Charakter. Crawford hielt seiner Frau die Tür zum Windfang auf. »Danke, Schatz.« »Einen Absacker?« »Ein kleiner Brandy mit Orangenschale am Rand wäre nett.« Er lachte, machte ihr den Drink und brachte ihn hinauf in das riesengroße Schlafzimmer, das von Colefax and Fowler ausgestattet worden war. Crawford hätte Parish Hadley aus New York damit beauftragen können, aber nein, er musste extra nach London. Nancy Lancaster, die Frau, die den englischen Landhausstil populär gemacht hatte und deren Mutter Lizzie eine geborene Langhorne aus Virginia gewesen war, hatte sich von Mirador beeinflussen lassen, dem Wohnsitz der Langhornes in Albemarle County. Crawford erzählte gerne, dass er und Marty Nancys Talent nur wieder nach Hause geholt hatten. Nancy Lancaster, 1897 geboren, war seit 1994 tot, aber ihr Einrichtungshaus hielt sich unermüdlich. Die schlichte Wahrheit war, Crawford war ein fürchterlicher Snob. 22
Sie zogen ihre scharlachroten Kaschmirmorgenmäntel von Woods and Falon über, ebenfalls eine englische Firma, und kuschelten sich auf ein dick gepolstertes Sofa mit chintzbezogenen Kissen. Marty entspannte sich gern auf diesem Sofa, bevor sie sich ins Bett zurückzog. Als sie und Howard sich getrennt hatten und Crawfords Anwälte sich auf die alte Masche verlegten, die Frau »auszuhungern«, hatte sie reichlich Zeit gehabt, Betrachtungen über den finanziellen Einschlag einer Scheidung auf Frauen mittleren Alters anzustellen. Ihr war klar geworden, dass sie keinen eleganten Übergang in die Reihen der nouveau pauvre, der »Neuarmen«, hinlegen konnte.
»Wann genau ist dieses Jahr der erste Einjagdtag?« Crawford legte den Arm um sie. »Am siebten September, glaube ich.« »Zeit, die Pferde auf Vordermann zu bringen.« »Zeit, uns auf Vordermann zu bringen.« »Aber Herzchen, du siehst phantastisch aus. Du siehst sogar besser aus als damals, als ich dich geheiratet habe.« »Schwindler.« »Nein, wirklich.« »Du kannst dich bei der Firma bedanken - und bei dir.« Eine Bedingung für ihre Rückkehr zu Crawford, der sie betrogen hatte, war gewesen, dass er ihr den Landschaftsarchitekturbetrieb kaufte, wo sie gearbeitet hatte, um über die Runden zu kommen. Sie hatte Gefallen an dem Geschäft gefunden. Als der Inhaber, Fontaine Buruss, auf dem Jagdfeld eines vorzeitigen Todes gestorben war, traf Crawford eine großzügige Abmachung mit Fontaines Witwe. Marty war noch nie so glücklich gewesen wie jetzt, da sie ihre eigene Firma hatte. Sie hatte einen richtigen Lebensinhalt. Er küsste sie. »Komisch, wie die Dinge sich fügen.« »Du siehst auch phantastisch aus.« Sie zwinkerte ihm zu. Sein Schmerbauch war verschwunden, weil er seine Ernährung umgestellt hatte und mit einem persönlichen Trainer ar 23
beitete. Er hatte sich auch einer Fettabsaugung unterzogen, aber das band er keinem auf die Nase. Der Regen schlug an die Fensterscheiben, und Crawfords Herz schlug im Takt dazu. Wenn Mary zwinkerte, bedeutete das, sie wollte Sex. Wie die meisten Menschen mit Geschäftstrieb hatte Crawford auch einen starken Sextrieb. Er liebte es, diesen an einem Regentag auszuleben. Er rieb Martys Hals. »Hab ich dir schon gesagt, dass ich verrückt nach dir bin?« Was er ihr nicht sagte, war, dass er sein langjähriges Ziel, Joint-Master des Jefferson-Jagdvereins zu werden, nicht aufgegeben hatte und dass er just an diesem Tag einen Plan in Gang gebracht hatte. Bei Gott, er würde Jagdleiter werden, ob Jane Arnold ihn wollte oder nicht.
5
G
roße Deckenventilatoren drehten sich hoch oben; die flachen Flügel drückten
die Luft nach unten, zudem saugten Fensterklimaanlagen Luft von draußen an und fächelten sie über die schlafenden Jagdhunde. Diese Vorrichtungen hielten den Zwinger auch frei von Fliegen. Es war am Spätnachmittag des Tages, nachdem man Nola entdeckt hatte. Auf den Regen war die für den Süden typische drückende Hitze gefolgt.
Der in den 1950er Jahren gebaute Zwinger des Jefferson-Jagdvereins war schlicht und elegant. Die Außenmauern des Gebäudes waren aus Backstein, was heutzutage infolge höherer Steuern und gestiegener Lohnkosten viel zu teuer käme. Der große quadratische Bau beherbergte das Büro, die Fütterräume und ein Untersuchungszimmer, wo man Hunde zum 24
Entwurmen oder zur Verabreichung von Medikamenten isolieren konnte. Dahinter lag ein vierhundertfünfzig Quadratmeter großer Hof aus gegossenem Beton, der schräg zu einer zentralen Abflussrinne hin abfiel. Das Dach des Hauptgebäudes ragte etwa zweieinhalb Meter in eine Seite des Hofes hinein. Anmutige Bögen, ganz ähnlich denen unterhalb der Wandelgänge in Monticello, stützten den Dachvorsprung. Offene Bogengänge begrenzten den Hof, wiederum denen in Monticello ähnlich. Die Rüden bewohnten die rechte Seite, die Hündinnen die linke. Für jedes Geschlecht gab es eigene Ausläufe und Zwingerhäuser mit erhöhten Schlafplätzen und kleinen Veranden. Die Welpen bewohnten den rückwärtigen Teil mit eigenem Hof und einem extra Haus. Ein kleines separates Krankenrevier lag weit rechts unter Bäumen. Die schlichte, funktionelle Bauweise war eine Augenweide. Die Eingänge zu den Schlafräumen hatte man mit Blech verkleidet, um zu vermeiden, dass sie zerbissen wurden. Der Mittelteil der Türen zu den Ausläufen war ausgeschnitten und mit einer dicken beweglichen Gurnmiklappe versehen, ähnlich den großen Spritzklappen an LKWs, so dass die Hunde nach Belieben kommen und gehen konnten. Von Zeit zu Zeit verfiel einer auf die glänzende Idee, die Klappe zu zerbeißen, aber ein großes Gummistück war leichter zu ersetzen als eine komplette Tür. Die Schlafräume wurden jeden Morgen und jeden Abend ausgespritzt. Gestrichene Wände aus Schlacke verhinderten Insektenbefall. Die Böden fielen schräg zu Abflussrinnen hin ab. Viele Hunde schliefen auf ihren erhöhten Lagern, der frische Luftsog hielt sie kühl. Andere träumten in den großen Ausläufen, die je einen Viertelmorgen umfassten und mit großen Laub- und Nadelbäumen bestanden waren. Manche Hunde fanden, die einzig wahre Reaktion auf glühend heißes Wetter sei, eine Mulde in die Erde zu buddeln und sich hineinzukuscheln. Ventilatoren, die sich über Zwingerschlafstätten drehten, seien was für Weichlinge. 24
Zwei solche zähen Naturen, Diana und Cora, lagen sich in ihren flachen, zu ihrer Freude jetzt schlammigen Erdlöchern gegenüber. »Ich hasse den Sommer«, murrte Cora. »Ich finde ihn gar nicht so schlimm«, erwiderte die schöne dreifarbige Hündin, deren Kopf auf dem Rand ihrer Mulde ruhte.
»Du bist noch jung. Wenn man älter wird, ist die Hitze schwerer zu ertragen«, sagte Cora. Sie war vor kurzem sechs geworden. Sechs Jahre war zwar nicht alt, aber es verlieh Cora Reife. Sie war der Kopfhund, der die anderen auf Trab bringt. Sie merkte, dass sie ein winziges bisschen langsamer geworden war, und wusste, dass Dragon, Dianas Wurfgefährte, sich in ihre Position drängeln würde. Cora hasste Dragon so sehr, wie sie seine Schwester liebte. Nicht wenige Hunde verabscheuten den begabten und anmaßenden Dragon. Dass sie Kopfhund war, hieß nicht, dass sie eine Fährte stets als Erste fand. Aber sie war den anderen immer ein kleines Stück voraus - nicht viel, vielleicht nur fünf Meter vorneweg, aber sie war die Erste, und sie wollte, dass es so blieb. Wenn ein anderer Hund, sagen wir, ein Flankenhund, einer, der an der Seite der Meute lief, eine Fährte früher fand als sie, wurde Cora langsamer und lauschte auf den Leithund, den Rückraumspieler sozusagen. Wenn der Leithund sagte, dass die Fährte gut war, dann schwenkte Cora auf die neue Spur ein und rannte wieder voraus. Sie musste die Erste sein. Wenn der Leithund nichts meldete, wartete Cora kurz, um auf einen anderen zu lauschen, der ihr Vertrauen besaß. Sie wartete nur auf »ist gut«. Wenn sie es nicht bald hörte, eilte sie weiter. Jahrelang war Archie, ein großartiger amerikanischer Jagdhund mit Ausdauer, Substanz und kräftigem, harmonischem Knochenbau, tiefem Geläut und hoher Spurtreue der Leithund des Jefferson-Jagdvereins gewesen. Archie, ein echter Anführer, wusste, wann er klugscheißerische dumme Jung 25
hunde zurechtstutzen, wann er sie ermutigen, wann er die ganze Meute schelten und wann er sie vorwärtsdrängen musste. Er war bei einem Kampf mit einem Bären gestorben, was ihm seinen Ruhm bei der Meute wie bei den Menschen gesichert hatte. Alle vermissten ihn. Die Welpen hänselten sich gegenseitig, ihre hellen Stimmen trugen über die von der Spätnachmittagssonne überfluteten Höfe. »Seid still, nutzloses Geschmeiß«, rief Cora ihnen zu. Sie verstummten. »Wie schade, dass Archie diesen Wurf nicht sehen kann. Er war ihr Großvater. Lauter Schönheiten.« Diana sah einen rundlichen Welpen zu dem Maschendrahtzaun zwischen den Höfen watscheln, wo er eine Spottdrossel betrachtete, die ihn von der anderen Seite ansah. »Plappermäuler.« Cora lachte. »Schön sind sie. Aber sie müssen sich erst bewähren. Was sie können, sehen wir erst in der übernächsten Saison. Und nicht zu vergessen«, sie senkte die Stimme, weil Klatsch sich auf engem Raum blitzschnell verbreitet, »Sweetpea ist einfach nicht erste Klasse. Solide, das ja, solide wie ein Stein, aber keine Schülerin mit Bestnoten.« Sweetpea war die Mutter dieses Wurfs. Diana seufzte. »Ich wollte, der erste Einjagdtag wäre schon da.«
» Wer wollte das nicht. Ich hab aber nichts gegen das Ausführen. Ehrlich. Die Bewegung tut gut, und jede Woche wird der Ausgang länger. Nächste Woche fangen wir ja wieder mit den Pferden an, das macht mir zwar Spaß, ist aber trotzdem - was anderes.« »Ich hab gestern die Jungs auf der Weide gehört.« Diana meinte die Pferde. »Sie sind ganz aufgeregt, weil die Arbeit wieder losgeht, wenn nur Sister, Shaker und Doug früh rausgehen, richtig früh.« Diana schnupperte in die Luft. Ein vertrauter leichter Geruch verriet die Anwesenheit von Golly, die sich hoheitsvoll einen Weg durch das frisch gemähte Gras zum Auslauf suchte. Diana stand auf und schüttelte den Schmutz ab. Auch Cora witterte Golly. »Unausstehliches Miststück.« 26 Diana lachte. »Cora, bist du heute aber grantig.« »Das macht die Hitze. Was aber nichts daran ändert, dass diese Katze der heilige Horror ist.« Cora wühlte sich tiefer in ihre kühle Erdmulde. Sie gedachte nicht mit der scheckigen Katze zu sprechen. Golly erreichte den Maschendrahtzaun. »Guten Tag, Diana. Deine Nase ist schmutzig.« Diana setzte sich an den Zaun. »Das hält mir das Ungeziefer vom Leib.« »So was kenn ich nicht. Ich krieg kein Ungeziefer.« »Lügnerin«, rief Cora. »Zeckenherberge«, schoss Golly zurück. »Flohköder. Du hast Halluzinationen. Ich hab dich Flohgeister jagen gesehen«, erwiderte Cora kichernd. »Ich hatte mein Lebtag noch nie Halluzinationen, Cora. Und du kannst mich nicht auf die Palme bringen, ha«, sagte sie, »weil du einer niederen Lebensform angehörst und ich mich von dir nicht triezen lasse.« »Aber wenn du keine Halluzinationen hast, was machst du dann, wenn du ohne jeden Grund in die Luft springst, dich im Kreis drehst, zu einem Baum rennst, raufkletterst, runterkletterst und dann wieder von vorn anfängst? Du spinnst doch.« »So spricht nur ein phantasieloser Hund.« Golly hob das Kinn und machte die Augen halb zu. »Bei solchen Anlässen werde ich von der Muse geküsst.« »Dass ich nicht kotze«, sagte Cora und machte ein Würgegeräusch. »Würmer!«, stellte Golly triumphierend fest. Diana, die sichtlich Spaß an dem Wortgefecht hatte, sagte: » Wir sind erst Montag entwurmt worden.« »Also wirklich, ich komm in der Hitze des Tages hierher, um euch Mädels eine Neuigkeit zu verkünden, aber weil ihr mich beleidigt, geh ich mal lieber die Welpen auszischen und zeig ihnen, wer hier der Boss ist.« »Mir kannst du 's erzählen.« Diana senkte die Stimme und den 26
Kopf, so dass sie mit der schmutzverkrusteten Nase an den Zaun stieß. »Du bist ein vernünftiges Mädchen«, befand die Katze. Tatsächlich war Diana vernünftig und auch sehr lieb. Sie liebte alle Welt.
Cora, die jetzt aufrecht stand, kam hinüber. »Und?« »Wer sagt, dass ich mit dir rede?« Golly riss die Augen weit auf. »Ach komm, Golliwog, du weißt doch, wir brennen darauf, es zu hören«, schmeichelte Cora. Die verwöhnte Katze beugte sich vor, die Nase jetzt am Maschendrahtzaun. »Es war Nola. Der Zahnarzt der Familie hat sie identifiziert, ist noch keine Stunde her.« Cora überlegte kurz. »Das wird ein Stich ins Wespennest.« »Wenn wir sie nur gekannt hätten ... wir hören und riechen allerlei.« Diana runzelte die Stirn. »Dann hätten wir vielleicht helfen können, etwas Brauchbares herauszufinden.« »Der letzte Hund, der Nola Bancroft kannte, dürfte Archies Großmutter gewesen sein. Sie ist achtzehn Jahre alt geworden«, sagte Cora. »Das ist lange, lange her.« »Man sollte meinen, wenn irgendwer von uns oder irgendeins von den Pferden auf der After All Farm den Mörder kannte, hätten sie doch was gesagt. Wir würden es erfahren haben. Wir geben solche Sachen weiter«, sagte Diana. »Ungezähmte.« Cora meinte, dass nichthäusliche Tiere damals vielleicht etwas mitbekommen hatten. »Wer lebt schon so lange?«, fragte Diana. »Schildkröten. Die Schnappschildkröte auf der After All Farm, die große in dem Teich hinterm Haus, muss vierzig Jahre alt sein. Ganz bestimmt«, sagte Cora. »Amphibien sind nicht besonders klug. Ihr Hirn bewegt sich mit etwa derselben Geschwindigkeit wie sie selbst«, sagte Cora lachend. Dann überlegte sie wieder. »Aber sie erinnen sich an alles.« »Wie alt ist Athena?«, fragte Diana, die an die große Ohreule dachte. »Die leben sehr lange, nicht?« 27
»Weiß ich nicht«, sagten Katze und Hund wie aus einer Schnauze. Diana legte sich hin, den Kopf auf den Pfoten, das Gesicht jetzt fast auf gleicher Höhe mit Gollys. »Was spielt das für eine Rolle? Für uns, meine ich?« »Weil das wirklich ein Stich ins Wespennest wird, Diana. Die Leute fangen an, Gerüchte zu verbreiten. Man wird alte schmutzige Geschichten aufwärmen, und ich versichere euch, meine Damen, ich versichere euch, es wird alles auf den Jejferson-Jagdverein zurückfallen. Wie früher oder später alles in diesem Teil der Welt«, sagte Cora. »Meinst du, Sister weiß das?« Diana liebte Sister. »Sie weiß es. Sister hat fast sechs Hundeleben auf dem Buckel. Bedenke nur, was sie alles weiß«, sagte Cora und schüttelte bewundernd den Kopf. »Und warum, meinst du, werden wir das zu spüren bekommen? Werden die Leute ihre Gebühren nicht bezahlen oder was?*» fragte Diana. »Nein. Die Leute steigen aus, wenn die Saison schlecht ist. Kein Jagdverein ist Herr über das Wetter, aber die Leute handeln, als wären sie es, ich meine die Schonwetterjäger.« Cora beobachtete menschliches Verhalten sehr genau. »Oderwenn's Krach im Verein gibt, was ungefähr alle sieben Jahre Vorkommt. Archie hat immer gesagt, Menschen handeln in Sieben-Jahres-Zyklen. Es ist ihnen bloß nicht bewusst.« »Crawford Howard.« Golly schürzte die Oberlippe> sie den Namen aussprach.
»Zieht er wieder seine alte Masche ab?« Cora schnappte nach einer tief fliegenden Libelle. »Katzenintuition.« Golly lächelte. »Ich hab eine Idee. Was 1981 mit Nola passiert ist, war gut durchdacht, wenn man so will. Wenn ihr jagt, kommt ihr an Stellen, wo Menschen nicht hinkommen. In rauem Gelände kann manchmal nicht mal Shaker mit euch mithalten. Ihr könntet da draußen etwas finden oder riechen, das helfen könnte, diese böse Geschichte aufzuklären. Immerhin, die über 28
legensten Nasen der Welt«, sie hielt der Wirkung halber inne, »haben Bluthunde, aber ihr kommt gleich danach.« »Wir sind niemals unterlegen!« Cora hatte die Stimme gehoben, was einige Schläfer bewog, ein Auge aufzumachen und zu knurren. Für die Menschen rangierte der Geruchssinn der Bluthunde an erster Stelle, gefolgt von Bassets an zweiter und Jagdhunden an dritter Stelle; alle anderen Hunderassen schlossen sich an. Jagdhunde fanden das empörend. Selbstverständlich waren sie die Besten. Außerdem, wer um alles in der Welt könnte hinter einem Bluthund jagen? Das arme Pferd würde vor Langeweile vergehen. Dies war ein unumstößlicher Glaubensartikel der Jagdhunde. »Es hat was mit der Jagd zu tun? Glaubst du das wirklich, Golly?« Diana sah, dass ein paar Jungs im Zwinger sich um einen Stock balgten. Wie sie in dieser Hitze die Energie aufbrachten, auch nur zu knurren, war ihr ein Rätsel. Einer von den Plagegeistern war natürlich ihr Bruder Dragon. »Ja, überleg doch mal. Die Einjagd beginnt am siebten September. Es ist jetzt Ende Juli. Wenn ihr auf der Jagd seid, passiert allerlei. Alles beschleunigt. Die Menschen geben sich da draußen zu erkennen.« »Wir hören sie auf jeden Fall Zetermordio schreien.« Diana erinnerte sich kichernd an etliche Flüche, die ein steiles Hindernis ausgelöst hatte. »Ich hab das nie kapiert. Das Pferd springt über das Hindernis, nicht der Mensch«, sagte Cora lachend. »Oh, aber das ist es ja gerade, Cora. Manchmal nimmt der Mensch das Hindernis und das Pferd nicht.« Darüber mussten alle lachen. »Wir behalten die Nase am Boden«, versprach Cora. »Ich hab das seltsame Gefühl, dass Guy Ramy wiederkommt.« Golly senkte die Stimme. »Noch mehr Katzenintuition.« In gewisser Weise hatte Golly recht. 28
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D
er Habsburg-Saphir glitzerte auf der Glasplatte des Tischchens. Draußen fiel
das sommerliche Zwielicht durch die prachtvollen alten Bäume rund um die Roughneck Farm, und scharlachrote Sonnenuntergangsfinger schienen die
Glyzine zu umschlingen, die sich über die ganze hintere Veranda rankte. Die Fensterscheiben des properen Gartengeräteschuppens warfen das rosa und goldene Licht zurück, so dass sich auf dem smaragdgrünen Rasen raffinierte Muster bildeten. Tedi und Sister saßen auf der umzäunten hinteren Veranda. Die Luftfeuchtigkeit war an diesem Abend besonders drückend. Sister trank starken heißen Tee, während Tedi sich an einem Martini sowie einem Glas grünem Eistee labte. Das Barometer sank, als der Abend kam. Die Luftfeuchtigkeit schien zum Verweilen entschlossen. Sister glaubte, ein heißes Getränk an einem heißen Tag sei gesünder. Niemand sonst konnte etwas Heißes vertragen. Raleigh und Golliwog hatten sich zusammen in Raleighs buntkariertes Hundebett gekuschelt. Gockel, Peter Wheelers hübscher Harrier, lag ausgestreckt in seinem eigenen Bett mit der Schottenkarodecke neben Raleigh. Peter, Sisters einstiger Geliebter, hatte ihr seinen schönen Jagdhund und dem Jefferson-Jagdverein seinen gesamten Grundbesitz vermacht mit der Maßgabe, dass er ausschließlich von der Jagdherrin und nicht vom Verwaltungsrat verwaltet wurde. Peters acht Jahrzehnte auf dieser Erde hatten ihn gelehrt, dass eine milde Diktatur einer Demokratie entschieden vorzuziehen war. Er war im letzten Jahr friedlich gestorben, ein wirkungsvolles Leben hatte ein stilles Ende gefunden. Sister und Tedi wussten jetzt, dass Nola nicht friedlich gestorben war, und mit dieser Tatsache setzten sie sich im Moment auseinander. 29
Die Tiere hörten aufmerksam zu, sogar Golly, die unter normalen Umständen Raleigh klargemacht haben würde, welch Glück es für ihn sei, sie in seinem Verandabett zu haben. »Ich hab's gewusst. Ich hab's immer gewusst. Du auch«, sagte Tedi traurig. Sister hörte ein Eichhörnchen auf dem Weg zu seinem Nest auf dem Dachboden die Glyzine hochklettern. »Wir haben gehofft. Wir haben immer gehofft.« »Ich kann nicht mehr weinen. Ich weiß, Janie, ich kann sehr sprunghaft sein, mal hü, mal hott, wie man so sagt.« Sie hob die Hand, um den Widerspruch zu ersticken. »Ich bin ein bisschen anders. Ich konnte nie so denken wie du. Du denkst in Abläufen, du siehst Gesetzmäßigkeiten. Edward ist auch so. Ich nicht. Ich sammle sozusagen alles in einem großen Korb, schütte ihn auf dem Tisch aus und fange an zu sortieren. Aber am Ende finde ich, was ich suche, auch wenn ich damit alle zum Wahnsinn treibe. So arbeitet nun mal mein Verstand.« »Du bist einmalig«, sagte Sister lächelnd. »Es ist ein Glück für mich, dich zu kennen.« »Stell dir vor, wir kennen uns unser ganzes Leben lang. Aber es kommt mir vor wie ein Sekundenbruchteil. Ich verstehe das nicht. Wir sind einundsiebzig, und ich fühle mich nicht alt, ich benehme mich nicht alt. Das glaube ich zumindest. Ich weiß nicht, wo die Jahre geblieben sind. Haben sie sich in meiner Tasche versteckt? Sind sie dort, wo Nola ist? Was ist passiert?«
Sister zuckte die Achseln. »Wo immer sie sind, wir haben mit Sicherheit viel in sie hineingepackt.« Sie trank einen Schluck Tee. »Ja.« Tedi atmete ein, die strahlend blauen Augen flackerten kurz. »Ich gehe dem Thema nicht aus dem Weg.« »Das habe ich auch nicht von dir erwartet.« »Ich weiß, dass Nola ermordet wurde. Ich brauchte keine Zahnarztunterlagen, um zu beweisen, dass es Nolas Knochen waren, so wenig wie ich von Ben Sidell hören musste, dass ihr Schädel zertrümmert war. Mit einem stumpfen Gegenstand, 30
sagt er, oder einem großen Stein. Die Lösung wird man nicht unterm Mikroskop finden, dafür ist es zu lange her. Viel zu lange.« »Er muss sich an die Vorschriften halten. Sonst würde er nicht mehr lange Sheriff bleiben.« »Ich weiß. Ich will nur wissen, wer sie umgebracht hat. Ich glaube immer noch, es war Guy Ramy. Weil er sie keinem anderen gegönnt hat. Wenn ich sie nicht haben kann, dann kriegt sie auch kein anderer.« »Aber Nola wäre durchaus imstande gewesen, mit Guy durchzubrennen, und er war wahnsinnig in sie verliebt.« »Das waren alle. Und sie wäre nie mit Guy durchgebrannt. So unbesonnen sie war, Janie, Nola hing am Geld. Ich denke, sie hätte sich vielleicht eine glühende Affäre erlaubt. Und sie umso mehr genossen, weil sie wusste, dass weder ich noch ihr Vater sie billigen würden. Aber Guy heiraten?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Ich glaube, sie hätte es getan.« »Wieso?« »Sie wusste, mit der Zeit hättet du und Edward ihr verziehen. Ihr hättet euch mit ihr arrangiert, sobald das erste Enkelkind da war. Schließlich habt ihr euch im Laufe der Zeit mit Ken abgefunden.« Sie schwiegen eine Weile. »Vielleicht.« »Nichts da vielleicht. Nola konnte ihren Vater um den kleinen Finger wickeln, und am Ende hättest auch du nachgegeben. Solange sie nur glücklich war.« »Er hätte sie nicht glücklich gemacht.« Tedi hatte die Stimme um eine Vierteloktave gesenkt. »Tedi, die Meinungen zu diesem Thema gehen weit auseinander. Die Leute haben 1980 darüber zu reden angefangen, als Nola und Guy sich verliebt haben. Bei der Eröffnungsjagd. Man konnte die Spannung förmlich fühlen.« »Komisch. Dabei kannten sie sich schon ihr ganzes Leben.« 30
»So komisch ist das gar nicht. Er ist aufs College gegangen, hat Examen gemacht, war dann zwei Jahre beim Militär. Sie hat ihn sechs Jahre lang kaum gesehen.« »Ich verstehe das einfach nicht.«
»Keiner versteht es. Darum ist Liebe eben Liebe.« Sister lächelte. »Noch einen Drink?« »Ich mach's schon.« Tedi stand auf und ging zu der kleinen Bar in der Speisekammer gleich neben der Küche; die breiten, unebenen Fichtenkernholzdielen knarrten unter ihren Füßen. Eine größere, elegantere Bar befand sich zwischen Wohn-und Esszimmer. Raymond hatte gern große Partys veranstaltet. Sister hatte diese Gewohnheit nach seinem Tod 1991 aufgegeben; für sie war die Jagd ihre Art, eine große Party zu veranstalten. Und so nahm die Eröffnungsjagd stets auf ihrer Farm ihren Anfang, und anschließend gab es im Haus ein großes Frühstück. Raymond und Ray hatten sich in diesen Geselligkeiten gesonnt. Sister ließ sie eher über sich ergehen und hoffte, dass sie eine gute Gastgeberin war. Das Glitzern auf dem Tisch bannte ihren Blick. Zwei zwei-karätige Diamanten flankierten den elfkarätigen Saphir. Sie fingen alles verfügbare Licht auf und warfen es auf den großen eckig geschliffenen blauen Stein. Saphire sind oft zu trüb oder zu blass. Aber dieser war von einem herrlichen Königsblau -wie das erstaunliche Wasser der Karibik. Tedi rief aus der Speisekammer: »Du kannst mir noch Tee einschenken, bitte.« Aus einem hübschen facettierten Glaskrug, in dem Eiswürfel klirrten, schenkte Sister Tee in Tedis beschlagenes Glas. Tedi kam zurück. »Wundert es dich, dass ich nicht weine? Dass ich mich nicht mit Schaum vor dem Mund auf dem Fußboden wälze? Nicht, dass es mich nicht berührt. Es berührt mich wahnsinnig, aber ich habe nicht eine Träne mehr im Leib. Und ich traue meinen Gefühlen nicht.« »Wie meinst du das?« »Als Nola verschwand, bin ich zerbrochen. Anders kann 31
man es wirklich nicht nennen. Bruchstücke von Tedi Prescott«, sie benutzte ihren Mädchennamen, »waren von hier bis Washington und zurück verstreut. Die Straße hatte schon Spurrillen von meiner ewigen Fahrerei zum FBI. Ich wusste einfach, dass Paul Ramy der Aufgabe nicht gewachsen war. Vor allem, als Guy vermisst wurde. Ich war ein vollkommenes Wrack. Das bedaure ich.« »Liebes, jede Mutter wäre innerlich zerrissen gewesen.« »Ja, aber ich habe dadurch einiges übersehen. Hätte ich meine fünf Sinne beisammen gehabt, besonders in den frühen Tagen, dann hätte ich möglicherweise Informationen und Hinweise aufgeschnappt. Habe ich aber nicht. Alles, was ich fühlte, war Schmerz. Ich glaube, wir waren dicht an dem Mörder dran, wir waren dicht davor, herauszufinden, wer der Mörder war, und er ist uns durch die Lappen gegangen und Gott weiß wo gelandet.« »Wir waren alle aufgewühlt.« »Was sich für einen Mörder zum Vorteil auswirkt.« »Kannst du es noch mal durchgehen? Oder regt es dich zu sehr auf?«
»Nein. Ich bin es durchgegangen. Ich habe Nola auf der Party von Sorrel Buruss zum letzten Mal gesehen. Ich glaube, das war das letzte Mal, dass irgendwer von uns sie lebendig gesehen hat. Wir hatten an dem Tag vor der Jagd Sachen im Stall in Ordnung gebracht. Sie hat sich entschuldigt und ich auch. Wir hatten am Abend vorher einen Riesenstreit gehabt wegen Guy. Aber sie war in Hochstimmung, und meine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Edward war brummig, machte aber gute Miene, weil wir bei Sorrel waren. Fontaine hat sich danebenbenommen wie immer.« Sie sprach von Sorrels gutaussehendem Ehemann. »Weil Nola nicht mit ihm schlafen wollte, dachte er, Sybil würde sich vielleicht von seiner Aufmerksamkeit geehrt fühlen. Sie hat ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Sorrel, die an seine Ausfälle gewöhnt war, warf ihm einfach nur einen Eiswürfel zu, damit er ihn sich ans Gesicht 5°
hielt. Nola hat gelacht und gelacht. Fontaines Gesicht wurde rot und röter. Ich war wütend, als ich sah, wie Fontaine Sybil bedrängte. Sie ist ein bisschen zurückhaltend und vielleicht zu sehr darauf bedacht, es allen recht zu machen. Deshalb war ich sehr stolz auf sie, dass sie diesen unerträglichen Schürzenjäger in die Schranken gewiesen hat. Kannst du dich noch daran erinnern?« »Ja. Und Peter Wheeler hat einen Trinkspruch auf Sybil ausgebracht. Mal sehen, ja, >auf Sybil, die Geliebte Apollos. Möge sie allen Frauen ein Beispiel sein.«< »Außer dir waren alle ganz schön angesäuselt. Ich hatte mir immer gewünscht, du würdest mit uns trinken, und heute bin ich froh, dass du es nicht getan hast. Du warst klüger als wir alle zusammen, und deswegen siehst du auch besser aus. Na ja, sei's drum.« Tedi trank einen Schluck Martini und goss grünen Tee hinterher. »Nola ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe.« Sister hob den Zeigefinger. »Ich habe gehört, wie Sybil unten zu Ken sagte, sie wollten sich mit Nola im C&O treffen. Da spielte eine Band, die sie hören wollten. Aber ich habe mit allen geredet, und ich kann nicht sagen, dass ich besonders auf Nola geachtet habe.« Das C&O war ein beliebtes Restaurant mit Nachtclub drüben in Albemarle County. »Und ich habe erst am nächsten Morgen erfahren, dass Nola gar nicht dort war. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie sagte, sie würde irgendwohin kommen, und dann nicht aufgekreuzt ist. Nola war immer offen für ein besseres Angebot, das waren ihre Worte.« Tedi wurde von ihren bittersüßen Erinnerungen übermannt. »Ich habe es erst erfahren, als ich Sybil in der Kirche sah. Ich war wütend, dass Nola die ganze Nacht weggebheben war, aber es war ja nicht das erste Mal. Sorgen habe ich mir erst Sonntagabend beim Essen gemacht.« Sister lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte zu dem sich von türkis zu kobaltblau verdunkelnden Himmel hinaus, 32
dann sah sie Tedi wieder an. »Also, da ich weiß, was wir jetzt wissen, denke ich, Nola wurde irgendwann zwischen sieben Uhr abends und früh am nächsten Morgen ermordet. Eure überdachte Brücke war gerade im Bau. Die Erde ringsum war noch weich, erinnerst du dich? Nola muss in dieser Zeitspanne ermordet worden sein, weil kein Mensch sein Opfer bei hellem Tageslicht verscharrt. Wer immer sie umgebracht hat, wusste über die Brückenbauarbeiten Bescheid. Das war damals ein trockener Sommer. Die Erde war steinhart. Dank der Bulldozer waren die Uferböschung und das Brückenfundament aber noch nicht richtig fest. Ihr wart gerade dabei, das Dach auf die Brücke zu setzen. Wer immer Nola umgebracht hat, muss das gewusst haben.« »Das stimmt«, sagte Tedi leise. »Und wir sind Samstagmorgen da durchgejagt. Ich habe in meinen Jagdberichten nachgeschaut.« Wie viele andere Jagdherren auch, führte Sister ein ausführliches Jagdtagebuch. »Am ersten Einjagdtag waren wir einundvierzig Personen.« »Der ganze Bezirk wusste von dem Brückenbau«, sagte Tedi, über die eine Welle der Hoffnungslosigkeit schwappte. Sie wehrte sie ab. »Jedenfalls wussten eine Menge Leute davon.« Tedi griff nach dem Ring. »Ich hätte Nola den Ring nicht schenken sollen. Für sie war es der Unglückssaphir, genau wie für die erste Besitzerin.« »Alte Wunden«, sagte Sister. »Er war für Elisabeth, die Kaiserin von Österreich-Ungarn, angefertigt worden. Sie hatte dunkle Haare und war so eine großartige Reiterin wie Nola. Sie liebte die Fuchsjagd. Sie hat in England Jagdhütten gemietet und ist förmlich über die Hindernisse geflogen. Aber sie hatte kein glückliches Leben. Ihr Sohn hat sich umgebracht und sie wurde ermordet. Ich frage mich oft, wenn sie am Leben geblieben wäre, hätte Franz-Joseph dann die Kriegserklärung von 1914 unterschrieben?« Als Fuchsjägerin hatte Sister die Geschichte der Kaiserin immer unwiderstehlich gefunden. »Wenn ich mich recht erin5 2
nere, haben die Bancrofts ihn gleich nach dem Ersten Weltkrieg gekauft«, sagte sie. »Nolan dürfte die Geschichte des Steins wenig gekümmert haben, als er ihn seiner Frau schenkte. Sie hatte ein langes, glückliches Leben.« Nolan war Edwards Großvater, der die Kampfhandlungen im Bois Belleau während des Ersten Weltkrieges überlebt hatte. Tedi hielt den Ring ins Licht; Regenbogenfunken sprühten von den Diamanten, Pünktchen sprenkelten die Wände. Sie steckte den Ring an den Mittelfinger ihrer linken Hand. »Den hatte mein Kind am Finger, als sie starb. Jetzt trage ich ihn. Immer wenn ich ihn ansehe, werde ich mich an ihr Lachen erinnern. Es ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich sie nicht vermisst, diesen Schmerz nicht gefühlt habe. Es ist, als wenn ich mit der Zunge immer wieder an die Stelle gehe, wo ein Zahn fehlt. Ich habe geschworen, ich werde herausfinden, was mit ihr passiert ist,
aber es ist mir nicht gelungen. Und jetzt -das. Sister, ich werde Nolas Mörder finden, und wenn es mich umbringt.« »Damit sind wir zu zweit.«
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errgott im Himmel, Doug, pass doch auf.« Shaker rieb sich den Ellenbogen
an der Stelle, wo ein schweres Eichenbrett ihn von hinten getroffen hatte. »Verzeihung«, entschuldigte sich der gut aussehende junge Mann. »Das macht die Hitze. Ich kann heute nicht denken.« Die stickige, klamme Luftfeuchtigkeit machte einem an diesem 22. Juli, einem Montag, das Leben schwer. Shaker legte den Hammer hin und reckte den Kopf, um Doug auf die andere Straßenseite aufmerksam zu machen. Doug folgte Shakers Blick. In einem zerrissenen ärmellosen 34
Oberteil und ebenso zerrissenen Jeans, ein altes Halstuch um die Stirn gebunden, mühte Sister sich auf der anderen Seite der Lehmstraße, von Walter Lungrun unterstützt, mit der Errichtung eines neuen Hindernisses ab, eines Sprungs, der einem schmalen Hühnergehege ähnelte. Der alte Lieferwagen des Jagdvereins, Peter Wheelers 1974er Chevrolet 454, parkte am Straßenrand. »Sie kann nicht langsamer treten«, Doug bemühte sich zu flüstern, »sie wird uns verfluchen.« »Das hab ich gehört.« »Ich dachte, du würdest arbeiten, nicht lauschen«, sagte Shaker. »Frauen können zwei, drei Sachen auf einmal machen. Im Gegensatz zu euch Männern«, sagte Sister lachend. »Doc, wollen Sie sich so eine Beleidigung gefallen lassen?« Shaker sah den blonden Arzt hilfesuchend an. »Ich erwäge, beim Arbeitsausschuss Klage wegen Sexismus einzureichen«, meinte Walter mit ernster Stimme. »Oh, machen wir doch eine Klage wegen sexueller Belästigung draus. Ich in meinem Alter werde dann zur Heldin.« Darauf lachten sie und beschlossen spontan, eine Pause einzulegen und sich unter einer großen Kastanie niederzulassen. Dieser Baum wurde von Studenten der Technischen Hochschule von Virginia, die von Blacksburg angefahren kamen, häufig aufgesucht, weil es eine der wenigen Kastanien war, die die schreckliche Krankheit überlebt hatten, die diese schönste aller Baumarten beinahe vollständig ausgerottet hatte. Die Krankheit war 1904 im Staat New York ausgebrochen, hatte sich westlich nach Michigan, nördlich bis zur Grenze und südlich nach Alabama ausgebreitet. Innerhalb weniger Jahrzehnte
waren fast alle amerikanischen Kastanien, viele davon über dreißig Meter hoch, gestorben. Dieser Baum hatte überlebt, weil er allein stand. Die drei arbeiteten auf Foxglove, einer properen Farm nördlich von Sisters Farm. Von hochgelegenen Stellen auf Fox 35
giove konnte man den langgestreckten, flachen Kamm des Hangman's Ridge sehen. Die Equipage und die engagierten Mitglieder eines Jagdvereins arbeiteten im Sommer fleißiger als in der Jagdsaison. Welpen wurden geworfen. Junghunde mussten ausgebildet werden. Füchse wurden gründlich beobachtet, Entwurmungsmittel und andere Medikamente für sie ausgelegt, um sie gesund zu erhalten. Bewährte Jagdhunde brauchten vielleicht ein paar Auffrischungslektionen. Die Jagdpferde wurden zur Erholung nach draußen gebracht. Die unerfahrenen jungen Pferde wurden trainiert, damit man sehen konnte, ob sie sich als Equipage-Pferde eigneten, eine schwierigere Aufgabe, als im Feld zu reiten. Benachbarte Landbesitzer wurden aufgesucht, was stets ein Vergnügen war. Alte Sprünge wurden repariert oder ersetzt, und neue Sprünge wurden auf neuem Gelände errichtet, das erschlossen wurde, wenn der Verein das Glück hatte, neues Gebiet erwerben zu können. Foxglove gehörte seit dem späten neunzehnten Jahrhundert, als eine Gruppe von befreundeten Farmern ihre kleinen Hundemeuten zu einer einzigen Gemeinschaftsmeute vereinigt hatte, zum Gebiet des Jefferson-Jagdvereins. Unter diesen Männern waren viele Veteranen des Bürgerkriegs gewesen. Ihren Söhnen und Enkeln war es bestimmt, nach Übersee zu den Schrecknissen des Ersten Weltkrieges verfrachtet zu werden. Aus diesem Mischmasch von Jagdhunden entwickelte der visionäre zweite Master, Major H. H. Joubert, den alle Doppel-H nannten, ein systematisches Zuchtprogramm. Er vereinigte seine zähen einheimischen Bywater-Jagdhunde aus Nordvirginia mit einer Spur Skinkerblut des Jagdvereins Orange County. Dann mengte er einen Schuss englisches Blut darunter. Sei es mit Glückes oder Gottes Hilfe, Doppel-Hs Methode funktionierte. Er war ein kluger Master, er züchtete fürs Gelände und beobachtete andere Meuten, stets erpicht, seine Meute und seine Methoden zu verbessern. 35
Züchter von Jagdhunden hatten seit dem frühen siebzehnten Jahrhundert mit ihren Tieren geprahlt, und einige sehr reiche Siedler führten Jagdhunde aus England ein, Zeugungen eines Stammes, der auf einen einzigen Ursprung zurückging. Im Jahre 1670 fiel der Herzog von Buckingham am Hofe Karls II. in Ungnade. In Schande zog er sich nach North Riding in Yorkshire zurück, wo er Jagdhunde speziell für die Fuchsjagd ausbildete. Wohl hatte der vitale, robuste Herzog seine
Majestät den König beleidigt, aber dafür spätere Generationen von Fuchsjägern beglückt, die alle in seiner Schuld stehen. Bis zu Buckinghams Zeiten hatten Hundemeuten unterschiedslos Hirsche, Ottern und Hasen gehetzt. Der Herzog von Buckingham, ein eleganter Gentleman wie die meisten Buckinghams einst und jetzt, veranlasste seine Zeitgenossen Lord Monmouth und Lord Grey, sich in Sussex auf die Fuchsjagd zu spezialisieren. Diese Herren begannen, ihre Beute zu beobachten, und sie überlegten sich, welches der beste Hund war, um einen so listigen Feind zu jagen. Thomas, der sechste Lord Fairfax, 1693 geboren, ließ sich von dieser älteren Generation von Engländern inspirieren. Er lebte ein langes Leben, starb 1781 und führte genau Buch über seine Jagdhunde. Lord Fairfax war auch so klug, sich 1748 nach Virginia zurückzuziehen, wo ihm fünf Millionen Morgen Grund zugewiesen wurden - das Northern Neck, die nördlichste Landzunge Virginias. Das gesamte Northern Neck zwischen den Flüssen Potomac und Rappahannock war sein Garten. Und er brachte seine Passion für Jagdhunde mit. Der junge George Washington ging mit Fairfax, mit dessen Cousin Colonel William Fairfax und George William Fairfax, dem Sohn des Colonel, auf die Jagd. Als George William Fairfax die bezaubernde Sally Fairfax ehelichte, verliebte sich der junge Washington in sie, eine Liebe, die unerwidert blieb. Aber seine Leidenschaft wurde durch die Fuchsjagd entschädigt, die ihm ein Leben lang Freude schenkte. Damals wie heute verlieh die Fuchsjagd einen bestimmten 36
Gesellschaftsstatus, und für auf den Aufstieg bedachte Männer war eine gute Jagdhundmeute ein Weg nach oben. Ständig brachen Streitigkeiten darüber aus, wer die besten Jagdhunde hatte. Manche traten für den French Bleu ein, andere sagten, der große Kerry-Beagle eigne sich am besten für die Neue Welt. Der Manchesterterrier hatte viele Fürsprecher, und von jedem weißen Jagdhund wurde behauptet, er gehe auf die mittelalterlichen Zwinger von König Ludwig von Frankreich zurück. Aus dieser Mischung ging ein amerikanischer Jagdhund hervor, der viel mit dem amerikanischen Menschen gemein hatte: zäh, schnell und von einem bemerkenswerten Erfolgsdrang besessen. Der amerikanische Jagdhund brachte weniger Gewicht als seine englischen und französischen Brüder auf die Waage. Sein helles Geläut war in den jungfräulichen Wäldern Virginias und Marylands auch dann zu hören, wenn er nicht zu sehen war, und dies ist bis heute eine wesentliche Tugend des amerikanischen Jagdhundes geblieben. Der Unabhängigkeitskrieg verlangsamte den beachtlichen Fortschritt, der bis dahin erzielt worden war. Nach 1781 nahmen Fuchsjäger ihre Passion wieder auf eine Passion, die auch das aufziehende einundzwanzigste Jahrhundert nicht zu trüben vermochte. Als Sister den Verein als fünfter Master in der Vereinsgeschichte übernahm, war sie froh, eine großartige Meute geerbt zu haben und nicht von vorn anfangen zu
müssen. Sie kannte sich mit der Geschichte ihrer Jagdhunde aus. Sie brauchte nur leidlich intelligent zu sein, um Doppel-Hs ursprünglichen Plan nicht zu durchkreuzen. Die heimischen Stelldicheins - Roughneck Farm, Foxglove, Mill Ruins, After All und Beveridge Hundred - ernährten die diversen Geschöpfe, die schon dort gelebt hatten, bevor der weiße Mann sich 1607 in Virginia ansiedelte. Das Zusammenwirken von gutem Boden, einem Reichtum an unter- und oberirdischen Wasserläufen und den schützenden Blue Ridge 37
Mountains einige Kilometer westlich machte diesen Landstrich zum Himmel auf Erden. Nicht einmal ein heißer, schwüler, insektenreicher Tag wie heute vermochte der Herrlichkeit der Gegend Abbruch zu tun. Alle Bewohner fanden, sie lebten in Gottes Land. Um das noch zu versüßen, verstanden die meisten sich gut. Und die wenigen, die sich als ausgemachte Arschlöcher erwiesen, waren geschätzt, weil sie den anderen reichlich Stoff für Klatsch und Amüsement lieferten. Wie Sisters Mutter zu sagen pflegte: »Niemand ist nutzlos. Er kann immer noch als abschreckendes Beispiel dienen.« Ein solches Beispiel kam soeben die Straße entlang getuckert. Alice Ramy brachte ihren Isuzu-Transporter ruckartig zum Stehen. Die drei, die unter der Kastanie saßen, blickten hoch und zügelten ihre Mienen, um sich ihr Missbehagen über die Ankunft der Dame nicht anmerken zu lassen. Alices Misere sickerte ihr aus allen Poren und verunstaltete ihr hübsches Gesicht. »Sister, wenn du oder deine Hunde in die Nähe von meinen Hühnern kommen, erstatte ich Anzeige.« Alice überbrachte diese Botschaft mindestens zweimal im Jahr. Es war gewöhnlich die Vorrede zu etwas anderem. »Aber Alice, meine Hunde haben nie auch nur einen Blick auf deine schönen Hühner geworfen.« »Nein, aber der verdammte Köter von Peter Wheeler hat drei von ihnen getötet. Peter hätte den Köter mit ins Grab nehmen sollen.« Gockel, Peters Harrier, hatte Tante Netty, einen besonders schnellen und listigen Fuchs, in Alices Hühnerstall hinein und wieder hinaus gejagt. Doch armer Gockel - die Stalltür war zugeschlagen, und er war mit zwei toten Australorp-Hühnern gefangen. Netty, eine kleine Fähe, hatte das dritte Huhn weggeschleppt. Kein leichtes Unterfangen, weil die schönen schwarzen Hühner ziemlich feist waren. 37
»Hallo, Mrs. Ramy«, sagte Shaker lächelnd. »Mrs. Ramy.« Doug tippte zum Gruß mit dem Zeigefinger an seinen Kopf. Doug, dessen Haut die Farbe von Milchkaffee hatte, war gerade dabei, sich lange, dichte Koteletten wachsen zu lassen. »Alice, schön Sie zu sehen«, schwindelte Walter überzeugend.
»Hmmph.« Alices Erwiderung hörte sich an, als ob die Luft aus einem Ballon entweicht. »Hör mal, Alice, wir errichten hier Hindernisse. Wir könnten dir auch eins bauen.« Sisters Augen strahlten. »Ha! Wagt es ja nicht, einen Fuß auf mein Land zu setzen.« »Wie wär's mit einem Huf?« Sister hatte den Schalk im Nacken. »Niemals.« »Alice, ich weiß, du hast noch mehr Hühner verloren, und ich weiß auch, dass Peters Harrier sich nicht von meiner Farm entfernt hat. Also, was denkst du, wer deine Hühner ins Jenseits befördert?« Gewöhnlich ignorierte Alice, was sie nicht hören wollte, so auch jetzt. Von ihr unbemerkt, schlenderte Tante Netty just in diesem Moment über die Heuwiese. Als sie Alices schrille Stimme hörte, blieb sie stehen, um zu lauschen. Tante Netty hielt Alice für eine Vollidiotin, weil sie zwar die Tür zum Hühnerstall schloss, aber die Ränder des Geheges nicht mit Beton ausgoss. Sich darunter durchzugraben war ein Kinderspiel. Netty betrachtete das Ramy-Anwesen als einen einzigen großen Supermarkt. Aus der entgegengesetzten Richtung kam Comet angeschlendert, ein Graufuchs, Inkys Bruder. Auch er blieb stehen, als er die nahen Menschen witterte. »Du würdest alles sagen, um jagen zu können!« Alice schürzte verächtlich die dick mit knallrosa Lippenstift bemalten Lippen. »Natürlich, Alice, ich bin Master.« Sister lachte gutmütig. 38
Sie war mit Alice, die sie fast ihr ganzes Leben lang kannte, zwar nie richtig warm geworden, hatte sich aber an sie gewöhnt. Alice stemmte die Hände in die rundlichen Hüften. »Ich weiß, was du denkst. Ich weiß, was alle denken. Ihr denkt, Guy hat Nola umgebracht. Hat er nicht.« »Ich habe das nicht einen Moment gedacht, Alice. Komm, setz dich zu uns ins Gras und trink eine Cola.« Sister entnahm der Kühltasche eine eiskalte Dose und gab sie Alice. Alice nahm die Cola an, aber nicht die Einladung, sich zu setzen. Tante Nettys Ohren zuckten nach vorn, als sie das Plop beim Aufreißen der Dose hörte. Sie liebte Süßigkeiten, und Cola war für sie eine Süßigkeit. Sie fragte sich, ob sie die Kühltasche aufmachen könnte, wenn die Menschen an ihre Hindernisse zurückkehrten. Vielleicht waren sogar Doughnuts oder Brownies in der Tasche. Nachsehen könnte nicht schaden. »Aber viele Leute denken es.« Alices Ton war sanfter geworden. »Du aber nicht. Ich weiß, du nicht.« Ein leichter Wind wehte den Berghang hinab und bewegte die Blätter. Die alte Kastanie war so riesig, dass Alice in ihrem Schutz stand, obwohl sie mehrere Meter von den anderen entfernt war.
Walter sagte mit seiner beruhigenden, geradezu hypnotischen Baritonstimme: »Mrs. Ramy, die Entdeckung Nolas hat uns alle erschüttert. Mit Hilfe der fortgeschrittenen Forensik werden wir jetzt vielleicht Näheres erfahren.« »Und was bringt das?« Alices Tonfall verriet mehr Schmerz, als sie zugeben wollte. »Das weiß ich nicht.« Sister stand auf, legte Alice ihren Arm um die Schulter und tätschelte sie. »Vielleicht bringt es Tedi und Edward Frieden.« »Mir wird es keinen Frieden bringen. Niemand wird mir glauben, solange Guy nicht gefunden wird. Die Leute denken, er ist in«, sie schüttelte den Kopf, »Wisconsin oder Ecuador oder ...«, ihre Stimme trübte sich, »ich höre alles in diesem 39
Bezirk. Ich weiß, viele Leute denken, Paul hat Guy Rückendeckung gegeben. Wenn Guy sie umgebracht hätte, würde Paul ihn überführt haben. Seinen eigenen Sohn.« Alice entschloss sich endlich, sich zu setzen. »Das glaube ich auch«, sagte Sister. »War Ben Sidell bei Ihnen?«, fragte Walter. »Ja. Unverschämt. Ohio.« Sie sprach Ohio aus, als handele es sich um eine ansteckende Krankheit. »Da gibt's gute Farmen.« Sister wünschte, ihr würde etwas einfallen, was Alice ein bisschen aufmuntern und veranlassen würde, zu gehen. »Wenn die so verdammt gut sind, dann sollen diese Leute doch dahin zurückgehen. Er hat mir unterstellt, ich würde meinen Sohn decken. Oh, er hat das nicht direkt gesagt, aber er hat es gemeint. Ich hätte ihn zusammenschlagen sollen.« Sie trank ihre Cola mit fünf tiefen Schlucken. Comet duckte sich, schlich durch die Heuwiese und wäre fast mit Tante Netty zusammengestoßen. Er kicherte. »Psst.« Tante Netty sah ihn streng an. Comet hörte auf zu kichern, behielt aber ein dümmliches Grinsen im Gesicht. Rotfüchse hielten sich gegenüber Graufüchsen für überlegen. Comet, ein Graufuchs, war das schnurzegal, aber er hatte Respekt vor Tante Netty. Ihre Schnelligkeit und ihre Schlauheit waren legendär unter den Füchsen. »Er war bei uns allen, sogar bei denen, die 1981 noch Kinder waren«, sagte Sister. »Ich weiß heute nicht mehr als damals im September. Ich habe Guy nach jenem Samstag nicht mehr gesehen. Nie wieder.« Sie atmete tief ein. »Warum kann die Vergangenheit nicht vergangen bleiben?« »Tut sie nie«, sagte Sister nur. »Du hast deinen Sohn und deinen Mann verloren. Wr sind beide ganz allein«, stieß Alice hervor. »Wem liegt schon daran, was aus alten Frauen wird.« 39
»Aber aber, Mrs. Ramy, den Leuten liegt durchaus daran. Wirklich.« Walter gab sich galant. »Und das Aufrühren der Vergangenheit geht einem durch Mark und
Bein. Kümmern Sie sich nicht um das, was die Leute sagen. Die reden nun mal gern, oder? Je dümmer sie sind, desto mehr klatschen sie. Und außerdem, Mrs. Ramy, man sieht Ihnen Ihr Alter nicht an. Bezeichnen Sie sich nicht als alte Dame.« Seine Stimme drückte Mitgefühl und Wärme aus. »Sehr richtig!« Alice stand auf und wischte das Hinterteil ihrer khakifarbenen Bermudashorts ab. »Weißt du was, Jane Arnold, ich konnte mein Lebtag nicht begreifen, warum du Jagdleiterin sein wolltest. Zu viel Arbeit und zu gefährlich. Aber jetzt weiß ich, warum.« Sie entfernte sich einen Schritt. »Du bist von attraktiven Männern umgeben.« Damit stieg sie über den Zaun und fuhr davon. Shaker strich sich mit der Hand über die kastanienbraunen Locken. »Sie ist nicht ganz richtig im Kopf.« »Ich sollte sie wohl mal in den nächsten Tagen besuchen«, sagte Sister. »Warum?«, fragte Doug, der fand, Sister sei schon nett genug gewesen. »Weil sie allein ist.« »Das hat sie sich selbst zuzuschreiben, die Arme«, sagte Walter leise und ohne Häme. »Jeder von uns macht sich das Bett, in dem er liegt. Oder heißt es, in das er sich legt?« Sister hob die Hand. »Ist Sprache nicht verzwickt? Wie auch immer, Alice ist meine Nachbarin. Diese Sache ist auch für sie furchtbar. Und wer weiß, vielleicht entlocke ich ihr die Genehmigung, ihre Farm zu durchqueren.« »So spricht eine echte Jagdleiterin«, sagte Walter lachend, und damit begab er sich zurück zu dem Hindernis. Die zwei Hindernisse standen sich auf je einer Seite der Lehmstraße gegenüber. Bei der Jagd machte es großen Spaß, das eine zu überspringen, über die Straße zu kantern und über 40
das andere zu schweben. Einige Pferde jedoch sprangen aus der Heuwiese, ihre Hufe berührten den veränderten Boden der Lehmstraße, und sie scheuten leicht. Wenn der Reiter oder die Reiterin keinen ordentlichen Schenkeldruck ausübte, verweigerte das Pferd womöglich das nächste Hindernis, und das bedeutete, dass die nachfolgenden Pferde sich drängelten, was zu schmerzlichen Folgen führen konnte. Einige zauderten, weil sie sprungbereit waren und von den nervösen Reitern in ihrem Rhythmus gestört wurden. Andere dachten bei sich, dies müsse ein ziemlich beängstigendes Unterfangen sein, wenn der alte Schecke da vorn gekniffen hatte. Sister, die als Jagdleiterin das Feld anführte, konnte es sich nie verkneifen, etwas langsamer zu reiten und einen Blick über die Schulter zu werfen, um zu sehen, wer den Sprung geschafft hatte und wer nicht. Das löste später Lachsalven aus, wenn sie und Shaker und Doug in der Sattelkammer oder im Zwinger die Tagesarbeit zu Ende führten. Nicht, dass die Jagdleiterin im Laufe der Jahre nicht selbst für Gelächter und spitze Bemerkungen gesorgt hätte. Das gehört zu den Reizen der Fuchsjagd. Früher oder später gibt sich jeder mal eine Blöße.
Als die Menschen an ihre Arbeit zurückkehrten, schlichen Tante Netty und Comet zu der Kühltasche. Mit Hilfe ihrer Nase ließ Netty den Deckel aufschnappen. Die zwei Füchse spähten in das mit Eis gefüllte Behältnis. »Keine Brownies«, klagte Tante Netty. »Eine Packung Nabs.« Comet hatte die kleine Packung Orangencracker erspäht, die von Südstaadern geliebt und von allen anderen verschmäht wurden. » Was ist los mit den Menschen?« Tante Netty stöhnte. »Die Tasche sollte voll sein mit belegten Broten, Brownies, Schokoladensplitterplätzchen!« »Faul. Sie werden langsam sträflich faul«, bestätigte der junge Graufuchs ihre negative Einschätzung. »Ich weiß nicht, wohin das noch fuhren wird. Es gab mal eine Zeit, 41
Kleiner, da sind die zweibeinigen Idioten losgestürmt zur wilden Jagd, wir hatten jemanden geschickt, um sie auf Trab zu halten, und derweil haben wir übrigen ihre Pferdeanhänger geplündert. Fresskörbe voll Schinkenbiscuits, Maisbrot, Zimtteilchen und Brathuhn.« »Ist es nicht noch so, wenn sie aus dem Kofferraum raus frühstücken und sich auf die Erde setzen?«, fragte Comet. »Manchmal. Aber weißt du, heutzutage gehen die Frauen arbeiten. In der alten Zeit sind mehr Frauen zu Hause geblieben, darum war die Verpflegung besser. Das ist meine Situationsanalyse. Eigentlich ist es die von meinem Mann, der, wie du weißt, zum Theoretisieren neigt.« Sie beäugte die Packung mit den Crackern. »Das Zeug ess ich nicht.« »Aber ich.« Comet griff in den Korb und warf die in Zellophan verpackten Cracker heraus. Walter, der gerade das letzte Brett am höchsten Punkt des Hindernisses festnagelte, blickte auf. Er flüsterte Sister zu: »Horrido.« Sister drehte sich um. »Aha. Tante Netty. Der Graue, den sie bei sich hat, stammt von dem Vorjahreswurf auf meiner Farm.« »Sie haben uns gesehen.« Comet hob die Cracker auf. »Sollen sie glotzen, solange sie wollen. Sie können uns nicht gut jagen. Ich sag dir, Gottesanbeterinnen können schneller rennen als Menschen. Gott, sind die langsam. Da fragt man sich, wie sie überlebt haben.« Sie schlug Comet die Crackerpackung aus der Schnauze. »Mach die Packung auf und iss. Gib ihnen eine Vorstellung.« »Okay.« Comet riss die Packung auf und schlang die Cracker hinunter. »Tante Netty, ich weiß, dass du's bist.« Sister drohte dem Rotfuchs mit dem Finger. »Ach ja?« Tante Netty lachte. »Diesen Herbst werde ich dich jagen«, verkündete Sister. Shaker und Doug hielten mit der Arbeit inne, um die zwei Füchse zu beobachten. 41
»Rotfüchse und Graufuchse tun sich sonst selten zusammen, also muss es reichlich Beute geben. Es ist genug zu fressen da, da können sie ebenso gut Freunde sein«, bemerkte Shaker.
»Du kannst mich jagen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Du kriegst mich nicht, Sister Jane«, stichelte Netty. Comet schluckte den letzten Bissen hinunter. »Herrjemine, sind die Dinger salzig. Und ich kann keine Getränkedose aufmachen.« »Ich auch nicht. Steck einen Eiswürfel in den Mund und lass ihn schmelzen. Das hilft. Jetzt siehst du, was ich meine - eine billige olle Packung Cracker, wenn es Brathuhn hätte sein können. Einfach schrecklich. Die Ansprüche sind gesunken.« Comet tat wie geheißen. »Ich geh näher ran, verpass ihnen 'nen Nervenkitzel.« Comet konnte nicht sprechen, weil er einen Eiswürfel in der Schnauze hatte, aber er sah zu, wie Tante Netty sich auf zwanzig Meter an Sister und Walter heranpirschte. Sie sah sie kurz an und sprang dann hoch in die Luft, als wollte sie einen Vogel fangen. Als sie landete, wälzte sie sich herum und flitzte in die Heuwiese. Comet verschwand ebenfalls in der Heuwiese und lief zu seinem Bau oberhalb des Broad Creek, der auf dem Weg bis zur Mündung in den Rockfish River viele Farmen durchquerte. »Sie ist unglaublich«, sagte Walter und schlug sich aufs Bein. »Der verflixt schnellste Fuchs. Nicht der hübscheste. Ihre kümmerliche Lunte sieht eher aus wie eine Flaschenbürste«, sagte Sister, die ebenfalls lachte. »Als ich anfing, mit euch zu jagen, hab ich nicht recht geglaubt, dass du die Füchse unterscheiden kannst. Kannst du aber. Alle sehen anders aus.« »Und sie ist frech. Sie ist erst zufrieden, wenn sie es hinkriegt, dass die Leute von den Pferden fliegen wie die Kugeln aus einem Flipperautomaten. Sie hört sie so gern auf dem Boden aufschlagen.« Sister kicherte. 42
Shaker las die übrig gebliebenen Holzstücke auf. »Tja, wir erkennen sie als Individuen, und sie uns. Sie ist direkt zu dir gekommen, um dir eine Vorstellung zu liefern.« Er warf die Holzreste in einen lindgrünen Zwanzig-Liter-Plastikeimer. »Ja, tatsächlich.« Sister las die Holzreste bei ihrem Hindernis auf. »Der Graue sah gesund aus.« »Viele Leute hetzen ungern einen Grauen«, sagte Doug. »Ich stelle gern einen Grauen. Ich lasse die Welpen gern mit einem Grauen anfangen«, sagte Sister schwärmerisch und hob leicht die Stimme. »Sie liefern einem eine gute Hätz - aber begrenzter, weil sie in Kreisen oder Achterfiguren laufen. Für die jungen Hunde ist das eine Hilfe.« Sie überlegte kurz. »Einjagen ist insofern schwieriger als eine offizielle Jagd, weil man den Jungen, Jagdhunden wie Füchsen, positive Erfahrungen verschaffen muss. Bäume und Büsche sind belaubt. Man sieht schlecht. Es gibt mehr zu bewältigen, ich glaube, das ist es, was ich zu sagen versuche. Es ist so ähnlich wie bei der Football-Vorsaison.« »Ich kann's noch gar nicht fassen, dass sie einfach so hier aufgetaucht ist.« »Alice?«, fragte Doug.
