Tom Robbins
Villa Incognito
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Villa Incognito – ein Paradies im laotischen Dschungel...
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Tom Robbins
Villa Incognito
scanned 10/2007 corrected 10/2007
Villa Incognito – ein Paradies im laotischen Dschungel. Vorzügliche Currys, charmante Konkubinen, Philosophiestunden jederzeit gratis. Kommen Sie her, aber sind Sie schwindelfrei? Der einzige Weg führt übers Hochseil. Passen Sie auf. Aber das alles ist besser, als in New York herumzuhängen. Und für Notfälle haben wir hier auch einen falschen Priester. ISBN: 9783499236235 Original: Villa Incognito Übersetzung: Pociao und Roberto de Hollanda Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag Erscheinungsjahr: 2005 Umschlaggestaltung: any.way, Cathrin Günther
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Eine wilde Fabel, die keinen Lachmuskel untrainiert, keine Weisheit ungewendet und keine suchende Seele unerleuchtet lässt. «Der beste Schriftsteller der Welt.» (Thomas Pynchon) «Eine Menge Spaß, vermengt mit einer nicht zu knappen Dosis Tiefsinn.» (Berliner Zeitung) Tom Robbins ist der Autor von acht Romanen. Wenn er nicht unterwegs ist, lebt er in der Nähe von Seattle. Als Rowohlt Taschenbücher erschienen «Buntspecht» (rororo 15148), «Ein Platz für Hot Dogs» (rororo 15429), «Halbschlaf im Froschpyjama» (rororo 22442), «PanAroma. Jitterbug Perfume» (rororo 15671), «Salomes siebter Schleier» (rororo 13497), «Sissy, Schicksal einer Tramperin» (rororo 15324), «Völker dieser Welt, relaxt!» (rororo 23546).
Autor
Foto Copyright © by Matt Brown
Tom Robbins 1936 in Virginia geboren (oder handelte es sich dabei nur um seine bislang letzte Rematerialisation?), lebt seit geraumer Zeit (1000 Jahre, 100 Jahre, 10 Jahre???) in La Conner, USA. Seit Fertigstellung von «Jitterbug Perfume» empfängt er Journalisten bevorzugt mit aufgesetzter Krokodilsmaske. Versteht sich als «PR-Mann für den Lebenszirkus». Im Falle, dass einer der Clowns erkranken sollte, springt er auch mal für ihn ein.
Für Alexa, wen sonst?
«Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.» Bertolt Brecht, Dreigroschenoper
ERSTER TEIL Es heißt, Tanuki hätte seinen Hodensack als Fallschirm benutzt, als er vom Himmel fiel. Erst mal gar nicht so abwegig, wenn man Tanukis außergewöhnlich großes Gehänge in Betracht zieht. Tja, okay, aber eigentlich doch – vor allem, weil es im Verhältnis zu seiner gesamten Körpermasse erheblich größer ist als das eines Elefanten, eines Wals oder das von Jolly Green Giant. Mag sein, dass Tanukis Skrotum damals sogar noch größer war als heute, auch wenn dies kaum vorstellbar ist, weil seine Klöten ja schon fast am Boden schleiften und jedes Mehr an Volumen zweifellos seine Mobilität behindert hätte und obendrein gewiss schmerzhaft gewesen wäre. Denkbar wäre aber auch, dass Tanuki imstande war und vielleicht immer noch ist, seinen Hodensack nach Belieben zu vergrößern oder zu verkleinern. Dennoch müssen wir einräumen, dass es einigermaßen schwierig ist, zu bestimmen, welche Rolle anatomische Größe per se in Tanukis Familie spielt. Doch wichtiger, als zu wissen, wie es dem Dachs gelang, mit Hilfe seiner bemerkenswerten Samenhülle auf der Erde zu landen, scheint die Frage zu sein, woher er eigentlich kam. Und warum. * Klopf! Klopf! «Wer da?» «Tanuki.» «Tanuki wer?» 6
«Sei nicht albern. Tanuki persönlich.» «Ach so. Verstehe. Und wo kommst du her, Tanuki persönlich?» «Aus der anderen Welt.» «Welcher anderen Welt?» «Aus der Welt, die es vor dieser hier gab, du Depp! Der Welt der animalischen Ahnen.» Die Stimme klang wie aus einer Kiesgrube gebuddelt. «Ah so. Dann verzeih. Also, du ehrenwerter animalischer Ahne. Wie bist du hergelangt?» «Mit dem Fallschirm. Das ist streng verboten, gegen alle Regeln sozusagen. Aber was soll’s …!» Der Bauer sah sich nach Spuren von Ausrüstung um, insbesondere nach dem seidenen Fallschirm und dem Gurtwerk. «Vergiss es», brummte Tanuki. «Na schön, was suchst du hier?» «Reiswein.» «Sake? Kann ich verstehen, aber das nehme ich dir nicht ab. So, wie du grinst, hast du schon mehr als genug Reiswein intus. Gibt es noch andere Gründe?» «Ja. Mädchen. Hübsche junge Dinger.» Der Mann prustete dermaßen los, dass ihm ein Popel aus der Nase flog. «Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Kein Mädchen würde sich mit einem so komischen Kerl wie dir einlassen.» «Da wäre ich mir nicht so sicher, du Hornochse!», fauchte Tanuki und versetzte dem Mann einen heftigen Schlag in die Magengrube, sodass der auf die Erde fiel, nach Luft japste und kein Wort mehr herausbekam. Dann watschelte der Dachs mit seinem dicken Bauch, der wie ein Weihnachtsmann-Implantat hin und her schwang, auf den Hinterbeinen zum Brunnen, wo 7
die Tochter des Bauern die Wasserkrüge füllte, und fixierte sie mit seinem Hochspannungsgrinsen. Es war ein breites Grinsen, so überhitzt, manisch und wild, dass es den Spiegel eines Gruselkabinetts zum Splittern gebracht oder den Stäbchen in einer Mädchenfrisur den Lack abgepellt hätte. * Es folgt eine kurze, nur unvollständige Erläuterung zu Tanukis Wesen. Obwohl ihn alle Welt als «Dachs» betrachtet, ist Tanuki wissenschaftlich gesehen überhaupt kein Dachs. Jeder Zoologe wird gern bestätigen, dass Tanukis zur Gattung der ostasiatischen Wildhunde gehören (Nyctereutes procyonoides). Sie besitzen die lange Schnauze, Färbung und Zeichnung eines Waschbären, nicht aber dessen berühmten geringelten Schwanz. Die Tatsache, dass Tanukis fast schwanzlos sind und gern aufrecht gehen, spielt zweifellos eine Rolle bei der Frage, warum man den Tanuki generell in einem derart anthropomorphen Licht betrachtet. Am Rande eines dunklen Waldes könnte man als suggestibler Mensch einen Tanuki auf den ersten Blick für ein etwas klein geratenes menschliches Wesen halten. Doch dank seiner übernatürlichen Kräfte gibt es tatsächlich noch einen legitimeren Grund für den anthropomorphen Ruf der Tanukis, wie wir bald sehen werden. Bevor wir aber fortfahren, möchten wir darauf eingehen, dass dem aufmerksamen Leser in unserem Bericht vermutlich eine offensichtliche, vielleicht sogar verwirrende Inkonsequenz aufgefallen ist. Wenn der Autor nicht einfach nur schlampig oder unzuverlässig ist, warum schreibt er dann manchmal «Tanuki» (Singular, Eigenname) und manchmal, sogar im selben Absatz, «Tanukis» (Plural, Gattungsbegriff)? Die Erklärung ist ganz einfach. Dieses dachsartige Geschöpf ist wie Gott einer und viele 8
zugleich. Beides. Im gleichen Augenblick. Wie Gott. Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit dem Unergründlichen beschäftigt hat, weiß, dass «Gott» und «Götter» austauschbare Begriffe sind. Die Anhänger des exklusivistischen und patriarchalischen Jehova/Allah haben nicht Unrecht, wenn sie behaupten, es gäbe nur einen Allmächtigen, und «er» sei unveränderlich und unumstößlich. Aber auch die naiven Heiden und Primitiven liegen nicht falsch, wenn sie Götter des Feuers ebenso wie Götter der Flüsse anbeten. Wenn sie die Mondgöttin, den Geist des Krokodils oder Götter verehren, die – um nur einige Orte zu nennen – in Baumstämmen wohnen oder in Regenwolken, in Peyote-Buttons oder Neonröhren (vor allem den rhythmisch aufleuchtenden weißen und grünen). Wenn der Leser/die Leserin weise und geistig flexibel genug ist, das göttliche Prinzip nicht durch menschliche Beschränktheit und Alleinansprüche einzuengen, wird er/sie einsehen, dass man gleichzeitig monotheistisch und pantheistisch sein kann (es vielleicht sogar sein sollte!). Dann wird er/sie es leichter haben, das paradoxe Wesen unseres kleinen Freundes Tanuki von den Tanukis zu verstehen. * Die Tochter am Brunnen schien zunächst gewillt, Tanukis Einladung zu einem Schäferstündchen anzunehmen. Schließlich war sie auf einem Bauernhof aufgewachsen, und die Begattungsrituale der Tiere waren ihr ebenso vertraut wie das Sprießen von jungem Reis oder das Heranreifen der Pflaumen. Daher war ihr auch der sexuelle Verkehr mit Tieren nicht fremd, denn sie hatte Brüder, Vettern und Nachbarsjungen, die sich gelegentlich so verlustierten. Wenn wir nur selten, falls überhaupt, von Mädchen erfahren, die solch schmutzigen 9
