BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 20
AUF DEM GIPFEL DER MACHT von Alfred Bekker
Die irdischen Astronauten...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 20
AUF DEM GIPFEL DER MACHT von Alfred Bekker
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht: ein gewaltiges, rochenförmiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Herrschaftsgebiet der Vaaren; sie erreichen das heimatliche Sonnensystem. Die Künstliche Intelligenz der RUBIKON verweist sie überraschend des Schiffes. Mittels einer Transportkapsel, wie sie schon den GenTecs Resnick und Jarvis zum Verhängnis wurde, gelangen sie zur Erde, in eine Tiefseestation der Hirten. Dort werden sie von einem amorphen Kunstwesen attackiert, das sich später als Retter in der Not erweist. Durch ein unterirdisches Gangsystem gelangen sie ins so genannte Getto - ein bizarres Konstrukt, das einmal eine Millionenstadt war... *
2041, Qomolangma Das Dach der Welt... der Sitz der Götter! Wie passend!, ging es Kaiser Hu Sadako durch den Kopf, während er durch die Front aus ultrahartem Panzerglas blickte. Von seiner am Gipfel des Qomolangma gelegenen Festung aus hatte man einen fantastischen Panorama-Blick über die schroffe Gebirgswelt des Himalaja. In über 7000 Metern Höhe lag der Herrschaftssitz des neochinesischen Kaisers. Ein perfekt an den Berg angepasstes, wahrhaft monumentales Bauwerk. Als Mount Everest war der Qomolangma einst in der dekadenten westlichen Welt bekannt gewesen. Der höchste Berg der Welt - früher ein Ziel für Extremsportler, später ein Ausflugsort für gut betuchte Touristen und heute das Machtzentrum des neochinesischen Kaiserreichs. Alles, was die menschliche Architektur je geschaffen hatte, wurde durch diese Festung in den Schatten gestellt. Der Festungskomplex war vollkommen autark. Er verfügte über ein eigenes Fusionskraftwerk und eine Sauerstoffversorgung, die in den Innenräumen stets dafür sorgte, das ein normaler Atmosphärendruck herrschte. In diesen Höhen konnten sich Menschen ansonsten nur für kurze Zeit im Freien aufhalten. Die dünne Atmosphäre sorgte normalerweise für Sauerstoffmangel im Gehirn. Geminderte geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, Wahnvorstellungen und das Delirium waren die Folge. Wer immer auch den Versuch wagen sollte, diesen Ort einzunehmen oder zu zerstören, dem wird das nur mit einem für menschliche Maßstäbe unermesslich großen technischen Aufwand gelingen, dachte Sadako. Aber menschliche Maßstäbe waren wohl kaum noch das Maß der Dinge, seit die übermächtigen Fremden mit ihren Äskulap-Raumschiffen den Himmel verdunkelt hatten...
Kaiser Sadakos Züge blieben vollkommen regungslos. Vielleicht war es der dünne Kinnbart, der dieses Gesicht mit den dunklen ruhigen Augen älter wirken ließ, als es war. Vielleicht aber auch der zur Maske gefrorene Ausdruck von Überheblichkeit. Von mehr als einer Milliarde Menschen wurde Sadako verehrt wie ein Halbgott. Die Tatsache, dass seit der so genannten Schwarzen Flut so gut wie jegliche staatliche Autorität und Infrastruktur auf der ganzen Welt zusammengebrochen war, änderte daran nicht das Geringste. Elf Minuten lang hatte diese Flut, von der niemand genau sagen konnte, was sie eigentlich gewesen war, für einen weltweiten Energieausfall gesorgt. Für die hoch technisierte und vollkommen energieabhängige Zivilisation des mittleren 21. Jahrhunderts war das einem globalen Super-GAU gleichgekommen. Millionen waren bei Verkehrsunfällen und auf den Intensivstationen von Krankenhäusern ums Leben gekommen. Flugzeuge waren abgestürzt, Züge außer Kontrolle geraten... Von mir erwartet zumindest der chinesische Teil der Menschheit Rettung und Hilfe, dachte Sadako. Und wenn ich es geschickt anstelle, dann lässt sich diese größte Krise in der Geschichte der Menschheit sogar zum Vorteil meines Landes nutzen - und zu meinem eigenen. Das zeichnete seiner Auffassung nach einen geborenen Herrscher von anderen Menschen aus: Der Blick nach vorn, auch im Angesicht einer noch so bedrohlich erscheinenden Krise. Sadako schaute einige Momente lang den Drohnen nach, die den Luftraum um die Qomolangma-Festung bewachten. Diese Drohnen waren mit dem militärischen Kommandozentrum der Festung verbunden und mit modernsten Lenkwaffen ausgestattet.
Es war ein Sicherheitsnetz, das für jeden irdischen Angreifer nahezu undurchdringlich war. Doch in wie weit das auch für die Fremden aus dem Weltraum zutraf, musste sich erst noch erweisen. Sadako wandte leicht den Kopf. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er bemerkt, dass eine weitere Person den Raum betreten hatte. Wang, mein treuer Cousin... Sadako hatte die meisten wichtigen Positionen im Machtgefüge des Kaiserreichs mit seinen Verwandten besetzt. Das bot zwar auch keine absolut sichere Vertrauensgrundlage, aber Sadako glaubte nun einmal an die Bande des Blutes. Die Familie war seit jeher das Fundament jeder menschlichen Kultur. Eine tragfähige Grundlage für seine Macht... Wang neigte leicht den Kopf und wartete darauf, angesprochen zu werden. Von sich aus hätte er das nie gewagt. »Was gibt es, Wang?«, fragte der Kaiser. Sein Kinn hob sich etwas, was den Ausdruck der Herablassung noch verstärkte. Die Pose des Herrschers und Halbgottes. Sadako war sich der Tatsache bewusst, dass es besonders gegenüber den Personen in seiner engste Umgebung darauf ankam, niemals ein Zeichen von Schwäche zu zeigen. Auch Familienbande waren schließlich keine Garantie dafür, dass nicht doch jemand aus seinem Clan einen günstigen Moment nutzen und Sadako vom Thron stürzen wollte. Im Augenblick allerdings war dies ziemlich unwahrscheinlich. Die Ankunft des schier übermächtigen außerirdischen Gegners wirkte in gewisser Weise disziplinierend auf das, was vom Machtapparat des Kaisers noch übrig geblieben war. »Ich habe wichtige Nachrichten, Majestät!«, sagte Wang. Der Kaiser hob die schmale Augenbrauen. »Lass mich mit diesen Schreckensnachrichten zufrieden, Cousin. Ich weiß
bereits, dass mein Volk unvorstellbare Leiden durchlebt und überall auf der Welt das Chaos regiert!« Gleich nach ihrer Ankunft hatten die Fremden dafür gesorgt, dass schlagartig jegliche Satellitenkommunkation unterbrochen wurde. Schon unter normalen Umständen wäre sowohl die zivile als auch die militärische Infrastruktur mit dieser Lage vollkommen überfordert gewesen. Aber durch den totalen Energieausfall der Schwarzen Flut war sämtliche Technik lahmgelegt worden. Das galt für Krankenhäuser, die Verkehrsleitsysteme der Metropolen und das Militär gleichermaßen. Es gab niemanden, der in der Lage gewesen wäre, die verheerenden Brände in den Städten zu löschen oder sich ausreichend um die Verletzten zu kümmern. Zahllose Leichen sorgten dafür, dass akute Seuchengefahr bestand. Die Trinkwasserversorgung war für Millionen Menschen zusammengebrochen. Die zunächst nur spärlichen Meldungen, die im kaiserlichen Machtzentrum eintrafen, glichen einem einzigen apokalyptischen Horror-Szenario, wie man es ansonsten nur aus den Broschüren westlicher Sekten kannte, die auch in China für einige Zeit versucht hatten, Fuß zu fassen. Aber schon diese bruchstückhaften Nachrichten gaben eine Ahnung des Grauens, das im Moment den Globus regierte. Millionen Menschen waren ohne medizinische Versorgung. Der Austausch von Waren aller Art war zusammengebrochen. Es existierte kein Transportwesen mehr, dass den Namen verdient hätte. »Ich überbringe zur Abwechslung eine gute Nachricht«, erklärte Wang. »Es ist unseren Spezialisten gelungen, über spezielle Kommunikationskanäle einen Kontakt zur amerikanischen Präsidentin herzustellen...« Ein Ruck ging durch Hu Sadako.
»Das ist in der Tat die erste gute Nachricht seit Tagen!«, stieß er hervor. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. »Leider ist der Kontakt wieder abgebrochen. Aber Major Lieh arbeitet daran.« »Ich möchte zu gern wissen, wo Sarah Cuthbert sich verkrochen hat!« »Auf jeden Fall nicht im weißen Haus. Die Informationen, die wir vom amerikanischen Kontinent bekommen, sind spärlich, aber sie laufen eigentlich darauf hinaus, dass die Regierung Washington verlassen hat.« Hu Sadako lachte heiser auf. »Das sieht diesen dekadenten Westlern ähnlich! Verkriechen sich wahrscheinlich in irgendwelchen unterirdischen Atombunkern, anstatt den Kampf zu suchen!« »Wie auch immer - wir brauchen die Amerikaner als Verbündete«, gab Wang zu bedenken. »Allein dürfte keine irdische Nation auch nur den Hauch eine Chance gegen die Fremden haben.« »Das werden wir sehen«, knurrte Sadako trotzig. Er hatte keineswegs vor, sich geschagen zu geben. Mochte es auch Millionen Opfer kosten - Sadako war entschlossen, den Fremden entgegenzutreten. Mit allen Mitteln! Mit etwas Glück könnte mir diese Katastrophe das einbringen, was ich unter anderen Umständen im Wettbewerb mit den Amerikanern so schnell nicht hätte erringen können, überlegte er. Die globale Vorherrschaft... * Einige Tage später... Kaiser Sadako betrat den spartanisch eingerichteten Konferenzraum. In seinem Gefolge befand sich sein Cousin
Wang, der Sadako unter anderem in allen Sicherheitsfragen beriet. Etwa ein Dutzend hohe Offiziere saßen an einem langen Tisch und erwarteten ihren Oberbefehlshaber. Sie erhoben sich und nahmen Haltung an, bis Sadako sich gesetzt hatte. Durch ein leichtes Nicken signalisierte der Herrscher den Offizieren, dass es ihnen gestattet war, sich ebenfalls zu setzen. Sadako übernahm sofort die Initiative. »General Chen, wie ist der derzeitige Sicherheitsstatus der Qomolangma-Festung?« »Wir sind in voller Alarmbereitschaft. Sämtliche Waffensysteme sind innerhalb von Augenblicken einsatzfähig. Sowohl atomar als konventionell bestückte Lenkwaffen können von den Abschuss-Silos unserer Festung aus beinahe jeden Punkt der Erde erreichen. Allerdings darf ich darauf hinweisen, dass seit der Zerstörung sämtlicher Erdsatelliten durch die Raumschiffe der Fremden eine Zieljustierung nicht mit gewohnter Präzision möglich ist.« »Was ich wissen möchte, ist: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, uns hier auf dem Qomolangma anzugreifen?«, hakte Sadako nach. Er hasste Geschwätz. Von seinen Soldaten verlangte er präzise Auskünfte. Für die Entscheidungen war hingegen er zuständig. Über die großen Linien der Strategie brauchten sie sich keine Gedanken zu machen. Das sah er als seine Aufgabe an. »Ich denke, wenn das die Absicht der Fremden gewesen wäre, hätten sie es längst getan«, erklärte Chen. »Sie waren in der Lage, sämtliche Energiesysteme auf unserem Globus lahmzulegen, die Satelliten aus der Umlaufbahn zu schießen und aus Jupiter eine Art Schwarzes Loch zu machen.« »Streng genommen wissen wir nicht, ob dafür wirklich die Fremden verantwortlich sind oder es sich um ein uns bisher unbekanntes Naturphänomen handelt, das sie ausgenutzt
haben, um ihre Schiffe in unser Sonnensystem zu bringen«, warf Wang ein. Chens Gesicht blieb eine unbewegliche Maske. »Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, dass unsere Feinde über derart große Machtmittel verfügen! Wir müssen meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass sie in der Lage wären, uns jederzeit im Handumdrehen auszuschalten.« »Wie steht es mit unserer Kapazität für einen massiven atomaren Gegenschlag?«, erkundigte sich der Kaiser. »Die wäre vorhanden«, antwortete Chen. »Auch wenn wir nur die Kontrolle über die Verteidigungssysteme in der Himalaya-Region zurückerlangen konnten, wäre es damit möglich innerhalb weniger Minuten einen atomaren Angriff auf nahezu alle auf der Erde gelandeten Äskulap-Raumer erfolgen zu lassen.« »Wie viele Schiffe sind es?«, fragte Sadako. »Den Informationen nach, über die wir verfügen, sind es 75.« Einer der anderen anwesenden Offiziere meldete sich jetzt zu Wort. Yu war der Chef des Geheimdienstes im Rang eines Vier-Sterne-Generals. Sein vollkommen haarloser Kopf wirkte wie ein Totenschädel. Er war Anfang neunzig und eigentlich längst auf dem Altenteil. Aber Kaiser Sadako hatte ihn bei Antritt seiner Herrschaft reaktiviert. Yu war ein kalter, logischer Denker. Dabei allerdings vollkommen ohne Skrupel und seinem Land absolut loyal, gleichgültig von wem es gerade beherrscht wurde. »Ich kann vor den möglichen Folgen eines Atomschlags nur warnen«, sagte General Yu. »Was nützt uns ein wiederhergestelltes, befreites Reich, das dann die vorherrschende Macht auf einer völlig unbewohnbaren Erde wäre. Außerdem braucht uns nur eins dieser Äskulap-Schiffe zu entgehen, und wir müssten mit einem Gegenschlag der anderen Seite rechnen, der unser Ende bedeuten könnte.«
Sadako wirkte nachdenklich. Er gab viel auf das Urteilsvermögen des nur an Jahren greisen Generals, dessen Verstand mit einer Urteilsschärfe arbeitete, die manch Jüngeren vor Neid erblassen lassen konnte. »Was wäre Ihre Alternative, General?«, fragte Sadako den Geheimdienstchef. »Wir sollten uns alle Optionen offen halten, solange wir nicht genau wissen, was letztlich die Absichten der Fremden sind«, antwortete dieser bedächtig. »Unser Gegenschlag sollte in jedem Fall gut vorbereitet sein. Wir haben übrigens aktuelle Bilder des Äskulap-Schiffs hereinbekommen, das in Bejing gelandet ist.« »Ich möchte sie sehen!«, verlangte Sadako. »Sehr wohl.« Mt Hilfe einer Fernbedienung aktivierte General Yu einen großflächigen Wandbildschirm. »Einige meiner Leute sind vor Ort«, erklärte der Greis. »Zwar hat noch keiner der Fremden das Schiff verlassen, aber trotzdem konnte eine interessante Veränderung beobachtet werden, Majestät. Sehen Sie selbst!« Der Kaiser erhob sich und starrte auf die Bildfläche. Das gewaltige Schiff, das ursprünglich die Form eines Äskulabstabes gehabt hatte, bildete jetzt einen kathedralenartigen, mehr als 500 Meter hohen Turm, der an der breitesten Stelle ungefähr sechzig Meter maß. Eine Anzeige auf dem Schirm informierte über die Größenverhältnisse. Ein Turm, höher als die meisten Wolkenkratzer der Erde!, durchzuckte es Sadako. »Fast könnte man den Eindruck haben, dass sich das Schiff in ein Bauwerk verwandelt hat!«, stieß der Kaiser ungewohnt emotional hervor. »Es könnte darauf hindeuten, dass die Fremden zu bleiben beabsichtigen«, gab General Chen zu bedenken.
Sadako nicke leicht. »Ja, das wäre ein möglicher Schluss!« Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und trat näher an die Bildfläche heran. »Aber warum zeigen sie sich nicht?« »Warum sollten sie übermäßige Eile an den Tag legen?«, antwortete der Chef des Geheimdienstes mit einer Gegenfrage. »Seien wir froh, dass sie uns bisher nicht angegriffen haben«, warf General Yu ein. »Das gibt uns Zeit dafür, über eventuelle Gegenmaßnahmen gründlich nachzudenken.« Er erhob sich ebenfalls. Er war ein kleiner drahtiger Mann, der auf Sadako immer recht zerbrechlich gewirkt hatte. Aber der Kaiser wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck trog. Sadako drehte sich zu ihm um. Ihm war die Nuance in den Worten des Generals nicht entgangen. »Sie sprechen von eventuellen Gegenmaßnahmen?«, echote Sadako. »Vielleicht haben die Fremden die Absicht, sich mit uns zu verständigen...« »Niemals!« »... und uns bleibt möglicherweise keine andere Wahl, als darauf einzugehen!« * Zwei Stunden später befand sich der Kaiser zur Teezeremonie in seinen Privatgemächern. Sadako war allein. In Gedanken versunken genoss er den Panorama-Blick, den ihm die Fenster-Front bot. In der Ferne sah er eine Staffel hochmoderner Tarnkappenbomber aus den Wolkenbänken auftauchen, die um die Wipfel lagen. Das Interkom summte. Er schaltete es über einen InfrarotSensor an seiner Uniformkombination frei.
