Zukunft unter Zeitdruck Au! den Spuren der «Apokalypse» herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati
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Das Herannahen de...
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Zukunft unter Zeitdruck Au! den Spuren der «Apokalypse» herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati
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Das Herannahen der Jahrtausendwende lãsst mit dem Vergehen der Zeit das Bild eines Endes der Zeit ins Bewusstséin treten. Zehn Autorinnen und Autoren aus verschiedf!nen Disziplinen verfolgen die Spuren iener spannungsreichen Einheit aus Furcht vor drohender Vernichtung und HoHnung auf das Offenbarwerden des Rettenden, die den Umgang mit der Vision des Endes in verschiedenen Bereichen unserer Kultur kennzeichnet. Daria Pezzoli-Olgiati untersucht die ZeitauHassungen in der «apokalyptischen» Literatur, Walter Lesch prüft die Rede vom «Ende der Geschichte» und fragt dabei nach der bleibenden Bedeutung der messianischen Hoffnung, Véronique Mauron und Claire de Ribaupierre Fur/an verfolgen «apokalyptische» Motive in Kunst und Literatur der Gegenwart, Char/es Martig und Matthias Loretan entwickeln eine Systematik der Bilder des Weltuntergangs im Film, Beat A. Follmi widmet sich der «apokalyptischen» Deutung der «Neuen Musik», Morfina Lesch nãhert sich den Endzeitãngsten als Psychologin, Béatrice Acklin Zimmermann schildert das Vorkommen von ãhnlichen Angsten im spãten und ausgehenden Mittelalter, Christof Jeckelmann schliesslich betrachtet Katastrophen mit dem nüchternen Blick des Naturwissenschaftlers.
ISBN 3-290-17187-6
Zukunft unter Zeitdruck
ZUKUNFT UNTER ZEITDRUCK Auf den Spuren der «Apokalypse»
Herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati
TVZ THEOLOGISCHER VERLAG ZÜRICH
Illustration auf dem Umschlag Anne und Patrick Poirier: Domus aurea. Der Brand der grossen Bibliothek, 1976, Detail Staatliche Museen zu Ber1in - Preussischer Kulturbesitz, Nationa1galerie © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zukunft unter Zeitdruck : auf den Spuren der «Apokalypse» / hrsg. von Daria Pezzoli-Olgiati. - Zürich : Theol. Verl., 1998 ISBN 3-290-17187-6 © 1998 Theologischer Verlag Zürich
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photographischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung, bleiben vorbehalten.
INHALTSVERZEICHNIS
Daria Pezzoli-Olgiati: Einführung ..................................................................... 7 Daria Pezzoli-Olgiati: Im Spannungsfeld zwischen Weltende und Offenbarung «Apokalyptische» Zeitmodelle ......................................................................... 11 Walter Lesch: Verlorenes Paradies und befristete Zeit Variationen über Geschichtsphilosophie und Apokalyptik .............................. 33 Véronique Mauron und Claire de Ribaupierre Furlan: Weissagungen, Trümmer, Graber Fragen der Apokalypse im Roman und in der Kunst der Gegenwart.. ............. 66 Charles Martig und Matthias Loretan: Apokalyptische Visionen im Film Geschichtsbilder zwischen Weltuntergang und radikalem Neuanfang .......... 109 Beat A. Follmi: Tod oder Verklarung? Von der Neuen Musik und vom Ende der Musikgeschichte .......................... 135 Martina Lesch: Unter «apokalyptischer» Bedrohung Psychologische Erwagungen zum Umgang mit Angst, Zeit und Endlichkeit ............................................................................................... 153 Béatrice Acklin Zimmermann: VON WEGEN ins neue Jahrtausend! Endzeiterwartungen und -angste im spaten und ausgehenden Mittelalter ..... 191 Christof leckelmann: Die Katastrophe gibt es nicht Begegnungen mit der «Apokalypse» in Naturwissenschaft und Technologie .................................................................................................... 203 Autorinnen und Autoren ................................................................................ 220 Abbildungsverzeichnis .................................................................................. 222
Daria Pezzoli-Olgiati EINFÜHRUNG In zwei Jahren wird das zweite Millennium zu Ende sein. Eine Gelegenheit, um grandiose Inszenierungen des Vergehens der Zeit zu versuchen. Oder der Begrenztheit der Zeit, der Begrenztheit der Geschichte. Man stilisiert die Begegnung mit dem Ende der Zeit. Beispielsweise in Paris. Am Eiffel-Turm wurde eine verstellbare digitale Uhr installiert, welche die fehlenden Tage bis zum Ende des J ahrtausends anzeigt. Mit dem Fortschreiten der Tage steigt die Uhr automatisch nach oben. Alles ist so eingerichtet, dass sie am Ende die Spitze erreicht haben wird. U nd dann? Was wird geschehen? Es ist unwahrscheinlich, dass der Turm verlãngert wird. Ich stelle mir eher vor, wie am nãchsten Arbeitstag ein Fahrzeug einige schwindelfreie Arbeiter ausladen wird, die in einer akrobatischen Aktion die uhr entfernen werden, um sie in irgendein Lager abzutransportieren. Gerade in dieser Stimmung einer eigentlich fiktiven Erwartung ist die Idee des vorliegenden Buches entstanden. Ausgangspunkt dieses Projekts waren einige winterliche Diskussionen mit Véronique Mauron in den gemütlichen Rãumen des Schweizerischen Instituts in Rom. Es ging um den Sinn des inszenierten Endes, der heutigen «Apokalyptik», der Vorstellung einer Endzeitkatastrophe in der Kunst und in der Theologie. Was uns von Anfang an faszinierte, waren die Widersprüche, welche an der «Apokalypse» haften: zum Beispiel zwischen dem Ernst in den apokalyptischen Szenarien der endgültigen Vernichtung und der Leichtigkeit in der Verwendung des Begriffes in allen moglichen Kontexten. «Apokalypse» kann auf etwas ganz Schreckliches, auf das Ende schlechthin bezogen werden, oder als modische Wendung kann sie einer beliebigen Âusserung einen Hauch Esoterik verleihen. Ein anderer, zweideutiger Aspekt schien uns wichtig in der heutigen Vorstellung der «Apokalypse»: die starke Spannung zwischen ihrer Deutung als Begrenztheit der Geschichte, die dem Ende zusteuert, und jener einer transzendenten Offenbarung, in Anlehnung an den ursprünglichen Sinn des Wortes «Apokalypse». Auf diese Zweideutigkeit, so schien es uns, geht schliesslich der Widerspruch zwischen der Angst vor dem Schreckenszenario und der Hoffnung auf die Enthüllung jenseitiger Botschaften zurück. Vor der atemberaubenden Kulisse der ewigen Stadt, die vom Turm des Instituts in ihrer ganzen Pracht bewundert werden kann, war es leicht, sich mit dem Ende der Welt ohne Angst vor dem Untergang zu befassen, und aus einem informellen Austausch entstand die Initiative für eine interdisziplinãre Auseinandersetzung mit der «Apokalypse» in unserer Zeit. 7
Die Spannung zwischen Offenbarung und Endzeitkatastrophe ist zum Leitmotiv geworden, das durch die fachspezifischen Beitrage führt. Ist es moglich, die Ambivalenz im Begriff «Apokalypse» als Interpretationsschlüssel für den Umgang mit dem Ende in unserer Zeit zu benützen? Wie werden die Aspekte der Enthüllung und des Untergangs, wenn überhaupt, verbunden? An der Schwelle zum nachsten J ahrtausend fragen wir also nach dem Erneuerungspotential, das in dieser «apokalyptischen» Zweideutigkeit steckt. Das Gesamtprojekt ist als kulturgeschichtlicher Versuch konzipiert; die gemeinsame Fragestellung entsteht jedoch aus einer spezifisch theologischen Reflexion. Der Sammelband beginnt mit einem Überblick über die Entstehung und die Geschichte des Begriffes «Apokalypse» und mit einer Darstellung der Themen, Probleme und verschiedenen Auffassungen der sogenannten «apokalyptischen» Literatur. Besondere Aufmerksamkeit wird den typischen «apokalyptischen» Auffassungen von Geschichte und Zeit anhand von zwei Beispielen gewidmet. Die Zeitmodelle des 4. Buches Esra und der Johannesapokalypse, beide Schriftenaus dem Ende des ersten Jahrhunderts n. ehr., werden dargestellt und verglichen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den zwei Zeitmodellen leiten ein in die Diskussion über verschiedene Interpretationen der «Apokalypse». Im folgenden Beitrag wird die Fragestellung aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive vertieft. Die Frage nach der Relevanz apokalyptischer Konzepte wird in einer Epoche gestellt, in welcher wir uns zwischen einem «verlorenen Paradies» und dem Bewusstsein der Begrenztheit der Zeit - der Moglichkeit des Endes aller Dinge - bewegen. Gerade in dieser verunsichernden Situation fallt das Schwanken zwischen dem moralisch motivierten Engagement unter hochstem Zeitdruck und der Suche nach Strategien der Entschleunigung auf. Die Analyse versucht, nach dem deklarierten Ende der gangigen Geschichtsphilosophie zu einem neuen Ansatz unter Einbezug von Kant, Derrida und Benjamin zu gelangen. Der letzte Teil des Artikels klart die Verbindung dieser Denkansatze mit einer ausdrucksstarken Bildersprache. Bilder und Texte in der zeitgenossischen Rezeption der Apokalypse sind das Thema des dritten Essays. Ausgewahlte Autoren aus Literatur und Kunst dieses Jahrhunderts werden unter die «apokalyptische» Lupe genommen. Als Orientierungspunkt in der Vielfalt der literarischen und künstlerischen Erfahrungen im Umfeld des «Apoka1yptischen» dient der explizite Bezug zum biblischen Text. Die auf diese Weise fokussierte Fragestellung wird wiederum in verschiedene Motive aufgesplittert. Es geht zuerst um die Weissagung, die Offnung gegenüber neuen Enthüllungen, dann um die Trümmer, welche die Katastrophe zurückgelassen hat, und schliesslich um das Grab, die Abwesenheit, die Leichen, die Erinnerungen, die Geister und die Schatten, alles Aspekte eines ambivalenten Todes, der sich oft als Übergang zu einem neuen Leben herausstellt.
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Kaum eine andere Kunst lebt so von der «Apokalypse» wie der Fi1m. Die meisten apokalyptischen Visionen erleben wir schliesslich in den Kinosalen. Ein fi1mwissenschaftlicher Versuch schien uns deswegen gerade in diesem Projekt unentbehrlich zu sein. Die Analyse des apokalyptischen Weltuntergangs in berühmten Kassenschlagern aus den letzten fünfzehn Jahren führt zu einer Systematisierung dieser Bi1der, die symptomatisch für die heutige Kino- und elektronische Produktion sind. Die Untersuchung apokalyptischer Aspekte in der Musikgeschichte führt uns zurück zu den Anfãngen dieses Jahrhunderts. Wiederum erweist sich die Spannung in der «Apokalypse» als Offnung zum Neuen und als Bild des Endes als anregende Fragestellung. Ausgangspunkt des Essays sin d die radikalen Veranderungen im musikalischen Schaffen im Kreis um A. Schõnberg. Zwei Perspektiven werden einander gegenübergestellt: das Auftreten dieser Kompositionskunst als «Neue Musik» und deren gleichzeitige Rezeption als das «Ende der Musik». Die explizite Verbindung zwischen dieser Erscheinung, die vielen Kritikern grosse Schwierigkeiten bereitete, und der «Apokalypse» wird von Adorno geleistet: Die «Neue Musik» wird als Abschied von einer Harmonie gedeutet, die nicht mehr zu einer auf die engültige Katastrophe zielenden Realitat passt. Aus dem musikgeschichtlichen Rückblick ergeben sich Erwagungen zu aktuellen Gestalten von Musik und deren gegensatzlichen Wahrnehmung. Die folgenden zwei Aufsatze beleuchten die gleiche Frage, jedoch in unterschiedlichen historischen Kontexten. Es geht um die Angst, die von der Endzeiterwartung ausgeht. Im ersten Artikel wird dieses Thema in der heutigen Zeit untersucht: Wie geht man in der Psychologie mit einem so schwer fassbaren Phanomen um? Dieser Ausgangsfrage folgen die Darstellungen der Erscheinungsformen so1cher Endzeitangste und ihrer Auslõser. Zuletzt werden mõgliche Strategien im Umgang mit Zeit vorgelegt, we1che Zukunftshoffnungen ermõglichen. Der geschichtswissenschaftliche Beitrag schildert das Vorkommen von ahnlichen Ãngsten im spaten und ausgehenden Mittelalter. Obwohl vergleichbare Muster die Endzeiterwartungen in jener Epoche kennzeichnen, wird stets auf die Eigentümlichkeiten der apokalyptischen Erwartungen im jeweiligen historischen Umfeld hingewiesen. Im letzten Essay wird versucht, den Umgang mit der «apokalyptischen» Katastrophe in Naturwissenschaft und Technologie zu erfassen. Dabei werden zwei Aspekte hervorgehoben und verglichen: die Wahrnehmung bestimmter Phanomene durch die Naturwissenschaften als Katastrophe und das Auftreten einer Endzeitstimmung innerhalb der Naturwissenschaften selbst. Auf den Spuren der «Apokalypse» in der heutigen Zeit haben wir nach ihrer Zweideutigkeit, nach ihrer schillernden Erscheinung als Bi1d der letzten Zerstõrung oder der Enthüllung einer transzendenten Botschaft gefragt. Trotz der Bemühung, dieses Motiv aus verschiedenen Perspektiven.zu beleuchten, bleiben 9
selbstversUindlieh viele Aspekte unbehandelt und viele Fragen offen. Die Ambivalenz zwisehen Erwartung der Katastrophe und Óffnung zum Neuen wird im Laufe der Aufsatze immer mehr zur Ambivalenz zwisehen der «Apokalypse» als Spraehwendung, Bild, Metapher und der «Apokalypse» als konkretem Zerstõrungsphanomen. In diesen Spannungsfeldern, eingeklemmt zwisehen einer We1t der Vorstellungen (der Traume, aber aueh der Alptraume) und einer Welt der physikalisehen Gesetzmassigkeiten und der dringenden Notwendigkeiten unserer Epoehe, ist es extrem sehwierig, die Orientierung nieht zu verlieren. Die «Apokalypse» wird plõtzlieh versehwommen, das Thema unklar, die Visionen unseharf. Im Bewusstsein der Komplexitat der «Apokalypse» hoffe ich, dass der vorliegende Sammelband mindestens zur Klarung der Hauptfragen beitragt. Türme spielen in diesem Projekt eine grosse Rolle: der Eiffel-Turm mit der digitalen Endzeituhr, die ungeaehtet der Sorgen der Metropolenbewohner ihren Countdown fortsetzt, der Turm des Sehweizerisehen Instituts als Inspirationsort ho eh über der ewigen Stadt, und sehliesslieh der Turm der Sternwarte in Zürieh, wo die erste Skizze für das vorliegende Bueh entstanden ist. Im Restaurant dort oben haben Véronique Mauron und ieh die ersten Sehritte zur Konkretisierung unseres Vorhabens zu Papier gebraeht. Der Abstieg von der Hõhe hat sieh diesmal nicht als Sprung ins Leere erwiesen, denn wir wurden bald von einer engagierten Arbeitsgruppe unterstützt. Insbesondere danke ich den Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit und die Bereitsehaft, den Elfenbeinturm der eigenen Disziplin und Spraehe zu verlassen. Ein besonderer Dank geht an Werner Blum und Wolfgang Kasprzik vom TVZ und an meine Naehbarin Gerda Reiseh.
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Daria Pezzoli-Olgiati
IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN WELTENDE UND OFFENBARUNG «Apokalyptische» Zeitmodelle
«Wann ist das Ende der ersten und der Anfang der kommenden Welt?» (4. Buch Esra VI,7)
1. Die Ambivalenz der «Apokalypse»: Vom Ende der Welt zur Offenbarung des Neuen
Was ist die «Apokalypse»? Was meint dieses bekannte, in seiner Bedeutung jedoch nicht leicht fassbare Wort? Es geht scheinbar um den Ausgang der Welt, der Zeit, des Lebens: um das Ende schlechthin. «Apokalypse» als das Ende bezeichnet nicht nur das endgültige Ableben der Welt, sondern kennzeichnet zugleich die Art, wie dieser unwiderrufliche Untergang aller Dinge geschieht. Und hier kann sich jeder den Schrecken vorstellen, den ihm seine Phantasie eingibt. Als mogliche Mittel zur unabanderlichen ZerstOrung konkurrieren eine ganze Palette entsetzlicher Szenarien - und eine beliebige Zusammensetzung verschiedener unter ihnen. Das Ende kann durch Naturkatastrophen, durch von Menschen verursachte ZerstOrungen oder durch das Eingreifen von transzendenten K.raften herbeigeführt werden. Die Vorstellung der «Apokalypse» als endgültiger ZerstOrung der Welt ist weit verbreitet. Sie taucht in unterschiedlichen Milieus auf, kommt in religiosen und profanen Umfeldern vor. Zum Tei1 wird sie als Beschreibung des unmittelbar bevorstehenden, katastrophalen Endes in wirklichem Sinn aufgefasst, zum Tei1 wird sie auf eine domestizierte, sogar verniedlichte Weise als Bi1d für etwas Schreckliches benützt, das aber nicht end-gültig ist. Man begegnet dem Begriff «Apokalypse» sowohl in den Fachsprachen der Wissenschaften als auch in den verschiedensten Produkten der Unterhaltungsindustrie. Das Bi1d des Endes liegt in vielen Formen vor, von Computerspielen bis zu Werken der Literatur, mal in der Inszenierung einer gewaltigen Katastrophe im Film, mal als Metapher für die Schaden, die der Mensch in der Umwelt anrichtet. Die Gleichsetzung «Apokalypse = endgültige Zerstorung der Welt» ist im Sprachgebrauch tief verankert. Ein Blick in einige Worterbücher bestatigt diesen Eindruck. Unter dem Stichwort «Apokalypse» kann man nachlesen: 11
«Untergang, Grau en , Unheil»l, «Schreckliches Unheil, grauenvolles Ende, schrecklicher Untergang, gelegentlich in Wendungen wie Apokalypse des Krieges, atomare, õkologische Apokalypse»2, «eine prophetische Schrift über Lauf und Ende der Welt»3. Diese Bedeutung wird auch auf das Adjektiv «apokalyptisch» übertragen, wobei hier der Aspekt des Dunklen, Geheimnisvollen hinzukommt4 . Unter dem Stichwort «Apokalypse» wird auch auf den ursprünglichen Sinn hingewiesen: «Enthüllung, Offenbarung, Schrift in der Form einer Abschiedsrede, eines Testaments o.a., die sich mit dem kommenden Weltende befasst (z.B. die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament)>>5, «Zunachst als religiõser Terminus zur Bezeichnung einer Schrift des Neuen Testaments (der sogenannten , d.h.: Wir müssen lernen, Geschichte anders zu denken, ohne aufzuhõren, überhaupt geschichtlich zu denken. Was waren Grundelemente eines neuen Begriffs von Geschichte? Vielleicht die Ersetzung des einen Telos durch viele Nahziele; vielleicht die Subsitution des Begriffes von der durch einen Begriff von der Erhaltung des Menschen; vielleicht die AblOsung des (zur Vervollkommnung aufgerufenen) geistigen durch den (um seine Erhaltung besorgten) physischen Menschen.»41 Ein durch die Provokationen von «Posthistoire» und «Postmoderne» geHiuterter Blick auf die Geschichte kann eventuell dazu verhelfen, sich ohne Sentimentalitat von den grossen Entwürfen zu verabschieden, ohne in die düstere Stimmung der Stagnation zu verfallen. Es gibt Neues, es gibt Freiheitsspielraume und Gelingen, wie partiell und vorlaufig auch immer dies sein mag. Und es gibt die Mõglichkeit des Neuen, das noch kommen wird und das nicht in unserer Verfügungsgewalt liegt. 42 So bleibt am Ende dieses zweiten Abschnitts festzuhalten, dass auch nach dem Abschied von der Geschichtsphilosophie das Nachdenken über Geschichte nichts von seiner Aktualitat und Dringlichkeit verloren hat. Das beginnt bei der existentiell erfahrenen Endlichkeit der Lebenszeit, setzt sich fort in der Interpretation gesellschaftlicher und politischer Konstellationen und berührt auch immer wieder die grossen Zusammenhange einer Weltzeit, die uns zwar zunachst fremd sein mag, die aber wesentlich ist für die nüchterne Selbsteinschatzung des Menschen im Ganzen des Universums. 43 Deshalb sollte die Philosophie noch mehr als bisher üblich das Gesprach mit Zeittheorien suchen, die unabhangig von den uns vertrauten narrativen Deutungsmustern und lebensweltlichen Vorverstandnissen den Ablauf der Ereignisse zu begreifen versuchen. 44 41
42
Gumbrecht, Hans Ulrich: Posthistoire now, in: Ders.; Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 34-50, hier S. 48. Das Zitat im Zitat ist Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus, aaO., S. 464 entnommen. Schlette, Heinz Robert: Das Neue und das Finale. Geschichtsphilosophische Überlegungen, Teil I., in: Orientierung 61 (1997), Nr. 4, S. 45-47. Teil 11, ebd., Nr. 5, S. 58-60. Vgl. auch den Stellenwert der Geschichte in: Schlette, Heinz Robert: Kleine Metaphysik, Frankfurt a.M.: Knecht, 1990, S. 98-100.