Praktiken frönen, dann bestimmt nicht, weil Mädchen vom Lande weniger scharf als ihre männlichen Partner sind. Vielleicht hängt es mit dem allgemeinen Charakter von Mädchen zusammen, der klarer, zurückhaltender, empfindsamer und feiner ist als der ihrer raubeinigen männlichen Gleichaltrigen. Möglicherweise ist es aber auch nur eine Frage der Logistik: Ein hormongesteuerter junger Mann kann durchaus ein Schaf besteigen, aber die Vorstellung eines Mädchens, das sich einem Bock darbietet, ist nicht nur abwegig, sondern beinahe undenkbar. Es würde den Einfallsreichtum des Mädchens auf eine harte Probe stellen und den Bock vermutlich ziemlich verwirren. Aber Tanuki war kein gewöhnliches Tier. Er ging aufrecht, hatte einen charmanten Akzent, ein selbstbewusstes, exotisches Auftreten und ein fesselndes, zuweilen enervierendes Grinsen. So süß war er und so verführerisch, dass sie schon bald die Schärpe ihres Kimonos zu lösen begann. Doch als er sich dann damit brüstete, wie er vor kurzem mit dem Fallschirm von der anderen Welt auf die Erde abgesprungen war, bekam sie es mit der Angst. Sie lief zurück zum Bauernhaus und verriegelte die Tür. «Mir war, als hätte ich einen Dämon gesehen», erzählte sie ihrer Mutter als Erklärung, warum sie erhitzt und ohne Wasser zurückgekehrt war. Niedergeschlagen klaute Tanuki ein kleines Fässchen mit Sake, das zum Kühlen im Brunnen lag, und trollte sich in den Wald, um nachzudenken. Mitten in der Nacht, als er bereits ziemlich beschwipst war, fing er an, auf seine Wampe zu trommeln, wie Tanukis es hin und wieder tun. Das pla-bonga, pla-bonga seiner Bauchtrommel lockte schließlich einen Kitsune an. Einen Fuchs. «Schwachkopf!», schimpfte Kitsune, als Tanuki über seine klägliche Abfuhr jammerte. «Wie kannst du nur so naiv sein und einem Menschen die Wahrheit sagen? Die Menschen leben in einem endlosen Gespinst von Illusionen. Religion. Patriotismus. 10
Wirtschaft. Mode. Und so weiter. Wenn du die Gunst der Zweibeiner gewinnen willst, musst du lernen, etwas genauso frech zu erfinden wie sie. Übrigens hilft es, gelegentlich ihre seit Urzeiten unveränderten Illusionen zu sabotieren, denn dann sind sie gezwungen, aus der Frustration heraus ganz neue Möglichkeiten für ihre Spezies zu entwickeln. Doch das ist wahrscheinlich eine Mission, für die du weder Interesse aufbringst noch richtig geeignet wärst. Also belüge die Menschen nach Strich und Faden und zieh deinen Nutzen draus − aber vergiss nie, vor dir selbst immer aufrichtig zu sein.» Der betrunkene Dachs bekam nicht alle weisen Ratschläge des Fuchses mit, doch das Wichtigste blieb haften. Als er das nächste Mal bei Einbruch der Dunkelheit am Brunnen auftauchte, versuchte er es mit einer neuen Masche. «Meine hübsche Kirschblüte», säuselte er der Bauerntochter ins Ohr. «Ich bin in Wirklichkeit nur ein ganz gewöhnliches Tier aus dem Wald, das du mit deiner Schönheit verzaubert hast. Angesichts des enormen Verlangens, deine zarte Hand zu halten und deinen wohlgeformten Nacken zu liebkosen, habe ich mich gestern wohl etwas im Ton vergriffen.» «Oje», seufzte das Mädchen. Und während seine kleinen Finger ihre Schärpe lösten, beobachtete sie ihn mit einer Mischung aus Mitleid, Eitelkeit und Ehrfurcht. Nach vollzogenem Akt ließ Tanuki das Mädchen erschöpft im Moos liegen und klopfte an die Tür des Bauern. «Verzeiht mir zehntausendmal, ehrenwerter Herr», sagte Tanuki mit einer tiefen Verbeugung. «Ich fürchte, ich war gestern nicht nur unhöflich, als ich so abrupt unser Gespräch unterbrach, sondern habe auch ein wenig übertrieben. Seht mich an, mein Herr! Seht mich genau an. Natürlich bin ich kein animalischer Ahne. Das wäre ja absurd! Nein, ich bin nur ein armes Waisenkind aus dem Wald, das gerade eine Pechsträhne hat und halb verhungert ist. Dieses Jahr sind Frösche und wilde Zwiebeln rar, und mein leerer Magen wäre Euch ewig dankbar, wenn...» 11
Ein wenig misstrauisch stellte ihm der Bauer eine Schale mit gekochtem Reis neben die Küchentür. Tanuki begann zu fressen, nahm absichtlich nur kleine Bissen und kaute sehr, sehr langsam. Als sein Gastgeber nach einer Weile gelangweilt seine Aufmerksamkeit wieder der Hausarbeit zuwandte, griff der Dachs plötzlich nach einem Fässchen Sake, das fast so groß war wie er selbst, und verschwand mit wirbelnden Beinchen und heftig baumelndem Beutel im Gebüsch, auf der Flucht vor der Axt des Bauern. An diesem Abend betrank sich Tanuki derart begeistert, dass es sogar dem Sake schwindelig wurde. Dazu trommelte er auf seinen dicken Bauch - pla-bonga, pla-bonga -, und sein Grinsen duellierte sich mit dem Mond. * Tanuki liebte selbst gebrannten Sake. Er liebte es, im Mondlicht seinen Bauchtrommeltanz zu zelebrieren, und er liebte es, sich an fetten Fröschen und Yamswurzeln gütlich zu tun, aber am allerliebsten vernaschte er junge Frauen. Dem ersten Erfolg mit der Bauerntochter folgten viele weitere Eroberungen. Im Lauf der Jahre genoss er zahllose Erfolge dieser Art. Diese Begegnungen machten ihm enormen Spaß, trotz der Tatsache, dass einige Mädchen später ziemlich merkwürdige Kinder zur Welt brachten. Deren Familien hielten sie für Dämonen und warfen sie entweder von einer Klippe oder ertränkten sie im nächstgelegenen Fluss. Schließlich aber hatte Tanuki die Nase voll von der offenen, schlichten Art der Bauernmädchen. Er begann, in die Städte einzudringen, wo die Frauen charmant und gebildet waren, sich in teure Seide kleideten, Gedichte rezitierten, erheblich besseren Sake tranken und nach Puder und Parfum dufteten statt nach Stall und Schweiß. 12
Wenn er sich in einen Garten oder Innenhof geschlichen hatte, schlenderte er mit schwingendem Gehänge und feurigem Grinsen zu einer der anwesenden Frauen. «Verzeiht mir», sagte er dann. «Ich bin ein einsamer Bewohner der violetten Berge, der nur von Eurer blendenden Schönheit in die Stadt gelockt wurde, und mein unschuldiges Wesen sehnt sich ...» Die Reaktion hing vom Alter der jeweiligen Frau ab. Wirklich junge Mädchen – fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahre alt – kreischten, als hätte Godzilla ein Ei in ihrem Badewasser ausgebrütet, nahmen ihre Getas in die Hand und liefen so schnell sie konnten ins sichere Haus. Mädchen in den Zwanzigern dagegen warfen ihm ihre Getas an den Kopf, warfen Bücher, Flöten, Teekannen, Eisenlaternen, Tintenfässer und Steine, und zwar mit einer solch gewaltigen Wucht, dass er Fersengeld geben musste, um sich in Sicherheit zu bringen. War das Objekt seiner Begierde aber dreißig oder älter, warf es ihm einen ruhigen, verächtlichen Blick zu, drohte ihm mit dem spitzen lackierten Zeigefinger und wies ihn kalt zurecht: «Du verstänkerst meine Chrysanthemenbeete, du obszöner Affe. Verkriech dich wieder in deinen schmutzigen Bau, sonst macht mein Diener Hackfleisch aus dir.» Jede weitere Abfuhr raubte Tanuki ein Stück mehr von seinem Selbstvertrauen, sodass es schließlich bis auf die Knochen abgenagt war. Mit eingekniffenem Schwanz – falls man diesen Stummel als Schwanz bezeichnen kann – verkroch er sich wieder in die Berge, so tief, dass weder das Licht einer Stadt, eines Dorfes noch eines Weilers die stummen Funksignale der Sterne dämpfen konnte. Nach einem halbherzigen Mahl aus modrig-blättrigen Pilzen schlürfte er ein Fässchen (selbst gebrannten) gestohlenen Reiswein und begann dann ein halbherziges müdes Tänzchen auf den abgefallenen Blättern. Gegen Mitternacht tauchte der Fuchs auf. «Was für ein armseliges Konzert!», schimpfte Kitsune. «Da 13