»Was ist?«, fragte Sadako unwirsch. »Hier spricht Wang. Es ist uns endlich gelungen, über einen geheimen Kanal Verbindung zum Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte zu bekommen.« »Ich möchte die Nachricht hier entgegennehmen.« »Die Qualität des Signals ist nach wie vor instabil. Die Verbindung könnte ziemlich abrupt abbrechen.« Der Kaiser aktivierte einen Wandbildschirm. Das Gesicht eines grauhaarigen Mannes in der Uniform der US-Streitkräfte erschien dort. »Hier spricht Colonel Thomas McKinley. Man sagte mir, dass Sie fließend Englisch sprechen, Majestät, sodass wir keine Kommunikationsprobleme haben dürften.« »Zumindest nicht in diesem Sinn, Colonel«, erwiderte Sadako. »Wo ist die Präsidentin? Ich hätte gerne persönlich mit ihr gesprochen.« »Das ist im Moment nicht möglich, Majestät. Aber sie lässt Ihnen ausrichten, dass wir an einer Kooperation mit Ihnen im Anbetracht der extraterrestrischen Invasion sehr interessiert sind.« »Dann schlage ich vor, dass sie und ich unseren Kontakt intensivieren, um geeignete Schritte für einen Gegenschlag zu überlegen.« Ein mattes Lächeln glitt über McKinleys Gesicht, doch er ging nicht auf den offensichtlichen Wunsch des Kaisers ein. »Es scheint mir so, als ob die militärische Infrastruktur Ihres Landes durch die Invasion weniger hart getroffen wurde als die meiner eigenen Nation...« »Wo ist die Präsidentin?«, beharrte Sadako. »An einem sicheren Ort«, erklärte McKinley. »Wir müssen zunächst wieder so weit auf die Beine kommen, dass wir die notwendigsten Kommunikationskanäle wiederhergestellt haben. Außerdem...«
Die Stimme des Colonels wurde plötzlich durch ein Rauschen ersetzt. Das Bild verwackelte und war wenige Augenblicke später verschwunden. Während sich die Äskulap-Raumer der Erde genähert hatten, hatten der Kaiser und Präsidentin Sarah Cuthbert einige Male Kontakt miteinander gehabt. Warum wurde diesmal ein relativ unbedeutender Lakai vorgeschickt, um mit mir zu sprechen?, fragte sich Sadako. Was auch immer auf der anderen Seite des Pazifik hinter den Kulissen eines zerfallenden und in Anarchie versinkenden Staates vor sich gehen mochte, so musste der Kontakt auf jeden Fall intensiviert werden. Sadako erhob sich und aktivierte das festungsinterne Interkom. »Wang?« »Majestät, das Kommunikationssignal ist abgebrochen. Es wird durch Interferenzen so nachhaltig gestört, dass es zurzeit unmöglich ist, den Kontakt wiederherzustellen.« »Ich möchte Bescheid wissen, sobald es wieder möglich ist.« »Jawohl.« »Sagen Sie außerdem General Yu Bescheid. Ich möchte, dass die Aufzeichnung dieser Nachricht auf alles untersucht wird, was den Spezialisten des Geheimdienstes dazu einfällt. Irgendetwas stimmt da nicht... Außerdem will ich alles wissen, was in unseren Datenspeicher über Oberst McKinley zu finden ist.« »Jawohl, Majestät.« Sadako schaltete das Interkom ab. Auf der Bildfläche ließ er sich die neusten eingegangenen Nachrichten anzeigen. Manche Radio- oder Fernsehsender strahlten sporadisch Programme ab. Teile des Datennetzes funktionierten inzwischen wieder. Die Nachrichten, die über diese Kanäle die Qomolangma-Festung erreichten, wurden immer apokalyptischer. In Shanghai herrschte ein
erbarmungsloser Kampf um Nahrungsmittelreserven, Medikamente und Waffen. Ganze Stadtteile waren noch immer ohne Strom. Tarnkappenjäger, die Shanghai im Tiefflug überquert hatten, hatten Bilder aufgezeichnet, die das Schlimmste ahnen ließen. Ständig gab es im Stadtgebiet Explosionen und Schießereien. Bewohner verschiedener Stadtviertel und Straßenzüge kämpften rücksichtslos um die knappen Resourcen. Läden und Kaufhäuser wurden geplündert. Die Angehörigen von Armee, Polizei und Verwaltung hatten ihre Posten aufgegeben, um sich um die eigenen Familien und deren Überleben zu kümmern. Die wenigen noch intakten Einheiten der Sicherheitskräfte standen auf verlorenem Posten. Zudem waren sie ziemlich immobil. Ein Großteil der Einsatzfahrzeuge war am Tag der Schwarzen Flut durch Unfälle beschädigt worden oder saß in den Staus fest, die durch gigantische Serienunfälle verursacht worden waren. Die Straßen waren durch Blechlawinen verstopft, ein Großteil der Helikopter-Flotte von Polizei und Militär war abgestürzt. Auch wenn es ein quälender Anblick ist - es ist die Realität!, ging es Sadako bitter durch den Kopf, während er diese Bilder auf dem großen Wandschirm sah. In einem Seitenfenster wurden Zusatzinformationen angezeigt. Der Ort, die Zeit, die vermutete Anzahl von Toten und Verletzten... Shanghai, die Perle des Kaiserreichs, das wirtschaftliche Herz Asiens war eine Hölle der Anarchie geworden. Jeder kämpfte gegen jeden. Ähnliches galt auch für Hongkong, auch wenn das Bildmaterial, das von dort geliefert werden konnte, spärlicher war. Viele der großen Wolkenkratzer standen seit Tagen in Flammen. Wie große Fanale wirkten sie. Gigantische Brandfackeln, deren Rauchfahnen von den milden
Pazifikwinden kilometerweit ins Landesinnere geweht wurden. Dazu kam gerade in Hongkong, dass die Einflugschneise des Flughafens über die Hochhäuser hinwegführte... Hunderttausende Menschen lagen allein in Hongkong unter Schuttbergen begraben. Aufgefangene Funkbotschaften sprachen von einem bestialischen Verwesungsgeruch, der über der Stadt hing. Unzählige Bürger waren zu Fuß auf der Flucht und versuchten, aus der Stadt herauszukommen. Erste Fälle von Typhus und Cholera waren aufgetreten. Aber wer unter diesen Bedingungen erkrankte, war so gut wie sicher dem Tod geweiht. Ein Gesundheitswesen existierte nicht mehr. Auch aus Metropolen in Übersee trafen jetzt immer häufiger ähnliche Nachrichten ein. Manchmal waren sie schon mehrere Tage alt. Die Verhältnisse in London und Los Angeles waren denen in Shanghai oder Hongkong durchaus vergleichbar. In der Nähe der brasilianischen Stadt Recife war es zu einer Reaktorkatastrophe gekommen, nachdem ein Verkehrsflugzeug in die Außenhülle gestürzt und sie durchschlagen hatte. Der Ausbruch von Gamma-Strahlen war weltweit messbar. In Washington brannte das weiße Haus. Anhänger einer Sekte hatten das offenbar verlassene Gelände okkupiert und sandten nun über Kurzwelle ihre wirre Botschaft in den Äther. Laut ihren Worten waren die letzten Tage vor der Wiederkunft Christi gekommen. Die Schiffe der Fremden und die Schwarze Flut seien Vorboten des Strafgerichtes gewesen, das die Menschheit nun ihrer Sünden wegen über sich ergehen lassen müsse. Aus Afrika gab es überhaupt keine Nachrichten. Hatten sich anderswo immerhin hier und da Reste der alten Ordnung erhalten, so schien auf dem schwarzen Kontinent sämtliche Autorität und Infrastruktur zusammengebrochen zu sein. Sadako stoppte schließlich den Strom der Katastrophenbilder. Die Lage wurde von Tag zu Tag
schlimmer. Aber für Sadako stand ein anderer Gedanke im Vordergrund. Aus dem gegenwärtigen Chaos würde sich früher oder später eine neue Ordnung herausbilden. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Die Frage ist nur, wer diese neue Ordnung beherrscht, überlegte er. Die Fremden - oder die Menschheit unter meiner Führung? Vielleicht ist es unter diesem Gesichtspunkt gesehen gar nicht so gut, mit den Resten der amerikanischen Armee zu kooperieren... Sadako gelangte zu dem Schluss, dass nach einem Sieg über die Fremden die Menschheit zweifellos dem folgte, der sie befreit hatte. Wenn ich das schaffe, wird es für hundert Jahre niemanden geben, der es wagen würde, sich gegen mich oder meine Nachfolger zu stellen!, war er überzeugt. Sadakos Finger glitten geschwind über ein virtuelles Terminal auf der Bildfläche, und er ließ sich die aktuellen Bilder des verwandelten Äskulap-Schiffs in Bejing zeigen. Damit folgte er einem inneren Drang, den er nicht zu erklären vermochte. Einige kleinere Veränderungen bemerkte er an dem Raumschiff, das jetzt einen gewaltigen Turm darstellte. Offenbar war die Umwandlung noch nicht zu hundert Prozent abgeschlossen. Sadako trat einen Schritt zurück. Warum nicht nach Bejing fliegen und sich das Ding mal aus der Nähe ansehen? Aus diesem Gedanken wurde ein drängender Wunsch, der keinen Aufschub zu dulden schien. Mit einem deiner Jets könntest du innerhalb von Stunden dort sein und sogar pünktlich zur nächsten Lagebesprechung wieder in der Qomolangma-Festung weilen... Mit einer fahrigen Geste wischte sich der Herrscher des Neochinesischen Kaiserreichs über das Gesicht. Was war eigentlich in ihn gefahren? Hatte ihm der Schlafmangel der
letzten Zeit so sehr zu schaffen gemacht, dass er bereits begann, sich wie ein Narr aufzuführen? Der Summton des Interkom riss ihn aus seinen Gedanken heraus. »Was gibt es?«, fragte der Herrscher selbst für seine Verhältnisse ziemlich unwirsch. »Hier General Yu. Ich habe Informationen über Oberst McKinley, den Sprecher der amerikanischen Präsidentin.« »Und?« »McKinleys Dienstverhältnis in der Army ruht seit einem Jahr. Seitdem ist er Mitglied eines sogenannten Think-Tanks des amerikanischen Geheimdienstes NCIA, der die Präsidentin mit Memoranden zur inneren Sicherheit versorgt.« »Wie steht er zu Präsidentin Cuthbert?« »Nach allem, was unser Nachrichtendienst über ihn zusammengetragen hat, hat er diesen Karrieresprung der Präsidentin zu verdanken und steht ihrer Administration daher sehr loyal gegenüber. Außerdem sind die politischen Vorstellungen nahezu deckungsgleich.« »Einen Putsch halten Sie für ausgeschlossen?« »Wir haben inzwischen das Signal des ersten, fehlgeschlagenen Kommunikationsversuchs decodiert. Es waren nur Bilddaten, keine akustischen Informationen. Aber die Bildsequenz zeigt eindeutig Präsidentin Cuthbert. Ein Abgleich mit allen uns zur Verfügung stehenden telemetrischen Vergleichsdaten beweist das einwandfrei.« »Dann können wir also davon ausgehen, dass McKinleys Angaben der Wahrheit entsprachen und die Präsidentin wohlauf ist.« »Ja.« Sadako atmete tief durch. »Trotzdem... Inzwischen habe ich die Bilder des brennenden Weißen Hauses gesehen, das offenbar einfach sich selbst überlassen wurde. Ich weiß nicht, ob es wirklich lohnt, mit einer Administration aus Feiglingen
zusammenzuarbeiten, der Präsidentin Cuthbert offenbar vorzustehen scheint... Aber darüber werde ich ein anders Mal entscheiden.« Nachdem der Kaiser das Interkom abgeschaltet hatte, veränderte er den Bildausschnitt auf dem Wandschirm. Während des Gesprächs mit General Yu hatte sein Blick die ganze Zeit über an dem monumentalen Turm der Fremden gehangen und sich daran geradezu festgesaugt. Er veränderte den Bildauschnitt dahingehend, dass nun der Sockel des ehemaligen Äskulap-Raumers sichtbar wurde und stellte eine stärkere Vergrößerung ein. Was er sah, ließ ihn unwillkürlich schlucken. Tausende von Menschen umlagerten das Raumschiff und starrten es an wie eine antike Götterstatue. Im Gegensatz zu den Verhältnissen, die ansonsten im Stadtgebiet von Bejing herrschten, waren diese Menschen friedlich. Nirgends waren Anzeichen für Gewalt feststellbar. Was hat das zu bedeuten?, durchfuhr es Sadako. * Zwei Wochen später... Sadako starrte auf den großen Hauptschirm des Kommandozentrums seiner Qomolangma-Festung. Das Großbild war in ein halbes Dutzend Fenster zerteilt. Schrifteinblendungen zeigten Städtenamen an. Bejing, New York, Berlin, London, Buenos Aires, Neu Delhi... Auf all den Bildausschnitten waren nahezu identische Szenen zu sehen. Gewaltige Ströme von Menschen pilgerten quer durch die halb verwüsteten Stadtlandschaften auf die Standorte der ehemaligen Äskulap-Schiffe hin. In Anbetracht der ansonsten immer noch vorherrschenden Anarchie waren diese Bilder in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Schließlich liefen diese
Pilgerzüge mit einer bemerkenswerten Ordnung und Disziplin ab. Sadako war unwillkürlich an Bilder von heiligen Städten der Moslems in Mekka erinnert. Nur dass die Prozessionen zu den Türmen sehr viel ruhiger abliefen. Es gab keinen religiös motivierten Gefühlsüberschwang. »Es scheint sich unseren Informationen nach um ein weltweites Phänomen zu handeln«, erklärte General Yu. »Überall dasselbe Bild, die Menschen scheinen sich auf eine fast magische Weise von diesen gewaltigen Türmen angezogen zu fühlen.« »Wie der Drang der Motten zum Licht«, murmelte der Kaiser. In den letzten Tagen hatte er es vermieden, sich Bildmaterial anzusehen, das die Türme zeigte. Die seltsame Sehnsucht, die so viele Menschen weltweit befallen hatte, war offenbar auch in im am Werk - wenn auch in abgeschwächter Form. Eine Zeit lang hatte Sadako geglaubt, sich nur etwas einzubilden, aber jetzt war er sich nahezu sicher. »Was mag es sein, was diese Anziehungskraft ausübt?«, erkundigte er sich anYu gewandt. »Gibt es irgendwelche Hypothesen?« »Nein, bislang keine.« »Messergebnisse, die auf irgendeinen technischen Einfluss der Fremden hinweisen würden? Strahlungsemissionen oder was weiß ich?« »Nein, Majestät. Wir haben bislang keinerlei Erklärung für das Phänomen. Alles, was wir sagen können ist, dass sich offenbar weltweit Millionen von Menschen auf den Weg zu den Türmen machen. Scheinbar aus eigenem Antrieb. Und offenbar gibt es sogar Personen, die in die Türme hineingelangten.«
»Machen Sie welche von denen ausfindig, damit wir sie verhören können!«, befahl Sadako. »Das versuche ich bereits.« In diesem Augenblick schrillte ein Alarmsignal. »Ein Jäger aus Staffel 12 hat sich während des Patrouillenflugs aus dem Verband gelöst«, meldete einer der Dienst habenden Offiziere im Rang eines Majors. General Yu schaltete sich sofort ein. »Technisches Versagen?«, fragte er. »So gut wie ausgeschlossen.« Eine schematische Kartendarstellung erschien in einem Teilfenster des Schirms. Die gegenwärtige Position der Staffel über der Provinz Sinkiang wurde ebenso angezeigt wie der sich entfernende Jäger. »Identität des Piloten überprüfen, Datensätze nach Verdachtsmomenten im Hinblick auf Spionagetätigkeit oder Zugehörigkeit zu einer dem Kaiserhaus politisch feindlich gesonnenen Splittergruppierung durchgehen!«, befahl General Yu. »Sie wissen, wie streng die Sicherheitsüberprüfungen sind, die Kampfpiloten der kaiserlichen Armee zu durchlaufen haben!«, erwiderte der Major. »Offenbar ist trotzdem etwas übersehen worden«, murmelte der Chef des Geheimdienstes. »Befehl an die Staffel: Verfolgung aufnehmen und den vom Kurs abweichenden Jäger abschießen, solange noch die Möglichkeit besteht.« »Er will nach Bejing«, stieß Sadako plötzlich hervor. Einer der Dienst habenden Offiziere bestätigte dies. Die Flugbahn des aus seiner Formation ausgebrochenen Jägers schien genau auf die Hauptstadt zuzuführen. »Vielleicht sollten wir den Mann nicht abschießen«, sagte der Kaiser plötzlich. Er wandte sich an General Yu. »Ich denke, dass er von demselben geheimnisvollen Drang beseelt
wurde, wie die Abertausende, die sich zurzeit um die Türme scharen...« »Das wäre eine Möglichkeit.« »Dann lassen Sie ihn fliegen!« »Majestät!« »Tun Sie, was ich sage!« »Majestät, es besteht auch die Möglichkeit, dass der Pilot aus welchen Gründen auch immer - einen Angriff zu fliegen versucht.« »Das ist absurd, General!« »Es reicht, wenn die Fremden sein Flugmanöver so einschätzen! Einen wohl überlegten und gut vorbereiteten Gegenschlag können wir uns dann abschminken. Dazu wird es in dem Fall nämlich nicht mehr kommen!« Yu hatte Recht, das musste ihm Kaiser Sadako zugestehen wenn auch widerstrebend. »Also gut, General. Holen Sie diesen Vogel vom Himmel«, murmelte er grimmig. Was ist das für eine Macht, die die Menschen offenbar auch über Tausende von Kilometern hinweg zu beeinflussen vermag, sich auf den Weg zu einem dieser Türme zu machen, ging es ihm dabei schaudernd durch den Kopf. Auf dem Schirm wurden Live-Bilder der Bordkameras gezeigt, die bei den Verfolger-Jägern installiert waren. Die vom Kurs abgekommene Maschine verweigerte jegliche Kommunikation. Der Befehl des Staffelführers, eine Kurskorrektur durchzuführen wurde ignoriert. Schließlich nahmen die Verfolger sie ins Visier und eröffneten das Feuer. Der Richtung Bejing dahinjagende Jäger zerplatzte mit einer grellen Lichterscheinung, und der Staffelkommandant meldete die Ausführung des Auftrags an die Qomolangma-Zentrale. »Jetzt werden wir niemals erfahren, was diesen Piloten zu seiner Handlung bewegt hat«, sagte der Kaiser lapidar.
* Eine weitere Woche später kam es erstmals wieder zu einem Kontakt mit der untergetauchten amerikanischen Führung. Die Verbindung war diesmal einwandfrei - von ein paar unvermeidlichen Bildverzerrungen abgesehen. Kaiser Sadako hatte seinerseits keinerlei Verbindung zu Sarah Cuthbert und ihrer Administration gesucht. Mochte die Präsidentin sich in einem geheimen Unterschlupf so lange verstecken wie sie wollte. Als Bundesgenossin hatte Sadako sie längst abgeschoben. Er war inzwischen entschlossen, allein gegen die Aliens vorzugehen. Wenn er schon alles auf eine Karte setzte, dann sollte es seine Karte sein. Auf dem Hauptschirm der Kommandozentrale erschien auch diesmal nicht das Gesicht der Präsidentin. Stattdessen begrüßte ihn das kalte Lächeln eines Mannes, den der Kaiser von einer früheren Begegnung her kannte: Reuben Cronenberg, seines Zeichens Chef des Geheimdienstes NCIA. »Seien Sie gegrüßt, Majestät«, sagte Cronenberg. »Wie geht es der Präsidentin?«, erkundigte sich Sadako mit steinerner Miene. Er würde sich seine Verblüffung nicht anmerken lassen. »Sarah Cuthbert ist ihres Amtes enthoben«, erklärte Cronenberg. »Sie befindet sich in Gewahrsam. Ich habe jetzt die Kontrolle über die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika...« »... oder was von dieser Armee übrig geblieben ist«, erwiderte Sadako nicht ohne eine gewisse Herablassung im Tonfall. »Nun, in diesem Punkt geht es Ihnen wohl ähnlich. Aber seien Sie versichert, dass es noch sehr gut funktionierende Truppenteile gibt. Wir befinden uns in einem Stadium der
Reorgnisation und denken, dass ein gemeinsames Vorgehen gegen die Fremden sinnvoll wäre.« »Danke, ich habe kein Interesse daran.« »Aber...« »Mir scheint, dass Sie zurzeit nicht allzu viel in einen derartigen Pakt einbringen können«, erklärte Sadako kalt. »Ich brauche Verbündete - keine Bande elender Feiglinge, die sich in irgendeinem unterirdischen Atombunker verkriecht und wahrscheinlich nach dem Sturz der Präsidentin erst einmal eine Weile damit beschäftigt sein wird, ihre Diadochenkämpfe untereinaner auszutragen.« »Majestät, ich...« »Ich persönlich wünsche Ihnen dabei viel Glück!« »Sie irren sich, Majestät! Ich habe wertvolle Informationen für Sie, die Sie in Ihre Überlegungen einbeziehen sollten. Andernfalls laufen Sie Gefahr, dass der Alleingang, den Sie jetzt offenbar planen, ein jämmerlicher Reinfall wird.« Sadako lächelte dünn. »Sagen Sie bloß, das würde Sie in irgendeiner Weise bekümmern, Cronenberg!« »Die gesamte Menschheit hätte darunter zu leiden. Also auch wir. Ich glaube nicht, dass uns die Fremden mehrere Chancen lassen, um gegen sie vorzugehen!« »Was Sie nicht sagen...« »Sadako... Bei allem Respekt! Aber war unsere Zusammenarbeit in der Vergangenheit denn wirklich so schlecht, dass Sie mir jetzt die kalte Schulter zeigen müssen?« Eine Pause entstand. Wang war an den Kaiser herangetreten. Er sprach ihn auf Mandarin an, sodass Cronenberg davon nichts verstehen konnte. »Warum hören wir uns nicht an, was er für Informationen zu bieten hat?« »Er würde das Blaue vom Himmel lügen, so verzweifelt scheint mir seine Situation zu sein«, erwiderte Sadako kühl. »Aber wenn du meinst, werter Cousin, dann werde ich mir
anhören, was er zu sagen hat.« Er nickte Cronenberg zu, fortzufahren. »Ich finde, wir waren beim RUBIKON-Projekt ein gutes Team - und wir könnten es wieder werden.« Während der Vorbereitungen zur geheimgehaltenen 2. Marsmission waren sich Sadako und Cronenberg sogar persönlich begegnet. Ohne chinesische Unterstützung wäre es für die Amerikaner nicht möglich gewesen, die RUBIKON II auf der dunklen Seite des Mondes zusammenzubauen und anschließend auf die Reise zu schicken, ohne dass die Weltöffentlichkeit davon erfuhr. Ein leises Lächeln bildete sich um die dünnen Lippen des Kaisers. Die Unterstützung der 2. Mars-Mission war ein nachrichtendienstliches Meisterstück gewesen. Vermutlich ahnten die Amerikaner bis heute nicht, wie intensiv die chinesische Seite bei diesem Unternehmen Industriespionage betrieben hatte. So gelangte das Kaiserreich nicht nur in den Besitz von Weltraumtechnologie, sondern bekam auch Kenntnis vom streng geheimen GenTec-Programm der Vereinigten Staaten. Für Sadako war das Anlass genug gewesen, ein eigenes chinesisches Klon-Programm zu starten, in das er immense Geldmittel umgeleitet hatte. Sadako atmete tief durch. »Also gut, Cronenberg. Um der alten Zeiten willen... Oder wie hätten Sie gerne, dass ich es formuliere? Sagen Sie mir, über welche angeblich so wertvolle Informationen Sie verfügen! Dann werde ich mir die Sache vielleicht durch den Kopf gehen lassen.« »Es geht um die Schiffe der Fremden. Wie Sie sicher auch bemerkt haben werden, haben sich die Raumschiffe in Türme verwandelt...« »Ich hoffe, Sie haben noch etwas mehr auf Lager, Cronenberg. Ansonsten verschwenden Sie nur meine Zeit.«
»Millionen von Menschen pilgern zu diesen Türmen, als ob es sich um Heiligtümer handeln würde...« »Ist mir ebenfalls bekannt.« »... und die Aliens lassen sie sogar hinein. Haben Sie bereits Befragungen unter Personen durchgeführt, die im Inneren der Türme waren, Majestät?« Jetzt will er den Spieß umdrehen und mich ködern!, erkannte Sadako sofort. Sein Gesicht blieb eine Maske aus Arroganz und zur Schau gestellter Desinteressiertheit. »Fahren Sie fort, Cronenberg!«, verlangte er. »Die Zeit, die ich bereit bin, Ihnen um unserer früheren guten Zusammenarbeit willen zur Verfügung zu stellen, ist begrenzt.« Cronenberg ließ sich nicht beirren. Er war ein hervorragender Menschenkenner und kannte die Eigenarten seines Gegenübers immerhin gut genug, um zu erkennen, dass er dessen Interesse längst geweckt hatte. Sadako hing an Cronenbergs Haken. »Unseren Informationen nach landeten auf der Erde 75 Äskulap-Schiffe. Aus jedem dieser Schiffe wurde ein Turm, der das Zentrum einer Art Pilgerbewegung ist. Wir haben versucht 75 Agenten in diese Türme einzuschleusen. Jeder dieser Agenten trug eine Mini-Atombombe am Körper, die im Inneren der Schiffe gezündet werden sollte.« »Kein schlechter Plan«, musste Sadako zugestehen. »Aber ich entnehme Ihren Worten, dass dabei etwas nicht geklappt hat!« »Wenn es zu einer Detonation gekommen wäre, hätten Sie das registriert. Wir wissen offen gestanden nicht, was passiert ist und warum die Bomben nicht gezündet wurden. Möglicherweise wurden sie von den Fremden geortet. Tatsache ist jedenfalls, dass keiner der Männer und Frauen, die wir als Agenten auf diese Mission schickten, zurückgekehrt sind. Wir gehen davon aus, dass sie tot sind.«
Sadako wirkte plötzlich nachdenklich. Er hatte bereits ähnliche Pläne erwogen, wie sie der NCIA-Chef offenbar schon versucht hatte, in die Tat umzusetzen. Warum nicht aus den Fehlern der anderen Seite lernen?, ging es ihm durch den Kopf. »Wir haben eine Hypothese, die das Versagen unseres Plans ebenso erklären würde«, fuhr Cronenberg fort. »Und die wäre?« »Die Fremden können die Gedanken derer lesen, die sich ihrem Schiff nähern. Auch die geheimsten Regungen. Wir haben zahllose Verhörprotokolle von Personen ausgewertet, die sich bereits an Bord der Schiffe befunden haben. Ich will da jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber viele dieser Beobachtungen lassen sich ebenfalls in diese Richtung interpretieren.« »Sie meinen, wir haben es mit einer Rasse von Telepathen zu tun?«, fragte Sadako skeptisch. »Ja, ich finde, dieser Schluss liegt nahe. Wir sollten weitere Informationen austauschen und unsere nächsten Schritte gegen die Fremden koordinieren.« »Mr. Cronenberg, Sie hatten mir wertvolle Informationen versprochen und mich dadurch verleitet, Ihnen mehr von meiner kostbaren Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, als Ihnen zusteht. Aber was ich bislang bekommen habe, sind nichts als Vermutungen und wertlose Hypothesen.« Sadako lachte höhnisch auf. »Sie haben doch wohl nicht im Ernst geglaubt, dass dieses wertlose Gewäsch gewissermaßen als Einlage für eine zukünftige Zusammenarbeit betrachtet werden kann!« Sadako kicherte in sich hinein und zupfte dabei an seinem Kinnbart. »Sie müssen noch viel lernen, bevor Sie in die doch etwas größeren Fußstapfen Ihrer Vorgängerin treten können, Cronenberg. Ich bezweifle allerdings, dass das Schicksal Ihnen
angesichts der gegenwärtigen Lage Zeit genug dazu geben wird...« »Majestät...« »Leben Sie wohl, Cronenberg!« Der Kaiser wandte sich an General Yu. »Lassen Sie den Kontakt abbrechen. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit!« Das verdutzte Gesicht des getäuschten NCIA-Chefs verblasste auf dem Hauptschirm. * Kaltes Neonlicht. Ein langer, kahler Korridor. Kaiser Sadako erreichte zusammen mit General Yu und zwei schwer bewaffneten Leibwächtern die Sicherheitsschleuse zu einem besonderen Trakt innerhalb der Festung. Dieser Bereich war buchstäblich in den Qomolangma hineingebaut worden. Jeder Quadratmeter Raum kostete hier Millionen, weil er unter Extrembedingungen aus dem Fels herausgehauen werden musste. Der Kaiser legte seine Hand auf einen Scanner. Ein weiterer elektronischer Abtaster zeichnete unterdessen sein Netzhautmuster auf. Selbst er, der Herr des Chinesischen Kaiserreichs, konnte an diesen Ort nur gelangen, wenn die Elektronik der Sicherheitsschleuse dazu ihr Okay gab. Die Schleusentür öffnete sich, nachdem sowohl der Kaiser als auch General Yu die Prozedur über sich hatten ergehen lassen. Sadakos Leibwächter blieben vor der Tür stehen. Stattdessen wurden der Kaiser und sein General im Innenbereich von zwei anderen Wachen in Empfang genommen. Sie trugen blaue Overalls und MPis. Darüber hinaus waren sie mit Elektroschockern ausgerüstet.