43
Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986.
44
Vgl. Zimmerli, Walther eh.; Sandbothe, Mike (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
48
3. Das Ende denken: Philosophische Rekonstruktionen Um die bisherigen Hypothesen an konkreten Texten zu verifizieren, habe ich drei Beispiele ausgewahlt, die stel1vertretend für grõssere Theoriekontexte zur Sprache kommen sol1en. An erster Stel1e steht ein Dokument der Aufklarung und somit der Entstehungszeit der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie: Kants kleine Schrift Das Ende aller Dinge. Darauf folgt der Text eines Autors, der als ein herausragender Reprasentant der philosophischen Postmoderne bezeichnet wird: Jacques Derridas Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Und schliesslich mache ich in der Chronologie einen Schritt zurück zu Walter Benjamins berühmten Thesen Über den Begriff der Geschichte. Dabei werden sich, wie ich hoffe, einige Reibungsflachen, aber auch komplementare Gesichtspunkte ergeben, die zeigen, dass die üblichen Etikettierungen den entscheidenden Punkt nicht immer treffen. 3.1. Kant und das «Ende aller Dinge» Der in der Kant-Forschung vergleichsweise wenig beachtete Text45 ist Kants Spatwerk zuzurechnen und wurde im Juni 1794 in der Berlinischen Monatsschrift, der Zeitschrift der Berliner Akademie der Wissenschaften, verõffentlicht. Zu dieser Zeit begann der 70jahrige Kant sich von seiner Lehrtatigkeit an der Kõnigsberger Universitat, wo er seit 1770 eine Professur hatte, mehr und mehr zurückzuziehen (1796 hielt er die letzte V orlesung). Die Jahre waren von einem Konflikt mit der preussischen Zensurbehõrde überschattet, die Kants Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vemunft (1793) beanstandete. Nach einer langeren Epoche der Toleranz in Fragen der Religion sorgte der reaktionare Kultusminister Wõllner unter Kõnig Friedrich Wilhelm n. auf der Basis eines Religionsedikts von 1788 für ein rauheres Klima, was sich beispielsweise durch Verweigerungen von Druckerlaubnissen manifestierte. In diesem Kontext steht die Publikation der kleinen Abhandlung Das Ende aller Dinge, die Otfried Hõffe sehr treffend als «ein Meisterstück philosophischer, mit Melancholie gefarbter Ironie»46 bezeichnet. 47 Besonders der Schlussteil (ED 187 -190) kann als Replik auf die Berliner Repressionen gelesen werden, da Kant die «moralische Liebenswürdigkeit» und «liberale Denkungsart» des Christentums dem autoritaren Zwang gegenüberstellt. Letz-
45 Kant, lmmanuel: Das Ende aller Dinge, in: Ders.: Werke in zehn Biinden, (hg. von Wilhelm Weisehedel), Bd. 9, Darmstadt: Wissensehaftliehe Buehgesellsehaft, 1981, S. 175 -190 (im folgenden mit der Abkürzung ED und Seitenzahl zitiert).
46 Hoffe, Otfried: lmmanuel Kant, Münehen: Beek, 1983, S. 39. 47 Die Auseinandersetzungen des Jahres 1794 hat Kant vier Jahre spater in der Vorrede zu Der Streit der Fakultiiten dokumentiert.
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teren bezeichnet er als Regiment des «Antichrist», dessen Herrschaft auf «Furcht und Eigennutz» (ED 190) gegründet sei. Doch Das Ende al/er Dinge ist weitaus mehr als nur eine kaum verhülIte Polemik gegen den preussischen Obrigkeitsstaat. Es ist eine wichtige Facette in Kants religions- und geschichtsphilosophischem Werk, das sich aus mehreren kleinen Schriften zusammensetzt, die sich im Vergleich zu den Hauptwerken der kritischen Transzendentalphilosophie durch eine leichtere Lesbarkeit auszeichnen, obwohl sie die Grundgedanken der moralphilosophischen Arbeiten voraussetzen. Die spaten Schriften eignen sich deshalb nicht zuletzt für einen unkonventionelIen Zugang zum Ansatz von Kants praktischer Philosophie. Auch die Reflexionen über Das Ende al/er Dinge sind vor allem aus dieser Sicht und nicht als esoterische Meditationen zu lesen. Kant beginnt seinen Text mit einigen Gedanken zu der Redensart, ein sterbender Mensch gehe «aus der Zeit in die Ewigkeit» (ED 175), eine auch heute noch gebrauchliche Fonnulierung. Dabei verstehen wir hier unter Ewigkeit nicht eine ins Unendliche verlangerte Zeit, sondern das, was nach der Zeit kommt. Die VorstelIung von Ewigkeit setzt demnach das Ende der Zeit voraus. Wahrend dieser Bruch in der kirchlichen Verkündigung meistens als glanzvoller Beginn des Neuen dargestellt wird, erlaubt sich Kant die naheliegende Bemerkung, dass der Gedanke an das Ende aller Zeit «etwas Grausendes in sich» habe (ED 175): Er führt an den dunklen Abgrund des Ungewissen und straubt sich gegen wissenschaftliche Analysen. Damit benennt Kant den wichtigen Aspekt, dass wir uns mit dem Sprechen über Zukünftiges und über das Ende auf ein extrem unsicheres Terrain begeben, das sich für mancherlei Spekulationen anbietet. Kant spricht von der «Dunkelheit, in der die Einbildungskraft machtiger als bei helI em Licht zu wirken pflegt». Aber auch für die nicht mehr unter Zeitbedingungen stehenden Wesen behauptet er die Fortdauer der moralischen Ordnung der Zwecke. Das moralische Gesetz endet nicht mit dem Ende alIer Dinge, sondern ist wie eine Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit. Hinter dieser Auffassung steht eine ganz bestimmte Tradition biblischer Apokalyptik: die Erzahlung vom Weltgericht im Matthausevangelium. Demnach ist der «jüngste Tag»48 der letzte Tag der Zeit, an dem Gericht geha1ten wird. Es ist müssig, prazise Aussagen über den Moment des Umschlags von der Zeit in die Ewigkeit machen zu wollen. Das «Übersinnliche» wird «nur am Moralischen verstandlich», insofern die Gerichtsurteile des jüngsten Tages nur Sinn machen, wenn ihre moralischen Konsequenzen auch nach dem Ende der Zeit Gültigkeit haben. Einzig die Moral bietet einen Schlüssel zum Verstehen 48 Kant analysiert sehr schon die im Deutschen übliche Formulierung et le <je vois que je meurs> sont une seule et même chose, et c'est de cette identité funeste, précisément qu'on meurt).»77 Boltanski drückt diesen Moment der Identifikation des Zeichens mit seinem Referenten aus. In seiner ursprünglichen Erscheinung ist der Schatten zunachst ein reines Anzeichen im Sinne der physischen Verbundenheit mit dem Gegenstand. Boltanskis Werke reproduzieren diesen Modus des Auftretens eines Zeichens, das in Raum und Zeit seines Referenten funktioniert. Diese Unmittelbarkeit zur Gegenwart kann zum Vergessen der Vergangenheit führen. Die Verwechslung des Zeichens und seines Referenten führt das Vergessen, das Fehlen der Vergangenheit herbei. Hierin ist Bo1tanskis Werk zutiefst melancholisch. Der Betrachter findet sich in der Lage, etwas wiederzuerkennen, das noch nicht bekannt ist. Bo1tanskis Serie Ombres, von 1986 an geschaffen, simuliert die Anfange des Hervorbringens von Bildern. In lacherlicher Weise suggeriert die Szene ei nen BalI feiner und zarter MetalImarionetten, die beim leisesten Hauch in der 77
AaO., S. 141.
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Luft schaukeln. Grosse gespenstische Silhouetten bewegen sich in der Luft, schwanken auf und ab, flattern hin und her. Kopfe mit langer Nase, un artikulierte Drahtpuppengestelle, geflügelte Korper, schlottrig wirkende Umrisse, riesige Schadel und Hande vereinigen sich zu einem Zug, der karnevalesk und mitleiderregend ist, der sowohl einem Kasperletheater wie einem Trauerzug gleicht. Die Figuren, alle an Faden hangend, erfinden aufs Neue einen makabren Tanz. Die Ombres spielen die Geburt der Bilder noch einmal, das magische Erzeugen von Figuren an den Wanden prahistorischer Hohlen. Boltanski weist dem Betrachter ei ne Stelle in Distanz zur Szene an; dennoch sieht dieser alles. Er ist nicht, wie die gefesselten menschlichen Wesen bei Platon, mit dem Gesicht zu den Wanden der Hohle gekehrt, sondern befindet sich dahinter wie ein deus, er hat ei ne allwissende Position. Er sieht die Schatten und die Schauspielvorrichtung, das heisst die kleinen Marionetten, die sich zusammen in einem auf dem Boden aufgestellten Theater befinden, das durch starke Scheinwerfer erleuchtet ist. Die Ombres stellen gleichzeitig die Dinge der Welt dar und ihre geisterhafte Erscheinung an den Wanden, eine Erscheinung, die, durch die Projektion deformiert und vergrossert, monstros ist. Die altertümliche Hohle offenbart die Dinge und ihre Verdopplung verflacht und grotesk. Boltanski bringt den Betrachter in die Position des Demiurgen, der einzig imstande ist, alle Sichtweisen zu vereinen. Er sieht alles, aber er kann sich nicht einmischen, ein Gefangener des lacherlichen Spektakels, das sich unermüdlich und bis in unbestimmte Zeit abspielt. Er weiss um die Lockmittel, tragt aber ohnmachtig zu deren Produktion bei. Das Wissen, von Platon hoch bewertet, ist für den Gegenwartskünstler Quelle von Beklemmung und Melancholie, denn das vorgestellte Schauspiel ist das des Todes, das immer aufs Neue von elenden Hampelmannern gespielt wird. Die Schatten sind Trager des Todes, sie sprechen ihn ohne Umschweife aus, denn die vom Künstler gestalteten Marionetten sind «der Nullfall von Ãhnlichkeit, jene Ãhnlichkeit, die nur von der Kontur herrührt und die uns im Bilde sterben lasst (le degré zéro de la ressemblance, celle que seul le contour emporte et qui nous fait mourir dans l'image)>>78. Das Erscheinen des Schattens im Feld der Kunst verweist auf den Anfang der Kunst (Plinius, Felsmalerei) und stellt den Tod heraus (Thomas Ruff, Boltanski). Es ist ursprüngliches Bild und Bild des Endes zugleich. Diesen inneren Widerspruch machen die Gegenwartskünst1er sichtbar. Schatten malen oder photographieren, das Bild im Modus des Schattens konzipieren, das heisst, die Erfindung, die Geburt (der Kunst) und den Tod, das Ende, zu verkünden. In der Apokalypse werden die Toten zusammengerufen von Gott, der die ins Buch eingeschriebenen Namen der Erwahlten liest. Nach Les Suisses morts, einer Installation aus Keksdosen, die mit Photographien von Verstorbenen beklebt sind, die in katholischen Wal1iser Zeitungen veroffentlicht wurden, führte 78 Semin, Didier: Christian Boltanski, Paris: art press, 1988, S. 53. 107
Christian Boltanski ein Tonband mit der Aufzahlung der Namen der Toten bei sich. Zum Jahr 2000 konzipiert der Künstler das utopische Projekt eines Kunstwerks, das in der Verlesung der Namen aller Erdenbewohner bestünde. Das grosse Buch der Menschheit õffnet sich, und der Künstler liest darin die Namen der Verdammten und der Erwahlten. (Aus dem Franzosischen übersetzt von Brigitta Kasprzik)
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Charles Martig und Matthias Loretan
ApOKAL YPTISCHE VISIONEN IM FILM Geschichtsbilder zwischen Weltuntergang und radikalem N euanfang Die Angst vor dem Ende der Zeiten erlebt eine mediale Hochkonjunktur. Es gibt unzah1ige Werke der PopuHirkultur, in denen das Ende der Zeiten erahnt und beschworen wird. Sie treffen auf ein Lebensgefühl der Erschõpfung und der Weltfremdheit, das sich als Katalysator für die Imagination des Weltuntergangs vorzüg1ich eignet. 1 Apokalyptische Vorstellungen, Bilder, Symbole, Erwartungen und Ãngste pdigen die Bildkultur der neunziger Jahre. Der Weltuntergang als Vision und Simulation findet sowohl im Kino als auch in den elektronischen Medien statt. 2
1. Weltuntergang als Medienphiinomen
Die Renaissance des Katastrophenfilms im Kino ist ein erstes Anzeichen für das wiedererwachte Interesse am Weltuntergang. In «Volcano» und «Dante's Peak» erscheinen gewaltige Vulkanausbrüche als Auslõser von Furcht und Schrecken. Der Untergang der «Titanic» wurde von Regisseur James Cameron mit gewaltigem Aufwand neu verfilmt. Weitere neue Hol1ywood-Produktionen wie zum Beispiel «Deep Impact» oder «Armaggedon» greifen zur Inszenierung der Zerstõrung der Welt auf die apokalyptische Erzahldramaturgie zurück. Ein Trend zeichnet sich ab, der auch das Genre der Science-Fiction erfasst hat. 3 Den eigentlichen Startschuss für diese Renaissance des Genres gab 1996 der sensationel1e Publikumserfolg von «Independence Day». In einer
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Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993. «Nicht die Menschen sind die Helden der Geschichte, sondern die Rhythmen und Gewa1ten des Weltaufgangs und -untergangs, in denen Menschen vorkommen.» S. 13. d'Eramo, Marco: Die alte, die ewige und die neue Erschopfung, in: Basler Zeitung, 2.9.97.
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Thull, Martin: Taglich viele kleine Apokalypsen. Die Medien leben von den Endzeit-Katastrophen, in: Erwachsenenbildung - EB 2/ 1996, S. 66-68. Sharrett, Christopher (Hg.): Crisis Cinema. The Apocalyptic Idea in Postmodern Narrative Film, Washington D.C.: Maisonneuve Press, 1993. «Vo1cano», Mick Jackson, USA 1997. «Dante's Peak» , Roger Donaldson, USA 1997. «Titanic», James Cameron, USA 1997. «Independence Day», Roland Emmerich, USA 1996.
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raffinierten Mischung aus Katastrophenfilm und Science-Fiction inszeniert Roland Emmerich den apoka1yptischen Kampf zwischen Gut und Bose in einem Armaggedon von kosmischem Ausmass. Eine überlegene Armada mit ausserirdischen Raumschiffen greift die Erde an und stürzt die Welt ins Chaos. Unverkennbar ist der apokalyptische Trend auch in den elektronischen Medien. Auf diversen Fernsehkanalen wird in den Mystery-Serien ein düsterer Cocktail aus Okkultismus, Ufologie, Damonenaustreibung und Weltuntergangsangsten serviert. Seit der Lancierung von «Akte X» im Jahre 1993, die zur eigentlichen Kultserie avanciert ist, entstehen fortlaufend neue MysterySerien, die dem Erfolg von Chris Carters «Akte X» nacheifern. Eine Neuschopfung aus demselben TV-Produktionsstudio ist zum Beispiel die Serie «Mi1lennium» (Start 1997), die sich explizit mit der Ankunft des Bosen am Ende des Jahrtausends auseinandersetzt. Weitere Serien schiessen wie Pi1ze aus dem Boden: «Nowhere Man - Ohne Identititat», «Outer Limits - Die un bekannte Dimension», «PSI Faktor - Es geschieht jeden Tag», «Sliders - Das Tor in eine fremde Dimension» lauten die Titel dieser Produktionen. Die europrusche Alternative «Riget» ( Analyse > Mystagogik
l/
SD LH~ .-----~------
Bildhaftigkeit (Raumdimension)
Abkürzungen: ID - Independence Day; SD - Strange Days; DA - The Day After; LH - Lost Highway; DR - Dreams. Das systematische Raster hilft, die Bewegungsmuster der Filme aufzuzeichnen. Dabei sol1 die Zuordnung nicht als statischer Vorgang gedacht werden. Die «moving pictures» sind bewegte und bewegende Bilder, die auch im FaHe der Apokalypse ihre visionare Kraft erst im Kopf der Zuschauer entfalten.
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8. Kriterienfür eine iisthetisch reflektierte Wahrnehmung
Ein Gesprach zwischen Film und Theologie nãhert sich seinem unweigerlichen Ende. Doch bevor der Abspann beginnt, sollten einige Gedanken zur Bildphilosophie die Ergebnisse bündeln. Wir haben gesehen, dass sich die apokalyptische Inszenierung in der inflationãren Bilderflut auf ihrem ureigensten Territorium befindet. Kriterien zur Deutung und Einschatzung des Phanomens sind notwendig. So1che Kriterien für eine ãsthetisch reflektierte Wahrnehmung der Apokalypse wurden im Lauf der fünf Filminterpretationen entwickelt. 8.1
Die aktuelle Inflation apokalyptischer Rede und Darstellung lôst Skepsis aus. Der Anspruch, abschliessend über das Ende der Geschichte(n) zu referieren, kann ein Anzeichen von Anmassung oder autoritãrer Überheblichkeit sein. Die gesteigerte Aufmerksamkeit der Medien für das Thema und die Âsthetik des Apokalyptischen kann in zwei Richtungen interpretiert werden: Entweder ist sie Ausdruck für eine gesteigerte Sensibilitat gegenüber mõglichen Krisen mit kosmischem Ausmass, die von Menschen mitverschuldet sind; oder sie steht für eine «Apokalypse-Geilheit», die inflationãr vom Weltuntergang spricht und damit die ApokalypseBlindheit (Günther Anders) eher fõrdert statt aufbebt.
8.2
Generationen der spaten Moderne nutzen Technologien mit apokalyptischen Risiken. Sie tragen deshalb Mitverantwortung für mõgliche Katastrophen. Das Gros der medialen Katastrophen-Inszenierungen lãsst jedoch die Rezipienten ihren Anteil an Verantwortung nicht erkennen. Sie stürzen die Zuschauer mit den Mitteln der asthetischen Überwaltigung in eine Opferrolle, in der sie quasi unschuldig auf die starken Reize von aussen reagieren kõnnen. Psychohygienisch funktionieren die kommerziellen Medienapokalypsen wie Entlastungsschlage, in denen sorglose Tater sich zu Opfern imaginieren.
8.3
Im Rückgriff auf die apokalyptischen Texte (Buch Daniel, Offenbarung des Johannes) und ihre Wirkungsgeschichte empfiehlt sich eine ideologiekritische Sichtung. Angesagt ist eine kritische Beschãftigung mit den geschichts-philosophischen Mustern apokalyptischer Texte. Fruchtbar erscheint uns in diesem Zusammenhang die Hermeneutik der Befreiungstheologie. Als prophetische Kritik bieten die apokalyptischen Texte der Bibel Kriterien der Unterscheidung. Ihr Sitz im Leben ist das Leiden an einer sozialen Situation, die in der Perspektive des realistischen Handelns kaum verandert werden kann. Die heilsgeschichtliche Kraft der apokalyptischen Rede besteht darin, dass sie Ausdruck und Überwindung einer Situation ist, die von psychischer Lahmung und / oder gesellschaftlicher Marginalisierung gepragt wird. Die Ideologiekritik mahnt Vorbehalte 131
gegen den aktuellen main-stream apokalyptischer Rede an. Wenn etwa das Hollywood-Kino - wie zum Beispiel in «Independence Day» - gesellschaftliche Differenzen dramatisiert und das Fremde vernichtet. Die Ausschliessung richtet sich hier gegen das Marginale. 8.4
Die apokalyptische Darstellung in der bildhaften Vision bezieht sich als Bewegung auf die Gegenwart. Es geht um ZusUinde im Jetzt, in der gegenwartigen gesellschaft1ichen Situation. Sie beinhaltet verschlüsselt eine Kritik an der herrschenden Entfremdung. 43 Im Zustand der Ohnmacht hiilt die Vorstellung vom Weltuntergang verbunden mit einem radikalen Neuanfang die Zukunftsbilder in Bewegung. Die Hoffnung auf ein erfülltes Leben bleibt wach. 44 Die apokalyptische Vision ist an ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu beurteilen.
8.5
Die Apokalypse ist keine Reportage der Zukunft. Aus dem biblischen Bildverstandnis der Offenbarung Hisst sich schliessen, dass die Apokalypse keine realgeschichtliche Situation erzlihlt oder einen Fahrplan für Zukünftiges darstellt. 45 Eine solche Vorstellung würde das Bilderverbot tangieren. Die apokalyptischen Visionen haben einen besonderen iisthetischen Mehrwert, der sich gerade nicht aus den Inhalten ableiten lasst. Die narrativen und bildhaften Strukturen apokalyptischer Rede lassen sich nicht restlos als Allegorien entschlüsseln und in ihre thematischen Gehalte auflõsen. Die heilsgeschichtliche Kraft dieser Enthüllungen ist wesentlich mit der Art verknüpft, wie die Dinge und die Welt gesehen werden. Der Blick richtet sich vom Ende her zurück in die Gegenwart und veriindert die Sehweise. Diese Grundbewegung in der apokalyptischen Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) entspricht dem filmischen Blick im Genre des apokalyptischen Science-Fiction. Auch hier geht es um die Sichtweise vom zukünftigen Ende zurück in die Gegenwart.
