Science Fiction Nr. 207
Thomas Lockwood
Auf den Spuren der Unbekannten
Als Pjetr Kubaikjew erwachte, vermochte er n...
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Science Fiction Nr. 207
Thomas Lockwood
Auf den Spuren der Unbekannten
Als Pjetr Kubaikjew erwachte, vermochte er nicht sofort die Ursache dessen herauszufinden, was seine nächtliche Ruhe gestört hatte. Der Pyjama, der für seine hagere Gestalt zwei Nummern zu groß zu sein schien, war feucht und klamm. Die Bettdecke, die seine Finger umklammerten, schien zu einem widerspenstigen Fremdkörper geworden zu sein, der beständig jeden Versuch vereitelte, dem schwer atmenden Mann Behaglichkeit zu vermitteln. Kubaikjew blieb einige Augenblicke regungslos liegen und versuchte, sich seiner Empfindungen klar zu werden. Er mußte einen Alptraum gehabt haben, aber dennoch fühlte er sich nicht so abgespannt und zerschlagen, wie das nach einer derartigen Schlafstörung normalerweise der Fall war. Sein rechter Arm kroch unter der Decke hervor und tastete nach der schmalen Kontrolleinheit, die in der an der Liege anschließenden Konsole eingelassen war. Die Fingerkuppen berührten einen Sensor, und sofort wurde der Ruhesektor seiner Wohneinheit in sanftes, wohltuendes Licht getaucht. »Wie spät ist es?« fragte der Hagere und wunderte sich sekundenlang über den merkwürdig fremden Klang seiner Stimme. »Es ist exakt 1.30 Uhr pZ«, kam die melodische Antwort. »Ihre Arbeitsperiode beginnt erst in sechs Stunden und dreißig Minuten.« »Ich weiß«, murmelte Kubaikjew und schwang seine Beine von der Liege. »Ich kann jetzt nicht mehr schlafen. Standardfrühstück in fünfzehn Minuten.« Der Computer seiner Wohneinheit bestätigte. Pjetr nickte befriedigt und wankte in seine geräumige Hygienezelle. Knapp
fünfzehn Minuten später saß er, in einen bequemen Zweiteiler gekleidet, am Tisch und widmete sich dem Schinken und den Spiegeleiern, die der Comp für ihn zubereitet hatte. Er hatte zwar kaum mehr als drei Stunden geschlafen, aber als er sein Frühstück verzehrt hatte, einen vorsichtigen Schluck von dem dampfenden Kaffee nahm und sich eine Zigarette anzündete, fühlte er sich so frisch und munter wie nach einer langen Nacht voll ungestörter Ruhe. Sollte er ins Institut fahren? Um diese Zeit war dort außer der obligatorischen Wachmannschaft niemand anwesend, er konnte also mehrere Stunden arbeiten, ohne daß er von Kollegen gestört wurde. Kubaikjew nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gegen die Decke, wo er von mikroskopisch kleinen Düsen abgesaugt und in die Filter geleitet wurde. Fast zwei Standardjahre arbeitete er nun schon hier auf Logannidaror. Die Zentralwelt des Fünf-Sonnen-Bundes war in gewisser Weise in dem bisher bekannten Gebiet der Galaxis einmalig: Es war der einzige Planet, auf dem man, in einem weltumspannenden Katakombensystem, gleich drei Artefakte der Unbekannten gefunden hatte. Offensichtlich war Logannidaror für jenes rätselhafte Volk von irgendeiner besonderen Bedeutung gewesen, wenn auch niemand, auch er selbst nicht, zu sagen vermocht hätte, von welcher Art diese Besonderheit gewesen war. Ebensowenig war klar, was diese Statuen für einen Zweck hatten. Bis vor wenigen Jahren war man sich noch einig darüber gewesen, daß sie materieller Ausdruck eines fremdartigen Kultes waren. Doch dann war es einem Wissenschaftler durch Zufall gelungen, eine dieser Statuen zu öffnen. Er fand, so gut wie nicht beschädigt, hauchdünne Folien aus einem synthetischen Material. Ein weiteres halbes Jahr hatte es ge-
dauert, bis man herausgefunden hatte, daß diese Folien Informationsträger waren, die zwar keine Schriftzeichen in bekannter Form aufwiesen, deren molekulare Struktur jedoch eindeutige Rückschlüsse auf eine bewußte Einwirkung zuließen. Die Folien beinhalteten also Wissen, Mitteilungen, auch wenn sich niemand vorzustellen vermochte, welche Sinnesorgane erforderlich waren, um diese strukturellen Botschaften zu »lesen«. Kubaikjew nickte gedankenverloren und drückte seine Zigarette aus. Natürlich gab es noch immer einige Fremdrassenforscher, die steif und fest behaupteten, die Statuen seien Kulturartefakte, und bei den Folien handele es sich um irgend etwas, nur nicht um Botschaften. In der Mehrheit der Fachwelt jedoch hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Statuen MiniArchive seien, mit einem Inhalt, der jeden, aber auch jeden Aufwand an Forschungsarbeit wert war. »Richtig«, murmelte der Hagere und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die Unbekannten wurden sie im Jargon genannt, die richtige, das heißt die wissenschaftlich exakte Bezeichnung lautete MZ/II+/1, wobei »MZ« den Hinweis auf den betreffenden Katalog darstellte, »II+« den Typ der Spezies klassifizierte und die »1« die Anzahl der Zivilisationen gleichen Klassements kennzeichnete. Typ »II+«, das bedeutete, daß man hier auf die Spuren und Hinterlassenschaften eines Volkes gestoßen war, das, vom Energiebedarf her gesehen, über die zweite Stufe schon hinaus war. Die Unbekannten hatten also, vor Zehntausenden von Jahren, eine Energiemenge zur Aufrechterhaltung ihres zivilisatorischen Standes benötigt, die über den Energiehaushalt einer ganzen Sonne hinausging! Wollte man groben Schätzungen glauben, dann erreichte die über weite Sternenräume verteilte Menschheit – sah man einmal von den weniger entwi-
ckelten Planeten ab – diesen Standard frühestens in fünftausend Jahren. Und da gab es tatsächlich noch Wissenschaftler, die sich selbst als Fachleute bezeichneten und behaupteten, die MZ/II+/1-Forschung sei nutzlos, reine Verschwendung finanzieller Ressourcen. Kubaikjew schüttelte, ohne sich selbst dessen bewußt zu werden, den Kopf und nahm einen Schluck aus der Tasse, in der der Kaffee nun schon merklich abgekühlt war. Zugegeben, seit zwei Standardjahren trat man auf der Stelle. Mit Hilfe leistungsfähiger Elektronengehirne, nicht nur denen des hiesigen Instituts, hatte man die strukturellen Zeichen vieler Folien erkennen und speichern können. Das Hauptproblem jedoch war die Umsetzung in eine verständliche Sprache. Man bewegte sich hier auf völligem Neuland. Wie wollte man Zeichen übersetzen, wenn Bezugspunkte fehlten, keine – nicht eine einzige! – Relation vorhanden war? Es gab nur wenige Linguisten, die über das Wissen und die entsprechende analytische Ausbildung verfügten, die sie zur Forschung an den gefundenen Unterlagen wirklich qualifizierten. Es gab nur eine Handvoll Männer und Frauen, die man als intuitionistische Linguisten bezeichnete, Sprach-Wissenschaftler, die nicht nur über die notwendigen umfangreichen Kenntnisse verfügten, sondern zudem noch ein gehöriges Maß an Intuition besaßen, eine Art sechsten Sinn, der schon mehr als einmal geholfen hatte, fremde Kommunikationsbasen zu entschlüsseln und für Menschen verständlich zu machen. Pjetr Kubaikjew war einer von ihnen, zudem noch unbestritten derjenige, dessen Intuitionsfaktor am höchsten war. »Und was hat’s genützt?« fragte sich der Hagere selbst. »Nichts, gar nichts! Zwei Jahre – und wir sind noch immer so schlau wie vorher.« Kubaikjew war mittlerweile dazu in der Lage, ganze Sätze,
wie viele Seiten auch immer, in jener mysteriösen Schrift der Unbekannten niederzuschreiben – ohne auch nur zu ahnen, welchen Sinn jene Zeichen hatten, die sich unauslöschlich in sein Bewußtsein eingeprägt hatten. Immer dann, wenn er geglaubt hatte, seine Intuition hätte ihm den Weg gezeigt, mußte er sich später eingestehen, daß diese Vorstellungen wohl zu einem nicht geringen Teil auf Wunschdenken basierten. In diesen zwei Jahren waren die Unbekannten zu einem Dämon geworden, der vollständig von Kubaikjew Besitz ergriffen hatte. Er war von den Folien und ihren Strukturzeichen regelrecht besessen, seine Arbeit kam einem Fieber gleich, das an seinem Körper zehrte. Kubaikjew trank seine Tasse aus und stellte sie hart auf die Untertasse zurück. Er fühlte, daß in den vergangenen drei Stunden etwas geschehen war, das ihm weiterhelfen würde. Ein Alptraum war es nicht gewesen, dessen war er sich mittlerweile absolut sicher. War seine schon verloren geglaubte Intuition zurückgekehrt? Hatte sich sein Unterbewußtsein mit den in seinem Gedächtnis gespeicherten Strukturzeichen beschäftigt? Und – was noch wichtiger war: War es zu einem Ergebnis gekommen? Pjetr Kubaikjew erhob sich und schüttelte den Kopf. Er vermochte sich an nichts zu erinnern, so sehr er sich auch darauf zu konzentrieren versuchte. Aber er spürte etwas, einen Hauch von Optimismus. Der Hagere zog sich eine leichte Jacke über, nahm den Impuls-Schlüssel an sich und verließ seine Wohneinheit. Seine Arbeitsstätte war nicht weit entfernt, mit seinem Wagen waren es nur etwa zehn Minuten. *
Pjetr Kubaikjews Wohneinheit lag inmitten eines pilzartigen Wohnturms, unmittelbar am Rande des Stadtkerns von Thalistan, des Nervenzentrums von Logannidaror. Es war eine bevorzugte Wohngegend, mit weiten, gepflegten Parks, durch die er oft, kurz vor Sonnenuntergang, zu schlendern pflegte. Natürlich waren die Wohnungen und Apartments in diesem Bezirk entsprechend teuer, aber Kubaikjew war auch ein gefragter Mann, dessen Gehalt für seinen Lebensstil mehr als ausreichend war. Sein keilförmiger Gravocar parkte in einer Tiefgarage, die er durch den zentralen Antigravschacht erreichte. Bei seinem Eintreten schaltete sich automatisch das Licht ein, und er schritt zielstrebig auf sein Fahrzeug zu. Ein Druck auf die Taste des Impuls-Schlüssels öffnete den Einstieg. Kubaikjew programmierte den Autopiloten und lehnte sich dann bequem zurück. Summend sprang der Motor an, der Einstieg schloß sich, dann setzte sich sein Gefährt in Bewegung. Sekunden später verließ der Gravocar die Tiefgarage, steuerte auf die breite Hauptstraße, suchte den günstigsten Leitimpuls und beschleunigte. Der Hagere sah, in Gedanken versunken, durch das transparent gewordene Material der Kabine hinaus. Es war jetzt fast 2.30 Uhr, wer jedoch ein Nachtleben in der Zwei-MillionenStadt erwartete, sah sich getäuscht. Obwohl es bereits eine Reihe von Jahren her war, erinnerte sich Pjetr Kubaikjew recht gut an das Leben in Rigala, der Hauptstadt von Tharasis, seiner Heimatwelt, auf der er geboren und aufgewachsen war. Rigala war zwar etwas kleiner als Thalistan, doch das Leben pulsierte dort in einer Blüte, die auch größeren Städten Konkurrenz machte. Kubaikjew erinnerte sich gerne daran. Es war eine heitere, beschwingte Zeit gewesen, damals…
Er runzelte die Stirn, als sein Gravocar in den unmittelbaren Stadtkern bog und auf eine schnellere Leitspur wechselte. Thalistan war nachts tot. Ab 24.00 Uhr planetarer Zeit war niemand mehr auf der Straße, der die wechselnden Leuchtreklamen, die holografischen Projektionen, die dreidimensionalen Suggestivbilder hätte betrachten können. Leer und verlassen lagen die breiten Alleen vor seinen Augen, einsam und öde die ausgedehnten Fußgängerbereiche, tot und still die unzähligen Rollbänder. Nur hier und dort, im Schatten eines großen Gebäudes, auf zentralen Plätzen und Straßeneinmündungen, erkannte er die unförmigen Fahrzeuge der Armee, die Soldaten, die mit Nachtferngläsern zu ihm herüberstarrten. Und Kubaikjew konnte sich dabei eines unguten Gefühls nicht erwehren. Die Automatik seines Gravocars strahlte zwar unaufhörlich eine bestimmte Codefolge aus, die ihn als Inhaber einer Sonderlizenz kennzeichnete, dennoch wußte er nicht, was in den Hirnen der Armeeangehörigen vorging, die ihre Finger auf den Feuerknöpfen ihrer Strahlwerfer liegen hatten und aufmerksam auf die Kontrollen starrten. Ein huschender Ortungsreflex, gepaart mit einer Portion Nervosität, und es konnte um ihn geschehen sein. In den letzten drei Wochen war das Leben gefährlich geworden: Militärputsch, Zwangsmaßnahmen, Ausnahmezustand, nächtliches Ausgehverbot. Von seiten des MZ/II+/1-Instituts konnte dem herrschenden Militärrat nur mühsam klargemacht werden, daß die Wissenschaftler nicht innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls kreativ waren, also auch Gelegenheit erhalten mußten, zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu den Institutscomputern zu haben. Dennoch – sie hatten alle diese Sondergenehmigung erhalten, wenn sich auch herausstellte, daß so gut wie niemand davon Gebrauch machte. Das Risiko, von einem übereifrigen Armeeangehörigen für einen
Konterrevolutionär gehalten zu werden, war den meisten Linguisten zu hoch, eigentlich auch Pjetr Kubaikjew. Doch in dieser Nacht trieb ihn neue Hoffnung ins Institut, neuer Optimismus ließ ihn die Gefahr vergessen. Als sein Fahrzeug eine der Ausfallstraßen erreicht hatte, erhöhte der Autopilot das Tempo. Thalistan wirkte gespenstisch, eine Zwei-Millionen-Stadt ohne Leben, voller Angst. Für Sekunden dachte Kubaikjew daran, was hier vorging, in den dunklen Seitengassen, in Hinterhöfen und Kellern. Der Militärrat griff hart durch, Dissidenten riskierten ihr Leben. Er selbst fühlte sich dennoch irgendwie als Unbeteiligter, Außenstehender, den das, was jetzt hier auf Logannidaror geschah, nicht direkt betraf, obwohl sein Verstand ihm sagte, daß dieses Gefühl trügerisch war und mehr einem Wunsch denn der Realität entsprach. Einige Minuten später hatte Kubaikjew die eigentliche Stadt hinter sich gelassen. Der Autopilot wählte kurz darauf eine Ausfahrt, bog in eine kleinere Straße ein, die nach einigen hundert Metern direkt vor den weitläufigen Institutskomplex führte. Es handelte sich dabei um drei ineinander verschachtelte, rechteckige Gebäude mit breiten Glasfronten, die auch um diese Stunde in helles Licht getaucht waren. Der Linguist begann sich sofort wohler zu fühlen. Dies war ein Ort, den er kannte und an dem man andererseits ihn genau kannte. Die Institutsangehörigen waren in den vergangenen zwei Jahren zu einer großen Familie geworden, in der alle für das gleiche Ziel arbeiteten: Übersetzung der Strukturzeichen, Gewinnung neuen, umfassenden Wissens über ein altes Sternenvolk, das schon vor Tausenden von Jahren jeder bekannten Zivilisation weit voraus gewesen war. Nur ganz kurz fragte sich der Hagere in diesem Augenblick, was geschehen würde, geschehen mußte, wenn es gelang, die Informationen, die die
Folien beinhalteten, zu entschlüsseln und so möglicherweise eine Technologie zu erschließen, die der gegenwärtigen überlegen war. Das Institut war Bestandteil von Logannidaror. Alle Forschungsergebnisse waren laut dem Zehnjahresvertrag Eigentum des Fünf-Sonnen-Bundes, wenn auch in dem gleichen Vertrag die Klausel enthalten war, daß die ermittelten Ergebnisse der gesamten Menschheit, also auch Terra und den anderen Sternenstaaten, zur Verfügung gestellt werden sollten. Ob der jetzt herrschende Militärrat, der bereits offene Gebietsforderungen an das Andarrisa-System, das in der Nähe des FünfSonnen-Bundes lag und zu den »Unabhängigen« gehörte, gestellt hatte, diese Klausel wirklich erfüllte, war zweifelhaft. Pjetr Kubaikjew parkte seinen Gravocar direkt vor dem Haupteingang und schritt auf das breite Portal zu, dessen eine Hälfte sich bei seinem Erscheinen surrend zur Seite schob. Er trat in eine gemütlich eingerichtete Empfangshalle mit dicken, schallschluckenden Teppichen, meterhohen, exotisch wirkenden Pflanzen und einer niedrigen Sitzecke mit mehreren kleinen Tischen. Das Institut, besser gesagt, ein Teil des Instituts, diente gleichzeitig auch als Museum, und die Empfangshalle war daher für die Besucher besonders bequem und verhältnismäßig exklusiv ausgestattet worden. An der rückwärtigen Front des Raumes, der in ein sanftes, einschmeichelndes Licht getaucht war, war ein halbrunder, tresenähnlicher Arbeitstisch in den Boden eingelassen, hinter dem ein älterer Mann hockte. »Guten Abend, Milan«, sagte Kubaikjew mit einem Nicken. »Guten Morgen«, entgegnete der Alte demonstrativ und beugte sich etwas vor. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Der Linguist nahm den speziellen Code-Geber entgegen, der ihm innerhalb des Instituts zu allen Räumen und technischen Einrichtungen Zugang gewährte.
»So um 2.45 Uhr, nicht wahr?« erwiderte er dann und sah den Wachmann an, um dessen Mundwinkel jetzt ein Lächeln spielte. »Fast richtig. Leiden Sie an Schlaflosigkeit? Wenn ich Feierabend habe, bringen mich keine zehn Pferde hierher.« Sie sind auch kein Linguist, wollte Kubaikjew daraufhin sagen, doch er schluckte diese unfreundliche Bemerkung hinunter, verzog nur in angeblicher Verzweiflung die Mundwinkel, zuckte mit den Achseln und steuerte auf einen anschließenden Korridor zu, der weiter ins Institutsinnere führte. Hinter ihm schüttelte Milan den Kopf. Wissenschaftler! dachte der Wachmann mit einem gehörigen Maß an Unverständnis und wandte sich dann wieder dem Studium seiner Holo-Zeitschrift zu. Pjetr Kubaikjew marschierte durch einsame Korridore und Gänge, benutzte einen Lift und mehrere Transportbänder, dann hatte er sein Büro erreicht, in dem er schon zwei Jahre über den Strukturzeichen grübelte. Er pflegte seine Arbeitsstätte Büro zu nennen, dennoch war es mehr ein überdimensionales Terminal. Über eine Reihe von kompakten Schaltpulten hatte er die Möglichkeit, jederzeit die leistungsfähigen Elektronengehirne für seine Arbeit einzusetzen, die in mehreren unterirdischen Stockwerken untergebracht waren. Er konnte sich von hier aus zu jedem Zeitpunkt über die Art der Tätigkeit seiner Kollegen informieren und darüber, welche Fortschritte sie erzielten. Damit war gewährleistet, daß jeder der hier tätigen Sprachforscher nicht nur individuelle Studien betrieb, sondern gleichzeitig auf den unmittelbar vorher geschaffenen Erkenntnissen aufbaute. Pjetr Kubaikjew lachte halblaut, als er sich in seinen breiten Sessel sinken und seine Finger über die Tastaturen und Sensoren der Elektronikbänke auf der großflächigen Schreibtisch-
platte wandern ließ. Summend erwachten die Aggregate, Kontrollampen flackerten auf und signalisierten in einem satten Grün ihre Bereitschaft. Der Hagere schloß kurz die Augen, dann preßte er eine bestimmte Taste in die Fassung. Die mehrere Quadratmeter große Projektionsfläche, die fast die gesamte Fläche der ihm gegenüberliegenden Wand einnahm, wurde milchiggelb. Farbschleier huschten über die Oberfläche, dann stabilisierte sich das Bild. Symbolgruppen flammten auf, die auf den ersten Blick wie Projektionsstörungen erscheinen mochten, bei näherem Hinsehen und entsprechenden Kenntnissen jedoch als Strukturzeichen zu identifizieren waren. Molekularleser waren entwickelt worden, die die Einwirkungen der Unbekannten auf die Molekularstruktur der Folien für menschliche Augen erst erkennbar gemacht hatten. Das, was Kubaikjew jetzt aus zusammengekniffenen Augen musterte, war die Umsetzung jener molekularen Zeichen in das Äquivalent einer Schrift, von der man glaubte, daß sie dem Inhalt, der eigentlichen Botschaft, gerecht wurde. Pjetr wagte nicht daran zu denken, wie es um die Erfolgsaussichten der Forschungsarbeit stand, wenn diese umgesetzten Zeichen nicht exakt waren… Kubaikjew betrachtete die flimmernde Projektion lange. Er drängte alle anderen Gedanken beiseite, konzentrierte sich nur noch auf die eigenartige Nicht-Symmetrie jener Zeichen, die einen Schlüssel für die Revolutionierung von menschlicher Wissenschaft und Technik darstellten. »Jetzt laß mich nicht im Stich«, stöhnte er und meinte damit die Eigenschaft, die allgemein als Intuition bezeichnet wurde. Seine Hände und Finger schienen von den befehlenden Impulsen seines Hirns unabhängig zu werden. Sie wurden zu sich selbständig bewegenden Werkzeugen, mit denen er rein gefühlsmäßig die Projektion variierte. Er reduzierte die Anzahl
der Strukturzeichen auf eine Weise, daß nur noch das sichtbar wurde, was man allgemein »Sätze« nannte, ohne dabei auch nur zu ahnen, ob diese Klassifizierung der Realität entsprach. Er preßte seine Kiefer zusammen, bohrte seinen Blick in die Zeichen, die vor ihm aufzuwachsen schienen, bis sie sein ganzes Gesichtsfeld einnahmen. Er merkte nicht, daß er stöhnte und ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Er war in diesen Minuten, die bald zu Stunden wurden, nicht mehr er selbst. Sein Geist wurde zu einem Teil dessen, was seine Augen sahen. Wieder und wieder veränderte er die Projektion. Irgendwo in einem Winkel seines Bewußtseins regte sich Triumph. Er kam weiter! Das, was ihn in den letzten langen Monaten immer wieder im Stich gelassen hatte, war zurückgekehrt. Seine rationalen Kenntnisse, sein Wissen, das er in harter Arbeit erworben und erweitert hatte, waren in den Hintergrund gedrängt worden. Was im Augenblick zählte, war nur noch sein Gefühl für die Bedeutung jener Zeichen, zu deren Bestandteil er geworden war. Seine Hände griffen nach dem bereitliegenden Magnetschreiber, schoben eine Folie zurecht. Ohne auch nur für einen einzigen Sekundenbruchteil seinen Blick von der Projektion abzuwenden, begann er sich Notizen zu machen, setzte er Strukturzeichen in Relation zueinander, hielt er in kurzen Worten das fest, was er dabei gefühlt hatte. Einzelne Zeichen zu untersuchen, hatte keinen Zweck. Er richtete seine Aufmerksamkeit bald auf Symbolgruppen und versuchte, sie intuitiv in menschliche Begriffe umzusetzen. Die erste Schreibfolie war voll. Er griff zu einer zweiten, dann zu einer weiteren. Rechts von ihm, direkt neben dem Terminal, das ihn mit einem Computer verband, begannen sich
seine Notizen zu häufen. Irgendwo in Kubaikjew regte sich die Befürchtung, daß, wenn er jetzt seine Aufmerksamkeit abwandte, er niemals wieder einen derartigen Ausbruch seiner Intuition erleben würde. Doch nach fast fünf Stunden höchster Konzentration war er so erschöpft, daß sein Kinn auf die Brust sank und er plötzlich erhebliche Mühe hatte, seine Augen offenzuhalten. Beinahe automatisch tastete seine Hand nach dem Aus-Schalter. Als die Projektion knisternd erlosch, zuckte er zusammen und verfluchte diese Reflexhandlung. Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er zu sich selbst, während er tief durchatmete. »Es ist besser so. Wenn die Daten falsch werden, ist meine ganze Arbeit umsonst.« Zerschlagen zündete er sich eine Zigarette an, blickte dem Rauch nach und versuchte sich zu entspannen und für einen Augenblick an gar nichts zu denken. Sein Zweiteiler war durch und durch feucht. Mit der rechten Hand fuhr er sich über die Haare und stellte dabei unbewußt fest, daß sie fast so naß waren, als wäre er gerade unter der Dusche gewesen. Als er sich seinen Notizen zuwandte, registrierte er ein wenig erstaunt, daß er nicht das Computerterminal benutzt hatte, um seine intuitiv gewonnenen Daten festzuhalten. Er runzelte die Stirn und vertiefte sich, seine Müdigkeit bekämpfend, in das Studium seiner Aufzeichnungen. Er benötigte nur einige Minuten, um zweifelsfrei festzustellen, daß das Ergebnis seiner nächtlichen Arbeit sensationell war. Nach weiteren zehn Minuten war seine Erschöpfung wie weggewischt, und er ließ sich rasch den »Text« einiger bestimmter Folien ausdrucken. Mit fliegenden Fingern ging er daran, mit seinem Magnetschreiber das hinzuzusetzen, was er für die Bedeutung der einzelnen Strukturzeichen hielt. Diese Arbeit nahm eine weitere halbe Stunde in Anspruch.
