Kapitel I Sommerblitze Es war Mr. Ricardos Gewohnheit, sobald die zweite Augustwoche kam, nach Aix‐les‐...
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Kapitel I Sommerblitze Es war Mr. Ricardos Gewohnheit, sobald die zweite Augustwoche kam, nach Aix‐les‐Bains in Savoyen zu reisen, wo er fünf oder sechs Wochen angenehm lebte. Er gab vor, am Morgen eine Trinkkur zu machen, machte am Nachmittag eine Fahrt mit seinem Wagen, er speiste im Cercle am Abend und verbrachte ein oder zwei Stunden in den Backaraträumen in der Villa des Fleurs. Ein beneidenswertes, glattes Leben zweifellos, und es ist gewiss, dass seine Bekannten ihn beneideten. Zur gleichen Zeit jedoch lachten sie über ihn, ach, mit Recht, denn er war eine übertriebene Person. Er hätte in der Steigerungsform aufgefasst werden sollen. Alles in seinem Leben war eine Kleinigkeit übertrieben, von der anspruchsvollen Anordnung seiner Krawatten bis zu der femininen Feinheit seiner kleinen Dinerpartys. Altersmäßig näherte sich Mr. Ricardo den Fünfzigern; dem Familienstand nach war er ein Witwer – ein Stand sehr nach seinem Gefallen, denn er mied gleichzeitig die Verdrießlichkeit der Ehe und die Schande, die gerechterweise dem Junggesellen zugeschrieben wurde; schließlich war er reich, hatte ein Vermögen in der Mincing Lane angehäuft, die er in gewinnbringende Sicherheiten investiert hatte. Zehn Jahre der Behaglichkeit jedoch hatten in ihm nicht den Geschäftsblick ausgelöscht. Obwohl er von Januar bis Dezember faulenzte, faulenzte er mit dem Gehaben eines Finanziers, der Urlaub machte; und wenn er das Studio eines Malers besuchte, wie er es häufig tat, hätte ein Fremder gezögert zu entscheiden, ob er aus Liebe zur Kunst oder durch die Möglichkeit einer Investition dorthin gezogen worden war. Seine „Bekannten“ sind erwähnt worden und das Wort ist passend. Denn während er sich in viele Kreise mischte, stand er von allen abseits. Er bewegte die Gesellschaft der Künstler, von denen er als ehrgeizig, ein Kenner zu werden, betrachtet wurde; und unter den jüngeren Geschäftsmännern, die nie mit ihm zu tun hatten, verdiente er die Respektlosigkeit, die für Dilettanten vorbehalten war. Wenn er einen Kummer hatte, war es, dass er keinen großen Mann entdeckt hatte, der wiederum für einen praktischen Gefallen sein Andenken in Messing hauen würde. Er war ein Mäzen ohne einen Horaz, ein Earl von Southampton ohne 2
einen Shakespeare. Mit einem Wort, Aix‐les‐Bains in der Jahreszeit war genau der Ort für ihn; und niemals für einen Augenblick kam es ihm in den Sinn, dass er hier war, um in Aufregung getaucht zu werden. Die Schönheit der kleinen Stadt, die Menge gut gekleideter und angenehmer Leute, das rosafarbene Leben des Ortes, alles sagte ihm zu. Aber es war die Villa des Fleurs, die ihn nach Aix brachte. Nicht, dass er für mehr als einen gelegentlichen Louisdor spielte, noch war er andererseits bloß ein kalter Zuseher. Er hatte ein oder zwei Geldscheine in seiner Tasche an den meisten Abenden zu Diensten der Opfer der Tische. Aber das Vergnügen für seinen neugierigen und dilettantischen Verstand lag in dem Schauspiel der Schlacht, die Nacht für Nacht zwischen der rohen Natur und den guten Manieren geschlagen wurde. Es war für ihn außergewöhnlich, wie beständig Manieren vorherrschten. Es gab jedoch Ausnahmen. Zum Beispiel. Am ersten Abend seines besonderen Besuchs fand er die Spielräume heiß und schlenderte hinaus in den kleinen halbkreisförmigen Garten auf der Hinterseite. Er saß dort eine halbe Stunde unter einem makellosen Sternenhimmel und beobachtete die Leute, wie sie in dem Licht der elektrischen Lampen kamen und gingen und schätzte die Kleider und den Schmuck der Frauen mit dem Auge eines Kenners; und dann in die sternenerhellte Stille kam plötzlich ein Aufzucken des impulsiven Lebens. Ein Mädchen in einem weichen, am Körper klebenden Kleid aus weißem Satin schoss flink aus den Spielräumen und warf sich nervös auf eine Bank. Sie konnte, nach Ricardos Meinung, nicht älter als zwanzig Jahre alt sein. Sie war gewiss ziemlich jung. Die geschmeidige Schlankheit ihrer Figur bewies es und er hatte überdies einen flüchtigen Blick, als sie heraussauste, auf ihr frisches und hübsches Gesicht erhascht; aber er hatte es nun aus den Augen verloren. Denn das Mädchen trug einen großen schwarzen Satinhut mit einer breiten Krempe, von dem sich zwei weiße Straußenfedern auf der Rückseite herabbogen, und im Schatten dieses Hutes war ihr Gesicht verdeckt. Alles, was er sehen konnte, war ein Paar lange Diamantohrgehänge, die funkelten und zitterten, als sie ihren Kopf bewegte – und das tat sie ständig. Nun blickte sie verstimmt auf den Boden; nun warf sie sich zurück; dann drehte sie sich nervös nach rechts und dann einen Augenblick danach nach links; und dann wieder starrte sie vor sich hin und schwang einen Satinpantoffel vor und zurück gegen den Gehsteig mit Bockigkeit eines Kindes. All ihre Bewegungen waren krampfartig, sie war am 3
Rand der Hysterie. Ricardo erwartete, dass sie in Tränen ausbrach, als sie aufsprang und flink wie sie gekommen war zurück in die Spielräume eilte. „Sommerblitze“, dachte Mr. Ricardo. In seiner Nähe spottete eine Frau und ein Mann sagte bemitleidend: „Sie war hübsch, diese Kleine. Es ist bedauerlich, dass sie verloren hat.“ Ein paar Minuten danach rauchte Ricardo seine Zigarre fertig und schlenderte zurück in die Spielräume, wobei er zu dem großen Tisch gleich rechts vom Eingang ging, wo das Spiel in der Regel hochgeht. Es ging heute Nacht eindeutig hoch. Denn eine so große Menge drängte sich um den Tisch, dass Ricardo nur die Gesichter der Spieler sehen konnte, indem er auf den Zehenspitzen stand. Von dem Bankhalter konnte er keinen Blick erhaschen. Aber obwohl die Menge blieb, änderte sich ihr Einsatz ständig und es dauerte nicht lange, bis Ricardo sich vor dem Reihen der Zuschauer vorfand, direkt hinter den Spielern, die auf den Stühlen saßen. Der ovale grüne Tisch war unter ihm ausgebreitet, übersät mit Geldscheinen. Ricardo wandte seine Augen nach links und sah in der Mitte des Tisches den Mann sitzen, der die Bank hielt. Ricardo erkannte ihn mit einem überraschten Schrecken. Er war ein junger Engländer, Harry Wethermill, der nach einer brillanten Karriere in Oxford und in München seine wissenschaftliche Genialität einem Vermögen für sich im Alter von achtundzwanzig zunutze gemacht hatte. Er saß am Tisch mit dem gleichgültigen Blick des gewohnheitsmäßigen Spielers auf dem sauber geschnittenen Gesicht. Aber es war deutlich, dass sein Glück heute Nacht an der Hand bleiben würde, denn ihn gegenüber ordnete der Croupier mit außerordentlicher Geschicktheit Geldscheineinsätze in der Reihenfolge des Wertes an. Die Bank gewann schwer. Sogar als Ricardo schaute, deckte Wethermill „ein Natural“ auf und der Croupier fegte die Einsätze von jeder Seite herein. „Faites vos jeux, messieurs. Le jeu est fait?“, rief der Croupier in einem Atemzug und wiederholte die Worte. Wethermill wartete mit seiner Hand auf dem Holzrahmen, in dem seine Karten gestapelt waren. Er blickte um den Tisch, während die Einsätze auf das Tuch gelegt wurden, und plötzlich wechselte sein Gesicht von einschläfernder Stille zu Interesse. Fast ihm gegenüber wurde eine kleine, weiß behandschuhte Hand, die einen Fünf‐ Louisdor‐Geldschein hielt, zwischen den Schultern von zwei Männern, die am 4
Tisch saßen, gesteckt. Wethermill lehnte sich vor und schüttelte mit einem Lächeln seinen Kopf. Mit einer Geste lehnte er den Einsatz ab. Aber er war zu spät. Die Finger der Hand hatten sich geöffnet, der Geldschein flatterte hinunter auf das Tuch, das Geld war gesetzt. Sofort lehnte er sich in dem Stuhl zurück. „Il y a une suite“, sagte er ruhig. Er verzichtete lieber auf die Bank als gegen diesen Fünf‐Louisdor‐Geldschein zu spielen. Die Einsätze wurden von ihren Besitzern aufgenommen. Der Croupier begann Wethermills Gewinne zu zählen und Ricardo, neugierig zu wissen, wessen kleine, zart behandschuhte Hand es war, die das Spiel zu einem so abrupten Ende gebracht hatte, lehnte sich nach vor. Er erkannte das junge Mädchen in dem weißen Satinkleid und dem großen schwarzen Hut, deren Nerven ein paar Minuten, seit sie in dem Garten war, geworden waren. Er sah sie nun deutlich und hielt sie für eine bezaubernde Schönheit. Sie war mittelgroß, hellhäutig mit einer frischen Farbe auf ihren Wangen, die sie nur ihrer Jugend schuldete. Ihr Haar war hellbraun mit einem Glanz, ihre Stirn breit, ihre Augen dunkel und wundervoll klar. Aber da war etwas mehr als ihre Schönheit, die ihn anzog. Er hatte einen starken Glauben, dass irgendwo, vor einiger Zeit, er sie schon gesehen hatte. Und dieser Glaube wuchs und verfolgte ihn. Er zerbrach sich vage de Kopf, den Ort zu bestimmen, als der Croupier seine Berechnung beendete. „Es sind zweitausend Louisdor in der Bank“, rief er. „Wer wird die Bank für zweitausend Louisdor aufnehmen?“ „Niemand jedoch war bereit. Eine frische Bank wurde meistbietend verkauft und Wethermill, der noch immer auf dem Gebersessel saß, kaufte sie. Er sprach sofort mit einem Bediensteten und der Mann huschte um den Tisch, und indem er sich einen Weg durch die Menge bahnte, trug er eine Nachricht zu dem Mädchen mit dem schwarzen Hut. Sie blickte zu Wethermill und lächelte und das Lächeln machte ihr Gesicht zu einem Wunder der Zärtlichkeit. Dann verschwand sie und in ein paar Minuten sah Ricardo sich einen Weg in der Menge hinter dem Bankhalter öffnen und sie erschien wieder nur ein oder zwei Meter weit weg, direkt hinter Wethermill. Er drehte sich herum, und indem er ihre Hand in seine nahm, schüttelte er sie scheltend. 5
„Ich könnte Sie nicht gegen mich spielen lassen, Celia!“, sagte er auf Englisch, „mein Glück ist zu gut heute Nacht. Daher sollen Sie stattdessen meine Partnerin sein. Ich werde das Kapital setzen und wir werden die Gewinne teilen.“ Das Gesicht des Mädchens wurde rosig. Ihre Hand lag noch immer in seiner. Sie machte keine Anstrengung, sie zurückzuziehen. „Ich könnte das nicht tun“, rief sie aus. „Warum nicht?“, sagte er. „Sehen Sie!“, und indem er ihre Finger löste, nahm er aus ihnen den Fünf‐Louisdor‐Geldschein und warf ihn hinüber zu dem Croupier, um seiner Bank hinzugefügt zu werden. „Nun können Sie nichts dagegen tun. Wir sind Partner.“ Das Mädchen lachte und die Gesellschaft am Tisch lächelte halb mitfühlend, halb vergnügt. Ein Stuhl wurde für sie gebracht und sie setzte sich hinter Wethermill, ihre Lippen geteilt, ihr Gesicht freudig vor Erregung. Aber ganz plötzlich verließ Wethermills Glück ihn. Er erneuerte seine Bank dreimal und hatte den größeren Teil seiner Gewinne verloren, als er die Karten gegeben hatte. Er nahm eine vierte Bank und stand von dieser auch als Verlierer auf. „Das ist genug, Celia“, sagte er. „Gehen wir hinaus in den Garten; es wird dort kühler sein.“ „Ich habe Ihr Glück weggenommen“, sagte das Mädchen reuevoll. Wethermill steckte seinen Arm durch ihren. „Sie werden sich selbst wegnehmen müssen, bevor sie das können“, antwortete er und das Paar ging zusammen außer Ricardos Hörweite. Ricardo wurde zurückgelassen, um sich über Celia zu wundern. Sie war genau eines dieser Probleme, die Aix‐les‐Bains für ihn so unfehlbar attraktiv machten. Sie wohnte in einer Straße der Boheme, so viel war klar. Die Offenheit ihrer Freude, ihrer Erregung und sogar ihres Kummers bewies es. Sie ging von einem zu anderen, während man ein Kartenspiel ausgab. Sie machte sich nicht die Mühe, eine Maske zu tragen. Überdies war sie ein junges Mädchen von neunzehn oder zwanzig, das alleine in diesen Spielräumen so ungehindert herumlief, als ob sie zu Hause wäre. Es gab auch den freien Gebrauch des Vornamens. Sicher wohnte sie in der Boheme. Aber es schien Ricardo, dass sie 6
in jeder Gesellschaft durchgehen und doch nicht überführt werden könnte. Sie würde ein wenig pittoresker als die meisten Mädchen ihres Alters aussehen, und sie war sicher viel gepflegter als viele, und sie hatte das Talent der Französin, ihre Kleider anzuziehen. Aber das wären alles Unterschiede, die die Offenheit ausließen. Ricardo fragte sich, in welcher Straße der Boheme sie wohnte. Er wunderte sich noch mehr, als er sie wieder eine halbe Stunde danach am Eingang zur Villa des Fleurs sah. Sie kam die lange Halle mit Harry Wethermill an ihrer Seite herunter. Das Paar ging langsam und redete, als es ging, mit einer so vollkommenen Versunkenheit ineinander, dass sie sich ihrer Umgebung unbewusst waren. Am Fuß der Treppe beobachtete eine Frau von fünfundfünfzig, überladen mit Schmuck und zu vornehm angezogen und geschminkt, ihr Nahen mit einem Lächeln des gut gelaunten Vergnügens. Als sie nahe genug kamen, um zu hören, sagte sie auf Französisch. „Nun, Célie, sind Sie bereit, nach Hause zu gehen?“ Das Mädchen blickte erschrocken auf. „Natürlich, Madame“, sagte sie mit einer gewissen Unterwürfigkeit, die Ricardo erstaunte. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen.“ Sie rannte zur Garderobe und kam wieder mit ihrem Umhang zurück. „Auf Wiedersehen, Harry“, sagte sie, wobei sie an seinem Namen verweilte und ihn mit sanften und lächelnden Augen ansah. „Ich werde Sie morgen Abend sehen“, sagte er und hielt ihre Hand. Wieder ließ sie sie in seiner Obhut, aber sie runzelte die Stirn und ein plötzlicher Ernst ließ sich wie eine Wolke auf ihrem Gesicht nieder. Sie wandte sich an die ältere Frau mit einer Art Bitte. „Nein, ich denke nicht, dass wir morgen hier sein werden, nicht wahr, Madame?“, sagte sie widerwillig. „Natürlich nicht“, sagte Madame forsch. „Sie haben nicht vergessen, was wir geplant haben? Nein, wir werden morgen nicht hier sein; aber den Abend danach ‐ ja.“ Celia wandte sich wieder an Wethermill.
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„Ja, wir habe für morgen Pläne“, sagte sie mit einem wehmütigen Hauch des Bedauerns in ihrer Stimme; und als sie sah, dass Madame schon an der Tür war, beugte sie sich nach vor und sagte schüchtern: „Aber den Abend danach werde ich Sie brauchen.“ „Ich werde Ihnen danken, mich zu brauchen“, entgegnete Wethermill und das Mädchen riss seine Hand fort und rannte die Stufen hinauf. Harry Wethermill kehrte zu den Spielräumen zurück. Mr. Ricardo folgte ihm nicht. Er war mit dem kleinen Problem zu beschäftigt, das er ihm an diesem Abend präsentiert hatte. Was konnte dieses Mädchen, fragte er sich, mit der geschminkten Frau gemein haben, die sie so respektvoll ansprach? Tatsächlich hatte es einen Hauch von mehr als Achtung in ihrer Stimme gegeben. Da war etwas wie Zuneigung. Wieder fand sich Mr. Ricardo sich darüber wundern, in welcher Straße der Boheme Celia wohnte ‐ und als er zu dem Hotel hinaufging, kame noch andere Fragen, die ihn beschäftigten. „Warum“, fragte er, „könnten weder Celia noch Madame morgen Abend zur Villa des Fleurs kommen? Was sind die Pläne, die sie gemacht haben? Und was ist in diesen Plänen, die den plötzliche Ernst und Widerwillen auf Celias Gesicht brachten?“ Ricardo hatte Grund, sich an diese Fragen während der nächsten paar Tage zu erinnern, obwohl er nun mit ihnen herumtrödelte.
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Kapitel II Ein Ruf nach Hilfe Es war an einem Montagabend, dass Ricardo Harry Wethermill und das Mädchen Celia zusammen sah. Am Dienstag sah er Wethermill in den Spielräumen allein und er hatte ein Gespräch mit ihm. Wethermill spielte an diesem Abend nicht und um etwa zehn Uhr verließen die beiden Männer die Villa des Fleurs zusammen. „In welche Richtung gehen Sie?“, fragte Wethermill. „Den Hügel hinauf zum Hôtel Majestic“, sagte Ricardo. „Wir gehen dann zusammen. Ich wohne auch dort“, sagte der junge Mann und sie stiegen zusammen die steilen Straßen hinauf. Ricardo starb, einige Fragen über Wethermills junge Freundin von dem Abend zuvor zu stellen, aber Diskretion ließ ihn widerwillig schweigen. Sie plauderten ein paar Sekunden in der Halle über verschiedene Themen und trennten sich für die Nacht. Mr. Ricardo jedoch sollte mehr am nächsten Morgen von Celia erfahren; denn während er seine Krawatte vor dem Spiegel richtete, platzte Wethermill in seinen Umkleideraum. Mr. Ricardo vergaß seine Neugierde in einer Woge der Empörung. Ein solches Eindringen war eine beispiellose Schandtat auf den sanften Verlauf seines Lebens. Die Angelegenheit der Morgentoilette war heilig. Sie zu unterbrechen trug einen hintergründigen Hinweis auf Anarchie. Wo war sein Kammerdiener? Wo war Charles, der die Tür wie ein Kustos einer Kapelle bewachen hätte sollen? „Ich kann für zumindest eine weitere halbe Stunde nicht mit Ihnen sprechen“, sagte Mr. Ricardo streng. Aber Harry Wethermill war außer Atem und zitterte vor Erregung. „Ich kann nicht warten“, rief er mit einem leidenschaftlichen Flehen. „Ich muss Sie unbedingt sprechen. Sie müssen mir helfen, Mr. Ricardo ‐ Sie müssen, in der Tat!“ Ricardo wirbelte auf seinem Absatz herum. Zuerst hatte er gedacht, dass die verlangte Hilfe die Hilfe war, die gewöhnlich in Aix‐les‐Bains verlangt wurde. Ein 9
Blick auf Wethermills Gesicht jedoch und der klingende Tonfall der Qual in seiner Stimme sagten ihm, dass der Gedanke falsch war. Mr. Ricardo schlüpfte aus seinem affektierten Gehabe wie aus einem losen Mantel. „Was ist passiert?“, fragte er ruhig. „Etwas Schreckliches.“ Mit zitternden Fingern hielt Wethermill die Zeitung hin. „Lesen Sie sie“, sagte er. Es war eine Sonderausgabe der örtlichen Zeitung, Le Journal de Savoie, und sie trug das Datum von diesem Morgen. „Sie schreien es auf den Straßen“, sagte Wethermill. „Lesen Sie!“ Ein kurzer Absatz war in großen schwarzen Lettern auf der ersten Seite gedruckt und sprang in seine Augen. „Spät gestern Nacht“, lautete er, „wurde ein entsetzlicher Mord in der Villa Rose in der Straße nach Lac Bourget begangen. Mme. Camille Dauvray, eine ältere reiche Dame, die gut bekannt in Aix war und jeden Sommer in den letzten paar Jahren die Villa bewohnt hatte, wurde auf dem Fußboden ihres Salons entdeckt, voll bekleidet und brutal stranguliert, während oben ihr Dienstmädchen, Hélène Vauquier, im Bett chloroformiert, mit ihren Händen sicher hinter ihrem Rücken gefesselt, gefunden wurde. Zur Zeit des Drucks hatte sie das Bewusstsein nicht wiedererlangt, aber der Arzt, Emile Peytin, betreut sie und es wird gehofft, dass sie bald etwas Licht auf die heimtückische Angelegenheit werfen wird. Die Polizei ist ganz schön verschwiegen in Bezug auf die Einzelheiten des Verbrechens, aber die folgende Aussage darf ohne zu zögern akzeptiert werden. Der Mord wurde um zwölf Uhr nachts vom sergent‐de‐ville Perrichet, entdeckt, dessen Intelligenz mehr als ein Lobeswort gebührt, und es ist offensichtlich aus dem Fehlen aller Zeichen an der Tür und an den Fenstern, dass der Mörder von innerhalb der Villa hereingelassen wurde. In der Zwischenzeit ist Mme. Dauvray Wagen verschwunden und damit eine junge Engländerin, die mit ihr als ihre Gesellschafterin nach Aix kam. Das Motiv des Verbrechens springt ins Auge. Mme. Dauvray war in Aix für ihren Schmuck berühmt, den sie mit zu wenig Umsicht trug. Der Zustand des Hauses zeigt, dass eine sorgfältige Suche danach gemacht wurde und er verschwunden ist. Man rechnet damit, dass eine Beschreibung der jungen Engländerin, mit einer Belohnung für ihr Ergreifen, 10
sofort herausgegeben wird. Und es ist nicht zu viel zu hoffen, dass die Bürger von Aix und tatsächlich von Frankreich von aller Teilnahme an einem so grausamen und unheilvollen Verbrechen frei von Schuld sind.“ Ricardo las den Absatz mit wachsender Bestürzung und legte die Zeitung auf seine Frisierkommode. „Es ist niederträchtig“, rief Wethermill leidenschaftlich. „Die junge Engländerin ist, vermute ich, Ihre Freundin Celia?“, sagte Ricardo langsam. Wethermill stürzte vorwärts. „Sie kennen Sie also?“, rief er erstaunt. „Nein; aber ich sah sie mit Ihnen in den Spielräumen. Ich hörte Sie sie mit diesem Namen nennen.“ „Sie sahen uns zusammen?“, rief Wethermill aus. „Dann können Sie verstehen, wie schändlich der Hinweis ist.“ Aber Ricardo hatte das Mädchen eine halbe Stunde, bevor er es mit Harry Wethermill gesehen hatte, alleine gesehen. Er konnte sich nur lebhaft an das Bild von ihr erinnern, als sie sich auf die Bank im Garten in einem Augenblick der Hysterie schleuderte und bockig einen Satinpantoffel hin und her gegen die Steine trat. Sie war jung, sie war hübsch, sie hatte einen Reiz der Frische, aber ‐ aber ‐ dagegen anzukämpfen, wie er wollte, begann dieses Bild in der Erinnerung immer mehr eine unheilvolle Gestalt zu tragen. „Sie ist hübsch, diese Kleine. Es ist bedauerlich, dass sie verloren hat.“ Mr. Ricardo richtete seine Krawatte mit noch größerer Bedachtsamkeit als er gewöhnlich anwandte. „Und Mme. Dauvray?“, fragte er. „Sie war die stämmige Frau, mit der Ihre junge Freundin fortging?“ „Ja“, sagte Wethermill. Ricardo drehte sich vom Spiegel herum. „Was wollen Sie, dass ich tue?“ 11
„Hanaud ist in Aix. Er ist der klügste der französischen Kriminalbeamten. Sie kennen ihn. Er dinierte einmal bei Ihnen.“ Es war Mr. Ricardos Brauch, Berühmtheiten rund um seinen Abendessenstisch zu versammeln, und bei einer solchen Zusammenkunft waren Hanaud und Wethermill zusammen anwesend gewesen. „Sie wünschen, dass ich an ihn herantrete?“ „Sofort.“ „Es ist eine heikle Angelegenheit“, sagte Ricardo. „Hier ist ein Mann, der einen Mordfall bearbeitet, und wir sollen ruhig zu ihm gehen ...“ Zu seiner Erleichterung unterbrach ihn Wethermill. „Nein, nein“, rief er, „er bearbeitet den Fall nicht. Er ist auf Urlaub. Ich las vor zwei Tagen in der Zeitung von seiner Ankunft. Es wurde behauptet, dass er zum Ausruhen kam. Was ich will, ist, dass er den Fall bearbeiten sollte.“ Das hervorragende Vertrauen von Wethermill erschütterte Mr. Ricardo für einen Augenblick, aber seine Erinnerungen waren zu deutlich. „Sie nehmen Unannehmlichkeiten auf sich, um den scharfsinnigsten französischen Kriminalbeamten auf die Suche dieses Mädchens anzusetzen. Sind sie gescheit, Wethermill?“ Wethermill sprang verzweifelt von seinem Stuhl auf. „Sie halten sie auch für schuldig! Sie, die Sie sie gesehen haben. Sie halten sie für schuldig ‐ wie diese abscheuliche Zeitung, wie die Polizei.“ „Wie die Polizei?“, fragte Ricardo scharf. „Ja“, sagte Harry Wethermill mürrisch. „Sobald ich dieses Wurstblatt sah, rannte ich zur Villa hinunter. Die Polizei ist im Besitz. Sie wollte mich nicht in den Garten lassen. Aber ich redete mit einem von ihnen. Sie denken auch, dass sie die Mörder hereinließ.“ Ricardo ging durch das Zimmer. Dann blieb er vor Wethermill stehen. „Hören Sie mir zu“, sagte er feierlich. „Ich sah dieses Mädchen eine halbe Stunde, bevor ich Sie sah. Sie sauste hinaus in den Garten. Sie warf sich auf eine 12
Bank. Sie konnte nicht still sitzen. Sie war hysterisch. Sie wissen, was das bedeutet. Sie hatte verloren. Das ist Punkt Nummer eins.“ Mr. Ricardo hakte dies auf seinem Finger ab. „Sie rannte zurück in die Spielräume. Sie baten sie, die Gewinne Ihrer Bank zu teilen. Sie stimmte begierig zu. Und Sie verloren. Das ist Punkt Nummer zwei. Ein wenig später, als sie fortging, fragten Sie sie, ob sie am nächsten Abend in den Spielräumen sein würde ‐ gestern Abend ‐ die Nacht, in der der Mord begangen wurde. Ihr Gesicht bewölkte sich. Sie zögerte. Sie wurde mehr als ernst. Es gab einen eindeutigen Eindruck, als ob sie vor der Absicht über das, was vorgeschlagen wurde, dass sie am nächsten Abend tun sollte, zurückschrak. Und dann antwortete sie Ihnen: ‚Nein, wir haben andere Pläne.‘ Das ist Nummer drei.“ Und Mr. Ricardo hakte diesen Punkt ab. „Nun“, fragte er, „bitten Sie mich noch immer, Hanaud auf den Fall anzusetzen?“ „Ja, und sofort“, rief Wethermill. Ricardo rief nach seinem Hut und einem Stock. „Sie wissen, wo Hanaud wohnt?“, fragte er. „Ja“, erwiderte Wethermill und er führte Ricardo zu einem bescheidenen kleinen Hotel im Zentrum der Stadt. Ricardo sandte seinen Namen ein und die beiden Besucher wurden sofort in ein kleines Wohnzimmer hineingeführt, wo M. Hanaud seine Morgenschokolade genoss. Er war stämmig und breitschultrig, mit einem vollen und fast schweren Gesicht. In seinem Stresemann an seinem Frühstückstisch sah er wie ein wohlhabender Komödiant aus. Er kam mit einem Willkommenslächeln nach vor und streckte beide Hände Mr. Ricardo entgegen. „Ah, mein guter Freund“, sagte er, „es ist angenehm, Sie zu sehen. Und Mr. Wethermill“, rief er aus, wobei er dem jungen Erfinder eine Hand entgegenhielt. „Sie erinnern sich also an mich?“, sagte Wethermill froh.
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„Es ist mein Beruf, mich an Leute zu erinnern“, sagte Hanaud mit einem Lachen. „Sie waren auf dieser amüsanten Dinerparty von Mr. Ricardo am Grosvenor Square.“ „Monsieur“, sagte Wethermill, „ich bin gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.“ Der flehentliche Ton ist seiner Stimme war laut. M. Hanaud zog einen Stuhl beim Fenster herauf und deutete Wethermill, ihn zu nehmen. Er zeigte zu einem anderen mit einer Einladungsverbeugung zu Mr. Ricardo. „Lassen Sie mich hören“, sagte er ernst. „Es ist der Mord an Mme. Dauvray“, sagte Wethermill. Hanaud erschrak. „Und auf welche Weise, Monsieur“, fragte er, „sind Sie an dem Mord an Mme. Dauvray interessiert?“ „Ihre Gesellschafterin“, sagte Wethermill, „das junge englische Mädchen ‐ sie ist eine große Freundin von mir.“ Hanauds Gesicht wurde ernst. Dann kam ein Zornesfunkeln in seine Augen. „Und was möchten Sie, dass ich tue, Monsieur?“, fragte er kalt. „Sie sind auf Urlaub, M. Hanaud. Ich wünsche, dass Sie ‐ nein, ich flehe Sie an“, rief Wethermill, wobei seine Stimme vor Leidenschaft ertönte, „dass Sie diesen Fall aufnehmen, um die Wahrheit zu entdecken, um herauszufinden, was aus Celia geworden ist.“ Hanaud lehnte sich in seinem Stuhl mit seinen Händen auf den Armen zurück. Er nahm seine Augen nicht von Wethermill, aber der Ärger verging allmählich. „Monsieur“, sagte er, „ich weiß nicht, wie Ihre Vorgehensweise in England ist. Aber in Frankreich nimmt ein Kriminalbeamter keinen Fall auf oder lässt ihn sein, wie es ihm beliebt. Wir sind nur Diener. Diese Angelegenheit liegt in den Händen von M. Fleuriot, dem Juge d’Instruction von Aix.“ „Aber wenn Sie ihm Ihre Hilfe anböten, wäre sie willkommen“, rief Wethermill. „Und für mich würde es so viel bedeuten. Es würde keine Stümperei geben. Es würde keine Zeitverschwendung geben. Das wäre sicher.“ 14
„Hanaud schüttelte seinen Kopf sanft. Seine Augen waren nun durch einen mitleidsvollen Blick milder. Plötzlich streckte er einen Zeigefinger aus. „Sie haben vielleicht eine Fotografie von der jungen Dame in Ihrem Visitenkartenetui in Ihrer Brusttasche.“ Wethermill wurde rot, und indem er das Visitenkartenetui herauszog, überreichte er das Porträt Hanaud. Hanaud blickte es für ein paar Augenblicke sorgfältig darauf. „Es wurde neulich hier aufgenommen?“, fragte er. „Ja, für mich“, erwiderte Wethermill ruhig. „Und ist es ein gutes Bild?“ „Sehr.“ „Wie lange kennen Sie diese Mlle. Célie?“, fragte er. Wethermill blickte Hanaud mit einem gewissen Trotz an. „Seit zwei Wochen.“ Hanaud hob seine Augenbrauen. „Sie lernten sie hier kennen?“ „Ja.“ „In den Spielräumen, vermute ich? Nicht im Haus eines Ihrer Freunde?“ „Das stimmt“, sagte Wethermill ruhig. „Ein Freund von mir, der sie in Paris kennenlernte, stellte mich ihr auf meine Bitte hin vor.“ Hanaud gab das Porträt zurück und zog seinen Stuhl näher zu Wethermill. Sein Gesicht war freundlich geworden. Er sprach mit respektvollem Ton. „Monsieur, ich weiß etwas von Ihnen. Unser Freund, Mr. Ricardo, erzählte mir Ihre Geschichte; ich bat ihn darum, als ich sie bei diesem Abendessen sah. Sie sind einer von denen, über die man Fragen stellt, und ich weiß, dass Sie kein romantischer Junge sind, sondern der, der sage soll, dass er sicher vor der Anziehungskraft der Schönheit sein soll? Ich habe Frauen gesehen, Monsieur, für deren Reinheit der Seele ich geradegestanden wäre, die wegen 15
Mittäterschaft an erwiesenen brutalen Verbrechen verurteilt wurden, dem nicht widersprochen werden konnte; und ich habe sie gekannt, wie sie in dem Augenblick, nachdem ihr gerechtes Urteil verkündet worden ist, unflätig und hässlich anzusehen waren.“ „Zweifellos, Monsieur“, sagte Wethermill mit vollkommener Ruhe. „Aber Celia Harland ist keine von diesen Frauen.“ „Ich sage nicht jetzt, dass sie es ist“, sagte Hanaud. „Aber der Juge d’Instruction hier hat schon nach mir gesandt, um meine Unterstützung zu erbitten, und ich lehnte ab. Ich erwiderte, dass ich nur ein braver Bürger sei, der seinen Urlaub genießt. Doch ist es schwierig, seinen Beruf ganz zu vergessen. Es war der Polizeikommissar, der zu mir kam und natürlich redete ich mit ihm eine Weile. Der Fall ist dunkel, Monsieur, ich warne Sie.“ „Wie dunkel?“, fragte Harry Wethermill. „Ich werde es Ihnen sagen“, sagte Hanaud, der seinen Stuhl noch näher zu dem jungen Mann zog. „Verstehen Sie dies an erster Stelle. Es gab in der Villa einen Komplizen. Jemand, der die Mörder hereinließ. Da ist kein Anzeichen, dass ein Zutritt erzwungen wurde; kein Schloss wurde geknackt, es gibt keinen Abdruck eines Daumens auf einem Panel, kein Anzeichen, dass ein Riegel aufgebrochen wurde. Es gab einen Komplizen im Haus. Wir beginnen von dort.“ Wethermill nickte mürrisch. Ricardo zog seinen Stuhl zu den anderen hinauf. Aber Hanaud war in diesem Augenblick nicht an Ricardo interessiert. „Nun denn, sehen wir, wen es in Mme. Dauvrays Haushalt gibt. Die Liste ist nicht lange. Es war Mme. Dauvrays Gewohnheit, ihr Mittag‐ und Abendessen in Restaurants einzunehmen, und von ihrem Dienstmädchen war alles, was sie verlangte, ihr ‚petit déjeuner‘ am Morgen und ihr ‚sirop‘ in der Nacht zuzubereiten. Nehmen wir die Mitglieder des Haushalts nacheinander. Da ist erstens der Chauffeur, Henri Servettaz. Er war letzte Nacht nicht in der Villa. Er kam heute früh am Morgen zurück. „Ah!“, sagte Ricardo mit einem bedeutungsvollen Ausruf. Wethermill rührte sich nicht. Er saß bewegungslos wie ein Stein, mit einem totenblassen Gesicht und Augen, die auf Hanauds Gesicht brannten.
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„Aber warten Sie“, sagte Hanaud und hielt eine warnende Hand zu Ricardo hoch. „Servettaz war in Chambéry, wo seine Eltern wohnen. Er fuhr mit dem Zweiuhrzug gestern nach Chambéry. Er war am Nachmittag bei ihnen. Er ging mit ihnen am Abend in ein Café. Überdies war heute am frühen Morgen das Mädchen, Hélène Vauquier imstande, eine Frage zu beantworten. Sie sagte, dass Servettaz in Chambéry war. Sie gab seine Adresse bekannt. Eine telefonische Nachricht wurde an die Polizei in dieser Stadt übermittelt und Servettaz wurde im Bett gefunden. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, dass Servettaz in dem Verbrechen verwickelt war. Das werden wir sehen. Aber es ist ganz klar, denke ich, dass nicht er es war, der das Haus den Mördern öffnete, denn er war am Abend in Chambéry und der Mord wurde hier spätestens um Mitternacht entdeckt. Überdies ‐ es ist eine Kleinigkeit ‐ er wohnt nicht in dem Haus, sondern über der Garage in einer Ecke des Gartens. Dann außer dem Chauffeur war da eine Putzfrau, eine Frau aus Aix, die jeden Morgen um sieben kam und am Abend um sieben oder acht ging. Manchmal blieb sie länger, wenn das Mädchen alleine im Haus war, denn das Mädchen ist nervös. Aber sie ging gestern Abend vor neun ‐ es gibt einen Beweis davon ‐ und der Mord fand nicht vorher statt ‐ das ist auch eine Tatsache, kein Zusammentreffen von ungünstigen Umständen. Wir können die Putzfrau, die für den Rest den besten Charakter hat, aus unseren Überlegungen herauslassen. Da bleiben dann das Mädchen, Hélène Vauquier, und“ ‐ er zuckte die Achseln ‐ „Mlle. Célie.“ Hanaud griff nach den Streichhölzern und zündete eine Zigarette an. „Nehmen wir zuerst das Mädchen, Hélène Vauquier. Vierzig Jahre alt, eine Bäuerin aus der Normandie, Monsieur ‐ habgierig zweifellos, aber im Großen und Ganzen ehrlich und äußerst ehrbar. Wir wissen etwas über Hélène Vauquier, Monsieur. Sehen Sie!“, und er hob ein Blatt Papier vom Tisch auf. Das Papier war der Länge nach gefaltet, nur auf der Innenseite beschrieben. „Ich habe hier einige Einzelheiten. Unser Polizeisystem ist, denke ich, ein wenig vollendeter als Ihres in England. Hélène Vauquier hat Mme. Dauvray sieben Jahre lang gedient. Sie war eher die vertrauliche Freundin als das Dienstmädchen. Und beachten Sie dies, M. Wethermill! Während dieser sieben Jahre hat sie wie viele Gelegenheiten gehabt, dem Verbrechen der letzten Nacht Vorschub zu leisten. Sie wurde chloroformiert und gefesselt gefunden. Es gibt keinen Zweifel, dass sie chloroformiert wurde. Über diesen Punkt ist Dr. Peytin ganz, ganz sicher. Er sah sie, bevor sie das Bewusstsein wiedererlangte. 17
Ihr war heftig schlecht, als sie aufwachte. Sie sank wieder in Bewusstlosigkeit. Sie ist erst jetzt in einem natürlichen Schlaf. Außer diesen Leuten ist da Mlle. Célie. Von ihr, Monsieur, ist nichts bekannt. Sie selbst wissen nichts von ihr. Sie kommt plötzlich nach Aix als die Gesellschafterin von Mme. Dauvray ‐ ein junges und hübsches englisches Mädchen. Wie wurde sie die Gesellschafterin von Mme. Dauvray?“ Wethermill rührte sich unbehaglich auf seinem Platz. Sein Gesicht wurde rot. Für Mr. Ricardo war das von Anfang an das interessanteste Problem des Falles gewesen. Sollte er jetzt die Antwort bekommen? „Ich weiß es nicht“, antwortete Wethermill mit einigem Zögern, und dann schien es, dass er sich sofort über sein Zögern schämte. Sein Tonfall sammelte Stärke und mit leiser, aber klingender Stimme fügte er hinzu: „Aber ich sage dies. Sie haben mir, M. Hanaud, von Frauen erzählt, die unschuldig aussahen und schuldig waren. Aber Sie wissen auch von Frauen und Mädchen, die makellos und unverdorben inmitten einer Umgebung leben können, die verdächtig ist.“ Hanaud hörte zu, aber weder stimmte er zu, noch verneinte er es. Er nahm ein zweites Stück Papier hoch. „Ich werde Ihnen jetzt etwas von Mme. Dauvray erzählen“, sagte er. „Wir werden ihre frühe Geschichte nicht aufrühren. Sie ist vielleicht nicht erbauend und die arme Frau, sie ist tot. Gehen wir nicht über ihre Heirat mit einem wohlhabenden Fabrikanten aus Nancy vor siebzehn Jahren zurück, den sie in Paris kennengelernt hatte. Vor sieben Jahren starb M. Dauvray und ließ seine Frau als sehr reiche Witwe zurück. Sie hatte eine Leidenschaft für Schmuck, die sie nun befriedigen konnte. Sie sammelte Schmuck. Eine berühmte Halskette, einen gut bekannten Stein ‐ sie war nicht, wie man sagt, glücklich, bis sie es hatte. Sie hatte ein Vermögen an kostbaren Steinen ‐ oh, aber ein großes Vermögen! Aber durch die Prahlerei mit ihrem Schmuck stellte sie ihren Reichtum zur Schau, in Monte Carlo, in Paris. Außerdem war sie gutherzig und äußerst beeindruckbar. Schließlich war sie, wie so viele ihrer Klasse, abergläubisch bis zu dem Grad der Torheit.“ Plötzlich zuckte Mr. Ricardo in seinem Stuhl zusammen. Abergläubisch! Dieses Wort war ein plötzliches Licht auf seine Dunkelheit. Nun wusste er, was ihn 18
während der letzten zwei Tage verwirrt hatte. Deutlich ‐ zu deutlich ‐ erinnerte er sich, wo er Celia Harland gesehen hatte, und wann. Ein Bild stieg vor seinen Augen auf und es schien sich wie ein Film in einer Entwicklerschüssel zu verstärken, als Hanaud fortfuhr: „Sehr gut! Nehmen Sie Mme. Dauvray, wie wir sie finden ‐ reich, prahlerisch, leicht von einem neuen Gesicht beeindruckt, großzügig und töricht abergläubisch ‐ und Sie haben in ihr eine lebende Herausforderung für jeden Gauner. Durch hundert Beispiele erklärte sich selbst zu einer Dummen. Sie warf jedem Verbrecher eine Herausforderung zu, hereinzukommen und sie auszurauben. Ein Fremder mochte vielleicht nur zu spät entdeckt haben, dass Mord dem Diebstahl hinzugefügt werde.“ „Ja. Sie sahen Celia Harland am Abend vor dem Mord.“ Ricardo starrte auf seinen Freund. Es schien ihm, dass Harry Wethermill, verrückt geworden war. Hier bekräftigte er die Verdächtigungen der Polizei durch Fakten ‐ vernichtende und unbestreitbare Fakten. „In der Nacht vor dem Mord“, fuhr Wethermill ruhig fort, „verlor Celia Harland Geld am Bakkarattisch. Ricardo sah sie im Garten hinter den Spielräumen und sie war hysterisch. Später in derselben Nacht sah er sie wieder bei mir und er hörte, was sie sagte. Ich bat sie, zu den Spielräumen am nächsten Abend ‐ gestern, die Nacht des Verbrechens ‐ zu kommen, und ihr Gesicht veränderte sich und sie sagte: ‚Nein, wir haben andere Pläne für morgen. Aber den Abend danach werde ich Sie brauchen.‘“ Hanaud sprang von seinem Stuhl auf. „Und sie sage mir diese zwei Dinge!“, rief er. „Ja“, sagte Wethermill. „Sie waren freundlich genug, mir zu sagen, dass ich kein romantischer Junge sei. Bin ich nicht. Ich kann den Fakten gegenübertreten.“ Hanaud starrte seine Begleiter für ein paar Augenblicke an. Dann mit einem bemerkenswerten Gebaren der Überlegung verbeugte er sich. „Sie haben gewonnen, Monsieur“, sagte er. „Ich werde diesen Fall aufnehmen. Aber“, und sein Gesicht wurde streng und er schlug mit seiner Faust mit einem
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Knall auf den Tisch, „werde ich ihn nun bis zum Ende verfolgen, seien die Konsequenzen bitter wie der Tod für Sie.“ „Das ist, was ich wünsche, Monsieur“, sagte Wethermill. Hanaud sperrte die Papiere in die Briefmappe. Dann ging er aus dem Zimmer und kehrte in ein paar Minuten zurück. „Wir werden am Anfang beginnen“, sagte er forsch. „Ich habe das Depôt angerufen. Perrichet, der sergent‐de‐ville, der das Verbrechen entdeckte, wird sofort hier sein. Wir werden zu der Villa mit ihm hinuntergehen und unterwegs wird er uns genau erzählen, was er entdeckte und wie er es entdeckte. In der Villa werden wir Monsieur Fleuriot, den Juge d’Instruction, vorfinden, der schon die Ermittlungen begonnen hat, und den Polizeikommissar. In Begleitung mit ihnen werden wir die Villa inspizieren. Abgesehen von der Entfernung von Mme. Dauvrays Leiche aus dem Salon zu ihrem Schlafzimmer und der Öffnung der Fenster, bleibt das Haus genauso, wie es war.“ „Wir dürfen mit Ihnen kommen?“, rief Harry Wethermill begierig. „Ja, unter einer Bedingung ‐ dass Sie keine Fragen stellen und keine beantworten, außer ich stelle Sie Ihnen. Zuhören, beobachten, prüfen ‐ aber keine Unterbrechungen!“ Hanauds Art hatte sich insgesamt verändert. Sie war nun herrisch und wachsam. Er wandte sich an Ricardo. „Sie werden das, was Sie im Garten sahen und die Worte, die sie hörten, beschwören?“, fragte er. „Sie sind wichtig.“ „Ja“, sagte Ricardo. Aber er schwieg über dieses klare Bild in seinem Kopf, das für ihn nicht weniger wichtig schien, nicht weniger gemahnend. Die Versammlungshalle in Leamington, ein gedrängtes Publikum hauptsächlich von Damen, eine Plattform an einem Ende, auf dem ein schwarzer Schrank stand. Ein Mann, aufrecht und mit etwas von einem Soldaten in seiner Haltung, führte ein Mädchen vorwärts, hübsch und blond, das ein schwarzes Samtkleid mit einer langen, fegenden Schleppe trug. Sie bewegte sich wie im Traum. Etwa ein halbes Dutzend Personen aus dem Publikum kletterte auf die Plattform, 20
band die Hände des Mädchens mit einem Isolierband hinter seinen Rücken und versiegelte das Band. Es wurde zu dem Schrank geführt und in voller Sicht des Publikums an eine Bank gebunden. Dann wurde die Tür des Schranks geschlossen, die Leute auf der Plattform stiegen in die Mitte der Halle und die Lichter wurden sehr niedrig gedreht. Das Publikum saß angespannt und dann abrupt in der Stille und Dunkelheit kam das Rattern eines Tamburins von der leeren Plattform. Schlagen und Klopfen schienen rund um die Paneele der Halle zu flackern, und an der Stelle, wo die Tür des Schranks sein sollte, erschien ein Fleck nebelige Weiße. Die Weiße formte sich matt zur Gestalt einer Frau, ein dunkles und östliches Gesicht wurde sichtbar und eine tiefe Stimme sprach in einem Gesang vom Nil und von Antonius. Dann verblasste die Vision, die Tamburine und Zimbeln ratterten weiter. Die Lichter wurden aufgedreht, die Tür des Schranks aufgerissen und das Mädchen in dem schwarzen Samtkleid wurde auf der Bank darin festgebunden gesehen. Es war eine spiritistische Vorführung, bei der Julius Ricardo vor zwei Jahren anwesend gewesen war. Das junge, blonde Mädchen in schwarzem Samt, das Medium, war Celia Harland. Das war das Bild, das in Ricardos Kopf war, und Hanauds Beschreibung von Mme. Dauvray machte einen schrecklichen Kommentar darüber. „Leicht von einem neuen Gesicht eingenommen, großzügig und töricht abergläubisch, eine lebende Herausforderung für jeden Gauner.“ Das waren die Worte und hier war ein schönes Mädchen von zwanzig, genau in diesen Tricks des Betrugs versiert, der Mme. Dauvray zu seiner natürlichen Beute machen würde. Ricardo blickte Wethermill zweifelnd an, ob er erzählten sollte, was er von Celia Harland wusste oder nicht. Aber bevor er es beschlossen hatte, klopfte es an der Tür. „Hier ist Perrichet“, sagte Hanaud und nahm seinen Hut auf. „Wir werden zur Villa Rose hinuntergehen.“
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Kapitel III Perrichets Geschichte Perrichet war ein junger, untersetzter Mann mit einem roten, hellen Gesicht und einem Schnurrbart und Haare so bleich an Farbe, dass sie fast silbern waren. Er kam mit einer wichtigen Miene in das Zimmer. „Aha!“, sagte Hanaud mit einem boshaften Lächeln. „Sie gingen gestern Nacht spät zu Bett, mein Freund. Doch waren Sie früh genug auf, um die Zeitung zu lesen. Also, ich soll die Ehre haben, mit Ihnen in diesem Fall ein Kollege zu sein.“ Perrichet drehte seine Mütze unbeholfen und errötete. „Monsieur freut es, über mich zu lachen“, sagte er. „Aber ich war es nicht, der sich intelligent nannte. Obwohl ich tatsächlich so sein möchte, denn der gütige Gott weiß, dass ich nicht so aussehe.“ Hanaud klopfte ihm auf die Schulter. „Dann gratulieren Sie sich! Es ist ein großer Vorteil, intelligent zu sein und nicht so auszusehen. Wir werden prima miteinander auskommen. Kommen Sie!“ Die vier Männer gingen die Treppe hinab, und als sie in Richtung Villa gingen, berichtete Perrichet prägnant und klar seine Erfahrung der Nacht. „Ich ging am Tor der Villa um etwa halb zehn vorbei“, sagte er. „Das Tor war geschlossen. Über der Mauer und den Büschen des Gartens sah ich ein helles Licht in dem Zimmer über dem ersten Stock, das auf die Straße in der südwestlichen Ecke der Villa hinausgeht. Die tieferen Fenster konnte ich nicht sehen. Mehr als eine Stunde danach kam ich zurück, und als ich wieder an der Villa vorbeiging, bemerkte ich, dass kein Licht in dem Zimmer im ersten Stock war, aber dass das Tor offen war. Ich ging daraufhin in den Garten, und als in an dem Tor zog, ließ ich es zuschwingen und einschnappen. Aber es kam mir in den Sinn, als ich es tat, dass vielleicht Gäste in der Villa waren, die noch nicht gegangen waren und für die das Tor offen gelassen worden war. Ich folgte demgemäß der Auffahrt, die sich herum zur Haustür windet. Die Haustür ist nicht auf der Seite der Villa, die auf die Straße blickt, sondern auf der Rückseite. Als ich zu dem freien Platz kam, wo die Kutschen wenden, sah ich, dass das 22
Haus in völliger Dunkelheit war. Da waren vergitterte Holztüren zu den langen Fenstern im Erdgeschoß, und diese waren mit Fensterläden verschlossen. Kein Licht schimmerte irgendwo. Ich verließ dann den Garten und schloss das Tor hinter mir. Ich hörte eine Uhr ein paar Minuten danach die Stunde schlagen, sodass ich mir über die Zeit sicher sein kann. Es war nun elf Uhr. Ich kam eine Stunde danach ein drittes Mal vorbei und zu meinem Erstaunen fand ich das Tor wieder offen. Ich hatte es verschlossen und das Haus im Dunklen versperrt verlassen. Nun stand es offen! Ich blickte hinauf zu den Fenstern und ich sah, dass in einem Zimmer im zweiten Stock, dicht unterhalb des Daches, ein Licht hell brannte. Dieses Zimmer war vor einer Stunde dunkel gewesen. Ich stand und beobachtete das Licht ein paar Minuten und dachte, dass ich es plötzlich ausgehen sollte. Aber es tat es nicht; es brannte ziemlich beständig. Das Licht und das geöffnete und wieder geöffnete Tor erweckten mein Misstrauen. Ich ging wieder in den Garten, aber dieses Mal mit größerer Vorsicht. Es war eine klare Nacht, und obwohl es keinen Mond gab, konnte ich ohne Hilfe meiner Laterne sehen. Ich stahl mich leise die Auffahrt entlang. Als ich zur Haustür kam, bemerkte ich sofort, dass die Fensterläden von einem der Fenster im Erdgeschoß zurückgeschwungen waren und dass das innere Glasfenster, das auf das Grundstück hinausging, offen stand. Der Anblick versetzte mir einen Schock. Innerhalb dieser Stunde waren diese Fensterläden geöffnet worden. Ich fühlte, wie das Blut in meinen Venen gefror und ein Frösteln kroch mein Rückgrat hoch. Ich dachte an das einsame Licht, das beständig unter dem Dach brannte. Ich war überzeugt, dass etwas Schreckliches geschehen war. „Ja, ja. Ganz recht“, sagte Hanaud. „Fahren Sie fort, mein Freund.“ „Das Innere des Zimmers gähnte schwarz“, setzte Perrichet fort. „Ich schlich hinauf zu dem Fenster an der Seite der Mauer und leuchtete mit meiner Laterne in das Zimmer. Das Fenster jedoch war in einer Nische, das sich in das Zimmer durch einen Bogen öffnete, und auf jeder Seite des Bogens waren Vorhänge drapiert. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber dazwischen konnte ich nichts, außer ein schmales Stück des Zimmers sehen. Ich schritt vorsichtig hinein und gab Acht, nicht auf dem Grasfleck vor dem Fenster zu gehen. Das Licht meiner Laterne zeigte mir einen umgeworfenen Stuhl auf dem Fußboden, und rechts von mir, unter dem mittleren der drei Fenster in der Seitenwand rechts von mir lag eine Frau zusammengekauert auf dem Boden. Es war Mme. Dauvray. Sie war bekleidet. Es gab ein wenig Morast auf ihren 23
Schuhen, als ob sie spazieren gegangen wäre, nachdem der Regen aufgehört hatte. Monsieur wird sich erinnern, dass zwei schwere Schauer gestern Abend zwischen sechs und acht fielen.“ „Ja“, sagte Hanaud und nickte seine Zustimmung. „Sie war ganz tot. Ihr Gesicht war schrecklich geschwollen und schwarz und ein Stück dünne starke Schnur war so fest um ihren Hals geknotet und war so tief in ihr Fleisch gesunken, dass ich es zuerst nicht sah, denn Mme. Dauvray war stämmig.“ „Was habe Sie dann getan?“, fragte Hanaud. „Ich ging zum Telefon, das in der Diele war, und rief die Polizei an. Dann schlich ich mich sehr vorsichtig nach oben und probierte die Türen. Ich traf auf keine, bis ich das Zimmer unter dem Dach erreichte, wo das Licht brannte; dort fand ich Hélène Vauquier, das Dienstmädchen, im Bett auf schreckliche Weise schnarchen.“ Die vier Männer bogen um eine Kurve in der Straße. Ein paar Schritte weit weg stand eine Gruppe von Leuten vor einem Tor, das ein sergent‐de‐ville bewachte. „Aber hier sind wir bei der Villa“, sagte Hanaud. Sie alle blickten auf und von einem Fenster an der Ecke im ersten Stock blickte ein Mann heraus und zog seinen Kopf ein. „Das ist M. Besnard, der Commissaire unserer Polizei in Aix“, sagte Perrichet. „Und das Fenster, aus dem er sah“, sagte Hanaud, „muss das Fenster des Zimmers sein, in dem sie das helle Licht um halb zehn bei ihrer ersten Runde brennen sahen?“ „Ja, Monsieur“, sagte Perrichet; „das ist das Fenster.“ Sie blieben am Tor stehen. Perrichet sprach mit dem sergent‐de‐ville, der sofort das Tor aufhielt. Die Gruppe ging in den Garten der Villa.
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Kapitel IV In der Villa Die Auffahrt bog sich zwischen Bäumen und hohen Büschen zu der Rückseite des Hauses, und als die Gruppe ihr entlang weiterging, kam ihnen ein kleiner, gepflegter, soldatenähnlicher Mann mit einem Spitzbart entgegen. Es war der Mann, der aus dem Fenster gesehen hatte, Louis Besnard, der Polizeikommissar. „Sie kommen also, um uns zu helfen, M. Hanaud!“, rief er und streckte seine Hände entgegen. „Sie werden hier keine Eifersucht finden; keine Gesinnung unter uns, außer guten Willen; keine Begierde, außer eine, Ihre Vorschläge auszuführen. Alles, was wir wünschen, ist, dass die Mörder entdeckt werden sollten. Mon Dieu, was für ein Verbrechen! Und ein so junges Mädchen ist darin verwickelt! Aber was werden Sie?“ „Also, Sie haben sich schon eine Meinung über diese Sache gebildet!“, sagte Hanaud scharf. Der Commissaire zuckte die Achseln. „Untersuchen Sie die Villa und urteilen Sie dann selbst, ob eine andere Erklärung vorstellbar ist“, sagte er, und als er sich umdrehte, winkte er mit seiner Hand zu dem Haus. Dann rief er: „Ah!“, und er warf sich in eine Habtachtstellung. Ein großer, dünner Mann von etwas fünfundvierzig Jahren, bekleidet mit einem Stresemann und einem hohen Seidenhut, war gerade um eine Ecke der Auffahrt gekommen und bewegte sich langsam auf sie zu. Er trug den weichen, gelockten Bart wie einer, der nie einen Rasierer auf seinem Kinn benutzt hatte, und hatte ein schmales Gesicht mit sehr hellgrauen Augen und eine runde vortretende Stirn. „Das ist der Juge d’Instruction?“, fragte Hanaud. „Ja, M. Fleuriot“, erwiderte Louis Besnard flüsternd. M. Fleuriot war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und es war erst, als Besnard laut auf dem Kies vorwärtsschritt, dass er sich der Gruppe im Garten bewusst wurde.