8.6
Kriterien moderner Asthetik im Sinne Adornos dienen als Korrektiv zur autoritaren Rede vom Ende der Welt. Moderne Kunst bzw. Offenbarung zeichnen sich aus durch einen hohen Grad an Selbst-Reflexivitiit. Sie kõnnen ihre heilsgeschichtlichen Potenzen vor allem dann entfalten, wenn sie sinnlich konkret, fragmentarisch (selbst die Weltuntergange
43
Füssel, Kuno: Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes-Apokalypse, Freiburg: Exodus, 1988.
44
Richard, Pablo: Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand, Luzern: Exodus, 1996.
45
Trummer, Peter: Offenbarung in Bildern - Die Bilder der Offenbarung, in: Larcher, Gerhard (Hg.): Gott-Bild. Gebrochen durch die Moderne? Graz - Wien - KOln: Styria, 1997, S. 384-393.
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sind nicht total) und auf die aktive Rezeption der Betraehter hin offen sind. Die modernen apokalyptisehen Stilfiguren wollen nieht überwaltigen und riehten si eh damit gegen das Identifikationskino aus Hollywood. Sie wollen angesichts der Brisanz ihres Themas in die Entseheidung rufen und somit die Selbstbewegung anregen. Die apokalyptisehe Darstellung ist an ihrer asthetischen Wirkung zu messen, namlieh inwiefern sie die Wahrnehmungsfahigkeit seharft oder abstumpft. Dabei stehen die Formen des Übergangs zwisehen Analyse (okologisehe und soziale Wirkliehkeit) und Mystagogik (seelisehe Struktur, Arehetypen) im Mittelpunkt. 8.7
In bezug auf die Inszenierung der Endzeit-Katastrophe im Film gibt es drei Funktionen, die den Stellenwert der apokalyptisehen Rede festlegen. Mit der autoritaren Stilfigur, wie sie in «Independenee Day» und als Betroffenheitsdiskurs aueh in «The Day After» vorkommt, geht es vor allem um Aufmerksamkeitslenkung. Der autoritare Gestus zeiehnet sieh dureh ei ne Inflation der Zeichen aus und führt zu einer Einengung der Wahrnehmungsfahigkeit. Die apokalyptisehe Darstellung kann darüberhinaus als ein Symptom für eine Pathologie bzw. für eine herrsehende Entfremdung gelten. In diesem Zusammenhang bieten vor allem «Strange Days», «Lost Highway» und teilweise aueh «The Day After» eine asthetisehe Strategie an. Bilder vom Weltuntergang kon nen auf einer dritten Ebene aueh als hei/ende Metapher wirken. Diese Funktion kommt besonders in der Traumlandsehaft von «Dreams» zum Ausdruek, in dem das Geheimnis naeh dem Zusammenhang zwisehen Sinn und Tod angedeutet wird. Auf diesem Weg der vertiefenden Wahrnehmung ermoglieht der Film eine sinnstiftende Grunderfahrung.
8.8
Weltuntergang als aussere Wirkliehkeit besteht konsequent gedaeht nur als reale Mogliehkeit. Die realistisehe Darstellung des Weltendes ist ein Widersprueh in si eh selbst. Dies hat die Auseinandersetzung mit «The Day After» gezeigt. Filme leisten im Feld der apokalyptisehen Imagination die Überschreitung von der ausseren Wirklickeit in die innerpsychische Eifahrungswelt. Auf diesem Weg der Übersehreitung kann die Metapher des Weltuntergangs eine heilende Dimension entwiekeln. 46 Die apokalyptisehe Vision ist angewiesen auf diese Bewegung in der inneren Erfahrungswelt, damit sie produktiv werden kann.
8.9
Die Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse lohnt sich sowohl aus einem thematisehen als aueh aus einem methodisehen Grund. Ein wiehtiges Thema der Apokalypse ist die Auseinander-
46
Martin: Weltuntergang, S. 57-59. 133
setzung mit der Endlichkeit und mit der Art ihrer Wahrnehmung. In ihr spiegeln sich Grundformen der Angst und umgekehrt auch Moglichkeiten menschlicher Freiheit. Der Zusammenhang zwischen der Apokalypse und dem schizoiden Feld (multiple Personlichkeitsspaltung) begegnet in Filmen wie «Strange Days», «Lost Highway» oder «Apocalypse Now». Menschen konnen die Angst vor der Endlichkeit verdrangen, von ihr überwa1tigt werden oder auf sie ethisch-existentiell antworten. 8.10 Methodisch kann die Theologie im Dialog mit der tiefenpsychologischen Hermeneutik ein tieferes Verstandnis für die spezifisch asthetische Wahrnehmung von Kontrast- und Sinnerfahrungen gewinnen. Für die Auseinandersetzung mit der Apokalypse bzw. der Offenbarung erõffnen sich dabei zwei Perspektiven, die einander wenigstens teilweise ausschliessen. In Anlehnung an die Tradition von e.G. Jung arbeitet Eugen Drewermann allgemein archetypische Strukturen religiOser Rede heraus. Demgegenüber berücksichtigt Hartmut Raguse in seiner Methode - in der Tradition von Sigmund Freud - das Unverwechselbare authentischer Lebensgestaltung. 47 Für den Dialog mit der modernen Filmkultur als einem Komplex von Texten, der auf die Rezeption der Betrachter hin offen ist, scheint uns vor allem der Ansatz von Raguse fruchtbar. Zudem bietet dieser methodisch ein Korrektiv zur autoritaren Struktur apokalyptischer Rede, indem sich ihre Wahrheit nicht absolut, sondern erst im Kontext der existentiellen oder politischen Wahrnehmung erschliesst.
47
Raguse, Hartmut: Psychoanalyse und biblische Interpretation. Eine Auseinandersetzung mit Eugen Drewermanns Auslegung der Johannes-Apokalypse, StuttgartBerlin - KOln: Kohlhammer, 1993.
134
Beat A. F611mi
TOD ODER VERKLÃRUNG? Von der Neuen Musik und vom Ende der Musikgeschichte AIn 15. September 1945 wurde in Mittersill, in der Nahe von Salzburg, der osterreichische Komponist Anton Webern durch die Kugel eines amerikanischen Soldaten getotet. Sein Tod war eine tragische Zunmigkeit, denn die Kugel traf ihn aus Versehen und ohne Absicht. Webern starb im Alter von 61 Jahren, er war kaum bekannt und seine Musik selten gespieIt. Er hinterliess ein schmaIes Werk mit nur 31 Nummern, dazu einige Frühwerke und Bearbeitungen. Die GesamteinspieIung seiner Kompositionen nimmt drei CD-Scheiben ein, mit einer Spieldauer von weniger als vier Stunden. 1 Die Musik schien bis zum volligen Verstummen geschrumpft. Was in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts verheissungsvoll und selbstbewusst als Neue Musik angetreten war, hatten zwei Weltkriege und eine barbarische IdeoIogie geschwacht, zerstOrt oder in alle Welt vertrieben. Der krankelnde AIban Berg war bereits 1935 verstorben, Béla Bartók erlag seiner Krankheit ein Jahr nach Weberns Tod, Arnold Schonberg starb 1951 im amerikanischen Exil, ohne - genauso wie Bartók - je wieder europilischen Boden betreten zu haben. Seit dem ersten offentlichen Auftreten der Neuen Musik (etwa im Dezember 1908 beim legendaren Skandalkonzert mit Schonbergs zweitem Streichquartett op. 10) war ihr nahes Ende immer wieder vorausgesagt worden. Voraussetzung so1cher apokalyptischen Prophezeiungen war die allgemeine Überzeugung, dass die europilische Kunstmusik, spatestens seit der Renaissance, in einem ungebrochenen Traditionszusammenhang stehe. Im 19. Jahrhundert verband sich diese Vorstellung mit dem Glauben an den Fortschritt in der Kunst. In diesem Zusammenhang zitierte man gerne den bekannten, zum Schlagwort gewordenen Ausspruch von Richard Wagner: «Kinder! macht Neues! Neues! und abermals Neues! - hangt Ihr Euch an's Alte, so hat euch der TeufeI der Inproduktivitat, und ihr seid die traurigsten Künst1er!»2 l
Anton Webern - Complete Works, Opp 1-31, Dirigent: Pierre Boulez, Sony Classical, 1991.
2
Brief an Franz Liszt, Zürich, 8. September 1852; abgedruckt in: Richard Wagner: Siimtliche Briefe, (hg. im Auftrage der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf), Bd. IV, Briefe der Jahre 1851-1852, Leipzig, 1979, S.460.
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Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde - wer hatte das voraussehen konnen - ausgerechnet das Werk Weberns, dieses stillen Einzelgangers, zum künstlerischen Ausgangspunkt der jungen Generation in Deutschland, Frankreich oder Italien. Diese Komponisten haben Weberns Musik nicht bloss wiederentdeckt, sondern sie in kreativer und eigenwilliger Weise zum sogenannten Serialismus weiterentwickelt und damit zum Ausgangspunkt der Neuen Musik nach dem Krieg gemacht. Der verhaltnismassig kleine, aber im Musikleben tonangebende Kreis der Serialisten nahm in den fünfziger und frühen sechziger Jahren für sich in Anspruch, die «Neue Musik» zu reprasentieren. Die serielle Musik entwickelte sich zu einer hermetisch abgeschlossenen Kunst von Eingeweihten; Komponisten mit anderen sti1istischen oder asthetischen Konzepten wurden nicht zur Kenntnis genommen. Ihren theoretischen Überbau erhielt die Neue Musik von Theodor W. Adorno, der mit seiner 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik ein «apokalyptisches» Offenbarungsbuch schrieb. Die Werke der Neuen Musik blieben bei Publikum und Kritik weiterhin umstritten. Glaubte man vor dem Krieg in Weberns Werk das stille Verloschen der Neuen Musik mit ansehen zu konnen, sagten nun ihre Gegner das Versinken in larmendem Chaos voraus und hofften auf die Ankunft (oder besser Wiedergeburt) der tonalen Musik, die ihrer Meinung nach auf der Tradition von Bach bis Reger oder Richard Strauss beruhen müsse. Als Mitte der sechziger Jahre die pratendierte Alleinherrschaft der seriellen Musik zu Ende ging, schien für manchen tatsachlich eine musikhistorische Zasur, das Ende einer viele Jahrhunderte umspannenden Epoche erreicht, ohne dass man allerdings schon erkennen konnte, wohin die Entwicklung führen sollte.
Das Neue und die Neue Musik Wenn man heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, von Neuer Musik spricht, meint man langst nicht in erster Linie nur die Musik der Jetztzeit (dazu behilft man sich mit zuwei1en phantasievollen Neuschopfungen), sondern die avantgardistische Musik der vergangenen knapp hundert Jahre überhaupt. Ein Grosstei1 der «Neuen» Musik ist deshalb gar nicht mehr eigentlich neu und wird dazu immer alter, so dass man - mit Adornos Worten - konstatieren muss: Die Neue Musik kann anscheinend nicht altern. 3 Diese Situation hat etwas Irritierendes. Denn die Geschichte der Kunst, und der Musik im speziellen, wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine stetige Folge von Neuerungen verstanden. Seit der Entwicklung der Mehrstim3
Adorno, Theodor W.: «Das Altern der Neuen Musik» (1954), in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Gottingen, 1956, S. 120-143, (= Gesammelte Schriften, Bd. 14, S. 143-167).
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migkeit im 11. Jahrhundert erhob jede Musikergeneration den Anspruch, «neue Musik» zu machen, weil sie ihre eigene Musik im Vergleich zu der ihrer Vorganger als «neu» empfunden hat. So nannten die Musiker um 1320 ihre Kunst «Ars nova», Adrian Willaert veroffentlichte 1559 seine Musica nova, Vincenzo Galilei (der Vater des berühmten Naturwissenschaftlers) verfasste 1581 einen programmatischen Dialogo [ ... ] della musica antica, et della moderna, Giulio Caccini überschrieb seine 1601 erschienenen Monodien mit dem Titel Nuove musiche, und Beethoven sprach 1802 hinsichtlich seiner Eroica-Variationen op. 35 von einem «neuen Weg».4 Die Anforderung, Neues hervorbringen zu müssen, wurde in der europaischen Musikgeschichte seit dem spaten Mittelalter zu einem Motor der Entwicklung, wobei das Neue nur dann Legitimitat beanspruchen konnte, wenn es «natürlich» aus dem A1ten herausgewachsen war, wenn es auf dem Vorangegangenen aufbaute. Was unterscheidet die Neue Musik des 20. Jahrhunderts von der neuen Musik, die jede vergangene Zeit immer wieder hervorgebracht hat? Es lohnt sich, hierzu die Geschichte des Begriffs «Neue Musik» naher zu betrachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lautete der übliche Terminus zur Bezeichnung der damals aktuellen Musik «moderne Musik» und zur Bezeichnung der Epoche «die Moderne». Den Begriff «neue Musik» brachte 1919 als erster der Musikkritiker Paul Bekker auf, der darunter ganz einfach die Musik der vergangenen zehn J ahre verstand. In diesem primar zeitlichen Sinn verwendeten ihn in den zwanziger Jahren verschiedene Musikschriftsteller, wobei manchmal eine polemische Komponente mitschwingen konnte. Retrospektiven Charakter tragt auch das Jahrbuch der Wiener Universal Edition, das 1926 unter dem Titel 25 Jahre Neue Musik5 erschien. Etwa gleichzeitig kamen in anderen Gebieten der Kunst ahnliche Begriffe wie «Neue S achlichkeit» , «Neues Bauen» oder «Neue Âsthetik» auf. Eine profiliertere Bedeutung gewann die Bezeichnung erst in einem 1920 veroffentlichten Artikel von Béla Bartók über «ProbIeme der Neuen Musik»6. Darin meint «N eue Musik» einen kIar umrissenen Ausschnitt der musikalischen Produktion der letzten J ahre: die Musik der in den achtziger J ahren geborenen franzosischen und deutschen Komponisten, aIso etwa die musikalischen «Expressionisten». Der Musikwissenschaftler Hans Mersmann unterschied 1927 verschiedene Richtungen der Neuen Musik: eine blutleer konstru4
Vgl. dazu Piersig, Johannes: Das Fortschrittsprobiem in der Musik um die Jahrhundertwende. Von Richard Wagner bis Arnoid Schonberg, (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 53), Regensburg, 1977, und Follmi, Beat: Tradition ais hermeneutische Kategorie bei Arnoid Schonberg, Bem - Stuttgart -Wien, 1996, S.35-37.
5
25 Jahre Neue Musik, Jahrbuch 1926 der Universal Edition, Wien 1926.
6
Bartók, Béla: «Probleme der Neuen Musik», in: Meios l (1920), S. 109; neu abgedruckt in Meios 25 (1958), S. 8-9.
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ierte (mit Arnold Sehõnberg und seinen Sehülern), eine brutal exotisehe (mit Strawinsky, Hindemith und Bartók) und eine nicht naher bestimmte «neue Saehliehkeit».1 Diesen Einteilungen war eines gemeinsam: Unter «Neuer Musik» verstand man nun in Deutsehland nur noeh die Werke der fortsehrittliehen Komponisten wie Sehõnberg, Strawinsky oder Bartók, nicht aber von Komponisten wie Riehard Strauss oder Hans Pfitzner, obwohl alle zur selben Zeit künstleriseh tatig waren. Die «Neue Musik» wurde zum Sehlagwort und zur Kampfparole; die Gross- beziehungsweise Kleinsehreibung oder die Hervorhebung dureh Anführungsstriche signalisierten aueh ausserlieh, dass der verhandelte Gegenstand ernstlieh umstritten war. Dies gilt in besonderem Mass für die Musik von Arnold Sehõnberg und seiner Sehüler. Das Neue Musiklexikon, 1926 von Alfred Einstein herausgegeben, nannte denn aueh Sehõnberg den eharakteristisehen Reprasentanten und Exponenten der Neuen Musik. Sehõnbergs Kompromisslosigkeit in künstlerisehen Fragen maehte ihn zum Hauptangriffsziel der Gegner der Neuen Musik. Die Tatsaehe, dass er Jude war, kam der polemisehen Diskussion noeh entgegen, konnte do eh so die Entartung der Neuen Musik mit der These von der Minderwertigkeit der jüdisehen Rasse untermauert werden. Trotz des zunehmend polemisehen Untertons wurde der Ausdruek «Neue Musik» bald zur Selbstbezeiehnung des Sehõnbergkreises. Für Anton Webern war der Ausdruek sogar eine so hohe Auszeiehnung, dass er ihn aussehliesslieh für die Musik seines Lehrers und dessen Sehülersehaft verstanden haben wollte. In einem 1933 gehaltenen Vortrag spraeh er deutlieh aus, was er unter «Neuer Musik» verstand: «Es ist die dureh Sehõnberg heraufgekommene Musik und die von ihm erfundene Kompositionsteehnik, die seit etwa zwOlf Jahren besteht und die er selbst bezeiehnet als > ... Es ist, als würden wir unser Jetzt «mit uns nehmen, als würde es Vergangenheit und Zukunft in sich aufnehmen und autheben, als wãre es, ohne Zeit zu sein, die ewige Quelle der Zeit, in der es uns moglich ist, ohne zu verstehen, die Dauer unseres Lebens zu er1eben im Wissen um unseren Tod.»87 Sich der Gegenwart des Todes zu stellen kann manchmal auch heissen, vorhandenes medizinisches Wissen über den Sterbeprozess zu nutzen, auch um nahe Menschen, die vor mir sterben müssen, gegebenenfalls beim Sterben besser begleiten zu konnen. Hatte ich zur rechten Zeit mehr darüber gewusst «Wie wir sterben»88, so hatte ich mei nen sterbenden Vater wahrscheinlich noch ofter besucht, weil ich dann den Beginn des Sterbeprozesses klarer realisiert hatte. Die Gedanken der zitierten beiden Philosophinnen und der Tiefenpsychologin - vermutlich ist es kein Zufall, dass es sich hier um drei Frauen handelt - zum Umgang mit Zeit und Endlichkeit sprechen für sich. Sie stellen selbst die Verbindung her zu den uns bedrohenden apokalyptischen Entwicklungen, geben uns aber auch Mittel an die Hand, uns zu prüfen, inwiefern wir personlich zu solchen Entwicklungen beitragen und was wir andern müssen, damit «sich etwas andert». «Zukunft unter Zeitdruck» kann dann nur heissen, dass die Zeit drangt, an die Stelle der Ausbeutung der Zukunft die von Marianne Gronemeyer beschriebene andere Art der «radikalen Vergegenwãrtigung» zu setzen, die Jeanne Hersch auf ihre Weise die «ewige Quelle der Zeit, ohne selbst Zeit zu sein» nennt.
86 AaO., S. 300f. 87 AaO., S. 302. 88 Nuland, Sherwin B.: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? München: Knaur, 1994. 186
Die notwendigen gesellschaftlichen Veranderungen setzen Menschen voraus, die nicht schon mit dem Gefühl, zu kurz zu kommen, aufgewachsen sind. Die Psychologie der Angst und die Entwicklungspsychologie stellen viel Wissen bereit, worauf es im Umgang mit Kindern ankommt, damit sie zu reifen Menschen heranwachsen kõnnen. Die Versuchung scheint gross zu sein, aus Verzweiflung über die apokalyptischen Entwicklungen der Gegenwart von den Kindern in der Zukunft die Wende zu erhoffen, wo sie überhaupt noch erhofft wird. Ich denke, es ist hier gelungen zu zeigen, dass die IntegriHit unserer Kinder Voraussetzungen hat, zu welchen wir in der Gegenwart Wesentliches beitragen müssen - es aber auch kõnnen: Dies ist vielleicht in psychologischer Sprache die Konkretisierung unserer «schwachen messianischen Kraft» , die Wa1ter Benjamin gemeint hat. Das Kind als Heilbringer ist ein altes Motiv; seine Bedeutung im christlichen Glauben ist bekannt: Der Messias wird als Kind geboren, und auch fromme Juden begrüssen jeden neugeborenen Knaben mit der Hoffnung, dieser kõnnte der Messias sein. In unserer Zeit hat Michael Ende mit seinem preisgekrõnten Marchen von dem Madchen Mom0 89 ei ne Geschichte geschaffen, in der dieses Kind, das eigentlich ein verlassenes Kind war, durch seine reife Menschlichkeit, in der etwas Gõttliches aufscheint, die Welt vor den grauen Mannern, den Zeitdieben, rettet und die von ihnen gestohlenen Zeitblumen durch sein mutiges und vertrauensvolles Handeln ihren Besitzern zurückbringt. Momo kõnnte ein Bild sein für den gelingenden Umgang mit Angst und Zeit unter apokalyptischer Bedrohung. Kõrtner verstand Apokalyptik als eine Botschaft der Hoffnung und als «Seelsorge an den Geangstigten»90, aus der Überzeugung heraus, dass nur Menschen, die den Tatsachen ins Auge sehen, der mit diesen Tatsachen verbundenen Angst standhalten und dennoch hoffen kõnnen, in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Es ist kein Zufall, dass der hier dargeste11te Beitrag der Psychologie zur Bewaltigung eines Lebens unter «apokalyptischer» Bedrohung und zu wirkungsvollem Handeln, das die Bedrohung abmildern oder gar beseitigen kõnnte, sich mit religiõsen Vorstellungen berührt, die sowohl die hoffenden und leidenden Menschen als auch die We1t, den Kosmos, religiõs gesprochefi, die Schõpfung, die wir zerstõren, im Blick haben. Geht man jedoch als wacher Zeitgenosse durch die Welt, so drangt sich die Furcht auf, dass vielleicht beide nicht - weder das Wissen der Psychologie noch die Botschaft der Religionen hinreichen, um die verderblichen komplexen Entwicklungen zu stoppen, die 89 Ende, Michael: Momo - oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein MiirchenRoman, Stuttgart: Thienemann, 1993. 90 Kortner, Ulrich H.J.: Weltangst und Weltende, Gottingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1988, S. 307-316.