könnte ja selbst ich mit einem Zahnstocher auf Dampfklößen bessere pla-bongas produzieren als du auf deinem Bauch. Hast du denn überhaupt kein Gefühl für Rhythmus mehr?» Statt seinem ersten Impuls zu folgen und dem Fuchs das leere Fass an den Kopf zu schleudern, fing Tanuki an, die lange Liste seiner jämmerlichen Misserfolge in der Stadt herunterzuleiern. Es scherte ihn nicht mal, dass er dabei sein Gesicht verlor, und zwar eimerweise. Kitsune schüttelte den orangeroten Kopf. «Es ist mir völlig schleierhaft, wie du zu deinem Ruf als Schlitzohr gekommen bist. Jetzt hör mal gut zu, Sonnyboy! Zwar kann man alle Menschen übers Ohr hauen, aber nicht alle auf die gleiche Art und Weise. Den Köder, mit dem man einen Hinterwäldler angelt, wird ein gebildeter Kosmopolit ausspucken – oder er beißt erst gar nicht an. Es sei denn, der Köder ist mit Geld gespickt, jener verhängnisvollen Verlockung, die jeden Menschen, gleich welcher Fasson, zum Fisch degradiert.» «Ich habe nur gehört, dass man Sake dafür bekommen kann», entgegnete Tanuki. «Den guten.» «Gewiss, aber du müsstest ja erst das Geld stehlen, um es dann gegen Sake einzutauschen. Warum nicht gleich den Reiswein stehlen und auf den Zwischenhändler pfeifen? Geld! Bevor es erfunden wurde, waren die Menschen fast so schlau wie wir. Nicht dass du besonders schlau wärst! Diese ‹Bitte, hab mich lieb, weil ich ein einsames kleines Kuscheltier bin›-Masche ist doch was für Amateure. Für Haustiere und Teddybären. Du hast das komplizierte Gewirr des menschlichen Geistes immer noch nicht durchschaut. Nun, eins will ich dir verraten. Wenn du dich auf dem Futon einer Dame aalen willst, dann musst du die Gestalt eines Herren annehmen.» «Aber wie soll …» «Wie? Wie? Bist du nun ein animalischer Ahne, oder nicht?» Nachdem ihm unmissverständlich klar geworden war, dass er 14
an diesem Abend auf der Lichtung des Dachses weder was zu futtern oder zu trinken noch eine vernünftige Unterhaltung erwarten konnte, trabte Kitsune verärgert zurück in den Wald. Tanuki legte sich auf das welke Laub und versuchte, wieder den Grad an Nüchternheit zu erlangen, den er brauchte, um das, was der Fuchs gesagt hatte, richtig zu begreifen. Einige Schneeflocken fielen vom Himmel, träge und zögernd. Sie segelten so langsam herab, als ließen sie sich Zeit, damit Tanuki – oder sonst wer – sie bemerkte. Als warteten sie darauf, dass ein staunender Zuschauer ihre Schönheit entdeckte und erkannte, dass keine Schneeflocke der anderen gleicht. Bleibt nur die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Schneeflocken dazu übergingen, ihrer eigenen PR zu glauben? * Das war der erste Schneefall des Winters gewesen. Als es am Ende des Winters, so gegen Mitte März, zum letzten Mal schneite, warf die Gestalt, die sich auf der Lichtung des Dachses erhob, einen menschenähnlichen Schatten. Die Flocken fielen nur geringfügig schneller als ihre unerschrockenen Wegbereiter im November, warfen sich trotz der Brise in die Brust und hauchten zittrig, aber vernehmlich: «Regardez-moi. So was wie mich habt ihr noch nie gesehen und werdet ihr auch nie wieder sehen.» Die allerletzte Flocke in der Schlange (eingebildet bis zum Schluss) landete auf einem Lid, das zu Toshiro Mifune gepasst hätte, inklusive Epikanthus. Von dort schnippte ein Daumen sie ohne viel Federlesens weg. Nicht eine Kralle, sondern ein Daumen. Tanuki hatte fast den ganzen Winter gebraucht, um seine Verwandlung zu vervollkommnen – falls man von Vervollkommnung überhaupt sprechen kann. Verwandlungen lagen natürlich im Rahmen seiner übernatürlichen Fähigkeiten, 15
aber es war harte Arbeit, und ein Tanuki findet nun mal wenig Gefallen an harter Arbeit. Eine Metamorphose, egal wie vorübergehend sie geplant ist, erfordert äußerste Konzentration und lässt sich nicht etwa wie im Märchen mit einem Zauberstab und einem Simsalabim! bewerkstelligen. Obendrein kommt es vor, dass der gedankenlose Konsum von Sake diverse Schrauben des Verstandes lockert. Folglich konnte man in der Gestalt, die sich vor dem Eingang ihres Baus reckte und streckte, bei näherem Hinsehen so manchen Makel erkennen – kein Wunder angesichts von Tanukis Faulheit und häufiger Trunkenheit. Er selbst machte sich darüber keine Sorgen. Er zog ohnehin den Dachskörper vor und hielt ihn (nicht ganz ohne Grund) für eine weichere und trotzdem kräftigere, flexiblere und effizientere Hülle als die der berühmtesten Schauspieler, Sportler oder Krieger. Vielleicht hatte er immer noch nicht raus, wie der menschliche Geist funktioniert, kannte sich mittlerweile aber besser denn je mit den biomorphen Grenzen des menschlichen Körpers aus. Neben seiner animalischen Anmut und dem herrlichen Wildgeruch gab es Kleinigkeiten wie ein Fellbüschel hier oder einen scharfen Reißzahn dort, mit denen sich seine neuen Damenbekanntschaften abfinden mussten. * April. Wie ein Juckreiz lag der Frühling über dem Land. Die ganze Landschaft schien sich wach zu kratzen – träge und träumerisch, gelegentlich aber auch so heftig, dass die Nägel auf Knochen stießen, altes kaltes Kalzium unter unseren diversen prickelnden Gelüsten. Winzige Frösche wurden aus Dreck und Schlamm gescharrt und unvermutet ins Wachsein katapultiert. Winzige Knospen, leuchtend wie Blasen, aus den Hartholzzweigen gescheuert. Und die Bäume, die so besoffen waren von ihrem Saft, wie Tanuki es vom Alkohol nie sein 16
würde (obwohl sie sehr viel mehr Würde ausstrahlten), schrappten lange Blue Notes vom Himmel. Tausende von Insekten ließen ihren Motor warmlaufen und warteten nervös auf den diesjährigen Grand Prix von Nektar und Blut. Das satte Schwarz der im Dezemberschnee so bedrohlichen Krähen verblasste. Die zarten Farben des Frühlings nahmen vorweg, was Technicolor eines Tages aus Boris Karloff machen sollte. Doch kein sanfter goldener Strahl hatte ihre unheimlichen Schreie mildern können, und so probten die Krähen ungerührt weiter für ihre Dämonenrolle in einem imaginären Kabuki-Stück. Ihr Kreischen übertönte in regelmäßigen Abständen das Piepsen und Summen ringsum. Es hatte wohl die Funktion eines Signalhorns, denn mittlerweile war die Natur definitiv auf den Beinen und traf Anstalten, sich tüchtig ins Zeug zu legen. Auch Tanuki stand auf und blinzelte in die Morgensonne. Er wusch sich das Gesicht, inspizierte die Vorräte in seiner Speisekammer und packte ein wenig Proviant in ein blauweißes Bento-Tuch. Der Frühling hat etwas an sich, das jeden Zweifel ausräumt. Wenn der April kommt, macht sich das Veilchen keine Sorgen mehr, ob seine Karriere am Ende sein könnte. Der Müllerssohn glaubt wieder daran, dass er die Prinzessin erobern kann. Gräser und alte Jungfern werfen ihre frostige Rüstung ab. Genauso zuversichtlich war offenbar auch Tanuki. Mit seinem animalischen Körper kletterte er einen blumenübersäten Hang bis hinauf zu einem Felsmassiv, wo Flechten blühten wie ein Hautausschlag, und stieß vor bis zum Fuß eines Wasserfalls. Dort begann er, Bambus zu schlagen und Stämme zu sammeln, offensichtlich in der Absicht, sich ein Floß zu bauen. Doch stellte sich bald heraus, dass die Holzbearbeitung und das Verbinden der Stämme mehr Arbeit machte, als der Dachs gedacht hatte. Nach einer schweißtreibenden Stunde gab er auf. Anschließend watete er in den Fluss und ließ seinen 17