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„Das ist M. Hanaud von der Sûreté in Paris“, sagte Louis Besnard. M. Fleuriot verbeugte sich höflich. „Sie sind sehr willkommen, M. Hanaud. Sie werden finden, dass nichts in der Villa in Unordnung gebracht worden ist. In dem Augenblick, als Ihre Nachricht über das Telefon kam, dass Sie gewillt sind, uns zu unterstützen, gab ich Anweisungen, dass alles gelassen werden sollte, wie wir es fanden. Ich vertraue, dass Sie mit Ihrer Erfahrung einen Weg sehen werden, wo unser Auge keinen findet.“ Hanaud verbeugte sich als Antwort. „Ich werde mein Bestes tun, M. Fleuriot. Ich kann nicht mehr sagen“, sagte er. „Aber wer sind diese Gentlemen?“, fragte Fleuriot, der, schien es, nun zum ersten Mal die Anwesenheit von Harry Wethermill und Mr. Ricardo bemerkte. „Beide sind Freunde von mir“, erwiderte Hanaud. „Wenn sie nichts dagegen haben, denke ich, dass ihre Hilfe nützlich sein mag. Mr. Wethermill zum Beispiel war mit Celia Harland bekannt.“ „Ah!“, rief der Untersuchungsrichter und sein Gesicht nahm plötzlich einen scharfen und begierigen Blick an. „Sie können mir vielleicht über sie erzählen?“ „Alles, was ich weiß, werde ich bereitwillig erzählen“, sagte Harry Wethermill. In die hellen Augen von M. Fleuriot kam ein kalter, leuchtender Schimmer. Er machte einen Schritt vorwärts. Sein Gesicht schien sich zu einer größeren Schärfe zu verengen. In einem Augenblick, schien es Mr. Ricardo, hörte er auf, Untersuchungsrichter zu sein; er stieg von seinem hohen Amt herab, er schrumpfte zu einem Fanatiker. „Sie ist eine Jüdin, diese Celia Harland?“, rief er. „Nein, M. Fleuriot, ist sie nicht“, erwiderte Wethermill. „Ich spreche nicht verächtlich von dieser Rasse, denn ich zähle viele Freunde unter ihre Mitglieder. Aber Celia Harland ist keine von ihnen.“ „Ah!“, sagte Fleuriot; und da war etwas von Enttäuschung, auch etwas von Ungläubigkeit in seiner Stimme. „Also, Sie werden kommen und mir berichten,
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wenn Sie Ihre Ermittlungen gemacht haben.“ Und er ging weiter, ohne eine weitere Frage oder eine Bemerkung. Die Gruppe von Männern sah ihm zu, wie er ging, und es war erst, als er außer Hörweite war, dass Besnard sich mit einer missbilligenden Geste zu Hanaud wandte. „Ja, ja, er ist ein guter Untersuchungsrichter, M. Hanaud ‐ schnell, scharfsinnig, einfühlend; aber er hat diesen Floh im Ohr, wie so viele andere. Überall muss er l’affaire Dreyfus sehen. Er kann es nicht aus seinem Kopf kriegen. Egal, was für eine unbedeutende Frau ermordet wird, sie muss Briefe in ihrem Besitz haben, die Dreyfus überführen würde. Aber Sie wissen! Es gibt Tausende solche ‐ gute, freundliche, gerechte Menschen im gewöhnlichen Lebensstil, aber hinter jedem Verbrechen sehen sie den Juden.“ Hanaud nickte. „Ich weiß; und bei einem Juge d’Instruction ist es sehr unangenehm. Gehen wir weiter.“ Auf halbem Weg zwischen dem Tor und der Villa ging eine zweite Fahrbahn nach links, und an der Zufahrt davon stand ein junger, stämmiger Mann in schwarzen Leggings.“ „Der Chauffeur?“, fragte Hanaud. „Ich werde mit ihm sprechen.“ Der Commissaire rief den Chauffeur nach vor. „Servettaz“, sagte er, „Sie werden jede Frage beantworten, die Ihnen Monsieur stellen mag.“ „Sicher, M. le Commissaire“, sagte der Chauffeur. Sein Auftreten war seriös, aber er antwortete bereitwillig. Da war kein Anzeichen von Furcht auf seinem Gesicht. „Wie lange sind Sie bei Mme. Dauvray gewesen?“, fragte Hanaud. „Vier Monate, Monsieur. Ich fuhr sie von Paris nach Aix.“ „Und da Ihre Eltern in Chambéry wohnen, wünschten Sie die Gelegenheit zu ergreifen, einen Tag bei ihnen zu verbringen, solange Sie so nahe waren?“
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„Ja, Monsieur.“ „Wann baten Sie um Erlaubnis?“ „Am Samstag, Monsieur.“ „Baten Sie insbesondere, dass Sie gestern haben sollten, den Dienstag?“ „Nein, Monsieur; ich bat nur um einen Tag, wann immer es für Madame angenehm sein sollte.“ „Ganz recht“, sagte Hanaud. „Nun, wann sagte Ihnen Mme. Dauvray, dass Sie den Dienstag haben könnten?“ Servettaz zögerte. Sein Gesicht wurde gequält. Als er sprach, sprach er widerwillig. „Es war nicht Mme. Dauvray, Monsieur, die mir sagte, ich könnte am Dienstag gehen“, sagte er. „Nicht Mme. Dauvray! Wer war es dann?“, fragte Hanaud scharf. Servettaz blickte von einem zum anderen der ernsten Gesichter, die ihm gegenüberstanden. „Es war Mlle. Célie“, sagte er, „die es mir sagte.“ „Oh!“, sagte Hanaud langsam. „Es war Mlle. Célie. Wann sagte sie es Ihnen?“ „Am Montagmorgen, Monsieur. Ich reinigte den Wagen. Sie kam zur Garage mit Blumen in ihrer Hand und die sie im Garten geschnitten hatte, und sie sagte: ‚Ich hatte Recht, Alphonse. Madame hat ein gutes Herz. Du kannst morgen mit dem Zug, der von Aix um 1.52 Uhr abfährt und in Chambéry neun Minuten nach zwei ankommt, fahren.‘“ Hanaud zuckte zusammen. „,Ich hatte Recht, Alphonse.‘ Waren das die Worte? Und ‚Madame hat ein gutes Herz‘? Kommen Sie, kommen Sie, was soll das alles?“ Er hob einen warnenden Finger und sagte ernst: „Seien Sie vorsichtig, Servettaz.“ „Das waren ihre Worte, Monsieur.“ „,Ich hatte Recht, Alphonse. Madame hat ein gutes Herz‘?“ 28
„Ja, Monsieur.“ „Dann hat Mlle. Célie mit Ihnen vorher über den Besuch der Ihren in Chambéry gesprochen“, sagte Hanaud, seine Augen beständig auf das Gesicht des Chauffeurs gerichtet. Die Qual auf Servettaz‘ Gesicht nahm zu. Plötzlich klang Hanauds Stimme scharf. „Sie zögern. Beginnen Sie am Anfang. Sprechen Sie die Wahrheit, Servettaz!“ „Monsieur, ich spreche die Wahrheit“, sagte der Chauffeur. „Wenn es wahr ist, dass ich zögere ... Ich habe heute Morgen gehört, was die Leute sagen ... Ich weiß nicht, was ich denken soll. Mlle. Célie war immer freundlich und rücksichtsvoll zu mir. ... Aber es ist wahr“ ‐ und mit einer Art Verzweiflung fuhr er fort ‐ „ja, es ist wahr, dass es Mlle. Célie war, die es mir zuerst vorschlug. Ich sollte um einen Tag bitten, um nach Chambéry zu fahren.“ „Wann schlug sie es vor?“ „Am Samstag.“ Für Mr. Ricardo waren die Worte erschreckend. Er blickte mit Bedauern zu Wethermill. Wethermill jedoch hatte sich ein für alle Mal entschieden. Er stand mit einem verbissenen Blick auf seinem Gesicht, sein Kinn nach vor geschoben, seine Augen auf dem Chauffeur. Besnard, der Commissaire, hatte sich auch entschlossen. Er zuckte bloß mit der Achsel. Hanaud schritt vorwärts und legte seine Hand sanft auf den Arm des Chauffeurs. „Kommen Sie, mein Freund“, sagte er, „lassen Sie uns genau hören, wie es passierte!“ „Mlle. Célie“, sagte Servettaz mit echten Bedenken in seiner Stimme, „kam am Samstagmorgen zur Garage und bestellte den Wagen für den Nachmittag. Sie blieb und redete mit mir eine kleine Weile, wie sie es oft tat. Sie sagte, dass ihr erzählt worden war, dass meine Eltern in Chambéry wohnen, und da ich so nahe sei, sollte ich um einen Urlaub bitten. Denn es wäre nicht nett, wenn ich sie nicht besuchen ginge.“ „Das war alles?“ „Ja, Monsieur.“
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„Sehr gut.“ Und der Kriminalbeamte nahm sofort seine forsche Stimme und wachsame Haltung an. Er schien Servettaz‘ Eingeständnis aus seinen Gedanken zu verdrängen. Ricardo hatte den Eindruck von einem Mann, der sich mit einem wichtigen Dokument beschäftigte und es in ein Schubfach in seinem Schreibtisch weglegte. „Lassen Sie uns die Garage sehen!“ Sie folgten der Straße zwischen den Büschen, bis eine Biegung ihnen die Garage mit offenen Türen zeigte. „Die Türen wurden unversperrt vorgefunden?“ „Genauso wie Sie es sehen.“ Hanaud nickte. Er sprach wieder mit Servettaz. „Was machten Sie mit dem Schlüssel am Dienstag?“ „Ich gab ihn Hélène Vauquier, Monsieur, nachdem ich die Garage absperrte. Und sie hängte ihn auf einen Nagel in der Küche.“ „Ich verstehe“, sagte Hanaud. „So hätte ihn jeder letzte Nacht finden können?“ „Ja, Monsieur ‐ wenn man wüsste, wo man danach sucht.“ Hinten in der Garage stand eine Reihe von Benzinkanister an der Ziegelwand. „Wurde Benzin genommen?“, fragte Hanaud. „Ja, Monsieur; es gab sehr wenig Benzin in dem Wagen, als ich fortfuhr. Mehr wurde genommen, aber es wurde aus den mittleren Kanistern genommen ‐ diesen.“ Und er berührte die Kanister. „Ich verstehe“, sagte Hanaud und er hob nachdenklich seine Augenbrauen. Der Commissaire bewegte sich ungeduldig. „Von der Mitte oder vom Ende ‐ was spielt es für eine Rolle?“, rief er aus. „Das Benzin wurde genommen.“ Hanaud jedoch entließ diesen Punkt nicht so leicht. „Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine Rolle spielt“, sagte er freundlich. „Zum Beispiel, wenn Servettaz keinen Grund gehabt hätte, seine Kanister zu überprüfen, hätte es vielleicht einige Zeit gedauert, bevor er herausfände, dass das Benzin genommen worden war.“ 30
„Tatsächlich, ja“, sagte Servettaz. „Ich hätte es sogar vergessen können, dass ich es selbst nicht gebraucht hatte.“ „Ganz recht“, sagte Hanaud und er wandte sich an Besnard. „Ich denke, das ist vielleicht wichtig. Ich weiß es nicht“, sagte er. „Aber da der Wagen fort ist“, rief Besnard, „wie konnte der Chauffeur nicht sofort nach seinen Kanistern schauen?“ Die Frage war Ricardo in den Sinn gekommen, und er fragte sich, auf welche Weise Hanau sie beantworten würde. Hanaud jedoch hatte nicht vor, sie zu beantworten. Er nahm davon überhaupt keine Notiz. Er tat sie mit einer vorzüglichen Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung, die seine Begleiter von ihm haben könnten, beiseite. „Ah ja“, sagte er sorglos. „Da der Wagen fort ist, wie Sie sagen, ist dem so.“ Und er wandte sich wieder an Servettaz. Hanaud wandte sich dem Commissaire zu. „Sie haben die Nummer und Beschreibung, vermute ich? Es wird außerdem gut sein, ihn suchen zu lassen. Er ist vielleicht gesehen worden; er muss irgendwo sein.“ Der Commissaire erwiderte, dass die Beschreibung schon gedruckt worden war, und Hanaud überprüfte mit einem zustimmenden Nicken den Boden. Vor der Garage gab es einen kleinen Steinhof, aber auf seiner Oberfläche gab es keine Spur eines Fußabdrucks. „Doch der Kies war nass“, sagte er und schüttelte seinen Kopf. „Der Mann, der diesen Wagen nahm, nahm ihn vorsichtig.“ Er drehte sich um und ging mit seinen Augen auf dem Boden zurück. Dann rannte er zu der Grasgrenze zwischen dem Kies und den Büschen. „Schauen Sie!“, sagte er zu Wethermill; „ein Fuß hat die Grasblätter niedergedrückt, aber sehr vielleicht ‐ ja, und dort wieder. Jemand rannte hier auf seinen Zehen die Grenze entlang. Ja, er war sehr vorsichtig.“ Sie bogen wieder in die Hauptauffahrt, und indem sie ihr ein paar Meter folgten, kamen sie plötzlich zu einem Platz vor der Villa. Es war ein kleines 31
Spielzeugvergnügungshaus, das zu einem grünen Rasen mit Blumenbeeten übersät blickte. Es war aus gelbem Stein gebaut und war fast quadratisch in der Form. Zwei verzierte Säulen flankierten die Tür und ein Giebeldach mit einem Wetterhahn überragte es. Für Ricardo schien es unmöglich, dass eine so gemeine und unheilvolle Tragödie innerhalb seiner Wände während der letzten zwölf Stunden stattgefunden hatte. Hier und dort waren die grünen Außenfensterläden geschlossen; hier und dort standen die Fenster offen, um Luft und Licht hereinzulassen. Auf jeder Seite der Tür gab es ein Fenster, das die Diele erleuchtete, die groß war; hinter diesen Fenstern wiederum gab es auf jeder Seite Glastüren, die sich zum Grundstück öffneten und von den gewöhnlichen grünen vergitterten Holzfensterläden geschützt wurden. Diese Glastüren öffneten sich in die rechteckigen Zimmer, die zur Rückseite des Hauses verliefen und zusätzlich von Seitenfenstern erhellt wurden. Das Zimmer äußerst links, als die Gruppe der Villa gegenüberstand, war das Esszimmer, mit der Küche dahinter; das Zimmer rechts war der Salon, in dem der Mord begangen worden war. Vor der Glastür zu diesem Zimmer erstreckte sich ein Streifen von dem, was einst Gras gewesen war, zu der Kiesauffahrt. Aber das Gras war durch ständigen Gebrauch abgetreten worden und die schwarze Erde zeigte sich durch. Dieser Streifen war ungefähr drei Meter breit, und als sie sich näherten, sahen sie sogar in einer Entfernung, dass er seit dem Regen von letzter Nacht niedergetrampelt worden war. „Wir werden zuerst um das Haus herumgehen“, sagte Hanaud und bog entlang der Seite der Villa ab und ging in die Richtung der Straße. Da waren vier Fenster direkt über seinem Kopf, von denen drei den Salon erhellten und das vierte ein Schreibzimmer dahinter. Unter diesen Fenstern gab es kein Durcheinander auf dem Boden und eine sorgfältige Ermittlung zeigte schlüssig, dass der einzige benutzte Eingang die Glastür des Salons gewesen war, der zur Auffahrt blickte. Zu dieser Stelle kehrten sie dann zurück. Es gab drei Gruppen von Fußspuren auf dem Erdboden. Eine Gruppe lief in einem bestimmten Bogen von der Auffahrt zu der Seite der Tür und überquerte die anderen nicht. „Das“, sagte Hanaus, „sind die Fußabdrücke von meinem intelligenten Freund, Perrichet, der vorsichtig war, den Boden nicht in Unordnung zu bringen.“ Perrichet strahlte über sein rosiges Gesicht und Besnard nickte ihm mit herablassender Zustimmung zu. 32
„Aber ich wünsche, M. le Commissaire“ ‐ und Hanaud zeigte auf verwischte Abdrücke ‐ „dass Ihre anderen Polizeibeamten so intelligent gewesen wären. Schauen Sie! Diese verlaufen von der Glastür zur Auffahrt, und trotz all dem Nutzen, den sie für uns gewesen wären, hätte eine Egge darübergezogen werden können.“ Besnard richtete sich auf. „Nicht einer meiner Beamten hat das Zimmer durch diese Tür betreten. Die striktesten Befehle waren gegeben und befolgt worden. Der Boden, wie Sie sehen, ist der Boden, wie er um zwölf Uhr letzte Nacht war.“ Hanauds Gesicht wurde nachdenklich. „Ist das so?“, sagte er, als er sich bückte, um die zweite Gruppe von Abdrücken zu überprüfen. Sie waren rechts von der Tür. „Eine Frau und ein Mann“, sagte er. „Aber es sind eher bloße Hinweise als Abdrücke. Man möchte fast denken ‐" Er erhob sich, ohne seinen Satz zu beenden, und er wandte sich der dritten Gruppe zu und ein zufriedener Blick schimmerte auf seinem Gesicht. „Ah! Hier ist etwas Interessanteres“, sagte er. Es gab nur drei Eindrücke, und wohingegen die verwischten Spuren auf der Seite waren, zeigten diese drei direkt von der Mitte der Glastüren zu der Auffahrt. Sie waren genau abgegrenzt und alle drei waren die Eindrücke, die von dem kleinen, gebogenen, hochhackigen Schuh einer Frau gemacht wurden. Die Position der Abdrücke war auf den ersten Blick ein wenig eigentümlich. Das war einer einen guten Meter vom Fenster entfernt, der Eindruck eines rechten Fußes, und der Abdruck der Sohle des Schuhs war deutlicher als der des Absatzes. Der zweite, der Eindruck des linken Fußes, war nicht ganz so weit vom ersten entfernt wie der erste vom Fenster, und hier wieder war der Absatz leichter abgegrenzt. Aber da war dieser Unterschied ‐ der Abdruck der Zehe, der im ersten Fall gespitzt war, war in diesem breiter und etwas verwischt. Dicht neben dem rechten Fuß war er wieder sichtbar; nun war jetzt der schmale Absatz deutlicher umgrenzt als der Fußballen. Er war tatsächlich einen Zentimeter in den weichen Boden eingesunken. Es gab keine weiteren Eindrücke. Tatsächlich waren diese zwei nicht bloß dicht beisammen, sie waren nahe zum Kies der Auffahrt und genau auf der Grenze des Grases.
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Hanaud blickte nachdenklich auf die Abdrücke. Dann wandte er sich an den Commissaire. „Gibt es Schuhe in dem Haus, die zu diesen Abdrücken passen?“ „Ja. Wir haben die Schuhe von allen Frauen probiert ‐ Célie Harland, das Dienstmädchen und sogar Mme. Dauvray. Die Einzigen, die überhaupt passen, sind die aus Célie Harlands Schlafzimmer.“ Er rief einem Polizeibeamten zu, der in der Auffahrt stand, und ein Paar graue Wildlederschuhe wurden ihm aus der Diele gebracht. „Sehen Sie, M. Hanaud, es ist ein hübscher kleiner Fuß, der diese deutlichen Abdrücke machte“, sagte er mit einem Lächeln; „ein gebogener und schlanker Fuß. Mme. Dauvrays Fuß ist kurz und plump, der des Mädchens breit und flach. Weder Mme. Dauvray noch Hélène Vauquier könnten diese Schuhe getragen haben. Es lag einer hier und einer dort auf dem Boden von Célie Harlands Zimmer, als ob sie sie in Eile hinuntergetreten hätte. Sie sind fast neu, sehen Sie. Sie sind vielleicht einmal getragen worden, nicht mehr, und sie passen mit absoluter Genauigkeit in diese Fußabdrücke, außer bei der Zehe von diesem zweiten.“ Hanaud nahm die Schuhe, und indem er sich hinkniete, legte er einen nach dem anderen über die Eindrücke. Für Ricardo war es außergewöhnlich, wie genau sie die Abdrücke abdeckten und die Eindrücke ausfüllten. „Ich würde sagen“, sagte der Commissaire, „dass Célie Harland fortging und ein neues Paar Schuhe trug, die genau auf demselben Leisten wie diese gemacht wurden.“ Wie diese, die sie sorglos auf dem Fußboden ihres Zimmers hatte liegen lassen, damit es die erste Person bemerkte, dachte Ricardo! Es schien, als ob das Mädchen verrückt geworden war, die Beweislast gegen sie so schwer wie möglich zu richten. Doch trotzdem war es durch Unachtsamkeit der kleinen Details, so unbedeutend in dem Augenblick des Verbrechens, so schrecklich aufschlussreich am nächsten Tag, dass Schuld im Allgemeinen vor Augen geführt wurde. Hanaud stand auf und reichte die Schuhe zurück an den Polizeibeamten.
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„Ja“, sagte er, „so scheint es. Der Schuhmacher kann uns hier helfen. Ich sehe, dass die Schuhe in Aix gemacht wurden.“ Besnard blickte auf den Namen, der in goldenen Buchstaben auf dem Futterstoff geprägt war. „Ich werde Nachfragen anstellen lassen“, sagte er. Hanaud nickte, nahm ein Maßband aus seiner Tasche und maß den Boden zwischen dem Fenster und dem ersten Fußabdruck und zwischen dem ersten Fußabdruck und den anderen zwei. „Wie groß ist Mlle. Célie?“, fragte er und er richtete die Frage an Wethermill. Es berührte Ricardo als eines der merkwürdigsten Details in dieser ganzen merkwürdigen Angelegenheit, dass der Kriminalbeamte mit Zuversicht nach Informationen fragte, die helfen könnten, Celia Harland auf die Guillotine von dem Mann, der sein Glück auf ihre Unschuld setzte, zu bringen. „Ungefähr eins siebzig“, antwortete er. Hanaud steckte sein Maßband wieder in seine Tasche. Er wandte sich mit einem ernsten Gesicht an Wethermill. „Ich warnte Sie ehrlich, nicht wahr?“, sagte er. Wethermills weißes Gesicht zuckte. „Ja“, sagte er. „Ich habe keine Angst.“ Aber da war mehr Angst in seiner Stimme als vorher. Hanaud zeigte ernst auf den Boden. „Lesen Sie die Geschichte, die diese Fußabdrücke in der Erde dort schreiben. Ein junges und aktives Mädchen in ungefähr der Größe von Mlle. Célie, und das ein neues Paar von Mlle. Célies Schuhe trägt, springt aus diesem Zimmer, wo der Mord begangen wurde, wo die Leiche der ermordeten Frau liegt. Sie rennt. Sie trägt ein langes Kleid. Bei dem zweiten Schritt verfängt sich der Saum unter der Spitze ihres Schuhs. Sie stolpert. Um sie vor dem Hinfallen zu bewahren, bringt sie den anderen Fuß scharf hinauf und stampft den Absatz hinunter in den Boden. Sie erlangt ihr Gleichgewicht wieder. Sie geht weiter zur Auffahrt. Es ist wahr, dass der Kies hier hart ist und keinen Abdruck annimmt, aber Sie 35
werden sehen, dass etwas von der Erde, die sich an den Schuhen angehaftet hat, abgefallen ist. Sie steigt in den Wagen mit dem Mann und der anderen Frau und fährt davon ‐ irgendwann zwischen elf und zwölf.“ „Zwischen elf und zwölf? Ist das sicher?“, fragte Besnard. „Sicher“, erwiderte Hanaud. „Das Tor ist um elf offen und Perrichet schloss es. Es ist um zwölf wieder offen. Daher waren die Mörder nicht vor elf gegangen. Nein, das Tor war für sie offen, um zu fahren, aber sie waren nicht gefahren. Warum sollte das Tor sonst wieder um Mitternacht offen sein?“ Besnard nickte beipflichtend und plötzlich ging Perrichet vorwärts, mit Augen voller Entsetzen. „Dann, als ich das erste Mal das Tor schloss“, rief er, „und in den Garten kam und hinauf zu dem Haus, waren sie hier ‐ in diesem Zimmer? Oh mein Gott!“ Er starrte mit offenem Mund auf das Fenster. „Ich befürchte, mein Freund, das ist so“, sagte Hanaud ernst. „Aber ich klopfte an die Holztür, ich probierte die Verriegelung; und sie waren drinnen ‐ in der Dunkelheit drinnen und hielten ihren Atem keine drei Meter von mir an.“ Er stand erstarrt dort. „Das werden wir sehen“, sagte Hanaud. Er schritt in Perrichets Fußabdrücken zur Türschwelle des Zimmers. Er untersuchte die grünen Holztüren, die sich nach außen öffneten, und die Glastüren, die sich nach inne öffneten, wobei er eine Lupe aus seiner Tasche nahm. Er rief Besnard an seine Seite. „Sehen Sie!“, sagte er und zeigte zu dem Holzwerk. „Fingerabdrücke?“, fragte Besnard begierig. „Ja; von Händen in Handschuhen“, entgegnete Hanaud. „Wir werden von diesen Abdrücken nichts erfahren, außer dass die Meuchelmörder ihr Handwerk kannten.“
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Dann bückte er sich zu der Türschwelle hinunter, einige Spuren waren sichtbar. Er erhob sich mit einer resignierenden Geste. „Gummischuhe“, sagte er und so schritt er in das Zimmer, gefolgt von Wethermill und den anderen. Sie befanden sich in einer kleinen Nische, die mit weiß gestrichenem Holz verkleidet und hier und dort fein in Blumenfestons geschnitzt waren. Die Nische endete in einem Bogen, gestützt von zwei schlanken Säulen, und auf der inneren Seite des Bogens hingen dicke Vorhänge aus rosaroter Seide. Diese waren sorglos zurückgezogen und durch die Öffnung dazwischen blickte die Gruppe hinunter auf die Länge des Zimmers darunter. Sie gingen hindurch.
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Kapitel V Im Salon Julius Ricardo schob die Vorhänge mit einem Schauer der Erregung zur Seite. Er fand sich in einem kleinen rechteckigen Zimmer stehen, das hübsch, sogar erlesen eingerichtet war. Links von ihm, dicht bei der Nische, war ein kleiner Kamin mit der Asche des ausgebrannten Feuers im Feuerrost. Hinter dem Kamin stand ein langes Sofa, mit rosarotem Damast bedeckt, mit einem zerdrückten Kissen an jedem Ende, ungefähr siebzig Zentimeter von der Wand entfernt, und hinter dem Sofa öffnete sich die Tür des Zimmers auf die Diele. Am Ende war ein langer Spiegel in die Paneele eingelassen und ein Schreibtisch stand bei dem Spiegel. Rechts waren drei Fenster und zwischen den zwei, die am nahesten zu Mr. Ricardo waren, war der Schalter des elektrischen Lichts. Ein Kronleuchter hing von der Decke, eine elektrische Lampe stand auf dem Schreibtisch, zwei elektrische Kerzen auf dem Kaminsims. Ein runder Satinholztisch stand unter dem Fenster mit drei Stühlen rundherum, von denen einer umgeworfen war, einer mit seiner Rückenlehne zu dem elektrischen Schalter und der dritte auf der gegenüberliegenden Seite stand Ricardo konnte kaum glauben, dass er tatsächlich auf der Stelle stand, wo innerhalb von zwölf Stunden eine grausame und unheimliche Tragödie stattgefunden hatte. Es gab eine kleine Unordnung. Die drei Fenster zu seiner Rechten zeigten ihm den blauen von der Sonne erleuchtete Himmel und einen flüchtigen Blick auf Blumen und Bäume; hinter ihm standen die Glastüren zum Rasen auf, wo Vögel fröhlich zwitscherten und die Bäume vom Sommer murmelten. Aber er sah Hanaud schnell von Stelle zu Stelle schreiten, mit einer außergewöhnlichen Leichtigkeit des Schritts für einen so großen Mann, der offensichtlich in Gedanken versunken, offensichtlich hier und dort einige Details las, einen Brauch der Bewohner dieses Zimmers. Ricardo lehnte sich mit sorgfältiger Kunstfertigkeit an die Wand. „Nun, was sagt mir dieses Zimmer?“, fragte er bedeutsam. Niemand schenkte der Frage die geringste Beachtung, und es war ebenso gut. Denn das Zimmer hatte ihm sehr wenig Informationen zu geben. Er ließ seine Augen über die weißen Louis XVI‐Möbel, die weißen Paneele der Wand, den polierten Boden, die rosaroten Vorhänge gleiten. Sogar das zarte Flechtwerk der Decke entging 38
seinem prüfenden Blick nicht. Doch sah er nichts, was ihm half, außer einen umgestoßenen Stuhl und zwei zerdrückte Kissen auf einem Sofa. Es war sehr ärgerlich, umso ärgerlicher, weil M. Hanaud so ungewöhnlich geschäftig war. Hanaud blickte sorgfältig auf das lange Sofa und die zerdrückten Kissen und er holte sein Maßband heraus und maß die Entfernung zwischen dem Kissen an einem Ende und dem Kissen am anderen. Er überprüfte den Tisch, er maß die Entfernung zwischen den Stühlen. Er kam zu dem Kamin und rechte in der Asche des ausgebrannten Feuers. Aber Ricardo bemerkte eine einzigartige Sache. Inmitten seiner Suche streiften seine Augen immer zurück zu dem Sofa, und immer mit einem äußerst verwirrten Blick, als ob er dort etwas läse, aber etwas, das er nicht erklären konnte. Schließlich ging er zurück zu ihm; er zog e weiter von der Wand fort, und plötzlich mit einem kleinen Aufschrei bückte er sich und ging auf seine Knie. Als er aufstand, hielt er einige zerrissene Papierstücke in seiner Hand. Er ging hinüber zu dem Schreibtisch und öffnete den Löschpapierblock. Wo er auffiel, waren einige Notizpapierblätter und ein besonderes Blatt davon war halb herausgerissen. Er verglich die Stücke, die er hielt, mit diesem zerrissenen Blatt und schien zufrieden zu sein. Es gab ein Gestell für Notizpapier auf dem Tisch und davon nahm er eine steife Karte. „Holen Sie mir etwas Klebstoff oder Kleister, und schnell“, sagte er. Seine Stimme war schroff geworden, die Höflichkeit hatte seine Rede verlassen. Er trug die Karte und die Papierstücke zu dem runden Tisch. Dort setzte er sich und mit unendlicher Geduld klebte er die Papierstücke auf die Karte, wobei er sie wie die Stücke eines chinesischen Puzzles zusammensetzte. Die anderen konnten über seinen Schultern die fehlenden Wörter, mit Bleistift geschrieben, sehen, die als ein Satz auf der Karte Form annahmen. Hanaud drehte sich abrupt auf seinem Platz zu Wethermill. „Sie haben zweifellos einen von Mlle. Célie geschriebenen Brief?“ Wethermill nahm seine Briefmappe aus seiner Tasche und einen Brief aus der Mappe. Er zögerte einen Augenblick, als er darauf blickte, was geschrieben wurde. Die vier Blätter waren abgedeckt. Er faltete die Briefe auf, sodass nur die zwei inneren Blätter zu sehen waren, und reichte ihn Hanaud. Hanaud verglich ihn mit der Handschrift auf der Karte. 39
„Schauen Sie!“, sagte er schließlich und die drei Männer versammelten sich hinter ihm. Auf der Karte enthüllten die geklebten Fragmente einen Satz: „Je ne sais pas.“ „,Ich weiß es nicht‘“, sagte Ricardo, „nun ist das sehr wichtig.“ Neben die Karte wurde Celias Brief an Wethermill gelegt. „Was denken Sie?“, fragte Hanaud. Besnard, der Polizeikommissar, beugte sich über Hanauds Schulter. „Es gibt starke Ähnlichkeiten“, sagte er zurückhaltend. Ricardo hielt Ausschau nach tiefen Geheimnissen. Ähnlichkeiten waren nicht genug für ihn; sie waren ungenügend für die künstlerischen Notwendigkeiten der Situation. „Beide wurden von derselben Hand geschrieben“, sagte er bestimmt; „nur in dem Satz, der auf der Karte geschrieben ist, wird die Handschrift sorgfältig verstellt.“ „Ah!“, sagte der Commissaire und beugte sich wieder nach vor. „Hier ist eine Idee! Ja, ja, es gibt starke Unterschiede.“ Ricardo blickte triumphierend. „Ja, es gibt einen Unterschied“, sagte Hanaud. „Sehen Sie, wie lange der Aufstrich vom ‚p‘ ist, wie zittrig er ist! Sehen Sie, wie plötzlich dieses ‚s‘ abschweift, als ob eine Emotion die Hand zittern ließ. Doch dies“, und indem er Wethermills Brief berührte, lächelte er wehmütig, „dies ist, wo die Emotion die Feder hätte beeinflussen sollen.“ Er blickte auf in Wethermills Gesicht und sagte dann ruhig: „Sie haben uns keine Meinung gegeben, Monsieur. Doch Ihre Meinung sollte die Wertvollste von allen sein. Wurden diese zwei Papiere mit derselben Hand geschrieben?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Wethermill. „Und auch ich“, rief Hanaud mit plötzlicher Wut, „je ne sais pas. Ich weiß es nicht. Es ist vielleicht ihre sorglos nachgemachte Handschrift sein. Es ist 40
vielleicht ihre verstellte Handschrift. Es mag einfach sein, dass sie in Eile mit angezogenen Handschuhen schrieb.“ „Es ist vielleicht vor einiger Zeit geschrieben worden“, sagte Mr. Ricardo, ermutigt durch seinen Erfolg bei anderen Hinweisen. „Nein, das ist das eine, was nicht gewesen sein könnte“, sagte Hanaud. „Schauen Sie sich im Zimmer um. Gab es ein besser gepflegtes Zimmer. Finden Sie mir ein kleines bisschen Staub in einer Ecke, wenn Sie können! Es ist alles sauber wie ein Teller. Jeden Morgen, außer an diesem Morgen, war dieses Zimmer gefegt und geputzt worden. Das Papier wurde gestern geschrieben und zerrissen.“ Er legte die Karte in einen Umschlag, als er sprach, und steckte ihn in seine Tasche. Dann stand er auf und ging wieder zum Sofa hinüber. Er stand an der Seite davon, mit seinen Händen umfasste er die Aufschläge seiner Jacke und sein Gesicht war ernsthaft besorgt. Nach ein paar Augenblicken des Schweigens für sich selbst, der Anspannung für alle anderen, die ihn beobachteten, bückte er sich plötzlich. Langsam und mit außergewöhnlicher Vorsicht schob er seine Hände unter das Hauptkissen und hob es sanft hoch, damit die Einbuchtungen seiner Oberfläche nicht in Unordnung gebracht wurden. Er trug ihn hinüber zu dem Licht des offenen Fensters. Das Kissen war mit Seide bedeckt, und als er es in das Sonnenlicht hielt, konnte er einen kleinen braunen Fleck sehen. Hanaud nahm seine Lupe aus seiner Tasche und beugte seinen Kopf über das Kissen. Aber in dem Augenblick, obwohl er vorsichtig gewesen war, schwollen die Daunen im Kissen an, die Falten und Einbuchtungen verschwanden, die bedeckende Seite war glatt gespannt. „Oh!“, rief Besnard tragisch. „Was haben Sie getan?“ Hanauds Gesicht wurde rot. Er war einer Ungeschicklichkeit schuldig ‐ sogar er. Mr. Ricardo nahm den Faden wieder auf. „Ja“, rief er aus, „was haben Sie getan?“ Hanaud blickte Ricardo bei dieser Dreistigkeit erstaunt an. „Also, was habe ich getan?“, fragte er. „Kommen Sie! Sagen Sie es mir!“
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„Sie haben einen Beweis vernichtet“, erwiderte Ricardo eindrucksvoll. Die tiefste Niedergeschlagenheit breitete sich sofort über Hanauds stämmigem Gesicht aus. „Sagen Sie das nicht, M. Ricardo, ich flehe Sie an!“, beschwor er. „Einen Beweis! Und ich habe ihn vernichtet! Aber was für ein Beweis? Und wie habe ich ihn vernichtet? Und zu welchem Geheimnis wäre es ein Beweis, wenn ich ihn nicht vernichtet hätte? Und was wird aus mir werden, wenn ich zurück nach Paris fahre und in der Rue de Jerusalem sage: ‚Lasst mich die Keller fegen, meine guten Freunde, denn M. Ricardo weiß, dass ich einen Beweis vernichtet habe. Treu versprach er mir, dass er seinen Mund nicht aufmachen würde, aber ich vernichtete einen Beweis und sein Scharfblick zwang ihn zu reden.‘“ Mr. Ricardo war an der Reihe, rot zu werden. Hanaud drehte sich mit einem Lächeln zu Besnard. „Es spielt nicht wirklich eine Rolle, ob die Falten in diesem Kissen bleiben“, sagte er, „wir alle haben sie gesehen.“ Und er steckte die Lupe wieder in seine Tasche. Er trug das Kissen zurück und legte es wieder hin. Dann nahm er das andere, das am Fuß des Sofas lag, und trug es wiederum zum Fenster. Dieses war auch eingedrückt und durchfurcht, und genau an den Abdrücken war der Seidenflor abgenutzt, und da war ein Schlitz, wo er eingeschnitten gewesen war. Die Verwirrung auf Hanauds Gesicht nahm sehr zu. Er stand mit dem Kissen in seinen Händen, wobei er nicht länger darauf schaute, sondern hinaus durch die Türen auf die Fußabdrücke blickte, die so deutlich umrissen waren ‐ die Fußabdrücke eines Mädchens, das aus diesem Zimmer gelaufen und in einen Wagen gesprungen und davongefahren war. Er schüttelte seinen Kopf, und als er das Kissen zurückgetragen hatte, legte er es sorgfältig hin. Dann stand er aufrecht, blickte sich im Zimmer um, als ob sogar jetzt er seine Geheimnisse aus seiner Stille zwingen würde, und schrie mit einer plötzlichen Heftigkeit: „Da ist etwas, Gentlemen, das ich nicht verstehe.“ Mr. Ricardo hörte jemanden neben sich einen tiefen Atemzug machen und drehte sich um. Wethermill stand an seiner Seite. Eine schwache Farbe war
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zurück in seine Wangen gekommen, seine Augen waren aufmerksam auf Hanauds Gesicht gerichtet. „Was denken Sie?“, fragte er, und Hanaud erwiderte schroff: „Es ist nicht meine Angelegenheit, Meinungen zu haben, Monsieur, meine Angelegenheit ist, mich zu vergewissern.“ Es gab einen Punkt, und nur einen, den er jedem in diesem Zimmer versichert hatte. Er hatte anmaßend begonnen. Es war ein schmutziges Verbrechen, leicht verstanden. Aber in diesem Zimmer hatte er etwas gelesen, das ihn beunruhigte, das das schmutzige Verbrechen auf eine höhere und verwirrendere Ebene erhoben hatte. „Dann hat vielleicht M. Fleuriot recht?“, fragte der Commissaire zaghaft. Hanaud starrte ihn eine Sekunde an, dann lächelte er. „L’affaire Dreyfus“, rief er. „Oh la, la, la! Nein, aber da ist etwas anderes.“ Was war dieses Etwas? fragte sich Ricardo. Er blickte sich noch einmal in dem Zimmer um. Er fand seine Antwort nicht, aber er erblickte eine Zierde an der Wand, die die Frage aus seinem Sinn vertrieb. Die Zierde, falls sie so genannt werden konnte, war ein gemaltes Tamburin mit einem Haufen bunter Bänder an den Rand gebunden; und es wurde an die Wand zwischen dem Sofa und dem Kamin ungefähr in der Höhe eines Männerkopfes gehängt. Natürlich mochte es nicht mehr sein als es zu sein schien ‐ ein ziemlich auffällig buntes und gewöhnliches Spielzeug, so wie eine Frau wie Mme. Dauvray es wahrscheinlich wählen würde, um ihre Wände zu schmücken. Aber es trieb Ricardos Gedanken ganz plötzlich zu der Konzerthalle in Leamington und die Apparatur der spiritistischen Show. Nach allem, überlegte er, hatte Hanaud nicht alles bemerkt, und als er die Überlegung anstellte, unterbrach Hanauds Stimme, um ihn zu bekräftigen. „Wir haben hier alles gesehen; gehen wir nach oben“, sagte er. „Wir werden zuerst das Zimmer von Mlle. Célie aufsuchen. Dann werden wir das Mädchen, Hélène Vauquier, befragen. Die vier Männer, gefolgt von Perrichet, gingen durch die Tür auf die Diele hinaus und stiegen die Treppe hoch. Celias Zimmer war im Südwestflügel der 43
Villa, ein helles und luftiges Zimmer, von dem ein Fenster die Straße überblickte, und zwei andere, zwischen denen der Toilettentisch stand, den Garten überblickten. Hinter dem Zimmer führte eine Tür in ein weiß gefliestes Badezimmer. Einige Handtücher lagen unordentlich auf dem Boden neben dem Bad. Im Schlafzimmer waren ein dunkelgrünes Kleid aus Tussahseide und ein Unterrock auf eine Kommode in der Nische eines Fensters und auf einen Stuhl ein kleiner Haufen feine Unterwäsche und ein Paar graue Seidenstrümpfe, die in der Färbung zu den grauen Wildlederschuhen passten, geworfen. „Es war hier, dass Sie das Licht um halb zehn sahen?“, sagte Hanaud, indem er sich Perrichet wandte. „Ja, Monsieur“, erwiderte Perrichet. „Wir dürfen dann annehmen, dass Mlle. Célie zu dieser Zeit ihr Kleid wechselte.“ Besnard blickte sich um und öffnete eine Lade hier, einen Kleiderschrank dort. „Mlle. Célie“, sagte er mit einem Lachen, „war eine besondere junge Dame und von ihren feinen Kleidern begeistert, wenn man nach dem Zimmer und der Ordnung der Schränke urteilen darf. Sie muss ihr Kleid letzte Nacht in ungewöhnlicher Eile gewechselt haben.“ Es war an dem ganzen Zimmer eine gewisse Schmackhaftigkeit, fast, schien es Mr. Ricardo, ein Wohlgeruch, als ob das Mädchen etwas von ihrem zarten Selbst aufgedrückt hätte. Wethermill stand auf der Türschwelle und beobachtete mit einem mürrischen Gesicht die Entweihung dieser Kammer durch die Polizeibeamten. Keine solchen Gefühle jedoch beunruhigten Hanaud. Er ging hinüber zu dem Ankleideraum und öffnete ein paar kleine Lederkästchen, die Celias Schmuck enthielten. In ein oder zwei davon war ein wertloses Schmuckstück enthalten; andere waren leer. Eines dieser Letztere hielt Hanaud offen in seiner Hand und so lange, dass Besnard sich ungeduldig bewegte. „Sie sehen, es ist leer, Monsieur“, sagte er und plötzlich ging Wethermill vorwärts in das Zimmer. „Ja, ich sehe das“, sagte Hanaud trocken. 44
Es war ein Kästchen, das gemacht war, um zwei lange Ohrgehänge zu enthalten ‐ diese Diamantohrringe zweifellos, die Mr. Ricardo im Garten hatte funkeln sehen. „Wollen Monsieur mich sehen lassen?“, fragte Wethermill und er nahm das Kästchen in seine Hände. „Ja“, sagte er. „Mlle. Célies Ohrgehänge“, und er reichte das Kästchen mit einer nachdenklichen Miene zurück. Es war das erste Mal, dass er eine bestimmte Rolle in der Ermittlung übernommen hatte. Harry Wethermill hatte selbst Celia diese Ohrgehänge geschenkt. Hanaud stellte das Kästchen wieder hin und drehte sich herum. „Es gibt nichts mehr für uns hier zu sehen“, sagte er. „Ich vermute, dass niemandem erlaubt gewesen ist, das Zimmer zu betreten?“ Und er öffnete die Tür. „Niemand außer Hélène Vauquier“, erwiderte der Commissaire. Ricardo fühlte sich bei einer so offenkundigen Sorglosigkeit entrüstet. Sogar Wethermill blickte überrascht. Hanaud schloss bloß die Tür wieder. „Oho, das Mädchen!“, sagte er. „Dann hat sie sich erholt!“ „Sie ist noch schwach“, sagte der Commissaire. „Aber ich dachte, dass es notwendig war, dass wir sofort eine Beschreibung von dem, was Célie Harland trug, als sie das Haus verließ, erlangen sollten. Ich sprach mit M. Fleuriot darüber und er gab mir die Erlaubnis, Hélène Vauquier hierher zu bringen, die alleine es uns sagen konnte. Ich brachte sie selbst hierher, bevor Sie kamen. Sie sah die Garderobe des Mädchens durch, um zu sehen, was fehlte. „War sie allein im Zimmer?“ „Nicht einen Augenblick“, sagte M. Besnard hochmütig. „Wirklich, Monsieur, wir sind nicht so ignorant in Bezug darauf, wie eine Angelegenheit dieser Art geführt werden sollte. Ich war selbst die ganze Zeit in dem Zimmer, mit meinem Blick auf ihr.“ „Das war direkt, bevor ich kam“, sagte Hanaud. Er ging sorglos zu dem offenen Fenster hinüber, das die Straße überblickte, und indem er sich hinauslehnte, schaute er die Straße hinauf zu der Ecke, um die er und seine Freunde
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gekommen waren, genau, wie der Commissaire es getan hatte. Dann drehte er sich zurück in das Zimmer. „Was war der letzte Schrank oder die letzte Schublade, die Hélène Vauquier berührte?“, fragte er. „Diese.“ Besnard bückte sich und zog die unterste Schublade eines Schranks heraus, der in der Laibung des Fensters stand. Ein hellfarbenes Kleid lag unten. „Ich sagte ihr, sie solle schnell sein“, sagte Besnard, „da ich gesehen hatte, dass sie kamen. Sie hob das Kleid heraus und sagte, dass da nichts fehlte. Also brachte ich sie zurück zu ihrem Zimmer und ließ sie bei der Krankenschwester.“ Hanaud hob das leichte Kleid aus der Schublade, schüttelte es vor dem Fenster aus, drehte es herum, schnappte einen Zipfel davon und hielt es an seine Augen, und dann, indem er es schnell zusammenfaltete, legte er es in die Schublade. „Nun zeigen Sie mir die erste Schublade, die sie berührte.“ Und dieses Mal hob er einen Unterrock heraus, und indem er ihn zum Fenster nahm, untersachte er ihn mit größerer Sorgfalt. Als er fertig damit war, reichte er ihn Ricardo, um ihn wegzulegen, und stand für ein oder zwei Augenblicke nachdenklich und in Gedanken versunken da. Ricardo wiederum untersuchte den Unterrock. Aber er konnte nichts Ungewöhnliches sehen. Es war ein attraktiver Unterrock, zart mit Fransen und Spitzen, aber er war kaum eine Sache, um darüber nachdenklich zu werden. Er blickte verwirrt auf und sah, dass Hanaud seine Ermittlungen mit einem amüsierten Lächeln beobachtete. „Wenn M. Ricardo das weggelegt hat“, sagte er, „werden wir hören, was Hélène Vauquier uns zu sagen hat.“ Er ging endlich aus der Tür, und nachdem er sie versperrt hatte, steckte er den Schlüssel in seine Tasche. „Hélène Vauquiers Zimmer ist, denke ich, oben“, sagte er. Und ging zur Treppe. Aber als er es tat, schritt ein Mann in Zivil, der auf dem Treppenabsatz gewartet hatte, vorwärts. Er trug in seiner Hand ein Stück dünne, starke Peitschenschnur. 46
„Ah, Durette“, rief Besnard. „Monsieur Hanaud, ich schickte heute Morgen Durette in die Geschäfte von Aix mit der Schnur, die wir um Mme. Dauvrays Hals geknotet fanden.“ Hanaud nährte sich schnell dem Mann. „Gut! Entdeckten Sie etwas?“ „Ja, Monsieur“, sagte Durette. „Im Geschäft von M. Corval n der Rue du Casino kaufte eine junge Dame in einem dunkelgrauen Kleid und Hut etwas Schnur dieser Art gestern Abend, ein paar Minuten nach neun. Es war gerade, als das Geschäft geschlossen wurde. Ich zeigte Corval die Fotografie von Célie Harland, die mir M. le Commissaire aus Mme. Dauvrays Zimmer gab, und er identifizierte sie als das Porträt des Mädchens, das die Schnur gekauft hatte.“ Völlige Stille folge auf Durettes Worte. Die ganze Gruppe stand wie betäubte Männer da. Niemand blickte zu Wethermill; sogar Hanaud wandte seine Augen ab. „Ja, das ist sehr wichtig“, sagte er unbeholfen. Er wandte sich ab und ging, gefolgt von den anderen, die Treppe zu Schlafzimmer von Hélène Vauquier hinauf.
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Kapitel VI Hélène Vauquiers Beweis Eine Krankenschwester öffnete die Tür. Im Zimmer lehnte Hélène Vauquier in einem Stuhl zurück. Sie sah krank aus und ihr Gesicht war sehr weiß. Beim Erscheinen von Hanaud, dem Commissaire und den anderen jedoch stand sie auf. Ricardo erkannte die Rechtmäßigkeit von Hanauds Beschreibung. Sie stand vor ihnen als große Frau mit harten Gesichtszügen von fünfunddreißig oder vierzig, in einem netten schwarzen Stoffkleid, stark mit der Kraft einer Bäuerin, achtbar und vertrauenswürdig. Sie sah aus, was sie gewesen war, das vertraute Dienstmädchen einer älteren Frau. Auf ihrem Gesicht war nun der Anblick der eifrigen Berufung. „Oh, Monsieur!“, begann sie, „lassen Sie mich von hier ‐ irgendwohin ‐ gehen, ins Gefängnis, wenn Sie wollen. Aber hier zu bleiben ‐ wo wir in vergangenen Jahren so glücklich waren ‐ und mit Madame, die im Zimmer darunter liegt. Nein, es ist unerträglich.“ Sie sank in ihren Stuhl und Hanaud kam herüber an ihre Seite. „Ja, ja“, sagte er mit beruhigender Stimme. „Ich kann Ihre Gefühle verstehen, meine arme Frau. Wir werden Sie nicht hier behalten. Sie haben vielleicht Freunde in Aix, bei denen Sie bleiben könnten?“ „Oh ja, Monsieur!“, rief Hélène dankbar. „Oh, aber ich danke Ihnen! Dass ich heute Nacht hier hätte schlafen sollen! Oh, wie die Furcht davor mich verängstigt hat!“ „Sie hätten solche Furcht nicht haben sollen. Immerhin sind wir nicht die Gäste letzter Nacht“, sagte Hanaud und zog einen Stuhl nahe zu ihr und tätschelte mitfühlend ihre Hand. „Nun will ich, dass Sie diesen Gentlemen und mich alles, was Sie von dieser schrecklichen Angelegenheit wissen, erzählen. Nehmen Sie sich Zeit, Mademoiselle! Wir sind menschlich!“ „Aber, Monsieur, ich weiß nichts“, rief sie. „Mir wurde gesagt, dass ich, sobald ich Mlle. Célie für die Séance angekleidet hätte, zu Bett gehen könnte.“ „Séance!“, rief Ricardo erschrocken. Das Bild des Versammlungssaals in Leamington war wieder in seinem Kopf. Aber Hanaud wandte sich ihm zu, und 48
obwohl Hanauds Gesicht seinen wohlwollenden Ausdruck behielt, war ein Glitzern in seinen Augen, was das Blut in Ricardos Gesicht trieb. „Sprachen Sie wieder, M. Ricardo?“, fragte der Kriminalbeamte. „Nein? Ich dachte, es wäre nicht möglich.“ Er wandte sich zurück an Hélène Vauquier. „Also übte Mlle. Célie Séancen aus. Das ist sehr merkwürdig. Wir werden darüber hören. Wer weiß, was für eine Spur uns zu der Wahrheit führen mag?“ Hélène Vauquier schüttelte ihren Kopf. „Monsieur, es ist nicht richtig, dass Sie die Wahrheit von mir suchen sollten. Denn bedenken Sie dies! Ich kann nicht mit Gerechtigkeit von Mlle. Célie sprechen. Nein, ich kann es nicht! Ich mochte sie nicht. Ich war eifersüchtig ‐ ja, eifersüchtig. Monsieur, Sie wollen die Wahrheit ‐ ich hasste sie!“ Und das Gesicht der Frau wurde rot und sie umklammerte mit ihrer Hand den Arm ihres Stuhls. „Ja, ich hasste sie. Was konnte ich dagegen tun?“, fragte sie. „Warum?“, fragte Hanaud freundlich. „Warum konnten Sie nichts dagegen tun?“ Hélène Vauquier lehnte sich wieder zurück, ihre Kraft erschöpft, und lächelte matt. „Ich werde es Ihnen sagen. Aber merken Sie sich, es ist eine Frau, die mit Ihnen spricht, und Dinge, die Sie für albern und trivial halten werden, bedeuten für Sie sehr viel. Da war ein Abend letzten Juni ‐ nur letzten Juni! Man denke daran! Vor so wenig Zeit gab es keine Mlle. Célie ...“, und als Hanaud seine Hand hob, sagte sie eilig. „Ja, ja; ich werde mich beherrschen. Aber jetzt an Mme. Dauvray zu denken!“ Und daraufhin platzte sie mit ihrer Geschichte heraus und erklärte Mr. Ricardo die Frage, die ihn so verwirrt hatte, wie ein Mädchen mit so viel hervorragenden Eigenschaften wie Celia Harland dazu kam, bei einer Frau von einem so allgemeinen Typ wie Mme. Dauvray zu leben. „Also, eines Abends im Juni“, sagte Hélène Vauquier, „ging Madame mit einer Gesellschaft zum Abendessen in das Abbaye Restaurant in Montmartre. Und sie brachte zum ersten Mal Mlle. Célie nach Hause. Aber Sie hätten sie sehen sollen! Sie hatte einen kleinen karierten Rock und einen Mantel an, der zerfiel, und sie war ausgehungert ‐ ja, ausgehungert. Madame erzählte mir die 49
Geschichte an diesem Abend, als ich sie entkleidete. Mlle. Célie war dort und tanzte inmitten der Tische für ein Abendessen mit allen, die freundlich genug waren, mit ihr zu tanzen.“ Der Hohn ihrer Stimme klang durch den Raum. Sie war die unbeugsame, achtbare Bauersfrau, die ihre Verachtung heraussprach. Und Wethermill muss zuhören. Ricardo wagte nicht, ihn anzublicken. „Aber kaum jemand wollte mit ihr in ihren Lumpen tanzen, und niemand wollte ihr zu essen geben, außer Madame. Madame tat es. Madame hörte ihrer Geschichte über Hunger und Kummer zu. Madame glaubte ihr und brachte sie nach Hause. Madame war so freundlich, so sorglos in ihrer Freundlichkeit. Und nun liegt sie ermordet als Belohnung da!“ Ein hysterisches Schluchzen unterbrach die Äußerungen der Frau und Gesicht begann zu arbeiten, ihre Hände zu zucken. „Kommen Sie, kommen Sie!“, sagte Hanaud freundlich, „beruhigen Sie sich, Mademoiselle!“ Hélène Vauquier hielt für ein oder zwei Augenblicke inne, ihre Fassung wiederzuerlangen. „Ich bitte um Verzeihung, Monsieur, aber ich bin so lange bei Madame gewesen ‐ oh, die arme Frau! Ja, ja, ich werde mich beruhigen. Also, Madame brachte sie nach Hause und in einer Woche war nichts zu gut für Mlle. Célie. Madame war wie ein Kind. Immer wurde sie betrogen und ihr wurde etwas aufgezwungen. Niemals lernte Sie Besonnenheit. Aber niemand machte so schnell den Weg zu Madames Herz wie Mlle. Célie. Mademoiselle muss bei ihr wohnen. Mademoiselle muss von den ersten Modisten eingekleidet werden. Mademoiselle muss Spitzenunterröcke und die weichste Unterwäsche, lange weiße Handschuhe und hübsche Bänder für ihr Haar und Hüte von Caroline Réboux zu zwölfhundert Francs haben. Und Madames Dienstmädchen muss sie bedienen und sie mit all diesen exquisiten Sachen herausputzen. Pah!“ Vauquier saß aufrecht in ihrem Stuhl, heftig, fast hasserfüllt vor Wut. Sie sah auf die Gesellschaft und zuckte mit ihren Achseln. „Ich sagte Ihnen, dass Sie nicht zu mir kommen sollten!“, sagte sie. „Ich kann nicht unparteiisch sprechen, oder sogar freundlich von Mademoiselle. Bedenken Sie! Seit Jahren bin ich mehr als Madams Dienstmädchen gewesen ‐ 50
ihre Freundin; ja, sie war liebenswürdig genug, mich so zu nennen. Sie redete mit mir über alles, zog mich bei allem zurate, nahm mich überallhin mit. Dann bringt sie um zwei Uhr morgens ein junges Mädchen mit einem frischen, hübschen Gesicht aus einem Montmartre‐Restaurant nach Hause, und in einer Woche bin ich überhaupt nichts ‐ oh, außer nichts ‐ und Mademoiselle ist Königin.“ „Ja, es ist ganz natürlich“, sagte Hanaud mitfühlend. „Sie wären nicht menschlich gewesen, Mademoiselle, wenn Sie nicht Zorn gefühlt hätten. Aber erzählen Sie uns offen über diese Séancen. Wie begannen sie?“ „Oh, Monsieur“, antwortete Vauquier, „es war nicht schwierig, sie zu beginnen. Mme. Dauvray hatte eine Leidenschaft für Wahrsager und Gauner dieser Art. Jeder mit einem Kartenspiel und Unsinn über eine gefährliche Frau mit schwarzem Haar oder einem Mann mit einem Hinken ‐ Monsieur kennt die Geschichten, die sie in matt erleuchteten Räumen aneinanderreihen, um die Leichtgläubigen zu betrügen ‐ jeder hätte aus Madames Aberglauben ernten können. Aber Monsieur kennt den Typ.“ „Tatsächlich tue ich das“, sagte Hanaud mit einem Lachen. „Also, nachdem Mademoiselle drei Wochen bei uns gewesen war, sagte sie eines Morgens zu mir, als ich sie frisierte, dass es schade wäre, dass Madame immer zu Wahrsagern rannte, dass sie selbst etwas Beeindruckenderes und Bemerkenswerteres könne, und dass, wenn ich ihr nur helfen würde, wir Madame vor ihren Klauen retten könnten. Sir, ich dachte nicht, was für eine Macht ich in Mlle. Célies Hände legte, oder ich hätte sicher abgelehnt. Und ich wünschte nicht, mit Mlle. Célie zu streiten; daher stimmte ich zum einen zu, und sobald ich zugestimmt hatte, konnte ich hinterher niemals ablehnen, denn wenn ich es hätte, hätte Mademoiselle eine feine Ausrede über den psychischen Einfluss gemacht, nicht en rapport zu sein, und hätte mich in der Zwischenzeit fortgeschickt. Wenn ich die Wahrheit gegenüber Madame zugegeben hätte, wäre sie so wütend gewesen, dass ich ein Teil war, sie reinzulegen, dass ich wiederum meine Stelle verloren hätte. Und so gingen die Séancen weiter.“
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„Ja“, sagte Hanaud. „Ich verstehe, dass Ihre Position sehr schwierig war. Wir werden, denke ich“, und er wandte sich zuversichtlich um Bekräftigung seiner Worte an den Commissaire, „nicht geneigt sein, Sie zu tadeln.“ „Gewiss nicht“, sagte der Commissaire. „Immerhin ist das Leben nicht so leicht.“ „So also begannen die Séancen“, sagte Hanaud und lehnte sich mit einem scharfen Interesse nach vor. „Das ist eine merkwürdige und eigenartige Geschichte, die Sie mir erzählen, Mlle. Vauquier. Nun, wie wurden sie abgehalten? Wie assistierten Sie? Was tat Mlle. Célie? Im Dunkeln auf die Tische klopfen und Tamburine rasseln, wie das eine mit den Bändern, das an der Wand des Salons hängt?“ Da war eine sanfte und einladende Ironie in Hanauds Ton. Mr. Ricardo war enttäuscht. Hanaud hatte das Tamburin nach allem nicht übersehen. Ohne Ricardos Grund, es zu bemerken, hatte er es nichtsdestoweniger betrachtet und sich eingeprägt. „Also?“, fragte er. „Oh, Monsieur, die Tamburine und das Klopfen auf dem Tisch!“, rief Hélène. „Das war nichts ‐ oh, aber überhaupt nichts. Mademoiselle Célie ließ Geister erscheinen und sprechen!“ „Wirklich! Und Sie wurde nicht überführt! Aber Mlle. Célie muss ein bemerkenswert kluges Mädchen gewesen sein.“ „Oh, sie war von einer Gewandtheit, die erstaunlich war. Manchmal waren Madame und ich allein. Manchmal waren da andere, die Madame in ihrem Stolz eingeladen hatte. Denn sie war sehr stolz, Monsieur, dass ihre Gesellschafterin sie mit den Geistern von toten Menschen bekannt machen konnte. Aber niemals wurde Mlle. Célie überführt. Sie erzählte mir, dass sie viele Jahre, sogar, als sie noch ein Kind war, durch England gereist war und diese Vorstellungen gab.“ „Oho!“, sagte Hanaud und er wandte sich an Wethermill. „Wussten Sie das?“, fragte er auf Englisch. „Wusste ich nicht“, sagte er. „Ich weiß es jetzt nicht.“ 52
Hanaud schüttelte seinen Kopf. „Für mich scheint diese Geschichte nicht erfunden zu sein“, erwiderte er. Und dann sprach er wieder auf Französisch zu Hélène Vauquier. „Also, fahren Sie fort, Mademoiselle! Nehmen wir an, die Gesellschaft ist für unsere Séance versammelt.“ „Dann, Mlle. Célie mit einem langen Kleid aus schwarzem Samt, das ihre weißen Arme und Schultern gut abhob ‐ oh, Mademoiselle vergaß diese Kleinigkeiten nicht“, unterbrach Hélène Vauquier ihre Geschichte, mit einer Rückkehr ihrer Bitterkeit, zu interpolieren ‐ „Mademoiselle segelte in das Zimmer mit ihrer Samtschleppe, die hinter ihr herwallte, und vielleicht für eine kleine Weile sagte sie, dass eine Macht gegen sie arbeitete und sie saß schweigend in einem Stuhl, während Madame Sie mit offenen Augen anstarrte. Endlich sagte Mademoiselle, dass die Mächte günstig seien und die Geister sich heute Nacht manifestieren würden. Dann wurde sie in einen Schrank gesetzt, vielleicht mit einer Schnur über die Tür draußen gebunden ‐ Sie werden verstehen, dass es meine Angelegenheit war, mich um die Schnur zu kümmern ‐ und die Lichter wurden runtergedreht oder vielleicht ganz ausgeschaltet. Oder ein anderes Mal saßen wir und hielten unsere Hände um einen Tisch herum, Mlle. Célie zwischen Mme. Dauvray und mir. Aber in diesem Fall wurden die Lichter zuerst abgedreht und es war wirklich meine Hand, die die von Mme Dauvray hielt. Und ob es der Schrank oder die Stühle waren, in einem Augenblick schlich Mademoiselle schweigend in dem Zimmer in einem Paar Pantoffeln mit weicher Sohle ohne Absätze herum, die sie trug, damit sie nicht gehört wurde, und Tamburine wurden gerasselt, wie Sie sagten, und Finger berührten die Stirn und den Hals und merkwürdige Stimmen ertönten aus Ecken des Zimmers und trübe Erscheinungen tauchten auf ‐ die Geister großer Damen der Vergangenheit, Mme. de Medici ‐ ich erinnere mich nicht an alle Namen, und sehr wahrscheinlich spreche ich sie nicht richtig aus. Dann hörten die Stimmen auf und die Lichter wurden aufgedreht und Mlle. Célie fand man in Trance genau an derselben Stelle und in derselben Haltung, wie sie es gewesen war, als die Lichter abgedreht wurden. Stellen Sie sich, Messieurs, die Wirkung solcher Séancen auf eine Frau wie Mme. Dauvray vor. Sie waren für sie gemacht. Sie glaubte bedingungslos daran. Die Worte der großen Damen aus der Vergangenheit ‐ sie erinnerte sich daran und wiederholte sie und war sehr stolz, dass so große Damen auf die Welt gekommen waren, nur um ihr ‐ 53
Mme. Dauvray ‐ über ihr Leben zu erzählen. Sie hätte den ganzen Tag Séancen gehabt, aber Mlle. Célie wandte ein, dass sie am Ende davon erschöpft war ‐ es wird Ihnen sehr absurd und lächerlich vorkommen, Gentlemen, aber Sie müssen sich erinnern, was Mme. Dauvray war ‐ zum Beispiel hatte Mme. Dauvray besonders Angst davor, mit dem Geist von Mme. de Montespan zu sprechen. Ja, ja! Sie hatte alle Memoiren über diese Dame gelesen. Sehr wahrscheinlich hatte Mlle. Célie den Floh in Mme. Dauvrays Ohr gesetzt, denn Madame war nicht gebildet. Aber sie schmachtete danach, die Stimme der berühmten Frau zu hören und einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Also, sie war nie befriedigt. Immer hoffte sie. Immer quälte Mlle. Célie mit der Hoffnung. Aber sie befriedigte sie nicht. Sie verdarb ihre feinen Angelegenheiten nicht, indem sie diesen Genuss zu alltäglich machte. Und sie erlangte ‐ wie sollte sie nicht? ‐ eine Macht über Mme. Dauvray, die unanfechtbar war. Die Wahrsager hatten Mme. Dauvray nichts mehr zu sagen. Sie beglückwünschte sich, was für ein Zufall ihr Mlle. Célie geschickt hatte. Und nun liegt sie ermordet in ihrem Zimmer!“ Wieder brach Hélènes Stimme bei den Worten. Aber Hanaud goss ihr ein Glas Wasser ein und hielt es an ihre Lippen. Hélène trank es begierig. „Da, das ist besser, nicht wahr?“, sagte er. „Ja, Monsieur“, sagte Hélène Vauquier, wobei sie sich erholte. „Manchmal“, fuhr sie fort, „flatterten Botschaften von den Geistern schriftlich auf den Tisch.“ „Schriftlich?“, rief Hanaud schnell aus. „Ja; Antworten auf Fragen. Mlle. Célie hatte sie bereit. Oh, aber sie waren von einer ganz und gar erstaunlichen Art.“ „Ich verstehe“, sagte Hanaud langsam; und er fügte hinzu: „Aber manchmal, vermute ich, waren die Fragen Fragen, die Mlle. Célie nicht beantworten konnte?“ „Manchmal“, gab Hélène Vauquier zu, „wenn Gäste anwesend waren. Wenn Mme. Dauvray alleine war ‐ also, sie war eine ignorante Frau und jede Antwort passte. Aber es war nicht so, wenn Gäste da waren, die Mlle. Célie nicht kannte oder nur geringfügig kannte. Diese Gäste stellten vielleicht Fragen, um sie zu prüfen, von denen sie die Antwort kannten, während Mlle. Célie es nicht tat.“ 54
„Genau“, sagte Hanaud. „Was geschah dann?“ Alle, die zuhörten, verstanden, zu welchem Punkt Hélène Vauquier geführt wurde. Alle warteten aufmerksam auf ihre Antwort. Sie lächelte. „Es war alles eins für Mlle. Célie.“ „Sie war mit einer Ausflucht aus der Schwierigkeit vorbereitet?“ „Perfekt vorbereitet.“ Hanaud blickte verwirrt. „Mir fällt keine Ausflucht ein, außer einer“, und er blickte sich um zu dem Commissaire und zu Ricardo, als ob er von ihnen fragen würde, wie viele Arten sie entdeckt hätten. „Mir fällt keine Ausflucht ein, außer dass eine schriftliche Nachricht von dem Geist, an dem man sich wandte, herabflattern sollte“, und Hanaud zuckte mit den Achseln, „,Ich weiß es nicht.‘“ „Oh nein, nein, Monsieur“, erwiderte Hélène Vauquier bedauernd über Hanauds falsche Auffassung. „Ich sehe, dass Sie nicht die Gewohnheit haben, Séancen beizuwohnen. Es würde für einen Geist nie gehen, zuzugeben, dass er es nicht weiß. Sofort wäre die Autorität fort und damit ebenso Mlle. Célie. Aber andererseits durfte der Geist vielleicht aus unerforschlichen Gründen nicht antworten. „Ich verstehe“, sagte Hanaud, der bescheiden die Berichtigung annahm. „Der Geist antwortet vielleicht, dass es verboten sei, zu antworten, aber niemals, dass er es nicht wisse.“ „Nein, das niemals“, sagte Hélène. So schien es, dass Hanaud woanders nach der Erklärung dieses Satzes suchen musste. „Ich weiß es nicht.“ Hélène fuhr fort: „Oh, Mlle. Célie ‐ es war nicht leicht, sie zu verwirren, kann ich Ihnen sagen. Sie trug ein Spitzenumhängetuch, das sie über ihren Kopf drapieren konnte, und in einem Augenblick würde sie in dem trüben Licht eine alte, alte Frau sein, mit einer so veränderten Stimme, dass niemand es wissen konnte. Tatsächlich sagten Sie richtigerweise, Monsieur ‐ sie war klug.“ Alle, die die Hélène Vauquiers Geschichte hörte, waren überzeugt. Mme. Dauvray erhob sich lebhaft vor ihrem geistigen Auge wie eine lebendige Frau. 55
Celias Gaunerei wurde so geschickt beschrieben, dass sie kaum hätte erfunden werden können, und sicher nicht von dieser armen Bäuerin, deren Lippen so tapfer mit Medici und Montespan und den Namen der anderen großen Damen kämpften. Wie, in der Tat, sollte sie überhaupt von ihnen wissen? Sie hätte nie die Inspiration haben können, sich das überzeugendste Detail ihrer Geschichte auszudenken ‐ die seltsame Manie von Mme. Dauvray für eine Unterredung mit Mme. de Montespan. Diese Einzelheiten waren sicher die Wahrheit. Ricardo wusste tatsächlich, dass es die Wahrheit war. Hätte er nicht selbst das Mädchen in ihrem schwarzen Samtkleid in einen Schrank eingesperrt und eine große Dame aus der Vergangenheit in der Dunkelheit erscheinen gesehen? Überdies war Hélène Vauquiers Eifersucht so natürlich und zwangsläufig. Ihr Bekenntnis darüber erhärtete ihre ganze Geschichte. „Nun denn“, sagte Hanaud, „wir kommen zur letzten Nacht. Es wurde eine Séance im Salon letzte Nacht abgehalten.“ „Nein, Monsieur“, sagte Vauquier und schüttelte ihren Kopf; „es gab letzte Nacht keine Séance.“ „Aber Sie haben schon gesagt ...“, unterbracht der Commissaire; und Hanaud hielt seine Hand hoch. „Lassen Sie sie sprechen, mein Freund.“ „Ja, Monsieur soll hören“, sagte Vauquier. Es schien, dass um fünf Uhr am Nachmittag Mme. Dauvray und Mlle. Célie sich vorbereiteten, das Haus zu Fuß zu verlassen. Es war ihr Brauch, zu dieser Stunde zur Villa des Fleurs hinunterzugehen, dort ungefähr eine Stunde zu verbringen, in einem Restaurant zu Abend zu essen und zu den Spielräumen zurückzukehren, um den Abend zu verbringen. Bei dieser Gelegenheit jedoch informierte Mme. Dauvray Hélène, dass sie früh zurück sein und eine Freundin mitbringen würden, die an spiritistische Manifestationen interessiert, aber gänzlich skeptisch darüber war. „Aber wir werden sie heute Nacht überzeugen, Célie“, sagte sie zuversichtlich; und die beiden Frauen gingen dann aus. Kurz vor acht schloss Hélène die Fensterläden sowohl von den Fenstern oben als auch von den Fenstern unten und die Glastüren in den Garten hinaus und kehrte zur Küche zurück, die hinten im Haus war ‐ das heißt, auf der Seite, die 56
auf die Straße blickte. Es hatte um sieben geregnet, was den Großteil der Stunde andauerte, und bald, nachdem sie die Fenster geschlossen hatte, fiel der Regen wieder in einem schweren Schauer, und Hélène, die wusste, dass Madame die Kälte fühlte, zündete ein kleines Feuer im Salon an. Der Schauer dauerte bis fast neun, als er ganz und gar aufhörte, und die Nacht klarte auf. Es war fast halb zehn, als die Glocke aus dem Salon läutete. Vauquier war sich über die Stunde sicher, denn die Putzfrau lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Uhr. „Ich fand Mme. Dauvray, Mlle. Célie und noch eine Frau im Salon“, fuhr Hélène Vauquier fort. „Madame hatte sie mit ihrem Hausschlüssel hereingelassen.“ „Ah, die andere Frau!“, rief Besnard. „Hatte Sie sie vorher gesehen?“ „Nein, Monsieur.“ „Wie war sie?“ „Sie war blässlich, mit schwarzem Haar und hellen Augen wie Glasperlen. Sie war klein und ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, obwohl es schwierig ist, diese Dinge zu beurteilen. Ich bemerkte ihre Hände, denn sie zog ihre Handschuhe aus, und sie schienen mir für eine Frau ungewöhnlich muskulös zu sein.“ „Ah!“, rief Louis Besnard. „Das ist wichtig.“ „Mme. Dauvray war, wie sie immer vor einer Séance war, in einer fieberhaften Aufregung. ‚Sie werden Mlle. Célie helfen, sich anzukleiden, Hélène, und seien Sie sehr schnell‘, sagte sie; und mit einer ungewöhnlichen Sehnsucht fügte sie hinzu: ‚Vielleicht werden wir sie heute Abend sehen.‘ Sie, verstehen Sie, war Mme. de Montespan. Und sie wandte sich an die Fremde und sagte: ‚Sie werden glauben, Adèle, nach heute Nacht.‘ „Adèle!“, sagte der Commissaire wissend. „Dann war Adèle der Name der fremden Frau?“ „Vielleicht“, sagte Hanaud trocken. Hélène Vauquier überlegte. „Ich denke, Adèle war der Name“, sagte sie mit zweifelnderem Tonfall. „Es klang wie Adèle.“ 57
Der unbezähmbare Mr. Ricardo war genötigt, sich einzumischen. „Was Monsieur Hanaud meint“, erklärte er mit der angenehmen Art eines Mannes, der glücklich war, die dunkle Intelligenz eines Kindes zu erhellen, „ist, dass Adèle wahrscheinlich ein Pseudonym war.“ Hanaud wandte sich mit einem wilden Grinsen an ihn. „Nun, das wird ihr sicher helfen!“, rief er. „Ein Pseudonym! Hélène Vauquier wird dieses einfache und grundlegende Wort verstehen. Wie klug dieser M. Ricardo ist! Wo werden wir eine neue Stecknadel, die klüger ist, finden? Ich frage Sie“, und er breitete seine Hände in verzweifelter Bewunderung aus. Mr. Ricardo errötete, aber er antwortete niemals ein Wort. Er musste höhnische Bemerkungen und Demütigungen wie ein Schuljunge in einer Klasse ertragen. Seine einzige beständige Furcht war, dass er nicht aus dem Zimmer verwiesen wurde. Der Commissaire lenkte den Zorn von ihm jedoch ab. „Was er mit Pseudonym meint“, sagte er zu Hélène Vauquier, wobei er ihr Mr. Ricardo erklärte wie Mr. Ricardo sich erlaubt hatte, Hanaud zu erklären, „ist ein falscher Name, ein falscher Name, der von dieser fremden Frau angenommen wurde.“ „Adèle, denke ich, war der Name, der benutzt wurde“, erwiderte Hélène, der Zweifel in ihrer Stimme verringerte sich, als sie ihr Gedächtnis durchsuchte. „Ich bin fast sicher.“ „Also, wir werden sie Adèle nennen“, sagte Hanaud ungeduldig. „Was spielt es für eine Rolle? Fahren Sie fort, Mademoiselle Vauquier.“ „Die Dame saß aufrecht und vierschrötig auf dem Rand eines Stuhls, mit einer Art Trotz, als ob sie entschlossen wäre, dass nichts sie überzeugen sollte, und sie lachte ungläubig.“ Hier wieder konnten alle, die hörten, sich lebhaft die Szene vorstellen ‐ die trotzige Skeptikerin, die vierschrötig auf dem Rand ihres Stuhls saß, ihre Handschuhe von ihren muskulösen Händen zog; die aufgeregte Mme. Dauvray, so vertieft in der Entschlossenheit, zu überzeugen; und Mlle. Célie, die aus dem Zimmer rannte, um das schwarze Kleid anzuziehen, das in dem matten Licht nicht sichtbar sein würde. 58
„Während ich Mademoiselles Kleid abnahm“, fuhr Vauquier fort, „sagte sie: ‚Wenn ich zu dem Salon hinuntergegangen bin, können Sie zu Bett gehen, Hélène. Mme. Adèle‘ ‐ ja, es war Adèle ‐ ‚wird von einem Freund in einem Wagen abgeholt und ich kann sie hinauslassen und die Tür wieder verschließen. Daher, wenn Sie den Wagen hören, werden Sie wissen, dass er um sie gekommen ist.‘“ „Oh, sie sagte das!“, sagte Hanaud schnell. „Ja, Monsieur!“ Hanaud blickte düster zu Wethermill. Dann tauschte er einen scharfen Blick mit dem Commissaire aus und bewegte seine Schultern in einem fast unmerklichen Schulterzucken. Aber Mr. Ricardo sah es und deutete es in einem Wort. Er stellte sich Geschworene vor, die das Wort „Schuldig“ sagten. Hélène Vauquier sah auch die Bewegung. „Urteilen Sie sie nicht zu schnell, Monsieur“, sagte sie mit einem Impuls der Reue. „Und nicht wegen meiner Worte. Denn, wie ich sage, ich ‐ hasste sie.“ Hanaud nickte beruhigend und sie fuhr fort: „Ich war überrascht und ich fragte Mademoiselle, was sie ohne ihre Verbündete tun würde. Aber sie lachte und sagte, es würde keine Schwierigkeit geben. Das ist teilweise, warum ich glaube, dass letzte Nacht keine Séance abgehalten wurde. Monsieur, da war ein Ton in ihrer Stimme an diesem Abend, den ich erst jetzt verstand. Mademoiselle nahm dann ihr Bad, während ich ihr schwarzes Kleid und die Pantoffeln mit den weichen, leisen Sohlen herauslegte. Und nun sage ich Ihnen, warum ich sicher bin, dass es letzte Nacht keine Séance gab ‐ warum Mlle. Célie nie vorhatte, dass es eine geben sollte.“ „Ja, lassen Sie uns das hören“, sagte Hanaud neugierig und lehnte sich vor, mit seinen Händen auf seinen Knien. „Sie haben hier, Monsieur, eine Beschreibung, wie Mademoiselle gekleidet war, als sie wegging.“ Hélène Vauquier hob ein Blatt Papier vom Tisch an ihrer Seite auf. „Ich schrieb es auf die Bitte von M. le Commissaire auf.“ Sie reichte Hanaud das Papier, der es überflog, als sie fortfuhr. „Also, abgesehen von dem weißen Spitzenmantel, Monsieur, kleidete ich Mlle. Célie genau auf diese Art. 59
Sie wollte ihr einfaches schwarzes Gewand nicht haben. Nein, Mlle. Célie muss ihr feines neues Abendkleid aus blassem resedagrünem Chiffon über weichem anhaftendem Satin haben, was ihre helle Schönheit so hübsch hervorhob. Es ließ ihre weißen Arme und Schultern bloß und hatte eine lange Schleppe und raschelte, wenn sie sich bewegte. Und damit muss sie ihre blassgrünen Seidenstrümpfe anziehen, ihre neuen kleinen Satinpantoffeln, die dazupassen, mit den großen aufgeklebten Schnallen ‐ und eine Schärpe aus grünem Satin durch eine andere glitzernde Schnalle an der Seite der Taille, mit langen Enden lose an den Knien zusammengeknotet. Ich muss ihr blondes Haar mit einem silbernen Band binden und auf ihre Locken einen großen Hut aus Resedagrün mit einer goldbraunen Straußenfeder, die hinten herabhing, stecken. Ich warnte Mademoiselle, dass ein winziges Feuer im Salon brannte. Sogar mit dem Feuerschirm davor würde es noch immer ein kleines Licht auf dem Boden geben, und die glitzernden Schnallen auf ihren Füßen würden sie verraten, auch wenn das Rascheln ihres Kleides es nicht täte. Aber sie sagte, sie würde ihre Pantoffeln heruntertreten. Ah, Gentlemen, es ist trotzdem nicht so, dass man sich für eine Séance kleidet“, rief sie und schüttelte ihren Kopf. „Aber es ist einfach so ‐ nicht wahr? ‐ dass man sich kleidet, um einen Liebhaber zu treffen.“ Die Bemerkung erschreckte jeden, der sie hörte. Sie nahm Mr. Ricardos Atem. Wethermill schritt vorwärts mit einem Schrei der Empörung. Der Commissaire rief bewundern aus: „Aber hier ist eine Idee!“ Sogar Hanaud setzte sich in seinem Stuhl zurück, obwohl sein Ausdruck nichts an seiner Teilnahmslosigkeit verlor, und seine Augen wandten sich nie von Hélène Vauquiers Gesicht ab. „Hören Sie!“, fuhr sie fort. „Ich werde Ihnen sagen, was ich denke. Es war meine Gewohnheit, etwas Sirup und Limonade und einige kleine Kuchen in das Esszimmer zu stellen, das, wie Sie wissen, auf der anderen Seite des Hauses über die Diele ist. Ich halte es für möglich, Messieurs, dass, während Mlle. Célie ihr Kleid wechselte, Mme. Dauvray und die Fremde, Adèle, in das Esszimmer gingen. Nun denn, angenommen, Mlle. Célie hatte einen Liebhaber warten, mit dem sie vorhatte davonzulaufen. Sie eilt durch den Salon, öffnet die Glastüren und ist fort, wobei sie die Türen offen lässt. Und der Dieb, ein Komplize von Adéle, findet die Türen offen und versteckt sich in dem Salon, bis Mme. Dauvray aus dem Esszimmer zurückkehrt. Sie sehen, das lässt Mlle. Célie unschuldig.“ 60
Vauquier lehnte sich begierig nach vor, ihr weißes Gesicht errötet. Es war einen Augenblick still und dann sagte Hanaud: „Das ist alles sehr gut, Mlle. Vauquier. Aber es erklärt nicht den Spitzenmantel, in dem das Mädchen fortging. Sie muss in ihr Zimmer zurückgekehrt sein, um den zu holen, nachdem Sie zu Bett gegangen waren.“ Hélène Vauquier lehnte sich mit einer enttäuschten Miene zurück. „Das ist wahr. Ich hatte den Mantel vergessen. Ich mochte Mlle. Célie nicht, aber ich bin nicht boshaft ...“ Auch nicht die Tatsache, dass der Sirup und die Limonade im Esszimmer nicht angerührt worden waren“, sagte der Commissaire, indem er sie unterbrach. Wieder breitete sich die Enttäuschung über Vauquiers Gesicht aus. „Stimmt das?“, fragte sie. „Ich wusste es nicht ‐ ich bin hier als Gefangene gehalten worden.“ Der Commissaire unterbrach sie mit einem zufriedenen Schrei. „Hören Sie! Hören Sie!“, rief er aufgeregt aus. „Hier ist eine Theorie, die alles erklärt, was Vauquiers Idee mit unserer verbindet, und Vauquiers Idee ist, denke ich, sehr berechtigt bis zu einem Punkt. Angenommen, M. Hanaud, dass das Mädchen ging, um ihren Liebhaber zu treffen, aber der Liebhaber der Mörder ist. Dann wird alles klar. Sie rennt nicht davon zu ihm; sie öffnet die Tür für ihn und lässt ihn herein.“ Sowohl Hanaud als auch Ricardo stahlen einen Blick zu Wethermill. Wie nahm er die Theorie auf? Wethermill lehnte sich an die Wand, seine Augen geschlossen, sein Gesicht weiß und verzerrt vor Schmerzen. Aber er hatte die Miene eines Mannes, der schweigend lieber eine Gräueltat ertrug als von der Überzeugung außer Gefecht gesetzt zu werden, dass die Frau, die er liebte, wertlos war. „Es steht mir nicht zu, es zu sagen, Monsieur“, fuhr Hélène Vauquier fort. „Ich sage Ihnen nur, was ich weiß. Ich bin eine Frau und es wäre für ein Mädchen sehr schwierig, das begierig ihren Liebhaber erwartete, so zu handeln, dass eine andere Frau es nicht wüsste. Wie unkultiviert und ignorant die andere Frau wäre, all diese Ereignisse würde sie kennen. Die Kenntnis würde sich von 61
selbst zu ihr ausbreiten, ohne ein Wort. Bedenken Sie, Gentlemen!“ Und plötzlich lächelte Hélène Vauquier. „Ein junges Mädchen, das vor Erregung von Kopf bis Fuß prickelt, begierig, dass ihre Schönheit gerade in diesem Augenblick frischer sein sollte, süßer als sie je war, sorgfältig, dass ihr Kleid sie exquisit hervorheben sollte. Stellen Sie es sich vor! Ihre Lippen bereit für den Kuss! Oh, wie sollte eine andere Frau es nicht wissen? Ich sah Mlle. Célie, ihre rosigen Wangen, ihre leuchtenden Augen. Niemals hatte sie so hübsch ausgesehen. Der blassgrüne Hut auf ihrem blondem Kopf schwer mit seinen Locken! Von Kopf bis Fuß sah sie sich an und dann seufzte sie ‐ sie seufzte vor Vergnügen, weil sie so hübsch aussah. Das war Mlle. Célie letzte Nacht, Monsieur. Sie raffte ihre Schleppe hoch, nahm ihre langen weißen Handschuhe in die andere Hand und rannte die Treppe hinunter, wobei ihre Absätze auf dem Holz klapperten, ihre Schnallen glitzerten. Unten drehte sie sich um und sagte zu mir: ‚Erinnern Sie sich, Héléne, Sie können zu Bett gehen.‘ Das war es, Monsieur.“ Und nun brach heftig der Groll von Hélène Vauquiers Gefühlen wieder heraus. „Für sie die feinen Kleider, das Vergnügen und das Glück. Für mich ‐ ich konnte zu Bett gehen!“ Hanaud blickte wieder auf die Beschreibung, die Hélène Vauquier aufgeschrieben hatte, und las sie gründlich durch. Dann stellte er eine Frage, von der Ricardo nicht ganz den Gedankengang verstand. „Also“, sagte er, „als Sie heute Morgen Monsieur le Commissaire vorschlugen, dass es für Sie ratsam wäre, Mlle. Célies Garderobe durchzugehen, fanden Sie, dass nicht mehr weggenommen wurde als der weiße Spitzenmantel?“ „Das stimmt.“ „Sehr gut. Nun, nachdem Mlle. Célie die Treppe hinuntergegangen war ...“ „Ich machte die Lichter in ihrem Zimmer aus, und wie sie mir befohlen hatte, ging ich zu Bett. Das Nächste, woran ich mich erinnere ‐ aber nein! Es entsetzt mich zu sehr, daran zu denken.“ Hélène schauderte und bedeckte ihr Gesicht krampfartig mit ihren Händen. Hanaud zog ihre Hände sanft hinunter. „Mut! Sie sind jetzt sicher, Mademoiselle. Beruhigen Sie sich!“ 62
Sie legte sich mit geschlossenen Augen zurück. „Ja, ja; es ist wahr. Ich bin jetzt sicher. Aber oh! Ich fühle, dass ich nie wagen werde, wieder zu schlafen!“ Und die Tränen schwammen in ihren Augen. „Ich erwachte mit einem Gefühl, erstickt zu sein. Mon Dieu! Da brannte das Licht im Zimmer und eine Frau, die fremde Frau mit den starken Händen, hielt mich bei den Schultern hinunter, während ein Mann, mit seiner Kappe über seine Augen gezogen und einem kleinen schwarzen Schnurrbart, ein Kissen über meine Lippen drückte, aus dem ein schrecklich süßer und krankmachender Geschmack meinen Mund füllte. Oh, ich war erschrocken! Ich konnte nicht schreien. Ich wehrte mich. Die Frau sagte mir grob, ruhig zu sein. Aber ich konnte nicht. Ich musste mich wehren. Und dann mit einer unerhörten Brutalität zog sie mich auf meine Knie, während der Mann ständig das Kissen über meinen Mund hielt. Der Mann hielt mich mit dem Arm, der frei war, fest an sich und sie band meine Hände mit einer Schnur hinter mir. Schauen Sie!“ Sie streckte ihre Handgelenke nach vor. Sie waren schrecklich zerschrammt. Rote und entzündete Linien zeigten sich, wo die Schnur tief in ihr Fleisch geschnitten hatte. „Dann schleuderten sie mich wieder auf meinen Rücken und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist der Arzt, der über mir steht, und diese freundliche Krankenschwester, die mich stützte.“ Sie sank erschöpft zurück in ihren Stuhl und wischte ihre Stirn mit ihrem Taschentuch ab. Der Schweiß stand in Perlen. „Danke, Mademoiselle“, sagte Hanaud ernst. „Dies ist eine unangenehme Prüfung für Sie gewesen. Ich verstehe das. Aber wir kommen zum Ende. Ich will, dass Sie diese Beschreibung von Mlle. Célie wieder durchlesen, um sich zu vergewissern, das nichts ausgelassen wird.“ Er gab das Papier in die Hände des Dienstmädchens. „Sie wird bekannt gegeben, daher ist es wichtig, dass sie vollständig sein sollte. Sehen Sie, dass Sie nichts ausgelassen haben.“ Hélène Vauquier beugte ihren Kopf über das Papier. „Nein“, sagte Héléne schließlich. „Ich denke nicht, dass ich etwas ausgelassen habe.“ Und sie reichte das Papier zurück.