187
sieh auf eine globale õkologisehe Katastrophe zuzubewegen seheinen. Um nur ein Beispiel sozusagen vor unserer Haustüre zu nennen: Wenn das viele Mensehen qualende Problem der Arbeitslosigkeit dadureh vorübergehend entseharft wird, dass aufs neue überall auf der Welt die Autoindustrien boomen, und wenn auf derselben Linie die Partei der Grünen bei einer Landtagswahl in Deutsehland abgewahlt wird, weil sie eine merkliehe Erhõhung der Benzinpreise vorsehlagt, dann bereitet mir das angesichts unseres Wissens um den Treibhauseffekt und der Uiglieh spürbaren Gefahren für Gesundheit und Leben, die vom maneherorts kollabierenden Autoverkehr ausgehen, Beklemmungen. Ganz zu sehweigen von den aberwitzigen Brandrodungen in Südostasien oder der Vernichtung des tropisehen Regenwaldes rund um den Globus - dies alles aktuelle Ereignisse des Jahres 1998! Wie die Ethiken von Judentum und Christentum, setzt aueh die Psyehologie, selbst noeh, wo sie systemiseh denkt und therapeutiseh aueh systemiseh vorgeht, beim Individuum und seinen Mõgliehkeiten der Verhaltensanderung an. Das war sehon immer ein Dilemma, denn so sehr der Einzelne «Tater» und Gestalter ist, ist er immer aueh Opfer oder Abhangiger von systemisehen Gegebenheiten. Das dürfte einer der tiefen Gründe sein für die Erlõsungssehnsueht und die Erlõsungshoffnung in den Religionen und in den apokalyptisehen Bewegungen der Religionsgesehichte, dass Gott die Rettung bringen wird, weil er nieht das Chaos über seinen Kosmos siegen lassen will. Die Anthropologien aller drei biblisehen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, gehen davon aus, dass der sündige Menseh letztlieh weder seine eigene Rettung no eh die Rettung der Welt vollbringen kann. Apokalyptik als ei ne Botsehaft der Hoffnung und als «Seelsorge an den Geangstigten» zu verstehen ist zweifellos ein ehristlieh-glaubiger Umgang mit den Bedrohungen, unter denen wir leben. Wer als Psyehologe oder Therapeutin im Judentum, Christentum oder im Islam beheimatet ist, wird die Hoffnung dieser Religionen teilen und sie mit seinem gediegenen Saeh- und Handlungswissen verbinden. Wer sich als Psyehologin oder Therapeut nicht im religiõsen Sinn als glaubig versteht, sein Handwerk aber ernst nimmt und es in den ihm oder ihr auferlegten Grenzen gegen die Zerstõrung von Welt und Mensehen einsetzt, wird dem Einzelnen, der zu ihm kommt, alle ihm mõgliehe Hilfe und allen Beistand angedeihen lassen. Er oder sie wird das im Bliek auf die globale Entwicklung tun wie Sisyphos, der den Stein hinaufwalzt, von dem er weiss, dass er immer wieder herabfallt. Sowohl das Verstandnis der «Seelsorge an den Geangstigten» im Sinne Kõrtners als aueh die psyehologisehe, nicht explizit religiõs gebundene Art der «Seelsorge» im Wissen um die apokalyptisehen Bedrohungen unserer Zeit muss der Fullersehen «heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesieht der õkologisehen Katastrophe» trotz des aufgezeigten Dilemmas der Verwobenheit von System und Einzelnem widerspreehen. Zwar geht es sieher aueh darum, gerade die Einzelnen eine ars moriendi neu zu lehren in einer Zeit, wo der Tod soweit 188
wie moglich verdrangt wird. Aber wie Fuller zu postulieren, dass wir als Gattung ei ne «Kunst des Sterbens» lernen müssten, weil es bereits definitiv «zu spat» sei, die finale Katastrophe abzuwenden, ware apodiktisch und zynisch. Fullers suggestiv geschriebener bereits zitierter Essay über «Das Ende»91 verführt angesichts rund um den Globus nahezu taglich geschehender wahnsinniger Entscheidungen und Katastrophen zunachst zur Zustimmung. Fuller stellt evolutionstheoretische und geschichtsphilosophische Überlegungen an und fragt, ob die biologisch-psychische Ausstattung des Menschen nicht von vorneherein überfordert ist mit der Last globaler Verantwortung, die ihm nun aufgeladen ist. Hier zu pessimistischen Antworten zu kommen, liegt nahe. Bruno Kern, der sich in einer Rezension mit Fuller kritisch auseinandersetzt, zeigt, dass eine «heitere Hoffnungslosigkeit» als Inbegriff der von Fuller propagierten ars moriendi nur so lange Plausibilitat hat, als es um das eigene Ende geht. «Sobald das - katastrophische - Ende der Anderen in den Blick kommt und wirklich angemessen gedacht wird, schlagt die ars moriendi in Zynismus um.»92 Kern illustriert das mit den Ergebnissen einer vom Münchner Fraunhofer Institut für die EG-Kommission erarbeiteten Studie zum derzeitigen Trend der Erderwarmung, der, «sofern er nicht durch entschiedene politische Massnahmen eingedammt wird, bis zum Jahr 2030 unter anderem 900 Mi1lionen bis 1,8 Mi1liarden (!) zusatzlicher Hungertoter zur Folge haben wird.» Kern prazisiert: «Dm ihren Tod geht es also, dies sind konkret die Menschen (zum Grossteil im armen Süden der Erde) , denen Fuller die ars moriendi empfiehlt.»93 Kern kann zeigen, dass einige Hauptthesen von Fuller auf schwachen Beinen stehen, und er fragt daher ideologiekritisch, wer moglicherweise ein Interesse daran haben konnte, dass es bereits zu spat ware. «Die berufsmassigen Verharmloser und die Fatalisten dienen - wenigstens objektiv - demselben Ziel, namlich wirkungsvolle, durchaus mogliche Massnahmen zu verhindern.»94 Fuller weist auch jede Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit an okologischen Katastrophen als i1legitim zurück, womit er die Geschichte renaturalisiert und eine der wichtigsten Errungenschaften der Aufklarung, eben das Bewusstsein von Verantwortlichkeit und Selbstverantwortung des Menschen, preisgibt. Wenn unsere Zivilisation einfach «passiert», ohne Schuld 91 Siehe oben Anm. 41, S. 120, am Schluss des zweiten Kapitels: «Endzeiterfahrungen» und apokalyptische Analogiebildungen und die Relevanz des apokalyptischen Denkens heute.
92 Kern, Bruno: Endzeitstimmung. (Eine Rezension zu Gregory Fuller, Das Ende. Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der okologischen Katastrophe. Zürich: Amman, 1993 und zu Anton-Andreas Guha, Der Planet schHigt zurück. Ein Tagebuch aus der Zukunft, Gottingen: Steidl, 3. Auf1. 1996) In: Concilium. Internationale Zeitschriftfür Theologie, 33. Jahrgang, Heft 5, November 1997, S. 680 - 684.
93 Kern, Bruno: Endzeitstimmung, in: Concilium 33, Heft 5, November 1997, S. 682. 94 AaO., S. 681. 189
und Verantwortung, dann, so sagt Kern zu recht, wãre auch Auschwitz «einfach passiert». Moglicherweise ist es für vieles zu spat, moglicherweise sind zahlreiche apokalyptischen Entwicklungen nicht mehr aufzuhalten. Doch kein Mensch kann apodiktisch sagen, dass es für alles zu spat sei. Dass es keine Schuld und Verantwortung geben sollte, widerspricht der Alltagserfahrung genauso wie philosophischer, anthropologischer und psychologischer Reflexion. Wir leben unter «apokalyptischer» Bedrohung in einem gewaltigen Dilemma. Und doch ist zu warnen vor allen Propheten, die vorgeben, dieses Dilemma auflosen zu konnen, sei es durch einen militanten Messianismus oder durch Fatalismus: Die Arbeit mit und für den Einzelnen, in der Hoffnung, durch viele Einzelne die gesamte Menschheit zu verandern, ist der legitime und gebotene Weg, mit dem Dilemma zu leben. Im Talmud findet sich ein Satz, den die von Os kar Schindler vor den Nazis geretteten Juden in einen goldenen Ring eingraviert haben, den sie ihm am Ende des Krieges als Dank zum Geschenk machten. Er lautet: «Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.» Ein weiser Umgang mit diesem Satz führt zu politischem Handeln, das gegen Vernichtung Widerstand leistet.
190
Béatrice Acklin Zimmennann
VON WEGEN ins neue Jahrtausend! Endzeiterwartungen und -angste im spaten und ausgehenden Mittelalter Glaubt man der õffentlichen Meinung zur Zukunft, so gestaltet sich diese als ein reines Horrorszenario: Zukunft wird gleichgesetzt mit geklonten Menschen, õkologischem und wirtschaftlichem Kollaps, drastischem Sozialabbau, eklatanter Arbeitslosigkeit, wachsender JugendkriminaliHit und zunehmendem Fremdenhass. U ngleich eindringlicher als jede Kapuzinerpredigt zwingt die tãgliche Zeitungslektüre und Nachrichtensendung zur Gewissenserforschung: «Was tust du gegen das Ozonloch, gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Wie hãltst du's mit den Fremden?» Da ist kein Reden über die Natur, das nicht - wenn es «zukunftsethisch» Bestand haben will - zumindest die Sorge um das Baumsterben ãussert. Offentlich von der Jugend reden darf nur, wer die zunehmende Gewalt auf dem Schulhof problematisiert. Dass solche düsteren Aussichten auf die Dauer nicht auszuhalten sind, liegt auf der Hand. Von der õffentlichen Zukunft, die einem kaum eine Chance lasst, zweigt man sich eine private Zukunft ab, mit der man hoffnungsvoll die Realisierung einer Reise, den Bau eines Hauses oder das Heranwachsen der eigenen Kinder verbindet. Die Zukunft zerfãIIt heutzutage in eine õffentliche und eine private, gleichzeitig driften die Reichweite des vermeintlichen Wissens um die õffentliche Zukunft und die Reichweite mõglichen Handelns drastisch auseinander. 1 Wãhrend dieses Ungleichgewicht die gegenwãrtige Gesellschaft des 20. Jahrhunderts kennzeichnet, waren menschliche Handlungsmõglichkeiten in früheren Zeiten gewissermassen durch Nichtwissen geschützt. Das Handeln blieb mit dem Nahbereich verknüpft, die Zukunft wurde nicht in eine private und eine õffentliche aufgespalten. Die Mehrzahl der in materieller Armut lebenden mittelalterlichen Menschen verband mit der Zukunft die unmittelbar bevorstehende Zeit, oftmals den nãchsten Tag und damit das Bangen um das tãgliche Brot und die Angst vor Naturkatastrophen und Hungersnõten. In einer Welt, in der die Naturgewalten als Ausdruck des Zornes Gottes über die sündigen Menschen betrachtet wurden, drãngte sich das Thema der Okologie gar nicht auf. Stattdessen versetzten die im Mittelalter grassierenden Krankheiten wie das sogenannte Antoniusfeuer, die Schwarze Pest oder die Lepra die l
Vgl. Safranski , Rüdiger: Warum die Vergangenheit meinen Bedarf an Zukunft deckt, in: Sloterdijk, Peter: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukun!t, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 197f.
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Menschen in Angst und Schrecken. Mit der standigen Furcht vor den Seuchen, welche als Widerspiegelung der verschmutzten Seele galten, verband sich die Angst, als von der Krankheit gezeichneter Mensch sozial ausgegrenzt zu werden. 2 In einer Zeit, in der niemand an der jenseitigen Welt und dem dortigen Weiterleben der Verstorbenen zweifelte, konzentrierten sich die Ãngste nicht so sehr auf den durch die hohe Kindersterblichkeit und die zahlreichen Epidemien a11gegenwartig scheinenden Tod, als vielmehr auf das nachfolgende Gericht Gottes und die Qualen der Hõ11e. Die eigentliche Bedrohung sahen diese Menschen in ihren eigenen Sünden, denn für diese würden sie letztendlich zur Rechenschaft gezogen werden. 3 Die grosse Angst der mittelalterlichen christlichen Bevõlkerung vor der drohenden Invasion fremdlandischer Horden wie der Mongolen oder Türken barg deshalb auch immer die Befürchtung in sich, dass diese «Unglaubigen» eine unmittelbare Bedrohung für den eigenen Glauben darste11ten und deshalb entweder vernichtet oder bekehrt werden müssten. Angesichts dieser vielfaltigen Nõte, Gefahren und Bedrohungen blickten die mittelalterlichen Menschen dem im Evangelium angekündigten Weltende nicht nur mit Angst, sondern zugleich auch mit Hoffnung entgegen. Wie man in der Geheimen Offenbarung las, würde wohl mit der Ankunft des Antichristen Zerstõrung und Verderben über die Welt kommen, doch nach diesen schrecklichen Wirren würde eine dem Jüngsten Gericht vorausgehende friedliche Zeit eintreten, in der die leidgeprüften Menschen endlich glücklich und in Frieden leben kõnnten. 4
I.
Begegnen in der Geschichte des Christentums 5 von a11em Anfang an und immer wieder vereinzelte apokalyptische Vorste11ungen, die zumindest untergründig stets vorhanden waren und besonders in Krisenzeiten an die Oberflache kamen, so lasst sich ein ausgepragtes endzeitliches Bewusstsein erst ab dem 12. Jahrhundert und bis weit ins 16. Jahrhundert hinein beobachten. Dagegen hat sich die Ko11ektivangst, die im Hinblick auf das Jahr 1000 unter den Menschen ausgebrochen sein so11, im nachhinein als ein Konstrukt a11zu eifriger Geschichtsschreiber erwiesen. Wohl traten sporadisch Gruppierungen auf, 2
Vgl. Duby, Georges: Unseren Angsten au! der Spur. Vom Mittelalter zum Jahr 2000, (aus dem Franzosischen übersetzt von Martina Meister), KOln: DuMont
Buchverlag, 1996, S. 77ff. 3
Vgl. aaO., S. 128f.
4
Vgl. aaO., S. 20f.
5
Innerhalb des hier gebotenen Rahmens beschranken sich die folgenden Beobachtungen zu endzeitlichen Vorstellungen in der Geschichte auf jene des Christentums, wl:ihrend etwa die jüdische Apokalyptik ausgeklammert bleibt.
192
die von einem nahen Weltende wissen wollten, doch überwaltigend scheint die mit dem Jahr 1000 gesteigerte Endzeiterwartung nicht gewesen zu sein. 6 Entsprechend bescheiden ist denn auch das apokalyptisch eingefarbte Schrifttum jener Zeit, von dem einzig der Antichrist-Traktat des Abtes Adso von Montieren-Der aus der Mitte des 10. Jahrhunderts eine gewisse Popularitat erreichte. 7 Gleich den viel spater entstandenen apokalyptischeri Schriften entwirft auch dieser Traktat eine ganz bestimmte Abfolge des Endzeitdramas: Nach dem Tode Christi bleibt den Menschen bis zum Weltuntergang nur noch eine begrenzte Zeitspanne gewahrt. Der Weltuntergang ist nicht datierbar, jedoch gehen ihm deutliche Vorzeichen in Form von Kriegen, Seuchen, Hungersnoten und eines generell moralischen Zerfalls voraus. Wahrend einige Autoren apokalyptischer Schriften dann ein tausendjahriges Friedensreich erwarten, erscheint für andere sogleich der Antichrist, der in allem Jesus Christus nachahmt und sich als Messias ausgibt. Nachdem Christus selbst eingegriffen und den Antichristen vernichtet hat, gewahrt er den Auserwahlten noch eine bestimmte Frist zur Umkehr und Busse, bevor das Jüngste Gericht beginnt.
/l.
Wahrend solche Gedanken vom Weltende um das Jahr 1000 die Ausnahme zu sein schienen, prasentierte sich das Bild in den nachfolgenden Jahrhunderten, die durch einschneidende soziale und religiose Umwalzungen gekennzeichnet waren, ganz anders: Waren es im 14. Jahrhundert Ereignisse wie die Pest und das grosse abendlandische Schisma, wahrend dessen sich der Papst zu Rom und jener in A vignon gegenseitig verfluchten und mit Bann und Interdikt dem Gegner den Teufel heraufbeschworen, die einer apokalyptischen Grundstimmung reichlich Nahrung verliehen,8 so entstanden endzeitlich ausgerichtete Bewegungen vor allem ein Jahrhundert zuvor: Und zwar im Zusammenhang mit den in Umberto Ecos «Name der Rose» unlangst zu einer zweifelhaften Berühmtheit gelangten Irrungen und Wirrungen des Franziskanerordens, wo sich der Kampf um das Armutsideal mit klaren Endzeitvorstellungen verband. Dass Papst Johannes XXII. (1244 -1334) die strenge Auslegung des in der ersten Monchsregel und im Testament des Franz von Assisi festgelegten Armutsideals zurückwies und schliesslich verbot, deutete der radikale Flügel des Franziskanerordens als untrügliches Zeichen dafür, dass das Papsttum unmittelbar 6
V gl. Lot, Ferdinand: Le mythe des terreurs de ['an mille, in: Recueil des travaux historiques de Ferdinand Lot 1, Geneve: Droz, 1968, S. 398 - 414.
7
V gl. Konrad, Robert: De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellungen und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der, (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte, Bd. 1), Diss., Kallmünz: Lassleben, 1964.
8
Vgl. Delumeau, Jean: La peur en Occident: XIVe - VlIIe siecles, Paris: Fayard, 1978.
193
vor seiner Ablõsung durch das in Kürze anbrechende Tausendjahrige Friedensreich stand und der Kampf von Johannes XXU. gegen die getreuen Anhanger des Franziskus ein letztes Aufbaumen gegen das nahe Ende der Papstherrschaft bedeutete. 9 Seine Wurzeln hatte dieses apokalyptische Endzeitbewusstsein im geschichtstheologischen Konzept des calabresischen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (1135-1202). Aufgrund der Bibel glaubte Joachim zu wissen, dass die Geschichte nach einem trinitarischen Schema verlaufen würde: Auf die Epoche des Vaters, des Alten' Testaments, des Gesetzes und der Laien folgte das Zeitalter des Sohnes, des Neuen Testamentes, der Gnade und der Kleriker. Nachdem der Antichrist, dessen Kommen unmittelbar bevorstünde, überwunden sei, würde die Epoche des Hl. Geistes, des Ewigen Evangeliums und der Freiheit anbrechen. Die Trager dieses dritten Zeitalters, das als Millennium alle Freuden des Himmlischen Jerusalem bieten und bis zum Jüngsten Gericht andauern würde, waren nunmehr die Mõnche. 1O Die Vorstellung Joachims, dass der Stand der Mõnche die künftige Geistkirche regieren und diese als die bedeutenden Akteure auf der Bühne der Letzten Tage auftreten würden, um sich dem Antichristen entgegenzustellen und das neue Zeitalter vorzubereiten, fand bei den Franziskanern grossen Anklang und rief bei vielen eine so starke Identifikation hervor, dass sie als Vorlaufer der Geistkirche, als «Spiritualen», auftraten, um aus endzeitlicher Erwartung heraus harsche Kritik an Kirche und Papsttum zu üben und lautstark die Forderung nach Umkehr und Busse zu erheben. Mit der Propagierung der joachimitischen Weissagung von der bevorstehenden neuen Ara, in der der Papstherrschaft ein Ende gesetzt und das Regiment der Kirche von den Mõnchen geführt werden sollte, begab sich der radikale Flügel der Franziskaner unweigerlich in Frontstellung zur Kurie. Diese sah sich allein durch die Tatsache, dass die augustinische Dreizeitenlehre bei Joachim von Fiore umgestaltet und das bislang nach dem Weltuntergang angesetzte dritte Zeitalter ins Diesseits vorverlegt worden war, auf ungewohnte Weise herausgefordert. Exemplarisch tritt das kirchenpolitische Sprengpotential, das die joachimitischen Ideen in sich bargen, im Apokalypsenkommentar des Franziskaner-Spiritualen Petrus Olivi (1247/48-1298) zutage: Seine kirchenpolitische Ausbeutung der Lehre Joachims gipfelt darin, dass er in Franziskus den wahren N achfolger Christi, der das Geistzeitalter einleitete, erkennt und im Papst das apokalyptische Tier, den Antichristen, erblickt. ll Wenn auch die kirchliche Verurteilung dieser Schrift 9
Vgl. Oberman, Heiko: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin: Severin und Siedler, 1982, S. 65.
10
Vgl. Grundmann, Herbert: Studien über Joachim von Fiore, (Beitrage zur Ku1turgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 32), Leipzig - Berlin: Anton Hiersemann, 1927, (unveranderter Nachdruck: Darmstadt 1966).
II
Vgl. Manselli, Raoul: La «Lectura super Apocalypsim» di Pietro di Giovanni Olivi, Roma: Istituto Storico Italiano per íl Medio Evo, 1955.