»Nein, Tante Netty.« Walter lud die überzähligen schweren Bretter aus ungehobelter Eiche auf die Ladefläche des Lieferwagens. »Sehr viel angenehmer als Alice.« Shaker steckte den Hammer in seinen Werkzeuggürtel. »Umgangsformen waren nie Alices Stärke, und jetzt sind sie richtig eingerostet.« Ein lautes Muhen und das Erscheinen einer großen Holstein-Kuh, ihr Kalb im Schlepptau, fesselte ihre Aufmerksamkeit. »Die verdammte Kuh.« Shaker nahm seine Schirmmütze ab und wischte sich mit dem Unterarm die Stirn. »Ich bring sie zurück.« Sister holte einen kleinen Eimer mit Körnern von der Ladefläche, der dort eigens für derlei Vorkommnisse deponiert war. »Ich komme mit«, erbot Walter sich eifrig. 43
Sister lächelte. »Das beste Angebot, das mir seit Jahren gemacht wurde.« »Wenn ihr zwei ausgeflirtet habt, sag mir, Boss, wie gedenkt ihr nach Hause zu kommen?« »Hol uns in einer halben Stunde an Cindys Stall ab.« Shaker nickte, dann stiegen er und Doug in den alten Pick-up. »Komm, Klytemnestra. Komm, Orestes«, rief Sister und schüttelte lockend den Eimer. Klytemnestra folgte und stupste Sister dauernd, um an den Eimer zu gelangen. Sobald sie den Waldweg betraten, brach Walter einen dünnen Ast ab und benutzte ihn als Rute. Orestes blieb dicht bei seiner dicken Mutter. Beide waren entsetzlich verwöhnt und aufmüpfig. Als sie den Wald verließen, kamen sie an dem hübschen Schulhaus vorbei, das Cindy Chandler, die Besitzerin der Foxglove Farm, restauriert hatte. »Sie kann die Kuh einfach nicht drinnen halten. Die macht Tore auf und trampelt Zäune nieder. Rinderwanderlust.« Sister gab Klytemnestra eins auf die feuchte Nase, als die Kuh sie wieder stupste. »Strotzt vor Gesundheit.« »Raymond und ich haben früher Rinder gehalten. Ausgesprochen zyklische Angelegenheit. Weiß nicht, ob ich das noch mal machen würde.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Die Stille wurde nur von Klytemnestras gemuhten Bemerkungen und dem lauten Peitschen ihres Schwanzes unterbrochen. »Glaubst du, Guy hat Nola umgebracht?«, fragte Walter. Er war damals ein Teenager gewesen und erinnerte sich kaum an die Sache. »Nein.« »Komisch, einerseits bin ich froh, dass man Nola gefunden hat, andererseits aber nicht.« Walter nahm Sister den Eimer ab und gab ihr die Rute. 43
»Ich glaube, so geht es uns allen. Ich bemühe mich, mich nicht von Dingen aufwühlen zu lassen, auf die ich keinen Einfluss habe«, sagte Sister. »Die
Vergangenheit kann ich nicht ändern, aber vielleicht kann ich irgendwie behilflich sein.« »Zähl dabei auf mich.« Walter brummte Klytemnestra an, die sich weigerte, durch das Tor zurück auf ihre Weide zu gehen. »Ich zähl auf dich, Walter. Und wie.«
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oger's Corner, ein weißes Holzhaus, das einen Gemischt -warenladen mit
Imbiss beherbergte, beherrschte die Kreuzung der Soldier Road, der Straße, die aus der Stadt nach Westen führte, und der White Cat Road, einer alten Fuhrstraße, die nach Norden und Süden verlief. In weiter Ferne umgab noch ein schwacher türkisfarbener Schein die Berge. Der im ersten Viertel befindliche, von einem roten Stern begleitete Mond hing über dem letzten hellen Zwielichtstreifen. Roger, Mitte vierzig, aß zu viel von seiner Pizza, die er in einem rotierenden Infrarotglasgehäuse erhitzte. In den Regalen wetteiferten Snickers, Käsecracker, Schokoriegel und mit Schokolade überzogene Doughnuts mit Holzkohle, Munition und Jagdmessern. In den Kühltheken verlockten selbstgemachte belegte Brote - darunter Rogers berühmter Olivenrahmkäse auf Vollkornbrot - die Leute zur Einkehr. Wenn sie nicht in der Stadt getankt hatten, waren sie mehr oder weniger gezwungen, bei Roger anzuhalten, weil Sprit in dieser Gegend rar war. Die nächste Tankstelle befand sich auf der anderen Seite der Blue Ridge Mountains in Waynesboro. Die Strahler draußen surrten in der Nachtluft, begleitet vom Flattern der Nachtpfauenaugen und dem Summen zahlreicher
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Insekten, die das Licht anzog. Ein längliches weißes Schild mit der Aufschrift ROGER'S CORNER in wohlproportionierten roten Blockbuchstaben verlief über fast die gesamte Länge des Daches. Roger würde in der großen Welt wohl nie die fünfzehn Minuten Ruhm erlangen, die berühmten Menschen laut Andy Warhol heutzutage nur noch zustehen, weil sie dann schon wieder vergessen sind, aber sein Schild kündete eindringlich von seiner Anwesenheit in dieser Gegend. Shaker Crown, die Orioles-Baseballkappe aus der Stirn geschoben, erschöpft von des Tages Arbeit und nicht gerade ein ambitionierter Koch, beugte sich über den Tresen. Henry Xavier, Inhaber des größten Versicherungsunternehmens in der Stadt, war auf dem Heimweg hier eingekehrt, ebenso wie Ralph Assumptio, Inhaber der John Deere Traktorenniederlassung. Beide hatten Farmen auf dieser Westseite des Bezirks, die zum Gebiet des Jefferson-Jagdvereins gehörten, und beide jagten mit Sister. Die meisten Mitglieder sagten nicht, sie jagten im Jefferson-Jagdverein, sondern sie sagten einfach: »Ich jage mit Sister Jane.«
Damit fanden sie sofort heraus, ob ihr Gesprächspartner über die hiesige Gesellschaft im Bilde war. Wurden sie verständnislos angesehen, ergänzten sie gnädig: »Beim Jefferson-Jagdverein.« Das war so eine kleine stolze Angelegenheit, ähnlich wie die Mitglieder des Jagdvereins Green Springs Valley Hounds außerhalb von Baltimore nie darüber sprachen, wie hoch ihre Sprünge waren. Sie zuckten die Achseln und sagten von ihrem Pferd: »Oh, es ist gut rübergekommen.« Green Springs Valley Hounds, 1892 gegründet, rühmte sich etlicher steiler Hindernisse. Dies war keine Jagd für Zaghafte, aber derlei Einzelheiten wurden nie erklärt, nur festgestellt. Alle Gruppen pflegen ihre Zeremonien des Beisammenseins, Rituale, die sie als andersartig und eigen ausweisen. »Wo hast du deinen Priem?« Roger tippte den Preis für Shakers belegtes Brot in die Registrierkasse. »Äh ...« 45
»Hier. Du hast ihn auf den Keksen liegen gelassen.« Henry Xavier, nur als Xavier bekannt, nahm die hübsche runde Dose Copenhagen Black und reichte sie Shaker. »Ah, danke.« Shaker tippte sich an den Kopf. »Vernebelt.« Ralph trat zu ihnen und knallte die Großpackung Milch auf den Tresen, die mitzubringen seine Frau ihm aufgetragen hatte. »War kein guter Tag für Mensch und Tier.« »Wir haben in Foxglove neue Hindernisse gebaut. Es war scheußlich.« »Gott sei Dank.« Ralph sah sehnsüchtig auf die runde Kautabaksdose in Shakers Hand. »Verdammt, hätte ich Frances bloß nicht versprochen, damit aufzuhören.« »Ratet mal, wer aufgekreuzt ist, um Sister runterzuputzen?«, fragte Shaker, während er durchweichte Geldscheine aus seiner Tasche zog und vorsichtig einen Fünfer von dem Packen pellte. »Crawford«, meinte Xavier. »In einer Mission«, sagte Roger. »Mission Impossible.« Xavier lächelte, die anderen lachten. »Dieser aufgeblasene Trottel glaubt wahrhaftig, dass wir ihn zum Joint-Master wählen.« Ralph stellte seine Milch wieder in die Kühlung, weil er spürte, dass sich ein längeres Gespräch entwickeln könnte. »Hey, wenn er genug Geld in den Verein schmeißt, wer weiß?« Xaviers dichte Augenbrauen, schwarz mit ein bisschen Grau durchsetzt, schnellten aufwärts. »Geld übertüncht viele Sünden.« »Mit Sünden kann ich umgehen. Aber ihm fehlt die Phantasie zum Sünder. Er ist bloß ein Yankee-Trottel«, sagte Ralph auf dem Rückweg von der Kühltheke. »Sind Yankees das nicht alle?«, sagte Shaker augenzwinkernd. »Ich bin in Connecticut geboren.« Xavier lächelte. Er war ein warmherziger Mensch, der langsam korpulent wurde. In dieser Hitze trug er am liebsten Seersucker-Hemden, in denen er irgendwie dicker aussah statt dünner. 45
»Oh, Xavier, du bist hier aufgewachsen. Komm uns nicht mit politisch korrekt.« Roger gab ihm über den Tresen hinweg einen Klaps. »Also, wollt ihr jetzt wissen, wer die Straße endanggefahren kam, oder nicht?« »Schieß los«, sagte Xavier. »Alice Ramy.« »Was wollte sie denn?« Ralph hielt es nicht mehr aus; er griff sich eine Dose Skoal Menthol Kautabak, zog den Aufreißfaden ringsum ab und schob sich einen Priem zwischen Lippe und Zahnfleisch. Er schloss zufrieden den Mund. »Ach, das Übliche. Sie hat Janie ins Gesicht gesagt, wir dürfen dort nicht jagen, und sie würde die Höllenhunde auf uns hetzen«, Shaker genoss diese kleine Anspielung auf Jagdhunde, »und dass Peters Harrier bloß aus ihrem Hühnerstall wegbleiben soll, Momentchen, sagen wir lieber, aus ihrem glücklichen Hühnerstall.« »Und Sister hat das alles lächelnd weggesteckt«, sagte Ralph. »Und deswegen kann Crawford Howard nie Joint-Master sein. Sein Ego würde ihm im Weg stehen. Er würde auf die alte Kampfhenne zurückschießen oder alles Land rings um sie aufkaufen und sie rausekeln. Mistkerl.« Xavier wusste eine Menge über Crawfords hiesige Geschäfte, weil er viele davon versichert hatte. Er konnte Crawford nicht ausstehen, aber Geschäft war Geschäft. »Genau.« Roger verschränkte die Hände. »Aber ihr braucht einen Joint-Master, damit Sister ihn anlernen kann. Sie kann nicht ewig leben.« »Sie könnte dem nahekommen«, sagte Shaker lachend. »Sie hat heute mit Eichenbrettern um sich geworfen wie eine Dreißigjährige. Unverwüstlich, das alte Mädchen.« »So was wird heute nicht mehr hergestellt.« Xavier verehrte Sister. Schließlich war er als Junge mit ihr im Feld geritten. Sie war damals über vierzig gewesen. 7i
»Alice hat mir irgendwie leidgetan«, fuhr Shaker fort. »Ben Sidell d u f t e sie mächtig in Harnisch gebracht haben. Sie meint, er beschuldigt sie, Guy zu decken, und jetzt wird der ganze üble Schlamassel wieder aufgerührt. Sister war richtig prima. Sie sagt, sie wird sie besuchen. Ich brächte das nicht fertig, aber irgendwie bedaure ich Alice.« »Alice macht es einem nicht leichter, ich muss es ja wissen«, sagte Ralph kopfschüttelnd. Er war Alices Neffe, seine Mutter war Alices Schwester. »Alles muss sich nach ihr richten. Wenn man eine Dose Bier aus ihrem Kühlschrank genommen hat, macht sie gleich danach die Tür wieder auf, um sicherzugehen, dass man die anderen in Reih und Glied aufgestellten Dosen nicht durcheinandergebracht hat. Man kann keine ganze Zigarette rauchen, schon schnappt sie sich den Aschenbecher und leert ihn aus. Jessesmariajosef, sie treibt einen zum Wahnsinn. Und jetzt ist sie ausgerastet. Als Paul noch lebte, hat er sich wenigstens darüber lustig gemacht und es ihr ausgetrieben.« »Frauen vertrocknen«, stellte Xavier fest. »Und Männer werden sentimental«, sagte Roger, ein scharfer Menschenbeobachter. Er nahm sich ein Bier. »Noch jemand? Geht auf mich.«
»Danke.« Xavier nahm eine kalte Dose Budweiser, Roger griff nach Sol, einem Importbier. »Menschen vertrocknen, wenn sich keiner um sie kümmert. Mir ist da irgendwie bange um mich selbst«, scherzte Shaker. »Ich will nicht hören, >es gibt keine Frauen da draußenDenn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.< Römer, siebtes Kapitel, Vers neunzehn.« Seine Qual war fühlbar. Inky wusste, dass es Geister gab. Ähnlich wie Hamlet zu Horatio sagte, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir ahnen, aber das hieß nicht, dass sie daran teilhaben wollte. Sie raste zu ihrem Bau und verzichtete darauf, Diana heute Abend zu besuchen. Ein von ihr aufgeschreckter Ziegenmelker stieß seinen charakteristischen Schrei aus. «3 Sie sauste in ihren Bau und kuschelte sich in das frische Heu, das sie ausgelegt hatte. »Wie traurig die Menschen sind«, dachte sie. »Sie tun anderen weh und sich selbst, und ihr Elend strömt durch die Jahrhunderte. Vielleicht haben sie wirklich die Erbsünde.« Sie schloss die Augen und betete zu Gott, der für sie wie ein schöner Graufuchs aussah. »Danke, lieber Gott, danke, dass du mich als Fuchs erschaffen hast.«
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ch habe diesen Flecken immer geliebt, aber jetzt...« Sybil versagte die Stimme.
Tränen liefen ihr über die Wangen. »Schatz, versuch, nicht darüber nachzudenken.« Ken Fawkes meinte es tröstlich, aber es war ihnen beiden unmöglich, nicht auf die frisch gestampfte Erde zu schauen und daran zu denken, dass Nola zwei Jahrzehnte und ein Jahr hier gelegen hatte. »Als kleine Mädchen haben wir uns dort hingesetzt, wo Peppermint jetzt begraben ist, und über den Bach und die Wesen geschaut. Ich habe diese Jahreszeit geliebt, weil es hier kühler war und die Kornblumen geblüht haben. Nolas Augen waren kornblumenblau. Sie hat gesagt, ich habe irisblaue Augen. Die meiste Zeit sind sie blassblau, es war so lieb von ihr.« Sybil schluchzte heftiger. Ken nahm sie in die Arme und legte sein Kinn auf ihren Kopf. »Du hast lavendelblaue Augen. Die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.« »Ken, wie soll es jetzt weitergehen?« Er konnte nicht sofort antworten. »Nun, wir machen einfach weiter.« »Hast du gesehen, dass Mutter den Saphir trägt?« »Ja.« 55
»Ich habe sie gefragt, warum. Sie sagt, sie hat etwas gelobt. Der Saphir würde sie daran erinnern, es nicht zu vergessen.« Eine Pferdebremse brummte um Kens Kopf und flog weg, als er nach ihr schlug. »Dieser Ring bringt Unglück.« Sybil strich ihre glänzenden Haare glatt. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht befrachten wir Gegenstände nur mit unseren Gefühlen.« »Dass du mir diesen verfluchten Ring nicht trägst.« »Keine Sorge. Niemals.« Sie sah, dass seine Wangen sich röteten. Ken bohrte seine Stiefelspitze in die Erde wie ein missmutiges Kind. »Ich habe mit dem neuen Sheriff gesprochen, der mir kaum vertrauenerweckend erscheint. Ich habe den Eindruck, dass sein Verstand so klein ist, dass er in einem Spatzenhirn Platz finden würde.« »Paul Ramys Verstand hätte dagegen wohl ein Riesenhirn ausgefüllt«, meinte Sybil wehmütig. »Ein guter alter Kerl in der guten alten Zeit. Scheiße.« Ken verzog das Gesicht. »Da hat sich einiges geändert. Ich weiß nicht, ob dieser Sidell in der Lage ist, einen tödlichen Verkehrsunfall zu untersuchen, geschweige denn das hier. Er hat mir lauter sinnlose Fragen gestellt.« »Einundzwanzig Jahre. Ich nehme an, von seinem Standpunkt aus ist es nicht dringend. Niemand anders ist in Gefahr. Sonst wäre damals mehr Blut vergossen worden.«
»Du hast recht.« Ken schlug wieder nach einer Bremse. »Die stechen. Es muss Regen geben.« Er lächelte. »Heute ist ein guter Tag für Regen. Lieber heute als am Wochenende.« Domino und Merry Andrew kamen von der anderen Hügelseite angetrabt. Nach Nasereiben und Halsklopfen entfernten sie sich wieder. »Ken, ich denke, wir sollten Nola nicht von Mom oder Dad holen lassen. Oder was von ihr übrig ist.« Sybils wohlmodulierte Stimme hatte einen bitteren und ratlosen Ton angenommen. »Sie haben genug durchgemacht. Wir sollten sie «56
holen, du und ich. Ich habe Sidell nicht gefragt, wann man ihre Überreste freigeben wird.« »Dürfte nicht mehr lange dauern. Sie haben das Grab und ihre Lage in der Erde fotografiert. Sie werden die Knochen vermessen, abkratzen, was sie abkratzen können, und ins Labor schicken. Daraus werden sie wohl Schlüsse ziehen können. Ich bin kein Wissenschaftler.« »Sie war gesund wie ein Gaul.« Sybil suchte den westlichen Himmel ab; ein paar graue Haufenwolken lugten über die Berge. »Die Bremsen haben den Wetterbericht gesehen.« »Sie stechen immer, bevor es Regen gibt.« Ken sah auf seine kostspielige Uhr und klopfte auf das Glas, eine Angewohnheit von ihm. »Ist noch früh genug, den Sheriff heute anzurufen. Ich werde ihn fragen, wann man sie freigeben wird und wir sie holen können.« »Ruf lieber zuerst den Bestattungsunternehmer an.« »Warum?« »Ich glaube, Familienmitglieder dürfen Leichen nicht abholen. Ich meine, es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass das ein Bestattungsunternehmer oder ein Angestellter von ihm macht. Ich bin mir da ziemlich sicher. Du kannst sie nicht einfach in einem Sack wegtragen.« »Nein.« Ken war ein bisschen ungehalten. »Ich wollte einen anständigen Sarg besorgen und sie da hineinlegen. Es sind nichts als Knochen da. Es ist nicht, na ja, du weißt...« Sybil bestätigte mit einem Nicken, dass sie es wusste. Man wächst nicht auf dem Land auf, ohne über den Zerfall von toten Dingen im Bilde zu sein. Vernunftmäßig wusste sie, dass Bussarde, Würmer und Käfer ihr Werk verrichten mussten. Ohne sie würden sich auf der ganzen Erde kilometerhohe Leichenberge türmen. Aber warum hatte der Herrgott den Vorgang nicht ästhetischer gestaltet? Allein der Gestank war entsetzlich. Sich vorstellen, wie der Leichnam ihrer Schwester in der Erde verweste ... sie konnte es nicht. Sie konnte es einfach nicht. Sie mühte sich, sich das stakkatohafte Lachen ihrer 56
Schwester in Erinnerung zu rufen, um sich an etwas Schönem festzuhalten.
Die Fehlzündung eines Motors veranlasste sie, sich dem Farmweg zuzuwenden, der zu der überdachten Brücke führte. Jimmy Chirios rollte über die niedrige Anhöhe, wobei der Traktor kleine dunkle Rauchwolken ausstieß. »Der Traktor verbraucht zu viel Treibstoff.« Sybil war froh, das Thema wechseln zu können. »Dein Vater weigert sich, einen neuen zu kaufen.« Trotz seines Reichtums war Edward in puncto persönliche Ausgaben nicht vernünftiger als der Rest der Menschheit. Er verschwendete Geld für manche Dinge, bei anderen war er knauserig bis zum Geht nicht mehr. Der dunkelgrüne Dodge ratterte über die Brücke. Jimmy hielt bei dem Ehepaar an. »Gewitter im Anmarsch. Hab's im Radio gehört. Kommt schnell näher. Bringt Überschwemmungen.« In dem Augenblick, als sie in die Fahrerkabine stiegen, drehte der Wind auf. Die Weiden am Bach wiegten sich wie Geishas. »Gute Arbeit, wie Sie das ... Grab zugeschüttet haben«, bedankte Ken sich unbeholfen bei dem jungen Mann. »Oh.« Jimmy brachte kein Lächeln zustande, obwohl er gelobt worden war. Der Gedanke an die ganze unerfreuliche Geschichte verstörte ihn sehr. »Warum hat man mich eine Woche warten lassen? Ist doch sonst nichts drin.« »Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Ken trommelte gegen die Tür, den Ellenbogen auf der Armstütze. »Die Polizei, meine ich.« »Ja.« Jimmy führ sie zu dem großen Wohnhaus. Kaum hatten Sybil und Ken die Haustür erreicht, als die ersten dicken Regentropfen auf den makellosen Rasen platschten. Sybil rief: »Mom.« »Im Salon.« Sie gingen in den Salon, der luxuriös getäfelt war mit schim 57
merndem Kirschholz, dem das Alter einen noch edleren Glanz verliehen hatte. Die Regale waren angefüllt mit in marokkanischem Leder gebundenen Büchern dunkelblau, rot mit gold, grün, schwarz, sattellederbraun. Außerdem waren die Regale vollgestellt mit Fotografien, darunter einige der allerersten, die im neunzehnten Jahrhundert aufgenommen worden waren. Jedes einzelne dieser sepiafarbenen Bilder steckte entweder in seinem ursprünglichen filigranen Rahmen oder in einem schlichten Rahmen aus Sterlingsilber. Es gab so viel Silber auf After All, dass es eine der sagenhaften Minen in Nevada hätte füllen können. Tedi saß auf dem Chintz-Sofa, ein aufgeschlagenes Album vor sich auf dem Couchtisch. Bilder von Nola im Weihnachtskleid, in ihrem Abschlussjahr im Internat in Madeira, Virginia. Nola in Jagdkleidung, die Zügel in der Hand, Peppermint, jung und ansehnlich, an ihrer Seite; Bilder von Nola mit zweiundzwanzig, wie sie ihre Urkunde von Mount Holyoke in Empfang nimmt, wo sie sich im Springreiter-Team ausgezeichnet hatte, aber nicht im Klassenzimmer; Bilder von
Nola als Brautjungfer auf Sybils Hochzeit, und sogar eine Fotografie von Nola bei der Eröffnungsjagd 1980, im Hintergrund Guy Ramy, der sie mit einem breiten Grinsen ansieht. Vielleicht hatte er sie wirklich geliebt. Auch Tedi lächelte sich selbst auf diesen Fotografien entgegen. Tedi in den Zwanzigern, dann Dreißigern, Vierzigern, Fünfzigern, Sechzigern. Sie blieb schlank, sehr gepflegt und bewahrte sich dank ausgezeichneter plastischer Chirurgie ein jugendliches Aussehen. »Oh, Momma, nicht.« Tedi sagte mit eiserner Entschlossenheit: »Ich weiß, dass mir etwas entgangen ist. Die Bilder helfen. Setzt euch doch.« »Ich bin ganz verschwitzt. Möchten die Damen einen Drink?«, fragte Ken, dem vor einem möglichen Gefühlsausbruch bangte. »Süßen Eistee und meinen Martini.« 58
Sybil drückte die Hand ihrer Mutter. »Ich weiß noch, wie kleinkariert ich dich fand, weil du Martini getrunken hast. Jetzt ist er wieder groß in Mode.« »Zyklen. Bis du so alt bist wie ich, wirst du sie alle erlebt haben.« Nach wenigen Minuten traten Ken und Edward zu ihnen. Jeder reichte seiner Frau ihren Drink. Sybil labte sich an ihrem Daiquiri, dem idealen Sommergetränk. Draußen regnete es inzwischen wie aus Kübeln. »Barmherziger. Jetzt schüttet es aber richtig.« Der groß gewachsene aristokratische Edward mit der Adlernase wirkte etwas einschüchternd, dabei war er ein liebenswürdiger Mensch, ein guter Mensch. Er sah aus dem Fenster, dann zu seiner verbliebenen Tochter. Er lächelte und trank einen Schluck von seinem Scotch on the Rocks. »Festmahl oder Hungersnot. Entweder herrscht Dürre oder es strömt aus allen Gullis.« »Stimmt«, pflichtete Ken ihm bei, der immer noch stand. »Schatz, setz dich endlich. Du bist schließlich nicht der erste verschwitzte Mann in diesem Zimmer«, forderte Sybil ihn auf. Er hockte sich auf die Kante eines übergroßen Sessels. »Dad, morgen achtzehn Löcher? David Wheeler und Pat Butterfield brauchen uns, um ihre Brieftaschen zu leeren.« Ein Flackern erhellte Edwards Augen. »Das Geld in Davids Brieftasche hat schon Schimmel angesetzt.« »Da hast du recht. Das Geld muss unbedingt Tageslicht sehen. Der Kapitalismus ist auf den Geldumlauf angewiesen. Wir können sie ausnehmen.« Kens Ton war ein bisschen zu forsch. »Die Greens sind bestimmt langsam.« »Gute Idee. Rufst du sie an?« »Hab ich schon.« Ken war froh, dass sein Schwiegervater Interesse an der Außenwelt zeigte. Privilegien und der Name Fawkes waren nicht aneinander gewöhnt. Fawkes hießen viele arme Weiße in dieser Gegend mit Nachnamen. Einige wenige waren im Laufe der Jahrhun
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derte aufgestiegen, aber der Name klebte an ihnen wie eine Grabbiene und ließ sie nicht los. Kens schwer arbeitende Angehörige gehörten alle der baptistischen Kirche an. Die Bancrofts hatten nie einen Fuß in eine Baptistenkirche gesetzt und würden es auch nie tun. Ken hatte sich durch das North Carolina State College gearbeitet und sich dabei das Football-Team zunutze gemacht. Er erwies sich als ein derartig kämpferischer Abwehrspieler, dass er ein Stipendium bekam. Er belegte Wirtschaft als Hauptfach und erzielte beachtlich gute Noten. Er wusste nicht so recht, was er machen sollte. Er wollte nur eine Arbeit finden, die ihm Spaß machte und ein gutes Auskommen brachte. Aber dann hatte er Sybil kennengelernt, und seine Werte hatten sich verschoben. Ein gutes Auskommen reichte ihm nicht mehr. Neidische Menschen sagten: »Dieser Ken Fawkes ist im Honigtopf gelandet.« Was zweifellos stimmte. Aber er war leidlich intelligent. Edward brachte ihn mittels der Firma Bancroft Immobilien in einem kleinen Betrieb am Ort unter. Ken arbeitete sich ein. Er erkundete die Straßen, kaufte Grundstücke in der Nähe von Kreuzungen und entwickelte Wohnsiedlungen. Freilich sagten manche Leute, die schwierigste Art Geld zu verdienen, sei Geld zu heiraten. Ken sagte das nie. Er strahlte eine maskuline Aura aus. Die Frauen fanden ihn sehr attraktiv, obwohl er nicht als gut aussehend im klassischen Sinn gelten konnte. Sybil beugte sich tiefer über das Fotoalbum. »Erstaunlich.« »Was, Liebes?« Tedi fand, ihr Tee könnte noch einen Schuss Zucker vertragen, wogegen ihr Martini genau richtig war. »Ken, sei ein Schatz und tu mir noch einen Löffel Zucker rein. Mein Blutzuckerspiegel ist auf den Spätnachmittagstiefpunkt gesackt.« »Aber gern.« Ken stand auf, nahm ihr Glas und verließ kurz das Zimmer. »Dieses Bild ist fünfundzwanzig Jahre alt, und Sister sieht 59
noch genauso aus. Sie hat jetzt silbergraue Haare, das ist alles.« »Das macht das Leben im Freien«, sagte Tedi. »Und du siehst auch fabelhaft aus, meine Liebste.« Anders als viele Männer hatte Edward schon sehr früh im Leben gelernt, dass man einer Frau - vor allem der eigenen - nie genug Komplimente machen kann. »Danke, mein Lieber.« Tedi lächelte. »Aber ich fühle mich alt. Ich fühle mich, ach, sagen wir einfach, Verletzlichkeit ist für mich greifbar geworden.« Ken kehrte mit ihrem Tee zurück. »Hier, deine Zuckerdröhnung.« Er sah nach draußen. »Schwarz wie die Nacht.« »Nie ist man froher, drinnen zu sein, als bei einem Gewitter«, sagte Edward. Er genoss den unverwechselbaren milden Geschmack des Scotch.
»Ich habe mir was überlegt.« Tedi lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Eine Zeremonie ist in Ordnung, eine Feier zum Gedenken an Nola. Wir haben nie eine ...« Ken sagte schnell: »Wir haben immer gehofft.« »Ja.« Tedi konnte es nicht leiden, wenn sie unterbrochen wurde. »Damit ist es jetzt vorbei. Ein Gottesdienst ist in Ordnung. Ich habe mit Reverend Thigpin gesprochen, und ich habe überlegt, wo Nola ihre letzte Ruhestätte finden soll.« Edward räusperte sich und wartete. Welchen Platz hatte Tedi gewählt? Das Prescott-Grundstück am Northern Neck unweit von Warsaw, dem Wohnsitz der ersten Prescotts, oder den Privatfriedhof der Bancrofts hier auf After All? »Und wofür hast du dich entschieden, Schatz?« »Lasst es uns als einen besonderen Ort gestalten, von einer niedrigen Mauer umgeben und mit weißem Flieder bepflanzt. Es muss ein Ort voller Liebe sein. Nola hat Peppermint geliebt. Mehr als irgendeinen Menschen hat sie Pepper geliebt. Ich stelle mir gerne vor, dass sie auf der Jagd sind, und Ikey Bell führt das Horn mit sich.« Ikey Bell war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein berühmter Jäger gewesen. 9i
Niemand wusste etwas zu sagen. Schließlich griff Sybil das Thema auf. »Mom, das ist schrecklich nahe bei der Stelle, wo sie gefunden wurde.« »Ich weiß. Aber sie hatte da keinen Frieden. Konnte sie nicht. Bei Peppermint wird sie ihren Frieden haben. Er hat sie im Leben geliebt, er wird im Tod bei ihr sein. Das fügt sich ideal.« Edward sah in den Regen hinaus. Er berührte seinen Adamsapfel. »Ganz, wie du es haben möchtest. Du verstehst mehr von diesen Dingen als ich.« »Und lasst uns alles so machen, wie Nola es geliebt hat. Ja, wir pflanzen riesige blaue Hortensien und auch Zwerghortensien. Ich pfeif auf großkotzige Gärtner und großkotzige Gärten. Großkotzig, ist das nicht ein grässliches Wort?« Ihre Miene hellte sich auf, als sei eine Last von ihr genommen. »Roter Mohn neben lila Iris und massenhaft Schneeweißes. Lasst uns alle Farben nehmen, die Nola geliebt hat.« »Kornblumenblau.« Sybil hatte Tränen in den Augen. »Ja. Und wisst ihr, was sie mehr geliebt hat als alles andere auf der Welt?« Die Familie wartete gespannt auf Tedis nächstes Wort. »Die Fuchsjagd!«
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D
as cremige Korallenrot des Polohemdes von Paul Stuart ließ Crawfords
Gesicht weich erscheinen. Für Crawford war nur das Beste gut genug. Paul Stuart war ein exklusiver Herrenausstatter auf der Madison Avenue. Wenn Crawford nicht dort oder bei Sulka auf der Park Avenue einkaufte, fand er nichts dabei, zum
Telefon zu greifen und bei Turnbull and Asser in London ein Dutzend Hemden, bei Lobb Schuhe und Stiefel und bei einem Tuchhändler in Turin kostbare Kaschmir- und Seidenstoffe zu bestellen. Das musste man ihm lassen, er sah immer aus wie aus dem Ei gepellt. 61
Der dunstige Morgen verhieß einen schwülen Tag. Es war der 28. Juli, die Wiederkehr des Tages, an dem Elisabeths tapfere Männer im Jahre 1588 die spanische Armada vernichtet hatten, und des Tages, an dem Arthur Wellesley im Jahre 1809 die Franzosen bei Talavera vernichtend geschlagen hatte. Crawford, der Geschichte und Wirtschaft studiert hatte, prägte sich alle möglichen Daten ein. Er und Marty hatten den Frühgottesdienst in der St.-Lukas-Kirche besucht, und jetzt werkelte er fröhlich in der Sattelkammer seines luxuriösen Pferdestalls mit den polierten Messingbeschlägen, den Bodenbelägen, die ein Vermögen gekostet hatten, den makellosen Türen, die wie die Vorderseiten der Boxen marineblau gestrichen waren. Die gesamte Ausstattung stammte von der Firma Lucas Equine in Cythiana, Kentucky. Crawfords Stallfarben waren Marineblau und Rot. Viele Leute in dieser Gegend lackierten ihre Fahrzeuge in ihren Stallfarben, oder sie pinselten ein kleines Symbol oder einen Namen in diesen Farben auf die Fahrertür. Auf der Fahrertür von Crawfords rotem Mercedes stand in zweieinhalb Zentimeter hohen, marineblauen Buchstaben BEASLEY HALL. Außerdem zierten marineblaue Nadelstreifen den Wagen. Sein Mobiltelefon, das auf einer handgefertigten, ebenfalls in seinen Farben gehaltenen Satteltruhe lag, klingelte. »Crawford.« »Haslip«, lautete die knappe, spöttische Antwort. Crawford merkte nicht, dass Ronnie Haslip sich über ihn lustig machte. »Wie geht's denn so?« »Gut. Zweierlei.« Ronnie wusste, dass man mit Crawford am besten zurechtkam, wenn man sich knapp und offen ausdrückte, was ganz entschieden nicht die Art der Virginier war. »Der Jagdverein sponsert eine Klasse beim Fall Classic Reit-und Springmrnier dieses Jahr am Thanksgiving- Wochenende. Wir denken da an einen Dauerpokal - in Silber, stelle ich mir vor. Wird eine hübsche Stange kosten.« »Wie viel?« 61
»Siebentausend.« »Mein Gott, Ronnie, wie groß ist das Ding?« »Riesig. Sterlingsilber. Von der Art, wie man solche Sachen um 1800 angefertigt hat.« »Warum ist Sister so pompös? Sieht ihr gar nicht ähnlich.« »Das ist ein Geheimnis. Sie möchte, dass es zu Ehren von Nola geschieht. Der Nola-Bancroft-Dauerpokal für Damen, die Hindernisse überspringen.«
»Oh.« Crawford überlegte kurz. »Ich bin mit dreitausendfünfhundert dabei. Das dürfte den Stein ins Rollen bringen.« »Das ist überaus großzügig, Crawford. Nicht nur Sister wird dankbar sein; die Bancrofts werden begeistert sein, wenn sie es erst erfahren.« »Furchtbare Geschichte.« »Ja. Oh, ich habe eben gehört, dass Tedi sie am zehnten August auf der Farm bestatten will. Der Verein wird möglichst vollzählig teilnehmen.« »Natürlich.« Crawford fand diese Nachricht bedrückend, obwohl er Nola nicht gekannt hatte. Begräbnisse waren nicht seine bevorzugten gesellschaftlichen Ereignisse, aber man musste seine Rolle spielen. Und er war nicht gefühllos, nur überheblich. »Ronnie, du bist mit Nola aufgewachsen. War sie wirklich so, wie alle sagen?« »Das und noch mehr.« Ronnie lachte. »Nola war von einer Launenhaftigkeit, die etwas wahrhaft Göttliches hatte, sofern man nicht in sie verliebt war. Dann trieb sie einen zum Wahnsinn oder brach einem das Herz.« »War ihr bewusst, was sie den Menschen antat?« »Ich fand immer, sie war wie die indianischen Krieger, die Skalps sammeln. Sie hielt sich vier, fünf, wer weiß wie viele, an einer Schnur.« »Hat sie mit ihnen geschlafen?« »Hm ...« Ronnie mochte eine Dame nicht mit Schmähungen überhäufen, aber wie konnte er sich ausdrücken? »Sagen wir mal, Nola war ein lebhaftes Tier mit gewaltigen Energien.« 62
»Um Himmels willen, Ronnie!« »Sie hat mit dem einen zu Mittag gegessen, ist mit dem nächsten auf eine Party und mit dem dritten nach Hause gegangen. Sie hatte kein Herz.« Ronnie lachte wieder. »Du warst nicht in sie verliebt?« Crawford konnte sich den kleinen Stich nicht verkneifen. »Ich war nicht reich genug für Nola«, antwortete Ronnie nonchalant, da er sich weigerte, den Köder zu schlucken. »Guy Ramy auch nicht, nach allem, was ich so höre.« »Aber er war so schön wie Nola. Er hatte pechschwarze lockige Haare, eisblaue Augen, Schultern so breit wie Atlas. Er war furchtlos zu Pferde. Nicht der beste Reiter, aber furchtlos.« »Hatte er daher den Spitznamen Heißsporn?« »Ja und nein. Ich nehme an, Sie kennen sich mit dem Leben von Sir Henry Percy aus.« »Selbstverständlich, Ronnie.« Ein indignierter Ton trübte Crawfords Stimme. »Ich habe schließlich mein Examen in Geschichte gemacht.« Der tapfere, ungestüme und starke Henry Percy war der älteste Sohn des ersten Earl of Northumberland. Henry wurde am 20. Mai 1364 geboren. Er lernte kämpfen wie alle Knaben adliger Abstammung und entfaltete eine regelrechte
Begabung dafür. Mit Anfang zwanzig jagte er die Schotten zum Teufel, die ihm wegen seiner rücksichtslosen Grenzpatrouillen den Namen Heißsporn gaben. Als sich bei Richard II. zeigte, dass er den Anforderungen, die an einen König gestellt wurden, nicht gewachsen war, flackerten überall in England Unruhen auf. Viele Leute meinten kichernd, Richard würde sich als Königin besser machen denn als König. Heißsporn und sein Vater halfen 1399 Henry Bolingbroke, der sich dann Heinrich IV. nannte, auf den Thron. Sein Wagemut brachte Henry Ruhm und Bewunderung ein, was beim König vielleicht eine gewisse Eifersucht weckte. Aber Heinrich IV war nicht dumm. Er belohnte Heißsporn mit 63
Ländereien und Ämtern in Nordengland und Wales, beides Gegenden, wo ein starker militärischer Anführer vonnöten war. Am 14. September 1402 vernichteten die Percys die Schotten bei Humbleton Hill in Durham. Heinrich IV, der vergeblich versuchte, die Waliser zu unterdrücken, war dagegen eine blasse Erscheinung. Heinrichs Selbstüberschätzung trübte seine ansonsten so kühl berechnende Urteilskraft. Er gestattete Heißsporn nicht, die schottischen Adligen, die er gefangen genommen hatte, gegen Lösegeld freizulassen; eine übliche Praxis, die sowohl Heißsporns Kasse als auch die der Krone gefüllt haben würde. Die Sache wurde noch schlimmer, als Heinrich die Rechnung für Heißsporns Grenzkrieg nicht bezahlen wollte. Der König war nicht nur eifersüchtig, sondern auch noch geizig. Wutentbrannt zettelten Heißsporn und sein Vater 1403 eine Rebellion an, um den König abzusetzen. Heinrich, schlauer, als den Percys klar war, fing Heißsporn unweit von Shrewsbury ab, bevor er sich mit seinem Vater zusammentun konnte. Wiewohl zahlenmäßig unterlegen, kämpfte Heißsporn wie ein Löwe, doch dann fand er am 21. Juli im Alter von neunddreißig Jahren ein gewaltsames Ende: Er wurde geschlagen, gehängt und gevierteilt. »Man hatte immer das Gefühl«, tönte Ronnies Bass-Stimme, »Guy würde sein Schwert beim Falschen ziehen.« »Schwert im Sinne von Waffe oder von Schwanz?« »Beides.« »Dann hat er sich auch mit anderen als Nola herumgetrieben?« »O nein. Nein, er war total verliebt in sie. Aber wenn sie auch in ihn verliebt gewesen sein mag, hat sie das nicht daran gehindert, sich die Aufmerksamkeiten anderer Männer gefallen zu lassen.« »Aber die Leute sagen, sie würde ihn geheiratet haben.« Crawford begriff allmählich, wie kompliziert das alles war und wie es den Leuten widerstrebte zu sagen, was sie wussten. c,6
Schlafende Hunde soll man nicht wecken und so weiter. Bloß dass die Hunde jetzt hellwach waren. »Die Leute. Ich finde, diese Ansicht verrät mehr über deren romantische Natur als über Nola.« »Wie meinst du das genau, Ronnie?« Crawford fehlte die Geduld für die sprachliche Subtilität, wie sie in Virginia gepflegt wurde. »Überirdische Schönheit, Kind des Midas, heiratet Jungen vom Lande. Die Leute lieben so etwas. Sie würde ihn nicht geheiratet haben. Sie hat gesehen, was Sybil durchgemacht hat, als sie Ken Fawkes heiratete.« »Er hat sich sehr gut gemacht. Natürlich mit Hilfe des alten Herrn.« »Ja.« Ronnie atmete ein. »Aber er wird nie einer von ihnen sein. Edward hat ihn gestützt und mitgetragen, so dass sich alle fragen, was für Fähigkeiten Ken eigentlich hat. Und Sybil trägt den Namen Fawkes, nicht Bancroft.« »Na und?« »Crawford, wir sind in Virginia. Hier vergisst niemand niemals etwas. Nola wäre nie und nimmer Nola Ramy geworden.« »Aber Ken ist auf Draht. Mit der Zeit hätte sich vielleicht gezeigt, dass auch Guy Geschäftssinn hatte.« »In der Zeit, als Nola Guy den Kopf verdreht hat, mühte sich Ken damit ab, nicht nur das Immobiliengeschäft zu beherrschen, sondern auch die Nuancen des Lebens, in das er eingeheiratet hatte. Scott Fitzgerald hat einmal gesagt, die Reichen sind anders. Und ich weiß, dass du weißt, dass sie wirklich anders sind. Altes Geld, meine ich. Richtig altes Geld.« »Nicht wie mein Geld.« Crawfords Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. »Das habe ich nicht gesagt.« Ronnie brauchte es nicht zu sagen. Crawford kam auf das ursprüngliche Thema zurück. »Du hast Nola nicht geliebt, aber du hattest sie gern?« 64
Nach einer kurzen Pause antwortete Ronnie aufrichtig: »Sie war ein geistloses, verwöhntes Kind, das für niemanden etwas empfand, außer für sich selbst. Aber sie war auch amüsant, ausgesprochen amüsant.« Crawford erkannte, dass Ronnie mit dieser Einschätzung seine Gefühle preisgab. Vielleicht war er einmal in Guy Ramy oder in einen anderen von den Männern verliebt gewesen, die Nola so mühelos für sich eingenommen hatte. »Dann ist es vielleicht besser, dass sie in der Vorstellung aller immer jung und schön bleiben wird.« »Sie wäre im mittleren Alter eine unmögliche Zicke geworden. Frauen wie Nola können nicht altern. Es bringt sie um.« »In ihrem Fall hat das jemand anders erledigt.« Ronnie erwiderte nichts darauf; er wartete einen Moment und sagte dann: »Ich dachte, nach unserer Diskussion über Jagdangelegenheiten letzte Woche wird es
dich vielleicht interessieren, dass David Headdon gestern Abend aus dem Shenandoah-Valley-Hounds-Jagdverein ausgetreten ist. Hat ihn mir nichts, dir nichts einfach verlassen.« »Hmm.« Crawford lächelte. Der Meuteführer David Headdon war sowohl für seinen brillanten Verstand als auch für sein Temperament bekannt. »Weiß Sister es schon?« »Sister weiß alles.« Crawford kicherte. »Fast alles, aber sie weiß nicht, wer Nola Bancroft ermordet hat.« Ronnie schätzte Sister sehr, wiewohl manche Leute seinen vertraulichen Umgang mit Crawford als Verrat an ihr gedeutet haben mochten. Er meinte wirklich, Crawford müsse Joint-Master des Jefferson-Jagdvereins werden. Sollte er ruhig Geld in den Verein pumpen, bis ein echter Master als Sisters Nachfolger gefunden werden konnte, für den Fall, dass sie abtreten oder im Himmel antreten würde. In diesem politischen Stadium der Suche nach einem Joint-Master bewahrte Ronnie Süllschweigen darüber, dass er Crawford unterstützte. »Weißt du was, Crawford, wenn irgendjemand herausfinden 65
kann, was wirklich passiert ist, nachdem Nola jetzt wieder aufgetaucht ist, dann ist es Jane Arnold.« »Ronnie, du warst eine große Hilfe.« »Du auch. Danke für die Spende.« »Wenn du Nola nicht gemocht hast, warum sammelst du dann für den Pokal?« Manchmal konnte Ronnie es nicht fassen, dass Crawford es nicht kapierte. Er lebte schon mehr als zehn Jahre hier. »Weil Sister mich damit beauftragt hat und weil es genau das Richtige ist.« Crawford klappte sein kleines Mobiltelefon zu, sprang in seinen Wagen und fuhr in westlicher Richtung zur Roughneck Farm.
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Ich komme mit. Mach bloß ein Häkchen neben meinen Namen.« Dragon, der den hübschen Kopf hoch trug, übertönte die anderen Jagdhunde. »Schnauze«, knurrte sein Bruder Dasher. Asa, ein Verwandter von Archie aus derselben Zucht, aber ein Jahr später geboren, saß stumm da und bot einen erhebenden Anblick. Wenn Junghunde ins Fuchsgehege gingen, dann war er da, um sie in Schach zu halten. Das Klemmbrett in der Hand, notierte Shaker die Namen, die Sister aufrief. Sister hätte Shaker gern sonntags freigegeben, aber wie die meisten Meuteführer wollte Shaker bei seinen Hunden sein. Sister war genauso. Schlammbedeckt, die Arbeitsstiefel mit rotem Lehm überkrustet, atmeten die zwei den berauschenden Geruch nach Jagdhunden, Spänen und einem Hauch Desinfektionsmittel ein. Doug hatte sich diesen Tag freigenommen, weil er seiner 65
neuen Freundin versprochen hatte, mit ihr auf dem James River Kanu zu fahren.
»Mit Asa, Cora, Delia und Nellie als erfahrene Hunde können wir die Jungen unbesorgt mitnehmen. Die vier werden die Anfänger in der Spur halten.« Sister rieb sich das Kinn, ohne daran zu denken, dass sie Matsch an den Händen hatte. »Heute Nachmittag soll es Regen geben.« Shaker schob den Stift hinters Ohr. »Wir sind nicht aus Zucker, wir schmelzen nicht.« Shaker lächelte. »Feuchtigkeit ist gut für die Witterung.« »Als wir das letzte Mal im Fuchsgehege waren, war es staubig, aber das ist gut für die Jungen. Nicht an jedem Tag, an dem sie jagen, ist die Witterung gut, und ich war stolz auf sie. Sie haben sich mächtig angestrengt, bis sie endlich eine Duft-spur aufnahmen. Sie haben eine Dreiviertelstunde gebraucht. Das ist sehr viel Geduld für junge Hunde.« Ein sattes Motorengeräusch veranlasste alle, sich umzudrehen. Raleigh, der an Sisters Seite war, stellte sich auf die Hinterpfoten und sah aus dem Zwingerfenster. »Crawford Howard.« »Wenn ich hier raus könnte, würde ich ihm ans Bein pinkeln«, verkündete Dragon, und die anderen lachten. Shaker trat hinzu, den Kopf direkt über Raleighs. Das hätte ein lustiges Foto gegeben. »Dein Liebling.« Sister lachte. »Ich hab so viele.« »Der hier ist dein wahrer Liebling. Crawford.« Shaker schlug sich mit dem Klemmbrett an die Seite. Sister erwiderte nichts, aber ihr Mund kräuselte sich leicht aufwärts. »Er geht zum Haus, Mom«, meldete Raleigh. Das hatte Sister sich schon gedacht. Während sie die Zwingertür öffnete, rief sie über die Schulter: »Morgen früh halb sechs.« »Ja, Ma'am.« Sie freute sich auf den morgigen Tag. Das Fuchsgehege ioo
machte ihr Freude. Das ist ein eingezäuntes Gebiet, oftmals mehrere hundert Morgen groß. Die Füchse können nicht heraus und Rotwild kann nicht hinein. Das Land ist überzogen mit von Menschen und von der Natur angelegten Bauen. Ein Fuchsgehege dient dem Zweck, Junghunde mit der Fuchswittrung bekannt zu machen, die nicht so ausgeprägt ist wie bei Rotwild. Ein guter Jagdhund will jagen, und an Tagen mit schlechter Witterung wird die Rotwildwittrung verlockend. Kein Fuchsjäger möchte, dass seine Hunde Rotwild jagen, zumal es jetzt so zahlreich ist. Wenn man Junghunde unter kontrollierten Bedingungen mit der Fuchswittrung vertraut machte, führte man sie leichter auf den rechten Weg. In einem Fuchsgehege können die Hunde den Füchsen nichts tun, weil es so viele Baue gibt, in die sie einfahren können, und so ist es für alle unangestrengt, aber ganz besonders für die Füchse. Hunde jagen nach Witterung, nicht nach Sicht, und wenn sie losgelassen wurden, waren die Füchse, die Nachtjäger sind, gewöhnlich in
ihren Bauen. Wenn nicht, fanden die Füchse bald einen, denn die Duftspur führte sie in den sicheren Bau. Alles in allem waren das ideale Bedingungen. Die Füchse genossen gute Ernährung, regelmäßiges Entwurmen und regelmäßige Bewegung. Die Hunde genossen den Auslauf, gefolgt von Lob und Leckerchens. Sister lachte in sich hinein, als sie mit Raleigh zum Haus stapfte. Crawford wollte so schrecklich gerne Joint-Master werden, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er vor dem Morgengrauen aufstand, um ins Fuchsgehege zu gehen. Außerdem verdarben viele Köche den Brei. Falls sie keine Alternative fände, könnte Crawford herumgondeln als einer, der sich mehr auf sein Mundwerk als auf sein Tagwerk als Fuchsjäger verstünde. Trotzdem, er konnte besser Schecks ausstellen als jeder andere. Und das war nicht zu verachten. »Crawford«, rief Sister, während sie zum hinteren Verandaeingang des schlichten, im neoklassizistischen Stil gehaltenen IOI
Hauses strebte, das zartgelb mit weißer Umrandung gestrichen war und dunkelgrüne Fensterläden hatte. »Guten Morgen.« Crawford drehte sich lächelnd um. »Hast du schon gefrühstückt?« »Ja.« Sie öffnete die Tür. »Noch einen Kaffee und ein Kleiemuffin?« »Von deinen selbstgemachten?« Er putzte sich auf der Matte gleich hinter der Verandatür die Füße ab. »Ja. Ich befinde mich gerade in meiner Hausgöttinnenphase.« »Ich habe die ganze Zeit gedacht, du bist die Göttin der Jagd.« Er hatte ein wenig von der virginischen Art angenommen, was aber die meisten Leute nicht merkten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, ihn zu kritisieren. Es konnte nie schaden, einer Frau zu schmeicheln, eine Lebensweisheit, die Südstaatenmänner mit der Muttermilch einsaugen. Crawford musste es sich immer noch vorsagen, aber er übte fleißig, und das war ein großer Schritt nach vorn. Er setzte sich an den Küchentisch. Sister kochte eine Kanne Jamaikakaffee, dessen Aroma sich im Raum verbreitete. Die Kleiemuffins unter einer Drahthaube wurden mit Teller, Besteck und Landbutter vor ihn hingestellt. »Hast du schon mal ein Kleiemuffin mit dickflüssiger Sahne gegessen? Hört sich schrecklich an, schmeckt aber himmlisch.« Sie schenkte ihm seinen Kaffee in einen Becher, der das Wahrzeichen des Jefferson-Jagdvereins trug: eine Fuchsmaske. »Zu schwer für mich. Ich dürfte ja nicht mal die Butter hier nehmen.« »Du hast abgenommen. Siehst gut aus.« Sie setzte sich neben ihn an den großen alten Bauerntisch. »Was kann ich für dich tun?« »Hmmm, herrlich.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Du und ich, wir lieben guten Kaffee. Also, ich vermute, du hast von Shenandoah Valley Hounds gehört. Ich nehme an, das war so eine Sache ä la >du bist gefeuertich kündigen.« Crawford I67
versuchte Sister auszuhorchen. Er hätte sie auch direkt fragen können. »Ich meine den Meuteführer, der gegangen ist.« »Wenn ein Master einen Angestellten des Jagdvereins entlässt oder ein Angestellter geht, muss die Kündigung am ersten Januar erfolgen. Später gilt als schlechte Umgangsform. Man lässt den anderen hängen«, erwiderte Sister lässig. »Shenandoah hätte ihn noch ein weiteres Jahr ertragen?« »Natürlich. David ist eigentlich ein guter Meuteführer. Aber er ist unberechenbar. Das ist das Problem.« »Alkohol .« »Bei Meuteführern sind es entweder Alkohol oder Frauen. Eins führt oft zum anderen.« Sister lachte. Er trank seinen Becher leer und sie schenkte nach. Beide tranken den Kaffee schwarz, was Sister »barfuß« nannte. »Ich komme direkt zur Sache. Shaker wird noch viele Jahre unser Meuteführer sein, falls er nicht krank wird, richtig?« »Ja.« »Doug ist ein talentierter junger Mann. Er könnte das Horn für Shenandoah führen.« Er hob die Hand, obwohl Sister keine Anstalten machte, zu widersprechen. »Moment noch. Ich habe mir was überlegt. Fünf Jahre bei Shenandoah, und er wäre soweit, in einen schickeren, reicheren Verein aufzurücken oder hierher zurückzukommen, sollte Shaker sich zur Ruhe setzen oder krank werden. Ich weiß natürlich, plötzlich ohne deinen ersten Feldpikör dazustehen, dürfte beträchtliches Missbehagen auslösen, aber das kann nicht so schlimm sein, wie ohne Meuteführer dazustehen.« »Da hast du recht.« Sister hörte aufmerksam zu, sie wusste, dass er noch mehr in petto hatte. »Meinst du, Shenandoah würde ihn einstellen?« »Mit Kusshand.« »Meinst du, er würde es machen?« »Hier war jahrelang sein Zuhause, aber es wäre eine gute Gelegenheit, ein Schritt nach oben. Ich glaube nicht, dass er ohne meinen Segen gehen würde.« 68
»Und würdest du ihm den Segen geben?« »Ja, und Shakers Segen würde er auch bekommen.« »Es wäre mir eine Freude, die Bezahlung des nächsten professionellen Feldpikörs zu übernehmen.« Sie hob die Augenbrauen. »Crawford, das ist sehr großzügig. Du musst heute in Spenderlaune sein; Ronnie Haslip hat mir erzählt, was du für den Nola-Bancroft-Pokal springen lässt.« »Ah.« Er fragte sich, ob Ronnie angerufen hatte, um ihn, Crawford, gut dastehen zu lassen, oder ob Ronnie angerufen hatte, um Ronnie gut dastehen zu lassen und damit zu prahlen, was er aus Crawford hatte herausquetschen können. Egal. Er war
sich seiner sicher. »Du weißt, ich mag die Bancrofts. Und obwohl ich die jüngere Tochter nicht gekannt habe, mache ich das gerne. Vor allem ist es mir eine Freude, den Verein zu unterstützen.« »Und wir sind dir dankbar dafür.« Ihr Lächeln war aufrichtig. Wenn sie so lächelte, konnte Crawford sie als junge Frau sehen. Eigenartig. »Es gibt sicher eine Anzahl Leute, die für den Job geeignet sind«, sagte Crawford. »Ich würde mich beim Direktor des Jagdvorsteherverbandes, Lieutenant Colonel Dennis Foster, erkundigen, ob er jemanden weiß, der in Frage kommt. Es gibt immer irgendwo Leute, die haben das für den Job notwendige Können, aber dort, wo sie sind, stimmt die Chemie nicht.« Sie fragte sich, ob er einen Kandidaten hatte, der dann sein Zuträger sein würde. Sie achtete Crawfords Klugheit, wünschte jedoch, er würde nicht beharrlich denken, man könnte einen Jagdverein fuhren wie einen Geschäftsbetrieb. Es war etwas ganz anderes, ein Mittelding zwischen einer Kirche und einem Wohlfahrtsverband vielleicht. Sie war sich da nie ganz sicher. »Ich werde mich gerne an der Suche beteiligen.« Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war ihm darum zu tun, ihr jemanden aufzudrängen. »Crawford, würdest du auch dann noch die Bezahlung übernehmen, wenn ich 69
für dieses Jahr auf einen ehrenamtlichen Feldpikör zurückgreife? Ich denke, Shaker und ich können den Zwinger allein bewältigen.« »Ja, aber ich dachte, der erste Feldpikör ist dafür zuständig, die Jagdpferde in Form zu halten.« »Stimmt. Aber der Jagdverein könnte das Geld gebrauchen. Unbedingt. Unser Transporter pfeift auf dem letzten Loch. Er ist zwölf Jahre alt und hat mehr als zweihundertfünfzigtausend Kilometer drauf. Die Eintonnerkombis sind heutzutage so teuer. Vierzigtausend Dollar.« »Wer wird sich um die Pferde kümmern?« »Ich denke, wenn ich eine Halbtagshilfe hätte, vielleicht Jennifer Franklin nach der Schule, dann könnten wir das schaffen. Du musst mir jetzt keine Antwort geben. Vielleicht fühlst du dich geködert.« »Nein, ich habe den Köder ausgeworfen. Das Arbeitspensum ist überwältigend. Kommt ihr wirklich mit einem Paar Hände weniger aus?« »Wie gesagt, ich glaube, ja.« »Was machst du mit dem Cottage?« »Als Jagdhütte vermieten oder in ein Büro umwandeln. Wir haben kein richtiges Büro. Die Papiere stapeln sich bei Shaker und bei mir zu Hause. Ich weiß es noch nicht recht. Ich muss darüber nachdenken.« Daraus, dass sie fertige Lösungen für den Pikörposten hatte, schloss Crawford, dass sie schon erwogen hatte, Doug zuzureden, sich um die Stelle des Meuteführers zu bewerben.
»Lass mich den Kombi kaufen. Die von General Motors sind zur Zeit die besten.« Es folgte eine Pause; Raleigh legte den Kopf auf Sisters Knie. Ihre Hand lag auf seinem glänzenden schwarzen Kopf. Golliwog, die am Küchenfenster über dem Spülbecken saß, bemerkte: »Es gibt Regen. Ist in einer Viertelstunde hier. Ist jetzt auf dem Berg.« Da niemand reagierte, steigerte sie das Dezibelniveau. »Hört mir denn keiner zu?« 70
»Still, Golly«, schalt Sister. »Regentropfen, die an mein Fenster klopfen.« Die Katze trällerte ein Lied, das sie im Oldie-Radiosender gehört hatte. Sister hörte sich keine Oldies an, aber Shaker. Während Gollys Gesang den Raum erfüllte, stand Sister auf und trat ans Fenster. »Du bist unmöglich.« Dann sah sie aus dem Fenster. »Crawford, der Regen zieht von den Bergen hierher. Sind deine Auto-fenster zu?« »Ja. Wir hatten einen nassen Sommer.« »Im Vergleich zum letzten. Ich liebe das Wetter oder besser gesagt: Ich liebe es, das Wetter zu beobachten. Zum Beispiel sollte man meinen, wenn Regentropfen an einem Ast hängen, verstehst du, hängen, nicht tropfen, dass dann die Witterung fabelhaft sein würde. Nach meiner Erfahrung findet man rein gar nichts.« Der in den Feinheiten des Jagd- oder Landlebens nicht bewanderte Crawford war dennoch interessiert. »Leuchtet nicht ein, oder?« »Nein, ist aber so.« Sie setzte sich wieder und die Katze putzte sich am Fenster. »Ich bin überwältigt von deiner Bereitschaft, uns deine Mittel zur Verfügung zu stellen. Und ich weiß natürlich, dass du mein Joint-Master werden willst.« Sie lächelte. »Es wäre mir unangenehm, wenn du uns das viele Geld gäbst und hinterher enttäuscht wärst.« »Wenn du den Leuten sagen würdest, dass du mich haben willst, würde ich Joint-Master«, erwiderte er unverblümt, aber gut gelaunt. »Du darfst nicht denken, dass ich dich nicht schätze. Aber, Crawford, du bist kein echter Jäger. Du bist noch ein Neuling.« »Zehn Jahre«, stieß er hervor. »In den ersten zwei, drei Jahren hast du, wie jeder andere Anfänger auch, dich nur bemüht, mitzuhalten. Es braucht eine lange Zeit, um die Fuchsjagd zu erlernen, und es ist nun mal so, dass die meisten Leute nur dabei sind, um zu hetzen und zu 70
springen. Richtiges Jagen ist eine Kunst, und ich spiele mich nicht als Rembrandt auf, aber ich weiß, es erfordert Beobachtung und nochmals Beobachtung und die Einsicht, dass diese Tiere oft viel schlauer sind als wir. Was ich damit sagen will, es erfordert Demut.« Crawford konnte nicht glauben, dass irgendein Tier dem Tier namens Mensch überlegen war, aber Sisters Einschätzung seiner Anfangsjahre war korrekt. »Ich bin lernwillig.«
»Das respektiere ich. Und dir muss auch klar sein, aber das weißt du sicher, wenn du Joint-Master wirst, erwartet dich ein mörderischer Kampf.« Er blickte von seinem Becher hoch. »Ich weiß. Ich habe einigen Leuten auf die Hühneraugen getreten.« »Lass uns das durchsprechen. Ich rechne nicht damit, dass du mal Jagdherr wirst, Crawford, aber du kannst gewiss lernen, was es erfordert, einem Verein vorzustehen. Geld hat einen großen Anteil daran, aber die Mischung aus Zucht, Gesundheitsfürsorge für die Füchse, Verbindungen zu Grundbesitzern, Beziehungen zum Vorstandsverband, Erschließung neuer Gebiete und Erhaltung der alten, das ist ein Haufen Arbeit. Man muss die Leute mit Feingefühl behandeln.« »Das liegt mir nicht«, gab er aufrichtig zu. »Und du verstehst nichts von Jagdhunden.« »Das ist richtig. Für mich sieht ein Hund fast so aus wie der andere. Aber ich habe Ideen. Ich habe Mittel. Und ich kann dir sagen, Marty wäre für unsere geselligen Mitglieder von unschätzbarem Wert.« Mit anderen Worten, Marty würde viele Feste geben, ein wahrer Pluspunkt. »Versprich mir eins: dass du in dieser Jagdsaison gut aufpasst. Bemüh dich, dein Ego in Schach zu halten. Das macht viel aus.« »Dann ziehst du mich also in Betracht?« »Ja. Und wie steht es zwischen dir und Bobby Franklin? Er hat dir voriges Jahr eine geknallt und dich leibhaftig aus seinem Geschäft geworfen. Er ist unser Präsident.« 71
Ein Vereinspräsident leitete die diversen Komitees. Auch das machte viel Arbeit. Der Jagdherr oder die Jagdherrin war für die Equipage zuständig, für die Hunde, das Revier und die eigentliche Jagd in einem Verein, der Mitgliedsbeiträge erhob -ein solcher war der Jefferson-Jagdverein. »Das war eine Ausnahmesituation.« Crawford räusperte sich. »Kannst du dich aufraffen, dich zu entschuldigen?« »Ja.« Das fiel ihm schwer. »Du hast keine Kinder. Die Menschen sind blind, was die eigenen Kinder angeht, und was du zu ihm über Cody gesagt hast, mag hundertprozentig ins Schwarze getroffen haben. Aber wenige Väter können sich das anhören.« Cody, die älteste Tochter der Franklins, saß zur Zeit im Gefängnis. Diese bedrückende Tatsache hatte in Codys Drogensucht ihren Anfang genommen. »Ich verstehe.« Er hielt inne. »Meinst du, du warst blind gegenüber den Fehlern deines Sohnes?« »Ich möchte gerne denken, dass ich es nicht war, aber ich war es bestimmt. Er war ein betörender Junge.« Sie lächelte. »Apropos Kinder. Komisch, ich habe die Leute nach Nola Bancroft gefragt und grundverschiedene Antworten bekommen. Für manche Männer war sie eine Venus, für andere ein Miststück.«
»Ich nehme an, die ersteren waren in der Überzahl.« »Stimmt.« »Wir sind wie Chemikalien. Wir reagieren unterschiedlich aufeinander.« »Was hast du von ihr gehalten?« »Oh, sie war sehr amüsant. Als Frau habe ich sie wohl anders gesehen, als die Männer sie sahen. Sie hatte viel Sinn für Humor, liebte Witze und war ein Energiebündel. Sie hatte viele Freundinnen, das ist wichtig. Man braucht gleichgeschlechtliche Freunde. Aber sie hat das Schicksal herausgefordert.« »Inwiefern?« 72
Sister faltete die Hände. »Sie wurde etwas zu wild. Hat ihre Macht über die Männer etwas zu sehr genossen.« »Und Tedi hat das nicht gesehen?« »Nein. Sie hat es wohl allmählich gespürt, aber wie gesagt, Eltern sind blind.« »Jetzt geht's los.« Der Regen schlug an die Fenster, und Golly zog sich von der Fensterbank zurück. »Zurück zum Thema. Bobby wird so lange unser Präsident sein, wie er den Job bewältigen kann. Er macht das gut, es ist ein Glück für uns, dass wir ihn haben. Wenn du Joint-Master werden willst, musst du mit Bobby zusammenarbeiten. Und auch mit Betty.« Sister kam auf das zurück, was Crawford tun musste. »Du hast nie einen Joint-Master gehabt. Meinst du, du kannst damit umgehen?« »Wenn du oder wer auch immer sich aus dem Zwinger heraushält, dann ja. Ich dulde nicht, dass jemand bei meinen Hunden oder meinem Zuchtprogramm mitredet.« »Was passiert, wenn du tot umfällst?« »Crawford, ich berücksichtige ja schon, dass du aus Indiana bist, aber könntest du um Gottes willen etwas weniger direkt sein? Natürlich werde ich eines Tages tot umfallen, wie du es so unverblümt ausdrückst. Wer weiß, wann?« »Wer wird dann dein Zuchtprogramm fortsetzen?« »Shaker.« »Und wenn er nicht mehr ist?« »Ich habe es aufgeschrieben. Aber du berührst da einen wunden Punkt. Wenn du Joint-Master würdest, werde ich jemanden anlernen müssen, der an meine Stelle tritt, wenn es so weit ist. Ein echter Jagdherr.« »Das verstehe ich.« »Gut.« Sie unterhielten sich noch ein Weilchen, dann stand Crawford auf. Sie begleitete ihn zur Hintertür. »Möchtest du einen Schirm?« 72
»Nein. Ich sause zum Auto.« Er küsste sie flüchtig auf die Wange. Er hatte sie gern, auch wenn sie ihn frustrierte. »Hast du Angst wegen dieser Sache mit Nola?« »Angst vor der Wahrheit?« Sie atmete tief durch. »Ich bin krank vor Angst.«
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A
m Samstag, dem 7. September, wehte morgens um halb sieben ein leichter
Ostwind, und ein frischer Geruch lag in der Luft, der auf Veränderungen hindeutete. Eine Gruppe von zwölf abgehärteten Personen fand sich in diesen letzten Minuten vor Sonnenaufgang am Zwinger ein. Die Sonne ging an diesem Tag um 6.38 Uhr auf. Am ersten Einjagdtag waren die hartnäckigen Fuchsjäger aufgeregt, diejenigen, die den Hunden zu Pferde folgten oder zu Fuß, in Autos, auch in Rikschas, wenn es nicht anders ging. Für diese fröhliche Truppe war die Jagd mit Hunden eine Leidenschaft, die den Verzückungen der heiligen Theresia von Avila in nichts nachstand. Die Hunde, die in der Verladegasse warteten, einem extra Laufgang für diejenigen Hunde, die an diesem Tag jagen würden, sprangen vor Aufregung auf und ab. Die nicht mitkommen durften, winselten kläglich. Am ersten Einjagdtag nicht ins Freie zu kommen, war keine Schande für einen Jagdhund. Nur ein dummer Meuteführer oder Jagdherr packte viele Junghunde in die Meute. Einjagdtage ließen sich mit Vorsaison-Football vergleichen. An jedem Einjagdtag wurden andere Junghunde mit anderen erfahrenen Jagdhunden gekoppelt. Am Ende der Einjagd wussten Meuteführer und Master zuversichtlich, welche Junghunde ihre Lektion gelernt hatten und welche älteren Hunde eine Spur zu langsam geworden waren. Die älteren, zuverlässigen Hunde verstanden diesen Trainingsprozess, was aber nicht hieß, dass sie zurückbleiben wollten, auch wenn sie ganz genau wussten, dass sie beim nächsten Mal nicht dabei sein würden. Kein guter Jagdhund mag im Zwinger herumsitzen. Das ruhige Verhalten von Sybil Fawkes auf ihrem hellbraunen Pferd mit der Blesse strafte ihre Nervosität Lügen. Sie hatte den Posten des ehrenamtlichen Feldpikörs angenommen; ehrenamtlich bedeutete ohne Vergütung, dafür mit Aufregung und Furcht. Sie konnte scharf reiten, aber sie war sich nicht sicher, ob sie alle Hunde unterscheiden konnte, obwohl sie seit Ende Juli fast jeden Tag im Zwinger gewesen war. Doug hatte ihr sehr viel Zeit gewidmet, bevor er fortging, um im Verein von Shenandoah das Horn zu führen, aber sie war trotzdem nervös. Der August hatte Sybil ausgelaugt. Es war nicht nur die Hitze gewesen. Die Zeremonie an Nolas Grab, wiewohl verhalten, ja sogar schön, hatte ihren Verlust wieder lebendig werden lassen. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihre Söhne anschnauzte. Ken, der ein Gespür für ihre Gemütsverfassung hatte, hielt die Kinder beschäftigt. Das Zusammensein mit den Hunden erwies sich als heilsam für Sybil. Die Arbeit mit den Tieren, mit Sister und Shaker schenkte ihr Frieden. Die Konzentration auf die Meute war so stark, dass sie ihre Traurigkeit wegen Nola verdrängte.