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„Ich fragte Sie“, fuhr Hanaud zuvorkommend fort, „weil ich verstehe, dass Mlle. Célie gewöhnlich ein paar Diamantenohrgehänge trug, und sie werden hier nicht erwähnt.“ Eine schwache Farbe kam in das Gesicht des Dienstmädchens. „Das ist wahr, Monsieur. Ich hatte es vergessen. Es ist ganz wahr.“ „Jeder könnte es vergessen“, sagte Hanaud mit einem beruhigenden Lächeln. „Aber Sie werden sich nun erinnern. Denken Sie nach! Denken sie nach! Trug Mlle. Célie sie gestern Abend?“ Er lehnte sich vorwärts und wartete auf ihre Antwort. Wethermill machte auch eine Bewegung. Beide Männer hielten den Punkt schließlich von großer Bedeutung. Das Mädchen blickte Hanaud für ein paar Augenblicke ohne zu sprechen an. „Es ist nicht von mir, Mademoiselle, dass Sie die Antwort bekommen werden“, sagte Hanaud ruhig. „Nein, Monsieur. Ich dachte nach“, sagte das Mädchen, wobei ihr Gesicht bei dem Tadel errötete. „Trug sie sie, als sie letzte Nacht die Treppe hinunterging?“, beharrte er. „Ich denke, sie trug sie“, sagte sie zweifelnd. „J‐j‐ja“, und die Worte kamen nun fest und deutlich. „Ich erinnere mich gut. Mlle. Célie hatte sie vor ihrem Bad abgenommen und sie lagen auf dem Toilettentisch. Sie steckte sie in ihre Ohren, während ich ihr Haar frisierte und die Schleife daran in Ordnung brachte.“ „Dann werden wir die Ohrringe ihrer Beschreibung hinzufügen“, sagte Hanaud, als er von seinem Stuhl mit dem Papier in seiner Hand aufstand, „und für den Augenblick müssen wir Sie nicht mehr wegen Mademoiselle Célie beunruhigen.“ Er faltete das Papier zusammen, schob es in seine Briefmappe und steckte sie in seine Tasche. „Denken wir an diese arme Madame Dauvray! Bewahrte sie viel Geld im Haus auf?“ „Nein, Monsieur; sehr wenig. Sie war in Aix gut bekannt und ihre Schecks wurden überall ohne Frage angenommen. Es war ein großes Vergnügen, Madame zu dienen, ihr Ansehen war so gut“, sagte Hélène Vauquier und hob ihren Kopf, als ob sie einen Anteil an dem Stolz dieses guten Ansehens hätte. 64
„Zweifellos“, stimme Hanaud zu. „Es gibt viele feine Haushalte, wo das Bankkonto überzogen ist, und es kann für die Dienerschaft nicht angenehm sein.“ „Sie unterliegen so vielen Änderungen, um es vor den Dienern ihrer Nachbarn zu verbergen“, sagte Hélène. „Außerdem“, und sie machte eine kleine verächtliche Grimasse, „ein feiner Haushalt und ein überzogenes Bankkonto ‐ es ist wie ein zerlumpter Unterrock unter einem Satinkleid. Das war bei Madame Dauvray nie der Fall.“ „Sodass sie nicht gezwungen war, Geld immer bereit in ihrer Tasche zu haben“, sagte Hanaud. „Ich verstehe das. Aber manchmal gewann sie sicher in der Villa des Fleurs?“ Hélène Vauquier schüttelte ihren Kopf. „Sie liebte die Villa des Fleurs, aber sie spielte nie um hohe Summen und spielte oft überhaupt nicht. Wenn sie ein paar Louisdor gewann, war sie über ihren Gewinn so entzückt und hatte Angst, ihn an den Tischen wieder zu verlieren, als ob sie von den Ärmsten wäre, und sie hörte sofort auf. Nein, Monsieur; zwanzig oder dreißig Louisdor ‐ es gab nie mehr als das im Haus.“ „Dann war es sicher wegen ihrer berühmten Schmucksammlung, dass Madame Dauvray ermordet wurde?“ „Sicher, Monsieur.“ „Nun, wo bewahrte sie ihren Schmuck auf?“ „In einem Safe in ihrem Schlafzimmer, Monsieur. Jede Nacht nahm sie ab, was sie getragen hatte, und sperrte es mit dem Rest ein. Sie war nie zu müde dafür.“ „Und was machte sie mit den Schlüsseln?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sicher sperrte sie die Ringe und Halsketten weg, während ich sie auskleidete. Und sie legte die Schlüssel auf den Toilettentisch oder auf das Kaminsims irgendwohin. Aber am Morgen waren die Schlüssel nicht länger dort, wo sie sie gelassen hatte. Sie hatte sie heimlich weggelegt.“
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Hanaud wandte sich einem anderen Punkt zu. „Ich vermute, dass Mademoiselle Célie von dem Safe wusste, und dass der Schmuck dort aufbewahrt wurde?“ „Oh ja! Mademoiselle war tatsächlich oft in Madame Dauvrays Zimmer, wenn sie an‐ oder ausgekleidet wurde. Sie muss oft gesehen haben, wie Madame ihn herausnahm und wieder einsperrte. Aber dann, Monsieur, ich auch.“ Hanaud nickte ihr mit einem freundlichen Lächeln zu. „Danke noch einmal, Mademoiselle“, sagte er. „Die Quälerei ist vorüber. Aber natürlich wird Monsieur Fleuriot ihre Anwesenheit verlangen.“ Hélène Vauquier blickte ängstlich zu ihm. „Aber in der Zwischenzeit kann ich aus dieser Villa gehen, Monsieur?“, flehte sie mit zitternder Stimme. „Gewiss; Sie sollen sofort zu Ihren Freunden gehen.“ „Oh, Monsieur, danke!“, rief sie und plötzlich gab sie nach. Die Tränen begannen aus ihren Augen zu strömen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte. „Es ist töricht von mir, aber was würden Sie tun?“ Sie stieß die Worte zwischen ihren Schluchzern hervor. „Es ist zu schrecklich geworden.“ „Ja, ja“, sagte Hanaud beruhigend. „Die Krankenschwester wird ein paar Sachen für Sie in einer Tasche zusammenpacken. Sie werden natürlich Aix nicht verlassen und ich werde jemanden mit Ihnen zu Ihren Freunden schicken.“ Das Mädchen erschrak gewaltig. „Oh, nicht einen sergent‐de‐ville, Monsieur, ich bitte Sie. Ich wäre blamiert.“ „Nein. Es soll ein Mann in einfacher Kleidung sein, um zu sehen, dass Sie von Reportern auf dem Weg nicht behindert werden.“ Hanaud wandte sich in Richtung Tür. Auf dem Toilettentisch lag eine Schnur. Er hob sie auf und sprach zur Krankenschwester. „War das die Schnur, mit der Hélène Vauquiers Hände gefesselt waren?“ „Ja, Monsieur“, erwiderte er. 66
Hanaud reichte sie dem Commissaire. „Es wird notwendig sein, das aufzubewahren“, sagte er. „Es war ein dünnes Stück starke Peitschenschnur. Es war dieselbe Art Schnur, wie die, die um Mme. Dauvrays Kehle gefunden worden war. Hanaud öffnete die Tür und drehte sich zurück zur Krankenschwester. „Wir werden für Mlle. Vauquier nach einer Droschke senden. Sie werden mit ihr zu ihrer Tür fahren. Ich denke, danach wird sie keine weitere Hilfe brauchen. Packen Sie ein paar Sachen zusammen und bringen sie sie herunter. Mlle. Vauquier kann zweifellos ohne Hilfe folgen.“ Und mit einem freundlichen Nicken verließ er das Zimmer. Ricardo hatte sich während der Ermittlung gefragt, in welchem Licht Hanaud Hélène Vauquier betrachtete. Er war mitfühlend, aber das Mitgefühl mochte nur angenommen worden sein, um zu täuschen. Seine Fragen verrieten in keiner Einzelheit seine Meinung. Nun drückte er sich jedoch deutlich aus. Er informierte die Krankenschwester auf eine möglichst einfache Weise, dass sie nicht länger als Gefängniswärter agieren sollte. Sie sollte Vauquiers Sachen hinunterbringen; aber Vauquier könnte alleine folgen. Offensichtlich war Hélène Vauquier frei von Schuld.
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Kapitel VII Eine erschreckende Entdeckung Harry Wethermill jedoch war nicht so leicht zufrieden. „Sicherlich, Monsieur, wäre es gut zu wissen, wohin sie geht“, sagte er, „und sich zu vergewissern, dass, wenn sie dorthin gegangen ist, sie dort bleiben wird ‐ bis wir sie wieder brauchen?“ Hanaud blickte den jungen Mann bedauernd an. „Ich kann verstehen, Monsieur, dass Sie über Hélène Vauquier starke Ansichten haben. Sie sind menschlich, wie der Rest von uns. Und was sie gerade jetzt zu uns gesagt hat, würde Sie nicht freundlicher machen. Aber ‐ aber ...“ und er zog vor, mit den Achseln zu zucken, statt seinen Satz mit Worten zu beenden. „Jedoch“, sagte er, „werden wir uns darum kümmern zu wissen, wo Hélène Vauquier wohnt. Wenn sie tatsächlich in dieser Angelegenheit verwickelt ist, werden wir mehr erfahren, wenn wir sie freilassen, als wenn wir sie hinter Schloss und Riegel halten. Sie verstehen das? Wenn wir sie ganz frei lassen, aber sie sehr, sehr sorgfältig beobachten, um keinen Verdacht zu erregen, wird sie vielleicht ermutigt, etwas Unbesonnenes zu tun ‐ oder vielleicht die anderen.“ Mr. Ricardo war mit Hanauds Begründung einverstanden. „Das ist ganz wahr“, sagte er. „Sie könnte einen Brief schreiben?“ „Ja, oder einen erhalten“, fügte Hanaud hinzu, „was für uns zufriedenstellender wäre ‐ vorausgesetzt natürlich, dass sie etwas mit dieser Angelegenheit zu tun hat“; und wieder zuckte er mit seinen Achseln. Er wandte sich an den Commissaire. „Sie haben einen diskreten Polizeibeamten, dem Sie vertrauen können?“, fragte er. „Sicher. Ein Dutzend.“ „Ich will nur einen.“ „Und hier ist er“, sagte der Commissaire. 68
Sie stiegen die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks wartete noch immer Durette, der Mann, der entdeckt hatte, wo die Schnur gekauft wurde. Hanaud nahm Durette auf die vertraute Art, die er so allgemein benutzte, beim Ärmel und führte ihn zum oberen Teil der Treppe, wo die beiden Männer für ein paar Augenblicke abgesondert standen. Es war offensichtlich, dass Hanaud eindeutige Anweisungen gab, die Durette erhielt. Durette stieg die Treppe hinunter; Hanaud kam zu den anderen zurück. „Ich habe ihm gesagt, er solle die Droschke holen“, sagte er, „und Hélène Vauquier zu ihren Freunden bringen soll.“ Dann blickte er zu Ricardo und von Ricardo zum Commissaire, während er seine Hand über sein rasiertes Kinn hin und her rieb. „Ich sage Ihnen“, sagte er, „ich finde dieses unheimliche kleine Drama sehr interessant für mich. Der gemeine, elende Kampf um die Herrschaft in diesem Haushalt von Mme. Dauvray ‐ äh? Ja, sehr interessant. Genauso viel Geduld, genauso viel Anstrengung, genauso viel Planung für dieses kleine Ende wie ein General braucht, um eine Armee zu besiegen ‐ und schließlich nichts erlangt. Was sonst ist Politik? Ja, sehr interessant.“ Seine Augen ruhten für einen Augenblick auf Wethermills Gesicht, aber sie gaben dem jungen Mann keine Hoffnung. Er nahm den Schlüssel aus seiner Tasche. „Wir müssen dieses Zimmer versperrt halten“, sagte er. „Wir wissen alles, was es zu wissen gibt.“ Und er steckte den Schlüssel in das Schloss von Celias Zimmer und drehte ihn um. „Aber ist das klug, Monsieur?“, sagte Besnard. Hanaud zuckte mit den Achseln. „Warum nicht?“, fragte er. „Der Fall ist in Ihrer Hand“, sagte der Commissaire. Für Ricardo schienen die Vorgehensweisen einzigartig regelwidrig zu sein. Aber wenn der Commissaire zufrieden war, stand es ihm nicht zu, Einwände zu erheben. „Und wo ist mein exzellenter Freund Perrichet?“, fragte Hanaud; und indem er sich über die Balustrade lehnte, rief er ihn von der Diele herauf. 69
„Wir werden jetzt“, sagte Hanaud, „einen Blick in das Zimmer dieser armen ermordeten Frau werfen.“ Das Zimmer war gegenüber von Celias. Besnard holte den Schlüssel heraus und sperrte die Tür auf. Hanaud nahm seinen Hut an der Schwelle ab und ging dann mit seinen Begleitern in das Zimmer. Auf dem Bett,umrissen unter einem Laken, lag die steife Form von Mme. Dauvray. Hanaud schritt behutsam zum Bett und deckte ehrfurchtsvoll das Gesicht ab. Für einen Augenblick konnten es alle sehen ‐ bläulich verfärbt, geschwollen, unmenschlich. „Ein brutales Geschäft“, sagte er mit leier Stimme, und als er sich wieder seinen Begleitern zuwandte, war sein Gesicht weiß und kränklich. Er legte das Laken zurück und blickte sich im Zimmer um. Es war im selben Stil tapeziert und möbliert wie der Salon unten, doch der Kontrast zwischen den beiden Zimmern war bemerkenswert. Unten im Salon war nur ein Stuhl umgeworfen worden. Hier war jedes Zeichen der Gewalt und Unordnung. Ein leerer Safe stand offen in einer Ecke; die Teppiche auf dem polierten Boden waren zur Seite geworfen worden; jede Schublade war herausgerissen worden, jeder Schrank aufgebrochen; das Bett war von seinem Platz geschoben worden. „Es war in diesem Safe, dass Madame Dauvray ihren Schmuck jede Nacht verstecke“, sagte der Commissaire, als sich Hanaud in dem Zimmer umsah. „Oh, war es so?“, fragte Hanaud langsam. Es schien Ricardo, dass er auch etwas in dem Anblick dieses Zimmers sah, das seinen Verstand beunruhigte und seine Verwirrtheit erhöhte. „Ja“, sagte Besnard zuversichtlich. „Jede Nacht sperrte Mme. Dauvray ihren Schmuck in diesen Safe. Vauquier erzählte es uns heute Morgen. Jede Nacht war sie nie zu müde dafür. Außerdem hier ‐“ und indem er seine Hand in den Safe legte, zog er ein Papier heraus ‐ „hier ist die Liste von Mme. Dauvrays Schmuckstücken.“ Hanaud war jedoch eindeutig nicht zufrieden. Er nahm die Liste und überflog die Gegenstände. Aber seine Gedanken waren damit nicht beschäftigt.
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„Wenn da so ist“, sagte er langsam, „wenn Mme. Dauvray ihren Schmuck in diesem Safe aufbewahrte, warum ist jede Lade durchwühlt worden, warum wurde das Bett verschoben? Perrichet, versperren Sie die Tür ‐ leise ‐ von innen. Das ist richtig. Nun lehnen sie sich dagegen.“ Hanaud wartete, bis er Perrichets breiten Rücken an der Tür sah. Dann ging er auf seine Knie, und indem er die Teppiche hin und her warf, untersuchte er mit der peinlichsten Sorgfalt den Parkettboden. Bei der Seite des Bettes war eine persische Matte aus blauer Seide ausgebreitet. Diese schob er schnell zur Seite. Er blickte zu Boden, lag ausgestreckt, bewegte sich hierhin und dorthin, um das Licht auf dem Boden einzufangen, und dann erhob er sich mit einem Sprung auf seine Knie. Er hob seinen Finger an seine Lippen. In einer Totenstille zog er ein Taschenmesser schnell aus seiner Tasche und öffnete es. Er bückte sich wieder und steckte die Klinge zwischen die Spalten der Klötze. Die drei Männer in den Zimmern beobachteten ihn mit heftiger Erregung. Ein Holzklotz erhob sich vom Fußboden, er zog ihn heraus, legte ihn geräuschlos hin und steckte seine Hand in die Öffnung. Wethermill an Ricardos Seite äußerte einen erstickten Schrei: „Pst!“, flüsterte Hanaud verärgert. Er zog seine Hand wieder heraus. Sie hielt ein grünes Lederschmuckkästchen. Er öffnete es und eine Diamantenhalskette funkelte in tausend Farben in ihren Gesichtern. Er steckte seine Hand immer wieder hinein, und jedes Mal, als er sie herauszog, hielt er ein Schmuckkästchen. Vor den erstaunten Augen seiner Begleiter öffnete er sie. Perlenketten, Diamanthalsbänder, Smaragdhalsketten, blutrote Rubinringe, Goldarmbänder mit Opalen besetzt ‐ Mme. Dauvrays verschiedene Schmuckstücke waren entdeckt. „Aber das ist erstaunlich“, sagte Besnard mit ehrfürchtiger Stimme. „Dann wurde sie nach allem nie ausgeraubt?“, rief Ricardo. Hanaud stand auf. „Was für eine Ironie!“, flüsterte er. „Die arme Frau wird wegen ihres Schmucks ermordet, das Zimmer wird auf den Kopf gestellt und nichts wird gefunden. Denn der ganze Schmuck lag sicher in diesem Versteck. Nichts ist genommen, außer das, was sie trug. Sehen wir, was sie trug.“
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„Nur ein paar Ringe, dachte Hélène Vauquier“, sagte Besnard. „Aber sie war nicht sicher.“ „Ah!“, sagte Hanaud. „Also, vergewissern wir uns!“, und indem er die Liste aus dem Safe nahm, verglich er sie mit den Schmuckstücken in den Kästchen auf dem Boden, wobei der die Gegenstände nacheinander abhakte. Als er fertig war, kniete er sich wieder hin, und während er seine Hand in das Loch steckte, fühlte er vorsichtig. „Es fehlt eine Perlenkette“, sagte er ‐ „eine wertvolle Halskette aus der Beschreibung in der Liste ‐ und einige Ringe. Sie muss sie getragen haben“, und setzte sich zurück auf seine Absätze. „Wir werden den intelligenten Perrichet um eine Tasche schicken“, sagte er, „und wir werden dem intelligenten Perrichet raten, nicht ein Wort zu irgendeiner lebenden Seele über das, was er in diesem Zimmer gesehen hat, zu verraten. Dann werden wir in der Tasche den Schmuck versiegeln und wir werden ihn M. le Commissaire übergeben, der ihn mit der größten Geheimhaltung aus dieser Villa befördern wird. Was die Liste betrifft ‐ ich werde sie behalten“, und er legte sie sorgfältig in seine Brieftasche. Er sperrte die Tür auf und ging selbst auf den Treppenabsatz hinaus. Er blickte die Treppe rauf und runter; dann deutete er Perrichet zu sich. „Gehen Sie!“, flüsterte er. „Seien Sie schnell, und wenn Sie zurückkommen, verstecken Sie die Tasche sorgfältig unter Ihrer Jacke.“ Perrichet ging die Treppe mit Stolz auf seinem Gesicht geschrieben hinunter. Assistierte er nicht dem großen M. Hanaud von der Sûreté in Paris? Hanaud kehrte in Mme. Dauvrays Zimmer zurück und schloss die Tür. Er blinkte in die Augen seiner Begleiter. „Können Sie nicht die Szene sehen?“, fragte er mit einem eigenartigen aufgeregten Lächeln. Er hatte Wethermill vergessen; er hatte sogar die tote Frau vergessen, die unter dem Laken eingehüllt war. Er war in Gedanken versunken. Seine Augen waren hell, sein ganzes Gesicht voller Leben. Ricardo sah in diesem Augenblick den echten Mann ‐ und fürchtete um das Glück von Harry Wethermill. Denn nichts würde Hanaud nun abwenden, bis er die Wahrheit erreicht und seine Hände an die Beute gelegt hatte. Dessen fühlte
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sich Ricardo sicher. Er versuchte nun, seine Begleiter visualisieren zu lassen, was er sah und verstand. „Können Sie es nicht sehen? Die alte Frau, die ihren Schmuck jede Nacht vor den Augen des Dienstmädchens oder ihrer Gesellschafterin in diesem Safe eingesperrt hatte, und dann, sobald sie alleine war, ihn verstohlen aus dem Safe nahm und an dieser geheimen Stelle versteckte. Aber ich sage Ihnen ‐ das ist menschlich. Dann stellen Sie sich letzte Nacht vor, wie die Mörder diesen Safe öffnen und nichts finden ‐ oh, aber nichts! ‐ und das Zimmer in äußerster Hast durchwühlen, die Teppiche hochtreten, ihre Bestürzung und schließlich ihre Furcht! Sie müssen mit einer Perlenhalskette gehen, wenn sie gehofft hatten, ein großes Vermögen zu ergattern. Oh, aber das ist interessant ‐ ja, ich sage Ihnen ‐ ich, der viele merkwürdige Dinge gesehen hat ‐ das ist interessant.“ Perrichet kehrte mit einer Segeltuchtasche zurück, in die Hanaud die Schmuckkästchen steckte. Er versiegelte die Tasche in der Gegenwart der vier Männer und reichte sie Besnard. Er legte den Holzklotz wieder zurück in den Fußboden, deckte ihn wieder mit dem Teppich zu und stand auf. „Hören Sie!“, sagte er mit leiser Stimme und mit einem Ernst, der sie alle beeindruckte. „Da ist etwas in diesem Haus, das ich nicht verstehe. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich sage Ihnen nun etwas mehr. Ich befürchte ‐ ich habe Angst.“ Und das Wort erschreckte seine Hörer wie ein Donnerschlag, obwohl es nicht lauter als ein Flüstern geatmet wurde. „Ja, meine Freunde“, wiederholte er und nickte, „schreckliche Angst.“ Und auf die anderen fiel ein Unbehagen, eine Ehrfurcht, als ob etwas Unheimliches und Gefährliches in dem Zimmer und nahe von ihnen anwesend wäre. So lebhaft war das Gefühl, instinktiv rückten sie näher zueinander. „Nun warne ich Sie feierlich. Es darf kein Gemunkel geben, dass dieser Schmuck entdeckt worden ist; keine Zeitung darf einen Hinweis davon veröffentlichen; niemand darf vermuten, dass hier in diesem Zimmer wir ihn gefunden haben. Wird das verstanden?“ „Gewiss“, sagte der Commissaire. „Ja“, sagte Mr. Ricardo. „Sicher, Monsieur“, sagte Perrichet.
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Was Harry Wethermill betrifft, er gab keine Antwort. Seine brennenden Augen waren auf Hanauds Gesicht gerichtet, und das war alles. Hanaud seinerseits bat um keine Antwort von ihm. Tatsächlich blickte er überhaupt nicht zu Harry Wethermills Gesicht. Ricardo verstand. Hanaud hatte nicht vor, von dem Leiden, das dort geschrieben war, abgehalten zu werden. Er ging wieder hinunter in den kleinen fröhlichen Salon, der mit Blumen und Augustsonnenlicht erhellt war, und stand neben der Couch, wobei er mit beunruhigten Augen darauf starrte. Und als er starrte, schloss er seine Augen und zitterte. Er zitterte wie ein Mann, den ein plötzliches Frösteln überkam. Nichts in der ganzen Morgenermittlung, nicht einmal der steife Körper unter dem Laken, auch die merkwürdige Entdeckung des Schmucks, hatte Ricardo so beeindruckt. Denn da war er mit Fakten konfrontiert worden, eindeutig und vollständig; hier war eine Andeutung unbekannten Entsetzens, ein Hinweis, keine Tatsache, der die Vorstellungskraft zu dunkler Vermutung zwingt. Hanaud schauderte. Dass er keine Ahnung hatte, warum Hanaud schauderte, machte die Handlung noch bedeutungsvoller, noch beängstigender. Und es war nicht Ricardo allein, der dadurch bewegt wurde. Eine verzweifelte Stimme klang durch das Zimmer. Die Stimme war die von Wethermill und sein Gesicht war aschgrau. „Monsieur!“, rief er, „ich weiß nicht, was Sie schaudern lässt; aber ich erinnere mich an ein paar Worte, die Sie heute Morgen benutzten.“ Hanaud drehte sich auf seinem Absatz herum. Sein Gesicht war abgespannt und grau und seine Augen glühten. „Mein Freund, ich erinnere mich auch an diese Worte“, sagte er. So standen die beiden Männer einander gegenüber, Auge in Auge, mit Ehrfurcht und Furcht in ihren beiden Gesichtern. Ricardo fragte sich, auf welche Worte sich die beiden bezogen, als der Klang von Rädern die Stille unterbrach. Die Wirkung auf Hanaud war magisch. Er steckte seine Hände in seine Hosentaschen. „Hélène Vauquiers Droschke“, sagte er leichthin. Er zog sein Zigarettenetui heraus und zündete sich eine Zigarette an.
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„Verabschieden wir uns von dieser armen Frau. Es ist eine geschlossene Droschke, hoffe ich.“ Es war ein geschlossener Landauer. Er fuhr an der offenen Tür des Salons vorbei zur vorderen Tür des Hauses. Im Gefolge von Hanaud gingen alle hinaus in die Diele. Die Krankenschwester kam alleine herunter und trug Hélène Vauquiers Tasche. Sie stellte sie in die Droschke und wartete in der Tür. „Vielleicht ist Hélène Vauquier ohnmächtig geworden“, sagte sie besorgt, „sie kommt nicht.“ Und sie ging zur Treppe. Hanaud machte einen einzigartig flinken Schritt vorwärts und hielt sie an. „Warum sollten Sie das denken?“, fragte er mit einem merkwürdigen Lächeln auf seinem Gesicht, und als er sprach, schloss sich oben leise eine Tür. „Sehen Sie“, fuhr er fort, „Sie haben unrecht; sie kommt.“ Ricardo war verwirrt. Es war ihm vorgekommen, dass die Tür, die sich so leise geschlossen hatte, näher als Hélène Vauquiers Tür war. Es kam ihm vor, dass die Tür auf dem ersten, nicht dem zweiten Treppenabsatz war. Aber Hanaud hatte nichts Merkwürdiges bemerkt; daher konnte es nicht sein. Hanaud begrüßte Hélène Vauquier mit einem Lächeln, als sie die Treppe hinunterkam. „Es geht Ihnen besser, Mademoiselle“, sagte er höflich. „Man kann das sehen. Es ist mehr Farbe in Ihren Wangen. Ein oder zwei Tage und Sie werden wieder die Alte sein.“ Er hielt die Tür offen, während sie in die Droschke stieg. Die Krankenschwester nahm ihren Platz neben ihr ein; Durette bestieg den Kutschbock. Die Droschke wendete und fuhr die Auffahrt hinunter. „Auf Wiedersehen, Mademoiselle“, rief Hanaud und er sah zu, bis die hohen Sträucher die Droschke vor ihren Augen verbargen. Dann benahm er sich in eine außergewöhnlichen Weise. Er drehte sich um und sprang wie der Blitz die Treppe hinauf. Seine Agilität erstaunte Ricardo. Die anderen folgten ihm auf den Fersen. Er warf sich auf Celias Tür und öffnete sie. Er platzte in das Zimmer, stand für eine Sekunde, dann rannte er zum Fenster. Er versteckte sich hinter dem Vorhang und sah hinaus. Mit seiner Hand winkte er seinen Begleitern, sich zurückzuhalten. Der Klang der Räder, die knarrten und ächzten, stieg an ihre Ohren. Die Droschke war gerade hinaus auf die Landstraße gekommen. Durette 75
auf dem Kutschbock drehte sich um und blickte zum Haus. Nur für einen Augenblick lehnte sich Hanaud aus dem Fenster, wie Besnard, der Commissaire, es getan hatte, und wieder wie Besnard winkte er mit seiner Hand. Dann kam er zurück in das Zimmer und sah vor ihm mit offenem Mund und Augen, die aus seinem Kopf starrten, Perrichet stehen ‐ den intelligenten Perrichet. „Monsieur“, rief Perrichet, „etwas ist aus diesem Zimmer genommen worden.“ Hanaud blickte sich im Zimmer um und schüttelte seinen Kopf. „Nein“, sagte er. „Aber ja, Monsieur“, beharrte Perrichet. „Oh, aber ja. Sehen Sie! Auf diesem Toilettentisch war ein kleiner Tiegel mit kühlender Hautcreme. Er stand hier, wo mein Finger ist, als wir vor einer Stunde in diesem Zimmer waren. Nun ist er fort.“ Hanaud brach in Lachen aus. „Mein Freund Perrichet“, sagte er ironisch. „Ich werde Ihnen sagen, dass die Zeitung Ihnen nicht gerecht wurde. Sie sind mehr als intelligent. Die Wahrheit, mein exzellenter Freund, liegt am Grund eines Brunnens; aber Sie würden sie auf dem Boden eines Tiegels mit kühlender Hautcreme finden. Nun gehen wir. Denn in diesem Haus, Gentlemen, haben wir nichts mehr zu tun.“ Er ging aus dem Zimmer. Perrichet stand auf der Seite, sein Gesicht knallrot, seine Haltung beschämt. Er war von dem großen M. Hanaud getadelt worden, und gerechterweise getadelt. Er wusste es jetzt. Er hatte gewünscht, seine Intelligenz zu zeigen ‐ ja, um jeden Preis musste er seine Intelligenz zeigen. Und er hatte sich als Narr gezeigt. Er hätte über den Tiegel mit kühlender Hautcreme schweigen sollen.
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Kapitel VIII Der Kapitän des Schiffs Hanaud ging von der Villa Rose in Begleitung von Wethermill und Ricardo davon. „Wir werden essen gehen“, sagte er. „Ja, kommen Sie zu meinem Hotel“, sagte Harry Wethermill. Aber Hanaud schüttelte seinen Kopf. „Nein; kommen Sie mit mir zur Villa des Fleurs“, erwiderte er. „Wir erfahren dort vielleicht etwas; und in einem Fall wie diesen ist jede Minute von Bedeutung. Wir müssen schnell sein.“ „Darf ich auch mitkommen?“, rief Mr. Ricardo begierig. „Auf jede Fall“, erwiderte Hanaud mit einem Lächeln von äußerster Höflichkeit. „Nichts könnte köstlicher als Monsieurs Vorschläge sein“; und mit dieser Bemerkung ging er schweigend weiter. Mr. Ricardo hatte ein wenig Zweifel in Bezug auf die genaue Bedeutung der Worte. Aber er war zu aufgeregt, um lange auf ihnen zu verweilen. Obwohl er danach trachtete, über den Kummer seines Freundes bedrückt zu sein, konnte er nur eine wichtige Miene annehmen. Der ganze Künstler in ihm erhob sich freudig bei der Gelegenheit. Er blickte von außen auf sich. Er stellte sich ohne der geringsten Berechtigung vor, dass Leute auf ihn zeigten. „Dieser Mann ist bei der Ermittlung in der Villa Rose anwesend gewesen“, schien er die Leute sage zu hören. „Was für merkwürdige Dinge er uns erzählen könnte, wenn er wollte!“ Und plötzlich begann Mr. Ricardo zu überlegen. Was hätte er nach allem ihnen sagen können? Und diese Frage ließ er sich durch den Kopf gehen, während er sein Mittagessen aß. Hanaud schrieb zwischen den Gängen einen Brief. Sie saßen an einem Ecktisch und Hanaud war in der Ecke mit seinem Rücken zur Wand. Er schob seinen Teller auch hinüber zu dem Brief, als er schrieb. Es wäre für jeden seiner Gäste unmöglich gewesen, zu sehen, was er geschrieben hatte, auch 77
wenn sie es gewünscht hätten. Ricardo wünschte es tatsächlich. Er ärgerte sich um die Geheimnistuerei, mit der der Kriminalbeamte unter einem Vorwand der Offenheit seine Gedanken und Handlungen verschleierte. Hanaud schickte den Kellner hinaus, um einen Polizeibeamten in Zivil zu holen, der an der Tür anwesend war, und er überreichte diesem Mann den Brief. Dann wandte er sich mit einer Entschuldigung seinen Gästen zu. „Es ist notwendig, dass wir es herausfinden sollten“, erklärte er, „sobald wie möglich, die ganze Akte über Mlle. Célie.“ Er zündete eine Zigarre an und über den Kaffee stellte er Ricardo eine Frage. „Nun sagen Sie mir, was Sie aus dem Fall machen. Was M. Wethermill denkt ‐ das ist klar, nicht wahr? Hélène Vauquier ist die Schuldige. Aber Sie, M. Ricardo? Was ist Ihre Meinung?“ Ricardo holte aus seiner Brieftasche ein Blatt Papier und aus seiner Jackentasche einen Bleistift. Er war sehr durch die Bitte von Hanaud geschmeichelt, und er beabsichtigte, sich selbst gerecht zu werden. „Ich werde hier eine Notiz von dem machen, was ich für das hervorspringende Merkmal des Rätsels halte“, und er fuhr fort, die Punkte auf folgende Weise zu tabellarisieren: (1) Celia Harland machte ihren Eintritt in Mme. Dauvrays Haushalt unter sehr zweifelhaften Umständen. (2) Durch noch zweifelhaftere Methoden erlangte sie eine außer‐ gewöhnliche Vorherrschaft über Mme. Dauvrays Verstand. (3) Falls Beweise benötigt wurden, wie vollständig diese Vorherrschaft war, würde ein Blick auf Celia Harlands Garderobe genügen; denn sie trug die teuersten Kleider. (4) Es war Celia Harland, die arrangierte, dass Servettaz, der Chauffeur, Dienstagnacht in Chambéry sein sollte ‐ die Nacht des Mordes. (5) Es war Celia Harland, die die Schnur kaufte, mit der Mme. Dauvray stranguliert und Hélène Vauquier gefesselt wurde. (6) Die Fußabdrücke draußen vor dem Salon zeigen, dass Celia Harland aus dem Salon zum Wagen rannte.
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(7) Celia Harland gab vor, es sollte eine Séance am Dienstag sein, aber sie zog sich an, als ob sie eine Verabredung mit einem Liebhaber in Aussicht hätte, statt einer spiritistischen Séance. (8) Celia Harland ist verschwunden. Diese acht Punkte deuten stark auf Celia Harlands Mittäterschaft am Mord. Aber ich habe keinen Hinweis, der es mir ermöglicht, die folgenden Fragen zu beantworten: (a) Wer war der Mann, der an dem Verbrechen teilnahm? (b) Wer war die Frau, die an dem Abend des Mordes mit Mme. Dauvray und Celia Harland in die Villa kam. (c) Was geschah tatsächlich im Salon? Wie wurde der Mord begangen? (d) Ist Hélène Vauquiers Geschichte wahr? (e) Was bedeutete das abgerissene Schriftstück? (Wahrscheinlich Geisterschreiben in Celia Harlands Handschrift.) (f) Warum hat ein Kissen auf dem Sofa einen kleinen, frischen, braunen Fleck, der wahrscheinlich Blut ist? Warum ist das andere Kissen zerrissen? Mr. Ricardo hatte einen augenblickliche Gedanken, noch eine Frage aufzuschreiben. Er war geneigt zu fragen, ob ein Tiegel kühlende Hautcreme aus Celia Harlands Schlafzimmer verschwunden war oder nicht; aber er erinnerte sich, dass Hanaud keinen Wert auf diesen Vorfall gelegt hatte, und er hielt sich zurück. Überdies war er zu dem Ende seines Blattes Papier gekommen. Er reichte es Hanaud über den Tisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er den Kriminalbeamten mit allem Eifer eines jungen Autoren beobachtete, der sich der ersten Bemühung auf eine Kritik unterwarf. Hanaud las es langsam durch. Am Ende nickte er zustimmend. „Nun werden wir sehen, was M. Wethermill zu sagen hat“, sagte er und er schob das Papier zu Harry Wethermill, der während des Mittagessens kein Wort gesagt hatte. „Nein, nein“, rief Ricardo.
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Aber Harry Wethermill hatte schon das beschriebene Blatt in seiner Hand gelesen. Er lächelte ziemlich wehmütig seinen Freund an. „Es ist am besten, dass ich einfach wissen sollte, was ihr beide denkt“, sagte er, und er begann, wiederum das Papier durchzulesen. Er las die ersten acht Punkte und schlug dann mit seiner Faust auf den Tisch. „Nein, nein“, rief er; „es ist nicht möglich! Ich tadle Sie nicht, Ricardo. Das sind Fakten, und wie ich sagte, kann ich Fakten gegenübertreten. Aber es wird eine Erklärung geben ‐ wenn ich sie nur entdecken kann.“ Er vergrub sein Gesicht für einen Augenblick in seine Hände. Dann nahm er das Papier wieder auf. „Was den Rest angeht, Hélène Vauquier log“, rief er heftig und er schleuderte das Papier zu Hanaud. „Was halten Sie davon?“ Hanaud lächelte und schüttelte seinen Kopf. „Sind Sie je auf eine Schiffsreise gegangen?“, fragte er. „Ja, warum?“ „Weil jeden Tag zu Mittag drei Offiziere eine Beobachtung machen, um die Schiffsposition zu bestimmen ‐ der Kapitän, der erste Offizier und der zweite Offizier. Jeder schreibt seine Beobachtung auf und der Kapitän nimmt die drei Beobachtungen und vergleicht sie. Wenn der erste oder zweite Offizier sich verrechnet hat, sagt es ihm der Kapitän, aber er zeigt nicht seine eigene. Denn manchmal hat er auch zweifellos unrecht. Also, Gentlemen, ich kritisiere Ihre Beobachtungen, aber ich zeige nicht meine.“ Er nahm Ricardos Papier auf und las es wieder durch. „Ja“, sagte er freundlich. „Aber die zwei Fragen, die am wichtigsten sind, die allein uns zur Wahrheit führen können ‐ wie kommen sie dazu, von Ihrer Liste ausgelassen zu werden, Mr. Ricardo?“ Hanaud stellte die Frage auf seine ernsthafteste Art. Aber Ricardo war trotzdem sensibel auf die Stichelei hinter der feierlichen Weise. Er wurde rot und gab keine Antwort.
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„Doch“, fuhr Hanaud fort, „sind hier zweifellos einige Fragen. Betrachten wir sie! Wer war der Mann, der an dem Verbrechen teilnahm? Ah, wenn wir das nur wüssten, was für eine Menge Probleme würden wir uns ersparen! Wer war die Frau? Was für eine gute Sache es sein würde, das auch zu wissen! Trotzdem, wie deutlich legt Mr. Ricardo seinen Finger auf die wichtigen Punkte! Was geschah tatsächlich im Salon?“ Und als er diese Frage zitierte, verflog der Hohn in seiner Stimme. Er lehnte seinen Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. „Was geschah tatsächlich in diesem kleinen hübschen Zimmer, bloß vor zwölf Stunden?“, wiederholte er. „Als kein Sonnenlicht auf den Rasen leuchtete und alle Vögel still waren und alle Fenster geschlossen und die Welt dunkel war, was geschah? Was für schreckliche Dinge geschahen? Wir haben keine Anhaltspunkte. Formulieren wir, was wir wissen. Wir beginnen damit. Der Mord war kein Werk des Augenblicks. Er wurde mit großer Sorgfalt und List geplant und buchstabengetreu nach dem Plan ausgeführt. Es muss kein Lärm, keine Gewalt gewesen sein. Auf jeder Seite der Villa Rose sind andere Villen; ein paar Meter weiter weg verläuft die Straße. Ein Schrei, ein Ruf, der Lärm des Kampfes ‐ diese Geräusche oder irgendwelche davon mochten fatal für den Erfolg sein. So wurde das Verbrechen geplant; und es gab keinen Schrei, es gab keinen Kampf. Nicht ein Stuhl wurde kaputtgemacht und nur ein Stuhl umgeworfen. Doch war Verstand hinter diesem Mord. Wir wissen das. Aber was wissen wir von dem Plan? Wie weit können wir ihn aufbauen? Überlegen wir. Erstens, es gab einen Komplizen in dem Haus ‐ vielleicht zwei.“ „Nein!“, rief Harry Wethermill. Hanaud nahm von der Unterbrechung keine Notiz. „Zweitens, die Frau kam mit Mme. Dauvray und Mlle. Célie zwischen neun und halb zehn zu dem Haus. Drittens, der Mann kam hinterher, aber vor elf, öffnete das Tor und wurde von Mme. Dauvray unbemerkt in den Salon hineingelassen. Das können wir auch sicher annehmen. Aber was geschah in dem Salon? Ah! Das ist die Frage.“ Dann zuckte er die Achseln und sagte mit dem Hauch eines Hohns wieder in seiner Stimme: „Aber warum sollen wir unsere Köpfe beunruhigen, um dieses Rätsel auszuknobeln, da M. Ricardo es weiß?“ 81
„Ich?“, rief Ricardo erstaunt. „Sicher“, erwiderte Hanaud ruhig. „Denn ich blicke auf eine andere Ihrer Fragen. ‚Was bedeutete das abgerissene Schriftstück?‘ Und Sie fügen hinzu: ‚Wahrscheinlich ein Geisterschreiben.‘ Dann wurde in dem kleinen Salon letzte Nacht eine Séance abgehalten! Ist das so?“ Harry Wethermill erschrak. Mr. Ricardo war in Verlegenheit. „Ich war meinem Vorschlag zu dieser Schlussfolgerung nicht gefolgt“, gab er bescheiden zu. „Nein“, sagte Hanaud. „Aber ich frage mich in nüchternem Ernst, ‚Gab es eine Séance, die letzte Nacht im Salon abgehalten wurde?’ Ratterte das Tamburin in der Dunkelheit an der Wand?“ „Aber wenn Hélène Vauquiers Geschichte ganz unwahr ist?“, rief Wethermill wieder erbittert. „Geduld, mein Freund. Ihre Geschichte war überhaupt nicht unwahr. Ich sage, das war Verstand hinter diesem Verbrechen; ja, aber Verstand, sogar der klügste, hätte diese seltsame, merkwürdige Geschichte von den Séancen und von Mme. de Montespan nicht erfunden. Das ist Wahrheit. Aber doch, falls eine Séance abgehalten wurde, falls das Stück Papier Geisterschreiben in Beantwortung auf eine unbeholfene Frage war, na – und hier komme ich zu meiner ersten Frage, die M. Ricardo ausgelassen hat – warum kleidete sich Mlle. Célie mit einer solchen Eleganz letzte Nacht? Was Vauquier sagte, ist wahr. Ihr Kleid passte nicht zu einer Séance. Ein hellfarbiges, raschelndes Kleid, das in einem trüben Licht zu sehen wäre, oder sogar im Dunkeln, das sicher bei jeder Bewegung, die sie machte, gehört werden würde, wie leicht sie auch ging, und ein großer Hut – nein, nein! Ich sage Ihnen, Gentlemen, wir werden nicht auf den Grund dieses Geheimnisses kommen, bis wir wissen, warum Mlle. Célie sich letzte Nacht so kleidete.“ „Ja“, gab Ricardo zu. „Ich übersah diesen Punkt.“ „Wirklich ‐“ Hanaud brach ab und verbeugte sich vor Wethermill mit einer Anmut und Respekt, die seine Worte verziehen. „Sie müssen Geduld mit mir haben, mein junger Freund, während ich alle diese Punkte betrachte. Erwartete sie, in dieser Nacht, sich mit einem Liebhaber zusammenzutun – einem Mann 82
mit dem Verstand, dieses Verbrechen zu ersinnen? Falls ja – und hier komme ich zu der zweiten Frage, die von M. Ricardos Liste ausgelassen wurde – warum auf dem Grasfleck draußen vor der Tür des Salons, wo die Fußabdrücke von Mlle. Célie – diese kleinen so leicht zu identifizierenden Fußabdrücke – zurückblieben, dass die ganze Welt sie sah und erkannte?“ Ricardo fühlte sich wie ein Kind in der Gegenwart seines Lehrers. Er wurde der Mutmaßung überführt. Er hatte seine Frage mit dem Glauben dargelegt, dass sie den Boden bedeckten. Und hier waren zwei der äußersten Wichtigkeit, nicht vergessen, aber nie daran gedacht. „Ging sie vor dem Mord, um sich mit einem Liebhaber zusammenzutun? Oder danach? Zu einer gewissen Zeit, werden Sie sich erinnern, gemäß Vauquiers Geschichte, dass sie nach oben gerannt sein musste, um ihren Mantel zu holen. Wurde der Mord während der Zeitspanne begangen, als sie oben war? War der Salon dunkel, als sie wieder herunterkam? Rannte sie schnell, begierig durch, wobei sie bemerkte, dass nichts fehlte? Und tatsächlich, wie sollte sie etwas bemerken, wenn der Salon dunkel war und Mme. Dauvrays Leiche unter den Fenstern an der Seite lag?“ Ricardo lehnte sich begierig nach vor. „Das muss die Wahrheit sein“, rief er; und Wethermills Stimme fiel hastig ein: „Es ist nicht die Wahrheit und ich werde Ihnen sagen, warum. Celia Harland sollte mich diese Woche heiraten.“ Es war so viel Schmerz und Elend in seiner Stimme, dass Ricardo bewegt war, wie er es selten gewesen war. Wethermill vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Hanaud schüttelte seinen Kopf und starrte über den Tisch auf Ricardo mit einem Ausdruck, den der Letztere nicht verlegen war, zu verstehen. Liebende waren keine praktikablen Leute. Aber er – Hanaud er kannte die Welt. Frauen hatten vorher die Männer zum Narren gehalten. Wethermill riss seine Hände vor seinem Gesicht fort. „Wir reden über Theorien“, rief er verzweifelt, „darüber, was in der Villa vielleicht geschehen ist. Aber wir sind nicht einen Zentimeter dem Mann und der Frau näher, die das Verbrechen begingen. Sie sind es, nach denen wir suchen müssen.“ 83
„Ja, aber außer uns Fragen zu stellen, wie sollen wir sie finden, M. Wethermill?“, sagte Hanaud. „Nehmen wir den Mann! Wir wissen nichts von ihm. Er hat keine Spur hinterlassen. Schauen Sie diese Stadt Aix an, wo die Leute kommen und gehen wie eine Menschenmasse an den Bakkarattischen! Er ist vielleicht heute in Marseille. Er ist vielleicht in diesem Raum, wo wir unser Mittagessen einnehmen. Wie sollen wir ihn finden?“ Wethermill nickte in verzweifelter Zustimmung mit seinem Kopf. „Ich weiß. Aber es ist so hart, still zu sitzen und nichts zu tun“, rief er. „Ja, aber wir sitzen nicht still“, sagte Hanaud, und Wethermill blickte mit plötzlichem Interesse auf. „Die ganze Zeit, die wir hier essen, hat der intelligente Perrichet Nachfragen angestellt. Mme. Dauvray und Mlle. Célie verließen die Villa Rose um fünf und kehrten zu Fuß bald nach neun mit der fremden Frau zurück. Und dort sehe ich Perrichet selbst warten, um gerufen zu werden.“ Hanaud deutete dem sergent‐de‐ville. „Perrichet wird einen ausgezeichneten Kriminalbeamten abgeben“, sagte er; „denn er sieht in Zivil einfältiger und törichter aus als in seiner Uniform.“ Perrichet näherte sich dem Tisch in seiner Zivilkleidung. „Sprechen Sie, mein Freund“, sagte Hanaud. „Ich ging zu dem Geschäft von M. Corval. Mlle. Célie war ganz allein, als sie die Schnur kaufte. Aber ein paar Minuten später, in der Rue du Casino, wurden sie und Mme. Dauvray zusammen gesehen, als sie langsam in die Richtung der Villa gingen. Keine andere Frau war bei ihnen.“ „Das ist schade“, sagte Hanaud ruhig und mit einer Geste entließ er Perrichet. „Sie sehen, wir werden nichts herausfinden – nichts“, sagte Wethermill mit einem Stöhnen. „Wir dürfen noch nicht den Mut verlieren, denn wir wissen ein wenig mehr über die Frau als über den Mann“, sagte Hanaud tröstend. „Wahr“, rief Ricardo aus. „Wir haben Hélène Vauquiers Beschreibung von ihr. Wir müssen es bekannt machen.“ 84
Hanaud lächelte. „Aber das ist ein feiner Vorschlag“, rief er. „Wir müssen darüber nachdenken“, und er legte seine Hand an seine Stirn mit einer Geste des Selbsttadels. „Warum kam mir eine so feine Idee nicht in den Sinn, Narr, der ich bin! Jedoch werden wir den Oberkellner rufen.“ Es wurde nach dem Oberkellner gesandt und er erschien vor ihnen. „Sie kennen Mme. Dauvray?“, fragte Hanaud. „Ja, Monsieur – oh, die arme Frau!“ Und er warf seine Hände hoch. „Und Sie kannten ihre junge Gesellschafterin?“ „Oh ja, Monsieur. Sie nahmen im Allgemeinen ihre Mahlzeiten hier ein. Sehen Sie, an dem kleinen Tisch dort drüben! Ich reservierte ihn für sie. Aber Monsieur weiß es wohl“ – und der Kellner blickte zu Harry Wethermill – „denn Monsieur war oft bei ihnen.“ „Ja“, sagte Hanaud. „Speiste Mme. Dauvray gestern Abend an diesem Tisch?“ „Nein, Monsieur. Sie war gestern Abend nicht hier.“ „Auch Mlle. Célie nicht?“ „Nein, Monsieur! Ich denke nicht, dass sie überhaupt in der Villa des Fleurs waren.“ „Wir wissen, dass sie es nicht waren“, rief Ricardo aus. „Wethermill und ich waren in den Spielräumen und wir sahen sie nicht.“ „Aber vielleicht gingen Sie früh fort“, wandte Hanaud ein. „Nein“, sagte Ricardo. „Es war gerade zehn Uhr, als wir das Majestic erreichten.“ „Sie erreichten Ihr Hotel um zehn“, wiederholte Hanaud. „Gingen Sie direkt von hier?“ „Ja.“ „Dann gingen Sie hier ungefähr um Viertel vor zehn weg. Und wir wissen, dass Mme. Dauvray gleich nach neun zurück in der Villa war. Ja – sie könnten letzte 85
Nacht nicht hier gewesen sein“, stimmte Hanaud zu und saß für einen Augenblick schweigend da. Dann wandte er sich wieder an den Oberkellner. „Haben Sie irgendeine Frau bei Mme. Dauvray und ihrer Gesellschafterin neulich bemerkt?“ „Nein, Monsieur. Ich denke nicht.“ „Danke! Eine Frau zum Beispiel, mit rotem Haar.“ Harry Wethermill zuckte zusammen. Mr. Ricardo starrte Hanaud erstaunt an. Der Kellner überlegte. „Nein, Monsieur. Ich habe eine Frau mit rotem Haar gesehen.“ „Danke“, sagte Hanaud und der Kellner ging davon. „Eine Frau mit rotem Haar!“, rief Wethermill. „Aber Hélène Vauquier beschrieb sie. Sie war bleich; ihren Augen, ihr Haar, waren dunkel.“ Hanaud wandte sich mit einem Lächeln an Harry Wethermill. „Sprach dann Hélène Vauquier die Wahrheit?“, fragte er. „Nein; die Frau, die gestern Nacht im Salon war, die mit Mme. Dauvray und Mlle. Célie nach Hause kam, war keine Frau mit schwarzem Haar und leuchtenden schwarzen Augen. Schauen Sie!“ Und indem er seine Brieftasche aus seiner Tasche zog, faltete er ein Blatt Papier auf und zeigte es ihnen, wobei auf der weißen Oberfläche ein langes rotes Haar lag. „Ich hob das auf dem Tisch auf – dem runden Satinholztisch im Salon. Es war leicht, es nicht zu sehen, aber ich sah es. Also, das ist nicht Mlle. Célies Haar, das blond ist; auch nicht das von Mme. Dauvray, das braun gefärbt ist; auch nicht das von Hélène Vauquier, das schwarz ist; auch nicht das der Putzfrau, das, wie ich mir die Mühe gemacht habe, es herauszufinden, grau ist. Es ist daher von dem Kopf unserer unbekannten Frau. Und ich werde Ihnen mehr sagen. Diese Frau mit dem roten Haar – sie ist in Genf.“ Ein erschrockener Ausruf brach aus Ricardo. Harry Wethermill setzte sich langsam hin. Zum ersten Mal an diesem Tag war etwas Farbe in seine Wangen, ein Funkeln in seine Augen gekommen. „Aber das ist wundervoll!“, rief er. „Wie fanden Sie das heraus?“ 86
Hanaud lehnte sich in seinem Stuhl zurück und machte einen langen Zug an seiner Zigarre. Er war offensichtlich mit Wethermills Bewunderung zufrieden. „Ja, wie fanden Sie es heraus?“, wiederholte Ricardo. Hanaud lächelte. „Was das betrifft“, sagte er, „erinnern Sie sich, ich bin der Kapitän des Schiffes und ich zeige Ihnen meine Beobachtungen nicht.“ Ricardo war enttäuscht. Harry Wethermill jedoch sprang auf seine Füße. „Wir müssen dann Genf durchsuchen“, rief er. „Dort sollten wir sein, nicht hier und unseren Kaffee in der Villa des Fleurs trinken.“ Hanaud hob seine Hand. „Die Suche wird nicht übersehen. Aber Genf ist eine große Stadt. Es ist nicht leicht Genf zu durchsuchen und zu finden, wenn wir nichts über die Frau wissen, nach der wir suchen, außer dass ihr Haar rot ist und dass wahrscheinlich ein junges Mädchen letzte Nacht bei ihr war. Es ist eher hier, denke ich – in Aix – dass wir unsere Augen weit offenhalten müssen.“ „Hier!“, rief Wethermill erbittert. Er starrte Hanaud an, als ob er verrückt wäre. „Ja, hier; auf dem Postamt – bei der Telefonvermittlung. Angenommen, dass der Mann in Aix ist, wie er es wohl sein mag; irgendwann wird er einen Brief oder ein Telegramm aufgeben oder eine Nachricht über das Telefon senden wollen. Das, sage ich Ihnen, wird unsere Chance sein. Aber hier sind Neuigkeiten für uns.“ Hanaud zeigte zu einem Boten, der auf sie zuging. Der Mann reichte Hanaud einen Umschlag. „Von M. le Commissaire“, sagte er und er salutierte und zog sich zurück. „Von M. le Commisaire?“, rief Ricardo aufgeregt. Aber bevor Hanaud den Umschlag öffnen konnte, legte Harry Wethermill eine Hand auf seinen Ärmel. „Bevor wir zu etwas Neuem gehen, M. Hanaud“, sagte er, „wäre ich sehr froh, wenn Sie mir sagen würden, was sie heute Morgen in dem Salon erschauern 87
ließ. Es hat mich seither beunruhigt. Was war es, das diese beiden Kissen ihnen zu sagen hatten?“ Es war ein Hauch der Qual in seiner Stimme, schwierig zu widerstehen. Aber Hanaud widerstand ihm. Er schüttelte seinen Kopf. „Wieder“, sagte er ernst, „muss ich Sie erinnern, dass ich der Kapitän des Schiffs bin und meine Beobachtung nicht zeige.“ Er riss den Umschlag auf und sprang von seinem Platz auf. „Mme. Dauvray Wagen ist gefunden worden“, rief er. „Gehen wir.“ Hanaud rief nach der Rechnung und bezahlte sie. Die drei Männer verließen die Villa des Fleurs zusammen.