Die beiden Bewaffneten begleiteten Sadako und Yu den Korridor entlang. Hinter ihnen schloss sich die Schleusentür automatisch. Sie gelangten in einen Raum, in dem mehrere Personen in weißen Kitteln um einen Bildschirm herumstanden. Bis zum Eintreten des Kaisers hatten die Männer und Frauen in Weiß heftig miteinander diskutiert. Jetzt verstummten ihre Gespräche abrupt. Alle Augen waren auf den Herrscher gerichtet. Sadako wandte sich an einen Mann mit dunklen Haaren und dicker Brille. »Wie weit sind Sie, Professor Kuan?«, erkundigte er sich. Kuan war der Leiter des chinesischen Klon-Programms. Ein genialer Biochemiker, der 2032 den Nobelpreis für Chemie gewonnen hatte. Ironischerweise hatte er seine gesamte Ausbildung in den USA absolviert und dort lange Zeit sogar einen Lehrstuhl innegehabt. Sadako hatte ihn zurück ins Kaiserreich geholt. Hier hatte er alles bekommen, was sich ein Mann wie er nur wünschen konnte. Geld war in dieser Beziehung keine Frage. Männer wie Kuan strebten nicht in erster Linie nach Reichtum, sondern nach optimalen Arbeitsbedingungen. Und die hatte der Biochemiker und Gentechnik-Experte hier gefunden. Sein Etat war nahezu unbegrenzt. Wen immer er in seiner Forschungscrew haben wollte, bekam er. Kuan deutete eine Verbeugung an. Er zeigte auf den Bildschirm. »Sehen Sie selbst! Soldier One hat gerade seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, im Infrarot-Bereich und mit Restlichtverstärkung zu sehen.« Auf dem Bildschirm war ein drahtiger, muskulöser Mann in Kampfhose und T-Shirt zu sehen. Er grinste in die Kamera, bleckte dabei die Zähne ein Raubtier. Soldier One...
Die englische Arbeitsbezeichnung für den ersten chinesischen Klon-Kämpfer sprach zwar nicht gerade für eine lupenreine patriotische Einstellung Professor Kuans, aber einer derartigen Kapazität musste man das eine oder andere durchgehen lassen. Diese Bezeichnung hatte wohl der lange US-Aufenthalt des Biochemikers verschuldet. »Soldier One stand in einem völlig abgedunkelten Raum einem Soldaten gegenüber, dessen Datenanzug er mit einem Laserpointer treffen musste.« »Und?«, fragte der Kaiser. »Treffer beim ersten Versuch.« »Eigentlich wurde Soldier One nicht dazu entwickelt, Nachtsichtgeräte einzusparen!« »Soldier Ones Fähigkeiten gehen über die Restlichtverstärkung eines Nachtsichtgerätes hinaus! Er ist in der Lage, seinen Gegner auch bei völliger Dunkelheit anhand der Wärmeemissionen zu orten!« Die Begeisterung war dem Wissenschaftler anzumerken. Für einen Asiaten zeigte er seine Gefühle ziemlich offen durch Gestik und Mimik. Eine Unsitte, die er offenbar auch aus Amerika mitgebracht hat, überlegte Sadako. »Was ist mit der Fähigkeit zur Selbstzündung?«, fragte der Kaiser und stoppte damit Professor Kuan in seinem Redefluss. Kuan schluckte. Die Fähigkeiten von Soldier One gingen weit über diejenigen der so genannten GenTecs des US-Klonprogramms hinaus. Soldier One stellte eine lebende Bombe dar. Er besaß die Fähigkeit der Selbstzündung. Mit Hilfe eines implantierten Mechanismus war er auf Befehl in der Lage, die Zellsubstanz seines Körpers zur Spaltung anzuregen und Energien freizusetzen, die mit einer Atombombe vergleichbar waren. »Sie wissen, dass die Selbstzündung erst im Einsatz getestet werden kann«, sagte Kuan. »In einem Einsatz, den dieser Klon
nicht überleben wird. Und solange nur ein einziger Prototyp existiert...« »Sie könnten aber testen, wie weit Soldier One in der Lage ist, die Spaltung der Zellsubstanz anzuregen.« »Der Prozess müsste gestoppt werden, bevor die Zellen so weit angeregt sind, dass der Point of no Return - der Punkt ohne Widerkehr - überschritten ist!«, erkannte Kuan. »Wie schön, dass Sie für dieses Problem gleich eine Lösung parat haben«, erwiderte der Kaiser und quittierte die amerikanische Wortwahl seines Gegenübers mit einer deutlichen Spur Spott. »Eine solche Vorgehensweise ist nicht ohne Risiko! Im schlimmsten Fall fliegt uns die Qomolangma-Festung um die Ohren, Majestät!« »Darauf lasse ich es ankommen. Ich muss sicher sein, dass der Mechanismus wirklich funktioniert und Soldier One in der Lage ist, ihn absolut zu kontrollieren.« »Dafür müssten wir ein entsprechendes Programm in seinem Gehirn fixieren, das von seinem Bewusstsein völlig unabhängig ist. Schließlich darf sich der Klon über seine Bedeutung als lebende Bombe nicht im Klaren sein.« »Sehr richtig«, stellte der Kaiser fest. Dieser Punkt war vermutlich der Fehler, den Cronenberg und seine Leute gemacht haben. »Sind die künstlichen Erinnerungen bereits erfolgreich implantiert?« »Nein. Im Moment ist der Klon noch in einem unbewussten Zustand. Sein Gehirn gleicht bislang einer zu neunzig Prozent unbespielten Festplatte. Er verfügt über Kampfreflexe und lernt seinen Körper zu kontrollieren. Basiswissen ist über einen in sein Gehirn implantierten Chip abrufbar. Im Moment tut er alles, was man ihm sagt.« Der Kaiser lächelte. »Wie ein Hypnotisierter!«
Kuan hob die Augenbrauen. »Der Vergleich stimmt zumindest in der Hinsicht, dass er sich an nichts von dem erinnern wird, was mit ihm zurzeit geschieht.« »Lassen Sie ihn so schnell wie möglich erwachen, Kuan. Wir brauchen diese lebende Bombe so schnell wie möglich...« Kuan atmete hörbar aus. »Das ist noch ein ganzes Stück Arbeit.« »Sie haben nicht mehr als zwei Wochen, Professor. Dann muss dieser Klon einsatzfähig sein.« »Wie bitte?« »Besser, Sie werden schneller fertig!« * 2252 n. Chr. oder 211 nach der Ankunft... Er sieht dem Kaiser zum Verwechseln ähnlich!, ging es John Cloud durch den Kopf, als er den Rebellenführer von der Seite ansah. Es war Shen Sadako, Nachfahre des einzigen Kaisers, den das Neochinesische Reich hervorgebracht hatte. Er stand am Fenster, blickte hinaus auf das so genannte Getto, die strahlenverseuchte Zone auf dem Boden des ehemaligen Bejing. Cloud wurde beim Anblick des Rebellenführers unwillkürlich an die Fernsehbilder des chinesischen Kaisers erinnert. Aber das war in einem anderen Zeitalter!, rief er sich ins Gedächtnis. Sie befanden sich im fünften Stock eines quaderförmigen Gebäudes, dass den Rebellen offenbar als Hauptquartier und Unterschlupf diente.
»Ich bestehe darauf, dass Sie mich und Scobee jetzt endlich über das aufklären, was in den vergangenen zwei Jahrhunderten geschehen ist. Seit der Ankunft, wenn Sie es so ausdrücken wollen...« Shen Sadako drehte sich herum. Er hob die schmalen Augenbrauen. »So... Sie bestehen darauf?«, echote er. »Sie haben genetische Tests an meiner Begleiterin und mir durchgeführt. Die Ergebnisse werden Ihnen bestätigen, dass ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe!« Der Rebellenführer bedachte den 28-jährigen durchtrainierten Mann mit einem nachdenklichen Blick. Misstrauen las John Cloud in den Augen seines Gegenübers. Nichts anderes als Misstrauen und Furcht. In gewisser Weise konnte Cloud Shen Sadako sogar verstehen. Die Rebellenorganisation war natürlich in ständiger Gefahr, entdeckt und infiltriert zu werden. Aber bei allem Verständnis, das Cloud für die Vorsicht des Rebellenführers aufbringen konnte, so wollte er doch jetzt endlich wissen, woran er war. Und dies galt nicht nur für die jetzige Situation auf der Erde und die Geschichte ihrer Entstehung, sondern mindestens ebenso für die Ziele der Rebellen. Auch in dieser Hinsicht wollte Cloud nicht länger im Unklaren gelassen sein. Shen Sadakos Blick wanderte von Cloud zu Scobee, die das Gespräch relativ teilnahmslos verfolgte. Sie hatte in einem Schalensitz Platz genommen und die Beine übereinander geschlagen. Ihr Blick wirkte abwesend. Ein Ruck ging durch Shen Sadako, als er sich wieder Cloud zuwandte. »Was Sie sagen, ist richtig. Anhand der Gentests können wir bestätigen, dass Sie tatsächlich aus der Zeit der Ankunft stammen. Und auch die anderen Untersuchungen sprechen dafür...«
»Vielleicht wäre in Anbetracht dieser Tatsache ein kleiner Vertrauensvorschuss angemessen«, meinte Cloud. »Was ist zum Beispiel das Ziel Ihrer Organisation? Und wie kam es zu der offenbar beherrschenden Rolle, die die Erinjij in der Galaxis spielen?« »Sie sind ein ungeduldiger Mann, Cloud.« »Nein, ich finde ganz im Gegenteil, dass ich mich schon lange genug zurückgehalten habe. Anhand Ihrer Untersuchungsergebnisse können Sie sehen, dass von uns keine Gefahr ausgeht.« »Sie sollen alles erfahren, Cloud. Aber ich glaube nicht, dass jetzt schon der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist...« »Und wie lange gedenken Sie, uns noch hinzuhalten?« »Ich persönlich habe großes Verständnis für Ihre Ungeduld, Cloud.« »Davon merke ich im Moment aber nicht sonderlich viel!« Der Rebellenführer trat einen Schritt auf Cloud zu. Ein mildes Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie kommen nach einem Sprung von zweihundert Jahren in eine völlig veränderte Welt. Niemand, den sie kannten, existiert noch. Die Verhältnisse haben sich gegenüber der Epoche, aus der Sie stammen, so grundlegend geändert, wie es bei keinem Umbruch, den es zuvor in der menschlichen Geschichte gegeben hat, der Fall war. Aber Sie müssen auch mich verstehen, Cloud!« Sadako machte eine die Umgebung umfassende Geste. »Ich muss an die Sicherheit meiner Leute denken. Die andere Seite ist uns haushoch überlegen, während unsere Mittel sehr beschränkt sind. Mit großer Mühe haben wir uns hier im Getto eine Operationsbasis geschaffen, die wir nicht gefährden dürfen. Um keinen Preis. Auch wenn Ihnen unsere Vorsicht vielleicht übertrieben erscheinen mag - für uns gibt es wahrscheinlich nur diese eine Chance. Eine Zweite bekommen wir nicht!«
Shen Sadako verstummte. John Cloud bemerkte, dass sich die Hände des Rebellenführers zu Fäusten geballt hatten. Einen Augenblick lang presste er die Lippen fest aufeinander, dann erst entspannte sich sein Gesichtsausdruck wieder. Schließlich fuhr Sadako fort: »Nicht mehr lange und unsere Organisation will ihren Operationsbereich auf den gesamten Planeten ausdehnen und die Türme der Fremden angreifen, die vor über zwei Jahrhunderten auf der Erde gelandet sind. Dafür lebe ich, dafür kämpfe ich und dafür bin ich auch bereit zu sterben. Und ich werde alles tun, um diese Mission nicht zu gefährden.« Scobee erhob sich plötzlich aus ihrem Schalensitz. Cloud war etwas irritiert. Schon eine ganze Weile war die Klon-Matrix eigenartig verschlossen und sprach nur das Nötigste. Sie wandte sich an Shen Sadako. »Ich möchte noch einmal in den Raum mit den Stasebehältern, die aus der Nevada-Wüste geborgen wurden«, erklärte sie plötzlich. Shen Sadako zog die Augenbrauen zusammen. Eine tiefe Furche entstand mitten auf seiner Stirn. »Weshalb?« »Sagen wir, es hat emotionale Gründe.« »Wie soll ich das verstehen?« »Als ich den Körper von Reuben Cronenberg im Stasebehälter sah...« Sie schluckte. Ihre Stimme hatte einen belegten Klang bekommen. »Ich war eine Weile seine Geliebte und dachte eigentlich, dass ich damit abgeschlossen hätte, aber...« Scobee brach ab, hob den Kopf und sah Shen Sadako direkt in die Augen. »Ich bin in Ihren Augen vielleicht ein prähistorischer GenTec, aber das sollte niemand mit einem Roboter verwechseln!« »Das tut in unserer Zeit auch niemand.« »Ich bin auch eine Frau mit Emotionen.«
John Cloud musterte Scobee, studierte den Blick ihrer grünen Augen. Statt Brauen hatte sie verschnörkelte Tattoos. Sie strich sich das violettschwarze Haar mit einer Geste zurück, die ihre Weiblichkeit unterstrich. Es ist ein Vorwand!, erkannte John Cloud. Er glaubte, sie inzwischen gut genug zu kennen, um das einschätzen zu können. Die Frage ist nur, was sie vorhat... Shen Sadako überlegte kurz, dann nickte er. »Gut, gehen Sie.« »Danke.« »Ein paar meiner Leute werden Sie natürlich begleiten.« »Ich habe nichts dagegen einzuwenden.« * Als Scobee von drei Bewaffneten abgeholt wurde, war der Streit zwischen John Cloud und dem Rebellenführer wieder aufgeflammt. Scobee hörte die Stimmen der beiden noch einen Augenblick, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Zwei der Männer nahmen sie in die Mitte, der Dritte ging voran. An ihren Gürteln waren pistolenähnliche Waffen an Magnethalterungen befestigt. Scobee vermochte nicht zu sagen, was diese Waffen verschossen. Die Waffentechnik hatte sich in den letzten zwei Jahrhunderten zweifellos weiterentwickelt. »Shen Sadako scheint ja ziemlich große Angst vor mir zu haben, wenn er meint, dass eine so starke Bewachung vonnöten ist, um mich in Schach zu halten«, sagte Scobee scherzhaft, während sie den Korridor entlanggingen. »Shen Sadako geht gerne auf Nummer sicher«, antwortete einer der Männer. Er ging links von ihr und war der Größte der drei. »Was sind das für Waffen, die Sie tragen?«, erkundigte sich Scobee. »Ich habe solche Dinger bislang noch nie gesehen...«
»Glaube ich Ihnen gerne. Es sind Laserstrahler. Kann man als Handfeuerwaffe und notfalls auch als Schneidwerkzeug benutzen. Sind aber nicht mehr der neueste Stand der Militärtechnik.« »Und die internen High-Tech-Komponenten halten das Strahlenniveau des Gettos aus?«, erkundigte sich Scobee. Der Mann lachte rau. »Haben wir fast alles ausgebaut. Die ganze Elektronik. Das Ding ist ein ganz primitiver Strahler. Man betätigt den Auslöser und feuert. Kein Schnickschnack. Weder Zielerfassung noch Intensitätsdosierung und dergleichen.« »Verstehe...« »Für uns immer noch gut genug«, meinte ihr Bewacher. »Tödlich sind sie jedenfalls...« Er grinste Scobee an. Sie erwiderte dies mit einem Lächeln. Doch das Blitzen in ihren Augen passte nicht dazu... * Sie erreichten schließlich den abgeschiedenen, unterirdischen Raum, in dem sich die Stasebehälter befanden. Nach den Angaben von Shen Sadako und seinen Rebellen waren die Stase-Tanks in einem geheimen, in der Wüste von Nevada gelegenen US-Stützpunkt gefunden und zu Kaiser Sadako gebracht worden. Die Körper von drei Männern und zwei Frauen lagen in den Tanks, deren Aufweckmechanismus nie aktiviert worden war. Die ehemalige US-Präsidentin Sarah Cuthbert war ebenso unter den Schläfern wie die ihrer persönlicher Berater Sid Palmer und der wissenschaftliche Leiter des Telepathenprojekts der US-Regierung Professor Dr. Xander Hays.
Und nicht zu vergessen Reuben Cronenberg..., durchzuckte es Scobee. Ihn hier vorzufinden, in einem mehr als zwei Jahrhunderte alten Stasebehälter, hatte eine ganze Palette von Emotionen in ihr ausgelöst. Emotionen, die sie teilweise noch nicht einzuordnen wusste. Scobee blieb zwischen den Tanks stehen. Ihr Blick fiel dabei auf den fünften Tank. Zwar war er wie alle anderen Tanks vollkommen intakt geblieben, aber in seinem Inneren befand sich eine mumifizierte Frauenleiche, die Scobee bei ihrer ersten Begegnung erkannt hatte. Es handelte sich um eine Klon-Kopie ihrer selbst. Ein GenTec-Abbild. Das Telepathenmädchen Scobee... Etwas ruckartig wandte sie den Blick ab. Ihr stand nicht der Sinn danach, in ein totes Gesicht zu sehen, dass letzlich ihr eigenes war. »Lassen Sie sich durch unsere Anwesenheit nicht stören«, sagte einer der Bewacher. Er lehnte gegen den Stase-Tank, in dem sich Reuben Cronenberg befand. Scobee trat an ihn heran. »Keine Sorge - das werde ich auch nicht.« Scobee blickte zur Deckenbeleuchtung. »Habt ihr eigentlich keine Angst, dass die Energie mal ausfällt und der Inhalt der Tanks zum Teufel geht?« Der Bewaffnete schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Notaggregat, das nach 10 Sekunden Energieausfall automatisch aktiviert wird.« »Verstehe...« Scobee rechte Hand berührte leicht Cronenbergs StaseTank. Eine Staubschicht hatte sich gebildet. Reuben... Scobees Gesicht veränderte sich kaum merklich. Ein Ausdruck von Härte kennzeichnete plötzlich ihre Züge. Der Bewacher bemerkte es zu spät.