Kubaikjew ließ seinen Magnetschreiber los, als er glaubte, die Übersetzung beendet zu haben. Schwer atmend lehnte er sich in seinem Sessel zurück. »Volltreffer«, murmelte er. Er ließ die beschriftete Folie sinken, nachdem er das, was er den Strukturzeichen beigefügt hatte, nochmals studiert hatte. Seine Gedanken drohten, in ein unkontrollierbares Chaos abzusinken, als er sich über die möglichen Konsequenzen klar zu werden versuchte, die seine Entdeckung nach sich ziehen konnte. Das Bild des nächtlichen Thalistan zog an seinem inneren Auge vorüber, der Militärputsch, die neuen Machthaber des Fünf-Sonnen-Bundes, die territorialen Forderungen an das Andarrisa-System. Was geschah, wenn die Magnetfolien, die vor ihm auf der Schreibtischplatte lagen, in die Hände des Militärrates fielen? Würde er die Klausel des Zehnjahresvertrags erfüllen, nach der die gesamten Erkenntnisse aus der Unbekannten-Forschung allen Menschheitsvölkern der Galaxis zur Verfügung gestellt werden sollten? Pjetr Kubaikjew schüttelte langsam und nachdrücklich den Kopf. Er verstand nicht viel von Politik und bedauerte in diesem Augenblick, daß er sich nicht näher über die neuen Verhältnisse auf Logannidaror und den anderen Welten des FünfSonnen-Bundes informiert hatte. Aber er glaubte nicht, daß dem Militärrat der Zehnjahresvertrag sonderlich am Herzen lag, nicht, wenn er in Besitz dieser Folien und des Übersetzungsschlüssels gelangte, den Kubaikjew jetzt gefunden zu haben glaubte. Der Linguist warf einen raschen Blick auf den Chrono und zuckte zusammen. Es war bereits später, als er gedacht hatte. Er beglückwünschte sich jetzt dazu, daß er nicht einen der Computer dazu benutzt hatte, seine Notizen abrufbereit zu
halten. Sie wurden damit gleichzeitig für seine Kollegen gespeichert, und es war ihm unmöglich, einmal eingegebene Daten wieder zu löschen. Kubaikjew mißtraute nicht etwa den anderen Sprachforschern des Instituts, aber er wußte nicht, welche Überwachungsmaßnahmen der Militärrat bereits eingeleitet und angeordnet hatte. Alle hier erarbeiteten Erkenntnisse gehörten Logannidaror. Was lag näher, als zu vermuten, daß sich gerade die neuen Machthaber über den Stand einer – möglicherweise – derart einträglichen Forschungsarbeit informierten? Kubaikjew fuhr erschrocken herum, als Stimmen an seine Ohren drangen. Es war schon soweit, die ersten Kollegen und Kolleginnen suchten ihre jeweiligen Arbeitsstätten auf. Der Hagere griff rasch nach dem Stapel beschrifteter Folien, überflog die oberste prüfend und legte sie dann beiseite. Sie war, soweit er das beurteilen konnte, die bei weitem wichtigste. Sie beinhaltete eine Information, die weitaus gefährlicher war als ein schwerbewaffnetes Raumgeschwader. Vorsichtig rollte er sie zusammen und schob sie in eine Tasche seines Zweiteilers. Die anderen ließ er kurzerhand in der Desintegrationskammer verschwinden. Zwar waren unter diesen Notizen auch Hauptbestandteile des von ihm gefundenen Übersetzungsschlüssels, doch er war sicher, daß er ihn mittlerweile im Kopf hatte. Sollte das nicht der Fall sein, war die Übersetzung in seiner Tasche sicherlich Grundlage genug, um diesen Schlüssel neu zu erarbeiten. Suchend sah er sich anschließend in seinem Büro um. Nein, es war nichts mehr da, was Aufschluß darüber gegeben hätte, womit er sich in den vergangenen Stunden konkret beschäftigt hatte. Er klopfte sich noch einmal auf die Tasche, in der die Übersetzung untergebracht war, und ein unruhiges Gefühl kroch dabei seinen Rücken hinauf. Die Folie barg für ihn ein
erhebliches Risiko, das allerdings nicht zu vermeiden war. Er mußte absolut sicher sein, daß er die Fülle der Daten beherrschte, sie mußten so fest in seinem Gedächtnis verankert sein, daß er sie in seinem ganzen Leben nicht mehr vergaß. Erst dann durfte er sie verschwinden lassen, vorher nicht. Kubaikjew fühlte sich matt und ausgelaugt. Dennoch war er die personifizierte Nervosität. Und seine innere Anspannung und Unruhe legten sich auch nicht, als er längst seine Wohneinheit in Thalistan erreicht hatte. Er wußte, daß er das, was er vorhatte, unbedingt durchführen mußte. Ein noch fragmenthafter Plan war in ihm entstanden, nach dem er sich zu richten gedachte. Wenn er sich allerdings in seiner Phantasie ausmalte, was dieses Vorhaben für ihn bedeuten konnte, dann vermochte er ein Schaudern nicht zu unterdrücken. * Genau drei Tage später meldete sich Pjetr Kubaikjew bei der Institutsleitung krank. Wiederum zwei Tage später erlitt der Linguist einen schweren Herzinfarkt, der nur durch einen glücklichen Zufall – er befand sich gerade nicht in seiner Wohneinheit – sofort bemerkt wurde. Der herbeigerufene ärztliche Notdienst stellte fest, daß Kubaikjew im Koma lag, und transportierte ihn sofort in eine Spezialklinik Thalistans, wo er in der Intensivstation untergebracht wurde. In dieser Klinik arbeiteten zwei bekannte Herzspezialisten, die den Linguisten etwa sechzig Minuten nach seinem Infarkt eingehend untersuchten und dabei einen irreparablen Schaden an der linken Herzkammer feststellten. Eine Operation war sinnlos und konnte dem Patienten in seiner gefährlichen Lage höchstens den Tod bringen. Eine Brutanstalt zur Heranzüchtung neuer Organe auf der Basis der in-
dividuellen Körperchemie existierte auf ganz Logannidaror nicht. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, das Leben Kubaikjews zu retten. Er mußte sofort in den schnellsten Liner, der verfügbar war, verfrachtet und auf Darranga im Golinkarra-System in eine Klinik transportiert werden, die über eine Brutanstalt verfügte. Die Rückfragen der Behörde, die Ausreisegenehmigungen erteilte, beim Forschungsinstitut ergaben, daß Kubaikjew ein wichtiger, sogar unentbehrlicher Mitarbeiter war, was zur Folge hatte, daß der Transport des immer noch im Koma Liegenden schnellstens in die Wege geleitet wurde. Angeschlossen an komplizierte Lebenserhaltungsgeräte trat der Linguist die Reise an. In einer Klinik auf Darranga wurde eiligst und extra für ihn ein neues Herz gezüchtet, leistungsfähiger als das alte, und vor allem gesund. Kubaikjew blieb exakt sechs Wochen unter Aufsicht der Ärzte. Da sich im Verlauf dieses Zeitraums keine Komplikationen ergaben, wurde er entlassen und trat einige Tage später die Heimreise nach Logannidaror an. Sechs Wochen und fünf Tage nach seinem Herzinfarkt, der beinahe tödlich verlaufen wäre, nahm Pjetr Kubaikjew, offenbar vollkommen wiederhergestellt und bei bester Gesundheit, seine Forschungsarbeit im Institut außerhalb von Thalistan wieder auf. Er hatte etwas in Gang gebracht, wovon er sich zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellung machen konnte. * »Kennen Sie die Unbekannten?« Die Stimme Martin Fergusons, seines Zeichens Vorsitzender des Sicherheitsbüros, war wie immer klar und scharf akzentu-
iert. Dennoch zog Toger Raman fragend die Augenbrauen in die Höhe und beugte sich etwas vor. »Ob ich die Unbekannten kenne?« echote er. Ferguson räusperte sich kurz und studierte mit viel Aufmerksamkeit den Magnetschreiber, den er zwischen den Fingern drehte. »Nun ja«, sagte er, »die Frage ist ein wenig unglücklich formuliert.« Mit Hilfe der Sessellehnen stemmte er seine massige Gestalt hoch, trat an eine unscheinbare, in die Wand eingelassene Kontrolltafel und betätigte einen Sensor. Summend schob sich der größte Teil der holzimitierten Wandverkleidung beiseite und enthüllte damit die dreidimensionale Projektion einer Sternenkarte. Ferguson griff nach einem Zeichengeber und trat näher an die glitzernden Punkte heran. Toger lehnte sich bequem zurück. »Zäumen wir also das Pferd von der anderen Seite auf«, sagte Ferguson, sah den Sicherheitsbeauftragten kurz an und deutete dann auf die Karte. »Sie sehen hier die Projektion des Großsektors Tau – wie Sie wissen, im Mittel knapp tausend Lichtjahre entfernt.« Ferguson preßte eine Taste seines Zeichengebers nieder. Fünf der glitzernden Punkte leuchteten rot auf. Sie lagen zueinander in unmittelbarer Nachbarschaft. »Das«, erklärte er, »ist der unabhängige Sternenstaat, der sich Fünf-Sonnen-Bund nennt. Und dies hier«, einer der roten Punkte begann in ruhigem Rhythmus zu pulsieren, »ist die Zentralwelt: Logannidaror.« »Ich bin informiert«, sagte Toger mit einem Nicken und fragte sich, worauf sein Chef hinauswollte. Was war so wichtig, daß er deswegen seinen wohlverdienten Urlaub hatte abbrechen müssen?
»Gut«, brummte Ferguson. »Wahrscheinlich wissen Sie auch schon, daß auf Logannidaror und den anderen Welten dieses Sternenstaates vor knapp neun Wochen ein wohlvorbereiteter Militärputsch stattgefunden hat. Die gewählte Regierung – die übrigens auch nicht gerade sehr terrafreundlich war – ist abgesetzt, zum Teil inhaftiert, zum Teil verschwunden. Die Macht liegt jetzt in den Händen eines zwanzigköpfigen Militärrates, und man kann bereits jetzt absehen, daß dieses Regime eine aggressive Außenpolitik verfolgt. Offizielle Gebietsforderungen an das Andarrisa-System – hier – sind bereits gestellt.« Er wandte sich von der Projektion ab und blickte Toger Raman tief in die Augen. »Das als Hintergrundinformation. Hm, auf Logannidaror existiert ein ausgedehntes Forschungsinstitut, das sich mit den Hinterlassenschaften der Unbekannten, besser gesagt, der MZ/II+/1, beschäftigt. An diesem Institut arbeitet unter anderem auch ein gewisser Pjetr Kubaikjew, geboren auf Tharasis.« »Kubaikjew, Pjetr Kubaikjew?« wiederholte Toger. »Moment, damals, während des Einsatzes auf Fargas habe ich einen Kubaikjew kennengelernt. Er hat uns einige Informationen zukommen lassen, die…« »Genau der ist es«, unterbrach ihn Ferguson und nickte nachdrücklich. »Und dieser Kubaikjew scheint sich Ihrer erinnert zu haben.« Er desaktivierte die Projektion und ließ sich wieder in den Sessel hinter seinem Schreibtisch sinken. Die Polster stöhnten gequält auf, als sie erneut belastet wurden. »Er hat das außerordentliche Risiko auf sich genommen, durch ein spezielles Mittel bei sich selbst einen höchst gefährlichen Herzinfarkt zu verursachen, um uns von einem Planeten außerhalb des Fünf-Sonnen-Bundes eine Nachricht zukommen zu, lassen. Sie besteht nur aus drei Worten: ›Brauche Hilfe!
Dringend!‹« »Hm«, machte Toger. »Kubaikjew ist kein Mann, der mit solchen Dingen Schabernack treibt. Wenn er meint, daß es dringend ist, dann verhält es sich auch so.« »Das meine ich auch«, bekräftigte Ferguson. »Leider war es unmöglich, näheren Kontakt mit Kubaikjew auf Darranga aufzunehmen. Er stand unter Beobachtung und dürfte inzwischen nach Logannidaror zurückgekehrt sein.« »Dann muß den neuen Machthabern des Fünf-Sonnen-Bundes aber einiges daran liegen, ihn zu behalten. Was macht ihn so wichtig?« »Das wissen wir nicht genau. Aber sein Betätigungsfeld gibt Anlaß genug zu einigen Vermutungen. Kubaikjew ist Linguist, ein intuitiv begabter dazu. Und er arbeitet seit nun schon zwei Jahren an den von den Unbekannten zurückgelassenen Strukturzeichen. Was die in den Artefakten der Unbekannten aufgefundenen Folien für uns wert sein können, weiß noch niemand. Die einen sagen, eine Übersetzung könnte für unsere Zivilisation den wichtigsten Impuls seit der Erfindung des Rades bringen, die anderen halten jede weitere Forschungsarbeit für reine Zeitverschwendung.« »Hm«, machte Toger erneut und legte seine Stirn in Falten. »Und jetzt diese Nachricht an uns. Kubaikjew scheint also eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, eine so bedeutende, daß er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, um sie nicht in die Hände eines aggressiven Regimes fallen zu lassen.« »Was leider nicht ganz gelungen ist«, schränkte Ferguson ein. »Angenommen, es handelt sich bei dieser Entdeckung um eine Waffe oder irgend etwas in der Richtung. Wenn die Unterlagen dazu in die Hände des Militärrates fallen, ist die Gefahr, die dadurch den anderen Welten und Sternenstaaten des Großsektors Tau droht, gar nicht abzuschätzen.«
»Es gibt doch«, wandte Toger ein, »wenn ich mich recht entsinne, einen Vertrag über die Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse…« »Sehr richtig«, bestätigte Ferguson und schnaubte dabei abfällig. »Was der aber angesichts der offensichtlichen Kriegslüsternheit des Militärrates wert ist…« »Ich verstehe.« »Wenn – ich sage ausdrücklich wenn – die Auswertung der Unbekannten-Folien verwertbares Know-How bringt, dann kann der Fünf-Sonnen-Bund von heute auf morgen allen anderen menschlichen Sternenvölkern plötzlich haushoch überlegen sein. Addieren Sie dazu die politischen Aussagen des Militärrates, und Sie kommen zu einem Ergebnis, das nicht nur für die Nachbarn Logannidaros, sondern auch für uns äußerst bedrohlich ist.« »Wenn ich Sie richtig verstehe, Chef, dann soll ich dafür sorgen, daß das, was Kubaikjew entdeckt hat, der Interstellaren Wissenschaftlichen Vereinigung zugänglich wird. Wenn der Militärrat inzwischen entsprechende Kenntnisse an sich bringen konnte, dann ist eine galaxisweite Veröffentlichung die beste Methode, um den Fünf-Sonnen-Bund von Kriegsgedanken abzubringen, da dann der vermeintliche technologische Vorsprung nicht mehr existiert.« »Genau. Außerdem wird damit auch der Vertrag, den Sie schon angesprochen haben, erfüllt. Außer Ihnen arbeitet noch ein weiterer Sicherheitsbeauftragter an dieser Sache, unabhängig von Ihnen. Sollten Sie also diesen Auftrag – aus welchen Gründen auch immer – nicht erfüllen können, so ist damit das Unternehmen noch nicht gescheitert.« »Wer ist es?« Ferguson schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn Sie sich nicht kennen. Was Sie nicht wis-
sen, kann man auch nicht aus Ihrem Hirn pressen…« Toger Raman nickte und erhob sich. »Wann?« fragte er kurz. Martin Ferguson griff nach einer prall gefüllten Aktentasche, die neben seinem Schreibtisch stand. »Morgen. Hier drin finden Sie alle Informationen, die Sie brauchen. Außerdem Tickets, Identitätskarte usw. Denken Sie daran, daß auf Logannidaror Ihr Vorrangstatus nicht mal so viel wert ist wie der Anzug, den Sie tragen.« Toger wandte sich um und öffnete die Tür. »Ach noch etwas!« rief Ferguson ihm nach. »Sie sollten noch eine Sprachschulung absolvieren. Verkehrssprache im FünfSonnen-Bund ist zwar Interlingua, aber mit einer fremdartigen Abwandlung. Na ja, in zwei Stunden sollten Sie das geschafft haben.« Der centaurische Sicherheitsbeauftragte widersprach nicht. Aber da sein Vorgesetzter ihn offensichtlich für ein Sprachgenie hielt, überlegte er, ob er nicht bei ihrem nächsten Zusammentreffen um eine Gehaltserhöhung bitten sollte… * »Und das«, raunte Gipka Lifand bedeutungsvoll, »ist Francis Toledo von der ›Star Gazette‹!« Pjetr Kubaikjew nickte langsam und musterte den unscheinbar wirkenden Mann, der jetzt höfliche Grüße der bereits Anwesenden erwiderte und sich einen Platz suchte, aus zusammengekniffenen Augen. Toledo, ein Mann von etwa vierzig Jahren, in einen eleganten Anzug gekleidet, war der wichtigste Mann unter den versammelten Journalisten. Und ganz gleich, wer jetzt noch kam: Er würde es auch bleiben. Die »Star Gazette« wurde auf allen Planeten des Fünf-Sonnen-Bundes vertrie-
ben. Sie war die mit Abstand auflagenstärkste Zeitung, die in diesem Sternenstaat existierte. Das, was Francis Toledo nach Ablauf der Pressekonferenz in seinen Recorder sprach, würden wenige Stunden später viele Millionen Menschen lesen. Die »Star Gazette« brauchte auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht zu nehmen, sie machte sie! Pjetr Kubaikjew fühlte sich nervös und gereizt, obwohl sein Verstand ihm sagte, daß eigentlich noch kein Grund dafür vorhanden war. Zum einen war ihm der Umgang mit Berichterstattern, die ihn jetzt kalt, Blutsaugern gleich, musterten und nach Schwächen suchten, ungewohnt, zum anderen wußte er nicht, ob das, was er vorzubringen gedachte, überzeugend genug war. »Was hast du auf Darranga angestellt?« hatte ihn sein Kollege Lifand nach der Rückkehr gefragt. Dann hatte er ihm mitgeteilt, daß der Planetare Sicherheitsdienst überall Auskünfte über ihn eingeholt hatte, seine Person und seine Arbeit betreffend. Kubaikjew konnte natürlich nicht ahnen, wieviel der PSD bereits über ihn wußte, aber die plötzliche Bedeutung, die seine Person offensichtlich beim Geheimdienst gewonnen hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Wenn der PSD von der kurzen Nachricht wußte, die er auf Darranga an das Sicherheitsbüro gerichtet hatte, dann war es um sein eigenes Schicksal nicht mehr besonders gut bestellt. Dies erschien ihm allerdings so unwahrscheinlich, daß er mehr an die zweite Möglichkeit glaubte. Der PSD konnte, auch wenn er nicht wußte, wie das möglich war, dahintergekommen sein, daß er bei der Entschlüsselung der Strukturzeichen einen bedeutsamen Erfolg erzielt hatte. Daß er das nicht sofort gemeldet hatte, mußte natürlich Verdacht erregt haben. Kubaikjew hatte sich entschlossen, einen Teil seines Wissens
preiszugeben, um diesen Verdacht aus der Welt zu schaffen, zumindest aber abzuschwächen und seine Person zu schützen. Er war sicher, daß in den nächsten Tagen oder Wochen ein Mann auf Logannidaror eintreffen würde, den er unter dem Namen Toger Raman kannte. Er mußte dem Sicherheitsbeauftragten – und nur ihm – das entschlüsselte Geheimnis der Unbekannten mitteilen. Der Hagere zuckte kaum merklich zusammen, als sich, die breite Tür des halbrunden Raumes schloß und Jansor Migan, der Leiter des Forschungsinstituts, sich räusperte. Außer ihm, Gipka und Migan saßen noch einige andere Sprachforscher an den hohen Tischen und suchten in Aktenstapeln, um nicht ständig den bohrenden Blicken der Journalisten begegnen zu müssen. »Meine Damen und Herren«, sagte Jansor Migan mit seiner souveränen Stimme und sah sich lächelnd um, »ich glaube, wir können beginnen.« Während er sich räusperte, verstummte das leise Stimmengewirr. Knisternde und gespannte Ruhe breitete sich aus. »Wie Sie alle wissen«, begann Migan, »beschäftigen wir uns im Institut nun schon seit einigen Jahren mit den auf Logannidaror gefundenen Hinterlassenschaften der Unbekannten, genauer gesagt, der MZ/II+/1.« Er betätigte einen Sensor, eine große Projektionsfläche an der Wand flammte auf und zeigte die dreidimensionale Darstellung einer der drei Statuen. Das Bild wechselte nach einigen Sekunden zu einer Folie über. »Diese, wie wir sie nennen, Folien, stellten sich bald als Informationsträger heraus. Ihre Molekularstruktur ist so manipuliert, daß man zweifellos von Zeichen sprechen kann.« Wieder wechselte das Bild. »Diese Zeichen beschäftigen Sprachforscher aller Sternen-
staaten nun schon seit geraumer Zeit. Man war sich seit Beginn der Forschungsarbeiten darüber klar, daß eine Entschlüsselung, eine Übersetzung, unsagbar schwierig sein mußte, zumal jede Analogie zu anderen Schriftsprachen fehlt. Die Strukturzeichnungen waren und sind völliges Neuland.« Er legte eine kunstvolle Pause ein und blickte auf die lauschenden und sich Notizen machenden Journalisten. »An unserem Institut arbeiten nicht nur ausgebildete und erfahrene Sprachforscher, sondern auch intuitionistische Linguisten, unter ihnen der begabteste überhaupt: Pjetr Kubaikjew.« Das war das Stichwort. Kubaikjew räusperte sich und verfluchte seine Unsicherheit. »Ich bin jetzt seit etwa zwei Jahren am Institut tätig«, sagte er. »Während dieser Zeit haben wir keinen nennenswerten Erfolg erzielen können. Meine Intuition, auf die ich mich bei anderen Arbeiten verlassen konnte, ließ mich im Stich. Bis vor einigen Tagen!« Befriedigt registrierte er, daß sein Zusatz die gewünschte Wirkung erzielte. Er griff nach dem vor ihm liegenden Impuls-Geber, wandte sich der Bildfläche zu und veränderte die Projektion. Einzelne Strukturzeichen-Gruppen erschienen in Übergröße. »Wie gesagt«, wiederholte er scheinbar in Gedanken, »bis vor wenigen Tagen.« Videokameras begannen zu surren. Kubaikjew wartete einige Augenblicke, bis sich das leise Singen wieder legte. »Meine Damen und Herren, die Strukturzeichen, die Sie jetzt sehen, sind nicht länger ein ungelöstes Rätsel. Die Übersetzung in Interlingua liegt Ihnen vor. Zwar sind die Worte für uns noch so gut wie ohne jede Aussagekraft, aber der Anfang ist gemacht. Wir haben jetzt eine – wenn auch kleine – Basis,
auf der wir die weitere Arbeit aufbauen können.« Er griff nach einem Zeichengeber. »Diese ersten Gruppen bedeuten etwa soviel wie: der Tod der Unerreichbaren. Die anderen Symbolgruppen scheinen mir Umschreibungen desselben Begriffs zu sein: die Zeit der großen Welle, was immer das auch heißen mag!« Eine Hand fuhr in die Höhe. Kubaikjew wandte sich um und erschrak, als er sah, daß Francis Toledo der Fragesteller war. »Ja?« »Die von Ihnen übersetzten Strukturzeichen beinhalten also nicht sofort verwertbares Wissen, etwa technologischer Natur?« Kubaikjew hoffte, daß man ihm den plötzlichen Schweißausbruch nicht ansah, und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, technologisches Wissen nicht, das ist in diesem frühen Stadium auch nicht zu erwarten. Verwertbare Kenntnisse – ja, aber in einer anderen Art, als Sie es wahrscheinlich meinen. Wie gesagt, diese erste Übersetzung ist für uns der größte Erfolg seit der Aufnahme unserer Arbeit überhaupt. Wir haben nun eine Basis!« Einige Augenblicke lang wunderte sich der Linguist darüber, wie leicht ihm diese Behauptung von den Lippen kam. Der Vertreter der »Star Gazette« stellte noch eine Reihe von anderen Fragen, dann folgten die Journalisten anderer Nachrichtenmedien. Je mehr Fragen Kubaikjew beantwortete, desto mehr legte sich seine Unsicherheit. Dennoch – als sich die Konferenz dem Ende entgegenneigte, war Kubaikjew nervlich erledigt. Hätte er die beiden unauffällig gekleideten Männer in der hintersten Reihe, direkt neben der breiten Tür, bemerkt, die sich bedeutungsvoll ansahen, einen winzigen Recorder ausschalteten und in einer Aktentasche verstauten, wäre seine Nervosität zweifellos in Angst um-
geschlagen. * Ceron Layas preßte eine Taste nieder, und die Stimmwiedergabe erlosch. Die plötzliche Ruhe, die im Büro des PSD-Leiters von Logannidaror herrschte, wirkte drückend. Nur die Klimaanlage summte ihr sanftes, monotones Lied. »Hm«, machte Thorsten Magran nachdenklich und lehnte sich in seinem wuchtigen Sessel zurück. »Wie ist Ihr Eindruck, Layas?« Der Angesprochene beugte sich etwas vor und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin mir darüber selbst noch nicht ganz im klaren. Kubaikjew wirkte auf der Pressekonferenz unsicher und ein wenig nervös. Allerdings kann das auch davon herrühren, daß er als Wissenschaftler den Umgang mit Journalisten nicht gewöhnt ist. Der Institutsleiter Jansor Migan machte da einen wesentlich souveräneren Eindruck. Aber der hat auch erheblich ausgeprägtere Kontakte zu nichtwissenschaftlichen Behörden und Vereinigungen.« »Das meine ich nicht«, schnaubte Magran. »Glauben Sie ihm, seinen Ausführungen?« »Nun ja…« »Sie sind sich also nicht sicher?« Layas verzog scheinbar verzweifelt das Gesicht und zuckte mit den Achseln. »Das, was er gesagt hat, klingt zumindest glaubwürdig.« »Hm«, machte der PSD-Leiter erneut und legte seine Arme auf die dicke Schreibtischplatte. »Wir haben seine Vergangenheit eingehend überprüft«, fuhr er in der Art eines Selbstgesprächs fort. »Kubaikjew ist eingefleischter Linguist, scheint
für nichts außer seiner Arbeit Interesse aufzubringen. Er war und ist nicht verheiratet, hat außerhalb des Kreises seiner Fachkollegen kaum Bekannte, lebt zurückgezogen und vergleichsweise bescheiden. Keine Laster, keine Hobbys.« »Und politisch ist er noch nie tätig gewesen«, fügte Ceron Layas hinzu und runzelte die Stirn. »Dennoch«, murmelte Magran. »Wir wissen mit Bestimmtheit, daß eben dieser Kubaikjew während seines Klinikaufenthalts auf Darranga im Golinkarra-System dem sogenannten Sicherheitsbüro eine Kurznachricht hat zukommen lassen. Sogar der Inhalt ist uns bekannt: ›Brauche Hilfe! Dringend!‹ Und jetzt, kurz danach, dieser merkwürdige, plötzliche Erfolg in der Übersetzung der Strukturzeichen.« Der PSD-Leiter erhob sich, legte die Arme auf den Rücken und begann eine unruhige Wanderung durch sein Büro. Er war ein Mann in den besten Jahren, groß und stämmig gebaut. Allein sein äußeres Erscheinungsbild vermittelte einen nicht unbeträchtlichen Eindruck von Autorität und Macht. »Wir wissen auch«, sagte er nachdenklich, »daß Kubaikjew einem SB-Agenten auf Fargas hilfreiche Informationen für eine Aktion des Sicherheitsbüros übermittelt hat. Der Agent war Toger Raman, übrigens derselbe Raman, der die terranische Delegation zu den Logur begleitet hat. Was wir nicht wissen, ist, welche Person der Adressat dieser Kurznachricht ist, aber das spielt eigentlich auch keine entscheidende Rolle. Raman und Kubaikjew kennen sich, was liegt also näher als die Vermutung, daß der Centauri-Geborene diese dringend benötigte Hilfe bringen soll.« Magran unterbrach seine Wanderung, kratzte sich am Hals und ließ sich dann wieder in seinen Sessel sinken. »Raman ist, wenn er auch im Centauri-System geboren wurde, Terraner«, wandte Layas ein. »Und er gehört einer inter-
stellaren, im Wesen jedoch terranischen Organisation an. Im Fünf-Sonnen-Bund hat er keinerlei Befugnisse!« »Was Sie nicht sagen«, höhnte Thorsten Magran und schüttelte den Kopf. »Raman wird auch nicht als Raman und SBAngehöriger auf Logannidaror erscheinen, sondern natürlich unter einer anderen Identität. Und entsprechende Maßnahmen sind natürlich längst in die Wege geleitet. Die Frage ist nur: Was ist so ungeheuer wichtig, daß ein unscheinbarer Mann wie Pjetr Kubaikjew Kopf und Kragen riskiert und das Sicherheitsbüro sich entschließt, einzugreifen?« Die Blicke des PSD-Leiters schienen Layas zu durchbohren. »Nun«, begann Ceron. »Eigentlich liegt es auf der Hand. Es gibt nur eins, das so wichtig sein kann und von dem Kubaikjew gleichzeitig Kenntnis haben könnte: die Strukturzeichen der Unbekannten!« »Genau!« bekräftigte Magran und hieb mit seiner rechten Faust auf die Schreibtischplatte. »Und das wiederum kann nur bedeuten, daß die Erkenntnisse, die der Linguist auf der Pressekonferenz von sich gegeben hat, nur die halbe Wahrheit sind. Kubaikjew hat etwas entdeckt, etwas so Bedeutsames, daß er bei sich selbst einen irreparablen Herzschaden verursachte, der ihn um ein Haar ins Grab gebracht hätte, nur um das Sicherheitsbüro einzuschalten. Und was für das Sicherheitsbüro angeblich so wichtig ist, kann uns hier nicht gleichgültig lassen.« Er machte eine Pause und überlegte kurz. »Sie und Ihr Kollege Ganian werden Kubaikjew besuchen. Vielleicht ist er bereit, uns auf Ihre höfliche Bitte hin das mitzuteilen, was seiner Meinung nach keineswegs in unsere Hände fallen darf.« Der grimmige Ausdruck, der sich bei diesen Worten in sein Gesicht geschlichen hatte, strafte seine Worte Lügen.