Als sie die Besorgnis äußerte, keine gute Pikörin abzugeben, sprach Sister ihr Mut zu und sagte ihr, sie würde sicher Fehler machen, aber aus ihnen lernen. »Ich gehe auf die Jagd, seit ich sechs war, und mache immer noch Fehler. Und das wird auch so bleiben«, hatte Sister gesagt. Betty Franklin, die seit mehr als zehn Jahren zweite Pikörin war, hätte in Dougs Fußstapfen treten können, aber sie musste Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen. Es könnte hin und wieder sein, dass sie nicht mitkommen konnte. Außerdem verfugte Betty über beschränkte Mittel und musste eine Tochter durchs College bringen. Sie besaß zwei fabelhafte Pferde, Outlaw und Magellan, und Bobby besaß ein Pferd. Mehr Pferde konnten sie sich nicht leisten, was Betty bedrückte. Aber heute Morgen war sie alles andere als bedrückt. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, und die echten Schmetterlinge erwachten in dem sanften Licht. Auch Sister hatte Schmetterlinge im Bauch. Die Eröffnungsjagd war der Beginn der offiziellen Saison, aber das hier, das war der Eigenkirche Beginn, und sie wünschte so sehr, dass ihre Junghunde ihr Ehre machten. Wie Crawford und die anderen prophezeit hatten, wurde über Nolas Tod weiter nichts in Erfahrung gebracht. Der Mord floss in Gespräche ein, aber nicht mehr so häufig und heftig wie am Anfang. Tedi nahm das Angebot an, einen Schluck aus Crawfords Flachmann zu nehmen. Sie saß auf Maid of Honor, ihrer zierlichen Fuchsstute, die ein feuriges Temperament hatte - sie war ja auch rothaarig. Tedis Jacke aus ungebleichtem Sackleinen, die man bei Hitze trug, saß perfekt an ihren Schultern und war in der Taille ein wenig schmäler geschnitten. Diese Leinenjacken hängen normalerweise wie Säcke, aber Tedi, die sehr auf sich hielt, hatte sich ihre nähen lassen. Jedes Kleidungsstück an ihrem Leib war vor mehr als vierzig Jahren für sie maßgeschneidert worden. Gute Reitkleidung wird von einer Generation zur nächsten vererbt. Es mag ein paar Modeneuheiten geben - wie die kurzen Jagdröcke in den siebziger und achtziger Jahren -, aber Jäger greifen bald wieder auf das Bewährte zurück. Ein längerer Schoß am Reitrock schützt die Oberschenkel. Vernünftig. Alles muss vernünftig sein. Die Einjagd ließ dem Reiter einen größeren Spielraum für Individualität in Sachen Kleidung. Man konnte ein Tweedsakko mit oder ohne Weste tragen, je nach Temperatur. Diese betrug bereits fünfzehn Grad, und alle Anwesenden, erprobte Jäger, wussten, wenn nachher die Hunde losgelassen würden, würde ihnen in einer Weste glühend heiß werden. Sie hatten ihre Westen in ihren Pferdeanhängern gelassen. Die Leute trugen weiße, gelbe, rosa oder oxfordblaue Hemden und Krawatten. Die Reithosen waren beige oder kanariengelb, denn an einem inoffiziellen Tag trug man im Feld nicht Weiß. Betty trug zwanzig Jahre alte ochsenblutrote Stiefel, die mit den Jahren eine schimmernde Patina angesetzt hatten. Auch ihre Handschuhe waren
ochsenblutrot, und sie trug eine hauchdünne marineblaue Jacke, dazu eine gelbe Bluse und eine jägergrüne Krawatte. Bobby, der die Jagdherrin um Erlaubnis gebeten hatte, ritt nur im Hemd. Das schickte sich eigentlich nicht, aber er war so übergewichtig, dass die Hitze ihm furchtbar zusetzte. Er trug ein schönes weißes Hemd aus ägyptischer Baumwolle und eine kastanienbraune Krawatte, die mit hellblauen, im Sprung begriffenen Löwen bestickt war. Er trug diese Krawatte seit vierzehn Jahren am ersten Einjagdtag. Sie brachte Glück. Shaker trug ein graues Tweedsakko, so alt, dass es sogar dünner war als Bettys marineblaue Jacke. Seine braunen Feldstiefel glänzten. Die abgetragene braune Kappe zeugte von so mancher Jagdsaison. Er trug die Kappe unterm Arm. Das Protokoll verlangte, dass er sie erst aufsetzte, wenn die Jagdherrin »Die Hunde, bitte!« sagte. Waren funkelnagelneue Kleidungsstücke auch schön, so war man doch im Stillen stolz auf die ausgeblichenen, die von jahrelangen scharfen Ritten zeugten. Edward Bancroft, der in letzter Zeit zurückhaltender und nachdenklicher geworden war, schwang sich auf, gesellig zu sein. Ken Fawkes, der ebenfalls ein Sackleinensakko trug, bot allen und jedem seinen Flachmann an. Er strahlte seine Frau stolz an. Bevor sie an diesem Morgen aufbrachen, hatte er sie aufgeklärt, dass die Einjagd schwieriger war als die offizielle Saison, weil die Hunde noch nicht gefestigt waren. "75 Wenn sie die Einjagd durchstünde, sei der Rest der Saison ein Klacks. Ronnie Haslip machte Crawford in seiner glanzvollen Aufmachung Konkurrenz. Seine butterweichen, blassgelben Handschuhe passten zu seiner Reithose. Er trug Newmarket-Stiefel, sehr modisch für warme Tage, die man aber selten sah, weil sie sich viel schneller abnutzten als Lederstiefel. Der Fuß war mit braunem oder ochsenblutrotem Leder gefüttert, aber der Schaft war aus einem juteartigen Material und mit mikrodünnem Leder gefüttert. Ein gerollter Lederrand schloss diese imposanten Stiefel ab. Ronnie trug sogar Halter an seinen Newmarket-Stiefeln, was man heutzutage nur noch selten sah. Sein blassrosa Button-down-Hemd saß ebenso perfekt wie der dunkelgrüne Jagdrock, den er bei einem Irlandbesuch hatte schneidern lassen. Das dunkle Violett seiner mit einer schmalen, schlichten goldenen Klemme befestigten Krawatte wiederholte sich in seinem geflochtenen Gürtel. Seine schwarze Samtkappe mit hochgeklappten Ohrenschützern, weil er weder ein Master noch ein Meuteführer war, war zu einer gefälligen Nuance ausgeblichen, die zeigte, dass er sein Handwerk verstand. Er trug eine teure Gerte mit Apfelholzknauf und Känguruhlederstriemen bei sich. Alle Reiter führten Gerten mit sich. Normalerweise waren Gerten mit Hirschhornkrücke für die normale Jagd bestimmt, aber Betty hatte keine andere. Hirschhorn bei der Einjagd war nicht unangebracht, es war bloß so, dass die Reiter,
sobald die offizielle Jagd begonnen hatte, einer strengeren Kleiderordnung unterlagen. Dann musste es Hirschhorn sein oder gar keine Gerte. Obwohl sie bei den Pferden selten benutzt wurden, erwiesen sich die Gerten als nützlich. Man konnte sich aus dem Sattel lehnen und mit der Gerte ein Gatter aufhaken oder schließen. Wer sehr geschickt war, ließ die Hirschhornkrücke über die Flanke des Pferdes baumeln und hob damit eine heruntergefallene Kappe oder einen Handschuh auf. Das wurde jedes Mal mit Beifall bedacht. 76
Heute führte Sister eine alte Gerte mit verdicktem Griffende aus Schwarzdorn mit sich, perfekt ausbalanciert mit einer knallenden, zweieinhalb Meter langen, zwölffach geflochtenen Schnur und einem Schlag, den sie eigenhändig aus Nylonschnur gefertigt hatte. Wenn sie mit der Gerte knallte, klang es wie ein Gewehrschuss. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten; sie konnte es nicht erwarten, dass es losging. Da der Wind von Osten kam, hatte es keinen Sinn herumzutrödeln, sie würde die Hunde direkt in den Wind loslassen. Rasch eine Duftspur aufnehmen und los. Die Junghunde hatten sich im Fuchsgehege glänzend bewährt. Sie befürchtete nicht, dass sie mit dem Wind laufen mussten, um eine Spur zu wittern. Zudem würde die Temperatur rasch steigen. Ein guter Start, eine erquickliche Hatz, dann abbrechen und alle gut gelaunt wieder in den Zwinger bringen. Sister war der Meinung, dass positiver Zuspruch besser wirkte als negativer. Gab man den Junghunden das Gefühl, dass sie es gut gemacht hatten, würden sie es nächstes Mal noch besser machen. Ihre alte Sackleinenjacke mit den sorgfältig geflickten Löchern, ihre Stiefel, die diesen Sommer bei Dehner, einem Stiefelmacher in Omaha, repariert worden waren, ihre senfgelbe Reithose und die hellblaue Bluse standen ihr gut. Sie trug einen schmalen Ledergürtel, der mit ihren erdnussbraunen Stiefeln harmonierte. Sie sah genau richtig aus, aber kein bisschen auffällig. Jane Arnold nahm es mit der Korrektheit sehr genau. Einmal war jemand so kühn gewesen zu erwähnen, dass ein anderer Verein seinen Mitgliedern erlaubte, bei der Einjagd Westernhosen zu tragen. »Oh, interessant«, hatte sie erwidert und kein weiteres Wort darüber verloren. Damit war die Sache erledigt. "76 Da sie abergläubisch war, hatte sie die Taschenuhr von Raymonds Großvater an der Innenseite ihrer Jackentasche befestigt, wie sie es immer tat. John »Hap« Arnold, ein Jäger, hatte sich eine Taschenuhr entwerfen lassen, in deren Deckel ein rundes Glas eingelassen war, so dass er die Mitte des Ziffernblatts sehen konnte, wo die Zeiger angebracht waren. In den äußeren Rand der goldenen Uhr waren die Ziffern eingraviert. Sister konnte genug von den schmalen blauen Zeigern sehen, um zu erkennen, wie spät es war, ohne den Deckel aufschnappen lassen zu müssen.
Das war sehr praktisch, sollte Sister einmal mit einem Baum kollidieren oder unfreiwillig absitzen. Und sie musste die Uhr im Regen nicht aufklappen. So wie Bobby seine Glückskrawatte, so hatte Sister ihre Glücksuhr. An der rechten hinteren Seite ihres Sattels hingen Koppelriemen für den Fall, dass sie total erschöpfte Hunde vorzeitig zurückbringen musste. Doch an den hochheiligen Tagen - Eröffnungsjagd, Thanksgiving-Jagd, Weihnachts- und Neujahrsjagd - führte sie statt Riemen eine Butterbrotdose mit sich, die eine rechteckige Glasflasche enthielt. Wenn sie andere Vereine besuchte, hatte sie diese Dose ebenfalls dabei. Eine kleine silberne Flasche mit Eistee befand sich in der Innentasche ihrer Jacke. Man brauchte Jahre, um die Jagdausstattung, die stets eine ergiebige Quelle von Zwistigkeiten war, bis ins Kleinste zu beherrschen. Ein älteres Mitglied mochte sich ereifern, weil nur noch wenige Stiefelhalter trugen. Ein jüngeres Mitglied mochte erwidern, dass Stiefel sehr gut von allein oben blieben, wenn sie von Dehner, Vogel, Lobb oder Maxwell nach Maß gefertigt wurden. Jemand regte sich vielleicht auf, weil eine Dame eine Jagdkappe trug statt einer Melone, und niemand wollte wirklich aussprechen, was er von Kinnriemen hielt. Ein Master konnte sie nicht verbieten, aber hinter dem Rücken der Träger wurden sie immer »Schlaffiriemen« genannt. Angeblich haben Damen sich während der offiziellen Jagd gegenseitig die Schleier heruntergerissen, wenn eine Dame sich über die Wölbung des Zylinders einer anderen verächtlich äußerte. Zu einer der schlimmsten Streitigkeiten, in die Nola im letzten Jahr ihres Lebens geraten war, war es gekommen, als sie sich darüber mokierte, dass auf dem Kopf von Frances Gohanna, der zukünftigen Frances Assumptio, ein Dressurzylinder saß statt eines richtigen Jagdzylinders. Sister fragte sich amüsiert, warum diese Kleinigkeiten solche Emotionen auslösten, aber Fuchsjäger waren nun mal leidenschaftlich veranlagt. Sogar Golliwog, die die Versammelten von ihrem Aussichtsposten in der offenen Stalltür betrachtete, war aufgeregt und bemerkte, wie die Leute sich herausgeputzt hatten. Sobald die Hunde losgelassen waren, wollte sie sich vorsichtshalber auf den Heuboden zurückziehen, um die Jagd zu beobachten. Gelegentlich verirrte sich ein Junghund in den Stall, und Golly konnte das Gewinsel und Gesabber nicht ertragen. Sister saß auf Lafayette und ritt zu Shaker. »Der Wind nimmt zu. Wir wollten ja eigentlich nicht nach After All, aber wir haben dreieinhalb Kilometer bis zu ihrer Grenze. Am besten, wir lassen jetzt nach Osten los.« Auch Shaker hatte bemerkt, dass der Wind sich drehte. Sie hatten sich nach Norden wenden und in Richtung Foxglove Farm jagen wollen. Danach wollte er die Meute zum Fuß vom Hangman's Ridge herumschwenken und durch den Wald auf der Westseite der alten Farmstraße direkt zurück zum Zwinger jagen. Nachdem sie den ganzen Sommer mit den Hunden hier draußen gewesen waren, war dieses
Gelände den Junghunden vertraut, sollte einer von der Meute getrennt werden. Ein Hund, der sich beim ersten Mal draußen verirrte und in Panik geriet, das war das Letzte, was sie wollten. In der Meute waren drei Koppeln Junghunde. Sechs, auf die achtgegeben werden musste. Die Erprobten waren ziemlich narrensicher. Shaker senkte die Stimme. »Dann nach Osten.« 78
Sister verließ ihn und ritt zu dem kleinen Feld. »Die Sonne geht auf. Worauf warten wir noch?« Sie strahlte. »Auf eine herrliche Saison!«, rief Crawford. Die anderen murmelten zustimmend. »Die Hunde, bitte«, rief Sister Shaker zu. Er klatschte sich seine Kappe auf den Kopf, und Betty öffnete das Tor. Dann schwang sie sich rasch auf Outlaw, eines der besten Pferde, das je gefohlt wurde, wenn nicht gar das schönste. »JUHUU!«, riefen die Hunde. Dreißig Hundekoppeln stürmten frohgemut aus dem Zwinger, dann warteten sie, bis Shaker einen tiefen Triller blies, gefolgt von einem hellen, kurzen, was so viel hieß wie »auf geht's«. Das Blasen galt den Menschen ebenso wie den Hunden. Menschen haben die Neigung zu trödeln. Die Hunde trabten munter hinter ihrem Meuteführer her, Sybil zu ihrer Linken, Betty zu ihrer Rechten. Sister folgte in vierzig Meter Abstand. Sie führte das Feld an; der knallig scharlachrote Rand der Sonne lugte über den Horizont. Abseits der Apfelwiese kamen sie an einer alten Obstwiese voll köstlicher Alberta-Pfirsiche vorbei. Wohl war es verlockend, die Hunde hier loszulassen, aber Meuteführer und Master wollten zu der Schafsweide zwischen der Farmstraße und dem Wald. In der fetten Erde der Weide hielt sich die Wittrung. An einem guten Tag konnten die Hunde einer Duftspur bis in den Wald oder zurück zu den Obstwiesen folgen, und das Tempo steigerte sich entsprechend. Nicht dass das Aufnehmen einer scharfen Witterung gleich am Anfang kein Traum gewesen wäre, doch manchmal, besonders bei jungen Hunden, half eine aufreizende Wittrung, ihnen Disziplin beizubringen. Bei einer Witterung wusste man nie, woran man war. Ein schwarzer Dreibretterzaun begrenzte die Weide; an der besten Stelle zum Springen erhob sich ein Hindernis. Shaker setzte auf Gunpowder, einem schlanken Schimmel, der einst auf der Rennbahn gelaufen war, mühelos hinüber. Seine 78
Piköre waren ihm ins Feld vorausgeritten. Sister konnte einen zurückgebliebenen Hund jederzeit antreiben. »Nasen runter, Jungspunde!«, befahl Cora. »Ich hob was. Ich hob was!«, quiekte Trident, ein Junghund im ersten Jahr. Asa schlenderte herbei und schnüffelte. »Ja, tatsächlich, mein Sohn. Das ist ein Murmeltier.«
Die anderen Hunde lachten Trident aus, der einen Moment lang die Ohren hängenließ, dann seinen Verweis entgegennahm und beschloss, Asa zu folgen. Da konnte er nichts verkehrt machen. Eine süßliche und nachhaltige Duftspur stieg Diana in die feine Nase, als sie mitten in dem sich im Ostwind wiegenden Timotheusgras einen bemoosten Flecken erkundete. »Volltreffer.« Obwohl erst im zweiten Jahr dabei, hatte die außerordentlich talentierte Diana den Respekt der älteren Hunde erworben. Nur um sicherzugehen, berührte Asa die Stelle mit der Nase. »Und los.« Diana und Asa drängelten sich nach vorn, Cora war ihnen schon voraus. Wenn ihre Nase auch nicht so außergewöhnlich gut war wie Dianas, so war sie doch immer noch sehr gut. Ja, diese Duftspur war vielleicht fünfzehn Minuten alt und würde sich bei dieser Temperatur von sechzehn Grad vielleicht noch fünf bis zehn Minuten auf den mit Tau benetzten Grashalmen halten. Dann würden die höher steigende Sonne und der Wind sie für immer verstreuen. Trident atmete den leichten Duft ein. »Das ist es! Das ist es! Ich hin richtig auf der Jagd. Nicht im Fuchsgehege. Dies ist das Wahre.« Er war so überwältigt, dass er stolperte und sich überschlug. Trudy, seine Wurfgefährtin, lachte, als sie, die Nase am Boden, an ihm vorbeilief. »Bühne frei!« Archie hatte immer »Bühne frei!« gesagt, wenn die Hunde 79
eine Spur fanden. Das hatte alle zum Lachen gebracht, es entspannte sie und spornte sie zugleich an. Als sie den Spruch ihres früheren Leithundes von diesem jungen Neuling hörten, mussten die anderen erst recht lachen. Die Wittrung wurde stärker, sie schlängelte sich in Richtung Wald. Wer immer sie hinterließ, hatte es nicht eilig. Wer immer sie hinterließ, döste auf einem Felsvorsprung ungefähr vierhundert Meter von hier im Wald. Onkel Yancy, ein Rotfuchs, der Mann von Tante Netty, hatte sich mit Brombeeren, Pfirsichen und Körnern aus Sisters Stall vollgefressen und musste ein Verdauungspäuschen einlegen. Onkel Yancy setzte sich oft auf die Fensterbank von Shakers oder Dougs Cottage, um fernzusehen. Nachdem Doug nun das Horn beim Shenandoah-Valley-Jagdverein übernommen hatte, war er neugierig, ob jemand drinnen sein würde; Er konnte das Bild von Dougs Fenster aus besser sehen als von Shakers. Raleigh und Gockel hatten nichts gegen seine Wissbegierde, aber die vermaledeite Katze piesackte ihn manchmal. Sie rief den Hunden zu: »Seht mal, wer da ist, ihr faulen Säcke.« Dann riss ein gekränktes Tier sein großes Maul auf, und Yancy suchte das Weite. Er hob den Kopf von den grazilen Pfoten. »Oh verflixt.« Bitsy, die nach einer sehr erfolgreichen Nacht auf dem Heimweg war, schrie: »Die sind flink, Onkel Yancy.« »Ha! Der Jagdhund muss erst noch geboren werden, der es mit mir aufnehmen kann.«
Bitsy ließ sich auf einem niedrigen Ahornast nieder. »Hochmut kommt vor dem Fall.« Er streckte sich, der Lärm kam näher. »Hochmut, nein. Schlichte Tatsache. Wenn du was hustiges erleben willst, flieg mit mir und guck zu, wie ich die Jungspunde in die Irreführe. Vielleicht hebt's sogar ein paar Menschen aus dem Sattel. Warum irgendein Lebewesen auf zwei Beinen rumwackeln mag, geht über meinen Verstand.« »Deswegen reiten sie ja auf Pferden. Dann haben sie vier«, folgerte Bitsy scharfsinnig. 80
»Das hatte ich nicht bedacht. Freilich, einige können sich nicht auf einem Pferd halten, stimmt's? Schwach und eingebildet sind sie, diese Menschen, aber ein paar sind doch sehr nett. Und jetzt«, er schüttelte sich, »wollen wir ein Chaos anrichten, dass denen Hören und Sehen vergeht.« Er verließ den Felsen, ging zum Broad Creek hinunter, überquerte den Bach und kletterte am anderen Ufer hinaus. Er schüttelte das Wasser ab. »Ich kann dir sagen, Onkel Yancy, die Jungen sind schnell.« »Bitsy, sie dürfen nicht vor der Meute herlaufen. Sie müssen in der Meute laufen.« »Dazu dient das Einjagen, da wird es ihnen beigebracht. Und ich an deiner Stelle würde nicht so großspurig daherreden. Wenn St. Just da ist, macht er Arger.« St. Just, der König der Krähen, hasste Füchse, besonders Rotfüchse, weil Target, Onkel Yancys Bruder, seine Gefährtin getötet hatte. St. Just hatte der gesamten Fuchspopulation Rache geschworen und letztes Jahr einen jungen Roten in den Tod getrieben. Endlich hörte Onkel Yancy auf die kleine Eule und trabte nach Osten. »Wird stärker!«, jaulte Trudy, die sich dem Felsen näherte. Sybil, die vorneweg ritt, erspähte Onkel Yancy, als er durch ein dichtes Stechpalmengehölz schlüpfte. »Horridoh!« Darauf gab Yancy Fersengeld. Er brach aus dem Gehölz, querte einen alten Huckelweg, hechtete in dichtes dorniges Unterholz, schlitterte wieder hinaus und rannte zum Waldrand. »Da drüben.« Dasher, ein Junghund im zweiten Jahr, ein Wurfgefährte von Diana, erreichte das Bachufer und fing an zu winseln, weil er die Wittrung nicht aufnehmen konnte. »Du Trottel!«, schalt Cora ihn. »Glaubst du wirklich, ein Fuchs läuft schnurgerade durch einen Bach? Du gehst nach links, ich geh nach rechts. Und wer sagt denn, dass er nicht kehrtgemacht hat? Trudy«, rief sie der Junghündin zu, »du und dein Idiot von Bruder nehmt euch die andere Seite vom Bach vor.« Während die Hunde nach der Wittrung suchten, warteten Sister und das Feld still auf der ausgefahrenen Fuhrstraße. Crawford hatte gerade seinen silbernen Flachmann aufgeschraubt, als Dasher »hier!« schrie. »Verflucht.« Crawford kippte hastig einen Schluck hinunter und bedeutete Marty mit einer Handbewegung, sie möge auch einen Schluck nehmen. Sie lehnte ab. Während sie davon-trabten, schraubte er den Deckel zu, der mit einem kleinen silbernen Scharnier gesichert war, damit er nicht herunterfallen konnte. Nicht
einen Tropfen bekam Crawford ab, selbst wenn er den Flachmann randvoll machte. Er war sehr stolz auf sich. »Stärker!«, sagte Cora, die wieder voranlief, mit ihrer hellen, hübschen Stimme. Bitsy flog zurück, um die Hunde zu beobachten, dann kehrte sie wieder um, um Yancy auf dem Laufenden zu halten. »Sie sind gerade ins Gestrüpp gerannt.« »Verdammt«, fluchte Yancy. Die Hunde waren schneller, als er gedacht hatte. Er brach aus dem Wald und sauste auf die östlichste Wese der Roughneck Farm, wo schwarzäugige Susannen, wilde Mohrrüben und Kornblumen wucherten; die Wese war seit Jahren nicht gejätet oder neu eingesät worden. Sister sah sie als Wildblumenexperiment und hatte keine Lust, hier wieder Timotheusgras, Luzerne oder Knäuelgras zu säen. Ein Schildkrötenrücken-Hindernis ragte im Zaun auf. Sister und Lafayette flogen hinüber; das Tempo wurde höher. Sie sah Betty vorneweg schon über das nagelneue Hindernis setzen, das die westlichste Grenze der After All Farm markierte. »Dieser Fuchs ist ein Teufel«, dachte Sister bei sich. Mit vollem Geläut stürmten die Hunde über die Wildblumenwiese. Sogar Trident hielt mit, seine Konzentration besserte sich zusehends. Walter Lungrun, der Clemson ritt, ein älteres und erfahrenes Pferd, hielt sich von Crawford fern, dessen Pferd Czapaka, 81
ein großer Warmblüter, gelegentlich einen Sprung verweigerte, wenn er genug von Crawfords Fuchtelei mit den Zügeln hatte. Neue Hindernisse, die sich noch nicht in der Erde gefestigt hatten, sahen höher als üblich aus. Glücklicherweise hatten Tedi und Edward die ihren schwarz gestrichen. Ungestrichene Hindernisse stellten anscheinend ein größeres Problem dar als gestrichene. Sister wusste nie, ob die Pferde das Problem hatten oder die Menschen. Da sie Lafayette mit Leib und Seele vertraute, zögerte sie bei diesem Sprung keine Sekunde und landete just, als Shaker die Signaltöne auf dem Horn verdoppelte. Sie waren ganz, ganz nahe an ihrem Fuchs, der unterwegs gebummelt haben musste. Onkel Yancy, der jetzt Gas gab, wurde von Bitsy beschattet, die sich große Sorgen um ihn machte. Sie wünschte, sie hätte nicht »Hochmut kommt vor dem Fall« gesagt, weil sie Onkel Yancy, ihrer aller Onkel, nicht sterben sehen wollte. Sisters Hunde töteten selten, aber wenn ein Fuchs alt oder krank war, mochten die Hunde ihn wohl geschwind ins Jenseits befördern. Binnen drei Sekunden war das Opfer tot; der Leithund brach ihm das Genick. Bitsy versuchte sich zu erinnern, wann es das letzte Mal eine Tötung gegeben hatte. Es war vor drei Jahren gewesen; einer von der roten Sippe am Rand des Reviers war an Staupe erkrankt. Er war auf die eine oder andere Art zum Sterben verurteilt gewesen, weil er sich weigerte, die Medikamente zu schlucken, die für ihn ausgelegt
wurden, und sich weigerte, in eine der Lebendfallen zu gehen, die Sister und Shaker aufgestellt hatten, um ihn zu retten. Er wusste, andere Füchse waren zum Tierarzt gebracht worden, aber er traute keinem Menschen, nicht mal Sister. »Wenigstens ist er schnell gestorben«, dachte Bitsy. Sosehr sie sich ängstigte, Onkel Yancy war nicht bange zumute. Sicher, die Meute war schneller. Sister hatte im Laufe "82 des Sommers etliche ältere Jagdhunde in den Ruhestand versetzt, die jetzt bei diversen Vereinsmitgliedern Scheunen und Kamine mit ihrer Anwesenheit zierten. Die Junghunde hier hatten Tempo. Sister züchtete auf größere Schnelligkeit. Das musste er den anderen mitteilen. Zunächst aber musste er diese verflixten Hunde abschütteln. Er hörte Coras charakteristische Stimme, dann die von Asa, beides gescheite Hunde. »Aber nicht so gescheit wie ich.« Leise in sich hineinlachend, rannte er zu der überdachten Brücke, trabte hinüber und schleppte seine Lunte absichtlich am Boden hinterher, um eine sehr, sehr deutliche Wittrung zu hinterlassen. Dann lief er auf der Farmstraße weiter, die mit braunem Perlkies bestreut war. Die Bancrofts scheuten keine Kosten bei Dingen, die einen angenehmen ästhetischen Anblick bieten sollten. Er machte eine 180-Grad-Wende, lief in seinen eigenen Fußspuren zurück, sprang dann von der überdachten Brücke in den Snake Creek, dessen Wasser von dem vielen Regen hoch, schlammig und schnell strömte. Ans andere Ufer zu schwimmen erwies sich als schwieriger, als er sich vorgestellt hatte. »Mach schnell!« Bitsy blinzelte ihn vom obersten Punkt der Brücke an. Onkel Yancy schaffte es ans andere Ufer. Das Schwimmen hatte ihn wertvolle Zeit und Kraft gekostet. Er hörte die Hunde nur noch einen halben Kilometer entfernt, und sie schlossen blitzschnell auf. »Verdammte Köter«, schimpfte er, während er zu der Stelle rannte, wo Nola und Peppermint begraben waren. Der Rotfuchs mit der kleinen weißen Spitze an der Lunte übersprang den Zickzackzaun, überquerte die zwanzig Meter bis zur anderen Seite und sprang dort hinüber. In der vom Graben und vom Regen noch weichen Erde hinterließ er deutliche Fußspuren. Tedi hatte den vorläufigen Zickzackzaun errichtet, bis der viel beschäftigte Steinmetz eine Mauer um die Gräber ziehen konnte. 82
Eine Schlammspur folgte Yancy, als er den Hang entlanglief, dann im Bogen umkehrte und Richtung Roughneck Farm rannte. Er war erschöpfter, als ihm lieb war. Direkt am Zaun zwischen der After All Farm und Sisters Wildblumenwiese hatte ein Murmeltier eine Höhle gegraben, schlampig, aber unter diesen Umständen besser als nichts. Er würde dieses Tempo für den Weg zurück zu seinem Bau nicht durchhalten können, und er wünschte, er hätte auf Bitsy gehört, die getreu über ihm herflog.
»Autsch!« Onkel Yancy blickte nach oben. St. Just war auf Bitsy herabgestoßen und hatte auf sie eingehackt. »Du kleines Miststück!« St. Just hackte wieder nach Bitsy, die für ruhiges Fliegen gebaut war. Sie konnte nicht so geschickt manövrieren wie der blauschwarze Vogel, aber sie war klüger. Sie flog tief über dem Boden direkt zu Onkel Yancy. Sollte St. Just sie noch einmal angreifen wollen, würde Yancy sich geschwind herumdrehen und womöglich den verhassten Vogel mit dem Maul oder gar mit den Vorderpfoten zu fassen kriegen. St. Just hütete sich, einem Fuchs zu nahe zu kommen. Laut krächzend verfluchte er Bitsy, weil sie dem Fuchs half. Wenn er nur die Hunde zum Umkehren bewegen konnte, bevor sie die überdachte Brücke erreichten, könnte er sie rasch auf Onkel Yancy hetzen. Aber sein Wutausbruch und sein ungebührliches Geschimpfe beleidigten das Ohr von Athena, die soeben zwischen den zwei Farmen haltgemacht hatte. Eine Brut Mokassinschlangenbabys, spät geboren, aber dank reichlicher Beute mit guten Überlebenschancen, hielt sich unweit des großen Felsens auf, wo sie wohnten. Athena gedachte sich eins von den Schlangenbabys zum Nachtisch munden zu lassen, und jetzt hatte St. Just alles vermasselt, weil sie vor Schreck wieder unter ihren Felsen gehuscht waren. Er beleidigte Athena grundsätzlich. Er wusste nicht, was sich gehörte. Als sie ihn dann auf Bitsy losgehen sah, geriet ihr Blut in Wallung. Sie erhob sich von dem Zweig des immergrünen I83
Baumes, breitete die Schwingen mit der beeindruckenden Spannweite aus und flog laut- und mühelos mit vier großen Flügelschlägen hinter den Krähenvogel, die Klauen bereit zum Zuschlagen. Er hörte sie einen Sekundenbruchteil zu spät. Während er sich wegdrehte, um der geballten Kraft ihres Hiebes auszuweichen, erwischte sie ihn am rechten Flügel. Es reichte, ihn zu verwirren und ihm Federn auszureißen, was schmerzte. »Mir aus den Augen, Lümmel!« St. Just fürchtete, er könnte mit seinen fliegenden Federn auf die Erde fallen. Er fing den Sturz ab und schwenkte Richtung Wald. Sosehr Onkel Yancy selbst unter Verfolgung stand, er würde mit diesem erbitterten Feind kurzen Prozess gemacht und dann den Kadaver liegen gelassen haben, um die Hunde abzulenken. Frisches Blut lenkte einen Jagdhund immer ab. »Gott sei Dank, dass du hier bist«, schrie Bitsy; ihre hohe Stimme erschreckte vier äsende Rehe. »Bedank dich bei Athena«, rief die große Eule mit tiefer Stimme. Sie meinte ihre Namensschwester. Dann war sie mit wenigen mächtigen Fügelschlägen über der Wildblumenwiese und strebte zu ihrem Heim hoch oben in einem riesigen Walnussbaum nahe Sisters Haus. Am Bach stürmten die Hunde mit vollem Geläut über die überdachte Brücke.
Sister wollte gerade das Feld hinüberführen, wohl wissend, dass manche Pferde auf der Brücke ein bisschen Theater machen würden, als sie in Dianas Stimme eine Veränderung bemerkte. Da sie sich auf ihre Hunde verließ, hielt sie klugerweise an. Die Menschen keuchten. Die Pferde bewegten die Ohren nach vorn; sie fanden, Anhalten sei reine Idiotie, aber sie gehorchten. Cora hatte eine Spur überschössen. Asa ging zu Diana. Auch er schlug einen anderen Ton an. » Was ist los? Was ist los?« Trident dachte, er hätte etwas falsch gemacht. 84
»Schnauze zu und Ohren auf.« Dasher hielt die Nase an die Erde. In Situationen wie dieser war Dragon unschätzbar, weil er hochintelligent war und eine unglaubliche Nase hatte. Aber man hatte ihn im Zwinger gelassen, weil Shaker fand, er hatte genug gute Hunde draußen, und weil Dragon einem manchmal ganz schön zu schaffen machen konnte. Shaker war der Meinung, dass die Junghunde, zumal dieser T-Wurf, heute ohne Dragon vielleicht besser dran seien. Stückchen für Stückchen bewegte sich Dasher, der nicht so genial war wie sein Bruder, dafür aber methodisch vorging, zurück zur Brücke. »Ich glaube, er hat kehrtgemacht.« Die Hunde liefen unruhig umher, dann sagte Cora: »Wenn wir sicher sein wollen, gibt es nur eine Möglichkeit. Dasher, du gehst um die Brücke herum; aber sei vorsichtig, denn irgendein idiotischer Mensch wird sagen, du kehrst auf der Duftspur um, und dann wird Sybil, die neu ist, dich ausschimpfen. Aber wenn er kehrtgemacht hat, wird seine Wittrung auf der anderen Seite stärker sein. Die Richtung weiß ich nicht. Nimm Diana mit.« Dasher und Diana sausten wieder über die Brücke. »Ausgebüxt«, flüsterte Ronnie Haslip Crawford zu, der verständig nickte. Genau genommen hatten sie recht, aber Sister rief ihre Hunde nicht zu den anderen zurück. Diana und Dasher waren phantastische zweijährige Junghunde. Sybil, die vorausritt und schon auf der anderen Seite der Brücke war, kehrte um. Shaker war auf der jenseitigen Seite ganz dicht bei seinen Leithunden. Dasher sagte leise zu Diana. »Hier, ich glaube, die ist frischer.« Sie senkte die Nase und atmete ein. »Ja, aber wir sollten uns lieber vergewissern, ehe wir alle hierher rufen.« Sie rasten mit Höchstgeschwindigkeit und waren sich dann ganz sicher, dass der Fuchs den Hang hinaufgelaufen war. »Ja! Er ist hier. Komm.« Shaker, total begeistert von den beiden, blies drei Doppel 84
töne, mit denen er die anderen zu ihnen schickte. Die Krallen klickten auf dem Holzboden der Brücke. Auf der anderen Seite bogen sie scharf nach rechts ab und stürmten den Hang hinauf. Alle übersprangen den neu errichteten Zickzackzaun, rannten über die Gräber von Nola und Peppermint, deren Grabsteine noch nicht fertig waren. Sister zögerte einen Moment, sie wartete, bis ihr Meuteführer ihr voraus war. Dann ritt sie den Hang hinauf, machte aber einen weiten Bogen um die neuen
Grabstätten. Ken Fawkes, normalerweise ein guter Reiter, verlor die Kontrolle über sein Pferd, das den Hunden lieber auf direktem Wege folgen wollte. Das große dunkle, fast schwarze Pferd katapultierte sich über den ersten Abschnitt des Zickzackzauns und nahm mit einem großen Schritt den zweiten. Tiefe Hufabdrücke gerieten jetzt mit Onkel Yancys Fußspuren und denen der Hunde durcheinander. Der Wald hallte vom Geläut der Hunde. Binnen Minuten hatten sie wieder den Zaun übersprungen, der die After All Farm von der Roughneck Farm trennte. Sister musste zu dem neuen Hindernis, deshalb wendete sie und trieb Lafayette an. Sie fluchte, weil das Unterholz so dicht war. Die Bäume hatten noch ihre Blätter, und sie konnte im dichten Wald die Hunde nicht sehen. Dies war auch ein Grund, weshalb die Einjagd schwieriger war als die offizielle Jagd. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie überholt werden und weit zurückfallen. Sie erreichte das neue Hindernis, kam gut hinüber, ritt dann gleich weiter, diagonal übers offene Feld. Sie sah schwankende Blumen und Grashalme und auch schwankende Hinterteile, wo die Hunde durchs Feld preschten und einstimmig riefen: »Er ist ganz nah! Er ist ganz nah!« Das war er. Onkel Yancy schlüpfte in die Murmeltierhöhle und kullerte direkt auf das Murmeltier. »Ich bitte um Verzeihung.« Das Murmeltier, groß und ungepflegt, aber vergnügt, sagte: 85
»Nein danke.« Yancy konnte nicht begreifen, wie ein Tier nur so schlampig sein konnte wie dieser Kerl. »Du, die Hunde können jeden Moment anfangen, an deinem Haupteingang zu buddeln.« »Gut. Das erspart mir Arbeit.« »Ich darf wohl annehmen, dass du noch mehr Ausgänge hast, sollte es dazu kommen?« »Einer ist direkt unter einem hängenden Hornissennest. Das ist einen ganzen Meter lang.« Das Murmeltier, das auf dem Rücken lag, lachte, als Cora zu der Höhle hechtete und wie wild zu buddeln anfing. Onkel Yancys Wittrung war so stark, dass es sie ganz verrückt machte. Mit den Pfoten warf sie rote, feuchte Erde hinter sich. Diana gesellte sich zu ihr, auch Asa und Dasher kamen herbei. Trident fragte seine Schwester: »Sollen wir das tun?« »Ich denke, dazu muss man Erster sein. Wir können da nicht rein, da ist kein Platz für uns, aber ich meine, wir sollen richtig laut singen.« Das taten Trudy und Trident dann auch inbrünstig, und alle anwesenden Hunde stimmten ein. Triumph! Shaker kam hinzu, sprang von Gunpowder und blies das Freudensignal, das verkündete, dass die wunderbaren Hunde den Fuchs in den Bau getrieben hatten. Sybil ritt herbei und nahm Gunpowders Zügel.
»Ich weiß, was ich zu tun habe«, maulte der Schimmel, erbost, weil Sybil dachte, er könnte sich entfernen. Betty kam aus der entgegengesetzten Richtung angeritten, und das Feld schloss keine zehn Meter entfernt auf. Shaker nahm das Horn vom Mund. »Er ist da drin. Er ist da drin. Feine Hunde seid ihr. Feine Hunde.« Er packte Cora an der Rute und zog sie heraus. Sie wog siebzig Pfund, pures Muskelfleisch. »Bist ein tolles Mädchen.« »Oja!« Cora drehte sich vor lauter Freude im Kreis. Dann rief Shaker jeden einzelnen Hund beim Namen und lobte seine gute Arbeit. Er streichelte die Welpen. 86
Sister ritt hinzu. »Ein guter Anfang. Lassen wir's für heute genug sein?« »Ja, Ma'am.« Shaker lächelte. »Hast du gesehen, wie Dasher und Diana über die Brücke zurückgekommen sind? Das war gute Arbeit, wie ich sie selten im Leben gesehen habe.« Sister sah zu den zwei dreifarbigen Hunden hinunter. »Diana und Dasher, ihr habt mich sehr, sehr stolz gemacht.« Sie wackelten mit dem ganzen Leib. »Stolz auf euch, stolz auf euch.« Shaker blies wieder das Siegessignal, dann schwang er sich mühelos in den Sattel. Als sie zum Zwinger zurückritten, kam Ken mit aschfahlem Gesicht neben seine Schwiegermutter. »Es tut mir schrecklich leid. Ich konnte ihn nicht halten. Ich ...« Sie hob die Hand. »Ken, wenn einem der Fuchs und die Hunde übers Grab laufen, das ist doch prima. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nola würde über die ganze Aufregung lachen.« Sonst verlor niemand ein Wort darüber, weil die Bancrofts zugegen waren. Onkel Yancy bedankte sich bei seinem Gastgeber und steckte den Kopf heraus, um sicherzugehen, dass keine Nachzügler unterwegs waren. Bitsy, die auf einem Papayabaum saß, kicherte. »Gerade noch mal gut gegangen. Und einfach so über Nola und Peppermint wegzurennen.« »Das ist kein stilles Grab«, sagte der Rotfuchs. Den Kopf gen Westen gerichtet, trat er den Heimweg an. 86
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C
rawford und Marty Howard spendierten zum ersten Einjagdtag ein Frühstück.
Nach reiflichem Überlegen hatten sie beschlossen, von einer Abendparty Abstand zu nehmen. Sie engagierten einen Verpflegungsdienst, der Grillgeräte vor Sisters Stall aufstellte. Crawford hatte erwogen, sie auf dem langgestreckten Rasen zu platzieren, von dem man Sisters herbstlichen Garten überblickte, aber dann hätte er ihr Bescheid sagen müssen. Er und Marty hatten das Frühstück als
Überraschung gedacht. Es beim Stall zu veranstalten, wo die Anhänger parkten, schadete dem Rasen nicht. Da die Leute oft selbstgebackenes Brot, belegte Brote oder Getränke mitbrachten und diese gemeinsam bei den Anhängern verzehrten, brauchten Crawford und Marty nicht um Erlaubnis zu fragen, und es würde eine komplette Überraschung sein. Und die Überraschung gelang. Beim Duft von Speck, der auf dem Grill brutzelte, von saftigen hellen und dunklen Würstchen und Omelettes sattelten die Leute ab und rieben ihre Pferde trocken. Man bestellte sein Omelett bei den zwei Köchen, und nach wenigen Minuten war es fertig. Der Tisch neben den Grillgeräten war mit Brot, Gelee, Obst, Müsli und frischer Milch sowie Süßigkeiten beladen. Die Reiter waren begeistert, ebenso die Hunde, die das verlockende Duftgemisch rochen. Was übrig blieb, würde später ihrem Trockenfütter beigemengt werden. »Wirklich eine tolle Idee«, sagte Betty Franklin zu Sibyl, die mit ihr in der Schlange stand. »Während der Jagd merke ich nie, wie ausgehungert ich bin, aber in der Sekunde, wo ich wieder bei den Anhängern ankomme, knurrt mein Magen so laut wie Tschaikowskys Ouvertüre 1812.« Sybil musste über sich selbst lachen. Marty Howard flüsterte dem Angestellten der Verpfle 87
gungsfirma, der gerade Kaffee einschenkte, Anweisungen zu. »Sofort, Madam.« Er reichte ihr eine große Tasse. Sie brachte den dampfenden Kaffee zu Shaker, der noch im Zwinger war. Als Marty durch die Tür kam, sah er auf und lächelte. »Mrs. Howard.« »Hier. So ein toller Tag. Kommen Sie rüber und holen Sie sich ein heißes Omelett. Die Chefin hat mir aufgetragen, Ihnen auszurichten, Sie können den Zwinger mit vollem Magen besser ausspritzen als mit leerem.« »Das hat sie gesagt?« Er grinste übers ganze Gesicht. »Die Frau ist die Güte selbst.« Er trank dankbar einen Schluck. »Sehr gut.« »Aus Jamaika.« »Vorzüglich.« »Allererste Qualität.« Marty wartete, bis er ein Halsband in den an der Wand hängenden Eimer geworfen hatte, der allein diesem Zweck diente, da die Halsbänder den Hunden abgenommen wurden, wenn sie von der Arbeit kamen. Während sie zusammen zu den fröhlich Versammelten gingen, fragte Marty ihn: »Wollten Sie immer Meuteführer werden?« »Ja.« »Wie haben Sie es gelernt?« »Meine Eltern haben mich nach Warrenton ziehen lassen, um bei meiner Tante zu wohnen. Ich war zwölf und hatte darum gebeten, weil Fred Duncan, der Meuteführer in Warrenton, gesagt hatte, ich dürfte bei ihm im Zwinger arbeiten. So habe ich angefangen. Fred war ein hervorragender Meuteführer. Er war bei Eddie
Bywaters, dem letzten Meuteführer des großen Bywater-Clans, Pikör gewesen. Ich habe so viel bei Fred gelernt, und ich konnte hingehen und Melvin Poe bei der Jagd mit den Orange-County-Hunden zusehen. Fred hat mich auch mitgenommen, um die Piedmont-Hunde zu beobachten.« Marty hörte solche Geschichten gern. Es gab ja so viel zu er *88 fahren, nicht nur über die Fuchsjagd selbst, sondern auch über die unglaublichen Menschen, die sie im Laufe der Generationen vorangebracht hatten. »Wo hatten Sie Ihre erste Stellung?« »Hier.« Er nahm Martys Arm, weil sie im Begriff war, in eine kleine Senke zu treten. »Der Jefferson-Jagdverein brauchte einen ersten Feldpikör, und obwohl ich noch sehr jung war, hat Fred sich für mich verbürgt. Raymond hat mich auf jedes ungebärdige Pferd gesetzt, das er auftreiben konnte, sei es erbettelt, geliehen oder geklaut, bevor er mich eingestellt hat. Schließlich sagte er: >Der Junge kann sich auf'nem Pferd halten^ Das war's. Und ich will nie wieder weg. Ich bin gerne hier.« »Machen Sie sich nie Sorgen ums Geld? Meuteführer verdienen so wenig, was ist, wenn Ihnen mal was passiert?« »Da mache ich mir keine Sorgen. Sollte ich vielleicht, aber ich wusste schon als Kind, dass es mir in meinem Leben nicht ums Geld geht. Ich bin geworden, was ich immer werden wollte, und wissen Sie was, Mrs. Howard, alles Geld der Welt würde mich nicht dazu bringen, das aufzugeben.« »Aber wenn Sie sich mal verletzen?« Marty gehörte zu denen, die sich ständig Gedanken machten. »Die Chefin wird für mich sorgen, so wie ich für sie sorgen würde. Wir haben schon so viel zusammen durchgestanden.« Marty sann darüber nach, über diese Einstellung, die so verschieden war von der Art und Weise, wie sie erzogen worden war, und von dem Milieu, in dem sie lebte. »Sie sind ein glücklicher Mensch.« Betty rief Shaker zu: »Wie steht's mit den Junghunden?« Er hielt die Daumen nach oben: bestens. Crawford, der sich bei einem Menschen anzubiedern hoffte, den er als Untergebenen betrachtete, und genau genommen war Shaker ein Untergebener, sagte: »Danke.« Shaker lächelte. »Die Hunde haben die ganze Arbeit gemacht.« Sister, die sich in die Schlange gestellt hatte, bekam sowohl die Gespräche mit als auch die Hochstimmung der Gruppe. *88 Bobby, der vor ihr stand, plauderte mit Tedi. Er bemerkte seine Frau. »Hey, Sie da. Ich sehe, Sie flirten mit meiner Frau.« Ken Fawkes, der Bettys Teller hielt, erwiderte: »Bobby, das muss ich Ihnen lassen. Sie erkennen was Gutes auf den ersten Blick.« Alle lachten.
Die Leute in der Schlange gratulierten Shaker. Er war ihr Star. Sie hatten gesehen, wie er vorausritt, die Hindernisse als Erster nahm, beispiellos. Sie hatten ihn ein Gelände durchqueren gesehen, das sie dank Sisters Klugheit umrunden konnten, und sie hatten seine geduldige Arbeit mit den Hunden beobachtet. »Gut gemacht.« Bobby strahlte, als er an Shaker vorbeiging. »Können Sie das alles aufessen?« Shaker sah auf Bobbys vollen Teller. »Und ob. Das ist ja das Problem.« Als jeder einen vollen Teller hatte, ging der Angestellte der Verpflegungsfirma herum, schenkte Kaffee nach, holte heißen Tee oder eine kalte Coca-Cola. Die Leute saßen auf ihren tragbaren Aufsteighilfen, auf Heuballen, auf umgedrehten Eimern. Sister, die neben Shaker saß, sagte zu Ronnie Haslip: »Erinnerst du dich noch an den Tag vor zwei Jahren, als Shaker Grippe hatte und ich das Horn übernommen habe?« »Allerdings«, antwortete Ronnie. »Ich hatte ihn um Rat gefragt, und er sagte, >ich sag nur, was Fred Duncan zu mir gesagt hat: Jag mit deinen Hunden und dreh dich nicht um.< So hab ich's dann gemacht.« Die Pferde neigten die Köpfe über den Zaun und betrachteten die vergnügten Menschen. Der Mann vom Verpflegungsdienst gab ihnen Äpfel aus dem Obstkorb. »Der Knabe gefallt mir«, erklärte Keepsake. Golly hatte sich mitten zwischen die sitzenden Menschen postiert. Sie lag auf der Seite, ihr Schwanz zuckte träge auf und r89 ab. Dann rollte sie sich gemächlich auf den Rücken, ihre glitzernden Augen musterten die Gruppe. »Hier bin ich.« Sybil lachte. »Sister, Golly spricht mit uns.« Alle wandten sich der Katze zu, was sie in ihrem Benehmen bestärkte. Raleigh und Gockel, die bei Sister saßen, beachteten die gescheckte Katze nicht. »Golly, komm hierher. Ich geb dir Speck«, lockte Tedi. Blitzschnell sprang die Katze auf, sauste hin und schnappte Tedi den Speck aus der Hand. »Rotzfrech«, bemerkte Marty. Bei der Unterhaltung redeten mal alle auf einmal, dann waren einzelne Gesprächsfetzen zu verstehen. Tedi berichtete Sister von ihren Erinnerungen an eine Safari, auf die ihre Eltern sie mitgenommen hatten, als sie ein Teenager war. »... damals hat sich niemand groß Gedanken über Artenschutz gemacht. Im Rückblick tun mir die Löwen und Giraffen leid, die meine Eltern zur Strecke gebracht haben. Aber ich bringe es nicht ferrig, die Felle wegzuwerfen. Es kommt mir irgendwie frevlerisch vor. Und weißt du was, Janie, ich habe mehr Freude an der Fuchsjagd, als ich je an einer
Safari hatte oder haben könnte. >Oh, das Blut wallt mehr / beim Löwenhetzen als beim Hasenjagen! < Erinnerst du dich? Heißsporn. Er hat sich geirrt.« »Sir Henry Percy hat nie Füchse gejagt, er war zu sehr damit beschäftigt, die Schotten zu jagen«, mischte Crawford sich in das Gespräch. »Er hat auch nie mit Ashland Bassets gejagt«, bemerkte Edward. Er sprach von einer Bassetmeute, deren Beute Kaninchen waren. Ihnen zu Fuß zu folgen konnte sehr aufregend sein. »Hey, wo ist Ralph heute?«, fragte Betty. »In Moline«, antwortete Ken. »Bei einer Besprechung.« In Moline befand sich die Zentrale von John Deere. »Armer Ralph. Muss wegen einer geschäftlichen Angelegenheit auf den ersten Einjagdtag verzichten. Die Arbeit 90
kommt den wirklich wichtigen Dingen im Leben in die Quere«, sagte Bobby und lachte. Als die Versammlung sich auflöste, erklärte Crawford Ron, warum sie sich für ein Frühstück entschieden hatten statt für eine Party. Er sprach mit leiser Stimme. »... Erinnerungen. Marty hat diskret herumgefragt und erfahren, dass nach Nolas und Guys Verschwinden nie wieder jemand am Abend des ersten Einjagdtags eine Party veranstaltet hat. Wir hatten überlegt, das wieder aufleben zu lassen, aber dann schlug Marty ein Frühstück vor. Ich denke, wir werden es zu einer Tradition machen.« »Das hoffe ich sehr. Was freilich bedeutet, dass nächstes Jahr hundert Personen am ersten Tag dabei sein werden.« Crawford zuckte die Achseln. »Gut. Dann kaufe ich eben mehr Eier.« Er hob seine Aufsteighilfe auf und stellte sie in die Sattelkammer seines Pferdeanhängers. »Da sich nichts mehr ergeben hat, was nicht weiter überrascht, denke ich, dass wir nichts mehr über Nola und Guy zu hören bekommen werden. So ist es das Beste.« Ron erwiderte mit noch leiserer Stimme: »Gott, das will ich hoffen.«
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E
in dünner Bodennebelstreif zog über die Weide, wo Lafayette, Rickyroo,
Keepsake und Aztec mampften. Eine Waschbärfamilie überquerte die Weide auf dem Weg zu den Abfalltonnen im Stall. Wenn Sister hin und wieder vergaß, die Sattelkammertür zu schließen, öffneten die Waschbären die Schreibtischschublade und zogen Beutel mit mundgerechten Hersheyriegeln heraus. Sie liebten Süßigkeiten, ebenso wie die Opossums, die ihnen in respektvollem Abstand folgten. Lafayette spielte sich vor Rickyroo und Aztec auf, zwei jun 90
gen Pferden von sechs beziehungsweise fünf Jahren. Er schilderte die Jagd des Tages lebhaft in allen Einzelheiten vom ersten Augenblick an, als er das Gebiss im
Maul hatte, bis zu dem Moment, als er in der Waschbox mit warmem Wasser gewaschen wurde. Für den Geschmack von Keepsake, acht Jahre alt, eine Kreuzung aus Vollblutpferd und Quarter Horse, trug Lafayette ein bisschen zu dick auf. Keepsake fraß fünf Meter von den drei Vollblütern entfernt. Er konnte sie ganz gut leiden, hielt sich aber für intelligenter oder zumindest weniger einfältig als sie. Er bemerkte, dass das Licht unten im Haus aus- und oben im Schlafzimmer anging. Aus Shakers Fenster schien das blaue Licht des Fernsehers. Er sah Showboat, Gunpowder und Hojo, drei ehemalige Hindernisrennpferde, auf der benachbarten Weide dösen. Jedes von ihnen war dem Jagdverein zur Verwendung durch den Meuteführer gestiftet worden. Das hieß zuweilen, dass es sich um ungebärdige Pferde handelte, mit denen niemand anders fertig wurde, und so war dies ihre letzte Station, sofern die Besitzer sie nicht zum Schlächter brachten. Wenige Fuchsjäger mochten dem Abdecker ein Pferd überlassen, einerlei, wie schlecht das Tier sich benahm. Nun verfügte der Jefferson-Jagdverein aber über weitreichende Kontakte. Gunpowder war sogar eine Weile Flachbahnrennen gelaufen. Die drei, die bei Hindernisrennen über hohe Hürden gesprungen waren, verachteten die Sprünge im Jagdfeld und hielten jedes Pferd, das bei so einem armseligen Hindernis, das höchstens einen Meter hoch war, auch nur kurz zur Seite sah, für einen Schwächling. Keepsake konnte und wollte alles überspringen, weswegen er das überlegene Gebaren der anderen achselzuckend abtat. Der Abend war erfreulich kühl und angenehm, der Wind wehte noch von Osten. Sister schaltete die Klimaanlage aus und öffnete die Schlafzimmerfenster. Pferde und Hunde hörten Mozarts Eine kleine Nachtmusik !91 leise aus Sisters Schlafzimmer dringen. Dann klingelte ihr Telefon. Sie stöhnte und fragte sich, was das Problem sein mochte. Ein Anruf am Abend bedeutete gewöhnlich ein Problem. Die Arbeit einer Jagdherrin ist unerschöpflich, sei es körperlich oder politisch, sie muss die internen Konflikte beilegen, die innerhalb des Jagdvereins, jedes Jagdvereins, auflodern. Da ließ ein Dummkopf ein Tor offen, ein anderer druckte den Plan für die Schleppjagd aus und ein Datum stimmte nicht. Anderen passte es nicht, dass die Einjagd so früh am Morgen begann, und sie waren überzeugt, das sei eine Verschwörung, um sie zu Hause zu lassen. Jede Gruppe von Menschen irrt in einem Nebel aus Klatsch, Missverständnissen und guten Absichten umher. Politisches Taktieren macht die verschiedensten Leute zu Genossen und oft sogar zu Bettgenossen. Die Fuchsjagd scheint dergleichen stärker zu fördern als alle anderen Betätigungen. Diese Menschen sind von Natur aus heißblütig, genau wie ihre Pferde. Am Ende eines jeden Tages verebbten Sisters Reserven an emotionaler Zurückhaltung.
Nicht alle Menschen laugten sie aus. Diejenigen, die sie liebte, belebten sie: Betty Franklin, Shaker Crown, Tedi und Edward Bancroft, und sie glaubte, Walter Lungrun lieben lernen zu können. Vielleicht, weil er Peter Wheelers altes Domizil gemietet und weil sie Peter geliebt hatte, sogar einige Jahre seine Geliebte gewesen war. Irgendwie erinnerte Walter sie an ihren Mann, eine merkwürdige Ähnlichkeit, wiewohl Walter in Gesellschaft zurückhaltender war als Raymond. Raymond war in einer Gruppe, seinem natürlichen Element, zur Hochform aufgelaufen. Aus diesem Grund war Raymond ein phantastischer Jagdleiter gewesen. Er hatte die Hunde verstanden, aber die Menschen geliebt. Sister fand, ihr Mann sei ein besserer Jagdleiter gewesen als sie selbst. Sie vergaß die Menschen gelegentlich, weil sie sich 92
so stark auf die Hunde konzentrierte. Aber immer wieder führte sie ihr Feld an den rechten Ort, was die Leute sehr zu schätzen wussten. Ray junior war nach seinem Vater geraten. Sie hatte sich gedacht, er würde ihr als Jagdleiter und später dann als Master folgen. Sie dachte abends oft an ihren Mann und ihren Sohn. Im stillen Haus wurden Erinnerungen wach. Sogar Golly, eine von Natur aus geschwätzige Katze, bettete abends ihr Mundwerk zur Ruhe. Melancholie und Sister vertrugen sich nicht. Es lag ihr nicht, über ihre Verluste zu grübeln, über die Kümmernisse, die uns allen beschieden sind, wenn wir lange genug leben. Sie gehörten zum Leben dazu. Sie hatte sogar gelernt, Gott dafür zu danken. Ihre Verluste hatten sie etwas über Gnade und wahre Liebe gelehrt. Ihre Siege hatten sie gelehrt, großmütig und unendlich dankbar zu sein. Als sie heute Abend der herrlichsten aller Kompositionen Mozarts lauschte, kam ihr der Gedanke, dass Musik und Literatur ein und dasselbe Gefüge hatten. Und ausgerechnet als diese Erkenntnis sich offenbarte, klingelte das verflixte Telefon. »Wehe, es ist nichts Erfreuliches!«, brummte sie in den Hörer. Eine gedämpfte, aber sonderbar vertraute Stimme sagte: »Master, guck beim unteren Ende der Norwood-Brücke nach.« »Wie bitte?« Sie setzte sich aufrecht. »Ein Zweihundertliterfass.« »Wer spricht da?« »Heißsporn.« Es knackte und das Gespräch war beendet. Mit zitternder Hand wählte sie die Nummer des Sheriffs. Er hatte ihr einmal seine Mobiltelefon- und seine Festnetznummer gegeben, die sie wohlweislich neben den Apparaten im Zwinger, im Stall, in der Küche und im Schlafzimmer bereithielt. 92
Sie erreichte Ben und erzählte ihm von dem sonderbaren Anruf. Dann legte sie auf, zog ihre Mokassins an und den weißen Frotteebademantel und lief über die Hintertreppe in die Küche. Sie stürmte aus der Hintertür und lief zu Shaker. Alle Pferde trabten in ihren Koppeln mit ihr.
Trident, der die Sterne betrachtete, noch ganz aufgeregt von seiner ersten Jagd, sah sie zum Cottage des Meuteführers eilen. »Was macht Sister?« Asa, der ebenfalls draußen unterwegs war, sagte: »Geh schlafen, mein Sohn. Du hattest einen großen Tag.« Aber er wusste, dass etwas im Busch war. Sister bediente Shakers Türklopfer. »Shaker, Shaker, entschuldige, dass ich dich störe.« Er öffnete die Tür mit nacktem Oberkörper, die Zahnbürste in der Hand. »Was ist passiert?« »Oh Shaker, ich habe eine Totenstimme gehört.«
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ie Notwood-Brücke wölbte sich unterhalb eines Steilufers am oberen James
River. Selbst so weit von seiner Mündung in die Chesapeake Bay entfernt, war der James ein gewaltiger Fluss. Starke Strömungen, plötzliches An- und Abschwellen und mächtige Stromschnellen, gefolgt von mehreren kleinen Wasserfällen hintereinander, mahnten jeden zur Vorsicht, der dieses Wasser befuhr. Zuweilen konnte das Wasser erstaunlich klar sein, dann wieder spülten Regenfälle Erdreich von den Blue Ridge Mountains herunter, und ganze Abflusskaskaden ergossen sich in den James und machten das Wasser über Tage, ja Wochen trübe. Die Kleinstadt Norwood, benannt nach der Norwood-Plan-tage, einer bis heute betriebenen Farm, klebte am Steilufer
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über dem Fluss, der bis weit in die 1840er Jahre, als die Eisenbahn die Flussboote ablöste, der Haupttransport- und -handelsweg gewesen war. Eine kleine ehemalige rote Backsteinkirche mit einem schön proportionierten Turm diente der Gemeinde als Postamt. Kleine Einfamilienhäuser standen entlang der Straßen am Fluss, größere Herrschaftshäuser erhoben sich am Steilufer, wo sie seit drei Jahrhunderten den Fluss und den Verkehr überblickten. Sheriff Ben Sidell sah den drei Tauchern zu, die unter- und wieder auftauchten. Die Norwood-Brücke verband die Bezirke Nelson County und Buckingham County. Dies war nicht die tiefste Stelle des oberen James, war aber dennoch einer der unberührtesten Abschnitte des Flusses. Nur wenige Motorboote verkehrten hier. Schlauchboote hüpften und schaukelten, bis sie von den ersten Stromschnellen aufgehalten wurden, falls sie überhaupt so weit kamen. Kanuten liebten diese Strecke, weil der Fluss nach der Nordbiegung gerade weiterströmte. Sie paddelten an Fischern vorbei, die in ihren Ruderbooten still warteten. Einmal im Jahr belebte das Flussbootfest die kleine Stadt. Flussabwärts fahrende Flachboote und Menschen in historischen Kostümen zogen Scharen von Touristen an.