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Kapitel IX Mme. Dauvrays Wagen Sie stiegen in die Droschke draußen vor der Tür. Perrichet bestieg den Kutschbock und die Droschke fuhr die sich hinaufwindende Straße an dem Hôtel Bernascon vorbei. Hundert Meter hinter dem Hotel blieb die Droschke gegenüber der Villa stehen. Eine Hecke trennte den Garten der Villa von der Straße und über der Hecke erhob sich ein Schild mit den Worten „Zu vermieten“ darauf. Am Tor stand ein Gendarm und gleich innerhalb des Tores sah Ricardo Louis Besnard, den Commissaire, und Servettaz, Mme. Dauvrays Chauffeur. „Er ist hier“, sagte Besnard, als die Gruppe aus der Droschke stieg, „im Kutschenhaus dieser leeren Villa.“ „Hier?“, rief Ricardo verblüfft. Die Entdeckung stellte alle Theorien auf den Kopf. Er hatte zu hören erwartet, dass er fünfzig Meilen weit weg gefunden worden war; aber hier, innerhalb von zwei Meilen von der Villa Rose entfernt – die Vorstellung schien absurd! Warum ihn überhaupt mitnehmen – außer er wurde aufs Geratewohl mitgenommen? Diese Annahme fand ihren Weg in Ricardos Gedanken und sammelte Kraft, als er daran dachte; denn Hanaud hatte sich scheinbar an den Glauben gelehnt, dass einer der Mörder noch in Aix sein mochte. Tatsächlich zeigte ihm ein Blick auf ihn, dass er durch die Entdeckung nicht aus der Fassung gebracht wurde. „Wann wurde er gefunden?“, fragte Hanaud. „Heute Morgen. Ein Gärtner kommt an zwei Tagen die Woche zur Villa, um das Gelände in Ordnung zu halten. Zum Glück ist Mittwoch einer dieser Tage. Zum Glück gab es auch gestern Abend Regen. Er bemerkte die Spuren der Räder, die man auf dem Kies sehen kann, und da die Villa leer war, war er erstaunt. Er fand die Kutschenhaustür aufgebrochen und den Wagen drinnen. Als er zu seinem Mittagessen ging, brachte er die Neuigkeit von seiner Entdeckung zum Depôt.“ Die Gruppe folgte dem Commissaire die Auffahrt zum Kutschenhaus entlang. 89
„Wir werden den Wagen hinausbringen lassen“, sagte Hanaud zu Servettaz. Es war eine große und starke Maschine mit einem Limousinenrumpf, luxuriös ausgestattet und hellgrau gepolstert. Die Außenverkleidung des Wagens war dunkelgrau gestrichen. Der Wagen war kaum hinaus in das Sonnenlicht gebracht worden, bevor ein benommener Schrei von Perrichets Lippen brach. „Oh!“, rief er mit äußerster Erniedrigung. „Ich werde mir nie vergeben – nie, nie!“ „Warum?“, fragte Hanaud und drehte sich scharf herum, als er sprach. Perrichet stand mit seinen runden Augen und starrte mit offenem Mund. „Weil, Monsieur, ich diesen Wagen sah – um vier Uhr heute Morgen – an der Ecke der Straße – keine fünfzig Meter von der Villa Rose entfernt.“ „Was!“, rief Ricardo. „Sie sahen ihn!“, rief Wethermill aus. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich nun die Benommenheit von Perrichet. „Aber Sie müssen sich geirrt haben“, sagte der Commissaire. „Nein, nein, Monsieur“, beharrte Perrichet. „Es war dieser Wagen. Es war diese Nummer. Es war gleich nach Tagesanbruch. Ich stand draußen vor dem Tor der Villa im Dienst, wo M. le Commissaire mich postiert hatte. Der Wagen tauchte an der Ecke auf und wurde langsamer. Es schien mir, dass er in die Straße biegen wollte und an mir vorbei. Aber stattdessen beschleunigte der Fahrer, als ob er nun seines Weges sicher wäre, und fuhr weiter nach Aix hinein.“ „War jemand im Wagen?“, fragte Hanaud. „Nein, Monsieur; er war leer.“ „Aber Sie sahen den Fahrer!“, rief Wethermill aus. „Ja; wie sah er aus?“, rief der Commissaire. Perrichet schüttelte traurig seinen Kopf.
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„Er trug eine Talkmaske über den oberen Teil seines Gesichts und hatte einen schwarzen Schnurrbart und war mit einem schweren Überrock mit einem weißen Kragen bekleidet.“ „Das ist mein Überrock, Monsieur“, sagte Servettaz, und als er sprach, hob er ihn vom Chauffeursitz auf. „Es ist Mme. Dauvrays Livree.“ Harry Wethermill stöhnte laut. „Wir haben ihn verloren. Er war innerhalb unseres Zugriffs – er, der Mörder! – Und er durfte gehen!“ Perrichets Kummer war bedauernswert. „Monsieur“, flehte er, „ein Wagen verringert seine Geschwindigkeit und fährt wieder weiter – es ist keine so ungewöhnliche Sache. Ich wusste die Nummer von Mme. Dauvrays Wagen nicht. Ich wusste nicht einmal, dass er verschwunden war“, und plötzlich füllten Tränen der Kränkung seine Augen. „Aber warum mache ich diese Ausreden?“, rief er. „Es ist besser, M. Hanaud, dass ich zurück zu meiner Uniform gehe und an der Straßenecke stehe. Ich bin so töricht wie ich aussehe.“ „Unsinn, mein Freund“, sagte Hanaud und klopfte dem untröstlichen Mann auf die Schulter. „Sie erinnerten sich an den Wagen und an seine Nummer. Das ist etwas – und vielleicht eine ganze Menge“, fügte er ernst hinzu. „Was die Talkmaske und den schwarzen Schnurrbart angeht, das ist nicht viel, um uns zu helfen, es ist wahr.“ Er blickte auf Ricardos geknicktes Gesicht und lächelte. „Wir könnten unseren guten Freund M. Ricardo aufgrund dieses Beweises verhaften, aber niemanden sonst, den ich kenne.“ Hanaud lachte übertrieben über diesen Scherz. Er alleine schien keine Enttäuschung über Perrichets Versehen zu fühlen. Ricardo war über das Thema seines persönlichen Aussehens ein wenig empfindlich und hielt sich sichtlich im Zaum. Hanaud wandte sich an Servettaz. „Also“, sagte er, „Sie wissen, wie viel Benzin aus der Garage genommen wurde?“ „Ja, Monsieur.“ 91
„Können Sie mir nach der Menge, die sie benutzt haben, sagen, wie weit der Wagen letzte Nacht gefahren wurde?“, fragte Hanaud. Servettaz überprüfte den Tank. „Eine lange Strecke, Monsieur. Hundertdreißig bis hundertfünfzig Kilometer, würde ich sagen.“ „Ja, ungefähr diese Strecke, würde ich sagen“, rief Hanaud. Seine Augen leuchteten auf und ein Lächeln, ein ziemlich grimmiges Lächeln, kam auf seine Lippen. Er öffnete die Tür und untersuchte mit einem minutiösen prüfenden Blick den Boden des Wagens, und als er schaute, verblasste das Lächeln von seinem Gesicht. Verwirrtheit kehrte zurück. Er nahm die Kissen, betrachtete sie genau und schüttelte sie aus. „Ich sehe kein Zeichen ‐“, begann er und dann äußerte er einen kleinen schrillen Schrei der Zufriedenheit. Von der Spalte der Tür bei dem Scharnier hob er ein winziges Stück blassgrünen Stoff auf, dass er auf seinem Handrücken ausbreitete. „Sagen Sie mir, was das ist?“, sagte er zu Ricardo. „Es ist ein grüner Stoff“, sagte Ricardo sehr klug. „Es ist grüner Chiffon“, sagte Hanaud. „Und das Kleid, in dem Mlle. Célie fortging, war aus grünem Chiffon über Satin. Ja, Mlle. Célie fuhr in diesem Wagen.“ Er eilte zu dem Fahrersitz. Auf dem Boden war dunkle Erde. Hanaud putzte ihn mit seinem Messer ab und hielt ihn in seiner Handfläche. Er wandte sich an Servettaz. „Sie fuhren den Wagen am Dienstagmorgen, bevor Sie nach Chambéry fuhren?“ „Ja, Monsieur.“ „Wo nahmen Sie Mme. Dauvray und Mlle. Célie auf?“ „An der Haustür der Villa Rose.“ „Stiegen Sie überhaupt vom Sitz herunter?“ 92
„Nein, Monsieur; nicht, nachdem ich die Garage verließ.“ Hanaud kehrte zu seinen Begleitern zurück. „Sehen Sie!“ Und er öffnete seine Hand. „Das ist schwarze Erde – feucht von dem Regen letzte Nacht – Erde wie die Erde vor Mme. Dauvrays Salon. Sehen Sie, hier sind sogar ein oder zwei Grasblätter“; und er drehte die Erde in seiner Handfläche herum. Dann nahm er einen leeren Umschlag aus seiner Tasche und schüttete die Erde hinein und klebte den Flügelschlag hinunter. Er stand und sah den Wagen finster an. „Hören Sie“, sagte er, „wie bin ich verwirrt! Da war letzte Nacht ein Mann in der Villa Rose. Da waren die verwischten Fußabdrücke eines Mannes in der Erde vor der Glastür. Dieser Mann fuhr Madames Wagen hundertfünfzig Kilometer und er lässt die Erde, die an seinen Stiefeln haftet, auf dem Boden seines Sitzes. Mlle. Célie und eine andere Frau fuhren in dem Wagen davon. Mlle. Célie lässt ein Stück Chiffon von ihrem Kleid, das sich in dem Scharnier verfing. Aber Mlle. Célie machte deutlichere Eindrücke in der Erde als der Mann. Doch auf dem Boden des Wagens ist keine Spur ihrer Schuhe. Wieder sage ich, da ist etwas, das ich nicht verstehe.“ Und er breitete seine Hände mit einer impulsiven Geste der Verzweiflung aus. „Es sieht aus, als ob sie vorsichtig und sorglos gewesen wären“, sagte Mr. Ricardo mit der Miene eines Mannes, der ein sehr schwieriges Problem löst. „Was für ein Verstand!“, rief Hanaud, der nur bewundernd seine Hände faltete. „Wie schnell und wie tiefsinnig!“ Da war manchmal etwas elefantenartig Koboldhaftes in M. Hanauds Verhalten, das Mr. Ricardo in Verlegenheit brachte. Aber er hatte zu bemerken begonnen, dass diese würdelosen Bekundungen gewöhnlich stattfanden, wenn Hanaud eine bestimmte Meinung über einen Punkt erreicht hatte, der ihn erreicht hatte. „Doch gibt es vielleicht eine andere Erklärung“, fuhr Hanaud fort. „Denn beachten Sie, M. Ricardo. Wir haben andere Beweise, um zu zeigen, dass die Sorglose Mlle. Célie war. Sie war es, die ihre Fußabdrücke so deutlich sichtbar auf dem Gras zurückließ. Jedoch werden wir zu M. Wethermills Zimmer im Hôtel Majestic zurückgehen und diese Angelegenheit besprechen. Wir wissen 93
jetzt etwas. Ja, wir wissen – was wissen wir, Monsieur?“, fragte und drehte sich plötzlich mit einem Lächeln Ricardo zu, und als Ricardo innehielt: „Überdenken Sie es, während wir zu M. Wethermills Zimmer im Hôtel Majestic gehen.“ „Wir wissen, dass der Mörder entkommen war“, erwiderte Ricardo erregt. „Der Mörder ist jetzt nicht das wichtigste Objekt in dieser Suche. Er ist bis jetzt sehr wahrscheinlich in Marseille. Wir werden unsere Hände an ihn legen, keine Angst“, erwiderte Hanaud mit einer großartigen Geste der Verachtung. „Aber es war rücksichtsvoll von Ihnen, mich an ihn zu erinnern. Ich hätte ihn so leicht ganz vergessen können, und dann hätte mein Ruf tatsächlich eine Finsternis erlitten.“ Er machte eine tiefe ironische Verbeugung zu Ricardo und ging schnell die Straße hinunter. „Für einen schwerfälligen Mann ist er außergewöhnlich aktiv“, sagte Mr. Ricardo zu Harry Wethermill und versuchte, ohne viel Erfolg zu lachen. „Ein schwerer, kluger Mann in mittleren Jahren, haftbar, jeden Augenblick ein kleiner Gossenjunge zu werden.“ So beschrieb er den großen Kriminalbeamten und die Beschreibung wird zitiert. Denn es war Ricardos beste Bemühung in dieser ganzen Angelegenheit. Die drei Männer gingen direkt zu Harry Wethermills Apartment, das aus einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer im ersten Stock bestand. Ein Balkon lief draußen entlang. Hanaud schritt darauf hinaus, sah sich um und kehrte zurück. „Es ist ebenso gut zu wissen, dass wir nicht belauscht werden können“, sagte er. Harry Wethermill hatte sich in der Zwischenzeit in einen Stuhl geworfen. Die Maske, die er getragen hatte, war für einen Augenblick von seinen Befestigungen gerutscht. Da war ein Blick des unendlichen Leidens auf seinem Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, der von dem Elend bis zu dem Knackpunkt gequält wurde. Hanaud andererseits war besonders wachsam. Die Entdeckung des Wagens hatte seine Lebensgeister geweckt. Er saß am Tisch. „Ich werde Ihnen sagen, was wir gelernt haben“, sagte er, „und es ist von Bedeutung. Die drei ‐ der Mann, die Frau mit dem roten Haar und Mlle. Célie ‐ 94
alle fuhren gestern Nacht nach Genf. Das ist nur eine Sache, die wir gelernt haben.“ „Dann klammern Sie sich noch immer an Genf?“, sagte Ricardo. „Mehr als zuvor“, sagte Hanaud. Er drehte sich in seinem Stuhl zu Wethermill. „Ah, mein armer Freund!“, sagte er, als er den Kummer des jungen Mannes sah. Harry Wethermill sprang mit einer Geste auf, als ob er die Notwendigkeit des Mitgefühls wegfegte. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. „Sie haben vielleicht eine Straßenkarte?“, sagte Hanaud. „Ja“, sagte Wethermill, „meine ist hier. Da ist sie“, und indem er den Raum durchquerte, brachte er sie von einem Beistelltisch und legte sie vor Hanaud. Hanaud nahm einen Bleistift aus seiner Tasche. „Hundertfünfzig Kilometer war ungefähr die Entfernung, die der Wagen gefahren war. Messen Sie hier die Entfernung und Sie werden sehen, dass Genf der wahrscheinliche Ort ist. Es ist eine gute Stadt, um sich darin zu verstecken. Überdies erscheint der Wagen bei Tageslicht an der Ecke. Wie erscheint er dort? Was für eine Straße ist es, die an dieser Ecke herauskommt? Die Straße aus Genf. Es tut mir nicht leid, dass es Genf ist, denn der Chef de la Sûreté ist ein Freund von mir.“ „Und was wissen Sie noch?“, fragte Ricardo. „Dies“, sagte Hanaud. Er hielt eindrucksvoll inne. „Bringen Sie Ihren Stuhl zu dem Tisch herauf, M. Wethermill, und betrachten Sie, ob ich recht oder unrecht habe“, und er wartete, bis Harry Wethermill gehorcht hatte. Dann lachte er auf eine freundliche Weise über sich selbst. „Ich kann nicht umhin“, sagte er, „ich habe ein Auge für dramatische Effekte. Ich muss mich auf sie vorbereiten, wenn ich weiß, dass sie kommen. Und eines sage ich Ihnen, kommt jetzt.“ 95
Er deutete mit seinem Finger nach seinen Begleitern. Ricardo rutsche auf seinem Stuhl hin und her. Harry Wethermill hielt seine Augen auf Hanauds Gesicht gerichtet, aber er war ruhig, wie er es während der ganzen langen Untersuchung gewesen war. Hanaud zündete eine Zigarette an und nahm sich Zeit. „Was ich denke, ist dies. Der Mann, der den Wagen nach Genf fuhr, fuhr ihn zurück, weil er vorhatte, ihn wieder in der Garage der Villa Rose zu lassen.“ „Gütiger Himmel!“, rief Ricardo und warf sich zurück. Die so ruhig formulierte Theorie nahm ihm den Atem. „Hätte er es gewagt?“, fragte Harry Wethermill. Hanaud lehnte sich hinüber und klopfte mit seinen Fingern auf den Tisch, um seine Antwort zu unterstreichen. „Während des ganzen Verbrechens gibt es zwei sichtbare Dinge ‐ Verstand und Wagemut; kluger Verstand und außergewöhnlicher Wagemut. Hätte er es gewagt? Er wagte es, so nahe an der Ecke zur Villa Rose bei Tageslicht zu sein. Warum sonst hätte er zurückkehren sollen, außer, um den Wagen zurückzustellen? Überlegen Sie! Das Benzin ist aus Kanistern genommen worden, die Servettaz vielleicht zwei Wochen lang nicht angerührt hätte, und bis dahin hätte er vielleicht, wie er sagte, vergessen, ob er es selbst benutzt hatte. Ich hatte diese Möglichkeit in meinem Sinn, als ich Servettaz die Frage über das Benzin stellte, die der Commissaire für so dumm hielt. Die äußerste Sorgfalt wird genommen, dass keine Erde auf dem Boden des Wagens sein soll. Das Stück Chiffon war zweifellos abgerissen, als die Frauen schließlich den Wagen verließen und es daher nicht bemerkten oder dass sie es entfernt hätten. Dass das Äußere des Wagens schmutzig war, verriet nichts, denn Servettaz hatte in ungereinigt zurückgelassen. Hanaud lehnte sich zurück und berichtete Schritt für Schritt die Reise des Wagens. „Der Mann lässt das Tor offen; er fährt die beiden Frauen nach Genf, die vorsichtig sind, dass ihre Schuhe keine Abdrücke auf dem Boden zurücklassen. In Genf steigen sie aus. Der Mann kehrt zurück. Wenn er nur den Wagen in der Garage lassen kann, bedeckt er alle Spuren des Verlaufs, den er und seine 96
Freunde unternommen hatten. Niemand würde vermuten, dass der Wagen die Garage verlassen hatte. An der Ecke der Straße, gerade, als er zur Villa hinunterbiegt, sieht er am Tor einen sergent‐de‐ville. Er weiß, dass der Mord entdeckt worden ist. Er gibt Vollgas und fährt direkt aus der Stadt hinaus. Was soll er tun? Er fährt einen Wagen, den die Polizei in ein oder zwei Stunden, wenn nicht schon jetzt, sicher beobachten wird. Er fährt ihn bei hellem Tageslicht. Er muss ihn loswerden und sofort, bevor die Leute ihn sehen und ihn darin sehen. Stellen Sie sich seine Gefühle vor! Es ist fast genug, um einen dazu zu bringen, ihn zu bedauern. Hier ist er in einem Wagen, der ihn als Mörder überführt, und er kann ihn nirgendwo lassen. Er fährt durch Aix. Dann am Stadtrand findet er eine leere Villa. Er fährt bei dem Tor hinein, bricht die Tür des Kutschenhauses auf und lässt seinen Wagen dort. Nun beachten Sie! Es hat nicht länger einen Sinn für ihn, so zu tun, als ob er und seine Freunde nicht in diesem Wagen verschwanden. Der Mord ist schon entdeckt und mit dem Mord das Verschwinden des Wagens. Daher beunruhigt er nicht länger seinen Kopf damit. Er entfernt die Spuren der Erde nicht von der Stelle, wo seine Füße ruhten, was er sonst zweifellos getan hätte. Es spielt nicht länger eine Rolle. Er muss davonrennen, bevor er gesehen wird. Das ist seine ganze Angelegenheit. Und so wird der Zustand des Wagens erklärt. Es war ein kühner Schritt, den Wagen zurückzubringen – ja, ein kühner und verzweifelter Schritt. Aber ein kluger. Denn wenn er gelungen wäre, hätten wir nichts von ihren Bewegungen gewusst – oh, aber nichts – nichts. Ah! Ich sage Ihnen, dies ist keine gewöhnliche tölpelhafte Angelegenheit. Es sind kluge Leute, die dieses Verbrechen ersinnen – klug und von einer Dreistigkeit, die überraschend ist.“ Dann zündete sich Hanaud noch eine Zigarette an. Mr. Ricardo andererseits konnte kaum vor Aufregung weiterrauchen. „Ich kann Ihre Ruhe nicht verstehen“, rief er aus. „Nein?“, sagte Hanaud. „Doch ist es so offensichtlich. Sie sind der Amateur, ich bin der Profi – das ist alles.“ Er blickte auf seine Uhr und stand auf. „Ich muss gehen“, sagte er, als er sich zur Tür wandte, sprang ein Schrei von Mr. Ricardos Lippen.
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„Es ist wahr; ich bin der Amateur. Doch habe ich Wissen, M. Hanaud, wobei der Profi gut daran täte, es zu erlangen.“ Hanaud wandte ein geschütztes Gesicht Ricardo zu. Es war nicht länger Spöttelei in seiner Art. Er sprach langsam und kalt. „Geben sie es mir dann!“ „Ich habe meinen Wagen von Genf nach Frankreich gefahren“, sagte Ricardo aufgeregt. „Eine Brücke überquert eine Schlucht zwischen den Hügeln. An der Brücke ist ein Zollhäuschen. Dort – an der Pont de Caille, hält Ihr Wagen an. Er wird durchsucht. Sie müssen mit Ihrem Namen in einem Buch unterschrieben. Und dort gibt es keinen Weg rundherum. Man würde einen gewissen Nachweis finden, ob der Wagen letzte Nacht nach Genf fuhr oder nicht. Nicht so viele Reisende fahren nachts diese Straße entlang. Man würde auch einen gewissen Beweis finden, wie viele in dem Wagen reisten, denn sie durchsuchen sorgfältig an der Pont de la Caille.“ Eine dunkle Röte breitete sich über Hanauds Gesicht aus. Ricardo war im siebenten Himmel. Er hatte schließlich etwas zu der Geschichte dieses Verbrechens beigetragen. Er hatte dem Allwissenden Wissen übermittelt. Wethermill blickte auf. „Ja, sie dürfen diesen Hinweis nicht vernachlässigen“, sagte er begierig. Hanaud erwiderte gereizt. „Es ist kein Hinweis. M. Ricardo erzählt uns, dass er von Genf nach Frankreich reiste und dass sein Wagen durchsucht wurde. Also, wir wissen schon, dass die Beamten in dem Zollhäuschen von Frankreich eigen sind. Aber von Frankreich in die Schweiz zu reisen, ist eine ganz andere Angelegenheit. In der Schweiz kaum ein Blick, kaum ein Wort.“ Das stimmte. Mr. Ricardo erkannte die Wahrheit. Aber seine Lebensgeister erwachten wieder. „Aber der Wagen kam aus Genf nach Frankreich zurück!“, rief er. „Ja, aber als der Wagen zurückkam“, erwiderte Hanaud, „war der Mann alleine darin. Ich habe mich um wichtigere Dinge zu kümmern. Zum Beispiel muss ich 98
herausfinden, ob sie zufällig unseren Mann in Marseille erwischt haben.“ Er legte seine Hand auf Wethermills Schulter. „Und Ihnen, mein Freund, würde ich raten, etwas Schlaf zu bekommen. Wir brauchen vielleicht morgen Ihre ganze Kraft. Ich hoffe es.“ Er sprach sehr ernst. „Ja, ich hoffe es.“ Wethermill nickte. „Ich werde es versuchen“, sagte er. „Das ist besser“, sagte Hanaud fröhlich. „Sie werden heute Abend beide hier bleiben; denn wenn ich Neuigkeiten habe, kann ich Sie anrufen.“ Beide Männer stimmten zu und Hanaud ging fort. Er ließ Mr. Ricardo sehr unzufrieden zurück. „Dieser Mann wird von niemandem Rat annehmen“, rief er; „seine Eitelkeit ist kolossal. Es stimmt, dass sie an der Schweizer Grenze nicht eigen sind. Doch würde der Wagen dort anhalten müssen. Im Zollhäuschen würden sie es wissen. Hanaud sollte Untersuchungen anstellen.“ Aber weder Ricardo noch Harry Wethermill hörte in dieser Nacht ein weiteres Wort von Hanaud.
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Kapitel X Neuigkeiten aus Genf Am nächsten Morgen jedoch, bevor Mr. Ricardo aufgestanden war, wurde M. Hanaud angekündigt. Er kam heiter in das Zimmer geschritten, elefantenartig koboldhafter als zuvor. „Schicken Sie Ihren Kammerdiener fort“, sagte er. Und sobald sie alleine waren, holte er eine Zeitung hervor, die er vor Mr. Ricardos Gesicht herumfuchtelte und dann in seine Hände fallen ließ. Ricardo sah, als er ihm ins Gesicht starrte, eine volle Beschreibung von Celia Harland, von ihrem Äußeren und ihrem Kleid, von allem, außer ihrem Namen, verbunden mit einer Andeutung, dass eine Belohnung von viertausend Francs demjenigen bezahlt würde, der Informationen geben könnte, die zu der Entdeckung des Aufenthalts an Mr. Ricardo, Hôtel Majestic, Aix‐les‐Bains führen! Mr. Ricardo setzte sich empört im Bett auf. „Sie haben dies getan?“, fragte er. „Ja.“ „Warum haben Sie es getan?“, rief Mr. Ricardo. Hanaud näherte sich geheimnisvoll auf Zehenspitzen dem Bett. „Ich werde es Ihnen sagen“, sagte er in seinem vertraulichsten Ton. „Nur muss es ein Geheimnis zwischen Ihnen und mir bleiben. Ich tat es – weil ich einen Sinn für Humor habe.“ „Ich hasse Publicity“, sagte Mr. Ricardo ätzend. „Andererseits, Sie haben viertausend Francs“, protestierte der Kriminalbeamte. „Außerdem, was sonst sollte ich tun? Wenn ich mich selbst nenne, werden genau die Leute, die wir zu fangen versuchen – die, Sie mögen sicher sein, die Ersten sein werden, die diese Anzeige lesen – wissen, dass ich, der große, der unvergleichliche Hanaud, hinter ihnen her bin; und ich will nicht, dass sie das wissen. Außerdem“ – und er sprach nun mit einer sanften und äußerst ernsten 100
Stimme – „warum sollten wir das Leben für Mlle. Célie schwieriger machen, indem wir der Welt sagen, dass die Polizei sie sucht? Es wird Zeit genug dafür sein, wenn sie vor dem Juge d’Instruction erscheint.“ Mr. Ricardo knurrte undeutlich und las die Anzeige wieder durch. „Außerdem ist Ihre Beschreibung unvollständig“, sagte er. „Es gibt keine Erwähnung von dem Diamantohrgehänge, das Celia Harland trug, als sie fortging.“ „Ah! Also bemerkten Sie das!“, rief Hanaud aus. „Ein wenig mehr Erfahrung und ich werde sehr genau nach meinen Lorbeerblättern suchen. Aber was die Ohrringe angeht – ich werde es Ihnen sagen. Mlle. Célie trug sie nicht, als sie aus der Villa Rose davonging. „Aber – aber“, stotterte Ricardo, „das Kästchen auf dem Toilettentisch war leer.“ „Doch trug sie sie nicht, weiß ich“, sagte Hanaud entschlossen. „Wie wissen Sie das?“, rief Ricardo, der mit Ehrfurcht in seinen Augen Hanaud anblickte. „Wie können Sie es wissen?“ „Weil“ – und Hanaud nahm eine majestätische Haltung ein, wie ein König in einem Theaterstück – „weil ich der Kapitän des Schiffes bin.“ Daraufhin erlitt Mr. Ricardo eine Rückkehr seiner schlechten Laune. „Ich möchte nicht mit etwas nachlässig umgehen“, bemerkte er mit so viel Würde, wie sein zerzaustes Haar und das Bettzeug es ihm erlaubten. Er blickte ernst auf die Zeitung, blätterte um und äußerte dann einen überraschten Schrei. „Aber das ist die gestrige Zeitung!“, sagte er. „Die gestrige Abendzeitung“, korrigierte Hanaud. „In Genf gedruckt!“ „Gedruckt und herausgegeben und verkauft in Genf“, sagte Hanaud. „Wann setzten Sie dann die Anzeige hinein?“
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„Ich schrieb einen Brief, während wir unser Mittagessen einnahmen“, erklärte Hanaud. „Der Brief war an Besnard, worin ich ihn bat, die Anzeige sofort zu telegrafieren.“ „Aber Sie sagten nie ein Wort darüber zu uns“, knurrte Ricardo. „Nein. Und war es nicht klug?“, sagte Hanaud mit Selbstgefälligkeit. „Denn Sie hätten mir verboten, Ihren Namen zu benutzen.“ „Oh, ich gehe nicht so weit“, sagte Ricardo widerwillig. Seine Empörung verdampfte schnell. Denn es wuchs in seinem Sinn eine angenehme Wahrnehmung, dass die Anzeige ihn in das Rampenlicht stellte. Er stand aus seinem Bett auf. „Machen Sie es sich im Wohnzimmer gemütlich, während ich mich bade.“ „Werde ich tatsächlich“, erwiderte Hanaud fröhlich. „Ich habe schon meine Morgenschokolade bestellt. Ich habe Hoffnungen, dass Sie sehr bald ein Telegramm bekommen. Diese Zeitung wurde letzte Nacht durch die Straßen von Genf geschrien.“ Ricardo kleidete sich zum einen auf eine Weise mit einer Annäherung zur gewöhnlichen Geschwindigkeit und schloss sich Hanaud an. „Ist nichts gekommen?“, fragte er. „Nein. Diese Schokolade ist sehr gut; sie ist besser als die, die ich in meinem Hotel bekomme.“ „Gütiger Himmel!“, rief Ricardo, der ziemlich vor Aufregung piepte. „Sie sitzen dort und reden über Schokolade, während mein Becher in meinen Fingern zittert.“ „Wieder muss ich Sie erinnern, dass Sie der Amateur sind, ich der Profi, mein Freund.“ Als der Morgen jedoch voranschritt, verließ ihn Hanauds professionelle Ruhe. Er begann bei dem Klang von Schritten auf dem Gang zusammenzuzucken, jeden zweiten Augenblick aus dem Fenster zu blicken, seine Zigaretten eher zu essen als zu rauchen. Um elf Uhr brachte Ricardos Kammerdiener ein Telegramm in das Zimmer. Ricardo ergriff es. 102
„Ruhig, mein Freund“, sagte Hanaud. Mit zitternden Fingern riss Ricardo es auf. Er sprang in seinem Stuhl. Sprachlos reichte er Hanaud das Telegramm. Es war aus Genf gesandt worden und darin stand: „Erwarten Sie mich kurz nach drei. – MARTHE GOBIN.“ Hanaud nickte mit seinem Kopf. „Ich sagte Ihnen, dass ich Hoffnungen hätte.“ All seine Leichtfertigkeit war in einem Augenblick aus seinem Verhalten gegangen. Er sprach sehr ruhig. „Ich sollte lieber nach Wethermill senden lassen?“, fragte Ricardo. Hanaud zuckte mit den Achseln. „Wie Sie wollen. Aber warum in der Brust dieses armen Mannes Hoffnungen erwecken, die vielleicht in ein oder zwei Stunden auf dem Boden zerschmettert werden? Überlegen Sie! Marthe Gobin hat uns etwas zu erzählen. Überdenken Sie diese acht Punkte des Beweises, die Sie gestern in der Villa des Fleurs aufschrieben, und sagen Sie, ob das, was sie uns zu sagen hat, wahrscheinlicher ist, Mlle. Célies Unschuld als ihre Schuld zu beweisen. Denken Sie gut, denn ich werde von Ihnen geleitet, M. Ricardo“, sagte Hanaud feierlich. „Wenn Sie es für besser halten, dass Ihr Freund in Qual leben sollte, bis Marthe Gobin kommt, und dann vielleicht eine schlimmere Qual von den Neuigkeiten, die sie bringt, erleidet, sei es so. Sie sollen entscheiden. Wenn andererseits Sie denken, es wird am besten sein, M. Wethermill in Frieden zu lassen, bis wir ihre Geschichte kennen, sei es so. Sie sollen entscheiden.“ Ricardo bewegte sich unbehaglich. Die Feierlichkeit von Hanauds Art beeindruckte ihn. Er hatte keinen Wunsch, die Verantwortung der Entscheidung auf sich zu nehmen. Aber Hanaud saß mit seinen Augen merkwürdig auf Ricardo gerichtet und wartete auf seine Antwort. „Also“, sagte Ricardo endlich, „gute Nachrichten werden nicht schlechter ein paar Stunden zu warten sein. Schlechte Nachrichten werden ein wenig besser sein.“ „Ja“, sagte Hanaud; „so dachte ich, würden Sie entscheiden.“ Er nahm ein kontinentales Kursbuch aus dem Bücherregal im Zimmer. „Von Genf wird sie 103
durch Culoz kommen. Sehen wir!“ Er blätterte die Seiten um. „Da ist ein Zug von Culoz, der Aix sieben Minuten nach drei erreicht. Sie wird mit diesem Zug kommen. Sie haben einen Wagen?“ „Ja.“ „Sehr gut. Werden Sie mich darin bei meinem Hotel abholen? Wir werden hinunter zum Bahnhof fahren und die Ankommenden mit diesem Zug sehen. Es hilft uns vielleicht, eine Vorstellung von der Person zu bekommen, mit der wir es zu tun haben. Das ist immer ein Vorteil. Nun werde ich Sie verlassen, denn ich habe viel zu tun. Aber ich werde bei M. Wethermill vorbeischauen, wenn ich hinuntergehe und ihm sage, dass es bis jetzt keine Neuigkeiten gibt.“ Er nahm seinen Hut und Stock und stand für einen Augenblick, wobei er aus dem Fenster starrte. Dann erwachte er mit einem Schrecken aus seiner Tagträumerei. „Sie sehen auf den Mont Revard hinaus, sehe ich. Ich denke, M. Wethermills Aussicht über den Garten und die Stadt ist besser“, sagte er und ging aus dem Zimmer. Um drei Uhr fuhr Ricardo mit seinem Wagen, der ein offener Hochleistungswagen war, vor Hanauds Hotel vor und die beiden Männer fuhren zum Bahnhof. Sie warteten draußen vor dem Eingang, während die Passagiere ihre Fahrkarten lösten. Unter ihnen zog eine kleine Frau in mittleren Jahren, von einer plethorischen Neigung, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie war ordentlich, aber schäbig in Schwarz gekleidet; ihre Handschuhe waren gestopft und sie war offensichtlich in Eile. Als sie herauskam, fragte sie einen Träger: „Wie weit ist es zum Hôtel Majestic?“ Der Mann sagte ihr, dass das Hotel ganz oben von der Stadt und der Weg steil war. „Aber Madame können mit dem Omnibus des Hotels hinauffahren“, schlug er vor. Madame war jedoch zu sehr in Eile. Der Omnibus würde auf das Gepäck warten müssen. Sie rief eine geschlossene Droschke und fuhr damit davon.
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„Nun, wenn wir in dem Wagen zurückfahren, werden wir für sie bereit sein, wenn sie ankommt“, sagte Hanaud. Sie fuhren tatsächlich an der Droschke vorbei, ein paar Meter den steilen Hügel hinauf, der vom Bahnhof wegführt. Die Droschke fuhr im Schritttempo. „Sie sieht ehrlich aus“, sagte Hanaud mit einem Seufzer der Erleichterung. „Sie ist eine gute Bürgerin, die bestrebt ist, viertausend Francs zu verdienen.“ Sie erreichten das Hotel in ein paar Minuten. „Wir brauchen vielleicht Ihren Wagen wieder in dem Augenblick, wenn Marthe Gobin fort ist“, sagte Hanaud. „Ich werde hier warten“, sagte Ricardo. „Nein“, sagte Hanaud; „lassen Sie ihn in der kleinen Straße auf der Rückseite des Hotels warten. Er wird dort nicht so auffällig sein. Sie haben Benzin für eine lange Reise?“ Ricardo gab ruhig den Befehl seinem Chauffeur und folgte Hanaud ins Hotel. Durch ein Glasfenster konnten sie Wethermill eine Zigarre bei seinem Kaffee rauchen sehen. „Er sieht aus, als ob er nicht geschlafen hätte“, sagte Ricardo. Hanaud nickte mitfühlend und winkte Ricardo am Fenster vorbei. „Aber wir nähern uns dem Ende. Diese zwei Tage sind für ihn Tage der großen Sorge gewesen; man kann das sehr deutlich sehen. Und er hat nichts getan, um uns in Verlegenheit zu bringen. Betrübte Männer sind geneigt, ein Ärgernis zu sein. Ich bin M. Wethermill dankbar. Aber wir nähern uns dem Ende. Wer weiß? Innerhalb von ein oder zwei Stunden haben wir vielleicht Neuigkeiten für ihn.“ Er sprach mit großem Gefühl und die beiden Männer stiegen die Treppe zu Ricardos Räumen hinauf. Zum zweiten Mal an diesem Tag verließ ihn Hanauds professionelle Ruhe. Das Fenster überblickte den Haupteingang zum Hotel. Hanaud ordnete das Zimmer, und sogar während er es ordnete, rannte er jede zweite Sekunde und lehnte sich aus dem Fenster, um nach dem Kommen der Droschke Ausschau zu halten. 105
„Legen Sie die Geldscheine auf den Tisch“, sagte er eilig. „Sie werden sie überzeugen, uns alles, was sie zu erzählen hat, zu sagen. Ja, das wird gehen. Sie ist noch nicht in Sicht? Nein.“ „Sie könnte es nicht. Es ist ein langer Weg vom Bahnhof“, sagte Ricardo, „und die ganze Strecke ist bergauf.“ „Ja, das ist wahr“, erwiderte Hanaud. „Wir werden sie nicht in Verlegenheit bringen, indem wir wie ein Tribunal um den Tisch herumsitzen. Sie werden in diesem Lehnstuhl sitzen.“ Ricardo nahm Platz, schlug die Beine über und verschränkte seine Finger. „Also! Nicht zu richterlich!“, sagte Hanaud. „Ich werde hier am Tisch sitzen. Was Sie auch tun, ängstigen Sie sich nicht.“ Hanaud setzte sich auf den Stuhl, den er für sich hingestellt hatte. „Marthe Gobin soll gegenübersitzen, mit dem Licht auf ihrem Gesicht. So!“ Und indem er aufsprang, arrangierte er einen Stuhl für sie. „Was Sie auch tun, verängstigen Sie sie nicht“, wiederholte er. „Ich bin nervös. So viel hängt von dieser Unterredung ab.“ Und in einer Sekunde war er zurück am Fenster. Ricardo bewegte sich nicht. Er organisierte in seinem Kopf das Verhör, das stattfinden sollte. Er sollte es leiten. Er war der Herr der Situation. Das Rampenlicht sollte ihm gehören. Erschreckende Tatsachen würden durch seine geschickten Fragen ans Licht kommen. Hanaud musste sich nicht fürchten. Er würde sie nicht ängstigen. Er würde freundlich sein, er würde listig sein. Sanft und zart würde er diese gute Frau von innen nach außen drehen, wie einen Handschuh. Jede künstlerische Faser in seinem Körper vibrierte zu der dramatischen Situation. Plötzlich lehnte sich Hanaud aus dem Fenster. „Es kommt! Es kommt!“, sagte er mit schnellem, fieberhaftem Flüstern. „Ich kann die Droschke zwischen den Sträuchern der Auffahrt sehen.“ „Lassen Sie es kommen!“, sagte Mr. Ricardo selbstbewusst. Sogar, als er sich setzte, konnte er das Ächzen der Räder auf der Auffahrt hören. Er sah, wie sich Hanaud weiter aus dem Fenster lehnte und ungeduldig auf den Boden stampfte. 106
„Dort ist es an der Tür“, sagte er; und für ein paar Sekunden sprach er nicht mehr. Er stand und sah nach unten, wobei er seinen Kopf reckte, seine Rücken Ricardo zugewandt. Dann, mit einem wilden und erschrockenen Schrei, taumelte er in das Zimmer zurück. Sein Gesicht war weiß wie Wachs, seine Augen voller Entsetzen, sein Mund offen. „Was ist los?“, rief Ricardo aus und sprang auf. „Sie heben sie heraus! Sie bewegt sich nicht! Sie heben sie heraus!“ Für einen Augenblick starrte er in Ricardos Gesicht ‐ gelähmt vor Furcht. Dann sprang er die Treppe hinunter. Ricardo folgte ihm. Es gab Verwirrung auf dem Gang. Männer rannten, Stimmen riefen Fragen. Als sie am Fenster vorbeikamen, sahen sie Wethermill aufschrecken, aus seiner Lethargie geweckt. Sie kannten die Wahrheit, bevor sie den Eingang des Hotels erreichten. Eine Droschke war vom Bahnhof zur Tür gefahren; in der Droschke war eine unbekannte Frau, die eine Stich ins Herz bekommen hatte. „Sie hätte mit dem Omnibus kommen sollen“, wiederholte Hanaud immer wieder dumm. Für den Augenblick war er aus dem Gleichgewicht.
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Kapitel XI Der ungeöffnete Brief Die Hotelhalle war von den Leuten geräumt worden. Am Eingang des Gangs versperrte ein Portier den Weg. „Niemand kann durchgehen“, sagte er. „Ich denke, dass ich es kann“, sagte Hanaud und er holte seine Visitenkarte hervor. „Von der Sûreté in Paris.“ Er durfte eintreten, mit Ricardo auf seinen Fersen. Auf dem Boden lag Marthe Gobin; der Hotelmanager stand an ihrer Seite; ein Arzt kniete. Hanaud gab dem Manager seine Visitenkarte. „Sie haben die Polizei benachrichtigt?“ „Ja“, sagte der Manager. „Und die Wunde?“, fragte Hanaud, der sich neben den Arzt auf den Boden kniete. Es war eine sehr kleine Wunde, rund und nett und sauber, und da war sehr wenig Blut. „Sie war von einer Kugel gemacht“, sagte Hanaud ‐ „einer winzigen Kugel aus einer Luftpistole.“ „Nein“, antwortete der Doktor. „Kein Messer machte es“, behauptete Hanaud. „Das ist wahr“, sagte der Arzt. „Schauen Sie!“, und er hob vom Boden bei seinem Knie die Waffe auf, die Marthe Gobins Tod verursacht hatte. Es war nur ein gewöhnlicher Fleischspieß mit einem Ring an einem Ende und einer scharfen Spitze an dem anderen, und ein Stück gewöhnliches weißes Brennholz als Griff. Das Holz war gespalten worden, der Ring hineingesteckt und mit einer starken Schnur in Position gebracht. Die Waffe war grob genug, aber wirksam. Der Beweis ihrer Wirksamkeit lag ausgestreckt auf dem Boden daneben. Hanaud gab sie dem Manager des Hotels. „Sie müssen sehr vorsichtig damit sein und sie so, wie sie ist, der Polizei geben.“
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Dann beugte er sich wieder über Marthe Gobin. „Hat sie gelitten?“, fragte er mit leiser Stimme. „Nein; der Tod muss augenblicklich gewesen sein“, sagte der Arzt. „Ich bin froh darüber“, sagte Hanaud, als er wieder aufstand. Im Eingang stand der Fahrer der Droschke. „Was hat er zu sagen?“, fragte Hanaud. Er schritt augenblicklich nach vor. Er war ein alter, rotgesichtiger, stämmiger Mann, mit einem glänzenden weißen hohen Hut, wie tausend Droschkenfahrer. „Was ich zu sagen habe, Monsieur?“, brummte er mit heiserer Stimme. „Ich nehme die arme Frau am Bahnhof auf und ich fahre sie dorthin, wohin sie mich bittet, und ich finde sie tot und mein Tag ist verloren. Wer wird mein Fahrgeld bezahlen, Monsieur?“ „Ich“, sagte Hanaud. „Da bitte“, und er reichte dem Mann ein Fünf‐Francs‐ Stück. „Nun antworten Sie mir! Sagten Sie mir, dass diese Frau in Ihrer Droschke ermordet wurde und dass Sie nichts darüber wussten?“ „Aber was sollte ich wissen? Ich nahm sie am Bahnhof auf, und den ganzen Weg den Hügel hinauf ist ihr Kopf jeden Augenblick draußen beim Fenster und schreit: ‚Schneller, schneller!‘ Oh, die gute Frau war in Eile! Aber ich nehme keine Notiz. Je mehr sie schreit, umso weniger höre ich; ich vergrabe meinen Kopf zwischen meinen Schultern und ich schaue geradeaus und nehme keine Notiz. Man kann nicht erwarten, dass Droschkenpferde diese Hügel hinaufrennen; es ist nicht vernünftig.“ „Also, Sie fuhren im Schritttempo“, sagte Hanaud. Er deutete Ricardo und sagte zum Manager: „M. Besnard wird zweifellos in ein paar Minuten hier sein, und er wird nach dem Juge d’Instruction senden. Es gibt nichts, was wir tun können.“ Er ging zu Ricardos Wohnzimmer zurück und warf sich in einen Stuhl. Er war unten in der Gegenwart des Arztes und der Leiche des Opfers ruhig genug gewesen. Nun mit nur Ricardo als Zeugen gab er seinem Kummer nach.
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„Es ist schrecklich“, sagte er. „Die arme Frau! Ich war es, die sie nach Aix brachte. Es war durch meine Sorglosigkeit. Aber wer hätte das gedacht ‐?“ Er riss seine Hände von seinem Gesicht und stand auf. „Ich hätte es mir denken sollen“, sagte er feierlich. „Außerordentlich wagemutig ‐ das war eine der Eigenschaften meines Verbrechers. Ich wusste es und ich missachtete es. Nun haben wir ein zweites Verbrechen. „Die Antwort führt Sie vielleicht zu dem Verbrecher“, sagte Mr. Ricardo. „Der Fleischspieß!“, rief Hanaud. „Wie wird uns das helfen? Ein Messer, ja ‐ vielleicht. Aber ein Fleischspieß!“ „In den Geschäften ‐ es wird nicht so viele in Aix geben, in denen man Fleischspieße kaufen kann ‐ sie erinnern sich vielleicht, an wen sie einen innerhalb der letzten Tage oder so verkauften.“ „Wie wissen wir, dass er innerhalb der letzten Tage oder so verkauft wurde?“, rief Hanaud spöttisch. „Wir haben es nicht mit einem Mann zu tun, der in ein Geschäft geht und einen einzigen Fleischspieß kauft, um damit einen Mord zu begehen und sich so der Polizei ausliefert. Wie oft muss ich es sagen!“ Die Heftigkeit seiner Verachtung ärgerte Ricardo. „Wenn der Mörder ihn nicht kaufte, wie erlangte er ihn?“, fragte er hartnäckig. „Oh, mein Freund, könnte er ihn nicht gestohlen haben? Von diesem oder irgendeinem Hotel in Aix? Würde der Verlust eines Fleischspießes bemerkt werden, denken Sie? Wie viele Leute in Aix haben heute Nieren à la brochette zum Mittagessen gehabt! Außerdem ist es nicht bloß der Tod dieser armen Frau, der mich beunruhigt. Wir haben den Beweis verloren, den sie uns bringen sollte. Sie hatte uns etwas über Célie Harland zu erzählen, was wir jetzt nie hören werden. Wir müssen wieder von vorne anfangen, und ich sage Ihnen, wir haben nicht die Zeit, wieder von vorne zu beginnen. Nein, wir haben nicht die Zeit. Zeit wird verloren sein und wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Er vergrub sein Gesicht wieder in seinen Händen und stöhnte laut. Sein Kummer war so gewaltig und so aufrichtig, dass Ricardo, schockiert wie er von dem Mord an Marthe Gobin war, sich daran machte, ihn zu trösten. „Aber Sie hätten nicht vorhersehen können, dass um drei Uhr nachmittags in Aix ‐“ 110
Hanaud fegte die Ausrede zur Seite. „Es ist keine Beschönigung. Ich hätte es vorhersehen sollen. Oh, aber ich werde jetzt kein Mitleid haben“, rief er, und als er die Worte beendete, veränderte sich sein Gesicht abrupt. Er hob einen zitternden Zeigefinger und zeigte. Es kam ein plötzlicher lebendiger Blick in seine matten und verzweifelten Augen. Er zeigte auf einen Beistelltisch, auf dem Mr. Ricardos Briefe aufgehäuft waren. „Sie haben sie heute Morgen nicht geöffnet?“, fragte er. „Nein. Sie kamen, während ich noch im Bett war. Ich habe bis jetzt nicht an sie gedacht.“ Hanaud ging zum Tisch hinüber, und als er auf die Briefe hinuntersah, äußerte er einen Schrei. „Da ist einer, der große Umschlag“, sagte er, wobei seine Stimme wie seine Hand zitterte. „Sie hat eine Schweizer Briefmarke.“ Er schluckte, um seine Kehle zu befeuchten. Ricardo sprang quer durch das Zimmer und riss den Umschlag auf. Dort war ein langer Brief mit einer ihm unbekannten Handschrift enthalten. Er las die ersten Zeilen des Briefes laut vor. „Ich schreibe, was ich sah und schicke es heute Abend mit der Post, sodass niemand vor mir mit der Neuigkeit sein mag. Ich werde um das Geld morgen hinüberkommen.“ Ein leiser Ausruf von Hanaud unterbrach die Worte. „Die Unterschrift! Schnell!“ Ricardo drehte zum Ende des Briefes um. „Marthe Gobin.“ „Sie spricht dann! Trotzdem spricht sie!“ Hanaud flüsterte mit ehrfurchtsvoller Stimme. Er rannte zur Tür des Zimmers, öffnete sie plötzlich und schloss sie wieder, versperrte sie. „Schnell! Wir können die arme Frau nicht zurück ins Leben bringen; aber wir können doch ‐“ Er beendete den Satz nicht. Er nahm
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den Brief ungezwungen aus Ricardos Hand und setzte sich an den Tisch. Über seine Schulter las Mr. Ricardo auch Marthe Gobins Brief. Es war genau die Art von Brief, die nach Ricardos Ansicht Marthe Gobin geschrieben hätte – ein langer, zerstreuter Brief, der nie auf den Punkt kam, der sie einen Augenblick durch seine Torheit zur Verzweiflung brachte und sie im nächsten in Erregung feuerte. Er war aus einem kleinen Vorort von Genf, auf der westlichen Seite des Sees, datiert und lautete wie folgt: „Der Vorort ist nur eine Straße dicht beim See und eine Straßenbahn fährt in die Stadt. Sie ist recht ansehnlich, Sie verstehen, Monsieur, mit einem Hotel am Ende davon und wirklich einigen sehr guten Häusern. Aber ich möchte Sie nicht über die gesellschaftliche Stellung von mir und meinem Mann täuschen. Unser Haus ist auf der falschen Seite der Straße – eindeutig – ja. Es ist ein kleines Haus und wir sehen das Wasser von keinem der Fenster wegen der besseren Häuser gegenüber. M. Gobin, mein Mann, der Angestellter in einer großen Bank in Genf war, wurde im Frühling krank und war die letzten drei Monate gezwungen, drinnen zu bleiben. Natürlich ist Geld nicht reichlich gewesen und ich konnte mir eine Krankenschwester nicht leisten. Folglich war ich selbst gezwungen, ihn zu pflegen. Monsieur, wenn Sie eine Frau wären, würden Sie wissen, was Männer sind, wenn sie krank sind – wie quengelig, wie schwierig. Es gibt nicht viel Ablenkung für die Frau, die sie sie pflegt. Daher, da ich die meiste Zeit des Tages im Haus bin, finde ich, was für ein Vergnügen es sein kann, die Taten meiner Nachbarn zu beobachten. Sie werden mich nicht tadeln. Vor einem Monat wurde das Haus fast direkt gegenüber von uns möbliert für den Sommer von einer Mme. Rossignol gemietet. Sie ist eine Witwe, aber während der letzen zwei Wochen ist ein junger Gentleman sie mehrere Male am Nachmittag besuchen gekommen, und es wird in der Straße gesagt, dass er sie heiraten wird. Aber ich selbst kann es nicht glauben. Monsieur ist ein junger Mann von vielleicht dreißig, mit glattem, schwarzem Haar. Er trägt einen Schnurrbart, einen kleinen schwarzen Schnurrbart und ist insgesamt hinreißend. Mme. Rossignol ist fünf oder sechs Jahre älter, würde ich denken – eine große Frau mit rotem Haar und einer kühnen Sorte grober Schönheit. Ich wurde von ihr nicht angezogen. Sie schien nicht ganz von derselben Welt wie
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dieser reizende Monsieur zu sein, der sie angeblich heiraten würde. Nein, ich wurde von Adèle Rossignol nicht angezogen.“ Und als er zu dieser Stelle kam, blickte Hanaud erschrocken auf. „Also, der Name war Adèle“, flüsterte er. „Ja“, sagte Ricardo. „Hélène Vauquier sprach die Wahrheit.“ Hanaud nickte mit einem seltsamen Lächeln auf seinen Lippen. „Ja, da sprach sie die Wahrheit. Ich dachte es.“ „Aber sie sagte, dass Adèles Haar schwarz sei“, schaltete sich Mr. Ricardo ein. „Ja, da tat sie es nicht“, sagte Hanaud trocken und seine Augen senkten sich wieder auf das Papier. „Ich wusste, dass ihr Name Adèle war, denn oft habe ich ihre Dienerin sie so nennen gehört, und ohne ein ‚Madame’ vor dem Namen. Das ist merkwürdig, nicht wahr, eine ältliche Dienerin ihre Herrin ‚Adèle’ zu nennen, einfach ‚Adèle’? Es war das, das mich denken ließ, dass Monsieur und Madame nicht von derselben Welt waren. Aber ich glaube nicht, dass sie heiraten werden. Ich habe einen Instinkt darüber. Natürlich weiß man nie, in was für außergewöhnliche Frauen sich die nettesten Männer verlieben, sodass trotzdem diese zwei vielleicht heiraten. Aber wenn sie es tun, werde ich nicht glauben, dass sie glücklich werden. Außer der alten Frau war dort noch ein Diener, ein Mann, Hippolyte, der in dem Haus diente und die Kutsche fuhr, wenn sie gebraucht wurde – ein anständiger Mann. Er berührte immer seinen Hut, wenn Mme. Rossignol aus dem Haus kam. Er schlief nachts im Haus, obwohl der Stall am Ende der Straße war. Ich dachte, er sei wahrscheinlich der Sohn von Jeanne, der Dienerin. Er war jung und sein Haar war auf seiner Stirn hinuntergeklatscht und er war insgesamt zufrieden mit sich selbst und ein großer Liebling unter den Dienern in der Straße. Die Kutsche und das Pferd waren aus Genf gemietet. Das ist der Haushalt von Mme. Rossignol.“ Bis dahin las Mr. Ricardo still. Dann platzte er wieder heraus: „Aber wir haben sie! Die rothaarige Frau namens Adèle; der Mann mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart. Er war es, der den Wagen fuhr!“ 113
Hanaud hielt seine Hand hoch, um den Redefluss in Schach zu halten, und beide lasen wieder weiter: „Um drei Uhr am Dienstagnachmittag wurde Madame in der Kutsche davongefahren und ich sah sie den ganzen Abend nicht zurückkehren. Natürlich ist sie vielleicht zu den Ställen über eine andere Straße zurückgefahren. Aber es war nicht üblich für die Kutsche, sie nach Genf zu bringen und eine lange Zeit zu warten. Ich ging um elf zu Bett, aber in der Nacht war M. Gobin ruhelos und ich stand auf, um ihm Medizin zu holen. Wir schliefen im vorderen Teil des Hauses, Monsieur, und während ich nach den Streichhölzern auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers suchte, hörte ich das Geräusch von Kutschenrädern in der stillen Straße. Ich ging zum Fenster, und indem ich einen Zipfel des Vorhanges hob, sah ich hinaus. M. Gobin rief quengelig nach mir aus dem Bett, um zu wissen, warum ich die Kerze nicht anzündete und ihm holte, was er wollte. Ich habe Ihnen schon gesagt, wie quengelig kranke Männer sein können, indem sie sich immer beklagen, wenn man sich nur für eine Minute ablenkt, indem man aus dem Fenster sieht. Aber da! Man kann nichts tun, um ihn zufriedenzustellen. Doch wie recht ich hatte, die Jalousie hochzuziehen und aus dem Fenster zu sehen! Denn wenn ich meinem Mann gehorcht hätte, hätte ich viertausend Francs verloren. Und viertausend Francs sind von einer armen Frau, deren Mann im Bett liegt, nicht zu verachten. Ich sah die Kutsche bei Mme. Rossignols Haus halten. Fast sofort wurde die Haustür von der alten Dienerin geöffnet, obwohl die Diele des Hauses und alle Fenster auf der Vorderseite dunkel waren. Das war das Erste, was mich erstaunte. Denn wenn Madame spät nach Hause kam und das Haus dunkel war, benutzte sich, um sich hineinzulassen, einen Hausschlüssel. Nun wartete in dem dunklen Haus am frühen Morgen eine Dienerin auf sie. Es war merkwürdig. Sobald die Tür des Hauses geöffnet wurde, öffnete sich auch die Tür der Kutsche und eine junge Dame stieg schnell aus und ging zum Gehsteig. Die Schleppe des Kleides verfing sich in der Tür und sie drehte sich herum, bückte sich, befreite sie mit ihrer Hand und hielt sie vom Boden hoch. Die Nacht war klar und es gab keine Laterne auf der Straße dicht bei der Tür von Mme. Rossignols Haus. Als sie sich umdrehte, sah ich ihr Gesicht unter dem großen grünen Hut. Sie trug einen weißen Mantel, aber er war vorne offen und zeigte 114
ihr blassgrünes Abendkleid. Als sie ihren Rock hob, sah ich Schnallen, die auf ihren Satinschuhen funkelten. Es war die junge Dame, nach der Sie eine Anzeige aufgaben, ich bin sicher. Sie blieb für einen Augenblick stehen, ohne sich zu bewegen, während Mme. Rossignol hinauskam. Ich war erstaunt, eine junge Dame von solchem Unterschied in Mme. Rossignols Begleitung zu sehen. Dann, wobei sie noch immer ihren Rock hochhielt, rannte sie sehr leicht und schnell über den Gehsteig in das dunkle Haus. Ich dachte, Monsieur, dass sie sehr bestrebt war, nicht gesehen zu werden. Daher, als ich Ihre Anzeige sah, war ich sicher, dass dies die junge Dame war, nach der Sie suchen. Ich wartete ein paar Augenblicke und sah die Kutsche in Richtung Stall am Ende der Straße davonfahren. Aber kein Licht ging in einem der Zimmer auf der Vorderseite des Hauses an. Und M. Gobin war so quengelig, dass ich die Ecke der Jalousie hinunterließ, die Kerze anzündete und ihm sein kühlendes Getränk gab. Seine Armbanduhr war auf dem Tisch beim Bett und ich sah, dass es fünf Minuten vor drei war. Ich werde Ihnen morgen ein Telegramm schicken, sobald ich sicher bin, zu welcher Stunde ich meinen Mann verlassen kann. Nehmen Sie, Monsieur, ich bitte Sie, meine ausgezeichnetsten Grüße an. „MARTHE GOBIN“ Hanaud lehnte sich mit einem außergewöhnlichen Blick der Verwirrung auf seinem Gesicht zurück. Aber für Ricardo war nun die ganze Geschichte klar. Hier war eine unabhängige Witwe ohne die Eifersucht oder den Groll von Hélène Vauquier. Nichts konnte belastender sein als ihre Aussage; es bekräftigte diese Fußabdrücke auf der Erde vor der Glastür des Salons. Es gab nichts zu tun, außer sich daran zu machen, Mlle. Célie sofort zu verhaften. „Die Tatsachen funktionieren mit Ihrer Theorie, M. Hanaud. Der junge Mann mit dem schwarzen Schnurrbart kehrte nicht zu dem Haus in Genf zurück. Denn irgendwo auf der Straße begegnete er der Kutsche in der Nähe von Genf. Er fuhr den Wagen zurück nach Aix ‐“ Und dann kam ihm ein anderer Gedanke in den Sinn: „Aber nein!“, rief er. „Wir haben ganz und gar unrecht. Sehen Sie! Sie kamen erst fünf Minuten vor drei nach Hause.“ Fünf Minuten vor drei! Aber das vernichtete die ganze Theorie von Hanaud über den Wagen. Die Mörder hatten die Villa zwischen elf und zwölf verlassen, wahrscheinlich vor halb zwölf. Der Wagen war ein Fahrzeug mit sechzig 115
Pferdestärken und die Straßen waren sicher und klar. Doch die Reisenden kamen erst um drei nach Hause. Überdies war der Wagen um vier zurück in Aix. Es war offensichtlich, dass sie nicht mit dem Wagen reisten. „Genfer Zeit ist eine Stunde später als französische Zeit“, sagte Hanaud knapp. Es schien, dass die Bestätigung dieses Briefes ihn enttäuschte. „Viertel vor drei in Mme. Gobins Haus würde Viertel vor zwei nach unseren Uhren hier sein.“ Hanaud faltete den Brief zusammen und stand auf. „Wir werden jetzt gehen und wir werden diesen Brief mit uns nehmen.“ Hanaud blickte sich in dem Zimmer um und hob einen Handschuh auf, der auf einem Tisch lag. „Ich ließ den zurück“, sagte er und steckte ihn in seine Tasche. „Übrigens, wo ist das Telegramm von Marthe Gobin?“ „Sie steckten es in Ihre Briefmappe.“ „Oh, wirklich?“ Hanaud holte seine Briefmappe heraus und fand das Telegramm darin. Sein Gesicht leuchtete auf. „Gut!“, sagte er nachdrücklich. „Denn da wir dieses Telegram haben, muss es eine andere Nachricht geben, die von Adèle Rossignol nach Aix geschickt wurde, worin stand, dass Marthe Gobin, diese Wichtigtuerin, diese neugierige Nachbarin, die zweifellos M. Ricardos Anzeige gesehen hatte, unterwegs hierher wäre. Oh, es wird nicht so derb ausgedrückt sein, aber das ist, was die Nachricht bedeuten wird. Wir werden ihn haben.“ Und plötzlich wurde sein Gesicht sehr ernst. „Ich muss ihn erwischen, denn Marthe Gobins Tod kann ich nicht vergeben. Eine arme Frau, die es nicht böse meinte, und ermordet wie ein Schaf vor unserer Nase. Nein, das kann ich nicht vergeben.“ Ricardo fragte sich, ob es der eigentliche Mord an Marthe Gobin war, oder die Tatsache, dass er geschlagen und überlistet wurde, was Hanaud nicht vergeben konnte. Aber Diskretion ließ ihn schweigen. „Gehen wir“, sagte Hanaud. „Mit dem Lift, wenn ich bitten darf, es wird Zeit sparen.“
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Sie fuhren in die Halle in der Nähe der Haupttür. Die Leiche von Marthe Gobin war in die Leichenhalle der Stadt überstellt worden. Das Leben des Hotels hat seinen Lauf wieder angenommen. „M. Besnard ist fort, vermute ich?“, fragte Hanaud den Portier; und da er eine Zustimmung erhielt, ging er schnell bei der Vordertür hinaus. „Aber es gibt einen kürzeren Weg“, sagte Ricardo, der hinter ihm herrannte, „durch den Garten hinten und die Stufen hinunter.“ „Es wird jetzt keinen Unterschied machen“, sagte Hanaud. Sie eilten die Auffahrt entlang und die Straße hinunter, die um das Hotel kreiste und in die Stadt hinunterführte. Hinter Hanauds Hotel wartete Ricardos Wagen. „Wir müssen zuerst zu Besnards Büro fahren. Der arme Mann wird am Ende seiner Weisheit sein, um zu wissen, wer Mme. Gobin war und was sie nach Aix brachte. Außerdem möchte ich eine Nachricht über das Telefon senden.“ Hanaud stieg aus und verbrachte eine Viertelstunde bei dem Commissaire. Als er herauskam, blickte er auf seine Armbanduhr. „Wir werden rechtzeitig sein, denke ich“, sagte er. Er kletterte in den Wagen. „Der Mord an Marthe Gobin unterwegs vom Bahnhof wird unsere Freunde erleichtern. Er wird ohne Zweifel in den Abendzeitungen bekannt gemacht, und diese guten Leute dort drüben in Genf werden es mit Vergnügen lesen. Sie wissen nicht, dass Marthe Gobin gestern Abend einen Brief schrieb. Kommen Sie, gehen wir!“ „Wohin?“, fragte Ricardo. „Wohin?“, rief Hanaud aus. „Na, natürlich nach Genf.“
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Kapitel XII Das Aluminiumfläschchen „Ich habe Lemerre, den Chef de la Sûreté in Genf, angerufen“, sagte Hanaud, als der Wagen aus Aix die Straße nach Annecy fuhr. „Er wird das Haus beobachten lassen. Wir werden rechtzeitig sein. Sie werden nichts bis zur Dunkelheit tun.“ Aber obwohl er zuversichtlich sprach, gab es ein Anzeichen der Sorge in seiner Stimme, und er setzte sich in dem Wagen nach vor, als ob er schon seine Augen anstrengte, Genf zu sehen. Ricardo war ein wenig enttäuscht. Sie waren auf der großen Reise nach Genf. Sie würden Mlle. Célie und ihre Komplizen verhaften. Und Hanaud war nicht verkleidet gekommen. Hanaud, in Ricardos Augen, erfüllte kaum die dramatische Expedition, zu der sie sich aufgemacht hatten. Es schien ihm, dass etwas an dem großen Kriminalbeamten nicht richtig war, der ohne falschen Bart auf die Jagd kam. „Aber, mein lieber Freund, warum sollte ich?“, verteidigte sich Hanaud. „Wir werden zusammen im Restaurant du Nord über dem See zu Abend essen, bis es dunkel wird. Es ist nicht angenehm, die Suppe mit einem falschen Bart zu essen. Haben Sie es probiert? Außerdem starrt jeder so, da man sehr gut sieht, dass er falsch ist. Also, ich will heute Abend nicht, dass die Leute mich als Kriminalbeamten erkennen sollten; daher gehe ich nicht verkleidet.“ „Humorist!“, sagte Mr. Ricardo. „Da! Sie haben mich erkannt!“, rief Hanaud mit spöttischem Schrecken. „Außerdem sagte ich Ihnen heute Morgen, dass das genau ist, was ich bin.“ Hinter Annecy kamen sie zu der Brücke über der Schlucht. Am anderen Ende davon wurde der Wagen angehalten. Eine Frage, ein eiliger Blick in das Innere des Wagens und die Zollbeamten traten beiseite. „Sie sehen, wie oberflächlich es ist“, sagte Hanaud und mit einem Ruck fuhr der Wagen weiter. Der Ruck warf Hanaud gegen Mr. Ricardo. Etwas Hartes in der Tasche des Kriminalbeamten schlug gegen seinen Begleiter. 118
„Sie haben sie?“, flüsterte er. „Was?“ „Die Handschellen.“ Eine weitere Enttäuschung erwartete Ricardo. Ein Kriminalbeamter ohne falschen Bart war schlimm genug, aber das war nichts im Vergleich zu einem Kriminalbeamten mit Handschellen. Es mangelte sehr an den Utensilien der Gerechtigkeit. Jedoch tröstete Hanaud Mr. Ricardo, indem er ihm das harte Ding zeigte; es war fast so aufregend wie Handschellen, denn es war ein geladener Revolver. „Es wird dann Gefahr geben?“, sagte Ricardo mit einem Beben der Erregung. „Ich hätte meinen mitnehmen sollen.“ „Da hätte es Gefahr gegeben, mein Freund“, wandte Hanaud ernst ein, „wenn Sie Ihren mitgebracht hätten.“ Sie erreichten Genf, als die Abenddämmerung hereinbrach, und fuhren direkt zu dem Restaurant am Ufer des Sees und stiegen zu dem Balkon im ersten Stock hinauf. Ein kleiner, stämmiger Mann saß an einem Tisch alleine in einer Ecke des Balkons. Er stand auf und streckte seine Hände entgegen. „Mein Freund, M. Lemerre, der Chef de la Sûreté von Genf“, sagte Hanaud und stellte den kleinen Mann seinem Begleiter vor. Es gab bis jetzt nur zwei Paare, die im Restaurant zu Abend aßen, und Hanaud sprach so, dass keiner ihn belauschen konnte. Er setzte sich an den Tisch. „Was für Neuigkeiten?“, fragte er. „Keine“, sagte Lemerre. „Niemand ist aus dem Haus gekommen, niemand ist hineingegangen.“ „Und wenn etwas passiert, während wir essen?“ „Wir werden es wissen“, sagte Lemerre. „Schauen Sie, dort lungert ein Mann unter den Bäumen herum. Er wird ein Streichholz anmachen, um seine Pfeife anzuzünden.“ Die eilige Unterhaltung wurde beendet. 119
„Gut“, sagte Hanaud. „Wir werden dann essen und fröhlich sein.“ Er rief den Kellner und bestellte das Essen. Es war nach sieben, als sie sich zum Abendessen setzten, und sie aßen, während die Abenddämmerung stärker wurde. Auf der Straße unten blitzten die Lichter auf und warfen einen Schein auf das Laub der Bäume am Ufer. Auf dem dunklen See kräuselten und zitterten die Spiegelungen der Lampen. Ein Boot, in dem Musikanten zur Musik sangen, fuhr mit einem kühlen Platschen der Ruder vorbei. Die grünen und roten Lichter der Barkassen glitten nach vor und zurück. Hanaud alleine von der Gruppe auf dem Balkon versuchte, die Unterhaltung auf einem leichten und allgemeinen Niveau zu halten. Aber es war offensichtlich, dass sogar er seine Fröhlichkeit übertrieb. Es gab Augenblicke, wenn ein plötzliches Zusammenziehen der Muskel seine Hände packte und seinen Schultern einen krampfartigen Ruck gaben. Er wartete unbehaglich, unwohl, bis die Dunkelheit kommen sollte. „Essen Sie“, rief er – „essen Sie, meine Freunde“, wobei er mit seinem eigenen kaum gekosteten Essen spielte. Und dann bei einem Satz von Lemerre klapperten sein Messer und seine Gabel auf seinen Teller und er saß mit einem plötzlich weiß gewordenen Gesicht da. Denn Lemerre sagte, als ob es nicht mehr als eine gewöhnliche Bemerkung wäre: „Also, Mme. Dauvrays Schmuck wurde nach allem niemals gestohlen?“ Hanaud zuckte zusammen. „Sie wissen das? Wie wussten Sie es?“ „Es war in dieser Abendzeitung. Ich kaufte eine auf dem Weg hierher. Er wurde unter dem Fußboden des Schlafzimmers gefunden.“ Und sogar, als er sprach, ertönte die Stimme eines Zeitungsjungen auf der Straße unter ihnen. Lemerre war durch den Blick auf dem Gesicht seines Freundes beunruhigt. „Spielt es eine Rolle, Hanaud?“, fragte er mit einiger Besorgnis. „Es spielt eine Rolle ‐“, und Hanaud stand abrupt auf. 120
Die Stimme des Jungen ertönte lauter au der Straße darunter. Die Worte wurden für alle auf diesem Balkon deutlich. „Der Aix‐Mord! Entdeckung des Schmucks!“ „Wir müssen gehen“, flüsterte Hanaud heiser. „Hier sind Leben und Tod im Gleichgewicht, wie ich glaube, und dort“ – er zeigte zu der kleinen Gruppe hinunter, die sich um den Zeitungsjungen unter den Bäumen versammelte – „dort ist der Befehl, in welche Richtung die Waage gekippt werden soll.“ „Ich war es nicht, der es schickte“, sagte Ricardo eifrig. „Er hatte keine genaue Vorstellung, was Hanaud mit seinen Worten meinte; aber er erkannte, dass je eher er sich von der Anklage rechtfertigte, umso besser. „Natürlich waren nicht Sie es. Ich weiß das sehr wohl“, sagte Hanaud. Er rief nach der Rechnung. „Wann wird diese Zeitung herausgegeben?“ „Um sieben“, sagte Lemerre. „Dann schreien sie es auf den Straßen Genfs seit mehr als einer halben Stunde.“ Er saß und trommelte ungeduldig auf den Tisch, bis die Rechnung gebracht werden sollte. „Gütiger Himmel, das ist klug!“, murmelte er wild. „Da ist ein Mann, der an jeder Biegung mir voraus ist. Sehen Sie, Lemerre, ich bin vorsichtig, unternehme jede Vorsichtsmaßnahme, dass keine Nachricht geschickt wird. Ich lasse es wissen, ich gebe mir sorgfältige Mühe, es wissen zu lassen, dass keine Nachricht ohne nachfolgende Entdeckung geschickt werden kann, und hier wird die Nachricht von einem Kanal geschickt, bei dem ich nie dachte, mich davor in acht zu nehmen und ihn aufzuhalten. Sehen Sie!“ Der Mord in der Villa Rose und das Rätsel, das seine Verübung verbarg, hatte sein Interesse geweckt. Diese neue Entwicklung hatte es beschleunigt. Vom Balkon konnte Hanaud sehen, wie die Gruppen um den Jungen dichter wurden und die weißen Blätter der Zeitungen in den Händen der Passanten.