Ein blitzschneller, mit äußerster Präzision durchgeführter Schlag gegen die Schläfe schaltete den Bewacher augenblicklich aus. Er rutschte bewusstlos zu Boden. Scobee riss ihm den Strahler von der Magnethalterung seines Gürtels. Die beiden anderen Rebellen befanden sich in einer Entfernung von jeweils mehreren Metern. Sie griffen reflexartig zu den Strahlern. Scobee warf sich zu Boden, während ein grellroter Strahl dicht über sie hinwegzischte und sich irgendwo in die Wand hineinbrannte. Scobee wusste, dass sie nicht beide Gegner auf einmal ausschalten konnte. Sie rollte sich am Boden ab, riss den Strahler in ihrer Faust hoch und drückte ab. Der Strahl traf die Deckenbeleuchtung. Die GenTec ließ den hoch konzentrierten Laserstrahl an der Decke entlangstreifen. Innerhalb von Sekunden wurde es stockdunkel. Die beiden noch kampffähigen Wächter konnten buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Für Scobee jedoch galt das nicht. Sie schaltete ihre Augen auf Infrarotsicht um, und die beiden Rebellen waren durch ihre Wärmeabstrahlungen für sie deutlich sichtbar. Den Strahler wollte Scobee nicht noch einmal einsetzen. Zu groß erschien ihr die Gefahr, etwas an den Tanks zu beschädigen. Schließlich war sie im präzisen Umgang mit dieser Waffe nicht geschult. Mit lautlosen, katzenhaften Bewegungen näherte sie sich dem Ersten der Männer, der hilflos mit seinem Strahler in der Dunkelheit herumfuchelte. Mit einem wuchtigen Schlag sorgte sie dafür, dass er bewusstlos in sich zusammenklappte. Dann wirbelte sie herum, schnellte vor und näherte sich dem Letzten der drei.
Bis auf einen halben Meter war sie an ihn herangekommen, als das Notaggregat angeschaltet wurde. Eine schwache Behelfsbeleuchtung flackerte auf. Der Bewaffnete entdeckte sie, riss den Laser hoch. Scobee ließ ihm keine Chance. Sie rammte ihm den Lauf ihres Strahlers vor den Solarplexus. Ihre Faust erwischte ihn einen Sekundenbruchteil später an der Schläfe. Schwer fiel der Wächter zu Boden und blieb dort in eigenartig verrenkter Stellung liegen. Seine Waffe rutschte ihm aus der Hand. Scobee atmete tief durch. Ihre Züge wirkten angespannt. Sie hatte ihre Augen längst auf Normalsicht umgeschaltet. Jetzt trat sie an den Stase-Tank von Reuben Cronenberg. Ihre Finger glitten über ein kleines Terminal, das in die Außenhaut des Tanks integriert war. Ich frage mich, wie du zweihundert Jahre Tiefschlaf überstanden hast, Reuben..., ging es ihr durch den Kopf. * Meine Kinder... Ich kann nicht bei ihnen sein und ihnen den gewohnten Schutz geben! Dieser Gedanke durchzuckte Jelto, den Florenhüter, wie ein quälend greller Blitz. Er stand am Fenster, blickte hinaus auf das so genannte Getto, das die Größe einer Stadt von etwa 500.000 Einwohnern hatte. Am Horizont hörte die Stadtlandschaft auf. Dort begann die mit außerirdischen Pflanzen aller Art bewachsene Zone, die das Getto wie ein breiter Gürtel umgab. Ich muss dringend zurück! Ein Gedanke, der in bereits beherrschte, seit ihn die Leute von Shen Sadako zusammen mit John Cloud, Scobee und dem
Mädchen Aylea hierhergebracht hatten: Ins Hauptquartier einer Rebellenorganiation. Als ein Gefangener, war ihm klar. Da sollte ich mir nichts vormachen. Ich bin nicht frei zu gehen... Zurück zu meinen grünen Kindern... Innerhalb eines gewissen Bereichs war es ihm und Aylea gestattet, sich frei zu bewegen. Aber falls es ihm einfallen sollte, das HQ einfach zu verlassen, so war er sich sicher, dass Sadako und seine Leute ihn daran gewaltsam hindern würden. Schon um ihrer eigenen Sicherheit willen. »Denkst du an deine Kinder?«, fragte Aylea. Sie befand sich ebenfalls in dem eher spärlich eingerichteten Aufenthaltsraum. Sie hatte ihn eine ganze Weile beobachtet. Jelto drehte sich zu der Zehnjährigen um, ein mattes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ja.« »Hörst du ihre Stimmen?« »Nur schwach.« »Macht dich das traurig?« »Ja.« Er hatte ihr bereits von seinen Kindern erzählt. Ein Begriff, mit dem er die Pflanzen bezeichnete, um die er sich als Florenhüter zu kümmern gehabt hatte und mit denen er in mentalem Kontakt stand. Aylea hatte einiges in der Schule über die Aufgaben von Florenhütern erfahren. Aber natürlich war ihr niemals einer begegnet, was auch kein Wunder war. Schließlich lebten Florenhüter normalerweise zurückgezogen in den Naturreservaten, die einen Großteil der Erdoberfläche einnahmen. Jelto allerdings hatte ein ganz besonderes Reservat zu betreuen. Auch davon hatte er Aylea inzwischen erzählt. Die pflanzlichen Ungeheuer, die rings um die Getto-Zone herum wuchsen, bildeten einen tödlichen Ring, den keiner der
Gettobewohner aus eigener Kraft zu durchdrinen vermochte. Es sei denn, er wollte Gefahr laufen, von Fleisch fressender Flora zumeist außerirdischer Herkunft bei lebendigem Leib verdaut zu werden. »Wenn man es genau nimmt, dann bist du eine Art Wächter für die Getto-Zone«, stellte Aylea nach einer längeren Pause des Schweigens fest. Jelto hob die Augenbrauen. »Nein, ich bin nur ein Hüter meiner Kinder.« »Immerhin hütest du deine Kinder - anders als die Eltern mancher Menschen!«, stieß Aylea hervor. Im Tonfall des Mädchens klang eine deutliche Spur Bitterkeit mit, die auch dem Florenhüter nicht entging. »Was meinst du damit?«, fragte er. »Ist es nicht die Pflicht von Eltern, ihre Kinder zu beschützen und sich um sie zu kümmern, so gut sie können?« »Ja, das dachte ich auch immer...« Aylea schluckte. In ihren Augen glitzerte es feucht. Sie wischte sich kurz über die Augen. »Ich kann es noch immer nicht fassen!« »Was kannst du nicht fassen, Aylea?« »Meine Eltern haben nicht einmal den Versuch unternommen, meine Abschiebung ins Getto zu verhindern, Jelto! Es schien ihnen gleichgültig zu sein. Ja, fast könnte man vermuten...« Das Mädchen brach ab. »Was?«, hakte der Florenhüter nach. Es schien ihr schwer zu fallen, über diesen Punkt zu reden. »Sie schienen meine Abschiebung richtig zu finden.« »Es fällt mir schwer, das zu verstehen«, gestand Jelto. »Und mir erst.« Sie ballte die linke Hand zur Faust und klopfte sich damit gegen die Stirn. »Es ist ein vollkommen absurdes System, findest du nicht?« »Ich habe keine feste Meinung dazu«, bekannte der Florenhüter.
»Ich aber!«, brauste Aylea auf. »Das ist doch Wahnsinn! Die Menschen in Metrops loggen sich in die Bewusstseine von Wesen auf anderen Planeten ein, manipulieren deren Leben, als ob es sich um ein Spiel handelt.« »Aber das ist es nicht?« »Natürlich nicht!« Sie seufzte und schüttelte anschließend entschieden den Kopf. »Und ich, die ich es gewagt habe, hinter die Kulissen zu schauen, werde an einen Ort wie diesen verbannt! Eine strahlenverseuchte Zone, umgeben von einem Urwald aus Mörderpflanzen! Das ist doch...« Sie schüttelte sich. »Ich habe keine Worte dafür. Und wenn es nach mir ginge, dann würde ich die Herrschaft der Master über die Erde sofort beenden. Ich finde, sie haben kein Recht zu dem, was sie mir und all den anderen Menschen im Getto angetan haben!« Der Florenhüter war sichtlich überrascht. »Niemand wäre mächtig genug, um die Herrschaft der Master zu beenden«, stellte er fest. Es gefiel ihm nicht, was das Mädchen gesagt hatte. Sein festgefügtes Weltbild wurde dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht. »Wer weiß«, sagte Aylea. »Die Leute, bei denen wir sind, scheinen daran zu arbeiten...« »Woran?« »An einen Umsturz natürlich.« Sie ging auf ihn zu, musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Sag bloß, du bist mit deinem Leben, so wie es war, immer zufrieden gewesen.« »Ja, das bin ich«, erklärte Jelto. »Ich war immer glücklich. Mit meinen Kindern...« Aylea verdrehte die Augen. Manchmal ist er schon etwas einfältig, dachte sie. Aber das kommt vielleicht daher, weil er so lange Zeit nichts anderes gesehen hat, als seinen Mörderwald. Seine Kinder, wie er sagt. Aber eigentlich ist er ganz nett.
Immerhin hatte sie einen Gesprächspartner, der ihr zuhörte. Der ihre Argumente wirklich ernst nahm. Und das war mehr, als sie je gehabt hatte. * »Ich denke, wir sind Ihre natürlichen Verbündeten, Shen Sadako«, sagte John Cloud. »Unser Wissen über die Vergangenheit kann Ihnen vielleicht von großem Nutzen sein. Vertrauen Sie uns, dann...« Cloud kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Alarmsirenen schrillten! Ein kahlköpfiger Chinese betrat den Raum. »Einige Stasekammern sind geöffnet worden!«, rief er. Der Rebellenführer war fassungslos. »Das darf doch nicht wahr sein!« »Drei unserer Männer wurden zusammengeschlagen...« Shen Sadako ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. Er hob den Kopf und blickte Cloud resigniert an. »Und Sie reden von Vertrauen?«, höhnte er. »Gut, dass ich darauf nicht eingegangen bin.« »Was ist genau geschehen?«, verlangte Cloud zu wissen, obwohl er es längst ahnte. Scobee! »Folgen Sie mir in den Raum, in dem sich die Stasekammern befinden!«, forderte Sadako. »Dann wird sich zeigen, wem Ihre Loyalität wirklich gehört!« »Ich verstehe nicht.« »Das werden Sie früh genug.« »Was immer dort geschehen sein mag, ich habe nichts damit zu tun!« »Wollen Sie vielleicht auch noch so dreist sein und das ebenfalls von Ihrer Begleiterin behaupten?«
Cloud folgte Shen Sadako in den Korridor. Bewaffnete begleiteten sie mit dem Strahler im Anschlag. Sie nahmen Cloud in die Mitte. Er hatte beinahe das Gefühl, wie ein Gefangener abgeführt zu werden. Wenig später erreichten sie den Raum mit den Stase-Tanks. Der Raum war bereits voll von bewaffneten Rebellen und Sanitätern, die sich um Verletzte kümmerten. Cloud sah sich um und registrierte sofort, das einige der Behälter geöffnet waren. Lediglich die Tanks von Sarah Cuthbert und der mumifizierten Telepathin waren noch unversehrt. Ein Mann in grauem Overall gab Anweisungen an mehrere Rebellen. Er schien Arzt zu sein. Drei bewaffnete Männer, die Scobee offenbar hierher begleitet hatten, waren schwer zugerichtet worden. Mühsam fanden sie nach und nach wieder ins Bewusstsein zurück. »Ich hoffe, Sie haben eine Erklärung dafür, Cloud!«, rief der Rebellenführer außer sich. »Es ist nicht zu fassen! Soeben versuchen sie noch, mich nach allen Regeln der Kunst auszuhorchen, und gleichzeitig schlägt ihre Begleiterin meine Leute nieder, vergreift sich an den Stase-Tanks und setzt den Aufweckmechanismus in Gang...« Einer der Rebellen wandte sich an Shen Sadako. Das entband Cloud immerhin von der Notwendigkeit, sofort zu antworten. »Cronenberg, Palmer und Hays sind verschwunden«, meldete der Rebell. »Nicht zu vergessen diese Scobee!«, murmelte der Anführer der Rebellen mit düsterem Unterton. Der Blick seiner dunklen Augen schien Cloud geradezu zu durchbohren. »Was ist, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« »Ich habe keine Erklärung für Scobees Verhalten«, gestand Cloud, der mehr als nur verwirrt war. Was mochte die GenTecMatrix nur vorhaben?
Eigentlich gibt es da doch nur eine mögliche Erklärung, auch wenn sie dir nicht gefällt!, durchzuckte es Cloud. Cronenberg... Vielleicht hat sie mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht und stand ihm doch erheblich näher, als sie mir weiszumachen versuchte... Der Gedanke gefiel Cloud nicht, aber andererseits schienen die Tatsachen eindeutig für diese Variante zu sprechen. Erneut wandte sich einer der Bewaffneten an seinen Anführer. Offenbar gab es Aufzeichnungen einer Überwachungskamera. Shen Sadako und John Cloud folgten dem Bewaffneten zu einem Bildschirm, über den wenig später eine Bildsequenz flimmerte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Scobee vorgegangen war, überraschte Cloud. Er sah, wie sie den ersten Wächter ausschaltete, anschließend für absolute Dunkelheit sorgte und die zehn Sekunden bis zur Aktivierung des Notaggregats dazu nutzte, die beiden anderen Bewacher auszuschalten. Was den letzten noch kampffähigen Rebellen anging, so wäre die Sache um ein Haar schief gegangen. Die Zeit bis zur Aktivierung des Notaggregats war einfach etwas zu knapp bemessen gewesen. Selbst für eine - gemessen an menschlichen Maßstäben - nahezu perfekte Klonkriegerin wie Scobee. »Es scheint, als sei ich verraten worden«, sagte Cloud düster. In seinem Hirn hämmerte unaufhörlich ein einziger Gedanke. Warum? Er konnte es nicht verstehen. Warum hatte die hoch intelligente Scobee ihre Lage durch diese Einzelaktion so mutwillig erschwert?
Jetzt wird es fast unmöglich sein, das Vertrauen des Rebellenführers zu gewinnen, überlegte Cloud. Er selbst wäre vielleicht an Shen Sadakos Stelle ebenso verfahren. Der Rebellenführer wandte sich an einen seiner Leute. »Wir müssen verhindern, dass Scobee und die Schläfer das Hauptquartier verlassen.« »Vielleicht haben sie das schon«, gab der Mann zur Auskunft. »Es müssen sämtliche Kräfte darauf konzentriert werden, sie wieder einzufangen.« »Jawohl.« »Wenn sie erst einmal im Dschungel der Getto-Zone untergetaucht sind, dann wird es für uns sehr schwer, sie noch in die Hände zu bekommen! Schließlich haben wir keine Riesenarmee zur Verfügung, die sämtliche Ethno-Viertel durchkämmen und auf den Kopf stellen könnte.« »Mal davon abgesehen, dass Ihre Organisation dann wohl auch Gefahr liefe, entdeckt zu werden, nicht wahr?«, mischte sich Cloud ein. Im Gesicht des Rebellenführers zuckte unruhig ein Muskel unterhalb des linken Auges. »Ich möchte zu gerne wissen, welche Rolle Sie und Ihre Begleiter in diesem falschen Spiel wirklich spielen.« »Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, Scobee zu finden.« »Sie werden verstehen, dass ich mich nach den jüngsten Ereignissen ungern auf Sie verlasse.« »Niemand kennt Scobee so gut wie ich«, behauptete Cloud Ein Satz, der einen gedanklichen Einspruch in seinem Kopf nach sich zog. Niemand außer Reuben Cronenberg. *
»Sie müssen das Gebäude schon verlassen haben«, meldete der Rebell seinem Anführer. »Wir haben alles auf den Kopf gestellt.« »Zu dumm, dass in der Zone der Großteil an High-TechGeräten nicht funktioniert«, knurrte Shen Sadako. »Sonst könnte man sie einfach orten. Aber so wird die Suche nach ihnen wohl der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichen.« Der Rebellenführer fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht. John Cloud saß etwas abseits in einem Schalensessel. Sie befanden sich in einem Raum, der so etwas wie der Kommandoraum der Rebellen zu sein schien. Eine Frau mit gelocktem blondem Haar betrat den Raum. Ihre Gesichtszüge waren allerdings eindeutig asiatisch. »Sie haben eines der alten Hovercars gestohlen«, meldete sie. Shen Sadako wirbelte herum. »Welchen?« »Den K345.« »Das war unglücklicherweise der Hovercar, der am zuverlässigsten funktioniert.« Sadako wandte sich an Cloud. »Leider funktionieren Antischwerkraftgleiter nur in wenigen Bezirken des Gettos, in denen die Strahlung offenbar geringer ist. Ansonsten sind wir auf einfache Technik angewiesen...« »Sie können das Getto mit diesem Hovercar nicht verlassen, nehme ich an«, sagte Cloud. »Unmöglich. Die Fahrzeuge sind sehr unzuverlässig und taugen nur dazu, längere Strecken innerhalb der Getto-Zone zurückzulegen.« Der Rebellenanführer wandte sich wieder an die Brau. »Ich will, dass unsere Leute sich über das Zonengebiet verteilen und umhören. Der K345 wird sicher auffallen! Zumal er von Leuten benutzt wird, die sich mit den Eigenheiten dieses Museumsstücks nicht auskennen...« »In Ordnung.« Die junge Frau nickte.
»Ich möchte, dass Einsatzgruppen von jeweils drei bis vier Leuten eingeteilt werden und sich systematisch jedes Zonenviertel vornehmen!« »Jawohl.« Sie nickte, drehte sich um und verließ den Raum. »Ich würde Ihnen gerne helfen«, sagte Cloud zum wiederholten Mal an den Rebellenführer gerichtet. »Sie hätten mir helfen können, indem Sie Ihre Begleiterin davon abgehalten hätten, die Schläfer zu wecken!«, erwiderte Shen Sadako unwirsch. »Das ist unfair«, erwiderte Cloud. »Ach, ja?« »Ich hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von den Absichten meiner Begleiterin.« »Sie wirken bislang nicht sehr überzeugend auf mich.« »Zweifellos besteht eine sehr enge Bindung zwischen Cronenberg und Scobee. Eine Bindung, die weit über die Tatsache hinausgeht, dass Scobee Cronenbergs Geliebte war.« »Was meinen Sie damit, Cloud?« John Cloud zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nicht erklären. Aber inzwischen habe ich Scobee gut genug kennen gelernt, um das deutlich spüren zu können. Ich denke, dass sie mir einiges verschwiegen hat...« Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Cloud fühlte sich scheußlich. Insgeheim hoffte er, dass es doch einen guten Grund für Scobees Handlungsweise gab. Einen Grund, den auch er, Cloud, billigen konnte. Aber so sehr er sich auch das Hirn über diese Frage zermarterte, er fand einfach kein Indiz, das in diese Richtung wies. Habe ich mich wirklich so in ihr täuschen können?, ging es ihm durch den Kopf. Er dachte an so viele Situationen zurück, in denen er sich auf sie hatte verlassen können. Verlassen müssen. Er hatte tatsächlich geglaubt, ihr bis zu einem gewissen Grad vertrauen zu können. Einen Moment lang dachte er an die
Vorbehalte zurück, die er anfangs gegen sie gehegt hatte. Vorbehalte, die mit der Tatsache zusammenhingen, dass sie ein GenTec war. Eine Ausgeburt des amerikanischen KlonProgramms und kein natürlich gezeugter und geborener Mensch. Aber je besser er sie während ihres gemeinsamen Fluges an Bord der RUBIKON II kennen und schätzen gelernt hatte, desto mehr war ihm bewusst geworden, wie töricht diese Vorbehalte gewesen waren. Scobee war genauso menschlich wie jedes Individuum, das von einer Frau geboren worden war. Die anfänglichen Assoziationen mit maschinenhaften Robotern, die einem Programm folgten, waren Cloud zwischenzeitlich vollkommen absurd erschienen. Doch jetzt, im Licht der jüngsten Ereignisse, spürte er, dass sie wieder in ihm aufstiegen. Was, wenn er sich die ganze Zeit über in Scobee getäuscht hatte? Wenn sie von Anfang den Plan gehabt hatte, ihm etwas vorzumachen und sie letztlich nichts anderes war als das willfährige Werkzeug eines gewissen Reuben Cronenberg? Er mochte nicht an die Möglichkeit glauben, dass er sich in Bezug auf diese Frau etwas vorgemacht hatte. Aber außer Acht lassen durfte er diese Möglichkeit auch nicht. »Was denken Sie, hat Scobee vor? Wo ist ihr Ziel?«, drang Shen Sadakos Stimme durch John Clouds Gedanken. »Vielleicht sollten Sie lieber darüber nachdenken, was Cronenberg vorhat? Was sind seine Ziele?«, erwiderte Cloud. * Der K345 glitt mit einem summenden Laut über den Boden der staubigen Straßen des Gettos. Äußerlich ähnelte der offene Hovercar einem Cabriolet des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Scobee saß am Steuer. Sie hatte recht schnell
herausgefunden, wie der Hovercar zu bedienen war. Es war nicht sehr kompliziert. Die meisten Schalter und Hebel hatten keine Funktion, fast sämtliche Displays am Armaturenbrett blieben dunkel. Offenbar hatte dieser Hovercar mit dem ursprünglichen Fahrzeug gleichen Namens wohl nicht viel gemeinsam, sondern stellte mehr eine zusammengebastelte, an die besonderen Bedingungen des Gettos angepasste Spezialversion dar. Insbesondere waren offenbar strahlungsempfindliche Komponenten systematisch ausgetauscht worden. Gerade hatten Scobee und die drei zurück ins Leben geholten Schläfer aus den Stase-Tanks das Chinesenviertel hinter sich gelassen und kamen nun in eine Gegend des Gettos, die auf Schildern Ciudad Latina genannt wurde. Offenbar hatten sich hier vor allem Gettobewohner von der iberischen Halbinsel und Südamerika angesiedelt. Die Straßen und Gassen waren durch Fahrzeuge aller Art verstopft. Handwagen waren ebenso darunter wie kurios zusammengebastelte Hovercars oder Vehikel, die an frühe primitive Automobile erinnerten und mit entsetzlich stinkenden Verbrennungsmotoren betrieben wurden. Besonders schnell waren sie nicht. Angesichts der zahllosen Fußgänger und des Chaos, das in den Straßen herrschte, war an ein schnelles Fortkommen ohnehin nicht zu denken. Auf dem Beifahrersitz saß Reuben Cronenberg. Der aus dem todesähnlichen Zweihundert-Jahre-Schlaf im Stase-Tank erwachte ehemalige NCIA-Chef wirkte zufrieden. Ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte einem der von Scobee K.O. geschlagenen Wächter den Strahler abgenommen und wog ihn jetzt in der Hand. »Vielleicht sollte ich mal ausprobieren, ob dieses Ding auch funktioniert«, sagte er. »Sei versichert, es funktioniert«, erwiderte Scobee kühl. »Ich wäre um ein Haar damit eingeäschert worden.«
»Wenn du es sagst...« Hinten rechts hatte Sid Palmer Platz genommen. Ehedem war er der persönliche Berater von Präsidentin Cuthbert gewesen. Er hatte den Ruf eines genialen Strategen mit überragender Logik, gepaart mit Kreativität. Palmer war Mitte sechzig. Sein Gesicht wirkte schmal, das dunkle Haar war von grauen Strähnen durchzogen. »Kaum zu glauben, dass wir wirklich zwei Jahrhunderte verschlafen haben«, warf er ein und ließ neugierig den Blick schweifen. »Wenn ich das alles hier so sehe, frage ich mich, ob es das wert war«, meldete sich der Vierte im Bund zu Wort, Dr. Xander Hays. Er hatte seinerzeit das Telepathen-Projekt geleitet, das die US-Regierung irgendwo in den Katakomben tief unter der Wüste von Nevada durchgeführt hatte. Scobee und ihre Klon-Zwillingsschwester waren ein Teil davon gewesen. Während Scobee an Bord der RUBIKON unter Commander John Cloud zum Mars geflogen war, hatte eine zweite Scobee auf der Erde sämtliche Gedanken, Empfindungen und Sinneseindrücke der ersten Scobee wahrgenommen. Ein Kommunikationskanal, der den Verantwortlichen als um so vieles weniger störanfällig erschienen war als der normale Funkverkehr. »Komm schon, erzähl mir noch mehr über das, was du über die gegenwärtige Situation auf der Erde weißt, Scobee!«, forderte Cronenberg. Diese Stimme!, durchfuhr es die Klon-Matrix. Sie schluckte. Du bist dieser Stimme vollkommen ausgeliefert. Wenn Cronenberg es von dir verlangen würde, würdest du dich aus dem Fenster eines hohen Hauses stürzen oder ohne Druckanzug in den kalten Weltraum hinausspringen... Sie empfand Bitterkeit und Wut. Die Anziehungskraft, die sie Cronenberg gegenüber empfand, hatte nichts mit Zuneigung, Erotik oder gar Hörigkeit zu tun. Sie basierte auf
einem anderen, viel zwingenderen Band. Einem Band, von dem Scobee wusste, dass es unmöglich für sie war, es zu durchtrennen. So sehr sie Cronenberg, seine Motive und Ziele auch verabscheuen mochte. Sie würde ihm stets treu ergeben sein. Widerstand ist zwecklos, ging es ihr durch den Kopf, und irgendwo aus einer hinteren Ecke ihres Schädels schien ihr das Echo eines heiseren Gelächters zu antworten. Cronenbergs Gelächter... »Wer befindet sich in den Türmen, zu denen sich die Schiffe der Außerirdischen damals verwandelten?«, hakte Cronenberg nach. »Ich muss es wissen!« »Ich bin selbst noch eine Fremde in dieser Zeit«, erwiderte Scobee. »Sehen wir erst mal zu, dass wir irgendwo einen Unterschlupf finden«, schlug Hays vor. »Ich hoffe, Scobee kennt sich hier ein bisschen aus.« »Ich bin ebenfalls erst seit kurzem hier, und das meiste ist für mich so rätselhaft wie für euch«, stellte sie fest. Cronenberg hatte sie während der Fahrt bereits regelrecht ausgefragt. Sie hatte ihm von der Getto-Zone berichtet und davon, dass man die Menschen in der Galaxis als Erinjij bezeichnete und als skrupellose Vernichter fürchtete. Cronenberg hatte ihr nur ungläubig zugehört. Er kann noch nicht ermessen, wie sehr sich die Verhältnisse in den letzten zweihundert Jahren verändert haben, wurde es Scobee klar. Reuben wird noch manchen Schock zu verdauen haben. So wie es auch uns erging... Für kurze Zeit wandten sich ihre Gedanken John Cloud zu. Es war ihr klar, wie enttäuscht der Mann, den sie manchmal noch scherzhaft Commander nannte, von ihr sein musste. Zweifellos fühlte er sich verraten.