* Die Zeit, die Toger Raman noch bis zu seiner Abreise verblieb, war mit harter Arbeit angefüllt. Mittels mehrerer anstrengender Psycho-Trainingsstunden unterzog er sein Wissen über Logannidaror speziell und den Fünf-Sonnen-Bund allgemein einer Auffrischung. Zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm sogar, den Logannidaror-Dialekt in nur einer Stunde und fünfundfünfzig Minuten zu erlernen – im Schnellkurs natürlich, der für seine Zwecke ausreichend war. Toger wußte, daß die Zeit drängte. Was auch immer Kubaikjew entdeckt hatte und nun vor den Behörden von Logannidaror geheimhielt: Ein Kollege von ihm konnte jederzeit zu einem ähnlichen Erfolg gelangen. Wenn die Wahrscheinlichkeit dafür in Anbetracht der besonderen Begabung Kubaikjews auch gering war, sie mußte dennoch ins Kalkül einbezogen werden. Und wenn der Planetare Sicherheitsdienst von Logannidaror gar schon Verdacht geschöpft hatte und den Linguisten in die Mangel zu nehmen gedachte, war sogar höchste Eile geboten. Das alles hatte zur Folge, daß der Centauri-Geborene verschiedene Sicherheitsmaßnahmen, die auf Erfahrungswerten basierten, vernachlässigen mußte. Er konnte es sich einfach nicht leisten, mit verschiedenen Starlinern eine Reihe von Welten anzufliegen, um so mögliche »Schatten« abzuschütteln. Die einzige Konzession, die Toger sich zugestand, war, daß er einen Liner benutzte, der nicht auf geradem Kurs den FünfSonnen-Bund ansteuerte, sondern erst noch auf drei anderen Welten Station machte. Der Starliner »Sir Hickenworth«, ein Schiff der gehobenen Mittelklasse, kam auch den imaginären Bedürfnissen seiner
neuen Identität sehr nahe. Marlon Viasco stand in unfälschbaren Lettern auf seiner ID-Karte, von Beruf Edelsteinhändler. Während des Psycho-Trainings hatte er sich auch einige einschlägige Kenntnisse angeeignet, doch zugleich den Entschluß gefaßt, jeder Situation aus dem Weg zu gehen, in der er sein Wissen hätte unter Beweis stellen müssen. Knapp zwei Wochen dauerte die Reise, und Toger vermied es während dieser Zeit tunlichst, öfter als unbedingt notwendig in einen Spiegel zu blicken. Er galt zwar nicht gerade als galaxisweit bekanntes Individuum, sein Erscheinungsbild war jedoch in gewissen Kreisen in Karteien exakt festgehalten, so daß sich die Bioplastchirurgen des Sicherheitsbüros veranlaßt gesehen hatten, sein Äußeres so zu verändern, daß es fortan möglichst wenig mit dem eines gewissen Toger Raman gemeinsam hatte. Sein Gesicht wirkte jetzt aufgedunsen, die Gestalt ein wenig zu massig für seine Körpergröße. Sein Kopf wies eine Reihe von lichten Stellen auf, und während Toger Raman siebenunddreißig Jahre alt war, war auf der ID-Karte von Marlon Viasco ein Alter von zweiundfünfzig Jahren angegeben, was seinem äußeren Eindruck jetzt durchaus entsprach. Zwölf Tage hatte Toger seine Umgebung an Bord der »Sir Hickenworth« unter aufmerksamer Beobachtung gehalten und nichts Verdächtiges festgestellt. Den dreizehnten Tag hatte er für letzte Vorbereitungen genutzt, am vierzehnten ruhte er aus. Raman lag auf der breiten Konturliege in seiner Kabine und döste mit halb geschlossenen Augen. Als ein helles, aber nicht unangenehmes »Ping« ertönte, warf er einen Blick auf seinen Chrono und stellte fest, daß bis zur Landung auf Logannidaror nur noch knapp vier Stunden verblieben. Er schwang seine Beine von der Liege herunter, strich seine Anzugjacke glatt und verließ seine Kabine, nicht ohne sie mit einem Impuls-Ge-
ber zu sichern. Es war üblich an Bord von Starlinern, daß es kurz vor Beendigung einer Reise noch eine Feier im zentalen Restaurant gab. Toger hatte zwar keine Lust, daran teilzunehmen, doch ein Marlon Viasco mochte auffallen – wem auch immer –, wenn er bei dieser Gelegenheit nicht anwesend war. Der breite Korridor, durch den er schritt, lag leer und verlassen vor ihm. Hinter den Schotts, die zu angrenzenden Kabinen führten, herrschte Stille. Nur das allgegenwärtige Summen der Aggregatsätze drang an seine Ohren, der dicke Teppich, der den nackten Stahlplastboden vor menschlichen Augen verbarg, verschluckte seine Schritte. Toger Raman war so in Gedanken versunken, daß ihm dieser sonderbare Zustand zuerst nicht richtig bewußt wurde. Zwölf Tage lang hatte er jeden einzelnen an Bord, ob Mann oder Frau, ob Passagier oder Besatzungsmitglied, eingehend, im Auge gehalten. Er war sich vollkommen sicher, daß sich kein auf ihn angesetzter PSD-Agent an Bord befand. Dieses Gefühl der Gewißheit mochte die Ursache dafür sein, daß er relativ spät reagierte. Erst als er das zentrale Schiffsrestaurant erreicht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Es war ein saalartiger Raum, halbkugelförmig, dessen Basis sich auf der Höhe des Decks befand, auf dem er sich aufhielt. Der Gipfelpunkt lag einige Decks höher und war in der schwachen Beleuchtung, die nicht viel mehr als die Konturen der Einrichtung erkennen ließ, kaum auszumachen. »Sieh mal einer an«, murmelte Toger und riß die Augen weit auf, um in dem Dämmerlicht dennoch möglichst viel erkennen zu können. Außer ihm befand sich niemand im Restaurant. Leer und verlassen standen die Kontursessel vor ihm. Die fünf weiteren Ebenen, von sich selbständig regelnden Antigravitationsfeldern gehalten und gewöhnlich von farbenprächtigen
Holo-Projektionen umspielt, lagen dunkel über seinem Kopf. Raman schritt vorsichtig und gespannt zwischen den Sesseln und Tischen hindurch. Er warf einen erneuten Blick auf die matt glimmende Anzeige seines Chronos und brummte etwas Unverständliches. Knapp vier Stunden bis zur Landung. Dies war normalerweise die Zeit, zu der im Restaurant von Starlinern die letzte Ansprache der Schiffsleitung gehalten wurde. Der Zufall jedoch wollte es, daß auf der »Sir Hickenworth« gerade diese Zeit in das letzte Drittel der Ruheperiode fiel. Und kein Kapitän würde es wagen, diese Ruhe zu stören, zumal es sich in diesem Fall bei den Passagieren nicht gerade um Minderbemittelte handelte. Da er allerdings auch die Tradition nicht vernachlässigen durfte, fand das Abschiedsessen sicher kurz nach Beendigung der Ruheperiode statt, in etwa neunzig Minuten. Das alles bedeutete nichts anderes, als daß jemand den KomAnschluß in Togers Kabine manipuliert hatte. Über die wahrscheinlichen Absichten dessen, der sich mit ihm zu dieser ungestörten Zeit zu treffen gedachte, brauchte der SB nicht lange zu grübeln. Irgendwo in seinen Überprüfungen mußte er einen Fehler gemacht haben. Toger ging wie in Zeitlupe in die Hocke, während seine Blicke die Dämmerung durchbohrten. »Das nützt Ihnen jetzt auch nichts mehr«, ertönte eine freundlich klingende Stimme. Der Sicherheitsbeauftragte zuckte wie unter einem körperlichen Schlag zusammen und wirbelte herum. Plastik kreischte gequält, Konturpolster knisterten empört, als er sich aus der Hocke zur Seite warf. Die Stimme lachte amüsiert. »Zwecklos, Mr. Viasco«, stellte sie fest und fügte dann noch hinzu: »Oder sollte ich Sie lieber Toger Raman nennen?« Der Centaurier stieß in Gedanken einen derben Fluch aus
und robbte mit verbissenem Gesicht unter einen weitausladenden Tisch. »Unnütze Mühe«, kommentierte sein Gegenspieler. »Ich trage eine Nachtbrille, falls Ihnen das etwas sagen sollte.« Auch das noch! schoß es Toger durch den Schädel. Damit war er selbst eindeutig im Nachteil. Für seinen Gegner war damit die Dämmerung so hell wie ein Tag auf der Erde. Die Stimme war von halb links gekommen, überlegte er fieberhaft. In der Richtung lag auch die fast dreißig Meter lange, brusthohe Theke. »Und jetzt kommen Sie raus da!« fuhr die Stimme weniger freundlich fort. »Zu Ihrer Information: Ein Impuls-Laser ist auf Sie gerichtet.« Wie weit war das nächste Schott entfernt? Der Korridor, durch den er das Restaurant betreten hatte, befand sich jetzt etwa zwanzig bis dreißig Meter hinter ihm. Dazwischen lag eine freie Fläche, auf der sein Gegenspieler selbst ein sich schnell bewegendes Ziel unmöglich verfehlen konnte, zumal er auch noch mit einem Nachtsichtgerät ausgerüstet war. Sicher, er war Überlebensspezialist, und seine Reflexe waren in einer Krisensituation um ein vielfaches schneller als die eines Unausgebildeten. Aber knapp dreißig Meter waren selbst mit dieser Begabung gut zwanzig Meter zuviel! »Wird’s bald!« Die Stimme klang jetzt unverkennbar drohend. Nervosität begann sich in Raman breitzumachen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Der PSD-Agent – er war sicher, daß es sich um einen solchen handelte – hatte die Aufgabe, ihn auszuschalten, bevor er seinen Fuß auf die Oberfläche von Logannidaror setzen konnte. Raumschiffe waren jedoch, solange sie sich außerhalb eines Sonnensystems aufhielten, neutrales Gebiet, in dem der jeweilige Kapitän die Hoheitsrechte besaß.
Und wenn jemand von den Passagieren verschwand oder gar tot aufgefunden wurde, hatte das mit Sicherheit eine peinliche Untersuchung zur Folge, ein Umstand, der den PSD-Agenten zumindest nachdenklich machen mußte. Toger grinste, als er zu dem Schluß kam, daß sein im Dunkeln verborgener Gegner kaum die Absicht haben konnte, ihn umzubringen. Wo hätte er die Leiche hinschaffen sollen? Nein, wahrscheinlicher war, daß ihm Mittel und Wege zur Verfügung standen, mit denen er ihn, hatte er ihn einmal in seiner Gewalt, für seine Zwecke gefügig machen konnte: Konditionierung! Der Impuls-Laser, der angeblich auf ihn gerichtet sein sollte, konnte nicht viel mehr als ein Bluff sein. Allenfalls ein Schocker, dachte Toger, während er sich langsam erhob und in Gedanken seine Nachlässigkeit, keine Waffe mitgenommen zu haben, verfluchte. »Endlich werden Sie vernünftig«, sagte die Stimme. Der Mann war für Raman, der sich jetzt dem Tresen näherte, nicht mehr als ein Schemen. »Sie haben die besseren Argumente«, gab Toger ruhig zurück und unternahm einige Atmungsübungen, um sein Blut mit zusätzlichem Sauerstoff anzureichern. »Hm, ich scheine Sie bei meinen Recherchen übersehen zu haben«, fügte er dann so gleichmütig hinzu, wie es ihm möglich war. Etwas mehr als zehn Meter trennten ihn noch von dem PSD-Agenten. Zu seiner Linken versperrte ihm der Tresen auf einer Länge von etwa vier Metern den Weg. Direkt im Anschluß daran erkannte er jedoch die dunkel gähnende Öffnung eines Korridors. Na also! dachte er. »Das war nicht anders zu erwarten«, erklärte der Mann bereitwillig. »Bis vor wenigen Stunden war ich noch ein unbewußter Agent. Erst auf ein bestimmtes Signal hin wurde eine hypnotische Sperre aufgehoben, und ich konnte aktiv
werden.« Raman war jetzt stehengeblieben und musterte die Konturen des Mannes, in dessen rechter Hand ein klobiger Gegenstand lag, der auf ihn gerichtet war. Die Waffe war also tatsächlich vorhanden, wenn er auch nicht zu erkennen vermochte, ob es sich dabei wirklich nur, wie er vermutete, um einen Schocker handelte. Er war gespannt darauf, wer dieser unbewußte Agent war, und wartete, bis der untersetzte Mann näher an eine der nur schwach glimmenden Lichtquellen herantrat. »Sie?« entfuhr es Toger. Ein eisiger Schauer rann seinen Rücken hinab. Der Kapitän der »Sir Hickenworth«, Joshuah Wilborn, legte seinen Kopf etwas zur Seite und grinste. »Warum nicht? Überrascht Sie das so?« Das warf zweifellos alles über den Haufen, was sich der Centaurier bisher überlegt hatte. Wenn es der Kapitän persönlich war, der ihn aus dem Weg schaffte, war der Sinn einer anschließenden Untersuchung zumindest fragwürdig. Langsam begann Togers Lage tatsächlich heikel zu werden. Die Gedanken des Sicherheitsbeauftragten überschlugen sich fast, als er fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Natürlich war die Waffe Wilborns tatsächlich ein Impuls-Laser, sogar entsichert, wie er mit einem Blick auf die leicht flimmernde Abstrahlöffnung feststellte. Und ebenso klar war es, daß der Kapitän keineswegs die Absicht hatte, die Sache länger als unbedingt nötig zu verzögern. »Es gibt keinen Ausweg mehr, mein Freund«, sagte Wilborn jovial und winkte mit der Waffe. »Was meinen Sie wohl, wieviel von Ihrem Körper übrigbleibt, wenn er innerhalb der Parazone aus einem Außenschott geworfen wird?« Gar nichts! dachte Raman und handelte. Sein bewußtes Denken zog sich zurück, selbständige Reflexe übernahmen die In-
itiative und steuerten seine Körperreaktionen. Aus dem Stand warf er sich zur Seite, prallte schwer auf den Boden und rollte sich nach rechts, so dicht an den Tresen heran, wie es ihm möglich war. Wilborn stieß einen erstickten Schrei aus, der seine Überraschung bekundete, und löste, vielleicht ohne es zu wollen, seine Waffe aus. Toger hatte damit gerechnet und seine Augen fest geschlossen. Der grelle Energieblitz, der das Restaurant für den Bruchteil einer Sekunde in taghelles Licht tauchte, drang dennoch durch seine Lider hindurch und hinterließ auf seiner Netzhaut farbige Schleier. Joshuah Wilborn jedoch war darauf nicht vorbereitet. Seine Nachtbrille, die für ihn die Dämmerung ohnehin zum Tag machte, verstärkte den plötzlichen Blitz noch um ein vielfaches. Die Augen, die darauf nicht gefaßt waren, mußten zumindest für einige Augenblicke geblendet sein. Während Wilborn lautstark fluchte, sprang Toger auf die Beine, wobei er sich über die Behinderung durch zwanzig Pfund Bioplast-Fleisch ärgerte, und war einige Sekunden später in dem Korridor verschwunden. Seine rechte Hand hieb auf die Kontrolleiste. Zischend und surrend ruckte das Schott in die Fassung und lenkte dabei einen weiteren gleißenden Energiefinger ab. Der Kapitän hatte den Lichtschock also schon überwunden. Ein weiterer rascher Schlag auf die Wandsensoren ließ die Beleuchtung aufflammen. Toger stürmte los, mit zusammengekniffenen Augen, bis sich seine Netzhäute an die veränderten Verhältnisse gewöhnt hatten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Wilborn das Schott geöffnet hatte und die Verfolgung aufnahm. Bis dahin mußte er einen entsprechenden Vorsprung gewonnen haben. Der Kapitän hatte immer noch eine Waffe, die ihn zu einem weit überlegenen Gegner machte. Und er hatte einmal den
Fehler gemacht, ihn zu unterschätzen und zu lange zu zögern. Toger bezweifelte, ob sich das noch einmal wiederholen würde… Der SB warf sich aus vollem Lauf in einen angrenzenden Korridor, machte dann vor dem nächstbesten Schott halt und gelangte in einen mittelgroßen Raum, in dem auf langen Regalreihen zahlreiche nicht näher bezeichnete Ersatzteile lagerten. »Ich brauche irgend etwas, das sich als Waffe verwenden läßt«, sagte er schweratmend zu sich selbst und schloß das Schott hinter sich. Eilig untersuchte er die metallenen Gegenstände, die auf den Regalen lagen. Einige sagten ihm gar nichts, andere waren mit Code-Nummern ausgezeichnet, die ihm unbekannt waren. Kombistrahler oder Impuls-Laser waren jedenfalls nicht darunter. »Pech«, stöhnte er und wollte sich schon wieder dem Ausgang zuwenden, als das Schott sich plötzlich zischend öffnete und der Lauf eines Strahlers in die Höhe schoß. Toger ließ sich, ohne zu zögern, nach hinten kippen, warf sich noch während des Fallens herum und landete hinter dem etwas fragwürdigen Schutz eines Regales. Ein sengendheißer Glutfinger fauchte über ihn hinweg und prallte einige Meter hinter ihm auf das Stahlplast der Wand, das kochend und brodelnd zur Seite stob. »Hier sind Sie also!« bellte Wilborn und näherte sich in geduckter Haltung der Position, an der er den Sicherheitsbeauftragten zum letzten Mal gesehen hatte. »Geben Sie auf, Raman! Sie haben keine Chance!« »Das haben Sie schon einmal gesagt«, wies ihn der SB zurecht. Brüllend spuckte der Laser erneut Tod und Verderben, doch Toger war schon einige Meter weiter gekrochen. Eine Waffe! pochte es in ihm, während er sich suchend umsah.
»Das, was Sie tun, ist nur unnötige Zeitverschwendung«, fuhr Wilborn fort. »Früher oder später erwische ich Sie doch!« »Eher später«, lachte Raman und wechselte erneut die Stellung. In Wirklichkeit war er nicht annähernd so optimistisch, wie er sich gab. Seine Unruhe stieg. Wenn ihm nicht bald eine gute Idee kam, nützte ihm auch seine Ausbildung zum Überlebensspezialisten nichts mehr. Sollte er sterben, bevor sein Einsatz richtig begonnen hatte, bevor er auch nur eine Ahnung von dem hatte, um was es eigentlich ging? Er setzte die Empfindlichkeit seiner Sinne herauf. Das unangenehme Gefühl, eine nicht unbeträchtliche Masse synthetischen Fleisches bei jeder Bewegung mit sich schleppen zu müssen, verstärkte sich. Er hörte jetzt das schwere Atmen des Kapitäns, dessen Augen flink umherhuschten, überdeutlich. Er hörte das leise Scharren seiner Füße, wenn er sich weiterbewegte. Trotz seiner Nervosität konnte sich Toger ein Grinsen nicht verkneifen. Wilborn war der Überlegene in diesem ungleichen Kampf, und doch schien er zumindest ebenso unsicher zu sein wie er selbst. Vorsichtig richtete er sich auf und sah aus den Augenwinkeln durch eine Spalte zwischen den Ersatzteilen, wie Wilborn herumfuhr und blind feuerte. Wieder reagierten seine trainierten Reflexe. In einer fließenden Bewegung packte er zwei handliche, eckige Metallteile und schleuderte das eine einige Meter von sich. Scheppernd prallte es auf den Boden. Ohne bewußt zu denken, schleuderte er das zweite Ersatzteil von sich und ließ sich gleichzeitig fallen. Ein dröhnender Blitz raste dicht über seinen Rücken, verbrannte ihm einen Teil der Haut und ließ ihn einen schmerzhaften Schrei ausstoßen. Mit Tränen in den Augen rollte er sich herum und preßte, in einer verzweifelten Geste, die Arme vors Gesicht.
Erst als er das dumpfe Geräusch eines auf den Boden aufschlagenden Körpers wahrnahm, stemmte er sich hoch. Sein zweites Wurfgeschoß hatte genau ins Ziel getroffen und an Wilborns Schädel eine klaffende Wunde hinterlassen. Mit einigen raschen Schritten trat er an den unterdrückt stöhnenden und offenbar benommenen Kapitän heran und riß ihm den Laser aus der Hand. »So«, sagte er mit einem befriedigten Nicken. »Jetzt drehen wir den Spieß mal um.« »Hat keinen Zweck«, krächzte Wilborn. »Von mir werden Sie nichts erfahren. Ich…« Sein Gesicht lief grün an, verzerrte sich zu einer entstellten Grimasse, dann sackte er zusammen und blieb bewegungslos liegen. Raman brauchte den Kapitän nicht lange zu untersuchen. Er wußte, daß ihn kein Arzt der Welt ins Leben zurückholen konnte. Diese Art des Todes war eine der grausamsten und hinterhältigsten: hypnotischer Selbstmord durch Gehirnschlag. »Aber was«, fragte er sich halblaut, »ist so wichtig, daß ein Todesbefehl in Kraft tritt, nur um mir keine Informationen zukommen zu lassen?« * Es fiel Pjetr Kubaikjew zunehmend schwerer, weiterhin den Eindruck eines unbefangenen und verbissen forschenden Wissenschaftlers aufrechtzuerhalten, der für ihn bisher typisch war. Seine Nervosität stieg ständig, und seine Unsicherheit, über die manch einer der Sprachforscher in den letzten Tagen schon nachdenklich die Stirn in Falten gelegt hatte, nahm allmählich beängstigende Formen an. Kubaikjew hatte einen Teil seines Wissens preisgegeben, um
damit einem möglichen Verdacht gegen seine Person vorzubeugen. Jetzt aber dachte er immer öfter darüber nach, ob diese Idee wirklich so gut gewesen war. Zwar hatte er gerade die Strukturzeichen für die Pressekonferenz übersetzt, die seiner Meinung nach die bei weitem geringsten Hinweise auf Gemeinsamkeiten mit anderen Symbolgruppen aufwiesen. Dennoch – seit Beginn der Forschung überhaupt existierte jetzt erstmals eine Basis, und der Optimismus, der daraufhin seine Kollegen erfaßt hatte, schlug ihm schwer auf den Magen. Was geschah, wenn einem der Institutsangehörigen ein weiterer Durchbruch gelang, wenn weitere Übersetzungen möglich wurden? Allein der Gedanke daran ließ ihm den Schweiß aus allen Poren brechen. Natürlich konnte er die Forschungsarbeiten nicht sabotieren, ob nun offen oder verdeckt. Damit hätte er sich endgültig verdächtig gemacht, zumal er das Gefühl hatte, Tag und Nacht unter Beobachtung zu stehen. Die Musikanlage in Kubaikjews Wohneinheit spielte sanfte, einschmeichelnde Melodien. Über die gesamte Fläche einer Wand wogten in dazu abgestimmtem Rhythmus beruhigende Farbschleier, die sich zu skurrilen Mustern und Figuren vereinigten. Der Linguist hatte es sich in einem seiner Sitzelemente bequem gemacht, rauchte eine Zigarette und nippte ab und zu an dem Inhalt des hohen Glases, das vor ihm auf dem Tisch stand. Die Wirkung, die die Farb-Musikkombination gewöhnlich auf ihn hatte, blieb indessen aus. Zwar war seine mittlerweile zu einer Charaktereigenschaft gewordene Nervosität abgeklungen, seitdem er das Institut an diesem Tag verlassen und seine Wohneinheit aufgesucht hatte. Dennoch war seine innere Unruhe noch ausgeprägt genug, um die Gedanken rasen zu lassen. »Lange kann es nicht mehr dauern«, murmelte er, um sich
selbst zu beruhigen. »Noch ein paar Tage, höchstens. Dann müßte eigentlich ein SB auf Logannidaror eintreffen.« Er nickte seiner eigenen Vermutung zu, erhob sich ruckartig und begann eine unruhige Wanderung durch seine Wohneinheit, in der einen Hand den Drink, in der anderen die Zigarette, von der die Asche fiel, ohne daß es ihm bewußt wurde. Wenn nur nicht diese bohrenden Gedanken wären! dachte er. Das, was die Folien enthielten, war reiner Zündstoff, so gefährlich, daß eine ganze Galaxis in Aufruhr geriet, wenn das Wissen in die falschen Hände fiel. Er dachte an den Militärrat des Fünf-Sonnen-Bundes, und zum wiederholten Male schauderte er bei der Vorstellung, seine Kenntnisse könnten in die Verfügungsgewalt dieser zwanzig Männer gelangen. Ein auf- und abschwellendes Summen riß ihn aus seinen Grübeleien. Automatisch stellte er sein Glas ab und drückte die Zigarette in einem Ascher aus. »Besuch für Sie, Pjetr«, sang die Stimme des Wohnungscomputers melodisch. »Besuch für Sie, Besuch…« »Ich hab’s gehört«, brummte er, schritt zur Tür und betätigte den Öffner. Zwei elegant gekleidete Männer in mittleren Jahren blickten ihm entgegen. Der eine trat einen Schritt vor. »Wir würden Sie gern sprechen, Mr. Kubaikjew«, sagte er freundlich, aber bestimmt. Ein ungutes Gefühl kroch plötzlich in dem Linguisten hoch. »Äh, worum geht es denn? Und wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie gesehen?« »Das stimmt nicht ganz«, stellte der zweite Mann richtig und lächelte. »Wir waren bei Ihrer Pressekonferenz anwesend. Nun, es geht natürlich um die Strukturzeichen der Unbekannten, besser gesagt, um ihre Übersetzung.« »Hm, ich wüßte nicht, wie…«
»Natürlich nicht«, unterbrach ihn der Vorgetretene, griff in seine Jackentasche, sah sich kurz um und hatte dann plötzlich eine klobige Kombiwaffe in der rechten Faust. »Sie wollten uns doch gerade hineinlassen, nicht wahr?« fragte er liebenswürdig und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. Sein Begleiter folgte ihm und schloß die Tür hinter sich. Kubaikjews Nackenhaare richteten sich wie unter elektrischer Spannung auf, als er das bedrohliche Flimmern um die Abstrahlmündung der Waffe bemerkte. Das war kein Scherz, die beiden Männer meinten es ernst, todernst! »Mein Name ist übrigens Layas«, stellte sich der eine Mann vor. »Ceron Layas. Und das«, er deutete auf seinen Kollegen, »ist Malcolm Ganian. Und wie Sie jetzt ganz richtig vermuten, sind wir vom PSD.« Kubaikjew wurde leichenblaß und schluckte, um den eigroßen Kloß loszuwerden, der plötzlich in seinem Hals entstanden war. »Was soll das? Ich…« »Die Fragen stellen wir!« wies ihn Layas zurecht und dirigierte ihn mit vorgehaltener Waffe zu einem Sitzelement. Die Knie des Linguisten gaben nach, und die Polster des Sessels stöhnten, als er hineinsank. Ganian setzte sich schräg gegenüber und musterte gelangweilt die Wohnungseinrichtung, während Layas auf dem niedrigen Tisch Platz nahm, den rechten Arm mit der Waffe lässig auf die Knie stützte und seinen Blick in die Augen Kubaikjews bohrte. »Nanu«, sagte Layas scheinbar verwundert und beugte sich etwas vor. »Es ist doch gar nicht so heiß. Oder haben Sie vielleicht Angst, Kubaikjew?« Die letzten Worte stieß er schneidend hervor. Der Linguist
beeilte sich zu sehr, seinen Kopf zu schütteln. »Ich wüßte nicht, wovor«, entgegnete er und ärgerte sich dabei über den scheppernden Klang seiner Stimme. »Um so besser. Kommen wir gleich zur Sache. Wir haben Anlaß zu der Vermutung, daß Sie auf der schon erwähnten Pressekonferenz nicht alles gesagt haben, was Sie wissen.« Kubaikjew konnte es nicht fassen, seine schlimmsten Befürchtungen begannen sich zu bewahrheiten. »Was? Wieso?« »Brauche Hilfe! Dringend!« zischte Layas. »Sagen Ihnen diese Worte etwas?« Oh Gott! dachte der Linguist. Sie haben meine Nachricht abgefangen! Als ob der PSD-Agent seine Gedanken gelesen hätte, fuhr er fort: »Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Kubaikjew. Ihr Hilferuf an das Sicherheitsbüro ist dort nie angekommen!« Das war zwar ein Bluff, aber das konnte Pjetr nicht wissen. »Nein!« rief er schrill und ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Gleichzeitig spürte er, daß er sich mit diesem unüberlegten Ausruf endgültig entlarvt hatte. »Sehen Sie«, entgegnete Layas sichtlich zufrieden und lehnte sich wieder etwas zurück. »Langsam kommen wir der Sache schon näher. Um es ganz exakt zu sagen: Was wir wissen wollen, ist das, was Sie dem SB mitzuteilen gedachten. Also?« Kubaikjew starrte den PSD-Agenten aus vor Panik geweiteten Augen an. Es ist aus! pochte es in ihm. Aus! Seine ganzen Bemühungen waren umsonst. Während er hier, von Unruhe gepeinigt, auf das Eintreffen eines SB-Agenten wartete, hatte der Planetare Sicherheitsdienst bereits über alles genauestens Bescheid gewußt. Über alles – nur nicht über den genauen Informationsgehalt der Strukturzeichen, die er übersetzt hatte…
»Na?« Ceron Layas hatte seine lässige Haltung aufgegeben und musterte ihn aufmerksam, so gut wie ohne jede Gefühlsregung. Der Lauf der Kombiwaffe zeigte auf seinen Schädel. »Ich… ich weiß nicht, wovon Sie reden«, preßte Kubaikjew zwischen den Zähnen hervor und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Layas schüttelte den Kopf und verzog scheinbar verzweifelt das Gesicht. »Hören Sie«, sagte er gefährlich leise und mit blitzenden Augen, »ich habe keine Lust, mir Ihre Ausflüchte lange anzuhören. Mein Kollege gehört übrigens zu einem besonders ungeduldigen Menschenschlag. Wahrscheinlich verliert er die Geduld noch eher als ich. Und das kann unangenehme Folgen für Sie haben! Sollten Sie sich dennoch noch immer nicht dazu entschließen können, uns das Gewünschte mitzuteilen, so kann ich Ihnen verraten, daß wir Mittel und Wege kennen, um auch ganz Uneinsichtige zu einer Zusammenarbeit zu bewegen!« Nein, dachte Kubaikjew mit einer Spur von tiefer Resignation, ich habe keine Chance mehr. Die Mühlen des Planetaren Sicherheitsdienstes würden ihn vernichten, gründlich und ohne ihm eine Möglichkeit zu lassen, sein Geheimnis für sich zu behalten. »Ich… ich weiß immer noch nicht…«, stammelte er brüchig und sah sich gehetzt um. Ganian warf ihm einen kurzen Blick zu, der ihn schaudern ließ. »Sie haben auf der Pressekonferenz nur einen Teil Ihres Wissens preisgegeben, nicht wahr?« vermutete Layas, betätigte die Justierung seiner Kombiwaffe und preßte dann den Auslöser nieder. Ein schmerzhafter Schock durchpulste den Körper des Linguisten und ließ ihn aufschreien.