Obwohl dieser vierte August ein Sonntag war, handelte Ben sofort, als er von Sister Janes mysteriösem Anruf erfuhr. Nach einer langen Unterhaltung mit Shaker hatte sie auch Walter angerufen, der sich bereit erklärte, den Tag an Ben Sidells Seite zu verbringen. Sister wollte, dass einer vom Jagdverein dabei war, und sie hielt Walter aufgrund seiner Erfahrung und seines Naturells für eine gute Wahl. »Wenn eine Leiche von der Brücke geworfen wurde, selbst wenn sie ausreichend beschwert war, wäre sie mit Sicherheit stromabwärts getrieben«, sagte Ben, »und es wäre nichts mehr übrig.« »Zwei Hurrikane haben seit 1981 hier gewütet«, erwiderte Walter, »und jede Menge schwere Regenfälle. Aber der Strö 94
mungsrichtung folgend, hätte eine Leiche sich schließlich am Ufer verfangen, vielleicht dort«, er deutete auf einen Strudel an der Buckingham-Seite, »oder sie wäre weiter unten am nächsten großen Bogen hängen geblieben. Dann hätte man sie bestimmt gesehen.« »Hm, vielleicht gibt es ja bloß alte Schuhe zu sehen. Die Wassermüllmänner der Natur arbeiten sehr gründlich.« Ben seufzte. »Vielleicht wurde die Mordwaffe von der Brücke geworfen.« Ben schürzte die Lippen. »Ja, aber auch die wäre flussabwärts getrieben. Es lässt sich offenbar schwer sagen, womit Nola umgebracht wurde - mit einem Stein oder einem Hammer oder sogar einem Revolvergriff. Der Schädel wurde an der Seite zertrümmert. Fast als wäre der Mörder in eine Tötungsraserei verfallen.« »Das Reptiliengehirn.« Walter verschränkte die Arme. »Man kann das bei Tieren beobachten. Einige geraten in eine regelrechte Mordwut. Dieser alte Abschnitt unseres Gehirns verkörpert meistens Gewalt.« Die Temperatur stieg allmählich an und mit ihr der starke Flussgeruch. »Ich sehe die seltsamsten Sachen in meinem Beruf«, sagte der Sheriff. »Mit der sozialen Kontrolle ist anscheinend auch die Selbstbeherrschung geschwunden. Die Gewalttätigkeit bei uns hat zugenommen, nicht ab.« »Ruanda.« »Jugoslawien. Angriffe auf unser Land.« Der Sheriff, ein ansehnlicher Mann ungefähr in Walters Alter und somit in der Blüte seines Lebens, blinzelte, weil die Spiegelung der Sonne auf dem Wasser ihn zeitweilig blendete. »Die Menschen finden gewöhnlich einen Grund, um anderen Schaden zuzufügen. Kommt dann noch die Religion ins Spiel wie bei den islamischen Terroristen, schon werden die übelsten Triebe der Menschheit verherrlicht.« Walter lächelte matt. »Wer Nola umgebracht hat, brauchte dazu keine Ideologie und keinen Patriotismus.« r94
»Und da sie mit dem großen Saphir am Finger begraben wurde, war es bestimmt kein Raubmord. Nein, ihr Tod hatte mit Raserei oder Lüsternheit zu tun.«
»Kommen wir kurz auf die Mordwaffe zurück. Angenommen, der Anrufer hat Sister die Wahrheit gesagt, und das, was auch immer von der Brücke geworfen wurde, war schwer genug, etwa ein Schmiedehammer. Ist es dann nicht möglich, dass er senkrecht in den Schlick gesunken und dort stecken geblieben ist und in den letzten zwanzig Jahren bedeckt und freigelegt und vermutlich wieder bedeckt wurde?« Walter setzte seine ovale Sonnenbrille mit den blauen Gläsern auf. »Ist anzunehmen.« Ben lehnte sich ans Brückengeländer, mit dem Rücken zur Sonne. »Walter, Sie sind Mitglied im Jagdverein. Warum hat Sister wohl diesen Anruf bekommen?« »Vertrauen.« »Hä?« »Er vertraut ihr.« »Hmm.« Ben ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wenn es Guy Ramy war, würde er sie angerufen haben und nicht seine Mutter?« »Man weiß nicht, ob er mit Alice in Verbindung stand. Sie würde es nicht sagen.« Ben nickte. »Wohl wahr.« »Wenn er schuldig ist, dann will er, dass wir finden, was immer da in dem Fluss ist.« »Aber er will nicht, dass wir ihn finden.« »Jedenfalls vorerst nicht.« »Ob er Sister sagen würde, wo er ist?« »Ich weiß nicht. Guy müsste jetzt etwa achtundvierzig sein. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, eine Schuld mit sich herumzutragen. Kann sein, dass er Nola getötet hat, aber er hat sie auch geliebt.« »Walter, Sie waren damals auf der Highschool, stimmt's?« Ben hatte mit vielen Leuten gesprochen, und er hatte ein gutes Gedächtnis. J95 »Siebte Klasse.« »Sie haben die Bancrofts nicht gut gekannt?« »Wir haben in Louisa County gewohnt. Ich habe sie bei Reitturnieren gesehen. Meine Eltern kannten die Leute vom Jagdverein. Dad hatte eine kleine Reifenfirma in Charlottesville. Meine Mutter hat auch dort gearbeitet. Früher oder später brauchte jeder mal neue Reifen für seinen Wagen oder Pferdeanhänger.« »Komisch, wenn ich hingehe und Leute befrage, egal um was für ein Verbrechen es geht, wirble ich immer eine Menge Staub auf.« »Das kann ich mir denken.« »Ihnen geht es in Ihrem Beruf bestimmt genauso.« »Die meisten Menschen vertrauen sich ihrem Arzt an.« Walter klimperte mit den Schlüsseln in seiner Tasche. »Im Jagdverein ist ein Machtgerangel im Gange. Hey, vielleicht war der Anrufer ja ein Spinner, der Sister ärgern wollte. Den Leuten ist bange, dass Sister zu alt wird«, sagte Ben.
Walter nahm die Hand aus der Tasche und wischte diesen Gedanken beiseite. »Sie wird uns alle überleben.« Ben lachte. »Könnte gut sein.« Ein Taucher kam an die Wasseroberfläche, schob seine Maske hoch und hielt sich seitlich am Boot fest. Carl Walsh, der das Ruder bediente, wölbte die Hand vor den Mund und rief: »Sheriff, sie haben den Deckel von einem Zweihundertliterfass gefunden. Der Rest ist nicht zu sehen, es ist total im Schlamm versunken.« Ben ging auf die Nordseite der Brücke. »Sie sollen zusehen, ob sie Ketten um das Fass legen können.« »Aber ein Herd und ein Kühlschrank sind auch da unten.« Walter ging mit ihm über die Brücke. »Bloß einer?« Ben versteckte seine Spannung hinter Humor. Eine Stunde später lag ein schwarzes Zweihundertliterfass unmittelbar unter der Brücke am Ufer. Die Beschriftung war 96
längst weggewaschen, aber es schien sich um ein altes Ölfass zu handeln, vielleicht auch einen Farbenbehälter. Steine oder schwimmendes Gerumpel hatten kleine Löcher in das Metall gebohrt. Merkwürdig war, dass der Deckel zugeschweißt war. Wenn man an dem Fass rüttelte, war drinnen Klappern zu hören. Und das Fass war schwer, das Gewicht ungleichmäßig verteilt. »Irgendjemand in Norwood hat doch sicher einen Schneidbrenner.« Ben wollte das Fass nicht unnötig viel bewegen. »Carl, lassen Sie auch einen Polizeifotografen kommen.« Es verging noch eine Dreiviertelstunde, bis Frank Kinser, ein entfernter Verwandter von Doug, mit seinem Schneidbrenner zur Stelle war. Dann traf auch der Fotograf ein. Walter trat zurück, als die blauen Funken flogen. Nach wenigen Minuten wurde der akkurat aufgeschweißte Deckel abgehoben. »Herrgott im Himmel!« Die Augen geweitet, stellte Frank den Schneidbrenner ab. Stofffetzen hingen an einem Gewirr von Knochen. Auf dem Boden des Fasses lag ein Amboss. Der Fotograf knipste drauflos. Ben betrachtete die Überreste gründlich, aber ohne sie zu berühren oder zu entfernen. Walter spürte, dass es einen Mordsärger geben würde.
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ie Technik ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Als das Internet ins
Rollen kam, war Sister auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Ihre Telefonrechnungen hatten bald astronomische Höhen erreicht. Seitdem schrieb
sie nur noch E-Mails, um Nachrichten an die Jagdaufsichtsbehörde und an gute Freunde zu versenden. Die Recherchemöglich 97
keiten gefielen ihr, doch meistens zog sie lieber ihre alte Encyclopaedia Britannica hervor. Die Einträge konnten sehr aufschlussreich sein, und innezuhalten, um sich in ein anderes Thema zu vertiefen als in das, wonach sie suchte, verschaffte ihr jedes Mal ein unverhofftes Vergnügen. Die Kosten niedrig zu halten war ein Kampf, den sie und Millionen Amerikaner kämpften, die nicht mehr von Hunger oder Not getrieben, sondern Opfer der Werbung und ihrer eigenen Besitzgier waren. So großartig das Internet auch sein mochte, es kostete Geld. Ehe man sich's versah, bezahlte man für Dienstleistungen und Technik, die man eigentlich nicht brauchte. Eine dieser Entbehrlichkeiten, die Sister sich noch leistete, war die Anruferkennung. Als sie den mysteriösen Anruf erhielt, erschien die Nummer auf dem kleinen Telefon-Display: 555-7644. Natürlich hatte sie Ben Sidell die Nummer gegeben, doch sie wusste schon, dass der Anruf von dem öffentlichen Fernsprecher vor Roger's Corner kam. Der Sheriff rief Roger an, der folgsam aus dem Fenster schaute, aber da war niemand mehr am Telefon. In der letzten Stunde, bevor Roger abends um zehn zumachte, ging es oft hoch her, weil die Leute schnell noch eine letzte Schachtel Zigaretten oder eine Packung Muffins fürs Frühstück kauften. Roger's Corner hatte sonntags geöffnet, aber Roger selbst nahm sich diesen Tag frei. An diesem Sonntagmorgen fuhr Sister dorthin und parkte vor der blauen Eierschale, in der das Telefon untergebracht war. Die hohe gläserne Telefonzelle mit der Falttür war verschwunden, ersetzt durch ein billiges kleines Kunststoff-Ei, das keinen Schutz vor den Elementen bot. Sie wusste, was sie erwartete, trotzdem wollte sie das Telefon mal unter die Lupe nehmen. Die Leute, die den Laden betraten und verließen, winkten ihr zu. Warum sie sich den Apparat vornehmen wollte, wusste sie selbst nicht. Kyle Dawson, Ronnie Haslip und Dr. Tandy Zacks kamen
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und gingen. Alle drei waren reitende oder zahlende Mitglieder des Jagdvereins. Schließlich sah Sister ein, dass sie nicht den ganzen Tag hier stehen konnte, zumal ihr keine neuen Ideen kamen. Sie stieg wieder in ihren Wagen und fuhr zur After All Farm. Da das Auto des Sheriffs und Walters Transporter in der Zufahrt parkten, fragte sie sich, ob sie hineingehen sollte. Die Frage erledigte sich, als Tedi, die sie gehört hatte, die Haustür öffnete und sie hereinwinkte. »Komm rein. In die Küche.« In der geräumigen Küche traf sie Edward, Sybil, Ken, Ben und Walter an. Die Herren erhoben sich, als Sister eintrat. Edward zog einen Stuhl für sie heran.
Ben lächelte, warf ihr aber einen bedeutungsvollen Blick zu. Sie verstand ihn so, dass sie sich still verhalten möge. Walter setzte sich neben sie und legte seinen Arm über ihre Stuhllehne. Das behagte ihr. »Entschuldigt die Störung.« »Du störst nie«, sagte Tedi. »Mrs. Arnold, ich war gerade dabei, die Bancrofts zu informieren, dass ich einen telefonischen Hinweis erhalten habe, von einer nicht identifizierbaren Stimme, ich solle bei der Norwood-Brücke suchen.« Ben hätte sich ohrfeigen können. In seiner Eile, eine Truppe zusammenzuholen, die sich bei Sonnenaufgang an der Brücke einfand, hatte er es versäumt, Sister anzuweisen, den Mund zu halten. Ben nahm an, dass Klatsch nicht Sisters Lebenselixier war, aber sie hätte es ein paar Freunden erzählen können. Er wollte nachher mit ihr reden, aber er war besorgt. Er hatte einen Fehler gemacht. Er wollte nicht, dass Sister Jane dafür büßte. Sister verstand Bens Absicht, als er sagte, er habe den Anruf erhalten. »Sheriff, ich nehme an, Sie haben etwas gefunden, sonst wären Sie nicht hier«, mutmaßte Edward. »Ja. Ich habe den Doktor gebeten, mich heute Morgen zu begleiten.« Wiederum ließ Ben unerwähnt, dass Sister Walter 98
von Shakers Cottage aus angerufen hatte. »Heute Morgen um halb acht wurde ein Zweihundertliterfass gefunden, das in Schlick und Schlamm steckte. Wir haben es gehoben und den zugeschweißten Deckel aufgeschnitten.« Alle hielten den Atem an, als Ben fortfuhr: »In dem Fass fanden wir menschliche Überreste. Wie lange die Leiche in dem Fass war, kann ich nicht feststellen, aber ich vermute, seit Jahren. Wir können aller Voraussicht nach heute noch mit einer eindeutigen Identifizierung rechnen.« »So schnell?«, fragte Ken. »Larry Hund trifft sich in etwa einer Stunde mit dem Gerichtsmediziner.« Larry war einer der besten Zahnärzte in dieser Gegend, der seit fünfundzwanzig Jahren praktizierte. Tedi verschränkte die Hände auf dem Tisch, und Sister schien es, dass der Saphir an ihrer Hand heller strahlte. »Ben, Sie glauben zu wissen, wer der Tote ist. Deswegen sind Sie doch hier. Wer ist es?« »Wie gesagt, Mrs. Bancroft, ich denke, in einer guten Stunde haben wir eine eindeutige Identifizierung.« »War die Leiche zu erkennen?« Panik stieg in Sybil auf. »Es war kein Fleisch mehr dran, nur ein bisschen von der Kleidung. Wir wissen, dass es ein Mann war«, antwortete Ben. »O Gott«, flüsterte Sybil. »Heißsporn.« In Tedi Bancroft wogte unversehens Mitgefühl für Alice Ramy auf. »Weiß Alice es schon?« »Eine Polizistin ist jetzt bei ihr, und ich gehe gleich von hier aus hin«, antwortete Ben ruhig. »Noch einmal, es gibt noch keine eindeutige Identifizierung. Aber wir
gehen aufgrund der Umstände davon aus, dass es sich bei dem Toten um Guy Ramy handeln könnte.« »Und wer immer Guy umgebracht hat, hat die Leiche nicht allein beseitigt. Man müsste ein Herkules sein, um einen Mann wie Guy in ein Zweihundertliterfass zu stopfen, es zuzuschweißen und dann von der Brücke zu kippen«, sagte Edward und verzog dabei das Gesicht. 99
»Ja, wir beziehen auch diesen Gesichtspunkt mit ein«, sagte Ben. »Dass es zwei oder mehr Personen waren.« Ken, dessen Gesicht aschfahl war, sagte nur: »Entsetzlich. Es ist entsetzlich.« Ben war schleunigst zu den Bancrofts gefahren, weil schlechte Nachrichten sich schnell verbreiten. Er wollte nicht, dass sie von Mr. Kinser oder einem Zuschauer angerufen wurden. Er hätte sich eine hundertprozentige Identifizierung gewünscht, aber die Gefühle der Bancrofts waren ihm wichtig. Ben war ein empfindsamer Mensch in einem rauen Beruf. Und er wusste, die Entdeckung von zwei Leichen würde den oder die Mörder nervös machen. Was sie für längst begraben hielten, war von den Toten auferstanden. Weil sie sich in Gefahr wähnten, könnten sie andere gefährden. »Können wir irgendetwas tun, um Sie zu unterstützen?«, fragte Edward, die silbergrauen Augenbrauen gerunzelt und das Gesicht vor Besorgnis verzogen. »Seien Sie wachsam«, antwortete Ben schlicht. »Und rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas einfällt, egal, wie unbedeutend es Ihnen vorkommen mag.« »Ja, natürlich«, sagte Tedi. »Ich möchte jetzt zu Mrs. Ramy. Oh Sister, kommen Sie bitte mit mir zum Streifenwagen? Walter, Sie auch. Vielleicht können Sie zwei mir einen Tip für den Umgang mit Mrs. Ramy geben.« Sister, Walter und Ben gingen hinaus. Sybil rieb sich kurz die Augen. Tedi klopfte ihre Tochter auf den Rücken. »Grässlich, nicht?« »Weißt du, Mom, er war so ein schönes Geschöpf, wie ein wildes Tier - einfach ein schönes Geschöpf.« »Nicht mehr«, sagte Ken leise, während er die drei draußen beobachtete.
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Ben lehnte sich an seinen braunen Streifenwagen. »Sister, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Sie gestern Abend bitten sollen, niemandem von dem Anruf zu erzählen. Haben Sie mit jemand darüber gesprochen?« »Mit Walter«, sie nickte dem gut aussehenden Arzt zu, »und Shaker. Shaker wird es niemandem erzählen. Er ist nicht sehr gesprächig, außer wenn es um Jagdhunde geht.« »Bitten Sie ihn trotzdem.« »Mach ich.« »Walter?«, fragte Ben. Walter hob die Schultern. »Mit keinem.«
»Mrs. Arnold, haben Sie eine Ahnung, warum man Sie angerufen hat?« »Nein, Ben, wie ich Ihnen sagte, ich weiß es nicht, und ich wünschte, ich wüsste es.« Sie zog mit der Stiefelspitze einen geraden Strich in den braunen Perlkies. »Und nennen Sie mich bitte Sister oder Jane, ja?« »Ich werde mich bemühen.« Ben konnte diese Frau gut leiden. »Hören Sie, so viel weiß ich. Der Anrufer kennt Sie, vertraut Ihnen und lebt hier. In dieser Gegend schaut jeder mal bei Roger's Corner vorbei.« »Es ist einer von uns«, sagte Sister ohne jede Überraschung. »Ja.« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr über die Stimme sagen. Eine Männerstimme. Sie kam mir irgendwie bekannt vor. Er hat sie natürlich gedämpft und verstellt, in einem höheren Ton gesprochen, aber ...« Sie zuckte die Achseln. »Sie werden vielleicht noch mal einen Anruf erhalten. Der Sie angerufen hat, weiß, dass Sie mich angerufen haben, und der Sie angerufen hat, könnte der Mörder sein.« »Nach so vielen Jahren?« Walter hakte den Daumen in seine Gürtelschlaufe. »Schuldgefühle. Es kommt oft vor, dass Mörder erwischt werden wollen.« »Und noch öfter wollen sie es nicht«, bemerkte Sister klug. 100
»Ich habe so eine Ahnung, dass derjenige, der mich angerufen hat, dem Mörder Vorjahren geholfen hat, das Fass vom unteren Ende der Brücke zu kippen.« »Ich denke, mit Ihrer Ahnung liegen Sie richtig«, stimmte Ben zu.
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E
s gibt keine Hoffnung. Es ist mir egal, ob ich lebe oder sterbe!«, schrie Alice
Ramy, die sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs befand. Sie hatte sich zusammengenommen, als Ben Sidell sie besuchte. Jetzt waren Tedi, Edward, Sybil und Ken hier, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Sister Jane war auch mitgekommen, nachdem Tedi sie darum gebeten hatte. Jetzt konnte Alice nicht mehr an sich halten. Tedi, die auf der Kante des Schaukelstuhls hockte, in dem Alice zusammengesackt saß, sagte: »Es kann Ihnen nicht egal sein. Es darf Ihnen nicht egal sein.« »Weswegen?« »Wegen Guy«, antwortete Tedi. »Er ist tot. Tot.« Sie starrte Tedi mit leerem Blick an. »Sie haben es gewusst, nicht?« Edward wollte etwas Tröstendes sagen, stellte es aber nicht richtig an. »Nein! Ich hab gebetet, dass er abgehauen ist. Ich wollte nicht, dass er ein Mörder ist, aber ich wollte nicht, dass er tot ist.« Sister, die auf der anderen Seite des Stuhles stand, sagte. »Alice, ich glaube, dass Nola und Guy zusammen gestorben sind. Wenn auch nicht im selben Moment,
aber deshalb, weil sie zusammen waren. Ich bete um ihren Seelenfrieden, aber meiner ist in Aufruhr. Ich will den oder die Mörder finden.« »Wie denn?« Ein Lebensfunken blitzte in Alices Augen auf, 101
aber auch Zorn. »Jetzt noch? Zu viel Zeit ist vergangen, Sister, zu viel Zeit.« Sybil, die, mit Ken an ihrer Seite, Alice gegenübersaß, meinte: »Schicksal. Es war Schicksal, dass sie starben, und es ist Schicksal, dass sie jetzt wieder zum Vorschein gekommen sind. Es ist uns bestimmt, die Mörder zu finden.« »Schicksal ist bloß eine Ausrede, um seine Hausaufgaben nicht zu machen.« Alice lächelte wehmütig. Sie hatte jetzt Tränen in den Augen. »Wenn Guy mit einer Sechs in Mathematik nach Hause kam, hat er gesagt, das war Schicksal. Ich habe gesagt, Schicksal ist bloß eine Ausrede, um deine Hausaufgaben nicht zu machen. Das hat gesessen. Schicksal, so was gibt es nicht.« Sister legte ihre Hand auf Alices Schulter und beugte sich zu ihr hinunter. »Dann wollen wir unsere Hausaufgaben machen. Versuch dich zu erinnern ...« Alice unterbrach sie: »Hab ich doch!« »Dinge können einem zu den seltsamsten Zeiten durch den Kopf schießen. Komm ab und zu zum Jagdfrühstück. Rede mit den Leuten. Vielleicht klingelt's ja hier und da«, ermutigte Sister sie. »Von denen will doch keiner mit mir reden.« »Aber natürlich wollen sie das«, sagte Tedi herzlich. Edward lächelte. »Xavier hält Hühner.« »Kampfhähne.« Tedi rümpfte die Nase. »Es ist nicht verboten, sie zu halten. Es ist nur verboten, sie kämpfen zu lassen und auf sie zu wetten«, erwiderte Ken, der bemüht war, sie aufzuheitern und zu beruhigen. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Guy ist von den Hahnenkämpfen gerupfter nach Hause gekommen als die Hähne. Ich glaube, er hat nie auch nur einen roten Heller gewonnen.« »Manchmal hat er gewonnen«, sagte Ken, indem er zum wiederholten Male auf die Uhr sah. »Ich war dabei. Sie haben bloß nie einen Penny zu sehen gekriegt, Alice, weil er das Geld für Wein, Weib und Gesang ausgegeben hat.« 101
»Guy konnte sehr ungezogen sein.« Alice konnte einen Anflug von Stolz nicht verbergen. Immerhin, wie viele Frauen gebären einen Sohn, der weit und breit als schön wie ein Filmstar gilt? Tedi, die dergleichen von einer anderen Warte sah, sagte: »Nola auch, leider.« »Ach Tedi, sie war halt lebhaft«, sagte Sister. »Lebhaft mit den Männern anderer Frauen zugange.« »Mutter!«, rief Sybil aus. »Du dachtest, ich hätte nichts gemerkt. Nola war ein schlimmes Mädchen. Ich habe sie geliebt. Ich konnte nicht anders als sie lieben, aber die Männer waren nur Schachfiguren für sie, und sie war die Königin.«
Einen Augenblick lang herrschte verlegenes Schweigen, das Alice zu aller Überraschung brach: »Sie hat in Guy einen gefunden, der ihr gewachsen war. Deswegen haben sie sich verliebt. Die beiden waren wild wie läufige Hunde.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf Edward, dann auf Tedi. »Verzeihung.« »Es ist ja wahr«, sagte Tedi. Edward, der nicht von Nolas sämtlichen Liebschaften gewusst hatte, rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Kein Vater mag derlei über seine Tochter hören. Tedi hatte es ihm lieber nicht erzählt. Nola war sein Augapfel gewesen. Ken, der Edwards Qual spürte, sagte: »Dad, gar so schlimm war sie nicht. Nola hat geflirtet auf Teufel komm raus. Sie hat nicht, nun, du weißt schon ...« Tedi wusste, das war eine glatte Lüge, beschloss aber, es dabei zu belassen. Es hatte keinen Sinn, in Gegenwart der anderen ins Detail zu gehen. Das würde Alice nicht helfen. »Komm zu unseren Jagdfrühstücken. Lern deine Nachbarn und Freunde neu kennen«, wiederholte Sister ihre Einladung. »Wir gehen dienstags, donnerstags und samstags auf Einjagd. Bei unbeständigem Wetter verschiebe ich es auf einen anderen Tag, aber ruf mich einfach an. Sobald am 26. Oktober die offizielle Jagd beginnt, schicke ich dir eine Terminkarte.« J102 »Du willst mich doch bloß rumkriegen, dass ihr hier jagen dürft. Guy hat mich immer gebeten, euch zu lassen, aber ich will nicht. Die armen Füchschen.« »Die armen Füchschen halten uns alle zum Narren. Aber Alice, du weißt, dass ich nicht deswegen hier bin. Ich meine es ernst, komm zu uns raus. Du wirst staunen, wie freundlich alle sind. Guys sämtliche Freunde sind dabei. Ralph und Xavier kennst du. Und natürlich Ronnie Haslip. Ken ist samstags dabei, manchmal kann er einen Wochentag rausschinden. Oh, und die Franklins. Die Jungs Mitte vierzig alles Guys alte Laufgefährten.« »Kann sein.« »Alice, entschuldigen Sie mich, aber ich muss weg. Das Geschäft in Richmond ruft.« Ken stand auf. »Ich bin seit 1986 nicht mehr in Richmond gewesen.« Alice sah, dass ihre Kaminuhr stehen geblieben war. Sie hatte vergessen, sie aufzuziehen. »Die Innenstadt ist ein bisschen trostlos. Miller und Rhoads gibt es nicht mehr, Thalheimer auch nicht.« Ken sprach von den großen Kaufhäusern, die einst Käufer magnetisch angezogen hatten. »Aber sonst sieht's da noch fast genauso aus wie früher. Das West End dagegen hat sich verändert. Die Läden und Firmen, Alice, ziehen sich jetzt an der Broad Street raus bis nach Manakin-Sabot. Sie würden es nicht glauben.« »Ich will's gar nicht sehen.« Ihre Halsstarrigkeit kehrte wieder, und das bedeutete, dass es ihr besser ging.
»Falls Sie es sich anders überlegen, nehme ich Sie gerne mal mit. Dann können wir uns nach der neuen Herbstmode umsehen, macht bestimmt Spaß«, schlug Sybil vor. Ken lächelte. »Sybil, wir müssen einen neuen Flügel an unser Haus anbauen für deine vielen Kleider.« »Sie sieht immer so nett aus«, sagte Alice. »Danke, Sybil, aber ich denke, ich verzichte auf Richmond.« Ken trat zu Alice, nahm ihre Hände, beugte sich herunter und küsste sie auf die Wange. Auch Sybil gab ihr zum Abschied J103 einen Kuss. Alice war nicht mehr geküsst worden, seit Paul 1986 gestorben war. Sie sehnte sich nach menschlicher Berührung, aber das war ihr nicht bewusst. »Passen Sie gut auf sich auf. Und rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwas brauchen«, sagte Ken herzlich. Als Sybil und Ken fort waren, schwiegen die vier Altersgenossen ein paar Minuten. »Sie haben hier alles gut in Schuss«, sagte Edward bewundernd. »Macht 'n Haufen Arbeit. W a r nicht so schlimm, wenn die Hühner nicht wären. Ich wechsle täglich ihr Wasser. Ich schrubbe auch täglich den Stall. Da stinkt es nicht wie sonst oft bei Hühnern.« »Großartig.« Edward nickte erfreut. »Edward, Tedi, hatten Sie Angst, dass Nola mit Guy durchbrennen würde?« »Ja«, antwortete Tedi freimütig für sich und ihren Mann. »Ich auch. Ich hatte immer angenommen, Sie dachten, mein Junge wäre nicht gut genug für sie.« Ein scharfer Ton hatte sich in Alices Stimme geschlichen, die ohnehin nicht gerade melodiös zu nennen war. »Nein, Alice, darum ging es nicht.« Edward näherte sich der Sache mit seinem gewohnten Taktgefühl. »Ein Feuer, das so flammend lodert, kann im Handumdrehen zu Asche zerfallen.« Tedis Blick suchte den ihres Mannes. Sie hatte ihn unterschätzt. Wie die meisten Frauen meinte sie Gefühle viel besser zu verstehen als Männer. Edward mochte nicht gern über Gefühle sprechen, aber er verstand sie, ein wahrer Triumph. »Das habe ich auch gedacht.« Alice blickte auf ihre Kreppsohlenschuhe hinunter, dann sah sie Edward wieder an. »Es hat mir Angst gemacht. Seinetwegen, meine ich. Ich glaube, Guy hat vor Nola nie richtig geliebt.« »Offen gestanden, ich glaube, sie hat ihn geliebt«, sagte Sister. Sie setzte sich Alice gegenüber. 103
»Wirklich?«, fragte Tedi freimütig. »Ja. Ich wusste nicht, was daraus werden würde. Beide waren leichtfertig, wenn man so will, aber es muss auch gesagt werden, dass man sich verändert, wenn man dem richtigen Menschen begegnet. Man kommt am Ende zur Ruhe.«
»Ich dachte, sie würde ihn abservieren.« Alice klang nicht verbittert. Sie war vielmehr froh, endlich darüber sprechen zu können. »Das dachte ich auch«, sagte Tedi. »Es lag nicht an Guy, verstehen Sie mich nicht falsch. Es lag am Geld. Nola hat Geld geliebt. Sie hätte ihn vielleicht geheiratet, aber es wäre schiefgegangen. Und was immer Sie denken mögen, wir haben unsere Töchter nicht verwöhnt. Sicher, sie haben die besten Schulen besucht, aber sie haben nicht zum sechzehnten Geburtstag ein Auto überreicht bekommen. Sie mussten das Geld verdienen. Und sie haben jeden Sommer einen Job angenommen. Oh ja, das kann Spaß gemacht haben wie etwa die Arbeit auf einer Ranch in Wyoming, aber es war immerhin der Anstoß zu eigenem Verantwortungsbewusstsein. Und ja, das ist sonnenklar, Sybil war die bei weitem Besonnenere, die Vernünftigere. Nola hat gearbeitet, aber sie hat das Geld so schnell ausgegeben, wie sie es verdient hat. Dann war sie pleite und hat bei uns gebettelt. Ich habe ihre Schulden nie beglichen, aber ich glaube«, Tedi nickte zu Edward hinüber, »ihr Vater vielleicht.« »Ein, zwei Mal, meine Liebe, aber ich hab's nicht zur Gewohnheit werden lassen.« »Ach Edward.« Tedi glaubte ihm kein Wort. »Mit Guy hätte sie kein Geld gehabt«, erklärte Alice. »Es ist ihm nur so durch die Finger geronnen. Er hätte Geld verdienen können. Er hatte den Grips dafür, aber nicht die Disziplin. Aber er war ja erst fünfundzwanzig, als er starb. Fast sechsundzwanzig. Ich möchte gerne glauben, er würde eine einträgliche Beschäftigung gefunden haben.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Sister. Sie hatte Ralph, 104
Ken, Ronnie und Xavier solide und erfolgreich werden gesehen. Sie dachte, auch Guy würde sich die Hörner abgestoßen haben. »Vielleicht ist das Schicksal gnädig«, sagte Tedi und strich ihren Rock glatt. »Nola und Guy wurden im ersten Glanz der Liebe getötet. Sie haben keine Desillusion erlebt.« »Ich habe gesagt, ich glaube nicht an Schicksal«, beharrte Alice störrisch. »Und ich sehe nicht, was daran gnädig sein soll, wenn einer mit fünfundzwanzig stirbt. Sie hätten sich gestritten. Guy hätte sich betrunken oder alles stehen und liegen gelassen und wäre für eine Weile verschwunden. Er hätte sich wieder eingekriegt. Sie sich auch. Alles dummes Zeug, die Sache mit der Liebe.« »Nicht, wenn man jung ist, und vielleicht nicht, wenn man alt ist. Ich bin zwar einundsiebzig, aber ich sage Ihnen, sollte eine andere Frau sich an Edward heranmachen, ich würde ihr die Hucke voll schlagen.« »Du schmeichelst mir.« Edward lächelte. »Ich bin derjenige, der hier auf der Hut sein muss. Ich habe eine Frau, die dreißig Jahre jünger aussieht als ich. Das kann ziemlich nervenaufreibend sein. Ein Freund von Ken hat doch tatsächlich versucht, ihr auf einer Betriebsfeier anlässlich des vierten Juli den Hof zu machen.« »Na, wer ist jetzt hier der Schmeichler?« Tedi schüttelte den Kopf.
»Also, ich bin hier die Zynikerin. Jahrein, jahraus hat Paul Ramy mir an meinem Geburtstag Blumen gebracht, am Valentinstag Pralinen, und Weihnachten hat er mir meistens einen Anhänger für mein Amulettarmband geschenkt. Das war's. Keine Abwechslung, nichts Spontanes. Ich glaube, Guy ist romantisch geworden, gerade weil sein Vater es nicht war. Also, mein Sohn hat mir immer kleine Geschenke mitgebracht, schon als Kind.« Sie brach ab und schluckte. »Als Ben Sidell hierherkam, dachte ich, er hätte noch mehr Fragen. Ich hatte nicht gedacht, dass ich erfahren würde, was mit Guy passiert ist.« 105
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er lebhafte kleine Gaston B. Marshall war aus Versehen Pathologe und durch
eine Fügung Gerichtsmediziner des Bezirks geworden. Als Vee Jansen, seit 1949 der hiesige Gerichtsmediziner, 1995 an einem Herzinfarkt starb, hatte Gaston die Stelle geerbt. In anderen Bezirken, besonders oberhalb der Mason-Dixon-Grenze, hätten Bezirksbeauftragte vielleicht darüber gemurrt, dass ein betagter Gerichtsmediziner wie Vee Jansen Autopsien vornahm. Dies wäre vielleicht von einer neuen Welle des Murrens abgelöst wurden, als ein sehr viel jüngerer Mann die Aufgaben übernahm. Doch in diesem Bezirk in Mittelvirginia, wo jeder mit jedem entfernt verwandt zu sein behauptete, wurde Gaston als Gerichtsmediziner sofort akzeptiert. Er war einer von hier. Gaston B. Marshall, Universitätsprofessor für Medizin, hatte jetzt zwei Jobs. Das zusätzliche Gehalt vom Bezirk konnte er gut gebrauchen. Gaston war Vater von drei Schulkindern. Bei aller Erhabenheit zahlte die Universität miserabel. Der Job hatte außerdem den Vorteil, dass Gaston nach Gutdünken arbeiten konnte. Wenn er wollte, dass Studenten ihm assistierten, brachte niemand Einwände vor. Wenn er seine Erkenntnisse in seinen Vorlesungen verwenden wollte - die Namen der Verstorbenen wurden geändert -, konnte er das tun. Als Gerichtsmediziner standen ihm reichhaltige Quellen für Lehrmaterial zur Verfügung. Seine Studenten sahen Dinge, die sie im Universitätskrankenhaus vielleicht nie zu sehen bekamen. Als er bei der Autopsie eines betrunkenen Herrn, eines hochwohlgeborenen Müßiggängers, die Leber herausnahm, zerfiel sie ihm buchstäblich in den Händen. Die Studenten, die diese kranke Leber gesehen hatten, würden es sich sicher zweimal überlegen, bevor sie zu viel tranken. An dem Sonntag, als der Leichnam aus dem Fluss geborgen wurde, hatte Gaston nur eine Assistentin gehabt, Mandy Col
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latos, eine Medizinalpraktikantin, die von der Pathologie fasziniert war. Das Reizvolle daran war vielleicht, dass man immer recht hatte, aber immer einen Tag
zu spät dran war. Im Falle von Guy Ramy kamen ihre Erkenntnisse fast auf den Tag genau einundzwanzig Jahre zu spät. Walter Lungrun stand in OP-Kleidung an dem Edelstahltisch, der an den Seiten leicht abwärts geneigte Abflussrinnen hatte. Ben Sidell, meistens ein sehr korrekter Mensch, wollte, dass Gaston sich das Fass ansah, und hatte es deshalb mitgeliefert. Es stand neben dem Tisch. An der Wand befand sich ein großes Doppelwaschbecken, ebenfalls aus Edelstahl. Die drei Mediziner trugen dünne Gummihandschuhe. »Wenn in dem Fass keine Löcher gewesen wären, ich glaube, dann wäre er mumifiziert.« Mandy war stolz, dass sie das Skelett entnommen hatten, ohne ihm nennenswerten Schaden zuzufügen, kein leichtes Unterfangen. »Ja.« Gaston war gerade damit fertig, die Knochen an die richtigen Stellen zu platzieren. Die Hauptgelenke waren auseinandergefallen, als sie das Skelett entfernten, ganz ähnlich, wie sich ein Gelenk aus einem Hühnerbein ziehen lässt. Zudem hatte der Amboss auf dem Fassboden beim Fall in den Fluss vermutlich Knochen gebrochen. Danach war das Fass stecken geblieben. Walter sah aufmerksam zu. »Dr. Marshall.« Mandy wies auf zwei Rippen an der linken Seite. Gaston beugte sich hinunter und berührte fast mit seiner Stupsnase die feinen, dünnen Rippenknochen. »Ah-ha. Wenn eine Leiche so lange draußen war, kann man nur das Beste hoffen. Wir hatten Glück, dass Nola in rotem Lehm begraben war. Das hat sie länger konserviert.« »Die Tötungsart war bei beiden verschieden«, sagte Walter. »Ja. Interessant...« Gaston stellte fest, dass Guys rechtes Schienbein kürzer und dicker war als das linke. »Ein alter Bruch.« 106
»Casanova Point-to-Point-Rennen. Ende der Siebziger«, sagte Walter. Er staunte über die Fähigkeit des Körpers, sich wieder zusammenzuflicken. »Waren Sie dabei?« »Ja, meine Mutter hatte mich mitgenommen. Ich war immer versessen auf Pferde. Guy ist in einen Bretterzaun gekracht. War nicht seine Schuld. Der Jockey vor ihm hat vor dem Hindernis gepatzt, ist runtergeflogen, und Guys Pferd hat eine Vollbremsung gemacht.« Walter lächelte schwach. »Es hat Guy in den Bretterzaun geschmissen. Die Woche drauf ist er mit Gipsbein bei der Fuchsjagd gewesen. Zumindest habe ich es so gehört.« Es klopfte an der Tür und Gaston unterbrach die Untersuchung. »Herein.« Larry Hund, der Zahnarzt, trat ein. Er brachte einen Schnellhefter mit. »Ein Kieferknochen ist noch vorhanden.« »Larry, wir kriegen hier viele seltene Sachen zu sehen, uns eingeschlossen.« Gaston winkte ihn an den Tisch. Larry zog die zahnärztlichen Unterlagen hervor und untersuchte rasch die Zähne, von denen die meisten noch im Kieferknochen erhalten waren. »Guy Ramy.«
Gaston und Mandy, die sehr gründlich arbeiteten, waren eine Stunde später fertig, nachdem sie wie besessen untersucht und nochmals untersucht, Knochen gemessen und ausführliche Notizen gemacht hatten. Larry betrachtete das Fass, ehe er ging. »Menschenskind, da wollte jemand, dass er an Ort und Stelle blieb. Hat 'nen Amboss reingepackt.« »Aber er ist nicht an Ort und Stelle geblieben.« Gaston riss ein Papierhandtuch von der Rolle. »Ich verstehe nicht, wie Sie Ihre Arbeit machen können.« Larry lächelte. »Wenn blanke Knochen auf dem Tisch hegen, geht's ja noch. Aber wenn Sie in einen Leichnam reinschneiden müssen, der Tage oder Wochen draußen lag ...« »Man gewöhnt sich dran, aber ich glaube, niemand von uns 107
findet es angenehm, an einer Leiche zu arbeiten, die ein paar Tage draußen herumlag. Wenn es heiß ist, reicht schon ein Tag. Ich kann Zigarren rauchen, mir Wiek Vaporub oder Kampferöl in die Nase schmieren, der verdammte Gestank dringt trotzdem durch. Wenn sie eine Woche draußen waren, außer natürlich wenn sie gefroren sind, wird es langsam besser.« »Was ist so faszinierend daran?« Larry hatte selten Gelegenheit, sich so wie jetzt mit Gaston zu unterhalten. »Lösungen. Oft finde ich die Lösung und im Falle eines gewaltsamen Todes Hinweise auf den Mörder.« »Also, in diesem Fall weiß ich nicht so recht.« Larry griff nach seinem Schnellhefter. »Wie wollen Sie jetzt noch den Mörder finden?« Gaston seufzte. »Ich weiß es nicht.« Mandy legte die Überreste in eine Kühlschublade, schloss sie mit einem dumpfen Schlag und steckte ein Papierkärtchen mit einer Nummer in den kleinen Schlitz an der Vorderseite. »Sonst noch jemand hier drin?« Larry war neugierig. »Nein, es war ruhig.« Gaston war mit Abtrocknen fertig. »Übrigens, Sie haben an Nola hervorragende Arbeit geleistet. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich mich schon bei Ihnen bedankt habe. Es haben so viele Zähne gefehlt. Ich weiß nicht, ob der Mörder ihr zuerst den Schädel zertrümmert oder zuerst ins Gesicht geschlagen hat.« »Finden Sie Pathologie - abartig?«, fragte Mandy Larry. »Irgendwie schon«, antwortete er aufrichtig. »Die typische Reaktion auf den Tod ist Abneigung, sogar Abscheu.« »Stimmt«, sagte Gaston. »Ich musste das beim Medizinstudium selbst überwinden. Aber dann, ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, waren wir im Labor und haben am System des Kreislaufs gearbeitet. Ich habe die Aorta angehoben, wie Gummi waren die Leichname, und ich bin zurückgetreten, um mir die Leiche anzusehen. Die Arterien und Venen waren ein Flechtwerk des Lebens. Es war schön. Von da an habe ich Lei
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chen mit anderen Augen gesehen, und seien wir ehrlich, ich eigne mich nicht zum plastischen Chirurgen. Ich kann nicht so gut mit Kranken umgehen.« »Ja, man muss mit seinen Patienten reden«, sagte Walter lächelnd. Er hatte es regelmäßig mit Menschen zu tun, die schreckliche körperliche und seelische Schmerzen litten. »Richtig«, Larry lachte Gaston und Mandy an, »und Ihre Patienten reden nicht mit Ihnen.« »Aber ja«, entgegnete Gaston, »das tun sie durchaus.«
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ante Netty, die sauer auf Onkel Yancy war, trabte zu Targets Bau. Das letzte
Viertel des Mondes, eine schmale Melonenscheibe am preußischblauen Himmel, warf ein mattes Licht. Target, ein stämmiger Bursche von gut acht Pfund, saß in der Nähe des Haupteingangs. Charlene, seine Gefährtin, labte sich etwa vierhundert Meter vom Bau entfernt an Brombeeren, die sich über den Zaun unweit des Waldrandes rankten. Gleich hinter dem Zaun zogen sich wogende Weiden zur Farmstraße hin und dann weiter bis zum Zwinger. Ihre drei diesjährigen Welpen hatten den Bau halb erwachsen verlassen, um sich bei der Wheeler Mill eigene Heime einzurichten. Roughneck Farm, After All und Foxglove, wo es von Rot- und Graufüchsen wimmelte, waren kaum noch aufnahmefähig. Target und Charlene wussten, dass der alte, bösartige Rotfuchs, der unterhalb der Mühle gewohnt hatte, an Altersschwäche gestorben war. Das Anwesen brauchte Füchse, und es war ratsam, die Jungen dort unterzubringen, bevor die Rotfüchse weiter südlich auf den glorreichen Gedanken kamen, sich dort niederzulassen. 108
Reichlich Beute gewährleistete, dass die Jungen gut im Futter sein würden. Darüber hinaus legte Walter Lungrun gelegentlich mit flüssigem Entwurmungsmittel versetztes Hundefutter und auch süße Leckereien aus. Melasse schmeckte köstlich. »Netty, du hast dein böses Gesicht aufgesetzt«, sagte Target lachend zu seiner Schwester. »Yancy hat mal wieder einen Hamsteranfall. Er vergräbt tote Grillen, so was Saublödes. Hühner, Kaninchenteile, ja. Aber Grillen? Die Rennerei am ersten Einjagdtag hat seinen Verstand getrübt.« »Ich dachte, das hat die Ehe mit dir gemacht«, spottete Target. »So ein kläglicher Versuch, komisch zu sein. Ich an deiner Stelle würde nicht lachend hier rumsitzen. Am Dienstag nimmt Sister mehr Welpen mit, und Dragon wird bei der Meute sein. Er war Samstag nicht dabei, sonst wäre Yancy mit Sicherheit erledigt.«
»Sister sollte diesen Hund abziehen. Er ist zu schnell. Er wird die Meute verderben.« Target wusste, sollte eine Meute gut sein, mussten die Hunde zusammen laufen. Dragon drängte zu weit voraus. »Es ist sein zweites Jahr. Sie wird ihn noch dieses eine Jahr gewähren lassen, um zu sehen, ob ersieh bessert. Und du weißt, sie liebt seine Abstammung, es ist viel Piedmont-Blut in ihrem D-Wurf.« Piedmont Fox Hounds, 1840 in Nordvirginia gegründet, war der älteste organisierte Jagdverein in Amerika. Henry Hudson hatte Jagdhunde mitgebracht, als er den Fluss entdeckte, der heute seinen Namen trägt. Die amerikanischen Siedler hatten bald nach der Gründung der ersten überlebenden Kolonie 1607 angefangen, mit Hunden zu jagen. Aber Piedmont war der erste im modernen Sinne organisierte Jagdverein, und denjenigen, die seine Farbe, Altgold, trugen, sah man ein wenig Großtuerei gerne nach. »Gott, ist der Hund arrogant«, sagte Netty. »Ich habe mich letztes Jahr gerächt, als ich ihn zu einer Mokassinschlange gelockt habe.« 109
»Das wird er nie vergessen, und deswegen bin ich hier. Um dir einzuschärfen, dass Sister am Dienstag die Hunde hier loslassen und dass Dragon dabei sein wird. Ich an deiner Stelle würde in meinem Bau bleiben.« »Ha! Dem brech ich noch mal das Genick.« » Wenn er dir deins nicht bricht. Er ist schnell, Target, und er hat siebzig Pfund feste Muskeln am Leib, du dagegen nur acht. Er kann in einem Sekundenbruchteil nach deinem Hals schnappen, wenn er dich anrempelt und rumwälzt. Er hat diesen Trieb in sich.« »Netty«, sagte Target erzürnt und stand auf. »Ich bin fast so schnell wie du.« Sie hätte zwar gern gesagt, »aber nicht so schlau«, doch stattdessen schmeichelte sie ihm. »Stimmt. Ich will dich ja nur warnen. Die ganze Meute ist schneller, und wenn Bitsy nicht in der Nähe gewesen wäre, dann wäre es mit Yancy, dem Dummkopf, wirklich schiefgegangen.« »Warum Sister wohl auf mehr Tempo züchtet? Die Hunde sind schon schnell genug, und ich muss sie, Sister und die Hunde, für ihren Riecher loben. Junge, Junge, sie hat wirklich die Art verbessert, wie sie eine Spur verfolgen.« Target sprach von der Fähigkeit der Hunde, Wittrung aufzunehmen. »Oh ja, und vergessen wir nicht, wir hatten dieses Jahr mehr Feuchtigkeit. Das hilft ihnen zusätzlich. Wir sollten uns vorsehen. Ich weiß, Sister und Shaker wollen keinen von uns töten, aber ein Unfall kann schon mal passieren.« » Wenn ich sterben muss, dann lieber auf diese Art als an Räude.« Target schnippte mit der Lunte. Nettys ständige Ratschläge gingen ihm auf die Nerven. »Das geht uns doch allen so. Ein Hoch auf ein langes Leben! Aber nimm deine Medizin. Sister gibt viel Geld für das Zeug aus, und jetzt mischt sie es in Hundetrockenfutter, statt es in tote Hühner zu stopfen. Da kommt man besser dran.« »Ich ess das verflixte Zeug ja, Netty!« Ehe er sie verfluchen und ihr sagen konnte, sie solle ihn nicht immer bemuttern, schwebte Athena mit gespreizten
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Klauen über ihnen. »Huhuhuh.« Sie lachte, als die beiden sich flach hinlegten. Sie wendete und ließ sich auf dem niedrigsten Ast der Rotulme nieder. »Guten Abend.« »Athena, du hast mich vor Angst um den Verstand gebracht«, murrte Netty, während sie sich abstaubte. »Aber Netty, ich glaube nicht, dass das möglich ist.« Einigermaßen besänftigt, sagte Netty: »Du siehst gut aus.« »Spitzmäuse, ich habe Spitzmäuse verspeist. Wirkt Wunder bei mir. Na, Target, hat es dir die Sprache verschlagen?« »Nein. Schön, dich zu sehen. Ich habe gehört, du hast Onkel Yancy neulich morgens geholfen.« »St. Just hat die Hunde auf ihn gehetzt, als sie die Spur verloren hatten.« »Ich bring ihn um, und wenn es das Letzte ist, das ich tu.« »Weißt du was, Target, dasselbe sagt er von dir«, wusste Tante Netty zu vermelden. »Ich habe Neuigkeiten. Heute Morgen hat man Guy Ramys Leiche in ein Zweihundertliterfass eingeschweißt aus dem James gezogen. Ein Rotschulterstärling hat alles mitangesehen.« »Stärlinge, Krähen, Raben«, stieß Target zähnefletschend hervor, »denen kann man kein Wort glauben.« »Lass dich von deiner Abneigung gegen diese Vögel nicht blind für die Wahrheit machen«, riet ihm die weise Athena. »Du hast ganz recht«, pflichtete Tante Netty ihr bei, die ihrem Bruder am liebsten einen gehörigen Tritt mit dem Hinterlauf verpasst hätte. Man musste Athena hofieren. Netty sah Target böse an. Sosehr er von sich eingenommen war, er war nicht dumm. »Du hast recht, Athena. Sobald ich den Namen St. Just höre, kocht mir das Blut in den Adern. Er hat meinen Sohn getötet.« » Und du hast seine Frau getötet. Ihr seid quitt. Lasst es dabei bewenden.« Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, nachdem sie sich herabgebeugt hatte, um mit den Füchsen zu sprechen. Athena war mit ihren sechzig Zentimetern unbestreitbar eine majestätische Erscheinung. 110
Target wägte seine nächsten Worte. »Ja, aber ich glaube, da-fiir ist es schon zu spät. Er wird nicht aufhören. Schließlich hat er die Hunde auf Onkel Yancy gehetzt.« »Ich weiß. Mir geht es darum, dass ihr mit dieser Blutfehde keine anderen Tiere in Gefahr bringt. Es ist ohnehin schon genug los im Moment. Dass Guy Ramy gefunden wurde, ist für keinen von uns ein gutes Omen.« »Die Menschen sind wegen Nola Bancroft schon aufgerüttelt genug.« Tante Netty rückte näher an ihren Bruder heran und setzte sich neben ihn. »Der Mensch, der die beiden getötet hat, hat sie bewusst irgendwo hingesteckt, wo Geier nicht dran konnten oder Hunde sie nicht ausgraben konnten. Er oder sie versteht einiges von Tieren, hab ich recht?« »Ja.« Tante Netty nickte.
» Und obwohl keiner von uns damals auf der Welt war, wissen wir durch das unaufhörliche Gerede der Menschen, dass Nola und Guy 1981 nach dem ersten Einjagdtag verschwunden sind. Der Kreis hat sich geschlossen. Die Einjagd hat gerade begonnen.« Athena beugte sich wieder zu ihnen hinunter. » Und wenn sie etwas entdecken oder jemand auf eine Idee kommt, werden sie buchstäblich anfangen zu graben. Sie werden in unsere Baue und Höhlen und Nester eindringen und Wild aufscheuchen. Sie werden ein heilloses Durcheinander anrichten.« »Ich muss den Kindern bei Wheeler's Mill Bescheid sagen«, dachte Target laut. »Hab ich schon gemacht. Und Bitsy sagt es Butch, Mary Vey, Comet und Inky.« Athena nannte die Graufuchse beim Namen. »Glaubst du wirklich, dass es so schlimm ist?«, fragte Target, ohne sie herausfordern zu wollen. Er war nur neugierig. »Ich befürchte allerdings, dass einer von denen ausrastet.« Athenas leise Stimme wurde noch leiser. »Bitsy, Inky und ich haben gesehen, wie Ralph Assumptio am Straßenrand geparkt und geweint hat.« »Das ist es. Dann ist er der Mörder«, erklärte Target. 111
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Die braune Eule richtete die goldfarbenen Augen aufwärts zu einem Blauhäher, der verspätet nach Hause flog. »Meiner Ansicht nach stehen sie alle unter Anspannung.« »Wissen die Jagdhunde Bescheid?«, fragte Tante Netty. »Ja. Bitsy sagt es ihnen.« »Wen kümmert's, ob sie es wissen?« Target hatte nichts gegen die Hunde, aber er empfand sie als untergeordnete Angehörige der Familie der Kaniden, weil sie sich domestizieren ließen. »Bist du heute Abend streitsüchtig oder begriffsstutzig?« Netty stupste ihn an der Schulter. »Die Hunde stehen den Menschen näher als wir.« »Und der Mörder ist ein Fuchsjäger, so wahr ich die Königin der Nacht bin.« Kurz nachdem Athena fort war, kam Charlene zurück. Target und Netty setzten sie ins Bild, dann erörterten alle Athenas Behauptung, dass der Mörder ein Fuchsjäger war. Sie waren nicht überzeugt. Athena hatte nachgedacht. Es war nie von einem Streit die Rede gewesen. Hätte in einem Personenwagen oder Transporter ein Kampf stattgefunden, dann würde jemand das Blut und den Schaden am Auto bemerkt haben. Wenn jemand sein Auto unmittelbar nach dem Verschwinden der zwei Menschen verkauft hätte, wäre auch das bemerkt worden. Nola und Guy waren freiwillig in das Auto des Mörders eingestiegen oder ihm gefolgt. Nolas Wagen war bei den Buruss' abgestellt worden. Guys Auto hatte in der Stadt geparkt. Athena hatte dies alles mit Bitsys Hilfe zusammengetragen, die den Menschen lauschte, wenn sie sich auf der Veranda unterhielten oder bei offenem Fenster telefonierten. Sie und Bitsy hatten, auf einem Querbalken in Sisters Stall sitzend, soeben alles durchgesprochen. Bitsy nickte. »Guy und Nola haben ihren Mörder gekannt.« Athena fügte hinzu: »Und ihm vertraut.«
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ie plötzliche Schwüle senkte sich drückend auf die grünen Weiden, auf die
blendend weiße und dunkellila Kreppmyrte, die orangefarbenen Taglilien. Sogar die grün schillernden Libellen, von dem plötzlichen Anstieg der Temperatur und des Taupunktes überrascht, saßen reglos auf Seerosenblättern in den Teichen. Klippenbarsche dösten in tiefen Wasserstrudeln, Frösche gruben sich im kühlenden Schlamm ein. Lafayette, Rickyroo, Keepsake und Aztec standen Nase an Schweif auf ihrer Weide unter der mächtigen Sumpfeiche. Showboat, Gunpowder und Hojo standen in derselben Haltung auf ihrer benachbarten separaten Weide unter einer Moosbechereiche. Golliwog ruhte in der Bibliothek auf dem Sofa. Raleigh und Gockel hatten sich unter dem Schreibtisch zu Sisters Füßen ausgestreckt. Der Louis-XV.-Sekretär, ein Hochzeitsgeschenk von Raymonds Mutter, war keine unbenutzte Antiquität. Ungeachtet seines hohen Wertes arbeitete Sister an dem Sekretär, ganz so wie der königliche Hofschreiber, der vor Jahrhunderten daran gekrakelt hatte. Die Bibliothek, kein großer Raum, beherbergte Sisters meistgeliebte Bücher, vor allem ihre Sport-Bibliothek. Einige Bände, die ihr so teuer waren wie für Sammler wertvoll, waren im achtzehnten Jahrhundert geschrieben und gedruckt worden. Sie liebte allein schon das knisternde Papier von höchster Qualität; man müsste heutzutage die großen Bibliotheken Europas durchforschen, um etwas Gleichwertiges zu finden. Die samtschwarzen Lettern waren mit Metall in das Papier gestanzt, jeder einzelne Buchstabe war von Hand gesetzt worden. Das elegante, schlichte Schriftbild war von dem Büchermacher oder womöglich gar vom Verfasser selbst sorgsam ausgewählt worden. 112
Sister hatte festgestellt, dass moderne, im Thermodruckverfahren auf billigem Papier hergestellte Bücher innerhalb von Jahrzehnten zerfielen. Autoren hatten nichts mehr mit der Herstellung zu tun und wurden bewusst davon ausgeschlossen. Sister atmete bei der Arbeit den typischen Bibliotheksgeruch ein. Der alte Kamin, die Ledereinbände und eine Duftkerze auf dem Kaminsims trugen zum Reiz des Raumes ebenso bei wie ein von Heather St. Clair Davis gemaltes Bild, das Sister auf Lafayette beim Sprung eine Böschung hinunter über ein Bachbett zeigte, Jagdhunde und Meuteführer direkt bei ihnen. Das einundzwanzigste Jahrhundert, in dem die Massenproduktion nahezu jede einzelne menschliche Handlung entwertet hat, konnte die Fuchsjagd dennoch nicht herabsetzen. Darüber war die ältere Dame wirklich froh. Diese Liebhaberei
würde nie ein Werbeträger für die Vertreiber von Massenware werden. Piköre würden ihre Rockärmel nicht mit Werbung für Reifen, Autos oder Deodorants verbrämen. Sattelpolster würden kein Pharma-Logo tragen. Samtene Jagdkappen, schwarze Melonen, glänzende Seidenzylinder würden von Internetadressen verschont bleiben. Sister war kein Snob, gottbewahre. Sie war auch nicht besonders wohlhabend. Raymond war, wofür ihm ewige Anerkennung gebührte, ein erfolgreicher Börsenmakler gewesen und hatte ihr genügend Wertpapiere hinterlassen, um für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Raymond hatte erkannt, dass das Leben nicht billiger, sondern immer teurer werden würde, weil die Amerikaner immer mehr Dienstleistungen verlangten, was wiederum immer mehr Steuern bedeutete. Er wusste, dass die Großstädte sich immer mehr Geld bewilligen würden. Die Menschen auf dem Land würden nicht um ihre Lebensweise kämpfen müssen, sondern darum, überhaupt ein Leben zu haben. Er hatte klug investiert und war mit der Gewissheit gestorben, dass er, mochte er auch als Ehemann hier und da versagt haben, die Seinen gut versorgt hatte. Sister gehörte einer Generation an, die von den Männern er 113
wartete, dass sie für Frauen und Kinder sorgten. Es war tatsächlich eine Schmach für einen Mann, wenn seine Ehefrau arbeitete. Arme Frauen mussten arbeiten, wenn also eine Frau einen Job annahm, hieß das, dass ein Mann versagt hatte. Engagement für zahlreiche wohltätige Einrichtungen, das war die Arbeit der wohlhabenden Frauen. Sie wurden nur nicht dafür bezahlt. Das war in Ordnung. Es gab den Männern ein gutes Gefühl und einigen Frauen vielleicht auch. Sister hielt sich nicht für eine Rebellin, aber nach der Heirat hatte sie am Mary Baldwin College Geologie unterrichtet. Raymond hatte es nicht gern gesehen, aber sie hatte es so gern getan. Sie hatte 1960 zu arbeiten aufgehört, als Ray junior geboren wurde. Als Ray 1974 ums Leben kam, hätte sie vielleicht wieder mit dem Unterrichten anfangen sollen, aber irgendwie hatte sie ein Jahr lang keinen Fuß vor den anderen bekommen. Im zweiten Jahr nach dem Tod ihres Sohnes war sie voll funktionsfähig, fühlte sich aber wie betäubt. Im dritten Jahr fand sie zu sich zurück. Wären ihr Mann, die Fuchsjagd, ihre Freunde und Peter Wheeler nicht gewesen, dann wäre sie womöglich in dem Loch verschwunden, in das das weiße Kaninchen entwichen war. Vielleicht war das Leben wie bei Alice im Wunderland. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an Ray junior dachte und ihn vermisste. Sie vermisste auch ihren Mann, der 1991 gestorben war, aber das Vermissen eines Ehemannes rührt trübere Emotionen auf als das Vermissen eines Sohnes. Ein Ehemann hinterließ Versündigungen, die es zu verzeihen galt. Ein Sohn hinterließ zerplatzte Verheißungen. Allerdings hatte sie selbst genug gesündigt, um Raymond sein ausgelassenes Leben zu verzeihen, das sich zu einer maßlosen Bewunderung schöner Frauen ausgewachsen hatte. Wir waren alle Menschen. Sister konnte
vergeben. Es mochte Zeit brauchen, aber sie konnte es. Sie kam nie dahinter, ob sie eine gute Christin war oder ob am Ende die Erschöpfung gesiegt hatte. Eine Fotografie in einem silbernen Rahmen zierte die linke 114
Ecke des Sekretärs. Raymond, Sister und der zwölf Jahre alte Ray junior, alle in formeller Reitkleidung, ritten als Jagdteam beim Washington International Reitund Springturnier mit. Raymond, der blendend aussah in seinem roten Cutaway und der weißen Weste, grinste, seine Zähne hoben sich leuchtend weiß von dem sonnengebräunten Gesicht ab. Sister trug einen schwarzen Reitfrack, die Vereinsfarbe Königsblau am Kragen, Lacklederstulpen an ihren klassischen Reitstiefeln, die so blank poliert waren, dass sich das Blitzlicht des Reporters darin spiegelte. Ray trug eine Reitkappe, einen schwarzen Turnierrock, eine rehbraune Reithose und schlichte Stiefel ohne Stulpen. Er war für einen Jungen korrekt gekleidet; die unausgesprochene Regel lautete, dass ein Junge, auch wenn er sich seine Schleifen verdient hat, keinen Cutaway oder Gehrock oder Stulpen an den Stiefeln trägt, bevor er im Stimmbruch war und sich rasiert. Für Mädchen, deren Stimme sich auch verändert, aber nicht so drastisch, war die Regel schwerer auszulegen, aber einer jungen Dame von sechzehn Jahren würden wenige Master es verübeln, wenn sie im Gehrock statt in einem schlichten Turnierrock reiten würde. Ein Gehrock hat hinten zwei Knöpfe und einen Doppelschlitz, der Turnierrock dagegen hat hinten nur einen Schlitz. Sister, die mit der Fuchsjagd aufgewachsen war, kannte die Kleidervorschriften, doch manchmal musste auch sie die Autoritäten vergangener Jahrhunderte in ihrer Bibliothek befragen. Wenn sie nicht weiterwusste, rief sie Cindy Chandler auf der Foxglove Farm oder Dr. Chuck Beegle auf der Brookhill Farm an. Zu dritt fanden sie gewöhnlich die gültige Lösung. Nola hatte oft Fehden im Jagdfeld ausgelöst. Aus welchem Grund auch immer, hatte sich Nola zur Modepolizei ernannt, was bei älteren Mitgliedern keinen Anklang fand. Der Streit wegen Frances' Schleier war nur einer von vielen derartigen Ausbrüchen. Nola hatte einen Anfall bekommen, als Gordie Tomlinson mit dunkelbraunen Handschuhen ausritt. Man musste senffarbene Handschuhe oder weiße Häkelhandschuhe 114
tragen, was vom Wetter und von der Förmlichkeit des Anlasses abhing. Sogar hellbraune Rehlederhandschuhe würden einer Prüfung standhalten, aber Gordie trug dunkelbraune, worauf Nola ausflippte. Sister hatte Nola für ihr Verhalten rügen und Gordie sagen müssen, dass dunkelbraun zwar nicht ideal, aber außer an den hochheiligen Tagen durchaus akzeptabel sei. Nola war danach wochenlang wütend gewesen und hatte erklärt, Sister lasse die Richtlinien zum Teufel gehen. Den jüngsten Aufruhr hatte es vergangenen März gegeben, als Ralph Assumptio an einem Samstag, einem offiziellen Tag, eine Gerte mit Schwarzdornknauf mit
sich führte. Ronnie Haslip hatte Ralph wegen dieses geschmacklichen Lapsus angeschnauzt. Ralph hätte korrekterweise seine Hirschhorngerte mit Striemen bei sich führen müssen. Aber die breite dicke Schlinge am Ende, an der die Striemen befestigt sind, war vor zwei Tagen bei einer harten, langen Jagd gerissen. Ralph hatte Betty Franklin seine Gerte zur Reparatur dagelassen. Betty führte gerne Lederreparaturen aus, sie sagte, es sei ähnlich wie eine Petitpoint-Handarbeit, nur schwieriger. Deswegen hatte er nach der Gerte mit Schwarzdornknauf gegriffen. Sister ritt zu ihm, hörte sich die Erklärung an und sagte, Ralph könne selbstverständlich seine Gerte mit dem Knauf mitführen, bis die andere repariert sei. Dies musste vor dem gesamten Feld mitgeteilt werden, um alle Parteien zufriedenzustellen. Ralph hätte nur daran denken müssen, vor der Jagd Sisters Erlaubnis für diese Abweichung einzuholen. Gerten mit Knauf können bei der Einjagd und nach der Eröffnungsjagd an inoffiziellen Tagen mitgeführt werden. Fast jeder Jagdverein gewährte seinen Mitgliedern im Laufe der offiziellen wenigstens einen inoffiziellen Tag. Das gab den Mitgliedern Zeit, zerrissene Röcke zu flicken, Stiefel trocknen zu lassen, wenn sie einen Fluss oder Bach bei Hochwasser durchquert hatten, Plastrons zu reinigen oder zu tun, was immer zu tun war, um ihre formelle Ausstattung wieder auf Vordermann zu bringen. Sister betrachtete noch einmal die Fotografie von ihnen zu dritt. Sie hatte dem großen Raymond immer vorgejammert, wie teuer es war, ein Kind auszustatten. Sie wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Ihr Sohn war jeden Penny wert gewesen. Wie oft hatte sie den Jungen geplagt, indem sie ihn in Marshall und Middleburg in die Geschäfte schleppte, wo gute gebrauchte Jagdausrüstung verkauft wurde. Er ertrug es engelhaft, dabei wäre er wirklich gerne zu Horse Country in Warrenton gegangen. Im Dezember wäre er einundvierzig geworden. Wohin geht die Zeit? Wohin geht die Seele? Würde sie ihn wiedersehen, wenn ihre Zeit käme? Sie verbannte diese Grübeleien aus ihren Gedanken. Sie dienten keinem Zweck und brachten sie nur zum Weinen. Sie musste für die Jagd am Dienstag eine Beteiligungsliste für die Hunde aufstellen. Sie sah auf das Blatt Papier, das unterteilt war in Hündinnen, Rüden, Junghunde im zweiten Jahr, Junghunde im ersten Jahr. Für jede Jagd führte sie eine Liste der Beteiligten. Dann setzte sie sich mit dem Blatt Papier an ihren Schreibtisch und notierte, wer was machte. Ein gespitzter Bleistift ist mehr wert als ein gutes Gedächtnis. Dragon musste diesmal mit. Trident und Trudy waren schon mitgewesen, deshalb wollte sie ihre Wurfgefährten Tinsei, Trinkle und Trinity mitnehmen. Auch Rassle und Ruthie, ebenfalls im ersten Jahr, sollten mitkommen. Sie ließ Cora nicht gern im Zwinger zurück, weil Dragon dann der Kopfhund sein würde, aber Cora war am Samstag dabei gewesen, und sie neigte dazu, beim Laufen abzunehmen. Sister
wollte ihre Hunde mit ein paar Pfund Übergewicht in die Saison starten lassen, damit sie bei der Eröffnungsjagd ihr Idealgewicht hatten. Dann mussten sie und Shaker auf sie aufpassen wie Habichte. Ein Jagdhund kann mühelos fünfzig, sechzig Kilometer am Tag rennen, an einem wirklich tollen Tag sogar siebzig J116 bis achtzig. Die Jagdhunde waren viel schneller als die Reiter, denn Hunde laufen in Schlupfwinkel hinein, kehren um, rennen weiter. Die Reiter, beschränkt auf Bodenverhältnisse, die die Pferde bewältigen können, legen weniger Kilometer zurück. Trotzdem steigt an einem anstrengenden Tag so mancher erfahrene Jagdreiter mit Beinen wie Pudding vom Pferd. Wenn ein Hund zu leicht geworden war, fütterte Shaker ihm besondere Kost oder ließ ihn im Zwinger, bis er wieder genug Gewicht hatte. Sister jagte nicht mit einem Hund, der für ihren Geschmack zu viel Gewicht verloren hatte. Ihre Zwingerpraktiken grenzten an Besessenheit, aber niemand konnte behaupten, dass diese Frau ihre Hunde oder ihre Pferde nicht liebte. Sie arbeitete dermaßen konzentriert, dass sie das Auto überhörte, das in die Zufahrt gefahren kam. Raleigh hob den Kopf. »Besuch.« »Vielleicht ein Eindringling.« Gockel sprang auf und stürmte zur Hintertür. »Juhuh, Janie«, rief Tedi. »In der Bibliothek.« Gockel begrüßte Tedi und geleitete sie zur Bibliothek, wo auch Raleigh sie gebührend empfing. Golliwog schlug ein Auge auf, zu einem Mehr an Begrüßung mochte sie sich nicht aufraffen. »Rechnungen?«, fragte Tedi. »Die Hundeteilnehmerliste für Dienstag. Ich muss die bewährten unter die Junghunde mischen. Kann ich dir was anbieten?« »Nein danke. Ken ist eben erst nach Richmond gefahren, viel zu spät. Edward und Sybil sind in den Club gegangen. Sie hatte das heulende Elend mit Strömen von Tränen, deshalb ist Ken erst so spät weggekommen. Ich musste einfach aus dem Haus, was wahrscheinlich feige von mir ist. Ich kann den Anblick der vielen Bilder von Nola im Moment nicht ertragen. 116
Und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht so viel Mitgefühl für Alice aufbringe, wie ich sollte.« »Geht mir genauso.« »Sie macht es einem nicht leicht, oder?« »Es war heb von dir, zu ihr zu gehen.« »Wer könnte den Schock und die Erleichterung besser verstehen?« Tedi setzte sich in den dick gepolsterten Clubsessel und stopfte sich ein Petitpoint-Kissen ins Kreuz. »Es war eine grausame Zeit, nicht?« Sister machte es sich jetzt auf dem Sofa bequem.