aufgeblähten Hodensack auf der Wasseroberfläche treiben, wobei die Klöten als Pontons fungierten. Dann beugte er sich vor und verlagerte sein Gewicht vorsichtig auf diese unglaublichste aller Barkassen. Banzai! Er überließ sich der Strömung, und der von der Schneeschmelze geschwollene Fluss trug Tanuki rasch mit sich. Fünfzig Meilen weit. Bis nach Kyoto. * Meet me in Cognito, baby, In Cognito we’ll have nothing to hide. Let’s go incognito, honey, And let the world believe that we’ve died. Inkognito, bis über beide Ohren als Mensch verkleidet, verbrachte Tanuki seinen ersten Tag in Kyoto damit, Straßenbahnen und Rikschas aus dem Weg zu gehen und den Kopf einzuziehen, um nicht gegen Lampions mit flackernden Kerzenherzen oder nackte elektrische Glühbirnen zu stoßen. So groß wie ein Mensch zu sein – daran musste er sich erst gewöhnen. Kyoto befand sich in einem Übergangsstadium und trippelte gerade vom Feudalismus in die Moderne. Dieser kontrastive Zustand war unserem seltsamen Besucher in gewissem Sinne ganz recht, denn Tanuki, der animalische Ahne, lebte außerhalb der Zeit. Zwar kam er mit allen möglichen Arten von Anachronismen zurecht, doch das Stadtleben war nicht seine Sache. Leider haben sich Zivilisation und wilde Natur noch nie richtig vermischen können, und im vorliegenden Fall konnte man zwar den Quasidachs aus dem Wald, nicht aber den Wald aus dem Quasidachs prügeln. Die verstohlene Art, mit der er sich in der Stadt herumdrückte, 18
an Garküchen schnüffelte, die Geishas beäugte; die Gier, mit der er den Sake kippte und sein Fleisch verschlang; die lässige Unverfrorenheit, mit der er auf seinen Bauch trommelte oder in den Zähnen stocherte, und das bei gesellschaftlichen Anlässen, wenn er lieber dem Kaiser hätte huldigen oder ein Lieblingshaiku hätte rezitieren sollen, aber auch die Intensität seines Blicks, wenn er zufällig den Mond oder einen Schwarm über sich hinwegfliegender Wildgänse entdeckte: All das entlarvte Tanuki in Kyoto als Landei. Wie gesagt, an Charme mangelte es ihm nicht, und seine Anziehungskraft hatte die Verwandlung von der Bestie zum Menschen überlebt. Zudem gab es vornehme Stadtfrauen, die seine bäurischen Manieren in der Tat unwiderstehlich fanden, als erregenden Einbruch des Barbarischen in die Zivilisation. Aber rustikales Flair ist eine Sache, und struppige graue Fellbüschel in den Kniekehlen des Liebhabers eine ganz andere – kaum hatte er sich vor ihnen entkleidet, flohen viele Damen und Kurtisanen, so schnell ihre zitternden Beine sie trugen, wieder in die Zivilisation zurück. Doch nicht alles war verloren. Wie die Weisen uns gelehrt haben, lässt sich über Geschmack nicht streiten. Offensichtlich gibt es Frauen, die auf behaarte Männer abfahren und nicht aus der Fassung geraten, wenn sie ein zottiges Haarbüschel entdecken, das wie eine verirrte Puppenperücke auf dem Körper ihres Bettgenossen sprießt. Schließlich gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass Tanuki ein wilder Kerl war, oder? Die pelzigen Auswüchse gehörten dazu. Mehr oder weniger. Es gab aber noch ein anderes Problem, einen echten coup de grâce. Nehmen wir an, eine Frau ist seinem rauen Charisma erlegen, und sein absonderliches Fell hat ihre Glut eher entfacht als gedämpft. Die Frau lagert auf ihren seidenen Kissen und erwartet den Eröffnungsstoß, als sich plötzlich der Dachsschwanz aufrichtet. Dieses stummelartige Anhängsel, das er in seiner Schlampigkeit zu transformieren vergaß und sie in 19
ihrer Leidenschaft bislang nicht bemerkte. Jetzt, da ihn die Erregung gepackt hat, flutscht das Teil aus seinem Versteck und fängt an heftig zu wedeln. (Vergessen Sie nicht, dass das Plasma eines Tanukis ziemlich perfekt der Genealogie eines Hundewelpen nachkläfft.) Tja, und damit war dann gewöhnlich die Sache gelaufen. Wäre der Coitus interruptus ein Land, hätte ihm Tanukis Schwanz als Flagge dienen können. Nur eine von Kyotos Schönheiten, die Dame Ogumata, erlaubte ihm, mit der Aufführung fortzufahren, nachdem der Schwanz die Bühne erobert hatte. Es erübrigt sich, auf das Gefühl des Triumphs einzugehen, das Tanuki beflügelte. Einige Abende später kehrte er erwartungsvoll zu ihrem Haus zurück, doch das Hausmädchen erklärte, seine Herrin sei ans Meer gefahren, «um sich ausgiebig zu erholen». Tanuki hatte Kyoto bald satt. Die Frauen waren ihm zu wählerisch, die Luft zu rauchig, die Straßen zu überfüllt, die Menschen zu laut, und es gab viel zu viele Regeln. Man konnte die Grillen nicht hören, nicht mal die Hälfte der Sterne sehen, und die Bäume wurden abgeschlagen, um Platz für mehr Häuser und Läden zu schaffen. «Wieso fällen sie die Bäume und lassen die Menschen stehen?», brummte Tanuki. «Bäume sind doch viel nützlicher als Menschen. Jeder weiß das, nur die Menschen nicht.» Vielleicht lag er da gar nicht so falsch. Bäume produzieren Sauerstoff, Menschen atmen ihn bloß ein, vergiften und missbrauchen ihn. Bäume halten die Erde zusammen; Menschen wühlen sie unablässig auf. Bäume bieten zahllosen Spezies Zuflucht und Schutz, Menschen dagegen bedrohen deren Existenz. Wenn es sie in genügender Anzahl gibt, halten Bäume das Klima im Gleichgewicht; Menschen gefährden den Planeten, indem sie dieses Gleichgewicht zerstören. Im Schatten eines Menschen kann man sich nicht ausruhen, nicht mal, wenn er ein Fettwanst ist. Und ist es nicht erfrischend, dass Bäume 20
periodische Veränderungen durchmachen, ohne deswegen einen Nervenzusammenbruch zu kriegen? Wer strahlt mehr Würde aus – oder die friedlichere spirituelle Präsenz: ein Baum oder der typische Homo sapiens? Und das Beste von allem: Welcher Ahorn, welche Zypresse hat je versucht, einem was anzudrehen, was man gar nicht haben will? Zu platt? Und wennschon! Tatsache ist, dass unser Freund die Nase allmählich voll hatte. An dem Abend, als er von Ogumatas Flucht erfuhr, zog er sich zwischen einen menschenleeren Kiefernhain und eine alte Steinmauer am Stadtrand zurück, wo er sich in einem nur zehnminütigen Prozess in einen Nyctereutes procyonoides zurückverwandelte. Es war nicht das erste Mal seit der Ankunft in Kyoto, dass er seine Tiergestalt wieder annahm, aber noch nie hatte es sich so gut angefühlt. Genau in dem Augenblick, als seine Verwandlung vollzogen war und er wieder in der geschmeidigen Zähigkeit animalischer Kraft und dem beruhigenden Gewicht schwerer Bälle schwelgte, hörte er ein leises Pfeifen und eine sanfte weibliche Stimme von der Mauer her. «Aha. Ah so. Du warst also wirklich eine Art Magier aus einer anderen Welt!» Tanuki sträubten sich die Haare. Irgendein schamloses Menschenwesen war ihm gefolgt und hatte seine Verwandlung entdeckt! Das durfte nicht sein! Mit gefletschten Zähnen wirbelte er herum, erhob sich auf die Hinterbeine und fauchte. «Als wir uns das letzte Mal trafen, warst du nicht so unfreundlich, Tanuki-san.» Die Stimme klang weich, hatte aber einen spöttischen Unterton. Der Dachs sah eine Gestalt in einem schmalen, unauffällig in der Mauer eingelassenen Tor. «Kennen … kennen wir uns denn?», stammelte er. «Allerdings!» Die Frau trat aus dem Tor. «Aber es ist zwölf Jahre her, in denen du sicher vielen anderen armen Mädchen dasselbe angetan hast wie mir.» 21