194
erst nach dem Tode Olivis erfolgte, so verfestigte sich die ablehnende Haltung der Papstkirche gegen endzeitlich orientierte Bewegungen und erlebte ihren (vorlaufigen) Hõhepunkt darin, dass sie die «revolutionare» Anhangerschaft des Fra Dolcino, die sogenannten Apostelbrüder, welche in der Lombardei jahrelang gegen die Klerikerkirche kampfte und die letzte Weltzeit mit Gewa1t herbeizuführen versuchte, als Haretiker verdammte und verfolgte. 12 Der Argwohn und die grundsatzlich ablehnende Ha1tung der Kirche gegenüber Endzeitbewegungen jeglicher Art konnte nicht verhindern, dass solche bei den Menschen des 13. Jahrhunderts regen Zulauf fanden. Die joachimitischen Ideen begünstigten die apokalyptische Grundstimmung jener Zeit, die sich angesichts der drohenden Invasion der Mongolen, der Ohnmacht gegenüber der Natur, der wütenden Seuchen, der materiellen Not, der Gewalttatigkeit der Ritter und des militarisch-politischen Kraftemessens zwischen Kaisertum und Papsttum ausbreitete. Entsprechend stiessen die endzeitlich aufgeladenen Busspredigten der Franziskaner, die vorgaben, durch Busse das bald hereinbrechende gõttliche Strafgericht abwenden zu kõnnen, beim Volk auf offene Ohren. 13 Endzeitlich orientierten Strõmungen wie etwa den Geisslern, die im Epochenjahr Joachims 1260 in Mittel- und Oberitalien auftraten und halbnackt, mit Geisseln in den Handen, Bussgesange anstimmten, um Gottes Erbarmen zu erwirken, schlossen sich Menschen aus allen Teilen der Bevõlkerung an. Dass auch Frauen an endzeitlichem Gedankengut nicht nur lebhaftes Interesse bekundeten, sondern zuweilen in apokalyptische Vorstellungen einbezogen wurden, beweist das Beispiel zweier Nonnen im 13. Jahrhundert, die umherzogen und das künftige Reich des Geistes verkündeten: Wahrend Vilemina, die Tochter des bõhmischen Kõnigs, bald nach ihrem Tod von ihrer Anhangerschaft als Inkarnation des Hl. Geistes verehrt wurde, trat Schwester Mayfreda aus dem Orden der Humiliaten noch zu Lebzeiten als Papstin auf, welche die Juden bekehrt, die Kirche reformiert und ein neues Zeitalter in Begleitung weiblicher Kardinale einleitet. 14 Auch wenn nur wenige der Endzeitvorstellungen und -erwartungen der Menschen im 13. Jahrhundert so kühn ausfielen, so wirkten sie hinsichtlich der sichtbaren kirchlichen Ordnung allesamt destabilisierend: Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltendes und der Hoffnung, die sich mit dem danach anbrechenden, besseren Zeita1ter verband, drohte die Klerikerkirche 12
13
14
Vgl. Reeves, Marjoril: The lnfluence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford: Clarendon Press, 1969. Vgl. Kirn, Hans-Martin: Antijudaismus und spatmittelalterliche Bussfrommigkeit: Die Predigten des Franziskaners Bernhardin von Busti (um 1450-1513), in: Zeitschriftfür Kirchengeschichte 108 (1997), H. 2, S. 147-175. Muraro, Luisa: Vilemina und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Haresie, (aus dem Italienischen übersetzt von Martina Kempter), Freiburg i.Br.: Kore, Verlag Traute Hensch, 1987.
195
mit ihren Dogmen und ihrer Heilsvermittlung durch die Sakramente an Bedeutung zu verlieren. Und weil sich das Papsttum, das sich jegliche Spekulation über den Eintritt der Endzeit versagte, von zahlreichen Endzeit-Gruppierungen in seinen Grundfesten angetastet sah, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als in einigen Fallen das Urteil der Hãresie zu verhangen. Umgekehrt gingen im ausgehenden 13. Jahrhundert manche Spiritualen in ihrem Kampf gegen die sichtbare Kirche so weit, im Papsttum die Inkarnation des Bosen zu erblicken. Dass viele in den Juden, deren soziale Ausgrenzung in dieser Zeit merklich voranschritt, die Gefolgsleute des Antichristen erkannten,15 führte dazu, dass der Antijudaismus zum integralen Bestandteil der endzeitlich motivierten Busspredigten wurde und die Idee von der «Unheilskette» von Papst und Juden aufkam.
IIl.
Gewann die Vorstellung vom Antichristen, der damit verbundenen Endzeit und dem darauf folgenden Friedensreich mit unterschied1icher Intensitat und in unterschiedlichen Intervallen Einfluss auf die Geschichte der Kirche, so war die Erwartung einer Zeitenwende im 16. Jahrhundert von besonderer Heftigkeit und Reichweite. Dies widerspiegelt sich nicht zuletzt in der Bildkunst, den zahlreichen Flugschriften wie auch den geistlichen Spielen dieses Jahrhunderts. Viel mehr a1s lange Zeit angenommen, wirkte sich das endzeitliche Bewusstsein dieser Zeit auch auf Martin Luther (1483 - 1546) und seine theologische Arbeit aus. 16 Obwohl Luther wiederho1t seine Bedenken bezüglich apokalyptischer Traditionen ausserte, fand die Vorstellung vom Antichristen als untrüglichem Zeichen der Endzeit schon in der frühen Phase seines Schaffens Eingang in seine Schriften. Zwar deutete der Refonnator, nachdem er im Herbst 1517 seine aufsehenerregenden Thesen über den Ablass veroffentlicht hatte, diese Zeit noch als eine Periode der trügerischen Ruhe vor dem Stunn des Antichristen, in der die wahren Christen wachsam sein und sich vor Selbstgerechtigkeit hüten sollten. Doch bereits im darauffolgenden Jahr ausserte Luther im Streit um das Busssakrament und in der anschliessenden Auseinandersetzung um die dreifache kirchliche Gewa1t des Papstes den Verdacht, dass sich in der romischen Kurie der Antichrist verberge. Als der Papst 1520/21 sein endgültiges Verdammungsurteil ausgesprochen hatte, identifizierte Luther ihn eindeutig mit dem in 2 Thess 2,3ff. genannten Widersacher Christi. 17 Im 15 Vgl. Gow, Andrew Colin: The red Jews. Antisemitism in an apokalyptic Age. 12001600, Leiden - New York - KüIn: E. J. Brill, 1995, S. 103ff.
16 V gl. Hofmann, Hans-Ulrich: Luther und die Johannes-Apokalypse, Diss. Erlangen, 1977, Tübingen: Mohr, 1982. 17
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 624ff.
196
Zusammenhang mit seiner Vorstellung von dem in die Kirche eingedrungenen Antichristen, die aufgrund der mittelalterlichen apokalyptischen Traditionen versHindlich war und beim Volk und vielen Theologen auf offene Ohren stiess, gelangte Luther zu der sich im Laufe seines Lebens steigernden Überzeugung, in der letzten Periode der Geschichte zu leben. Entsprechend sprach er in seinen spateren Schriften anstatt vom «Antichrist» nunmehr von «Endechrist». Anders als seine diesbezüglichen mittelalterlichen Vorlaufer bemass der Reformator diesen «Endechrist» nicht nur nach seinem (antichristlichen) Leben, sondern auch nach seiner Lehre: Hatte Luther schon viel früher eine an Paulus orientierte Einteilung der Geschichte in eine Zeit vor, unter und nach dem Gesetz vorgenommen, so sah er in der Endzeit das Gesetz an die Stelle des Evangeliums und den Antichristen auf den Thron Christi gerückt. 18 Diese Usurpation begann nach Luther damit, dass der Antichrist sich das alleinige Recht der Schriftauslegung anmasste und in der Folge die Schulen und Universitaten nichts über Christus, sondern alles über den Papst und Aristoteles lehrten. An diesen «Synagogen des Satans» erkannte man nach Luther, dass die Zeit des Antichrists gekommen war. Für den Reformator vertraten der Papst und der ihm untergebene, selbstgerechte Klerus nicht die evangelische, sondern vielmehr eine teuf1ische Lehre, in welcher das Wort Gottes verleugnet und die Gebote Gottes durch menschliche Gesetze abgelõst wurden und die totale Umkehrung von Gnade und Sünde, von Glaube und Gesetz geschah. Als unausweichliche Folge davon sahen sich nach Meinung Luthers die Christen in der Endzeit gezwungen, Christus zu verleugnen und den Antichristen anzubeten, der sich durch Erlass oder Auf1õsung von Geboten gleichsam als Gott auf Erden ausgab, so wie es der Papst in teuf1ischer Weise tat. 19 Entsprechend glaubte Luther, dass sich am Ende der Tage, unter dem Regiment des Antichristen, alle Haresie verdichte und alle ketzerischen Meinungen zusammen in ei ne «Grundsuppe» f1õssen, mit welcher die Welt sintf1utartig überstrõmt und ersauft würde. 20 Obwohl Luther aufgrund von 2 Thess 2,3f. den Antichristen im Zentrum der Kirche, «im Tempel Gottes» und nicht «im Kuhstall» sitzen sah und ihn mit dem Papst identifizierte, der sich als Gott auf Erden feiern liess,21 hielt ihn das nicht davon ab, zeitweise auch die Türken mit diesem Verdikt zu belegen. Gehõrte die «Türkenfrage» im allgemeinen Bewusstsein des 16. Jahrhunderts zu den seit langem gestellten zentralen politischen und religiõsen Fragen, so wurde sie seit dem Sieg der Türken über den Ungarnkõnig 1526 bedrangend 18 Vgl. Barth, Hans-Martin: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967, S. 107ff.
19 Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 109ff. 20 Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 108. 21 Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 629. 197
akut. Anders als 1518, wo Luther den von vielen K.irchenmannern propagierten Kriegszug gegen die Türken nicht bi1ligte und die Ansicht vertrat, dass die Christen in einer Erfahrung wie der Türkennot den Ruf Gottes zur Busse vernehmen sollten, rückte die Türkengefahr für ihn seit dem Herbst 1529, a1s die Türken bis vor Wien vorgestossen waren, eindeutig in einen endzeitlichen Horizont. Angesichts der konkreten politischen Konstellation sah sich Luther veranlasst, nach einer biblischen Erklarung für die beangstigenden politischen Vorgange zu suchen, um diese in sein Geschichtsbi1d integrieren zu konnen. Zusammen mit seinen Theologenkollegen in Wittenberg las er die biblischapokalyptischen Schriften mit neuen Augen und gelangte aufgrund einzelner Stellen aus dem Buch Daniel und aus der Apokalypse des Johannes zu dem in dieser angstumwogten Zeit trostenden Ergebnis, dass die Türken das Deutsche Reich nicht mehr würden vernichten konnen, sondern ihnen der nahe Jüngste Tag zuvorkommen und ihre Macht zerbrechen würde. 22 Auch wenn sich für Luther angesichts seiner apokalyptischen Beurteilung der Türkengefahr in zugespitzter Weise die Frage nach der antichristlichen Macht stellte, und er den Papst und «den Türken» oftmals nebeneinander nannte, so stufte er die beiden Machte im endzeitlichen Horizont dennoch unterschiedlich ein: Im «Türken», der vorwiegend gegen den Leib vorzugehen versuchte, erfuhr die Christenheit nach Meinung Luthers die endzeitliche Bedrohung von aussen. Die eigentliche, ungleich schlimmere Gefahr erwuchs ihr jedoch aus der Mitte der K.irche, in der Person des Papstes, der die Seelen der Glaubigen verführte. Die Hauptrolle im Endzeitdrama Luthers bleibt denn auch eindeutig dem Papst vorbeha1ten. 23 Luthers Eindruck, dass das teuflische Treiben an der Kurie nicht mehr schlimmer werden konnte und die Zeit des Antichristen gekommen war, weckte bei ihm die sehnsüchtige Erwartung des Jüngsten Tages mit der Wiederkunft Christi, die allein der schrecklichen Verderbnis der Kirche und Welt abhelfen würde. Entsprechend seiner neu entwickelten Theologie von der in der Rechtfertigung erfahrenen Heilsgewissheit wurde das Weltende mit der Wiederkehr Christi von Luther nicht als Schreckensvorstellung, sondern vielmehr als «lieber jüngster Tag» erfahren. 24 Dass er aber diesen so sehnlichst erwarteten «liebsten jüngsten Tag» mit Gewalt herbeizuführen versucht hatte, kam für Luther zu keiner Zeit in Betracht: Entschieden lehnte er jegliche Gewaltanwendung gegen das Papsttum ab und vertrat die Meinung, dass die Christen sich gegenüber der papistischen Macht nicht mit dem Schwert, sondern vielmehr mit dem Gebet und dem Wort zur Wehr zu setzen hatten. Dass kein Schwert und auch keine Utopie, sondern Gott selbst den Jüngsten Tag herbeiführen 22
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 635f; S. 643f.
23
Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 107f.
24
Vgl. Meyer, Almut Agnes: Heilsgewissheit und Endzeiterwartung im dt. Drama des 16. Jh., (Heidelberger Forschungen, 18), Heidelberg: UniversiUitsverlag, 1976, S. 241. Vgl. auch Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 633f.
198
würde, liess Luther in klare Opposition zum «linken Flügel» der Refonnation, zu Thomas Müntzer und den sogenannten Sehwarmern treten. 25
IV. Entgegen dem Grundsatz Luthers, dass den Christen in Glaubensangelegenheiten allein das Wort als Kampfmittel dienen dürfte und sie ansonsten die baldige Wiederkunft Christi erwarten sollten, führte Thomas Müntzer (ea. 1490 -1525) die Forderung ins Feld, dass angesiehts des desolaten Zustandes der zeitgenõssisehen Christenheit die Spreu vom Weizen getrennt und jetzt, am Ende der Tage, die Frommen von den Gott1osen und Verdammten gesondert werden sollten. 26 Seine Überzeugung, dass diese Seheidung hier und heute, in der Zeit des Antiehristen, mit Waffengewalt durehgeführt werden müsste, begründete Müntzer vor allem mit der Landnahme der Israeliten, denen Gott wohl den Sieg ennõglieht, sieh dazu aber der Sehwerter seines Volkes bedient hatte. Zwar lebten beide im Bewusstsein der vom Antichristen dominierten «letzten Zeit» , die dem Kommen Christi vorangehen werde; do eh wahrend sieh Luther gegen jede Anstrengung wandte, ein Gottesreieh auf Erden aufzuriehten, sah es Müntzer geradezu als Pflicht der Christen an, der Hand Gottes aktiv mit dem Sehwert in der eigenen Hand naehzuhelfen, damit dem Regiment der Gottlosen ein Ende gesetzt und die Gottesherrsehaft auf Erden erriehtet werden kõnne. 27 Mit seiner Auffassung, dass die Christen sich zu einer ausserlieh siehtbaren Gruppe fonnieren und im Hier und Heute den Kampf gegen die Gottlosen aufnehmen sollten, sah sich Müntzer von der Mehrheit der zeitgenõssisehen Theologen und Prediger alleingelassen: Diese, allen voran Martin Luther, verwarfen die von Müntzer geforderte Trennung in Auserwahlte und Verworfene als unzulassig, da allein Gott vorbehalten, und widersetzten sieh dem glühenden Eifer Müntzers, den Jüngsten Tag eigenmaehtig herbeiführen zu wollen, anstatt dies allein Gott zu überlassen. 28 Entspreehend hart ging Müntzer mit den Geistliehen seiner Zeit ins Gericht und erklarte sie als die Hauptsehuldigen am Verfall der Kirehe,' welehe seiner Ansieht naeh bereits mit dem Beginn der Kindertaufe und der damit verbundenen Vennisehung von Glaubenden und 25 V gl. Hinrichs, Carl: Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit
und Widerstandsrecht, 2. Aufl., Berlin: Wa1ter de Gruyter, 1962. Vgl. ferner: Mühlpfordt, Günter: Luther und die «Linken». Eine Untersuchung der Schwarmerideologie, in: Vogler, Günter: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, Berlin (DDR), 1983.
27
Vgl. Schwarz, Reinhard: Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1977. V gl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 67ff.
28
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 651.
26
199
UngHiubigen eingesetzt hatte. Neben den bisherigen Formen kirchlicher Heilsvermittlung kritisierte Müntzer mit aller Scharfe die reformatorische Lehre von der unabdingbaren Glaubensvermittlung durch das Bibelwort und die Predigt des Evangeliums, die dem aus seren Wort der Schrift zuviel zutrauen würde. Dagegen hielt Müntzer seine «Geistlehre», derzufolge man erst dann zu den auserwahlten Christen zahle, wenn man zu einer unvermittelten Gottes- und Geisterfahrung gelangt war. Nach der Vorstellung Müntzers waren die Auserwahlten, die mit der unvermittelten Geistbelehrung gewürdigt worden waren, nun auch berufen, diesbezügliche Behinderungen zu beseitigen und Bedingungen dafür zu schaffen, damit diese exklusive Gotteserfahrung allen zukommen konnte. In Müntzers Lehre kam folglich denjenigen, die bereits gegenwartig zu einem unvermittelten Glauben hindurchgestossen waren, der apokalyptische Auftrag zu, die Grundlagen für diesen «Geistglauben» als Voraussetzung für den Anbruch der geschichtlich unvergleichbaren Heilszeit zu schaffen. 29 Zur Umsetzung seiner Zielvorstellung von einer irdischen Heilsvollendung war Müntzer entschlossen, offentliche politische Gewalt einzusetzen. Entweder sollte diese «Reformation» der Christenheit im Sinne einer Ausrottung aller Gottlosigkeit durch die Gewalt christlicher Fürsten oder aber durch die Gewalt des Volkes Gottes, als Gemeinde der Auserwahlten, durchgesetzt werden. 30 Dass die reformatorisch gesinnten sachsischen Fürsten sich diesem Ansinnen versagten und gegen Müntzer vorgingen, bewirkte bei diesem, der bislang auf sie gesetzt und in ihnen die Werkzeuge Gottes zur Reinigung der ganzen Christenheit gesehen hatte, eine tiefgreifende Wende in doppelter Hinsicht: Zum einen wandte er die herbe Kritik, die er an den Geistlichen geübt hatte, nunmehr auch gegen die Fürsten, denen er vorwarf, sie wol1ten mehr als Gott gefürchtet sein und würden als Tyrannen wie Augustus und Herodes das Volk nach Strich und Faden ausbeuten. Zum andern fand sich Müntzer darin bestatigt, dass die Predigt al1ein hinsichtlich der Reformation der gesamten Christenheit zu wenig auszurichten vermochte: Gefangen in diesem ausbeuterischen Gesamtsystem werde es dem einzelnen schlechthin verunmoglicht, zum wahren (Geist-) Glauben zu gelangen. Damit eine Wende in der Christenheit herbeigeführt werden konne, bedurfte es deshalb nach Müntzer einer klaren Überwindung von Herrschaft und Ausbeutung und somit der Erhebung des Volkes gegen die Obrigkeit. 31 Auch wenn Müntzer den gewaltsamen Aufstand vorerst nicht vorantrieb, wertete er den um 1525 sich ausbreitenden Bauernkrieg als Erfüllung von Dan 7,26 und sah in den aufrührerischen Bauern aufgrund ihrer Zielvorstel1ung von einer verchristlichten Gesellschaft Gottes militante Kampfer, die das Reich
29
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 17ff.
30
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 70ff.
31
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 78ff.
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Christi heraufführen sollten. Müntzers flammende Aufrufe zum gnadenlosen Kampf gegen die gottlosen Fürsten geschahen denn auch mit dem sUindigen Verweis auf biblisch-apokalyptische Traditionen, vor allem auf das Buch Daniel und die Offenbarung des Johannes. 32 Eine weitaus positivere Aufnahme als bei den Reformatoren, die ihn aufgrund seiner apokalyptischen Interpretation des Bauernkrieges als «Mordpropheten» und als Verfechter einer Reformation «mit der Faust» brandmarkteten, fand Müntzer bei der Tauferbewegung. Wie nachha1tig deren Theologie von Müntzers Apokalyptik beeinflusst ist, zeigt in vorzüglicher literarischer Verarbeitung Gottfried Kellers «Ursula». Der Versuch, in Vertretern der spatmittelalterlichen apokalyptischen Bewegungen, die in glühender Endzeiterwartung das Reich Gottes auf Erden herbeiführen wollten, die Vorlaufer von modernen Sozialrevolutionãren zu sehen, deren Bestrebungen der Schaffung einer herrschaftsfreien und gerechten Gesellschaft galten,33 muss misslingen. Wohl fanden sich mit Thomas Müntzer und den «Schwarmern» Trager endzeitlicher Ideen, die eine an dere , bessere Zeit aktiv herbeiführen und die bestehende Ordnung zumindest teilweise aufsprengen wollten. Diese aber auf eine Stufe mit neuzeitlichen Sozialrevolutionãren zu stellen, wie es etwa Ernst Bloch34 und die marxistische Historiographie mit Thomas Müntzer tun, erscheint unzulassig: So sehr sich Müntzer und andere Vertreter endzeitlicher Stromungen des ausgehenden Mittelalters als aktiv Handelnde verstanden, so taten sie dies doch ausschliesslich im Bewusstsein, blosse Werkzeuge im Heilsplan Gottes zu sein. Müntzers «revolutionãre» Gedanken und seine Beteiligung am Bauernkrieg erwuchsen aus theologischen Überlegungen. Vom «militanten Gotteskampfer» und Reformator «mit der Faust» sind wir um historische Welten entfernt.