»Das war nur ein Vorgeschmack«, erklärte der PSD-Agent jetzt wieder liebenswürdig. »Nun, uns interessiert natürlich, was Sie wirklich entdeckt haben. Es muß eigentlich etwas sehr Bedeutsames sein, wenn es einen bescheidenen Wissenschaftler wie Sie so außer Fassung geraten läßt.« Schlieren tanzten plötzlich vor den Augen des Hageren. Seine Finger gruben sich tief in die nachgebenden Polster des Sessels. Sein Gesicht wurde kalkweiß, und er schluckte krampfhaft. »Mir ist schlecht«, stöhnte er. »Ich… ich…« »Kommen Sie«, sagte Layas, erhob sich und ergriff Kubaikjew am Arm. »Wir sind ja keine Unmenschen. Ihr Hygienetrakt ist dort drüben? – Aber keine Dummheiten, in Ihrem eigenen Interesse!« Kubaikjew wankte in die beinahe antiseptisch wirkende Raumflucht hinein und schloß die Tür hinter sich. Er schluckte nochmals, wobei ihm fast die Tränen kamen, taumelte einige Schritte weiter und erbrach sich. Sein Leben war in dem Augenblick zerstört gewesen, als er seine Entdeckung gemacht hatte, das wurde ihm in einem Anflug plötzlicher Klarheit bewußt. Auch wenn er vor Tagen noch geglaubt hatte, der Auseinandersetzung mit dem PSD entgehen zu können – jetzt mußte er sich eingestehen, daß diese Einstellung mehr als naiv gewesen war. Vielleicht hatte er schon vor seiner gelungenen Übersetzung unter Beobachtung gestanden, ohne daß ihm das aufgefallen war. Kubaikjew blickte in den Spiegel und sah in ein gealtertes, von Furchen und Falten zerschnittenes Gesicht. Nein, sagte er sich, es gab tatsächlich keine Chance mehr. In wenigen Minuten war der PSD über alles informiert, und an das, was dann in den folgenden Monaten geschehen mußte, wagte er nicht zu denken.
Es sei denn… Seine Augen blitzten auf, als die Idee in sein Bewußtsein drang, und er nickte sich langsam zu. * Die Untersuchung an Bord der »Sir Hickenworth«, die man, nachdem die Leiche Joshuah Wilborns gefunden worden war, sofort in die Wege geleitet hatte, war peinlich genau gewesen. Die Landung hatte sich infolge nicht enden wollender Befragungen und Versuchen, das Geschehen zu rekonstruieren, um einige Stunden verschoben. Gegen 19.00 Uhr planetarer Zeitrechnung jedoch ging der Starliner auf dem Spaceport von Thalistan nieder und entließ seine Passagiere. Zu Ramans Glück hatte die medizinische Abteilung der »Sir Hickenworth« schon relativ bald festgestellt, daß Wilborn nicht, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte, durch äußere Einwirkungen ums Leben gekommen war, sondern durch einen ebenso simplen wie tödlichen Gehirnschlag. Die unübersehbaren Spuren einer Auseinandersetzung stellten die Besatzung jedoch vor ein Rätsel. Nur reichten eben Vermutungen, und vage noch dazu, bei weitem nicht aus, um Passagiere zu arrestieren. Der centaurische Sicherheitsbeauftragte war sich ziemlich sicher, daß in den nächsten Stunden irgendwann eine entsprechende Meldung auf den Schreibtisch eines PSD-Agenten wanderte, zusammen mit einer Auflistung der Namen und persönlichen Daten aller Passagiere. Und der PSD war offensichtlich so gut über den Einsatz eines gewissen Toger Raman informiert, daß es einfach nicht sehr lange dauern konnte, bis dieser PSD-Agent auf den Gedanken kam, die Identität von Marlon Viasco genauer unter die Lupe zu nehmen. Seine Papiere waren echt, ja, nicht aber seine Vergangenheit…
Unter diesen Umständen hielt es Toger Raman für unerläßlich, seine Identität erneut zu wechseln. Gewiß, ein Marlon Viasco war bei der Einreisekontrolle erfaßt worden – sollten sie auch ruhig nach diesem Edelsteinhändler suchen. Zum Glück hatte er vor Beginn seines Einsatzes auf einer zweiten Sicherheitsmaßnahme bestanden, was ihm jetzt zugute kam. In dem großzügig ausgestatteten Hygienetrakt eines Restaurants entnahm er seiner Gravotasche ein unscheinbares Metallkästchen, preßte seinen Daumen in eine winzige Vertiefung und drehte einen Knopf um einige Teilstriche weiter. Ein kaum wahrnehmbares Summen ertönte, und das feine Vibrieren in seinen Händen zeigte an, daß eine Miniatur-Elektronik die Arbeit aufgenommen hatte. Der Erfolg stellte sich sofort ein und entlockte dem Centaurier ein zufriedenes Brummen. Ein Teil des synthetischen Fleisches, mit dem ihn die Bioplast-Chirurgen auf Terra so großzügig ausgestattet hatten, veränderte die Farbe, wurde schlaff, fiel dann von seinem Körper ab und löste sich auf. Toger brauchte einige Minuten, um seine neuen Züge zu glätten, holte neue, jetzt passendere Kleidung aus seiner Tasche und wurde damit zu Romen Glad, einem Versicherungsangestellten von Tharasis. Natürlich besaß er auch die echte – und unfälschbare – ID-Karte. Peinlich konnte es jetzt nur noch werden, wenn man wissen wollte, wann Glad Logannidaror betreten hatte, und zu diesem Zweck die Einreiseregistratur befragte… Andererseits bestand zu einer solchen Kontrolle kein Grund, und Toger war recht optimistisch, was die Erfüllung seines Auftrags anging, als er sich einen schnittigen Atmosphärengleiter mietete und in einem der etwas schnelleren Luftkorridore dem Zentrum der unter ihm liegenden Zwei-MillionenMetropole entgegenflog. Er wußte nicht, welcher der pilzarti-
gen und turmhohen Wohnanlagen sein Ziel war. Eine ganz bestimmte Koordinatenfolge hatte er in den Programmspeicher des Autopiloten eingegeben, von der er nur wußte, daß sie ihn zu Kubaikjews Domizil brachte. Als der Gleiter mit dumpfem Brummen an Höhe verlor und in engen Schleifen, anderen Luftfahrzeugen ausweichend, auf die Dachplattform eines Wohnturms zusteuerte, hatte er sein Ziel erreicht. Auf selbstregelnden Antigravpolstern sank sein Gefährt langsam nieder und setzte kaum merklich auf. Toger zahlte einen bestimmten Betrag in die Automatik, worauf das Ausstiegsschott mit einem Surren beiseite schwang. Toger warf einen raschen Blick auf seinen Chrono, nachdem er ausgestiegen war und der Mietgleiter sich wieder in die Luft erhoben hatte, um zu seiner Basis zurückzukehren. »20.30 Uhr«, murmelte er halblaut und nickte. Pjetr Kubaikjew mußte sich zu dieser Zeit in seiner Wohneinheit aufhalten – wenn er nicht gerade Überstunden machte. Die Dachplattform des Wohnturms war, abgesehen von einigen parkenden Gleitern, absolut eben und leer. Inzwischen hatte sich die Nacht über Thalistan gesenkt, dennoch vermochte Toger sich gut zu orientieren. Das Material zu seinem Füßen war in einer Art und Weise chemisch behandelt worden, daß es von innen heraus zu glühen schien, also Licht abstrahlte, genug, um die Dunkelheit zur Dämmerung werden zu lassen. Toger hatte aus Sicherheitsgründen davon abgesehen, den Haupteingang am Fuß der Wohnanlage zu benutzen. Bei der Robotrezeption hätte er sich ausweisen müssen – und er wußte nicht, wie weit der PSD seine Fühler schon ausgestreckt hatte. Suchend sah sich der Centaurier um. Nirgendwo erkannte er den Zugang zu einem Antigravschacht. Wieder nickte er langsam. Natürlich, die Robotrezeption hatte den Zweck, alle Besucher zu registrieren und keine ungebe-
tenen Gäste, welcher Art auch immer, einzulassen. Und eine solche Einrichtung hatte wenig Sinn, wenn die Möglichkeit bestand, einfach mit einem Gleiter die Dachplattform anzufliegen und ohne Probleme von dort aus das Gebäudeinnere zu betreten. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: Es gab keinen Antigravschachtzugang. Da aber andererseits Bewohner des Wohnturms Gelegenheit haben mußten, ohne Schwierigkeiten zu ihren geparkten Gleitern zu gelangen, mußte es einen anderen Weg geben, mittels dem man von den Wohneinheiten aus die Dachplattform betreten und auch wieder verlassen konnte. »Und die einfachste und sicherste Methode dazu«, sagte Toger zu sich selbst, »ist natürlich ein Transmit-Feld.« Ein Transportfeld stellte für jeden unerwünschten Besucher ein nahezu unüberwindliches Hindernis dar – solange er kein Sicherheitsbeauftragter war, der spezielle Kenntnisse besaß. Toger lächelte, griff in eine Tasche seines Zweiteilers und förderte einen Impuls-Geber zutage, der in der Lage war, innerhalb weniger Sekunden Millionen von Impuls-Kombinationen abzustrahlen, quasi durchzuprobieren. Er betätigte eine kleine Wählscheibe, programmierte die winzige Elektronik auf einen vierstelligen Code und preßte die Aktivierungstaste nieder. Es vergingen nicht ganz zwei Sekunden, bis in unmittelbarer Nähe des SB das charakteristische Flimmern eines TransmitFeldes erschien. Toger brummte zufrieden, verstaute seinen Impuls-Geber wieder und tauchte, ohne zu zögern, in das Feld ein. Er rematerialisierte in einem langen und breiten, hellerleuchteten Gang, der mit dicken, schallschluckenden Teppichen ausgelegt war. Rasch schüttelte er den Schwindel ab, der ihn erfaßt hatte, und orientierte sich. Ruhig und leer lag der Korridor vor ihm, niemand war in Sichtweite. Toger griff sich an die Brusttasche und vergewisserte sich,
daß die Kombiwaffe noch an Ort und Stelle war, dann schritt er auf die dunkel gähnende Öffnung des zentralen Antigravschachts zu, die mehrere Meter vor ihm lag. Eine Berührung des auf einer Kontrolltafel eingelassenen Sensors ließ das Licht aufflammen. Der SB warf noch einen prüfenden Blick hinter sich, dann trat er in den Schacht hinein. Sofort griffen die Kraftfelder nach ihm, bremsten seinen Fall so weit ab, daß er nur noch mit mäßiger Geschwindigkeit hinabsank, kündigten ihm fluoreszierende Hinweise mit wechselnden Nummernfolgen das nächste Stockwerk und die entsprechende Wohneinheiten an. »Dreiundsiebzig, G-Sieben«, knurrte Toger, wartete, bis die Bezeichnung »63, G 1-24« auftauchte, und trat dann rasch aus dem Schacht heraus. Auch auf diesem Gang befand sich außer ihm niemand. Das beruhigte den SB, obwohl er kaum etwas zu befürchten hatte. Wer sich einmal innerhalb dieses Gebäudes befand, hatte, so mußte jedermann annehmen, auch die Legitimation dazu. Wenige Augenblicke später hatte er die Wohneinheit Kubaikjews gefunden, und betätigte den Melder. Kein Laut drang an seine Ohren, aber er war sicher, daß der Linguist seinen Ruf wahrnahm. Als er aber nach einer knappen Minute dennoch keine Reaktion registrierte, runzelte er die Stirn und tastete erneut nach dem Melder. 20.45 Uhr. Hatte er sich getäuscht? Befand sich der Linguist noch an seiner Arbeitsstätte, in dem Institut außerhalb der Stadt? Unwahrscheinlich, fand Toger. Als es auch auf seinen zweiten Ruf hin still und die Tür verschlossen blieb, zuckte er mit den Achseln und holte erneut seinen Impuls-Geber hervor, der ihm schon wenige Minuten zuvor gute Dienste geleistet hatte. Er justierte das Gerät um, preßte es dann gegen eine bestimmte Stelle der Tür und betä-
tigte die »ON«-Taste. Gut, Kubaikjew war noch nicht zurückgekehrt, das war zwar ärgerlich, aber nicht weiter besorgniserregend. Was lag näher als der Gedanke, in der Wohneinheit des Linguisten, wo er vor jeder Entdeckung sicher war, auf ihn zu warten? Früher oder später mußte er ja eintreffen… Mit einem kaum wahrnehmbaren Surren erlosch die elektromagnetische Sperre, und die Tür sprang auf. Toger trat rasch ein und schob sie hinter sich wieder ins Schloß zurück. »Guten Tag, Pjetr«, sagte eine freundliche Stimme. »Haben Sie einen schönen Tag gehabt?« Raman war schon bei den ersten Worten zusammengezuckt, wirbelte herum und hatte plötzlich eine Waffe in der rechten Hand. »Was wünschen Sie zu speisen, Pjetr?« fuhr die Stimme höflich fort. »Ich habe auch heute wieder ein umfangreiches Auswahlprogramm für Sie bereit…« Toger atmete tief durch, lachte und entspannte sich wieder. Das, was ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte, war nichts anderes als die akustische Modulation des Wohnungscomputers gewesen, eines sehr simplen Modells noch dazu, denn die Elektronik war offensichtlich nicht in der Lage, einen Eindringling von dem wirklichen Hausherrn zu unterscheiden. »Licht«, sagte der SB und schickte sich an, den Strahler in die Tasche zu schieben, als verborgene Leuchtkörper aktiv wurden und die Wohneinheit in matte Helligkeit tauchten. Als er das, was vor ihm lag, in aller Deutlichkeit sah, entsicherte er die Waffe wieder. »Hm«, machte er und trat einige Schritte weiter in den anschließenden Raum hinein, der offensichtlich gleichzeitig Wohn- und Arbeitszimmer war. Die Sitzelemente, die norma-
lerweise wohl um den niedrigen Tisch gruppiert waren, standen kreuz und quer im Zimmer. Akten waren auf dem Boden zerstreut. Memospulen und Folien häuften sich vor den geöffneten Schränken. »Es war also schon jemand vor mir da«, sagte Toger halblaut. Und dieser Jemand hat sich die größte Mühe gegeben, fügte er in Gedanken hinzu, soviel Unordnung wie möglich zu hinterlassen. Um zu erraten, was hier gesucht worden war, brauchte man nicht viel Verstand. Raman drehte sich nachdenklich um. Rätselhaft war aber dennoch, wieso diejenigen, die hier eingebrochen waren, sich ausgerechnet einen Zeitpunkt ausgesucht hatten, zu dem sie Gefahr liefen, von dem Linguisten überrascht zu werden. Nein, halt, dachte er, das ist eine übereilte Schlußfolgerung. Schließlich konnte er nicht wissen, wie lange das Geschehen schon zurücklag. Auch die deutlich sichtbaren Spuren ließen darauf kaum einen Rückschluß zu. Eine Frage stellte sich jedoch mit zwingender Eindringlichkeit: Bestand ein Zusammenhang zwischen dem Einbruch und damit, daß Kubaikjew noch immer nicht anwesend war? Weitere Fragen drängten sich auf. Es war so gut wie sicher, daß keine gewöhnlichen Kriminellen für diese Unordnung verantwortlich waren. Dahinter konnte eigentlich nur der PSD stecken, zumal der Planetare Sicherheitsdienst auch ein handfestes Motiv hatte. Dieses Motiv bedeutete aber wiederum, daß der PSD entweder dahintergekommen war, daß der Linguist eine bedeutsame Entdeckung gemacht hatte, oder aber, daß der Inhalt seiner Nachricht an das Sicherheitsbüro bekannt geworden war. All das zusammen jedoch hatte noch eine weitere, viel tiefer gehende Bedeutung. Wenn der PSD von der Nachricht Kubai-
kjews wußte und auch nur annäherungsweise von dem Kenntnis hatte, was er entdeckt hatte, dann befand sich der Linguist in höchster Gefahr. Raman hatte eine unruhige Wanderung begonnen und sah, mit schußbereiter Waffe, in die angrenzenden Räume hinein. Auch dort herrschte ein ähnliches Maß an Unordnung, wie er es bereits vom Wohnzimmer her kannte. Als er jedoch die Tür zum Hygienetrakt öffnete, blieb er wie angewurzelt stehen und atmete tief durch. Das, was er sah, gab ihm zumindest Antwort auf eine seiner Fragen, obwohl es seinen ganzen Auftrag komplizierte, wenn nicht unmöglich machte. Jetzt wußte er, warum niemand auf die Betätigung des Melders reagiert hatte. Der Linguist lag, mit weit aufgerissenen Augen und mit einem zu einer Grimasse versteinerten Gesicht leblos in der Bademulde. * »Ich bin also zu spät gekommen«, sagte Toger und schüttelte erschüttert den Kopf. Wenn er von Terra aus einen direkten Liner genommen hätte – vielleicht wäre Kubaikjew dann jetzt noch am Leben. »Wenn, wenn«, knurrte er böse. Was geschehen war, war geschehen. Es hatte keinen Zweck, sich Selbstvorwürfe zu machen, dazu war die Lage zu ernst, und dazu stand viel zuviel auf dem Spiel. Der Linguist war tot, und er war nicht auf natürliche Weise ums Leben gekommen, das stand fest. Ebenso sicher war jedoch, daß der PSD nicht direkt seine Finger im Spiel hatte. Kubaikjew hatte Selbstmord begangen! Die Tür, die zum Hygienetrakt führte, wies erhebliche Schäden am Schloß auf.
Kubaikjew hatte sich also eingeschlossen und sich kurz darauf das Leben genommen. Was aber, überlegte der SB, treibt einen Mann in den Tod, der ein Geheimnis in sich trägt, das er unbedingt demjenigen mitzuteilen gedachte, den er vorher unter Einsatz seines Lebens davon in Kenntnis setzte? Toger brauchte auch hier nicht lange zu überlegen, um die Antwort zu finden, die die wahrscheinlichste war. Kubaikjew war an diesem Tag wie an jedem anderen pünktlich in seine Wohneinheit zurückgekehrt. Hier aber mußte er unerwarteten Besuch erhalten haben – vom PSD –, der Verdacht geschöpft hatte und ihn einer Befragung unterziehen wollte. Natürlich waren die Agenten des PSD nicht durch und durch naiv. Wenn der Sprachforscher etwas wußte, das er vor ihnen verheimlichte, dann konnte das nur mit seiner Arbeit zusammenhängen, diese Schlußfolgerung war logisch. Kubaikjew aber war ein Mann gewesen, der sich mit dem Gebaren von Sicherheitsdiensten und ihren Agenten nicht auskannte und sich daher leicht bluffen ließ. Aber ganz abgesehen davon, ob er geblufft worden war oder nicht: Der PSD hatte Mittel genug, um einen Mann zum Sprechen zu bringen und von ihm die Informationen zu erhalten, die er wünschte. Und das mußte Kubaikjew auch gewußt haben. Er mußte sich darüber klar gewesen sein, daß er, wenn er sich einmal in den Händen des PSD befand, etwa unter einer Psycho-Sonde, niemals seine Entdeckung für sich behalten konnte. Und dieses Wissen mußte in seinen Augen so ungeheuer wichtig gewesen sein, daß er seine eigene Existenz vernichtete, nur um das Geheimnis nicht an den Falschen verraten zu müssen. Toger nickte bestätigend, als er seine Überlegungen noch einmal überprüfte. Sie waren stichhaltig, daran bestand kein Zweifel. Unter irgendeinem Vorwand hatte Kubaikjew sich in
seinen Hygienetrakt zurückgezogen, die Tür abgeschlossen, die die PSD-Agenten, als schon alles vorbei war, aufgebrochen hatten. Anschließend hatten sie die Wohnung durchsucht, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, was in Kubaikjews Gedächtnis verankert gewesen war. Was Raman nicht wußte, war, ob sie etwas gefunden hatten. Er hatte aber zumindest ernste Zweifel, ob ihre Suche erfolgreich gewesen war. Sicher, der Linguist mochte nicht damit gerechnet haben, daß der PSD seine Wohnung durchsuchte, dennoch konnte er kaum so unvorsichtig gewesen sein, hier eine entsprechende Information zu hinterlegen. Nein. Toger hatte den Linguisten zwar nicht übermäßig gut gekannt, aber er hatte ihn als einen vorsichtigen, manchmal zu vorsichtigen Mann in Erinnerung. Als sicher konnte angenommen werden, daß Kubaikjew irgendwo auf Logannidaror einen Schlüssel hinterlegt hatte, der zu seinem Geheimnis führte – irgendwo, da war Toger sicher, nur eben nicht in seiner Wohneinheit. Der SB verließ den Hygienetrakt, schloß die Tür und ließ sich im Wohnzimmer in eines der Sitzelemente sinken. Er mußte erst seine Gedanken ordnen, bevor er die Wohnung verlassen und ein neues Ziel, eine Basis finden konnte, von der aus es sinnvoll erschien, an der Erfüllung seines Auftrags weiterzuarbeiten. Er atmete tief durch und versuchte, seine Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken, als es ihm plötzlich kalt den Rücken hinunterlief. Vor seinem inneren Auge erschien noch einmal das schreckliche Bild des toten Kubaikjew, der ihn mit gebrochenen Augen anstarrte. Das, was er als gegeben hingenommen hatte, nämlich die in der Bademulde liegende Leiche, begann nun, ihm ernsthafte Sorgen zu machen.
Die PSD-Agenten waren, als sie keinen Erfolg gehabt hatten, einfach verschwunden, und sie hatten den Toten natürlich liegen lassen. Aber sie würden ihrem Vorgesetzten Meldung machen. Und dieser Vorgesetzte würde, ob ihm das paßte oder nicht, dafür sorgen müssen, daß die Leiche verschwand. Daß die sterblichen Überreste Kubaikjews sich aber noch in dieser Wohnung befanden, konnte nur bedeuten, daß sich bald irgendein Polizeikommando auf den Weg machte – oder sich schon auf den Weg befand! –, um das Versäumte nachzuholen. Togers Puls schnellte in die Höhe, als er seine Gedanken berichtigte. Nein, kein simples Polizeikommando, sondern eine Einsatzgruppe von PSD-Agenten! In der Zwischenzeit mußte in der PSD-Zentrale längst die Meldung eingegangen sein, daß es dem unbewußten Agenten an Bord der »Sir Hickenworth« – Joshuah Wilborn – nicht gelungen war, den centaurischen Sicherheitsbeauftragten namens Toger Raman auszuschalten, sich der SB demzufolge auf Logannidaror, besser gesagt, in Thalistan befinden mußte. Und auch das Ziel, das er hatte, war dem PSD bekannt: der Wohnsitz Pjetr Kubaikjews. Toger sprang auf und zückte erneut die Waffe, die er wenige Minuten zuvor in die Tasche zurückgesteckt hatte. Was lag näher als die Vermutung, daß der PSD versuchen würde, das, was Wilborn an Bord des Starliners versäumt hatte, hier nachzuholen? * »So«, brummte Thorsten Magran und trommelte nervös mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Schreibtischplatte. »Also gar nichts?« Ceron Layas, der sich, wenn sein Chef in der Nähe war, immer unsicher fühlte, schüttelte bedauernd den Kopf.