Der jungen Frau war nicht bewusst, dass für ein Wesen wie ihn zwölf Jahre ihrer Zeitrechnung so viel wie ein ganzes Jahrhundert sein konnten. Oder bloß vier Minuten. Sie wusste nur, dass sie mit neunundzwanzig jetzt ein Dutzend Jahre älter war als in der Nacht, als er sie im Moos neben dem Familienbrunnen vernascht hatte. Denn ja, sie war die Bauerntochter Miho, seine erste Eroberung, nachdem er sich mit dem Fallschirm von der Wolkenfestung auf die Erde abgeseilt hatte. Dort oben hätte er sich vor einem zornigen Götterrat verantworten müssen, einberufen und geleitet vom verärgerten Gott der Mäßigung und der reichlich angesäuerten Göttin der Nassen Nudeln. (Wenn seine Schutzpatronen, die Göttin für Bagatelldiebstähle, der Gott der Rülpser und der Gott der krummen Touren, ihm nicht zur Flucht verholfen hätten, wäre Tanuki womöglich für immer von unserer Welt verbannt worden. So oder so ähnlich heißt es jedenfalls.) Miho stellte sich noch einmal vor, und als Tanuki auf sie zuging, erinnerte sie ihren ehemaligen Verführer an ihre kurze Liaison am Brunnen. Sie erzählte, dass sie schwanger geworden sei und ein wundervolles, in jeder Hinsicht normales Baby auf die Welt gebracht habe – abgesehen davon, dass seine Ohren ein wenig spitzer als normal waren und es bereits bei der Geburt den winzigen Ansatz eines Schnäuzchens hatte, was allerdings nur einem unverbesserlichen Prinzipienreiter aufgefallen wäre. Ach ja, und sein Hodensack war halb so groß gewesen wie sein Kopf. Aber es war hübsch. Hübsch und süß. Und es gehörte ihr. Trotzdem hatte ihre Mutter es verflucht, ihre Brüder hatten es ausgelacht, und ihr Vater hatte es in den Abgrund geworfen. Den Abgrund, wo die Wildschweine hausten. «Dieser Holzkopf!», brummte Tanuki. «Ich hätte ihn noch gründlicher vermöbeln sollen.» Er hielt inne. «Aber sein Sake ist nicht übel.» Die in Ungnade gefallene Miho war von dem Bauernhof nach 22
Kyoto geflüchtet. «Ich hatte gehofft, als Kurtisane Karriere zu machen», erklärte sie. «Aber jedes Mal, wenn eine Mama-san mich in einem Geishahaus betrachtete, sah sie die Schwangerschaftsstreifen, die dein Sohn auf meinem Bauch hinterlassen hatte, und schickte mich weg. Ich war am Verhungern, hatte keinen Platz zum Schlafen und war auf dem besten Weg, als Straßenmädchen zu enden, als mich die Mönche des Klosters zusammengekauert vor diesem Tor fanden und aufnahmen.» «Mönche?» Jetzt erst bemerkte Tanuki die vertraute geschwungene Silhouette des Tempeldachs, das sich in der Dunkelheit hinter der Steinmauer erhob. «Ich dachte, Mönche erlauben keine Frauen im Kloster.» «Ja, aber es sind Zenmönche. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Buddhisten fürchten sie sich nicht vor der Versuchung. Und im Gegensatz zu den blauäugigen europäischen Teufeln, die heutzutage Kyoto unsicher machen, haben sie auch keine Heidenangst vor Ideen, die nicht mit den ihren übereinstimmen. Zenmönche fürchten sich vor gar nichts.» Ein Hauch von Stolz schwang in Mihos Stimme mit. Dann fügte sie hinzu: «Aber ich muss hart arbeiten, die Böden schrubben und das Essen machen. Jeden Morgen stehe ich um vier Uhr auf und komme nur selten vor Mitternacht ins Bett.» Es gab nur wenig Licht, trotzdem bemerkte Tanuki die Erschöpfung in ihrem Gesicht. Ihre Nase war eine Spur zu schief geraten, der Mund ein Runzel-Gen zu nah an einer Dattelpflaume, um sie als klassische Schönheit gelten zu lassen, doch sie besaß den langen anmutigen Hals, den ihre Landsleute so bewunderten, und bot im Großen und Ganzen einen überaus angenehmen Anblick. Sie könnte noch hübscher sein, dachte Tanuki, wenn diese Mönche nicht so verdammt furchtlos wären, sobald es darum geht, anderen Arbeit aufzuhalsen. «Ich nehme an, dass du mich hasst», sagte er und scharrte mit der Fußspitze am Boden, als wollte er sich jeden Augenblick 23
davonmachen. «O nein», antwortete sie hastig. «Ganz und gar nicht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich Kyoto mit seinen hellen Lichtern, Straßenmusikanten, Tempeln, Samurais, Festen und feinen Kimonos niemals gesehen. Ich würde immer noch im Hof die Hühner füttern und Tag und Nacht einem Schafskopf von Ehemann dienen, statt einem Trupp lebenslustiger Zen-sensai. Du hast das berechenbare Muster meines Lebens durchbrochen. Und auch wenn Ungewissheit und Veränderungen ziemlich unangenehm sein können, ein Leben ohne sie ist nur ein Marionettentheater.» «Du hörst dich schon genauso an wie die Mönche», brummte Tanuki. Miho errötete. «Ja, vermutlich haben sie meine Überzeugungen beeinflusst.» Sie zögerte. «Hör mal, Tanuki-san. Ich will dir nicht zu nahe treten … aber zufällig habe ich andere Mädchen in Kyoto getroffen, die ebenfalls einen unehelichen Spross von dir zur Welt gebracht haben, und sie erzählen immer dasselbe. Wir alle laufen mit einem gebrochenen Herzen herum – kein Wunder, immerhin hat man unsere Kinder umgebracht. Das ist ein nie endender Kummer für uns, aber obwohl du unser unschuldiges Verlangen ausgenutzt hast, sind wir froh, dass du unser Leben auf den Kopf gestellt und uns neue Wege gezeigt hast, die wir von allein nie gefunden hätten. Ich glaube, in unser aller Namen zu sprechen, wenn ich sage, wir sind dir dankbar, dass du uns ruiniert hast.» Miho lächelte diskret und senkte den Blick. Tanuki, der noch wenige Minuten zuvor vor ungerechtfertigter Überheblichkeit gestrotzt hatte wie ein verwöhntes Kind oder der Basketballtrainer eines Colleges, wurde nun ungewöhnlich nachdenklich. Sein Gesicht, das Miho vielleicht wegen der langen abgerundeten Schnauze an einen Fahrradsattel erinnerte, nahm nun einen derart nachdenklichen und versunkenen Ausdruck an, dass man hätte meinen können, der Sitz würde von 24
Buddhas bleischweren Pobacken platt gedrückt. Er dachte an Kitsune. Der Fuchs spielte den Menschen ständig üble Streiche und behauptete dann, dass sein Unfug ihnen letztendlich zugute komme, weil er sie flexibel und erfinderisch machte – das sei für ihren Fortschritt von entscheidender Bedeutung. Tanuki hatte immer geglaubt, dass der Fuchs sein Verhalten nur hatte rechtfertigen wollen, was gar nicht nötig gewesen wäre. Für ihn – Tanuki – war der Spaß an der Sache Rechtfertigung genug, und der Fortschritt der Menschheit interessierte ihn nicht die Bohne. Wenn aber Miho die Wahrheit sagte, hatte sein sorgloses Vergnügen unbeabsichtigt bei mehreren Frauen positive Veränderungen in Gang gesetzt. Was sollte er davon halten? Tanuki war unsicher. Er hatte ein bestimmtes Gefühl, doch das war derart überraschend und fremd, dass es in den Annalen des Tanukitums keine Vorläufer hatte. Noch bevor er es richtig fassen konnte, unterbrach Miho seine Gedanken. «Ich muss jetzt den Abendtisch abräumen», sagte sie. «Ich bin froh, dass ich dir das alles endlich mal sagen konnte. Eines Tages, Tanuki-san, würde ich gern erfahren, was einen bodenständigen Kerl wie dich in die große Stadt verschlagen hat. Komm mal wieder vorbei, dann mache ich uns einen Tee.» «Sake», entgegnete Tanuki, doch es blieb offen, ob er damit sagen wollte, dass der Sake ihn in die Stadt gelockt hatte oder er sich beim nächsten Mal Reiswein statt Tee wünschte. * Tanuki hatte vorgehabt, in seine alten Jagdgründe zurückzukehren (richtiger wäre vielleicht: seine alten «Trommelgründe»). Die lagen zum größten Teil in der Bergkette, die sich am Rückgrat von Hondo entlangzieht, obwohl er bekanntlich auch das Hinterland von Hokkaido 25
unsicher gemacht hatte. Doch kaum hatte er den Fuß der Hügel westlich von Kyoto erreicht, entdeckte er zufällig eine flache verlassene Höhle, in der er sich verkroch. Um zu trauern. Ja, so war es. Das neue seltsame Gefühl, das Tanuki überrumpelt hatte, war nichts anderes als Trauer. Vor allem Trauer um seine toten Nachkommen. Diese Empfindung war ebenso irritierend wie fremd. Er mochte sie ganz und gar nicht und fluchte, weil er keinen Sake hatte, mit dem er sie vielleicht hätte vertreiben können. Doch statt in den Höfen der Nachbarschaft ein oder zwei Krüge Reiswein zu organisieren, harrte er in der Höhle aus und stellte sich diesem Gefühl. In dem steifen schwarzen Buch, das die «europäischen Teufel» immer bei sich hatten, egal, wo sie hingingen, stand der Satz: «Gott vergibt alles, nur nicht die Verzweiflung.» Die Missionare weigerten sich hartnäckig, über solche Aussagen mit den Zenmönchen zu diskutieren, die sie höflich darauf ansprachen. («Die Blauäugigen können weder Weisheit noch Ruhe erlangen», behauptete einer von Mihos sensais, «weil sie alle Hände voll damit zu tun haben, vor Begeisterung über das Leid der Verdammten zu klatschen.») Der ungebildete und desinteressierte Tanuki wäre von selbst niemals darüber gestolpert. Trotzdem besaß er ein instinktives Wissen (eine Intuition, die, zugegeben, gelegentlich von Kitsune wachgerüttelt werden musste), das ihm sagte, Verzweiflung ist letzten Endes selbstzerstörerisch und eine Last für die anderen. Wenn man sich seiner Verzweiflung überlässt, verlieren die Götter früher oder später die Geduld und schicken einem etwas, das einen wirklich zur Verzweiflung treibt. Was gab wohl den stärksten Ausschlag bei Tanukis Trauer? Das Empfinden eines persönlichen Verlusts? Oder war es der Schmerz über das tragische Phänomen der Kindstötung (die doch in manchen Teilen Asiens Tradition hat)? Und welchen Anteil hatte die simple Neugier, welche Art von Kindern wohl aus seiner speziesübergreifenden Paarung mit Frauen entstanden 26