»Wackel nicht so auf dem Sofa rum«, meckerte Golly. Sister streichelte sie. »Du solltest ihr lieber eine kleben«, empfahl Gockel ihr. »Dann würde ich zurückschlagen. Hey, komm du bloß her mit deiner nassen Nase, dann kleb ich dir auch eine«, drohte Golly. »Ist die aber geschwätzig.« Tedi fand, dass die langhaarige Gescheckte eine ausnehmend schöne Katze war. »Stell dir vor, ich hatte ein ganz sonderbares Erlebnis. Die letzten drei Tage ist mir eine Zwergohreule aufgefallen, eine ganz kleine, mal im Stall, mal auf einem Baum. Sie zwinkert mir zu, ich kann's beschwören. Ich habe das Gefühl, die Eule verfolgt mich. Sybil sagt schon, >Mom, du hast ja einen Knacksdem Opfer die Schuld geben.«< Er hob die melodische Tenorstimme. »Nein. Wer sich über die Regeln erhebt, wird am Ende dafür bezahlen. Das kann eine ganze Weile dauern, aber die Leute werden sich rächen.« »Du hast recht.« Über die Spüle gebeugt, wusch Sister die Tassen ab. »Oh, Themawechsel: Lorraine, Saris Mutter, ist eine sehr attraktive Frau. Sie ist seit zwei Jahren geschieden.« »Und?« »Nur so zur Information«, sagte sie lächelnd. »Kupplerin.« 140
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er Vorstand des Jefferson-Jagdvereins traf sich jeden dritten Mittwoch im
Monat, ausgenommen im Juli, zu seiner Sitzung. Das Treffen in diesem Monat war für den 18. September anberaumt, was Sister etwas Zeit ließ, Stimmen für Shakers Gehaltserhöhung zu sammeln. Sie hoffte, die Diskussion über das Wann und Wo der Jagdreiterprüfungen würde die Leute dermaßen erschöpfen, dass die Gehaltserhöhung glatt durchging.
Da die Jagd am Donnerstag und am Samstag überaus erquicklich gewesen war, sprach es sich in der Stadt herum, dass dies eine gute Saison werden würde. Sister wusste, dass die Teilnehmerzahlen beim Einjagen anschwellen würden und sie am Samstag, dem 21., mit einem beträchtlichen Feld rechnen konnte. Sie überlegte schon, welche Junghunde sie der wachsenden Anzahl Leute aussetzen sollte, und einen boshaften Augenblick lang dachte sie daran, das erste Loslassen auf morgens halb sieben anzusetzen. Die Leute würden protestieren. Nein, sie würde bei halb acht bleiben, wollte aber eine kleine Lektion darüber erteilen, dass der Zweck der Einjagd zuerst, zuletzt und immer den Junghunden diente. Montag war ihr Stadt-Tag, an dem sie Besorgungen erledigte, einschließlich des ungeliebten Einkaufens von Lebensmitteln. Schön, sie würde Politik und Einkaufen verbinden. Ihr erster Besuch galt Ken Fawkes' Büro in einem unauffälligen modernen Gebäude, das sich an die Umgebung anpasste. Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen mochte Sister moderne Architektur, sofern sie gut war. Zwar zog sie die palladische Architektur vor, aber etwas so Schönes wie das Seagram Building in New York City verdiente es, gelobt zu werden. Dies war Ken Fawkes' erstes Jahr im Vorstand. Sister hatte sich telefonisch angemeldet und wurde sogleich in sein Büro geführt, dessen minimalistische Ausstattung einen vollkom 141
menen Kontrast bildete zu dem Stil, in dem Sybil ihr Heim eingerichtet hatte. Sister war noch nie in Kens Büro gewesen; es spiegelte etwas wider, das für sie neu an ihm war, einen ureigenen Sinn für Ästhetik. »Wie nett von Ihnen vorbeizukommen«, begrüßte er sie. Eine schlichte königsblaue Krawatte zierte sein weißes Baumwollhemd. »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mich so kurzfristig zu empfangen. Ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen.« Sie setzten sich einander gegenüber an einen Couchtisch aus blank poliertem schwarzem Marmor, der mit dünnen grünen Adern durchzogen war. »Etwas zu trinken? Kaffee?« »Nein danke. Ken, ich komme gleich zur Sache. Wie Sie wissen, haben wir Dougs Gehalt übrig, weil er uns verlassen hat, um bei Shenandoah Valley das Horn zu führen.« Er nickte und sie fuhr fort: »Shaker hat seit vier Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen, und die war damals minimal, tausend mehr im Jahr. Wir müssen dem Mann einfach mehr Geld geben.« »Einverstanden.« Er verschränkte die Hände, die Ellenbogen auf den Knien, und beugte sich grinsend zu Sister vor. »Das heißt, Sie werden meine Frau als Feldpikörin behalten, ja? Sie hat Zeit.« »Sie hat Talent.« Sister lächelte. »Wo wären wir ohne Ihre Zuwendungen, die Zuwendungen der Bancrofts? Ich bin dankbar dafür.« Er wehrte ab. »Das ist eben die Fuchsjagd. Wer hat, der gibt. Wie bei der Kirche.«
»Da draußen fühle ich mich dem Herrgott näher, als wenn ich meinen Hintern auf eine Kirchenbank pflanze.« »Geht mir genauso.« »Ich muss Ihnen was Schreckliches beichten.« Sie beugte sich zu ihm hinüber, ihre Köpfe kamen sich über dem erlesenen Marmor näher. »Ihnen kann ich es ja erzählen, weil Sie 142
auch Episkopale sind. Für mich waren Episkopalen immer Erstsemester-Katholiken«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Er lachte und lehnte sich zurück. »Warten Sie, bis ich das Sybil erzähle.« »Ken, mit solchen Gedanken werde ich wohl nicht in den Himmel kommen.« »Es heißt doch, Fuchsjäger kommen nicht in den Himmel, weil sie ihren Himmel auf Erden haben.« Er machte eine Pause. »Natürlich haben Sie meine volle Unterstützung für die Gehaltserhöhung. Wären fünftausend Dollar passabel?« »Ja, ich denke schon.« Sie strahlte ihn an. »Eins noch. Ralph Assumptio ist ein treues Vereinsmitglied, und ich schätze ihn, aber in Geldangelegenheiten ist er wie besessen. Das hilft uns natürlich im Vorstand, weil er jede Einzelheit genau unter die Lupe nimmt.« Sie räusperte sich. »Ich rechne mit Widerstand von Ralph. Er wird sich eher von Ihnen beeinflussen lassen als von mir.« »Oh, davon ist mir nichts bekannt, aber ich rede mit ihm.« Keiner von beiden erwähnte, dass Ken Ralph im Laufe der Jahre viele Geschäfte zugeschanzt hatte. Da konnte Ralph ruhig mal den Mund halten und diese eine Sache durchgehen lassen. Sister bedankte sich, und als sie an der Tür war, stellte sie noch eine Frage. »Mir ist ein reizendes Bild von Ihnen und Sybil in den Sinn gekommen. Komisch, was einem so alles durch den Kopf geht. Ich habe mich aus naheliegendem Grund an den ersten Einjagdtag 1981 erinnert - es war eine gute Hatz, und wir haben am Friedhof der Lorillards angehalten. Erinnern Sie sich?« »Vage.« »Sie, Sybil, Ralph, Xavier, Guy, alle beisammen, alle so jung, die Gesichter gerötet vom scharfen Ritt. Wenn ich vorneweg reite, kann ich nicht sehen, was hinter mir vorgeht. Haben Sie gesehen, dass Guy Ralph gerammt hat?« »Oh, bei dem langen Hindernis. Ralph war überempfindlich. Es war nicht so schlimm.« »Nicht schlimm genug, um einen Mord auszulösen?« Er machte große Augen. »Ralph konnte Guy nicht leiden. Es hat ihm nicht in den Kram gepasst, dass wir ihn Heißsporn nannten. Er sagte, das würde das Arschloch verherrlichen. Entschuldigen Sie den Ausdruck.« Ken räusperte sich. Er war dazu erzogen worden, in Gegenwart einer Dame keine Kraftausdrücke zu benutzen. »Aber Guy umbringen? Nein.« Als Nächstes schaute sie bei der Druckerei Franklin vorbei. Betty und Bobby sagten ihre volle Unterstützung für die Gehaltserhöhung zu.
Bis zum Mittag hatte sie mit Ausnahme von Ralph alle Vorstandsmitglieder aufgesucht. Sie überließ es Ken, ihn an diesem Tag zu erreichen, und wollte morgen bei der Einjagd mit ihm sprechen. Sie hielt vor der Futtermittelhandlung. Weil sie so oft anhalten musste, hatte sie Raleigh und Gockel zu Hause gelassen. Jetzt fehlten sie ihr im Auto. Sie hatte immer Freude an ihren »Gesprächen«, wie sie Freunden erzählte. Sie erzählte ihren Hunden alles Mögliche, und die schienen stets daran interessiert, was sie zu sagen hatte. Sie stieß mit Alice Ramy zusammen, die mit einem mit Hühnerfutter beladenen Einkaufswagen herauskam. »Alice, komm, ich helf dir.« Sister lud die Halbzentnersäcke in Alices Lieferwagen. Alice war zwar ein paar Jahre jünger als Sister, aber von zartem Knochenbau. »Danke.« Alice schlug die Heckklappe zu. »Sister, man hat mir gesagt, ich kann Guy haben. Ich weiß nicht, was ich tun muss.« »Soll ich das für dich erledigen? Ist vielleicht leichter.« Alice nickte, und Sister legte ihren Arm um Alices Taille. »Pass auf, ich fahr hinter dir her zu dir nach Hause und lade das Futter ab. Du machst Tee, oder besser noch, Gin Rickey. Ist noch warm genug dafür. Ich rufe Carl von dir aus an.« Carl Haslip, Ronnies Cousin, gehörte das beste Bestattungsinstitut in der Gegend. Als eine Stunde später das Futter im Hühnerstall gestapelt war, rief Sister Carl an, der ihr diese Last von den Schultern nahm. Alice wollte, dass Guy neben seinem Vater begraben wurde. Einen Gottesdienst wollte sie nicht. Es sei genug Zeit vergangen, wie sie es formulierte. Die zwei Frauen setzten sich auf Alices hintere Veranda, wo ein Baldachin aus Glyzinen sich um die Querträger der großen Pergola rankte, mit der die Veranda überdacht war. Alice hatte in manchen Dingen Geschmack, außerdem machte sie einen unverschämt guten Gin Rickey. »Danke, Jane.« »Gern geschehen.« »Ich bin keine gute Nachbarin gewesen. Auch nicht für Peter.« Sie sprach von Peter Wheeler, dessen Farm im Süden an ihre grenzte. »Er fehlt mir. Ich weiß nicht, warum. Ich habe mich doch immer nur bei ihm oder über ihn beschwert.« »Er war ein guter Mensch. Ich vermisse seinen Humor.« »Guy hatte ihn sehr gern.« »Ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit.« »Du kennst doch den, der da jetzt wohnt? Walter, der Arzt? Er erinnert mich an Raymond.« »So?« »Anderer Teint, aber dieselbe Größe und Statur, sogar die Gesichtsknochen.« Sie trank einen tiefen Schluck. »Aber ruhiger als Raymond.« »Mein Mann stand gerne im Mittelpunkt.«
»Und wie. Guy war genauso. Weiß nicht, woher er das hatte. Paul und ich haben ein stilles Leben geführt, sogar als wir jung waren.« »Er war schön. Schönheit erzeugt ihre eigene Energie.« Alice sah ihrem Kater Malarky zu, der an der Glyzine hochkletterte, es sich auf einem Ast bequem machte und zu ihnen 2I144 hinunterschaute. »Ja, er war schön. Er war nach meiner Großmutter geraten. Dieselben Augen, dieselben schwarzen lockigen Haare. Ich habe mir immer gewünscht, auszusehen wie sie. Sie war sogar im Alter noch schön.« »Alice, du bist eine attraktive Frau.« »Schwindlerin«, sie streckte die Beine aus, »aber ich danke dir trotzdem.« Malarky verlagerte das Gewicht, und Glyzinenblätter wirbelten herab. »Dickerchen«, rief sie zu ihm hinauf. Er beachtete sie nicht. »Dauert nicht mehr lange, bis die Blätter sich färben, auch wenn wir heute dreiundzwanzig Grad haben. Neulich war ich morgens im Nebel draußen, und es war kalt.« »Wir haben viel Nebel zur Zeit. Die Erde ist wärmer als die Luft.« Sie sah Sister an. »Seit man Guy gefunden hat, habe ich über so manches nachgedacht. Ich habe wohl geahnt, dass er tot war. Er hätte sonst eine Möglichkeit gefunden, mich zu erreichen, selbst wenn er Nola umgebracht hätte. Er würde sie nicht umgebracht haben, aber selbst wenn. Ich weiß nur nicht, wer ihn auf dem Gewissen hat, aber ich denke, das kriegen wir raus.« »Ja, das denke ich auch. Alice, hat Paul dir mal von etwas erzählt, das er entdeckt hat?« »Nein. Er hat gesagt, er konnte sich das Tun der Leute erklären. Was wohl darauf hinausläuft, dass jeder ein Alibi hatte. Er hatte keinen richtigen Verdacht.« »Hat Guy mal von jemandem gesprochen, den er gehasst hat oder der ihn gehasst haben könnte?« »Hmm, manchmal ist ihm Ronnie Haslip auf die Nerven gegangen. Guy dachte, Ronnie würde mit ihm flirten. Ich habe ihn bloß ausgelacht. Und sie haben angefangen, sich zu streiten. Als Kinder und während der ganzen Highschoolzeit haben sie sich gut verstanden. Aber in den letzten Monaten von Guys Leben sind sie immer wieder aneinandergeraten.« »Weißt du, warum?« 144
»Nein. An dem Abend bevor er starb, ist er zu Hause vorbeigekommen. Ich habe mir einen alten Film mit Bette Davis angeguckt, Opfer einer großen Liebe. Er hat sich zu mir aufs Sofa gesetzt und gesagt, dass er alle und jeden satt hat. Er brauchte eine Abwechslung.« »Denkst du, er hat Nola gemeint?«
»Ich weiß nicht. Er ist nicht sehr deutlich geworden. Aber er sagte, es sei Zeit für ihn, etwas aus seinem Leben zu machen. Er war nicht außer sich, eher nüchtern. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.« »Hat Paul irgendwas entdeckt, worüber du dich aufregen konntest?« »Nein. Ich wusste, dass Guy sich viel zu viel mit reichen Leuten abgab. Er musste endlich mal erwachsen werden.« »Ronnie Haslip, Xavier und Ralph waren damals nicht reich.« »Nein, aber die Bancrofts, die Taylors und die Jansens. Zu viel, zu schnell. Alle miteinander.« »Stimmt. Hattest du je befürchtet, Guy würde sich dieser Truppe oder ihren jüngeren Geschwistern anschließen, wenn er etwas älter wäre?« Alice trank einen Schluck Gin Rickey, behielt einen Eiswürfel im Mund und ließ ihn mit dem nächsten Schluck ins Glas zurückfallen. »Ja. Na ja, du und Raymond, ihr wart nicht arm. Der kleine Ray hätte wohl leicht mit den anderen mithalten können.« »Das war Big Rays Revier. Aber Alice, ich glaube, Raymond und ich würden so ein Benehmen bei unserem Sohn nicht geduldet haben, auch wenn wir es hätten finanzieren können. Diese Gegend ist voll von Leuten, die einfach ihr Vermögen aufzehren.« »Die meisten sind keinen Pfifferling wert.« »Ich missgönne ihnen ihr Geld nicht. Mir geht nur gegen den Strich, dass sie nichts für andere tun. Sie feiern, golfen, jagen, reisen, hopsen von einem Ereignis zum anderen. Sie hei 2I145 raten, kriegen Kinder, lassen sich scheiden, heiraten wieder und denken, ihnen gehört die Welt. Ich muss sie im Jagdverein dulden, aber ich muss bestimmt nicht privat mit ihnen verkehren.« Alice lächelte. »So hab ich dich noch nie reden gehört.« »Alice, du hast mich überhaupt nie reden gehört«, entgegnete Sister unverblümt. Nach kurzem Schweigen sagte Alice: »Ich konnte mich selbst nicht besonders gut leiden, seit Guy verschwunden ist. Ich habe für meine Familie gelebt, und als niemand mehr da war, hatte ich keine Freunde. Ja, du hast recht. Ich habe dich nie reden gehört, richtig reden. Ich habe niemanden reden gehört. Und wie viel Leben bleibt mir noch? Ich will nicht mehr so leben. Mein Sohn ist zu mir zurückgekommen. Nicht, wie ich es mir gewünscht habe, aber er ist zurückgekommen, und weißt du was, er macht mir Vorwürfe. Guy würde mich jetzt nicht als seine Mutter wollen.« Erstaunt über diesen Ausbruch, sagte Sister leise: »Die Liebe stirbt nie. Seine Liebe ist heute so gegenwärtig wie an dem Tag, als er starb. Er würde dich als seine Mutter wollen. Er möchte, dass du glücklich bist.« »Meinst du?«
»Ja. Ich zehre jeden Tag von Raymonds Liebe. Er war nicht vollkommen. Bin ich auch nicht. Aber er hat mich geliebt, und mein Sohn hat mich geliebt. Ich lebe mit dieser Liebe.« Alice trank ihr Glas leer. »An so was habe ich nie gedacht. Ich habe nur daran gedacht, was ich verloren hatte. Ich habe so manche Nacht durchgeweint. Ich habe geweint, als Ben Sidell mir sagte, dass man Guy gefunden hat. Je mehr ich geweint habe, umso mehr wurde mir klar, dass ich etwas tun musste. Ich kann noch jemand werden, den mein Sohn gern kennen würde.« »Was hast du vor?« »Als Erstes will ich Vorlesungen an der TH belegen. Ich werde pendeln müssen, aber ich habe mir die Vorlesungen im 146
Computer rausgesucht. Ich kann montags und mittwochs in die Vorlesung gehen. Ich besorge mir eine kleine Wohnung in Blacksburg, fahre sonntags am Abend hin und komme mittwochs am Nachmittag zurück. Ich hatte gehört, dass Lorraine Rasmussen raus aufs Land möchte, und ich habe ihr oben Zimmer vermietet. Küche und Wohnzimmer benutzen wir gemeinsam. Sie kümmert sich um Malarky und meine Hühner.« »Alice, das ist ja großartig.« »Wüst du wissen, was ich studieren werde?« »Natürlich.« »Geflügelkunde und Viehzucht. Ich wollte schon immer erstklassige Rinder züchten, aber Paul hat mich nicht gelassen. Er hat gesagt, der Markt ist wie eine Achterbahn. Hm, Paul ist tot. Jetzt mache ich, was ich will.« »Gut für dich.« »Und noch was. Du warst immer nett zu mir, auch wenn ich nicht nett zu dir war. Also, wenn ihr hier durch wollt, wenn ihr auf der Jagd seid, dann nur zu.« »Alice!« Sister sprang vom Stuhl und umarmte Alice. »Siehst du, ich hab's doch die ganze Zeit gewusst, du wolltest bloß auf meinem Land jagen.« Alice, das Gesicht gerötet, lachte. Erst als Sister schon halbwegs in ihrer Zufahrt war, fiel ihr auf, dass sie keine Lebensmittel eingekauft hatte.
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ie Vorstandssitzungen fanden turnusmäßig wechselnd bei den Mitgliedern zu
Hause statt. Diesmal waren Ralph und Frances Assumptio die Gastgeber. Frances hatte ihre Zeit und Energie aufs Putzen und Dekorieren verwendet. Ihr west
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lieh von Sisters Haus an der Soldier Road gelegenes Heim, angefüllt mit abgetretenen, aber schönen Perserteppichen, altem Silber und straff gepolsterten Clubsesseln, strahlte Wärme aus.
Im Jefferson-Jagdverein galt die Regel, dass Speisen und alkoholische Getränke erst nach der Vorstandssitzung serviert werden durften. Frühere Erfahrungen hatten diese Regel notwendig gemacht. Wie gewöhnlich fand sich der Vorstand vollzählig ein. Shakers Gehaltserhöhung ging einstimmig durch. Als Ralph nicht hinsah, blinzelte Ken Sister zu, und sie blinzelte zurück. Nachdem sie die Tagesordnung durchgegangen waren, fragte Bobby Franklin als Vorsitzender pro forma: »Gibt es neue Punkte, die nicht auf der Tagesordnung stehen?« Crawford, der ein vorteilhaftes türkisgrünes Hemd trug, ergriff das Wort: »Wir sollten uns überlegen, ein Clubhaus und einen Paradeplatz zu bauen. Uns fehlt ein zentraler Treffpunkt - neutrales Terrain, wenn ihr so wollt -, und ein Paradeplatz würde unserem Turnierkomitee sehr zugutekommen. Wir hätten ein festes Zuhause für unsere Aktivitäten.« »Moment mal. Der Verein hat keine Schulden. Du sprichst davon, Schuldenberge aufzuhäufen«, meldete sich Ralph, die Augenbrauen besorgt zusammengezogen. »Dass wir schuldenfrei sind, haben wir unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass Raymond und Sister den >neuen< Zwinger auf ihrer Farm auf eigene Kosten gebaut haben.« Bobby zollte rasch Anerkennung, wo Anerkennung angebracht war. Er wusste ganz genau, worauf Crawford hinauswollte. »Was passiert, wenn Sister uns verlässt?«, entfuhr es Crawford. »Das habe ich nicht vor.« Sister beobachtete genüsslich, wie er sich wand. »Ich werde den Jefferson-Jagdverein niemals freiwillig verlassen. Ihr könnt mich abwählen, aber von selbst geh ich nicht.« 147
»Niemals!«, erklärte Betty mit Vehemenz. Die Übrigen grummelten beifällig. »Hm, was ich sagen wollte, was ist, wenn du uns verlassen musst, ohne dass es deine Absicht ist?« Crawford erkannte seinen Schnitzer und wünschte, die verdammten Virginier wären nicht so feinfühlig. Und sie bildeten sich auch noch was darauf ein. Es war zum Davonlaufen. Wegen ihrer verdammten Feinfühligkeit dauerte alles doppelt so lange. »Du meinst, falls ich sterbe?« Sie hob spöttisch die grauen Augenbrauen. »Nun - ja«, antwortete Crawford betreten. »Der Zwinger wird dann immer noch dem Jefferson-Jagdverein gehören, und die übrige Roughneck Farm dazu.« Sie hatte eine Bombe hochgehen lassen. Niemand wusste, was er sagen sollte. Betty fing an zu weinen. Bobby wischte sich ebenfalls Tränen fort. »Also, wir müssen das nicht weiter ausführen. Es ist nicht unsere Angelegenheit.« »Ich habe damit nicht hinterm Berg gehalten, um Obstruktion zu betreiben.« Sister verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Es ist bloß so, dass niemand gern ans eigene Ableben denkt. Als Peter starb, war ich erschüttert.« Diesem Satz folgte
Gemurmel, weil Peters Tod sie alle aufgewühlt hatte. »Er hatte ein schönes, langes Leben. Ich hatte nie daran gedacht, dass Peter einmal sterben würde. Er war aus Eisen, aber das letzte Jahr, als er nicht mehr geritten ist, ich denke, da habe ich es tief im Inneren gewusst. Wenn ein Fuchsjäger zu reiten aufhört, was dann?« Sie zuckte die Achseln, und die anderen wussten, was sie meinte. »Du trittst so bald nicht ab. Nur die Guten sterben jung.« Bobby hatte sich wieder gefangen. Alle lachten. »Wenn das so ist, müsste ich ewig leben. Aber ich musste darüber nachdenken, wie ich meine Angelegenheiten ordne. 148
Ich habe alles ziemlich genau so gelassen, wie Raymond und ich es einst beschlossen hatten. Doch das ist Vergangenheit. Ich habe keine leiblichen Erben, dafür aber viele Hundekinder und Pferdekinder - und eure Kinder.« Sie lächelte herzlich. »Der Jefferson-Jagdverein wird immer ein Zuhause haben. Ich wünschte, ich könnte euch mehr Geld vermachen. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber ihr habt eine feste Bleibe.« »Hört, hört!« Ken applaudierte. Die anderen folgten seinem Beispiel. »Dann müssen wir uns nicht verschulden.« Ralph Assumptios langes Gesicht hellte sich auf. »Eigentlich wollte ich, dass es eine Überraschung wird, aber, Crawford, mit deiner berechtigten Besorgnis hast du mich unter Druck gesetzt.« »Ich hatte ja keine Ahnung. Das wollte ich wirklich nicht.« Er meinte es ehrlich. »Und ich stimme dir zu, Crawford, ein Paradeplatz würde uns zugutekommen«, sagte Sister. »Wir könnten ihn vielleicht sogar an andere vermieten und ein bisschen Geld verdienen. Stellt euch das mal vor, ein Jagdverein in den schwarzen Zahlen statt in den roten.« Weder lachten alle. »Dann findest du die Idee von einem Paradeplatz gut?« Crawford strich sich mit Zeige- und Mittelfinger über den Mund, eine unbewusste Geste, wenn er nachdachte. »Die Idee finde ich gut, aber ich will ihn nicht auf der Roughneck Farm haben, solange ich lebe. Ich könnte das lebhafte Treiben nicht ertragen.« »Und wenn ich ein Grundstück in deiner Nähe kaufe?«, schlug Crawford vor. »Ich denke, das ist nicht nötig«, sagte Ken. Seine Stimme drückte eine Autorität aus, die er in seiner Jugend nicht hatte. »Ich muss das natürlich mit Tedi, Edward und Sybil besprechen, aber an unserer Westgrenze liegt ein dreieckiges Stück Land, mehrere Morgen groß. Die alte Fuhrstraße führt dort148
hin. Das können wir vielleicht dem Verein stiften, und wenn alles gut geht, könnten wir dort nächstes Frühjahr den Paradeplatz anlegen.«
»Wir müssten trotzdem Schulden machen«, brummte Ralph und senkte den Kopf wie ein Stier. Er war in letzter Zeit unleidlich. »Bulldozer, planieren - allein die Vorbereitungen für einen Reitplatz können leicht dreißigtausend Dollar kosten. Die Entwässerung geht ins Geld. Ich will dir deine Spende nicht ausreden, Ken, vorausgesetzt, deine Frau und deine Schwiegereltern sind einverstanden, aber ein Bauvorhaben bedeutet trotzdem Schulden - eine Tribüne, ein Zaun um den Paradeplatz, da schnellen die Kosten in die Höhe. Und ihr brauchtet eine Sprinkleranlage, sonst habt ihr es im Sommer staubtrocken. Ihr braucht einen Traktor und eine Egge, um den Platz auszubaggern. Ihr braucht Nachtbeleuchtung. Ihr braucht eine Lautsprecheranlage, sonst weiß kein Mensch, was los ist, und ich sag euch gleich, mit einem Megaphon ist es nicht getan. Das ist nur der Anfang, Leute. Und wie groß soll der Platz werden? Groß. Einen kleinen zu bauen hat gar keinen Sinn.« »Ralph, das lässt sich alles klären.« Crawford hätte Ralph am liebsten erwürgt. »Er hat aber recht«, warf Betty ein. »Es ist ein langfristiges Vorhaben, und wenn das Grundstück gespendet wird, können wir mit Kuchenverkäufen, Jägerprüfungen und Reitjagdprüfungen im Lauf der Jahre das Geld zusammenbringen und dann bauen.« Auch Betty bangte vor Schulden. Sie und Bobby strampelten sich manchmal schwer ab, um ihre Hypotheken zu bezahlen. Betty, Bobby und Sister wollten auf alle Fälle vermeiden, aus den Vereinsmitgliedern unentwegt Geld oder Arbeit herauszuquetschen. Ronnie Haslip, der untypischerweise fast die ganze Sitzung hindurch geschwiegen hatte, sagte: »Wenn ihr einen Reitplatz baut, dann sollte er dreihundert mal fünfundvierzig Meter groß sein und einen festen Boden haben, damit man da auch Hallenpolo spielen kann. Das könnte mehr Einnahmen bringen. Und ihr solltet auch an Ställe denken, solche, wie sie in Warrenton Fairgrounds waren. Damit hättet ihr die Verwendbarkeit ausgeweitet.« Er hob die Hand, als Ralph den Mund aufmachte. »Und euer Budget, ich weiß.« Bobby spielte mit seinem Stift, dann sagte er mit seiner für einen so massigen Körper ziemlich hohen Stimme: »Wie kann das gehen, ohne dass wir unsere Mitglieder strapazieren? Es ist ein Großprojekt. Wenn wir sie noch mehr verpflichten mit mehr Turnieren, Jagdprüfungen, Kuchenverkäufen, was auch immer, werden wir unsere Leute glatt überstrapazieren. Heutzutage gehen fast alle einer regelmäßigen Arbeit nach und haben keine Zeit.« »Und wenn ich einen Sondierungsausschuss einberufe?«, schlug Crawford vor. »Vielleicht können wir eine Anleihe auflegen, damit die Leute nicht an diesen Projekten irre werden, die wenig profitabel sind.« »Mein wenig profitables Projekt hat letztes Jahr vierzehntausend Dollar eingebracht«, rief Ralph ihnen in Erinnerung. Er war mit Recht stolz auf seine Turnierveranstaltungen, von denen eine mit der Note A bewertet wurde, also zur ersten Liga zählte.
»Deine Leistung in Ehren, Ralph, aber diese Veranstaltungen machen eine Menge Arbeit«, sagte Ronnie. »Wenn Clairborne und Tom Bishop uns die Barracks« Ronnie sprach von der großen Halle - »nicht umsonst überlassen hätten, dann hätten wir froh sein können, wenn uns tausend Dollar übrig geblieben wären. Und fast alle Vereinsmitglieder müssen bei deinem großen Turnier mit anpacken, dem in der Kategorie A.« Turniere wurden von der American Horse Show Association, der amerikanischen Pferdeturniergesellschaft, klassifiziert. So verlockend es war, das als eine Art Zeugnis zu verstehen, gewöhnlich spiegelte es das Niveau, den Verlauf usw. der 150
Veranstaltung wider. Ein mit B bewertetes Turnier war nicht unbedingt eine schlechte Veranstaltung, sie war nur etwas schlichter und zog nicht viele Profireiter an, die Punkte gewinnen wollten, ähnlich wie Tennisprofis versuchen, ihre Weltranglistenpunkte im Auge zu behalten. Sister hielt sich aus den meisten Vorstandsgesprächen heraus, sofern sie sich nicht um Jagdhunde, Jagdteilnehmer oder Jagdgebiete drehten. Sie hielt sich auch aus dieser Diskussion heraus, hörte aber aufmerksam zu. »Crawford, hast du die Dollarbeträge im Kopf?« Ken umschiffte Ralphs Entrüstung. »Die Turniere sind ein Geschenk Gottes für uns, auch wenn sie eine Menge Arbeit machen. Wie viel könnten wir einnehmen, wenn wir diese Anlage hätten?« »Ihr könntet von dem Polo-Club, der heimatlos ist, seit das alte Gelände aufgelassen wurde, im Sommer mindestens fünftausend Dollar verlangen. Andere Gruppen würden Tagesgebühren entrichten. Ich kann mir die Zahlen von Expoland, Commonwealth Park und dem Virginia-Pferdezentrum kommen lassen.« »Das sind große Unternehmen.« Bobby bemühte sich, sich seine Urteilskraft nicht durch seine persönliche Abneigung gegen Crawford trüben zu lassen. Crawford kämpfte umgekehrt mit demselben Problem. »Ich wollte auch sehen, was die Pferdemesse von Albemarle County einbringt. Und ich besorge verschiedene Kostenvoranschläge, je nach Boden, Platzgröße und so. Ich rechne mit fünf Monaten für die Sondierungen.« »Die Messe hat in den letzten zwei Jahren unter Regen gelitten«, stellte Betty nüchtern fest. »Das ist ein großes Problem.« »Weswegen wir auch eine Halle brauchen, wenn wir es richtig angehen wollen«, sagte Ronnie, der sich langsam für das Thema erwärmte. »Und ich möchte es nicht machen, wenn wir es nicht richtig machen. Hat jemand von euch schon mal das Gelände von Mercer County in Kentucky gesehen oder 150
das Gelände von Shelbyville? Die sind herrlich. Stammen aus den 1890er Jahren. Wenn wir die Sache angehen, dann sollten wir es anständig machen, und es sollte ein Werk der Schönheit sein.«
»Und ein Glück für immer.« Ken lachte, teils auch deswegen, weil Ronnie so ernst geworden war. »Er hat aber recht«, sagte Bobby. »Und ich möchte nicht, dass wir uns verschulden. Crawford, das unterstreiche ich dreimal. Aber ich stimme Ron zu. Wenn wir's machen, dann richtig.« »Wer hat Lust, meinem Sondierungsausschuss anzugehören?« Crawford warf den Fehdehandschuh. »Ich«, sagte Ralph. »Um dir auf die Finger zu gucken!« Alle lachten. »Ich auch«, meldete sich Ken. Betty stieß Bobby an. Er achtete nicht auf sie, worauf sie selbst das Wort ergriff. »Ich würde sehr gerne ein bisschen Sondierungsarbeit leisten. Es ist so aufregend!« Sister sagte: »Ich schlage vor, dass du Walter fragst. Er wird unentbehrlich sein, wenn es um Einzelheiten geht wie Behindertenzugänge oder sanitäre Einrichtungen. Außerdem verfügt er über reichlich gesunden Menschenverstand.« »Gute Idee«, sagte Betty. Sie konnte Walter gut leiden. »Schön, wenn es nichts mehr zu besprechen gibt, stellt jemand den Antrag, die Sitzung zu beenden?« »Moment noch. Es gibt noch eine Jagdneuigkeit«, sagte Sister und verdrehte die Augen himmelwärts, als wollte sie ein himmlisches Wunder verkünden. »Alice Ramy lässt uns durch ihr Land.« Just in diesem Moment wurden sie von einem gewaltigen Donnerschlag erschreckt. »Kommt wie gerufen.« Sister lachte. Das Licht flackerte, dann fiel der Strom aus. »Ich habe Kerzen, keine Sorge.« Frances eilte aus der Küche herbei; Ralph zündete die hübschen Sturmlaternen auf dem Kaminsims an. »Wie hast du das geschafft?« Betty war bass erstaunt. 151
»Stell dir vor, ich habe gar nichts gemacht. Wenn wir es irgendwem zu verdanken haben, dann unserem ehemaligen Vereinsmitglied Guy Ramy. Aufgrund der Erinnerung an ihn hat seine Mutter ihre Meinung geändert.« Hierauf wurde es ganz still. Schließlich sagte Ken: »Das ist ja großartig. Ich finde, jedes einzelne Vorstandsmitglied sollte sich die Mühe machen, Alice zu besuchen und sich persönlich bei ihr zu bedanken.« »Hört, hört!« Bobby klopfte mit seinem Hammer leicht auf den Tisch. »Eine ausgezeichnete Entwicklung. Eine ausgezeichnete Idee.« Ein Blitz, ein weiterer Donnerschlag und ein Regenguss fielen vom Himmel. »Ich kann mich nicht erinnern, wann wir mal so viele Gewitter hatten. Ein komisches Jahr ist das«, sagte Ralph. Er riss ein Streichholz an und zündete noch mehr Kerzen an. Alle sprachen über das Wetter, über Alice und hiesige Ereignisse; Betty und Sister halfen Frances, die Speisen aufzutragen. Ralph eröffnete die Bar.
Als alle ein Glas in der Hand hatten, zog Ralph ein Flachmannetui hinter der Bar hervor. »Wollt ihr mal sehen, was meine reizende Frau mir gekauft hat?« Bobby Franklin nahm es in die Hand; das englische hellbraune Leder fühlte sich kühl an. Er schob den Daumen unter den kleinen Metallknopf und schnippte die Lederschlaufe auf, die den Verschluss schützte. Vorsichtig nahm er den Flachmann mit dem silbernen Deckel heraus. Er hielt das Glas ins Kerzenlicht, stieß einen Pfiff aus und sagte: »Mundgeblasen.« »Lass mal sehen.« Ken nahm den Flachmann in die Hand. »Sogar mit deinem Monogramm.« »Frances denkt an alles«, prahlte Ralph. »Großartige Frau«, sagte Ronnie anerkennend. »Nur einmal hat sie einen Fehler gemacht.« »Welchen?« Ralph runzelte die Augenbrauen. 152
»Dich zu heiraten«, sagte Ronnie und lachte. Während sie aßen, sich unterhielten und scherzten, sagte Betty zu Sister: »Morgen jagen wir sicher nicht.« »Es wird sich aufklären.« »Das sagst du immer.« Betty tupfte sich mit einer Leinenserviette den Mund ab. »Frances macht die besten gefüllten Eier. Sie hütet das Rezept wie ihren Augapfel.« »Die Hunde gehen raus, solange kein Monsun ist.« Es war aber einer. Also blieben die Hunde im Zwinger, und Sister erledigte endlich ihren überfälligen Lebensmitteleinkauf. Sie wusste, bei dieser Luftfeuchtigkeit würde die Jagd am Samstag rutschig werden, aber die Wittrung dürfte sich halten. Sie konnte es nicht erwarten.
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A
ztecs Ohren schnellten vor und zurück. Obgleich er über ein Gesichtsfeld von
nahezu 360 Grad verfügte, konnte er wegen des anhaltenden Nebels kaum weiter als einen Meter vor seinen wohlgeformten Nüstern sehen. Sich auf sein Gehör verlassend, erkannte er, dass die Hunde vor ihm, die eine leichte Duftspur verfolgten, sich schwer taten, an der Spur zu bleiben. Er wusste, die Wittrung hätte phantastisch sein sollen, sie war es aber nicht. Die Fuchsjagd ist ein demütigender Sport und die Natur ein unbeständiger Partner. Sister horchte auf die Hunde, auf Shakers Stimme, auf das Horn und auf die Pferde hinter ihr. Sie konnte sich nicht zu schnell vorwärtsbewegen, weil das Feld, an diesem Morgen vierundzwanzig Personen stark, in der Nebeldecke auseinandergefallen wäre wie Kegel beim Bowling. Die meiste Zeit ritten sie im Schritt oder Trab. Wenn die Hunde auf eine heiße Spur stießen, musste Sister sich auf ihre Kenntnis des Reviers
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verlassen, um Schritt zu halten, ohne dass Leute verloren gingen oder gegen eine Scheune liefen. Der Nebel hing über ihnen und wollte sich nicht auflösen. Die Füchse, die wussten, dass es eine Vollmondnacht werden würde, waren in ihren Bauen geblieben und hatten sich in Erwartung einer lebhaften Nacht ausgeruht. Mondsüchtigkeit betraf nicht nur Menschen. Zum Glück für die Jäger hielten sich die Duftspuren von der Nacht. Die Füchse, die erst spät, gegen Sonnenaufgang, nach Hause gekommen waren, hatten frischere Spuren hinterlassen, aber noch war die Meute nicht darauf gestoßen. Betty Franklin, die auf der linken Seite ritt, bewegte sich im Schneckentempo am Ufer des Snake Creek entlang. Der Boden war durchweicht, aber sie wusste, wo sie war. Falls die Hunde richtig losliefen, wollte sie bei ihnen bleiben, bis sie entweder auf die Heuwiese etwa hundert Meter rechts von ihr gelangten oder direkt durch den Wald liefen und am unteren Rand des Maisfeldes rauskamen. Betty wusste, war sie erst einmal auf freiem Feld, würde sie die Orientierung verlieren. Sie konnte nur nach Gebell und Geläut reiten, aber letztendlich bleibt allen Pikören unter schwierigen Bedingungen nichts anderes übrig. Sybil, die einen Heidenbammel hatte, hoffte, dass sie den Hunden nicht in den Weg kam. Die Hunde waren auf der After All Farm an dem großen Haus von Sybils Eltern versammelt worden. Unter normalen Umständen würden Shaker und Sister sich mit Betty und Sybil am Zwinger getroffen und die Hunde zu Fuß hinübergebracht haben. Das hätte den Hunden Zeit gegeben, sich zu gewöhnen, den Pferden und Menschen hätte es Zeit gegeben, sich aufzulockern, aber das hatte der Nebel verhindert. Stattdessen waren die Hunde in den Hundeanhänger geladen und zur After All Farm gefahren worden. Der Wagen parkte beim Stall. Sybil war in dieser Gegend geboren und aufgewachsen, aber der Nebel verwandelte die gewöhnlichsten Dinge in ungewöhnliche. 153
Sie fuhr erschrocken zusammen, als die überdachte Brücke vor ihr auftauchte wie der klaffende Mund der Maske der Tragödie. Ihre Angst übertrug sich auf Marquise, ihr Pferd, das zur Seite sprang. »'tschuldigung, Schätzchen.« Sie klapperten über die Brücke. Sie vermutete Betty vorn. In einer Situation wie dieser wäre Betty auf der Unken Seite vorneweg und Sybil auf der rechten Seite hinterhergeritten. Sybil hörte die Hunde vor ihr am Bachbett entlanglaufen. Sie hatte keine Ahnung, wo das Feld war, sagte sich aber, dass Sister sich in dieser Gegend noch besser auskannte als sie selbst. Sister hatte fünfundzwanzig Jahre mehr gehabt, um das Land zu erkunden. Sie erklomm den niedrigen Hang, wobei kleine Steine hinter ihr den rutschigen Lehm hinunterrollten. Bei den Gräbern von ihrer Schwester und Peppermint hielt sie an. »Nola, du hättest heute deinen Spaß gehabt.«
Sie hatte noch nie zu einem Grab oder einem toten Menschen gesprochen und kam sich ein bisschen dämlich vor, aber tief in ihr hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass Nola nahe bei ihr war. Nicht nur ihre sterblichen Überreste, sondern auch ihr Geist. Und dieser Geist liebte sie. Sicher, als sie klein waren, waren sie aufeinander losgegangen wie die Kampfhähne. Als sie Teenager wurden, hatte Sybil ihren Groll auf die Schönheit und die Extrovertiertheit ihrer Schwester heruntergeschluckt. Wenn sie abends allein oben waren, war die eine oder andere über den gewienerten Flur geschlittert; die Socken hatten kaum ein Quieken verursacht. Dann saßen sie zusammen auf dem Bett, tauschten ihre Erlebnisse des Tages aus, machten sich über alle Leute lustig, betrachteten die Models in Seventeen oder Vogue und unterhielten sich endlos über Pferde. Als Ken Fawkes sich um Sybil bemühte, hatte Nola gegen Tedi und Edward zu ihr gehalten. Sie hatte sogar ihrem Vater vorgeworfen, er sei ein Snob. Ken möge zwar arm sein, aber er sei nicht dumm, und Sybil sei glücklich mit ihm. Sybil liebte 154
Nola dafür. Es hatte ihr nichts ausgemacht, dass bei ihrer Hochzeit die erste Brautjungfer unabsichtlich die Braut in den Schatten stellte. Ein schmerzlicher Stich durchzuckte sie, als sie sich wieder einmal fragte, wie wohl Nolas letzte Sekunden gewesen sein mochten. War sie verängstigt? Vielleicht. Widerspenstig? Höchstwahrscheinlich. Wusste sie, dass sie sterben würde? Sybil hoffte inständig, dass sie es nicht gewusst hatte. Vielleicht war ihr Mörder insofern gnädig gewesen, als er sie nicht gequält hatte. Vielleicht hatte er sie rasch getötet und Nola hatte nicht gemerkt, was ihr geschah. Ken sagte, sie solle nicht darüber nachgrübeln. Sie könnten die Vergangenheit nicht ändern, sondern müssten sich auf die Gegenwart konzentrieren, auf ihr gemeinsames Leben und auf ihre Söhne. Er hatte recht, aber sie konnte sich nicht davon lösen, Nolas letzten Tag in Gedanken immer wieder durchzuspielen. Es hatte sich nichts Ungewöhnliches zugetragen an jenem Tag. Die Einjagd hatte alle in Hochstimmung versetzt. Auf der Party am Abend bei den Buruss' waren sie mit Essen versorgt worden, und der Alkohol hatte sie in eine Stimmung ganz anderer Art versetzt. Nola hatte sich nicht zu ihr gebeugt und ihre »Sünden« gebeichtet. Nola vertraute Sybil nicht mehr so viel an, seit sie verheiratet war. Sie sagte neckend zu ihr, sie wolle eine anständige verheiratete Frau nicht schockieren. Sie schüttelte sich. Konzentrier dich auf heute. Horch auf die Hunde. Sie fragte sich, wo das Feld war. Ken war bei ihnen. In diesem Moment ritten sie im Kriechtempo am rechten Bachufer stromaufwärts. Sogar Athena und Bitsy, die sie oft gerne beschatteten, waren auf den Dachsparren des Stalls geblieben. Warum im Nebel herumfliegen, wenn die Mäuse einem direkt unter den Krallen herumhuschten? Ralph Assumptio und Ronnie Haslip ritten Seite an Seite. Jeder, der an diesem Tag draußen war, wollte neben einem
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Kumpel reiten, die Reiter vor ihnen möglichst im Blick. Keiner sprach ein Wort. Sari und Jennifer ritten zusammen; Walter und Ken, Crawford und Marty hielten sich dicht hinter Sister, was Ken ärgerte, der meinte, Crawford stünde es nicht zu, vorn mitzureiten. Bobby und Xavier bildeten die Nachhut und taten ihr Bestes, um zu verhindern, dass die vierundzwanzig Reiter im Nebel verschwanden. Das hätte ihnen heute gerade noch gefehlt, dass jemand da draußen herumritt, die Füchse umkehrten und derjenige den Hunden in den Weg kam und sich schließlich die Seele aus dem Leib brüllte, weil er sich verirrt hatte und sich fürchtete. Tedi und Edward, ebenfalls wütend auf Crawford, weil er sich vorgedrängt hatte, hielten sich an Ken und Walter, bis der Weg schmaler wurde. Hier gabelte sich der Bach scharf nach links, nach Nordwesten. Sie schoben sich rasch vor die zwei Männer, die dankbar nickten, »nur zu«. »Juchhe. Juchhe.« Shakers Ruf verhallte vorn. Sister wusste, sie würden bald im Maisfeld sein. Der Mais war wegen der Bodenschichtung von Nord nach Süd gepflanzt. Wenn sie dicht an der letzten Reihe bliebe, was sie auch dann tun würde, wenn sie etwas sehen könnte, würde sie auf der Farmstraße rauskommen, die zum Hangman's Ridge führte. Cora und Dragon, die von Jagdlust strotzten, wollten eine bessere Spur finden als die unterbrochene Fährte, der sie gerade folgten. »Wenn wir Charlie aus dem Bau treiben könnten, hätten wir eine super Hatz«, sagte Dragon. Charlie war Targets Sohn vom letztjährigen Wurf, der einen Bau in der Nähe hatte. »Du könntest ihn vielleicht ködern«, meinte Cora. Sie war froh, dass Asa, Diana, Dasher und die anderen dicht hinter ihnen waren. Der Nebel machte ihr nicht so stark zu schaffen wie den Menschen und den Pferden, weil sie sich selbst bei klarem Wetter auf ihren Geruchssinn verließ. Dennoch ist es stets beruhigend, wenn man seine Umgebung sehen kann. 155
Vor Charlies Bau war frische Erde verstreut, weil er Hausputz gemacht hatte. Die Erde verströmte einen süßlichen, strengen Fuchsgeruch. Charlie, dessen Ego so dick war wie seine üppige Lunte, wünschte, dass jedes männliche Tier des Universums sein Revier respektierte. Er war sogar in Onkel Yancys Revier eingedrungen und hatte es markiert. Diese Unverschämtheit hatte eine lautstarke Lektion nach sich gezogen. Er hörte Dragon nicht nur kommen, sondern witterte den geschmeidigen Hund auch. Dragon war schon halbwegs in den Eingang gekrochen, als er merkte, dass seine Schultern für ein weiteres Vorwärtskommen zu breit waren. »Ich weiß, dass du da drin bist.« »Dass weiß doch jeder in diesem Königreich.« Charlie betrachtete sein Revier als ein Königreich. Er hatte eine wahrhaft feudale Gesinnung.
»Liefer uns eine Hatz. Ich geb dir einen Vorsprung. Ich lass dich bis auf die andere Seite vom Maisfeld laufen, einverstanden?« »Ich trau dir nicht weiter über den Weg, als ich eine tote Maus werfen kann.« Charlie, der sehr von sich eingenommen und darauf erpicht war, Dragon eins auszuwischen, schlich aus seinem rückwärtigen Ausgang. Das Hinterteil noch in die Luft gestreckt, bellte Dragon weiter zum Vordereingang hinein. Er brauchte fünf Minuten, bevor er merkte, dass er reingelegt worden war. Dann senkte er die Nase zum Boden. »Heiß! Heiß! Ich hab recht.« Sein voller Bariton hallte durch den Wald, umso tiefer, als der Hund vom dichter werdenden Nebel verschluckt wurde. Die übrigen Hunde sausten zu Charlies Bau. Dasher erkannte Dragons Pfotenabdrücke. Er folgte sowohl den Abdrücken als auch seiner Nase zu der Ausgangsöffnung. Seine Schwester war direkt hinter ihm. Er sagte es leise, dann sagte sie es lauter: »Sie ist gut!« Cora rief den anderen zu, die durch den Nebel sprinteten: »Heiße Spur! Heiße Spur!« »Schnell, Hunde, beeilt euch«, ermunterte Asa sie. »Alle dran. 156
Wir wollen alle dran sein.« Dann flüsterte er Diana zu: »Besonders in dieser Erbsensuppe.« Sekunden später waren die Hunde vor Charlies Bau zusammengelaufen, nahmen die Fluchtspur auf und folgten ihr in rasendem Tempo. Sie hörten Dragon vielleicht vierhundert Meter weiter vorn, zu weit vorn. Charlie, der schnell und tief am Boden rannte, wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Dragon bringen. Shaker konnte nichts sehen, aber er blies »Gone away«, als er Dragons Stimme erkannte, dann Coras, Dianas, Asas und die Stimmen der Junghunde, die gleichermaßen jaulten und bellten. Das klang für ihn nach der vollzähligen Meute. Er hörte keine Nachzügler. Das erste Problem war, durch den Wald, über das Hindernis im Zaun und durch das Maisfeld zu gelangen, um zu seinen Hunden aufzuschließen. Wie den meisten Meuteführern war ihm Courage angeboren, aber er war alt genug, um keine Dummheit zu machen. An diesem Tag war es geboten, Gunpowder sich seinen Weg suchen zu lassen. Shaker verließ sich mehr auf sein Pferd als auf sich selbst. Betty, die schon im Maisfeld war, da sie die Geistesgegenwart besessen hatte, weiterzureiten, während die Hunde an der alten Fährte waren, kanterte durch eine Maisreihe, dass die langen grünen Blätter raschelten. Sie wusste, ihr konnte nicht viel passieren, wenn sie in einer Reihe blieb. Als sie das Feld hinter sich hatte, Heß sich der alte Zickzackzaun zwischen dem Maisfeld und der Farmstraße selbst im Nebel leicht überspringen. Das konnte man von dem Hindernis zwischen dem Wald und dem Maisfeld nicht behaupten. Shaker und Gunpowder fanden und bewältigten es, weil Gunpowder mit seinen ausgreifenden Schritten und dem Elan eines Vollblüters zwei Schritte trabte und mühelos im Bogen hinübersetzte.
Sister hörte die Hunde, dann das Horn. Sie war weiter zurückgefallen, als sie gedacht hatte. 157
Auch Sybil wurde aus ihrer Träumerei gerissen. Sie ließ Nolas Grab hinter sich und setzte ihren Weg an dem niedrigen Hang fort, aber sie wusste, sie war überholt worden. Im Moment nützte sie dem Meuteführer gar nichts. Sie verfluchte sich und dann den Nebel, als sie versuchte, Boden gutzumachen, ohne sich den Hals zu brechen. Sister hielt sich dicht am Bachbett und überquerte den Bach, wo glatte Steine ins Wasser führten und der Snake Creek in den Broad Creek mündete. Der Untergrund, obwohl rutschig und tief, war hier besser. Aztec, dessen hellbraunes Fell in dem seltsamen gedämpften Licht eigenartig durchscheinend aussah, gelangte an dieser Stelle des Baches problemlos ans andere Ufer. Als Sister sich umdrehte, um nachzusehen, ob Tedi Bancroft, die jetzt hinter ihr ritt, es auf die andere Seite geschafft hatte, sah sie niemanden. Und sie konnte Tedi nur hören, als sie neben ihr auftauchte. »Wr müssen uns ranhalten, Tedi.« Edward kam aus dem Nebel gestürmt, zog dann heftig die Zügel an und blieb abrupt stehen. »Verzeihung, Master.« »Man kann die Hand nicht vor Augen sehen. Ich habe eben zu Tedi gesagt, wir müssen uns ranhalten und das Beste hoffen.« Sie formte die Hände zu einem Trichter. Normalerweise sprach sie während der Hatz nicht viel, aber die Hunde waren weit voraus und würden nicht die Köpfe heben, und auch kein Fuchs würde zur Umkehr veranlasst. »Wenn ihr mich hören könnt, achtet auf Hufschläge. Wir müssen hier weg. Wenn ihr keine Hufschläge hören könnt, reitet nach Gebell.« »In Ordnung«, rief Walter zurück. Bobby, der die Nachhut bildete, hatte die Vision, Leute aufzulesen wie verstreute Krocketkugeln. Aber er war Fuchsjäger, und Fuchsjäger bleiben bei den Hunden. Sister trabte voran, erspähte einen Felsvorsprung, dessen rote Äderung in der feuchtigkeitsschwangeren Luft glänzte wie Blut. Eigenartig. Links von dem Felsen zweigte ein schmaler Pfad ab, auf dem sie schneller zu dem Hindernis gelangen 157
würde, als wenn sie auf dem breiteren Weg bliebe. Sie beschloss, es zu riskieren. Sie gab Schenkeldruck, worauf Aztec seinen Trab verlängerte; er hatte einen schwebenden Trab, eine Wohltat für ihren alten Rücken. Sein Schweif war nicht hochgeschlagen worden, eine Verrichtung, die vor der Eröffnungsjagd ausgeführt würde. Sie duckte sich tief, das Gesicht an Aztecs muskulösem Hals. »Pass auf mich auf, mein Schatz.« »Kinderspiel«, schnaubte er. Ralph, Xavier, Walter und Ronnie preschten links an dem Felsen vorbei; die Hufschläge vor ihnen verklangen. Wortlos nahmen sie ihren Weg. Hinter ihnen
kamen Ken, Jennifer und Sari, aufgeregt wegen des vollen Geläuts der Hunde und der wilden Hatz an diesem Morgen. Bobby trieb die Nachzügler zusammen. Genügend Leute hatten sich an Crawford vorbeigeschoben, sobald sich ihnen die Chance bot, so dass er und Marty in der Mitte der Gruppe ritten, was ihm gar nicht passte. Er wollte heute so gern direkt hinter der Jagdherrin reiten, der begehrtesten Position im Feld, aber er konnte sich dort nicht behaupten. Er ritt einfach nicht gut genug. Czapaka, ein großer Warmblüter und nicht so behände wie einige andere, kleinere Pferde, kämpfte sich durch den schmalen Pfad; ein tief hängender Kiefernzweig schlug Crawford ins Gesicht, was ein Eichhörnchen auf dem Baum aufstörte. »Pass doch auf«, schnatterte das Eichhörnchen. »Du bist doch bloß eine Ratte mit mehr Fell«, rief Czapaka über die Schulter, was das Eichhörnchen bewog, Kiefernzapfen auf die nachfolgenden Reiter zu werfen und aus Leibeskräften zu kreischen. Eichhörnchen sind nicht gerade für emotionale Selbstbeherrschung bekannt. Sister verließ den überwucherten Pfad. Der Zaun musste zwanzig Meter vor ihr sein; Jimmy hielt alle Zäune in Schuss. Dieser Zaun bildete die Grenzlinie zwischen der After All Farm und der Roughneck Farm; der Broad Creek durch 2 158 schnitt, in südlicher Richtung verlaufend, beide Anwesen. Die alte Begrenzung war 1791 mit quadratischen Steinen errichtet worden, als die ursprünglichen Landzuweisungen aufgeteilt wurden. Die Steine hielten bis heute. Sister verlangsamte. Sie wollte nicht in den Zaun hineinrennen, auch wusste sie, dass Aztec, der hochtalentierte, einfach abheben und über den Zaun setzen würde. Sie hielt es für unklug, jemanden von den Reitern hinter ihr aufzufordern, ihrem Beispiel zu folgen. Das Hindernis, hatte sie es erst gefunden, erforderte Besonnenheit. In der Ferne hörte sie Dianas Stimme und Coras Belcanto: »Saust! Saust! Saust!« und die anderen Hunde im Chor: »Ja!« »Wo ist das verdammte Hindernis?«, flüsterte sie. Sie wollte unbedingt zu ihren Hunden. Ein schwärzlicher Schemen unterbrach den Zaun. »Da ist es.« Aztec beschrieb einen Bogen nach rechts, schwenkte dann mit langen, fließenden Schritten nach links, traf die Stelle vor dem Hindernis perfekt; die vom Regen durchweichte Erde patschte unter seinen Hufen. Wegen des Untergrunds legte er sich besonders mächtig ins Zeug, sprang höher als nötig über das Hindernis, worüber Sister lachen musste, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass er so hoch springen würde. Er war noch jung und neigte dazu, es beim Springen etwas zu übertreiben. »Braver Junge.« Sie klopfte ihn auf den Hals.
Hinter sich hörte sie Tedi landen, dann Edward, beide wie immer auf herrlichen Pferden. Sie wandte sich wieder nach links, an der Vorderseite des Maisfeldes entlang. Shaker war im Maisfeld, hinter seinen Hunden. Betty war jetzt auf der Farmstraße und wartete, dass die Hunde wie kleine Geister zwischen den schnurgerade bepflanzten Reihen erscheinen würden. Sie hörte Shakers helles »Juchhe«. Hätte er vor, umzukehren oder die Hunde zurückzurufen, würde sie das Horn hören, die drei oder vier durchdringenden, gleich langen Töne. 159 Betty hoffte, dass Sybil auf der anderen Seite des Maisfeldes war. Sie konnte nichts sehen und tröstete sich damit, dass auch die anderen nichts sehen konnten. Der Großteil der Meute lief jetzt dreißig Schritte hinter Dragon. Delia, die das Schlusslicht bildete, war fünfzig Schritte hinter ihm. Charlie übersprang den Zickzackzaun und lief direkt zwischen Oudaws Beinen durch, um Eindruck zu machen. »Atschbätsch«, rief er über die Schulter. Betty und Oudaw, beide zu Tode erschrocken, mussten sich eine Sekunde lang fassen, dann lachte Betty. Dieser Fuchs, so eine Frechheit. »Outlaw«, flüsterte sie. »Halt ganz still. Die ganze Meute wird direkt unter uns durchrennen.« Seine Ohren zuckten vor und zurück. »Okay.« Zwei Minuten lang geschah genau das, danach sprang Betty über den Zaun auf der anderen Seite der Farmstraße und wurde vom Nebel verschluckt. Sie wollte zur Obstwiese. Hätte sie etwas sehen können, würde sie Oudaw in dem Moment, als Charlie zwischen seinen Beinen durchlief, die Sporen gegeben haben, aber sie konnte ja nichts sehen. Ihr war es klüger erschienen, die Hunde durchstürmen zu lassen; auf diese Weise würde niemand zu Schaden kommen, und sie konnte dann die Abkürzung über die Obstwiese nehmen. Sister, deren Gesicht nass war von den Maisblättern, hörte das Flapflapflap hinter sich, als die Blätter den anderen Reitern ins Gesicht schlugen. In den Mais ducken ging nicht; Feuchtigkeit lastete auf den seidigen roten Quasten. Sie fühlte sich klamm. Die Luft war schon nicht mehr feucht, sondern geradezu nass. Dann spürte Sister die ersten Nieselregentropfen. Sie stürmte aus der Maisreihe und setzte über den Zickzackzaun; die Hufe versanken auf der Farmstraße in dem jetzt zähflüssigen roten Lehm. Sie hörte weit voraus Shakers Signal. Ehe sie sich's versah, hatte sie den Zickzackzaun auf der an 159
deren Straßenseite übersprungen und ritt geradewegs auf die Obstwiese. Die Luft war erfüllt vom Duft der beinahe pflückreifen Äpfel.