V. Kennzeichnend für die in der Geschichte des Christentums in unterschiedlichen Intervallen an die Oberflache getretenen Endzeitbewegungen sind die stetig wiederkehrenden Bilder und Motive vom nahenden Antichrist, von der mit ihm einhergehenden Drangsal in Kirche und Welt und von den Verheissungen eines paradiesischen Friedensreiches auf Erden. Ob die Endzeitbewegungen als Indikatoren temporãrer Krisen betrachtet werden dürfen oder ob die Apokalyptik 32 Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 87ff. 33 Vgl. Dutschke, Rudi: Mein langer Marsch: Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren, (hg. von: Dutschke-Glotz, Gretchen; Gollwitzer, Helmut; Miesmeister, Jürgen), Reinbek: Rowohlt, 1980.
34 V gl. Bloch, Emst: Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, (Gesamtausgabe, Bd. 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969.
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nicht mindestens ebenso als rhetorisches Mittel in der polemischen Auseinandersetzung mit dem Gegner gedient hatte, wie man anhand so mancher Werke der Franziskaner-Spiritualen oder Martin Luthers vermuten kõnnte, ist hier nicht zu entscheiden. Indessen ist davon auszugehen, dass apokalyptische Strõmungen vorwiegend im Gefolge von Hungersnõten, Kriegen, Seuchen, politischen und kirchlichen Umbrüchen emporschnellten. In einer Zeit des Experimentierens, wie sie das 13. Jahrhundert mit den neuen Lebensformen der Bettelbrüder verkõrperte, oder in einer Phase der Verunsicherung oder gar Desorientierung, wie sie im 14. Jahrhundert durch das papstliche Schisma oder im 16. Jahrhundert durch den Ablassstreit ausgelõst worden war, richtete man das Augenmerk mit Vorliebe auf das biblisch-apokalyptische Schrifttum. Dieses wurde für die je eigene Zeit und deren kirchlich-politische Konstellationen fruchtbar gemacht, so dass beispielsweise Luther im kleinen Horn des apokalyptischen Tieres im Buch Daniel exakt «den Türken» erkannte und Thomas Müntzer aus Dan 7,27 die Absetzung ungehorsamer Obrigkeiten und die Übergabe des Reiches an das einfache Volk herauslas. Wie sehr neue theologische Gedanken Einfluss auf die jeweiligen Endzeitvorstellungen gewannen und dere n Ausrichtung bestimmten, zeigt sich auf eindrückliche Weise in den geistlichen Spielen des 16. Jahrhunderts: Infolge von Luthers Auftreten und seiner Predigt von der Rechtfertigung des Sünders veranderte sich der Charakter der Endzeitvorstellungen in sofern, als das Weltende als Anbruch des Reiches Gottes erhofft und Christus nicht mehr als Richter, sondern vielmehr als Retter vorgestellt wurde. 35 Luthers zentraler theologischer Gedanke von der Heilsgewissheit vermochte also das Endzeitbewusstsein des Volkes in der Weise zu verandern, dass die mit Hoffnung verknüpften Endzeiterwartungen für geraume Zeit über die Endzeitangste dominierten. Den kaleidoskopartig und in immer neuen Varianten zutage tretenden Endzeitbewegungen gemeinsam war ihr destabilisierender Effekt, sowohl hinsichtlich der politischen a1s auch der kirchlichen Ordnung. Anlaufe zur Umgesta1tung der Welt lassen sich von der Friedensreicherwartung eines Joachim von Fiore bis hin zu den Kampfen der Bauern für ihr Gottesrecht verfolgen. Das kirchliche und politische Sprengpotential, das Endzeitbewegungen in sich bargen, konnte den beiden herrschenden Ordnungsmachten der Zeit, dem Kaiser und dem Papst, nicht verborgen bleiben und rief diese entsprechend auf den Plano Für die Amtskirche war denn auch die Apokalyptik stets ein zumindest verdachtiges Symptom haretischer Tendenz, dem sie mit Misstrauen und Abwehr begegnete.
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Vgl. Meyer, aaO. (Anm. 24), S. 241.
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Christof Jeckelmann DIE KATASTROPHE GIBT ES NICHT Begegnungen mit der «Apokalypse» in Naturwissenschaft und Technologie 1. Einleitung Was kommt einer Naturwissenschaftlerin oder einem Naturwissenschaftler in den Sinn beim Stichwort «Apokalypse»? Zua11ererst werden da wohl Begriffe wie Untergang, Endzeit oder ganz einfach Katastrophe genannt. Sehr schne11 kommen dann Assoziationen im Zusammenhang mit Unglücks- und Katastrophenszenarien aus der Unterhaltungsindustrie hoch und nicht wenige denken sicherlich auch an den biblischen Ursprung des Wortes. Die Palette ist sehr breit, sie reicht vom verh~i1tnismassig harmlosen Felssturz bis zum vernichtenden Meteoriteneinschlag, von der BSE-Seuche (Bovine Spongiforme Encephalopathie - Rinderwahnsinn) bis zum atomaren Winter. Wir konnen unterscheiden zwischen dem zerstOrenden Naturereignis und dem anthropogenen Desaster. Und betroffen sind wir Menschen nicht mehr und nicht weniger als Tiere, Pflanzen, Erde oder Wasser. In der Folge sol1 nicht eine Systematik der Katastrophen aufgeste11t werden, so1che gibt es in der Literatur bereits zur Genüge. 1 Angesichts der ziemlich voyeuristischen Weise, in der das Thema oft ausgeschlachtet wird, besteht für derartige Wiederholungen kein Bedarf. Interessanter erscheint es, einmal nach den Hintergründen zu fragen, die eine Katastrophe zu dem machen, was sie ist. Eine Katastrophe ist nicht etwas absolutes, sondern wird erst durch unsere Wahrnehmung, beziehungsweise Betroffenheit zu dem, was sie ist. Ein Wirbelsturm kann so lange auf dem Meer herumwüten, wie er will, ein Vulkan mag über Jahrhunderte hinweg Feuer speien, es wird sich niemand daran stOren. Erst wenn Wind und Wetter Siedlungen und Felder verwüsten und die Vulkanexplosion weite Landstriche mitsamt Tieren und Pflanzen zerstOrt, werden die Ereignisse zur Katastrophe, und diese wird um so schlimmer, je nãher sie an uns herantritt, sei es auf physischer oder auch nur auf emotionaler Ebene. Aber nicht nur in Bezug auf ihre Intensitãt werden Katastrophen unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch wegen der Orientierung ihrer Wirkung. Ein Unglück ist immer zielgerichtet und betrifft nur, was sich in seinem
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Zum Beispiel: Hõvelmann, Kai: «Das Buch der 1000 Katastrophen», Bindach: Loewe, 1997.
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Wirkungsbereich befindet, oder pointierter formuliert: Was für den einen den Untergang bedeutet, kann des andern Glück sein. Die folgenden Ausführungen werden in Anlehnung an diese «Gerichtetheit» strukturiert sein und die Katastrophe aus zwei entgegengesetzten Blickrichtungen betrachten. Der erste Teil fragt, wie die Naturwissenschaften im Gegensatz zur Gese11schaft mit Katastrophen umgehen und wie sie deren Bedeutung einschatzen. Ferner wird nach den Mõglichkeiten der endgültigen, «apokalyptischen» Vernichtung gefragt und danach, wie sich Forschung und Gese11schaft dieser gegebenenfa11s ste11en. Im zweiten Teil wird der Spiess umgedreht, indem nach der «Katastrophe» in der Naturwissenschaft selber gefragt wird. Lassen sich, angesichts des a11enthalben verkündeten Millenarismus, auch auf diesem Gebiet Spuren von Endzeitstimmung entdecken? Kommt die N aturwissenschaft an ein Ende steht uns das Ende der Erkenntnis bevor? Eine Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung und des Forschungsfortschritts sol1 gewissermassen einen Blick auf das Stimmungsbarometer erõffnen.
2. Der naturwissenschaftliche Blick au! die Katastrophe
2.1. Der Mensch und die Katastrophen im Verlauf der Geschichte Vermutlich seit sich der Homo sapiens aufgerichtet hat, ist er darum bemüht, Bedrohungen und Gefahren von seinem Schicksal fernzuhalten. Die Art und Weise, wie das geschah, war stets vielseitig und immer abhangig vom Kenntnisstand über die jeweiligen Ursachen. Solange die Menschen das Zittern der Erde oder vom Himmel herabstürzendes Feuer als Ãusserungen des Zorns von Gõttinnen und Gõttern betrachteten, war es naheliegend zu versuchen, diese mit Hilfe von Opferzeremonien zu besanftigen. Auch wenn bereits sehr früh aufgeschlossene Denker und Beobachter von Herodot bis Plinius erkannten, dass manche Katastrophen ihre Ursache nicht in der Rachelust gõttlicher Wesenheiten hatten, so war es für das gemeine Volk einfacher, ein Rauchopfer gegen den Himmel steigen zu lassen, um sich die Gunst der Gõtter zu erkaufen und damit zumindest die Angst vor den unberechenbaren Naturgefahren zu dampfen. Aus der Sicht des rationalen Naturwissenschaftlers wurde der Glaube an die Wirksamkeit dieses Tuns so oft gestarkt, wie man bezüglich der statistischen Eintretenswahrscheinlichkeit eines Unglücks auf der günstigeren Seite lag. Das Christentum anderte an diesem Verhalten verhaltnismassig wenig. A11erdings sah man in der Katastrophe verstarkt die Bestrafun~ des Bõsen und Schlechten in der Welt und nicht selten war man gar der Ansicht, im Unglück widerspiegle sich die Macht des Bõsen selbst. Religiõse Praktiken hatten somit 204
zum Ziel, vor aus seren Gefahren zu sehützen und U nglüek zurüekzuhalten, indem man versuehte, das Sehleehte aus der Welt zu sehaffen. Wenn in der Folge die abgehaltenen Bittgange sehon nieht die Vernichtung der Ernte oder anderes Unheil zu verhindern vermoehten, so dienten sie wenigstens der Aussohnung oder der Verstãrkung des sozialen Zusammenhalts in der Gemeinsehaft. In der naiven Glaubensvorstellung der meisten Mensehen herrsehte aber naeh wie vor ein mythisehes Gottesbild vor, mit einem unmittelbar handelnden Gott, der die Gesehieke der Welt und somit aueh der N atur lenkt, weshalb Gebete und Fürbitten zunaehst den wiehtigsten Beitrag zum Sehutz vor natürliehen Sehaden darstellten. «Besehütze und segne die Früehte der Felder. Sende uns zur reehten Zeit gedeihliehen Regen und Sonnensehein. ( ... ) Vor Blitz, Hagel und Ungewitter bewahre uns, Herr lesus Christus.» heisst es etwa im sogenannten Wettersegen2 und selbst in unserer hoehteehnologisierten Zeit werden in gewissen Gegenden bei sehr sehlimmen Gewitterstürmen noeh die Kirehengloeken gelautet. Dabei sol1 der Gloekenklang einerseits das Unwetter vertreiben, andererseits, im Sinne eines Gebets, zu Busse und Waehsamkeit rufen. Eigentliehe, aktive Bemühungen zur Verhinderung von Katastrophen oder zumindest zur Einsehrankung des Sehadensausmasses waren aber bis ins 18. lahrhundert hinein praktiseh unbekannt. Nur in seltenen Fallen versuehten si eh die Mensehen in beseheidenem Mass an widrige Umstande anzupassen, indem man beispielsweise in Erdbebengebieten bauliehe Vorkehrungen traf. In 1apan entstanden so einstüekige Hauser in Leiehtbauweise, welche weitgehend aus Holz und Papier bestehen, so dass die Auswirkungen eines Bebens in jedem FalI sehr gering ausfallen und vor allem keine Toten fordern. Ansonsten begnügte man sich damit, den Gefahren aus dem Weg zu gehen, indem sichtlieh gefãhrdete Gebiete ganz einfaeh nieht besiedelt und Verkehrswege so angelegt wurden, dass die Reisenden mogliehst ohne Risiko von einem Ort zum andern gelangen konnten. Als mit der Aufklarung die mensehliehe Vernunft und das rationale Denken zum allgemein gültigen Prinzip erklãrt wurde und an die Stelle der religiOsen Verbindliehkeit die Allgemeingültigkeit des «Natürlichen» trat, anderte sieh das Verhalten gegenüber den Naturgewalten grundlegend. Seit sieh die- Erde um die Sonne dreht, beziehungsweise seit der Annahme des Kopernikanisehen Weltbildes, eroffnete sieh den Mensehen und in besonderer Weise den Wissensehaftlern ein wesentlieh differenzierteres Bild von den Ablaufen in der Natur und den natürliehen Kreislaufen. Statt auf die Gütigkeit himmliseher Maehte hoffen zu konnen, galt es nun, Eigeninitiative zu entwiekeln. Statt mit Opfergaben und Gebeten Bedrohungen und vermeintlieh apokalyptisehe Strafen abzuwenden, begann sieh der Menseh bewusst und mit Kalkül gegen Katastrophen 2
Kirchengesangbuch. Katholisches Gesang und Gebetbuch der Schweiz, Einsiedeln: Benziger, 1966.
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zur Wehr zu setzen. Die antropozentrisch orientierten Wissenschaften bildeten gewissennassen einen Gegenpol zur zerstõrerischen, wilden Macht der Natur. Der Gedanke, die Natur um ihrer selbst willen zu schützen, ware damals noch vollig absurd gewesen. Katastrophen und andere menschheitsbedrohende Naturereignisse galt es demnach zu erkennen und in der Folge nach Moglichkeit zu verhindern oder mindestens einzudammen. Durch das Erkennen von Zusammenhangen und Gesetzmassigkeiten konnte das menschliche Handeln immer mehr Einfluss auf die Natur nehmen. Es kam nun zwar niemand mehr auf die Idee, einen Vulkanausbruch verhindern zu wollen, aber man begann ganz gezielt, und nicht selten mit einem verblüffenden Selbstvertrauen in das menschliche Tun, Gefahren systematisch einzudammen und so die Risiken zu vennindern. Sehr anschaulich illustrieren lasst sich dieser Wandel an der Entwicklung der Korrektionen an Fliessgewassern und Seen in der Schweiz. Der grosste Teil der Bache und Flüsse ist seit dem 18. J ahrhundert korrigiert worden. Mit dem Ziel, die umgebenden Siedlungen und Kulturen und damit die Bewohner und Bewohnerinnen vor Überflutungen zu schützen, aber auch in der Absicht Sumpfgebiete trockenzulegen, um Seuchen und Epidemien einzudammen, wurden die WasserHiufe begradigt und ihre Ufer befestigt. Ferner wurden zahlreiche grosserer Flüsse in Seen umgeleitet und deren Abflüsse zusatzlich reguliert. So entstand beispielsweise zwischen 1807 und 1827 der Linthkanal, der die Linth, statt in die regelmassig überschwemmte Ebene hinaus, direkt in den Walensee leitete. Was diese «Korrektur» für die Leute von damals bedeutete, schildert ein Zitat von Roemer3 zu Beginn unseres Jahrhunderts: «Die Linthlandschaft zeigt uns das Werk der grossten Wasserkorrektion der Schweiz. Hier zog der Fluss seine unsteten Serpentinen, heute steckt er in den Zwangsjacken fester Kanale. Die gerade Richtungslinie der letztern wird vom alten, zum Teil schon aufgefüllten Flussbette 15 mal geschnitten. Die Wasserwillkür der freien Linth ist aufgehoben und ersetzt durch den Wassergehorsam. Noch in keinem Teile unseres Vaterlandes wurde der Kampf des Menschen gegen die Natur so gründlich geführt wie in unsenn Gebiete. Die Technik hat hier die gewaltigste Macht der Natur, das Wasser, bezwungen.» Mit der fortschreitenden industriellen Entwicklung haben jedoch die Zielobjekte für katastrophenartige Ereignisse enonn zugenommen, die Verletzlichkeit des Systems ist immer grosser und das Freihalten von gefãhrdeten Raumen immer schwieriger geworden. In der Schweiz haben Raumplaner in theoretischen Modellen das Land bereits aufgeteilt in eine Stadt «Mittelland» und einen Freizeitpark «Alpen». lndem zur Befriedigung von Platzansprüchen der Siedlungsraum nicht nur verdichtet, sondern auch sehr stark ausgeweitet
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Roemer, A.: Durch Natur und Kultur bedingte landschaftliche Veriinderungen im unteren Linthgebiete, Diss. der Universitat Zürich: St. Ga11en, 1918. 206
wird, hat der Mensch das Gefahrenpotential für natürliche Katastrophen deutlich erhõht. 2.2. Die «gottgegebene» und die selbstgemachte Katastrophe Zu den Naturgefahren sind die zivilisationsbedingten Katastrophen dazugekommen. Bereits in der Antike wurden in unsinniger Weise weite Küstenregionen des Mittelmeerraums abgeholzt, so dass sich vielerorts die Walder nie mehr regenerieren konnten. Offenbar haben es bis heute die wenigsten Kulturen verstanden, ab einem gewissen Entwicklungsgrad sich einen nachhaltigen Umgang mit den eigenen Ressourcen anzueignen. Durch den enormen technischen Fortschritt sind wir aber heute, im Gegensatz zu früher, mit einer ganz anderen Situation konfrontiert. Wenn man bis in die Mitte unseres Jahrhunderts, abgesehen von kriegsbedingten Katastrophen, nahezu ausschliesslich natürlichen Bedrohungen, wie Erdbeben, Überschwemmungen, Bergstürzen usw. ausgesetzt war, so hat uns nun der eigene Fortschritt mit einer Vielzahl selbstgemachter Gefahren eingeholt. Es liesse sich an dieser Stelle eine beinahe endlose Liste von lebensbedrohlichen Szenarien aufstellen, welche auf Unwissenheit oder Fehler und Nachlassigkeit im menschlichen Handeln zurückzuführen sind. Das Spektrum reicht vom Verkehrsunfall über Grossbrande und Giftgasaustritte bis hin zum grõssten anzunehmenden atomaren Unfall (GAU). Der grõsste Unfall dieser Art in der Geschichte der Menschheit war die Explosion des Blocks 4 im Kernkraftwerk von Tschernobyl in der Nacht vom 26. April 1986, in dessen Folge ein Gebiet von hunderten von Quadratkilometern rund um den Reaktor verseucht wurde und sich die austretende Radioaktivitat innerhalb weniger Tage über ganz Nord- und Mitteleuropa ausbreitete. Wesentlich weniger dramatisch, aber doch ein treffendes Beispiel dafür, wie sich der Fortschritt auch schon mal in den eigenen Schwanz beisst, ist der sogenannte «Millennium Bug», der grosse Computer-Crash zum Jahrtausendwechsel. So wie die Computerlandschaft heute aussieht, werden weltweit ungezahlte Rechner den Datumswechsel auf den 1. Januar 2000 nicht richtig vollziehen, sondern auf den 1. 1. 1990 oder noch ein absurderes Datum springen. Es ist ein leichtes sich vorzustellen, was für ein Debakel ein derartiger Fehler etwa bei Banken oder Versicherungen zur Folge haben wird. Im Zahlungsverkehr, bei Versicherungspolicen, oder anderen computergesteuerten Systemen, die auf genaue Zeit- und Datumsangaben angewiesen sind, wird die Welt ziemlich in Schraglage, wenn nicht sogar ganz aus den Fugen geraten, wenn bis dahin nicht alle notwendigen Massnahmen zur Behebung des Problems getroffen werden kõnnen. Weniger spektakular, dafür mit einem betrachtlich grõsseren Risikopotential behaftet, sind langsame, schleichende Veranderungen in der Umwelt, welche auf das menschliche Handeln zurückzuführen sind. Verheerend daran ist, dass sie vom einzelnen nicht spürbar wahrgenommen werden kõnnen und 207
uns nur über die Medien vermittelt werden. Wenn in den achtziger Jahren das Waldsterben von einem geübten Beobachter noch als solches erkannt werden konnte, so sind heute klimatische Veranderungen oder die unmittelbaren Auswirkungen einer Bevõlkerungsexplosion allein mit unserem Sinnesapparat nicht mehr wahrnehmbar. Hier kommt somit die Forschung zum Zug, indem Veranderungen in der Umwelt mit zum Tei1 hochtechnisierten Methoden erfasst werden. Womit allerdings die Probleme erst beginnen, denn angesichts der enorm komplexen Zusammenhange und dynamischen Wechselwirkungen herrschen in der Wissenschaftswelt und erst recht in Politik und Gesellschaft bedenkliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie sich gewisse Parameter in Zukunft entwickeln und we1che Auswirkungen bestimmte Veranderungen mit sich bringen werden. So sehr die apokalyptische Okokatastrophe prophezeit wird, so fleissig werden diese Prognosen von profitierenden Interessengruppen bagatellisiert. Die grosse U neinigkeit allein unter Forschern und Forscherinnen erõffnet nicht zuletzt auch den Medien einen weiten Spielraum zur Interpretation und Meinungsbi1dung, was ebenfalls zur Unsicherheit in der Bevõlkerung beitragt. 2.3. Betroffenheit und Akzeptanz Wahrend die Wissenschaft nach Ursachen und Zusammenhangen sucht, bemühen sich vor allem die Techniker und Ingenieure darum, errungene Erkenntnisse umzusetzen, um unter anderem gegen Bedrohungen aller Art anzugehen und sie nach Mõglichkeit aus der Welt zu schaffen oder wenigstens einzudammen. Was sie dann allerdings tatsachlich bekampfen, wird zu einem grossen Tei1 von aussen, das heisst von Politik und Gesellschaft bestimmt. Dabei ist einer der wichtigsten, bestimmenden Faktoren die Akzeptanz in Bezug auf bestimmte Bedrohungen. Weil sich unser subjektives Empfinden nicht immer mit dem tatsachlichen Potential bestimmter Gefahren deckt, werden zum Beispiel bei weitem nicht die grõssten Gefahren für unseren Planeten mit dem grõssten Aufwand bekampft. Da ist zunachst die physische Betroffenheit zu nennen: Ein Erdbeben, das eine Gegend heimsucht, wird von den betroffenen Menschen als schlimmere Katastrophe wahrgenommen, als ein unsichtbarer, radioaktiver Niederschlag in der Folge eines Reaktorunglücks, obwohl dessen Langzeitschaden mindestens genauso verheerend sind. Ebenso ist es ein grosser U nterschied, ob man ein Unglück lediglich in den Medien verfolgt, oder als Opfer unmittelbar dabei ist. Aber auch zeitliche Aspekte spielen eine wichtige Rol1e, wenn es darum geht, eine Bedrohung zu akzeptieren oder Massnahmen dagegen zu ergreifen. So lasst sich ein für eine unbestimmte Zukunft prognostiziertes Unglück leichter aus dem Bewusstsein verdrangen, als ein unmittelbar bevorstehender Bergsturz. Aber auch in Bezug auf die Vergangenheit funktioniert unser Bewusstsein sehr selektiv. Positive Erinnerungen werden viel grosszügiger 208
gespeichert als negative und die Schwãrmerei von der «Guten alten Zeit» ist im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit dunkleren Seiten unserer Vergangenheit um einiges bequemer. Das Vergessen erfolgt im Zusammenhang mit Unglücken und Katastrophen - vor allem bei selber verschuldeten - entsprechend schnell, im Schnitt reichen 25 Jahre aus, um Erinnerungen zu lõschen und alte Fehler zu wiederholen. Bei der Schadensbekampfung wird unter anderem auch diesem Umstand Rechnung getragen. So sind es beispielsweise beim Hochwasserschutz nicht nur technische oder wirtschaftliche Faktoren, die das Ausmass an Vorkehrungen bestimmen, sondern eben auch die geistige Halbwertszeit. Die Dimensionierung von Schutzbauten gegen Überschwemmungen ist entsprechend abhangig von der Eintrittswahrscheinlichkeit von Hochwasserereignissen, welche je nach Schutzwürdigkeit der betroffenen Objekte (Siedlungsraum, Verkehrswege etc.) im aussersten Fall hundert, meist aber auch nur fünfzig oder noch weniger Jahre betragt4 . Weiter stehen unsere A..ngste und Emotionen selten im Verhaltnis zu den mõglichen Auswirkungen eines befürchteten Unglücks, womit auch unser Handeln stark von unserem psychischen Befinden gesteuert wird. Besonders auffallend ist dies bei Krankheiten oder anderen Veranderungen, die unseren Kõrper betreffen, wie zum Beispiel dem Alterungsprozess. Wenn dann zusatzlich noch Intimspharen, wie etwa die Sexualitat mit ins Spiel kommen, werden wir besonders sensibel. Dies ist sicher mit ein Grund, warum einerseits kein Aufwand gescheut wird, um die Ausbreitung der Immunkrankheit AIDS zu bremsen, andererseits aber die Zunahme von Hautkrebserkrankungen in Australien vergleichsweise wenig in Bewegung zu setzen vermag. Dabei gibt es keinen Grund, eine der beiden Krankheiten als gravierender einzuschatzen, es ist lediglich so, dass bei letzterer der Kausalzusammenhang mit dem Ozonloch und der daraus resultierenden hõheren Sonneneinstrahlung weniger offensichtlich ist. Damit erõffnet sich ein weiterer Problembereich: Je schwerer verstandlich die Zusammenhange und je komplexer die Ursachen einer Bedrohung - man denke entsprechend an Klimaveranderung und Ozonloch - um so mehr haufen sich die Fragen und U nsicherheiten in der Forschung und erst recht in der Gesellschaft, welche dadurch beide nahe an die Grenzen ihres Handlungsspielraums zu geraten drohen. Welche Gefahren in welchem Umfang bekampft werden, ist daher auch ei ne Frage der Machbarkeit, die von den technischen Mõglichkeiten, dem Wissensstand, dem politischen Spielraum und wirtschaftlichen Faktoren abhangt. Man lotet den Aktionsraum aus, der offen ist, um Bedrohungen abzuwenden. Ist dieser zu klein, so ist der Mensch ein ausgesprochener Meister im 4
Jaggi, Martin: Sicherheitsüberlegungen im Flussbau, in: Wasser, Energie, Luft 80/9 (1988), S. 193 - 197.