waren? Wir werden es nie erfahren. Selbst wenn es in der Hauptsache blanke Neugier gewesen wäre, hätte man ihn nicht verurteilen dürfen, denn erst die Neugier – vor allem ein intellektueller Wissensdurst – unterscheidet die wirklich Lebendigen von denen, die nur so tun als ob. Jedenfalls ist es bei Menschen so. Was auch immer die Trauer des Dachses ausmachte, er schwelgte nur eine Woche darin. Dann schritt er an einem strahlenden Oktobermorgen zur Tat. Mit laut knackenden Sehnen, krachenden Muskeln und knirschenden Knochen – einer physischen Kakophonie, die sämtliche Mäuse, Hasen und Vögel aus der Nachbarschaft in die Flucht schlug – nahm er erneut menschliche Gestalt an und machte sich auf den Weg nach Kyoto. * Meet me in Cognito, baby, Of course we’ll have to color our hair. The best thing about life in Cognito Is that everybody’s nobody there. Klopf! Klopf! «Wer da?» Bevor Tanuki antworten konnte, öffnete sich das Tor einen Spaltbreit und gab den Blick auf Mihos Gesicht frei. Sie wirkte verwirrt. «Verzeiht, mein Herr, aber das hier ist der Dienstboteneingang.» Offensichtlich hatte man am Hintereingang des Klosters noch nie so einen vornehmen Tokugawa-Kimono gesehen, wie Tanuki ihn trug (er hatte ihn von einer Wäscheleine in einem wohlhabenden Viertel der Stadt 27
mitgehen lassen). «Was wollt …» «Ich bin’s. Persönlich.» Tanukis Stimme klang, als hätte man sie mit einem rostigen Topfdeckel aus einem ausgetrockneten Flussbett gescharrt. Sie kam ihr bekannt vor, zweifellos, aber sie konnte sie nicht einordnen, nicht in Verbindung bringen mit dem eleganten, höchstens ein wenig zerzausten Herrn, der vor ihr stand. «Ich, verdammt! Dein Ruin!» Plötzlich flammte eine Glühbirne in Mihos Kopf auf. Vielleicht war es auch ein guter alter Lampion. «Oh! Ah so! Tanuki-san! Du hast wieder deinen alten Bäumchen-wechsledich-Trick gemacht, was?» Wenn sie Tanuki in seiner menschlichen Gestalt vor sich hatte, empfand sie dasselbe Unbehagen, wie wenn der Abt des Klosters ihr Sutras rezitierte, während er auf dem Klo saß. Trotzdem bat sie ihn herein. Offenbar war der Abt samt seinen Mönchen an diesem Tag in aller Herrgottsfrühe in die Berge aufgebrochen. Das machten sie jedes Jahr, um das Herbstlaub zu betrachten. Tanuki musste ihnen unterwegs begegnet sein. Sie hatten Miho mit drei Novizen zum Schutz des Klosters zurückgelassen, doch kaum war das morgendliche Zazen vorbei, hatten die Jungs ihre neue Freiheit genutzt und waren mit der Straßenbahn ins Vergnügungsviertel der Stadt gefahren, um irgendeine KabukiVorstellung zu besuchen. So hatten Tanuki und Miho das Kloster für sich. Wenn man Tanukis Neigungen kennt und Mihos Anfälligkeit erahnt, kann man sich ungefähr vorstellen, was sich an diesem Nachmittag und Abend im Kloster abspielte. Eins mag jedoch verwundern. Miho wollte sich erst näher mit Tanuki einlassen – tafeln, trinken, tanzen oder turteln –, nachdem er sich unter lautem Knacken, Krachen und Knirschen wieder in einen Dachs verwandelt hatte. Ohne Zweifel war Tanuki von ihrer Forderung überrascht und 28
zugleich gerührt, soweit er zu dieser Art von Empfindung fähig war. «Mir ist ein echter Bösewicht lieber als ein falscher Held», erklärte sie gelassen. Vermutlich war ihre seltsame Neigung psychologisch erheblich schwieriger zu erklären, aber darüber wollte sie sich nicht auslassen. Tanuki glaubte, sie gäbe lediglich eine abstruse ZenPhilosophie zum Besten, fasste ihre Aussage jedoch als Kompliment auf und war überzeugter denn je, mit ihr die richtige Wahl getroffen zu haben für … für das, was er im Schilde führte. * Pla-bonga, pla-bonga. Der Klang, satt und rund und trotzdem irgendwie hohl, hallte durch den Tempel und dessen Umgebung. Pla-bonga, pla-bonga. Meilenweit. Manchmal waren es seine Pfoten, die auf dem Wanst den Rhythmus trommelten, während sie im Hof tanzten, manchmal war es sein dicker fester Bauch, der gegen ihren flachen weichen klatschte, als sie … pla-bonga, pla-bonga. Sie ein Meter sechzig, er höchstens halb so groß. Trotzdem gelang es ihm, sie … pla-bonga, pla-bonga. Die Bauern auf den nahe gelegenen Höfen wechselten ernste Blicke. «Sieht ganz danach aus, als stünde ein harter Winter bevor», sagten sie. «Die Tanukis fallen in die Städte ein.» Die Nachbarn brachten es nicht mit dem Trommeln in Verbindung, aber aus der Ferne schien das Kloster zu glühen und zu leuchten. Kleine Pfützen – keineswegs nur verschütteter Sake – glitzerten auf Mihos Futondecke, den Kacheln neben der Badewanne, auf den Tatami-Matten vor dem Schrein, auf zwei niedrigen Tischplatten und einer Truhe aus Zedernholz. Er füllte ihr Fass bis zum Anschlag. Dann brachte er es zum Überlaufen. Trotzdem blieb noch genug übrig, um mehrere 29
Räume samt Mobiliar mit einer Glasur zu versehen. Um Mihos eigenen Beitrag bereichert, nicht zu vergessen das silbrige Mondlicht und Spritzer vom besten Wein des Abts, erstrahlte der ganze Tempel in verschärftem Glanz. Zugleich war es – was Außenstehende aber nicht mitkriegten – ziemlich glitschig. Verwegene Mäuse, die durch den viel versprechenden Duft in der Hoffnung auf exotische Gelage angelockt wurden, gerieten ins Schleudern und prallten gegeneinander wie kleine Rennwagen auf einer Eisbahn. Motten und Moskitos klebten an den Wänden und versuchten, sich durch heftiges Flattern zu befreien. Auf dem Boden rieb eine Grille die Beine aneinander und konnte sie nicht mehr lösen. Die nächsten beiden Tage verbrachte Miho damit, das ganze Kloster zu wischen und zu wienern. Als die Mönche schließlich zurückkehrten, waren alle Spuren von Tanukis Ergüssen beseitigt, obwohl sie selbst beim Gehen immer noch ein wenig tropfte. Die zerbrochenen Becher und den fehlenden Sake mussten die Novizen auf ihre Kappe nehmen. * Fast drei Monate vergingen, ehe Tanuki in den Tempel von Kyoto zurückkehrte. Klopf! Klopf! «Wer da?» «Ich. Persönlich.» «Der Persönlich, der mich um den Verstand gebracht und dann verlassen hat?» In Mihos Stimme war nicht der geringste Vorwurf zu hören – sie hatte nichts anderes erwartet –, nur ein Hauch von Traurigkeit. Auch in ihrem Gesicht spiegelte sich Kummer, und nachdem sie das kleine Tor geöffnet hatte, fragte er, was es damit auf sich hatte. «Ich muss den Tempel verlassen», erklärte sie. «Ich werde mich von meinen weisen Mönchen verabschieden müssen.» 30