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„Jeder in Genf oder in der Nähe von Genf wird mittlerweile von dieser Nachricht wissen.“ „Er könnte sie erzählt haben?“, fragte Ricardo verdutzt und Hanaud lachte in sein Gesicht, aber lachte ohne Fröhlichkeit. „Endlich!“, rief er, als der Kellner die Rechnung brachte, und gerade, als er sie bezahlt hatte, flackerte das Licht eines Streichholzes unter den Bäumen auf. „Das Zeichen!“, sagte Lemerre. „Nicht zu schnell“, flüsterte Hanaud. Mit so viel Sorglosigkeit wie jeder heucheln konnte, stiegen die drei Männer die Treppe hinunter und überquerten die Straße. Unter den Bäumen schloss sich ihnen ein vierter Mann an – derjenige, der seine Pfeife angezündet hatte. „Der Kutscher, Hippolyte“, flüsterte er, „kaufte an der Vordertür des Hauses von einem Jungen eine Abendzeitung, der die Straße herunterkam und die Nachrichten schrie. Der Kutscher rannte zurück in das Haus.“ „Wann war das?“, fragte Lemerre. Der Mann zeigte zu einem Burschen, der sich an eine Balustrade oberhalb des Sees lehnte und nach Luft wrang. „Er kam auf seinem Fahrrad. Er ist gerade gekommen.“ „Folgen Sie mir“, sagte Lemerre. Sechs Meter von dort, wo sie standen, führten zwei Stufen von der Böschung hinunter auf einen Holzanlegesteg, wo Boote festgemacht waren. Lemerre, gefolgt von den anderen, ging forsch hinunter auf den Anlegesteg. Eine elektrische Barkasse wartete. Sie hatte ein Sonnensegel und war von dem üblichen Typ, den jeder in Genf mietet. Dort waren zwei Wachtmeister in Zivil an Bord, und ein dritter Mann, den Ricardo erkannte. „Das ist der Mann, der herausfand, in wessen Laden die Schnur gekauft wurde“, sagte er zu Hanaud. „Ja, es ist Durette. Er ist seit gestern hier.“
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Lemerre und die drei, die ihm folgten, stiegen ein und sie fuhr rückwärts von dem Anlegesteg, und indem sie wendete, fuhr sie flink von Genf hinaus. Die fröhlichen Lichter der Geschäfte und Restaurants wurden zurückgelassen, die kühle Dunkelheit umhüllte sie; eine leichte Brise wehte über den See, eine weiße Wasserspur dehnte sich dahinter aus und oben an einem tiefblauen Himmel leuchteten die hellen Sterne wie Gold. „Wenn wir nur rechtzeitig sind!“, sagte Hanaud und atmete durch. „Ja“, antwortete Lemerre; und in ihren beiden Stimmen war ein merkwürdiger ernster Tonfall. Lemerre gab nach einer Weile ein Zeichen und das Boot drehte zum Ufer und verringerte seine Geschwindigkeit. Sie waren an den großen Villen vorbeigefahren. Am Ufer reichten die Gärten der Häuser – schmale, lange Gärten von einer Straße mit kleinen Häusern – hinunter zum See, und bei fast jedem Garten gab es einen wackeligen Anlegesteg aus Holz, die in den See hinausragte. Wieder gab Lemerre ein Zeichen und die Geschwindigkeit des Bootes wurde so stark reduziert, dass kein Geräusch seines Kommens gehört werden konnte. Es fuhr über das Wasser wie ein Schatten, mit nur einem weißen Kräuseln an seinem Bug. Lemerre berührte Hanaud auf der Schulter und zeigte zu einem Haus in einer Häuserreihe. Alle Fenster, außer zwei im zweiten Stock und einem im Erdgeschoß, waren in absoluter Dunkelheit, und über diesen beiden oberen zwei waren die Fensterläden geschlossen. Aber in den Fensterläden waren diamantförmige Löcher und aus diesen Löchern strömten zwei gelbe Lichtstrahle, wie Leuchtzeiger auf der Uhr, und schmolzen in der Luft. „Sie sind sicher, dass die Vorderseite des Hauses bewacht ist?“, fragte Hanaud bange. „Ja“, erwiderte Lemerre. Ricardo zitterte vor Aufregung. Die Barkasse glitt geräuschlos ans Ufer und lag unter seinem Schatten verborgen. Hanaud drehte sich zu seinen Begleitern mit seinem Finger an seinen Lippen. Etwas schimmerte dunkel in seiner Hand. Es war die Trommel seines Revolvers. Vorsichtig gingen die Männer von Bord und schlichen sich das Ufer hinauf. Zuerst kam Lemerre, dann Hanaud; Ricardo 123
folgte ihm und der vierte Mann, der das Streichholz unter den Bäumen angezündet hatte, bildete die Nachhut. Die anderen drei Polizeibeamten blieben in dem Boot. Indem sie sich unter dem Schatten der Seitenmauer des Gartens bückten, stahlen sich die Eindringlinge zum Haus. Als ein Busch raschelte oder ein Baum in dem leichten Wind flüsterte, sprang Ricardos Herz bis zu seiner Kehle. Einmal blieb Lemerre stehen, als ob seine Ohren ein Geräusch hörten, das ihn vor der Gefahr warnte. Dann schlich er sich wieder vorsichtig weiter. Der Garten war ein struppiger Ort mit ungemähtem Gras und zerstreut liegenden Büschen. Hinter jedem schien Mr. Ricardo einen Feind zu spüren. Niemals war er in einer so misslichen Lage gewesen. Er, der kultivierte Gastgeber vom Grosvenor Square, schlich sich unter einer Mauer mit kontinentalen Polizisten entlang; er sollte in einem finsteren Haus am Genfer See eine Razzia machen. Es war aufregend. Furcht und Aufregung packten ihn abwechselnd und ließen ihn los, aber immer wurde er von dem Stolz des Mannes, der eine ungewöhnliche Sache tat, aufrechterhalten. „Wenn nur meine Freunde mich sehen könnten!“ Die alte Eitelkeit war laut in seinem Busen. Arme Kerle, sie waren auf Jachten im Solent oder im Grousemoor in Schottland oder auf Golfplätzen in North Berwick. Er alleine von ihnen verfolgte Übeltäter am Lac Léman. Von diesen annehmbaren Überlegungen wurde Ricardo gebeutelt. Lemerre blieb stehen. Die Teilnehmer der Razzia hatten den Winkel erreicht, der von einer Seitenmauer des Gartens und des Hauses gebildet wurde. Ein Flüstern wurde ausgetauscht und die Gesellschaft bewegte sich entlang der Hausmauer zu dem erhellten Fenster im Erdgeschoß. Als Lemerre es erreichte, blieb er stehen. Dann hoben sich seine Stirn und seine Augen über das Fensterbrett und er blickte hierhin und dorthin in das Zimmer. Mr. Ricardo konnte seine Augen schimmern sehen, als sie das Licht aus dem Fenster erwischte. Sein Gesicht erhob sich völlig über dem Fensterbrett. Er starrte in das Zimmer ohne Vorsicht oder Angst und ließ sich wieder außer Reichweite des Lichtes fallen. Er wandte sich an Hanaud. „Das Zimmer ist leer“, flüsterte er. Hanaud wandte sich an Ricardo.
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„Gehen Sie unter dem Fensterbrett oder das Licht aus dem Fenster wird Ihren Schatten auf den Rasen werfen.“ Die Gruppe kam zu der Hintertür des Hauses. Lemerre probierte den Griff der Tür und zu seiner Überraschung gab er nach. Sie schlichen sich in den Gang. Der letzte Mann schloss lautlos die Tür, versperrte sie und zog den Schlüssel ab. Eine Lichtbahn schien ein paar Schritte geradeaus an die Wand. Die Tür des erhellten Zimmers war offen. Als Ricardo leise vorbeischritt, blickte er hinein. Es war ein knauserig möbliertes Zimmer. Hanaud berührte ihn am Arm und zeigte zum Tisch. Ricardo hatte die Gegenstände, auf die Hanaud oft genug ohne Unbehagen zeigte, gesehen; aber nun in diesem stillen Haus des Verbrechens hatten sie den finstersten und schrecklichsten Anblick. Da war eine winzige Ampulle halb voll mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit, daneben lag ein Lederetui offen und über dem Etui, bereit für den Gebrauch oder wartend, um gefüllt zu worden, war eine glänzende Morphiumnadel. Ricardo fühlte die Kälte sein Rückgrat entlangkriechen und zitterte. „Komm“, flüsterte Hanaud. Sie erreichten den Fuß einer Treppenflucht und stiegen vorsichtig hinauf. Sie kamen in einem Durchgang heraus, der entlang der Hausseite von der Rückseite bis zur Vorderseite verlief. Er war unbeleuchtet, aber sie waren nun auf der Höhe der Straße und ein fächerförmiges Glasfenster über der Vordertür ließ ein blasses Licht herein. Dort war eine Straßenlaterne in der Nähe der Tür, erinnerte sich Ricardo. Denn durch das Licht davon hatte Marthe Gobin Celia Harland so flink in das Haus laufen sehen. Für einen Augenblick hielten die Männer in dem Gang ihren Atem an. Jemand ging schwer auf dem Gehsteig draußen vorbei – nach Mr. Ricardos Ohr ein geselliges Geräusch. Dann schlug eine Kirchenuhr musikalisch, fern, die halbe Stunde. Es war halb neun. Und eine Sekunde danach schien ein winziges helles Licht. Hanaud richtete das Licht einer elektrischen Taschenlampe zur nächsten Treppenflucht. Hier waren die Stufen mit einem Teppich bedeckt und wieder schlichen sich die Männer hinauf. Einer nach dem anderen kamen sie herauf auf den nächsten Treppenabsatz. Er verlief, wie der darunter, die Hausseite von der Rückseite bis 125
zur Vorderseite entlang, und die Türen waren alle links. Unter der Tür in ihrer Nähe strömte ein gelber Lichtstrahl heraus. Sie standen in der Dunkelheit und horchten. Aber nicht ein Geräusch kam hinter der Tür hervor. War dieses Zimmer auch leer? Im Unterbewusstsein von jedem war die Furcht, dass die Vögel ausgeflogen waren. Lemerre nahm vorsichtig den Griff der Tür und drehte ihn. Sehr langsam und vorsichtig öffnete er die Tür. Ein starkes Licht schlug heraus durch den sich weitenden Spalt auf sein Gesicht. Und dann, obwohl seine Füße sich nicht bewegten, zogen sich seine Schultern und sein Gesicht zurück. Die Handlung war bedeutungsvoll genug. Dieses Zimmer war jedenfalls nicht leer. Aber von dem, was Lemerre in dem Zimmer sah, gab sein Gesicht keinen Hinweis. Er öffnete die Tür weiter und nun sah Hanaud. Ricardo, der vor Aufregung zitterte, beobachtete ihn. Aber wieder gab es keinen Ausdruck des Erstaunens, der Betroffenheit oder des Entzückens. Er stand behäbig und sah zu. Dann wandte er sich an Ricardo, legte einen Finger auf seine Lippen und machte Platz. Ricardo schlich auf Zehenspitzen an seine Seite. Und nun konnte er auch hineinsehen. Er sah ein hell erleuchtetes Schlafzimmer mit einem gemachten Bett. Links überblickten die mit Fensterläden verschlossenen Fenster den See. Rechts in der Trennwand stand eine Tür offen. Durch die Tür konnte er einen dunklen, fensterlosen Raum sehen, mit einem kleinen Bett, aus dem das Bettzeug auf den Boden hinaushing, als ob jemand gerade jetzt grob herausgezerrt worden wäre. Auf einem Tisch, dicht bei der Tür, lagen ein großer Hut mit einer braunen Straußenfeder und ein weißer Umhang. Aber der verblüffende Anblick, der ihn festhielt, war direkt vor ihm. Ein altes Weib saß in einem Stuhl mit dem Rücken ihnen zugewandt. Sie besserte mit einer großen Nadel die Löcher in einem alten Sack aus, und während sie sich über ihre Arbeit beugte, summte sie ein französisches Lied vor sich hin. Hin und wieder hob sie ihre Augen, denn vor ihr, unter ihrer Aufsicht, lag Mlle. Célie, das Mädchen, das Hanaud suchte, hilflos auf einem Sofa. Die Schleppe ihres zarten grünen Kleides fegte über den Boden. Sie war bekleidet, wie Hélène Vauquier sie beschrieben hatte. Ihre behandschuhten Hände waren fest hinter ihrem Rücken gebunden, ihre Füße waren verschränkt, sodass sie nicht hätte stehen können, und ihre Knöchel waren grausam zusammengebunden. Über ihrem Gesicht und ihren Augen war ein Stück grobes Sackleinen wie eine Maske gespannt und die Enden waren grob an ihrem Hinterkopf zusammengenäht. Sie lag so still, dass, wäre das 126
Arbeiten ihres Busens und ein Zittern, das hin und wieder durch ihre Glieder fuhr, nicht gewesen, die Beobachter sie für tot gehalten hätten. Sie leistete keinen Widerstand; sie lag ruhig und still. Einmal krümmte sie sich, aber es war mit der Unbehaglichkeit von jemandem, der Schmerzen hat, und in dem Augenblick, in dem sie sich rührte, ging die Hand der alten Frau hinaus zu einem glänzenden Aluminiumfläschchen, das auf einem kleinen Tisch an ihrer Seite stand. „Halte still, Kleine!“, befahl sie mit sorgloser, tadelnder Stimme und sie klopfte mit dem Fläschchen entschieden auf den Tisch. Sofort, als ob das Klopfen eine eigenartige Schreckensnachricht für das Ohr des Mädchens hätte, versteifte es seinen ganzen Körper und lag starr. „Ich bin für dich noch nicht bereit, kleine Närrin“, sagte die alte Frau und sie beugte sich wieder über ihre Arbeit. Ricardos Verstand drehte sich. Hier war das Mädchen, das sie zu verhaften gekommen waren, das aus dem Salon mit so viel jugendlicher Aktivität über die Grasstrecke gesprungen war, das so schnell und leicht über den Gehsteig in dieses Haus gelaufen war, damit es nicht gesehen werden sollte. Und nun lag sie in ihrer feinen und zarten Kleidung als Gefangene, der Barmherzigkeit der Leute ausgesetzt, die ihre Komplizen waren. Plötzlich ertönte ein Schrei aus dem Garten – ein schriller, lauter, Schrei, dicht unter den Fenstern. Die alte Frau sprang auf. Das Mädchen auf dem Sofa hob seinen Kopf. Die alte Frau machte einen Schritt auf das Fenster zu und wandte sich dann flink der Tür zu. Sie sah den Mann auf der Türschwelle. Sie äußerte ein Zornesgeheul. Es gibt kein anderes Wort, um den Klang zu beschreiben. Es war kein menschlicher Schrei; es war das Geheul eines wütenden Tieres. Sie streckte ihre Hand zu dem Fläschchen aus, aber bevor sie es fassen konnte, ergriff es Hanaud. Sie brach in eine Sturzflut unflätiger Flüche. Hanaud schleuderte sie hinüber zu Lemerres Polizeibeamten, der sie aus dem Zimmer schleifte. „Schnell!“, sagte Hanaud und zeigte zu dem Mädchen, das nun hilflos auf dem Sofa sich abquälte. „Mlle. Célie!“ Ricardo zerschnitt die Stiche des Sackleinens. Hanaud band ihre Hände und Füße los. Sie halfen ihr, sich aufzusetzen. Sie schüttelte ihre Hände in der Luft, 127
als ob sie sie schmerzten, und dann mit einer mitleiderregenden, wimmernden Stimme, wie die eines Kindes, plapperte sie unzusammenhängend und flüsterte Gebete. Plötzlich hörten die Gebete auf. Sie saß steif, mit unbeweglichen Augen und starrte vor sich hin. Sie beobachtete Lemerre, und sie beobachtete ihn vor Schrecken fasziniert. Er hielt in seiner Hand das große, glänzende Aluminiumfläschchen. Er goss ein wenig von dem Inhalt sehr vorsichtig auf ein Stück von dem Sack; und dann mit einem Zornesausruf wandte er sich an Hanaud. Aber Hanaud stützte Celia; und so, als Lemerre sich ihm abrupt mit dem Fläschchen in seiner Hand an ihn wandte, wandte er sich auch abrupt Celia zu. Sie riss sich aus Hanauds Armen, sie zuckte heftig zurück. Ihr weißes Gesicht wurde knallrot und wieder weiß. Sie schrie laut, schrecklich; und nach dem Schrei äußerte sie einen merkwürdigen, schwachen Seufzer und fiel ohnmächtig zur Seite. Hanaud fing sie auf, als sie fiel. Ein Licht zog über sein Gesicht. „Nun verstehe ich!“, rief er. „Gütiger Gott! Das ist schrecklich!“
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Kapitel XIII Im Haus in Genf Es war gut, dachte Mr. Ricardo, dass jemand verstand. Für sich selbst gab er offen zu, dass er es nicht tat. Tatsächlich schienen sich seiner Ansicht nach die ersten Prinzipien der Beweisführung auf Null zu setzen. Es war von der Fürsorglichkeit offenkundig, von der Celia Harland umgeben war, dass jede außer ihm selbst von ihrer Unschuld überzeugt war. Doch war es gleichermaßen offensichtlich, dass jeder, der im Gedächtnis die acht Punkte trug, die er gegen sie angeführt hatte, von ihrer Schuld überzeugt sein musste. Doch wiederum, wenn sie schuldig war, wie geschah es, dass sie von ihren Komplizen so misshandelt wurde? Er durfte jedoch nicht über diese bemerkenswerten Probleme nachdenken. Er hatte eine zu beschäftigte Zeit. In einem Augenblick rannte er und holte Wasser, womit er Celias Stirn wusch. In einem anderen, als er mit dem Wasser zurückgekommen war, wurde er von dem Auftreten Durettes, dem Inspektor von Aix, in der Tür abgelenkt. „Wir haben sie beide“, sagte er – „Hippolyte und die Frau. Sie versteckten sich im Garten.“ „Ich dachte es“, sagte Hanaud, „als ich die Tür unten sah und die Morphiumnadel auf dem Tisch.“ Lemerre wandte sich an einen der Polizeibeamten. Lasst sie mit der alten Jeanne in Droschken zum Depôt bringen. Und als der Mann sich an seinen Auftrag gemacht hatte, sprach Lemerre mit Hanaud. „Sie werden heute Nacht hier bleiben, um ihre Überstellung nach Aix zu organisieren?“ „Ich werde Durette zurücklassen“, antwortete Hanaud. „Ich werde in Aix gebraucht. Wir werden einen formalen Antrag für die Gefangenen machen.“ Er kniete an Celias Seite und betupfte unbeholfen die Stirn mit einem nassen Taschentuch. Er hob eine warnende Hand. Celia Harland bewegte und öffnete die Augen. Sie setzte sich auf das Sofa, zitterte und blickte mit benommenen 129
und verwunderten Augen von einem zum anderen der Fremden, die um sie herumstanden. Sie suchte vergebens nach einem vertrauten Gesicht. „Sie sind unter guten Freunden, Mlle. Célie“, sagte Hanaud mit großer Liebenswürdigkeit. „Oh, ich frage mich! Ich frage mich!“, rief sie mitleiderregend. „Seien Sie ganz sicher darüber“, sagte er herzlich und sie klammerte sich an den Ärmel seiner Jacke mit verzweifelten Händen. „Ich vermute, Sie sind Freunde“, sagte sie; „warum sonst ‐?“ Und sie bewegte ihre tauben Glieder, um sich zu vergewissern, dass sie frei war. Sie blickte sich im Zimmer um. Ihre Augen fielen auf den Sack und weiteten sich vor Entsetzen. „Sie kamen vor einer kleinen Weile zu mir in diesem Schrank – Adèle und die alte Frau Jeanne. Sie ließen mich aufstehen. Sie sagten mir, dass sie mich fortbringen würden. Sie brachten mir Kleider und zogen mir alles an, was ich trug, als ich kam, sodass keine einzige Spur von mir zurückbliebe. Dann fesselten sie mich.“ Sie riss ihre Handschuhe herunter und zeigte ihre aufgerissenen Handgelenke. „Ich denke, sie hatten vor, mich zu töten – schrecklich.“ Und sie atmete durch und wimmerte wie ein Kind. Ihr Lebensgeist war gebrochen. „Mein armes Kind, all das ist vorüber“, sagte Hanaud. Und er stand auf. Aber bei der ersten Bewegung, die sie machte, schrie sie einschneidend „Nein“ und festigte den Griff ihrer Finger auf seinem Ärmel. „Aber, Mademoiselle, Sie sind sicher“, sagte er mit einem Lächeln. Sie starrte ihn dumm an. Es schien, dass die Worte keine Bedeutung für sie hatten. Sie wollte ihn nicht loslassen. Es war nur das Gefühl seiner Jacke in der Umklammerung ihrer Finger, das ihr Trost gab. „Ich will sicher sein, dass ich sicher bin“, sagte sie mit einem blassen kleinen Lächeln. „Sagen Sie mir, Mademoiselle, was hatten Sie während der letzten zwei Tage zu essen und zu trinken?“
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„Sind es zwei Tage?“, fragte sie. „Ich war dort im Dunkeln. Ich wusste es nicht. Ein wenig Brot, ein wenig Wasser.“ „Das ist, was falsch ist“, sagte Hanaud. „Kommen Sie, gehen wir von hier!“ „Ja, ja!“, rief Celia begierig. Sie stand auf und taumelte. Hanaud legte seinen Arm um sie. „Sie sind sehr freundlich“, sagte sie mit einer leisen Stimme und wieder blickte Zweifel aus ihrem Gesicht und verschwand. „Ich bin sicher, dass ich Ihnen vertrauen kann.“ Ricardo holte ihren Umhang und legte ihn auf ihre Schultern. Dann brachte er ihren Hut und sie steckte ihn fest. Sie wandte sich an Hanaud; unbewusst vertraute Worte kamen auf ihre Lippen. „Ist er gerade?“, frage sie. Und Hanaud lachte geradeheraus und in einem Augenblick lächelte Celia selbst. Gestützt von Hanaud stolperte sie die Treppe zum Garten hinunter. Als sie an der offenen Tür des erleuchteten Salons hinten im Haus vorbeigingen, drehte sich Hanaud zurück zu Lemerre und zeigte stumm auf die Morphiumnadel und die Ampulle. Lemerre nickte und indem er in das Zimmer ging, nahm er sie fort. Sie gingen wieder hinaus in den Garten. Celia Harland warf ihren Kopf zurück zu den Sternen und machte einen tiefen Atemzug von der kühlen Nachtluft. „Ich dachte nicht“, sagte sie mit leiser Stimme, „die Sterne wiederzusehen.“ Sie gingen langsam die Länge des Gartens hinunter und Hanaud hob sie in die Barkasse. Sie drehte sich herum und fasste seine Jacke. „Sie müssen auch kommen“, sagte sie halsstarrig. Hanaud sprang neben ihr hinein. „Für heute Nacht“, sagte er heiter, „bin ich Ihr Papa!“ Ricardo und die anderen folgten und die Barkasse bewegte sich hinaus über den See unter den Sternen. Der Bug war in Richtung Genf geneigt, das Wasser überschlug sich hinter ihnen wie ein weißes Feuer, die nächtliche Brise wehte frisch auf ihre Gesichter. Sie stiegen an dem Anlegesteg aus, und dann verbeugte sich Lemerre vor Celia und verabschiedete sich. Hanaud führte Celia
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hinauf zum Balkon des Restaurants und bestellte Abendessen. Es speisten noch Leute an den Tischen. Eine Gruppe, die spät bei ihrem Kaffee saß, erkannte Ricardo tatsächlich mit einer Art Schock. Sie hatten ihre Plätze eingenommen, genau die Plätze, auf denen sie nun saßen, bevor er und Hanaud und Lemerre das Restaurant auf ihrer Rettungsexpedition verlassen hatten. In diese kurze Zeitspanne war so viel, das ereignisreich war, gedrängt worden. Hanaud lehnte sich über den Tisch zu Celia und sagte mit leiser Stimme: „Mademoiselle, wenn ich vorschlagen darf, es wäre ebenso gut, wenn Sie Ihre Handschuhe anziehen; sonst würden sie Ihre Handgelenke bemerken.“ Celia folgte seinem Rat. Sie aß etwas und trank ein Glas Champagner. Ein wenig Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. „Sie sind sehr freundlich zu mir, Sie und Monsieur, Ihr Freund“, sagte sie mit einem Lächeln zu Ricardo. „Aber was Sie angeht ‐“ und ihre Stimme zitterte. „Pst!“, sagte Hanaud – „all das ist vorüber; wir werden nicht davon sprechen.“ Celia blickte über die Straße zu den Bäumen, von denen das dunkle Laub von den Lichtern des Restaurants erhellt und blass gemacht wurde. Draußen auf dem Wasser sang jemand. „Es scheint mir unmöglich“, sagte sie mit leiser Stimme, „dass ich hier bin, im Freien und frei. Hanaud blickte auf seine Uhr. „Mlle. Célie, es ist zehn Uhr vorbei. M. Ricardos Wagen wartet dort unter den Bäumen. Ich will nach Aix zurückfahren. Ich habe für Sie Zimmer in einem Hotel genommen, und dort wird eine Krankenschwester aus dem Krankenhaus sein, die sich um Sie kümmert.“ „Danke, Monsieur“, sagte sie, „Sie haben an alles gedacht. Aber ich werde keine Krankenschwester brauchen.“ „Aber Sie werden eine Krankenschwester haben“, sagte Hanaud fest. „Sie fühlen sich jetzt stärker – ja, aber wenn Sie Ihren Kopf auf Ihren Polster legen, Mademoiselle, wird es für Sie ein Trost sein, zu wissen, dass Sie sie in Rufweite 132
haben. Und in ein oder zwei Tagen“, fügte er freundlich hinzu, „werden Sie vielleicht uns sagen können, was Dienstagnacht in der Villa Rose geschah?“ Celia bedeckte für ein paar Augenblicke ihr Gesicht mit ihren Händen. Dann zog sie sie fort und sagte einfach: „Ja, Monsieur, ich werde es sagen.“ Hanaud verbeugte sich mit echter Hochachtung vor ihr. „Danke, Mademoiselle“, sagte und in seiner Stimme war ein starker Klang an Sympathie. Sie gingen nach unten und stiegen in Ricardos Wagen. „Ich will eine telefonische Nachricht schicken“, sagte Hanaud, „wenn Sie hier warten wollen.“ „Nein!“, rief Celia entschlossen und sie fasste wieder seine Jacke mit einer ziemlichen Herrschsucht, als ob er ihr gehörte. „Aber ich muss“, sagte Hanaud mit einem Lachen. „Dann werde ich auch mitkommen“, sagte Celia und sie öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf die Stufe. „Sie werden es nicht, Mademoiselle“, sagte Hanaud mit einem Lachen. „Wollen Sie Ihren Fuß zurück in diesen Wagen nehmen? Das ist besser. Nun werden Sie bei Ihrem Freund, M. Ricardo, sitzen, den ich Ihnen übrigens noch nicht vorgestellt habe. Er ist ein sehr guter Freund von Ihnen, Mademoiselle, und wird in Zukunft ein noch besserer sein.“ Ricardo fühlte sein Gewissen ziemlich schwer in ihm, denn er war nach Genf mit der festen Absicht gekommen, sie als eine äußerst gefährliche Kriminelle zu verhaften. Sogar jetzt konnte er nicht verstehen, wie sie einer Mittäterschaft an Mme. Dauvrays Mord unschuldig sein konnte. Aber Hanaud hielt sie offensichtlich dafür. Und da Hanaud so dachte, na, war es besser, nichts zu sagen, wenn man empfindlich für Hohn war. Also setzte sich Ricardo und redete mit ihr, während Hanaud zurück in das Restaurant rannte. Es spielte jedoch sehr wenig eine Rolle, was er sagte, denn Celias Augen waren auf die
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Tür gerichtet, durch die Hanaud verschwunden war. Und als er zurückkam, drehte sie schnell den Griff der Tür. „Nun, Mademoiselle, wir werden Sie in M. Ricardos Ersatzwagenjacke wickeln und Ihre Knie mit einer Reisedecke zudecken und Sie zwischen uns setzen, und dann können Sie schlafen.“ Der Wagen fuhr durch die Straßen von Genf. Celia Harland, mit einem Seufzer der Erleichterung, kuschelte sich zwischen die beiden Männer. „Wenn ich Sie besser kennen würde“, sagte sie zu Hanaud, „würde ich Ihnen sagen – was ich Ihnen jetzt natürlich nicht sage – dass ich mich fühle, als ob ich einen großen Neufundländer bei mir hätte.“ „Mlle. Célie“, sagte Hanaud und seine Stimme sagte ihr, dass er bewegt war, „das ist etwas sehr Schönes, was Sie mir gesagt haben.“ Die Lichter der Stadt fielen hinter ihnen ab. Nun sprach nur ein Glühen am Himmel von Genf; nun war sogar das fort, und mit einem ruhigen bewussten Schnurren glitt der Wagen die kühle, dunkle Straße entlang. Die großen Scheinwerfer warfen einen hellen Lichtkreis vor sie und die Straße glitt unter den Rädern davon wie eine Flut. Celia schlief ein. Sogar, als der Wagen am Pont de la Caille anhielt, wachte sie nicht auf. Die Tür wurde geöffnet, eine Suche nach Schmuggelware wurde gemacht, im Buch wurde unterschrieben. Noch immer wachte sie nicht auf. Der Wagen fuhr weiter. „Sie sehen, nach Frankreich zu kommen ist eine andere Angelegenheit“, sagte Hanaud. „Ja“, erwiderte Ricardo. „Doch – ich werde es zugeben – überrumpelten Sie mich gestern.“ „Wirklich?“, rief Ricardo fröhlich aus. „Wirklich“, entgegnete Hanaud. „Ich habe nie von der Pont de la Caille gehört. Aber Sie werden es nicht erwähnen? Sie werden mich nicht ruinieren?“ „Werde ich nicht“, sagte Mr. Ricardo erstklassig in seiner Großherzigkeit. „Sie sind ein guter Kriminalbeamter.“
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„Danke! Danke!“, rief Hanaud mit einer Stimme, die sicher vor Emotion zitterte. Er drückte Ricardos Hand. Er wischte eine imaginäre Träne aus seinen Augen. Und noch immer schlief Celia. Mr. Ricardo blickte auf sie. Er beugte sich zu Hanaud und sagte flüsternd: „Doch verstehe ich nicht. Der Wagen, obwohl keine ernsthafte Suche gemacht wurde, muss doch auf der Schweizer Seite der Pont de la Caille angehalten worden sein. Warum schrie sie dann nicht um Hilfe? Ein Schrei und sie wäre sicher. Eine Bewegung sogar wäre genug. Verstehen Sie?“ „Ich denke schon“, antwortete Hanaud mit einem sehr zarten Blick auf Celia. „Armes Mädchen, ich denke schon.“ Als Celia aufgewacht war, fand sie, dass der Wagen vor der Tür eines Hotels angehalten hatte und dass eine Frau in einem Kleid einer Krankenschwester in der Tür stand. „Sie können Marie vertrauen“, sagte Hanaud. Und Celia drehte sich um, als sie auf dem Boden stand, und gab den beiden Männern ihre Hand. „Danke! Danke Ihnen beiden!““, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie blickte Hanaud an und nickte. „Sie verstehen, warum ich Ihnen so sehr danke?“ „Ja“, sagte Hanaud. „Aber, Mademoiselle“ – und er beugte sich über den Wagen und sprach sehr leise zu ihr, wobei er ihre Hand hielt – „es gibt immer einen großen Neufundländer in den schlimmsten Schwierigkeiten – wenn Sie nur nach ihm suchen. Ich sage es Ihnen – ich, der zur Sûreté in Paris gehöre. Verlieren Sie nicht Ihr Herz!“ Und in seinen Gedanken fügte er hinzu: „Gott vergib mir für die Lüge!“ Er schüttelte ihre Hand und ließ sie los, und indem sie ihre Röcke raffte, ging sie in die Halle des Hotels. Hanaud beobachtete sie, als sie ging. Sie war für ihn ein einsames und mitleiderregendes Geschöpf, trotz der Krankenschwester, die ihr Gesellschaft leistete. „Sie müssen zu dem Mädchen ein guter Freund sein, Mr. Ricardo“, sagte er. „Fahren wir zu Ihrem Hotel.“ „Ja“, sagte Ricardo. Und als sie fuhren, brach die Neugierde, die den ganzen Weg von Genf geschwelt hatte, in Flammen aus. 135
„Wollen Sie mir eine Sache erklären?“, fragte er. „Als der Schrei aus dem Garten kam, waren Sie nicht überrascht. Tatsächlich sagten Sie, dass, als Sie die offene Tür und die Morphiumnadel auf dem Tisch des kleinen Zimmers unten sahen, Sie dachten, dass Adèle und der Mann Hippolyte sich im Garten versteckten.“ „Ja, ich dachte es.“ „Warum? Und warum erschreckte Sie die Veröffentlichung, dass der Schmuck entdeckt worden war, so?“ „Ah!“, sagte Hanaud. „Verstanden Sie das nicht? Doch ist es sicher klar und offensichtlich, wenn Sie einmal zugestehen, dass das Mädchen unschuldig, eine Zeugin des Verbrechens und nun in den Händen von Verbrechern war. Gewähren Sie mir diese Voraussetzung, M. Ricardo, für einen Augenblick, und Sie werden sehen, dass wir nur eine Chance hatten, das Mädchen lebend in Genf zu finden. Von Anfang an war ich sicher darüber. Was war die eine Chance? Na, dies! Sie wurde vielleicht lebendig gefangen gehalten, damit sie gezwungen werden könnte, zu sagen, was sie übrigens nicht wusste, nämlich, den Platz, wo Mme. Dauvrays wertvoller Schmuck heimlich versteckt war. Nun folgen Sie dem. Wir, die Polizei, finden den Schmuck und nehmen ihn in Gewahrsam. Lassen Sie diese Nachricht das Haus in Genf erreichen, und in derselben Nacht verliert Mlle. Célie ihr Leben, und nicht sehr angenehm. Sie haben keine weitere Verwendung für sie. Sie ist nur eine Gefahr für sie. Daher treffe ich meine Vorsichtsmaßnahmen – egal für den Augenblick, was sie waren. Ich achte darauf, dass, wenn der Mörder in Aix ist und Wind von unserer Entdeckung bekommt, wird er seine Neuigkeiten nicht übermitteln können.“ „Das Postamt hätte Briefe oder Telegramme gestoppt“, sagte Ricardo. „Ich verstehe.“ „Im Gegenteil“, erwiderte Hanaud. „Nein, ich traf meine Vorsichtsmaßnahmen, die von ganz anderer Art waren, bevor ich das Haus in Genf kannte oder den Namen Rossignol. Aber an eine Kommunikationsart dachte ich nicht. Ich dachte nicht an die Möglichkeit, dass die Nachricht an eine Zeitung geschickt werden könnte, die sie natürlich veröffentlichen und durch die Straßen von Genf schreien würde. In dem Augenblick, als ich die Nachricht hörte, wusste ich, dass 136
wir uns beeilen mussten. Der Garten des Hauses verlief zum See hinunter. Ein Mittel, Mlle. Célie loszuwerden, lag auf der Hand. Und die Nacht war hereingebrochen. Wir trafen sozusagen gerade rechtzeitig ein, und nicht früher als rechtzeitig. Die Zeitung war gekauft worden, die Nachricht hatte das Haus erreicht, Mlle. Célie war nicht länger von Nutzen, und jede Stunde, die sie in diesem Haus blieb, war natürlich eine Stunde der Gefahr für ihre Kidnapper.“ „Was hatten sie vor, zu tun?“, frage Ricardo. Hanaud zuckte die Achseln. „Es ist nicht hübsch – was sie zu tun vorhatten. Wir erreichen den Garten in unserer Barkasse. In diesem Augenblick sind Hippolyte und Adèle, die höchstwahrscheinlich Hippolytes Frau ist, in dem erleuchteten Salon des Kellergeschoßes. Adèle bereitet die Morphiumnadel vor. Hippolyte geht das Ruderboot bereit machen, das am Ende des Anlegestegs festgebunden war. Leise, wie wir an das Ufer kamen, hörten oder sahen sie uns. Sie rannten hinaus und versteckten sich im Garten, wobei sie keine Zeit hatten, die Gartentür abzusperren, oder vielleicht nicht wagten, sie abzusperren, damit das Geräusch des Schlüssels unsere Ohren nicht erreichen sollten. Wir finden diese Tür nicht abgesperrt, die Tür des Zimmers offen; auf dem Tisch liegt die Morphiumnadel. Oben liegt Mlle. Célie – sie ist hilflos, sie kann nicht sehen, was sie vorhaben zu tun.“ „Aber sie könnte aufschreien“, rief Ricardo aus. „Sie tat nicht einmal das!“ „Nein, mein Freund, sie konnte nicht schreien“, erwiderte Hanaud sehr ernst. „Ich weiß, warum. Sie konnte es nicht. Kein lebender Mann oder eine lebende Frau könnte das. Seien Sie darüber versichert!“ Ricardo war verblüfft; aber da der Kapitän des Schiffes seine Beobachtung nicht zeigen würde, wusste er, es wäre vergebens, ihn zu drängen. „Also, während Adèle ihre Morphiumnadel herrichtete und Hippolyte dabei war, das Boot vorzubereiten, traf Jeanne oben auch Vorbereitungen. Sie besserte einen Sack aus. Sahen Sie Mlle. Célies Augen und Gesicht, als sie das erste Mal diesen Sack sah? Ah! Sie verstand! Sie hatten vor, ihre eine Dosis Morphium zu geben, und sobald sie zu Bewusstsein käme, hatten sie vielleicht vor, einige schreckliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.“ Hanaud hielt eine 137
Sekunde inne. „Ich sage dazu nur vielleicht. Sicher hatten sie vor, sie in diesem Sack einzunähen, sie über den See zu rudern, ein Gewicht an ihre Füße anzubringen und sie leise über Bord fallen zu lassen. Sie sollte alles tragen, was sie in das Haus gebracht hatte. Mlle. Célie wäre für immer verschwunden und hätte nicht einmal Kräuseln auf dem Wasser zurückgelassen, um sie dadurch aufzuspüren!“ Ricardo machte eine Faust. „Aber das ist schrecklich!“, rief er; und als er die Worte äußerte, schleuderte der Wagen in die Auffahrt und blieb vor der Tür des Hôtel Majestic stehen. Ricardo sprang heraus. Ein Gefühl der Reue packte ihn. Den ganzen Abend hatte er nicht einen Gedanken an Harry Wethermill verschwendet, so sehr hatte die Aufregung von jedem Augenblick seine Gedanken in Anspruch genommen. „Er wird froh sein, es zu wissen!“, rief Ricardo. „Heute Nacht, bei allen Ereignissen, wird er schlafen. Ich hätte ihm aus Genf telegrafieren sollen, dass wir und Miss Celia zurückkommen.“ Er rannte die Stufen in das Hotel hinauf. „Ich kümmerte mich darum, dass er es wissen sollte“, sagte Hanaud, als er Ricardo folgte. „Dann konnte die Nachricht ihn nicht erreicht haben, sonst würde er uns erwarten“, erwiderte Ricardo, als er in das Büro eilte, wo ein Angestellter an seinen Büchern saß. „Ist Mr. Wethermill da?“, fragte er. Der Angestellte sah ihn merkwürdig an. „Mr. Wethermill wurde heute Abend verhaftet“, sagte er. Ricardo schritt zurück. „Verhaftet! Wann?“ „Fünfundzwanzig Minuten nach zehn“, erwiderte der Angestellte knapp. „Ah“, sagte Hanaud ruhig. „Das war meine telefonische Nachricht.“ Ricardo starrte verblüfft seinen Begleiter an. 138
„Verhaftet!“, rief er. „Verhaftet! Aber wofür?“ „Für die Morde an Marthe Gobin und Mme. Dauvray“, sagte Hanaud. „Gute Nacht.“
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Kapitel XIV Mr. Ricardo ist verwirrt Ricardo verbrachte eine äußerst stürmische Nacht. Er wurde zwischen dunklen Problemen hin und her geworfen. Nun war es Harry Wethermill, der ihn heimsuchte. Er wiederholte und wiederholte den Namen und versuchte, um den neuen und unheimlichen Hinweis zu begreifen, falls Hanaud recht hatte. Natürlich konnte Hanaud unrecht haben. Nur, wenn er unrecht hatte, wie war er dazu gekommen, Harry Wethermill zu verdächtigen? Was hatte zuerst seine Gedanken zu diesem scheinbar todunglücklichen Mann geführt? Und wann? Gewisse Erinnerungen wurden lebhaft in Mr. Ricardos Gedanken – das Mittagessen in der Villa Rose zum Beispiel. Hanaud war so beharrlich gewesen, dass die Frau mit dem roten Haar in Genf gefunden wurde, hatte es so deutlich hingelegt, dass eine Nachricht, ein Telegramm, ein Brief aus Aix nach Genf es ihm ermöglichen würde, seine Hände an den Mörder in Aix zu legen. Er isolierte das Haus in Genf sogar so früh in der Geschichte seiner Ermittlungen, sogar so früh verdächtigte er Harry Wethermill. Verstand und Kühnheit – ja, das waren zwei Eigenschaften, die er an dem Verbrecher gefordert hatte. Nun verstand Ricardo zum ersten Mal die Richtung von Hanauds Gespräch bei diesem Essen. Er warnte Harry Wethermill vor, er setzte ihn außer Gefecht, er behinderte ihn bei den Vorsichtsmaßnahmen; wie schlau er ihn zwang, sich zu isolieren. Und er tat es absichtlich, um das Leben von Celia Harland in Genf zu retten. Einmal packte sich Ricardo selbst am Schopf. Er selbst war mit Wethermill in den Bakkaraträumen genau in der Nacht des Mordes gewesen. Sie gingen zusammen den Hügel zum Hotel hinauf. Es konnte nicht sein, dass Harry Wethermill schuldig war. Und doch erinnerte er sich plötzlich, dass sie zusammen zu einer frühen Stunde die Spielräume verlassen hatten. Es war erst zehn Uhr, als sie sich in der Halle getrennt hatten, als sie jeweils zu ihrem eigenen Zimmer gegangen waren. Es wäre Zeit für Wethermill gewesen, die Villa Rose zu erreichen und dieses schreckliche Werk in dieser Nacht vor zwölf zu tun, es war alles im Voraus organisiert worden, wenn alles ging, wie es organisiert worden war. Und als er an die sorgfältige Planung dieses Verbrechens dachte und sich an Wethermills leichtes Geplauder erinnerte, als sie von Tisch zu Tisch in der Villa des Fleurs schlenderten, schauderte Ricardo. Obwohl er einen Geschmack für das Bizarre förderte, war es mit Mühe 140
verbunden. Er war natürlich von einem ordentlichen Sinn, und das Unheimliche oder Unmenschliche zu berühren, verursachte ihm körperliches Unbehagen. Daher wunderte er sich nun in großer Unbehaglichkeit über die ruhige Gelassenheit, mit der Wethermill geredet hatte, sein Arm in seinem, während die Last eines so dunklen Verbrechens, das innerhalb der Stunde begangen werden sollte, auf seinem Gewissen lag. Jede Minute musste er gedacht haben, mit einem schnellen Krampf des Herzens: „Sollte eine solche Vorsichtsmaßnahme versagen – sollte eine solche oder solche unvorhergesehene Sache dazwischenkommen“, doch hatte es nie ein Zeichen der Beunruhigung gegeben, niemals ein Hinweis auf Unruhe. Dann wandten sich Ricardos Gedanken, als er sich auf seinem Bett hin und her warf, zu Celia Harland, eine tragische und einsame Figur. Er erinnerte sich an den Blick der Zärtlichkeit auf ihrem Gesicht, als ihre Augen denen von Harry Wethermill über dem Bakkarattisch in der Villa des Fleurs begegneten. Er erlangte Einblick in den Grund, warum sie sich so verzweifelt an Hanauds Jackenärmel gestern geklammert hatte. Nicht nur hatte er ihr Leben gerettet. Sie lag mit der ganzen Welt des Vertrauens und der Illusion zerbrochen um sie herum, und Hanaud hatte sie aufgehoben. Sie hatte jemanden gefunden, dem sie traute – den großen Neufundländer, wie sie es ausdrückte. Mr. Ricardo dachte noch immer an Celia Harland, als der Morgen kam. Er schlief ein und erwachte, um Hanaud neben seinem Bett zu finden. „Sie werden heute gebraucht“, sagte Hanaud. Ricardo stand auf und ging mit dem Kriminalbeamten vom Hotel hinunter. Die Vordertür blickt auf den Mont Revard und auf dieser Seite ging Mr. Ricardos Zimmer hinaus. Die Auffahrt von der Vordertür geht herum zum Ende des langen Gebäudes und führt in die Straße, die sich dann in Richtung Stadt windet, am Garten hinter dem Hotel vorbei. Diese Straße hinunter gingen die beiden Männer, während die Stützmauer des Gartens zu ihrer Rechten immer höher über ihre Köpfe wuchs. Sie kamen zu einer steilen Stiege, die eine Abkürzung von dem Hotel zur Straße machte, und an diesen Stufen blieb Hanaud stehen. „Sehen Sie?“, sagte er. „Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es keine Häuser; da ist nur eine Mauer. Hinter der Mauer sind Klettergärten und der Boden fällt steil zur Straßenkurve darunter ab. Dort ist eine Stiege, die hinunterführt, die 141
der Stiege aus dem Garten entspricht. Sehr oft ist dort ein sergent‐de‐ville oben auf der Stiege postiert. Aber gestern Nachmittag um drei war nicht einer dort. Hinter uns ist die Stützmauer des Hotelgartens. Also, sehen Sie sich um. Wir können nicht vom Hotel aus gesehen werden. Da ist nicht eine Seele in Sicht – ja, dort kommt jemand den Hügel herauf, aber wir stehen hier schon lange genug für sie, um mich zu erstechen und zurück zu ihrem Kaffee auf der Veranda des Hotels zu gelangen.“ Ricardo zuckte zusammen. „Marthe Gobin!“, rief er. „Es war dann hier?“ Hanaud nickte. „Als wir vom Bahnhof in Ihrem Wagen zurückkehrten und zu Ihren Räumen hinaufgingen, gingen wir an Harry Wethermill vorbei, der auf der Veranda über dem Garten saß und seinen Kaffee trank. Er hatte die Nachricht, dass Marthe Gobin unterwegs war. „Aber Sie hatten das Haus in Genf isoliert. Wie konnte er die Nachricht haben?“, rief Ricardo aus, dessen Verstand sich drehte. „Ich hatte das Haus vor ihm isoliert, in dem Sinn, dass er nicht wagte, mit seinen Komplizen zu kommunizieren. Das ist, was Sie sich merken müssen. Er konnte sie nicht einmal wissen lassen, dass sie mit ihm nicht kommunizieren durften. Also erhielt er ein Telegramm. Es war vorsichtig in Worte gefasst. Zweifellos hatte er die Formulierung jeder Nachricht mit der Sorgfalt organisiert, die bei allen Vorsichtsmaßnahmen benutzt wird. Es lautete wie folgt“ – und Hanaud nahm ein Stück Papier aus seiner Tasche und las davon eine Kopie des Telegramms vor: ‚,Agent trifft 3.7 Uhr ein, um Kauf des Patents zu verhandeln.’ Das Telegramm wurde am Genfer Bahnhof um 12.45 aufgegeben, fünf Minuten, nachdem der Zug abgefahren war, der Marthe Gobin nach Aix brachte. Und mehr, es wurde von einem Mann aufgegeben, der stark Hippolyte Tacé ähnelte – das wissen wir.“ „Das war Wahnsinn“, sagte Ricardo. „Aber was sonst konnten sie dort drüben in Genf tun? Sie wussten nicht, dass Harry Wethermill verdächtigt wurde. Harry Wethermill hatte davon selbst keine Ahnung. Aber auch wenn er das gewusst hätte, mussten sie das Risiko 142
eingehen. Versetzen Sie sich einen Augenblick an ihre Stelle. Sie hatten meine Anzeige über Célie Harland in der Genfer Zeitung gesehen. Marthe Gobin, diese Wichtigtuerin, die immer ihre Nachbarn beobachtet, wurde zweifellos am nächsten Tag selbst beobachtet. Sie sehen sie das Haus verlassen, ein ungewöhnlicher Vorgang für sie, mit ihrem kranken Mann, wie ihr eigener Brief uns sagt. Hippolyte folgt ihr zum Bahnhof, sieht sie ihre Fahrkarte nach Aix nehmen und in den Zug steigen. Er muss sofort erraten, dass sie Célie Harland ihr Haus betreten sah, dass sie nach Aix mit der Information ihres Aufenthaltes reist. Um jeden Preis musste sie gehindert werden, diese Information weiterzugeben. Unter allen Umständen musste daher ein warnendes Telegramm an Harry Wethermill geschickt werden.“ Ricardo erkannte die Gewalt des Arguments. „Wenn Sie nur gestern rechtzeitig von dem Telegramm gehört hätten!“, rief er. „Ah ja!“, stimmte Hanaud zu. „Aber es wurde erst Viertel vor eins abgeschickt. Es wurde Wethermill übermittelt und eine Kopie wurde an die Präfektur geschickt, aber das Telegramm wurde zuerst ausgeliefert. „Wann wurde es Wethermill zugestellt?“, fragte Ricardo. „Um drei. Wir hatten schon den Bahnhof verlassen. Wethermill saß auf der Veranda. Das Telegramm wurde ihm dorthin gebracht. Es wurde von einem Kellner im Hotel gebracht, der sich an den Vorfall sehr gut erinnert. Wethermill hat sieben Minuten und die Zeit, die Marthe Gobin braucht, um vom Bahnhof zum Majestic zu fahren. Was tut er? Er rennt zuerst hinauf zu seinen Zimmern, sehr wahrscheinlich wusste er noch nicht, was er tun musste. Er rennt hinauf, um sein Telegramm zu überprüfen.“ „Sind Sie sicher darüber?“, rief Ricardo. „Wie können Sie es sein? Sie waren mit mir am Bahnhof. Was macht Sie sicher?“ Hanaud holte einen braunen Handschuh aus seiner Tasche. „Das.“ „Das ist Ihr Handschuh; Sie sagten es mir gestern.“ „Ich sagte es Ihnen“, erwiderte Hanaud ruhig; „aber es ist nicht mein Handschuh. Er gehört Wethermill; da sind seine Initialen auf dem Futter 143
geprägt – sehen Sie? Ich hob diesen Handschuh in Ihrem Zimmer auf, nachdem wir vom Bahnhof zurückgekommen waren. Er war vorher nicht dort. Er ging zu Ihren Zimmern. Zweifellos suchte er nach einem Telegramm. Zum Glück überprüfte er nicht Ihre Briefe, oder Marthe Gobin hätte nie mit uns gesprochen, wie sie es tat, nachdem sie tot war.“ „Was machte er dann?“, fragte Ricardo begierig; und obwohl Hanaud bei ihm am Eingang des Bahnhofs die ganze Zeit gewesen war, stellte er die Frage in absolutem Vertrauen, dass die wahre Antwort ihm gegeben wurde. „Er kehrte zur Veranda zurück und fragte sich, was er tun sollte. Er sah uns vom Bahnhof in dem Wagen zurückkommen und zu Ihrem Zimmer hinaufgehen. Wir waren allein. Marthe Gobin folgte dann. Da war seine Chance. Marthe Gobin darf uns nicht erreichen, darf uns ihre Neuigkeit nicht erzählen. Er rannte die Gartenstufen zum Tor hinunter. Niemand konnte ihn vom Hotel sehen. Sehr wahrscheinlich versteckte er sich hinter den Bäumen, von wo er die Straße beobachten konnte. Eine Droschke kommt den Hügel herauf; dort ist eine Frau darin – nicht ganz die Art von Frau, die in einem Hotel wohnt, M. Ricardo. Doch muss Sie zu Ihrem Hotel fahren, denn die Straße endet. Der Fahrer döst auf seinem Kutschbock und weigert sich, auf seinen Fahrgast zu achten, damit sie ihn nicht wieder bäte, sich zu beeilen. Sein Pferd geht im Schritt. Wethermill steckt seinen Kopf beim Fenster herein und fragt, ob sie gekommen sei, mit M. Ricardo zu sprechen. Besorgt um ihre viertausend Francs antwortet sie: ‚Ja.’ Vielleicht steigt er in die Droschke, vielleicht, als er an der Seite geht, schlägt er zu und schlägt hart und schlägt sicher. Lange, bevor die Droschke das Hotel erreicht, ist er wieder zurück auf der Veranda.“ „Ja“, sagte Ricardo, „es ist der Wagemut, von dem Sie sprachen, der das Verbrechen möglich machte – derselbe Wagemut, der ihn Ihre Hilfe suchen ließ. Das war beispiellos.“ „Nein“, erwiderte Hanaud. „Es gibt ein historisches Verbrechen in Ihrem eigenen Land, Monsieur. Hilferufe wurden in einer Nebenstraße einer Stadt gehört. Als die Leute rannten, um darauf zu reagieren, wurde ein Mann bei einer Leiche kniend vorgefunden, aber es war auch der kniende Mann, der den Mord beging. Ich erinnerte mich daran, als ich das erste Mal begann, Harry Wethermill zu verdächtigen.“
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Ricardo drehte sich begierig herum. „Und wann – wann begannen Sie, das erste Mal Harry Wethermill zu verdächtigen?“ Hanaud lächelte und schüttelte seinen Kopf. „Das werden Sie zur rechten Zeit wissen. Ich bin der Kapitän des Schiffes.“ Seine Stimme nahm einen tieferen Klang an. „Aber ich bereite Sie vor. Hören Sie zu! Wagemut und Verstand, das waren die Eigenschaften von Harry Wethermill – ja. Aber er ist nicht der Hauptdarsteller in dem Verbrechen. Darüber bin ich sicher. Er war nicht mehr als eines ihrer Instrumente.“ „Eines ihrer Instrumente? Benutzt also, von wem?“, fragte Ricardo. „Von meiner Bäuerin aus der Normandie, M. Ricardo“, sagte Hanaud. „Ja, dort ist die dominierende Figur – grausam, herrisch, unerbittlich – diese eigenartige Frau, Hélène Vauquier. Sie sind überrascht? Sie werden sehen! Es ist nicht der Mann des Intellekts und des Wagemuts; es ist meine Bäuerin, die am Ende von allem ist.“ „Aber sie ist frei!“, rief Ricardo aus. „Sie ließen Sie frei!“ „Frei!“, wiederholte Ricardo. „Sie wurde direkt von der Villa Rose zum Depôt gefahren. Sie wird seither au secret gehalten.“ Ricardo starrte erstaunt. „Schon wussten Sie von ihrer Schuld?“ „Schon hatte sie mich in ihrer Beschreibung von Adèle Rossignol belogen. Erinnern Sie sich, was sie sagte – eine schwarzhaarige Frau mit glänzenden Augen; und ich hatte erst fünf Minuten zuvor dies vom Tisch aufgehoben.“ Er öffnete seine Brieftasche und holte aus einem Umschlag eine lange rote Haarsträhne heraus. „Aber es war nicht nur, weil sie log, dass ich Sie zum Depôt hatte bringen lassen. Ein Tiegel kühlende Hautcreme war aus dem Zimmer von Mlle. Célie verschwunden.“ „Dann hatte Perrichet nach allem recht.“ 145
„Perrichet hatte nach allem ganz unrecht – seinen Mund nicht zu halten. Denn in diesem Tiegel kühlende Hautcreme, wie ich sicher war, waren diese wertvollen Diamantohrringe versteckt, die Mlle. Célie gewohnheitsmäßig trug.“ Die beiden Männer hatten den Platz vor dem Établissement des Bains erreicht. Ricardo ließ sich auf eine Bank fallen und wischte seine Stirn ab. „Aber ich bin in einem Labyrinth“, rief er. „Mein Kopf dreht sich. Ich weiß nicht, wo ich bin.“ Hanaud stand vor Ricardo und lächelte. Er war mit der Verwirrung seines Gefährten nicht unzufrieden; es war ein Tribut für ihn. „Ich bin der Kapitän des Schiffes“, sagte er. Sein Lächeln irritierte Ricardo, der ungeduldig sprach. „Ich wäre sehr froh“, sagte er, „wenn Sie mir sagen würden, wie Sie alle diese Dinge entdeckten. Und was war es, was der kleine Salon am ersten Morgen Ihnen zu sagen hatte? Und warum rannte Celia Harland aus der Glastür über das Gras zu dem Wagen und wieder von der Kutsche in das Haus am See? Warum widerstand sie gestern Abend nicht? Warum rief sie nicht um Hilfe? Wie viel von Hélène Vauquiers Beweise waren wahr und wie viele falsch? Aus welchem Grund war Wethermill in dieser Angelegenheit verstrickt? Oh! Und tausend Dinge, die ich nicht verstehe.“ „Ah, die Kissen und das Stück Papier und das Aluminiumfläschchen“, sagte Hanaud; und der Triumph verblasste aus seinem Gesicht. Er sprach nun zu Ricardo mit einer echten Freundlichkeit. „Sie dürfen nicht wütend auf mich sein, wenn ich Sie für eine kleine Weile im Dunkeln lasse. Ich, M. Ricardo, habe auch künstlerische Neigungen. Ich werde nicht die bemerkenswerte Geschichte verderben, von der ich denke, dass sie Mlle. Célie uns erzählen wird. Hinterher werde ich Ihnen bereitwillig erklären, was ich in den Beweisen der Zimmer las, und was mich dann so sehr verwirrte. Aber es ist nicht das Rätsel oder seine Lösung“, sage er bescheiden, „was hier äußerst interessant ist. Betrachten Sie die Leute. Mme. Dauvray, die alte, reiche, ungebildete Frau, mit ihrem Aberglauben und ihrer Großzügigkeit, ihr Wunsch, mit Mme. de Montespan und den großen Damen der Vergangenheit zu sprechen, und ihre Liebe zu einem jungen, frischen Gesicht um sie herum; Hélène Vauquier, das Mädchen 146
mit ihren sieben Jahren vertraulichen Dienstes, die sich plötzlich verdrängt und dazu gemacht findet, das Mädchen, das sie verdrängt hatte, in elegante Kleidung zu kleiden; das junge Mädchen selbst, das arme Kind, mit seiner Liebe zu feinen Kleidern; die Zigeunerin, die, inmitten von Betrügereien aufgewachsen war und sie als Beruf ausgeübt hat, indem sie darauf und auf das Elend und den Hunger und die Verzweiflung als Binsenwahrheiten des Lebens sieht, bewahrt eine Einfachheit und eine Zartheit und eine Frische, die an einem Tag verwelkt wären, wäre sie anders aufgezogen worden; Harry Wethermill, der umworbene und erfolgreiche Mann von Genialität. Stellen Sie sich bloß vor, wenn Sie es sich vorstellen können, wie seine Gefühle gewesen sein müssen, als in Mme. Dauvrays Schlafzimmer, mit der Frau, die er sinnloserweise ermordet hatte, die steif unter dem Laken lag, er sah, wie ich den eingelegten Boden hob und nacheinander diese Schmuckkästchen herausholte, nach denen er weniger als zwölf Stunden zuvor genau dieses Zimmer durchwühlt hatte. Aber was er gefühlt haben muss! Und kein Zeichen zu zeigen! Oh, diese Leute sind die interessanten Probleme in dieser Geschichte. Lassen Sie uns hören, was in dieser schrecklichen Nacht geschah. Das Rätsel – das kann warten.“ Nach Mr. Ricardos Ansicht erwies sich Hanaud als richtig. Die außergewöhnliche und entsetzliche Geschichte, die nach und nach über das, was in dieser Dienstagnacht in der Villa Rose geschehen war, aufgerollt wurde, überschritt in ihrem makabren Interesse alle Geheimnisse des Rätsels. Aber sie wurde nicht sofort erzählt. Das Problem zuerst bei Mlle. Célie war eine Frucht vor Schlaf. Sie wagte nicht zu schlafen – sogar mit einem Licht in dem Zimmer und einer Krankenschwester an ihrem Bett. Wenn sich ihre Augen tatsächlich schlossen, zwang sie sich verzweifelt zurück in die lebende Welt. Denn wenn sie schlief, träumte sie wieder von dieser dunklen und schrecklichen Dienstagnacht und die beiden Tage, die folgten, bis zu einem gewissen Augenblick das Durchhaltevermögen brach und sie schreiend aufwachte. Aber Jugend, eine gute Konstitution und ein gesunder Appetit setzten sich am Ende bei ihr durch. Sie erzählte ihren Teil der Geschichte – sie erzählte, was geschah. Es gab offensichtlich eine schreckliche Szene, als sie mit Harry Wethermill im Büro von Monsieur Fleuriot, dem Juge d’Instruction, konfrontiert wurde, und auf ihren 147
Knien, mit Tränen, die ihr Gesicht hinunterströmten, flehte sie ihn an, die Wahrheit zuzugeben. Eine lange Zeit hielt er durch. Und dann kam eine seltsame und menschliche Wendung in die Angelegenheit. Adèle Rossignol – oder um ihren echten Namen wiederzugeben, Adèle Tacé, die Frau von Hippolyte – hatte sich eine wahrhafte Leidenschaft zu Harry Wethermill eingebildet. Er war von einem nicht ungewöhnlichen Typ, kalt und herzlos in sich selbst, doch mit der Macht, Leidenschaft in Frauen zu erwecken. Und Adèle Tacé, als die Geschichte erzählt wurde, wie Harry Wethermill Celia Harland den Hof gemacht hatte, wurde von einer rachsüchtigen Eifersucht ergriffen. Hanaud war nicht überrascht. Er kannte die Kriminelle seines Landes – brutal, leidenschaftlich, heimtückisch. Die anonymen Briefe in der Handschrift einer Frau, die von der Rue de Jerusalem abstammt und die Männer verrät, die den Diebstahl begangen haben, hatte ihm keine Illusionen über die Figur in der Verbrechensgeschichte gelassen. Adèle Rossignol rannte vorwärts, um zu gestehen, sodass Harry Wethermill bis zu dem letztmöglichen Punkt des leiden musste. Dann endlich gab Wethermill nach, und durch die endlosen Verhöre des richterlichen Beamten gebrochen, gestand er auch. Die eine und Einzige, die fest stand und das Verbrechen leugnete, war Hélène Vauquier. Ihre dünnen Lippen waren verächtlich geschlossen, was auch immer die anderen zugeben mochten. Mit einem weißen, harten Gesicht, ruhig und respektvoll, stand sie dem richterlichen Beamten Woche um Woche gegenüber. Sie war das perfekte Bild einer Dienerin, die ihren Platz kannte. Und nichts wurde aus ihr gepresst. Aber ohne ihre Hilfe wurde die Geschichte vollständig. Und Ricardo bemühte sich, sie niederzuschreiben.