Die Stimmen der Hunde verstummten plötzlich. Trident flüsterte: » Was ist los?« Diana sagte: »Wir haben die Spur verloren.« Dragon knurrte wütend: »Ich war direkt hinter ihm! Er muss hier sein!« Shaker ritt zu den Hunden. »Sucht, sucht.« Gehorsam senkten alle Hunde die Nasen zum Boden, fanden aber nichts. Eine Junghündin wollte direkt hinter der Leithündin mitlaufen, aber Cora verwies sie auf ihre Position. »Aber hier ist sie gut«, winselte Rassle. »Ich weiß, aber du verfolgst sie zurück. Du musst vorwärts dran-bleiben«, bestätigte Diana Coras Korrektur. Das Feld holte schließlich auf. Betty blieb auf der anderen Seite der Obstwiese, weil Shaker nicht zum Sammeln geblasen hatte. Sybil war am Fuß vom Hangman's Ridge; sie hatte gewendet und schließlich ihren Weg gefunden, indem sie zuerst dem Bachbett gefolgt und dann auf der Nordseite des Maisfeldes ausgekommen war. Sie folgte im Nebel und Nieselregen einer Maisreihe zur Farmstraße am Fuß des Hügels. Sister ritt zu Shaker. »Ich denke, wir lassen es für heute genug sein.« »Verdammt, wie konnte er uns so durch die Lappen gehen!« »Ich weiß nicht. Es ist wie Zauberei. Aber der Nebel will sich nicht lichten. Er wird eher dichter, Shaker, und meine eingebaute Wetterwarte«, sie klopfte auf ihr Schlüsselbein, das sie sich in den siebziger Jahren gebrochen hatte, »sagt mir, dass aus dem Nieselregen bald ein Wolkenbruch wird.« »Okay.« Er setzte das Horn an den Mund und blies seine Pi-köre zum Sammeln. »Gott sei Dank«, dachte Betty. Sie bahnte sich ihren Weg durch den Nebel zur Obstwiese. 160
Betty verstand nicht, wie Charlie seine Spur hatte abbrechen können. Wenn er in einen Bau geschlüpft wäre, hätten sie es gemerkt. Aber er war verschwunden. Spurlos. Sister wandte sich dem Feld zu. Die Leute standen dicht beisammen, heilfroh, dass sie die Nebeljagd, als die dieses Ereignis in die Annalen eingehen sollte, überstanden hatten. »Leute, das war's für heute. Es war kein leichtes Unterfangen, aber aufregend.« Sie wandte sich an Edward. »Würdest du die Leute nach Hause begleiten? Ich denke, Aztec und ich bringen die Hunde zu Fuß in den Zwinger. Wir kommen dann zurück und holen den Hundetransporter ab.« »Ich bringe die Leute gerne zurück.« Edward tippte mit seiner Gerte an den Rand seiner Kappe. »Shaker, bist du so weit?« »Du hast meine Gedanken gelesen.«
»Sybil«, wandte sich Sister an die durchnässte Sybil, die soeben zu ihnen gestoßen war, »Shaker, Betty und ich bringen die Hunde rein. Du kannst mit den anderen zurückreiten.« »Danke.« Nachdem jeder, der im Feld ritt, »Gute Nacht, Master« gesagt hatte und losgeritten war, wandte Sister sich den Hunden zu. Edward führte die Reiter über die Zickzackzäune zurück und folgte dem Rand des Maisfeldes. Tedi ritt vorn bei ihm. Die Leute bemühten sich, in Sichtweite voneinander zu bleiben. Der Nebel, jetzt zinngrau, bestand aus wirbelnden Tröpfchen. Die Leute wollten das letzte Hindernis zur After All Farm überspringen, obwohl es kaum zu sehen war, bis man es direkt vor sich hatte. Ralph Assumptio, Stiefel an Stiefel mit Xavier, reichte seinem alten Freund seinen Flachmann. »Weißt du was? Lass uns am Zaun entlangreiten und das Gatter suchen. Alles andere ist doch Blödsinn. Wir haben die ganze Jagdsaison noch vor uns, und ich für mein Teil möchte während der Einjagd nicht auf den Hintern fallen.« 161
Xavier ließ sich den exzellenten Portwein in Ralphs Flachmann schmecken. »Recht hast du, mein Freund.« »Ganz meine Meinung«, rief Ken vor ihnen, den sie allerdings nicht sehen konnten. »Meine auch«, stimmte Sybil ein. Der Schall narrte sie im Nebel. »Ron, bist du noch da?«, fragte Xavier. »Rechts von dir.« Ron gab seinem Pferd sanften Schenkeldruck, worauf es vorwärtsging. Die zwei wirkten geisterhaft im wirbelnden Nebel. Ralph reichte Ron seinen Flachmann, dann fragte er Xavier: »Was hast du in deinem?« »Schnaps.« Ralph rümpfte die Nase. »Du hast das Zeug da drin, damit keiner von uns dir was wegtrinkt.« »Es schmeckt mir.« Kens Stimme schwebte zu ihnen: »Xavier, gib's zu.« »Zugeben? Was? Ich mag Schnaps. Und Süßigkeiten. Mein Taillenumfang ist der Beweis. Sybil, wo bist du überhaupt? Hoffentlich nicht bei deinem Mann. Der Sinn der Fuchsjagd liegt darin, sich von seinem Ehepartner zu trennen.« Er kippte einen Schluck Schnaps hinunter. »In Grenzen natürlich.« »Ich bin links von dir«, rief sie. Ken lachte. »Xavier, setz meiner Frau keine Flausen in den Kopf.« Sie hörten ein Scheuern vor dem Hindernis. Die Hinterhufe eines Pferde scheuerten buchstäblich an dem Sprung. »Wenn ich mich recht erinnere, ist das Gatter vielleicht zweihundert Meter weiter unten, die Gegenrichtung zum Haus, aber wir können ja am Zaun endang
zurückreiten, wenn wir durch das Gatter sind.« Ron reichte Ralph seinen Flachmann. Ralph rollte seine Schultern vorwärts und rückwärts und antwortete: »Schön, so machen wir's. Es ist so verdammt ungemütlich hier draußen.« 162
Kens Stimme drang wieder zu ihnen. »Ich geh als Erster. Lasst uns hintereinander reiten, und seht zu, dass ihr das Pferd vor euch im Blick behaltet.« Ron näherte sich dem Zaun oder vielmehr dem, was er für den Zaun hielt. »Ich höre niemanden vor uns.« »Müssen wohl alle drüber sein.« Xavier ergriff die Zügel. »Oder sie haben nicht gemerkt, dass sie das Hindernis verfehlt haben.« Ron lachte. »Dann hätten wir Schreie gehört«, rief Ken, dessen Stimme sich immer weiter entfernte. »Sybil, wo bist du?«, fragte Ron. »Ich bilde die Nachhut.« »Ich nehm dich beim Wort.« Ralph hatte die Stimme erhoben, damit Sybil ihn hören konnte, aber der Nebel trug die Töne eigenartig; leise Töne wurden verstärkt. »Ich bin hier«, rief sie beruhigend zurück. Schweigend ritten sie ein paar Minuten weiter. Das Patschen der Pferdehufe unterstrich den zunehmend trüben Tag. Ein leises Flüstern an seinem Ohr veranlasste Ralph, sich kerzengerade im Sattel aufzurichten. Es hörte sich an wie: »Ich bring dich um.« »Was hast du gesagt?« Auch Xavier hatte das Flüstern gehört. »Nichts«, antwortete Sybil, die durchnässt war und fror. Ralph, den Zaun zu seiner Rechten, hörte jetzt: »Ich weiß, dass du es warst.« Er konnte die Stimme nicht recht erkennen. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Ron drehte sich im Sattel um. »Wo ist das verdammte Tor?« Xavier grummelte: »Keine Ahnung.« Ken rief: »Zusammenbleiben.« »Wir sind hinter dir«, rief Ron zurück. »Bloß langsamer.« »Gatter, bitte.« Ken sprach das traditionelle Fuchsjagdkommando, mit dem der Letzte in der Reihe angewiesen wurde, das Gatter zu schließen. Ralph glaubte, er sei zwischen Ron und Xavier, aber er konnte sie nicht mehr sehen. 162
Ron passierte das geöffnete Gatter. »Sybil, Gatter, bitte«, rief er laut. »Okay«, antwortete sie. Ihre Stimme klang weit entfernt. Die Stimme flüsterte Ralph wieder ins Ohr. »Zeit, Heißsporn Gesellschaft zu leisten.« Ralph gab mit dem rechten Bein Schenkeldruck, und sein Pferd schwenkte nach links. Er passierte das Gatter nicht, sondern türmte durch das Maisfeld davon.
Ron hörte ihn fortreiten. »Scheiße, was geht hier vor?« Xavier schnalzte seinem Pferd zu und holte Ron ein. »Was geht hier vor?« »Das hab ich mich auch gerade gefragt.« Ron runzelte die Stirn. »Ralph!« Keine Antwort. »Sybil?« »Ich bin hier.« Sie tauchte aus dem Silbergrau auf. »Was geht hier vor?«, fragte Ron wieder. »Keine Ahnung.« Sybil zuckte die Achseln. »Ralph ist nicht da«, rief Ron. »Ken!« »Jaha«, rief Ken aus unbestimmbarer Entfernung zurück. Xavier beugte sich vor. »Hört mal, wir verirren uns noch hier draußen. Lasst uns lostraben. Je eher wir zurückkommen, desto besser.« »Ja, aber wo ist Ralph?« Ron, der jetzt richtig besorgt war, deutete mit seiner Gerte auf Xavier. »Weiß ich nicht.« Xavier schlug Rons Gerte mit seiner eigenen weg. »Weswegen machst du dir Sorgen? Soviel wir wissen, ist er vor uns. Vielleicht ist er vor Ken.« »Wir können ihn nicht allein lassen.« »Kehrt ihr zwei um. Ich kenn mich hier aus. Ich geh ihn suchen«, erklärte Sybil ruhig. »Sybil, wir können eine Dame hier draußen nicht allein lassen. Ich sag dir, ein Gewitter zieht auf.« »Betrachte mich nicht als Dame. Betrachte mich als Pikörin und denk dir, ein Hund hätte sich verirrt. Dann wäre ich auch draußen. Wenn du Ken siehst, sag ihm einfach, ich komm später, und er soll sich keine Sorgen machen. Wenn das Wetter 163
mies wird, stell ich mein Pferd bei Sister ein.« Damit verschwand sie im Nebel. »Sybil! Sybil!«, rief Ron. Dann hörten sie einen leichten Schlag an dem Hindernis. »Sie nimmt die falsche Richtung.« Xavier stöhnte, er hatte die ganze Angelegenheit gründlich satt. »Komm weiter, Ron.« »Irgendwas stimmt da nicht. Ich finde, wir sollten die zwei nicht verlassen.« »Ralph? Wir wissen doch gar nicht, wo er ist, und Sybil hat recht, sie kennt sich in dieser Gegend aus, auch wenn sie in der falschen Richtung unterwegs ist«, sagte Xavier. Ron kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du, dass es Sybil war, die eben den Sprung genommen hat?« »Schau, alter Kumpel, ich geb ja zu, dass hier verrückte Dinge passiert sind. Aber vielleicht hatte Ralph es satt, durch den Nebel zu schleichen. Vielleicht ist er losgeprescht und ist jetzt schon fast bei den Anhängern.« »Er hat die entgegengesetzte Richtung genommen. Ich hab gehört, wie er durch den Mais geritten ist.« »Wie das?«
Ron schüttelte seinen Reithelm, weil ein Regentropfen auf den Samtbezug schlug. »Ich hab die Halme gehört, die Blätter, verstehst du, die langen Blätter. Ich hab gehört, wie sie gegen ihn schlugen.« Xavier saß eine Weile schweigend, dann fragte er: »Hast du sonst noch was gehört?« »Bloß das Scheuern am Zaun, als Sybil gesprungen ist. Wäre sie mal lieber zu Sister nach Hause geritten.« »Wir müssen zurück. Wir müssen. Wir können nichts tun, um zu helfen. Es fängt bald an zu regnen. Es regnet schon.« Xavier sah auf das dunkler werdende Grau. Der Regen nieselte ihm ins Gesicht. »Wenn sie dort nicht sind, dann können wir uns Sorgen machen. Komm jetzt.« Zögernd passierte Ron das Gatter, wartete, bis Xavier durch war, dann beugte er sich von seinem gutmütigen, geduldigen 164
Pferd herunter und schloss das Gatter, indem er den wie ein Komma geformten Metallriegel durch den Stahlring fallen ließ. Ralph galoppierte durch den Mais. Sein Gesicht war nass, die breiten, flachen Maisblätter schlugen gegen ihn. Er glaubte, hinter sich Hufschläge zu hören. Als die ersten Regentropfen platschten, erreichte er die Farmstraße. Hätte er sich besser in der Gewalt gehabt, wäre er wohlweislich nach links geschwenkt, auf die Obstwiese gesprungen und zu Sisters Stall geritten, ein vielleicht fünfzehnminütiger Trab. Aber panische Angst hatte ihn ergriffen, er lenkte sein Pferd nach rechts und hielt auf den Hangman's Ridge zu. Inky, in ihren Bau gekuschelt, hörte ihn vorbeireiten. Fünf Minuten später hörte sie wieder Hufschläge, aber dieses Pferd rannte nicht. Dieses Pferd ging im gemächlichen Trab. Wegen des scheußlichen Wetters hielt ihre Neugierde sich in Grenzen. Sie ging nicht hinaus, um zu sehen, was da los war. Ralph, schwer atmend, die Augen geweitet, übertrug seine panische Angst auf sein Pferd, als er das Tier nach rechts oben drängte. Sie gelangten auf das flache Plateau vom Hangman's Ridge. »Scheiße.« Ralph schüttelte den Kopf. Er hatte nicht hier heraufkommen wollen, aber sein Geist war getrübt. Mit zitternden Händen griff er nach seinem Flachmann, ließ die Lederhülle, die glitschig geworden war, aufschnappen und nahm den schweren Flachmann aus mundgeblasenem Glas heraus. Er schraubte ihn auf und goss den gesamten Inhalt in sich hinein. Es brannte wie Feuer in seiner Kehle und in seinem Magen. Er atmete tief durch. Den Flachmann umklammernd, ritt er zu der mächtigen Eiche, ohne auf das warnende Schnauben des Pferdes zu achten, das Gefahr viel besser einschätzen konnte als er. »Trooper, nimm dich zusammen«, befahl Ralph, dessen Geist gestärkt war dank jenes Geistes, den er sich einverleibt hatte. 164
Der gewaltige nass glänzende Baum ragte aus dem Nebel. Ein Kreischen erschreckte Trooper dermaßen, dass er scheute und mit allen vier Füßen in die Luft sprang. Ralph landete mit einem Plumps auf der Erde, der Flachmann rollte über das nasse Gras. Trooper machte kehrt und flüchtete zur Farmstraße. Das Pferd roch ein anderes Pferd, das auf dem schmalen Wildpfad an der Seite des Hügels hinaufkam. Trooper machte keine Anstalten zu wiehern. Er senkte den Kopf und rannte, als hinge sein Leben davon ab. Die Steigbügel schlugen ihm in die Flanken. Ralph stand fluchend auf. Erst dann sah er - oder glaubte zu sehen - den hängenden Leichnam von Lawrence Pollard; die feine Spitze an seinen Ärmeln triefte von Nässe. »Und an Gebärden als ein Mensch gefunden, erniedrigte er sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz«, zitierte Lawrence die Philipper, zweites Kapitel, Vers acht. Dann stöhnte er: »Gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode an einem Galgenbaum.« Der Wind, der auf dem Hügelkamm ständig blies, trug seine Stimme davon. Ralph, dem der Schweiß übers Gesicht lief und dessen Hände klatschnass waren, wich von dem Baum zurück. Er machte kehrt, um seinem fliehenden Pferd zu folgen. Er rannte, schlitterte, rutschte, fiel, rappelte sich hoch - und rannte geradewegs in ein neues Schrecknis hinein. »O Gott«, schluchzte Ralph. »Den wirst du eher sehen als ich.« Im Zwinger nahmen Sister und Shaker den Hunden, die auf der Jagd gewesen waren, die Halsbänder ab. Danach würden die Rüden auf ihre Seite des Zwingers gebracht werden, die Weibchen auf die andere Seite. So war es Master und Meuteführer möglich, jeden einzelnen Hund zu untersuchen und sich zu vergewissern, dass keine Pfoten verletzt, keine Ohren von den tödlichen Dornensträuchern Virginias geritzt worden waren. 165
Ein Knall ließ Hunde und Menschen aufsehen. »Was war das?« »Kein Mensch zielt heute mit einem Gewehr«, sagte Shaker. Seine Hände hingen schlaff an den Seiten. Er blickte nach Norden. »Der Schall narrt einen bei diesem Wetter. Könnte eine Fehlzündung auf der Soldier Road gewesen sein«, meinte Sister ohne rechte Überzeugung. »Kleinkaliber«, klärte Asa sie auf. »Handfeuerwaffe«, ergänzte Diana, die Ohren gespitzt, die Nase in der Luft. Obwohl es hier im Laufgang nichts zu riechen gab, vertraute sie ihrer Nase mehr als allen anderen Sinnen. »Los, Jungs.« Shaker führte die Rüden zu ihrer Tür. »Kommt, Mädels.« Sister tat dasselbe mit den Weibchen.
Sobald die Hunde in ihrem jeweiligen Zwinger waren, gingen die zwei Menschen, ohne sich abgesprochen zu haben, aus der Vordertür des Hauptzwingers nach draußen, um zu lauschen. Weit entfernt hörten sie trabende Hufschläge. Als das Geräusch näher kam, gingen sie durch den heftiger werdenden Regen zum Stall. Drinnen waren die Mädchen mit dem Säubern des Sattelzeugs fertig. »Man kann rein gar nichts sehen.« Shaker war mulmig zumute. »Wir sind gerade rechtzeitig zurückgekommen.« In dem Moment, als Sister nach einem Handtuch griff, das an einem Sattelhaken hing, tauchte Sybil, die Trooper führte, aus dem Nebel auf. »Sybil?« »Sister, ich habe ihn auf der Obstwiese gefunden. Ich vermute, er ist allein über den Zaun gesprungen.« Der zitternde Trooper starrte die Menschen mit wildem Blick an. Die anderen Pferde, die in ihren Boxen Heu mampften, hielten inne. 166
»Mädels, bringt ihn sachte, ganz sachte in die letzte Box, sattelt ihn ab und reibt ihn trocken.« Als Trooper an den anderen vorbeiging, verdrehte er die Augen. »Ich hab den Geist gesehen. Ralph wollte nicht auf mich hören«, plapperte er immerzu. In der Hoffnung, ihn zu beruhigen, sagte Keepsake: »Da oben sind mehrere.« Sybil saß ab, Jennifer nahm ihre Zügel. »Irgendwie ist Ralph von der Gruppe getrennt worden, darum bin ich ihn suchen gegangen. Man kann aber in diesem Nebel nichts finden.« Sister meinte besorgt: »Vielleicht ist er zu Fuß unterwegs zu eurer Farm, wer weiß.« »Oder er hat sich verletzt.« Shaker sprach aus, was sie dachte. »Mädels, kümmert euch bitte auch um Sybils Pferd.« »Ja, Ma'am. Können wir Ihnen dann suchen helfen?«, fragte Sari. Sie wartete einen Moment, während ihre Gedanken rasten. »Ja. Kümmert euch zuerst um Trooper und Marquise.« Dann, leiser, als spräche sie mit sich selbst: »Trooper ist ein vernünftiges Pferd.« Shaker, dessen durchweichtes Hemd an ihm klebte, fasste Sybil am Arm. »Wann haben Sie Ralph zuletzt gesehen?« »An dem Gatter zwischen dem Maisfeld und unserem Zaun. Sehen konnte ich freilich nichts, aber dort habe ich ihn zuletzt gehört. Ken, Xavier, Ron, Ralph und ich hatten beschlossen, durch das Gatter nach Hause zurückzukehren. Man konnte das Hindernis ja nicht mehr sehen, wenn man nicht direkt davor stand. Wir wollten keine Verletzung riskieren. Aber wir haben uns aus den Augen verloren.« »Jetzt rufen wir erst mal deine Mutter an. Kann ja sein, dass alle längst gesund und wohlbehalten zurück sind.« Sister lief eilends in die Sattelkammer, dabei spürte sie im tiefsten Inneren, dass auf gar keinen Fall alles gesund und wohlbehalten war.
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nd, warum warst du heute nicht auf der Jagd?«, fragte Tedi, eine Tasse
dampfenden Kakao in der Hand, Cindy Chandler, die Besitzerin der Foxglove Farm. Die hübsche Blondine lächelte. »Ich wollte ja.« »Klar, kleiner Feigling«, spöttelte Betty Franklin, die sich an einem Kaffee mit Schuss festhielt. Sie hatte die Hunde zum Zwinger gebracht und ihr Pferd dortgelassen. Als Pikörin galt ihre Sorge den Hunden. Sister hatte nichts dagegen, dass Betty ihr Pferd bei ihr einstellte. Betty hatte Jennifers Auto zur After All Farm gefahren, weil Sister sie gebeten hatte, sie zu vertreten, während sie und Shaker den Hunden die Halsbänder abnahmen. »Nein, wirklich. Cat Dancing«, sie sprach von ihrer geliebten Stute, »und ich wollten los, aber dann haben Klytemnestra und ihr Kalb Orestes den Zaun runtergetreten und sind getürmt. Wir haben sie noch nicht gefunden.« »Cindy, kannst du die blöde Kuh nicht Bessie nennen? Muss sie unbedingt Klytemnestra heißen?« Betty sah auf die Uhr. »Gott, es ist schrecklich, für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen. Ich muss los, Geld verdienen.« Tedi überblickte ihr Wohnzimmer. »Sybil ist noch nicht zurück.« Betty runzelte kurz die Stirn. »Vielleicht ist sie im Stall.« Die Vereinsmitglieder hatten Kuchen, Kekse und belegte Brote, die sie für ein kleines Frühstück im Freien bei den Anhängern eingepackt hatten, in Tedis Esszimmer gebracht. Wie bei den meisten spontanen Geselligkeiten erwies sich diese als viel amüsanter als eine gründlich geplante Veranstaltung. Edward hatte das Feld zu seinem Stall geleitet. Da er nicht oft als Jagdleiter fungierte, hatte er es versäumt, die Häupter zu zählen. Betty kam wieder auf die vermisste Kuh und ihr Kalb zu 167
sprechen: »Hast du eine Ahnung, in welche Richtung die Kuh gelaufen ist? Spuren?« »Ich hab sie über die Soldier Road verfolgt, aber auf der Wildblumenwiese hab ich ihre Spur verloren. Dieser Nebel ist unglaublich. Ich versteh nicht, wie ihr da draußen sein konntet, ohne euch zu verirren.« »Hm, das ist eine andere Geschichte.« Betty lachte. »Wir haben uns noch nie verirrt. Bei dem zuverlässigen Jefferson-Jagdverein kommt so was nicht vor.« Ken trank seinen Kaffee; ein Schuss Irish Mist steigerte seinen Genuss ungemein, da er nass und durchgefroren war. »Es hat wie aus Kübeln geschüttet, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Deshalb bin ich nach Hause gegangen, habe heiß geduscht und bin dann hierhergekommen, um Tedi und Edward zu bitten, nach Kly und Orestes Ausschau zu halten. Ich sollte Sister wohl auch alarmieren«, dachte Cindy laut.
»Wenn der Nebel sich erst lichtet, finden wir sie. Sie ist schwer zu übersehen«, sagte Tedi. Klytemnestra, eine schwarzweiße Holstein-Kuh, war sehr unternehmungslustig. Ihre Weide, mit reichlich rotblühendem Klee und Luzernen bestückt, sollte der Kuh keinen Grund zur Klage geben, aber Kly liebte die Aufregung beim Ausreißen. Zudem war sie neugierig und wollte sehen, was sich auf anderen Farmen tat. Sie brachte ihrem Abkömmling ihre Kniffe bei. So klein er war, der Bursche nahm die Lektionen seiner Mutter eifrig auf. Ihr gemeinsamer Ausbruch im Sommer, als Sister, Walter, Shaker und Doug den neuen Doppelsprung errichteten, hatte sie nur zu weiteren Abenteuern angespornt. Die Leute brachen langsam auf. Sie sahen nach ihren Pferden in den Anhängern, dann fuhren sie los. »Hey«, sagte Betty und steckte den Kopf noch mal ins Wohnzimmer. Sie war zu Jennifers Auto gegangen und wiedergekommen. »Ralph Assumptios Anhänger steht beim Stall, aber er war nicht beim Frühstück.« 168
»Edward«, rief Tedi, worauf ihr Mann aus der Bibliothek kam. »Was gibt's, meine Liebe?« »Hast du Ralph beim Frühstück gesehen?« »Nein, ich glaube nicht.« »Ken?«, fragte Tedi ihren Schwiegersohn, der sich umziehen und ins Büro wollte. Er schüttelte den Kopf. »Nein.« »Großer Gott, er muss noch da draußen sein.« Tedi wurde blass. »Bobby war die Nachhut«, sagte Betty. »Wir erreichen ihn vielleicht im Wagen.« Sie ging in die Küche, um zu telefonieren. Tedi folgte ihr. »Oh Bobby, gut, dass ich dich erreiche. Ich bin noch bei Bancrofts. Wir können Ralph nicht finden.« »Was?« »Sein Anhänger ist hier, aber er nicht, und keiner erinnert sich, ihn beim Frühstück gesehen zu haben.« Bettys und Tedis Blicke trafen sich. »Zuletzt habe ich Ralph bei dem Hindernis zwischen dem Maisfeld und dem Wald gesehen. Er war da mit mehreren Leuten«, erinnerte Bobby sich. »Gib ihn mir mal.« Ken nahm Betty den Hörer aus der Hand. »Hey, Bobby. Ronnie, Xavier, Ralph und ich haben was getrunken, während die anderen den Sprung nahmen. Sybil war auch bei uns. Da hab ich ihn zuletzt gesehen. Bist du sicher, dass er nicht zurückgekommen und mit jemand anders nach Hause gefahren ist? Vielleicht hat er sein Pferd bei denen in den Anhänger geladen?« »Nein.« Bobby war schrecklich zumute. Es war seine Aufgabe, Nachzügler heimzubringen. Auch Edward fühlte sich verantwortlich. »Ralph würde seinen Anhänger nie hier stehen lassen, ohne zu fragen«, sagte Tedi, die jetzt ernstlich beunruhigt war. Während Ken mit Bobby sprach, klingelte es auf der anderen Leitung. Ken ließ Bobby warten und hörte Sisters Stimme.
»Ist Ralph da?«, fragte sie. 169
»Nein. Wir haben es eben bemerkt. Ich hab Bobby in der anderen Leitung.« »Wr müssen ihn suchen. Ich schicke Sybil zum Snake Creek, wo er in den Broad Creek mündet. Sie soll dem Bach bis zu eurer überdachten Brücke folgen. Ralph wird so klug sein, sich an den Bach zu halten. Gib mir mal Betty.« »Lass mich Bobby tschüss sagen.« »Sag ihm, er soll bei der Arbeit bleiben. Wir haben genug Leute, um Ralph zu suchen. Okay?« Ken richtete es Bobby aus, drückte auf die blinkende Taste und reichte Betty den Apparat. Betty hob die Stimme. »Boss?« »Nimm Edward mit. Geht zum Bleeding Rock. Verfolgt unsere Spuren zurück. Dann kommt ihr bei dem Hindernis aus. Vielleicht ist er beim Sprung gestürzt.« »Okay.« »Bitte Ken und Tedi, die Soldier Road entlangzufahren. Vielleicht läuft er ja auf der Straße.« »Wohin geht ihr?« »Ins Maisfeld und rund um den Fuß vom Hangman's Ridge. Wenn wir ihn innerhalb einer Stunde nicht finden, rufe ich Ben Sidell an. Sag den anderen, sie sollen ihre Handys mitnehmen. Wenn ihr Ralph nicht findet, ruft mich in einer Stunde auf meinem Handy an.« »Roger.« »Oh. Jennifer und Sari möchten helfen. Was dagegen?« »Nein.« »Gut. Ich schicke sie auf die Obstwiese und sage ihnen, sie sollen die Hundespuren bis zum Maisfeld zurückverfolgen, falls Ralph den Hundespuren gefolgt ist.« Sie hoffte, dass die Spuren nicht komplett weggespült worden waren. »Okay.« »In einer Stunde.« »Ist gut.« Betty legte auf und teilte den anderen Sisters Anweisungen mit. 169
Sie zogen ihre Mäntel oder Jacken über und verließen in aller Eile das Haus. Sister schrieb ihre Handynummer auf einen Zettel und gab ihn Jennifer. »Ruf uns an. Wir sind im Maisfeld und am Fuß vom Hangman's Ridge. Wenn ihr nichts gefunden habt, wenn ihr beim Maisfeld anlangt, kommt direkt zurück zum Stall. Verlasst den Stall nicht, bis ihr von mir hört.« »Ja, Ma'am«, sagte Jennifer. Damit stiegen Sister und Shaker in den Wagen. Sie parkten und durchkämmten das Maisfeld im strömenden Regen, im Nebel so dicht wie eh und je, fanden aber nichts Ungewöhnliches. Dann stiegen sie wieder in den Wagen. Schlamm klebte an ihren Stiefeln, so dass ihnen jeder Schritt schwerer vorgekommen war als der vorige. Sie sahen am Fuß des Hügels nach. Der Regen hatte alle Spuren getilgt.
»Wir sollten uns auch oben auf dem Hügel umsehen. Wir können wenigstens hochfahren«, sagte Sister. Das Wasser lief von ihrem Mantel auf den Fußboden. »Warum hätte er da hochgehen sollen? Selbst im Nebel hätte er den Hangman's Ridge erkannt. Er hätte raufklettern müssen«, sagte Shaker besonnen. »Richtig, aber er ist vielleicht dort hinaufgeritten, um sich zu orientieren und die Farmstraße zu finden. Wir wissen nicht, wann er und Trooper sich getrennt haben. Er kann eine weite Strecke zurückgelegt haben, er kann auch eine Gehirnerschütterung erlitten und die Orientierung verloren haben.« »Wir haben alles andere versucht«, stimmte Shaker zu. Er fuhr mit Standlicht, weil die aufgeblendeten Scheinwerfer nur den Nebel reflektiert und die Sicht noch schlechter gemacht hätten. »Ich kann absolut nichts sehen!« »Fahr auf der flachen Seite. Wenigstens bis zum Baum.« »Herrgott, in dieser Suppe rammen wir ihn wahrscheinlich.« Er führ im Kriechtempo. Der große knorrige Umriss kam in Sicht, silbriger Nebel hing in den Zweigen. 25J Erst als sie fast unmittelbar am Baum waren, sahen sie Ralph flach auf dem Rücken liegen. Shaker bremste. Er und Sister stürmten aus dem Wagen. »Oh nein.« Sister schlug die Hände vors Gesicht. Ralph war mitten zwischen die Augen geschossen worden. Shaker kniete nieder, um den Puls zu fühlen. Sister kniete sich auf die andere Seite von Ralph. Auch sie befühlte seinen Hals. »Noch warm. Er kann noch nicht lange tot sein«, sagte sie. »Wir haben den Schuss gehört.« »Ach Shaker, wenn wir nur wüssten, was er wusste.« »Wenn wir wüssten, was er wusste, wären wir auch tot.« Wut wallte in Sister auf, und sie schrie: »Warum hat er uns nichts gesagt!« »Weil er wusste, dass man ihn umbringen würde.« Shaker hob hilflos die Hände. Sister stand auf. »Gott strafe den, der ihn umgebracht hat!«
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ie Pferde riefen über die Weiden und informierten die Hunde über das
Geschehen. Die Nachricht wanderte von einem Tier zum anderen. Die domestizierten Tiere wollten ihre Menschen beschützen. Den wilden Tieren war es, mit Ausnahme der Füchse, im Allgemeinen egal, was Menschen sich gegenseitig antaten. Sister sorgte für die Füchse, und die wünschten nicht, dass sie zu Schaden kam. Athena, Bitsy und Inky saßen im Schutz eines dichten Baldachins aus Eichenblättern.
»Der Mörder hat seinen Unterschlupf verlassen«, sagte Bitsy. Sie hatte einige Menschen liebgewonnen. 171
»Schlimm genug, dass Nola getötet wurde. Schlimm genug«, wiederholte Inky leise vor sich hin. Athena verdrehte den Kopf so, dass das obere zuunterst und die rechte Seite zuoberst war. »Kaltblütig. Wenn wir nicht im Stall bei den Bancrofts untergeschlüpft wären, dann wüssten wir, wer Ralph erschossen hat.« »Die Menschen werden es nicht rauskriegen, oder?«, fragte Bitsy furchtsam. Athena atmete ein, ihre gewaltige Brust wölbte sich nach außen, die Federn teilten sich so weit, dass die schönen Farbabstufungen darunter zu sehen waren. »Das ist schlimm. Sehr schlimm. Wenn ein Mörder so aus seinem Unterschlupf kommt, dann ist er ruchlos und jetzt auch noch sorglos.« »Wie steht es mit Sister? Ist sie außer Gefahr?« »Wer weiß?« Bitsy schüttelte sich. »Jeder Mensch, der jemandem im Weg ist, ist in Gefahr, möchte ich annehmen.« »Schade, dass ihr Füchse den Mörder nicht in den Tod lotsen könnt. Das wäre ein passendes Ende«, sagte Athena. »Während einer Jagd passiert so allerlei. Vielleicht haben wir ja eine Chance«, sagte Inky, »wenn wir rausfinden können, wer es ist.« »Dies ist jedenfalls eine richtige Jagd. Wenn eine Maus mucksmäuschenstill sitzt, übersehe ich sie womöglich. Aber wenn sie sich bewegt, habe ich eine Chance. Dieser Mensch bewegt sich.« Athena blinzelte. »Er ist tatsächlich aus seinem Unterschlupf gekommen.« »Aber er verwischt seine Spur«, sagte Inky. »Er wird einen Fehler machen. Er wird in Sicht kommen. Ich hoffe nur, der nächste Mensch, der ihn aufscheucht, ist gewappnet.« 171
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ür manche Menschen bedeutete Ralphs Ende eine Erleichterung. Aufklare
Lösungen erpicht, nahmen sie an, dass er Nola und Guy umgebracht und sich schließlich, niedergeschmettert durch die Entdeckung der Toten, erschossen hatte. Dass keine Waffe gefunden wurde, beeinträchtigte ihren Wunsch nach einer einfachen Lösung in keiner Weise. So wenig wie die Tatsache, dass die meisten Selbstmörder sich nicht zwischen die Augen schießen. Andere, nicht weniger auf Lösungen erpicht, aber weniger geneigt, den leichten Weg zu nehmen, fragten sich, was Ralph getan haben konnte, um ein so gewaltsames Ende zu provozieren. Sister schwante nichts Gutes; ein Unheil war entfesselt worden. Dann wurde ihr klar, dass das Unheil die ganze Zeit mit ihnen gewesen war; sie hatten es nur nicht sehen wollen.
Sie und Shaker blieben ganze zwei Stunde auf dem Hügel. Zuerst kam der Sheriff mit seinen Leuten, dann die Ambulanz, um den Leichnam abzutransportieren, nachdem er fotografiert, untersucht und schließlich freigegeben worden war. Die jungen Mädchen warteten wie geheißen beim Stall. Sister teilte ihnen mit, dass sie Ralph gefunden hatten. Sie ersparte ihnen die Einzelheiten. Als sie und Shaker schließlich zur Farm zurückkehrten, stellten sie fest, dass die Mädchen alle Arbeiten erledigt hatten. Raleigh und Gockel klebten an Sister wie die Kletten. Der Regen hielt an, aber der Nebel lichtete sich allmählich. Drückende Schwüle erschwerte das Atmen, und obwohl die Temperatur erträglich blieb, fühlte man sich in der stickigen Luft wie unter einer Hülle. Weil sie keinen Zwingerpfleger hatten, waren Sister und Shaker für die Säuberung des Zwingers nach der Jagd zuständig. Erschöpft, aber meistens glücklich über die Jagd des Ta 2 54 ges, bewältigten sie diese Aufgabe mithilfe etlicher Tassen schwarzen Kaffees. Heute hatten die Mädchen ihnen zu einer unverhofften Ruhepause verholfen. Als Betty kam, um Jennifer und Sari abzuholen, bestand Sister darauf, jedem Mädchen eine Sonderzulage von fünfzig Dollar zu geben. Betty protestierte nicht. Ralphs Ermordung hatte sie zu sehr erschüttert. Die Ausläufe draußen glänzten im Regen. Die Ausläufe und Gehege drinnen waren abgespritzt worden. Alle erhöhten Schlafplätze waren mit frischen weichen Sägespänen gefüllt. Die Hunde hatten sich nach der guten Jagd in ihre behaglichen Betten gekuschelt und schliefen. Sie hatten es genossen, dass die zwei jungen Frauen sich so intensiv um sie kümmerten. Als die Mädchen fort waren, setzten Sister und Shaker sich ins Zwingerbüro. Sie hatten Ben Sidell alles erzählt, was ihnen eingefallen war, aber sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Nach dem plötzlichen Schock hatten sie sich ohnehin erst mal nicht viel zu sagen gehabt. »Verdammt blöde Geschichte.« Shaker wischte sich mit einem Handtuch übers Gesicht. »Den Anblick werde ich nicht so bald vergessen.« Sie ließ sich das Handtuch von ihm geben und wischte sich Gesicht und Hände ab. »Hätte ich bloß das Feld zu den Bancrofts gebracht.« »Sister, du hättest auch nicht mehr sehen können als Edward. Bei dem dichten Nebel. Da war ein Messerschnitt drin sichtbar geblieben.« »Mein Gehör ist besser geschult.« »Schon, aber du warst vorneweg. Ralph war am Schluss. Sobald es zu regnen aufhört, können wir zum Hindernis. Vielleicht finden wir etwas auf dem Boden, aber wie es scheint, ist er von dem Hindernis weg und auf den Hügel geritten.«
»Ich habe nachgedacht. Er hat sich nicht allein auf den Weg gemacht. Jemand, der sich richtig gut in der Gegend aus 173 kannte, trotz oder vielleicht sogar wegen dem Nebel, hätte ihn dort hochbringen, ihn erschießen, den Hügel auf der hinteren Seite schnell wieder verlassen und bei den Anhängern sein können, kurz nachdem alle anderen dort waren.« »Richtig.« Sie saßen auf den ramponierten Holzstühlen, die jemand vor fast dreißig Jahren dem Zwinger gestiftet hatte. Shaker trommelte mit den Fingern auf die metallene Schreibtischplatte. »Warum hätte Ralph freiwillig mit seinem Mörder reiten sollen?« »Vielleicht hatte er keine Ahnung, dass er ermordet würde. Vielleicht hat der Mörder gesagt, er braucht Hilfe oder er kennt eine Abkürzung ...« »Ralph kannte den Hangman's Ridge. Er musste wissen, dass er auf dem falschen Weg war.« »Er hätte ja irgendwie verwirrt sein können.« »Der Mörder könnte ihn gezwungen haben, da raufzugehen.« Shaker rieb sich die Oberschenkel. »Und irgendwo unterwegs hat er Ralph absitzen lassen.« »Sybil war da draußen.« Sister rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl. »Hätte sich leicht im Nebel wegschleichen können.« Er schenkte sich noch Kaffee ein. »Ich trinke zu viel von dem Zeug. Du auch.« Sister ignorierte diese Bemerkung. »Was, wenn das, was der Mörder über Ralph wusste, genügt hätte, um sich seine Kooperation zu sichern?« »Ob wir das je erfahren werden?« Sie sagte verzagt: »Shaker, ich glaube, es war Ralph, der mich angerufen und gesagt hat, ich soll im Fluss bei der Norwood-Brücke nachgucken.« »Herrgott.« Shaker setzte sich aufrecht, weil einige Puzzlestücke an ihren Platz rückten. »Hör zu. Ich glaube nicht, dass Ralph Nola umgebracht hat. Er könnte Guy umgebracht haben, weil er ihn Nolas wegen 173
nicht ausstehen konnte. Aber ich glaube nicht, dass er sie umgebracht hat. Ich glaube, er hatte sich damit abgefunden, sie verloren zu haben. Die Romanze war zerplatzt, und er hatte sich schon an Frances rangemacht. Aus Enttäuschung vielleicht, aber so sind die Menschen.« »Wohl wahr.« »Aber er hatte irgendwas mit den Morden zu tun. Für mich besteht kein Zweifel, dass er dem Mörder geholfen hat, das Zweihundertliterfass zu bewegen und in den James zu kippen.« »Man sollte doch meinen, dass er es im Lauf der Jahre jemandem erzählt haben würde, weil ihn sonst die Schuldgefühle erdrückt hätten.« »Also ich könnte nicht damit leben. Du könntest nicht damit leben. Aber er konnte es offenbar. Und vielleicht, nur vielleicht, gab es für ihn dabei sogar etwas zu gewinnen.«
Shaker zuckte die Achseln. »Ich vermute, er hat sein Leben gewonnen.« »Inwiefern?« »Er wusste, der Mörder würde ihn umbringen, wenn er ihm nicht helfen würde.« »Möglich. Ich glaube aber, für ihn ist was anderes dabei rausgesprungen.« »War Ralph so rachsüchtig veranlagt, dass er Nola tot sehen wollte?« Sister ließ sich das durch den Kopf gehen. »Nein, aber es könnte sein, dass er sie leiden sehen wollte. Verstehst du, sehen, wie sie schließlich von jemand abserviert wurde. Aber du hast recht, ich denke nicht, dass Ralph ihrem Mörder geholfen haben könnte. Das führt uns - wohin?« Shakers hellbraune Augenbrauen zuckten aufwärts. »Der Mörder könnte ihm erzählt haben, dass Guy Nola umgebracht hat. Worauf Ralph ausgerastet ist und Guy umgebracht hat. Oder Nolas Mörder hatte die Tat schon begangen und brauchte Hilfe, um Guys Leiche zu beseitigen. Er dürfte total 174 erschöpft gewesen sein, nachdem er Nolas Grab geschaufelt hat, wovon Ralph aber nichts wissen durfte.« Sister schüttelte den Kopf. »Wenn Ralph gewusst hätte, dass Nola ermordet worden war, oder wenn er geglaubt hätte, dass Guy sie umgebracht hat, dann hätte er es Tedi und Edward erzählt.« »Glaub ich nicht. Man weiß ja nie, was jemandem durch den Kopf geht, aber vielleicht dachte Ralph, >geschehen ist geschehene Er kann sie nicht zurückholen. Vielleicht hatte er eine gewisse Sympathie für den Mörder. Oder vielleicht konnte der Mörder es ihm irgendwie in die Schuhe schieben? Wie konnte Ralph beweisen, dass er unschuldig war?« »Gutes Argument.« Sie wusste nicht, ob der viele Kaffee sie so nervös machte oder ob sie sowieso nervös war. »So oder so, er war verwundbar.« Shaker schlug auf den Tisch. »Und wer hatte mehr zu gewinnen als Sybil? Sie hätte Nolas Anteil am Bancroftschen Vermögen geerbt. Millionen über Millionen über Millionen. Stimmt doch, oder?« »Eins wissen wir sicher, was wir vorher nur vermutet haben.« »Nämlich?« »Der Mörder ist tatsächlich einer von unserem Jagdfeld.«
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S
onntagmorgen hörte der Regen auf, der Himmel zeigte sich
wanderdrosseleierblau und die Temperatur stieg auf sechzehn Grad. Sister, Shaker und Walter trafen sich am Briefkasten der Roughneck Farm mit Ben Sidell. Sie fuhren mit zwei Geländewagen zum Maisfeld, parkten abseits der Farmstraße und
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gingen zu Fuß zu dem Hindernis zwischen dem Maisfeld und dem Wald, der zum Besitz der Bancrofts gehörte. Der Sheriff, den Walters bis ins Detail gehende Interesse neulich bei der Norwood-Brücke stark beeindruckt hatte, war froh, dass der Arzt sie begleitete. Sister fühlte sich einfach wohler, wenn Walter in der Nähe war, sie wusste allerdings nicht so recht, warum. Mit Shaker erging es ihr genauso. Er gab ihr Bodenhaftung. Schlamm klebte an den Arbeitsstiefeln der drei. Ihre Hosenbeine waren unten patschnass vom Gras. Raleigh und Gockel waren mitgekommen. Zuerst war Ben dagegen gewesen, doch Sister hatte ihn überzeugt, dass die Hunde mit ihren ausgezeichneten Sinnesorganen etwas aufspüren könnten, das ihnen weiterhalf. Vor dem Hindernis schimmerte eine halbmondförmige Pfütze; die Vertiefung war eine Folge der vielen Hufe, die sich vor dem Sprung in die Erde gegraben hatten. Ben ging in die Hocke. Der Regen hatte die Hufabdrücke weggespült. Er stand auf. Die Hände auf die oberste Leiste gestützt, betrachtete er die Seite des Hindernisses, die auf dem Nachhauseweg von der Samstagsjagd die Aufsprungseite gewesen war. In der Nähe der Leiche hatte er nur Ralphs neuen Flachmann gefunden. Er hoffte hier mehr zu finden. »An dieser Stelle wurde Ralph also zuletzt gesehen?« »Ja«, antwortete Walter. »Es war das letzte Mal, dass irgendwer von uns, das heißt, von denen, die bei Edward geblieben sind, ihn gesehen hat.« »Shaker, Betty und ich haben ihn an der Obstwiese verlassen«, erinnerte Sister Ben. »Richtig.« Er stützte das Kinn in die rechte Hand. »Und man konnte die Hand nicht vor Augen erkennen.« »Richtig«, sagte auch Walter. »Wie haben Sie dann den Sprung geschafft?« »Ich hab mich auf mein Pferd verlassen«, antwortete Walter. 175
»Und Sie sind tatsächlich gesprungen?« Ben hielt die Fuchsjäger für übergeschnappt. »Sheriff, im Jagdfeld tut man Dinge, die man woanders nie tun würde.« Walter hörte ein Krächzen, da St. Just über ihnen flog. »Hier drüben«, bellte Raleigh Sister zu. Sister ging zu der Stelle, wo der Dobermann und der Harrier standen. Auf dem geräumten Weg zwischen dem Maisfeld und dem Zaun lag ein durchweichtes Taschentuch. »Sheriff, ich möchte es nicht anfassen.« Die Männer liefen hinüber, Ben kniete sich hin und besah sich das Taschentuch. Er zog einen dünnen Latexhandschuh an, hob das nasse, verschmutzte Taschentuch auf und warf es in einen Plastikbeutel. »Kommt mal her«, rief Gockel weiter unten am Zaun. Shaker ging zu dem Hund. »Sheriff. Ein Stoffhandschuh.«
Der weiße gewirkte Handschuh lag in einer Pfütze. Wenige Minuten später wurde der zweite Handschuh gefunden, dort, wo sich das Maisfeld einem Nebenflüsschen zuneigte, das in den Broad Creek mündete. Die vier Menschen und die zwei Hunde, nass bis zu den Knien, knöcheltief im Matsch, patschten zum Fuß vom Hangman's Ridge. »Hansel und Gretel«, sagte Sister bekümmert. »Vielleicht hat Ralph seine Handschuhe und sein Taschentuch unterwegs fallen lassen oder hingeworfen.« Shaker atmete aus. »Jeder hätte Handschuhe oder ein Taschentuch fallen lassen können. Ich versteh bloß nicht, warum Ralph sich von den anderen entfernt hat. Das ergibt für mich keinen Sinn, und wenn er noch so nervös war. Wäre er bei den anderen nicht in Sicherheit gewesen?« »Schuldgefühle - oder er ist ausgerastet. Das kommt vor«, sagte Walter. Er schob die Hände in seine Jeanstaschen, dann fragte er Ben: »Was meinen Sie?« »Ich bemühe mich, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen.« 176
»Was können wir tun?«, fragte Walter. »Auf einen Riss in der Rüstung warten«, erwiderte Ben gelassen. »Die Morgenzeitung, die Sie sicher gelesen haben, hat berichtet, dass er erschossen wurde. Die Waffe wurde nicht gefunden und der Sheriff ermittelt.« Er lächelte wehmütig und verschränkte die Arme. »Das ist eine freundliche Art zu sagen, wir wissen verdammt gar nichts.« »Du bist Arzt, Walter. Glaubst du, unser Mörder ist bei klarem Verstand?«, fragte Sister. Sie trat mit einem Schuh gegen den anderen. Rote Schlammklumpen fielen herunter. »Ich bin Neurochirurg, kein Psychiater.« »Worüber wir froh sind.« Sister schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Aber du siehst täglich Menschen in Krisensituationen. Da kriegst du doch bestimmt ein Gefühl dafür, wie die Person wirklich ist. Hast du ein Gespür, wie dieser Mensch ist?« »Nun ja, ich denke, unser Mörder ist bei Verstand und opportunistisch. Durch den Nebel hatte er - oder sie - die Chance, auszuführen, was er oder sie von vornherein geplant hatte. Sister, ich glaube, es war Ralph, der dich angerufen hat«, sagte Walter. »Glaub ich auch. Shaker und ich haben auch schon daran gedacht. Ich hab's auch dem Sheriff gesagt.« »So ein Schock. Es ist ein furchtbarer Schock, jemanden, den man kennt, so zu sehen.« Shaker wollte den Mörder in die Finger kriegen. »Der arme Kerl, im Regen niedergestreckt.« »Was mich wieder auf die Frage bringt, warum?«, sagte Sister. »Warum Ralph quasi zur Schau stellen? Warum ihn nicht abseits von allen Leuten töten? Warum seine Leiche nicht beseitigen und fertig, so wie der Mörder dachte, mit Nola und Guy fertig gewesen zu sein? Ich frage mich, ob dies nicht eine Warnung ist.«
»Der Galgenbaum, eine Warnung an alle, der Ort der Bestrafung.« Shaker wies mit dem Kopf auf den Hügelkamm. »Shaker hat recht. Es war ausgesprochen theatralisch. Der 177
Kerl ist arrogant. Er hält sich für unbesiegbar. Er muss das unsägliche Gefühl haben, dass man ihn nie verdächtigen wird.« »Kein Mensch würde glauben, dass Sybil ihre Schwester umgebracht hat«, sagte Shaker leise. Er wollte Sybil einer solchen Tat nicht für fähig halten, aber sie hatte das denkbar beste Motiv. »Paul Ramy hat sie tatsächlich für verdächtig gehalten. Aber er konnte ihr nichts anhängen«, verriet Ben ihnen. »Er dachte, falls sie ihre Schwester ermordet hatte, würde ihre Familie sich vor sie stellen.« »Tedi? Niemals!«, widersprach Sister. »Sister hat recht. Aber Edward könnte sie decken«, fügte Shaker hinzu. »Er hatte eine Tochter verloren. Was würde es helfen, die andere im Gefängnis zu haben? Ich nehme an, ein Vater würde so denken.« »Das glaube ich nicht. Ich weiß, Edward würde sich schützend vor seine Mädels stellen, so sind Väter nun mal, nicht?« Sister hatte fragend die Stimme gehoben. »Aber er ist ein Mensch mit Prinzipien. Ich denke nicht, dass er ihr ein Alibi beschaffen würde. Auch wenn er denken würde, die ersten Morde waren eine abgeschlossene Sache, wenn er sicher wäre, dass sie nie wieder morden würde, auch dann würde er ihr nicht helfen.« »In Pauls Bericht steht, sie ist auf der Party geblieben und dann mit Ken ins C&O gegangen. Andere Zeugen bestätigen, sie dort gesehen zu haben.« »Die Bancrofts könnten den ganzen Bezirk schmieren«, sagte Shaker. »Ach komm, das wäre doch durchgesickert. Ein Geheimnis zwei Jahrzehnte lang bewahren? Hier doch nicht.« Sister verschränkte die Finger. »Sicher, Sybil hatte ein finanzielles und vielleicht sogar emotionales Motiv, aber ich glaube nicht, dass sie es getan hat. Wäre Nola am Leben geblieben, wäre Sybils Erbteil immer noch größer, als die meisten Menschen es sich in ihren kühnsten Träumen vorstellen.« 177
»Man soll die Habgier der Reichen nicht unterschätzen«, sagte Ben Sidell. »Aber Sie haben recht damit, Sister, dass unser Mörder meint, wir können ihn nicht fassen. Er hat die Leute einundzwanzig Jahre lang an der Nase herumgeführt. Ich bin mir fast sicher, er hat nicht mal jetzt Angst.« »Hochmut kommt vor dem Fall«, sagte Sister. Dann drehten sie und Shaker sich um; die Sinne der beiden waren schärfer als Bens oder Walters. Ein Schlurfen im Maisfeld setzte sie in Alarmbereitschaft. Raleigh und Gockel stürmten eine Maisreihe entlang, wobei sich die Halme rief senkten. »Das sind Klytemnestra und Orestes«, teilte Raleigh ihnen mit.
Von der Gesellschaft der Hunde und dem Vernehmen menschlicher Stimmen ermutigt, traten die große Holstein-Kuh und ihr Kalb mit patschenden Schritten aus dem Maisfeld. »Ihr zwei!« Sister war entrüstet. »Raleigh, Gockel, wir treiben sie zu uns nach Hause. Später bringen wir sie dann zu Cindy.« »Worauf du dich verlassen kannst.« Die Hunde gingen hinter den zwei Rindviechern, wobei sie sich gerade außerhalb der Reichweite eines Kuhtritts hielten. »Ich denke, wir können Sie jetzt auch nach Hause bringen«, sagte Ben. »Das Absperrband entferne ich heute Abend.« Er meinte das Band, mit dem die Polizei den Hangman's Ridge abgesperrt hatte. »Hier gibt's weiter nichts zu finden.«
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in weißer Golfball rollte neben einer kleinen Pflegebürste aus, deren Borsten
voll flammend roter Fellhaare waren. »Du hast wohl gedacht, der Golfball ist ein Ei, als du ihn mit nach Hause genommen hast, wie?« Inky schlug übermütig auf den Golfball. 178
Charlie, ein eingefleischter Sammler von allen möglichen Gegenständen, antwortete: »Macht Spaß, damit zu spielen, aber ich glaube, den Menschen, die damit spielen, macht es keinen großen Spaß. Sie fluchen und werfen mit ihren Schlägern. Warum machen sie es, wenn sie es so hassen?« »Menschliche Psychologie.« Inky beobachtete die plattgesichtige Spezies mit großem Interesse. Zum einen faszinierte sie deren eigenartige Fortbewegungsweise. Für Inky war der menschliche Gang eine Art Hinfallen. Sie fingen sich eben noch rechtzeitig. Es musste furchtbar sein, auf zwei Beinen einherzustolpern. »Sie leiden gerne«, bemerkte Charlie. »Ich glaube, sie sind die einzige Spezies, die freiwillig auf Nahrung, Sex, Vergnügen verzichtet.« »Und sie sind so glücklich, wenn sie endlich nachgeben und sich amüsieren.« Inky lachte. Charlies Bau hatte früher Tante Netty gehört, aber sie wollte näher an der Obstwiese wohnen und war deswegen letztes Jahr umgezogen. Netty war so etwas wie eine Perfektionistin, immer auf der Suche nach der idealen Bleibe. Charlie hatte den Bau vergrößert. Bei seiner Vorliebe für Spielsachen brauchte er mehr Platz. »Guck mal.« Er rieb sein Gesicht an der Pflegebürste. »Fühlt sich richtig gut an.« »Wo hast du die her?« »Cindy Chandler. Sie hat sie auf der Satteltruhe liegen gelassen. Wenn sie Kartoffelchips oder Kekse vergisst, das ist das Höchste. Nicht nur, dass das Zeug gut schmeckt, die Tüten knistern so schön!« »Manche Geräusche sind so verlockend. Sisters große Windglocken - ich sitze gerne abends im Garten und höre sie klingen.«
Inky und Charlie, die gleich alt waren, gehörten zwei verschiedenen Fuchsgattungen an. Inky, ein Graufuchs, war etwas kleiner. Sie konnte gewandt auf Bäume klettern, und in vieler Hinsicht war sie bescheidener als der Rotfuchs, der 179
grandios wohnen musste und einen auffallenden Erdhügel anlegte, auf dass jedermann wusste, wie wichtig er war. Die Roten hielten diesen Mangel an Zurschaustellung seitens der Grauen für den Beweis, dass sie minderwertig waren. Nett, das schon, aber nicht erstklassig. Und ihre Gesprächigkeit ließ meistens auch zu wünschen übrig. Rotfüchse vergnügten sich mit Plaudern, Bellen, sogar Jodeln, wenn sie die Lust ankam. Graufüchse waren schweigsamer. Beide Fuchsgattungen wurden liebevoll zu Hause aufgezogen und gingen mit sieben, acht Monaten in die Welt hinaus. Der alljährliche Fortzug begann in Mittelvirginia meistens Mitte September. Und beide Fuchsgattungen hielten sich für die intelligentesten aller an Land lebenden Geschöpfe. Sie gestanden Katzen zu, ziemlich schlau zu sein, Hunden schon weniger. An den Menschen, die dank ihres Überlegenheitswahns verdummt waren, hatten die Füchse ihre Freude, weil sie sich so leicht überlisten ließen. Nichts eignete sich besser als ein kleines Bataillon Menschen zu Pferde mit vierzig bis sechzig Hunden, samt und sonders darauf versessen, einen Fuchs zu jagen, um dem Fuchs seine eigene Schlauheit zu bestätigen. »Charlie, wie bist du eigentlich in der Obstwiese verschwunden?« Inky hatte von Diana erfahren, dass der Rotfuchs wie durch Zauber verschwunden war und nicht die Spur einer Wittrung hinterlassen hatte. Er blähte die seidige Brust. »Inky, ich war mitten in der Obstwiese, der Nebel war dicht wie Scheuklappen, glaub mir, der schwere Duft von reifen Äpfeln hat mir unermesslich geholfen. Ich hatte vor, in den verlassenen Bau am Rand von der Obstwiese zu schlüpfen, kennst du den?« Sie nickte und er fuhr fort: »Aber da sind Klytemnestra und Orestes vorbeigekommen. Und ich dachte mir, diese Hunde, die jungen, die haben auf jeder Einjagd einen Fuchs in den Bau getrieben. Werden langsam zu selbstsicher. Wenn ich einfach verschwinde, dann rennen sie im Kreis und rempeln sich gegenseitig und winseln: >Wo ist er hin?< Ich bin auf einen großen Stein ge179
Sprüngen und von da auf Orestes' Rücken. Auf und davon.« Er ließ sein diabolisches Grinsen aufblitzen. »Du hast ihr Selbstvertrauen erschüttert«, schmeichelte sie ihm bewundernd, »was alle Füchse freut.« »Die Ts und Rs werden mai sehr gut, glaube ich. Trinity, Tinsei, Trudy und Trident, Rassle und Ruthie. Die sind gut. Und jetzt, wo die Ds in der zweiten Saison sind, also da müssen wir womöglich einen Zahn zulegen. Tante Netty hatte recht.« »Hat sie meistens.« Draußen kündete sanftes Zwielicht die einbrechende Nacht an. »Magst du einen Golfball haben?«
»Das wäre lustig.« Inky spielte gerne. »Ich weiß, wo sie sie auf Foxglove aufbewahrt. Ist babyleicht, einen aus der Golftasche zu mopsen. Ihr Haushund schläft sowieso, der kriegt das gar nicht mit.« »Charlie«, sagte Inky und blinzelte, »hast du im Nebel was Ungewöhnliches bemerkt, als du auf Orestes geritten bist?« »Ich habe Ralph gerochen. Er hat einen sehr, sehr starken Angstgeruch verströmt. Und ich habe zwei andere Menschen in eine andere Richtung reiten gehört. Sie waren nicht zusammen. Einer war Sybil, das konnte ich riechen. Von dem anderen Reiter konnte ich keinen Hauch wittern. Zu weit weg.« Er richtete sich auf. »Findest du es nicht abartig, dass Menschen sich gegenseitig töten? Für Nahrung töten, gut und schön, wir alle müssen überleben, aber Angehörige der eigenen Gattung töten? Ist doch abartig.« »Manchmal gerät eine Fähe in einen Tötungsrausch, um ihren Welpen das Töten beizubringen«, sagte Inky nüchtern. »Ich glaube, Menschen geraten auch in einen Tötungsrausch, aber aus einem anderen Grund. Ich befürchte, dass dieser Mensch so was tun könnte.« »Schon möglich.« Charlie ließ seine Barthaare nach vorn schnellen. »Kly und Orestes können den Mörder nicht gesehen haben, sonst hätten sie es allen auf die Nase gebunden. Kly kann kein Geheimnis für sich behalten. Kühe sind strunzdoof.« Er lachte. Als die zwei den Bau verließen, fragte Inky sich, ob Morden 180
den Menschen Vergnügen bereitete, so wie es ihr Vergnügen bereitete, eine Maus zu fangen. Wenn dem so war, wie konnte ein Mörder jemals zu töten aufhören?
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S
chlichte Bänke aus massivem Walnussholz unterstrichen die strenge,
gleichwohl erhebende Architektur der hiesigen espiskopalischen Kirche. Als im Jahre 1702 der Grundstein gelegt wurde, herrschten hier raue Sitten. So weit westlich lebten nur ein paar Christen, und die hatten wenig Geld. Die Eingeborenen Virginias, aufgeteilt in Irokesisch sprechende und Sioux sprechende Stämme, bekriegten sich sporadisch. Die Handvoll Weiße befanden sich mitten dazwischen, eine unbehagliche Lage. Die kleine Kirche stellte einen Fluchtort vor den unerbittlichen Feindseligkeiten der Neuen Welt dar, eines Landes ohne die vertrauten englischen Nachtigallen, dafür voll von Scharlachtangaren. Für jedes an Englands Küste zurückgelassene Tier erschien hier ein neues, schönes Geschöpf. Natursteine oder Ziegel waren unentbehrlich für Bauten, die von Dauer sein sollten, weil die Indianer sich bei ihren Überfällen auf die Siedler des Feuers bedienten. Die große Kirchenglocke wurde zum Alarmläuten benutzt. Auch jede Farm hatte eine Glocke. Wenn die Leute die Glocken hörten, ließen sie ihr Vieh frei, sprangen auf ihre Pferde und galoppierten zur Kirche. Mochte es auch nicht gerade ein christlicher Zug gewesen sein, ein kleiner Raum mit Schießscharten in den Mauern gehörte sowohl zum Bau der Kirche als auch
der Häuser. Die Siedler zielten durch diese schmalen Öffnungen im Stein auf Angreifer. Ein Schieferdach schützte vor Feuer. 181
Im Laufe der Zeit wurden Waffenstillstandsabkommen getroffen und später auf beiden Seiten verletzt. Aber als der Dreißigjährige Krieg wütete, gefolgt vom englischen Bürgerkrieg, schwoll das Rinnsal von Kolonisten zu einem Bach an, dann zu einem Fluss. Die Widrigkeiten Amerikas waren verlockender als die Heimsuchungen Europas. Einige tollkühne Seelen drangen nach Westen zur Fall Line vor. Die Fall Line ist eine Geländestufe, die von einer Reihe von Stromschnellen durchflössen wird, welche das Süßwasser im Oberland von den salzigeren Gewässern unten trennen. Oberhalb dieser Geländestufe erstrecken sich die welligen fruchtbaren Hügel des Piedmont, die sich bis zu Füßen der Blue Ridge Mountains hinziehen. Nur ganz wenige Weiße sind bis zu den Blue Ridge Mountains vorgedrungen. Diese wenigen haben sich verbissen dort gehalten. Kirchen mit Schießscharten zu bauen stand für sie nicht im Widerspruch zum Christentum. Die frühamerikanischen Erfahrungen waren verbunden mit ungeheurer Einsamkeit und mörderischer Schufterei, unterbrochen durch Perioden lähmender Gefahr. Die Kirche am Sonntag diente der Begegnung mit anderen Menschen ebenso wie dem Gebet. Als der Dreißigjährige Krieg zu Ende war, die größte Zerstörung, die Europa bis zum Ersten Weltkrieg heimsuchte, gab es für Europäer weniger Grund zur Flucht. Und nachdem Karl II. den englischen Thron bestiegen hatte, war er so vernünftig, diejenigen, die seinen Vater gestürzt hatten, nicht zu töten. Von einigen Ausnahmen abgesehen. Da beschlossen noch mehr Engländer, zu Hause zu bleiben. In Virginia, South Carolina, New York und Massachusetts wurden Arbeitskräfte gebraucht. Deswegen wurden beim Übergang des siebzehnten ins achtzehnte Jahrhundert Afrikaner in wachsender Zahl an die Küsten der Neuen Welt verschleppt. Die Pfarrkinder dieser einsamen Kirche hatten sich mit der Sklaverei auseinandergesetzt. Viele merkten an, die Bibel ent 181
halte nicht nur zahlreiche Geschichten über Sklaven, es stehe auch nirgends eindeutig geschrieben, dass ein Mensch einen anderen nicht besitzen solle. Grund genug, sagten viele, Grund genug. Und so fand eine ökonomische Ungeheuerlichkeit theologische Gewänder, um sich darin zu verstecken. Falls die eingeborenen Stämme dachten, die Sklaven würden sich während der Überfälle gegen ihre Herren wenden, wurden sie belehrt, dass diese neuen Menschen genauso grimmig gegen sie kämpften wie die Europäer.