«Wegen des Sake?» «Wegen des Kindes.» Sie klopfte sich auf den Bauch, der noch nicht angefangen hatte zu schwellen. Tanuki grinste. Man hätte kaum behaupten können, er sei überrascht. Hatte er nicht genug Samen erzeugt, um Atlantis und halb Pompeji wieder zu bevölkern? (Mit was für Bewohnern, ist eine andere Frage.) «Gut», antwortete er schlicht. «Die Mission ist beendet. Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen. Du wirst meine Frau sein.» Miho war verblüfft. «Aber – aber ich kann doch keinen – keinen Dachs heiraten.» «Ich bin kein Dachs. Und wer sagt, dass du das nicht kannst?» Sie dachte einen Augenblick nach. «Nun … niemand.» Sie dachte noch etwas länger nach. «Aber ich kann doch nicht im Wald leben wie ein wildes Tier.» «Natürlich kannst du das.» «Oh.» Sie hielt inne. «Von der Seite habe ich es noch nie gesehen.» Eine Stunde später, nach Einbruch der Dämmerung, machte sich das seltsame Paar auf den Weg in die Berge. * Der Weg war leicht mit Pulverschnee bedeckt. Gelegentlich wirbelte ein Windstoß eine kleine Wolke davon auf, die man kaum von dem blassen Reispapiermond über dem Paar oder den Atemwölkchen vor ihrem Mund unterscheiden konnte. Sie hielten sich an der Hand wegen der Wärme darin, und vor ihnen lag steif gefroren der schmale Weg. Sie waren noch keine drei oder vier Meilen weit gekommen, als ein Trio von ronin, arbeitslosen freiberuflichen Samurai, ihnen den Weg versperrte. Sie waren alternde Relikte aus 31
feudalistischeren Zeiten. Zuerst glaubten die zwielichtigen ronin, Miho hätte ein Kind im Schlepptau. Zwar sprachen ihre lüsternen Blicke Bände, doch das bisschen Ehre, das sie noch besaßen, bewog sie dazu, die Mutter passieren zu lassen. Unglücklicherweise zog genau in diesem Moment eine Wolke vor dem Mond weiter. «Aha!», rief einer der Samurai. «Seht ihr dasselbe wie ich? Dieses hübsche Flittchen führt ihr Haustier spazieren.» Was für ein Tier, sagte er nicht. Zwar hatte er anlässlich der einen oder anderen Schlacht schon mal Tanukis im Wald trommeln hören, doch war ihm noch nie einer begegnet. «Das ist kein Haustier», berichtigte ihn Miho scharf. «Es ist mein …» Sie verstummte. Das Wort wollte ihr nicht über die Lippen, und vermutlich war es auch besser so. Die Männer drängten sich um Miho, was Tanuki zu einem drohenden Knurren veranlasste. Daraufhin zog einer der Samurai ein abgewetztes Schwert aus der Scheide, so alt und verrostet, dass es eher ein Öl- als ein Blutbad hätte vertragen können. Er zielte auf den Kopf des Quasidachses, war aber etwas betrunken und seit Jahren aus der Übung. Tanuki wich ihm mühelos aus und bohrte dem schäbigen Samurai seine Fänge in die Kniescheibe. Das laterale Kollateralband wurde zerfetzt, der mittlere Meniskus gelockert. Der Angreifer brüllte, fasste sich ans Knie und ließ dabei das Schwert fallen. Als das lädierte Bein sein Gewicht nicht mehr halten konnte, brach er zusammen. Daraufhin wandte sich Tanuki mit gefletschten Zähnen dem zweiten Samurai zu, doch im gleichen Moment schlich sich der dritte von hinten an und verpasste ihm einen derart kräftigen Tritt in den Hintern, dass er in hohem Bogen über den Weg flog und kopfüber im eisigen Sumpf eines Reisfeldes landete. Lachend und sabbernd packten die beiden anderen Samurai Miho an den Armen. Während der eine sich seiner Unterwäsche entledigte, schwang der andere drohend das Schwert. 32
Doch Miho und ihre Brüder hatten beim Spielen auf dem Hof unzählige Duelle mit Holzschwertern ausgefochten. Außerdem war sie kräftig, wie ein richtiges Mädchen vom Land. Kein Wunder also, dass sie das Schwert vom Boden aufhob und mit einem wuchtigen, genau platzierten Hieb dem Übeltäter die Hand samt Schwert abhackte. Eigentlich nicht ganz: Die abgeschlagene Hand baumelte noch an einer blutigen Sehne, so, als schlürfte sie eine udon-Nudel und wollte sie partout nicht loslassen. Ein Fuchs, der das Ganze aus einem nahe gelegenen Dickicht beobachtet hatte, sagte sich: «Sieht ganz danach aus, als hätte der unbedachte Tanuki sich mit einer Menschenfrau eingelassen. Das ist zwar alles andere als klug, aber wenigstens scheint sie Mumm in den Knochen zu haben.» Im selben Augenblick kam Tanuki aus dem Reisfeld getrottet, triefend von Schlamm, Wasser, Eiskristallen und Dünger. Er knurrte laut und bedrohlich. Er trommelte sich auf den Wanst. Er schwang seine riesigen Hoden. Blaue elektrische Blitze zuckten aus seinen Augen. Kitsune stimmte von seinem Dickicht aus ein, nur zum Spaß, und übertönte ihn noch mit seinem wilden Fuchsgebell. Die drei zu Tode erschrockenen, übel zugerichteten und verwirrten ronin hinkten und krochen an den Wegesrand. So war der Weg frei für die Frau und das Biest, die zu ihrem künftigen Heim in den Bergen weiterzogen. Während die beiden sich in der Ferne verloren, Miho mit einer obi-Schärpe aus ihrem Wäschebündel Tanukis Körper von Schmutz und Exkrementen säuberte und er sie für ihr Geschick und ihren Mut lobte, was sonst gar nicht seine Art war, schüttelte der Fuchs in seinem Versteck kichernd den fuchsroten Kopf. «Ah so desu’ ka?», murmelte er. «Was soll wohl daraus werden?» Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem fetten 33
Fasan zu, den die Götter an diesem Winterabend für ihn vorgesehen hatten. * So fit Miho auch sein mochte, an dem Tag, als sie die Wildnis nördlich des Biwa-Sees erreichten, wo Tanukis Lieblingshöhle lag, war sie völlig erschöpft. Miho fand die Höhle recht geräumig – sie stellte fest, dass man aufrecht darin stehen konnte, war aber so erschöpft, verdreckt, zerschrammt und durchgefroren, dass sie nicht lange stehen blieb. Seufzend sank sie auf das weiche, süß duftende Bett aus Kiefernzweigen, Laub und trockenem Moos. Tanuki deckte sie mit der Futondecke zu, die sie aus dem Tempel mitgebracht hatte. Dann kroch er neben sie und bumste sie dermaßen aerobisch, dass sie bald wie ein Sumokämpfer auf einem Heimtrainer schwitzte. Anschließend schlief sie zwölf Stunden durch. Wenn man auf einem fremden Kopfkissen schläft, findet man sich manchmal in fremden Träumen wieder. Wenn zum Beispiel ein Ehepaar die Bettseiten wechselt, wird der Mann eine Zeit lang die Träume seiner Frau haben und umgekehrt. In einem Hotelbett passiert so was natürlich nicht, aus dem einfachen Grund, weil niemand lange genug dort schläft, um einen Traumabdruck zu hinterlassen. Liegt das an der Verbindung zum Lager selbst oder zu dem Raum darunter? Vielleicht ziehen wir aus der Unterwelt transneurologische Info-Bits an, aus denen wir Träume machen, so, wie ungeschütztes Metall der Luft Sauerstoffmoleküle entzieht, um Rost zu bilden. Träume wären dann so etwas wie psychische Oxidation. Jeden Morgen wischen wir uns mit dem öligen Lappen des Erwachens sauber. Trotzdem rosten wir früher oder später ein. Wir verlieren unsere Spannkraft, Leitfähigkeit, unser Urteilsvermögen; wir werden senil oder verrückt; wir erlöschen. Wenn wir den Lappen 34
kräftiger gebrauchen würden, käme es vielleicht nicht so weit. Daher war und ist die Botschaft von Mihos Zenmönchen – und die Botschaft aller mystischen Meister auf der Welt – immer die gleiche: «Wacht auf! Wacht auf!» Wie auch immer, bei diesem ersten langen Schlaf in der BiwaHöhle träumte Miho anders als jemals zuvor. Sie wusste es nicht, aber es waren die Träume der animalischen Ahnen. Träume aus einer Zeit, als die Sterne wie Tropfen aus Harz waren, an denen das Wild lutschen konnte. Als Hummerfürze bestimmte Stürme auslösten. Als das Knacken und Knirschen von Knochen mit der Musik der Sphären wetteiferte. Als eine individuelle Schneeflocke tatsächlich einzigartig war: Ihr Steckbrief hätte an der Wand einer Polizeistation hängen können. Miho träumte Träume, die sie erröten ließen. Erzittern ließen. Und manchmal aufschreien. Im Schlaf. Trotzdem erwachte sie frisch und munter. «Was meinst du», fragte sie, während sie sich streckte und den letzten Traumschlaf aus den Augen rieb, «ob es wohl stimmt, dass die Honigbienen die Arithmetik erfunden und damit die Götter zur Weißglut gebracht haben?» «Ich habe keine Ahnung, wovon du redest», entgegnete Tanuki stirnrunzelnd. Er brachte ihr das Frühstück ans Bett, getrocknete Beeren und frische Forellen-sashimi auf einem gefährlich schwankenden Tablett aus Baumrinde. Anschließend begab er sich auf einen achtundvierzigstündigen Beutezug zum nächstgelegenen Hof, um einen Sack Reis für sie zu stehlen (abgesehen von dem einen oder anderen Tropfen Sake für sich). Miho blieb zurück, um die Höhle wohnlich zu machen. Ihr gemeinsames Leben hatte begonnen. *