»Wir haben die ganze Wohnung durchsucht, das Unterste zuoberst gekehrt. Nicht einen winzigen Hinweis darauf, was Kubaikjew dem Sicherheitsbüro mitteilen wollte, haben wir gefunden. Absolute Fehlanzeige!« Magran blickte den PSD-Agenten durchdringend an. »Sie haben den Linguisten zu stark unter Druck gesetzt, wie?« knurrte er, und obwohl es eigentlich eine Frage sein sollte, klang es aus dem Mund des PSD-Leiters von Logannidaror mehr wie eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldete. Layas setzte dennoch zu einer Erwiderung an, wurde jedoch von einer barschen Handbewegung Magrans daran gehindert. »Kubaikjew hat Selbstmord begangen – und das in Ihrer unmittelbaren Gegenwart. Das, mein lieber Layas, wird für Sie mit Sicherheit nicht ohne Folgen bleiben. Sie hören von mir!« Das kam einem Hinauswurf gleich. Layas verstand den Wink und beeilte sich, ihm Folge zu leisten. Als der Agent das Büro des Leiters verlassen hatte, lehnte sich Magran in seinem Sessel zurück und brummte etwas Unverständliches. Kubaikjew war tot, daran war nichts mehr zu ändern, auch wenn der Verantwortliche dafür bestraft wurde. Und mit seinem Tod schien die einzige Möglichkeit dahin zu sein, das, was er entdeckt hatte, in Erfahrung zu bringen. Nein, sagte sich Magran und legte dabei die Stirn in Falten, der Druck, den Layas und sein Kollege Ganian auf den Linguisten ausgeübt hatten, konnte kein ausreichendes Motiv für den Freitod sein. Gut, die lückenlose Observation in den zurückliegenden Tagen hatte zweifelsfrei ergeben, daß Kubaikjew zunehmend nervöser und labiler geworden war. Offensichtlich hatte die Last dessen, was er wußte, an den Kräften gezehrt. Aber ein solcher Mann brachte sich nicht einfach um, wenn er sich einem Verhör gegenüber sah. Magran versuchte, sich in die Lage des Linguisten zu verset-
zen. Er mußte gewußt haben, daß der PSD Mittel besaß, jede Information aus dem Hirn eines Menschen zu pressen. Und er mußte die Befürchtung gehabt haben, daß der Sicherheitsdienst von den entsprechenden Gerätschaften Gebrauch machte. Magran war sicher, daß das den Linguisten zu seiner Verzweiflungstat getrieben hatte. Sein Geheimnis – um was auch immer es sich dabei handeln mochte – war in seinen Augen so bedeutungsvoll gewesen, daß er jede Möglichkeit hatte ausschließen wollen, dieses Wissen in die Hände des PSD gelangen zu lassen. In einem plötzlichen Anfall aufwallender Wut hieb Thorsten Magran mit der geballten Faust auf die Schreibtischplatte. Er wollte aufspringen, aber gerade in diesem Moment begann ein kastenförmiges Gerät vor ihm aufgeregt zu schnattern. Die Stirnseite wurde trübe, dann schälten sich codierte Buchstaben- und Zahlenkolonnen aus den Schlieren heraus. Magrans Wut, die ihn noch Sekunden vorher erfüllt hatte, war so schnell verschwunden, wie sie entstanden war. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er gespannt die schnell wechselnden Bildfolgen: Er kannte den Code sehr gut, brauchte daher also nicht extra einen Decoder zu benutzen. Magran stieß pfeifend die Luft aus, als das Summen verebbte und die Frontseite des Geräts wieder die ursprüngliche Form annahm. Einige Sekunden lang überlegte er angestrengt, dann schaltete er rasch eine Reihe von anderen Geräten ein und forderte Informationen an. Fünf Minuten später lag das Gewünschte in Form von Magnetmitteilungen vor ihm. »Wilborn hat also versagt«, knurrte er böse, wobei die Zornesader an seiner Schläfe gefährlich anschwoll. »Schwachkopf!«
Der centaurische SB war, getarnt als Marlon Viasco, wie er jetzt wußte, durch die Einreiseregistratur geschlüpft. Das kleine 3-D-Foto, das vor ihm auf der Platte lag, zeigte allerdings nur wenig Ähnlichkeit mit dem danebenliegenden Bildnis von Toger Raman. Magran nickte unbewußt. Das Sicherheitsbüro hatte seinem Mitarbeiter natürlich eine neue Identität geschaffen. Neue ID-Karten waren überhaupt kein Problem, und mit synthetischem Fleisch konnte man einen Menschen in einen scheinbar völlig anderen verwandeln. Die rasche Hotelüberprüfung, die er ebenfalls angeordnet hatte und deren Ergebnis ihm vorlag, war negativ. Ein Mann namens Marlon Viasco hatte in Thalistan kein Quartier bezogen. Das konnte mehrere Bedeutungen haben. Zum einen war es möglich, daß Raman bei einem anderen, schon vor längerer Zeit nach Logannidaror eingeschleusten Agenten untergekommen war, zum anderen, daß Raman sich unter einer weiteren Tarnidentität irgendwo hatte registrieren lassen. Eine andere Identität bedeutete aber auch ein geändertes Äußeres; auch das ließ sich relativ leicht bewerkstelligen. Wie aber, fragte sich Magran stirnrunzelnd, soll man einen Mann finden, von dem man nicht weiß, wie er aussieht und wie er sich nennt? Sicher, man hätte alle Hotelneuzugänge überprüfen können. Nur – eine solche Maßnahme, die gezwungenermaßen sehr umfangreich sein mußte, wäre dem SB mit Sicherheit aufgefallen, und er hätte sich rechtzeitig aus dem Staub machen können. Magran erhob sich aus seinem Sessel, schritt auf und ab und blieb dann plötzlich wie angewurzelt stehen. Nein, es gab eine wesentlich effektivere Möglichkeit, mittels derer man den Centaurier endgültig – für immer – ausschalten konnte. Sie war zudem noch so einfach, daß sie damit eine erhebliche Aussicht hatte, erfolgreich zu sein.
Ein leichtes Lächeln umspielte jetzt die Lippen des PSD-Leiters. Was war das Ziel des SB? Natürlich Kubaikjew, von dem ja die Nachricht, die das Sicherheitsbüro aufgeschreckt hatte, gekommen war. Und Raman würde keine Zeit verlieren, um mit dem Linguisten zusammenzutreffen. Magran setzte sich wieder und grinste zufrieden. Niemand wußte, um was es sich bei dem Geheimnis handelte, das Kubaikjew mit in den Tod genommen hatte. Was aber, wenn dem nicht so war? Wenn Kubaikjew irgendwo einen Hinweis hinterlassen hatte, einen Schlüssel, der zu dem Geheimnis führte? Und – wenn diese Annahme stimmte – war Toger Raman in der Lage, diesen Schlüssel zu finden? Thorsten Magran hatte eine Idee – und sie erschien ihm so genial, daß er über sich selbst erfreut war. * Toger wußte, daß ihm die Zeit im Nacken saß, aber er bemühte sich, den Drang, Aktivität zu entwickeln, um jeden Preis zu unterdrücken und kühl zu bleiben, so schwer ihm das auch fiel. Einen wesentlichen Vorteil hatte er gegenüber dem PSDKommando, das sicher schon auf dem Weg war: Niemand wußte, daß er, ein bedeutungsloser Versicherungsmitarbeiter namens Romen Glad, in Wirklichkeit Toger Raman war. Niemand kannte seine neue Identität, sein neues Äußeres. Vorsichtig öffnete Toger die Wohnungstür und spähte durch den schmalen Spalt. Hell erleuchtet lag der breite Korridor vor ihm, niemand war zu sehen. Rasch trat er auf den Gang hinaus und verstaute seine Waffe in der Tasche. Leise ließ er die Tür ins Schloß fallen, dann at-
mete er einige Male tief durch und schritt auf die Einstiegöffnung des nahen Antigravschachts zu. Er wollte versuchen, durch den Haupteingang am Fuß des Gebäudes ins Freie zu gelangen. Dort war zwar die Robotrezeption untergebracht und mit lebhafterem Publikumsverkehr zu rechnen, aber gerade das bestätigte ihn in der Auffassung, dort, wo ein unerkanntes Entkommen normalerweise unmöglich war, am ehesten einen Erfolg verbuchen zu können. Außerdem kontrollierte die Robotrezeption Ankömmlinge; diejenigen, die den Wohnturm verlassen wollten, hatten in der Regel ja auch die Berechtigung, sich hier aufzuhalten. Toger fluchte lautlos, als er sich in den Schacht fallen ließ und, von den Kraftfeldern gehalten, hinabsank. Er wußte noch nicht einmal, worum es ging, und doch befand er sich fast seit Beginn seines Auftrags auf der Flucht. Ständig mußte er seine Aufmerksamkeit darauf richten, nicht vom PSD gefaßt zu werden, statt, wie es eigentlich der Fall sein sollte, herauszufinden, was der Grund für Kubaikjews Nachricht an das Sicherheitsbüro war. Je tiefer er kam, desto belebter zeigten sich die Korridore und Aufenthaltshallen, in die er vom Schacht aus blicken konnte. Vielleicht waren die oberen Stockwerke noch nicht alle belegt; er zuckte mit den Achseln. Einige Minuten später hatte er das Erdgeschoß erreicht und trat in eine weitläufige Halle, die mit bequemen Sitzecken ausgestattet war. Annähernd siebzig Personen hielten sich hier auf, plauderten miteinander, lachten oder lauschten den Worten einer jungen Frau, die als lebensechte Projektion von einer Wand herabsah. Die Spannung, die sich in dem SB aufgestaut hatte, entlud sich in einem erleichterten Seufzen. Nirgendwo konnte er Uniformierte erkennen, keine Strahlwaffe war drohend auf ihn ge-
richtet. Nur einige Meter vor ihm befand sich, in einem weiten Halbkreis, die Rezeption, hinter deren hüfthohen Tischen drei menschlich wirkende Roboter diejenigen kontrollierten, die in das Gebäude getreten waren und den zentralen Antigravschacht zu benutzen gedachten, um höher gelegene Stockwerke zu erreichen. Und wie er schon richtig vermutet hatte, wurden die Personen, die, vom Schacht kommend, den Wohnturm verlassen wollten, nicht überprüft. Ein kurzes Lächeln stahl sich auf Ramans Gesicht, dann steuerte er auf einen der Durchlässe auf der rechten Seite der bogenförmigen Rezeption zu und strebte anschließend dem Ausgang entgegen. Als er noch ein knappes Dutzend Meter von der breiten Doppeltür entfernt war, die ins Freue führte, bemerkte er vor und hinter den Portalen zu unauffällig gekleidete Männer, die sich bei den Austretenden diskret nach den IDKarten erkundigten. In Togers Hirn klingelte eine Alarmglocke. Er drehte sich gerade in dem Augenblick um, als ihn einer der Männer, die sicherlich dem Planetaren Sicherheitsdienst angehörten, mit dem Blick streifte. Die Nackenhaare des SB richteten sich auf. Er wußte, daß er mit seiner plötzlichen Reaktion einen Fehler gemacht und nun die Aufmerksamkeit des PSD-Agenten auf sich gezogen hatte. Doch er konnte diesen Fehler nicht durch einen weiteren wiedergutmachen, lenkte seine Schritte also ohne Eile in die Richtung der Rezeption – und damit des Schachts – zurück. »He, Sie!« Der Ruf war laut genug, um alle Anwesenden in der Halle die Köpfe wenden zu lassen. Bei Raman löste er einen Adrenalin-Stoß aus, der seinen Puls hämmern ließ. So groß die Versuchung auch war, er griff nicht nach seiner Waffe, beschleunigte
auch seine Schritte nicht. »Stehenbleiben, oder ich schieße!« Der unmißverständliche Befehl erzeugte noch ein Echo in seinen Ohren, als Raman bereits, von seinen Reflexen gesteuert, gehandelt hatte. Er warf sich zur Seite, nahm das hohle Singen eines abgefeuerten Schockers wahr und hörte den entsetzten Aufschrei einer Frau, die von einem Teil der freigewordenen Energie getroffen wurde. Noch im Fallen griff Toger nach seiner Waffe, riß den Arm mit dem entsicherten Strahler herum, als er aufgeprallt war, und betätigte den Auslöser. Der PSD-Agent stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden, noch bevor er Gelegenheit hatte, seinen Schocker ein weiteres Mal einzusetzen. Aber jetzt waren auch seine Kollegen aufmerksam geworden und zückten ihre Strahler. Es wurde Zeit für Toger, aus der Gefahrenzone zu verschwinden. Er sprang auf die Beine und stürmte los. Die Roboter der Rezeption summten empört, als er sich über die Tische schwang und in den Antigravschacht warf. Sofort wurde er von den Gravitationsfeldern erfaßt und emporgehoben. Ein gleißender Energiefinger leckte nach ihm, verfehlte ihn aber um mehr als einen halben Meter. Jetzt feuern sie mit tödlicher Energie! fuhr es Raman durch den Schädel. Die Schonzeit ist vorbei! Eine Person, die sich in einem langen Schacht befand, bot ein vorzügliches Ziel, selbst für einen schlechten Schützen, dessen war sich der SB bewußt. Darum trat er auch, kaum daß er das erste Stockwerk erreicht hatte, aus den Kraftfeldern heraus auf den angrenzenden Korridor. Er hatte nur noch eine einzige Chance, hier mit heiler Haut herauszukommen: Er mußte die Dachterrasse erreichen, einen der dort geparkten Gleiter aufbrechen, wenn man ihm die Zeit
dazu ließ, und in dem um diese Zeit sicherlich noch herrschenden Verkehrsgewühl von Thalistan untertauchen. Natürlich würden auch dort PSD-Agenten auf ihn warten, aber er hoffte auf das Überraschungsmoment, wenn er plötzlich vor ihnen materialisierte. Sie waren inzwischen sicher von ihren Kollegen im Erdgeschoß benachrichtigt worden, aber sie konnten nicht ahnen, daß er dazu in der Lage war, die Aktivierungs-Pole des Transmit-Feldes mittels seines Impuls-Gebers zu überlisten. Toger hetzte den Gang entlang und achtete dabei nicht auf die Personen, die ihm erstaunte oder auch ärgerliche Rufe nachsandten. Solange es keine PSD-Agenten waren, interessierten sie ihn nicht sonderlich… Bald hatte er die schottähnliche Tür gefunden, auf deren Frontseite ein Rettungssymbol prangte. Er preßte den Öffner in die Fassung, wartete nervös, bis sich das Hindernis beiseite geschoben hatte, dann trat er eilig in den Raum und schloß die Tür wieder. Rasch orientierte er sich. Die Nottreppe, an deren Fuße er stand, reichte bis zu schwindelnden Höhen hinauf. Sie war zwar weniger dazu konstruiert, um hinaufzugelangen, mehr, um sich im Falle eines Brandes in Sicherheit bringen zu können, das heißt, das Erdgeschoß zu erreichen, aber das spielte keine Rolle. Sie stellte im Augenblick die einzige Möglichkeit für Raman dar, relativ sicher und unbeschadet zum Stockwerk direkt unter der Dachplattform zu kommen. Der SB lief los und legte ein zügiges Tempo vor. Wenn die PSD-Agenten erfuhren, daß er eine Nottreppe benutzte, war es wahrscheinlich, daß ein oder zwei von ihnen ihm auf diesem Weg folgten, um ihm den Rückweg abzuschneiden, und die anderen versuchten, im Antigravschacht einige Stockwerke höher zu schweben und ihn dann irgendwo weiter oben zu er-
warten. Seine Chance bestand darin, schneller zu sein als sie. Und dazu mußte er seine letzten Kraftreserven mobilisieren, denn die Steiggeschwindigkeit innerhalb des Schachts war nicht unerheblich. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, als er, Stufe um Stufe, alles von sich abverlangte. Der Atem ging keuchend und dröhnte in seinen Ohren, aber seine pulsierenden Gedanken trieben ihn immer weiter. Wenn er eine Pause machte und es seinen Gegenspielern gelang, schneller an Höhe zu gewinnen, war er so gut wie verloren. Über ihm schien sich die Treppe bis ins Endlose auszudehnen. Einem raupenhaften Ungeheuer gleich wand sie sich in die Höhe, gleichgültig gegenüber dem Wesen, das ihr trotzen wollte. Toger Raman hatte die Empfindlichkeit seiner Sinne herabgesetzt, um soviel Energie wie möglich zu sparen. Doch auch so spürte er die Ermüdung noch deutlich, die in seinem Körper hinaufkroch, die Gelenke träge machte und die Muskeln und Sehnen erlahmen ließ. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Aber jede weitere Stufe schien höher und steiler zu sein als die vorhergehende, und der Zeitpunkt, zu dem es ihm unmöglich war, ein Bein so weit zu heben, daß sein Fuß die nächste Stufe berührte, war nicht mehr fern. Weit unter ihm, am Boden des gähnenden Schlundes, der ihn zu sich herabzusaugen drohte, erklangen Geräusche. Toger nahm sie gar nicht bewußt wahr. Der sengende Energieblitz jedoch, der dicht an ihm vorbeiraste, ließ ihn zusammenzucken und die Lethargie verlieren, die ihn erfaßt hatte. Für einen Sekundenbruchteil hatte er innegehalten, dann aber hetzte er weiter, ohne auf die stechenden Schmerzen zu achten, die in seinen Beinen pochten. Selbst wenn ihn der
Strahl getroffen hätte, tödlich wäre er auf keinen Fall gewesen. Die Reichweite dieser Blitze war nur begrenzt, sie verloren unterwegs zuviel Energie in Form von Wärme an ihre Umgebung. Wie viele Stockwerke hatte dieser Wohnturm überhaupt? Der SB wußte es nicht. Er hatte nur das Gefühl, schon eine Ewigkeit unterwegs zu sein und noch einmal die gleiche Ewigkeit überwinden zu müssen… »Da ist er!« ertönte es plötzlich hinter ihm. Raman reagierte, ohne dabei zu denken. Obwohl sein Körper vollkommen ausgelaugt zu sein schien, mobilisierte seine jetzt wieder einsetzende Reflexsteuerung neue Energien. Ein Energieblitz dröhnte fauchend an ihm vorbei, schlug in die Wand ein und verdampfte die Stahlplast-Beton-Mischung. Toger warf sich erneut zur Seite. Sein rechter Arm, dessen Hand immer noch die klobige Kombiwaffe umklammerte, ruckte herum. »Achtung!« brüllte unter ihm jemand. Raman hatte seine Kiefer so stark zusammengepreßt, daß seine Lippen nur noch einen blutleeren Strich bildeten. Seine Waffe vibrierte und spie unsichtbare, aber sehr wirkungsvolle Energieimpulse. Die beiden Männer unter ihm, die etwa zwanzig Meter entfernt waren, erstarrten in ihren Bewegungen, als sie von dem Schock erfaßt wurden, und kippten zur Seite. Toger schloß die Augen und wartete, bis sich sein Atem so weit beruhigt hatte, daß er wieder einigermaßen klar zu denken vermochte. Die beiden PSD-Agenten hatten sich zu früh entschlossen, den zentralen Antigravschacht zu verlassen, um ihm von oben den Weg abzuschneiden. Hätten sie noch einige Stockwerke passiert, so hätten sie vermutlich Erfolg mit dieser Taktik gehabt. »Glück muß der Mensch haben«, keuchte Toger und konzen-
trierte sich darauf, die feurigen Schleier, die vor seinen Augen wallten, zu vertreiben. Jetzt konnte er sich eine kurze Pause gönnen. Nach einigen Minuten fühlte er sich so weit in Ordnung, daß er glaubte, den Weg fortsetzen zu können. Inzwischen waren die PSD-Agenten, die ihm von unten her folgten, etwas näher gekommen. Als er sich vorsichtig über das brusthohe Geländer beugte, konnte er sie etwa sechs Stockwerke unter sich erkennen. Es waren ebenfalls zwei, und sie bewegten sich langsam, schienen also mindestens so erschöpft zu sein wie er selbst. Toger justierte rasch seine Waffe um, wählte die feinste Fokussierung und visierte dann, den Strahler auf dem Geländer und mit beiden Händen umfaßt, sein Ziel an. In dem Fadenkreuz des elektronischen Suchers erschien die Projektion einer sich bewegenden Gestalt. Der SB wartete mit angehaltenem Atem, bis sie sich genau im Zentrum des Kreuzes befand, dann berührte er den Auslöser. Weit unter ihm schrie ein Mann erschrocken auf, warf die Arme nach hinten, verdrehte die Augen und stürzte zu Boden. Der andere Mann hielt einen Augenblick inne, sah überrascht nach oben und tauchte dann in die Deckung von überhängenden Stufen. Einer der Verfolger war jetzt zumindest für einige Stunden außer Gefecht gesetzt. »Ruhe sanft«, zischte Toger zynisch, drehte sich um und eilte weiter die Stufen hinauf. Von Zeit zu Zeit vergewisserte er sich, daß der Abstand zu dem letzten aktiven, sich im Bereich der Nottreppe befindlichen PSD-Angehörigen sich ständig vergrößerte. Offensichtlich war der Mann erheblich vorsichtiger geworden oder aber so gut wie am Ende seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Etwa fünfzehn Minuten später, die Toger wie fünfzehn Stunden erschienen, erreichte er das Ende der Treppe. Einige Au-
genblicke lang schöpfte er Atem und ruhte sich aus, dann öffnete er die Tür und spähte in den Korridor. Leer. Der SB nickte zufrieden, schlüpfte durch den Spalt und schloß die Tür hinter sich. Um ihn herrschte fast vollkommene Stille. Dennoch rauschte und dröhnte es in seinen Ohren wie von einer nahen Brandung. Und als er den Impuls-Geber aus der Tasche fischte, merkte er erst, wie erschöpft er war. Seine Finger weigerten sich, den Befehlen seines Hirns Folge zu leisten, und setzten seinen Bemühungen, das Gerät zu justieren, erheblichen Widerstand entgegen. Toger war sich in aller Deutlichkeit bewußt, daß er dringend eine längere Pause benötigte, in der er seine Kräfte regenerieren konnte. Aber er wußte auch, daß im Augenblick daran nicht zu denken war. Solange er sich innerhalb dieses Wohnturms befand, schwebte er in permanenter Lebensgefahr. Wie viele PSD-Agenten mochten auf der Dachplattform auf ihn warten? Er hatte keine exakte Vorstellung davon, vermutete aber, daß er es mit der Besatzung von einem oder auch zwei Gleitern zu tun haben würde. »Also zwei oder vier Mann«, murmelte der Centauri-Geborene und aktivierte seinen Geber. Nicht weit von ihm, nur einige Meter entfernt, begann die Luft wie vor Hitze zu flimmern. Das Transmit-Feld stand. Toger verstaute den Impuls-Geber wieder und schritt mit zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen auf das Flimmern zu. Er zögerte kurz, dann setzte er zu einem Sprung an und warf sich direkt in die Energieschlieren hinein. Kurzer Schwindel packte ihn, er spürte den harten Aufprall auf eine rauhe Fläche und rollte sich, so schnell es ihm möglich war, zur Seite. »Da ist er!« bellte eine Stimme.