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Verdrangen und Ignorieren. Ein ideales Beispiel dafür ist die Gefahr einer Kollision unseres Planeten mit einem Meteoriten. Seit jeher befindet sich die Erde unter unabHissigem Beschuss aus dem All und seit Beginn der menschlichen Ku1tur gibt es Szenarien über Zusammenstõsse mit Meteoriten oder vergleichbaren Himmelskõrpern. Aber so faszinierend das Thema ist, so konsequent wird es aus unserem Bedrohungskatalog verdrangt. Wer würde es schon ausha1ten, taglich daran denken zu müssen, dass bereits morgen ein Brocken aus dem All das Ende bedeuten kõnnte? Wenn in der Endzeitvision der Apokalypse die Sterne noch auf gõttlichen Befehl hin vom Himmel gefallen sind5 , so beschaftigen sich heute die Astronomen auf wissenschaftlicher Ebene und im Auftrag von Regierungen mit der Impakt-Wahrscheinlichkeit sogenannter NEO~s (Ne ar Earth Objects). Immerhin ereignen sich alle paar hundert Jahre Zwischenfalle, wie jener von 1908, als die Explosion eines Himmelskõrpers über Sibirien 2000 km 2 Wald verwüstete, oder im Marz 1989, als ein grõsserer Asteroid in 700~000 Kilometer Entfernung an der Erde vorbei raste und uns nur um wenige Stunden verpasste. Ein Meteoriteneinschlag, der eine Katastrophe im Stil eines nuklearen Winters bewirken würde, ist allerdings nur zwei bis drei Mal in einer Million Jahren zu erwarten. 6 Zwar werden sowohl in Russland, wie in den USA auf hõchster Regierungsebene Plane geschmiedet, wie man mit Hilfe von Raumfahrttechnologie und nuklearen Sprengsatzen die Erde vor unerwünschtem Besuch schützen kõnnte. Angesichts der teilweise noch ziemlich futuristisch anmutenden Ideen und der Erkenntnis, dass wir uns nie vor allen Gefahren werden absichern kõnnen, ist es vorderhand aber sicher naheliegender und einfacher, die Bedrohung als so1che zu akzeptieren, indem wir lernen, mit ihr zu leben. 2.4. Phantasie und naturwissenschaftliche Objektivitat Apokalyptisches Denken bleibt uns somit trotz aller Katastrophen, die sich immer wieder um uns herum ereignen, grundsatzlich fremd. Und doch kõnnen wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass zu unserer menschlichen Situation auch apokalyptische, millenaristische Erwartungen gehõren. Auch wenn die Kollision mit Meteoriten kein alltagliches Thema ist, sind wir doch immer wieder offen für den Kitzel, den solche Geschehnisse hervorzurufen vermõgen. Etwa wie 1997, als der Komet Hale-Bopp unser Sonnensystem durchquerte und am 24. Marz mit 200 Mi1lionen Kilometern Abstand die Erde passierte. Bis in unsere an sich doch recht aufgeklarte Zeit hinein sind spektakulare Katastrophenszenarien stets ein beliebtes Thema geblieben. Schõne Beispiele 5
Offenbarung des Johannes 8, 10: «Dann blies der dritte Engel seine Posaune. Ein grosser Stem, der wie eine Fackel brannte, stürzte vom Himmel.»
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Grieve, R.A.F.: Impact cratering on the Earth, in: Scientific American 262 (1990), S. 66 -73.
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liefern unter anderen der Pastor Louis Vortisch7 von Satow in Mecklenburg und der Psychoanalytiker Immanuel Velikovsky8, dessen 1950 erschienenes Buch «Welten im Zusammenstoss» bis heute Neuauflage um Neuauflage erlebt. Im Abstand von hundert Jahren postulierten beide, dass ein Himmelskõrper, in nicht a11zu ferner Vergangenheit unseren Planeten mit kleinstmõglichem Abstand gekreuzt oder gar gestreift und diesen in der Folge ordentlich aus dem Gleichgewicht gebracht haben sol1. Mit dramatischem Unterton und grossem wissenschaft1ichen Ernst schildert der naturwissenschaftlich versierte Pastor Vortisch, wie die gravitativen Krãfte eines unbekannten, kosmischen Projektils von gewaltiger Masse der Erde grosse Teile der Atmosphare entrissen, die Ozeane durcheinander gebracht, ja sogar ganze Gebirge versinken und neu entstehen lassen haben sol1en. Darüber hinaus vermag das Mode11 sogar die Ursachen für Artensterben, Eiszeiten und andere erdgeschichtliche Katastrophen zu liefern. Nicht weniger abstrus geht es aus heutiger, naturwissenschaftlicher Sicht bei Velikovsky zu und her. Die Bibel beim Wort nehmend, kommentiert er die wundersamen Ereignisse im Kampf von Josua gegen den Kanaaniterkõnig in einem neuen Licht. Wie ein kosmischer Rãcher habe in der Mitte des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung ein Komet die Erde gestreift und für kurze Zeit zum Stillstand gebracht. Das abrupte Bremsmanõver habe dann ãhnlich wie nach Vortisch das Meer zum Kochen gebracht, Gebirge versinken lassen und Wãlder in Brand gesteckt. Den Feinden Israels schliesslich habe der Steinhagel aus dem Kometenschweif den vernichtenden Schlag versetzt. Angesichts aU dieser menschlichen UnzuHi.nglichkeiten im Umgang mit der Katastrophe bemüht sich die N aturwissenschaft wenigstens im Rahmen ihrer methodologischen Mõglichkeiten um Objektivitãt. Zumindest vermag sie einigermassen zu unterscheiden zwischen objektiven Bedrohungen, den selbstgemachten Katastrophen und menschlichen Phantastereien. Wer direkt von einem Unglück betroffen ist hat noÍmalerweise eine andere Sicht der Dinge als ein Aussenstehender. Gerade Forscher und Forscherinnen befinden sich hãufig in dieser - teilweise voyeuristischen - Situation des externen Beobachters , was a11erdings notwendig ist für die Erlangung objektiver Erkenntnisse. Nur mõglichst emotionslose Sachlichkeit vermag eine neutrale Einschãtzung von Katastrophen zu gewãhrleisten. Wie weit die Wissenschaft dieser Forderung angesichts ihrer eigenen Befangenheit tatsãchlich nachkommen kann, ist eine andere Frage. In jedem FalI gelingt es ihr nicht selten, auf diese Weise verschiedene Katastrophenereignisse in einen grõsseren Zusammenhang zu stelIen und
7
Vortisch, Louis: Die Jüngste Katastrophe des Erdballs. Ein geologischer Versuch, Braunschweig, 1852.
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Velikovsky, Immanuel: Welten im Zusammenstoss, Frankfurt am Main: Umschau, 1978.
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verhaltnismassig komplizierte Weehselbeziehungen zu entsehlüsseln, wodureh die Bedeutung eines einzelnen Unglüeks oft stark relativiert wird. 2.5. Die Sache mit dem Massstab Für uns Mensehen sind Zeitbegriffe wie Gestern, Heute, Morgen begreifbar, aueh mit einzelnen Jahren bis zu Jahrhunderten kõnnen wir reeht gut umgehen, wobei allerdings das Erinnerungsvermõgen bereits bei wenigen J ahrzehnten ersehõpft ist. In den Naturwissensehaften dagegen wird oft mit Zeitraumen gehandelt, für die es in unserem Alltag keinen Bezug gibt. Eine Atomuhr, der Resonanz der hoehfrequenten Sehwingungen des Casiums (oder anderer Atome) gehorehend, lauft mit einem Fehler von weniger als einer MillionstelSekunde pro Jahr, wahrend sich die Erdwissensehaftler und Astrophysiker auf ihren geistigen Reisen dureh die Erdgesehichte mit Tausenden von Jahrmillionen befassen. Beide Zeitangaben sind, gemessen an mensehliehen Massstaben, nicht mehr naehvollziehbar und do eh sin d sie unabdingbar, um unsere eigene Existenz als Teil eines grõsseren Zusammenhangs zu verstehen und einmal aus einem etwas anderen Bliekwinkel zu betraehten. Die folgende Auflistung sol1 diesen Umstand ein wenig erlautem: Die Erde existiert seit ea. 4'500 Millionen Jahren. Das Universum, beziehungsweise der Beginn des Urknall s, wird knapp auf das doppelte Alter gesehatzt. Die Dinosaurier sind vor 60 bis 65 Millionen Jahren ausgestorben. Der Menseh hat auf der Erde Gastreeht seit 1.5 Millionen Jahren (hama erectus), was gemessen am Alter der Erde lediglieh 0.03% ausmaeht. Für hama sapiens verbleiben nur noeh 100'000 Jahre und seit Christi Geburt sind wir gerade einmal die hundertste Generation. So gesehen werden Katastrophen, die uns in unserem Umfeld mehr oder weniger existentiell bedrohen, zu eher vernaehlassigbaren Episoden deklassiert. All die Erdbeben und Vulkane, we1che unseren Planeten ins Sehwanken bringen und die Hitze des Erdinnem an die Oberflaehe ergiessen, vermõgen niemals das irdisehe Leben emsthaft zu gefahrden; wohl kõnnte dureh aussere Einflüsse oder das mensehliehe Handeln das Leben im aussersten FalI in radikaler Weise ausgerottet werden, aber aueh herunterstürzende Meteorite und selbst das Risiko «Menseh» werden die Erde kaum aus den Angeln heben. Führt man diesen Gedankengang konsequent weiter, selbst auf das Risiko hin, statt in philosophisehe Hõhen zu gelangen, lediglieh in den Niederungen des Zynismus zu landen, lasst sieh sogar die Frage stellen, ob es denn überhaupt eine Katastrophe gibt? Die Katastrophe für die Mensehheit ware ja demnaeh gerade noeh ein unumgangliehes Artensterben im Lauf der Erdgesehiehte. Mit der Vemiehtung des Lebens hingegen würde die Erde zu einem Mars-ahnliehen Planeten und dureh die grosse kosmisehe Kollision entstünde nur ein weiterer, vernaehlassigbarer Asteroidenhaufen in unserem Sonnensystem. Und
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wenn mit dem Urknall auch die Zeit entstanden sein sollte, dann ware die endgültig letzte Katastrophe für das Universum wohl das Stillstehen der Uhren 9 .
3. Die Endzeitstimmung in den Naturwissenschaften
3.1. Der Wandel in den N aturwissenschaften Die Methodik und Ziele der naturwissenschaft1ichen Forschung haben sich im Verlauf der Zeit, von den Naturphilosophen bis heute mehrfach gewandelt. Wãhrend Jahrhunderten hat die naturwissenschaftliche Forschung ihre Aufgabe im Ordnen einer N atur gesehen, we1che in einer hõheren, für den Menschen noch nicht erkennbaren Ordnung gründete. Die Biologen entdeckten die Systematik in Tier- und Pflanzenwelt, die Geologen ordneten die erdgeschichtlichen Epochen, die Geographen haben die weissen Flecken auf den Landkarten getilgt und die Chemiker waren eifrig auf der Suche nach den Elementen. Erst in jüngerer Zeit begannen die Forscher, abgesehen von den Physikern, we1che ihre Untersuchungen schon immer auf der Grundlage von Modellen durchführten, vermehrt prozessorientiert zu arbeiten und Prognosen zu stellen. Vor allem der Computer erõffnete neue Betãtigungsfelder, indem Dinge und Vorgãnge, we1che bisher über die empirischen Methoden nicht zugãnglich waren, mittels Simulationen begreifbar wurden. Je tiefer man in den verschiedenen Fachbereichen in die Details eintauchte, je genauer man in die Materie eindrang, um so deutlicher wurde, dass in der Natur vieles nicht dem menschlichen Wunsch nach Ordnung entsprach und die Zusammenhãnge um ein Vielfaches komplexer waren als erwartet. Einen wesentlichen Beitrag zum Umdenken lieferte dabei die Chaostheorie, we1che nicht-linear ablaufende Prozesse untersucht. Am oft zitierten Beispiel vom Flügelschlag des Schmetterlings über dem Indischen Ozean, der den Wettersturz in Mitteleuropa verursacht, wird deutlich, wie einschneidend diese Wende war und was für ein Umdenkprozess für die Forscher und Forscherinnen notwendig wurde. Seit den We1tkriegen ist zudem eine weitere Neuerung in den Naturwissenschaften auszumachen: Die Erkenntnis des Universums ist nicht mehr einziges, hehres Ziel, das die Gemeinschaft der Forschenden unisono verfolgt, es geht nun plõtzlich auch um das Schaffen von Neuem - ein Wandel vom Beschreiben zu vermehrtem Prognostizieren und sogar Kreieren hat stattgefunden. Was früher eher den A1chimisten vorbehalten war, ist seit einigen Jahrzehnten auch Sache der naturwissenschaftlichen Forschung geworden. Neue Wissenschaftszweige wie zum Beispiel die Halbleiter- oder Gentechnolgie erõffnen mit einer ungeheuerlichen Rasanz immer neue Perspektiven für Forschung und Umwelt. 9
Weinberg, Steven: Die ersten Drei Minuten. Der Ursprung des Universums, München, Zürich: Pieper, 1977.