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Kapitel XV Celias Geschichte Die Geschichte beginnt mit der Erklärung über diesen Umstand, der Mr. Ricardo sehr verwirrt hatte – Celias Eintritt in den Haushalt von Mme. Dauvray. Celias Vater war ein Captain Harland von einem Marschregiment, der wenig über gutes Aussehen hinaus und exzellente Manieren hatte, womit er seine Position stützte. Er war extravagant in seinem Geschmack und unbesorgt in der Gegenwart von Peinlichkeiten. Zu seinen anderen Nachteilen fügte er hinzu, sich in ein hübsches Mädchen verliebt zu haben, das nicht besser als er selbst dran war. Sie heirateten und Celia wurde geboren. Neun Jahre lang schaffte sie es, durch die beständige Ergebenheit der Ehefrau, sich durchzuschlagen und ihrer Tochter eine Erziehung zu geben. Dann jedoch brach Celias Mutter unter der Anspannung zusammen und starb. Captain Harland trat zwei Jahre später mit schlechtem Ansehen aus dem Dienst, machte ein Konkursgericht durch und wurde Schausteller. Seine Masche war Gedankenlesen; er nahm seine Tochter in Dienst, brachte er die Tricks seines Handwerks bei und wurde „Der Große Fortinbras“ der Musikhallen. Captain Harland ging zwischen das Publikum, wobei er Zuschauer flüsternd bat, an eine Zahl oder einen Gegenstand in ihrer Tasche zu denken, nach der üblichen Weise, während das Kind in seinem kurzen Kleid, mit seinem langen blonden, mit einem Band zurückgebundenem Haar, mit verbundenen Augen auf der Plattform stand und die Antworten mit erstaunlicher Geschwindigkeit abspulte. Sie war einzigartig schnell, einzigartig aufnahmefähig. Die unbestrittene Klugheit der Vorstellung und die Schönheit des Kindes brachten ihnen einen vorübergehenden Wohlstand. Der Große Fortinbras stieg von den Musikhallen zu den Versammlungssälen der Provinzstädte auf. Die Vorstellungen wurden vornehm und Damen strömten zu den Matinées. Der Große Fortinbras gab sein Pseudonym auf und wurde wieder Captain Harland. Als Celia erwachsen wurde, versuchte er einen noch höheren Flug – er wurde ein Spiritualist, mit Celia als sein Medium. Die Gedanken lesenden Unterhaltungen wurden spannende Séancen und das schöne Kind, nun ein 149
schönes Mädchen von siebzehn geworden, schuf eine größere Sensation als Medium in Trance, als sie es als blitzschnelle Gedankenleserin getan hatte. „Ich sah keinen Schaden darin“, erklärte Celia M. Fleuriot, ohne einen Versuch, zu beschönigen. „Ich verstand nie, dass wir jemandem Schaden zufügten. Die Leute waren interessiert. Sie versuchten, es herauszufinden, falls sie es konnten, und sie versuchten es und sie konnten es nicht. Ich sah es ganz einfach auf diese Weise an. Es war einfach mein Beruf. Ich akzeptierte ihn ohne Frage. Ich war darüber nicht beunruhigt, bis ich nach Aix kam. Eine schreckliche Enthüllung jedoch in Cambridge brachte den Fimmel für Spiritismus in Verruf und Captain Harlands Vermögen nahm ab. Er fuhr mit seiner Tochter nach Frankreich und machte eine verhängnisvolle Tour in diesem Land, wobei er seine letzten Geldmittel im Kasino in Dieppe verschwendete und in dieser Stadt starb, wobei er Celia nur genug Geld hinterließ, um ihn zu begraben und ihre Fahrkarte dritte Klasse nach Paris zu bezahlen. Dort lebte sie ehrlich, aber armselig. Die Schlankheit ihrer Figur und eine Anmut der Bewegung, die ihr eigen war, erlangte ihr schließlich eine Stellung als Mannequin in den Schauräumen einer Modistin. Sie nahm ein Zimmer im obersten Stock eines Hauses in der Rue St. Honoré und ließ sich zu einem harten und kargen Leben nieder. „Ich war nicht glücklich oder zufrieden – nein“, sagte Celia offen und bestimmend. „Die langen Stunden in geschlossenen Räumen machten mir Kopfschmerzen und machten mich nervös. Ich hatte nicht das Temperament. Und ich war sehr einsam – mein Leben ist so anderes gewesen. Ich hatte frische Luft, gute Kleidung und Freiheit gehabt. Nun war alles verändert. Ich weinte mich in den Schlaf in meinem kleinen Zimmer, wobei ich mich fragte, ob ich je Freunde haben würde. Sie sehen, ich war recht jung – erst achtzehn – und ich wollte leben.“ Eine Veränderung kam in ein paar Monaten, aber eine verhängnisvolle Veränderung. Die Modistin scheiterte. Celia wurde hinausgeworfen und konnte nichts tun. Nach und nach verpfändete sie die Kleider, die sie erübrigen konnte; und dann kam ein Morgen, als sie ein einziges Fünf‐Francs‐Stück hatte und eine Monatsmiete für ihr Zimmer schuldete. Sie behielt das Fünf‐Francs‐Stück den 150
ganzen Tag und ging hungrig Arbeit suchen. Am Abend ging sie zu einem Lebensmittelladen, um Essen zu kaufen, und der Mann hinter dem Ladentisch nahm das Fünf‐Francs‐Stück. Er blickte es an, ließ es auf dem Ladentisch aufschlagen, und mit einem Lachen bog er es leicht in die Hälfte. „Sieh her, meine Kleine“, sagte er und warf ihr die Münze zurück, „man kauft nicht gutes Essen mit Blei.“ Celia schleppte sich verzweifelt aus dem Laden. Sie hungerte. Sie wagte nicht, zu ihrem Zimmer zurückzugehen. Der Gedanke an den Hausmeister am Fuß der Treppe, beharrlich nach der Miete, verängstigte sie. Sie stand auf dem Gehsteig und brach in Tränen aus. Ein paar Leute blieben stehen und beobachteten sie neugierig und gingen wieder weiter. Schließlich sagte ihr ein sergent‐de‐ville, sie solle weggehen. Das Mädchen ging weiter, mit Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen. Sie war verzweifelt, sie war einsam. „Ich dachte daran, in die Seine zu springen“, sagte Celia einfach, als sie die Geschichte dem Juge d’Instruction erzählte. „Tatsächlich ging ich zu dem Fluss. Aber das Wasser sah so kalt, so schrecklich aus, und ich war jung. Ich wollte so sehr leben. Und dann – die Nacht kam und die Lichter machten die Stadt hell, und ich war sehr müde und – und ‐“ Und mit einem Wort, das junge Mädchen ging verzweifelt zum Montmarte hinauf, so schnell, wie ihre müden Beine es tragen wollten. Sie ging ein‐ oder zweimal zaghaft an den Restaurants vorbei und betrat schließlich eines davon, wobei sie hoffte, dass jemand Mitleid mit ihr haben und ihr ein Abendessen geben würde. Sie stand einfach in der Tür des Speisesaals. Leute schoben an ihr vorbei – Männer in Abendkleidung, Frauen in glänzenden Kleidern und Schmuck. Niemand bemerkte sie. Sie war in einer Ecke zusammengeschrumpft, wobei sie eher hoffte, nicht bemerkt zu werden, nun, da sie gekommen war. Aber die Neuheit ihrer Umgebung nutzte sich ab. Sie wusste, dass aus Mangel an Essen sie fast ohnmächtig wurde. Da waren zwei Mädchen von der Geschäftsführung eingestellt, um zwischen den Tischen zu tanzen, während die Leute aßen – eine als Page in blauem Satin gekleidet, und die andere als spanische Tänzerin. Beide Mädchen waren freundlich. Sie sprachen mit Celia zwischen ihren Tänzen. Sie ließen sie Walzer mit ihnen tanzen. Sie hatte keinen 151
Schmuck, keine feinen Kleider, keinen Schick – die drei unerlässlichen Dinge. Sie hatte nur Jugend und ein hübsches Gesicht. „Aber“, sagte Celia, „ohne Schmuck und feine Kleider und Schick gehen sie umsonst in Paris. Schließlich jedoch kam Mme. Dauvray mit einer Gruppe von Freunden aus einem Theater, und sie sah, wie unglücklich ich war, und gab mir ein Abendessen. Sie fragte mich über mich, und ich erzählte es ihr. Sie war sehr freundlich und brachte mich zu sich nach Hause, und ich weinte den ganzen Weg in der Kutsche. Sie behielt mich ein paar Tage und dann sagte sie mir, dass ich bei ihr wohnen sollte, denn oft war sie auch einsam, und dass, wenn ich wollte, sie mir irgendwann einen netten, angenehmen Mann finden und mir eine Mitgift geben würde. So schienen alle Probleme zu Ende zu sein“, sagte Celia mit einem Lächeln. Innerhalb von zwei Wochen vertraute Mme. Dauvray Celia an, dass eine neue Wahrsagerin nach Paris kommen sollte, die, indem sie in eine Kristallkugel blickte, die wundervollsten Dinge über die Zukunft sagen könnte. Die Augen der alten Frau leuchteten, als sie sprach. Sie brachte am nächsten Tag Celia zu den Räumen der Wahrsagerin und das Mädchen verstand schnell die vorherrschende Leidenschaft der Frau, die sich mit ihr angefreundet hatte. Es brauchte dann wenig Zeit für Celia zu bemerken, wie leicht Mme. Dauvray betrogen wurde, wie beständig sie beraubt wurde. Celia ging das Problem in ihrem Kopf durch. „Madame ist sehr gut zu mir gewesen. Sie war freundlich und einfach“, sagte Celia mit einer sehr echten Zuneigung in ihrer Stimme. „Die Leute, die wir kannten, lachten sie aus und waren knauserig. Aber es gibt viele Frauen, die die Welt achtet, die schlimmer sind als Mme. Dauvray es je war. Ich mochte sie sehr, daher schlug ich ihr vor, dass wir eine Séance abhalten sollten und ich Leute aus der Geisterwelt bringen würde. Ich wusste, dass ich sie mit etwas viel Klügerem und Interessanterem als die Wahrsager interessierten könnte. Und gleichzeitig könnte ich sie davor bewahren, geplündert zu werden. Das war alles, was ich darüber dachte.“ Das war alles, was sie darüber dachte, ja. Sie ließ Hélène Vauquier aus ihren Berechnungen heraus, und sie sah die Wirkung ihrer Séancen auf Mme. Dauvray nicht voraus. Celia hatte kein Misstrauen zu Hélène Vauquier. Sie hätte gelacht, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass diese ehrbare und respektvolle 152
Frau in mittleren Jahren, die so aufmerksam, so nett, so dankbar gegenüber jeder Freundlichkeit war, einen erbitterten Hass gegen sie hegte. Celia war plötzlich aus Montmartre entsprungen; daher verachtete Hélène Vauquier sie. Celia hatte einen Platz in Mme. Dauvrays Vertrauen eingenommen, hatte sie unwissend ihres Amtes enthoben, hatte die vertraute Freundin zu einer bloßen Dienerin verwandelt; daher hasste sie Hélène Vauquier. Und der Hass reichte hinaus über das Mädchen und umfasste die alte, abergläubische, törichte Frau, die ein junges und hübsches Gesicht zu leicht hintergehen konnte. Hélène Vauquier verachtete sie beide, hasste sie beide und musste doch ihren Groll schweigend und vergeblich hegen. Dann kamen die Séancen und sofort, um Zündstoff ihrem Hass hinzuzufügen, fand sie sich dieser Geschenke und Vergütungen entledigt, die sie von der Herde allgemeiner Schwindler abverlangt hatte, die es gewöhnt waren, ihre Ernte bei Mme. Dauvray zu machen. Hélène Vauquier habsüchtig und gierig, wie so viele ihrer Klasse. Ihr Hass auf Celia, ihre Verachtung von Mme. Dauvray, wuchsen zu einem Wahn. Aber es war ein Wahn, den sie schlau war zu verbergen. Sie lebte bei Weißglut, aber für die ganze Welt verlor sie nichts an ihrer Ruhe. Celia sah den Hass nicht voraus, den sie erweckte, auch sah sie andererseits nicht die überwältigende Wirkung diese spiritistischen Séancen auf Mme. Dauvray voraus. Celia war nie zuvor ganz nahe den Leichtgläubigen gekommen. „Es hat immer die Reihe der Rampenlichter gegeben“, sagte sie. „Ich war auf dem Podium, das Publikum war im Saal, oder wenn es in einem Haus war, traf mein Vater die Anordnungen. Ich kam erst im letzten Augenblick herein, spielte meine Rolle und ging davon. Es wurde mir nie deutlich gemacht, dass einige unter den Leuten wirklich und wahrlich glaubten. Ich dachte nicht daran. Nun jedoch, als ich Mme. Dauvray so fieberhaft, so aufgeregt, so fest überzeugt sah, dass große Damen aus der Geisterwelt kamen und zu ihr sprachen, wurde ich erschrocken. Ich hatte eine Leidenschaft erweckt, die ich nicht vermutet hatte. Ich versuchte, die Séancen zu stoppen, aber ich durfte es nicht. Ich hatte eine Leidenschaft erweckt, die ich nicht beherrschen konnte. Ich hatte Angst, dass Mme. Dauvrays ganzes Leben – es scheint für jede, die sie nicht kannten, absurd, aber die, die sie verstanden – ja, ihr ganzes Leben und Glück zunichtegemacht werden würde, wenn sie entdeckte, dass das, was sie glaubte, ein Trick war.“
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Sie sprach mit einer Einfachheit und einer Reue, die schwer waren, was schwer war, nicht zu glauben. M. Fleuriot, der Untersuchungsrichter, nun endlich überzeugt, dass die Dreyfus‐Affäre umsonst in der Geschichte dieses Verbrechens war, hörte ihr mit Mitgefühl zu. „Das ist Ihre Erklärung, Mademoiselle“, sagte er freundlich. „Aber ich muss sagen, dass wir eine andere haben.“ „Ja, Monsieur?“, fragte Celia. „Von Hélène Vauquier gegeben“, sagte Fleuriot. Sogar nach diesen Tagen konnte Celia den Namen dieser Frau nicht ohne einen Schauder der Furcht und einem Zucken ihres ganzen Körpers hören. Ihr Gesicht wurde weiß, ihre Lippen trocken. „Ich weiß, Monsieur, dass Hélène Vauquier nicht meine Freundin ist“, sagte sie. „Mir wurde das sehr grausam beigebracht.“ „Hören Sie, Mademoiselle, was sie sagt“, sagte der Untersuchungsrichter und er las Celia ein oder zwei Auszüge von Hanauds Bericht seiner ersten Unterredung mit Hélène Vauquier im Schlafzimmer in der Villa Rose vor. „Sie hören, was sie sagt: ‚Mme. Dauvray hätte den ganzen Tag Séancen gehabt, aber Mlle. Célie flehte, dass sie am Ende davon erschöpft war. Aber Mlle. Célie war von einer Gewandtheit.’ Und wieder, wobei sie Mme. Dauvrays eigenartigen Fimmel sprach, dass der Geist von Mme. de Montespan heraufgerufen werden sollte, sagte Hélène Vauquier: ‚Sie war nie zufrieden. Immer hoffte sie. Immer quälte sie Mlle. Célie mit der Hoffnung. Sie wollte ihre feinen Angelegenheiten nicht verderben, indem sie dieses Vergnügen zu allgemein machte.’ So bezeichnet Sie Ihren Widerwillen, Ihre Experimente zu einem Wunsch zu vervielfachen, um den höchstmöglichen Gewinn von Ihrer Ware wie eine gute Geschäftsfrau herauszuschlagen.“ „Es ist nicht wahr, Monsieur“, rief Celia ernst. „Ich versuchte die Séancen zu stoppen, denn nun erkannte ich zum ersten Mal, dass ich mit einer gefährlichen Sache gespielt hatte. Es war für mich eine Enthüllung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mme. Dauvray wollte mir alles versprechen, mir alles geben, wenn ich nur zustimmen würde, es nicht abzulehnen. Ich war schrecklich verängstigt über das, was geschehen würde. Ich wollte keine Macht über Menschen. Ich 154
wusste, dass es nicht gut für sie war, zu einem solchen Ausmaß zu leiden. Nein, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und so zogen wir alle nach Aix.“ Und dort lernte sie Harry Wethermill am zweiten Tag nach ihrer Ankunft kennen und verliebte sich zum ersten Mal. Für Celia schien es, dass endlich passiert war, wonach sie sich gesehnt hatte. Sie begann wirklich zu leben, wie sie dieses Mal das Leben verstand. Der Tag, bis sie Harry Wethermill begegnete, war ein Lichtstrahl der freudigen Erwartung, die Stunden, wenn sie zusammen waren, eine Zeit der Zufriedenheit, die sie bei einigen zufälligen Begegnungen der Hände zu einem erlesenen Glück erregte. Mme. Dauvray verstand schnell, was los war, und lachte liebevoll über sie. „Célie, meine Liebe“, sagte sie, „Ihr Freund, M. Wethermill – 'Arry, nicht wahr? Sehen Sie, ich spreche Ihre Sprache aus – wird nicht so gemütlich wie der nette, dicke, bürgerliche Gentleman sein, den ich vorhatte, für Sie zu finden. Aber da Sie jung sind, wollen Sie natürlich Stürme. Und es wird Stürme geben, Célie“, schloss sie mit einem Lachen. Celia errötete. „Ich vermute, es wird“, sagte sie bedauernd. Da waren tatsächlich Augenblicke, als sie vor Harry Wethermill Angst hatte, aber Angst mit einem köstlichen Schauer des Wissens, dass er nur ernst war, weil er sich so sehr sorgte. Aber in ein oder zwei Tagen begann eine stechende Unzufriedenheit mit ihrem vergangenen Leben auf sie einzudringen. Manchmal fiel sie in Melancholie, wobei sie ihren Lebenslauf mit dem des Mannes verglich, den sie liebte. Manchmal kam sie einer extremen Gereiztheit bei Hélène Vauquier nahe. Ihr Geliebter war in ihren Gedanken. Wie sie es selbst ausdrückte: „Ich wollte immer gut aussehen und immer sehr gut sein.“ Gut im Lebensnotwendigen, kann man verstehen. Sie hatte in einer nachlässigen Welt gelebt. Sie war nicht besonders von dem Charakter ihres Bekannten beunruhigt; sie war davon unberührt; sie mochte ihre Liebelei am Bakkarattisch. Das waren Einzelheiten und bekümmerten sie nicht. Die Liebe hatte sie nicht zu einer Puritanerin verwandelt. Ihre gewissen Erinnerungen plagten ihre Seele. Der Besuch im Restaurant in Montmartre zum Beispiel, und die Séancen. Davon dachte sie tatsächlich, ein Ende zu machen. Da waren die 155
Bakkaraträume, die Schönheit der Stadt und die Nachbarschaft, um Mme. Dauvray abzulenken. Célie hielt ihre Gedanken von Séancen fern. Es wurde bis dahin keine Séance in der Villa Rose abgehalten. Und es hätte keine gegeben, wäre nicht Hélène Vauquier gewesen. Eines Abends jedoch, als Harry Wethermill vom Cercle zu der Villa des Fleurs ging, sprach ihn eine Frauenstimme von hinten an. „Monsieur!“ Er drehte sich um und sah Mme. Dauvrays Dienstmädchen. Er blieb unter einer Straßenlaterne stehen und sagte: „Also, was kann ich für Sie tun?“ Die Frau zögerte. „Ich hoffe, Monsieur werden mir vergeben“, sagte sie demütig. „Ich begehe eine große Unverschämtheit. Aber ich denke, Monsieur ist nicht sehr freundlich zu Mlle. Célie.“ Wethermill starrte sie an. „Was um alles auf der Welt meinen Sie?“, fragte er wütend. Hélène Vauquier blickte ihm ruhig ins Gesicht. „Es ist offenkundig, Monsieur, dass Mlle. Célie Monsieur liebt. Monsieur hat sie verlockt, ihn zu lieben. Aber es ist auch offenkundig für eine Frau mit schnellem Blick, dass Mademoiselle Monsieur nicht mehr bedeutet als der Knopf seiner Jacke. Es ist nicht sehr nett, das Glück eines jungen und hübschen Mädchens zu verderben, Monsieur.“ Nichts hätte respektvoller sein können als die Weise, in der diese Worte geäußert wurden. Wethermill fiel darauf herein. Er protestierte ernsthaft, wobei er befürchtete, dass das Dienstmädchen eine Feindin werden sollte. „Hélène, es ist nicht wahr, dass ich mit Mlle. Célie spiele. Warum sollte sie mir nicht etwas bedeuten?“ Hélène Vauquier zuckte mit den Achseln. Die Frage brauchte keine Antwort. „Warum sollte ich sie so oft suchen, wenn sie mir nichts bedeutete?“ 156
Und auf diese Frage lächelte Hélène Vauquier – ein ruhiges, langsames, vertrauliches Lächeln. „Was will Monsieur von Mme. Dauvray?“, fragte sie. Und die Frage war ihre Antwort. Wethermill stand still. Dann sagte er abrupt: „Nichts natürlich, nichts.“ Und er ging davon. Aber das Lächeln blieb auf Hélène Vauquiers Gesicht. Was wollten sie alle von Mme. Dauvray? Sie wusste es sehr wohl. Es war, was sie selbst wollte – mit anderen Dingen. Es war Geld – immer Geld. Wethermill war nicht der Erste, der die Gunst von Mme. Dauvray durch ihre hübsche Gesellschafterin suchte. Hélène Vauquier ging nach Hause. Sie war mit ihrer Unterhaltung nicht unzufrieden. Wethermill hatte lange genug innegehalten, bevor er die Andeutung ihrer Worte leugnete. Sie näherte sich ihm ein paar Tage später ein zweites Mal und offener. Sie kaufte in der Rue du Casino ein, als er an ihr vorbeiging. Er blieb von sich aus stehen und sprach mit ihr. Hélène Vauquier bewahrte ein ernstes und respektvolles Gesicht. Aber es war ein Impuls der Freude in ihrem Herzen. Er war zu ihr gekommen. „Monsieur“, sagte sie, „Sie gehen nicht den richtigen Weg.“ Und wieder erhellte ihr merkwürdiges Lächeln ihr Gesicht. „Mlle. Célie wacht über Mme. Dauvray. Sie will den Leuten nicht die Gelegenheit geben, Madame großzügig zu finden.“ „Oh“, sagte Wethermill langsam. „Stimmt das?“ Und er drehte sich um und ging an Hélène Vauquiers Seite. „Sprechen Sie von Mme. Dauvrays Reichtum, Monsieur, wenn Sie die Gunst von Mlle. Célie bewahren wollen. Sie ist jung, aber sie kennt ihre Welt.“ „Ich habe zu ihr nicht über Geld gesprochen“, erwiderte Wethermill, und dann brach er in Lachen aus. „Aber warum sollten Sie denken, dass ich – ich von allen Männern – Geld will?“, fragte er. Und Hélène antwortete ihm wieder hintergründig.
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„Wenn ich unrecht habe, Monsieur, tut es mir leid, aber Sie können mir auch helfen“, sagte sie mit ihrer unterwürfigen Stimme. Und sie ging weiter, wobei sie Wethermill wie angewurzelt stehen ließ. Es war ein Handel, den sie vorschlug – die Unverfrorenheit davon! Es war ein Handel, den sie vorschlug – der Wert davon! In dieser Form liefen Harry Wethermills Gedanken. Er war in verzweifelten Schwierigkeiten, obwohl in den Augen der Welt er ein wohlhabender Mann war. Als Spieler mit keinem billigen Geschmack brauchte er immer Geld. Die Rechte an seinem Patent hatte er vor Langem verpfändet. Er war kein Müßiggänger; er war kein Heuchler, der sich als großer Mann einer ignoranten Öffentlichkeit unterschob. Er hatte wirklich einen Ansatz von Begabung und er kultivierte sie emsig. Aber je härter er arbeitete, umso größer war sein Bedarf an Vergnügung und Extravaganz. Begnadet mit gutem Aussehen und einem Charme an Manieren war er gleichermaßen in der großen Welt und in der Welt der Boheme beliebt. Er behielt und wollte einen Fuß in jeder behalten. Dass er nun in verzweifelten Schwierigkeiten war, hatte wahrscheinlich Hélène Vauquier allein in Aix erkannt. Sie hatte ihre Schussfolgerung aus einer einfachen Tatsache gezogen. Wethermill fragte sie zu einer späteren Zeit, als sie besser bekannt waren, sie sie seine Not erraten hatte. „Monsieur“, erwidere sie, „Sie waren in Aix ohne Kammerdiener, und es schien mir, dass sie von der Klasse von Männern waren, die sich nie ohne einen Kammerdiener bewegen würden, solange es Geld gab, um seinen Lohn zu bezahlen. Das war mein erster Gedanke. Dann, als ich sah, wie sie die Freundschaft mit Mlle. Célie verfolgten – Sie, die Sie so deutlich meinem Blick nach nicht liebten – fühlte ich mich sicher.“ Bei der nächsten Gelegenheit, bei der sich die beiden begegneten, war es wieder Harry Wethermill, der Hélène Vauquier aufsuchte. Er redete ein oder zwei Minuten über gleichgültige Themen, und dann sagte er schnell: „Ich vermute, Mme. Dauvray ist reich?“ „Sie hat ein großes Vermögen an Schmuck“, sagte Hélène Vauquier. Wethermill zuckte zusammen. Er war an diesem Abend erregt, sah die Frau. Seine Hände zitterten, sein Gesicht zuckte. Es war eindeutig. Denn er verriet sich selten. Sie hielt es an der Zeit zuzuschlagen. 158
„Schmuck, den sie im Safe in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt“, fügte sie hinzu. „Warum tun Sie es dann nicht ‐?“, begann er und hielt inne. „Ich sagte, dass ich Hilfe brauche“, erwiderte Hélène, ohne ihre Fassung zu verlieren. Es war neun Uhr abends. Hélène Vauquier war mit einem Umhang von Mme. Dauvray hinunter zum Kasino gekommen. Dann gingen die beiden Leute die Straße hinunter, der das Kasino am Ende den Weg versperrte. Und es geschah, dass ein Bediensteter im Kasino, namens Alphonse Ruel, an ihnen vorbeiging, sie beide erkannte und mit einigem Vergnügen vor sich hinlächelte. Was machte Wethermill in der Gesellschaft mit Mme. Dauvrays Dienstmädchen? Ruel hatte keinen Zweifel. Ruel hatte Wethermill unlängst mit Mme. Dauvrays hübscher Gesellschaftern gesehen. Ruel hatte alle Sympathie eines Franzosen für Verliebte. Er wünschte ihnen alles Gute, diesen beiden jungen und attraktiven Leuten, und hoffte, dass das Mädchen bei ihren Plänen helfen würde. Aber als er vorbeiging, fing er plötzlich einen von Wethermill gesprochenen Satz auf. „Also, es ist wahr, ich muss Geld haben.“ Und die erregte Stimme und die Worte blieben in seinem Gedächtnis. Er hörte auch ein warnendes „Pst!“ von dem Dienstmädchen. Dann gingen sie aus seiner Hörweite. Aber er drehte sich um und sah, dass Wethermill wortreich redete. Was Harry Wethermill sagte, sagte er in einem törichten Ausbruch des Vertrauens. „Sie haben es erraten, Hélène – Sie allein.“ Er hatte sein Patent zweimal verpfändet – einmal in Frankreich, einmal in England – und das zweite Mal war vor einem Monat gewesen. Er hatte unten eine große Summe erhalten, die seine drängenden Kreditgeber bezahlte. Er hatte gehofft, die Summe von einer neuen Erfindung zurückzuzahlen. „Aber Hélène, ich sage Ihnen“, sagte er, „ich habe ein Gewissen.“ Und als sie lächelte, erklärte er: „Oh, nicht, was die Priester ein Gewissen nennen würden; das weiß ich. Aber trotzdem habe ich ein Gewissen – ein Gewissen über die Dinge, die wirklich zählen, auf jeden Fall für mich. Da ist ein Fehler in dieser neuen Erfindung. Sie kann verbessert werden; ich weiß das. Aber bis jetzt sehe 159
ich nicht, wie, und – ich kann nicht umhin – ich muss es richten; ich kann sie nicht fehlerhaft gehen lassen, wenn ich weiß, dass sie fehlerhaft ist, wenn ich sicher bin, dass ich früher oder später auf die benötigte Verbesserung treffen werde. Das ist, was ich meine, wenn ich sage, ich habe ein Gewissen.“ Hélène Vauquier lächelte milde. Männer waren eigenartige Fische. Dinge, die von keiner Bedeutung waren, beunruhigten und verwirrten sie und gaben ihnen schlaflose Nächte. Aber es lag nicht an ihr zu widersprechen, da es eine dieser eigenartigen Anomalien war, die ihr die Chance gaben. „Und die Leute finden heraus, dass Sie Ihre Rechte zweimal verkauft haben“, sagte das Mädchen mitfühlend. „Das ist schade, Monsieur.“ „Sie wissen es“, antwortete er; „die in England wissen es.“ „Und sie sind sehr wütend?“ „Sie drohen mir“, sagte Wethermill. „Sie geben mir einen Monat, das Geld zu ersetzen. Sonst wird es Schande, Verhaftung, Zuchthausstrafe geben.“ Hélène Vauquier ging ruhig weiter. Kein Anzeichen der heftigen Freude, die sie fühlte, war in ihrem Gesicht zu sehen, und nur eine Spur davon in ihrem Gesicht zu sehen. „Monsieur werde mich vielleicht morgen in Genf treffen“, sagte sie. Und sie nannte ein kleines Café in einer Hintergasse. „Ich kann für den Nachmittag einen Urlaub bekommen.“ Und da sie in der Nähe der Villa und der Lichter waren, ging sie voran. Wethermill bummelte hinterher. Er hatte sein Glück an den Tischen probiert und hatte versagt. Und – und – er musste das Geld haben. Er reiste demgemäß am nächsten Tag nach Genf und wurde dort Adèle Tacé und Hippolyte vorgestellt. „Sie sind zuverlässige Freunde von mir“, sagte Hélène Vauquier zu Wethermill, der nicht von Zuversicht bei dem Anblick des jungen Mannes mit den großen Ohren und dem angeklatschten Haar erfüllt war. Tatsächlich hatte sie sie nie getroffen, bevor sie dieses Jahr nach Aix kamen.
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Die Tacés, die aus Adèle und ihrem Ehemann und Jeanne, ihrer Mutter, bestanden, waren geübte Kriminelle. Sie hatten das Haus in Genf wohlüberlegt genommen, um einige Raubüberfälle in den großen Villen am Seeufer durchzuführen. Aber sie hatten kein Glück; und eine Beschreibung von Mme. Dauvrays Schmuck in der Frauenkolumne einer Genfer Zeitung hatte Adèle Tacé nach Aix gezogen. Sie hatte sich an die Aufgabe gemacht, Mme. Dauvrays Dienstmädchen zu verleiten, und fand eine Meisterin, kein Instrument. In dem kleinen Café an diesem Julinachmittag wies Hélène Vauquier ihre Komplizen ruhig und methodisch an, als ob das, was sie vorschlug, der gewöhnlichste Geschäftsstreich wäre. Ein‐ oder zweimal in der Folge ging Wethermill, der der einzige sichere Vermittler war, zu dem Haus in Genf, wobei er sein Haar änderte und einen Schnurrbart trug, um die Anordnungen zu vervollständigen. Er behauptete fest bei seinem Prozess, dass bei keinen dieser Treffen von Mord gesprochen wurde. „Sicher“, sagte der Richter mit einem wilden Sarkasmus. „In anständiger Unterhaltung gibt es immer eine Verschwiegenheit. Etwas bleibt zu verstehen übrig.“ Und es ist schwierig zu verstehen, wie Mord kein wesentlicher Teil ihres Plans hätte sein können da – Aber sehen wir, was geschah.
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Kapitel XVI Der erste Zug Am Freitag, bevor das Verbrechen begangen wurde, speisten Mme. Dauvray und Celia in der Villa des Fleurs. Während sie ihren Kaffee tranken, gesellte sich Harry Wethermill zu ihnen. Er blieb bei ihnen, bis Mme. Dauvray bereit zu gehen war, und dann gingen alle drei zusammen in die Bakkaraträume. Aber dort in der Menschenmenge wurden sie getrennt. Harry Wethermill kümmerte sich sorgfältig um Celia, wie ein guter Geliebter es tun sollte. Er hatte, schien es, keine Augen für jemand anderen; und es war nicht, bevor ein oder zwei Minuten vergangen waren, dass das Mädchen selbst bemerkte, dass Mme. Dauvray nicht bei ihnen war. „Wir werden sie leicht finden“, sagte Harry. „Natürlich“, erwiderte Celia. „Es besteht trotzdem keine Eile“, sagte Wethermill mit einem Lachen; „und vielleicht war sie nicht unwillig, uns zusammen zu verlassen.“ Celia lächelte. „Mme. Dauvray ist freundlich zu mir“, sagte sie mit einer sehr hübschen Schüchternheit. „Und noch freundlicher zu mir“, sagte Wethermill mit leiser Stimme, die das Blut in Celias Wangen brachte. Aber sogar, als er sprach, erblickte er Madame Dauvray, die an einem der Tische stand; und in ihrer Nähe war Adèle Tacé. Adèle hatte noch nicht Madame Dauvrays Bekanntschaft gemacht; das war offensichtlich. Sie war sich ihrer offensichtlich nicht bewusst; aber sie rückte nach und nach näher zu ihr. Wethermill lächelte und Celia fing das Lächeln auf. „Was ist los?“, fragte sie und ihr Kopf begann, sich in die Richtung von Mme. Dauvray zu wenden. „Na, mir gefällt Ihr Kleid – das ist alles“, sagte Wethermill sofort; und Celias Augen fielen darauf. 162
„Wirklich?“, sagte sie mit einem erfreuten Lächeln. Es war ein dunkelblaues Kleid, das ihr gut passte. „Ich bin froh. Ich denke, es ist hübsch.“ Und sie gingen weiter. Wethermill blieb den ganzen Abend an der Seite des Mädchens. Wieder sah er Mme. Dauvray und Adèle Tacé. Aber nun waren sie zusammen, nun redeten sie. Der erste Schritt war unternommen worden. Adèle Tacé hatte mit Mme. Dauvray Bekanntschaft geschlossen. Celia sah sie fast im gleichen Augenblick. „Oh, dort ist Mme. Dauvray“, rief sie und machte einen Schritt auf sie zu. Wethermill hielt das Mädchen zurück. „Sie scheint recht glücklich zu sein“, sagte er; und tatsächlich, Mme. Dauvray redete wortreich und mit dem äußersten Interesse, wobei der Schmuck auf ihrem Hals funkelte. Sie hob ihren Kopf, sah Celia, nickte ihr liebevoll zu und machte ihre Begleiterin auf sie aufmerksam. Adèle Tacé sah das Mädchen mit Interesse an und lächelte zufrieden. Da war von ihr nichts zu befürchten. Ihre Jugend, ihre Zartheit, schien sie als das leichteste Opfer anzubieten. „Sie sehen, Mme. Dauvray braucht Sie nicht“, sagte Harry Wethermill. „Gehen wir und spielen chemin‐de‐fer“, und sie taten es, wobei sie in einen der weiteren Räume gingen. Es war nicht, bevor eine weitere Stunde vergangen war, dass Celia aufstand und auf die Suche nach Mme. Dauvray ging. Sie fand sie noch immer mit Adèle Tacé sprechen. Mme. Dauvray stand sofort auf. „Sind Sie bereit zu gehen, meine Liebe?“, fragte sie und sie wandte sich an Adèle Tacé. „Das ist Celia, Mme. Rossignol“, sagte sie und sie sprach mit einer ausgeprägten Aussagekraft und einem Hauch des Hochgefühls in ihrer Stimme. Celia war jedoch an diesen Ton gewöhnt. Madame Dauvray war auf ihre Gesellschafterin stolz und hatte eine Gewohnheit, zum Unwohlsein des Mädchens, sie stolz vorzuzeigen. Die drei Frauen sprachen ein paar Worte und dann verließen Mme. Dauvray und Celia die Spielräume und gingen zur Eingangstür. Aber als sie gingen, wurde Celia beunruhigt. Sie war von Natur aus außergewöhnlich feinfühlend auf Eindrücke. Es war diese schnelle Aufnahmefähigkeit, dass der Erfolg des „Großen Fortinbras“, 163
zuzuschreiben war. Sie hatte eine Gabe des schnellen Begriffsvermögens. Es war nicht, dass sie argumentierte oder in Abrechnung brachte oder folgerte. Aber sie fühlte. Um eine Metapher aus dem Werk des Mannes zu nehmen, den sie liebte, war sie ein natürlicher Empfänger. Daher war sie sich jetzt, obwohl kein Wort gesprochen wurde, bewusst, dass Mme. Dauvray sehr aufgeregt war – sehr verstört; und sie befürchtete den Grund dieser Aufregung und Verstörung. Während sie im Wagen nach Hause fuhren, sagte sie ahnungsvoll: „Sie trafen also heute Abend eine Freundin, Madame?“ „Nein“, sagte Mme. Dauvray; „ich schloss Freundschaft. Ich hatte Mme. Rossignol vorher nicht getroffen. Ein Armband von ihr ging auf und ich half ihr, es zuzumachen. Wir redeten hinterher. Sie lebt in Genf.“ Mme. Dauvray war für ein oder zwei Augenblicke still. Dann drehte sie sich impulsiv herum und sprach mit flehender Stimme. „Célie, wir sprachen über Dinge“, und das Mädchen bewegte sich ungeduldig. Sie verstand sehr gut, was die Dinge waren, über die Mme. Dauvray und ihre neue Freundin gesprochen hatten. „Und sie lachte ... Ich konnte es nicht ertragen.“ Celia war still und Mme. Dauvray fuhr mit ehrfürchtiger Stimme fort: „Ich erzählte ihr von den wundervollen Dingen, die geschahen, als ich mit Hélène im Dunkeln saß – wie das Zimmer sich mit merkwürdigen Geräuschen füllte, wie geisterhafte Finger meine Stirn und meine Augen berührten. Sie lachte – Adèle Rossignol lachte, Célie. Ich erzählte ihr über die Geister, mit denen wir uns unterhielten. Sie wollte nicht glauben. Erinnern Sie sich an den Abend, Célie, als Mme. de Castiglione als alte, alte Frau zurückkam und uns erzählte, wie, als sie alt geworden und ihre Schönheit verloren hatte und sehr einsam war, sie nicht länger in dem großen Haus leben wollte, das so voller quälender Erinnerungen war, sondern eine kleine Wohnung in der Nähe nahm, wo sie niemand kannte; und wie sie spät nachts ausging und mit ihren Augen voller Tränen die dunklen Fenster beobachtete, die einst so hell vor Licht gewesen waren? Adèle Rossignol wollte nicht glauben. Ich erzählte ihr, dass ich die Geschichte hinterher in einem Memoirenband gefunden hatte. Adèle 164
Rossignol lachte sagte, dass Sie zweifellos diesen Band selbst vor der Séance gelesen hatten. Celia rührte sich schuldig. „Sie hatte keinen Glauben an Sie, Celia. Es machte mich wütend, meine Liebe. Sie sagte, dass Sie Ihre eigenen Tests erfänden. Sie höhnte darüber. Eine Schnur über einen Schrank! Ein Kind, sagte sie, könnte das schaffen; vielmehr dann eine kluge Frau! Tatsächlich drängte sie, dass Sie viel zu klug wären, sich der Tests von einigen zu unterwerfen, die Sie nicht kennen. Ich erwiderte, dass Sie es würden. Ich hatte recht, Célie, nicht wahr?“ Und wieder klang die Bitte ziemlich erbärmlich in Mme. Dauvrays Stimme. „Tests!“, rief Celia mit einem verächtlichen Lachen. Und in Wahrheit hatte sie keine Angst vor ihnen. Mme. Dauvrays Stimme fasste sofort Mut. „Da!“, rief sie triumphierend. „Ich war sicher. Ich sagte es ihr. Célie, ich vereinbarte mit ihr diesen nächsten Dienstag ‐“ Und Celia unterbrach schnell. „Nein! Oh, nein!“ Wieder war Stille; und dann sagte Mme. Dauvray freundlich, aber sehr ernst: „Célie, Sie sind nicht nett.“ Celia war durch diesen Tadel bewegt. „Oh, Madame!“, rief sie begierig. „Bitte, denken Sie das nicht. Wie könnte ich sonst etwas zu Ihnen sein, die so freundlich zu mir ist?“ „Dann beweisen Sie es, Célie. Am Dienstag habe ich Mme. Rossignol gebeten zu kommen; und ‐“ Die Stimme der alten Frau bebte vor Aufregung. „Und vielleicht – wer weiß? Vielleicht wird sie uns erscheinen.“ Celia hatte keinen Zweifel, wer „sie“ war. Sie war Mme. de Montespan. „Oh nein, Madame!“, stotterte sie. „Hier in Aix sind wir nicht in Stimmung für solche Dinge.“ Und dann fragte Mme. Dauvray mit ängstlicher Stimme: 165
„Ist es also wahr, was Adèle sagte?“ Und Celia erschrak gewaltig. Mme. Dauvray zweifelte. „Ich glaube, es würde mein Herz brechen, meine Liebe, wenn ich das denken sollte; wenn ich wissen sollte, dass Sie mich hereinlegten“, sagte sie mit zitternder Stimme. Celia bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Es wäre wahr. Sie hatte keine Zweifel daran. Mme. Dauvray würde sich nicht vergeben – würde Celia niemals vergeben. Ihre Verblendung war so gewachsen, um sie zu beanspruchen, dass der Rest ihres Lebens sicher verbittert wäre. Es war nicht bloß eine Leidenschaft – es war ebenso ein Glaubensbekenntnis. Celia schrak vor der Erneuerung dieser Séancen zurück. Jeder Faser in ihr revoltierte. Sie waren so unwürdig – Harry Wethermill so unwürdig, und ihr selbst, wie sie sich nun selbst wünschte, zu sein. Aber sie musste jetzt bezahlen; der Augenblick der Bezahlung war gekommen. „Célie“, sagte Mme. Dauvray, „es ist nicht wahr! Sicher ist es nicht wahr?“ Celia zog ihre Hände von ihrem Gesicht. „Lassen Sie Mme. Rossignol am Dienstag kommen!“, rief sie und die alte Frau fing die Hand des Mädchens und drückte sie vor Zuneigung. „Oh, danke! Danke!“, rief sie. „Adèle Rossignol lacht heute Abend; wir werden sie am Dienstag überzeugen, Célie! Célie, ich bin so froh!“ Und ihre Stimme sank in ein feierliches Flüstern, rührend drollig. „Es ist nicht recht, dass sie lachen sollte! Die Leute zurück durch die Tore der Geisterwelt zu bringen – das ist wundervoll.“ Für Celia war der Klang des Jargons, von ihren eigenen Lippen gelernt, von ihr selbst so gedankenlos in vergangenen Zeiten benutzt, abstoßend. „Zum letzten Mal“, flehte sie zu sich selbst. Ihr ganzes Leben sollte sich ändern; obwohl kein Wort von Harry Wethermill gesprochen worden war, war sie sicher. Nur für dieses eine letzte Mal dann, damit sie Mme. Dauvray der Fahne ihres Glaubens überlassen könnte, würde sie in der Villa Rose eine Séance abhalten. Mme. Dauvray erzählte die Neuigkeit Hélène Vauquier, als sie die Villa erreichten. 166
„Sie werden anwesend sein, Hélène“, rief sie aufgeregt. „Es wird Dienstag sein. Es werden drei von uns sein.“ „Gewiss, falls Madame wünscht“, sagte Hélène unterwürfig. Sie blickte sich in dem Zimmer um. „Mlle. Célie kann in der Nische auf einen Stuhl gesetzt und die Vorhänge zugezogen werden, während wir – Madame und Madames Freundin und ich – uns um diesen Tisch unter den Seitenfenstern setzen können.“ „Ja“, sagte Celia, „das wird sehr gut gehen.“ Es war Madame Davrays Gewohnheit, wenn sie besonders mit Celia zufrieden war, ihr Dienstmädchen schnell zu entlassen und es zu entsenden, nachts das Haar des Mädchens zu bürsten; und in einer kleinen Weile in dieser Nacht ging Hélène zu Celias Zimmer. Während sie Celias Haar bürstete, erzählte sie ihr, dass Servettaz’ Eltern in Chambéry wohnten und dass er sie gerne besuchen möchte. „Aber der arme Mann hat Angst, um einen freien Tag zu bitten“, sagte sie. „Er ist eine so kurze Zeit bei Madame.“ „Natürlich wird ihm Madame einen Urlaub geben, wenn er bittet“, erwiderte Celia mit einem Lächeln. „Ich werde morgen selbst mit ihr sprechen.“ „Es wäre freundlich von Mademoiselle“, sagte Hélène Vauquier. „Aber vielleicht ‐“ Sie hielt inne. „Nun“, sagte Celia. „Vielleicht würde Mademoiselle doch lieber mit Servettaz selbst sprechen und ihn ermutigen, mit seinen eigenen Lippen zu fragen. Madame hat ihre Launen, ist es nicht so? Sie mag nicht immer, dass vergessen wird, dass sie die Herrin ist.“ Am nächsten Morgen sprach Celia demgemäß mit Servettaz, und Servettaz bat um einen Urlaub. „Aber natürlich“, erwiderte Mme. Dauvray sofort. „Wir müssen uns auf einen Tag einigen.“ Es war dann, dass Hélène Vauquier demütig einen Vorschlag zu sagen wagte. 167
„Da Madame eine Freundin am Dienstag herkommen hat, wäre das vielleicht der beste Tag für ihn zu gehen. Madame würde wahrscheinlich an diesem Nachmittag keine lange Fahrt machen.“ „Nein, in der Tat“, erwiderte Mme. Dauvray. „Wir werden alle drei zusammen früh in Aix zu Abend essen und hierher zurückkehren.“ „Dann werde ich ihm sagen, dass er morgen gehen darf“, sagte Celia. Denn diese Unterhaltung fand am Montag statt und am Abend gingen Mme. Dauvray und Celia wie gewöhnlich zur Villa des Fleurs und speisten dort. „Ich war in schlechter Laune“, sagte Celia, al sie vom Juge d’Instruction gebeten wurde, die Nervenattacke im Garten zu erklären, die Ricardo mit angesehen hatte. „Ich hasste immer mehr den Gedanken an die Séance, die am folgenden Tag stattfinden sollte. Ich fühlte, dass ich Harry gegenüber unloyal war. Meine Nerven prickelten. Ich war an diesem Abend überhaupt nicht nett“, fügte sie reizend hinzu. „Aber beim Abendessen beschloss ich, dass, falls ich Harry begegnete, wie ich sicher war, würde ich ihm die ganze Wahrheit über mich erzählen. Jedoch, als ich ihm begegnete, hatte ich Angst. Ich wusste, wie streng er plötzlich schauen konnte. Ich befürchtete, was er denken würde. Ich hatte zu sehr Angst, ihn zu verlieren. Nein, ich konnte nicht sprechen; ich hatte nicht den Mut. Das machte mich noch wütender auf mich selbst, und daher – daher stritt ich sofort mit Harry. Er war überrascht; aber es war natürlich, nicht wahr? Was sonst sollte man unter solchen Umständen tun, außer mit dem Mann zu streiten, den man liebt? Ja, ich stritt wirklich mit ihm und sagte Dinge, die ihn, dachte und hoffte ich, verletzen würden. Dann rannte ich vor ihm davon, damit ich nicht zusammenbrechen und weinen würde. Ich ging zu den Tischen und verlor sofort das ganze Geld, das ich hatte, außer einem Geldschein über fünf Louisdor. Aber das tröstete mich nicht. Und ich rannte sehr unglücklich hinaus in den Garten. Dort benahm ich mich wie ein Kind und Mr. Ricardo sah mich. Aber es war nicht das wenige Geld, das ich verlor, das mir Sorgen machte; nein, es war der Gedanke daran, was für ein Feigling ich war. Hinterher versöhnten sich Harry und ich und ich dachte, wie die kleine Närrin, die ich war, dass er mich bitten wollte, ihn zu heiraten. Aber ich wollte ihn an diesem Abend nicht lassen. Oh! Ich wollte, dass er mich fragte – ich sehnte mich danach, dass er mich fragte – aber nicht an diesem Abend. Irgendwie fühlte ich, dass die
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Séance und die Tricks vorbei sein müssen, bevor ich hören und antworten konnte.“ Das ruhige und einfache Geständnis berührte den Friedensrichter, der mit tiefem Mitleid zuhörte. Er schirmte seine Augen mit seiner Hand ab. Das Gefühl des Mädchens über seine Unwürdigkeit, die Liebe, die es so vorbehaltlos Harry Wethermill geschenkt hatte, den tiefen Stolz, den es in dem Irrglauben gefühlt hatte, dass er es auch liebte, hatte eine zu bittere Ironie. Aber er wurde zum Zorn gegen den Mann geweckt. „Fahren Sie fort, Mademoiselle“, sagte er. Aber unwillkürlich zitterte seine Stimme. „Also vereinbarte ich mit ihm, dass wir uns am Mittwoch treffen sollten, wie Mr. Ricardo hörte.“ „Sie sagten ihm, dass Sie ihn am Mittwoch ‚brauchen’ würden?“, sagte der Untersuchungsrichter, wobei er Mr. Ricardos Worte zitierte. „Ja“, erwiderte Celia. „Ich meinte, dass das letzte Wort von all diesen Betrügereien gesprochen werden würde. Ich sollte frei zu hören sein, was er mir zu sagen hatte. Sie sehen, Monsieur, ich war so sicher, dass ich wüsste, was es war, was er mir zu sagen hätte ‐“, und ihre Stimme brach bei den Worten. Sie erholte sich mit Mühe. „Dann ging ich mit Mme. Dauvray nach Hause.“ Am Dienstagmorgen jedoch kam ein Brief von Adéle Tacé, von dem hinterher keine Spur zu finden war. Der Brief lud Mme. Dauvray und Celia ein, nach Annecy zu kommen und mit ihr dort in einem Hotel zu Abend zu essen. Sie könnten dann zusammen nach Aix zurückkehren. Der Vorschlag passte gut zu Mme. Dauvrays Vorliebe. Sie war in fieberhafter aufgeregter Stimmung. „Ja, es wird besser sein, dass wir ruhig zusammen an einem Ort speisen, wo kein Lärm und kein Gedränge ist, und wo uns niemand kennt“, sagte sie; und sie sah im Fahrplan nach. „Es gibt einen Zug zurück, der um neun Uhr in Aix eintrifft“, sagte sie, „daher müssen wir Servettaz’ Urlaub nicht verderben.“ „Seine Eltern werden ihn erwarten“, fügte Hélène Vauquier hinzu. Demgemäß fuhr Servettaz nach Chambéry mit dem Zug um 1.50 Uhr von Aix; und später am Nachmittag fuhren Mme. Dauvray und Celia mit dem Zug nach 169
Annecy. In den Gedanken einer Frau war die eigenartige Sehnsucht, dass „sie“ erscheinen und heute Nacht sprechen würde, in dem des Mädchens war ein Wunsch, leidenschaftlich wie ein Ruf. „Das soll das letzte Mal sein“, sagte sie sich immer wieder – „das allerletzte Mal.“ In der Zwischenzeit verbrannte Hélène Vauquier Adèle Tacés Brief. Sie wurde in der Villa Rose mit der Putzfrau zurückgelassen, um ihr Gesellschaft zu leisten. Die Putzfrau bezeugte, dass Hélène Vauquier sicher einen Brief im Küchenofen verbrannte und dass, nachdem sie ihn verbrannt hatte, lange Zeit saß und sich in einem Stuhl mit einem Lächeln großer Freude auf ihrem Gesicht schaukelte und hin und wieder ihre Lippen mit ihrer Zunge befeuchtete. Aber Hélene Vauquier hielt ihren Mund versiegelt.