Toger verfluchte das Dämmerlicht, das hier herrschte. Seine Augen benötigten eine ihm viel zu lang erscheinende Adaptionsphase, um sich auf die geänderten Lichtverhältnisse einzustellen. Währenddessen versuchte er, so schwer ihm das auch fiel, ständig in Bewegung zu bleiben. Geduckt rannte er auf einen geparkten Gleiter zu, dessen Konturen er schemenhaft erkannte. Ein gleißender Energiefinger leckte nach ihm, fuhr nur einige Zentimeter an seinem Rücken vorbei. Der SB spürte die sengende Hitze, biß aber hart die Zähne zusammen, um keinen unkontrollierten Schmerzensschrei auszustoßen. Seine rechte Hand, die die Waffe umklammert hielt, entwickelte plötzlich ein gespenstisches Eigenleben. Wie von selbst richtete sie den Strahler auf das Ziel. Hämmernde Schockimpulse verließen den Lauf, der schwach aufglomm, lähmten das Nervensystem eines seiner Gegner und ließen ihn besinnungslos zu Boden stürzen. Toger hatte die Deckung des Gleiters erreicht und preßte sich so eng wie möglich an das kühle Material. Ein weiterer Energiestrahl schlug in das Metallplast ein und ließ die Karosserie dröhnen. Der SB wußte in diesen Sekunden, daß sein Schicksal so gut wie besiegelt war. Er hatte es hier mit mindestens zehn PSDAgenten zu tun, die zudem noch frisch und ausgeruht waren. Er selbst aber bewegte sich dicht am Rand einer Erschöpfungsohnmacht… Mehrere Scheinwerfer warfen plötzlich ihre blendenden Lichtkegel in seine Richtung und tauchten den Gleiter, hinter dem er kauerte, in gleißendes, taghelles Licht. »Sie haben keine Chance mehr, Raman!« ertönte eine befehlsgewohnte Stimme. »Kommen Sie lieber freiwillig hervor, dann bleiben Sie zumindest am Leben.« Der erste Satz stimmte, mußte sich Toger eingestehen, die
zweite Behauptung jedoch wagte er zu bezweifeln. Nein, wenn er in die Hände des Planetaren Sicherheitsdienstes fiel, brauchte er sich um seine Zukunft bald keine Sorgen mehr zu machen… »Holen Sie mich doch!« rief er mit brüchiger, aber entschlossener Stimme und feuerte. Ein schriller Schrei war die Folge. »Hören Sie«, fuhr die Stimme ärgerlich fort. »Wir haben hier eine tragbare schwere LK, und der Lauf zeigt genau auf den Gleiter, hinter dem Sie stecken! Was, meinen Sie, passiert wohl, wenn ich den Auslöser hier vor mir betätige?« Toger nickte langsam mit verbissenem Gesicht. Er glaubte nicht, daß es sich um einen Bluff handelte, und wenn es stimmte, dann sah es in der Tat nicht gut für ihn aus. Die Laserkanone konnte den Gleiter und auch ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils in Atome zerblasen. Der SB besaß genug Verstand, um einzusehen, daß er das Spiel verloren hatte… * Toger erhob sich zögernd, verließ seine Deckung und hob langsam die Arme in die Höhe. Die Scheinwerfer erfaßten seine Gestalt sofort, er kniff die Augen zusammen. »Gut, daß Sie Ihre Lage realistisch betrachten«, fuhr einer der PSD-Agenten mit einem deutlich zufriedenen Tonfall fort. »Jetzt lassen Sie Ihre Waffe fallen!« Das Scheppern, als der Strahler den Boden berührte, erschien ihm wie ein apokalyptisches Donnergetöse. Resignation machte sich in Toger breit, auch wenn er sich Mühe gab, sie zu verdrängen und nach einem Ausweg zu suchen. Es war aussichtslos: es gab keinen. Mit lässigen Schritten schälte sich aus dem Dunkel jenseits
des Bereichs der blendenden Scheinwerfer eine Gestalt heraus, mit unablässig auf ihn gerichteter Waffe, deren Fokussierungsfeld sanft fluoreszierte. Um die Mundwinkel des noch jungen Mannes spielte ein siegessicheres Lächeln. Einige Schritte vor dem Sicherheitsbeauftragten blieb der PSD-Agent stehen und musterte ihn eingehend. »Ihre Bioplast-Ausstattung sieht aber arg mitgenommen aus, Raman«, sagte er zynisch, und Toger erkannte die Stimme wieder, die ihn zur Aufgabe aufgefordert hatte. »Sagen Sie, fühlen Sie sich eigentlich nicht wohl? Sie machen so einen erschöpften Eindruck?« Der SB meinte, daß Sarkasmus seiner Situation nicht angemessen war. »Schön, daß Sie sich freiwillig ergeben haben«, fuhr der Mann heiter fort. »Das hat uns eine Menge Mühe gespart. Aber Sie haben doch nicht ernsthaft an meine Versicherung geglaubt, Sie am Leben zu lassen, oder?« Das Lächeln verwandelte sich in ein gehässiges Grinsen, als der Agent die Waffe hob und auf den Kopf des SB richtete. »Es ist nicht schade um Sie. So ein Dilettant…« Toger wollte gerade seine letzten Kraftreserven aktivieren und sich auf den Mann stürzen, als sich plötzlich ein überraschter Ausdruck auf das Gesicht des PSD-Agenten stahl. Er riß die Augen weit auf und kippte dann wie in Zeitlupe nach hinten. Der Centaurier kam nicht dazu, die veränderte Situation richtig zu erfassen. Mit aufheulenden Triebwerken setzte ein schnittiger Gleiter zur Landung an. Der Einstieg klappte zur Seite, noch bevor das Gefährt die Oberfläche der Plattform berührt hatte, und der Kopf einer jungen Frau tauchte aus dem Innern. »Hierher!« rief sie, und blickte sich, mit einem angespannten
Gesichtsausdruck, suchend um. Toger war im ersten Augenblick so überrascht, daß er sich nicht vom Fleck rührte. »Nun machen Sie schon! Oder wollen Sie hierbleiben?« Das Stichwort genügte, um den SB endlich reagieren zu lassen. Ohne bewußt zu denken, taumelte er auf den Gleiter zu, dessen Aggregate in Bereitschaft summten. Irgendwie schaffte er es auch, durch den Einstieg zu klettern, dann merkte er nur noch, wie die junge Frau die Maschine steil hochzog und mit höchsten Werten beschleunigte. * Als Toger Raman erwachte, bestand seine erste Aktivität darin, zufrieden und behaglich zu lächeln. Dann aber überfiel ihn die Erinnerung, und er richtete sich ruckartig auf. Mit verwirrtem Gesichtsausdruck musterte er das Zimmer, in dem er sich befand. Er lag auf einer bequemen Konturliege, deren Polster sich seinem Körper angepaßt hatten. Rechts neben ihm, eingelassen in einer von seiner Position aus leicht zu erreichenden Konsole, erkannte er ein schmales Kontrollfeld mit mehreren, verschiedenfarbigen Sensoren. Er war sicher, daß bei ihrer Betätigung Schränke und ähnliche Einrichtungen aus den Wänden fuhren, die das eigentliche Mobiliar des Raumes ausmachten, im Augenblick für ihn aber verborgen waren. Dicker, tiefroter Teppichboden erzeugte eine angenehme Atmosphäre. Eine einzelne Tür nahm er wahr, deren Fugen sich kaum von der Wand abhoben. Toger runzelte die Stirn und schwang seine Beine von der Liege. Dabei stellte er fest, daß er anstelle seines Zweiteilers nur eine kurze Hose trug, die ihm zudem noch eine Nummer zu groß zu sein schien. Eine junge Frau, deren Gesicht er nur schemenhaft in Erinne-
rung hatte, hatte ihn gerettet und hierhergebracht. Sie mußte die PSD-Agenten mit starken Schockimpulsen gerade in dem Augenblick außer Gefecht gesetzt haben, als sie ihm das Lebenslicht auszublasen gedachten. Es war wirklich die allerletzte Sekunde gewesen, darüber war sich Toger Raman im klaren. Was ihn jetzt beschäftigte, war das Motiv seines Schutzengels. Was hatte ihm Martin Ferguson während der Einsatzbesprechung noch gesagt? Richtig, nicht nur er war damit beauftragt, zu versuchen, das herauszufinden, was Kubaikjew zu seiner dringenden Nachricht veranlaßt hatte. Ein zweiter SB arbeitete, unabhängig von ihm, an der gleichen Aufgabe. Sollte die junge Frau…? Toger gähnte herzhaft, erhob sich und steuerte die Tür an. Auf die Betätigung des Öffners hin schwang sie auf und gab den Weg frei in einen reichhaltig ausgestatteten Hygieneraum. Als er in den Spiegel starrte, erschrak der SB. Der, der ihm da entgegenblickte, war nicht Romen Glad, der Versicherungsangestellte, sondern Toger Raman, der Centauri-Geborene und Angehörige des Sicherheitsbüros von Terra. Erstaunt sah er an sich herunter. Jedes Gramm synthetischen Fleisches war verschwunden, nicht ein einziger Rest war übriggeblieben. »Überrascht?« ertönte eine melodische Stimme. Toger drehte sich langsam um und blickte direkt in das Lächeln jener jungen Frau, der er sein Leben zu verdanken hatte. Sie war, von ihm unbemerkt, von der gegenüberliegenden Seite in den Hygieneraum getreten. Durch die geöffnete Tür blickte der SB in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. »Ein wenig, ja«, gab Toger zu und dachte daran, daß er nur spärlich bekleidet war. »Wie haben Sie es geschafft, das Zeug runterzubekommen? Nur die oberste Schicht läßt sich leicht lösen…«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, entgegnete sie nonchalant. »Es war jedenfalls leider nötig. Ein Strahlschuß muß so dicht an ihrem Rücken vorbeigezischt sein, daß er dort die Struktur des Gewebes zerstört hat. Wenn Sie wüßten, wie Sie ausgesehen haben…« Toger nickte gedankenverloren. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, fuhr sie fort und reichte ihm ein Bündel Kleidung. »So können Sie sich jedenfalls nicht auf der Straße zeigen.« Raman brummte etwas Unverständliches, aber die junge Frau hatte den Hygieneraum bereits verlassen und die Tür geschlossen. Der SB duschte ausgiebig und kleidete sich dann an. Unterbewußt registrierte er, daß sein neuer Zweiteiler nicht nur elegant wirkte, sondern auch paßte. Als er zehn Minuten später das Wohnzimmer betrat, kroch ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Erst jetzt merkte er überhaupt, wie hungrig er war. Er vergaß für den Augenblick die Fragen, die er auf der Zunge hatte, und machte sich statt dessen über die Mahlzeit her, die die junge Frau mit Hilfe der elektronischen Küche für ihn bereitet hatte. Sie musterte ihn interessiert und mit einem Lächeln, das ihn zu irritieren begann, sagte aber kein Wort. Erst als sie ihm eine Aromazigarette reichte und sich selbst eine angezündet hatte, sprach sie ihn an. »Hat’s geschmeckt?« »Wunderbar, danke. Sagen Sie, wie lange habe ich eigentlich geschlafen?« Sie zuckte mit den Achseln. »Na, so an die zwanzig Stunden, denke ich.« Toger erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Zwanzig Stunden! Es mußte längst eine planetenweite Fahndung nach
ihm eingeleitet worden sein. Und er hatte nun seine Tarnung verloren. »Hm«, machte er nachdenklich und schaute sein Gegenüber an. Sie mochte vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt sein, hatte dunkle, fast bläulich schimmernde Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen, und ein schmales Gesicht, das von großen, anscheinend immer ein wenig belustigt dreinblickenden Augen beherrscht wurde. »Ich verdanke Ihnen viel«, stellte er fest. »Aber… ich weiß immer noch nicht, mit wem ich es eigentlich zu tun habe…« »Oh, entschuldigen Sie, Toger – ich darf Sie doch so nennen? Mein Name ist Tyla Genorra.« »Sagen Sie, Tyla«, Toger lehnte sich zurück, sog an seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung Decke, »warum haben Sie mich gerettet?« Er bohrte seinen Blick fest in ihre Augen, um ihre Reaktion auf diese Frage festzustellen. Sie lachte und sah ihn amüsiert an. »Sie brauchen mich nicht zu prüfen, Toger. Ich sage Ihnen auch so, wer ich bin.« Sie erhob sich und schritt zu einem niedrigen Sideboard, auf dem eine Tasche deponiert war. Während sie ihre Zigarette ablegte, öffnete sie mit der anderen Hand die Verschlüsse und griff hinein. Dabei stellte sie sich nicht sonderlich geschickt an. Die Tasche kippte um und gab einen Teil ihres Inhalts preis. Es war das übliche kosmetische Zubehör, ohne das offensichtlich keine Frau auskam oder auszukommen glaubte. Eine unscheinbare Karte aber fiel herunter und landete auf dem Teppich, mit der bedruckten Seite nach oben. Deutlich erkannte Toger das dreidimensionale Foto von Tyla, daneben eine Reihe von persönlichen Angaben. Darunter aber waren drei Symbole einge-
stanzt, von denen jedes in einer anderen Farbe schimmerte. Der SB erstarrte zu völliger Bewegungslosigkeit. Er kannte diese Symbole. Sie stellten drei Buchstaben dar, vor denen er inzwischen gehörigen Respekt hatte: PSD. »Was ist mit Ihnen los, Toger?« fragte Tyla und hob die Augenbrauen. Dann folgte sie seinem Blick und sah auf den Boden, wo ihr PSD-Ausweis lag. »Ach das«, lachte sie und hob die ID-Karte auf. »Das ist meine Tarnung, und eine echte noch dazu. – Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte…? Na hören Sie, warum hätte ich Sie dann wohl retten sollen?« Toger mühte sich ein Lächeln ab, das jedoch unecht wirkte. »Aber ich will Ihnen den Beweis liefern«, fuhr Tyla fort, jetzt ein wenig ärgerlich, wie es schien, »daß ich, wie Sie, dem Sicherheitsbüro angehöre.« Sie hatte inzwischen in der Tasche das gefunden, was sie suchte, einen kleinen elektronischen Schlüssel, der wie ein hauchdünner Splint aussah. Mit ihm öffnete sie ein Wandfach, das er vorher nicht wahrgenommen hatte, und entnahm einer Kassette einen beschriebenen Briefbogen aus simplem Papier, das längst vergilbt war. »Hier, lesen Sie.« Toger nahm das Schreiben an sich und überflog die ersten Zeilen. Dann runzelte er verlegen die Stirn. »Hm, ich finde Ihre Liebesbriefe zwar recht interessant, aber…« »Reden Sie keinen Unsinn! Nehmen Sie das hier zur Hilfe.« Sie reichte ihm einen elektronischen Leser, dessen Optik er auf die Zeilen richtete. »Aha«, machte er und nickte. In den Worten, die sich zu scheinbaren Liebesbeteuerungen zusammenreihten, waren Mikropunkte verborgen, die die eigentliche Botschaft enthielten.
Sie beinhalteten eine Empfehlung des Sicherheitsbüros, die von Martin Ferguson persönlich unterzeichnet war. »Okay«, sagte Toger entschuldigend. »Jetzt ist alles klar.« »Hoffentlich«, meinte Tyla und verstaute den Brief wieder in dem Fach. »Die Mikropunkte sind sicherer als eine konventionelle ID-Karte, das werden Sie wohl einsehen.« Sie setzte sich wieder und zündete sich eine neue Zigarette an. »Was ist eigentlich schiefgegangen in dem Gebäude?« Toger zuckte mit den Achseln. »So ziemlich alles«, gab er zurück und berichtete ihr von den Geschehnissen, von denen sie nichts wissen konnte. »Kubaikjew ist also tot«, stellte sie nachdenklich fest. »Das kompliziert die Sache allerdings.« »Das ist noch gelinde ausgedrückt. Haben Sie eigentlich mit dem Linguisten sprechen können?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte die Aufgabe, quasi Ihre Rückendeckung zu übernehmen, sobald Sie auf Logannidaror eintreffen. Es hätte auch kaum Sinn gehabt, wenn ich mich mit ihm in Verbindung gesetzt hätte. Er hätte mir nicht über den Weg getraut.« »Ja, das kann sein«, gab Toger zu und lehnte sich weit zurück. »Sie wissen also auch nichts, was uns weiterhelfen könnte?« Wieder schüttelte Tyla bedauernd den Kopf. »Absolut nichts. Ich bin nur auf Vermutungen angewiesen, genau wie Sie auch.« »Wie jeder!« verbesserte Raman ironisch. »Niemand, nicht das Sicherheitsbüro und auch nicht der PSD, weiß, worum es eigentlich geht. Merkwürdig. Da kämpfen Menschen miteinander, da müssen Männer sterben, ohne daß irgend jemand weiß, was der eigentliche Grund dafür ist. Kubaikjew war die
Schlüsselfigur, aber er ist tot und kann uns nicht mehr helfen.« »Wir vermuten nur«, sagte Tyla, »daß Kubaikjew während der Arbeit mit den Strukturzeichen der Unbekannten eine Entdeckung gemacht hat, die ihm eminent bedeutend erschien. Da es um die Strukturzeichen geht, von denen man glaubt, oder besser gesagt, hofft, daß sie Wissen, technisches Wissen, beinhalten, kann man weiter vermuten, daß es dem Linguisten gelungen ist, einen Teil dieser Informationen zu übersetzen und zu entschlüsseln. Kubaikjew ist zwar ein wenig naiv gewesen, war aber wiederum auch nicht so weltfremd, daß er, einer Nebensächlichkeit wegen, sein Leben aufs Spiel setzte. An seiner Entdeckung muß also wirklich etwas dran sein.« »Und das nimmt auch der PSD an«, fügte Toger hinzu. »Nun, von Kubaikjew erfahren wir jedenfalls nichts mehr. Die Frage ist, ob er eine Sicherheitsmaßnahme ergriffen hat, gerade für den Fall seines Ablebens.« »Was meinen Sie?« »Ich glaube, daß der Linguist irgendwo eine Nachricht hinterlassen hat, einen Schlüssel oder etwas in der Art, der zu seinem Geheimnis führen kann. Nur – wo?« Tyla Genorra machte ein skeptisches Gesicht und schürzte die Lippen. Toger verkniff sich ein Grinsen, als er den Ausdruck auf ihrem Antlitz sah. »Sie nehmen an, Sie glauben, Sie vermuten«, sagte sie mit einem ironischen Unterton. »Das ist wenig Konkretes. Außerdem kann ich Ihre Überzeugung nicht teilen. Einem Hinweis, gleich welcher Art, der irgendwo hinterlegt wird, haftet immer das Risiko der Entdeckung durch Unbefugte an. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß Kubaikjew so gehandelt hat. Er wußte, daß seine Informationen nur dann vor einer Entdeckung sicher waren, wenn er sie unter allen Umständen für sich behielt und keine Aufzeichnungen machte.«
»Ihre Überlegungen sind richtig. Aber auch, wenn Kubaikjew der festen Überzeugung war, mir seine Entdeckung mitteilen zu können, muß er die Möglichkeit einkalkuliert haben, in dem Zeitraum, bis ich auf Logannidaror eintraf, ums Leben zu kommen, durch einen Unfall oder etwas Ähnliches. Der Linguist hat so viel riskiert, um uns zu benachrichtigen, daß er bestimmt an diese Möglichkeit gedacht hat. Gut, er konnte sich sagen, daß, wenn er tot war, sein Geheimnis ohnehin keinen Schaden mehr anrichten konnte. Aber wenn er über diesen Punkt genau nachgedacht hat, dann mußte er eine nicht unbeträchtliche Wahrscheinlichkeit dafür einräumen, daß es irgendwann einmal – der Zeitraum spielt kaum eine Rolle – einem seiner Institutskollegen gelingen würde, einen ähnlichen Erfolg bei der Übersetzung der Strukturzeichen zu erzielen wie er. Und dann ist niemand da, der das Sicherheitsbüro hätte benachrichtigen können. Nein, Kubaikjew hat eine Vorsichtsmaßnahme genau für diesen Fall ergriffen, da werde ich mir immer sicherer.« »Sie meinen, Kubaikjew hatte die Wahl zwischen zwei Risiken?« »Genau«, bestätigte Toger mit einem nachdrücklichen Nicken. »Er mußte wählen zwischen der Gefahr, daß sein Hinweis von dem Falschen gefunden wurde, und der, daß im Falle seines Ablebens die Entdeckung, die er gemacht hatte und dann mit in den Tod nahm, ohne Kenntnis des Sicherheitsbüros oder der Interstellaren Wissenschaftlichen Vereinigung dem Militärrat des Fünf-Sonnen-Bundes in die Hände fiel.« Er machte eine kurze Pause, erhob sich ruckartig und begann eine unruhige Wanderung durch das Wohnzimmer. Tyla beobachtete ihn, ohne ihn aber bewußt wahrzunehmen. »Wo aber versteckt ein Mann eine Nachricht für uns«, überlegte er, »der rund um die Uhr unter Beobachtung steht?«
Tyla zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Während seines Klinikaufenthalts auf Darranga hat er dazu kaum Gelegenheit gehabt, außerdem wäre eine dort versteckte Botschaft auch unsinnig, da sie für mich relativ leicht erreichbar sein muß. In Frage kommt eigentlich nur dieser Planet, Logannidaror, genauer gesagt, diese Stadt, Thalistan.« Er blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und drehte sich langsam zu Tyla um. »Wo könnte ein Mann wie Kubaikjew«, fragte er leise, »einen Hinweis hinterlegt haben? Drei Bedingungen mußten erfüllt sein: Erstens mußte die Einrichtung des Verstecks für ihn relativ leicht zu bewerkstelligen gewesen sein – er stand unter Bewachung –, zweitens mußte es ein Ort sein, der quasi über jeden Verdacht erhaben ist, und drittens mußte dieser Ort für mich leicht auffindbar sein. Na?« Tyla blickte ihn erstaunt an und zuckte erneut mit den Achseln. »Es gibt nur einen Ort, der allen drei Bedingungen gerecht wird: das Forschungsinstitut!« Die junge Frau betrachtete ihn einige Sekunden lang sprachlos, dann lachte sie humorlos. »Unmöglich! Das Institut ist von oben bis unten von der PSD-Abteilung, in der ich tätig bin, untersucht worden. Mit negativem Ergebnis.« »Das mag sein«, sagte Toger und nickte lächelnd. »Aber ich glaube trotzdem, daß wir auf der richtigen Spur sind. Ich habe da eine Vermutung…« * Tyla Genorra befand sich schon seit einem halben Jahr auf Lo-
gannidaror in Diensten des PSD. Vorher war sie auf einer anderen Welt des Fünf-Sonnen-Bundes eingesetzt gewesen und hatte sich dort in langer, mühseliger und auch gefährlicher Arbeit das Vertrauen des Sicherheitsdienstes erworben. Die Geduld hatte sich gelohnt. Tyla besaß, obwohl sie natürlich innerhalb dieses vergleichsweise kurzen Zeitraums nicht sehr hoch in der Hierarchie steigen konnte, beste Verbindungen – zu einflußreichen Personen und geheimen Ausrüstungsbetrieben des PSD. Es war den beiden Sicherheitsbeauftragten klar, daß die Konsequenz aus Togers Vermutung eindeutig war. Sie mußten das Forschungsinstitut unter die Lupe nehmen. Bei dieser Suche konnte ihnen der PSD-Ausweis Tylas nicht viel helfen. Auch Angehörige des Sicherheitsdienstes wurden, wenn sie mit ihrem Ausweis Zutritt zum Institut forderten, registriert und die so gewonnenen Daten einer Zentralstelle mitgeteilt. Dort aber konnte leicht nachgeprüft werden, ob eine PSD-Agentin namens Tyla Genorra überhaupt eine dienstliche Anweisung zu einer solchen Aktion besaß. Die Lösung ihres Problems bot sich ihnen förmlich an. Wer mit einer Besichtigungsgruppe den Teil des Instituts betrat, der zu einem Museum ausgebaut war, in dem Folien der Unbekannten ausgestellt waren, wurde nicht überprüft. Nur besaß dieser Trakt leider keine Verbindung zum eigentlichen Institut, in dem die Forschungsarbeiten durchgeführt wurden. Ebenso unmöglich war es, sich einschließen zu lassen und während der Nachtstunden zu versuchen, sich gewaltsam einen Durchgang zu verschaffen. Elektronische Sicherungen und die Wachmannschaft ließen jeden Gedanken daran unsinnig erscheinen. Wahrscheinlich hätte Toger ein erhebliches Risiko auf sich nehmen müssen, um dennoch ins Institut zu gelangen, wenn
Tyla nicht Zugang zu den Versorgungsanlagen des PSD gehabt hätte. Es dauerte nur wenige Stunden, dann hatte sie zwei Transmit-Anzüge besorgt, die wie normale Kleidungsstücke aussahen, mittels denen der jeweilige Träger aber dazu in der Lage war, kurze Para-Durchgänge zu bewerkstelligen, innerhalb einer Distanz von etwa ein- bis zweihundert Metern. Die mitgeführten Energieerzeuger und -speicher besaßen allerdings ein beträchtliches Gewicht. Schon daher war die Einsatzfähigkeit der Anzüge begrenzt. Nach jedem Durchgang brauchte man annähernd zehn Minuten, um die Energiemenge zu speichern, die für einen neuen Sprung notwendig war. Sie hatten einen groben Plan abgesprochen, nach dem sie zu handeln gedachten. Er wies große Lücken auf, die nur durch Improvisation zu schließen waren. Die Umstände der jeweiligen Situation mußten bestimmen, wie sie sich im einzelnen zu verhalten hatten. Als sich die Dämmerung über diesen Teil Logannidarors senkte, brachen sie auf. Toger versuchte, das ungute Gefühl, das er dabei empfand, zu unterdrücken. Eine einzige Polizeikontrolle konnte genügen, um zumindest ihn in die Hände des PSD fallen zu lassen. »Ist die Ausstellung jetzt überhaupt noch geöffnet?« erkundigte sich Raman ein wenig zweifelnd, als sie sich, in Tylas Gleiter sitzend, in einem der höchsten Luftkorridore dem Institut näherten. Die junge Frau warf einen prüfenden Blick auf ihren Chrono. »Wir kommen rechtzeitig«, beruhigte sie den Centaurier. »Um diese Zeit findet noch eine letzte Führung statt.« Toger nahm ihre Erwiderung mit einem Brummen zur Kenntnis. Es war ein eigenartiges Gefühl, in einen bequem sitzenden Anzug gekleidet zu sein, mit dessen Hilfe man sich in einem selbsterzeugten Transmit-Feld einen Para-Durchgang
schaffen konnte, der ihn ohne Zeitverlust bis zu zweihundert Meter weit zu transportieren vermochte. Das Sicherheitsbüro verfügte nicht über diese Art von Ausrüstung. Sollte man schleunigst einführen, dachte Raman erbittert. Etwa zwanzig Minuten später landeten sie vor dem Institut und verließen den Gleiter. Togers Unruhe stieg sprunghaft, als er die bewaffneten Uniformierten sah, die, wahrscheinlich auf exakt eingeteilten Routen, am Gebäudekomplex entlangmarschierten. Wenn einer von ihnen ein Hologramm eines gewissen Toger Raman besaß und zufällig einen Blick in seine Richtung warf… »Lassen Sie sich nichts anmerken«, hauchte Tyla ihm zu und lächelte bezaubernd. »Wir kommen genau richtig. Sehen Sie die Personen vor dem Eingangsportal? Die letzte Führung muß unmittelbar bevorstehen.« Der SB schuf einen interessierten Ausdruck auf seinem Gesicht und folgte Tyla, die bereits auf den Eingang zusteuerte und sich unter die Wartenden mischte. Wenige Minuten später trat ein elegant gekleideter Mann durch das Portal, begrüßte die etwa dreißig Personen und forderte sie auf, ihm zu folgen. Tyla warf Raman einen kurzen Blick zu, und der CentauriGeborene atmete erleichtert auf. Die junge Frau schien recht zu behalten. Offensichtlich wurden diejenigen, die lediglich die Ausstellung zu besuchen gedachten, nicht kontrolliert. In der Empfangshalle wandten sie sich nach links, schritten breite Korridore entlang und gelangten bald durch ein weiteres Portal in eine Halle, die mit Zwischenwänden unterteilt war. An den Wänden prangten Bild- und Texttafeln, die die ausgestellten Relikte einer uralten intelligenten Rasse erläuterten. Ihr Führer plauderte dazu in einem kameradschaftlichen Ton, aber es war ihm doch anzumerken, daß dieser Vortrag nicht sein erster war.
Toger mußte unwillkürlich lächeln, als er die Züge der gespannt lauschenden Touristen musterte. Ganz sicher waren die Hinterlassenschaften der Unbekannten, die in diesem Museum der breiten Öffentlichkeit zugänglich waren, von geringem wissenschaftlichem Wert, denn sonst hätten sie sich noch in den Händen der Forscher befunden, die in diesem Gebäude ihrer Arbeit nachgingen. Gewissermaßen handelte es sich hier also um »Ausschuß«, der für niemanden von Wert war, höchstens für Sammler. Dennoch konnte sich auch Toger bald einer Spur von Faszination nicht entziehen. Eine der drei Unbekannten-Statuen, die hier auf Logannidaror im Katakombensystem gefunden worden waren, bildete einen Mittelpunkt des Museums. Die leisen Gespräche um ihn herum verstummten, als sich alle Blicke auf das etwa hüfthohe Artefakt konzentrierten. Niemand wußte, was diese Statuen darstellen sollten, niemand vermochte zu sagen, wie alt sie überhaupt waren. Die C-14-Analyse hatte hier kläglich versagt, ebenso wie alle anderen gängigen Methoden der Altersbestimmung. Man nahm an, daß diese Hinterlassenschaften einige zehntausend Jahre alt waren. Wenn sich die Wissenschaftler auch nicht auf eine Jahreszahl hatten einigen können, in einem Punkt waren sie alle derselben Meinung: Als die Statuen von den Unbekannten geschaffen worden waren, hatte der Mensch noch in Höhlen gehaust! Und zu dieser Zeit hatten sich die Unbekannten schon auf einer Zivilisationsstufe befunden, die man mit II+ charakterisiert hatte. Es mußte etwa die gleiche Zeit gewesen sein, zu der dieses rätselhafte Volk die Galaxis verlassen hatte oder aber Opfer einer Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß geworden war. Ein schmerzhafter Stoß in seine Rippen riß Toger Raman aus seiner Erstarrung. Tyla musterte ihn erstaunt.
»Sind wir nun hierhergekommen, um uns die Ausstellung anzusehen oder…« »Schon gut«, raunte Raman und sah sich rasch um. Die Touristengruppe und ihr Führer waren hinter einer Trennwand verschwunden, die erläuternde Stimme klang dumpf und leise. »Wohin?« »Wenn ich die architektonischen Daten dieses Komplexes richtig im Kopf habe«, entgegnete sie leise, »dann müßten sich zwanzig Meter unter uns von außen verriegelte Lagerräume befinden. Für uns ideal. Dort können wir warten, bis sich der Publikumsverkehr gelegt hat und die Wissenschaftler ihre Arbeit beendet haben.« »In Ordnung«, brummte Toger, griff in seine Tasche und stellte an einem Knopf Entfernung und Richtung ein. Er sah sich noch einmal prüfend um, dann betätigte er einen verborgenen Auslöser. Um ihn herum begann die Luft zu flimmern, er spürte einen kurzen Schwindel und schüttelte diese Empfindung unwillig ab, als er sich in einem nur schwach beleuchteten Raum wiederfand. Dicht neben ihm rematerialisierte Tyla, die sich den Nacken massierte und ihm zuwinkte. Sie ließen sich auf dem Boden nieder und warteten. * Toger Raman hatte nicht geglaubt, in einer solchen Situation schlafen zu können. Als sein Chrono jedoch erst sanft, dann immer eindringlicher zu vibrieren begann, merkte er, daß er doch eingenickt war. 24.00 Uhr, die Ausgangssperre wurde wirksam. Sofort war er hellwach, tastete in der Dunkelheit nach Tyla und weckte sie. »Es ist soweit«, sagte er knapp und sah schemenhaft, wie sie
nickte. Um diese Zeit konnte sich so gut wie niemand mehr im Institut aufhalten, außer den Angehörigen der Wachmannschaft, die aber ihre Aufmerksamkeit naturgemäß auf die Umgebung des Komplexes richteten, nicht aber auf das Innere. »Wissen Sie, wo genau das Büro Kubaikjews liegt?« Wieder ein Nicken. »Ziemlich genau. Neunzig Meter, Winkel zweiunddreißig Grad.« Toger justierte seinen Transmit-Anzug auf diese Daten, wartete das Signal Tylas ab und betätigte dann den Auslöser. Sie rematerialisierten in einem Arbeitsraum, der mit einer beeindruckenden Vielfalt elektronischer Anlagen ausgestattet war. Durch eine breite Glasfront drang ein Teil der Lichtfülle herein, mit der die Quarzlampen die Umgebung des Instituts ausleuchteten. Tyla setzte dennoch die Polarisation der Fenster in Funktion, wartete, bis kein einziger Lichtstrahl mehr in den Raum drang und schaltete dann die Innenbeleuchtung ein. »Da wären wir«, sagte sie lapidar und breitete die Arme aus. »Jetzt sind Sie an der Reihe.« »Nicht ganz«, widersprach Toger und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Vielzahl der Bedienungselemente. »Können Sie mit diesen Instrumenten umgehen?« »Hm, ich glaube schon. Sagen Sie mir nur, was ich tun soll.« Der SB blickte sich suchend um. »Sie sind ganz sicher, daß wir hier ungestört bleiben?« Die junge Frau lächelte wieder in ihrer spöttischen Art. »So ziemlich. Um diese Zeit ist das Risiko, hier entdeckt zu werden, sehr gering, eigentlich vernachlässigbar. Allerdings sollten wir uns trotzdem beeilen…« Raman verstand den Hinweis und machte eine zustimmende Geste.