Rücken an Rücken schössen Sklave und Herr in dem festungsartigen Raum auf die Angreifer, danach räumten sie auf, und die vertikale Hierarchie wurde wiederhergestellt. Sofern jemandem die Ironie dieses Vorgehens auffiel, behielt er es taktvoll für sich. Zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges wurde der an die Kirche angegliederte Festungsraum nicht mehr benötigt, wurde aber, wie es bei Virginiern Brauch ist, aus Tradition beibehalten. In diesem Raum lag der Leichnam von Ralph Assumptio; der Sarg stand auf einer fahrbaren Trage, die, flankiert von zwei ehrenamtlichen Sargträgern, im gebührenden Moment von zwei kräftigen Angestellten des Bestattungsunternehmens in den Kirchenraum geschoben würde. Die anderen Sargträger fungierten als Ordner. Frances saß mit ihren zwei Töchtern und zwei Söhnen, die inzwischen erwachsen waren und selbst Familie hatten, in der ersten Reihe. Alle einhundertfünfunddreißig Mitglieder des Jefferson-Jagdvereins waren gekommen. Sister Jane saß drei Reihen hinter den Assumptios. Die Bancrofts und Sybil Fawkes saßen vor ihr. Ken, der zu den Sargträgern gehörte, blieb im Festungsraum. Shaker begleitete Sister. Walter saß bei Alice Ramy, die in dem Moment, als sie die Nachricht hörte, den ganzen Weg von Blacksburg gefahren war. Das überraschte etliche Leute, aber Alice hatte wirklich einen neuen Anfang gemacht. 182
Der geschlossene Sarg wurde hereingebracht. Der Totengottesdienst hatte begonnen. Sari Rasmussen hörte heute zum ersten Mal den Priester lesen: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« Sister hatte den 130. Psalm öfter gehört, als sie zählen konnte, aber die Tiefgründigkeit der Anordnung zur Bestattung der Toten bewegte sie jedes Mal. Einige Leute konnten Beerdigungen nicht ausstehen und gingen nicht hin. Sister nannte das selbstsüchtig. Wenn es eine Zeit gab, in der ein Mensch Freunde sehen und mitfühlende Worte hören musste, dann jetzt. Was sie beim Trauergottesdienst jedes Mal faszinierte, war die Beständigkeit der Liebe. Liebe zu den Verstorbenen, Liebe zu den Überlebenden, Liebe zu Gott. In einem Augenblick wie diesem gab es Menschen, deren Glaube erschüttert war. Sisters Glaube war nie erschüttert worden, auch nicht, als Ray junior starb. Sie hatte den Knacks gehört, als ihr Herz brach, aber ihren Glauben hatte sie nicht verloren. Hatten Frauen nicht vom Anbeginn der Zeiten Söhne verloren? Man ertrug seine Verluste mit Fassung. Alles andere war eine Schmähung der Toten. Ob Frances und ihre Kinder auf diese Art glaubten oder nicht, sie hielten sich mit Würde. Sister fand es traurig, dass Ralph die Worte des episkopalischen Priesters nicht hören konnte: »Gehe in Frieden, befreite Seele. Mögen Gott, der allmächtige
Vater, welcher dich erschaffen hat, und Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, welcher dich erlöst hat, und der Heilige Geist, welcher dich von Sünden gereinigt hat, dein Gehen und Kommen behüten, von nun an bis in alle Ewigkeit, amen.« Sie erinnerte sich an Raymond, wie er sich, als sein Ende nahte, in dem Krankenhausbett aufgesetzt hatte, das sie ins Wohnzimmer gestellt hatten, damit er Besuch empfangen und die Hunde und Pferde vorbeilaufen sehen konnte. Die großen Fenster ermöglichten ihm eine gute Sicht. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das sie miteinander gesprochen hatten. 183
»Ich sterbe wie ein alter Mann«, krächzte er. »Tja, mein Lieber, du bist ein alter Mann«, neckte Sister ihn in der Hoffnung, ihn aufzuheitern. »Du bist natürlich immer noch eine sexy Schöne.« Hustend zwinkerte er ihr zu. »Alt sein bekümmert mich nicht, Janie. Sterben wie ein Schlappschwanz, das bekümmert mich.« »Du hast nicht gelebt wie ein Schlappschwanz.« Er hustete wieder; seine Brust- und Rückenmuskeln schmerzten von den ständigen Anfällen. »Nein. Hab auch nicht wie ein Heiliger gelebt. Aber ich dachte, ich würde aufrecht sterben.« »Herzinfarkt?« »Krieg. Oder Fehleinschätzung eines Hindernisses. So was in der Art.« »Ich bin froh, dass du dich so lange gehalten hast.« Sie nahm seine schmale, kalte Hand. »Wir hatten eine gute, lange Hatz. Wr haben unsere Hindernisse elegant genommen. Vielleicht haben wir einige demoliert, aber wir waren immer mitten im Geschehen, Raymond. Du vor allem.« Er lehnte sich an das aufgeschüttelte Kissen. »Mit der Fuchsjagd kommt man einem Kavallerieangriff am allernächsten.« »Ohne die Gewehr- und Kanonenkugeln.« »Hätte mir nicht so viel ausgemacht wie das hier. Es gehört sich nicht für einen Mann, so zu sterben.« Er setzte sich wieder auf. »Ich habe mich immer nach weniger Sicherheit gesehnt. Gleichförmigkeit und Zahmheit ruinieren uns.« Seine Augen glühten. »Ich weiß«, sagte sie schlicht. Er versuchte Atem zu holen, aber es ging nicht. »Mit der Hundezucht hast du tolle Arbeit geleistet. Ich vergesse immer, dir zu sagen, was du gut gemacht hast.« »Ich habe eine gute Meute geerbt.« »Wir beide haben gute Meuten zugrunde gehen gesehen in den Händen von Idioten, von denen es viele gibt. Herrgott, man setze M.EH hinter einen Namen, und der Kerl hält sich für Gott.« 183
»Der Fuchs hat eine Art, uns alle zu demütigen. Raymond, bei allem, was war, ich bin keine vollkommene Ehefrau gewesen, aber ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt.« Er lächelte. »Alles dreht sich um die Liebe, nicht? Und hat man auch nur einen einzigen Tag lang geliebt, dann hat man gelebt. Ich liebe dich. Und wie wir beide wissen, habe ich tönerne Füße. Aber meine Liebe zu dir war immer aufrichtig. Wie die Jagd hebt sie mich über Sicherheit und Zahmheit hinaus.« Sein Lächeln wurde breiter. »Abgesehen von diesem unwürdigen Ende bin ich ein richtig glücklicher Kerl.« »Klingt nach einem Broadway-Stück.« Sie drückte seine Hand. Er führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. »Es geht doch nichts über einen gradlinigen Fuchs und eine kurvenreiche Frau.« Er küsste ihre Hand noch einmal. »Im Himmel wird bestimmt gejagt. Ich werde mich nach Tom Firr umsehen, nach Thomas Assheton Smith, dem anderen Thomas Smith, Ikey Bell, ach, ich könnte die Liste ewig fortführen.« Er sprach von berühmten Mastern und Meuteführern der Vergangenheit. »Und ich werde nach Ray Ausschau halten, der auf einem kleinen Vollblutpferd sitzt, und wir werden zusammen reiten.« Er brach ab, weil er die Tränen nicht zurückhalten konnte. Sister konnte ihre auch nicht zurückhalten. Und als sie aus ihrem Tagtraum auffuhr, waren ihre Wangen nass und ihr Herz seltsam erfüllt. Wie Raymond gesagt hatte, alles drehte sich um die Liebe. Erinnerte Liebe durchströmte sie mit aller Macht. Der arme Ralph hatte bei seinem Tod keinen derartigen Trost gehabt. Während Pastor Banks den Gottesdienst fortsetzte, wurde Sister von stillem, weiß glühendem Zorn übermannt. Hatte Ralph um sein Leben gefleht? So wie sie ihn kannte, war das nicht geschehen, selbst wenn er Todesangst gehabt hatte. 184
Und Nola? Oder Guy? Sister betete inständig für sie alle. Drei Menschen, aus dem Leben gerissen, keiner hatte eine zärtliche Hand auf der Stirn gefühlt, keiner eine gütige Stimme vernommen, die alle Liebe bot, die es zu bieten gab. Nola, Guy und Ralph waren nicht auf Wasser gewandelt. Alle konnten töricht sein, und da Nola und Guy so jung gestorben waren, hatten sie nie die Möglichkeit gehabt, Weisheit zu erwerben. Sie waren nie über das Verhalten hinausgewachsen, das ihren Mörder erzürnt haben musste. Dass Nola und Guy zügellos geblieben wären, ist möglich, aber unwahrscheinlich. Die Pflichten und Unbilden des Lebens verändern alle Menschen grundsätzlich, mit Ausnahme derer, die der Unreife geweiht waren. Und diese Pflichten sind eigentlich wunderbar. Die Pflicht macht einem zu dem, der man ist. Die Pflicht und die Ehre. Sister hatte das nie als Joch betrachtet, dem man sich zu beugen hatte; für sie war es ein Wachsen mit seinen Aufgaben. Nola und Guy hatten keine Zeit gehabt, ihre
Pflichten zu erkennen, geschweige denn zu erfüllen. Wenigstens das war Ralph vergönnt gewesen. Er hatte etwas aus sich gemacht, hatte sich als guter Ehemann und Vater erwiesen. Sister wurde übermannt von der Unvernunft, der üblen Beiläufigkeit dieser Tode. Sie saß stinkwütend da, wusste sie doch, dass der Mörder in der Kirche sein musste. »Wer immer er oder sie ist, ist ein vollendeter Schauspieler«, dachte sie. Als der Gottesdienst zu Ende war, nahmen die Sargträger -Ken, Ronnie, Xavier, Bobby, Roger und Kevin McKenna, Ralphs College-Mitbewohner - ihre Plätze um den Sarg aus poliertem Mahagoniholz ein. Mit einer gekonnten Bewegung hoben sie ihn auf ihre Schultern und trugen ihn im Gleichschritt und mit gleichmäßig schwingenden Armen durch den Mittelgang hinaus in das leuchtende Spätseptemberlicht. Die Gemeinde folgte der Familie in respektvollem Abstand 185
auf den Friedhof, der seit drei Jahrhunderten Heimstätte der Verstorbenen war. Die Zeremonie endete damit, dass Shaker, am Kopfende des Sarges stehend, als dieser in die Erde gesenkt wurde, »Jagd vorbei« blies. Dieser melancholische Ruf, das traditionelle Signal zum Ende der Jagd, brachte alle zum Weinen. Hinterher ging Sybil neben Sister. »Wirst du die Dienstagsjagd absagen?«, fragte sie. »Nein. Ralph wäre entsetzt, wenn ich das täte.« Shaker, der auf der anderen Seite neben Sister ging, fügte hinzu: »Wenn der Fuchs über sein Grab läuft, ist das ein gutes Zeichen.« »Das haben wir auch nötig«, sagte Sybil mit traurigem Blick.
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D
ie Jagd am Dienstag und Donnerstag, spärlich besucht, trug wenig zur
Besserung von Sisters Laune bei. Zwar arbeiteten die Hunde gut zusammen, aber zwei Junghunde setzten Rehen nach. Betty trieb die zwei zurück, aber der kleine Ausbruch ärgerte Sister, obwohl sie wusste, dass die Junghunde beim Einjagen wohl mal auf einer Wildfährte streunten. Diana gewöhnte sich mit Asas Hilfe an die Leithundposition, und das machte den kleinen Ausbruch wett. Die Samstagsjagd am 28. September begann morgens um halb acht bei Mill Ruins, Peter Wheelers altem Besitz. Walter wohnte dort aufgrund eines langfristigen Pachtvertrages, wie er in England üblich war. Im Grunde war er der Besitzer des Anwesens, obgleich Peter es dem Jagdverein vermacht hatte. In dem Jahr, seit er dort wohnte, hatte Walter schon wesentliche Verbesserungen vorgenommen. Er hatte sämtliche Weiden gedüngt und die ramponierten Zäune durch weiße 2 185
Dreibretterzäune ersetzt. Weiße Farbe, die inzwischen auch bleifrei zu bekommen war, hielt, wenn man Glück hatte, zwei Jahre. Walter machte das nichts aus, er meinte, dann würde er die Zäune eben alle zwei Jahre streichen. Er liebte weiße Zäune. Die meisten Leute hatten zu schwarzen Zäunen gewechselt, weil die Farbe je nach Marke fünf bis sieben Jahre hielt. Die Bretterzäune selbst hielten um die fünfzehn Jahre, mal mehr, mal weniger. Die horrend teuren Steinmauern waren durchaus praktisch, wenn man ihre Lebensdauer in Betracht zog. Eine Steinmauer brauchte im Laufe von sechzig, siebzig Jahren die eine oder andere kleine Reparatur, aber von Steinmetzmeistern ordentlich errichtete Mauern konnten jahrhundertelang halten. Es war Walters geheimer Traum, eines schönen Tages die Zufahrt zum Haus mit einer fünfundsiebzig Zentimeter hohen Steinmauer einfassen zu lassen. Heute erfüllte Walter sich einen anderen Traum. Dies war die erste Jagd, die von Mill Ruins ausging, seit Peter hier gelebt hatte. Es wurde eine tolle Jagd. Shaker ließ die Hunde unten bei der alten Mühle los, wo es von Fährten wimmelte. Viele Generationen von Füchsen hatten nahe oder unter der Mühle gelebt, die aus großen Natursteinquadern errichtet und deren Mühlrad noch intakt war. Die Adresse besaß unter Füchsen ein gewisses Ansehen, etwa wie Dumbarton Oaks in Washington, D.C., oder die East 68* Street in New York. Da diese Bleibe unter Graufüchsen als zu feudal galt, wurde sie von Rotfüchsen bewohnt. Natürlich fanden die Hunde bei der Mühle eine Spur, aber sie kamen damit nicht weit, weil dieser Fuchs keine Lust auf Aerobik-Übungen hatte. Der kristallklare Tag mit einer Temperatur um dreizehn Grad war nicht der beste Tag für Fährtenarbeit. Es hatte keinen Bodenfrost gegeben, und das Regenwasser der letzten Woche sickerte nach und nach ein, nur hier und da schim 186
merte noch eine tiefe Pfütze. Der Lufthochdruck, der den stahlblauen Himmel erzeugte, saugte auch Feuchtigkeit und damit Duftspuren auf. Ein weniger guter Meuteführer als Shaker wäre vielleicht zur Mühle zurückgekehrt, um eine bessere Spur zu finden. Sister und Shaker gedachten bei der einmal eingeschlagenen Fährte zu bleiben und keine Zeit zu vertrödeln. Gelegentlich konnten sie einen Fuchs überschießen, der so schlau gewesen war, sich ganz flach zu legen, während die Hunde vielleicht ein bisschen zu schnell unterwegs waren. Aber meistens wurden im schnellen Lauf, zumal wenn die Meute gute Nasen hatte, mehr Füchse aufgestöbert als beim zentimeterweisen Beschnuppern jedes Zweiges, Busches und Mooskissens. Shaker saß auf Gunpowder und überlegte einen Moment, während die Hunde am Mühlenkanal entlangliefen und zurück zu dem stark strömenden Bach, der ihn speiste. Gunpowder, der mit diesem Sport bestens vertraut war, schnaubte: »Bildet eine S-Formation. Geht höher rauf und schlängelt euch runter. Erwischt ihr ihn oben, kommt er
wahrscheinlich runter. Erwischt ihr ihn unten, sofern er sich nicht auf die andere Seite von diesem Stelldichein geschlagen hat, dann bleibt er bestimmt unten.« Ein englischer Meuteführer aus den Shires, den wegen der Fuchsjagden berühmten Grafschaften, lässt seine Hunde oft in Dreiecksformation los wie einst Tom Firr, der diese Methode im neunzehnten Jahrhundert perfektioniert hatte. Die Methode war ideal, wenn das Revier säuberlich in Quadrate und Rechtecke aufgeteilt war. Amerika, das erst seit dem frühen siebzehnten Jahrhundert gemäß europäischen Richtlinien kultiviert worden war, war nicht so akkurat und geometrisch. Außerdem nötigte die stolze Größe des Landes die amerikanischen Fuchsjäger, eigene Methoden zu entwickeln, um die Füchse zum Spielen nach draußen zu locken. Ganze europäische Staaten würden in einen mittelgroßen 187
Staat wie Missouri hineinpassen. Die amerikanischen Füchse machten sich die Größe ihres Landes sowie die dichten Wälder der Ostküste zunutze. Virginia, das durch Schwemmlandablagerungen des Potomac, des Rappahannock und des James mitsamt ihren zahlreichen Zu- und Nebenflüssen einen reichen Boden hatte, bot wunderbare Möglichkeiten zu entkommen. Ein Fuchs konnte über fruchtbaren Sandboden stürmen, auf hartem Gestein hochklettern, einem echten Duftspurenvernichter, in einen Wald eintauchen, dessen Boden ein Teppich aus Kiefernnadeln und Kiefernzapfen war, ebenfalls ein Spurenvernichter, und dann eine Farmstraße aus festgestampftem roten Lehm entlangtrappeln. Meuteführer und Jagdhunde mussten schnell sein, Probleme lösen können, die ehrwürdige englische Tradition respektieren und ihre eigene Art finden. Die amerikanische Art war, wie die Amerikaner selbst, ein bisschen wilder. Shaker würde diese Wildheit nötig haben. Sister wartete geduldig vierzig Meter hinter ihm. Keepsake tänzelte, so ungeheuer stolz war er darauf, statt Lafayette geritten zu werden, der gewöhnlich Sisters Samstagspferd war. Er wollte unbedingt zeigen, wie vollendet er sprang. Sister liebte Pferde, die ihren Körper richtig einzusetzen wussten. Das Exterieur, die Anlage eines Pferdes, sagt viel über seine Leistungsfähigkeit und -dauer aus. Ein gutes Exterieur und ein gutes frühzeitiges Training geben einem Pferd Selbstvertrauen. Hierin unterscheidet sich ein Pferd nicht von einem Profi-Golfspieler. Der Golfspieler perfektioniert die diversen Schläge; das Pferd perfektioniert die diversen Gangarten, und es lernt auch, mit einem Menschen auf dem Rücken zu springen. Jedes Pferd kann ohne einen Menschen springen, aber die zweibeinigen Reiter verlagern das Gewicht, fliegen vorwärts auf die Ohren des Tieres, plumpsen rückwärts hinter den Sattel, rutschen zur Seite, rucken an den Zügeln, und am aller-schlimmsten: Sie kreischen und geben dem Pferd die Schuld. 187
Das Pferd braucht mehr Geduld als der Mensch.
Die Pferde mochten Sister. Sie ritt locker. Auch sie machte Fehler, aber sie entschuldigte sich immer. Meistens war sie dem Pferd nicht im Weg, wofür es dankbar war. An Keepsakes Sprungkraft schätzte Sister am meisten, dass er beim Sprung über die Zäune nicht durchhing. Er sammelte sich auf der Hinterhand und segelte über das Hindernis, die Vorderbeine eng unter den Körper gezogen - wie eine kunstvoll gefaltete Serviette. Weil sie bislang nicht einmal eine Zigarettenschachtel übersprungen hatten, war Keepsake ungeduldig. Das erste Feld hinter Sister verhielt sich still. Auch das hintere Feld blieb ruhig. Bobby Franklin, ein überaus sanftmütiger Mensch, hielt seine Gruppe beisammen. Das hintere Feld übersprang keine Hindernisse, es ritt unmittelbar hinter dem ersten Feld, das von Sister angeführt wurde. Es wäre nicht gut, wenn sich die zwei Felder zu weit auseinanderzögen. Bloß kein Klatsch und Tratsch. Bloß kein Herumalbern. Bloß nicht das Pferd vor einem als Rammbock benutzen. Bobby feuerte die Leute an, sorgte dafür, dass sie Spaß an der Sache hatten, und das hintere Feld ritt oft schärfer als das erste, weil die Leute sich einen Weg um die Hindernisse suchen mussten. Ken, Xavier, Tedi, Ron, Edward und Walter ritten unmittelbar hinter Sister. Mit zweiunddreißig weiteren Reitern bildeten sie das erste Feld. Jennifer und Sari ritten als sogenannte Lumpensammler am Schluss. Als Jugendliche hatten sie schwierige Aufgaben zu meistern, und dazu gehörte auch, als Lumpensammler zu fungieren. Dies war überdies eine ausgezeichnete Methode zu lernen, was im Jagdfeld zu tun und was zu unterlassen war. Wer am Schluss ritt, las für gewöhnlich reiterlose Pferde und pferdelose Reiter auf. Bei den meisten Jagden ritten ganz hinten Pferdepfleger, Jugendliche oder Reiter auf unerfahrenen Pferden, die noch nie auf der Jagd gelaufen waren. Oftmals waren die Reiter auf unerfahrenen Pferden die ersten, die aufgelesen wurden. 188
Anders als viele Master hatte Sister Jugendliche gern vorn, aber sie mussten sich zuerst ihre Sporen verdienen. Die verdiente man sich hinten. Bobby schickte die Jugendlichen in seinem Feld voraus, um Gatter zu öffnen. Er rechnete sich aus, dass er an jedem Gatter drei bis fünf Minuten verlieren würde, und diese Zeit musste aufgeholt werden, andernfalls würde er Sister und die Hunde aus den Augen verlieren. Was nicht gut wäre. Alle saßen mucksmäuschenstill. Lärm kam von St. Just, der über ihnen krächzte. »Ich weiß, wo ein Fuchs mit einer entzündeten Pfote ist. Den könntet ihr töten.« »Hört nicht auf ihn«, warnte Dasher die Junghunde. »Er führt euch zu einem Fuchs, aber er führt euch auch ins Verderben.« Die Hunde hörten eine lange, aufsteigende Tonfolge, gefolgt von zweimaligem kurzen Tuten.
Trident, der noch nicht alle Signale auswendig kannte, fragte seine Schwester Trudy: »Was heißt das?« »Ah, er ruft uns nicht zurück, er will uns sagen, wir sollen rechts-rum gehen.« Trudy sah Asa nach rechts laufen und den Bach überqueren. »Ich weiß nicht, ob ich mir die vielen Signale jemals merken kann«, meinte Trident bekümmert. »Das wird schon«, beruhigte Delia ihn. »Schau Asa und Diana zu. Kümmer dich noch nicht um die Kopfhunde. Behalt die erfahrenen Hunde im Auge.« »Warum will er uns aus dem Bachbett haben? Ist die Wittrung hier unten denn nicht besser?«, fragte Trident mit dem deutlichen weißen Y am Kopf. »Weil der Wind sich gedreht hat. Er drängt uns in den Wind«, antwortete Delia. »Warum gehen wir nicht einfach hier unten am Wasser weiter?«, fragte Tinsei. Eine gute Frage. »Die Bäume und das Unterholz halten den Wind ab. Aber da oben«, Delia wies mit dem Kopf auf höheres Terrain, »weht er 189
ein bisschen steifer. Und wenn wir dort Wittrung aufnehmen können, folgen wir ihr überallhin, und wenn wir im Wind nichts finden, können wir jederzeit hierher zurück, wo es länger kühl bleibt. Vertrau auf Shaker.« »Wissen die anderen Menschen das auch alles?«, fragte Trident. Delia lachte. »Nein, Kleiner, die versuchen bloß, sich auf ihren Pferden zu halten.« »Wissen es die Piköre?« Trudy überquerte den Bach; das klare Wasser war kalt. »Manche ja. Andere reiten bloß scharf«, sagte Delia. Asa, der jetzt bei ihnen war, sagte mit seiner tiefen Stimme: »& ist Glaubenssache, dass alle Piköre oder Pikörinnen meinen, mit Hunden reiten zu können - bis sie das Horn am Mund haben.« »Wieso?« Trinity sprang elegant über einen alten Baumstamm. »Das ist ein bisschen wie der Unterschied zwischen einem Leithund und einem Spürhund. Der Leithund muss wissen, wo alle sind und was der Fuchs und die Menschen womöglich machen werden. Denk dran, sie sind immer hinter uns. Der Spürhund prescht vor, um Wittrung aufzunehmen. Das ist alles, was ein Jagdhund braucht, eine ausgezeichnete Nase und einen ausgezeichneten Trieb. Er braucht kein Hirn im Kopf, und ich sag euch, Dragon hat keins. Also macht dem Esel nichts nach.« Die Junghunde kicherten. Delia fügte hinzu: »Aber Cora ist klug. Sie hat Verstand und sportliches Können. Und eine Nase hat das Mädchen!« Just in diesem Moment wurde Cora fündig: »Hab was!« Dragon sauste zu ihr. »Jajaja. Ist gut.« »Gott, wie ich ihn hasse«, knurrte Asa, während die Junghunde ganz aufgeregt vorwärtsstürmten. Delia lief lachend mit Asa.
Diana, die Nase am Boden, schätzte, dass die Wittrung etwa eine Stunde alt war, sich aber noch halten würde. Da sollten sie das Beste daraus machen. Sie wusste nicht, wer der Fuchs war. Oft wusste sie es. Sie kletterten die Böschungen hoch, ließen den Bach hinter 190
sich und kamen auf eine ausgedehnte Heuwiese; sechzig Morgen abgeerntetes Heu war zu großen Ballen gerollt. Das war Galoppgebiet. Sister setzte über die Palisade, die Walter in den Zaun eingebaut hatte. Das Hindernis aus hochstehenden Brettern wirkte gefährlich. Das kam daher, dass Walter bei der Errichtung übereifrig gewesen war. Es war einen Meter hoch, wirkte aber wie einszwanzig. Ein paar Reiter beschlossen spontan, sich dem hinteren Feld anzuschließen. Die übrigen gaben Schenkeldruck, packten die Mähne und segelten hinüber. St. Just schwebte noch einmal über ihnen und berichtete krächzend von dem Fuchs mit der wunden Pfote, aber niemand hörte ihm zu. Wütend kackte er auf eine nagelneue Samtkappe, dann flog er davon. Keepsake streckte sich, hielt den Kopf gesenkt und bewegte sich mühelos vorwärts. Sie liebten offenes Gelände, er genauso wie Sister. Sie waren so schnell, dass ihr die Augen tränten. Ronnie Haslip verlor eine Kontakdinse. Er fluchte, ritt aber unverdrossen weiter. Dann würde er das Auge eben beim Sprung zukneifen. Betty, die das Gelände klug nutzte, übersprang am Ende der großen Heuwiese ein Hindernis, drei große, mit einem dicken Tau zusammengebundene Bretter. Sie lauschte angestrengt. Shaker hatte »Gone away« geblasen, als alle Hunde, der Spur folgend, aus dem Fuchsunterschlupf ausbrachen. Ab und zu rief Shaker etwas Aufmunterndes. Warum das schöne Geläut der Hunde durch ununterbrochenes Blasen stören? Die Reiter stürmten über die Heuwiese, setzten über das Dreibretterhindernis auf eine kleinere, vielleicht fünfundzwanzig Morgen große Weide. Die Hunde verließen die Weide, indem sie auf der anderen Seite unter dem Zaun durchkrochen oder das überbreite Hindernis im Zaun nahmen. Dieses etwa ein Meter hohe Hindernis war sage und schreibe acht Meter breit. 190
Shaker und Gunpowder schwebten hinüber, Sister und Keepsake desgleichen. Hinter sich hörte Sister Hufe auf der Erde aufschlagen, das leise Klirren von Kinnketten auf Gebissen, gelegentlich ein schweres Keuchen. Sie drehte sich nicht um. Ihre Aufgabe war es, hinter ihrem Meuteführer zu bleiben. Ron und Xavier nahmen das breite Hindernis nebeneinander. Keiner konnte sich ein leises triumphierendes Trällern verkneifen. Einige Leute hinter ihnen applaudierten.
Der Fuchs, Prescott, einer von Targets und Charlenes neuem Wurf, rannte im Affenzahn und schlug einen scharfen Haken nach links in den Wald auf der anderen Seite des überbreiten Hindernisses. Er sauste über Moos, über Steine und tauchte dann in einen Bau ab, der akkurat unter den Wurzeln eines mächtigen Walnussbaumes angelegt war. Überall ausgeworfene Erde kündete von seiner Bleibe. Die Hunde stellten ihn. Die Junghunde vom T-Wurf drängten sich ganz nach vorn, und Trident grub sich sogar in den Bau hinein. Shaker saß ab, und während er die triumphalen Siegestöne blies, ritt das Feld heran. Fünf Minuten später saß er, nach viel Lob, wieder auf Gunpowder. »Ich denke, ich geh zurück auf die große Wiese und dann auf die Südseite, wo Walter Mais gepflanzt hat.« »Sehr gut«, antwortete Sister lächelnd. Sie sprangen wieder über die drei Bretter, trabten über die kleinere Weide, übersprangen das überbreite Hindernis. Andere fanden, dies sei eine gute Gelegenheit, Sprünge zu zweit oder gar zu dritt nebeneinander zu probieren wie eine Jagdmannschaft. Weil die Hunde nicht unterwegs waren, war Sister an der Seite stehen geblieben, um den Spaß zu beobachten. We es sich für eine Jagdleiterin geziemt, war sie streng, aber kein Spielverderber. Es war amüsant zuzusehen, wie die provisori 191
schen Mannschaften versuchten, das Hindernis synchron zu nehmen. Ron und Xavier sprangen genau zeitgleich. Ken, Tedi und Edward schafften es beinahe und ernteten anerkennendes Lächeln für ihre Bemühungen. Sister hörte leichtes Geplapper hinter sich. Sie wusste, die Leute würden verstummen, sobald die Hunde wieder losgelassen wurden. »Wisst ihr noch, wie Nola und Guy dieses Hindernis Händchen haltend genommen haben?«, erinnerte Ron sich lachend. »Ich glaube, das war eins der wenigen Male, als ich richtig neidisch war«, sagte Ken. »Sybil und ich haben es versucht, aber nicht geschafft.« Xavier reichte seinen Flachmann herum. »Komisch. Wisst ihr, was mich neidisch gemacht hat? Dass Guy den Spitznamen Heißsporn hatte. Ralph und ich haben den Namen gehasst. Ist euch schon mal aufgefallen, wie die Menschen meinen, ihrem Namen gerecht werden zu müssen? Heißsporn, der Ungestüme. Ist ihm zu Kopf gestiegen.« »Wer hat ihn zuerst so genannt?« Ken versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, Nola hat damit angefangen.« Ron leckte sich die Lippen. Xavier füllte guten Stoff in seinen Flachmann. »Sie hatte für jeden einen Spitznamen«, sagte Xavier.
»Schnurrbart. Das war meiner. Hab ihn mir abrasiert, als wir wussten, dass sie nicht wiederkommen würde.« Dem folgte eine Pause. »Meiner war Zorro«, sagte Ron mit einem leicht verlegenen Grinsen. »Wegen der heißen Klinge?« Ken konnte es sich nicht verkneifen. »Ich lach mich kaputt«, sagte Ron sarkastisch. Er gab Xavier seinen Flachmann zurück. »Nein. Weil ich im Studentenwohnheim in eine Schlägerei geraten bin und zwei blaue Augen abgekriegt habe. Sie sagte, ich sähe aus, als würde ich eine Maske tragen. Ich fand Zorro okay.« 192
»Sie hat Sister >Artemis< genannt«, erinnerte sich Ken. »Und dich hat sie >Di Maggio< genannt«, erinnerte Xavier ihn. »Ist nicht wahr.« Ken wurde rot. »Dicker Prügel.« Ron lachte. »Als ob sie das gewusst hätte.« Ken war ehrlich verlegen. »Oh, diese enganliegenden Reithosen.« Ron verdrehte die Augen. »Und ich hab bloß eine Kontaktlinse drin, aber, Ken, die Ausbuchtung ist unübersehbar.« »Seht ihr, ich hatte recht, Zorro, die heiße Klinge.« Ken lachte. »Als sie klein waren, hat sie Sybil >Möppel< genannt, aber ich kann mich an keinen Spitznamen erinnern, als sie älter waren«, berichtete Xavier. »Big Sis, große Schwester«, erwiderte Ken. »Nicht originell, aber passend. Wisst ihr was, ich hab sie heute bloß einmal ganz kurz gesehen. Hoffentlich kennt sie sich im Gelände aus.« »Sybil? Machst du Witze?« Ron bewunderte Sybil. »Was weißt du denn, Zyklop?«, zog Ken ihn auf. »Hey, ich kann mit einem zugekniffenen Auge besser springen als du mit zwei offenen«, sagte Ron augenzwinkernd. »Dann fang mal lieber an zu blinzeln, Freundchen; denn Sybil ist gerade losgeritten.« Ken setzte ihr nach. »Verdammt, das haben wir jetzt von der Quatscherei!« Ron wusste, er hätte mehr auf das achten sollen, was vorging. Die Hunde, jetzt im Maisfeld, waren hinter einem anderen Fuchs her. Diese Hatz war kurz, aber belebend. Hunde, Master und Meuteführer waren hochzufrieden. Sie sammelten sich und ritten zurück zu Mill Ruins und zu ihren Anhängern. Sister unterhielt sich auf dem Rückweg mit Bobby. Er war zu ihr geritten, und das hintere Feld mischte sich unter das erste Feld, was stets vergnüglich war. »Bobby, wenn ich mich recht erinnere, war dein Kindheitsspitzname Blaufleck. Hat dich das fürs Leben gezeichnet?« 192
Er lachte. »Nein. Wie kommst du darauf?« »Spitznamen. Ich hab mitgekriegt, wie die drei Musketiere dahinten sich über Spitznamen unterhalten haben. Ron meinte, Guy hätte dem Namen Heißsporn
gerecht werden müssen, nachdem Nola ihm den gegeben hatte. Meinst du wirklich, er war von Shakespeare inspiriert?« »Keine Ahnung.« »Er war impulsiv.« »Er hatte eine schnelle Faust.« »Ich frage mich, ob wir was übersehen.« »Etwa frühzeitige Ejakulation?« »Bobby, der Gedanke ist mir nie in den Sinn gekommen!« Was ihr in den Sinn kam, waren die Worte von Shakespeares Heißsporn: »Ei, welchen Haufen zuckriger Artigkeit bot mir der schmeichlerische Windhund da!« Sie hatte das Gefühl, der Mörder bot ihr und allen anderen einen Haufen zuckriger Artigkeit.
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mputieren. Anders ist sie nicht zu retten«, sagte Dr. Middleton ernst. Walter
und Sister beugten sich über den Edelstahltisch, auf dem der narkotisierte Fuchs lag. Mit Hilfe von Sisters Anweisungen und einer Kastenfalle hatte Walter die Rotfuchsfähe mit der entzündeten Pfote gefangen. Er hatte sie bei Mill Ruins umherhumpeln gesehen. Als sie sich vom Futter abwendete, wusste er, dass die Entzündung sich verschlimmerte. »Was meinen Sie, wie viel Sie von der Pfote amputieren müssen?« Walter streichelte den schönen Kopf des Tieres. »Das weiß ich erst, wenn ich drinnen bin und sehe, wie weit sich die Infektion ausgebreitet hat. Sie ist im Knochen, und das
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macht mir Sorgen. Die Anzahl der weißen Blutkörperchen hat astronomische Ausmaße. Ich muss das jetzt machen.« »Natürlich müssen wir sie retten. Ich komme für alle Kosten auf«, sagte Sister. Sie liebte alle Füchse, und diese wunderschöne junge Fähe mit der makellosen weißen Schwanzspitze war eine Tochter von Target. »Ich fürchte, sie wird im Freien nicht überleben können.« Dr. Middleton setzte seine Brille ab. Chris Middleton, Tierarzt mit Leib und Seele und auch leidenschaftlicher Fuchsjäger, besaß das Vertrauen der Gemeinde. »Dann muss sie eben in einem Zwinger leben«, erklärte Walter. »Ich kann ihr ein schönes Heim mit einer Hundehütte bauen, und ich werde ihr auch einen großen Bau graben.« »Dann müssen Sie einen halben Meter tief graben und einen Maschendrahtzaun anbringen. Selbst mit einer Pfote weniger wird sie versuchen, sich auszugraben.« »Bis sie so weit genesen ist, um nach Hause zu kommen, wird sie alles haben, was sie braucht.« Walter kraulte ihre Ohren.
»Dann mal los. Ich mache mich an die Arbeit.« »Haben Sie was dagegen, wenn ich dableibe?«, fragte Walter. »Nein. Es freut mich, Sie hier zu haben.« Chris war schon dabei, sich die Hände zu desinfizieren. »Meine Herren, ich lasse euch jetzt allein, so gern ich zuschauen würde.« Sister tätschelte die Seite der Fähe. »Du wirst das überstehen, Mädchen. Du bist in guten Händen.« Sie sah Walter an und lächelte. »Vielleicht sollte ich sagen, in zwei Paar guten Händen.« »Er versteht mehr davon als ich.« Walter lächelte zurück. »Ich brauchte nur ein einziges Tier in- und auswendig zu lernen. Er musste Dutzende lernen.« »Vogelknochen. Ziemlich komplizierte Materie.« Chris streifte Latexhandschuhe über. »Walter, desinfizieren Sie Ihre Hände. Kann sein, dass ich Sie brauche.« 194
»Okay, Jungs. Walter, ruf mich an und sag mir Bescheid.« Sister stieß die große, schwere Schwingtür auf und ging durch den kurzen Flur zum Wartezimmer. Sybil Fawkes, die mit einem großen Sack Katzenfütter beladen zur Eingangstür hinauswollte, war überrascht, als Sister auftauchte, um ihr die Tür aufzuhalten. »Wo kommst du denn her?« »Operationssaal.« »Hoffentlich kein Jagdhund oder Raleigh?« »Nein. Walter ist es gelungen, die verletzte Fähe auf seinem Grundstück einzufangen. Chris behandelt sie gerade.« Sie klappte die Hecktür von Sybils Mercedes-Kombi auf. »Danke. Meistens hilft mir das Mädchen vom Empfang, aber heute sind alle sehr beschäftigt.« Sie atmete keuchend aus. Der Vierzig-Pfund-Sack kam ihr schwerer vor als sonst. Sie schloss die Hecktür. »Sister, ich wollte dir sagen, ich bin nicht Doug Kinser, aber ich lerne da draußen eine Menge.« »Ich bin froh über deine Hilfe, und ich glaube, du wirst dich sehr gut machen.« »Danke. Ich bin immer so aufgeregt.« »Kein Tag ist wie der andere. Wenn man es recht bedenkt, die Fuchsjagd ist ein Sport ohne Auszeiten, ohne gepflegtes Spielfeld, ohne zeitliche Begrenzung. Und wenn ich mir andere Sportarten anschaue, du weißt ja, wie ich Baseball und Football liebe, dann sehe ich Mann gegen Mann antreten. Meistens sind es jedenfalls Männer.« Sie lächelte. »Aber bei uns ist es Mensch gegen Fuchs. Rate mal, wer gewinnt.« »Demütigend.« Sybil bemerkte, dass der Hartriegel sich rot färbte. »Nicht mehr lange bis zur Eröffnungsjagd.« »Nein. Spätestens in zwei Wochen dürften wir den ersten Frost haben.« »Sister, danke für alles, was du für Mom und Dad getan hast. Und für mich.« »Deine Eltern haben mir geholfen, die Zeit nach Rays Tod zu überstehen, und dann die nach Big Raymonds Tod. Dazu 194
sind Freunde da, und es ist ein Glück für mich, euch alle als Freunde zu haben. Eine seltsame Zeit ist das. Oder vielleicht bin ich seltsam. Ich hoffe, dass auf After All alle ...« »Zurande kommen?«, beendete Sybil die Frage für sie. »So furchtbar es war, Nola zu finden, irgendwie war es auch eine Art Abschluss. Verstehst du, was ich meine?« »Ja.« »Ich war heute morgen bei Frances. Sie hält sich tapfer, aber es ist schrecklich für sie, dass manche Leute denken, Ralph hätte sich das alles irgendwie selbst zuzuschreiben. Ist vielleicht leichter, das zu denken.« »Wieso?« »Dem Opfer die Schuld geben. Das mildert die Bedrohung. Die Menschen suchen immer nach leichten Lösungen, nicht?« »Fühlst du dich bedroht?« Nach einer kurzen Pause sah Sybil Sister in die Augen. »Ja.« »Hat dich jemand konkret bedroht?« »Nein, aber ...«, sie druckste herum, »ich fühle mich beobachtet. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich spüre eine wachsende Spannung.« »Ja«, Sister kannte das Gefühl sehr gut. »Und am Abend nach Ralphs Beerdigung hat Ken gesagt, das geht alles auf Nola und Guy zurück. Dann hat er mir wirklich einen Schrecken eingejagt, weil er gesagt hat, manche Leute denken, ich hätte Nola wegen des Erbes umgebracht.« Ihre sahnige Gesichtshaut färbte sich dunkel. »Ich hätte ihm fast eine geknallt, auch wenn er das selbst nicht glaubt. Ich weiß nicht, wann ich mich schon mal so aufgeregt habe. Noch nie.« »Wäre mir genauso gegangen.« »Hast du das auch gehört, Sister?« Sie log nicht. »Ja.« »Du glaubst das doch nicht - oder?« Sybils Stimme hatte einen wehmütigen Ton angenommen. »Nein. Wenn, dann hättest du Nola umgebracht, als ihr 195
Teenager wart. Wie normale Geschwister.« Sie lächelte in der Hoffnung, sie ein wenig aufzumuntern. Sybils hellblaue Augen füllten sich mit Tränen. »Wie oft habe ich ihr gesagt, dass ich sie hasse. Dass ich wünschte, sie wäre tot. Wie oft habe ich ihr eine Colaflasche an den Kopf geworfen. O Gott.« »Ihr wart Kinder. Sie hat eben Gleiches mit Gleichem vergolten. Wie war das noch, hat sie nicht einmal kurz vor der Eröffnungsjagd die Beinevon deinen sämtlichen Reithosen zugenäht?« »Ach das!« Sybil lächelte. »Einmal hat sie deinem Pferd Ingwer unter den Schweif gerieben. Das war die reinste Rodeo-Schau.« »Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich oben gehalten habe.« Sibyls Miene hellte sich auf. »Wenn ich meine zwei Jungs angucke, frage ich mich, wie ich ihre Teenagerjahre überleben soll.«
»Das schaffst du spielend. Alle haben deine Teenagerjahre überlebt und meine auch, das ist nun mal so.« Sie legte ihre Hand auf Sybils Arm. »Du sagst, du fühlst dich beobachtet. Ist es jemand Bestimmtes?« »Es ist so ein generelles Gefühl. Ich nehme an, manche Leute glauben wirklich, ich habe Nola umgebracht. Andere fragen sich vielleicht, ob ich unter der Anspannung zusammenbrechen werde. Sie halten mich nicht für eine Mörderin, aber man weiß ja, schwere Zeiten und so. Vielleicht bin ich auch überempfindlich. Ich bin schreckhaft, ich kann nichts dafür. Ich spüre dieses ... dieses schrecklich Unheimliche. Als hätte sich ein Ungeheuer unter meinem Bett versteckt.« »Liebes, ich werde dir jetzt eine sehr kränkende Frage stellen. Ich hoffe, unter den gegebenen Umständen wirst du mir verzeihen.« »Nur zu.« Sybil fragte sich, womit diese Dame sie jemals kränken könnte. »Hast du mit Guy Ramy geschlafen?« 196
Sybil blinzelte. »Nein. Ich bin nicht gekränkt, aber nein. Warum?« »Sozusagen aus Rache für die vielen Liebhaber, die Nola sich genommen hat.« »Ach so.« Sybil zuckte die Achseln. »Sie war schön. Von den Göttern geküsst. Schon bevor ich in die Schule kam, wusste ich, dass ich mich nie mit Nola würde messen können.« »Das muss sehr schwer für dich gewesen sein.« »Es hat höllisch weh getan. Was konnte ich machen? Sie war meine Schwester. Ich habe sie geliebt.« »Wenn es dir ein Trost ist, sie hat dich auch geliebt, und du bist auch eine schöne Frau. Aber neben Nola verblassen wir alle. Sie war wie Ava Gardner oder Vivian Leigh. Überirdisch schön.« Sie lächelte. »Meine Vergleichsschönheiten zeigen mein Alter.« »Überhaupt nicht. Du wirst nie alt.« Sie wechselte das Thema. »Man merkt Mutter an, dass es ihr besser geht. Sie war nämlich bei Madame Pacholi, der Kartenlegerin. Ihr richtiger Name muss Smith sein oder Schwartz oder so ähnlich. Jedenfalls hat Mutter sich die Karten legen lassen, und eine Karte wurde aufgedeckt, die angeblich Gerechtigkeit verkörpert. Jetzt ist Mutter überzeugt, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen wird. Oh, und du wirst lachen. Sie hat nach dir gefragt, und Madame Pacholi hat dir in deiner Abwesenheit die Karten gelegt. Und ich glaube, es wurde eine Königin aufgedeckt, aber es geht allein darum, dass du noch mit hundert auf Fuchsjagd gehst. Toll, was?« »Erzähl das mal Crawford Howard.« Sie lachten. »Apropos beobachtet werden, bei uns ist doch die kleine Schreieule, und der scheint es egal zu sein, ob wir sie sehen. Sie blinzelt und zwinkert. Manchmal ist die große bei ihr, die Ohreule. Vielleicht haben wir mehr Mäuse, als wir dachten.«
»Die kleine sehe ich auch ab und zu.« Sister fand die kleine Eule entzückend, solange sie den Schnabel hielt. »Vermutlich hat sie Gefallen an dir und Tedi gefunden.« 197
»Oh, Dad zwinkert sie auch zu.« »So ein Flittchen.« »Warum hast du gefragt, ob ich mit Guy geschlafen habe? Du hast doch nicht nur Rache gemeint.« »Ken.« »Wie meinst du das?« »Wenn Ken dahintergekommen wäre, hätte er Guy umgebracht.« Eine Art geheimer Stolz durchfuhr Sybil bei dem Gedanken, dass ihr Ehemann aus Eifersucht einen Mann töten würde. Dieser Gedanke verflüchtigte sich rasch. »Er ist nicht der Typ dafür. So leidenschaftlich ist Ken nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Ist schon komisch mit den Männern. Mal wollen wir sie leidenschaftlich und unbeherrscht, mal wieder nicht. Zu den schönen Dingen beim Altwerden gehören Eigenschaften wie Güte, Humor, Zuverlässigkeit und Mitgefühl - die werden dann richtig sexy.« »Raymond hatte sie alle.« »Allerdings. Aber er war ein leidenschaftlicher Mensch, der selten einer Schönheit begegnete, die er nicht zu erobern versuchte.« »Gott, du glaubst doch nicht, dass er mit Nola geschlafen hat?« »Nein.« Sister lachte. »Er hatte immer was für zehn Jahre jüngere Frauen übrig, und als er die sechzig erreichte, für zwanzig Jahre jüngere, aber Nola war vor ihm in Sicherheit. Ich vermute aber, deine Mutter musste ihm ein paarmal eine runterhauen, und sie hatte immer den Anstand, mir nichts zu sagen.« »Wie hast du das ausgehalten?« »Ich habe ihn geliebt. Du kennst einen Mann nicht richtig, bis du mit ihm zusammenlebst, und Raymond platzte jeden Tag vor Energie und Liebe zum Leben. Deswegen habe ich mich in ihn verliebt, und diese Energie ist ihm nie abhanden gekommen.« 197
»Er war sehr amüsant. Er hat uns Kinder manchmal vorne reiten lassen, wenn er das Feld anführte. Er hat uns das Gefühl gegeben, wichtig zu sein.« »Sein Charme. Sein unwiderstehlicher Charme.« »Komisch, du hast gesagt, man kennt einen Mann nicht, bis man mit ihm zusammenlebt. Ich glaube aber, man kann mit einem Mann zusammenleben, ohne ihn zu kennen. Ich denke, zwei Menschen, egal ob Mann und Frau, ein Liebespaar oder Eltern und Kinder, können immer etwas übersehen. Und manchmal ist das etwas, das alle anderen wissen. Eigenartig.« Sie machte eine kurze Pause. »Du sagst, Ken könnte Guy aus Eifersucht umgebracht haben. Und Nola? Könnte sie Guy umgebracht haben?« »Es ist möglich, dass sie von zwei verschiedenen Menschen umgebracht wurden«, antwortete Sister.
»Einer. Ich glaube, es war einer.« »Glaube ich auch, aber ich lasse meine Gedanken überallhin schweifen.« »Ich wäre nie mit Guy Ramy ins Bett gegangen, selbst wenn er was von mir gewollt hätte, bevor ich fest mit Ken zusammen war. Er war mir zu - angeberisch.« »Das war er.« »Wie eine rote Corvette. Nola ist drauf reingefallen.« »Wenn sie in sexueller Hinsicht mit einem Mann fertig war, war sie dann wirklich fertig mit ihm? Sie hatte eine Affäre mit Ralph. Als es vorbei war, hat sie ihn dann in Ruhe gelassen, oder ist sie wiedergekommen, bloß um Macht über ihn auszuüben?« »Fertig«, sagte Sybil nur. »Armer Ralph. Ich hatte ihn gern.« »Kindheitsfreundschaften. Das sind die besten.« Sister atmete durch die Nase aus. »Und weißt du, was? Ich muss dauernd an Peppermint denken, dass Pepper uns zu Nola geführt hat. Das hat so etwas wie Poesie, etwas, das ich nicht verstehe. Ich kann es nicht in 198
Worte fassen, aber«, sie schloss die Augen, »Gott, ich wollte, alles war vorbei!« »Es wird vergehen.« »Weißt du was, was ich nicht weiß?« »Nein, aber die Entdeckung von Nolas und Guys Leichen hat bestimmt nicht zur Gelassenheit ihres Mörders beigetragen. Er ist überheblich und opportunistisch, aber auch dumm. Seine Arroganz hat ihn dumm gemacht. Ralph auf diese Weise umzubringen.« »Vielleicht dachte er, es ging um Töten oder Getötet werden.« Sie scharrte auf dem Steinbelag des Parkplatzes. »Ich hoffe, ich werde ihn verhaftet und bestraft sehen.« »Ich denke, jeder in unserem Jagdfeld denkt so, bis auf einen.« »Wer?« »Der Mörder.«
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Sie wird sich gut erholen«, berichtete Walter Sister euphorisch über die Operation der Fähe. »Das ist mal eine gute Nachricht! Die können wir hier gut gebrauchen«, sagte Sister erfreut am Zwingertelefon. Nach weiteren Einzelheiten über die Genesung der Fähe, die Walter Bessie getauft hatte, legte Sister auf und erstattete Shaker ausführlich Bericht. Danach erzählte sie Shaker etwas, das ihr schon seit geraumer Zeit durch den Kopf gegangen war. »Also, das ist höchst merkwürdig, Walter erinnert mich an Raymond. Er bewegt sich sogar wie Raymond. Dasselbe Kinn, dieselben breiten Schultern. Er ist ein bisschen kleiner und stiller als Raymond, aber es ist unheimlich. Da ist mir eine Erkenntnis gedämmert.« Sie strahlte Shaker an. »Ist es dir auch aufgefallen?« »Hm, tja, kann schon sein«, stammelte Shaker. 198
Sister erkannte augenblicklich, dass ihr Meuteführer mehr wusste als sie. »Ah.« Lange Pause. Dann: »Weiß Walter es?« »Nein.« Schrecklich verlegen hob er kurz die Schultern. »Shaker, red nicht darum herum. Ich hätte es mir denken können. Es ist sonnenklar.« »So was passiert eben.« »Bei Raymond ganz sicher«, sagte sie voller Überzeugung. Sie atmete durch, dann lächelte sie. »Woher weißt du es?« »Er hat es mir in einer schwachen Stunde gebeichtet.« »Von Scotch unterstützt?« »Von Scotch und seinem Lungenemphysem. Er hat mich gebeten, auf Walter aufzupassen.« »Verstehe. Sie war hübsch, wie ich mich erinnere. Walters Mutter.« »Hübsch waren sie alle, aber Janie, keine war so ein guter Mensch wie du.« Shaker hatte die Stimme gehoben und sah Sister in die Augen. »Danke. Aber ich habe meine Fehler.« Sie sah auf ihre Hände, an denen rote Lehmerde klebte. »Ich kann nicht glauben, dass ich so dumm gewesen bin.« »Du warst nicht dumm.« »Darin nicht.« Sie lächelte traurig. »Darin nicht. Aber ich glaube, ich war ein bisschen in Walter verliebt. Jetzt ergibt es einen Sinn.« Sie tat die Vorstellung mit einer Handbewegung ab. »Jüngere Männer haben keine Augen für eine ältere Frau. Mir ist wohl eben erst klar geworden, wie anziehend er auf mich wirkt.« Sie seufzte. »Die Liebe stirbt nie.« »Ich weiß nicht. Ich versteh mich nicht auf diese Dinge.« Sie schwieg einen Augenblick. »Nun, ich hatte meine Offenbarung. Die Liebe stirbt nie.« Sie schwieg wieder, setzte sich dann plötzlich auf und sagte sehr lebhaft: »Shaker, ich hab's!« »Was?« »Die Liebe stirbt nie! Der Mörder oder die Mörderin liebt Nola oder Guy heute noch.« 2 199
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en ganzen restlichen Tag hatte Sister ein Gefühl, als ob eine glühende Murmel
in ihrem Gehirn herumkullerte, ein quälendes mentales Unbehagen. Wenn sie aufgewühlt war, spendete der Stall ihr Trost. Sie striegelte Rickyroo, Lafayette, Keepsake und Aztec und brachte sie anschließend ins Freie. Die Pferde beruhigten sie und halfen, ihre Gedanken zu ordnen. Sie säuberte die Bürsten, hängte die Trockentücher auf und atmete die belebende Mischung aus Einreibemittel, Heu und Eau de cheval ein. Golliwog hatte es sich auf einer grau-goldenen Abschwitzdecke gemütlich gemacht. Die Decke lag zusammengefaltet auf der großen Satteltruhe, die einmal
Raymonds Großvater John »Hap« Arnold gehört hatte. Raleigh und Gockel waren in einer Box auf die Seite geplumpst und schnarchten; bei jedem Ausatmen flogen winzige Heustäubchen auf. Die große Wanduhr über der Sattelkammertür zeigte halb vier. Sister war der festen Überzeugung, je mehr man Pferde einfach Pferde sein ließ, umso besser benahmen sie sich. Das Tier muss grasen und wandern, grasen und wandern. In einer Box eingepfercht sein, mit allem möglichen aufbereiteten Getreide gefüttert werden, davon wird ein Pferd irre. Sister brachte die Pferde jeden Morgen in ihre jeweiligen Boxen, weil ihre Jungs auch mal jeder für sich sein mussten, und gab ihnen dort melassehaltiges Futter zu fressen. Sie mischte Quetschhafer darunter und so viel erstklassiges Heu, wie sie mampfen mochten. Danach ging sie in den Zwinger, um Shaker beim Füttern und Saubermachen zu helfen. Wenn sie zurückkam, gewöhnlich nach ungefähr zwei Stunden, hatte jedes Pferd seine Ration restlos verputzt. Dann brachte sie die Tiere wieder ins Freie. Die Leute beglückwünschten sie zum Zustand ihrer Pferde, 200 zu dem glänzenden Fell, den tadellosen Hufen. Die Augen strahlten, die Tiere machten einen munteren Eindruck. Sie erwiderte, ihre Methode sei nur vernünftig. Nichts Übertriebenes. Man höre den Futterhändlern respektvoll zu, bedenke aber, dass sie darauf aus waren, einem eine Menge Zeug zu verkaufen, das man nicht brauchte. Man lasse den Weiden ausgezeichnete Pflege angedeihen, dann ließen die Weiden den Pferden ebenso ausgezeichnete Pflege angedeihen. Man halte bei den Pferden einen gleichmäßigen Ablauf ein. Tiere, Menschen inbegriffen, mögen Gleichmäßigkeit, und dazu gehört regelmäßige Bewegung. Man nehme unbedingt die Dienste des besten Pferdezahnarztes, Tierarztes und Schmieds in der Gegend in Anspruch. Ja, und man gehe auch selbst zum besten Zahnarzt und Arzt. Den Schmied kann man sich schenken. Neulinge stellten oft Fragen, und das war Sister nur recht. Lieber fragen, als sich von dem Typ ausnehmen lassen, der einem eine automatische Bewässerungsanlage für den Stall andrehen will, oder von dem Händler, der einem für ein Vermögen Vitaminpräparate verkaufen möchte. Sicher, für die einen Leute konnten automatische Bewässerungsanlagen und für andere konnten Vitaminpräparate nützlich sein, aber wenn man nichts von Pferden verstand, warf man Tausende von Dollars zum Fenster raus. Eines änderte sich nie. In ihrer vierzigjährigen Zeit als Master hatte Sister einen Neuling nach dem anderen genau das falsche Pferd kaufen gesehen. Fuchsjäger kann man nur werden, wenn man ein voll ausgebildetes Pferd kauft, ein erprobtes älteres Tier, das dem Menschen etwas beibringen kann. Das ist besser als eine Versicherungspolice. Es ist die Versicherungspolice. Aber in all den Jahren hatte Sister nur eine Handvoll Menschen erlebt, die so viel Vernunft bewiesen. Walter war einer von ihnen. Sein Wallach Clemson war vom Aussehen her nicht der
Schönste, er war etwas plump, auch eingebildet. Das Pferd war betagt, wusste aber genau, was es 201
zu tun hatte. Es gab Walter enorme Zuversicht. Walter konnte jagen und auf die Hunde lauschen, statt voller Angst zu reiten. Die Clemsons dieser Welt sollte man vergolden. Auf ihre Art sind sie genauso kostbar wie einst das berühmte Rennpferd Secretariat. Sister sah Aztec, Lafayette, Rickyroo und Keepsake zu, die auf der Weide miteinander spielten, und dachte dabei an die Menschen, die sie durch die Fuchsjagd kennengelernt hatte. Jeder Jagdverein spiegelt die Geschichte seines Reviers wider. Sie dachte an die älteren Menschen, ihre Kindheitsidole, an ihre Altersgenossen und jetzt die Jugend, die ihr nachfolgte. Sie hatte von allen viel gelernt; sie lernte immer noch. Über den Zaun gebeugt, schnupperte sie den ersten Duft-hauch der sich färbenden Blätter. Die glühende Murmel in ihrem Kopf kullerte nicht mehr. Sister hatte einen Plan. Sie fand Shaker beim Ausführen der Welpen, ein Unterfangen, das kräftige Schultern erforderte, weil die Tiere an der Leine zogen und herumhüpften. Lächelnd ging sie neben ihm her und nahm ihm eine Leine ab. »Was verschafft mir dieses unerwartete Vergnügen?« »Shaker, ich habe eine Idee. Sie ist abwegig, aber ich glaube, ich kann den Mörder aus seinem Bau treiben. Wir haben ihn überschössen.« »Darby, Junge, still.« Shakers tiefe Stimme beruhigte einen kläffenden kleinen Kerl. »Tja, er war in Deckung gegangen, soviel wissen wir.« »Es wird etwas Arbeit unsererseits und ein bisschen Glück nötig sein.« Doughboy zog so arg, dass sie fast umgefallen wäre. »Das mit dem Glück«, Shaker zog die buschigen Augenbrauen hoch, »das ist interessant.« Ehe sie ihre Idee darlegen konnte, kam Ben Sidell auf die Farm gefahren. Er stellte den Motor ab, stieg aus dem Streifenwagen und kam zu ihnen. »Tag.« 201
»Guten Tag, Ben. Was können wir für Sie tun?« Sister stellte sich breitbeinig hin, damit Doughboy sie nicht wieder aus dem Gleichgewicht zerren konnte. »Ich wollte Ihnen mitteilen, dass die Waffe, mit der Ralph getötet wurde, eine 3 8er war. Ich kann sie nicht nachverfolgen, es muss also eine alte Waffe sein, die vor der Registrierpflicht oder aber auf dem Schwarzmarkt verkauft wurde.« »Oder auf dem Gebrauchtwarenmarkt?« Shaker wusste, dass man gebrauchte Waffen erwerben konnte, ohne im Computer registriert zu werden. »Möglich. Haben Sie im Feld Leute, die Waffen tragen?« »Ja. Beide Piköre tragen eine mit Schrotkugeln geladene 22 er, die, das sage ich mit Freuden, sie seit Jahren nicht benutzen mussten, und Bobby Franklin trägt eine 38er im Reitrock verborgen.«
»Warum?« »Wir wollen die Leute nicht beunruhigen«, antwortete Sister freimütig. »Nein, das meine ich nicht.« Ben verschränkte die Arme und unterdrückte ein Lächeln. »Ich meine, warum dieses Kaliber? Warum keine 22 er?« »Sollte sich ein Pferd oder ein Hund den Hals brechen, wollen wir das Leiden des Tieres so schnell wie möglich beenden. Und wieder sage ich mit Freuden, das letzte Mal, dass wir das tun mussten, war 1984.« Shaker fügte hinzu: »Und manchmal führen die Rotwildjäger ihr Werk nicht zu Ende. Sie gehen dem Wild nicht nach, oder es entkommt. Dann müssen wir die Tiere töten.« »Sehr betrüblich.« Sister bückte sich und tätschelte Doughboy, der brav still saß und den Sheriff beobachtete. Weil der Hund erst fünf Monate alt war, war sie sehr stolz auf ihn. »Verstehe. Nun, ich könnte mir vorstellen, dass viele von Ihren Mitgliedern alte Waffen haben.« Sister hob die Stimme. »Vermutlich.« »Sie haben Mitglieder, ältere Mitglieder, von denen viele 202
vielleicht Waffen besitzen, die sie in den fünfziger oder sechziger Jahren gekauft haben.« »Ist anzunehmen. Was soll ich tun?« »Sie einsammeln. Ich möchte sie untersuchen. Ich kann von Haus zu Haus gehen und die Herausgabe verlangen, aber ich halte es für besser, wenn Sie darum bitten.« »Das tu ich gern. Sind Sie den ganzen Weg hierhergefahren, um mich darum zu bitten?« »Ah, ja.«/Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Und«, er machte eine kurze Pause, »es ist so schön hier. Ich besuche Ihre Farm so gern. Und ich wollte fragen, ob Sie mir raten können, was ich in Anbetracht Ihrer Position für mich behalten werde, ich wollte fragen, ob Sie mir jemanden empfehlen können, bei dem ich reiten kann - besser gesagt, bei dem ich Reitstunden nehmen kann.« »Ah.« Sie lächelte, Shaker ebenso. »Lynne Beegle. Aber ich muss Sie zuerst fragen, an was für eine Art Reiten hatten Sie gedacht?« »Fuchsjagd. Je mehr ich über diesen Sport erfahre, desto mehr reizt er mich. Scheint kompliziert zu sein.« »Ach, man muss nur das Pferd zwischen den Beinen halten.« Shaker lachte. »Wenn's weiter nichts ist.« Ben lächelte. »Wie ich mich erinnere, Ben, sind Sie aus Ohio, und dort gibt es etliche gute Jagdvereine. Rocky Fork Headley Chagrin Valley, Aliami Valley, Camargo, Grand River und Gully Ridge. Und die gibt es schon lange. Ich glaube, Chagrin Valley wurde 1908 gegründet.« »Camargo und Rocky Fork Headley wurden 1925 gegründet«, ergänzte Shaker. »Wie können Sie sich das alles merken?«
»Man merkt sich gern, was einem gefällt. Ich dachte halt, Sie haben in Ohio vielleicht was vom Jagen mitbekommen.« »Nein. Erst seit ich hier bin.« »Tja, das ist in Virginia eine Lebensart.« 203
»Auch eine Todesart«, bemerkte Ben mit einem sarkastischen Unterton. »Sie müssen den Fuchs nicht jagen, Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu jagen.« Sister atmete aus, worauf Doughboy die Ohren spitzte und sie fragend ansah. »Dies sind schlichtweg außergewöhnliche Umstände.« Shaker bestätigte ihre Aussage mit gemurmelter Zustimmung. Als Ben abgefahren war, brachten die zwei die Welpen zurück in den Welpenpalast, wie sie die Welpenabteilung des Zwingers nannten. »Willst du meinen Plan hören?« »Kann's nicht erwarten.«
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anie, meinst du wirklich?« Tedis schöne blaue Augen blickten sorgenvoll.
»Ja, aber ich kann noch nichts beweisen.« Tedi, Edward, Walter, Shaker und Sister saßen an Sisters Küchentisch. Sie hatte geschwind ein Abendessen für sie zubereitet. Sie waren mit der ausdrücklichen Anweisung gekommen, niemandem zu sagen, wohin sie heute Abend gingen. Keiner Menschenseele. Sister reichte die Erbsen nach links weiter. »Tedi und Edward, ich weiß, die Sache ist sehr beklemmend.« »Wir werden es bewältigen«, sagte Edward mit Nachdruck. »Sybil, Ken, Xavier oder Ron, einer von ihnen muss der Mörder sein. Wenn ihr über jeden einzelnen nachdenkt - jeder hat von Nolas und Guys Tod profitiert. Als Ron sich frisch als Anwalt etablierte, habt ihr ihn engagiert, und mit eurer Versicherung seid ihr auch zu Xavier gewechselt, stimmt's?«, fragte Walter.