Und das mit Recht!, stellte sie fest. Nur habe ich nicht aus freiem Willen gehandelt... Der K345 gab plötzlich ein paar eigenartige Geräusche von sich. War bisher ein monotoner Summton von im ausgegangen, so wurde dieser nun durch kratzende Geräusche unterbrochen. Schließlich sackte der Hovercar auf den Boden und blieb dort liegen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hays. »Endstation«, erwiderte Scobee. »Unser Fahrzeug hat den Geist aufgegeben, wenn man so will. Ich habe euch doch erklärt, dass die hier herrschende Strahlung...« »Das habe ich kapiert«, unterbrach Cronenberg sie ziemlich unwirsch. »Kann man nichts machen, dass die Kiste wieder läuft?« Scobee schüttelte den Kopf. »Nein. Ich nehme an, dass wir in eine Gegend mit höherer Strahlungsintensität gelangt sind. Wir sollten zu Fuß weitergehen. Dann fallen wir auch nicht so auf.« Palmer gab ihr Recht. »Klingt vernünftig, was sie sagt. Zur Abwechslung sollten wir vielleicht mal tun, was sie sagt!« Sie stiegen aus dem Hovercar. Bereits jetzt wurden sie von einer größeren Menge umringt. Offenbar waren die meisten dieser Leute darauf aus, den Hovercar zu erbeuten. Hier und da waren Männer zu sehen, deren Kleidung mit einheitlichen Symbolen versehen war. Scobee fühlte sich unwillkürlich an Straßengangs erinnert, wie es sie noch in der Mitte des 21. Jahrhunderts in den großen Megalopolen gegeben hatte. Messer blitzten auf, hier und da gab es Keulen und ein oder zwei Äxte - alles Waffen, die unter Garantie nicht durch Einwirkung der Strahlung ihren Dienst versagten. »Bleibt ganz ruhig«, forderte Cronenberg seine Begleiter auf. »Wenn es wirklich brenzlig wird, dann wird Scobee wie eine Kampfmaschine dazwischen schlagen.« Er lachte heiser.
»Schon ziemlich praktisch: diese genetische Konditionierung, die dazu führt, dass sie stets meiner Sicherheit die oberste Priorität einräumen wird.« »Ein Roboter aus Fleisch und Blut«, kommentierte Hays mit stolz in der Stimme. Scobee hätte ihn dafür erwürgen können. Aber das genetisch fixierte Programm, nach dem sie handelte, war stärker. Sie drängten sich durch die Menge. Was aus dem Hovercar wurde, interessierte keinen von ihnen. Sie bogen in eine schmale Seitenstraße ein, die von mehrstöckigen, verwinkelten Häusern gesäumt war. »Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr in die Stasebehälter gelegt wurdet? Was war der Auslöser dafür?« »Du willst von mir eine Antwort?« Cronenberg schien ehrlich erstaunt zu sein. »Schätzchen, du scheinst dich ziemlich rasant weiterentwickelt zu haben, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.« Scobee beharrte auf der Beantwortung ihrer Frage. »Wie ist es geschehen, Reuben?« »Das ist nicht dein Ernst!« »Habe dir nicht auch alle Fragen beantwortet?« Cronenberg lachte schallend und so laut, dass sich einige der Passanten zu ihm herumdrehten. Schließlich erklärte der ehemalige NCIA-Chef: »Schätzchen, du bist eine genetische Matrix, von der Klone gezogen werden. Das ist alles.« Nein, das ist nicht alles!, widersprach sie ihm in Gedanken, hütete sich aber davor, diesen Gedanken nach außen dringen zu lassen. Sie schluckte. »Wer weiß, in was für eine Zukunft wir hier geraten sind!«, meinte Hays mit einem scharfen, sarkastischen Unterton. »Am
Ende musst du den Strahler in der Hand noch fragen, ob du schießen darfst!« Du bist für diese Männer nichts weiter als ein Gegenstand!, ging es Scobee bitter durch den Kopf. Ein Werkzeug, eine Waffe, ein Informationsspeicher... Je nachdem, was sie gerade benötigen. Bis zu dem Augenblick, in dem Scobee vor Cronenbergs Stasekammer gestanden hatte, war sie der Überzeugung gewesen, die unsichtbaren Fesseln abgelegt zu haben. Aber jetzt musste sie erkennen, dass das eine Illusion gewesen war. Zu gerne hatte sie daran glauben wollen, wirklich frei zu sein. Befreit durch den Abgrund der Zeiten. Wer hätte auch ahnen mögen, dass Cronenberg diesen Abgrund ebenfalls überwunden hatte. Das Programm in ihren Genen, das sie an den ehemaligen NCIA-Chef band, war noch immer aktiv. Sie hatte keine Chance, diesem Einfluss zu entkommen. * »Lassen Sie mich versuchen, Scobee zu finden!«, verlangte Cloud zum wiederholten Mal. »Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, was für eine Kampfmaschine sie sein kann...« »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie scheint Cronenberg vollkommen verfallen zu ein. Aus welchem Grund auch immer, es ist mir ein Rätsel. Aber sowohl Cronenberg, als auch Hays und Palmer werden kaum irgendwo auf Dauer in der Getto-Zone untertauchen und sich unauffällig verhalten. Ganz im Gegenteil! Sie werden versuchen, ihr Gefängnis zu verlassen.« »Das ist unmöglich.« »Sie werden es aber versuchen. Vielleicht werden sie scheitern, aber man wird in irgendeiner Form auf sie aufmerksam werden. Und genau das können Sie doch im
Augenblick am wenigsten gebrauchen! So stark ist Ihre Organisation noch nicht. Und wenn die Herrschenden - wer immer das auch sein mag - ihr Augenmerk auf Sie und ihre Leute richten, dann sind Sie schneller ausradiert, als Sie Luft holen können!« Shen Sadakos Gesicht erstarrte zu einer Maske. »Sie wollen mir jetzt nicht im Ernst erzählen, dass Sie nur deshalb dabei sein wollen, wenn Scobee und die anderen gefangen werden, weil Sie sich Sorgen um uns machen, Cloud!« Der Rebellenführer lachte heiser auf und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich schon anlügen, dann beleidigen Sie dabei wenigstens nicht meine Intelligenz! Erzählen Sie mir eine Lüge, die immerhin wahr sein könnte, statt mir dieses Gewäsch zu präsentieren!« Eine Pause entstand. Schließlich sagte Cloud: »Sie haben Recht.« »Wie bitte?« »Ich will Scobee nicht um Ihrer Organisation willen fangen. Es geht dabei um etwas anderes.« Shen Sadako trat sehr nahe an Cloud heran. Er war kleiner als der Amerikaner. Aber das tat seinem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. »Sagen Sie es mir!«, forderte er. »Es geht um Rache. Scobee hat mich verraten. Sie hat mich ausgenutzt und für ihre Pläne missbraucht, von denen ich wahrscheinlich noch nicht einmal ahne, worin sie eigentlich bestehen. So etwas kann ich nicht leiden.« Shen Sadako sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Offenbar war es Cloud gelungen, die richtige Saite bei ihm anzuspielen. Rache... Dieses Motiv leuchtete dem Nachfahren des allerletzten chinesischen Kaisers offenbar sofort ein. Dabei war Cloud durch Scobees Verhalten zwar zutiefst irritiert, aber der Gedanke an Rache lag ihm fern. Vielmehr wollte er verstehen, was geschehen war. Verwirrung war vorherrschend in ihm,
auch wenn er im Moment vor dem Rebellenführer eine andere Facette hervorkehren musste, um ans Ziel zu gelangen. »Vielleicht lasse ich mich darauf ein und teile Sie einer der Einsatzgruppen zu...«, sagte Shen Sadako gedehnt. »Wie lautet die Bedingung?« »Aylea und Jelto - sie müssen hier bleiben.« Dieser Teufel!, durchzuckte es Cloud ärgerlich. Shen Sadako war nicht entgangen, wie wichtig ihm die beiden inzwischen geworden waren. Schließlich hatte Cloud viel riskiert, als er Aylea befreit hatte, um ihre Konditionierung zu verhindern. Das schien sich der Rebellenführer gemerkt zu haben. Er weiß ganz genau, dass ich die beiden niemals hier im Stich lassen würde, ging es Cloud durch den Kopf. Aber wahrscheinlich war das der Preis, den er zahlen musste. Es widerstrebte Cloud zwar, das Mädchen und den Florenhüter in der Gewalt der Rebellen zurückzulassen, aber es blieb ihm wohl keine andere Wahl. »Also gut«, erklärte er nach einer kurzen Pause. »Ich bin einverstanden.« »Dann sollte ich Ihnen vielleicht noch das eine oder andere über das Getto sagen, bevor Sie aufbrechen.« In Clouds Augen blitzte es. »Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, wie das Getto überhaupt entstanden ist...« Shen Sadakos Blick wurde nachdenklich, fast abwesend. Er ging zum Fenster, blickte auf die chaotisch wirkende Stadtlandschaft, die aus Gebäuden der unterschiedlichsten Bauart und Stilrichtung bestand. Die meisten waren ausschließlich nach praktischen Gesichtspunkten errichtet worden. Ein Anblick, der Cloud immer ein bisschen an die wild wuchernden Slums an den Stadträndern vieler Metropolen seiner eigenen Zeitepoche erinnert hatte. Nur, dass in diesem
Fall der Wildwuchs durch einen Gürtel grausamer Killer-Flora begrenzt wurde. Shen Sadako nickte leicht. »Die strahlenverseuchte Getto-Zone... Ich will Ihnen verraten, wie sie entstand!« * Quomolangma, 2041 Er öffnete die Augen. Grelles Neonlicht blendete ihn. Da waren Stimmen. »Soldier One ist erwacht.« »Bewusstseinsemplementierung gelungen?« »Ja. Der Datensatz ist kalibriert. Körperfunktionen sind im angestrebten Normbereich.« »Was ist mit der Teilblockade der Spezialfähigkeiten?« »Ist aktiviert. Deaktivierung tritt bei extremen Gefahrensituationen oder im Kampfeinsatz ein.« »Gut...« »Sedierung aufheben.« »Wird eingeleitet.« Er hörte diese Stimmen wie aus weiter Ferne. Es fiel ihm schwer, sich auf die Worte zu konzentrieren. Medizinischtechnisches Vokabular, das für ihn Ähnlichkeiten mit der Litanei in einem buddhistischen Tempel hatte. »Wie geht es Ihnen, Phong?«, fragte jemand. Ein Gesicht erschien, umrahmt von blauschwarzen Haaren. Eine dicke Brille ließ die Augen beinahe so groß erscheinen, als ob ihr Träger sich die Mongolenfalte hätte wegoperieren lassen, wie es im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert modern gewesen war. Doch das hatte mit der Machtergreifung Sadakos ein Ende gefunden.
Phong... Für den Bruchteil einer Sekunde klang dieser Name in seinen Ohren fremd. So als wäre es der Name eines anderen. Erinnerungen stiegen in ihm auf, zogen in atemberaubendem Tempo an seinem inneren Auge vorbei. Er sah einen anderen Mann vor sich, der denselben Namen aussprach. »Phong! Pass auf, sonst fällst du von dem Baum herunter!« »Ich pass schon auf«, sagte Phong und bemerkte erst einen Augenblick später, dass er laut gesprochen hatte. Jemand tätschelte seine Wange. »Sie müssen jetzt wach werden, Phong«, sagte der BrillenMann in einem strengen Unterton, der so gar nichts von der ruhigen, liebevollen Art seines Vaters hatte. »Ich... bin müde«, flüsterte Phong. »Das wird nicht lange so bleiben, Phong.« »Gut...« »Erkennen Sie mich?« »Sie sind Professor Kuan - der Arzt mit dem ich sprach, bevor...« Phong stockte, sprach nicht weiter. Kuan nickte. »Ein kleiner Routine-Eingriff. Sie hatten einen üblen Abszess, der ihnen in letzter Zeit im wahrsten Sinn des Wortes Kopfschmerzen gemacht hat!« »Nichts Bösartiges?« »Die Laboranalyse wird letzte Sicherheit bringen, aber sie können meiner Erfahrung als Arzt vertrauen. Nein, da war kein Hinweis auf eine bösartige Veränderung.« Phong atmete tief durch. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Kuan. Er wusste noch, wie man ihn auf den Operationstisch gelegt hatte, wie er aufgefordert wurde, laut zu zählen. Danach brach die Erinnerung ab. Er hob die Hand, betastete den Verband am Kopf. »Es werden keinerlei Narben bleiben«, versicherte Kuan. »Das ist mir nicht das Wichtigste.«
»Oh, ich vergaß... Als tibetischer Buddhist sind Ihnen innere Werte wichtiger als der äußere Schein.« »Ich...« Phong versuchte, sich aufzurichten. Aber Kuan drückte ihn zurück in die Kissen, auf denen er lag. »Warten Sie damit noch ein paar Stunden, dann wird die Wirkung der Medikamente nachlassen.« »Ja...« Phong entspannte sich. Er schloss die Augen. Der Strom der Erinnerungen riss nicht ab. Sein Vater, der chinesische Offizier. Seine Mutter aus einer tibetischen Familie, die ihn die Geheimnisse des Alten Glaubens gelehrt hatte. Die Zeit auf der Eliteschule, die Ausbildung zum Spezialkämpfer in der Armee, das Studium auf einer politischen Kaderschmiede, die in den legendären Zeiten des Kommunismus gegründet worden war und auch im neokaiserlichen China nichts von ihrer Bedeutung verloren hatte... Schließlich eine steile Karriere in der Verwaltung, die ihn letztendlich dorthin gebracht hatte, wo seit einiger Zeit für seinesgleichen das höchste Ziel lag. Auf den Gipfel der Macht: die Qomolangma-Festung Kaiser Sadakos! »Schlafen Sie etwas, Phong, und erholen Sie sich gut. In Kürze werden Sie sich wie neu geboren fühlen!«, versprach Professor Kuan. Wie neu geboren!, echote es in Phongs Bewusstsein. Genau diese Formulierung traf sein gegenwärtiges Befinden. Er hatte das leise Gefühl, dass sich seit dem kleinen Routineeingriff etwas verändert hatte. So als würde sich sein Leben in ein Davor und ein Danach einteilen. Liegt wohl alles an den Medikamenten, überlegte er. Er atmete tief durch. Es gelang ihm zunächst nicht, wirklich einen entspannten Ruhezustand zu erreichen. Da war etwas,
das in ihm rumorte. Ein paar eigenartige Gedankenfetzen schossen ihm durch den Kopf. Soldier One. Der perfekte Soldat. Eine Tötungsmaschine, wie sie die Menschheit nie gekannt hat... Worte, an die er sich schon im nächsten Moment kaum noch zu erinnern vermochte. Phong lächelte. Komisch, dass dir ausgerechnet jetzt diese interaktiven Ballerspiele in den Sinn kommen, überlegte er. * »Nehmen Sie das, Majestät. Dreimal täglich eine Kapsel.« Dr. Li war der Leibarzt des Kaisers. Er reichte Sadako die Packung. Der Kaiser runzelte die Stirn. »Was ist das?« »Ein schwaches Antidepressivum.« Sadako lachte heiser auf. »Ich gebe zu, dass man angesichts der gegenwärtigen Lage leicht in Depressionen verfallen könnte. Aber das entspricht eigentlich ganz und gar nicht meiner Persönlichkeitsstruktur.« Dr. Li, ein hagerer, an ein Wiesel erinnernder Mann mit dunklen, sehr wachen Augen und schütterem Haar schüttelte den Kopf. Dabei neigte er sich etwas nach vorn, was beinahe wie eine angedeutete Verbeugung wirkte. »Dieses Mittel enthält einen Wirkstoff, der gegen den Drang wirkt, einen der Türme aufzusuchen«, behauptete er. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich habe verschiedene Psychopharmaka in der festungsinternen Qomolangma-Klinik an Patienten testen lassen, die von dieser neuen Volkskrankheit befallen sind.