»Gut«, sagte er nachdenklich und ließ sich in den breiten Sessel vor dem Schreibtisch sinken. »Fangen wir an.« »Womit?« »Lassen Sie mich nachdenken. Ich bin sicher, daß Kubaikjew hier irgendwo seinen Hinweis hinterlegt hat. Er muß sehr gut verborgen sein, sonst hätte der PSD ihn bei der Durchsuchung längst gefunden.« Er blickte die junge Frau an. »Was, glauben Sie, eignet sich besser als Versteck als eine der Folien der Unbekannten?« Tyla war für einige Sekunden perplex. »Sie sind ja verrückt!« preßte sie dann abfällig zwischen den Zähnen hervor. »Sehen Sie«, grinste Toger. »Sie glauben auch nicht daran. Und gerade das macht es noch wahrscheinlicher.« Er zögerte einen Augenblick. »Hm, die Elektronengehirne hier im Institut speichern alle Arbeitsvorgänge, bei denen sie hinzugezogen werden?« »Ja. Das ist so üblich, um eine spätere Kontrolle zu ermöglichen. Warum?« »Wunderbar. Dann fordern Sie doch bitte mal eine Übersicht an, welche Unbekannten-Folien Kubaikjew sich in den letzten Tagen hat kommen lassen.« Tyla machte ein erstauntes Gesicht, folgte aber seiner Bitte. Mittels mehrerer Tastendrücke schaltete sie die Terminals ein, deren Kontrollen summend erwachten. Alle Anzeigen leuchteten in einem beruhigenden Grün; es gab also keine energetische Sperre, die eine Benutzung dieser Anlagen in der Nacht verhinderte. Der Schirm eines Monitors flackerte auf, dann stabilisierte sich das Bild und vier Zeilen mit Zahlen- und Buchstabenkombinationen erschienen. »Sechzehn Folien«, murmelte Toger und schüttelte den Kopf.
»Die können wir unmöglich alle in dieser Nacht kontrollieren.« Tyla sah ihn groß an, sagte aber nichts. »Moment mal«, flüsterte der Centaurier plötzlich. »Hat eine der Folien irgend etwas Besonderes an sich, das sie von allen anderen unterscheidet?« »Nicht daß ich wüßte… Halt, doch! Auf einer Pressekonferenz hat Kubaikjew einen teilweisen Übersetzungserfolg gemeldet.« Sie überlegte kurz und berührte einige Sensoren. »Die Folie, die die Strukturzeichen enthält, die Kubaikjew übersetzt hat, ist tatsächlich unter den sechzehn angegebenen!« »Ein Wink mit dem Zaunpfahl«, kommentierte Toger. »Gibt es hier ein internes Transportsystem?« »Aber natürlich.« Sie wußte schon, worauf der Centaurier hinauswollte, und gab der Elektronik einen entsprechenden Befehl. Auf dem Monitor glomm ein Bereitschaftssymbol auf. Nur wenig später glitt das Gewünschte, in einem glänzenden Behälter verpackt, aus einer sich plötzlich öffnenden Klappe in der Schreibtischplatte. »Und jetzt wollen wir doch sehen, ob ich mit meiner Vermutung recht behalte«, brummte er, öffnete den Behälter und nahm die hauchdünne Folie vorsichtig heraus. »Wie alt soll die sein?« »Mehrere zehntausend Jahre«, versicherte Tyla und sah ihm gespannt zu. »Kaum zu glauben. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus der Produktion.« Das vor ihm liegende Relikt der Unbekannten maß etwa zwanzig Zentimeter im Quadrat und bestand aus einem Mate-
rial, das an Kunststoff erinnerte, obwohl es wesentlich elastischer war. Eigentlich wirkte die Folie unscheinbar, die mittelblaue Farbe wies an keiner Stelle auch nur den geringsten Unterschied auf. Das Geheimnis war die molekulare Struktur… Tyla nahm ihm die Folie ab und schob sie behutsam in ein spezielles Lesegerät, das extra für diesen Zweck konstruiert war. Auf der gegenüberliegenden Wand flammte eine große Projektionsfläche auf, deren Farbschlieren bald den charakteristischen Strukturzeichen Platz machten. Toger starrte die Botschaft einer uralten Rasse lange an, aber schließlich brach Tyla das Schweigen. »Na, was ist…« »Nun werden Sie nicht nervös. Sie glauben doch wohl nicht, daß wir so schnell Erfolg haben, oder? – Haben Sie schon einmal diese Strukturzeichen betrachtet?« »Mehr als einmal.« »Hm. Stellen Sie irgendeinen Unterschied fest, ich meine, können Sie eine Manipulation erkennen, oder etwas in der Art?« Sie schüttelte zögernd den Kopf. »Nein.« »Nun, ich glaube auch kaum, daß es Kubaikjew übers Herz brachte, an diesen Zeichen etwas zu verändern. Außerdem ist es zweifelhaft, ob er dazu überhaupt in der Lage war.« »Worauf wollen Sie hinaus?« Tyla wurde jetzt zunehmend unruhiger, aber Raman winkte nur ab. Er zog die Folie vorsichtig aus dem Schlitz des Geräts heraus, achtete nicht darauf, daß die Projektionsfläche wieder verblaßte, und legte sie auf die metallene Platte eines Multi-Prüfers, dessen Bedienung er kannte. »Wozu soll das gut sein?« »Leitfähigkeitstest«, sagte er und betätigte die Kontrollen. Zitternd setzte sich ein Skalenzeiger in Bewegung und ver-
harrte dann an einer bestimmten Marke. »Auch nichts«, knurrte er. »Die elektrische Leitfähigkeit hat in jedem Punkt der Folie den gleichen Wert. Mal sehen, wie es sich mit der Absorption von bestimmten Wellenlängen verhält.« Wieder setzte der SB eine Reihe von Testprogrammen in Funktion, aber auch diese Untersuchungen führten nicht zu dem gewünschten Erfolg. »Ich glaube«, sagte Tyla langsam, »Ihr Gefühl hat Sie im Stich gelassen. Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß eine Botschaft Kubaikjews, deren Träger diese Folie ist, nicht schon längst entdeckt worden wäre.« »Aber ich«, entgegnete der SB entschieden. »Alle Strukturzeichen der Unbekannten-Folie sind längst registriert und über die E-Gehirne dieses Instituts jederzeit abrufbar. Außerdem sind die Folien alle genauestens untersucht worden. Es besteht also eigentlich kein Grund dazu, warum sich einer der hier tätigen Linguisten mehr als nötig mit den Folien selbst beschäftigen sollte, wenn doch die nach wie vor nicht entschlüsselten Zeichen ihm auf viel bequemere Art zur Verfügung stehen.« Er lehnte sich in dem Sessel zurück und blickte Tyla ernst an. »Ich bin jetzt sicher, Kubaikjew hat eine der Folien benutzt, ob es gerade diese ist, ist ungewiß. Aber es gibt so ungeheuer viele Möglichkeiten, Zeichen darauf zu verstecken. Die Strukturzeichen selbst kommen kaum in Frage, elektrische Leitfähigkeit und Wellenabsorption haben wir kontrolliert. Was gibt es noch? Eine ganze Menge: Molekülstärke, Temperaturbeständigkeit und -leitfähigkeit, chemische Beeinflußbarkeit in unzähligen Variationen, es ist gar nicht aufzuzählen, und zu den meisten Methoden müssen Kubaikjew ohnehin die Mittel gefehlt haben. Welche Methode aber ist einfach und gleichzeitig narrensicher?« Tyla zuckte nur mit den Achseln, sie glaubte ohnehin nicht
an einen Erfolg. »Wenn Sie schon alle Möglichkeiten ins Auge fassen«, sagte sie, »dann könnte es doch auch sein, daß Kubaikjew in seiner Übersetzung eine Nachricht für uns hinterlassen hat.« Toger merkte, daß Tyla ihren Einwand nicht ernst meinte, antwortete aber dennoch. »Nein. Erstens war der Linguist kein Code-Spezialist, und zweitens mußte er damit rechnen, daß gerade diese erste gelungene Übersetzung Gegenstand aller Forschungen und Untersuchungen wird.« Plötzlich kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Versuchen wir es doch einmal anders herum«, sagte er gepreßt. »Welche Untersuchungen dieser Folien würden die Wissenschaftler unter allen Umständen vermeiden?« »Nun, Untersuchungen, durch die die Folien beschädigt oder irgendwie beeinträchtigt werden könnten. Nicht nur die Folien, speziell die Strukturzeichen natürlich.« »Richtig. Angenommen, Kubaikjew hat einen Weg gefunden, diese Folie so zu präparieren, daß seine Entdeckung, die Nachricht also, nur mittels einer Bestrahlung ›sichtbar‹ gemacht werden kann, die den Informationsträger beschädigen könnte? Dann könnte er sicher sein, daß niemand seiner Kollegen seine Botschaft fände.« »Ich verstehe…« »Sie glauben immer noch nicht, daß wir etwas finden?« erkundigte sich Raman lächelnd. »Lassen Sie sich überraschen…« Er programmierte den Multi-Prüfer erneut. Eine weitere metallene Platte senkte sich auf die Folie herab, Schutzleisten verbargen sie vor ihren Blicken. Knisternd erhellte sich ein Monitor. »Sie wollen doch nicht ernsthaft das Risiko eingehen…«
»Doch!« unterbrach er sie. »Und ob ich das werde. Es steht zuviel auf dem Spiel!« Die elektronische Automatik des Geräts folgte den eingegebenen Befehlen und fuhr das Programm ab. Der Prüfer begann erst kaum wahrnehmbar zu summen, ein Geräusch, das sich bald zu einem hellen Singen steigerte. Auf dem Bildschirm des Monitors erschien eine stilisierte Darstellung der Folie, verschiedene Farben symbolisierten die Meßergebnisse. »Sie zerstören etwas«, hauchte Tyla, »das geschaffen wurde, als der Mensch noch mit Steinwerkzeugen arbeitete.« Toger brummte nur und starrte auf die Anzeigen. Röntgenstrahlen geringer Intensität, etwas energiereicheres UV-Licht, Gammastrahlen: Die Farbe der Darstellung veränderte sich nicht, nicht einmal geringfügig. Der SB preßte die Lippen hart aufeinander. Es schien tatsächlich so, als wären seine Bemühungen umsonst. Das konnte, das durfte nicht sein! »Nichts!« stöhnte er kopfschüttelnd. Über sein Gesicht huschte ein verbissener, fast verzweifelter Ausdruck. Seine Finger tasteten erneut über die Kontrollen, als das bereits eingegebene Programm abgelaufen war. Wieder begann der Multi-Prüfer aufgeregt zu zirpen. Toger warf einen raschen Blick auf seinen Chrono und erschrak. Bereits drei Stunden lang beschäftigte er sich nun schon damit, den vermeintlichen Hinweis zu suchen – ohne bisher auch nur den Hauch einer Spur zu finden. Sicher, das Risiko, hier entdeckt zu werden, war gering, aber es vergrößerte sich mit jeder Sekunde, die verstrich. Der Centaurier fühlte, daß ein Anflug von Panik in ihm aufwallte. Hatte er den Linguisten überschätzt? War die Vermutung, daß er Vorbereitungen für den Fall seines Ablebens getroffen hatte, falsch? Der eigene Tod war etwas, das die meisten Menschen nicht zu akzeptieren bereit waren…
Toger war so sehr in das Muster seiner eigenen Gedanken verstrickt, daß er beinahe den kurzen Reflex übersehen hätte, der auf dem Monitor aufgeblinkt war. Seine rechte Hand ruckte vor und betätigte die Stop-Taste, das Bild erstarrte. »Haben Sie es endlich satt?« fragte Tyla zynisch. Raman blickte mit ausdruckslosem Gesicht zu ihr auf. »Haben Sie es auch gesehen?« »Was?« »Den Reflex eben.« Plötzlich war die Langeweile und die Verdrossenheit aus dem Antlitz der jungen Frau wie weggewischt. Ihre Augen sprühten Interesse. »Sie meinen…« »Vielleicht habe ich mich geirrt«, schränkte Toger vorsichtig ein. »Aber das werden wir gleich sehen.« Er wies die Automatik des Prüfers an, das Programm zurückzufahren, und legte einen Finger auf die Stop-Taste, um sofort reagieren zu können. Er konzentrierte sich vollständig auf die farbige Darstellung der Folie, ein wenig nervös, aus Angst, er könnte etwas übersehen. Als das winzige Pünktchen aufflackerte, zuckte sein Finger ganz von allein in Richtung Taste. Wieder erstarrte das Bild. »Na?« murmelte Toger, und darin lag sein ganzer Triumph. Prüfend blickte er auf die Kontrollen. »Sehen Sie? Energiereiche kosmische Strahlen, das ist der Schlüssel.« »Kann dieser… Reflex dort nicht auch eine andere Bedeutung haben?« Tyla war noch immer die Skepsis in Person. »Kaum.« Er berührte mehrere Sensoren und vergrößerte den Ausschnitt, in dem der Punkt schimmerte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ja, das ist es. Kubaikjew muß irgendeine Substanz benutzt und damit die Folie präpariert haben, die für kosmische Strahlen nicht in dem gleichen Maße durchlässig ist wie das Material der Folie selbst. Der Reflex ist nichts anderes als ein Absorptions-Mikropunkt!« »Sie scheinen tatsächlich recht zu haben…« »Und ob!« Kubaikjew war nicht sonderlich geschickt gewesen, aber seine Kenntnisse hatten ausgereicht, um einigermaßen leserliche Zeichen so anzubringen, daß sie so gut wie unauffindbar waren. Toger starrte gebannt auf die Mitteilung, die in dem Code gehalten war, den sie beide damals auf Fargas benutzt hatten, einer recht einfachen Art der Verschlüsselung. Er prägte sich die Zeichen und ihre Folge gut ein, eine Vorsichtsmaßnahme, die gerechtfertigt war, wie sich nach einigen Augenblicken herausstellte. Tyla stieß einen überraschten Laut aus, als die Schrift verschwamm, dann immer mehr verblaßte und schließlich ganz verschwand. Raman wechselte auf maximale Bildgröße – der Reflex, der ihn aufmerksam gemacht hatte, war nicht mehr da. »Was war das?« stieß die junge Frau fast atemlos hervor. »Noch eine Sicherheitsmaßnahme. Die Substanz, die Kubaikjew für seine Zwecke benutzt hat, löst sich unter dem Einfluß kosmischer Strahlen rückstandslos auf. So bleiben für diejenigen, die seine Botschaft entdecken, nur wenige Sekunden, um sie auch aufzunehmen.« »Ich habe die Zeichen gesehen – aber nicht verstanden. Was sollte das?« Toger stutzte und wandte sich langsam zu ihr um. »Hm«, machte er und sah sie durchdringend an. »Er hat einen Code benutzt, einen einfachen noch dazu. Sie müßten
ihn eigentlich kennen.« Tyla machte einen verwirrten Eindruck. »Nein«, widersprach sie. »Konnten Sie sich die Nachricht merken?« »Natürlich. Das gehört…« Das, was er noch hatte sagen wollen, blieb ihm im Halse stecken, als er plötzlich in die gefährlich flimmernde Mündung eines Strahlers starrte. Seine Kinnlade klappte herunter, er sah zu Tyla auf, deren Gesichtsausdruck sich nun grundlegend gewandelt hatte. Arroganz war ein Zug, den er bisher an ihr noch nicht beobachtet hatte. Toger schluckte, als langsam die Erkenntnis in sein Bewußtsein sickerte. »Also doch«, stieß er brüchig hervor, den Blick nicht von der Waffe wendend. »Was haben Sie denn gedacht!« sagte Tyla spitz. »Sie scheinen den PSD gewaltig zu unterschätzen. Haben Sie das MikroSchreiben von Ihrem Martin Ferguson wirklich für echt gehalten?« Sie lachte, und das ärgerte den Centaurier am meisten. »Ich muß mich bei Ihnen bedanken. Sie haben uns die Sache wirklich leichtgemacht. Natürlich haben auch wir vermutet, daß Kubaikjew irgendwo einen Hinweis hinterlegt hat, aber wahrscheinlich hätten wir ihn ohne Sie nicht gefunden. Nun ja, zwar kennen wir noch nicht den eigentlichen Inhalt dieser Botschaft, aber es gibt ja auch Psycho-Detektoren, nicht wahr?« Toger war wie gelähmt. Als ihn der Schockstrahl erfaßte, konnte er noch nicht einmal einen Schrei ausstoßen. Mit weit aufgerissenen Augen kippte er aus dem Sessel, den Aufschlag auf den Boden spürte er schon nicht mehr…
* »Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet«, sagte Thorsten Magran anerkennend und nickte Tyla Genorra zu. »Und Sie können sicher sein, daß ich das nicht vergesse!« Die junge Frau sagte keinen Ton, sie wußte, wie man mit dem PSD-Leiter von Logannidaror umgehen mußte, um Erfolg zu haben, das heißt, innerhalb einer kurzen Zeit möglichst viele Stufen in der Rangordnung emporzuklettern. Sie blickte Magran kühl an, beherrscht, ohne eine Spur von Emotion. »Kubaikjew hat also tatsächlich einen Hinweis hinterlassen«, sagte er und lehnte sich dabei zurück. Seine Finger spielten mit einem Memo-Stift. »Und Raman hat sie für uns gefunden. Der Plan ist aufgegangen, ohne jede Einschränkung.« »Vielleicht eine«, widersprach Tyla leise, ohne den Blick von ihrem Vorgesetzten abzuwenden, der sie unaufdringlich musterte. Magran verkörperte Macht, und das machte ihn in ihren Augen nicht nur interessant. »Er hat die Nachricht gefunden, ja, aber wir kennen sie noch nicht. Sie steckt in seinem Gedächtnis.« »Das«, sagte Magran mit einem angedeuteten Lächeln, »ist nicht weiter schlimm. Wir haben Möglichkeiten genug, auch von ihm die Informationen zu erhalten, die wir wünschen. Und ich mache mir auch keine Sorgen darüber, ob es uns gelingt, den Code, in dem die Botschaft des Linguisten gehalten ist, aufzubrechen. Unsere Decodierungs-Spezialisten haben schon schwierigere Dinge bewältigt.« Tyla nickte. »Was geschieht eigentlich mit dem Sicherheitsbeauftragten, wenn wir das Gewünschte haben?« Magran sah sie einen Augenblick nachsichtig an. »Das liegt doch auf der Hand, oder nicht? Raman ist ein gut
ausgebildeter SB. Was sich einmal in sein Gedächtnis eingebrannt hat, ist zwar – unter gewissen Umständen – abrufbar, aber so gut wie nicht mehr zu löschen. Und wir können es uns kaum leisten, ihn mit seinen Informationen einfach laufenzulassen. Nein, für Toger Raman ist hier auf Logannidaror Endstation!« Tyla Genorra nickte erneut, sie hatte nichts anderes erwartet. * Sein Geist kämpfte sich nur mühsam bis zur Ebene der Bewußtheit hoch. Das erste, was Toger in aller Deutlichkeit spürte, waren die nagenden und pochenden Schmerzen, die seinen ganzen Körper durchfluteten, keine einzige Zelle ausließen und ihren Ursprung irgendwo in seinem Hinterkopf zu haben schienen. Ein seltsames Geräusch drang an seine Ohren, und er brauchte einige Minuten, bis er merkte, daß es sein eigenes Stöhnen war. Mit seinem Erwachen war auch sofort die Erinnerung da. Diesmal gab es keine Momente, in denen der Geist für einige Sekunden wie der eines Neugeborenen war. Die Resignation, die sein Denken einhüllte, ließ die Schmerzen unwichtig und erträglich werden. Er hatte versagt, und zwar auf der ganzen Linie! Er versuchte, die Augenlider zu heben, was ihm nach einigen vergeblichen Versuchen auch gelang. Um ihn herum war alles gleißend hell, ein Licht, das den Schmerzen neue Nahrung zukommen ließ. Seine Netzhäute gewöhnten sich jedoch überraschend schnell an die Lichtverhältnisse, und auch die farbigen, wallenden Schleier vor seinen Pupillen verflüchtigten sich. »Sie haben eine gute Konstitution«, sagte ein ausdrucksloses Gesicht über ihm. Die grauen Augen hinter der Brille muster-
ten ihn kalt. »Wie fühlen Sie sich?« »Urlaubsreif«, gab Toger in einem Anflug von Galgenhumor zurück. Seine Stimme hatte dabei einen merkwürdigen Tonfall, der ihn unbewußt die Stirn runzeln ließ. »Das wundert mich nicht«, entgegnete das Gesicht. »In Ihren Adern kreist ein Psycho-Serum, und das hat einige Nebenwirkungen.« Toger versuchte, einen Arm zu heben und stellte dabei fest, daß er gefesselt war. Als er seinen Kopf bewegte, sah er die breiten Stahlklammern, die Hand– und Fußgelenke umspannten. Daß er nicht einen Fetzen Kleidung am Körper trug, störte ihn weniger. In seiner Situation waren Empfindungen wie Scham Luxus. Ein stämmiger Mann schob sich in sein Gesichtsfeld, dessen Alter nicht genau zu bestimmen war. Er konnte genausogut vierzig wie auch sechzig Jahre alt sein. Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, vermittelte Autorität. »Sie werden mich nicht kennen«, sagte er langsam und mit angenehm klingender Stimme. »Mein Name ist Thorsten Magran. Ich bin der Leiter des Planetaren Sicherheitsdienstes von Logannidaror.« Toger war nicht überrascht, er hatte etwas Ähnliches erwartet. »Aber diese junge Dame hier ist Ihnen sicher keine Unbekannte mehr.« Tyla Genorra trat an die Seite Magrans und warf ihm ein bezauberndes Lächeln zu. Raman empfand merkwürdigerweise keinen Zorn und schob es auf das ihm injizierte Psycho-Serum. Aber ich werde euch enttäuschen müssen, dachte er mit versteinertem Gesicht. Nur mit dieser Droge allein werdet ihr keinen Erfolg haben! Er wußte nicht, ob Magran telepathisch begabt war, bezwei-
felte es aber. Dennoch mußte er ihm zugestehen, ein erstaunliches Einfühlungsvermögen zu besitzen. »Machen Sie sich übrigens keine Hoffnungen«, verkündete er, »daß Sie unseren Bemühungen widerstehen könnten. Das Serum ist Ihnen nur zu dem Zweck verabreicht worden, um uns die Arbeit zu erleichtern. Wir wissen natürlich, daß Sie darauf nicht sonderlich ansprechen.« Erst jetzt bemerkte der SB die glitzernde, haubenartige Konstruktion, die etwa zwei Meter über seinem Schädel schwebte und an mehrere rechts und links von ihm installierte Elektronik-Bänke angeschlossen war. Toger konnte es nicht mit letzter Gewißheit sagen, aber er vermutete, daß das der Psycho-Detektor war, der ihm schon von Tyla angekündigt worden war. Die Arbeitsweise dieser Gehirnsonden, wie sie manchmal genannt wurden, war unterschiedlich, das Resultat immer gleich: Keine Information, und mochte sie auch noch so tief verborgen sein, konnte diesem Gerät entgehen. Wenn sich die Haube über seinen Schädel senkte und ihm das Bewußtsein raubte, floß nicht nur das Geheimnis Kubaikjews in den Speicher, sondern das gesamte Wissen, das in seinem Gedächtnis verankert war, einschließlich aller Informationen über das Sicherheitsbüro. »Setzen Sie nur den Detektor ein«, sagte Toger so klar wie möglich. »Versuchen Sie nicht, uns zu bluffen«, unterbrach ihn Tyla. »Sie besitzen keinen Selbstmordbefehl und auch keine Möglichkeit, sich auf irgendeine andere Art das Leben zu nehmen. Schließlich sind Sie Überlebensspezialist, und wenn Sie etwas in der Art versuchten, würden sofort Ihre Reflexe wirksam. Nein, in Ihrem Hirn existiert nur eine Hypnosperre, eine starke zwar, aber die läßt sich durchbrechen.« Magran breitete die Arme aus und sah ihn groß an.