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»Stimmt.« Edward nickte. »Ken hat es uns empfohlen, und beide haben uns sehr gute Dienste geleistet.« »Sie haben immer alle zusammengesteckt«, fügte Tedi hinzu. »Unsere Unterstützung in den Anfangen ihres Berufslebens hat ihnen gutgetan.« »Könnte es sein, dass Sybil einen Teil ihrer Gelder an Ron oder Xavier weitergeleitet hat, ohne dass ihr es gemerkt habt?«, fragte Sister. »Bis zu einem gewissen Grad, ja«, antwortete Edward lakonisch. »Wenn es sich um sehr hohe Beträge gehandelt hätte, ich glaube, dann hätte ich es gemerkt.« Sister wechselte das Thema. »Ich habe über Heißsporn nachgedacht. Die einzige Möglichkeit für Heinrich IV, ihn zu besiegen, war teilen und herrschen. Er hat
Heißsporn abgepasst, ehe dieser sich mit seinem Vater verbünden konnte. Hätten die zwei sich vereinigt, dann hätte Sir Henry Percys Vater den Thron bestiegen. Sie waren viel bessere Soldaten als der König. Ich glaube, unser Mörder hat Nola und Guy getrennt. Sie war Guy untreu geworden.« Edward unterbrach sie: »Sie war schließlich nicht mit ihm verheiratet!« »Nein, aber die Liebe ist nicht rational. Mir scheint, Nola und der Mörder hatten beide etwas zu verlieren. Nola hätte Guy verloren, und sie hatte sich am Ende in Guy verliebt. Was der Mörder verloren hätte, weiß ich nicht. Wenn wir die Antwort darauf wüssten, ich glaube, dann hätten wir den Fall gelöst.« Sister sah Walter an; sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, aber sie machte es so geschickt, dass er es nicht mitbekam. »Vielleicht versteife ich mich ja zu sehr auf diese Heißsporn-Sache. Mein Verstand arbeitet in Stößen. Sie führen nicht alle in die richtige Richtung, aber sie feuern mich an.« »Mich auch.« Shaker nahm sich von dem Brathuhn und reichte dann die Platte an Tedi zu seiner Linken weiter. »Und ich habe gemerkt, je älter ich werde, desto nötiger habe ich es, angefeuert zu werden. Sister, lass uns jetzt zur Sache kommen.« 204
»Ach ja, ich schweife ab. Ich möchte, dass Walter sich einen Schnurrbart wachsen lässt oder einen anklebt und eine Schlüsselrolle spielt. Ich möchte, dass wir uns zwei Schauspieler suchen, die reiten können und die Guy und Nola ähnlich sehen.« »Hast du den Verstand verloren?« Edward hatte sich kerzengerade aufgesetzt. »Vielleicht ist davon nicht mehr viel zum Verlieren übrig. Jetzt hör mir erst mal zu, bevor du mir mit deiner gnadenlosen Logik kommst, Edward. Ich glaube, unser Mörder oder unsere Mörderin liebt Nola oder Guy immer noch. Wir müssen ihn oder sie aus der Deckung scheuchen, unseren Fuchs stellen.« »Ah.« Walter war ein Licht aufgegangen, Tedi ebenso. »Vielleicht ist euch aufgefallen, wie sehr Walter Raymund ähnelt. Mit einem Schnurrbart wäre die Ähnlichkeit unmöglich zu übersehen.« Aller Augen waren auf Walter gerichtet, der rot wurde. »Unheimlich.« Tedi blinzelte. »Erinnert ihr euch an Raymonds großes Jagdpferd A. R Hill? Ich habe ein Pferd gefunden, das fast genauso aussieht und sehr brav ist.« Sie lächelte Walter an. »Wir passen gut auf dich auf, Walter.« Zu den anderen sagte sie: »Ich möchte Walter weit genug entfernt platzieren, damit die Leute, wenn sie ihn kurz erblicken - und es wird nicht mehr als ein flüchtiger Blick sein -, nicht recht wissen, ob sie ihn gesehen haben oder nicht. Ich möchte, dass Nola und Guy zusammen auf der Foxglove Farm bei Cindys zwei Teichen sind. Es muss jemanden geben, der uns da helfen kann - wenn es sein muss, wenden wir uns an eine Besetzungsagentur. Ich möchte den Mörder aus seinem Bau sprengen. Lassen wir unsere Toten auferstehen. Sie werden dem Mörder zuwinken. Allerdings können wir kein Ralph-Double nehmen. Das können wir Alice nicht antun.« »Das ist doch Wahnsinn.«
»Edward, wir haben keinen unumstößlichen Beweis. Lieber wahnsinnig sein als nichts unternehmen«, sagte Tedi und berührte dabei Nolas Ring. 205
Sister sagte leise und mit einem leicht belustigten Unterton, in der Hoffnung, Edwards Widerstand zu brechen: »Ich weiß ja, Edward, dass du meine Fähigkeit zum konstruktiven Denken nicht überschätzt. Ich musste auf die Phantasie zurückgreifen.« »Also, ich mach's«, sagte Walter entschlossen. »Du führst das Feld an. Was machst du, wenn die Leute die Erscheinungen sehen?« Edwards Stimme triefte von Sarkasmus. »Ich werde die Erscheinungen womöglich nicht sehen.« »Ah. Du reitest vorneweg. Bis es dir jemand erzählt, haben sie sich verflüchtigt.« Tedi hatte kapiert. »Sybil wird an dem Tag Feldpikör sein.« Edward glaubte keine Sekunde, dass seine Tochter eine Mörderin war. »Ich nehme sie ins Feld und lasse Jennifer als Pikörin reiten. Sie ist nicht sehr erfahren, aber sie kann genug, um die Hunde zwischen sich und dem Meuteführer zu halten. Mehr kann man nicht verlangen. Werdet ihr mir helfen?« Sie berührte Shakers Arm. Sie wusste, er würde mitmachen, und Walter hatte soeben zugestimmt. »Ich bin dabei. Ich tu alles, um Nolas Mörder zu schnappen, und so wird Sybils Name reingewaschen. Ich weiß, dass man sie verdächtigt. Gerüchte sickern unter der Türe durch.« »Unmöglich! Sybil hätte Nola niemals umgebracht.« Edward war puterrot geworden. »Ich fass es nicht, dass irgendwer so etwas von Sybil behauptet.« »Ich will alles versuchen.« Tedi beugte sich zu Sister hinüber. »Ich helfe dir bei der Suche nach Guy und Nola. Ich habe noch Nolas Anziehsachen.« »Und wir dürfen alle beten.« Sister atmete ein. »Um ein bisschen Nebel. Nur ein bisschen.« 205
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ister und Tedi arbeiteten wie besessen. Mit Hilfe von Freunden im Filmgeschäft
fand Tedi zwei von der Statur her passende Schauspieler, die ein bisschen reiten konnten. Sie ließ sie im Flugzeug nach Richmond kommen. Ihre Freundin Mary Robertson, ehemals Master des Deep-Run-Jagdvereins, brachte sie bei sich unter, damit sie nicht im Jefferson-Jagdrevier gesehen wurden. Sie arbeitete auch wohlweislich ein wenig mit ihnen an ihren Reitkünsten. Weil Schauspieler auf Engagements aus sind, übertreiben sie es in der Regel mit ihren Referenzen. Die junge Dame, Melissa Lords, war ein paarmal im Western-Sattel geritten.
Mary hatte sich bei der Arbeit mit ihr nach ihrem Können gerichtet. Aber sie hatte es geschafft, dass die schöne Melissa sich beim Traben einigermaßen sicher fühlte. Als Tedi hinfuhr, um sich nach ihren Fortschritten zu erkundigen, brach sie bei Melissas Anblick in Tränen aus. Der Schauspieler, Brandon Sullivan, hatte mehr Reiterfahrung. Er sah fabelhaft aus, was die Mädchen im Stall in helle Aufregung versetzte. Mary sollte die Pferde sowie Melissa und Brandon frühmorgens am Jagdtag zur Roughneck Farm bringen. Sie selbst wollte als Gast mitreiten. Das würde keinen Verdacht erregen, weil Sister oft einen Jagdtag beim Deep-Run-Verein verbrachte und Mary Robertson, Tom Mackell, Red Dog Covington und Ginny Perrin, die Joint-Master, sich revanchierten, indem sie ihr die Ehre erwiesen. Walter parkte an diesem Morgen sein Auto in der Scheune, damit niemand es sehen konnte. Sister hatte diesen Tag anhand eines Anrufs bei dem Wettermann Robert Van Winkle gewählt, einer lokalen Berühmtheit mit einer aufrichtigen Leidenschaft für die Wetterbeobachtung. 206
Er sagte ihr, am vierten oder fünften Oktober könnte es etwas Bodennebel geben. Eine kalte Luftströmung dürfte nach Mittelvirginia gelangen. Wie versprochen, bat Sister die Vereinsmitglieder, ihre 3 8er Waffen vom Sheriff überprüfen zu lassen. Die Leute erfüllten ihr die Bitte. Es kam nichts dabei heraus, was nicht überraschte. Sie rief Alice Ramy in Blacksburg an und sagte, sollten sie an der TH oder zu Hause irgendwelche wilden Gerüchte erreichen, möge sie sie unbeachtet lassen, bis sie Gelegenheit haben würden, miteinander zu reden. Am Dienstag, dem dritten Oktober, hatte sie das Gefühl, sie alle seien zu allem bereit wie noch nie. Es war noch warm, der Himmel strahlend blau. Das Wetter machte ihr Sorgen. Am Nachmittag führten sie und Shaker die Welpen aus. »Hast du Sari Rasmussens Mutter mal näher ins Auge gefasst?« Shaker verdrehte die Augen. »Aufdringliches Weib.« »Ich oder Lorraine?« »Du.« Er lachte. »Ich habe ein paarmal mit ihr gesprochen -wenn sie vorbeikam, um Sari abzuholen. Langsam gefallen mir die Tage, wenn Jennifers Auto eine Panne hat.« »Gut.« Sie gingen weiter und lobten die Kleinen. Schwärme von Schmetterlingen wirbelten vom Pferdedung auf der Farmstraße auf. Die Schmetterlingsschirmchen in Gelb, Orange, Milchweiß und Rostrot erregten das Interesse der Welpen. »Nervös?« »Ja«, antwortete Sister aufrichtig. »Ich finde, du solltest Ben Sidell einweihen.« »Ich weiß nicht. Er würde einen ganzen Vormittag
verschwenden. Kann ja sein, dass gar nichts passiert.« »Das Problem ist, wenn etwas aufflammt, wenn wir die Welt des Mörders erschüttern, dann kann es richtig brenzlig werden. Nimm deine Pistole mit.« 207
»Mach ich.« »Komm, lass uns über die Obstwiese gehen. Schadet den Kleinen nicht, Apfel zu riechen.« Die Zweige der alten Bäume bogen sich tief hinunter, ihre Gaben waren pflückreif. Die auf so kleine Obstwiesen spezialisierten Mexikaner sollten kommenden Montag eintreffen. Concho, ein rühriger junger Mann, hatte mit den Besitzern kleiner Obstwiesen Verträge abgeschlossen, und sein Geschäft blühte. Die Welpen hoben die Köpfe, die Nasenflügel gebläht. Der köstliche Apfelduft empfing sie und die Menschen. Die Hunde konnten außerdem die verschiedenen Insektenarten sowie die unterschiedlichen Hinterlassenschaften von Vögeln wittern. Sie erlebten die Obstwiese intensiver als die Menschen, deren Sinne weniger ausgeprägt waren. Die über das Gras trappelnden Pfoten erzeugten einen Rhythmus. Das leichte Keuchen der Hunde bildete einen Kontrapunkt. Die schwereren Tritte von Sister und Shaker klangen wie ein Backbeat. Als sie die Obstwiese verließen, traten sie sogleich den Rückweg zum Zwinger an. »Ich denke, das ist so, als ob wir einen T-Balken legen«, sagte Shaker schließlich. »Ah-ja.« Sister spürte die warme Sonne auf ihrem Rücken wie die beruhigende Hand einer Freundin. Manchmal, besonders wenn die Niederschlagsmenge im Sommer oder Herbst gleich null war, wurde die Erde hart wie Ziegelsteine. Da erwies es sich als verdammt schwierig, eine Duftspur aufzunehmen. Die älteren Hunde, die schon schlechte Wittrungsbedingungen durchgestanden hatten, hielten durch, versuchten es immer wieder. Jüngere Hunde waren schneller frustriert. Die Einjagdsaison fiel mit der Brunftzeit des Rotwildes zusammen, so dass dessen Geruch verstärkt war und die jungen Jagdhunde anlockte. Wenn sie keine Fuchswittrung fanden, warum es dann nicht mit diesem 207
durchschlagenden, intensiven Duft versuchen, so intensiv, dass ihn sogar die Menschen riechen konnten? Die Feldpiköre ließen ihre Peitschen knallen und drängten die »unartigen Kinder« zurück, sofern sie sie erreichen konnten. Die dichten Dickichte Virginias hielten einen Feldpikör zuweilen auf, und die Hunde gingen stiften. Die Equipage sah es einem Hund nach, wenn er einmal von der Spur abwich und korrigiert werden musste. Nahm er die Rotwildwittrung ein weiteres Mal auf aufnehmen ist hier das richtige Wort und nicht hinterherjagen -, dann waren strengere Maßnahmen vonnöten.
Sister und Shaker wollten von den Feidpikören oder von zwei zuverlässigen Vereinsmitgliedern eine Duftspur in T-Balkenform legen lassen. Am frühen Morgen, wenn der Tau schwer auf den Wesen lag, würde jemand eine Fuchsspur legen. Am Ende der Fährte wartete dann ein herrlicher Haufen Hundekekse. Wie der Querbalken bei einem T wurde diese Spur von einer Wildfährte gekreuzt, die direkt in ein dichtes Dickicht führte. Dort versteckten sich ein, zwei Personen mit Lärminstrumenten und Schrotmunition. Rotwild- und Fuchsduft können beim Jagdhandel erworben werden. Wer mit den kleinen Fläschchen hantierte, musste sehr vorsichtig sein, sonst würde er tagelang riechen. Wenn die Hunde am T-Balken abwichen und ins Dickicht stürmten, wartete eine unangenehme Überraschung auf sie. Die Menschen brüllten sie an, schössen mit Schrot in die Luft. Bestand ein besonders dickköpfiger Hund darauf, die Wildwittrung zu verfolgen, wurde er mit einer kleinen Schrotladung auf die unteren Regionen kuriert. Gewöhnlich erschreckte der Missklang die Hunde, worauf sie augenblicklich kehrtmachten und sich ihren Kameraden anschlossen, die auf der Fuchsspur geblieben waren. Der Fuchsmeutehund ist ein Problemloser, ein hochintelligentes Tier. Dem Menschen bleibt es überlassen, dafür zu sor 208
gen, dass der Hund das Problem korrekt löst und anständig dafür belohnt wird. »Wenn es funktioniert und der Mörder der falschen Spur nachgeht, dann hast du gewonnen.« Er öffnete das Maschendrahtgatter zum Welpenauslauf. »Aber wenn's nicht funktioniert, dann hast du es mit einem Haufen Leute zu tun, die stinksauer sind.« »Ich weiß.« Sie schloss das Gatter, nachdem der letzte Welpe reingehuscht war. »Auch wenn du nichts siehst, sobald du wieder bei den Anhängern bist, wird man Fragen stellen. Die zwei Schauspieler werden bestimmt dort sein und ihre Oscars erwarten.« »Sie sollen aber hierher zurückkommen.« »Boss, Murphy's Gesetz.« »Ach, sei still. Glaubst du etwa, ich habe das nicht durchgespielt, bis mir schwindlig war? Ich weiß nicht, was passieren wird.« Sie sagte es unaufgeregt. Er seufzte. »Vielleicht ist es ein Segen, dass wir die Zukunft nicht kennen.«
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ie Stimmen der Jagdhunde entzückten Hunde und Menschen, Golly dagegen
fand sie misstönend. Ihre ach-so-empfindlichen Ohren konnten Bachs Musik lauschen oder dem Geräusch beim Öffnen einer Dose Futter, aber Jagdhunden
zuhören, das konnte sie nicht. Sie mied den Zwinger, wenn am Morgen eine Jagd anstand. Die Hunde im Laufgang bellten vor Aufregung. Die Zurückgebliebenen heulten jämmerlich. Erst wenn sich alles beruhigt hatte, stieß sie die Katzenklappe neben der viel größeren Hundeklappe auf und wagte sich hinaus. Setzte sich draußen hin und blickte mit beflisse 209
ner Überlegenheit nach links, rechts, oben und unten. Dann begab sie sich mit zierlichen Schritten zu ihrem Ziel. An diesem Samstagmorgen, dem 5. Oktober, hatte sie sich trotz des Lärms im Zwinger nach draußen gesetzt. Es war der Tag, an dem der Jefferson-Jagdverein auf der Foxglove Farm jagte. Walter, Melissa Lords und Brandon Sullivan waren früh um halb sieben beim Stall eingetroffen. Sie glichen den Verstorbenen so sehr, dass die Wirkung auch ohne Nebel verblüffend war. Und Robert Van Winkels Wettervorhersage hatte genau ins Schwarze getroffen. Eine Kaltfront zog durch, und dünner Nebel umhüllte Bäche und Bodensenken. Walter, der sich im Revier auskannte, führte Melissa und Brandon an ihre Plätze. Raleigh und Gockel saßen bei Golly und sahen dem Treiben zu. »Willst du nicht hinten auf den Pick-up springen?«, schlug Gockel Raleigh vor, der viel höher springen konnte als er. »Dann sieht sie mich und jagt mich runter.« Raleigh nieste, weil ihm eine Wolke von Goldrutenduft in der Nase kitzelte. »So eine Gemeinheit. Wir müssen hierbleiben und die Jagdhunde dürfen mit - und das an einem so wichtigen Morgen«, brummte Gockel. Golly kannte ihren Menschen. »Wenn ihr euch nicht anständig benehmt, sperrt sie euch in die Sattelkammer, und dann geht ihr nirgendwohin. Sitzt brav still. Sobald sie weg sind, müsst ihr euch durch den Wald schlängeln, wenn ihr ihnen hinterher wollt.« Gockel sah Raleigh an, der sich hinlegte, den edlen Kopf auf den Pfoten. »Gefällt mir kein bisschen, diese Sache.« Gockel brummte: »Ich sag euch was, diese nichtsnutzigen Füchse werden nicht rennen. Das wird ein mieser Tag, einfach nichts los.« Bei »los« schloss er die Augen. Golly erwiderte: »Man weiß nie, was ein Fuchs tun wird. Aber Sister braucht euch.« »Ich denke, du machst dir nichts aus Menschen«, stichelte Raleigh. 3°9 Golly blähte die Brust und zeigte prahlerisch ihr langes, seidiges Fell. Sie bildete sich etwas ein auf ihr Fell, aber sie war ja insgesamt eingebildet. »Jetzt ist kaum die rechte Zeit, über mich zu spotten, Raleigh. Du weißt ganz genau, dass ich Sister lieb habe. Ich sehe bloß keinen Grund, um sie herumzuscharwenzeln und zu schleimen wie ihr.« Ihre Ohren zuckten nach vorn. »Es geht los. Beeilt euch!« Das Stelldichein war um acht. Jetzt war es sieben. Wenn das Licht wechselte und die Temperatur sank, wurde das erste Loslassen der Hunde von halb acht auf acht
und am Ende dann auf neun Uhr morgens verschoben, mit Ausnahme an den hochheiligen Tagen. An diesen Tagen brauchten die Leute mehr Zeit, weil alle mitsamt ihren Pferden perfekt ausstaffiert sein mussten. Das Flechten der Mähnen und Schweife nahm an einem frostkalten Morgen viel Zeit in Anspruch. Es schmerzten die Finger. Nicht dass die Mitglieder des Jefferson-Jagdvereins nicht sogar beim Einjagen glänzend herausgeputzt gewesen wären, aber da wurden keine Flechten verlangt und keine seidenen Zylinder. Und mochte es vielleicht nur eine Sinnestäuschung gewesen sein - braune Stiefel schienen sich schneller putzen zu lassen als schwarze. Sobald der »Salonwagen« voller Hunde losfuhr, gefolgt vom Pferdeanhänger, brachen Raleigh und Gockel zur Foxglove Farm auf. Dreiundsechzig Personen fanden sich auf Foxglove ein. Die Feldpiköre Betty und Jennifer standen dabei, als die Hunde von ihrem Anhänger abgeladen wurden. Mitglieder und Gäste beeilten sich, Sattelgurte festzuziehen, Haarnetze zu finden, den Staub aus Reitröcken zu klopfen. Bis die Hunde bei Cindy Chandlers elegantem Stall ankamen, vor dem mit Chrysanthemen bepflanzte Whiskyfässer und Körbe mit Hängepflanzen standen und dessen Außenbalken in ihren Stallfarben Türkis und Schwarz gestrichen waren, waren alle Leute aufgesessen. 210
Manche Jagdvereine schrieben vor, dass die Equipage sogar beim Einjagen Scharlachrot trug. In anderen Vereinen trug die Equipage rote Hemden. Und es gab Jagdvereine, bei denen die Equipage in Tweed erschien. Die Equipage des Jefferson-Jagdvereins trug legere Kleidung. Nach der Eröffhungsjagd ritt sie ausnahmslos in Scharlachrot, auch an den sogenannten informellen Jagdtagen. Manche Leute glauben irrtümlicherweise, es gebe einen absoluten Standard für Jagdkleidung, dabei setzt jeder individuelle Verein seinen eigenen Standard. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Florida einen Jagdverein, der in Weiß ritt. Angesichts des Klimas eine vernünftige Wahl. Während Sister dahintrabte, um die Reiter zu begrüßen, sahen die Hunde zu ihr hoch, blieben aber brav bei Shaker. Raleigh und Gockel, die über die tief liegende Weide gestürmt waren, lauerten hinter der Scheune. Die zwei Haushunde betrachteten ihr frühmorgendliches Rennen als reine Tollerei. Sie waren für weitere Läufe bereit. Sybil trug seltsamerweise eine alte Jacke von Nola aus dunkelblauem Stoff mit rostroten Karos. Auf eine diesbezügliche Bemerkung ihrer Mutter sagte Sybil, sie habe ihre leichte Einjagdjacke zu Hause gelassen und sich deshalb eine von ihrer Schwester geschnappt. Auf After All wurden Jacken, Westen und Plastrons im Stallschrank aufbewahrt. Tedi fragte sich, ob Sybil aufgefallen war, dass eine Jacke und eine Melone fehlten. Ihre tiefgründigere Frage lautete freilich, was wusste Sybil?
Auch Ken kommentierte ihre Ausstaffierung. Die Fragen ihrer Mutter und ihres Mannes verärgerten sie. Die Hälfte des Feldes war zu jung, um sich an Nolas Kleidung zu erinnern, die andere Hälfte hatte Sybil schon früher in Jacken ihrer Schwester gesehen. Sie ging über die Fragen hinweg und meinte, sie seien alle viel zu nervös. Ken beschwichtigte sie, indem er sagte, wie froh er sei, zur Abwechslung mit seiner Frau im Feld zu reiten. 3" »Guten Morgen. Willkommen, liebe Gäste. Ich sehe etliche Freunde von anderen Jagdvereinen.« Sister lächelte. »Ich freue mich sehr, die ehemalige Jagdleiterin von Deep Run, Mary Robertson, heute bei uns zu haben.« Mary lächelte. »Freut mich, hier zu sein.« Auch sie war sehr aufgeregt. »Ich sehe einige Freunde vom Rockbridge-Jagdverein und vom Glenmore-Jagdverein, aus Keswick und Farmington. Willkommen.« Sie wendete sich den Hunden zu. »So, Kinder, nun sucht den Fuchs und gebt uns eine gute Vorstellung.« »Kein Problem«, entfuhr es Dragons großer Schnauze. »Gott, wie ich ihn hasse!«, wiederholte Asa mit leiser Stimme sein Leitmotiv. »Ich möchte nicht versäumen, unserer heutigen Gastgeberin zu danken. Cindy Chandler, danke für die Erlaubnis, auf Foxglove zu jagen.« Die tadellos ausstaffierte Cindy erwiderte: »Es ist mir ein Vergnügen. Vergesst nicht das anschließende Frühstück. Es gibt frittiertes Okra.« Crawford verzog unwillkürlich das Gesicht, worauf Sister lachen musste. Die meisten Nordstaatler konnten diese Südstaaten-Spezialität nicht ausstehen. Nebelschwaden wanden sich durch das Flachland. Die langen Strahlen der aufgehenden Sonne färbten die Häuser scharlachrot und gold. Die Temperatur betrug kühle sieben Grad. Langsam fühlte es sich nach Jagdsaison an! Traditionsgemäß entscheidet der Jagdleiter über das erste Loslassen der Hunde. In vielen Vereinen versteht der Jagdleiter nicht sehr viel von Hunden und richtet sich nach den Empfehlungen des Meuteführers. Sister, die ihre Jagdhunde über alle Maßen liebte, setzte sich am Vorabend einer Jagd mit Shaker zusammen und plante mit ihm die Jagd des nächsten Tages. Plane deine Hatz; hetze deinen Plan. Der Vorteil, dass sie dies seit Jahren so hielten, lag darin, dass jeder inzwischen einschätzen konnte, wie der andere dachte. 211
Sister mochte vorschlagen, sich an einem windigen Tag in der Talsohle heranzupirschen, und Shaker erinnerte sie daran, dass es bei dem Schlamm auf diesem Untergrund die reinste Schlitterpartie würde. Es erst einmal oben am Hang versuchen, trotz des Windes. Sie wälzten Ideen hin und her, sie bewerteten Luftfeuchtigkeit, Wind, Temperatur. Sie schauten sich wie besessen den Wetterbericht im Fernsehen an, setzten sich dann hin und murrten, dass diese
Leute nichts von dem Wetter dicht an den Bergen verstanden, das in Sekundenschnelle wechseln konnte. Sie entwickelten ihren Plan, standen frühmorgens auf, öffneten ein Fenster oder liefen aus der Haustür, um nach dem Wetter zu sehen. Hatte es leichten Frost gegeben? Der trat hier früher auf als in der Stadt. Hatte der Wind sich gedreht? Wie waren Geschwindigkeit und Richtung? Wenn die Natur beschlossen hatte, über Nacht die Kleider zu wechseln, konnten die zwei ihren Plan entsprechend ändern. Beide waren flexibel, beide waren echte Jäger. Sie arbeiteten mit der Natur als Partner. Menschen, die in klimatisierten Büros schufteten, in Autos mit Klimaanlage oder beheizbaren Sitzen nach Hause fuhren, hatten meistens vergessen, dass der Mensch keine Gewalt über die Natur hat. Wenn sie sich wandelt, wandelt der Mensch sich mit ihr. Für heute war geplant, die Hunde in östlicher Richtung loszulassen, über die wogenden Heuwiesen, an der mächtigen alten Kastanie vorbei. Wenn die Fährte sich auf den Weiden hielt, müsste es ein toller Tag werden. Wenn nicht, würden sie den Wald durchkämmen, wo überall gute Spuren waren, und bestimmt auf eine Duftspur stoßen. Sie wollten nach Osten zu dem einräumigen Schulhaus an der Grenze von Cindys Grundstück. Bis dahin würden Menschen und Pferde entspannt sein. Walter würde in der Senke vor der Schule erscheinen und verschwinden. Dann wollten sie nordwärts schwenken und im Halbkreis zu dem Wasserrad an den zwei übereinander liegenden Teichen gelangen. Dort 3*3 dürfte der Nebel am dichtesten sein. Melissa und Brandon würden als Teichgeister erscheinen. Wo sie die Hunde loslassen wollten, bildete der Wind einen Winkel von etwa neunzig Grad zum Schulhaus hin. Von dort aus würden die Hunde voll in den Wind hineinlaufen. »Was meinst du, ob sie was finden?« Raleigh verließ sich auf Gockel, der als Harrier mehr von der Jagd verstand. »Dürfte nicht lange dauern. Hier wimmelt es von Füchsen.« Gockel hob den Kopf. »Es wimmelt.« Inky, die auf dem Heuboden saß - die Dachluke war offen, damit das Heu frisch blieb -, sah hinunter. »Von wegen wimmeln. Ich bin einmalig.« »Inky, was machst du denn hier?« Raleigh konnte die kleine schwarze Fähe gut leiden. »Ich wohne ja nicht so weit weg. Die Neugierde hat mich übermannt.« »Wer wird ihnen das erste Rennen liefern?«, fragte Raleigh. »Yancy. Falls er schlappmacht, ist Grace an den Wasserrad-Teichen beim Fischen.« Ein kleines Wasserrad hielt das Wasser auf den zwei Ebenen der Teiche, die Cindy aus praktischen und ästhetischen Gründen angelegt hatte, in Bewegung. Grace, Charlies Schwester, fischte dort gern stundenlang.
Cindy beobachtete sie durch ihr Fernglas. Graces Weihnachtsgeschenk war ein vor ihrem Bau abgelegter saftiger Lachs. »Komm, Gockel.« Raleigh sprintete dem Klang des Horns entgegen. »Bis bald, Inky.« Die zwei Haushunde rannten am Stall, an den frisch gestrichenen Nebengebäuden, den umzäunten Koppeln vorbei auf die größere Weide hinaus. Sie hätten sich nicht beeilen müssen, denn die Hunde zogen nordwärts eine schmale Baumreihe entlang, die den Bach säumte, der an der breitesten Stelle zwanzig Meter maß. Eine dicke graue Wolke kroch über die Blue Ridge Mountains. Das würde die Fährte niedrig halten - und die Temperatur. 213
Onkel Yancy hörte sie kommen. Er wartete am Zaun der Weide mit der Kastanie. Er wollte ihnen noch fünf Minuten geben, dann über die Weide spazieren, die Kastanie markieren, zu dem Doppelsprung an der Straße traben, über das Hindernis setzen und den ganzen Weg bis zu der alten Schule rennen. Das dürfte allen das Blut in Wallung bringen. Im Dickicht rümpfte Ruthie die Nase. »Was ist das?« Ihre Augen tränten. Delia berührte die Stelle mit der Nase. »Stinktier. Geh da nicht hin, Kleines.« Ihr Bruder schnupperte, und auch seine Augen tränten. »Mmm.« Cora atmete den moschusartigen Fuchsgeruch von Yancy ein. Dasher lief an seinem Bruder vorbei, was den ärgerte, senkte die Nase und bellte dann: »Fuchsrüde! Jippie.« »Der will bloß vor dem Samstagshaufen angeben«, brummte Dragon, der Angeberkönig. »Armes Baby.« Asa rempelte ihn im Vorbeilaufen an, was Dragon nur noch mehr ärgerte. Als Betty, die sich am linken Ufer des schmalen Baches befand, den schönen Junghund die Zähne fletschen sah, sagte sie ruhig: »Dragon.« »Ich weiß, ich weiß.« Er senkte die Nase und rief mit seiner angenehmen Stimme: »Gut. Gut. Gut.« Shaker rief mit einem dreimaligen scharfen »Rat-ta-tat« die anderen Hunde zusammen, die von dieser Stelle ausgeschwärmt waren. Alle liefen herbei, senkten die Nasen zum Boden, dann legten sie los und priesen Dasher und Cora. Dasher, jetzt vorneweg, war sehr stolz. Gewöhnlich ließ er seinem Bruder, diesem Maulhelden, den Vortritt, aber heute gebührte ihm der Ruhm, und Cora gönnte ihn ihm. Auch wenn sie die Spur zuerst aufgenommen hatte, war es in Ordnung, dass er voranlief, das würde sein Selbstvertrauen stärken. Shaker blies jetzt »Gone Away«, eine der fröhlichsten Ton 3*213
folgen, die ein Mensch auf einem Jagdhorn blasen kann. Jeder langgezogene eintönige Stoß wird von Zweier- oder Dreiertönen gekrönt. Gewöhnlich genügen drei solche Takte, aber in seiner Aufregung kann ein Meuteführer, der ein echter Luftikus ist, immer weiter und weiter blasen. Man sollte meinen, dass ihm davon schwindelig werden und die Puste ausgehen würde.
Die Leute im ersten Feld strafften die Schultern. Das hintere Feld, das sich unmittelbar anschloss, verhielt ebenfalls. Sister wartete, bis der letzte Jagdhund, Tinsei, das Dickicht verließ. Irgendwie hatte Tinsei in der Aufregung umgedreht, aber schließlich fand sie die richtige Richtung, und Sister gab Lafayette Schenkeldruck. Sie flogen dahin. Lafayette, gewöhnlich ihr Samstagspferd, hatte sich diese Ehre kraft seines Verstandes, seiner Schönheit und seines schwebenden Ganges verdient. Aztec und Rickyroo waren noch jung und hatten noch nicht ausgelernt. Keepsake war mit acht Jahren ein großartiges Pferd, das tat, was immer Sister von ihm verlangte. Sie nahm Keepsake zum Jagen bei anderen Vereinen mit, weil er ohne Tamtam im Feld ritt. Lafayette musste der Erste sein. Er glaubte im Grunde seines Herzens, alle seien nur da, um ihn zu sehen. Über die abgeerntete Heuwiese ging es, über das Hindernis im Zaun, über die noch ungemähte Heuwiese mit der Kastanie, über den Doppelsprung mit den üblichen Rummsern und Plumpsern. Über das nächste Feld und über das dortige Hindernis, dann hinunter in ein gelichtetes, vom Unterholz befreites Waldstück mit einem Bachrinnsal. Sie platschten durch den Bach, kanterten am Zaun entlang, setzten über das ziemlich hohe Hindernis aus lose aufgelegten Stangen, dann ging es einen steilen Hang hinunter, an dessen Fuß der nächste Sprung wartete. Dieser machte den Leuten gewöhnlich eine Heidenangst, weil man sich dem Hindernis von einem leichten Gefälle her näherte und auf einer etwas höheren Senke landete. Nicht perfekt, aber es ging nicht anders. 214
Runter und rüber ging's mit Sister und Lafayette. Lafayette liebte Senksprünge über alles, weil er dabei länger in der Luft schwebte. Und weiter zur nächsten Heuwiese, die so akkurat abgemäht war, dass sie wie ein Vorgartenrasen aussah. In dem Dreibretterzaun, der sie umgab, befand sich ein frisch schwarz gestrichenes Hindernis. Sister sah Jennifer weit entfernt auf der anderen Seite dieser Wiese zu ihrer Rechten. Den dort befindlichen Sprung nahm das Mädchen mühelos. Sie ritt mit den Hunden, aber weit von ihnen weg. Jennifer hatte einen Mordsspaß. Shaker war in seinem Element. Er rief den Hunden ermutigend zu; das Horn steckte zwischen dem ersten und zweiten Knopf seines braunen Tweedsakkos, seine waldgrüne Krawatte war hinter dem Horn ein wenig aufgebauscht. Nachdem Sister und Lafayette das Hindernis genommen hatten, drehte sie sich nach hinten um. Mary Robertson war direkt hinter ihr. Sister dachte bei sich, wie gut ihr Feld doch war. Die Leute ließen den Gästen den Vortritt, ohne dass man es ihnen hatte sagen müssen. Als sie sich der Senke näherte, in der der Nebel brodelte, verlangsamte sie und trabte am Rand entlang, ehe sie hineinritt. Wie geplant, kam Walter aus dem Nebel auf die andere Seite dieser tief liegenden Weide geritten.
Sie sah ihn aus dem Augenwinkel. Auf einem stämmigen, hübschen Jagdpferd, das A.P. Hill sehr ähnlich war, glich Walter Raymond so sehr, dass sie eine Träne nicht zurückhalten konnte. Sie ritt weiter. Hinter ihr schwoll Gemurmel an, und sie hörte ein Stöhnen. Xaviers Stimme kam aus dem Nebel. »Habt ihr das gesehen?« Tedi antwortete einfach: »Ich weiß nicht recht. Es ist zu sonderbar.« Als das Feld die Senke verließ und das Schulhaus in Sicht 3*215 kam, waren einigen Reitern die Augen schier aus dem Kopf gequollen. Sybil kam neben ihre Mutter; sie kanterten noch. »Mutter, hast du ...« »Ja.« Da das Tempo noch einmal zunahm, nahm die Unterhaltung ab. Onkel Yancy verweilte lange genug am Eingang der Schule, dass jeder ihn bewundern konnte, dann duckte er sich unter die Steinstufen in den Bau. »Yo ho ho and a bottle of rum«, sang er mit seiner schrillen Stimme. Dragon, der als Erster dort war, fing zu graben an. »Yancy, du treibst es zu weit.« »Three blind hounds, three blind hounds, see how they run, see how they run.« Yancy legte der größeren Wirkung halber Vibrato in seine Stimme. »Komm raus'.«, rief Diana hinein, die neben ihrem Bruder buddelte. »When the deep purple falls over sleepy garden walls.« Yancy liebte den Klang seiner Stimme. »Brave Hunde, brave Hunde«, lobte Shaker sie, dann blies er »Eingefahren«. Jennifer hielt Hojos Zügel. Gewöhnlich ritt Shaker samstags Gunpowder, aber er wollte sehen, wie sein jüngeres Pferd sich in der Menge benahm. Es benahm sich ausgesprochen gut. Shaker überblickte das Feld und sah einige Leute aufgeregt flüstern. Ein paar überlegten, ob sie Sister erzählen sollten, was sie gesehen zu haben glaubten. »Dragon, komm, mein Junge.« »Yancy, Yancy, du Feigling. Zeig dich.« »When Fm callingyou-oo-oo-oo«, ahmte Yancy Nelson Eddy nach. Es wurde kein Erfolg. Dragon blinzelte, als er das »oo-oo-oo« hörte. Shaker zog ihn am Schwanz. »Dragon, komm jetzt, Bürschchen. Bist ein braver Hund.« 215
»Einige von uns sind anderer Ansicht«, bellte Asa. Dragon kam heraus, das Gesicht über und über beschmutzt, von den Menschen bejubelt. Er blickte in die Runde der anderen Jagdhunde, dann der Menschen. »Ich bin der Größte!« Shaker tätschelte jedem Hund den Kopf, ließ die Junghunde wissen, dass man diesen Sieg ohne sie nicht errungen haben würde. Dann schwang er sich hurtig in
den Sattel, zwinkerte Sister zu, rief seine Schutzbefohlenen und ritt nach Nordwesten in den Wind, genau wie geplant. Unterdessen war die Wolkendecke über ihnen, doch der Osthimmel war noch klar. Das erzeugte einen dramatischen Effekt. Als sie über die schöne Weide ritten, wo Kletterrosen über einen Teil des Zaunes rankten, erspähte Bobby Franklin Raleigh und Gockel. Sie hatten die Aufregung vernommen und waren deshalb auf die Weide gekommen, statt im Wald zu bleiben. Bobby hatte »Raymond« nicht gesehen, aber das Gemurmel drang bis zu ihm. Er nahm an, es war eine Art Trugbild, ihm fiel aber auf, dass Walter fehlte. Da er ein instinktiver Mensch war, hielt er den Mund. Er spürte, dass etwas im Gange war. Er war fortan sehr wachsam. Da die Hunde noch nicht losgelassen waren, übergab Bobby das Feld an Kitty English, eine zuverlässige Person, und ritt zu Sister. »Sister, Raleigh und Gockel sind hier.« Er drehte sich im Sattel um und zeigte dorthin, wo die beiden Haushunde sich in ihrer Aufregung hatten sehen lassen. Die zwei Missetäter strebten wieder dem Wald zu, aber zu spät. »Diese Teufel!«, wütete Sister. »Hm, da ist jetzt nichts zu machen. Danke, dass du's mir gesagt hast.« »Und Sister«, flüsterte er, »manche meinen, sie hätten Raymond im Nebel auf A.P. Hill gesehen.« »Verlass dich auf mich, Bobby. Das wird ein seltsamer Tag.« »Okay.« Er tippte mit der Gerte an seine Kappe und ritt zum hinteren Feld zurück. 3r216 Die Hunde suchten weiter, fanden hier und da ein Stückchen Fährte, aber nichts Zusammenhängendes. Grace, die sich an den Wasserrad-Teichen aufhielt, hatte sie gehört. Sie war beim Fischen gewesen, als Melissa und Brandon, von Walter angeführt, ihre Position am jenseitigen Rand des oberen Teiches einnahmen. Das sanfte Plätschern des Wasserrades hatte die Geräusche ihres Kommens überdeckt, doch Grace war fortgegangen, ehe sie den Teich erreichten. Sie war zurückgeschlichen, weil sie nicht sprachen. Ihrer Erfahrung nach mussten Menschen einfach quasseln. Während sie sie still umrundete, zuckten die Ohren von Melissas Pferd vor und zurück. Es schnaubte und stampfte mit dem Fuß. Melissa stieß einen leisen Laut aus. Brandon flüsterte: »Klopf ihn auf den Hals.« Da saßen sie im wirbelnden silbrigen Nebel, die Luft tanzte über die Teiche. Grace war verblüfft. Sie blieb hinter ihnen, bis sie die Hunde kommen hörte. Dann zockelte sie am Wasserrad vorbei, duckte sich in die Wiese und schlug den Weg zu dem anderthalb Kilometer entfernten Stall ein. Das Fischen hatte sich gut angelassen, und sie wollte wieder hin, deswegen gedachte sie zum ersten Bau zwischen Teichen und Stall zu laufen, der an der Bachböschung einen großen Eingang hatte.
Grace hatte gewöhnlich nichts dagegen, den Fuchsjägern ein bisschen Vergnügen zu bereiten, aber heute zog sie das Fischen vor. Sie durchquerte die vom Bodennebel verschluckte Weide an den Teichen, streifte den Zaunpfosten und ging auf einem gefällten Baumstamm weiter. Sie hinterließ eine so starke Fährte, dass ein Mensch, hätte er sich auf alle viere niedergelassen, sie auch hätte riechen können. Cora war beim Wasserrad angekommen, das sich sachte drehte; die großen Schaufeln schöpften Wasser in den Teich darunter. Allein das Geräusch war besser als jede Beruhigungspille. Sie witterte die zwei Pferde und Reiter, dann sah sie sie. Sie stieß ein kurzes raues Jaulen aus. 217
Diana kam zu ihr. »Warum reiten die nicht?« »Keine Ahnung. Aber sie sind um sieben am Zwinger vorbeigeritten. Die Dame ist sehr nervös. Holen wir die Meute nach vorn. Da können wir ziemlich sicher eine Spur aufnehmen. Sie ist frisch.« Cora senkte die Nase. Melissas Pferd hatte sich beruhigt, aber ihre Nervosität übertrug sich auf das Tier, das ein wenig zu rucken anfing. Brandon flüsterte: »Denk dran, lächeln. Zieh die Zügel etwas an. Unsere Pferde möchten vielleicht zu den anderen.« Ein Lächeln gefror in Melissas wunderschönem nebelfeuchten Gesicht. Cora und Diana sprangen an der Teichböschung entlang, dann stürmten sie hinunter. Shaker hielt an der Böschung. Er sagte, an Melissa und Brandon wie auch an die Meute gerichtet: »Ihr kriegt sie.« Er tauchte tief in den Nebelkessel ein, der sich über den zwei Teichen gebildet hatte, dann ritt auch er auf die Weide, über die Nebelschwaden zogen, silbrige Streifen neben dem Grün. Nach dreißig Sekunden Hornblasen und Hundegebell erreichte das Feld die Wasserrad-Teiche. Obwohl Edward wusste, dass es Melissa und Brandon waren, die da im Nebel standen, erschrak er, als er sie sah. Melissa, Nolas Ebenbild, brachte fast sein Herz zum Stillstand. Er zog die Luft ein. Tedi weigerte sich mit eiserner Entschlossenheit zu weinen. Ron Haslip war so überwältigt, dass er laut herausplatzte: »Guy! Guy und Nola!« Xavier schnellte auf seinem Pferd nach vorn. Sybil schrie. Ken blieb stehen, so dass alle Pferde hinter ihm ebenfalls stehen bleiben mussten. Walter, der sich im Wald unweit des Teiches versteckt hielt, ahmte eine Trauertaube nach. Das war das Zeichen für Melissa und Brandon, in dem silbrigen Schleier zu verschwinden. Raleigh und Gockel blieben bei Walter. 217 Wie bei einem Bühnenabgang wendeten Mehssa und Brandon ihre Pferde und verschwanden; über ihnen krächzte St. Just.
Den Leuten lief es kalt über den Rücken. Obwohl die Hunde unterwegs waren, konnten die Menschen nicht anders, als zu sprechen. Sister, die vorgab, nichts zu sehen oder zu wissen, sagte entschlossen: »Zurück!« Das Feld verstummte und folgte ihr, aber sie und alle anderen spürten, dass sich etwas Machtvolles aufbaute, ein lange unterdrücktes Gefühl. Die Hunde stürmten zum Bach, der die dem Stall am nächsten gelegene Weide durchschlängelte und schließlich im Broad Creek mündete, unweit der Stelle, wo dieser die Soldier Road kreuzte. Grace duckte sich in den Bau. Klytemnestra und Orestes auf der hinteren Weide hörten die Hunde näher kommen. »Ich zertrümmere den Zaun!« Klytemnestra liebte Zerstörungsakte aller Art. Mit einem verzückten Muhen senkte Klytemnestra den Kopf und krachte durch den Dreibretterzaun, als bestünde er aus Streichhölzern. Dann tollte sie mit hochgerecktem Hinterteil am Stall vorbei, drehte sich sogar im Kreis. Orestes folgte ihrem Beispiel. Als die Hunde und Shaker aus dem in Richtung Bach ziehenden Nebel auftauchten, zog Klytemnestra eine Riesenschau ab, sie muhte, bockte, tänzelte, die reinste Ballettparodie. »Blöde Kuh«, sagte Shaker. »Glückliche Kuh«, sagte Delia, die ganz hinten war, kichernd. Das Feld, dicht hinter Shaker und den Hunden, lachte nicht über Klytemnestras Kaspereien. Die Leute hatten schon zu viel Seltsames gesehen. Als das Feld aus dem Nebel erschien, gab es hinten Tumult. Ken rammte Sybil heftig, als er sein Pferd wendete. »Ken, was soll das?«, tadelte Sybil ihn scharf. »Wo willst du hin?« 218 Tedi wölbte die Hände vor den Mund. »Sister! Ken, er will zum Wasserrad.« Sister drehte sich im Sattel um. »Mistkerl!« Sie stürzte sich wieder in den Nebel. Mary Robertson sprach ruhig zu den Heranreitenden: »Wir kehren zu den Anhängern zurück. Bitte folgen Sie mir.« Ken, der hörte, dass jemand hinter ihm her war, gab seinem Pferd die Sporen und flüchtete südwärts zu der tief liegenden Wiese. Nola wollte er später finden. Raleigh und Gockel, die Ken wegreiten hörten, verfolgten ihn. »Mutter! Mutter, was ist los?«, rief Sybil. Edward griff nach dem Zügel von Sybils Pferd. »Liebes, wir müssen rein. Deine Mutter und ich haben dir was zu sagen.« Tedi nahm sie zwischen sich und Edward, indem sie auf ihre andere Seite ritt. »Tu einfach, was wir sagen, Liebes. Bitte.« Betty Franklin trabte von links heran und sah Sister in den Nebel stürmen, dann herauskommen und sich nach Süden wenden. Sie hielt an, dann gehorchte sie dem
Hornsignal. Jennifer, die von rechts herankam, hatte nichts gesehen, folgte aber dem Hornsignal. Das Feld beobachtete erschrocken, wie zuerst Ken und dann Sister aus dem Bodennebel stürmten. Klytemnestra bockte selbstvergessen weiter und warf den mächtigen Kopf hin und her. Orestes tat es seiner Mutter gleich. Cindy Chandler saß da und wusste, es würde weitere Zäune zu reparieren geben, zugleich fragte sie sich, was da eigentlich vorging. Sister drängte Lafayette vorwärts. Der fabelhafte ältere Vollblüter hatte ein unglaubliches Durchhaltevermögen, er würde nicht ermüden. Er würde das Pferd vor ihm einholen. Er würde ihm zeigen, wer der Beste der Besten war. Ken, der ein gutes Pferd ritt, sprang aus der Weide und strebte den tiefliegenden Feldern zu. Er kannte das Gelände. 219 Er wusste, wenn er die Soldier Road überquerte, konnte er ins Gebüsch ausweichen, sollte Sister ihn zu sehr bedrängen. Wenn er seinen Vorsprung behalten konnte, könnte er zur Roughneck Farm reiten, in Sisters Wagen steigen und abhauen. Bloß wohin, das hatte er in diesem Augenblick nicht im Kopf. Was ihm durch den Kopf ging, war eine Vision von vor einundzwanzig Jahren. Er wollte zu Nola. Sister zog die 3 8er hervor, die sie hinten im Kreuz stecken hatte. Sie gab einen Warnschuss in die Luft ab. Ken spornte sein Pferd an. Shaker hörte den Schuss. Das waren keine Schrotkugeln. »Herrjemine«, dachte er. Er ließ Betty und Jennifer die Hunde aufladen. Er wusste, die Hunde würden ihm folgen, weshalb er warten musste, bis sie eiligst aufgeladen waren. Dann war er weg. Ken dachte, er könnte Sister davonreiten, er dachte, weil er achtundvierzig und sie einundsiebzig war, sei er im Vorteil. Er hätte es besser wissen müssen. Er war dreißig Jahre lang hinter ihr geritten. Sie war hartgesotten und ritt immer schnelle Pferde. Er sprang in die tiefliegende Wese und raste darüber; rings um ihn stiegen Nebelschwaden auf. Hinter sich hörte er die zwei Haushunde. Raleigh konnte nicht mehr als zwanzig Meter zurück sein. Gockel war nur wenige Schritte hinter dem Dobermann. Ken überquerte die Soldier Road und ritt über die Wildblumenwiese, just als Sister und Lafayette die Soldier Road überquerten. Shaker und Hojo sprangen über den Zaun in die tief liegende Wese. Er blickte in die Ferne und sah Sister ihre Waffe auf Ken richten. Sie schoss und verfehlte ihn. »Herrgott«, dachte Shaker. »Wenn sie ihn tötet, kommt sie ins Gefängnis, auch wenn er's verdient hat.« Er beugte sich so weit vor, dass er mit dem Oberkörper fast auf Hojo lag, und
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der Wallach wusste genau, was er zu tun hatte. Er legte den Schnellgang ein. In Windeseile waren sie auf der anderen Seite der Soldier Road. Ken stürmte zu dem bewaldeten Fuß vom Hangman's Ridge. Hier hatte er genügend Deckung, so dass Sister ihn nicht treffen konnte. Raleigh und Gockel aber waren direkt hinter ihm und bellten, was das Zeug hielt. Ken fluchte, weil er keine Waffe hatte. Er würde die Köter erschießen, und er würde die vermaledeite Alte erschießen, die ihm dicht auf den Fersen war. Dieses Miststück. Wäre sie in aller Stille zu ihm gekommen, hätte er sie großzügig bezahlt. Und sie natürlich später umgebracht. Als Sister und Lafayette am Fuß vom Hangman's Ridge kurz anhielten, sah sie Shaker auf sich zukommen. Sie hörte Raleigh und Gockel. Sie folgte ihren Stimmen. Wie alle guten Jäger vertraute sie ihren Partnern - in diesem Fall einem Harrier, einem Dobermann und einem Vollblutpferd. Vorsichtig ritt sie ins Gebüsch. Sie hörte ihre Hunde sich fürchterlich aufregen und Ken, der sie verfluchte. Er ritt nach oben. Das ging schneller, als den Hügel zu umrunden. Sie ritt den Hügel hinauf. Shaker war jetzt einen halben Kilometer hinter ihr. Als Walter Melissa und Brandon nach Hause führte, hatte er Ken und dann Sister fortreiten gehört. Da er nun Schüsse und die Hufschläge von einem dritten Pferd vernahm, bekniete er die zwei Schauspieler, ihr Bestes zu geben und zu traben. Er drängte sie zum Hangman's Ridge. Ken erreichte den Hügelkamm, sein Pferd schnaufte schwer. Er trieb es weiter Richtung Galgenbaum. Der von unten aufsteigende Nebel durchzog das Geäst wie silberne Seidenbänder. Ken sah hoch. Da saßen Athena und Bitsy, ein unheimlicher Anblick, zumal Athena ihre Schwingen voll ausgebreitet hatte, was Kens Pferd einen Schrecken einjagte, so dass es seitwärts sprang, als Ken es weitertrieb. Sister war jetzt über den Kamm hinaus, und Lafayette kam 220 Kens Pferd näher. Sister hob den Arm und schoss. Sie traf Ken an der rechten Schulter. Er gab keinen Laut von sich, schwankte aber im Sattel. Lafayette kam noch näher. Sister schoss wieder und traf diesmal die linke Schulter. Blut sickerte aus dem Rückenteil von Kens Jacke. Er konnte mit den Händen nicht mehr greifen. Er fiel vom Pferd, wobei seine Sporen beim Aufprall Erde aufwarfen. Athena ließ die Schwingen ausgebreitet. Sie sah gespenstisch aus. Sister hielt an und stellte sich vor Ken hin. »Ich habe noch drei Kugeln. Eine schieße ich dir durch den Kopf.« »Ich reiß ihm die Gurgel raus.« Raleigh sprang Ken an. »Aus, Raleigh.« Der Dobermann gehorchte, setzte sich aber zu dem blutenden Mann, bereit zuzuschlagen.
Shaker kam hinzu. Es saß ab, zog blitzschnell seinen Gürtel aus und band Ken die Hände hinter den Rücken. »Gut gemacht«, sagte Shaker. »Ich dachte, du würdest ihn umbringen.« »Der Tag ist noch nicht zu Ende. Ich tu's vielleicht noch.« Sie sah auf Ken hinunter. »Warum?« Er antwortete nicht, weshalb Shaker ihn in die Niere trat. »Sprich, wenn eine Dame mit dir spricht.« »Ich hätte alles verloren.« »Aber du hattest schon alles verloren.« Ihr Gesicht färbte sich dunkel. Er sah sie aus wässrigen Augen an. »Du hast deine Seele verloren.« Sie schob die Waffe in ihren Gürtel. Athena faltete die Schwingen. In diesem Moment kam Walter mit Melissa und Brandon, beide total erschöpft, über die Fuhrstraße hinaufgeritten. Ken sah Melissa. Schluchzend ließ er den Kopf auf die Brust fallen. 221
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o was Abgefeimtes.« Alice Ramy betrachtete eine Giftsumachranke, die sich
flammendrot um einen Walnussbaum wand. Sister, Alice und Tedi Bancroft saßen auf dem Hundefriedhof auf der Bank. Die drei Frauen hatte es dorthin gezogen, als sie am Sonntagnachmittag zusammen spazieren gingen. Sie sahen sich verbunden durch die Zeit, durch Verlust und Liebe und schließlich durch die tiefe Erschütterung über Ken Fawkes' Perfidie. »Du hast dein Leben riskiert, Janie. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Edward und ich werden dir nie genug danken können.« »Er hatte keine Waffe. Ich war nicht in Gefahr.« Sie griente verschmitzt. »Er hat drei Menschen ermordet. Er hätte dich auch getötet, wenn er gekonnt hätte.« Alice betrachtete die langen Sonnenstrahlen, das Licht, das von sommerlicher Härte zu winterlicher Weichheit wechselte. »Ich weiß nicht, ob Sybil mir jemals danken wird.« »Aber ja. Edward und ich helfen ihr hier durch. Und die Jungs, sie muss jetzt für die Jungs da sein.« »Armes Kind ...« Alices Stimme verklang. Alice legte ihren Arm um Tedis Schultern. »Wenigstens haben wir jetzt Gewissheit. Das ist doch auch was.« Tedi hob die zitternde linke Hand ans Gesicht; Nolas blauer Saphir strahlte hell. »Ich habe Nola geliebt. Sie war wie das Licht auf meinem Gesicht, aber«, sie kämpfte mit ihren Gefühlen, »sie hat gefehlt. Ihre Kaprizen haben sie, Guy und Ralph ums Leben und ihre Schwester um ihr Glück gebracht. Sie hat es nicht verdient zu sterben, aber sie hat gefehlt, schlimm gefehlt.«
Sister sagte ruhig: »Tedi, wenn man jung ist und über solche 222 Macht verfügt, diese Macht, die Nola über die Männer hatte, vielleicht muss man sie dann einfach ausüben.« »Ich fühle mich so schuldbeladen.« Tedi versagte die Stimme. »Aber nicht doch, Tedi. Nicht.« Alice umarmte sie. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Die Babys kommen aus dem Mutterleib als die Menschen, die sie sind. Wir mögen ihnen helfen oder ihnen wehtun, aber sie sind bereits geformt. Du hast Nola nicht zu der gemacht, die sie war. Und Sister hat vielleicht recht - wer diese Art von Macht hat, übt sie auch aus.« Tedi barg ihr Gesicht in den Händen. »Hätte ich es nur gewusst!« »Niemand außer Ralph hat es gewusst. Und auch er wusste nicht alles.« Sister lehnte sich auf der Bank zurück. »Ich finde, wir können froh sein, dass Ken gestanden hat. Sonst würden wir immer noch versuchen, die Teile zusammenzusetzen.« »Wenn man bedenkt, dass er ein halbes Jahr lang eine Affäre mit Nola hatte, und keiner von uns hat es gewusst. Sie müssen bessere Schauspieler gewesen sein, als uns klar war.« Sister sah, wie ein kleiner Ast sich senkte, weil ein Rotschwanzbussard sich darauf niederließ. »So ein Trottel.« Tedi spie die Worte förmlich hervor. »Das war's ja eben, oder? Nola hat die Männer zu Trotteln gemacht. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat. Macht ausüben ist eine Sache, Menschen wehtun ist was anderes.« Alice ließ den Arm von Tedis Schulter sinken und nahm ihre Hand. »Wir werden nie genau wissen, wie es in ihr aussah. Ich denke, Guy hat es am Ende gewusst. Vielleicht hat er gespürt, dass er sie nie ganz besitzen würde. Er war fünfundzwanzig. Er machte sich Gedanken über die Zukunft, wie er sie sich vorher nie gemacht hatte. Er wollte, dass Nola daran teilhatte.« »Du hast ihn gewarnt.« Tedi erinnerte sich, dass Alice versucht hatte, Guy von Nola wegzulotsen. »Kinder wollen ja nicht hören.« »Amen.« Tedi seufzte und wischte sich mit der freien Hand die Tränen fort. 222
Kens Geständnis besagte, dass er mit seiner Schwägerin geschlafen hatte. Es war ihr langweilig geworden, wie es Nola mit jedem Mann erging. Sie tändelte mit ihm herum und hatte gleichzeitig eine hitzige Affäre mit Guy. Aber Ken gab nicht auf. Er sagte, er würde es Guy sagen. Dann sagte er, er würde Guy umbringen. Nola drohte schließlich, es ihrer Schwester zu erzählen und ihren Eltern, wenn er sie nicht in Ruhe ließe. Ken wusste, dass Sybil sich von ihm scheiden lassen würde. Er war zu gern mit dem vielen Geld verheiratet. Er konnte nicht mit einer Abfindung rechnen, weil ja er es war, der die Affäre hatte. Die Bancrofts würden ihn ohne einen Penny vor die Tür setzen. Er hatte auch seine neue gesellschaftliche Stellung liebgewonnen.
Aber da Nola nun mal Nola war, konnte sie nicht widerstehen, ihn zappeln zu lassen. Sie flirtete am ersten Einjagdtag heimlich mit ihm, obwohl sie sich gleichzeitig an Guy ranmachte. Sie schob sich auf Sorrell Buruss' Party an Ken vorbei und drückte sich dabei eng an ihn. Und sie sorgte dafür, dass er sie bei allem sah, was sie mit Guy tat: wenn sie mit den Händen durch Guys schwarze Locken fuhr, ihn auf die Wange küsste, sich an der Bar verführerisch an ihn schmiegte. Guy hatte die Party früh verlassen. Er bat Nola, ihn im Büro zu treffen. Er habe noch Papierkram zu erledigen, aber danach könnten sie sich richtig vergnügen. Es war eine wilde Party. Ken lockte Nola mit dem Versprechen von erstklassigem Kokain nach draußen. Damals hatten sie allesamt Drogen genommen, und Nola hatte sich geschenktes Koks nie entgehen lassen. Er ließ die kleine Phiole vor ihr baumeln und lockte sie so noch weiter vom Haus weg. Als er sicher war, dass niemand sie beobachten konnte, wollte er sie küssen. Sie küsste ihn flüchtig, dann wollte sie das Kokain. Als sie die Phiole aufmachte und nur ein paar Stäubchen fand, sagte sie ihm, er sei ein Jammerlappen. Sie sagte auch, Guy sei ein besserer Liebhaber als er. Er rastete aus, packte sie am Hals und drückte zu, bis alles 223 Leben aus ihr gewichen war. Nur um sicherzugehen, dass sie tot war, zerschmetterte er ihren Schädel mit einem Stein, schleppte dann die Leiche zu einem Komposthaufen und deckte sie zu. Das dauerte etwa zehn Minuten. Er kehrte zu der Party zurück, tanzte ein paar Tänze, sagte dann zu seiner Frau, er wolle Ralph in Ralphs Auto nach Hause fahren, weil der gute Freund hackevoll sei. Er sei gegen sieben zu Hause, dann könnten sie ins C&O gehen. Der betrunkene Ralph machte keine Einwände, als Ken ihn am Arm nahm und nach draußen bugsierte. Im Auto dachte Ken sich eine Geschichte aus, die Ralph nur zu gerne glaubte: Guy habe Nola ermordet, weil sie Ralph noch liebte und ihre Affäre mit Guy vorbei sei. Sie fuhren zu Guys Büro und riefen ihn heraus. Als er kam, überrumpelte Ken ihn und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf, lud ihn dann in Ralphs Auto und fuhr zur After All Farm, die keine achthundert Meter entfernt war. Ken hielt abseits der Straße an und erschoss Guy, bevor sie ins Haus gingen. Sie stopften Guy in ein großes Farbenfass - die Farm hatte immer Fässer da, weil das Streichen der Zäune nie aufhörte. Ken warf den Amboss hinein und schweißte den Deckel zu. Ken versprach Ralph, er werde sich erkenntlich zeigen. Er werde ihm für den Rest seines Lebens Aufträge verschaffen. Er werde ihm helfen, die Traktorenniederlassung als stiller Teilhaber zu erwerben. Außerdem behauptete er, Nolas Tod habe auch mit ihren Gefühlen für Ralph zu tun. Er sei also in die Sache bereits verwickelt. Für Ralph in seinem leichten Rausch ergab all das irgendwie einen Sinn. Ken, Sybil, Ralph und Frances trafen sich im C&O. Später, als Sybil schlief, schlich Ken aus dem Haus, holte eine Schaufel und grub dort, wo der Aushub für die
überdachte Brücke abgeschlossen war, ein Grab. Dann schob er seinen Transporter aus der Zufahrt, ließ ihn erst am Ende an, damit Sybil nichts hörte, und fuhr in die Nähe der Sorrells. Er parkte abseits der Straße und ging mit einer alten Plane über der Schul 33° ter zu Nolas Leiche. Er hob sie auf. Sie war kalt, die Leichenstarre setzte schon ein. Sie war doppelt so schwer. Er fuhr zurück, kippte sie in das Grab und schaufelte es zu. Die abschließende Landschaftsgestaltung rund um die neue Brücke besorgte den Rest. Am folgenden Abend überredete er Ralph wieder, mit ihm zu kommen. Sie luden das Fass mitten in der Nacht auf den Transporter, fuhren zur Norwood-Brücke und hievten Guy über die Seite ins Wasser, in dem sicheren Wissen, dass er nie wieder auftauchen würde. Ralph, betrübt über Nolas Tod und die Reaktion der Leute auf ihr Verschwinden, bat Ken, ihm von ihrem Ableben zu erzählen, aber Ken sagte, er würde für Guys Ermordung ins Gefängnis kommen. So grausam es sei, dass Tedi, Edward und Sybil die Wahrheit über Nolas Verschwinden nicht kannten -Ken sei auf diese Weise wenigstens in Sicherheit und Sybil würde ihren Ehemann behalten. Sicher verstünde Ralph, warum Ken Guy hatte umbringen müssen. Er erzählte Ralph auch nicht, wo er Nolas Leiche vergraben hatte. Ralph wollte es wissen und brach bei der Vorstellung in Tränen aus. Ken sagte ihm, er solle sich zusammenreißen. Falls Ralph hinter die Wahrheit gekommen war, behielt er es für sich. Er hatte viel zu verlieren. Ken hielt Wort und gab Ralph Geld fürs Geschäft. Und so florierten sie einundzwanzig Jahre lang, bis Nola wiederkehrte. Von lange zurückgehaltenen Schuldgefühlen geplagt, hatte Ralph Sister angerufen. Ralph tat den ersten Schritt zur Wiedergutmachung, aber er hatte keine Gelegenheit, noch weitere Schritte zu tun. Ken wusste, dass Ralph jemandem einen Wink gegeben hatte, wo Guys Leiche zu finden sei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihn umbrachte. Der dichte Nebel verschaffte ihm eine Gelegenheit zuzuschlagen, bevor Ralph die ganze Geschichte ausplauderte. Er flüsterte mit Ralph. Niemand konnte ihn sehen. Er hatte 224 nicht damit gerechnet, dass Ralph Reißaus nehmen würde. Ken hatte Ralph ein konventionelleres Ende zugedacht, durch Gift, aber als Ralph im Nebel davonpreschte, sprang Ken, der auf der anderen Seite des Zaunes gewesen war, über das Hindernis. Er hatte keine Mühe, den verängstigten Mann durch das Maisfeld stürmen zu hören. Er verfolgte ihn bis oben zum Hangman's Ridge, erschoss ihn, eilte auf dem steilen Weg zurück, setzte alles aufs Spiel, indem er im Nebel galoppierte, verlangsamte erst, als er sich dem Stall auf After All näherte. Er brachte sein Pferd unter und kam kurz nach den anderen zurückgekehrten Reitern am Haus an.
Er war nicht nur unberührt wegen des Mordes, nein, er war ausgesprochen erheitert. Ken machte sein Geständnis unter großen körperlichen Schmerzen, aber bei klarem Verstand und ohne dass sich sein Gewissen spürbar regte. Der einzige Schimmer, dass in ihm noch etwas zu retten war, zeigte sich, als er zu Ben Sidell sagte, er bedaure das Leid, das er seiner Frau und seinen Kindern antue. Sybil sei eine gute Ehefrau und eine gute Mutter gewesen. Er machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber es kam nichts mehr heraus. Wenn er von Nola sprach, sprudelte mit jedem Wort seine ganze unterdrückte Wut, Begierde und Liebe hervor. Auch hatten die einundzwanzig Jahre seine blinde Eifersucht auf Guy Ramy nicht gemildert. Ken glaubte nach wie vor, dass beide bekommen hatten, was sie verdienten. Während die drei Frauen dasaßen und besprachen, was vorgefallen war, kam Sister der Gedanke, dass Tedi mehr von der Welt gesehen hatte als sie oder Alice jemals sehen würden. Wie dem auch sei: Erreichte man ein bestimmtes Alter, dann hatte man das meiste von dem gesehen, was das Tier namens Mensch an Gutem wie Bösem anrichten konnte, auch wenn man das Land, in dem man geboren war, nie verlassen hatte. Und es wurde einem auch klar, dass die meisten Menschen so sehr damit beschäftigt waren, sich und ihre Spielart der Wirk 225
lichkeit zu verteidigen, dass sie den Dreck vor der eigenen Tür nicht sahen. Weil sie ihre Energie in eine einsame Ichbezogenheit leiteten, hatten sie keine mehr übrig, um sich zu ändern oder zu wachsen. Wirklich intelligente Menschen lernten von anderen und aus der Geschichte. »Es ist so friedlich hier«, sagte Alice. »Ja, ich komme oft hierher. Manchmal kommt Inky, der schwarze Fuchs, zu Besuch. Dann sitzt sie da und sieht mich an. Ich sitze da und sehe sie an.« »Füchse«, sinnierte Tedi, dann berührte sie Sisters Hand. »Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du Ken gejagt hast?« »Das weiß ich nicht genau.« Sie betrachtete die Hundestatue. »Hm, vielleicht doch.« Sie hielt inne, dann lächelte sie zu Raleigh, Gockel und Golly hinüber, die im Schatten der Statue dösten. »Janie?« Tedi hob die Augenbrauen. »Was hast du gedacht?« »Nur, dass ich ihn schnappen musste. Aber als er dann da lag, habe ich an Heißsporn gedacht. Ihr erinnert euch vielleicht an seine Zeilen: >Und ich, Freund, kann Euch lehren, sein zu spotten durch Wahrheit / Redet wahr und lacht des Teufels.