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Kapitel XVII Der Dienstagnachmittag Mme. Dauvray und Celia fanden Adèle Rossignol, um Adèle Tacé den Namen zu geben, den sie annahm, auf sie ungeduldig im Garten eines Hotels in Annecy, auf der Promenade du Paquier warten. Sie war eine große, geschmeidige Frau, und sie war nach dem Geldbeutel und dem Wunsch von Hélène Vauquier mit einer Robe und einem langen Mantel aus saphirblauem Samt bekleidet, was die Grobheit ihres Aussehens milderte und ihrer Figur etwas Eleganz verlieh. „Also ist es Mademoiselle“, begann Adèle mit einem spöttischen Lächeln, „die bemerkenswert klug ist.“ „Klug?“, antwortete Celia und blickte Adèle direkt an, als ob sie durch sie Geheimnisse dahinter sähe. Sie nahm sofort ihre Rolle an. Da sie zum letzten Mal gespielt werden musste, durfte es keinen Fehler geben. Um ihrer selbst willen, um Mme. Dauvray Glückes willen, musste sie den heutigen Abend mit Erfolg davontragen. Das Misstrauen von Adèle Rossignol durfte keine Nachprüfung fordern. Sie sprach mit ruhiger und ernsthaftester Stimme. „Unter der Geisterkontrolle ist niemand klug. Man erfüllt das Geheiß des Geistes, der beherrscht.“ „Perfekt“, sagte Adele mit boshaftem Ton. „Ich hoffe nur, Sie werden sich darum kümmern, Mademoiselle, dass einige amüsante Geister Sie heute Abend beherrschen und vor uns erscheinen.“ „Ich bin nur das lebendige Tor, durch das die Geisterformen aus dem Reich der Sinne in die Welt der Materie gelangen“, erwiderte Celia. „Recht so“, sagte Adèle bequem. „Nun lasst uns vernünftig sein und zu Abend essen. Wir können uns mit Mademoiselles Geschwätz hinterher vergnügen.“ Mme. Dauvray war entrüstet. Celia ihrerseits fühlte sich gedemütigt und klein. Sie setzten sich im Garten zu ihrem Abendessen, aber der Regen begann zu fallen und trieb sie nach drinnen. Es speisten ein paar Leute zur selben Stunde, aber keiner nahe genug, um sie zu belauschen. Im Garten und im Speisesaal gleichermaßen bewahrte Adèle Tacé denselben Hohn und Unglauben. Sie war sorgfältig für ihr Werk vorbereitet worden. Sie konnte die Aufdeckungsfälle 171
zitieren – „les frères Davenport“, wie sie sie nannte, Eusapia Palladino und Dr. Slade. Sie kannte die Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen wurden, um Gaunerei zu verhindern, und wo diese Vorsichtsmaßnahmen versagt hatten. Ihre ganze Unterhaltung zu einem Ende geplant, und zu einem Ende allein. Sie wünschte, im Verstand ihrer Begleiterinnen einen so vollkommenen Eindruck ihrer Skepsis hervorzurufen, dass es für beide als das Natürlichste auf der Welt erscheinen mag, dass sie darauf bestehen sollte, Celia den ernsthaftesten Tests zu unterziehen. Der Regen hörte auf und sie tranken ihren Kaffee auf der Terrasse des Hotels. Mme. Dauvray war wirklich durch die Unterhaltung von Adèle Tacé gepeinigt worden. Sie hatte den missionarischen Eifer einer Fanatikerin. „Ich hoffe, Adèle, dass wir Sie dazu bringen zu glauben. Aber wir werden es. Oh, ich bin zuversichtlich, dass wir es werden.“ Und ihre Stimme war fieberhaft. Adèle ließ für den Augenblick ihren spöttischen Ton fallen. „Ich bin nicht unwillig, zu glauben“, sagte sie, „aber ich kann nicht. Ich bin interessiert – ja. Sie sehen, wie sehr ich das Thema studiert habe. Aber ich kann nicht glauben. Ich habe Geschichten gehört, wie diese Manifestationen hervorgerufen werden – Geschichte, die mich zum Lachen bringen. Ich kann nichts dagegen tun. Die Tricks sind so leicht. Ein junges Mädchen, das ein schwarzes Kleid trägt, nicht wahr, weil ein schwarzes Kleid in der Dunkelheit nicht gesehen werden kann – das ein Umhangtuch oder einen Schleier trägt, mit dem es jede Art Kopfbedeckung machen kann, wenn es nur ein wenig klug ist, und beschuht mit Pantoffeln mit Filzsohle, wird in einen Schrank geschlossen oder hinter einen Wandschirm gestellt, und die Lichter werden heruntergedreht oder ausgemacht ‐“ Adèle brach mit einem komischen Schulterzucken ab. „Pah! Es sollte kein Kind betrügen.“ Celia saß mit einem Gesicht, das rot wurde. Sie schaute nicht, aber trotzdem war sie sich bewusst, dass Mme. Dauvray sie mit einem verwirrten Stirnrunzeln und Zurückkehren ihres Misstrauens, das sich in ihren Augen zeigte, anstarrte. Adèle Tacé war nicht zufrieden, das Thema dort auf sich beruhen zu lassen. „Vielleicht“, sagte sie mit einem Lächlen, „kleidet sich Mlle. Célie auf diese Weise für eine Séance?“ „Madame soll es heute Nacht sehen“, stotterte Celia und Camille Dauvray wiederholte ziemlich streng ihre Worte. 172
„Ja, Adèle soll es heute Nacht sehen. Ich selbst werde entscheiden, was Sie tragen werden, Célie.“ Adèle Tacé schlug beiläufig die Art Kleid vor, das sie vorziehen würde. „Etwas Helles an Farbe mit einer Schleppe, etwas, das zischt und flüstert, wenn sich Mademoiselle in dem Zimmer bewegt – ja, und ich denke, einer von Mademoiselles großen Hüten“, sagte sie. „Wir werden Mademoiselle so modern wie möglich haben, sodass, wenn die großen Damen der Vergangenheit in der Frisur ihrer Tage erscheinen, wir sicher sein mögen, dass es nicht Mlle. Célie ist, die sie darstellt.“ „Ich werde mit Hélène sprechen“, sagte Mme. Dauvray und Adèle Tacé war zufrieden. Es gab ein bestimmtes neues Kleid, von dem sie wusste, und es war sehr wünschenswert, dass Mlle. Célie es heute Nacht tragen sollte. Zum einen, wenn Celia es trug, würde es der Theorie helfen, dass sie es angezogen hatte, weil sie diese Nacht einen Geliebten erwartete, zu anderen, zu diesem Kleid passte ein Paar Satinpantoffeln, das gerade von einem Schuhmacher in Aix gekommen war und das auf der weichen Erde deutlich denselben Abdruck wie die grauen Wildlederschuhe, die das Mädchen jetzt trug, hinterlassen würde. Celia war durch Mme. Rossignols Vorsichtsmaßnahmen nicht sehr aus der Fassung gebracht. Sie würde ein bisschen vorsichtiger sein müssen und Mme. de Montespan würde ein wenig länger brauchen, um auf den Ruf von Mme. Dauvray zu antworten, als die meisten anderen toten Damen der Vergangenheit. Aber das war alles. Sie war jedoch auf eine andere Weise wirklich beunruhigt. Während des Essens, bei jedem Wort der Unterhaltung, hatte sie ihren Widerwillen gegenüber dieser Séance zu einem eindeutigen Ekel anschwellen gefühlt. Mehr als einmal hatte sie sich von einer unkontrollierbaren Macht getrieben gefühlt, am Tisch aufzustehen und zu Adèle auszurufen: „Sie haben recht! Es ist ein Schwindel. Es gibt keine Wahrheit daran.“ Aber sie hatte sich beherrscht. Denn ihr gegenüber saß ihre Schirmherrin, ihre gute Freundin, die Frau, die sie gerettet hatte. Die Röte auf Mme. Dauvrays
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Wangen und die Erregung ihres Verhaltens warnten Celia, wie viel von dem Erfolg dieser letzten Séance abhing. Wie viel für sie beide! Und in der Fülle dieser Erkenntnis bestürmte sie eine große Furcht. Sie begann Angst zu haben, so stark war der Widerwille, dass sie ihr Herz nicht in die Aufgabe einbringen würde. „Angenommen, ich versage heute Nacht, weil ich mich nicht zwingen konnte, zu wünschen, nicht zu versagen!“, dachte sie und sie stählte sich gegen den Gedanken. Heute Nacht durfte sie nicht versagen. Denn abgesehen von Mme. Dauvrays Glück, schien es, stand ihr eigenes auch auf dem Spiel.“ „Es muss von meinen Lippen sein, dass Harry erfährt, was ich gewesen bin“, sagte sie sich, und mit dem Entschluss stärkte sie sich. „Ich werde tragen, was Sie möchten“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich wünsche nur, dass Mme. Rossignol zufrieden ist.“ „Und ich werde es“, sagte Adèle, „wenn ‐“ Sie lehnte sich ängstlich vor. Sie war zu der wahren Notwendigkeit von Hélène Vauquiers Plan gekommen. „Wenn wir als ganz lachhaft die Schranktür und die Schnur darüber aufgeben; wenn mit einem Wort Mademoiselle sich herablässt, dass wir ihre Hände und Füße binden und sie sicher in einem Stuhl festmachen. Solche Behinderungen sind in den Experimenten üblich, von denen ich gelesen habe. Gab es nicht ein Medium namens Mlle. Cook, die auf diese Weise gesichert war, und dann sollten bemerkenswerte Dinge, die ich nicht glauben konnte, geschehen sein.“ „Sicher erlaube ich es“, sagte Celia gleichgültig; und Mme. Dauvray rief begeistert: „Ah, Sie werden heute Nacht an diese wundervollen Dinge glauben!“ Adèle Tacé lehnte sich zurück. Sie machte einen Atemzug. Es war ein Atemzug der Erleichterung. „Dann werden wir die Schnur in Aix kaufen“, sagte sie. „Wir haben welche zweifellos im Haus“, sagte Mme. Dauvray. Adèle schüttelte ihren Kopf und lächelte.
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„Meine liebe gnädige Frau, Sie haben es mit einer Skeptikerin zu tun. Ich wäre nicht zufrieden.“ Celia zuckte die Achseln. „Stellen wir Mme. Rossignol zufrieden“, sagte sie. Celia war tatsächlich durch diese letzte Vorsichtsmaßnahme nicht erschrocken. Für sie war ein weniger schwieriger Gast als die hellfarbene raschelnde Robe. Sie war auf so vielen Bühnen aufgetreten, hatte zu oft die stümperhaften Bemühungen der Zuseher erfahren, die aus dem Publikum heraufriefen, um Furcht zu haben. Es gab sehr wenige Knoten, von den sich zu befreien ihre kleinen Hände und geschmeidigen Finger vor langer Zeit gelernt hatten. Sie war sich bewusst, wie sehr in all diesen Angelegenheiten das persönliche Gleich‐ gewicht zählte. Männer, die vielleicht Koten hätten binden können, von denen sie sich nicht befreien konnte, waren immer zu bequem und verlegen oder waren zu ängstlich, ihre weißen Arme und Handgelenke zu verletzen, um es zu tun. Frauen andererseits, die keine Bedenken dieser Art hatten, wussten nicht, wie. Es war nun beinahe acht Uhr; es regnete nicht mehr. „Wir müssen gehen“, sage Mme. Dauvray, die die letzte halbe Stunde fortwährend auf ihre Uhr gesehen hatte. Sie fuhren zum Bahnhof und nahmen den Zug. Wieder kam der Regen herunter, aber er hatte wieder aufgehört, bevor der Zug in Aix um neun Uhr einfuhr. „Wir werden eine Droschke nehmen“, sagte Mme. Dauvray, „es wird Zeit sparen.“ „Es wird uns gut tun, zu Fuß zu gehen, Madame“, flehte Adèle. Der Zug war voll. Adèle ging schnell aus den Lichtern des Bahnhofs in das Gedränge der Passagiere und wartete auf dem dunklen Platz auf die anderen, um sich ihr anzuschließen. „Es ist kaum neun. Ein Freund hat versprochen, mich bei der Villa Rose nach elf abzuholen und mich im Wagen nach Genf zurückzufahren, daher haben wir reichlich Zeit.“
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Sie gingen demgemäß den Hügel hinauf, Mme. Dauvray langsam, da sie stämmig war, und Celia, die mit ihr Schritt hielt. So schien es natürlich, dass Adèle Tacé vorausgehen sollte, so würde ein Passant nicht denken, dass sie ihr Gast sei. An der Ecke der Rue du Casino wartete Adèle auf sie und sagte schnell: „Mademoiselle, Sie können etwas Schnur besorgen, denke ich, dort in diesem Geschäft“, und sie zeigte zu dem Geschäft von M. Corval. „Madame und ich werden langsam weitergehen; Sie, die die Jüngste sind, werden uns leicht einholen.“ Celia ging in das Geschäft, kaufte die Schnur und holte Madame Dauvray ein, bevor sie die Villa erreichte. „Wo ist Mme. Rossignol?“, fragte sie. „Sie ging weiter“, sagte Camille Dauvray. „Sie geht schneller als ich.“ Sie kamen an niemandem vorbei, den sie kannten, obwohl sie an einem vorbeigingen, der sie erkannte, wie Perrichet entdeckt hatte. Sie kamen zu Adèle, die auf sie an der Ecke der Straße wartete, wo sie zur Villa hinunterbiegt. „Ist sie hier in der Nähe – die Villa Rose?“, fragte sie. „Eine weitere Minute und wir sind dort.“ Sie bogen bei der Auffahrt ein, schlossen das Tor hinter sich und gingen zur Villa hinauf. Die Fenster und Glastüren waren geschlossen, die vergitterten Fensterläden festgemacht. Ein Licht brannte in der Diele. „Hélène erwartet uns“, sagte Mme. Dauvray, denn als sie näher kamen, sah sie, wie sich die Vordertür öffnete, um sie einzulassen, und Hélène Vauquier im Eingang. Die drei Frauen gingen direkt in den kleinen Salon, der bereit mit aufgedrehten Lichtern und einem kleinen Feuer, das brannte, war. Celia bemerkte das Feuer mit einiger Bestürzung. Sie stellte einen Feuerwandschirm davor. „Ich kann verstehen, warum Sie das tun, Mademoiselle“, sagte Adèle Rossignol mit einem spöttischen Lächeln. Aber Mme. Dauvray kam dem Mädchen zur Hilfe.
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„Sie hat recht, Adèle. Licht ist die große Barriere zwischen uns und der Geisterwelt“, sagte sie feierlich. In der Zwischenzeit versperrte und verriegelte Hélène Vauquier die Haustür. Dann stand sie bewegungslos mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht und einem Herzen, das hoch schlug. Den ganzen Nachmittag hatte sie befürchtet, dass ein Zufall im letzten Augenblick ihren Plan verderben würde, dass Adèle Tacé ihre Lektion nicht gelernt hätte, dass Célie Angst haben würde, dass sie nicht zurückkehren würde. Nun waren alle diese Ängste vorüber. Sie hatte ihre Opfer sicher in der Villa. Die Putzfrau war nach Hause geschickt worden. Sie hatte sie für sich. Sie stand noch in der Diele, als Mme. Dauvray ungeduldig laut rief: „Hélène! Hélène!“ Und als sie den Salon betrat, war noch immer, wie Celia sich erinnern konnte, eine Spur ihres Lächelns, das auf ihrem Gesicht verweilte. Adèle Rossignol hatte ihren Hut abgenommen und zog nun ihre Handschuhe aus. Mme. Dauvray sprach ungeduldig mit Celia. „Wir werden das Zimmer arrangieren, meine Liebe, während Hélène Ihnen beim Ankleiden hilft. Es wird ganz leicht sein. Wir werden die Nische benutzen. Und Celia, als sie die Treppe hinaufrannte, hörte Mme. Dauvray mit ihrem Dienstmädchen diskutieren, was für ein Kleid sie tragen sollte. Ihr war heiß und sie nahm ein eiliges Bad. Als sie aus ihrem Badezimmer kam, sah sie mit Bestürzung, dass es ihr neues blassgrünes Abendkleid, war, das sie hinausgelegt hatte. Es war das Letzte, das sie gewählt hätte. Aber sie wagte nicht, es abzulehnen. Sie muss jeden Verdacht unterdrücken. Es musste ihr gelingen. Sie gab sich in Hélènes Hände. Celia erinnerte sich hinterher an ein oder zwei Punkte, die zu der Zeit kaum beachtet wurden. Einmal, während Hélène ihr Haar frisierte, blickte sie zu dem Mädchen im Spiegel auf und bemerkte ein merkwürdiges und ziemlich schreckliches Grinsen auf seinem Gesicht, das in dem Augenblick verschwand, als sich ihre Augen begegneten. Dann wieder war Hélène außergewöhnlich langsam und außergewöhnlich pingelig an dem Abend. Nichts befriedigte sie, weder das Hängen des Rocks des Mädchens, die Falten ihrer Schärpe, noch die Anordnung ihres Haares.
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„Kommen Sie, Hélène, seien Sie schnell“, sagte Celia. „Sie wissen, wie Madame es hasst, zu diesen Zeiten warten gelassen zu werden. Sie könnten mich kleiden, um einen Geliebten zu treffen“, fügte sie mit einem Erröten und einem Lächeln zu ihrem eigenen hübschen Spiegelbild; und ein eigenartiger Blick kam auf Hélène Vauquiers Gesicht. Denn es war genau dieser Ausdruck, auf den sie es abzielte. „Sehr wohl, Mademoiselle“, sagte Hélène. Und sogar, als sie sprach, ertönte Mme. Dauvrays Stimme schrill und gereizt die Treppe hoch. „Célie! Célie!“ „Schnell, Hélène“, sagte Celia. Denn sie selbst war nun bestrebt, die Séance hinter sich zu bringen. Aber Hélène beeilte sich nicht. Je gereizter Mme. Dauvray wurde, je ungeduldiger mit Mlle. Célie, umso weniger würde Mlle. Célie wagen, die Tests abzulehnen, die Adèle ihr aufzuerlegen wünschte. Aber das war nicht alles. Sie hatte heute Nacht eine feinsinnige und ironische Freude, die natürliche Lieblichkeit ihres Opfers zu schmücken. Ihr Gesicht, ihr schlanker Hals, ihre weißen Schultern sollten am hübschesten aussehen, ihre Anmut der Gliedmaßen und Figur sollten verlockender als je zuvor sein. Dieselben Worte liefen tatsächlich durch den Kopf von beiden Frauen. „Zum letzten Mal“, sagte sich Celia, als sie an diese schrecklichen Séancen dachte, die heute Nacht ein Ende sehen sollten. „Zum letzten Mal“, sagte auch Hélène Vauquier. Zum letzten Mal schnürte sie das Kleid des Mädchens. Es würde nach heute Nacht keinen geduldigen und sorgfältigen Dienst für Mlle. Célie geben. Aber sie sollte es heute Nacht haben. Sie sollte sich bewusst sein, dass ihre Schönheit nie einen so starken Anklang hatte; dass sie nie so geeignet für das Leben war wie in dem Augenblick, als das Ende gekommen war. Eine Sache bedauerte Hélène. Sie hätte gerne gehabt, dass Célie ‐ Celia, die sich im Spiegel anlächelte ‐ plötzlich wüsste, was vor ihr lag! Sie sah in ihrer Vorstellung die Farbe aus ihren Wangen weichen, die Augen weit vor Schrecken starren. „Célie! Célie!“
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Wieder ertönte die ungeduldige Stimme die Treppe hoch, als Hélène den Hut auf ihren blonden Kopf steckte. Célie sprang auf, machte ein oder zwei schnelle Schritte zur Tür und blieb bestürzt stehen. Das Rascheln ihrer langen Satinschleppe musste sie verraten. Sie raffte das Kleid und versuchte es wieder. Auch so war das Rascheln davon zu hören. „Ich werde sehr vorsichtig sein müssen. Sie werden mir helfen, Hélène?“ „Natürlich, Mademoiselle. Ich werde unter dem Lichtschalter im Salon sitzen. Wenn Madame, Ihr Gast, das Experiment zu schwierig macht, werde ich einen Weg finden, Ihnen zu helfen“, sagte Hélène Vauquier, und als sie sprach, reichte sie Celia ein langes Paar weiße Handschuhe. „Ich werde sie nicht brauchen“, sagte Celia. „Mme. Dauvray befahl mir, sie Ihnen zu geben“, erwiderte Hélène. Celia nahm sie eilig, hob ein weißes Tüllumhängetuch auf und rannte die Treppe hinunter. Hélène Vauquier horchte an der Tür und hörte Madames Stimme in fieberhaftem Ärger. „Wir haben auf Sie gewartet, Célie. Sie haben Ewigkeiten gebraucht.“ Hélène Vauquier lachte leise vor sich hin, holte Celias weißen Umhang aus der Garderobe, drehte die Lichter aus und folgte ihr hinunter zur Diele. Sie legte den Umhang gleich draußen vor die Tür des Salons. Dann drehte sie sorgfältig alle Lichter in der Diele und in der Küche aus und ging in den Salon. Der Rest des Hauses war in Dunkelheit. Dieses Zimmer war hell erleuchtet; und es war bereit gemacht worden.
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Kapitel XVIII Die Séance Hélène Vauquier versperrte die Tür des Salons auf der Innenseite und legte den Schlüssel auf das Kaminsims, wie sie es immer getan hatte, wenn eine Séance abgehalten wurde. Die Vorhänge waren an den Seiten der Bogennische der Glastüren gelöst worden, bereit, um hinübergezogen zu werden. In der Nische, an einer der Säulen, die den Bogen stützten, war ein hoher Schemel ohne Rückenlehne, der aus der Halle genommen wurde, hingestellt und die hinteren Beine des Schemels waren mit Schnur fest an die Säule gezurrt worden, sodass sie sich nicht bewegen konnten. Der runde Tisch war in Position mit drei Stühlen um ihn herumgestellt worden. Mme. Dauvray wartete ungeduldig. Celia stand offensichtlich sorglos, offensichtlich gegenüber allem, was vor sich ging, verloren. Ihre Augen sahen niemanden. Adèle blickte zu Celia auf und lachte boshaft. „Mademoiselle, sehe ich, ist in der Stimmung, das wundervollste Phänomen hervorzurufen. Aber es wird besser sein, denke ich, Madame“, sagte sie und wandte sich an Mme. Dauvray, „dass Mlle. Célie diese Handschuhe anziehen sollte, die sie, wie ich sehe, auf einen Stuhl geworfen hat. Es wird ein wenig schwieriger für Mademoiselle sein, diese Schnüre zu lösen, sollte sie es zu tun wünschen.“ Das Argument brachte Célie zum Schweigen. Wenn sie diese Bedingung nun ablehnte, würde sie bei Mme. Dauvray ein schreckliches Misstrauen erregen. Sie zog reumütig und langsam die Handschuhe an, glättete sie über ihren Ellbogen und knöpfte sie zu. Um ihre Hände mit ihren Fingern und Handgelenken zu befreien, wurde in den Handschuhen behindert und würde keine leichte Aufgabe sein. Aber es gab kein Entkommen. Adèle Rossignol beobachtete sie mit einem satirischen Lächeln. Mme. Dauvray drängte sie, schnell zu sein. Indem das Mädchen einem zweiten Befehl gehorchte, hob es seinen Rock und streckte einen schlanken Fuß in blassgrünem Seidenstrumpf und einem dazupassenden Satinpantoffel hervor. Adèle war zufrieden. Celia trug die Schuhe, die sie tragen sollte. Sie waren genau wie die letzten gemacht, die Celia gerade oben abgestreift hatte. Ein fast unmerkliches Nicken von Hélène Vauquier versicherte es ihr überdies. 180
Sie nahm ein Stück von der Schnur auf. „Wie sollen wir nun beginnen?“, sagte sie unbeholfen. „Ich denke, ich werde Sie bitten, Mademoiselle, Ihre Hände nach hinten zu legen.“ Celia drehte ihren Rücken und überkreuzte ihre Handgelenke. Sie stand in ihrem Satinkleid mit ihren weißen bloßen Armen und Schultern, ihr schlanker Hals, der ihren kleinen Kopf mit seinen schweren Locken stützte, ihr großer Hut ‐ ein Bild von junger Anmut und Schönheit. Sie hätte eine leichte Aufgabe in dieser Nacht gehabt, wäre ein Mann statt einer Frau gewesen, der sie einem Test unterzogen hätte. Aber die Frauen waren mit ihren eigenen Absichten beschäftigt: Mme. Dauvray begierig auf ihre Séance, Adèle Tacé und Hélène Vauquier auf den Höhepunkt ihres Komplotts. Celia ballte ihre Fäuste, um die Muskeln ihrer Handgelenke steif zu machen, um dem Druck der Schnur zu widerstehen. Adèle öffnete sie ruhig und legte sie Handfläche an Handfläche. Und sofort wurde Celia unbehaglich. Es war nicht bloß die Handlung, obwohl sie vielsagend für Adèles Wachsamkeit war, ihren Plan zu durchkreuzen, was Celia beunruhigte. Aber sie war außerordentlich empfänglich auf Eindrücke, außerordentlich schnell zu fühlen, von einer Berührung, einer matten Empfindung des Gedankens von derjenigen, die sie berührten. Daher verursachte ihr nun die Berührung von Adèles schnellen, starken Händen einen seltsamen, vagen Schock des Unbehagens. Es war nicht mehr als das in diesem Augenblick, aber es war ganz eindeutig. „Halten Sie ihre Hände bitte so, Mademoiselle“, sagte Adèle; „Ihre Finger locker.“ Und im nächsten Augenblick zuckte Celia zusammen und musste sich auf ihre Lippe beißen, um sich vom Schreien abzuhalten. Die dünne Schnur war zweimal um ihre Handgelenke gewunden, grausam fest gezogen und schlau verknotet. Für eine Sekunde war Celia dankbar für ihre Handschuhe; die nächste bedauerte sie es mehr als zuvor, dass sie sie trug. Es wäre schwierig genug für sie gewesen, ihre Hände jetzt zu befreien, sogar ohne sie. Und darauf befiel sie eine schlimmere Sache. „Ich bitte Mademoiselle um Verzeihung, wenn ich ihr wehtue“, sagte Adèle.
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Und sie band die Daumen und die kleinen Finger des Mädchens. Um die Knoten lösen, musste sie ihre Finger benutzen, auch wenn ihre Handschuhe sie ungeschickt damit umgehen ließen. Nun hatte sie den Gebrauch von ihnen ganz und gar verloren. Sie begann zu fühlen, dass sie in Meisterhänden war. Sie war sich im nächsten Augenblick darüber sicher. Denn Adèle stand auf und indem sie eine Schnur um den oberen Teil ihrer Arme legte, zog sie ihre Ellbogen zurück. Um Kraft zu haben, um ihr zu helfen, ihre Hände zu befreien, musste sie ihre Ellbogen heben können. Mit ihnen festgeschnürt an ihrem Hinterteil wurde sie gänzlich ihrer Kraft beraubt. Und die ganze Zeit wuchs das merkwürdige Unbehagen. Sie machte eine Bewegung des Aufruhrs und sofort wurde die Schnur gelöst. „Mlle. Célie hat Einwände gegen meine Tests“, sagte Adèle mit einem Lachen zu Mme. Dauvray. „Und ich wundere mich nicht.“ Celia sah auf dem törichten und aufgeregten Gesicht der alten Frau einen Blick der wahrhaften Bestürzung. „Haben Sie Angst, Célie?“, fragte sie. Da war Zorn, da war Bedrohung in der Stimme, aber vor allem war da Furcht ‐ Furcht, dass ihre Illusionen durcheinanderpurzelten. Celia hörte diesen feinen Ton und wurde dadurch gebändigt. Diese Torheit des Glaubens, diese Séancen, waren der eine Hauch an Farbe, der es ihr so leicht gemacht hatte zu täuschen. Wie stark das Bedürfnis ist, wie verführerisch der Antrag, es zu befriedigen, wusste Celia gut. Sie wusste es aus der Erfahrung ihres Lebens, als der Große Fortinbras am Höhepunkt seines Glücks war. Sie war inmitten eintöniger, grauer Städte ohne Merkmale oder Vergnügungen gereist. Sie hatte ihre Augen offengehalten. Sie hatte gesehen, dass es von den Bürgern der trostlosen Straßen in diesen Städten war, dass die Quacksalberreligionen ihre neuen Mitglieder gewannen. Mme. Dauvrays Leben war eine nichtssagende Angelegenheit, bis diese Experimente gekommen waren, um es bunt zu machen. Mme. Dauvray muss auf jeden Fall die Erinnerung an diese Farbe bewahrt werden. „Nein“, sagte sie kühn; „ich habe keine Angst“, und danach bewegte sie sich nicht mehr.
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Ihre Ellbogen waren fest zurückgezogen. Sie war sicher, dass sie sie nicht befreien konnte. Sie blickte verzweifelt Hélène Vauquier an und dann sprang ein Hoffnungsschimmer hoch. Denn Hélène Vauquier warf ihr einen Blick zu, ein beruhigendes Lächeln. Es war, als ob sie sagte: „Ich werde Ihnen zu Hilfe kommen.“ Dann, um die Sicherheit noch sicherer zu machen, drehte Adèle das Mädchen so ungezwungen herum, als ob sie eine Puppe gewesen wäre, und zog eine Schnur an dem hinteren Teil ihrer Arme vorbei, zog beide Enden nach vorne und verknotete sie an ihren Handgelenken. „Nun, Célie“, sagte Adèle mit einem Zittern in ihrer Stimme, das Celia vorher nicht bemerkt hatte. Erregung siegte über sie wie über Mme. Dauvray. Ihr Gesicht war rot und glänzend, ihre Art gebieterisch und aufbrausend. Celias Unbehaglichkeit wurde zu Furcht. Sie hätte die Worte benutzen können, die Hanaud am nächsten Tag in genau diesem Zimmer sprach ‐ „Da ist etwas, was ich nicht verstehe.“ Der Berührung von Adèles Händen übermittelten ihr etwas ‐ etwas, das sie mit einem vagen Schrecken erfüllte. Sie hätte es nicht formulieren können, falls sie es wollte; sie wagte es nicht, wenn sie könnte. Sie musste es nur erdulden und sich ergeben. „Nun“, sagte Adèle. Sie nahm das Mädchen bei den Schultern und setzte es in einen klaren Raum in der Mitte des Zimmers, ihren Rücken zur Nische, ihr Gesicht zum Spiegel, wo sie alle sehen konnten. „Nun, Célie“ ‐ sie ließ das „Mlle.“ aus und die ironische Höflichkeit ihrer Art ‐ „versuchen Sie sich zu befreien.“ Für einen Augenblick arbeiteten die Schultern des Mädchens, ihre Hände flatterten. Aber sie blieben hilflos gebunden. „Ah, Sie werden heute Nacht zufrieden sein, Adèle“, rief Mme. Dauvray begierig. Aber sogar inmitten ihres Eifers ‐ so gründlich war sie vorbereitet worden ‐ verweilte ein Hauch an Zweifel, an Misstrauen. In Celias Sinn gab es noch immer den einen verzweifelten Entschluss.
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„Ich muss heute Nacht Erfolg haben“, sagte sie sich ‐ „ich muss!“ Adèle Rossignol kniete auf dem Boden hinter ihr. Sie raffte das Kleid des Mädchens zusammen. Dann hob sie die lange Schleppe hoch, wand sie fest um ihre Glieder, steckte sie mit einer Nadel fest wickelte sie in die Falten des Satins und sicherte die Falten mit einer Schnur über den Knien. Sie stand wieder auf. „Können Sie gehen, Célie?“, fragte sie. „Versuchen Sie es!“ Mit Hélène Vauquier, um sie zu stützen, falls sie fiele, machte Celia einen winzigen schlurfenden Schritt vorwärts und fühlte sich höchst lächerlich. Jedoch keiner ihres Publikums war geneigt zu lachen. Für Mme. Dauvray war die ganze Angelegenheit so ernst wie das feierlichste Zeremoniell. Adèle war beschäftigt, ihre Knoten sicher zu machen. Hélène Vauquier war die wohlerzogene Dienerin, die ihren Platz kannte. Es stand ihr nicht zu, über die junge Herrin zu lachen, egal, in was für einer komischen Situation sie sein mochte. „Nun“, sagte Adèle, „werden wir Mademoiselles Knöchel binden, und dann werden wir für Mme. de Montespan bereit sein.“ Der Hohn in ihrer Stimme hatte nun einen Hauch von Grausamkeit darin. Celias vages Entsetzen wuchs. Sie hatte ein Gefühl, dass eine Bestie in der Frau erwachte, und damit kam eine wachsende Vorahnung des Versagens. Vergebens weinte sie vor sich hin: „Ich darf heute Nacht nicht versagen.“ Aber sie fühlte instinktiv, dass eine stärkere Persönlichkeit als ihre eigene in diesem Raum war, die ihr Versagen verurteilte und die anderen beeinflusste. Sie wurde in einen Stuhl gesetzt. Adéle zog eine Schnur um ihre Knöchel und die bloße Berührung davon regte Celia zu einem Krampf zu revoltieren an. Ihr letzter Überrest an Freiheit wurde ihr genommen. Sie hob sich, oder hätte sich lieber erhoben. Aber Hélène hielt sie mit sanften Händen im Stuhl und flüsterte leise: „Haben Sie keine Furcht! Madame sieht zu!“ Adèle blickte grimmig in das Gesicht des Mädchens hoch.
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„Halten Sie still, hein, la petite!“, rief sie. Und der Beiname ‐ „Kleine“ ‐ war ein Licht für Celia. Bis jetzt bei diesen Gelegenheiten, mit ihrem schwarzen zeremoniellen Kleid, ihrer zurückhaltenden Miene, ihren vagen Augen und der Würde ihrer Haltung hatte sie einen Teil ihrer Wirkung erzielt, bevor die Séance begonnen hatte. Sie war es gewohnt, in das Zimmer zu segeln, distanziert, mystisch. Sie hatte ihr Publikum schon erwartungsvoll auf Geheimnisse, vorbereitet auf Wunder. Ihre Arbeit war schon halb getan. Aber nun wurde sie dieser Hilfe beraubt. Sie war nicht länger eine zurückhaltende Person, eine Prophetin, eine Seherin von Visionen; sie war einfach ein hübsch gekleidetes Mädchen von heute; in einer lächerlichen und schmerzlichen Lage zusammengeschnürt ‐ das war alles. Die Würde war fort. Und je mehr sie das erkannte, umso mehr wurde sie gehindert, ihr Publikum zu beeinflussen, umso weniger konnte sie sich darauf konzentrieren, sie dazu zu bringen, sie zu bevorzugen. Mme. Dauvrays Misstrauen, war sie sicher, war noch wach. Sie konnte es nicht niederschlagen. Es gab eine stärkere Persönlichkeit als ihre in dem Raum am Werk. Die Schnur biss durch ihre dünnen Strümpfe in ihre Knöchel. Sie wagte nicht, sich zu beklagen. Sie war grausam gebunden. Sie leistete keinen Widerstand. Und dann hob sie Hélène Vauquier hoch aus dem Stuhl und hob sie leicht auf den Boden. Für einen Augenblick hielt sie sie so. Falls sich Celia vorher lächerlich vorgekommen war, wusste sie, dass sie es nun zehnmal mehr war. Sie konnte sich sehen, wie sie in Hélène Vauquiers Armen hing, mit ihrem zarten Kleid, das sich lächerlich um ihre Beine wickelte und legte. Aber wieder lächelte von deinen, die ihr zusahen, keiner. „Wir haben keine solchen Tests gehabt“, rief Mme. Dauvray halb in Furcht, halb in Hoffnung, aus. Adèle Rossignol betrachtete das Mädchen und nickte zufrieden. Sie hatte keine Feindseligkeit gegenüber Celia; sie hatte wirklich kein Gefühl jeglicher Art für sie oder gegen sie. Zum Glück war sie sich zu dieser Zeit nicht bewusst, dass Harry Wethermill ihr den Hof gemacht hatte, oder es wäre mit Mlle. Célie schlimmer ausgegangen, bevor die Nacht vorbei war. Mlle. Célie war nur eine Schachfigur in einem sehr gefährlichen Spiel, das sie zufällig spielte, und es war ihr gelungen, ihre Schachfigur in den gewünschten Zustand der Hilflosigkeit zu manövrieren. Sie war zufrieden.
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„Mademoiselle“, sagte sie mit einem Lächeln, „Sie wünschen, dass ich glaube. Sie haben keine andere Gelegenheit.“ Gelegenheit! Und sie war hilflos. Sie wusste sehr wohl, dass sie sich von diesen Schnüren ohne Hélènes Hilfe nicht befreien konnte. Sie würde versagen, elend und schändlich versagen. „Es war Madame, die wünschte, dass Sie glauben“, stammelte sie. Und Adèle Rossignol lachte plötzlich ‐ ein kurzes, lautes, schroffes Lachen, das in der Ruhe des Zimmers schauerlich klang. Es verwandelte Celias vage Unruhe zu einem eindeutigen Schrecken. Ein magnetischer Strom brachte ihr eine ernste Tränenbotschaft. Die Luft um sie schien vor eigenartigen Bedrohungen zu prickeln. Sie blickte Adèle an. Strömten sie von ihr aus? Und ihr Schrecken antwortete ihr „Ja“. Sie machte darin ihren Fehler. Die starke Persönlichkeit in de Zimmer war nicht Adèle Rossignol, sondern Hélène Vauquier, die sie wie ein Kind in ihren Armen hielt. Aber sie war sich eindeutig der Gefahr bewusst, und sich zu spät davon bewusst. Sie wehrte sich vergebens. Von ihrem Kopf bis zu ihren Füßen war sie machtlos. Sie schrie hysterisch zu ihrer Schutzherrin: „Madame! Madame! Da ist etwas ‐ eine Anwesenheit hier ‐ jemand, der Unheil bedeutet! Ich weiß es!“ Und auf das Gesicht der alten Frau kam ein Blick, nicht der Befürchtung, sondern der außerordentlichen Erleichterung. Der echte, aufrichtige Schrei rief wieder ihr Vertrauen an Celia zurück. „Jemand ‐ der Unheil bedeutet!“, flüsterte sie und zitterte vor Aufregung. „Ah, Mademoiselle ist schon unter Kontrolle gebracht“, sagte Hélène, wobei sie den Jargon benutzte, den sie von Celias Lippen gelernt hatte. Adèle Rossignol grinste. „Ja, la petite ist unter Kontrolle gebracht“, wiederholte sie spöttisch; und die ganze Eleganz ihres Samtkleides konnte sie nicht länger vor Celias Erkenntnis verbergen. Ihr Grinsen hatte sie verraten. Sie war vom Abschaum. Aber Hélène Vauquier flüsterte: „Halte Sie still, Mademoiselle. Ich werde Ihnen helfen.“
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Vauquier trug das Mädchen in die Nische und setzte sie auf den Hocker. Mit einer langen Schnur band sie Adèle an den Armen und der Taille an die Säule, und ihre Knöchel befestigte sie an den Querleisten des Hockers, damit sie den Boden nicht berühren konnten. „So werden wir sicher sein, dass, wenn wir es klopfen hören, es die Geister sein werden, und nicht die Absätze, die klopfen“, sagte sie. „Ja, ich bin jetzt zufrieden.“ Und sie fügte mit einem Lächeln hinzu. „Célie darf sogar ihr Umhängtuch haben“, und indem sie ein weißes Tülltuch aufhob, das Celia mit sich heruntergebracht hatte, legte sie es sorgfältig um ihre Schultern. „Warten Sie!“, flüsterte Hélène Vauquier in Celias Ohr. Zu der Schnur um Celias Taille befestigte Adèle eine längere Leine. „Ich werde meinen Fuß am anderen Ende davon halten“, sagte sie, „wenn die Lichter aus sind, und ich werde dann wissen, ob sich unsere Kleine selbst befreit.“ Die drei Frauen gingen aus der Nische. Und im nächsten Augenblick schwangen die schweren Seidenvorhänge über die Öffnung und ließen Celia in Dunkelheit. Schnell und geräuschlos begann das arme Mädchen, sich zu drehen und mit ihren Händen herumzuwerken. Aber sie zerschrammte nur ihre Handgelenke. Dies war der Schluss der Séancen. Aber es muss gelingen! So viel von Mme. Dauvrays Glück, so viel von ihrem eigenen, hing von dem Erfolg hab. Sie heute versagen zu lassen, würde sie sicher vor die Tür setzen. Die Geschichte ihrer Betrügerei und ihrer Entlarvung würde durch Aix laufen. Und sie hatte es Harry nicht erzählt! Es würde von anderen sein Ohr erreichen. Er würde ihr nie vergeben. Dem alten, schwierigen Leben der Armut und vielleicht wieder des Hungers gegenübertreten, und wieder allein, wäre hart genug; aber Harry Wethermills Verachtung, zusätzlich zu den Bürden, gegenübertreten ‐ wie das arme Mädchen glaubte, dass sie es sicher tun müsste ‐ nein, das wäre unmöglich! Nicht dieses Mal würde sie sich von der Seine abwenden, weil es so schrecklich und kalt war. Wenn sie den Mut gehabt hätte, es ihm gestern zu sagen, hätte er vergeben, sicher hätte er es! Die Tränen sammelten sich in ihren Augen und rollten ihre Wangen hinunter. Was würde jetzt aus ihr werden? Sie hatte außerdem Schmerzen. Die Schnüre um ihren Armen und Knöcheln quälten sie. Und sie fürchtete ‐ ja, verzweifelt fürchtete sie die 187
Wirkung der Entlarvung auf Mme. Dauvray. Sie war wie eine Tochter behandelt worden; nun sollte sie wiederum Mme. Dauvray des Glaubens berauben, die die Leidenschaft ihres Lebens geworden war. „Nehmen wir unsere Plätze am Tisch ein“, hörte sie Mme. Dauvray sagen. „Hélène, Sie sind beim Schalter des elektrischen Lichts. „Werden Sie es abdrehen?“ Und daraufhin flüsterte Hélène, doch so, dass das Flüstern Celia erreichte und Hoffnung erweckte: „Warten Sie! Ich will sehen, was sie tut.“ Die Vorhänge öffneten sich und Hélène Vauquier schlüpfte an die Seite des Mädchens. Celia unterdrückte ihre Tränen. Sie lächelte flehend, dankbar. „Was soll ich tun?“, fragte Hélène mit so leiser Stimme, dass die Bewegung ihres Mundes die Worte der Frage eher deutlich machten. Celia hob ihren Kopf in Beantwortung. Und dann geschah ihr eine unbegreifliche Sache. Als sie ihre Lippen öffnete, zwängte Hélène Vauquier ein Taschentuch zwischen die Zähne des Mädchens, und indem sie das Umhängetuch von ihren Schultern hob, wand sie es zweimal fest über ihren Mund, wobei sie ihre Lippen zuband und es unter der Krempe ihres Hutes hinter ihrem Kopf festmachte. Celia versuchte zu schreien; sie konnte keinen Ton äußern. Sie starrte Hélène mit ungläubigen, entsetzten Augen an. Hélène nickte ihr mit einem grausamen befriedigten Grinsen zu und Celia erkannte, obwohl sie nicht verstand, etwas von dem Groll und dem Hass, die in dem Herzen der Frau siedeten, die sie verdrängt hatte. Hélène Vauquier hatte vor, sie heute bloßzustellen; Celia hatte keinen Zweifel darüber. Das war ihre Erklärung für Hélène Vauquiers Hinterhältigkeit; und indem sie diesen Irrtum glaubte, glaubte sie noch einen andren ‐ dass sie den schrecklichen Höhepunkt ihrer Probleme erreicht hätte. Sie war nur am Anfang davon. „Hélène!“, rief Mme. Dauvray scharf. „Was machen Sie?“ Das Dienstmädchen glitt augenblicklich zurück in das Zimmer. „Mademoiselle hat sich nicht bewegt“, sagte sie.
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Celia hörte, wie sich die Frauen auf ihren Stühlen um den Tisch herum niederließen. „Ist Madame bereit?“, fragte Hélène; und dann war der Ton des Schnappens eines Schalters zu hören. In den Salon war Dunkelheit gekommen. Wenn sie nur ihre Handschuhe nicht getragen hätte, dachte Celia, wäre sie wahrscheinlich imstande gewesen, ihre Finger und ihre geschmeidigen Hände von ihren Fesseln zu befreien. Aber sie war sozusagen hilflos. Sie konnte nur sitzen und warten, bis das Publikum im Salon müde wurde, zu warten und zu ihr kam. Sie schloss ihre Augen und überlegte, ob sie zufällig ihr Versagen entschuldigen könnte. Aber ihr wurde bange ums Herz, als sie an Mme. Rossignols Hohn dachte. Nein, es war alles für sie vorbei. Sie öffnete ihre Augen und sie wunderte sich. Es schien ihr, dass mehr Licht in der Nische war, als es war, als sie sie schloss. Sehr wahrscheinlich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Doch ‐ doch ‐ sollte sie nicht so deutlich die weiße Säule gegenüber von ihr erkennen können. Sie blickte zu den Glastüren und verstand. Die Holzläden draußen vor den Türen waren nicht ganz geschlossen. Sie waren sorglos unverriegelt gelassen. Der Spalt vom Türsturz zu Fußboden ließ einen grauen Lichtstreifen herein. Celia hörte die Frauen im Salon flüstern und drehte ihren Kopf, um die Worte aufzufangen. „Hören Sie ein Geräusch?“ „Nein.“ „War das eine Hand, die mich berührte?“ „Nein.“ „Wir müssen warten.“ Und so kam wieder Stille und plötzlich gab es einen Lichtandrang in der Nische. Celia war erschrocken. Sie drehte ihren Kopf wieder zurück zum Fenster. Die Holztür war ein wenig mehr aufgeschwungen. Es gab einen weiteren Spalt, um das Zwielicht der sternenerhellten Dunkelheit durchzulassen. Und als sie blickte, wurde der Spalt immer breiter, die Tür schwang langsam auf Scharnieren zurück, die merkwürdigerweise leise waren. Celia starrte auf die breiter werdende graue Lichtbahn mit einem vagen Entsetzen. Es war 189
merkwürdig, dass sie kein Flüstern des Windes im Garten hören konnte. Warum, oh, warum öffnete sich die vergitterte Tür so lautlos? Fast glaubte sie, dass nach allem die Geister ... Und plötzlich verdunkelte sich die Nische wieder und Celia saß mit ihrem Herzen, das in ihrer Brust hüpfte und zitterte. Da war etwas Schwarzes an der Glastür ‐ ein Mann. Er war so leise, so plötzlich wie eine Erscheinung aufgetaucht. Er stand und versperrte das Licht, wobei er sein Gesicht gegen das Glas drückte und in das Zimmer blickte. Für einen Augenblick brachte der Schrecken sie zum Verstummen. Dann riss sie außer sich an den Schnüren. Jeder Gedanke an Versagen, an Entlarvung, an Entlassung war von ihr geflohen. Die drei armen Frauen ‐ das war ihr Gedanke ‐ saßen ungewarnt, nichts ahnend, wehrlos in der kohlrabenschwarzen Dunkelheit des Salons. Ein paar Fuß entfernt blickte ein Mann, ein Dieb, herein. Sie warteten, dass merkwürdige Dinge in der Dunkelheit geschahen. Merkwürdige und schreckliche Dinge würden geschehen, wenn sie sich nicht befreien könnte, außer sie könnte sie warnen. Und sie konnte es nicht. Ihre Bemühungen waren bloße Anstrengungen, sich zu wehren, unbedeutend, ein Schauer von Kopf bis Fuß und lautlos wie ein Schauer. Adèle Rossignol hatte ihr Werk gut und gründlich getan. Celias Arme, ihre Taille, ihre Knöchel waren gefesselt; nur der Knebel über ihrem Mund schien sich zu lockern. Dann wurde Entsetzen über Entsetzen hinzugefügt. Der Mann berührte die Glastüren und sie schwangen leise nach innen. Sie waren auch sorglos unverriegelt gewesen. Der Mann schritt ohne ein Geräusch über die Schwelle in das Zimmer. Und als er schritt, vertrieb Furcht um sich selbst für einen Augenblick die Furcht um die drei Frauen in dem schwarzen Zimmer aus Celias Gedanken. Wenn er sie nur nicht sähe! Sie presste sich gegen die Säule. Er könnte sie vielleicht übersehen! Seine Augen würden nicht so sehr an die Dunkelheit ihrer Nische wie ihre gewöhnt sein. Er könnte an ihr vorbeigehen, ohne sie zu sehen ‐ wenn er nur nicht eine Falte ihres Kleides berührte. Und dann inmitten des Schreckens erfuhr sie einen so großen Umschwung von Verzweiflung zu Freude, dass eine Schwäche über sie kam und sie beinahe ohnmächtig wurde. Sie sah, wer der Eindringling war. Denn als er in die Nische eintrat, drehte er sich ihr zu und das trübe Licht traf auf ihn und zeigte ihr die Kontur seines Gesichts. Es war ihr Geliebter, Harry Wethermill. Warum er zu dieser Stunde und auf diese merkwürdige Weise gekommen war, überlegte sie
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nicht. Nun muss sie seinen Blick auf sich lenken, nun war ihre Furcht, dass er sie nicht sehen sollte. Aber er kam sofort direkt auf sie zu. Er stand vor ihr und blickte in ihre Augen. Aber er äußerte keinen Schrei. Er machte keine Bewegung der Überraschung. Celia verstand es nicht. Sein Gesicht war nun im Schatten und sie konnte es nicht sehen. Natürlich war er sprachlos, erstaunt. Aber ‐ aber ‐ er stand fast, als ob er erwartet hätte, sie dort zu finden, und genau in dieser hilflosen Haltung. Es war natürlich absurd, aber er schien ihre Hilflosigkeit als etwas nichts Außergewöhnliches anzusehen. Und er hob keine Hand, um sie zu befreien. Ein Frösteln ging durch sie. Aber im nächsten Augenblick hob er seine Hand und das Blut floss wieder zu ihrem Herzen. Natürlich war sie in der Dunkelheit. Er hatte ihre Qual nicht gesehen. Sogar jetzt begann er erst, sich dessen bewusst zu werden. Denn seine Hand berührte den Knebel über ihrem Mund ‐ zögernd. Er fühlte nach dem Knoten unter der breiten Krempe ihres Hutes auf ihrem Hinterkopf. Er fand ihn. In einem Augenblick würde sie frei sein. Sie hielt ihren Kopf ganz still, und dann ‐ warum brauchte er so lange? fragte sie sich. Oh, es war nicht möglich! Aber ihr Herz schien aufzuhören, und sie wusste, dass es nicht nur möglich war ‐ es war wahr: er festigte das Tuch, lockerte es nicht. Die Falten banden ihre Lippen sicherer. Sie fühlte, wie die Enden dicht an ihrem Hinterkopf gezogen wurden. In wilder Aufregung versuchte sie, ihren Kopf frei zu schütteln. Aber er hielt ihr Gesicht fest und beendete sein Werk. Er trug Handschuhe, bemerkte sie mit Entsetzen, genau, wie Diebe es tun. Dann glitten seine Hände ihre zitternden Arme hinunter und prüften die Schnur über ihren Handgelenken. Es war etwas schrecklich Besonnenes an seinen Bewegungen. Celia hatte das Gefühl, sogar in diesem Augenblick, sogar bei ihm, das sie in dem Salon ergriffen hatte. Es war das persönliche Gleichgewicht, auf das sie zu vertrauen gewöhnt war. Aber weder Adèle noch dieser ‐ dieser Fremde betrachtete sie auch nur als ein menschliches Wesen. Sie war eine Schachfigur in ihrem Spiel und sie benutzten sie, ihres Entsetzens, ihrer Schönheit, ihres Schmerzes achtlos. Dann löste er von ihrer Taille die lange Schnur, die unter dem Vorhang zu Adèle Rossignols Fuß lief. Celias erster Gedanke war der der Erleichterung. Er würde unwissend an der Schnur rucken. Sie würden in die Nische kommen und ihn sehen. Und dann zuckte die echte Wahrheit auf sie blendend herein. Er hatte an der Schnur gerissen, aber er hatte absichtlich dran gezogen. Er wickelte sie bereits auf, da sie geräuschlos über den polierten 191
Fußboden unter den Vorhängen auf ihn zuglitt. Er hatte Adèle Rossignol ein Zeichen gegeben. Die ganze Skepsis und Vorsichtsmaßnahme dieser Frau war eine bloße Tarnung gewesen, unter deren Vorwand sie das Mädchen sicher wegpacken hätte können, ohne ihr Misstrauen zu erregen. Hélène Vauquier steckte auch in diesem Komplott. Das Tuch über Celias Mund war der Beweis dafür. Wie um Beweis um Beweis hinzuzufügen, hörte sie Adèle Rossignol in Beantwortung auf das Zeichen sprechen. „Sind wir alle bereit? Haben Sie Mme. Dauvrays linke Hand, Héléne?“ „Ja, Madame“, antwortete das Dienstmädchen. „Und ich habe ihre rechte Hand. Nun geben Sie mir Ihre und so sind wir in einem Kreis um den Tisch herum.“ Celia konnte sie in ihrer Vorstellung um den runden Tisch in der Dunkelheit sitzen sehen, Mme. Dauvray zwischen den beiden Frauen, sicher von ihnen gehalten. Und sie selbst konnte keinen Schrei von sich geben ‐ konnte nicht einen Muskel bewegen, um ihr zu helfen. Wethermill schlich lautlos zurück zum Fenster, schloss die Fenstertüren und ließ die Riegel in ihre Fassungen gleiten. Ja, Hélène Vauquier steckte in dem Komplott. Die Riegel und die Scharniere hätten sie nicht so glatt funktioniert, wäre sie nicht gewesen. Dunkelheit füllte wieder die Nische, statt des grauen Zwielichts. Aber in einem Augenblick spielte ein feiner Windhauch auf Celias Stirn, und sie wusste, dass der Mann die Vorhänge geteilt hatte und in das Zimmer geschlichen war. Celia hatte ihren Kopf auf ihre Schultern fallen lassen. Ihr war schlecht und sie war schwach vor Entsetzen. Ihr Geliebter steckte in der Verschwörung ‐ der Geliebte, für den sie so viel Stolz gefühlt hatte, um dessentwillen sie sich so bitter ins Gebet genommen hatte. Er war der Verbündete von Adèle Rossignol, von Hélène Vauquier. Er hatte sie, Celia, als ein Instrument für sein Verbrechen benutzt. Alle ihre Stunden zusammen in der Villa des Fleurs ‐ hier heute Nacht war ihr Höhepunkt. Das Blut dröhnte in ihren Ohren und hämmerte in den Venen ihrer Schläfen. Vor ihren Augen wirbelte die Dunkelheit, gesprenkelt mit Feuer. Sie wäre gefallen, aber sie konnte nicht fallen. Dann in der Stille klirrte ein Tamburin. Es sollte heute Nacht eine Séance geben, und die Séance hatte begonnen. In einer schrecklichen Ungewissheit hörte sie Mme. Dauvray sprechen. 192
Kapitel XIX Hélène erklärt Und was sie hörte, ließ ihr Blut gefrieren. Mme. Dauvray sprach mit gedämpfter, ehrfürchtiger Stimme. „Da ist eine Anwesenheit in dem Zimmer.“ Es war schrecklich für Celia, dass die arme Frau den Jargon sprach, den sie ihr selbst beigebracht hatte. „Ich werde mit ihr sprechen“, sagte Mme. Dauvray, und indem sie ihre Stimme ein wenig hob, fragte sie: „Wer bist du, der zu uns aus der Geisterwelt kommt?“ Keine Antwort kam, aber die ganze Zeit wusste Celia, dass sich Wethermill lautlos über den Flur zu dieser Stimme stahl, die diesen professionellen Jargon mit einer so einfachen Feierlichkeit sprach. „Antworte!“, sagte sie. Und im nächsten Augenblick äußerte sie einen kleinen schrillen Schrei ‐ einen Schrei der Begeisterung. „Finger berühren meine Stirn ‐ nun berühren sie meine Wange ‐ nun berühren sie meinen Hals!“ Und daraufhin hörte die Stimme auf. Aber ein trockenes, würgendes Geräusch war zu hören, und ein schreckliches Schlurfen und Tapsen von Füßen auf dem polierten Boden, ein äußert schreckliches Geräusch. Sie ermordeten sie ‐ ermordeten eine alte, liebenswürdige Frau still und systematisch in der Dunkelheit. Das Mädchen spannte sich an und drehte sich wild an der Säule wie ein Tier in einer Falle. Aber die Seile hielten sie; das Tuch erstickte sie. Das Schlurfen wurde ein verkrampftes Geräusch mit Pausen dazwischen und hörte dann ganz und gar auf. Eine Stimme sprach ‐ eine Männerstimme ‐ Wethermills. Aber Celia hätte sie erkannt ‐ sie hatte einen schrillen und furchtbaren Tonfall. „Das ist schrecklich“, sagte er und seine Stimme erhob sich plötzlich zu einem Schrei. „Pst!“, flüsterte Hélène Vauquier scharf. „Was ist los?“
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„Sie fiel gegen mich ‐ ihr ganzes Gewicht. Oh! „Sie haben Angst vor ihr!“ „Ja, ja!“ Und in der Dunkelheit kam Wethermills Stimme nörglerisch zwischen langen Atemzügen. „Ja, nun habe ich Angst vor ihr!“ Hélène Vauquier antwortete wieder verächtlich. Sie sprach laut und ganz gleichgültig. Nichts von irgendeiner Bedeutung, die einer gesammelt hatte, wäre geschehen. „Ich werde das Licht aufdrehen“, sagte sie. Und durch den Vorhang schien helles Licht. Celia hörte ein lautes Rattern auf dem Tisch und dann schwächere Geräusche der gleichen Art. Und als eine Art schreckliche Begleitung lief das müheselige Atmen des Mannes, das hin und wieder von einem schluchzenden Geräusch unterbrochen wurde. Sie streiften Mme. Dauvray ihre Perlenhalskette, ihre Armbänder und ihre Ringe ab. Celia hatte eine plötzliche bestürmende Vision von den dicken, pummeligen Händen der alten Frau, beladen mit Brillanten. Ein Klimpern von Schlüsseln folgte. „Das ist alles“, sagte Hélène Vauquier. Sie hätte die Taschen eines alten Kleides nach außen drehen können. Da war ein Geräusch von etwas Schwerem und Trägem mit einem dumpfen Krachen auf den Boden. Eine Frau lachte und wieder war es Hélène Vauquier. „Welcher ist der Safeschlüssel?“, fragte Adèle. Und Hélène Vauquier erwiderte: ‐ „Der eine.“ Celia hörte, wie sich jemand schwer auf einen Stuhl fallen ließ. Es war Wethermill und er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Hélène ging zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn. „Gehen Sie und holen Sie die Juwelen aus dem Safe“, sagte sie und sie sprach mit grober Freundlichkeit. „Sie versprachen, dass Sie dem Mädchen die Augen verbinden würden“, rief er heiser.
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Hélène Vauquier lachte. „Wirklich?“, sagte sie. „Also, was spielt es für eine Rolle?“ „Es hätte keine Notwendigkeit bestanden, zu ‐“ Und seine Stimme brach schaudernd ab. „Würde es nicht? Und was ist mit uns ‐ Adèle und mir? Sie weiß sicher, dass wir hier sind. Kommen Sie und holen Sie den Schmuck. Der Schlüssel von der Tür ist auf dem Kaminsims. Während Sie fort sind, werden wir das hübsche Baby dort drinnen erledigen.“ Sie zeigte zu der Nische; ihre Stimme klang nach Verachtung. Wethermill schwankte durch das Zimmer wie ein Betrunkener und hob den Schlüssel mit zitternden Fingern auf. Celia hörte, wie er in dem Schloss gedreht wurde, und die Tür heftig zuschlagen. Wethermill war nach oben gegangen. Celia lehnte sich zurück, das Herz wurde in ihr kraftlos. Erledigen! Sie war jetzt an der Reihe. Sie sollte „erledigt“ werden. Sie hatte keinen Zweifel, was für eine finstere Bedeutung dieses unschuldige Wort verbarg. Das trockene, erstickende Geräusch, das entsetzliche Schlurfen von Füßen auf dem Fußboden war in ihren Ohren. Und es hatte so lange gedauert ‐ so schrecklich lange! Sie hörte die Tür wieder aufgehen und sich schließen. Dann näherten sich Schritte der Nische. Die Vorhänge wurden zurückgeschlagen und die beiden Frauen standen vor ihr ‐ die große Adèle Rossignol mit ihrem roten Haar und ihrem groben Aussehen und ihrem saphirblauen Kleid, und das bleiche Dienstmädchen mit den harten Gesichtszügen. Das Dienstmädchen trug Celias weißen Mantel. Sie hatten also nicht vor, sie zu ermorden. Sie hatten vor, sie fortzubringen, und sogar dann kam ein Funke Hoffnung in dem Busen des Mädchens auf. Denn sogar mit ihren zerschmetterten Illusionen klammerte sie sich noch immer an das Leben mit aller Leidenschaft ihrer jungen Seele. Die beiden Frauen standen und sahen sie an; und dann brach Adèle Rossignol in Lachen aus. Vauquier näherte sich dem Mädchen und Celia hatte einen Augenblick Hoffnung, dass sie beabsichtigte, sie zu befreien, aber sie lockerte nur die Schnüre, die sie an die Säule und den hohen Hocker fesselten. „Mademoiselle werden mir für das Lachen vergeben“, sagte Adèle Rossignol höflich; „aber es war Mademoiselle, die mich einlud, meine Hand zu trocknen. 195
Und wirklich, für eine so gescheite junge Dame sieht Mademoiselle zu lächerlich aus.“ Sie hob das Mädchen hoch und trug es sich windend und zappelnd in den Salon zurück. Das Ganze des hübschen Zimmers war zu sehen, aber in der Laibung eines Fenster lag etwas schrecklich bewegungslos und still. Celia hielt ihren Kopf abgewandt. Aber es war dort, und obwohl es dort war, scherzten und lachten die Frauen die ganze Zeit, Adèle Rossignol fieberhaft, Hélène Vauquier mit einer echten Freude, die schrecklichst anzusehen war. „Ich bitte Mademoiselle, nicht auf das zu hören, was Adèle sagt“, rief Hélène aus. Und sie begann, auf eine gezierte, extravagante Weise die Art einer Verkäuferin in einem Laden nachzuäffen. „Mademoiselle hat nie so hinreißend ausgesehen. Der Stil ist die neueste Mode. Es ist, was am schicksten ist. Natürlich versteht Mademoiselle, dass das Kostüm nicht geeignet ist, Klavier zu spielen. Auch, in der Tat, nicht für den Ballsaal. Es springt einem ins Auge, das Tanzen schwierig sein würde. Noch ist es für viel Unterhaltung geeignet. Es ist ein Kostüm für ruhiges Nachdenken. Aber ich versichere Mademoiselle, dass für hübsche junge Damen, die die Favoritinnen der reichen alten Frauen sind, es der empfohlenste Stil von den kriminellen Klassen ist.“ Der ganze bittere Groll der Frau gegen Celia, seit Monaten unter einer Maske der Bescheidenheit verborgen, brach heraus und tobte sich aus. Sie kam Adèle Rossignol zu Hilfe und sie schleuderten das Mädchen mit dem Gesicht nach unten auf das Sofa. Ihr Gesicht streifte das Kissen an einem Ende, ihre Füße das Kissen am anderen. Der Atem war aus ihrem Körper geschlagen worden. Sie lag mit ihrem Busen, der sich hob und sank. Hélène Vauquier sah sie für einen Augenblick mit einem Grinsen an, wobei sie sich nun für ihre respektvollen Reden und ihre Aufwartung entschädigte. „Ja, lieg ruhig und denke nach, kleine Närrin!“, sagte sie wild. „Warst klug, herzukommen und dich mit Hélène Vauquier anzulegen? Wärest du nicht lieber geblieben und hättest in deinen Lumpen in Montmartre getanzt? Sind die eleganten Kleider und die hübschen Hüte und die guten Speisen den Preis wert? Stell dir selbst diese Fragen, meine zierliche kleine Freundin!“ Sie zog einen Stuhl hinauf an Celias Seite und setzte sich gemütlich darauf.
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„Ich werde Ihnen sagen, was wir mit Ihnen tun werden, Mlle. Célie. Adèle Rossignol und dieser freundliche Gentleman, M. Wethermill, werden Sie fortbringen. Sie werden sich freuen zu gehen, nicht wahr, Schätzchen? Denn Sie lieben M. Wethermill, nicht wahr? Oh, sie werden Sie nicht lang genug behalten, um von ihnen genug zu kriegen. Haben Sie keine Angst! Aber Sie werden nicht zurückkommen, Mlle. Célie. Nein; Sie haben heute Nacht zu viel gesehen. Und jeder wird denken, dass Mlle. Célie half, ihre Wohltäterin zu ermorden und auszurauben. Sie werden sicher jemanden verdächtigen, also, warum nicht Sie, meine Hübsche?“ Celia machte keine Bewegung. Sie lag und versuchte zu glauben, dass kein Verbrechen begangen worden war, dass dieser leblose Körper nicht an der Wand lag. Und dann hörte sie in dem Zimmer darüber ein Bett grob von seiner Stelle geschoben. Die beiden Frauen hörten es auch und blickten einander an. „Er sollte im Safe nachschauen“, sagte Vauquier. „Gehen Sie nachsehen, was er tut.“ Und Adèle Rossignol rannte aus dem Zimmer. Sobald sie fort war, folgte Vauquier zur Tür, horchte, schloss sie leise und kam zurück. Sie bückte sich. „Mlle. Célie“, sagte sie mit glatter, seidiger Stimme, die das Mädchen mehr als raue Töne erschreckten, „da ist nur eine kleine Sache falsch an Ihrem Äußeren, ein winziges kleines bisschen schlechter Geschmack, wenn Mademoiselle einer armen Dienerin den Ausdruck verzeihen will. Ich erwähnte es nicht vor Adèle Rossignol; sie ist so streng in ihrer Kritik, nicht wahr? Aber da wir alleine sind, werde ich es mir erlauben, Mademoiselle aufzuzeigen, dass diese Diamantohrringe, die ich unter dem Tuch erspähte, in ihrer gegenwärtigen Zwangslage großtuerisch sind. Sie sind eine Provokation für Diebe. Wird Mademoiselle mir erlauben, sie abzunehmen?“ Sie erwischte sie beim Hals und hob sie hoch. Sie schob das Spitzentuch an der Seite von Celias Kopf hoch. Celia begann sich wütend, krampfhaft zu wehren. Sie trat und wand sich und ein kleines schreckliches Geräusch war zu hören. Eine ihrer Schuhschnallen hatte sich in dem dünnen Seidenüberzug des Kissens 197
verfangen und ihn aufgeschlitzt. Hélène Vauquier ließ sie fallen. Sie fühlte gefasst in ihrer Tasche und zog daraus ein Aluminiumfläschchen ‐ dasselbe Fläschchen, das Lemerre hinterher im Schlafzimmer in Genf schnappen sollte. Celia starrte sie ängstlich an. Sie sah das Fläschchen im Licht blitzen. Sie zuckte davor zurück. Sie fragte sich, was für ein neuer Horror sie ergreifen sollte. Hélène schraubte den Verschluss auf und lachte vergnügt. „Mlle. Célie ist unter Kontrolle“, sagte sie. „Wir werden ihr beibringen müssen, dass es an jungen Damen nicht höflich ist, zu treten.“ Sie drücke Celia mit einer Hand auf ihrem Rücken nach unten und ihre Stimme änderte sich. „Liegen Sie still“, befahl sie wild. „Hören Sie? Wissen Sie, was das ist, Mlle. Célie?“ Und sie hielt das Fläschchen zu dem Gesicht des Mädchens. „Das ist Vitriol, meine Hübsche. Bewegen Sie sich und ich werde diese glatten weißen Schultern für Sie ruinieren. Wie würde Ihnen das gefallen?“ Celia schauderte von Kopf bis Fuß, und indem sie ihr Gesicht in den Kissen vergrub, lag sie zitternd. Sie hätte lieber auf Knien um den Tod gebeten, als diese Entsetzlichkeit zu erleiden. Sie fühlte, wie Vauquiers Finger mit einer schrecklichen liebkosenden Berührung auf ihren Schultern und um ihre Kehle verweilten. Sie war um ein Haar von Folter, Entstellung entfernt, und sie wusste es. Sie konnte nicht um Gnade bitten. Sie konnte nur ganz stillliegen und sie wurde gebeten, das Zittern ihrer Glieder und ihres Körpers zu beherrschen. „Es wäre eine gute Lektion für Mlle. Célie“, fuhr Hélène langsam fort. „Ich denke, was, wenn Mlle. Célie die Freiheit vergeben wird, die ich zufügen sollte. Nur ein kleines Neigen des Fläschchens und der Satin dieser hübschen Schultern ‐“ Sie brach plötzlich ab und horchte. Ein Geräusch, das draußen war, hatte Celia einen Aufschub gewährt, vielleicht mehr als einen Aufschub. Hélène stellte das Fläschchen auf den Tisch. Ihre Habsucht hatte ihren Hass gesteigert. Sie zog grob die Ohrringe von den Ohren des Mädchens. Sie versteckte sie schnell in der Brusttasche ihres Kleides mit ihrem Blick auf die Tür. Sie sah keinen Blutstropfen sich auf dem Ohrläppchen von Celias Ohr sammeln und auf das Kissen fallen, auf das ihr Gesicht gedrückt war. Sie hatte sie kaum versteckt, bevor die Tür sich öffnete und Adèle Rossignol in das Zimmer hereinplatzte.