»Sie sehen, Raman, Ihre Lage ist nicht gerade rosig. Ich würde sogar sagen, sie ist ausgesprochen schlecht. Und in Anbetracht dieser Situation ist es doch eigentlich nur vernünftig, wenn Sie uns die Mitteilung Kubaikjews freiwillig überließen. Sie wissen ja, daß eine Befragung mit dem Psycho-Detektor einige Risiken birgt – für Sie in diesem Fall.« Toger nickte langsam, fast gegen seinen Willen, und preßte die Lippen zusammen. Schweißperlen entstanden auf seiner Stirn, als sein Blick wieder auf die über ihm schwebende Haube fiel. »Also?« Die Stimme des PSD-Leiters war noch immer höflich, fast freundlich, und das verunsicherte ihn, obwohl er wußte, daß das Taktik war. »Also gut«, stöhnte er und nannte lange Wortkombinationen. »Es ist ein Code«, erklärte er anschließend. »Aber ich kenne den Schlüssel nicht.« »Das glaube ich Ihnen sogar«, gab Thorsten Magran zurück und trat einige Schritte näher an ihn heran. »Aber Sie nehmen doch wohl nicht an, daß wir auf Ihre Phantasie-Worte hereinfallen!« Er räusperte sich kurz. »Hören Sie gut zu, Toger. Ganz offensichtlich verkennen Sie noch immer Ihre Lage. Ich will Ihnen eine ehrliche Chance geben, der Haube zu entgehen. Wir bekommen die Informationen in jedem Fall. Sie können nur den Weg wählen…« »Versuchen Sie doch nicht, mich zu bluffen!« stieß Toger wutentbrannt hervor. »Ganz gleich, ob ich jetzt rede oder unter dem Detektor: Wenn Sie die Informationen haben, dann bin ich für Sie ohnehin ohne jeden Wert. Ich mache mir keine Illusionen hinsichtlich meines Schicksals.« Tyla Genorra setzte zu einer Erwiderung an, aber Magran
stoppte sie mit einem scharfen Seitenblick, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Dann sah er den Centauri-Geborenen offen an und nickte langsam. »Ich sehe, Sie sind Realist. Nun gut, Toger, Sie haben natürlich recht. Hm, fast tut es mir leid…« Mit der rechten Hand gab er ein Zeichen. Raman sah aus vor Schrecken geweiteten Augen, daß sich die haubenähnliche Konstruktion des Psycho-Detektors surrend in Bewegung setzte und langsam auf ihn zuschwebte. Ein irisierendes Licht begann auf ihn herabzustrahlen und hielt seinen Blick unverrückbar fest. Toger wußte nicht, was in diesen Sekunden mit ihm geschah. Sein Verstand hatte ihm gesagt, daß es keine Chance mehr gab, dem Ende zu entgehen. Seine Emotionen jedoch widersprachen dieser Erkenntnis energisch. Obwohl er sich vorgenommen hatte, diese Augenblicke mit stoischer Gelassenheit zu ertragen, bäumte sich sein Körper auf, versuchten seine Muskeln und Nerven, die Stahlklammern zu brechen. Als ihn die Haube jedoch fast erreicht hatte, erlahmte sein instinktiver Widerstand. Sein Körper entspannte sich, seine Gedanken versiegten langsam und machten bohrenden Impulsen Platz, die seltsamerweise nicht einmal unangenehm waren. Irgendein Rest klaren Bewußtseins wollte sich wehren, aber die Flut beruhigender Wellen schwemmte ihn hinweg… * Irgend etwas stimmte nicht, dachte Toger und schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf eine niedrige, weißgetünchte Decke, die ohne jede Unebenheit zu sein schien. Ohne zu wissen, wonach er suchte, drehte er den Kopf. Der Raum war nicht übermäßig groß, maß vielleicht fünfzehn Quadratmeter. Und er
war ohne jede Einrichtung, von der Liege, auf der er sich befand, einmal abgesehen. Er runzelte die Stirn und erhob sich. Dabei stellte er fest, daß er eine weite, einfach geschnittene Hose trug, aus einem Stoff, der unangenehm rauh war. Das Hemd war von ähnlicher Art und ebenfalls in einem unscheinbaren Grau gehalten. Eine einzige Tür führte aus dem Raum, und sie schien aus massivem Stahlplast zu bestehen. Toger schüttelte die letzten Überbleibsel des Verhörs ab und stellte ein wenig verwundert fest, daß er noch bei Verstand war. Befragungen mit Gehirnsonden, gleich welcher Konstruktionsart, konnten bei den Unglücklichen, an denen sie angewandt wurden, leicht bleibende Schäden hinterlassen oder gar zu völliger Idiotie führen. Der SB konzentrierte sich und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Für Sekunden entstand in ihm die Idee, eine komplizierte mathematische Aufgabe zu lösen, um dadurch herauszufinden, ob er wirklich noch normal war, aber dann sagte er sich, daß ihn auch dabei sein Unterbewußtsein betrügen konnte. Nein, das würde ihm keinen sicheren Beweis liefern, aber allein seine Überlegungen ließen ihn mit großer Sicherheit vermuten, daß sein Hirn noch in gewohnter Weise funktionierte. Jedenfalls hatte er noch von keinem Geisteskranken gehört, der sich über seinen eigenen Geisteszustand Gedanken machte… Raman versuchte, die erneut in ihm aufwallende Resignation zu unterdrücken, was ihm nur unvollständig gelang. Er stützte seinen Kopf auf die angewinkelten Arme und preßte die Lippen zusammen. Dieser Auftrag hatte von vornherein unter einem schlechten Stern gestanden. Der Zeitdruck, der umfangreiche Vorsichtsmaßnahmen verhinderte, der überraschende Anschlag an Bord des Starliners… Er hätte von Anfang an eine
ganz andere Taktik wählen sollen. Sein Verhalten war durchschaubar und voraussehbar gewesen, und das war es letztlich, was ihn in diese Lage gebracht hatte. Die Entdeckung, die Pjetr Kubaikjew gemacht hatte, befand sich jetzt in den Händen derjenigen, die sie auf gar keinen Fall hatten erhalten sollen. Und er selbst hatte keine Möglichkeit mehr, das, was einmal in seinem Gedächtnis verankert gewesen war, dem Sicherheitsbüro mitzuteilen. Er war es gewesen, der es dem PSD erst ermöglicht hatte, an das Geheimnis heranzukommen. Und jetzt kannte er nicht einmal mehr die Wortkombinationen. Toger schauderte, wenn er daran dachte, was das alles für Folgen haben konnte… Aber ganz gleich, was nun auch geschah, er würde es nicht mehr miterleben. Sein Tod war beschlossene Sache, und eigentlich wunderte er sich darüber, daß man ihn nicht längst beseitigt hatte. Wahrscheinlich wollte man aber zunächst das, was man durch den Psycho-Detektor von ihm erfahren hatte, einer genauen Prüfung unterziehen. Thorsten Magran hatte auf ihn einen umsichtigen Eindruck gemacht. Der PSD-Leiter würde kaum das Risiko eingehen und ihn beiseite schaffen lassen, ohne exakt zu wissen, daß seine Informationen richtig waren. Von einem Toten waren keine Korrekturen zu erwarten. Toger hatte demnach noch eine kurze Galgenfrist, aber er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Als er ein Geräusch vor der schweren Tür hörte, zuckte er gegen seinen Willen zusammen und schwang seine Beine von der Liege. Ein dumpfes Brummen ertönte, und die Tür schob sich schwerfällig beiseite. Helles Licht flutete in die Zelle und blendete ihn. Drei hochgewachsene Männer standen in der jetzt freigegebenen Öffnung, mit Strahlern in den Händen, deren Mündungen auf ihn zielten. Toger zuckte mit den Achseln, stand auf
und strich sich über das Hemd. »Ist es soweit?« fragte er. Er spürte jetzt keine Angst mehr, auch keine Wut – nur Enttäuschung und die plötzliche, irrationale Hoffnung, dem Unvermeidlichen doch noch entrinnen zu können. Einer der Männer nickte kaum merklich und winkte mit der Waffe. Toger setzte sich in Bewegung. Als er die Uniformierten passierte, machte er nicht einmal den Versuch zu fliehen. Drei Männer mit drei feuerbereiten Waffen waren auch für einen centaurischen Überlebensspezialisten entschieden zuviel. Er wußte nicht, wo er sich befand. Tyla hatte ihn im Institut geschockt, und danach war er in einem Verhörraum des PSD aufgewacht. Durch den Psycho-Detektor war sein Denken erneut ausgeschaltet worden, und jetzt befand er sich offensichtlich in einem Gefangenenkomplex. Ob er noch in Thalistan war, vermochte er nicht zu sagen. Der Korridor, der an seine Zelle angrenzte, war breit und hell erleuchtet. Toger erkannte deutlich die vielen Türen auf beiden Seiten, die zu anderen Räumen führten. Wie viele Schicksale haben sich hier schon erfüllt? dachte er, Und wie viele warteten dort noch, in dumpfem Schmerz, ohne jede Hoffnung? Der SB konzentrierte sich und spürte, wie etwas von seiner alten Kraft zurückkehrte. Unwillkürlich straffte sich sein Körper. Er sollte sterben, weil er im Weg und ein Sicherheitsrisiko war. Aber ganz so leicht wollte er diese Arbeit seinen Henkern nicht machen. Was hatte er schon zu verlieren? Gar nichts. Einer seiner drei Wächter marschierte vor ihm, die anderen befanden sich zwei oder drei Meter hinter ihm. Er konnte sie nicht sehen, nahm die auf ihn gerichteten Waffen aber fast körperlich wahr. Nein, hier hatte er tatsächlich keine Chance. Sicherlich hatten
die Uniformierten Erfahrung darin, Delinquenten auf ihrem letzten Gang zu begleiten, und dann wußten sie auch von der Verzweiflung, die die jeweiligen Gefangenen erfaßt hatte. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung, die er machen würde, konnte sich hinter ihm ein Finger krümmen, um einen Sensor zu berühren. Er selbst würde wahrscheinlich gar nicht einmal bewußt merken, daß dann sein Befreiungsversuch fehlgeschlagen war. »Wohin bringen Sie mich eigentlich?« Toger versuchte, seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Tonfall zu geben, war sich aber nicht ganz sicher, ob es ihm auch gelungen war. Der erwünschte Erfolg stellte sich jedoch nicht ein. Die Uniformierten ließen sich nicht aus der Reserve locken und ignorierten seine Worte einfach. Sie näherten sich einer wogenden Energiesperre, die, auf den ersten Blick betrachtet, wie ein nebliger Vorhang wirkte. Toger wußte aber, daß dieses Hindernis wesentlich wirksamer war als ein Doppelschott aus extrem gehärtetem Stahl. Wer in diese Energieschleier hineingeriet, wurde nicht nur einfach geschockt, er wurde innerhalb eines Sekundenbruchteils getötet. Der Uniformierte, der vor dem SB marschierte, holte einen schimmernden Impuls-Geber hervor und richtete den Abstrahler gegen das obere Ende der Sperre. Knisternd fiel der Energievorhang zusammen und gab ihnen den Weg frei. Der Wächter winkte, und Toger erhielt einen schmerzhaften Stoß in den Rücken, der ihn vorwärtstrieb. Als sie eine unsichtbare Trennlinie überschritten, bauten sich hinter ihnen die wogenden Schleier wieder auf. Raman registrierte unterbewußt, daß ein Entkommen aus diesem Komplex ohne entsprechende technische Hilfsmittel so gut wie unmöglich war. Sicherlich gab es noch ganz andere Sicherheitsvorrichtungen, die er gar nicht ohne weiteres als sol-
che erkannte. Die Resignation kehrte zurück. Selbst wenn er seine drei Bewacher überwältigte, was hatte er damit gewonnen, wenn er hier nicht herauskam? Vor einer fugenlos scheinenden Wand blieben sie stehen. Wieder benutzte der Wächter vor ihm seinen Impuls-Schlüssel. Die Luft um sie herum begann plötzlich zu flimmern, dann spürte Toger den kurzen Entmaterialisationsschock und schüttelte, jenseits des massiven Metalls, den Kopf. Die Umgebung hatte sich vollkommen verändert. Der Raum, in dem sie sich jetzt befanden, war etwa vierzig Quadratmeter groß und mit einem gemusterten Teppich ausgelegt, der schon ausgetreten wirkte. Die Einrichtung bestand aus einem halbmondförmigen, langgezogenen Schreibtisch, hinter dem zwei Männer mit kühl blickenden Augen saßen, umgeben von elektronischen Schaltleisten, die monoton summten. Einer seiner Begleiter holte eine Magnetfolie aus seiner Jackentasche und reichte sie an die Sitzenden weiter, die sie begutachteten. Eine Kontrollstelle, dachte Toger. Seine Absicht, doch noch einen Fluchtversuch zu wagen, versiegte langsam. Jetzt hatte er bereits fünf Männer gegen sich, und er befürchtete, daß seine Wächter ihn von diesem Raum aus direkt mittels eines Transmit-Feldes zu seiner Exekutionsstätte beförderten. Wenn das auch ein Raum ohne jeden Ein- und Ausgang war, der nur durch einen energetischen Durchgang zu erreichen war, dann hatte er tatsächlich nicht die Spur einer Chance mehr. Niemand der Männer sagte ein Wort. Die Mienen seiner drei Bewacher wirkten wie versteinert. Die Szene erschien irgendwie unwirklich. Toger schluckte. Erst jetzt stellte er fest, daß ihn einer der Kontrolleure aufmerksam musterte, zwar kalt, aber mit unverhohlenem Inter-
esse. »In Ordnung?« erkundigte sich einer der Uniformierten knapp. Ein kurzes Nicken war die Antwort, dann wurden die Folien zurückgereicht. Während der Mann vor dem SB sie wieder in seiner Jackentasche verstaute, zwinkerte der Kontrolleur, der ihn angestarrt hatte, plötzlich. Irgend etwas in Raman schien auf ein solches Zeichen gewartet zu haben. Seine Reflexe sprachen an und reagierten mit automatenhafter Sicherheit. Als wäre ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden, stürzte er nieder, wirbelte herum und brachte die beiden hinter ihm stehenden Wächter mit blitzartigen Bewegungen zu Fall. Einem von ihnen gelang es noch, die Waffe auszulösen, aber der grelle, fauchende Strahl raste weit über ihn hinweg und schlug krachend gegen das Stahlplast der gegenüberliegenden Wand. Toger wußte nicht, was um ihn herum geschah. Seine Nackenhaare richteten sich wie unter elektrischer Spannung auf, als unsichtbare, aber energiereiche Schockimpulse durch den Raum peitschten, auf Nervensysteme trafen, Männer bewußtlos niederstürzen ließen. Für einige Augenblicke herrschte tosender Lärm in der Kontrollstelle, dann plötzlich – Raman konnte nicht sagen, wieviel Zeit vergangen war – war wieder Ruhe. Langsam, wie in Trance, erhob sich der SB und sah sich um. Die Männer, die ihn von seiner Zelle hierhergebracht hatten, lagen in seltsam verrenkten Stellungen am Boden, mit weit aufgerissenen Augen. Einer der beiden Kontrolleure lag über dem Schreibtisch, mit herabbaumelnden Armen. Sein Kollege hatte noch eine klobige Waffe in der Hand und sah sich zufrieden um…. »Ich verstehe nicht…«, brachte Toger mühsam hervor. »Seien Sie froh, daß Sie noch leben!« lautete die Antwort. Der
Mann hantierte an einem Kontrollpult, sprang dann rasch über den Schreibtisch hinweg, griff den wie versteinert wirkenden SB am Arm und zog ihn zu einer markierten Stelle. »Nur zu Ihrer Information«, stieß der Mann breit grinsend hervor. »Der echte Sicherheitsbeauftragte auf Logannidaror bin ich!« Toger hatte diese Information noch nicht ganz verdaut, als ihn der Schwindel einer Transmission erfaßte und sie in einem Raum rematerialisierten, der offensichtlich Uniformen verschiedener Größen beinhaltete. Ohne zu zögern, steuerte sein Kollege auf einen niedrigen Schrank zu, öffnete ihn und zog zwei Kleidungsstücke hervor, die Toger schon kannte: Transmit-Anzüge. »Sagen Sie…« »Wir haben nicht viel Zeit«, unterbrach ihn der vermeintliche Kontrolleur. »Mit Sicherheit ist jetzt schon Alarm ausgelöst worden.« Einen Augenblick zögerte er. »Schade, jetzt ist meine Tarnung aufgeflogen. Und dabei habe ich mir solche Mühe gegeben.« Er wurde sofort wieder ernst, als sie sich die Anzüge überstreiften. »Mein Name ist übrigens Thor Albego – damit Sie wissen, bei wem Sie sich bedanken können. Hat verdammt schlecht für Sie ausgesehen, Toger.« Der Centaurier hatte sich inzwischen wieder einigermaßen gefaßt. Er akzeptierte die plötzliche Lageveränderung als das, was sie war: als einen Ausweg, als die erhoffte Möglichkeit, dem PSD zu entkommen. »Warum haben Sie sich eigentlich nicht eher eingeschaltet?« fragte er, und es klang noch ein wenig benommen. »Das hätte vieles vermieden…« »Wie denn? Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie
hier selbst die Angehörigen des Sicherheitsdienstes überwacht werden! Und außerdem wußte ich, daß Sie, wenn Ihr Einsatz schiefging, früher oder später hier landen würden.« »Besteht die Chance an die Unterlagen heranzukommen, die der Psycho-Detektor aufgezeichnet hat?« Albego sah ihn groß an. »Sie sind wohl wirklich lebensmüde, was? Das, was man von Ihnen erfahren hat, liegt jetzt in einem energetischen Safe, und der befindet sich wiederum direkt in der Zentrale. Da kommen Sie selbst mit einer Hundertschaft nicht lebend hinein!« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, was Magran von Ihnen erfahren hat, das können Sie ihm jetzt nicht mehr nehmen!« »Aber…« »Kein Aber. Seien Sie froh, daß Sie noch leben.« Raman folgte den Justierungsanweisungen, die ihm Albego gab. Auf sein Nicken hin betätigte er den Aktivierungsknopf. Er wußte nicht, wohin es ging, aber der überaus starke Schwindel, der plötzlich nach ihm griff, ließ ihn vermuten, daß Albego einige Änderungen an diesen Transmit-Anzügen vorgenommen hatte. Normalerweise erlaubten sie nur Durchgänge bis maximal zweihundert Meter, diesmal jedoch mußten sie eine erheblich weitere Strecke zurückgelegt haben. Als sich die Schleier vor seinen Augen gelegt hatten, sah Toger, daß sie sich in einem vergleichsweise kleinen Hangar befanden, auf dessen Gravokatapult eine schnittige Zwei-MannYacht lag, die Nase nach oben gerichtet. »Sie sind gut vorbereitet«, gab er anerkennend zu. Thor nickte nur und öffnete ein Schott. »Hinein mit Ihnen. Mit diesem Luxusdampfer kommen wir zwar nicht nach Terra, aber das ist auch gar nicht nötig. Außerhalb dieses Sonnensystems befindet sich ein terranischer Pa-
trouillenkreuzer, dessen Kommandant über unseren Einsatz informiert ist.« Es ging alles so glatt, daß Toger die Wirrnisse und Schrecken, die er durchgemacht hatte, unwirklich und schemenhaft erschienen. Als das Katapult ihr Schiff aus dem Hangar schleuderte und Thor mit mörderischen Werten beschleunigte, dachte der Centaurier schon nicht mehr daran, daß er noch einmal mit dem Leben davongekommen war. Er hatte versagt, und das machte alles andere nebensächlich. * Als Toger Raman vor der holzgetäfelten Tür stand, die in Martin Fergusons Domizil führte, atmete er noch einmal tief durch. Seine Unsicherheit und Nervosität, die er während des Fluges nach Terra abgelegt zu haben glaubte, kehrten plötzlich mit vehementer Kraft zurück. Es war das erste Mal, daß der Auftrag, den er vom Sicherheitsbüro erhalten hatte, unerledigt geblieben war. Ja, es schien sogar, als hätte er mit seinem Eingreifen etwas heraufbeschworen, das das Kräftegleichgewicht, die Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Sternenstaaten erheblich zu stören, wenn nicht gar umzustoßen vermochte. Er hatte sich benutzen lassen, war in den Händen des Planetaren Sicherheitsdienstes von Logannidaror nicht mehr als eine Marionette gewesen, eine Schachfigur, die man nach Belieben bewegt und eingesetzt hatte. Toger gab sich einen Ruck, öffnete die Tür und trat in das unscheinbare Büro, in dem die Fäden des terranischen Sicherheitsbüros zusammenliefen. Ferguson saß hinter seinem Schreibtisch, sah bei seinem Eintreten nur kurz auf, brummte etwas Unverständliches und deutete auf einen der breiten Sessel, in denen Besucher Platz zu nehmen pflegten.
»Guten Morgen«, sagte Raman vorsichtig und ließ sich in die Polster sinken. Ferguson sah erneut auf, nickte und schob einen Stapel Magnetfolien beiseite. »Da sind Sie ja«, entgegnete er mit seiner sonoren Stimme. »Ich habe schon auf Sie gewartet.« Er nahm eine der Folien von dem Stapel herunter und drehte sie zwischen seinen Händen hin und her. »Ich habe Ihren Bericht hier vorliegen«, fuhr der etwa sechzigjährige Mann fort, »und auch gelesen. Es sind aber noch einige Fragen offengeblieben.« Der Vorsitzende des Sicherheitsbüros blickte den CentauriGeborenen aufmerksam an. »Aber bevor wir hierüber sprechen«, er hob die Folie hoch, »bin ich Ihnen noch einige Erklärungen schuldig, die Ihnen Ihren Auftrag in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen.« Toger hob erstaunt die Augenbrauen und sah seinen Chef fragend an, der jetzt einen Sensor berührte und sich dann wieder zurücklehnte. Hinter dem SB öffnete sich die Tür. »Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen«, erklärte Ferguson, und ein Lächeln umspielte dabei seine Mundwinkel. Toger drehte sich langsam zu dem Eintretenden um – und erstarrte. »Guten Tag, Mr. Raman«, sagte der gutgekleidete Mann, kam einige Schritte näher und reichte ihm die Hand. »Es liegt zwar schon etwas länger zurück, aber ich glaube, Sie erinnern sich noch an mich…« »Pjetr Kubaikjew!« stieß Toger fassungslos hervor. »Wie…?« »Keine Angst«, beruhigte ihn der Linguist und ließ sich dabei in den zweiten Besuchersessel sinken. »Sie haben keine Halluzinationen. Ich bin echt und erfreue mich bester Gesundheit.« »Aber ich habe Sie gesehen, in Ihrer Wohneinheit. Tot!« Während Kubaikjew in stoischer Gelassenheit lächelte,
schüttelte Ferguson nachdrücklich den Kopf. »Das war ein programmierter Bio-Roboter, ein erstklassiger noch dazu. Nein, unterbrechen Sie mich nicht. Ich kann verstehen, daß Sie jetzt verwirrt sind, darum hören Sie mir am besten gut zu. – Hm. Es begann in der Tat alles damit, daß Mr. Kubaikjew in dem Forschungsinstitut auf Logannidaror eine Entdeckung machte, die, milde ausgedrückt, von ungeheurer Bedeutung ist. Pjetr war sich dessen bewußt, und er konnte sich auch vorstellen, was geschehen würde, wenn diese Information in die falschen Hände fiel. Ja, Sie vermuten ganz richtig: Es handelt sich tatsächlich um eine vollständig gelungene Übersetzung von Strukturzeichen – aber dazu später. Pjetr erinnerte sich an Sie, Toger, aber er wußte auch, daß er es niemals schaffen würde, von Logannidaror aus eine Nachricht an uns zu senden, ohne daß sie vom PSD aufgefangen wird. Nun, er verursachte, wie Sie schon wissen, an sich selbst einen schweren Herzschaden, der ihm einen Aufenthalt auf Darranga einbrachte. Dort gelang es ihm, mit einem unserer Verbindungsleute in Kontakt zu treten und besagte Nachricht an uns zu senden.« Ferguson machte eine kurze Pause. Toger runzelte die Stirn: Das, was sein Chef bis jetzt gesagt hatte, war ihm mehr oder weniger bekannt. »Wir wußten natürlich, daß Kubaikjew auch auf Darranga überwacht wurde, und konnten nicht ganz sicher sein, ob die Nachricht an uns nicht vom PSD abgefangen wurde. Ein zweiter Punkt kam hinzu – Kubaikjew ist zwar ein sehr leistungsfähiger intuitionistischer Linguist, aber wer konnte schon mit Sicherheit ausschließen, daß der Militärrat des Fünf-SonnenBundes, nachdem er Verdacht geschöpft hatte, nicht alle Kräfte darauf konzentrierte, den Vorsprung Kubaikjews wettzumachen? Es gibt im Institut eine Reihe von weiteren Intuitionis-
ten, die zwar nicht so begabt sind wie Kubaikjew, aber dennoch mit einkalkuliert werden mußten. Und die Entdeckung durfte auf gar keinen Fall in die Hände des Militärrats gelangen.« Ist sie doch aber! wollte Toger einwenden, doch Ferguson ließ ihm keine Gelegenheit dazu. »Wir entschlossen uns zu einer umfassenden, gutdurchdachten Aktion«, fuhr der SB-Leiter fort, »die den Rat erstens beschäftigen und zweitens auf die falsche Spur locken sollte, alles mit dem Ziel, die herrschenden Kreise des Fünf-SonnenBundes so lange abzulenken, bis wir die Informationen Pjetrs verwertet und der Interstellaren Wissenschaftlichen Vereinigung zugestellt hatten. Nun, ich glaube, das ist uns in vollem Umfang gelungen!« »Ich verstehe immer noch nicht ganz…«, wandte Raman leise ein. »Ein Bio-Roboter mit dem Erscheinungsbild Kubaikjews und seiner ID-Schablone, die Fühlen und Denken des Originals simulierte, ist anstelle des Linguisten nach Logannidaror zurückgekehrt. Während der echte Kubaikjew längst auf Terra war und mit unseren Wissenschaftlern zusammenarbeitete, sind Sie in den Einsatz geschickt worden, zugegebenermaßen etwas unvorbereitet. Und gerade diese Tatsache hat den PSD in Sicherheit gewiegt, mußte er doch annehmen, daß das, was Kubaikjew für so ungeheuer wichtig hielt, noch in seinem Besitz und uns unbekannt war. Das Interesse richtete sich demzufolge auf Sie und den vermeintlichen Linguisten.« »Ich hätte umgebracht werden können!« empörte sich Toger. »Sie sind Überlebensspezialist«, entgegnete Ferguson sanft. »Wozu eigentlich? – Nun, zwar existierten einige Unsicherheitsfaktoren in unserem Plan, aber es waren auch Vorsichtsmaßnahmen ergriffen worden, eine davon hieß Thor Albego.
Weiter: Der Bio-Roboter war so programmiert, daß er, wenn er vom PSD unter Druck gesetzt wurde, demonstrativ Selbstmord beging. Dadurch konzentrierte sich das gesamte Interesse auf Sie. Und wenn Sie zu diesem Zeitpunkt noch lebten – wovon ich natürlich ausging –, dann waren Sie von Stunde an so gut wie unantastbar. Schließlich mußten Sie den Hinweis finden, den Kubaikjew extra für diesen Fall hinterlegt hatte.« »Na, ich hatte nicht den Eindruck…« »Darauf kommt es nicht an. Ich bin jedenfalls überzeugt, daß der PSD Sie in dem Wohnturm hätte ausschalten können, wenn er das wirklich gewollt hätte. Und der Einsatz einer Agentin, die sich als Ihre Kollegin tarnte, verleiht dieser Vermutung eine große Wahrscheinlichkeit. Nun, wenn wir auch nicht genau diese Entwicklung voraussehen konnten, wußten wir doch, daß es sich in einer ähnlichen Weise – einmal ganz abstrakt gesagt – abspielen würde. Und wir wußten auch, daß Sie, wenn Sie die Nachricht gefunden hatten, in die Hände des PSD fallen würden – mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest. Mit Ihnen übrigens auch die Nachricht, und darauf kam es an.« »Hm, jetzt verstehe ich allmählich. Natürlich konnten Sie dem PSD nicht einfach falsche Daten zuschieben, das hätte Verdacht erregt. Aber wenn das Sicherheitsbüro so hinter einer Information her war, dann mußte sie wichtig sein, nicht wahr?« »Exakt richtig. Voraussetzung dazu war natürlich auch, daß Sie von den tatsächlichen Vorgängen keine Ahnung haben durften – der Einsatz eines Psycho-Detektors war zumindest wahrscheinlich, wenn man Ihrer einmal habhaft geworden war.« »Und Thor war die Sicherheitsreserve für mich?« Ferguson nickte. »So ist es. Schließlich konnten wir Sie nicht
einfach fallenlassen.« »Das freut mich zu hören«, gab Thor ironisch zurück. »Aber jetzt möchte ich endlich wissen, um was es bei der ganzen Sache eigentlich gegangen ist!« Ferguson warf dem Linguisten einen kurzen Blick zu. Kubaikjew wandte sich dem Centaurier zu. »Ich will Sie nicht mit dem detaillierten Text langweilen, den ich übersetzt habe«, erklärte er. »Das Wichtigste: Die Unbekannten haben in der entsprechenden Folie eine exakte und konkret definierte Koordinatenangabe gemacht, wo eine ihrer sogenannten Reservewelten zu finden ist. Wir wissen nicht genau, was diese Bezeichnung zu bedeuten hat. Aus der Angabe geht aber einwandfrei hervor, daß die Reservewelt, deren Koordinaten wir inzwischen umgerechnet haben, ein Archiv birgt, das das gesamte Wissen dieser Rasse beinhaltet. Stellen Sie sich das vor! Das gesamte Wissen einer Zivilisation, die sich in der Übergangsstufe vom Typ II zu III befand!« »Zudem«, fügte Ferguson hinzu, »sollen sich nach den Angaben auf dieser Reservewelt technische Großanlagen befinden, was immer darunter zu verstehen ist. Es können Raumschiffe sein oder etwas anderes, Unvorstellbares. Ich hoffe, Sie sehen ein, daß dieses Wissen niemals in die Hände machthungriger Politiker fallen durfte, unter keinen Umständen! Toger, wenn Ihnen dieser Auftrag vielleicht auch etwas hart erschien, er war gerechtfertigt, glauben Sie mir.« Raman nickte nur. Ein Archiv! Er wußte selbst, was das für die Menschheit bedeutete… »Der Militärrat des Fünf-Sonnen-Bundes hat also falsche Daten?« vergewisserte er sich. Kubaikjew brummte zustimmend. »Nur in gewisser Weise. Wir mußten die Sache natürlich so echt machen wie nur irgend möglich, um sie auch glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der PSD weiß jetzt, worum es geht,
nur die angegebenen Koordinaten sind falsch.« Der Centauri-Geborene machte ein skeptisches Gesicht. »Hoffentlich beschäftigt es den Militärrat lange genug, bis er merkt, daß die Daten manipuliert sind.« »Das hoffen wir auch«, bestätigte Ferguson. »Aber ganz sichergehen können wir nicht. Wir können die Informationen, die wir jetzt haben, auch nicht einfach galaxisweit veröffentlichen, wie ich mir das vorgestellt hatte, bevor ich wußte, worum es wirklich geht. Nein, wenn es abstraktes, technologisches Wissen wäre, das von uns erst umgesetzt werden muß, wäre das ein Ausweg gewesen. Es handelt sich aber um ein Archiv – und niemand kann ahnen, was diese Reservewelt sonst noch alles bergen mag. Denken Sie nur an Raumschiffe und dergleichen.« Ferguson schüttelte den Kopf und sah Toger und Pjetr ernst an. »Wir müssen diese Reservewelt als erste erreichen, sonst ist das Gleichgewicht der Kräfte nicht mehr nur in Gefahr, sondern unwiederbringlich verloren! Der Fünf-Sonnen-Bund wird andernfalls eine Vormachtstellung erringen, von deren Ausmaß wir uns keine Vorstellung machen können. Und das unter der Führung eines offenen aggressiven Regimes…« ENDE