Natürlich war in der Kürze der Zeit eine wissenschaftliche Studie unmöglich. Aber der Effekt dürfte unbestritten sein. Und in geringen Dosen genommen halten sich die Nebenwirkungen in Grenzen.« Sadako nickte leicht. »Wenn es zu schlimm wird, werde ich es probieren«, versprach er. »Ihr Cousin Wang war etwas mutiger, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten, Majestät.« Sadako hob die Augenbrauen. Niemand sonst hätte sich eine derart respektlose Bemerkung dem Kaiser gegenüber erlauben dürfen. Nicht einmal jemand aus den Reihen der näheren Verwandtschaft. Aber Dr. Li war in vielfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung auf dem Qomolangma. Er gehörte zu den wenigen Personen, bei denen sich Sadako vollkommen sicher war, dass sie frei von jeglichen Machtambitionen waren. Sadako vertraute Li wie sonst niemandem. Wenn er mich je hätte umbringen wollen, hätte er mehr als genug Gelegenheiten dazu gehabt, so dachte Sadako über seinen Arzt. Aus der Tatsache, dass Li es nicht getan hatte, leitete Sadako ein gewisses Maß an Loyalität ab. »Worauf wollten Sie mit Ihrer Bemerkung hinaus?«, fragte der Kaiser. »Darauf, dass er sofort eine Dosis des Medikaments genommen hat. Und es geht ihm gut.« Sadako musste unwillkürlich lächeln. Aber dieses Lächeln verflog rasch wieder, denn die Lage war zu ernst. Der seltsame »Lockruf«, der von den Türmen ausging, machte sich auch in der Qomolangma-Festung immer stärker bemerkbar. Flugstaffeln führten nur noch die für die Sicherheitslage notwendigsten Flüge durch, denn allein in den letzten Tagen hatte die kaiserliche Luftwaffe ein Dutzend Maschinen verloren, deren Piloten dem geheimnisvollen Drang
zu den Türmen nicht hatten wiederstehen können. Auch in den Krisenstäben und unter der technischen Festungsbesatzung gab es immer wieder Berichte darüber. Bei den meisten Betroffenen war es lediglich ein mehr oder minder ausgeprägtes Gefühl der Sehnsucht, sich zu einem dieser kathedralenartigen Bauwerke zu begeben und in die Reihen der Pilgerscharen zu treten, um irgendwann ins Innere der Alienschiffe zu gelangen. Zumindest in einem Fall hatte sich dieses Gefühl jedoch zu einem fast wahnhaften Zustand gesteigert. Es war erst wenige Tage her, dass ein junger Offizier die Qomolangma-Festung verlassen hatte. Zu Fuß und ohne Sauerstoffgerät. Sein Schicksal war damit besiegelt gewesen. Sicherheitskräfte hatten ihn kurze Zeit später halb erfroren aufgefunden und zurück in die Festung gebracht. Sadako hob die Medikamentenpackung ins Licht. »Könnten wir dieses Präparat nicht vorbeugend an die gesamten Mannschaften ausgeben?«, fragte er. »Ich bin überzeugt davon, dass es in unserer Festung bereits ziemlich leer wäre, wenn man leichter von hier fortkommen könnte!« »Da bin ich Ihrer Ansicht, Majestät.« »Auf lange Sicht steht die Einsatzfähigkeit dieser Festung in Frage.« Ganze Armeeeinheiten, die bis vor wenigen Tagen noch vollkommen intakt gewesen waren, hatten sich inzwischen in die kilometerlangen Menschenschlangen eingereiht, die zu den Türmen hinführten. Was die Schwarze Flut an staatlicher Autorität nicht hatte zerstören können, wurde nun durch den seltsamen Lockruf hinweggefegt. Es schien nichts zu geben, was diese Entwicklung aufhalten konnte. Nichts, außer der lebenden Bombe, die nur noch endlich scharfgemacht werden muss!, ging es dem Kaiser durch den Kopf.
Die Stimme des Arztes verhinderte, dass er in seinen düsteren Gedanken versank. »Es ist schlicht unmöglich, die gesamten Mannschaften mit diesem Präparat - oder anderen Medikamenten mit ähnlichen Wirkstoffen - zu versorgen. Wir haben einfach nicht genug davon. Schließlich ist das hier eine Festung. Ein Regierungssitz, dessen Personal auf psychische Instabilität hin getestet wurde. Da rechnet ja auch niemand mit einem erhöhten Bedarf an Psychopharmaka.« Über Interkom meldete sich General Yu. »Majestät, Soldier One ist einsatzbereit. Ich habe gerade mit Professor Kuan gesprochen...« Kaiser Sadako seufzte hörbar. »Kuan hat die Frist, die ich ihm gesetzt hatte, voll ausgeschöpft.« »Wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen, Majestät: Es grenzt an ein Wunder, dass er so schnell so weit gekommen ist.« »Er ist der Beste auf seinem Gebiet.« »Übrigens scheint der mentale Lockruf, der Millionen Menschen in der Bann der Türme zieht, auch auf Soldier One Einfluss zu haben«, berichtete der Chef des Geheimdienstes. Ein zynisches Lächeln umspielte den dünnlippigen Mund des Kaisers. »Um so besser!«, stieß er hervor. * Zwei Stunden später wurde eine Einsatzbesprechung unter Leitung von General Yu einberufen. Der Kaiser selbst pflegte normalerweise an Detailplanungen einer Geheimdienstoperation nicht teilzunehmen. In diesem Fall machte er eine Ausnahme. Unter den etwa ein Dutzend anwesenden Offizieren und Angehörigen des Geheimdienstes stellte General Yu einen
drahtigen Mann von unbestimmtem Alter vor. Seine Züge waren für chinesische Verhältnisse sehr kantig. »Dies ist Leutnant Zhao, seit langem einer unserer erfolgreichsten Spezialagenten«, erklärte Yu. »Er wird die operative Leitung haben.« Zhao erhob sich und verbeugte sich kurz. »Ich bin mir der Ehre wohl bewusst, die mir mit der Erteilung dieses Kommandos zuteil wird«, sagte er steif. Anschließend setzte er sich wieder. »Wie ist der Ablauf der Aktion?«, erkundigte sich der Kaiser. »Ich möchte jede Einzelheit Ihres Plans erfahren, General.« »Die Sache ist im Grunde sehr einfach. Wir bringen Soldier One ins Stadtgebiet von Peking. Den Rest überlassen wir der offenbar unwiderstehlichen Anziehungskraft der Türme...« »... und warten ab, bis es eine große Explosion gibt«, vollendete Sadako. Eine Falte erschien auf seiner Stirn. »Es wird Millionen Opfer geben...« »Das ist unvermeidlich«, stellte General Yu klar. Sadako nickte. »Ich weiß...« Der Kaiser machte eine kurze Pause und schlug die Beine übereinander. Eine Teeschale stand vor ihm auf dem Tisch. Deren Inhalt dampfte schon längst nicht mehr und war inzwischen kalt geworden. Sadako hatte den Rat seines Arztes befolgt und bekämpfte seinen eigenen Drang zu den Türmen mit den Kapseln, die Li ihm gegeben hatte. Sie dämpften diese unstillbare Sehnsucht etwas herunter. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass dieses Gefühl noch immer ständig im Hintergrund präsent war. Warum nicht einfach nach Peking fliegen und sich in die Schlangen der Pilger einreihen? Ein Gedanke, dessen Absurdität Sadako auf der einen Seite wohl bewusst war, der ihn aber dennoch immer wieder quälte,
Ablenkung war neben der Anwendung von gewissen Antidepressiva eine Taktik, um sich nicht allzu leicht von dem Lockruf der Türme einlullen zu lassen. Sadako gab sich einen Ruck. »Ich bin sehr gespannt, wie die Außerirdischen reagieren, wenn der Turm von Peking durch die Explosion zerrissen wird«, sagte er. »Wir sollten mit einer massiven militärischen Antwort rechnen«, erklärte General Yu. Sadako lächelte mild und wandte sich Leutnant Zhao zu. »Was ist Ihre Auffassung dazu?«, erkundigte er sich. Dessen Körperhaltung verkrampfte sich deutlich. »Ich weiß nicht, Majestät...« »Sprechen Sie frei!« »Die Invasion der Fremden hat Millionen Menschen das Leben gekostet. Aber die Toten starben fast sämtlich durch indirekte Auswirkungen. Sie haben ihre Ziele ausgesprochen kompromisslos verfolgt, scheinen aber kein Interesse daran zu haben, möglichst viele von uns zu töten.« »Das deckt sich mit meinen Schlussfolgerungen«, stellte Sadako fest. Er wandte sich an den ebenfalls anwesenden Professor Dr. Kuan. »Ein ungelöstes Problem sehe ich noch.« »Majestät?«, fragte Kuan. »Das Bewusstsein beziehungsweise Pseudo-Bewusstsein von Soldier One ist erwacht.« »Korrekt.« »Wie erklären wir ihm plausibel, weshalb er nach Peking gebracht wird? Schließlich wissen wir nicht, wie stark eventuelle telepathische Fähigkeiten bei den Fremden ausgeprägt sind. Das misslungene Beispiel des amerikanischen Gegenschlag-Versuchs zeigt doch, dass unsere >Lebende Bombe< nur dann eine Chance hat, ihr Ziel zu erreichen, wenn das Bewusstsein vollkommen ahnungslos ist.«
Kuan nickte heftig. »Majestät, wir haben uns bei der Pseudo-Identität von Soldier One größte Mühe gegeben. Er glaubt, Familienangehörige in Peking zu haben, über deren Überleben er sich unbedingt vergewissern muss. Das ist eine feste Größe in seiner psychischen Struktur, die er nicht umgehen kann. Wenn er also die Chance bekommt, bei einem Routine-Flug mitzufliegen, bei dem ein enger Freund das Kommando führt, greift er zu.« »Dieser enge Freund ist Leutnant Zhao?«, hakte der Kaiser nach. »Exakt. Später, wenn Soldier One sich in Peking befindet, sorgt der übermächtige Drang, zum Turm zu pilgern dafür, dass er sein eigentliches Ziel rasch vergisst.« Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Sadakos Gesicht, und er wandte sich wieder an General Yu. »Ich gratuliere Ihnen, General. Dieser Plan ist genial.« »Ich hoffe, genial genug, um die Fremden zu täuschen.« »Das wird sich bald herausstellen...« * »Es ist wirklich nett, dass du das für mich tust«, sagte Phong an Leutnant Zhao gewandt. »Du bist eben ein echter Freund.« Zhao nickte knapp. »Komm jetzt, wir müssen uns beeilen.« »Ja, sicher.« Sie befanden sich in einem großen Hubschrauber-Hangar innerhalb der Qomolangma-Festung. Eine der Maschinen war gerade startklar gemacht worden. Die beiden Männer stiegen ein. Der Pilot begrüßte sie. Insgesamt befanden sich außer Phong und Zhao noch vier weitere Personen in dem mit modernstem High Tech-Equipment voll gestopften Helikopter vom Typ Zhenjen 7-A.
Alle Besatzungsmitglieder mussten Sauerstoff-Masken anlegen. Zhaos Stimme klang darunter dumpf. Das Außenschott des Hangars, der gleichzeitig auch als Druckschleuse fungierte, öffnete sich. Der Helikopter hob ab und schwebte ins Freie. General Yu hatte darauf verzichtet, den 7-A von einer Begleitstaffel Kampfhubschrauber begleiten zu lassen. Das hätte nur Aufsehen erregt und womöglich die Aufmerksamkeit der Außerirdischen auf das Unternehmen »Lebende Bombe« gelenkt. »Was habt ihr eigentlich in Peking zu tun - wenn man so indiskret sein darf zu fragen«, meldete sich Phong zu Wort. »Wir machen das, was wir immer tun«, erwiderte Leutnant Zhao etwas unverbindlich. »Wir sammeln so viele Informationen wie möglich. Insbesondere führen wir Befragungen unter der Bevölkerung durch.« »Um mehr über jene Wesen herauszufinden, die im Inneren der Türme sind«, stellte Phong fest. »Ich würde auch gerne einmal eines dieser Raumschiffe betreten. Nur einmal...« »Wir kommen nicht ganz in die Gegend. Sonst könntest du dir das ehemalige Äskulap-Schiff ja auch mal aus der Nähe ansehen.« Phong schluckte. Den plötzlichen Drang danach, in die Nähe dieses Turms zu gelangen, ihn vielleicht sogar zu betreten und sich von Innen anzusehen, hatte ihn anfangs verwirrt. Er fragte sich, woher das kam. Inzwischen hatte er mitbekommen, dass er längst nicht der Einzige war, der unter dieser Krankheit zu leiden hatte. Die Bilder von den gewaltigen Pilgerschlangen, die durch die Straßen Pekings zogen, waren auch ihm präsent. Euphorie erfasste den Klon. Die Aussicht, einem der Türme um mehrere tausend Kilometer näher zu kommen, löste ein wahres Glücksgefühl in ihm aus. Selbst der Wunsch, seine Kinder wiederzusehen, die seiner Erinnerung nach irgendwo in Peking
bei seiner Ex-Frau lebten, wurde durch den Drang in den Hintergrund gedrängt. Phong erschrak darüber. Die Besatzung des Helikopters hatte vorbeugend Medikamente gegen die schlimmsten Auswirkungen des mentalen Lockrufs bekommen. Das galt auch für Phong. Allerdings handelte es sich bei den Kapseln, die er erhalten hatte, um wirkungslose Placebos. »Ich frage mich, was in diesen ehemaligen Raumschiffen zu finden ist«, meinte Phong nachdenklich, während er aus dem Sichtfenster auf die Himalaja-Gipfel blickte. Die schneebedeckten Hänge reflektierten das Licht so stark, dass es blendete. »Wir haben Menschen befragt, die die Türme betreten haben«, sagte Zhao. »Und? Was haben sie gesehen?« »Nichts Besonderes. Die Befragungen haben nicht viel erbracht. Aber in dieser Hinsicht stehen wir erst am Anfang.« Der Pilot flog einen Bogen und beschleunigte merklich. Die Insassen wurden an ihre Sitze gepresst. Zhao bedachte Phong inzwischen mit einem nachdenklichen Blick. Was für ein bemitleidenswerter Kerl, dachte er. Er weiß gar nicht, dass er einen Anblick wie diesen zum letzten Mal genießt. Phong war ebenso ahnungslos, wie die Hunderttausende oder gar Millionen Opfer, die von der lebenden Bombe zerrissen werden würden. Selbst dem abgebrühten Geheimdienstler Zhao machte das einige Bauchschmerzen. Aber er sagte sich, dass es diesen Preis wert war, sofern es den ersten Schritt zur Rettung der Menschheit darstellte. * Der Helikopter legte auf einem Armeestützpunkt in Mittelchina einen Zwischenstopp ein. Auf dem Landefeld
befanden sich kaum Maschinen. Das Personal schien lediglich aus einer Art Notbesatzung zu bestehen. Den Kommandanten des Standortes traf Leutnant Zhao in seinem Büro an. »Uns laufen die Soldaten in Scharen davon«, erklärte er. »Ihr da oben auf dem Qomolangma solltet euch nicht wundern, wenn das Stützpunktnetz von Armee und Luftwaffe innerhalb der nächsten Tage vollkommen zusammenbricht.« »Es ist die Anziehungskraft der Türme, nicht wahr?«, schloss Zhao. »Ich denke, dass jeder diesem Drang irgendwann nachgeben wird. So sehr er auch dagegen ankämpfen mag. Die Fremden sind bereits in unseren Köpfen. Wir können nichts dagegen tun.« Zhao spürte die Verzweiflung bei dem StützpunktKommandanten, doch er konnte nichts tun. Wenig später erhob sich der Helikopter wieder in die Luft und setzte seinen Weg fort. Der Anblick der Blechlawinen auf den Schnellstraßen war ebenso deprimierend wie die gewaltigen Überschwemmungen, die sich an den Ufern des Jangtse Kiang ereignet hatten. Ganze Landstriche standen unter Wasser, weil Staudämme durch abstürzende Flugzeuge zerstört worden waren. »Unser Land ist am Ende«, stellte Phong fest. »Erstaunlich, dass du >unser Land< sagst«, meine Zhao. »Wieso?« »Viele Tibeter sehen das anders.« »Ich bin Halb-Tibeter«, stellte Phong sachlich fest. »Oh, ich vergaß...« Phong bemerkte, dass der Zhao, mit dem er Richtung Peking flog nicht dem Zhao seiner Erinnerung entsprach. Zumindest nicht in jedem Detail. Beispielsweise hatte Zhao ihn in der Vergangenheit niemals darauf angesprochen, dass er
eine tibetische Mutter hatte. Das war einfach kein Thema zwischen ihnen gewesen. Vielleicht geschieht so etwas durch den extremen Stress, unter dem wir im Moment alle stehen, sagte sich Phong. Er hatte auch eigentlich keine Lust, länger darüber nachzugrübeln. * Der Helikopter landete im Pekinger Stadtviertel Gong Dao auf einer Grünfläche zwischen zwei Wolkenkratzern. Das Viertel war zu Beginn der neuen Kaiserzeit hochgezogen worden. Die vorherige Bebauung war dabei einer Art Radikalsanierung zum Opfer gefallen. Gong Dao war ein nobles Wohn- und Geschäftsviertel, das die alte Hauptstadt endlich aus dem Schatten der aufblühenden Wirtschaftsmetropolen Shanghai und Hongkong treten lassen sollte. Nach der Verlegung des Regierungssitzes in die weit abgelegene Qomolangma-Festung war von diesem Anspruch nicht viel übrig geblieben. »Wir holen dich in 48 Stunden wieder hier ab«, kündigte Leutnant Zhao an. Er musste schreien, um die Rotoren zu übertönen. »Du musst aber pünktlich sein!« »Das werde ich.« Phong blieb am Boden zurück, während der Helikopter vom Boden abhob. Einen Moment lang fragte sich Phong, weshalb sein Freund Zhao so schweigsam gewesen war. Irgendetwas war anders gewesen als sonst. Phong konnte sich nicht erklären, was es war. Es war einfach nur ein Gefühl, das aber wenig später von anderen Eindrücken so stark überlagert wurde, dass es vollkommen in den Hintergrund trat. In der Ferne hörte er Schüsse. Phongs Hand glitt reflexartig an die Hüfte. Verborgen unter seiner Jacke trug er dort eine der üblichen chinesischen
Militarpistole vom Typ Zhedong 398 Special. Es handelte sich um eine Waffe, die kleinkalibrige mit Wolfram ummantelte Projektile verschoss. Deren sehr hohes spezifisches Gewicht sorgte für eine enorme Durchschlagskraft, gegen die auch Splitterwesten aus Kevlar keinen Schutz boten. Aufgrund der garantiert mannstoppenden Wirkung war die Zhedong 398 inzwischen weltweit zur Standardwaffe geworden - vom FBI bis zur deutschen Bundeswehr. Zhao hatte darauf bestanden, dass Phong die Waffe bei sich trug. Schließlich befand sich der Großteil des Landes in einem anarchischen Zustand, und die alte Hauptstadt Peking bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Phong war durchaus bewusst, dass es nicht in erster Linie die Staatsführung oder Verwaltung und Militär waren, die diesem Trend entgegenwirkten, sondern der geheimnisvolle mentale Einfluss, der von den Türmen ausging. Millionen Menschen waren unterwegs, um zu den ehemaligen Äskulap-Raumern zu pilgern und vergaßen darüber alles, was ihnen ansonsten wichtig war. Auch Phong spürte diesen Drang, das Raumschiff der Fremden aufzusuchen, in sich. Von Gong Dao aus waren es nur wenige Kilometer bis zum Stadtzentrum. Ein Fußmarsch von anderthalb bis zwei Stunden. Phong hatte das auf dem Navigationsdisplay des Helikopters gesehen. * Phong erreichte schließlich die Ming Apartments, ein dreißigstöckiges Hochhaus. Seiner Erinnerung nach war dies die aktuelle Adresse seiner Ex-Frau. Der letzte Telefonkontakt lag schon ein paar Wochen zurück. Damals war scheinbar noch alles in Ordnung gewesen. Angeblich hatte der hausinterne Sicherheitsdienst dafür gesorgt, dass die Ming Apartments von
den überall um sich greifenden Plünderungen verschont geblieben waren. Später war der Kontakt abgebrochen. Phong hatte seine Verbindungen in der QomolangmaFestung spielen lassen und erfahren, dass im gesamten GongDao-Viertel das Telefonnetz und die Energieversorgung ausgefallen waren - zumindest erinnerte sich Phong daran... Der Eingang des Ming Apartments ließ Phong das Schlimmste ahnen. Die Glasfronten im Eingangsbereich waren zerstört, an den Wänden waren Einschusslöcher zu sehen. Offenbar war hier gekämpft worden. Das Foyer war vollkommen verwüstet. Ein beißender Geruch hing in der Luft. Die Wände waren teilweise verrußt, so als hätte es hier gebrannt. Phong atmete tief durch. Lohnt es wirklich, jetzt weiterzugehen? Meine Kinder werden nicht mehr hier sein. Jedenfalls kann ich das nur hoffen. Wahrscheinlich triffst du sie eher in einer der Menschenschlangen vor dem Turm... Das Bild des ehemaligen Äskulap-Raumers erschien augenblicklich vor seinem inneren Auge. Genauso wie er ihn so oft auf dem Bildschirm gesehen hatte. Einen Augenblick lang senkte Phong die Lider. Seit er sich auf dem Pekinger Stadtgebiet befand, war der Lockruf noch sehr viel stärker spürbar geworden, als es in der fernen Qomolangma-Festung der Fall gewesen war. Du wirst deine Kinder hier nicht finden, also geh! Warum verlierst du noch kostbare Zeit? Du bist dem Turm so nahe! Phong versuchte, die Gedanken zu unterdrücken. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an. Die Wahrscheinlichkeit, in diesem offensichtlich geplünderten Haus, seine Ex-Frau mit den beiden Kindern noch anzutreffen, war extrem gering. Trotzdem wollte er sich vergewissern, dass sie nicht mehr hier waren. Eine andere Handlungsweise hätte er sich nie verzeihen können. Phong
plagten ohnehin schon Schuldgefühle - zumindest seinen Kindern gegenüber. Er hatte nach Ausbruch der Krise alles versucht, um zumindest die Kinder auf die Qomolangma-Festung holen zu können. Es war ihm von der Festungsverwaltung verweigert worden. Jetzt warf er sich vor, dass er nicht viel früher einen Alleingang versucht hatte, Hass auf die Festungsverwaltung kam in ihm auf. Ein Hass, der sich sogar auch ein wenig gegen die Regierung des Kaisers richtete. Diese Bürokratie funktionierte in seinen Augen wie ein kaltes Ungeheuer, bar jedweder menschlicher Regung. Geh zum Turm! »Nein«, sagte er laut und gab sich einen Ruck. Er ging vorwärts. Erst zögernd, dann immer schneller. Die letzte Adresse seiner Ex-Frau lag im 12. Stock. Es war natürlich sinnlos, den Lift aufzusuchen. So nahm er das Treppenhaus. Er nahm immer mehrere Stufen auf einmal. Einen Augenblick lang wunderte es ihn, dass er nach der Kopfoperation bereits wieder dermaßen gut in Form war. Außerdem lag seine Ausbildung bei der Armee schon Jahre zurück. Aus irgendeinem Grund dachte er nicht weiter darüber nach. Der Gedanke verflüchtigte sich einfach. Was ihm für Sekundenbruchteile wie ein fundamentaler Widerspruch in seiner Existenz erschienen war, verschwand plötzlich hinter einer Art Gedankenblockade, die er nicht zu überwinden vermochte. Er wollte jetzt einfach nur noch so schnell wie möglich die Wohnung seiner Ex-Frau aufsuchen, um sich zu vergewissern. So rasch wie nur irgend möglich wollte er diese Sache hinter sich bringen, um anschließend endlich dem Drang nachgeben zu können, der immer mächtiger in ihm wurde. Zum Turm...