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Dass wir dabei mit unserem Auffassungsvermõgen an Grenzen stossen, sol1 das folgende Beispiel verdeutlichen. Eine Veranderung der erblichen Eigenschaften, welche ei ne Umwandlung der Gestalt, Funktion oder Lebensweise eines Organismus bewirkt, erfolgt weitgehend aufgrund von Mutationen. Diese treten in der N atur spontan auf, wobei sich ihre Haufigkeit nur schlecht abschatzen lasst. Man geht davon aus, dass bei hõheren Lebewesen die Mutationsrate 10-5 (1 : 100"000) pro Gen und Generation betragt. Bei ein paar tausend Genen und der Tatsache, dass Homo sapiens seit hõchstens 7500 Generationen auf diesem Planeten weilt, ist das nicht übermassig haufig. Ferner bringt eine Mutation in einer gegebenen Umweltsituation nur selten einen Selektionsvorteil mit sich. Die Natur beansprucht daher selbst für kleine Evolutionsschritte Jahrtausende bis Jahrmillionen. In der Biotechnologie hingegen kõnnen heutzutage gleichartige Ãnderungen mittels direkter Eingriffe in die Keimbahn von Organismen in der Grõssenordnung von Stunden vorgenommen werden. Die Forscher haben sich damit in gewisser Weise selber zu Schõpfern gemacht. Durch das Kreieren sind Wissenschaft und Technik verschmolzen und aus der Biologie wurde folgerichtig die Biotechnologie. Die zeitliche und auch raumliche Distanz zwischen der Arbeit der Grundlagenforschung und der praktischen Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse ist damit heute weitgehend entfallen, womit aber nun der Raum fehlt, welcher bisher dazu notwendig war, um gewisse Gedanken, Ideen und Visionen reifen zu lassen und auf ihren Nutzen für das Gemeinwohl hin zu prüfen. Die Mõglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und die globale Vernetzung schliesslich haben die Entwicklung zusatzlich beschleunigt, womit es für den Einzelnen (selbst wenn sich dieser zu den Spezialisten zahlen darf) schwierig geworden ist, den Anschluss nicht zu verlieren. Es ist einleuchtend, dass diese Veranderung sowohl das Potential für neue Chancen wie auch für neue Risiken in sich birgt. Entsprechend ausgepragt ist die Polarisierung der Meinungen bezüglich Gefahr und Nutzen neuer Technologien in Politik und Gese11schaft. Befürworter sehen darin einen wichtigen Beitrag zum Schutz, Wohl und Fortschritt der Menschheit, wahrend die Gegner bevorzugt ein Bild des blindwütig, in materialistischer Manier drauflos forschenden Wissenschaftlers malen, der einzig quantitative Ziele verfolgt, ohne Skrupel vor den mõglichen Folgen seines Tuns und ohne ethische Reflexionen darüber anzuste11en. 3.2. Die Müdigkeit der Gesellschaft gegenüber der Forschung Zwar laufen auch zahlreiche Bestrebungen, welche nicht nur im wirtschaftsliberalistischen Sinn das Wachstum fõrdern, sondern unmittelbar zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Die Suche nach erneuerbaren Energiequellen ware in diesem Zusammenhang zu nennen. Doch führen solche Forschungszweige eher ein Schattendasein gegenüber «trendigen» und gewinn214
trãchtigeren Technologien. Tatsache ist, dass breite Kreise der BevOlkerung angesichts der Komplexitãt von õkologischen und õkonomischen Zusammenhãngen endgültig den Überblick über das Geschehen in der Forschung verloren haben und daher auch nicht mehr wertend darüber urteilen kõnnen. Die naturwissenschaftliche Forschung wird deshalb heute in weiten Kreisen eher als Bedrohung denn als Segen gesehen. Was eine Minderheit unablãssig an neuen Rea1itãten schafft, überfordert die Mehrheit der Menschen, welche den Wandel in einer derartigen Schnelligkeit in ihrem Alltag nicht mehr bewãltigen kõnnen. Die Begriffe «Atom» und «Gen» verbreiten mehr Unsicherheit und Angst, als die dahinterstehenden Technologien je zu einem nachhaltigen Fortschritt werden beitragen kõnnen. Der Glaube an die Wissenschaft ist der Müdigkeit, dem Überdruss ihr gegenüber gewichen. Es scheint ein Zustand der Langeweile und der Gleichgültigkeit als Folge der Sinnentleerung zu herrschen, da uns die eigene, explosive Entwicklung überholt und in unserer Unbeholfenheit s~ehen gelassen hat. Was die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft betrifft, so sind die kleinen Entdeckungen für den Grossteil der Menschen nicht interessant, wogegen die grossen um so mehr Verunsicherung und Angst verbreiten. Mancher und manche fühlt sich von den Fortschritten der Forschung abgehãngt, man kann nicht mehr mitreden, denn es fehlt an den jeweils notwendigen Argumenten. Die Sache ist weitgehend über die Kõpfe hinausgewachsen. Wen wundert es, dass zum Jahrtausendwechsel nicht wenige ihr Verlangen nach Esoterik und Mystik ausleben. Religiõse Gemeinschaften aller Prãgungen haben Zulauf wie schon lange nicht mehr. Deren Grundlagen sind zwar oft nicht rational erfassbar, dafür sind ihre Glaubensbekenntnisse um so unverrückbarer. Offenbar ist es einfacher, sich in einem Umfeld mit fest umrissenen Wertvorstellungen zu bewegen, als sich mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, die in beinahe allen Bereichen von den Auswirkungen einer kaum mehr kontrollierbaren Wissenschaft und der mit ihr verbündeten Technologie geprãgt ist. . 3.3. Wie müde ist die Wissenschaft? Ganz im Gegensatz zum oben Gesagten, gibt es in den Naturwissenschaften gelegentlich aber auch Spuren von Müdigkeit oder gar Langeweile zu erkennen. Da ist zunãchst die unglückliche Konstellation zwischen Forschungsgeld und Forschungsaufwand. So fliessen in Zeiten der knappen Kassen die Gelder nur sehr widerwillig, wãhrend gleichzeitig in bestimmten B ereichen , wie etwa der Teilchenphysik, der Kostenaufwand unverhãltnismãssig steigt, um noch irgendwelche Fortschritte erzielen zu kõnnen. Die Geldgeber ihrerseits schüren die Skepsis in der Gesellschaft gegenüber wissenschaftlichen Grossprojekten. Der Anspruch, allein um der Erkenntnis willen forschen zu kõnnen, ist nicht mehr unbestritten und insbesondere die Grundlagenforschung muss - wenn man für einmal die Biotechnologie ausklammert - dementsprechend mit grossem 215
Einsatz um ihre Berechtigung kampfen. Damit dreht man sich in einem Teufelskreis, was für die Motivation in der Wissenschaft gewiss nicht torderlich ist. Schliesslich gibt es sogar Leute wie den Wissenschaftsjournalisten John Horgan 10, der prophetenhaft das Ende der Wissenschaft heraufbeschwort. Gemass seiner Analyse verlangsamt sich die Entwicklung stetig, da kaum mehr Fortschritte erzielt würden und wenn, dann nur sehr geringfügige. Die Wissenschaften würden auf diese Weise lediglich noch die Grenzen ihres Forschungsgegenstandes ausloten, nicht aber weiter hinausdrangen und befanden sich damit sozusagen am Anfang vom Ende. Zum Beweis führt er verschiedene Beispiele an: Die Heisenbergsche Unschãrferelation ll sei nichts anderes als ein Eingestandnis der Begrenztheit der Erkenntnis des Mikrokosmos, ebenso wie unser Gehirn nicht im Stande sei, die Komplexitat unseres eigenen neuronalen Erkenntnisapparates zu erfassen. Die Chaos- und Komplexionsforschung führe uns schliesslich die Grenzen unserer Prognosefahigkeit vor Augen. Für die Physik mogen solche Vermutungen. zumindest teilweise angebracht sein, denn hier scheint sich die Forschung am Ende des 20. Jahrhunderts tatsachlich an einer Schwelle zu befinden. Besonders in der Teilchenphysik besteht eine Kluft zwischen Theorie und Experiment. Dank immer grosserer Rechenkapazitaten gelingt es den Theoretikern zwar, die bestehenden Modelle immer mehr zu verfeinern, doch scheint es in Ermangelung neuer experimenteller Erkenntnisse nicht moglich zu sein, diese zu erweitern. Die Situation ist vergleichbar mit derjenigen zu Beginn unseres Jahrhunderts. Auch damals glaubte man an einem Endpunkt der Erkenntnis angelangt zu sein, bis unter anderem der dãnische Physiker Bohr 1913 mit seinem neuen Atommodell eine Wende einleitete und damit den Weg für die moderne Quantenmechanik bereitete. Dies zeigt, dass der Fortschritt in der Wissenschaft im Verlauf der Geschichte nicht monoton, sondern unstetig und sprunghaft verlãuft. Es ist somit ein Kurzschluss, von einer gegenwãrtig herrschenden Erkenntnis-Flaute direkt auf eine Endzeitstimmung schliessen zu wollen. Horgen führt dagegen noch ein weiteres Argument für die These vom Ende in den Wissenschaften auf: Der wissenschaftliche Fortschritt sei verhindert, wei1 die heutigen Forscher an einer notorischen Einflussangst vor grossen Vorbildern wie Einstein, Newton und zahlreichen anderen herausragenden Kopfen der Wissenschaftsgeschichte leiden würden.
10
Horgan, John: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München: Luchterhand, 1997.
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Die Heisenbergsche Unscharferelation beschreibt die Tatsache, dass Ort und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens (z.B. Elektron) prinzipiell nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit angegeben werden konnen. Gemass diesem physikalischen Modell besitzt ein Teilchen daher neben seiner korpuskularen Natur auch einen Wel1encharakter.
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Offensichtlich nicht bedacht bei seinen Ausführungen hat Horgan, dass am Ende des 20. Jahrhunderts der wissenschaftliche Fortschritt nicht mehr wie vor 200 Jahren von einzelnen Universaldenkern bestritten wird, sondern nahezu ausschliesslich das Werk von Forschungsgruppen ist. Entsprechend wird es heutzutage bereits als kleiner Skandal empfunden, wenn etwa ein Nobelpreis für Medizin nur an ei nen einzelnen Forscher verliehen wird. Der Fortschritt wird vom Kollektiv bestritten und die einzelnen Errungenschaften sind nicht selten zu komplex, als dass ihre Bedeutung in den Wissenschaftsbeilagen der Presse als solche erkannt werden. Und vermutlich ist unsere Zeit auch zu ungeduldig und von den Medien verdorben, um auf spektakulare Neuerungen zu warten, was zum Teil auch eine Folge der Entwicklung in der ComputerTechnologie sein mag: Gestern gekauft - heute schon veraltet. Schliesslich liegen zwischen Newton und Einstein auch nahezu dreihundert Jahre, so dass man angesichts der Langsamkeit der menschlichen Synapsen gut noch ein paar Jahre bis zur nachsten wissenschaftlichen Sensation warten kann. Wie es nun tatsachlich um die Motivation in den Naturwissenschaften steht, ist nicht einfach mit zwei, drei Klischees darzulegen. Es ist vor allem nicht oportun, sãmtliche Fachbereiche zusammengefasst zu beurteilen, denn wahrend beispielsweise die Physik am Ort zu treten scheint, oder die Erdwissenschaften im Schatten der Plattentektonik auf grosse Neuerungen warten, erlebt die Forschung im Umfeld der Biotechnologie einen nie gekannten Aufschwung. Eine Endzeitstimmung in der Wissenschaft kann daher nur ein untergeordnetes, ein vorübergehendes Phanomen sein, das bestenfalls zum Zeitgeist der Jahrtausendwende passt und daher gerne postuliert wird. Dabei wird oft ausser Acht gelassen, dass die Festlegung auf die Jahreszahl 2000, nüchtern betrachtet, rein willkürlich ist. Ihre Bedeutung beschrankt sich auf die christliche Welt, etwa so wie die Hõhenangabe von 8000 Meter nur bei europaischen Alpinisten Emotionen zu wecken vermag, wãhrend es für einen angelsachsischen Kletterer kaum einen besonderen Ansporn geben kann, einen Gipfel mit einer Hõhe von über 26'246 Fuss zu besteigen. In den Naturwissenschaften kann eine Jahreszahl daher für die Motivation nicht von Bedeutung sein. Eine betrübte Stimmung mag auch ganz einfach Ausdruck des Pessimismus vereinzelter, ausgebrannter Intellektueller sein, denen die Zukunftsperspektive abhanden gekommen ist, ahnlich dem Mathematiker Joseph-Louis de Lagrange, der im ausgehenden 18. Jahrhundert das Ende seines Faches gekommen sah, obwohl sich gerade das folgende 19. Jahrhundert für die Mathematik zu einer blühenden Epoche entwickelte 12 . Es entspricht nicht unbedingt dem Wesen des Menschen, einen kontinuierlichen Lauf der Dinge anzustreben. Der Anfang von etwas võllig Neuem und das endgültige Ende treiben uns allemal mehr an als die Aussicht auf eine 12
Wussing, Hans; Amold, Wolfgang (Hg.): Biographien bedeutender Mathematiker. Eine Sammlung von Biographien, Berlin: Volk und Wissen, 1989.
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gemachliche Entwicklung. Oder anders formuliert: Die Angst vor der Langeweile ist ein hochst zuverlassiger Motor. In der Hoffnung auf den grossen Coup arbeiten die Heerscharen von Wissensdurstigen nach wie vor am Fortschritt und es gibt eigentlich kein Argument, warum sie dies nicht mit dem selben Eifer wie ihre Kollegen (Kolleginnen gab es damals noch nicht) vor hundert Jahren tun sollten. Denn an und für sich ist es erstaunlich, wie man in einer Epoche unvergleichlicher Umwalzungen und atemberaubender Beschleunigung des Wandels, überhaupt auf den Gedanken kommen kann, Müdigkeit mache sich breit kurz vor dem Ende. Zumindest solange unsere geistigen Kategorien dem technischen Fortschritt hinterher hinken, sollte es eigentlich keinen Anlass geben, um vom Ende reden zu müssen. Unter dem Dogma der Forschungsfreiheit wird nahezu uneingeschrankt und hemmungslos geforscht. Kritische Stimmen und Bewegungen, die der Forschung skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen - im Zusammenhang mit der Gentechnologie etwa -, werden mit dem Vorwurf abgewehrt, man würde vielversprechende Wissenschaftszweige wegen politischer Ansichten oder spekulativer Ãngste blockieren. Aber angesichts der Tatsache, dass das Forschen nicht mehr allein um der Erkenntnis Wil1en geschieht, sondern stark nach wirtschaftlichen Vorstellungen funktioniert und immer mehr dem Druck zu produzieren ausgesetzt ist, kann die wissenschaftliche Forschung nicht mehr wertfrei handeln und geht ihrer notwendigen Unabhangigkeit verlustig 13 . Forschung und Technik geraten dadurch in eine zwiespaltige Situation, indem es die Gratwanderung zwischen Forschungsfreiheit und Unabhangigkeit zu bestehen gilt. Einerseits muss in der Wissenschaft frei von ausseren Einflüssen und Zwangen gearbeitet werden konnen, damit keine falschen Zielsetzungen aufgedrangt und die Ergebnisse für einseitige Interessen missbraucht werden konnen. Andererseits sind aber auch Kontrollinstanzen notwendig, die nicht nur über die Finanzmittel laufen und ein Entgleisen der Forschung selber zu verhindern vermogen. Bis heute wurde diese Rolle hauptsachlich von der Technikfolgeforschung, aber auch von Naturschutzorganisationen übernommen, deren Aktivisten und Aktivistinnen oft als fortschrittsbremsend verschrien werden. Die Geschichte kennt zumindest bereits einen Fall, in dem Naturwissenschaft und Technologie angeha1ten (um nicht zu sagen missbraucht) wurden, für staatliche Interessen zu produzieren. AIs in den Vierzigerjahren, im sehr schwierigen Umfeld des 11. Weltkriegs, Forscher in den Vereinigten Staaten die Atombombe entwickelten, wurde zum ersten Mal in der Geschichte das Potential für die Vernichtung der Menschheit geschaffen.
13
V gl.: Kochlin, Floriane: Abschied von der unsterblichen Seele. Der bedrohliche Freiheitsdrang der wissenschaft1ichen Gemeinschaft, in: Die Wochenzeitung 44, (1997).
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Das Beispiel zeigt, wie wichtig die Unabhangigkeit der Forschung ist, es führt aber auch vor Augen, wie nahe Nutzen und Schaden heute zusammengerückt sind und wie schnell Errungenschaften, die lange als gewinnbringende Neuerungen gepriesen wurden, zu existentiellen Bedrohungen für die Erde werden konnen.
4. Die Katastrophe darf es nicht geben Ob man nun nach der Endzeitstimmung, sprich der Katastrophe in den Naturwissenschaften sucht, oder ob man nach dem Umgang der Naturwissenschaften mit der Katastrophe fragt, in jedem Fall wird Folgendes kIar: Weder Ursachen noch Wirkungen von Katastrophen konnen in jedem Fall mit Bestimmtheit definiert werden, aber die Forschung schafft es doch immerhin, bis zu einem gewissen Grad, die Probleme zu erkennen und aufzuzeigen, womit sie - unterstützt vom technologischen Fortschritt - einen gewichtigen Beitrag zum Schutz von Mensch und Umwelt gegen Bedrohungen aller Art leistet. Diese Feststellung darf aber nicht darüber hinwegtauschen, dass dieselbe Institution gleichzeitig auch die Grundlagen zur globalen ZerstOrung liefert und nach wie vor dabei ist, (Risiko-) Technologien weiterzuentwickeln. «Freiheit für die Forschung!» heisst demnach die eine Parole, «Schutz vor dem wissenschaftlichen Fortschritt» die andere. Nachdem man sich über Jahrhunderte hinweg von der Natur zu emanzipieren versucht hat, mit der Vorstellung, sie beherrschen und den Menschen vor ihr schützen zu müssen, ist man durch den eigenen Fortschritt in eine Situation geraten, in we1cher man sowohl den Menschen wie auch die Natur vor der Forschung und der Technik schützen muss. Es gibt nur wenige denkbare Katastrophen, we1che eine globale ZerstOrung zur Folge haben konnten, die Tatsache jedoch, dass es in erster Linie von den Menschen selber provozierte Szenarien sind, sollte Grund genug sein, um die uneingeschrankte Forschungsglaubigkeit und Freiheit der Forschung gelegent1ich hinterfragen zu dürfen. Denn die «apokalyptische» Katastrophe für unseren Planeten ist weniger ein grosser, endgültiger Knall, als vielmehr das ganz perfide, schleichende Umkippen von Gleichgewichten in kleinen Schritten. Zwar kann aus naturwissenschaft1icher Sicht, angesichts des gewaltigen Potentials der lebendigen Natur zur Rekreation, die Katastrophe als so1che nicht kIar umschrieben werden und mit etwas Sinn für grossere Zusammenhange in Raum und Zeit, erscheinen die meisten Zerstorungen nur noch als kleine Kratzero Aber gerade gegenüber diesen gewaltigen Raum- und Zeitverhaltnissen sollte es für die naturwissenschaft1iche Forschung um so selbstverstandlicher sein, mit grosstmoglicher Nachhaltigkeit zu handeln und standig das eigene Tun zu hinterfragen, damit der Planet Erde nicht durch kopfloses menschliches Gebaren zur belanglosen Episode im Kosmos wird. 219
AUTORINNEN UND AUTOREN
Béatrice Acklin Zimmermann, Dr. theol., Lehrbeauftragte für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaren Hochschule Luzern und Doktorassistentin am Lehrstuhl für Dogmatik an der UniversiHit Freiburg i.Ue. Zahlreiche Verõffentlichungen im Bereich mittelalterlicher Kirchen- und Theologiegeschichte, feministischer Theologie und im Bereich des Antisemitismus und Rassismus. Beat A. Fal/mi, Dr. phil., Studium der Musikwissenschaft und Theologie an der Universitat Zürich und Promotion mit einer Arbeit über «Tradition als henneneutische Kategorie bei Arnold Schõnberg». Seit 1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gesamtausgabe der Werke des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck. Forschungsschwerpunkte: Berührungspunkte zwischen Musik, Theologie und Philosophie sowie Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zur Zeit forscht er in Strassburg als Stipendiat des Kantons Zürich über das Musikleben im ausgehenden Mittelalter und in der Refonnationszeit. Christof Jeckelmann, Dr. sc. nat., als beratender Geologe in der Privatwirtschaft tatig. Studium der Geologie, Mineralogie und Hydrogeologie an der Universitat Freiburg i.Ue., Promotion in Hydrogeologie und Hydrochemie am Lehrstuhl für Ingenieurgeologie der Eidgenõssischen Technischen Hochschule Zürich. Nebenamtlich ist er für die Wissenschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung tatig. Martina Lesch, Dipl.-Psych., Studium der Kath. Theologie, Gennanistik und Judaistik in Freiburg i.Br. und Jerusalem. Danach Studium der Psychologie, Psychopathologie und Erziehungswissenschaften in Freiburg i.Br. und Freiburg i.Ue.; Aufbaustudium in Erziehungsberatung und Schulpsychologie (e.G. Jung), Personzentrierter Psychotherapie (Rogers), Klinischer Hypnose und Scheidungsmediation in Zürich, Basel und Bern. Praktische Tatigkeit als Erziehungsberaterin/Schulpsychologin und Kindertherapeutin. Übersetzerin psychologischer Fachliteratur aus dem Amerikanischen. Z. Zt. Ausbildung in verhaltensorientierter Kindertherapie an der Universitat Freiburg i.Ue. und Mitarbeit in einem Projekt Scheidungsmediation am Office Familial der Stadt und des Kantons Freiburg. Walter Lesch, Dr. phil., Dipl.-Theol., Studium der Philosophie, Theologie und Romanistik in Münster, Freiburg i. Ue, Jerusalem und Tübingen. In den vergangenen Jahren auch Lehrauftrage in Tübingen, KasseI, Zürich und Luzern. Arbeitsgebiete: Grundlagen der Ethik und Religionsphilosophie, Politische Ethik, Bioethik, Kommunikation und Medien.
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Matthias Loretan, lie. theol. et phil., Leiter des Katholisehen Mediendienstes (Faehstelle für Film, Radio, Fernsehen, Medien und Kommunikation) in Zürich, Lehrauftrag für Ethik der Medienkommunikation am Institut für Journalistik und Kommunikationswissensehaft der UniversiUi.t Freiburg i.Ue. Charles Martig, lie. theol. und Diplom in Journalistik und Kommunikationswissensehaft, Filmbeauftragter des Katholisehen Mediendienstes, zusammen mit Matthias Loretan Mitglied der Gesehaftsleitung ZOOM (õkumenisehe Publikationen und Dienstleistungen im Medienbereich), Lehrauftrage zu den Themen: Film, Medien und Theologie an der Theologisehen Fakultat Freiburg i.Ue. Véronique Mauron, lie. des lettres. In den vergangenen Jahren war sie wissensehaftliehe Mitarbeiterin der Fondation Oskar Kokosehka beim Museum J eniseh in Vevey, organisierte versehiedene Ausstellungen des Künstlers und gab einige Kataloge, unter anderem mit den Werken der Fondation, heraus. AIs Kunstkritikerin Mitglied der Redaktion der Zeitsehrift «Pagine d' Arte» in Lugano. Assistentin an der kunsthistorisehen Sektion der Universitat in Lausanne. Z. Zt. vollendet sie mit Unterstützung des sehweizerisehen Nationalfonds unter Leitung von Prof. Michel Thévoz eine Dissertation zur zeitgenõssisehen Kunst. Mit Claire de Ribaupierre Furlan hat sie im Auftrag des CRLR zwei Ausstellungen realisiert und die entspreehenden Kataloge herausgegeben: «Mareel Brion, Les Chambres de 1'imaginaire», Musée historique de Lausanne (1995); «Alexandre Vinet, L' éloquenee, la morale, la passion», Espaee Arlaud in Lausanne (1997). Daria Pezzoli-Olgiati, Dr. theol., Studium der Theologie in Freiburg i.Ue. und Zürieh. Assistentin am Lehrstuhl für allgemeine Religionsgesehiehte und Religionswissensehaft an der Universitat in Zürieh. Forsehungsinteressen: religiõse Wahrnehmungen und Konzepte von Stadt in der Antike, Religionsgeographie, Neues Testament und Apokalyptik. Claire de Ribaupierre Furlan, lie. des lettres. Forsehungsassistentin am Centre de reeherehe sur les lettres romandes (CRLR) an der Universitat in Lausanne. Kritisehe Ausgabe der zwei Korrespondenzbande von Gustave Roud mit Mauriee Chappaz und René Auberjonois, versehiedene Studien über Kinderliteratur. Zur Zeit vollendet sie unter der Leitung von Prof. Doris Jakubee eine Dissertation zur zeitgenõssisehen Literatur (