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„Was ist los?“, fragte Vauquier. „Der Safe ist leer. Wir haben das Zimmer durchsucht. Wir haben nichts gefunden“, rief sie. „Alles ist im Safe“, beharrte Hélène. „Nein.“ Die beiden Frauen rannten aus dem Zimmer und die Treppe hoch. Celia, die auf dem Sofa lag, hörte die Stille des Hauses sich in Lärm und Verwirrung verwandeln. Es war, als ob ein Tornado oben in dem Zimmer tobe. Möbel wurden in dem Zimmer herumgeschoben, Füße stampften und rannten, Schlösser wurden mit schweren Schlägen zerschmettert. Viele Minuten lang toste der Sturm. Dann hörte er auf und sie hörte, wie die Komplizen die Treppe hinunterklapperten, ohne einen Gedanken an den Lärm, den sie machten. Sie platzten in das Zimmer. Harry Wethermill lachte hysterisch wie ein Mann, der verrückt war. Er hatte einen langen dunklen Mantel getragen, als er das Haus betrat; nun trug er den Mantel über seinen Arm. Er war in einer Smokingjacke und seine schwarze Kleidung war staubig und unordentlich. „Es ist alles umsonst!“, kreischte sie eher als sie schrie. „Nichts außer der einen Halskette und eine Handvoll Ringe!“ In heller Aufregung bückte er sich tatsächlich über die tote Frau und fragte sie. „Sagen Sie uns ‐ wo haben sie ihn versteckt?“, rief er. „Das Mädchen wird es wissen“, sagte Hélène. Wethermill stand auf und blickte Celia wild an. „Ja, ja“, sagte er. Er hatte keinen Skrupel, länger kein Mitleid für das Mädchen. Es gab aus dem Verbrechen keinen Gewinn, wenn sie nicht sprach. Er würde seinen Kopf umsonst in die Guillotine legen. Er rannte zum Schreibtisch, riss ein halbes Blatt Papier ab und brachte es mit einem Bleistift zum Sofa. Er gab sie Vauquier zum Halten, und indem er das Sofa von der Wand herauszog, ließ er es dahinter hineinrutschen. Er hob Celias mit Rossignols Hilfe hoch und ließ sie in der Mitte des Sofas mit ihren Füßen auf dem Boden sitzen. Er band ihre Handgelenke und 199
Finger los und Vauquier legte den Schreibblock und das Papier auf die Knie des Mädchens. Ihre Arme waren noch immer über den Ellbogen gefesselt; sie konnte ihre Hände nicht hoch genug heben, um das Tuch von ihren Lippen zu ziehen. Aber mit dem Block zu ihr hinaufgehalten, konnte sie schreiben. „Wo bewahrte sie ihren Schmuck auf? Schnell! Nimm den Bleistift und schreibe“, sagte Wethermill, wobei er ihr linkes Handgelenk hielt. Vauquier steckte den Bleistift in ihre rechte Hand und unbeholfen und langsam bewegten sich ihre behandschuhten Finger über die Seite. „Ich weiß es nicht“, schrieb sie; und mit einem Fluch schnappte Wethermill das Papier, zerriss es in Stücke und warf es hinunter. „Sie müssen es wissen“, sagte er, sein Gesicht knallrot vor Leidenschaft, und er holte mit seinem Arm aus, als ob er seine Faust in ihr Gesicht schmettern würde. Aber als er mit erhobenem Arm stand, kam eine einzigartige Veränderung auf sein Gesicht. „Hörtet ihr etwas?“, fragte er flüsternd. Alle horchten und alle hörten in der Stille der Nacht ein schwaches Klicken, und nach einer Pause hörten sie es wieder, und nach einer weiteren, aber kürzeren Pause noch einmal. Das ist das Tor“, sagte Wethermill mit einem Flüstern der Furcht und ein Impuls der Hoffnung rührte sich in Celia. Er ergriff ihre Handgelenke, quetschte sie hinter ihr zusammen und fesselte sie wieder flink. Adèle Rossignol saß unten auf dem Boden, nahm die Füße des Mädchens auf ihren Schoß und zog ruhig ihre Schuhe herunter. „Das Licht“, rief Wethermill mit gequälter Stimme und Hélène Vauquier flog durch das Zimmer und drehte es ab. Alle drei standen und hielten ihren Atem an, spitzten ihre Ohren im dunklen Zimmer. Auf dem harten Kies der Auffahrt draußen waren schwache Schritte zu hören und wurden lauter und kamen näher. Adèle flüsterte Vauquier zu: „Hat das Mädchen einen Geliebten?“ Und Hélène Vauquier lachte sogar in diesem Augenblick leise. 200
Celias Herz und Jugend erhoben sich empört gegen ihre verzweifelte Situation. Wenn sie nur ihre Lippe freikriegen könnte! Die Schritte kamen um die Ecke des Hauses, sie ertönten auf der Auffahrt draußen vor dem Fenster dieses Zimmers. Ein Schrei und sie wäre gerettet. Sie warf ihren Kopf zurück und versuchte, das Taschentuch zwischen ihren Zähnen mit Gewalt rauszukriegen. Aber Wethermills Hand bedeckte ihren Mund und hielt ihn zu. Die Schritte hielten an, ein Licht leuchtete draußen einen Augenblick. Der Griff der Tür wurde probiert. Innerhalb von ein paar Metern gab es Hilfe ‐ Hilfe und Leben. Nur eine schwache vergitterte Holztür stand zwischen ihr und ihnen. Sie versuchte aufzustehen. Adèle Rossignol hielt ihre Beine fest. Sie war machtlos. Sie saß mit einer verzweifelten Hoffnung, dass, wer es auch war, der im Garten war, er einbrechen würde. Wäre es sogar ein anderer Mörder, hätte er vielleicht mehr Mitleid als die gefühllosen Scheusale, die sie jetzt hielten; er könnte nicht weniger haben. Aber die Schritte gingen fort und nahmen all ihre Hoffnung mit. Celia hörte Wethermill hinter ihr einen langen erleichterten Atemzug machen. Dies schien für Celia fast der grausamste Teil der ganzen Tragödie zu sein. Sie warteten in der Dunkelheit, bis das schwache Klicken des Tores noch einmal zu hören war. Dann wurde das Licht wieder aufgedreht. „Wir müssen gehen“, sagte Wethermill. Alle drei zitterten. Sie standen und sahen einander an, weiß und bebend. Sie sprachen flüsternd. Aus dem Zimmer zu gelangen, die Angelegenheit erledigen ‐ das war plötzlich ihre Hauptnotwendigkeit geworden. Adèle hob die Halskette und die Ringe vom Satinholztisch auf und steckt sie in einen Beutel, der an ihrer Taille hing. „Hippolyte soll diese Dinge zu Geld machen“, sagte sie. „Er soll sich morgen daranmachen. Wir werden das Mädchen jetzt behalten müssen ‐ bis sie uns sagt, wo der Rest versteckt ist.“ „Ja, behalten Sie sie“, sagte Hélène. „Wir werden in ein paar Tagen hinüber nach Genf kommen, sobald wir können. Wir werde sie überzeugen zu reden.“ Sie blickte das Mädchen finster an. Celia schauderte. „Ja, das stimmt“, sagte Wethermill. „Aber verletzen Sie sie nicht. Sie wird es aus ihrem eigenen Willen sagen. Sie werden sehen. Die Verzögerung wird jetzt
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nicht schaden. Wir können eine kleine Weile nicht zurückkommen und suchen.“ Er sprach mit schneller, erregter Stimme. Und Adéle stimmte zu. Der Wunsch, fort zu sein, hatte sogar ihre Wut über den Verlust ihres Preises zunichtegemacht. Irgendwann würden sie zurückkommen, aber sie würden jetzt nicht suchen ‐ sie waren zu nervös. „Hélène“, sagte Wethermill, „gehen Sie zu Bett. Ich werde mit dem Chloroform hinaufkomme und sie betäuben.“ Hélène Vauquier eilte nach oben. Es war ein Teil ihres Plans, dass sie alleine, chloroformiert in der Villa zurückgelassen werden sollte. So nur konnte Misstrauen von ihr abgewendet werden. Sie schrak jetzt nicht davor zurück. Sie ging, die fremde Frau, ohne einem Zittern an ihre Nervenprobe. Wethermill nahm das Stück Seil, das Celia an die Säule gebunden hatte. „Ich werde folgen“, sagte er, und als er sich umdrehte, stolperte er über die Leiche von Mme. Dauvray. Mit einem schrillen Schrei trat er sie aus dem Weg und kroch die Treppe hinauf. Adéle Rossignol brachte schnell das Zimmer in Ordnung. Sie entfernte den Hocker von seinem Standort in der Nische und trug ihn an seinen Platz im Flur. Sie steckte Celias Schuhe an deren Füße, wobei sie die Schnur von ihren Knöcheln löste. Dann überblickte sie den Fußboden und hob hier und dort ein Stück Schnur auf. In der Stille läutete die Uhr auf dem Kaminsims Viertel nach elf. Sie schraubte den Stöpsel auf dem Fläschchen Vitriol sehr sorgfältig zu und steckte das Fläschchen in ihre Tasche. Sie ging in die Küche und holte den Garagenschlüssel. Sie setzte ihren Hut auf den Kopf. Sie hob sogar ihre Handschuhe auf und zog sie an, aus Angst, damit sie sie nicht zurückließ; und dann kam Wethermill wieder nach unten. Adèle blickte ihn fragend an. „Es ist alles getan“, sagte er mit einem Kopfnicken. „Ich werde den Wagen hinunter zur Tür bringen. Dann fahre ich Sie nach Genf und komme mit dem Wagen hierher zurück.“ Er öffnete vorsichtig die vergitterte Tür des Fensters, horchte einen Augenblick und rannte leise die Auffahrt hinunter. Adèle schloss die wieder die Tür, aber sie verriegelte sie nicht. Sie kam zurück in das Zimmer; sie blickte Celia an; als sie sich auf das Sofa mit einem langen unentschlossenen Blick zurücklegte. Und 202
dann zu Celias Erstaunen ‐ denn sie hatte alle Hoffnung aufgegeben ‐ wurde die Unentschlossenheit in ihren Augen Mitleid. Sie rannte plötzlich quer durch das Zimmer und kniete sich vor Celia hin. Mit schnellen und fieberhaften Händen band sie die Schnur los, die die Schleppe ihres Rockes über ihre Knie band. Zuerst zuckte Celia zurück, da sie eine neue Grausamkeit fürchtete. Aber Adèles Stimme kam an ihre Ohren und sprach ‐ sprach mit Reue. „Ich kann es nicht ertragen!“, flüsterte sie. „Sie sind so jung ‐ zu jung, um getötet zu werden.“ Die Tränen rollten Celias Wange hinunter. Ihr Gesicht war mitleiderregend und flehend. „Sehen Sie mich nicht so an, um Gottes willen, Kind!“, fuhr Adèle fort und sie rieb für einen Augenblick die Knöchel des Mädchens. „Können Sie stehen?“, fragte sie. Celia nickte dankbar. Nach allem dann sollte sie nicht sterben. Es schien ihr kaum möglich. Aber bevor sie aufstehen konnte, drang ein unterdrücktes Motorensurren in das Zimmer und der Wagen kam langsam zur Vorderseite der Villa. „Halten Sie still!“, sagt Adèle eilig und sie stellte sich vor Celia. Wethermill öffnete die Holztür, während Celias Herz in ihrem Busen raste. „Ich werde hinuntergehen und das Tor öffnen“, flüsterte sie. „Sind Sie bereit?“ „Ja.“ Wethermill verschwand; und dieses Mal ließ er die Tür offen. Adèle half Celia auf die Füße. Für einen Augenblick torkelte sie; dann stand sie fest. „Nun laufen Sie!“, flüsterte Adèle. „Laufen Sie, Kind, um Ihr Leben!“ Celia hielt sich nicht damit auf, nachzudenken, wohin sie laufen sollte, oder wie sie Wethermills Suche entkommen sollte. Sie konnte nicht bitten, dass ihre Lippen und Hände befreit werden. Sie hatte nur ein paar Sekunden. Sie hatte einen Gedanken ‐ sich in der Dunkelheit des Gartens zu verstecken. Celia floh quer durch das Zimmer, sprang wild über das Fensterbrett, rannte, stolperte 203
über ihren Rock, richtete sich auf, und wurde durch die Arme von Harry Wethermill vom Boden gerissen. „Da sind wir“, sagte er mit einem schrillen, unschlüssigen Lachen. „Ich öffnete vorher das Tor.“ Und plötzlich hing Celia träge in seinen Armen. Das Licht ging im Salon aus. Adèle Rossignol, die Celias Umhang trug, schritt an der Seite des Fensters heraus. „Sie ist ohnmächtig geworden“, sagte Wethermill. „Wischen Sie die Erde von ihren Schuhen und von Ihren auch ‐ sorgfältig. Ich will nicht, dass sie denken, dass der Wagen überhaupt außerhalb der Garage war.“ Adèle bückte sich und gehorchte. Wethermill öffnete die Tür des Wagens und schleuderte Celia in einen Sitz. Adèle folgte und nahm ihren Platz gegenüber von dem Mädchen ein. Wethermill ging wieder vorsichtig weiter zu dem Gras und der Zehenspitze seines Schuhs kratzte er und furchte die Eindrücke auf, die er und Adèle Rossignol auf dem Boden gemacht hatten, wobei er jene ließ, die Celia gemacht hatte. Er kam zurück zu dem Fenster. „Sie hat ihre Fußabdrücke deutlich genug zurückgelassen“, flüsterte er. „Es wird am Morgen keinen Zweifel geben, dass sie aus freiem Willen ging.“ Dann nahm er den Platz des Chauffeurs ein und der Wagen glitt leise die Auffahrt hinunter und hinaus durch das Tor. Sobald er auf der Straße war, blieb er stehen. In einem Augenblick war Adèle Rossignols Kopf aus dem Fenster. „Was ist los?“, rief sie in Furcht aus. Wethermill zeigte zu dem Dach. Er hatte das Licht in Hélène Vauquiers Zimmer brennen lassen. „Wir können jetzt nicht zurück“, sagte Adèle in einem verzweifelten Flüstern. „Nein; es ist vorüber. Ich wage nicht zurückzugehen.“ Und Wethermill drückte den Hebel runter. Der Wagen sprang vorwärts, und indem er beständig summe, legte er die Meilen zurück. Aber sie hatten ihren eigenen Fehler gemacht.
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Kapitel XX Die Genfer Straße Der Wagen hatte Annecy beinahe erreicht, als Celia aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Und sogar dann war sie benommen. Sie war sich nur bewusst, dass sie im Wagen war und mit großer Geschwindigkeit fuhr. Sie lag hinten und nahm die frische Luft auf. Dann bewegte sie sich und mit der Bewegung kamen die Erinnerung und das Gefühl des Schmerzes. Ihre Arme und Handgelenke waren noch immer nach hinten gebunden und die Schnüre schmerzten sie wie heiße Drähte. Ihr Mund jedoch und ihre Füße waren frei. Sie schoss vorwärts und Adèle Rossignol sprang streng von dem Sitz gegenüber. „Halten Sie still. Ich halte das Fläschchen in meiner Hand. Wenn Sie schreien, wenn sie eine Bewegung zur Flucht machen, schleudere ich Ihnen das Vitriol ins Gesicht“, sagte sie. Celia schrak zitternd zurück. „Ich werde es nicht! Ich werde es nicht!“, flüsterte sie mitleiderregend. Ihr Geist war durch die Schrecken des nächtlichen Abenteuers gebrochen. Sie legte sich zurück und weinte leise in der Dunkelheit des Wagens. Der Wagen schoss durch Annecy. Es schien Celia unglaublich, dass vor weniger als sechs Stunden sie mit Mme. Dauvray und der Frau gegenüber zu Abend gegessen hatte, die nun ihre Gefängnisaufseherin war. Mme. Dauvray lag tot in dem kleinen Salon und sie selbst ‐ sie wagte nicht zu denken, was vor ihr lag. Sie sollte überredet werden ‐ das war das Wort ‐ zu sagen, was sie nicht wusste. In der Zwischenzeit würde ihr Name in ganz Aix verflucht werden. Dann blieb der Wagen plötzlich stehen. Da waren Lichter draußen. Celia hörte Stimmen. Ein Mann sprach mit Wethermill. Celia erschrak und sah Adèle Tacés Arm hochzucken. Sie sank erschrocken zurück; und der Wagen rollte weiter in die Dunkelheit. Adèle Tacé machte einen Seufzer der Erleichterung. Der eine Punkt der Gefahr war vorbei. Sie hatten die Pont de la Caille überfahren; sie waren in der Schweiz. Eine lange Zeit danach verringerte der Wagen seine Geschwindigkeit. Daneben hörte Celia das Geräusch von Rädern und von Hufen eines Pferdes. Ein einspänniger geschlossener Landauer hatte aufgeholt, als er die Straße dahintrottete. Der Wagen hielt an; dicht an der Seite davon, zügelte der Fahrer 205
des Landauers sein Pferd. Wethermill sprang vom Chauffeursitz, öffnete die Tür des Landauers und steckte dann seinen Kopf beim Fenster des Wagens herein. „Sind Sie bereit? Seien Sie schnell!“ Adèle wandte sich an Celia. „Nicht ein Wort, merken Sie es sich!“ Wethermill riss die Tür des Wagens auf. Adèle nahm die Füße des Mädchens und zog sie hinunter zu der Stufe des Wagens. Dann stieß sie sie hinaus. Wethermill fing sie in seinen Armen auf und trug sie zu dem Landauer. Celia wagte nicht aufzuschreien. Ihre Hände waren hilflos, ihr Gesicht hing von der Barmherzigkeit dieses Fläschchens ab. Geradeaus waren die Lichter von Genf zu sehen, und von den Lichtern breitete sich ein silberner strahlender Glanz ein Stück des Himmels. Wethermill setzte sie in den Landauer; Adèle sprang hinter ihr hinein und schloss die Tür. Die Überstellung hatte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert. Der Landauer trottete nach Genf; der Wagen wendete und fuhr die fünfzig Meilen der leeren Landstraße nach Aix zurück. Als der Wagen davonrollte, kehrte für einen Augenblick wieder Mut zu Celia zurück. Der Mann ‐ der Mörder ‐ war fort. Sie war mit Adèle Rossignol in einer Kutsche allein, die nicht schneller als einen gewöhnlichen Trab fuhr. Ihre Knöchel waren frei, der Knebel war von ihren Lippen genommen worden. Wenn sie nur ihre Hände freibekommen und einen Augenblick wählen könnte, wenn Adèle nicht auf der Hut war, das Fenster öffnen und hinaus auf die Straße springen könnte. Sie sah, wie Adèle die Rollläden der Kutsche herunterzog, und sehr vorsichtig, ganz heimlich begann Celia, ihre Hände hinter sich frei zu arbeiten. Sie war eine Meisterin; keine Bewegung war sichtbar, aber andererseits wurde kein Erfolg erlangt. Die Knoten waren zu schlau gebunden worden. Und dann berührte Mme. Rossignol einen Knopf an ihrer Seite in dem Leder der Kutsche. Die Berührung drehte eine winzige Lampe im Verdeck der Kutsche an und sie hob eine warnende Hand nach Celia. „Nun bleiben Sie ganz still.“ Direkt durch die leeren Straßen von Genf wurde der Landauer ruhig gefahren. Adèle hatte von Zeit zu Zeit unter den Rollladen geguckt. Es waren wenige Leute auf den Straßen. Ein‐ oder zweimal war ein sergent‐de‐ville unter dem 206
Licht einer Laterne zu sehen. Celia wagte nicht aufzuschreien. Gegenüber von ihr, sie beharrlich beobachtend, saß Adèle mit dem offenen Fläschchen in ihrer Hand, und vor dem Vitriol zuckte Celia mit einem überwältigenden Entsetzen zurück. Die Kutsche fuhr hinaus aus der Stadt, entlang dem westlichen Ufer des Sees. „Nun hören Sie“, sagte Adèle. „Sobald der Landauer anhält, wird sie dich Tür des Hauses gegenüber davon öffnen. Ich werde die Kutschentür selbst öffnen und Sie werden aussteigen. Sie werde dicht bei der Kutschentür stehen, bis ich ausgestiegen bin. Ich werde das Fläschchen bereit in meiner Hand halten. Sobald ich draußen bin, werden Sie über den Gehsteig ins Haus laufen. Sie werden nicht sprechen oder schreien.“ Adèle Rossignol drehte die Lampe aus und zog die Kutschenrollläden hoch. Zehn Minuten später fuhr die Kutsche die kleine Straße hinunter und zog Mme. Gobins Aufmerksamkeit auf sich. Marthe Gobin hatte kein Licht in ihrem Zimmer. Adèle Rossignol blickte aus der Kutsche. Sie sah die Häuser in Dunkelheit. Sie konnte nicht das Gesicht der Wichtigtuerin, die den Landauer von einem dunklen Fenster aus beobachtete sehen. Sie schnitt die Schnüre durch, die die Hände des Mädchens fesselten. Die Kutsche hielt an. Sie öffnete die Tür. Celia sprang hinaus auf den Gehsteig. Sie sprang so schnell, dass Adèle Rossignol die Schleppe des Kleides fing und hielt. Aber es war die Furcht vor dem Vitriol, das sie so behände hatte springen lassen. Es war auch das, was sie so leicht und schnell ins Haus laufen ließ. Die alte Frau, die als Dienerin agierte, Jeanne Tacé, empfing sie. Celia bot keinen Widerstand. Die Furcht vor Vitriol hatte sie geschmeidig wie einen Handschuh gemacht. Jeanne eilte mit ihr die Treppe in den kleinen Salon hinten im Haus hinunter, wo das Abendessen gedeckt war, und stieß sie auf einen Stuhl. Celia ließ ihre Arme vorwärts auf den Tisch fallen. Sie hatte jetzt keine Hoffnung. Sie war ohne Freunde und alleine in der Höhle der Mörder, die vorhatten, sie zuerst zu foltern und dann zu töten. Sie würde als Mörderin preisgegeben werden. Niemand würde wissen, wie sie gestorben war oder was sie gelitten hatte. Sie hatte Schmerzen und ihre Kehle brannte. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Armen und schluchzte. Ihr ganzer Körper zitterte vor Schluchzen. Jeanne Rossignol nahm keine Notiz. Sie behandelte Celia genau wie die anderen es getan hatten. Celia war la petite, gegen die sie keine Feindseligkeit hatte, von der sie nicht zu irgendeiner 207
Zärtlichkeit berührt werden sollte. La petite hatte unbewusst ihren nützlichen Teil in ihrem Verbrechen gespielt. Aber ihr Nutzen endete jetzt und sie würden mit ihr demgemäß umgehen. Sie entfernte den Hut des Mädchens und den Umhang und warf ihn zur Seite. „Nun bleiben Sie ruhig, bis wir für Sie bereit sind“, sagte sie. Und Celia, die ihren Kopf hob, sagte flüsternd: „Wasser!“ Die alte Frau goss etwas aus einem Krug ein und hielt das Glas an Celias Lippen. „Danke“, flüsterte Celia dankbar und Adèle kam in das Zimmer. Sie erzählte Jeanne die Geschichte von der Nacht und hinterher Hippolyte, als er sich ihnen anschloss. „Und nichts gewonnen!“, rief die ältere Frau wütend. „Und wir haben kaum ein Fünf‐Francs‐Stück im Haus.“ „Ja, etwas“, sagte Adèle. „Eine Halskette ‐ eine gute ‐ einige gute Ringe und Armbänder. Und wir werden herausfinden, wo der Rest versteckt ist ‐ von ihr.“ Und sie nickte zu Celia. Die drei Leute aßen ihr Abendessen und während sie es aßen, besprachen sie Celias Schicksal. Sie lag mit ihrem Kopf auf ihren Armen am selben Tisch, einen Fuß von ihnen entfernt. Aber sie machten nicht mehr von ihrer Anwesenheit, als wenn sie ein alter Schuh gewesen wäre. Nur einmal sprach einer von ihnen zu ihr. „Hör zu wimmern auf“, sagte Hippolyte grob. „Wir können uns kaum selbst reden hören.“ Er war dafür, heute Nacht die Angelegenheit ganz und gar zu beenden. „Es ist ein Fehler“, sagte er. „Es hat eine Stümperei gegeben, und je eher wir sie loswerden, umso besser. Es gibt ein Boot unten im Garten.“ Celia hörte zu und schauderte. Er würde nicht mehr Gewissensbisse habe, sie zu ertränken, als er hätte, ein blindes Kätzchen zu ertränken. „Es ist Pech“, sagte er. „Aber wir haben die Halskette ‐ das ist etwas. Das ist unser Anteil, seht ihr? Der junge Mann kann nach dem Rest suchen.“ 208
Aber Hélène Vauquiers Wunsch herrschte vor. Sie war die Anführerin. Sie würden das Mädchen behalten, bis sie nach Genf kam. Sie brachten sie nach oben in das große Schlafzimmer, das den See überblickte. Adèle öffnete die Tür des Schranks, wo ein Rollbett stand, und steckte das Mädchen hinein. „Das ist mein Zimmer“, sagte sie warnend und zeigte zu dem Schlafzimmer. „Pass auf, dass ich keinen Lärm höre. Du könntest dich heiser schreien, meine Hübsche; niemand sonst würde es hören. Aber ich würde es, und hinterher ‐ würden wir dich nicht mehr ‚meine Hübsche‘ nennen, äh?“ Und mit einer schrecklichen Verspieltheit kniff sie die Wange des Mädchens. Dann mit der Hilfe der alten Jeanne zog sie Celia aus und sagte, dass sie ins Bett steigen sollte. „Ich werde ihr etwas geben, um sie ruhig zu halten“, sagte Adèle und sie holte ihre Morphiumnadel und injizierte eine Dosis in Celias Arm. Dann nahmen sie ihre Kleider weg und ließen sie in der Dunkelheit. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und einen Augenblick später das Geräusch des Bettgestells, das über den Türeingang gezogen wurde. Aber sie hörte nicht mehr, denn fast augenblicklich schlief sie ein. Sie wurde irgendwann am nächsten Tag durch die Tür, die sich öffnete, geweckt. Die alte Jeanne Tacé brachte ihr einen Krug Wasser und ein Brötchen und sperrte sie wieder ein. Und lange Zeit danach brachte sie ihr noch einen Vorrat. Doch ein weiterer Tag war vergangen, aber in diesem dunklen Schrank hatte Celia keine Mittel, um die Zeit zu schätzen. Am Nachmittag kam die Zeitung mit der Bekanntmachung heraus, dass Mme. Dauvrays Schmuck unter den Brettern entdeckt worden war. Hippolyte brachte die Zeitung herein und verfluchte ihre Dummheit und sie setzten sich, um über Celias Schicksal zu entscheiden. Dies wurde jedoch bald geplant. Sie würden ihr alles anziehen, was sie trug, als sie kam, sodass keine Spur von ihr entdeckt werden könnte. Sie würden ihr eine weitere Dosis Morphium geben, die Vitriol benutzen, sobald sie bewusstlos war, um jede Möglichkeit der Erkennung zu vernichten, sie in einen Sack nähen, sie weit hinaus auf den See rudern und sie mit einem festgemachten Gewicht versenken. Sie schleppten sie aus dem Schrank heraus, 209
immer mit der Drohung dieses glänzenden Aluminiumfläschchens vor ihren Augen. Sie fiel auf ihre Knie, wobei sie um ihr Mitleid mit Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen, flehte; aber sie nähten den Streifen Sackleinen über ihr Gesicht, damit sie nichts von ihren Vorbereitungen sehen sollte. Sie warfen sie auf das Sofa, fesselten sie, wie Hanaud sie gefunden hatte, und indem sie sie in der Obhut der alten Frau ließen, ging Adèle nach unten um die Nadel und Hippolyte machte das Boot bereit. Als Hippolyte die Tür in den Garten öffnete, sah er die Barkasse des Chef de la Sûreté das Ufer entlanggleiten.
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Kapitel XXI Hanaud erklärt Das ist die Geschichte, wie Mr. Ricardo sie von der Aussage Celias und dem Geständnis von Adèle Rossignol aufschrieb. Unklarheiten, die ihn verwirrt hatten, wurden klar ausgedrückt. Aber ihm war noch immer nicht bewusst, wie Hanaud die Lösung ausgearbeitet hatte. „Sie versprachen mir, dass Sie es erklären würden“, sagte er, als sie beide zusammen in Aix waren, nachdem er Prozess vorüber war. Die beiden Männer hatten gerade das Mittagessen im Cercle beendet und saßen bei ihrem Kaffee. Hanaud zündete eine Zigarette an. „Es gab natürlich Schwierigkeiten“, sagte er; „das Verbrechen wurde so sorgfältig geplant. Die kleinen Einzelheiten, wie etwa die Fußabdrücke, das Fehlen von Morast an den Schuhen des Mädchens im Wagen, das Abendessen in Annecy, der Kauf der Schnur, das Fehlen jeglichen Anzeichens eines Kampfes in dem kleinen Salon, wurden sorgfältig ausgedacht. Wäre nicht ein kleiner Zufall gewesen und folglich ein kleiner Fehler gemacht worden, bezweifle ich, ob wir an einem der Bande unsere Hände gelegt hätten. Wir hätten vielleicht Wethermill verdächtigt; wir hätten ihn kaum verhaften können, und wir hätten wahrscheinlich nie etwas über die Tacé‐Familie gewusst. Der Fehler war, wie Sie sich zweifellos völlig bewusst sind ‐“ „Das Versagen Wethermills, Mme. Dauvrays Schmuck zu entdecken“, sagte Ricardo sofort. „Nein, mein Freund“, antwortete Hanaud. „Das brachte sie dazu, Mlle. Célie am Leben zu lassen. Er ermöglichte uns, sie zu retten, als wir den Aufenthalt der Bande entdeckt hatten. Es half uns nicht sehr viel, unsere Hände an sie zu legen. Nein, der kleine Zufall, der passierte, war der Eintritt unseres Freundes Perrichet im Garten, während die Mörder noch im Zimmer waren. Stellen Sie sich diese Szene vor, M. Ricardo. Die Wut der Mörder über ihre Unfähigkeit, die Beute zu entdecken, für die sie ihren Hals riskiert hatten, die alte Frau auf dem Fußboden an die Wand gedrückt, das Mädchen, das schwerfällig mit gefesselten Armen ‚Ich weiß es nicht‘ unter der Androhung von Folter schreibt, und dann in der Stille der Nacht das klare, winzige Klicken des Tors und die gemäßigten, unnachgiebigen Schritte. Kein Wunder, dass sie in diesem dunklen 211
Zimmer entsetzt waren. Was wäre ihr einziger Gedanke? Na, zu entkommen ‐ vielleicht später zurückzukommen, wenn Mlle. Célie ihnen gesagt haben sollte, was sie übrigens nicht wusste, aber auf jeden Fall, um jetzt zu verschwinden. Also machten sie ihren kleinen Fehler, und in ihrer Eile ließen sie das Licht im Zimmer von Hélène Vauquier brennen, und der Mord wurde sieben Stunden zu früh für sie entdeckt.“ „Sieben Stunden!“, sagte Mr. Ricardo. „Ja. Der Haushalt stand nicht früh auf. Es war nicht vor sieben, dass die Putzfrau kam. Sie war es, die das Verbrechen entdecken sollte. Bis dahin würde der Wagen drei Stunden vorher zurück in der Garage gewesen sein. Servettaz, der Chauffeur, wäre aus Chambéry irgendwann am Morgen zurückgekehrt, er hätte den Wagen gesäubert, er hätte bemerkt, dass sehr wenig Benzin im Tank war, wie es gewesen war, als er ihn am Tag zuvor verlassen hatte. Er hätte nicht bemerkt, dass einige seiner vielen Kanister, die gestern voll gewesen waren, heute leer waren. Wir hätten nicht entdeckt, dass ungefähr um vier Uhr morgens der Wagen in der Nähe der Villa war und dass er zwischen Mitternacht und fünf am Morgen hundertfünfzig Kilometer gefahren war.“ „Aber Sie hatten schon ‚Genf‘ erraten“, sagte Ricardo. „Beim Mittagessen, bevor die Nachricht kam, dass der Wagen gefunden wurde, hatten Sie es erraten.“ „Es war eine Vermutung“, sagte Hanaud. „Die Abwesenheit des Wagens half mir, es zu machen. Es ist eine große Stadt und nicht sehr weit weg, ein wahrscheinlicher Ort für Leute mit der Polizei auf ihren Fersen, um sich zu verkriechen. Aber wenn der Wagen in der Garage entdeckt worden wäre, hätte ich diese Vermutung nicht gemacht. Sogar da hatte ich keine besondere Überzeugung über Genf. Ich wünschte wirklich nur zu sehen, wie Wethermill es aufnehmen würde. Er war wundervoll.“ „Er sprang auf.“ „Er verriet nichts außer Erstaunen. Sie zeigten nicht weniger Erstaunen als er, mein guter Freund. Wonach ich suchte, war ein Blick der Furcht. Ich kriegte ihn nicht.“
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„Doch Sie verdächtigten ihn ‐ sogar damals sprachen Sie von Verstand und Waghalsigkeit. Sie sagten ihm genug, um ihn zu hindern, mit der rothaarigen Frau in Genf zu kommunizieren. Sie isolierten ihn. Ja, Sie verdächtigten ihn.“ „Nehmen wir den Fall von Anfang an. Als Sie das erste Mal zu mir kamen, wie ich Ihnen sagte, war der Commissaire schon bei mir gewesen. Es gab schon ein interessantes Beweisstück in seinem Besitz. Adolphe Ruel ‐ der Wethermill und Vauquier zusammen in der Nähe des Kasinos sah und diesen Aufschrei von Wethermill hörte: ‚Es ist wahr: Ich muss Geld haben!‘ ‐ war schon mit seiner Geschichte beim Commissaire gewesen. Ich wusste es, als Harry Wethermill in das Zimmer kam, um mich zu bitten, den Fall aufzunehmen. Das war ein kühner Streich, mein Freund. Die Chancen waren hundert zu eins, dass ich meinen Urlaub nicht unterbrechen würde, um einen Fall aufzunehmen, wegen Ihrer kleinen Dinerparty in London. Tatsächlich hätte ich ihn nicht unterbrochen, hätte ich Adolphe Ruels Geschichte nicht gekannt. Ich konnte sozusagen nicht widerstehen. Wethermills Waghalsigkeit reizte mich. Oh ja, ich fühlte, dass ich mich mit ihm messen musste. So wenige Verbrecher haben Verstand, M. Ricardo. Es ist bedauerlich, wie wenige. Aber Wethermill! Sehen Sie, in welch feiner Position er gewesen wäre, wenn ich abgelehnt hätte. Er selbst war der Erste gewesen, der einen Kriminalbeamten in Frankreich aufsuchte. Und sein Argument! Er liebte Mlle. Célie. Daher muss sie unschuldig sein! Wie er daran festhielt! Die Leute hätten gesagt: ‚Liebe macht blind‘, und umso mehr hätten sie Mlle. Célie verdächtigt. Ja, aber sie liebten den blinden Liebhaber. Daher wäre es umso mehr unmöglich für sie gewesen, zu glauben, dass Harry Wethermill einen Anteil an diesem grausamen Verbrechen hätte.“ M. Ricardo zog seinen Stuhl näher zu dem Tisch. „Ich werde Ihnen gegenüber zugeben“, sagte er, „dass ich dachte, Mlle. Célie sei eine Komplizin.“ „Es ist nicht überraschend“, sagte Hanaud. „Jemand in dem Haus war eine Komplizin ‐ wir beginnen mit dieser Tatsache. In das Haus war nicht eingebrochen worden. Da war Mlle. Célies Bericht, wie Hélène Vauquier ihn uns gab, und ein offensichtlich wahrer Bericht. Da war die Tatsache, dass sie Servettaz losgeworden war. Da war das Dienstmädchen oben, ganz krank von dem Chloroform. Sehr wahrscheinlich hatte Mlle. Célie eine Séance organisiert,
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und dann, als die Lichter aus waren, hatte sie den Mörder durch diese praktische Glastür hereingelassen?“ „Da waren außerdem die eindeutigen Eindrücke ihrer Schuhe“, sagte Mr. Ricardo. „Ja, aber das ist genau, wo ich sicher zu fühlen begann, dass sie unschuldig war“, erwiderte Hanaud trocken. „Alle anderen Fußabdrücke waren so sorgfältig gezogen und zerfurcht worden, dass nichts mit ihnen anzufangen war. Doch diese kleinen blieben so eindeutig, so leicht zu identifizieren, und ich begann mich zu fragen, warum nicht auch diese zerstört und zertreten worden waren. Die Mörder hatten, Sie verstehen, ein solches Ausmaß an Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um die Schuldvermutung eher auf Mlle. Célie als auf Vauquier zu werfen. Jedoch dort waren die Fußabdrücke. Mlle. Célie war aus dem Zimmer gesprungen, wie ich Wethermill beschrieb. Aber ich war verwirrt. Dann fand ich in dem Zimmer das abgerissene Blatt Notizpapier mit den Worten ‚Je ne sais pas‘ in Mademoiselles Handschrift. Die Worte hätten Geisterschreiben sein können, sie hätten nichts bedeuten können. Ich legte sie in meinem Verstand ab. Aber in dem Zimmer verwirrte mich das Sofa. Und wieder war ich beunruhigt ‐ sehr beunruhigt.“ „Ja, ich sah das.“ „Und nicht Sie allein“, sagte Hanaud mit einem Lächeln. „Erinnern Sie sich an den lauten Schrei, den Wethermill von sich gab, als wir in das Zimmer zurückkehrten und ich wieder vor dem Sofa stand? Er zog es wirklich sehr gut ab. Ich hatte gesagt, dass unsere Verbrecher in Frankreich mit ihren Opfern nicht sehr sanft sind, und er gab vor, dass es Furcht über das, was Mlle. Célie leiden mochte, sei, was diesen Schrei aus seinem Herzen gerissen hatte. Aber es war nicht so. Er hatte Angst ‐ Todesangst ‐ nicht um Mlle. Célie, sondern um sich selbst. Er hatte Angst, dass ich verstanden hatte, was diese Kissen mir zu sagen hatten.“ „Was sagten Sie Ihnen?“, fragte Ricardo. „Sie wissen es jetzt“, sagte Hanaud. „Da waren zwei Kissen, beide eingedrückt und auf verschiedene Arten eingedrückt. Das eine am Kopfende war unregelmäßig eingedrückt ‐ etwas Scharfes war darauf gedrückt worden. Es hätte ein Gesicht sein können ‐ oder auch nicht; und da war ein kleiner brauner 214
Fleck, der frisch war und der Blut war. Das zweite Kissen hatte zwei separate Eindrücke und dazwischen war das Kissen zu einem dünnen Wulst hochgetrieben; und diese Eindrücke waren deutlicher. Ich maß den Abstand zwischen den beiden Kissen und ich fand dies; das annehmend ‐ und es war eine große Vermutung ‐ die Kissen waren, seit diese Eindrücke gemacht wurden, nicht verschoben worden, ein Mädchen von Mlle. Célies Größe, das ausgestreckt auf dem Sofa lag, würde ihr Gesicht auf das Kissen gedrückt haben und ihre Füße und ihren Rist auf dem anderen. Also, der Eindruck auf dem zweiten Kissen und der dünne Wulst zwischen ihnen waren einfach die Eindrücke, die von einem Paar Schuhe hätten gemacht werden können, die dicht zusammengehalten wurden. Aber das wäre keine natürliche Haltung für jemanden, und der Abdruck auf dem Kopfkissen war sehr tief. Angenommen, dass meine Vermutungen stimmten, dann würde die Frau nur so liegen, weil sie hilflos war, weil sie dort hingeschleudert worden war, weil sie selbst nicht aufstehen konnte ‐ weil mit einem Wort ihre Hände hinter ihrem Rücken gefesselt und ihre Füße zusammengebunden waren. Nun denn, folgen Sie meinen Gedankengängen, mein Freund! Angenommen, meine Vermutungen ‐ und wir hatten nichts außer Vermutungen, um darauf zu bauen ‐ wären wahr, die auf das Sofa geschleuderte Frau konnte nicht Hélène Vauquier sein, denn sie hätte es gesagt; sie hätte keinen Grund haben können, es zu verbergen. Aber es muss Mlle. Célie sein. Da war der Schlitz in dem Kissen und der Fleck auf dem anderen, mit dem ich natürlich nicht gerechnet hatte. Da war noch immer das Rätsel um die Fußabdrücke draußen vor den Glastüren. Wenn Mlle. Célie auf dem Sofa gefesselt gewesen war, wie kam sie dazu, mit freien Gliedmaßen aus dem Haus zu laufen? Da war eine Frage ‐ eine Frage, nicht leicht zu beantworten.“ „Ja“, sagte Mr. Ricardo. „Ja, aber da war auch eine andere Frage. Angenommen, dass Mlle. Célie trotzdem das Opfer war, nicht die Komplizin; angenommen, sie war auf das Sofa geschleudert worden; angenommen, dass irgendwie die Eindrücke ihrer Schuhe auf dem Boden gemacht worden waren und dass sie hinterher davongetragen worden war, sodass das Dienstmädchen jeglicher Komplizenschaft frei war ‐ in diesem Fall wurde es verständlich, warum die anderen Fußabdrücke verwischt und ihre zurückgelassen wurden. Die Schuldvermutung würde auf sie fallen. Es würde Beweise geben, dass sie eilig 215
aus dem Zimmer rannte und in einen Wagen aus eigenem freien Willen sprang. Aber wieder, falls diese Theorie stimmte, dann war Hélène Vauquier die Komplizin und nicht Mlle. Célie.“ „Ich folge dem.“ „Dann fand ich ein interessantes Beweisstück mit Bezug auf die fremde Frau, die kam; ich hob ein langes rotes Haar auf ‐ ein sehr wichtiges Beweisstück, von dem ich es am besten hielt, überhaupt nichts zu sagen. Es war nicht Mlle. Célies Haar, das blond ist; auch Vauquiers nicht, das schwarz ist; auch Mme. Dauvrays nicht, das braun gefärbt ist; auch das der Putzfrau nicht, das grau ist. Es war daher das der Besucherin. Also, wir gingen nach oben zu Mlle. Célies Zimmer.“ „Ja“, sagte Ricardo begierig. „Wir kommen zu dem Cremetiegel.“ „In diesem Zimmer erfuhren wir, dass Hélène Vauquier auf ihre eigene Bitte hin schon einen Besuch abgestattet hatte. Es ist wahr, dass der Commissaire sagte, dass er die ganze Zeit ein wachsames Auge gehabt hatte. Aber trotzdem sah er mich vom Fenster die Straße herunterkommen, und das hätte er nicht tun können, wie ich mich versicherte, wenn er seinen Rücken nicht Vauquier zugewandt und sich aus dem Fenster gelehnt hätte. Nun hatte ich zu der Zeit einen offenen Sinn über Vauquier. Im Großen und Ganzen war ich geneigt zu denken, dass sie keinen Anteil an der Affäre hatte. Aber entweder sie oder Mlle. Célie hatte es, und vielleicht beide. Aber eine von ihnen ‐ ja. Das war sicher. Daher fragte ich, was für Schubladen sie berührte, nachdem der Commissaire sich aus dem Fenster gelehnt hatte. Denn falls sie ein Motiv gehabt hätte, das Zimmer besuchen zu wollen, hätte sie es befriedigt, wenn der Rücken des Commissaires zugewandt war. Er zeigte zu einer Lade und ich nahm ein Kleid heraus und schüttelte es, da ich dachte, sie wollte vielleicht etwas verstecken. Aber nichts fiel heraus. Andererseits jedoch sah ich einige frische Fettabdrücke, von Fingern gemacht, und die Abdrücke waren nass. Ich begann mich zu fragen, wie es war, dass Hélène Vauquier, der gerade von der Krankenschwester geholfen worden war, sich anzuziehen, dass sie auf ihren Fingern Fett hatte. Dann blickte ich auf eine Lade, die sie zuerst untersucht hatte. Dort waren keine Fettabdrücke auf den Kleidern, die sie umgedreht hatte, bevor der Commissaire sich aus dem Fenster lehnte. Daher folgte es, dass während der paar Sekunden, als er mich beobachtete, sie das Fett berührt hatte. Ich sah mich im Zimmer um und dort auf dem Frisiertisch bei der 216
Kommode war ein Tiegel mit kühlender Hautcreme. Das war das Fett, das Hélène Vauquier berührt hatte. Und warum ‐ falls nicht, um erstens ein kleines Ding darin zu verstecken, wagte sie es nicht, ihn in ihrem eigenen Zimmer aufzubewahren; das, zweitens, sie in dem Zimmer von Mlle. Célie verstecken wollte, und das, drittens, sie vorher nicht die Gelegenheit gehabt hatte, vorher zu verstecken? Nun tragen sie diese drei Bedingungen in Ihrem Sinn und sagen mir, was das kleine Ding war.“ Mr. Ricardo nickte mit seinem Kopf. „Ich weiß es jetzt“, sagte er. „Sie sagten es mir. Die Ohrringe von Mlle. Célie. Aber ich hätte es zu der Zeit nicht vermutet.“ „Ich auch nicht ‐ zu der Zeit“, sagte Hanaud. „Ich bewahrte meinen offenen Sinn über Hélène Vauquier; aber ich versperrte die Tür und nahm den Schlüssel. Dann gingen wir und hörten Vauquiers Geschichte. Die Geschichte war klug, weil so viel davon offenkundig, unbestritten wahr war. Der Bericht von den Séancen, von Mme. Dauvrays Aberglauben, ihrem Wunsch nach einer Unterredung mit Mme. de Montespan ‐ solche Einzelheiten werden nicht erfunden. Es war auch interessant zu wissen, dass es für diese Nacht eine geplante Séance gegeben hatte! Die Mordmethode begann klar zu werden. Bis dahin sprach sie die Wahrheit. Aber dann log sie. Ja, sie log und es war eine schlechte Lüge, mein Freund. Sie erzählte uns, dass die fremde Frau Adèle schwarzes Haar hatte. Nun trug ich in meiner Brieftasche den Beweis, dass das Haar der Frau rot war. Warum log sie, außer um die Identifikation dieses fremden Gastes unmöglich zu machen? Das war der erste falsche Schritt, der von Hélène Vauquier unternommen wurde. „Nun nehmen wir den zweiten. Ich hielt nichts von ihrem Groll gegen Mlle. Célie. Für mich war alles sehr natürlich. Sie ‐ die harte Bauersfrau, nicht länger jung, die seit Jahren die vertraute Dienerin von Mme. Dauvray gewesen war, und hatte sicher ihren Beitrag von den Betrügern genommen, die die gläubige Herrin ausbeuteten ‐ sicher würde sie diese junge und hübsche Ausgestoßene hassen, die sie bedienen sollte, deren Haar sie frisieren musste. Vauquier ‐ sie würde sie hassen. Aber falls sie zufällig in dem Komplott war ‐ und die Lüge schien zu zeigen, dass sie es war ‐ dann zeigten mir die Séancen neue Möglichkeiten. Denn Hélène half Mlle. Célie. Angenommen, dass die Séance stattgefunden hatte, dass diese skeptische Besucherin mit dem roten Haar sich 217
mit Vauquiers Methode, das Medium zu testen, nicht zufriedengab, einen anderen Weg vorgeschlagen hatte, konnte Mlle. Célie keine Einwände erheben, und dort würde sie nett und sicher jenseits der Macht, Widerstand zu leisten, zusammengepackt sein, bevor sie einen Verdacht haben könnte, dass die Dinge falsch liefen. Es wäre eine leichte kleine Komödie zu spielen sein. Und wenn das wahr wäre ‐ na, da waren meine Sofakissen teilweise erklärt.“ „Ja, ich verstehe!“, rief Ricardo mit Begeisterung. „Sie sind wundervoll.“ Hanaud war über die Begeisterung seines Begleiters nicht unzufrieden. „Aber warten Sie einen Augenblick. Wir haben bis dahin nur Vermutungen, und eine Tatsache, dass Hélène Vauquier über die Farbe des Haares der fremden Frau log. Nun bekommen wir eine weitere Tatsache. Mlle. Célie trug Schnallen auf ihren Schuhen. Und da ist mein Schlitz in den Sofakissen. Denn wenn sie auf das Sofa geschleudert wurde, was wird sie tun? Sie wird treten, sie wird sich wehren. Natürlich ist es eine Vermutung. Ich halte nicht dickköpfig daran fest. Ich bin noch nicht sicher, dass Mlle. Célie unschuldig ist. Ich bin gewillt, jeden Augenblick zuzugeben, dass die Fakten meiner Theorie widersprechen. Aber im Gegenteil, jedes Faktum, das ich entdecke, hilft, Form anzunehmen.“ „Nun komme ich zu Hélène Vauquiers zweiten Fehler. Am Abend, als Sie Mlle. Célie im Garten hinter den Bakkaraträumen sahen, bemerkten Sie, dass sie keinen Schmuck trug, außer einem Paar Diamantohrringen. Auf der Fotografie von ihr, die mir Wethermill zeigte, trug sie sie wieder. Ist es daher nicht möglich, dass sie sie gewöhnlich trug? Als ich ihr Zimmer untersuchte, fand ich die Schatulle für diese Ohrringe ‐ die Schatulle war leer. Es war also natürlich zu folgern, dass sie sie trug, als sie zu den Séancen herunterkam.“ „Ja.“ „Also, ich lese eine Beschreibung ‐ eine sorgfältig geschriebene Beschreibung ‐ eines vermissten Mädchens, von Hélène Vauquier nach einer Überprüfung der Garderobe des Mädchens gemacht. Dort gibt es keine Erwähnung von den Ohrringen. Daher fragte ich sie ‐ ‚Trug sie sie nicht?‘ Hélène Vauquier war erstaunt. Wie sollte ich etwas von Mlle. Célies Ohrringen wissen? Sie zögerte. Sie wusste nicht ganz, was für eine Antwort sie geben sollte. Nun, warum? Da sie selbst Mlle. Célie ankleidete und sich sehr gut erinnert, was sie trug, warum zögert sie? Also, es gibt einen Grund. Sie weiß nicht, wie viel ich über diese 218
Diamantohrringe weiß. Sie ist nicht sicher, ob wir nicht in den Tiegel mit kühlender Hautcreme eingetunkt haben und sie fanden. Doch ohne zu wissen, kann sie nicht antworten. Also, jetzt kommen wir zurück zu unserem Tiegel mit kühlender Hautcreme.“ „Ja!“, rief Mr. Ricardo. „Sie waren dort.“ „Warten Sie ein bisschen“, sagte Hanaud. „Sehen wir, wie es funktioniert. Erinnern Sie sich an die Bedingungen. Vauquier hat ein kleines Ding, das sie verstecken muss und das sie in Mlle. Célies Zimmer zu verstecken wünscht. Denn sie gab zu, dass es ihr Vorschlag war, dass sie Mademoiselles Garderobe durchsuchen sollte. Aus was für einem Grund sie Mademoiselles Garderobe wählt, außer dass, falls das Ding entdeckt wurde, das der natürliche Ort dafür wäre? Es ist dann etwas, das Mlle. Célie gehörte. Es gab eine zweite Bedingung, die wir zugrunde legten. Es war etwas, das Vauquier vorher nicht hatte verstecken können. Es kam also letzte Nacht in ihren Besitz. Warum konnte sie es letzte Nacht nicht verstecken? Weil sie nicht allein war. Da waren der Mann und die Frau, ihre Komplizen. Es war also etwas, worüber sie bestrebt war, es vor ihnen zu verstecken. Es ist nicht übereilt, es zu erraten, dass es ein Stück von der Beute war, woran die anderen ihren Anteil beansprucht hätten ‐ und ein Stück der Beute, das Mlle. Célie gehörte. Also, sie hat nichts außer den Diamantohrringen. Angenommen, Vauquier wird alleine gelassen, um Mlle. Célie zu bewachen, während die anderen beiden Mme. Dauvrays Zimmer plündern. Sie sieht ihre Chance. Das Mädchen kann weder Hand noch Fuß rühren: um sich zu retten. Vauquier reißt die Ohrringe eilig von ihren Ohren ‐ und da habe ich meinen Bluttropfen, genau, wo ich ihn zu sein erwarten würde. Aber nun folgt dies! Vauquier versteckt die Ohrringe in ihrer Tasche. Sie geht zu Bett, um chloroformiert zu werden. Sie weiß, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass ihr Zimmer durchsucht wird, bevor sie das Bewusstsein erlangt oder bevor es ihr gut genug geht, um aufzustehen. Es gibt nur einen Ort, um sie darin zu verstecken, nur einen Platz, wo sie sicher sein werden. Im Bett bei ihr. Aber am Morgen muss sie sie loswerden und eine Krankenschwester ist bei ihr. Daher die Ausrede, in Mlle. Célies Zimmer zu gehen. Wenn die Ohrringe in dem Tiegel mit kühlender Hautcreme gefunden werden, würde nur gedacht werden, dass Mlle. Célie selbst sie dort zur Sicherheit versteckt hatte. Wieder ist es eine Vermutung und ich wünsche, es sicher zu machen. Daher sage ich Vauquier, dass sie fortgehen kann und ich lasse sie unbeobachtet. Ich lasse sie zum Depôt 219
fahren, statt zu ihren Freunden, und durchsuchen. Bei ihr wir der Tiegel mit Creme gefunden, und in der Creme Mlle. Célies Ohrringe. Sie war in Mlle. Célies Zimmer geschlichen, wie, falls meine Theorie richtig war, sie sicher tun würde, und steckte den Tiegel mit Creme in ihre Tasche. Daher bin ich jetzt ziemlich sicher, dass sie in dem Mord verwickelt war. Wir gingen dann zu Mme. Dauvrays Zimmer und entdeckten ihre Brillanten und ihren Schmuck. Sofort wird die Bedeutung von dieser erregten Handschrift von Mlle. Célie klar. Sie wird gefragt, wo der Schmuck versteckt ist. Sie kann nicht antworten, da ihr Mund natürlich geknebelt ist. Sie muss schreiben. So werden meine Vermutungen immer mehr gestützt. Und beachten Sie dies, eine der zwei Frauen ist schuldig ‐ Célie oder Vauquier. Mein Entdeckungen passen alle in die Theorie von Célies Unschuld. Aber da bleiben die Fußabdrücke, für die ich keine Erklärung fand. Sie werden sich erinnern, ich ließ sie alle versprechen, über den Fund von Mme. Dauvrays Schmuck zu schweigen. Denn ich dachte, wenn sie das Mädchen weggebracht haben, sodass der Verdacht auf sie fiele, und nicht auf Vauquier, sie vorhaben, sich ihrer zu entledigen. Aber sie behalten sie vielleicht so lange, wie sie eine Chance haben, von ihr Mme. Dauvrays Versteck herauszufinden. Es war eine kleine Chance, aber unsere einzige. In dem Augenblick, wo die Entdeckung des Schmucks veröffentlicht wurde, war das Schicksal des Mädchens besiegelt, sollte meine Theorie stimmen. Dann kam unsere Anzeige und Mme. Gobins schriftliches Zeugnis. Es gab einen kleinen Punkt von Interesse, den ich zuerst nehmen werde: ihre Behauptung, dass Adèle der Taufname der Frau mit dem roten Haar war, dass die alte Frau, die die Dienerin in diesem Haus in der Vorstadt von Genf war, sie Adèle nannte, einfach nur Adèle. Das interessierte mich, denn Hélène Vauquier hatte sie auch Adèle genannt, als sie uns die unbekannte Besucherin beschrieb. ‚Adèle‘ war, wie Mme. Dauvray sie nannte.“ „Ja“, sagte Ricardo. „Hélène Vauquier machte da einen Ausrutscher. Sie hätte ihr einen falschen Namen geben sollen.“ Hanaud nickte. „Es war der eine Ausrutscher, den sie in der ganzen Angelegenheit machte. Auch erholte sie sich nicht sehr klug. Denn als der Commissaire auf den Namen 220
stieß, änderte sie ihre Worte sofort ab. Sie dachte jetzt nur, dass der Name Adèle war, oder etwas Ähnliches. Aber als ich fortfuhr zu bemerken, dass der Name auf jeden Fall falsch sein würde, ging sie sofort wieder auf die Abänderung zurück. Und nun war sie sicher, dass Adèle der benutzte Name war. Ich erinnerte mich an ihr Zögern, als ich Marthe Gobins Brief las. Dieser half mir, meine Theorie zu bestätigen, dass sie in einem Komplott war; und das machte mich sehr sicher, dass es eine Adèle war, nach der wir suchten. So weit, so gut. Aber andere Aussagen in dem Brief verwirrten mich. Denn zum Beispiel: ‚Sie lief leicht und schnell über den Gehsteig in das Haus, als ob sie Angst hätte, gesehen zu werden.‘ Das waren die Worte und die Frau war offensichtlich ehrlich. Was wurde dann aus meiner Theorie? Das Mädchen war frei zu laufen, frei, sich zu bücken und die Schleppe ihres Kleides mit ihrer Hand aufzuheben, frei, um Hilfe auf der offenen Straße zu rufen, falls sie Hilfe wollte. Nein; das konnte ich bis zu diesem Nachmittag, als ich Mlle. Célies schreckerfüllte Augen auf dieses Fläschchen gerichtet sah, nicht erklären, als Lemerre ein wenig ausgoss und ein Loch in den Sack brannte. Dann verstand ich gut genug. Die Furcht vor Vitriol!“ Hanaud schauderte unbehaglich. „Und es ist genug, um jedem Angst zu machen! Das kann ich Ihnen sagen. Kein Wunder, dass sie still wie eine Maus auf dem Sofa im Schlafzimmer lag. Kein Wunder, dass sie schnell in das Haus rannte. Also, da haben Sie die Erklärung. Ich hatte nur meine Theorie, um daran zu arbeiten, sogar nach Mme. Gobins Beweis. Aber es war zufällig die richtige. In der Zwischenzeit machte ich meine Nachfragen in Wethermills Angelegenheiten. Meine guten Freunde in England halfen mir. Sie waren riskant. Er schuldete Geld in Aix, Geld in seinem Hotel. Wir wussten von dem Wagen, dass der Mann, nach dem wir suchten, nach Aix zurückgekehrt war. Die Dinge begannen für Wethermill schwarz auszusehen. Dann gaben Sie mir eine kleine Information.“ „Ich!“, rief Ricardo erschrocken aus. „Ja. Sie sagte mir, dass Sie mit Harry Wethermill zum Hotel in der Nacht des Mordes hinaufgingen und sich vor zehn trennten. Einen Blick in seine Zimmer, den ich hatte ‐ Sie werden sich erinnern, dass, als wir den Wagen entdeckt hatten, ich bemerkte, dass er sehr leicht aus seinem Zimmer auf die Veranda darunter gelangen und aus dem Hotel durch den Garten ganz ungesehen hätte fliehen können. Denn Sie werden sich erinnern, dass, wohingegen Ihre Zimmer auf die Vorderseite und auf den Hang des Mont Revard hinausgehen, die von 221
Wethermill auf den Garten und auf die Stadt Aix hinausgehen. In einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten hätte er die Villa Rose erreichen können. Er hätte vor halb elf im Salon sein können, und das ist genau die Stunde, die mir vollkommen passte. Und, da er unbemerkt hinaus konnte, so konnte er zurückkehren. So kehrte er zurück! Mein Freund, da sind einige interessante Abdrücke auf dem Fensterbrett von Wethermills Zimmer und auf der Säule gleich darunter. Werfen Sie einen Blick drauf, M. Ricardo, wenn Sie in Ihr Hotel zurückkehren. Aber das war nicht alles. Wir redeten von Genf in Mr. Wethermills Zimmer, und von der Entfernung zwischen Genf und Aix. Erinnern Sie sich daran?“ „Ja“, erwiderte Ricardo. „Erinnern Sie sich auch, dass ich ihn um einen Straßenatlas bat, mein Freund. Ich fragte, um herauszufinden, ob Harry Wethermill überhaupt einen Straßenatlas hätte, der einen Plan zwischen hier und Genf hatte. Und er hatte es. Er reichte ihn mir sofort und ganz natürlich. Ich hoffe, dass ich ihn ruhig nahm, aber ich war innerlich überhaupt nicht ruhig. Denn es war ein neuer Straßenatlas und ich fragte mich die ganze Zeit ‐ also, was fragte ich mich, M. Ricardo?“ „Nein“, sagte Ricardo mit einem Lächeln. „Ich werde müde. Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie sich fragten, M. Hanaud. Denn sogar, wenn ich recht hätte, würden Sie glaubhaft machen, dass ich unrecht hätte und mit Ungerechtigkeiten und Spott auf mir herumsprängen. Nein, Sie sollen Ihren Kaffee trinken und es mir von sich aus erzählen.“ „Also“, sagte Hanaud lachend, „ich werde es Ihnen erzählen. Ich fragte mich: ‚Warum geht ein Mann, der keinen Wagen besitzt, der keinen Wagen mietet, hinaus in Aix und kauft einen Straßenatlas für Autofahrer? Mit was für einem Zweck?‘ Und ich hielt es für eine interessante Frage. M. Harry Wethermill war nicht der Mann, der auf eine Wandertour geht, äh? Oh, ich erlangte Beweise. Aber dann kam eine überwältigende Sache ‐ der Mord an Marthe Gobin. Wir wissen jetzt, wie wir es taten. Er ging neben der Droschke, steckte seinen Kopf ins Fenster, fragte: ‚Sind Sie in Beantwortung auf die Anzeige gekommen?‘ und erdolchte sie direkt ins Herz durch ihr Kleid. Das Kleid und die Waffe, die er benutzte, würde ihn davor bewahren, mit ihrem Blut befleckt zu werden. Er war an jenem Morgen in Ihrem Zimmer, als wir am Bahnhof waren; wie ich 222
Ihnen sagte, ließ er seinen Handschuh zurück. Er suchte nach einem Telegramm in Beantwortung auf Ihre Anzeige. Oder er kam, um Sie auszuhorchen. Er hatte schon sein Telegramm von Hippolyte erhalten. Er war wie ein Fuchs in einem Käfig, der nach jedem schnappt, sich hierhin und dorthin vergeblich dreht und alles riskiert, um seinen kostbaren Hals zu retten. Marthe Gobin war im Weg. Sie wird getötet. Mlle. Célie ist in Gefahr. Und ab geht ein Telegramm an die Genfer Zeitung, von einem Kellner aus dem Café am Bahnhof von Chambéry vor fünf Uhr aufgegeben. Wethermill fuhr an diesem Nachmittag nach Chambéry, als wir nach Genf fuhren. Sobald wir ihn auf Trab halten konnte, sobald wir ihm zusetzen konnten, dass er Risiken eingehen musste ‐ na, hatten wir ihn. Und an diesem Nachmittag musste er sie eingehen.“ „Sodass Sie, sogar, bevor Marthe Gobin getötet wurde, sicher waren, dass Wethermill der Mörder war?“ Hanauds Gesicht bewölkte sich. „Sie legen Ihren Finger auf einen wunden Punkt, M. Ricardo. Ich war sicher, aber ich wollte noch immer Beweise, die überzeugen. Ich ließ ihn frei, wobei ich auf diesen Beweis hoffte, ich ließ ihn frei, wobei ich hoffte, er würde sich selbst überführen. Er tat es, aber ‐ also, reden wir von jemand anderem. Was ist mit Mlle. Célie?“ Ricardo zog einen Brief aus seiner Tasche. „Ich habe eine Schwester in London, eine Witwe“, sagte er. „Sie ist liebenswürdig. Ich habe auch daran gedacht, was aus Mlle. Célie werden wird. Ich schrieb meiner Schwester und hier ist ihre Antwort. Mlle. Célie wird sehr willkommen sein.“ Hanaud streckte seine Hand aus und schüttelte Ricardos herzlich. „Sie wird, denke ich, nicht sehr lange eine Last sein. Sie ist jung. Sie wird sich von diesem Schock erholen. Sie ist sehr hübsch, sehr freundlich. Wenn ‐ wenn niemand daherkommt, den sie liebt und der sie liebt ‐ werde ich ‐ ja, ich selbst, der für eine Nacht ihr Papa war, für immer ihr Ehemann sein.“ Er lachte zügellos über seinen eigenen Scherz; es war eine Gewohnheit von M. Hanaud. Dann sagte er ernst:
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„Aber ich bin froh, M. Ricardo, um Mlle. Célies willen, dass ich zu Ihrer amüsanten Dinerparty in London kam.“ Mr. Ricardo war für einen Augenblick still. Dann fragte er: „Und was wird mit den Verurteilten werden?“ „Für die Frauen lebenslänglich Gefängnis.“ „Und für die Männer?“ Hanaud zuckte die Achseln. „Vielleicht die Guillotine; vielleicht Neukaledonien. Wie kann ich es sagen? Ich bin nicht der Präsident der Republik.“
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