Endlich hatte er den 12. Stock erreicht. Er wunderte sich kaum darüber, dass sein Körper keinerlei Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Im Dauerlauf rannte er über die Korridore und stand schließlich vor der richtigen Apartmenttür. Nummer 435 D 1612. Phong stutzte. Das elektronische Schloss war herausgesprengt worden. Ein tellergroßes Loch klaffte dort in der Tür. Aber das war es nicht, was Phong stutzen ließ. Damit hatte er schließlich gerechnet. Er konnte nur hoffen, dass das gewaltsame Aufbrechen der Wohnungstür erst geschehen war, nachdem sich seine Kinder nicht mehr dort befunden hatten. Der Gedanke, dass sie irgendwelchen Plünderern in die Hände gefallen waren, die offenbar weite Stadtbezirke mehr oder minder beherrschten, war für ihn unerträglich. Aber Phong wunderte sich über etwas anderes. Neben der Tür stand ein anderer Name als der seiner Frau. Wie ist das möglich? Seine Frau hatte nach der Scheidung zwar häufig den Wohnort gewechselt, aber immerhin hatte Phong doch noch nach Eintritt der weltweiten Krise mit ihr in Kontakt gestanden. Zu einem Zeitpunkt, als ein Umzug beim besten Willen nicht mehr möglich gewesen wäre. Etwas stimmte hier nicht. »Soldier One«, hörte er plötzlich eine Stimme in seinem Hinterkopf. Eine vertraute Stimme. Die Stimme eines Mannes. Er überlegte. »Soldier One...« Im nächsten Moment wurde daraus die Stimme eines kleinen Jungen, der etwa fünf Jahre alt war. Vor seinem inneren Auge entstand dazu ein Bild seines Sohnes. Ein trauriges Lächeln umspielte Phongs Lippen. Er war immer schon dagegen gewesen, dass Kinder mit Computergames
amerikanischer Herkunft spielten. Das war oft ein Streitpunkt zwischen ihm und seiner Frau gewesen. An den fremden Namen an der Tür dachte er jetzt nicht mehr. Der Gedanke daran war wie weggewischt. Irgendetwas in ihm verhinderte, dass er sich damit noch einmal beschäftigte. Er sah sich kurz die vollkommen verwüstete Wohnung an. Dass er dabei keinerlei persönliche Gegenstände fand, die darauf hinwiesen, dass sich hier seine Kinder und seine ExFrau noch vor kurzem befunden haben mussten, störte ihn nicht weiter. Er dachte einfach nicht darüber nach. Sein Kopf fühlte sich an wie leer gefegt. Jetzt gab es nur noch eine Sache, die wichtig war. So schnell wie möglich zum Turm gelangen. Er wollte das Innere des Raumschiffs betreten. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten können. * Phong wollte die Wohnung gerade verlassen, da hörte er Geräusche vor der nur einen Spalt breit offen stehenden Tür. Jemand war auf dem Korridor. Phong hörte Stimmen. Drei oder vier Männer mussten dort sein. Phong war alarmiert. Er griff zur Zhedong 398 Special. Einer der Männer blieb vor der Tür stehen. Ein automatisches Verteidigungsprogramm wurde in Phongs Gehirn initiiert. Nur halb bewusst registrierte er, dass er auf einem seiner Augen den Frequenzbereich änderte und auf Infrarotsicht umschaltete. Durch dessen Wärmeabstrahlungen konnte Phong den Mann sehen. Den Farben nach, die Phong wahrnahm, hielt der Kerl etwas Langes, Kaltes in der Hand. Eine Waffe.
Er drehte sich herum, stand breitbeinig vor der Tür. »Hey, Leute, hier waren wir noch nicht!«, rief er. Er hob den Fuß, um die Tür zur Seite zu treten. Phong ließ ihn nicht dazu kommen. Er drückte ab. Das Projektil durchschlug die Tür und drang in den Oberkörper des Mannes ein. Er wurde regelrecht zerrissen. Phong schnellte nach vorne, riss die Tür auf. Im Flur herrschte aufgrund des Energieausfalls Halbdunkel. Phong erfasste die Situation um ein Vielfaches schneller als seine Gegner, bei denen es sich offenbar um gewöhnliche Plünderer handelte. Der Lockruf der Türme schien nicht alle Menschen mit gleicher Intensität heimzusuchen. Insgesamt drei Männer standen Phong gegenüber. Zielsicher streckte er den ersten mit einem Schuss seiner Zhedong 398 nieder, warf sich zur Seite und rollte sich auf dem Boden ab. Dicht neben ihm fetzte ein Projektil in den weichen Fußbodenbelag des Korridors hinein. Eiskalt streckte Phong den zweiten Angreifer nieder. Der dritte befand sich bereits auf der Flucht. Er stürzte in eine der Wohnungen. Phong erhob sich. Seine Bewegungen waren von katzenhafter Geschmeidigkeit. Wie automatisch lief alles ab. Der Verstand war ausgeschaltet. Es gab keine Schrecksekunde für ihn. Kein Zögern, keinen Zweifel. Er lief den Korridor entlang. Bei der Wohnung, in der der dritte Gegner verschwunden war, blieb er stehen. Mit Hilfe der Infrarotsicht sah er ihn hinter der Tür lauern. Er konnte sogar dessen Herz als pulsierenden Farbfleck erkennen.
Phong hob in aller Seelenruhe die Zhedong 398, zielte und feuerte. Er brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass er perfekt getroffen hatte. Im Spurt rannte er anschließend zum Treppenhaus. Als er das Ming Apartments verließ, dachte er kurz über die eigenartigen Farbflecke nach, die zu sehen er geglaubt hatte. Migräneartige Begleiterscheinungen der Operation, verursacht durch die Medikamente, hörte er in seinem Hinterkopf die Stimme von Dr. Kuan sagen. Eine Sekunde lang glaubte er, dass dies dieselbe Stimme war, die er »Soldier One« hatte sagen hören. Aber das musste Einbildung gewesen sein. Zum Turm!, dachte er. Der Drang wurde jetzt übermächtig. Es gab jetzt keinen Grund mehr, der ihn davon abhalten konnte, sich auf direktem Weg zum Landeplatz des ÄskulapRaumers zu begeben. * »Es gefällt mir nicht, dass Soldier One so ganz außerhalb unserer Kontrolle ist«, gestand Kaiser Sadako im Kontrollzentrum der Qomolangma-Festung, nachdem er gerade eine weitere Kapsel mit etwas Wasser heruntergeschluckt hatte. General Yus Gesicht blieb regungslos und wie aus Stein gemeißelt, als sich der Geheimdienstchef seinem Kaiser zuwandte. »Die Operation hat nur unter diesen Bedingungen eine Chance«, gab er zu bedenken. »Ich weiß.« »Jegliche Kontrollversuche, sei es eine Geheimkamera, ein Kommunikationssystem oder sonst etwas würde die lebende Bombe zweifellos verraten.«
»Die Ungewissheit ist trotzdem kaum zu ertragen. Und nicht nur die...« Der Lockruf machte Sadako immer stärker zu schaffen. Ein Großteil seiner Kraft und Konzentration wurde inzwischen trotz des Einsatzes der Medikamente durch die Abwehr des Dranges gebunden. Es fiel ihm immer schwerer, an etwas anderes zu denken, als daran, aufzubrechen. Er saß in sich zusammengesunken in einem bequemen Schalensitz und verfolgte die Bilder auf den großen Wandschirmen. Vor allem das landesweite terrestrische Datennetz der Armee hatte sich nach dem Abschuss der Satelliten als sehr brauchbar erwiesen. Diesem zwar technisch nicht sehr anspruchsvollen, aber dafür robusten Netz war es vor allem zu verdanken, dass Kaiser Sadako zurzeit wohl der am besten informierte Mann der Welt war. Und das, obwohl er seinen Regierungssitz in einer äußerst abgelegenen, unwirtlichen Hochgebirgsumgebung errichtet hatte. Sadakos besonderes Interesse galt dem Turm von Peking. Agenten von General Yus Geheimdienst hatten sich in den umliegenden Gebäuden postiert und dort Kameras installiert, sodass man einen Rundum-Live-Blick dessen hatte, was sich um den Turm herum ereignete. Obwohl diesen Agenten reichlich Medikamente gegen den Einfluss des Lockrufs mitgegeben worden waren, hatte ein Teil von ihnen wohl bereits den Posten verlassen und sich in die Menge derer eingereiht, die sich um den Fuß des Turms scharten wie Gläubige um einen heiligen Ort. Möge dieses Ding doch endlich zerplatzen!, durchzuckte es Sadako. Er konnte es kaum erwarten. »Das Programm, dem der Klon folgt, ist sehr sorgfältig durchdacht«, sagte General Yu. »Ich denke, wir können uns auf Soldier One verlassen. Was immer ihm auch an Unerwartetem zustoßen mag.« »Ich hoffe, Sie behalten Recht, Yu.«
Der diensthabende Kommunikationsoffizier meldete sich zu Wort. »Eine unserer Kameras scheint Soldier One erfasst zu haben!«, stellte er fest. »Ich will die Bilder dazu sehen!«, rief der Kaiser, den es jetzt nicht mehr in seinem Sessel hielt. Seinen Cousin Wang, der ihm gerade eine Schale mit grünem Tee reichen wollte, schob er zur Seite. Nach einigem Geflacker auf dem großen Hauptschirm wurde endlich der richtige Bildausschnitt herangezoomt. Soldier One alias Phong Xiaozhe war deutlich zu erkennen. Er hatte sich eingereiht in die Schlange derer, die geduldig darauf warteten, endlich ins Innere des Raumschiffs eingelassen zu werden. »Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden wir das große Feuerwerk wohl erst am frühen Morgen erleben«, meinte einer der Diensthabenden... * Es war nicht schwer gewesen, den Weg zum Landeplatz zu finden. Selbst jemand, der sich überhaupt nicht in der alten Hauptstadt Chinas auskannte, konnte die Ströme der Pilger nicht übersehen. Es waren durchaus nicht nur Menschen aus der Stadt selbst darunter. Viele kamen von außerhalb und nahmen oft Fußwege von vielen Kilometern in Kauf. Phong ließ seine Zhedong 398 in einer Mülltonne verschwinden, die er in einer Seitenstraße fand. Mit einer derartigen Waffe am Gürtel konnte er kaum erwarten, sein Ziel zu erreichen und ins Innere des Raumschiffs eingelassen zu werden. So lautete jedenfalls Phongs stillschweigende Annahme. Phong folgte einem der Pilgerströme durch ein Peking, das apokalyptische Züge hatte.
Überall standen Autos herum. Gerade die breiten Boulevards, die zu früheren Zeiten vor allem dem Aufmarsch des Militärs und der Werktätigen bei den alljährlichen Paraden zum ersten Mai gedient hatten, waren mit nutzlosen Blechkarossen verstopft. So mancher Tote, den es bei den grausigen Massenunfällen gegeben hatte, saß immer hinter seinem Steuer. Niemand hatte sie geborgen oder gar beerdigt. Getrocknete Blutlachen waren hier und da auf dem Asphalt zu sehen. Die Menschen gingen mit einer fast stoischen Gelassenheit an diesen Orten des Grauens vorbei. Sie wandten den Blick in eine andere Richtung. Eine Richtung, die eher Hoffnung zu verheißen schien. Der Turm... Phong drängelte sich nicht vor, so sehr ihn der Lockruf auch vorwärts trieb. Die eigenartige Gelassenheit, die diese Menschen ergriffen hatte, erfasste auch Phong. Das meiste, was zuvor noch wichtig für ihn gewesen war, verlor jetzt zusehends an Bedeutung. Seine Ex-Frau, die Kinder... Es erschien ihm fast absurd, dass er ursprünglich ihretwegen hierher nach Peking gekommen war. Die Stunden vergingen. Phong folgte dem Strom der Pilger. Ganze Familien hatten sich auf den Weg gemacht. Männer, Frauen, Kinder. Polizisten und Soldaten in Uniform waren ebenso darunter wie Bauern aus dem Umland. Der Turm überragte die meisten Gebäude Pekings und stach wie ein gewaltiges Monument in den Himmel. Die Blicke der Menschen hingen daran. Ihre Gesichter wirkten friedlich und entspannt, was in völligem Widerspruch zur allgemeinen Lage stand. Rund um den Turm war nirgends etwas von Plünderern oder marodierenden Banden zu bemerken, die andernorts umherzogen.
Der sonnenlose Himmel verdunkelte sich bereits, als Phong am frühen Abend den Platz erreichte, auf dem das Raumschiff gelandet war. Phong hob ebenso wie zahllose andere Menschen den Kopf. Einen halben Kilometer ragte der Turm empor. Es gab mehrere Eingänge, in denen beständig Menschen verschwanden. Ein genauso großer Strom verließ das Schiff wieder. Beide Gruppen schoben sich friedlich und ohne Hast in gegensätzlichen Richtungen aneinander vorbei. Der große Moment, er ist so nah..., ging es Phong durch den Kopf. Er hatte das Gefühl, am Ziel seines Lebens angelangt zu sein. »Venedig sehen und sterben« war im dekadenten Westen immer ein geflügeltes Wort gewesen. In dem Augenblick, als Phong den Eingang erreichte, glaubte er zu verstehen, was damit gemeint war. Der Schauer eines prickelnden Glücksgefühls durchflutete ihn, als er den ersten Schritt in das Raumschiff der Fremden tat... * Der Sockel des Turmes platzte mit einer gewaltigen Explosion auseinander. Eine grelle Lichterscheinung füllte Sekundenbruchteile den gesamten Bildschirm aus. Kaiser Sadako wandte den Kopf ab und kniff die Augen zusammen. Es war beinahe so, als würde man in das gleißende Licht der Sonne blicken. Im nächsten Moment brach die Bildübertragung zusammen. Sadako ließ sich in den für ihn bestimmten Schalensitz fallen. Ein Ausdruck der Erleichterung stand in seinen Zügen. Er zupfte sich nachdenklich an seinem Kinnbart, wahrend
gleichzeitig in der Kommandozentrale der QomolangmaFestung blanke Hektik ausbrach. Die Bildschirme blieben dunkel. Es hat geklappt, durchzuckte es Sadako. Er hatte bis zuletzt Zweifel gehabt, ob es wirklich gelingen würde, die so genannte »Lebende Bombe« an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen. Er fragte sich, weshalb die Außerirdischen keine Gegenwehr gezeigt hatten. Waren sie wirklich so arglos gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte? Die ersten Meldungen und Messergebnisse trafen ein. Der junge Leutnant, der die Anzeigen ablas, war blass geworden. »Die Explosion in Peking muss von einem Ausmaß gewesen sein, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt!«, stieß er hervor. »Jetzt haben wir unser Hiroshima«, meinte General Yu kalt. »Aber das mussten wir in Kauf nehmen.« Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Hiroshima war ein Lagerfeuer dagegen, General. In einem Umkreis von mehr als tausend Kilometern um Peking herum gibt es keinerlei Kommunikation. Die Strahlung, die am Rand dieser Zone von einigen wenigen, noch intakten Militärstützpunkten mit ABCAusrüstung gemessen wurde, ist von einem schier unglaublichen Ausmaß.« Wang mischte sich in das Gespräch ein. »Das können unmöglich nur die Folgen unserer Bombe gewesen sein.« »Ich will, dass Kuan hierhergebracht wird!«, befahl Kaiser Sadako an General Yu gewandt. Yu nickte und gab den Befehl über Interkom weiter. Wenig später erschien der Wissenschaftler in der Kommandozentrale. Laufend trafen neue Messdaten ein. Langsam ergab sich ein wahres Bild des Schreckens.
Die durch die Explosion verursachten seismischen Erschütterungen waren auf der ganzen Welt messbar gewesen. Außerdem schien eine gewaltige Schockwelle vom Explosionsort ausgegangen zu sein. Weite Landstriche waren zumindest kommunikationstechnisch vollkommen tot. Militärmaschinen, die sich innerhalb eines Tausend-KilometerRadius um Peking befunden hatten, meldeten sich nicht mehr. »Das übersteigt bei weitem die Folgen, die auch ich erwartet habe«, stieß Professor Kuan hervor. »Könnte es sein, dass der Zellspaltungsprozess, den sie zur Grundlage der lebenden Bombe gemacht haben, doch einen größeren energetischen Effekt hatte, als angenommen?«, hakte General Yu nach. Kuan war, ebenso wie die meisten Anwesenden in der Kommandozentrale, blass geworden. Selbst einen so abgebrühten und im Grunde vollkommen zynischen Mann wie ihn traf das Geschehene bis ins Mark. »Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich mich in dieser Hinsicht dermaßen verschätzen konnte.« »Wir wissen nicht, was sich im Inneren dieses Schiffes befunden hat«, erklärte Wang, der Cousin des Kaisers. »Es könnte doch sein, dass beispielsweise der Antrieb des Schiffes irgendwelche Komponenten enthielt, die die Explosion verstärkt haben.« »Fest steht, dass wir eine verwüstete Erde hätten, wenn wir dasselbe bei allen 75 Raumschiff-Türmen anwendeten!«, gab General Yu düster zu bedenken. Seine Worte klangen resigniert. Der Plan, Soldier One als lebende Bombe ins Innere des Turms von Peking einzuschleusen, hatte geklappt - aber zu welchem Preis! »Ich bekomme hier gerade Diagramme über die Strahlungsbelastung«, meldete der Leutnant. »Sie wurden etwa 1200 Kilometer vom Explosionszentrum entfernt aufgezeichnet. Neben einem für Nuklearexplosionen typischen
Ausbruch von Gamma-Strahlen gibt es auch noch andere Strahlungskomponenten, deren Verteilung sehr eigenartig ist. Es tut mir Leid, ich kann sie nicht deuten.« »Gibt es irgendwelche Anzeichen für eine Reaktion der Außerirdischen?«, fragte Sadako. Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Nein, Majestät. Nichts.« Sadako erhob sich und wandte sich an General Yu. »Ich möchte informiert werden, wenn sich irgendetwas tut.« »Selbstverständlich.« »In den letzten Tagen habe ich nicht viel Schlaf bekommen. Ich denke, ich sollte mich jetzt etwas hinlegen.« * Im Verlauf der nächsten Tage wurde das volle Ausmaß der Katastrophe nach und nach offenbar. Erste Beobachtungsflüge in die Todeszone ergaben, dass die Hauptstadt selbst nicht mehr existierte. Peking war durch die Explosion buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht worden. Eine Schockwelle hatte darüber hinaus weite Landstriche so verwüstet, wie man es ansonsten nach einem jahrelangen Krieg hätte erwarten können. Die Strahlung in der Stadt war noch immer enorm hoch... Insgesamt nahm die Strahlungsintensität mit größerer Entfernung vom Explosionsort ab. Aber es gab auch in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern verstrahlte Inselzonen. Inwieweit hier Wetterbedingungen eine Rolle spielten, konnte auf dem Qomolangma nicht festgestellt werden. Wetterbeobachtung war eben ein Bereich, der ausgesprochen stark von der Satellitentechnik abhing. Eines der Aufklärungsflugzeuge stürzte ab. Die Ursache konnte nicht geklärt werden, aber es wurde nicht ausgeschlossen, dass der Absturz in Zusammenhang mit der Strahlung stand. Kaiser Sadako hielt sich in dieser Zeit fast
ausschließlich in seinen Privatgemächern auf. Er wollte allein sein. Der Lockruf war deutlich schwächer geworden, seit das Raumschiff in Peking explodiert war. Ganz aufgehört hatte er allerdings nicht. Schließlich gab es noch genug andere Türme auf der Erde. Türme, die noch immer von gewaltigen Menschenmengen umlagert wurden. Die Teezeremonie nahm der Kaiser im Kreis der Verwandten ein. Sicherheitsberater Wang war auch darunter. »Reuben Cronenberg hat sich im Namen der neuen amerikanischen Regierung bereits zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen gemeldet und um eine Unterredung gebeten«, berichtete Cousin Wang. Sadako registrierte die versteckte Kritik, die in den Worten des Cousins lag, sehr wohl. Ein müde wirkendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Auch wenn es manchem hier auf dem Qomolangma nicht einleuchten mag, aber ich möchte diesen Kerl zurzeit nicht sprechen.« »Warum eigentlich nicht?« »Es wäre reine Zeitverschwendung.« Wang nippte an seiner mit grünem Tee gefüllten Schale. »Wie wird es jetzt eigentlich weitergehen?«, erkundigte er sich. Sadako zuckte die Schultern und strich sich den dünnen Kinnbart glatt. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Kaiser mit einem hörbaren Seufzer. »Ich frage mich auch, ob wir das überhaupt noch in der Hand haben...« * Leutnant Zhao hatte das Kommando über eine der ersten Einheiten von am Boden operierenden Spezialisten, die die Todeszone betraten. Mit Mannschaftshelikoptern wurden die
Soldaten einige Kilometer in die Zone hineingeflogen. Die Piloten hatten dabei Anweisung, so viele elektronische Unterstützungssysteme wie möglich abzuschalten, denn die Hinweise, dass es eine rätselhafte Wechselwirkung mit der frei gewordenen Strahlung gab, verdichteten sich. Zhao und seine Männer trugen hochmoderne Schutzanzüge mit eigener Sauerstoffversorgung. Außerdem waren an den Helmen elektronische Kameraaugen angebracht, die im 360 Grad-Radius alles abfilmten. Was immer auch Zhao und seine Einheit hier vorfinden mochte - es musste unbedingt dokumentiert werden. Die Anzüge selbst ähnelten den Raumanzügen, die die Chinesen auf dem Mond benutzt hatten, bevor ihre dortige Basis von den Außerirdischen vernichtet worden war. Dort mussten die Anzüge nicht nur gegen extreme Kälte und das Vakuum schützen, sondern auch gegen die kosmische Strahlung. Die Strahlenwerte in der Todeszone waren jedoch weitaus höher als auf dem Mond. Insgesamt konnten Zhaos Männer drei Stunden im betroffenen Gebiet bleiben. Das war das Äußerste, was medizinisch vertretbar war. Das ist der Unterschied zwischen einem menschlichen Soldaten und einem Klon, ging es Leutnant Zhao durch den Kopf, während sich die Hubschrauber, die ihn und seine Männer abgesetzt hatten, hinter dem Horizont entfernten. Bei meinen Männern und mir wird eine Rückkehr zumindest angestrebt - im Fall von Soldier One nicht. Zhao hatte in den letzten Tagen oft an den Mann denken müssen, den er in Peking abgesetzt hatte. Phong hatte in seinem manipulierten Bewusstsein die Erinnerung daran, dass ihn mit Zhao eine Freundschaft verband.
Er hat nicht einmal geahnt, dass er für die Männer, die ihn wie einen Kampfhund abgerichtet haben, nur ein Werkzeug ist!, ging es Zhao bitter durch den Kopf. Der Leutnant und seine Männer befanden sich in einer kleinen Provinzstadt am Rande der Todeszone. Die Schockwelle hatte aus dem Ort eine Ansammlung von Ruinen gemacht. Die meisten Dächer waren abgedeckt worden, Wände waren eingestürzt. Die Druckwelle war mit enormer Geschwindigkeit über das Land gefegt. Ihre Auswirkungen waren verheerend. Zwar hatte diese Welle eine Weile gebraucht, bis sie von Peking aus beinahe tausend Kilometer hinter sich gebracht hatte. Aber aufgrund des weiträumigen Zusammenbruchs der Kommunikation war eine Warnung nicht möglich gewesen. Überall lagen Tote auf den Straßen. Ein grauenhaftes Bild. »Das sind ja alles alte Leute!«, stellte Hong, Zhaos Stellvertreter bei diesem Kommando fest. »Und Babys!«, stieß Zhao irritiert hervor. »Wo sind die jüngeren Erwachsenen?« Er wies die zwei Dutzend Angehörigen seiner Einheit an, auszuschwärmen, Messungen vorzunehmen und Gewebeproben bei einigen Toten zu nehmen. Vor einem Restaurant, von dessen Gebäude kaum mehr als die Grundmauern übrig geblieben waren, fand Zhao einen Säugling, der wie ein Neugeborenes wirkte. Die Haut war noch ganz schrumpelig. Auf dem Kopf befand sich so gut wie kein einziges Haar. Seltsamerweise lag dieser Säugling mitten zwischen Erwachsenenleichen. »Sieht fast so aus, als hätte jemand versucht, diesem Kind einen Männeranzug anzuziehen!«, stellte einer der Soldaten fest. Er war Gefreiter und hieß Hong. »Nein, das hat einen anderen Grund...«, murmelte Zhao mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem.
Er kniete nieder, beugte sich zu dem Säugling und schob den Stoff von Hemd und Anzugjacke zur Seite. Der Säugling war nackt. Ein Stück Nabelschnur hing ihm vom Körper. »Ich möchte, dass genetisches Material gesichert wird«, befahl Zhao. Hong hob den Kopf. »Vom Baby?« »... und vom Anzug. Vielleicht finden Sie ja irgendetwas. Ein Haar würde schon reichen.« Der Gefreite nickte und seufzte hörbar. »Das sieht fast so aus, als wäre für jemanden die Zeit rückwärts gelaufen«, stellte er fest. Sie fanden noch weitere Neugeborenenleichen. Bei vielen anderen Toten musste man das Alter auf neunzig und mehr schätzen. »Eigenartig, es scheinen tatsächlich lediglich Greise und Babys hier gelebt zu haben«, meinte einer der Männer. »Es sieht fast so aus, als ob...« Er sprach nicht weiter, schüttelte nur den Kopf. Der Trupp drang in ein Wohn- und Geschäftsviertel vor. Auch hier waren nur Greise und Babys unter den Toten. Autos standen am Straßenrand. Manche von ihnen waren so von Rost zerfressen, als ob sie vor Jahrhunderten abgestellt worden waren. Darunter waren jedoch auch Fahrzeuge, die erst in diesem Jahr vom Band gelaufen sein konnten. Von manchen Wagen waren lediglich die unverrottbaren Plastikteile übrig geblieben. »Wenn es in der gesamten Zone, die von der Schockwelle erfasst wurde, so aussieht, dann möchte ich nicht wissen, wie viele Opfer die Aktion >Lebende Bombe< gefordert hat«, stieß Zhao unvermittelt aus. Alles was er bis jetzt gesehen hatte, hatte ihn zutiefst erschüttert. Ein Arzt gehörte ebenfalls zum Team. Dr. Guofeng war Spezialist für Strahlungsverbrennungen und hatte lange Zeit in
der Forschung an einem Klinikum der chinesischen Armee gearbeitet. »Todesursache dürfte bei den meisten Opfern die Schockwelle gewesen sein«, erklärte er. »Aber was darüber hinaus mit ihnen passiert ist, verstehe ich nicht.« Zhao sah ihm zu, wie er sich über einen der Greise beugte und ihn oberflächlich untersuchte, soweit das in dem unbequemen Schutzanzug möglich war. Der behinderte ganz erheblich die Bewegungen und vor allem konnte man mit den Fingern nicht so fein zugreifen, wie es für einen Arzt nötig gewesen wäre. Guofeng fasste dem Mann in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Brieftasche hervor. Neben der Kreditkarte befand sich dort auch ein Ausweis. Guofeng sah sich das dazugehörige Foto kopfschüttelnd an. Der Arzt erhob sich und reichte das Dokument an Zhao weiter. »Sehen Sie sich das an, Leutnant.« Zhao stierte das Ausweisfoto an. Es war das Bild eines Mittdreißigers mit gerade beginnendem Haarausfall in den Geheimratsecken. »Das ist derselbe Mann?«, fragte Zhao. »Als besonderes Kennzeichen ist ein Feuermal am Nacken angegeben«, sagte Guofeng, trat noch einmal an den Greis heran und drehte ihn auf den Bauch. Auch für Zhao war es unübersehbar. Der Tote hatte am Nacken ein in etwa herzförmiges Feuermal, genauso wie im Ausweis angegeben. Gefreiter Hong stand ebenfalls in der Nähe. »Das sieht fast so aus, als wäre der Mann noch vor kurzem Mitte dreißig gewesen und anschließend innerhalb unwahrscheinlich kurzer Zeit extrem gealtert.« »So etwas gibt es doch nicht«, murmelte Zhao vor sich hin.
Aber hätte man jemals für möglich halten können, dass außerirdische Schiffe die Erde besetzen? Und doch war es geschehen. »Gut möglich, dass durch die Explosion in Peking irgendetwas freigesetzt wurde, das für diese Auswirkungen verantwortlich ist«, sagte Zhao. »Für einen schnelleren Ablauf der Zeit?«, fragte Dr. Guofeng zweifelnd. »Aber wie kann man das mit diesen toten Babies in Einklang bringen. Das würde ja bedeuten, dass die Zeit abwechselnd in rasendem Tempo vorangeschritten und anschließend wieder rückwärts verlaufen wäre!« Zhao zuckte die Achseln. »Ich bin weder ein Leser dekadenter amerikanischer Science Fiction noch ein theoretischer Physiker«, meinte er. »Aber wenn Sie mich fragen, muss es so gewesen sein, wie Sie sagten! Alles andere ergibt keinen Sinn...« »Wenn wir abgeholt werden, sollten wir ein oder zwei Leichen mitnehmen, um die Todesursache eindeutiger ermitteln zu können«, schlug Guofeng vor. Leutnant Zhao deutete zu einem nahen Wohnblock hinüber und sagte über die allgemeine Sprechverbindung: »Ich möchte mir mit Hong und Dr. Guofeng ansehen, was im Inneren des Gebäude dort drüben zu finden ist. Die anderen verteilen sich in der Umgebung und halten dort die Augen offen. Entfernen Sie sich nicht zu weit von den anderen und behalten Sie die Uhr im Auge. Für die Helikopter ist es kein Problem, uns zu lokalisieren. Aber wir werden keine Zeit haben, auf jemanden zu warten, der es auf Extratouren angelegt hat!« * Zhao, Hong und Guofeng betraten die Eingangshalle des fünfzehnstöckigen Wohnblocks der Mittelklasse. Die Tür war unversehrt. Es gab keine Hinweise, dass es hier zu
Plünderungen oder sonstigen Auswüchsen der Anarchie gekommen war. Das elektronische Schloss, das nur dem Eintritt gewährte, dessen telemetrische Gesichtsdaten mit dem Profil eines Bewohners oder zumindest eines registrierten Bewohners übereinstimmten, war defekt. Die Tür hatte sich daher ohne weiteres öffnen lassen. Das Erste, was Zhao auffiel, war die dicke Staubschicht, die sich auf alles gelegt hatte. Die Wände waren davon ebenso betroffen wie Treppengeländer und der Boden. Die Fußstapfen der Männer waren deutlich zu sehen. »Was ist das für ein Zeug?«, fragte Hong, während er mit dem Handschuhfinger seines Anzugs an der Wand entlangstrich und dadurch die eigentliche Raufaser-Struktur der Wand wieder zum Vorschein brachte. »Nehmen Sie etwas zur chemischen Analyse mit«, verlangte Zhao. Dr. Guofeng lachte kurz auf. »Ich glaube, darauf können Sie verzichten.« »Wieso?« »Ich wette, es stellt sich heraus, dass es sich um ganz gewöhnlichen Hausstaub handelt. Sie haben ihn nur noch nicht in so großen Mengen gesehen.« Hong war etwas verwirrt. »Meinen Sie das ernst, Doktor?« Der nickte, erinnerte sich dann daran, dass diese Geste durch den klobigen Schutzanzug kaum sichtbar war. Und so ergänzte er noch: »Ja, so ernst wie selten etwas! Das ist Hausstaub! Er hatte offensichtlich genug Zeit, sich anzusammeln.« »Es sieht hier aus, als hätte dieses Haus seit Jahrzehnten leer gestanden«, wandte Zhao ein. »Nur seit Jahrzehnten?«, fragte Hong, der inzwischen einen Blick in den Glasverschlag geworfen hatte, in dem
normalerweise wohl ein Wächter saß. »Sehen Sie sich das mal an, Leutnant!« Zhao trat hinzu. Durch das Helmvisier konnte er Hongs vor Entsetzen geweitete Augen ins Innere der Glaskabine starren sehen. Staub mit geringfügig anderer Färbung hatte sich hier sogar knöchelhoch aufgetürmt. Ein bleicher Totenschädel grinste Zhao entgegen. Menschliche Gebeine ragten aus dem Staub heraus, teilweise noch bedeckt von Kleidungsstücken, deren Hauptbestandteil wohl Synthetik-Fasern waren. Zhao musste unwillkürlich schlucken. Was haben wir angerichtet!, durchzuckte es ihn. Dem Leutnant begann zu dämmern, dass die Folgen des Unternehmens Lebende Bombe wahrscheinlich noch gar nicht absehbar waren. Ein knarrendes Geräusch ließ die Männer zusammenzucken. Zhao griff zur Zhedong 398 Special, die jeder von ihnen am Gürtel bei sich trug. »Was war das?«, fragte Hong. »Klang so, als käme da was von oben!«, murmelte Zhao. Über Helmfunk meldete sich eine Stimme. »Hier Dongzhe. Leutnant Zhao?« »Was gibt es?« »Kommen Sie sofort aus dem Gebäude heraus!« »Wieso?«, verlangte der Leutnant zu wissen. »Es ist anzunehmen, dass es jeden Augenblick zusammenbricht!« »Aber...« »Beeilen Sie sich!« Eine Erschütterung ließ den Boden vibrieren. Staub rieselte von der Decke. »Ich glaube, dass lassen wir uns besser nicht zweimal sagen!«, rief Dr. Guofeng und rannte los.
Sie liefen so schnell wie möglich Richtung Tür. Zhao warf noch einen kurzen Blick zurück, in dieses staubige Mausoleum, dann erreichten sie das Freie. Dongzhe und einige weitere Angehörige des Trupps erwarteten sie. »Was geht hier vor sich?«, fragte Zhao. »Unsere Leute sind auf die Ruine eines buchstäblich in sich zusammengebrochenen Hauses gestoßen. Zuerst sah es so aus, als ob es ein Opfer der Schockwelle geworden war. Aber dann stießen wir auf etwas anderes...« »Heraus damit, was war es?« »Die Stahlträger waren vollkommen verrostet. Wahrscheinlich wird hier noch so manches Gebäude zusammenstürzen.« * »Zeit-Anomalien«, murmelte Sadako und wiederholte damit den Schlüsselbegriff in General Yus kurzem Lagebericht. Sadako sank in seinem Schalensitz förmlich zusammen. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen in dem voll besetzten Konferenzraum. Zu unfassbar war das, was die Aufzeichnungen der Spezialisten-Teams dokumentiert hatten. »Das klingt so absurd, dass wir nicht einmal Spezialisten haben, die sich auf diesem Gebiet wirklich auskennen«, gab Cousin Wang zu bedenken. »Zeitmanipulation gilt doch seit mindestens vierzig Jahren als vollkommen unmöglich. Und davon abgesehen hat seit Einstein niemand mehr etwas Substanzielles zum Thema Zeit beigetragen.« »Unsere Kapazitäten in theoretischer Physik gehören nicht zu dem Personenkreis, der in Qomolangma zu finden ist«, stellte General Yu nicht ohne Süffisanz fest. »Es schien sich dabei bislang nicht um ein sicherheitsrelevantes Wissenschaftsgebiet zu handeln.«
»Ja, aber die Ansicht, dass das nur etwas für Leute ist, die über das Alter des Universums und die Geräusche des Urknalls spekulieren, wird sich rasch verflüchtigen«, war der Kaiser überzeugt. Er machte eine ruckartige Bewegung, beugte sich nach vorn und richtete den Blick an General Yu: »Treiben Sie sämtliche Kapazitäten auf diesem Gebiet auf, die Sie finden können!« »Das wird nicht ganz leicht sein«, gab Wang anstelle des Generals zu bedenken. »Sie wissen, wie sehr das Land im Chaos versunken ist!« Sadako ballte die Hände zu Fäusten, drückte sie so sehr zusammen, dass die Knöchel weiß wurden. Der Ausdruck von Entschlossenheit zeichnete jetzt sein Gesicht. »Wir müssen mehr über das wissen, was da vorgegangen ist«, sagte er. »Es könnte überlebenswichtig werden.« Es war offensichtlich, dass die Fremden in ihrem Raumschiff eine Technologie verwendet hatten, die in irgendeiner Weise Einfluss auf den Ablauf der Zeit hatte. Das immerhin stand fest. Ansonsten ergab sich ein ausgesprochen verwirrendes Bild. Dutzende von Erkundungsteams waren inzwischen in der Todeszone unterwegs. Die Phänomene, über die sie berichteten, schlossen sich teilweise gegenseitig aus. Aber mit kausaler Logik schien man an derartige Probleme nicht herangehen zu können. Einerseits war die Zeit offenbar mancherorts unvorstellbar beschleunigt worden. Diese Beschleunigung war aber, so schien es, keineswegs überall gleichmäßig erfolgt. Menschen waren während der Schockwelle innerhalb von Augenblicken um viele Jahrzehnte gealtert, anderswo jedoch zu Staub und Knochen zerfallen. In einem Fall hatte ein Erkundungsteam sogar menschliche Überreste in Form von versteinerten Fossilien gefunden. Die Stahlträger von Hochhäusern waren
mancherorts zu Rost zerfressen worden, so als hätten sie ganze Zeitalter hinter sich. Aber an denselben Orten gab es auch immer wieder Hinweise darauf, dass die Zeit ebenfalls rückwärts gelaufen sein musste. Aus Erwachsenen waren Babys geworden - und teilweise waren sie noch mehr verjüngt worden. Zeitanomalien - ein Begriff, der mehr Rätsel aufgibt, als Erklärungen liefert, dachte Kaiser Sadako. Aber er war nicht bereit zu resignieren. Auch angesichts dieser neuen Wendung nicht, die weit mehr in Frage stellte, als nur die Herrschaft der Menschheit der Erde. Die Natur der Realität selbst war in Frage gestellt und auf eine Weise erschüttert worden, die selbst einen kalten Machtmensch wie Sadako bis ins Mark schaudern ließ... * Peking, 211 n.A. »Jetzt wissen Sie, wie die strahlenverseuchte Getto-Zone entstand«, sagte der Rebellenführer. John Cloud war erschüttert. Sein Hals fühlte sich trocken an. Er musste unwillkürlich schlucken. Das war es also, was auf der Erde geschah, nachdem die RUBIKON II längst durch den Jupiter-Schlund lichtjahreweit ins All geschleudert worden war..., ging es ihm durch den Kopf. »Mein Vorfahre hat nur das Beste gewollt«, sagte indessen Shen Sadako mit belegter Stimme. »Die Folgen dessen, was durch die Detonation der lebenden Bombe bewirkt wurde, konnte er nicht absehen. Ich persönlich kann ihm diesen Umstand auch nicht vorwerfen.« »Aber Sie versuchen jetzt, seinen Fehler zu revidieren.«
»Ich weiß nicht, ob es ein Fehler war. Es musste etwas getan werden.« »Ja, das verstehe ich.« »Es war ein Akt der Verzweiflung. Ein Abwehrversuch gegenüber einer übermächtigen Invasion. Bislang unser einziger Sieg gegen die Invasoren.« Shen Sadakos Körperhaltung straffte sich. »Eines Tages, werden wir mächtig genug für einen Umsturz sein. Der Glaube daran hält mich und all die anderen aufrecht, die unsere Organisation unterstützen.« Das Gesicht des Kaiser-Nachfahren entspannte sich etwas. »Sie wollten an der Jagd auf Scobee teilnehmen!« »Ja«, nickte Cloud. »Ich werde Sie einer Einsatzgruppe zuteilen.« Shen Sadakos Gesicht veränderte sich. Die nachdenkliche Melancholie fiel völlig von ihm ab. Stattdessen bleckte er die Zähne zu einem beinahe wölfischen Grinsen. »Zeigen Sie, dass Sie wirklich auf unserer Seite stehen, Cloud!« ENDE
BAD EARTH Die Jagd auf Scobee, Cronenberg, Hays und Palmer geht weiter. Gleichzeitig erfährt John Cloud nach und nach immer mehr Einzelheiten über das Himmelfahrtskommando, das Shen Sadakos geheime Armee vorbereitet. Sie planen den Ultimaten Schlag gegen die Master.
Operation Omikron
heißt demzufolge auch der packende zweite Teil des Doppelbandes von Alfred Bekker.
Glossar Sarah Cuthbert Das erste weibliche Staatsoberhaupt der USA - und zugleich die letzte Präsidentin vor der Invasion durch die ÄskulapSchiffe. 33 Jahre alt, brünett, 174 cm. Reuben Cronenberg Ehemaliger Leiter des NCIA (Nachfolgeorganisation der CIA); Allerweltsgesicht, wirkt wie ein biederer Familienvater, hat aber Ambitionen auf die Weltherrschaft; war während der Vorbereitungsphase der zweiten Marsexpedition mit Scobee liiert und kennt sie wahrscheinlich besser als jeder andere - was umgekehrt ebenfalls zutrifft. John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blauäugig, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte - später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. Hat sich mit den »Gespenstern« in seinem Hirn arrangiert: die Wissensimplantate, aus verstorbenen Menschen gewonnen, sind nach wie vor in ihm vorhanden, plagen ihn aber seit Verlassen des Aqua-Kubus nicht mehr mit Visionen. Außerdem kreisen in Clouds Körper immer noch Reste von Protomaterie, die sich bislang zwar noch nicht nachteilig bemerkbar gemacht haben - aber er traut dem Frieden nicht. Durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine
düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kamen. Auf der Erde gibt es im Jahr 2041 noch zwei weitere genetische Ebenbilder: eines davon ging an Scobees Stelle in die Stase, wodurch es ihr selbst überhaupt erst möglich war, an der zweiten Marsmission teilzunehmen; das andere ist eine Telepathin, die akut an progressivem Zellverfall erkrankte und bald darauf in Koma fiel. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in Ungewisser Zukunft gestrandet. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scoobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezis die sogenannte »Wurmlochtechnik« - über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre Aggressiven Vorstöße koordinieren. Bislang ist unklar, warum die Menschen eine solche Expansionspolitik betreiben, ob die Erde inzwischen aus allen Nähten platzt... oder ob völlig andere Motive dahinter stehen.
Sid Palmer Ehemals persönlicher Berater der US-Präsidentin Sarah Cuthbert und ihr engster Vertrauter; wie sich zeigte jedoch nicht gerade loyal. Paktierte in Wirklichkeit mit Cronenberg und entmachtete Cuthbert schließlich vollends in der geheimen Militärbasis nahe Nevada. Professor Dr. Xander Hays Initiator und Leiter des GenTec-/Telepathenprogramms. Unterstützte Cronenbergs Ambitionen nach Kräften. Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten - mentale Verbindung aufnehmen zu können. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10jähriges Mädchen - das unversehens die Schattenseite der terrestrischen Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Die Master
Residieren in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, die sich aus den 2041 gelandeten ÄskulapSchiffen entwickelt haben und in sämtlichen Metropolen der Welt und anderen primär wichtigen Umgebungen stehen. Sie sind die Führer der neuen Menschheit.