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Für Miho unterschied sich die Höhle vom Zenkloster in Kyoto ebenso sehr wie das Kloster von dem Bauernhof, in dem sie aufgewachsen war. Trotzdem gewöhnte sie sich relativ schnell ein und fühlte sich in ihrem neuen Zuhause wohl und behaglich, ja, sogar richtig heimisch. Das ist durchaus verständlich, denn ganz abgesehen von gewissen uterinen Assoziationen ist ein ziemlich großer Teil konkreter Höhlenerinnerung in der DNS eines jeden Menschen gespeichert. Und Höhlenerbe auch. Nachdem die Affen von den Bäumen herabgeklettert waren und gelernt hatten, mit spitzen Gegenständen um sich zu werfen, mussten sie in Höhlen Schutz suchen. Nicht nur vor großen Raubtieren, sondern auch vor den Elementen, denn zur gleichen Zeit büßten sie ihr Affenfell ein. Irgendwann begannen sie, ihre Jagdphantasien in Form von Gemälden an den Höhlenwänden festzuhalten, zuerst als eine Art Übung in praktischer Magie, später wegen des seltsamen, unerwarteten Vergnügens, das sie bei dieser künstlerischen Aktivität empfanden. Die Zeit verging. Die Kunst verließ die Wand und wurde zum Ritual. Aus dem Ritual entstand die Religion. Die Religion brachte die Wissenschaft hervor. Die Wissenschaft führte zum Big Business. Und wenn das Big Business seinen aktuellen unüberlegten und raffgierigen Kurs weiterverfolgt, könnte es diejenigen von uns, die das Glück haben, seine letzte Hinterlassenschaft zu überleben, wieder in Höhlen zurückbefördern. Ob diese Synopse der Menschheitsgeschichte in Mihos Genen kodiert war oder nicht, darüber kann nur spekuliert werden. Ein Thema, das man am besten klugen Köpfen wie denen in der Villa Incognito überlässt. Eines jedoch war sonnenklar: Miho hatte weniger Mühe, sich an das Leben in der Höhle zu gewöhnen als an das Leben mit Tanuki. Oh, auszusetzen hatte sie nichts, wirklich! Noch nie hatte ein Wesen seines Schlages sich so viel Mühe gegeben, aber Häuslichkeit war nun mal nicht seine Sache. So seltsam es 36
klingen mag, aber wenn es darum ging, die Bedürfnisse und Gemütszustände einer Frau zu verstehen, war Tanuki noch dämlicher als der normale Durchschnittsmann. Zum Beispiel schickte er Miho Wasser aus einem Bach holen und Feuerholz sammeln (nicht weil er das Feuer zum Aufwärmen brauchte, sondern weil er ihre gekochten Mahlzeiten so liebte), obwohl sie schon lange keine schweren Sachen mehr hätte tragen sollen. Er konnte partout nicht verstehen, warum er oder sie oder sie beide zusammen ihren schwangeren Bauch, der von Tag zu Tag dicker wurde, nicht als Trommel benutzen sollten. Sie brauchte Monate, um ihn dazu zu bringen, nicht in ihren Ess- oder Schlafbereich zu urinieren. Und in den Vollmondnächten, wenn sich Tanukis aus allen Himmelsrichtungen vor ihrer Höhle versammelten, um zu tanzen und zu trommeln, sie aber müde wurde und ins Bett ging, konnte sie nie ganz sicher sein, ob es ihr Tanuki war oder ein Tanuki auf Besuch (oder eine ganze Horde von ihnen), der sie bestieg. Physisch war es einerlei, die Orgasmen kamen genauso schnell hintereinander und intensiv wie immer, aber emotional … Emotionen dieser Art veranlassten sie schließlich, Tanuki zuzusetzen, damit er so etwas wie eine Hochzeitszeremonie veranstaltete. Immerhin bezeichnete er sie als seine Frau. Er war nicht unbedingt abgeneigt, sie zu ehelichen, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie man das anstellt. Schließlich zog er den Fuchs zu Rate. Kitsune fand die Vorstellung, ein Tanuki könne eine Menschenfrau heiraten, nicht nur grotesk, sondern geradezu anmaßend, aber genau deshalb gefiel sie ihm. Zumindest würde diese Heirat Menschen und Götter gleichermaßen auf die Barrikaden bringen, und Kitsune, der bekannt dafür war, dass er den Fortschritt der Menschen förderte und den Göttern als wichtigster Bote auf Erden diente, kannte sich bestens mit dem umfassenden Nutzen und dem individuellen Vergnügen aus, die man aus dem Bruch von Tabus ziehen kann. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Hochzeitsritus, den 37
der Fuchs vorschlug, um dieselbe Shinto-Zeremonie handelte, die Miho aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte. Sie hieß san san ku do – drei drei neun Mal. Die Hochzeitsgäste sitzen im Kreis, während der Shinto-Priester warmen Sake ausschenkt. Die Schale mit Reiswein wird dreimal herumgereicht, wobei jeder Gast jedes Mal drei Schlucke nimmt. Wenn der letzte Gast den neunten Schluck getrunken hat, erklärt der Priester das Paar – banzai! – zu Mann und Frau. Kitsune erbot sich, als Priester zu fungieren. Unter diesen Voraussetzungen, das versteht sich von selbst, gab Tanuki natürlich einen begeisterten Bräutigam ab. Ebenso klar, dass weder der Bräutigam noch der Priester sich mit neun Schlucken zufrieden gaben. Die Schale ging im Kreis herum. Immer und immer wieder. Am Ende konnte Miho sicher sein, mindestens ein Dutzend Mal getraut worden zu sein, und was den Fuchs und den Dachs angeht, so hatten die beiden so viele Eheschwüre geleistet, dass ein Scheidungsrichter ein ganzes Jahr lang hätte schuften müssen, um sie wieder zu trennen. * Mit dem süßen Sommerwind kam schließlich auch das Baby. Miho hockte nach Art der Tiere auf einer Bambusmatte und brachte ihr Kind so gut wie schmerzlos zur Welt. Als sie die Geburt später beschrieb, klang es so, als sei nach einer oder zwei Stunden Pressen im Beckenbereich plötzlich ein großer glibberiger Klumpen Pflaumenmarmelade aus ihr heraus- und an ihren Schenkeln hinuntergeflutscht. Glatt, nass und kitzelig. Wie eine Kaulquappe, die sich aus einem Strohhalm zwängt. Das kleine Mädchen war vollkommen. Na ja, fast vollkommen. Die Nase war, wie die ihrer Mutter, etwas schief geraten. Aber sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Schnauze. Die Ohren zeigten keineswegs zum Polarstern. Sie 38
war vom Kopf bis zum kleinen Zeh völlig unbehaart, der Gaumen so zahnlos wie die Bärenfalle eines Vegetariers, und die Frage des Klötendurchmessers stellte sich erst gar nicht. Das einzige körperliche Merkmal, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, war das naive, aber elektrisierende Grinsen. Dieses unwiderstehliche Tanukilächeln, das Wonne und Wildheit, Belustigung und Bedrohung zugleich ausstrahlte. Tanuki war tief enttäuscht. War das etwa das Ergebnis seiner fast einjährigen Mission, seines Experiments, seiner Buße und seiner Opfer? Eine gewöhnliche zweibeinige Göre! Gab es denn nicht schon genug davon? Wahr, nur allzu wahr. Trotzdem war diese hier nicht ganz so gewöhnlich. Sie hatte sein Grinsen. Und im richtigen Licht blitzte eine Spur von etwas Uraltem und Vergessenem in ihren Augen auf. Die Bläschen, die ständig aus ihrem kleinen Mund blubberten, faszinierten ihn. Oder dass sie genau wie er immer und überall hinpinkelte, wenn ihr danach war. Die furchtlose Unschuld, mit der ihre winzige Hand seine ebenso kleine Pfote umschloss. «Wir werden sie Kazu nennen», erklärte er Miho knapp, nachdem er sie fast vierzehn Tage lang skeptisch beobachtet hatte. Da kazu das Wort für die klebrige und süße Substanz ist, die sich auf dem Grund der Sakefässer sammelt, sah Miho in dem Namen eine Art väterliche Anerkennung und war glücklich. In der Tat, mit jedem Monat, der verging, schien Tanukis Liebe zu seiner Tochter zu wachsen. Diese Liebe wurde unübersehbar erwidert. Kazu war durch und durch entzückt von Tanuki – und warum auch nicht? Sie war das einzige Mädchen auf der Welt, das ein Stofftier zum Vater hatte. Sie spielten miteinander wie zwei zum Leben erweckte Puppen. Es wäre schön, nun auch vom glücklichen Ende dieser wahren Geschichte berichten zu können. Doch leider kam es anders.
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* Als die nackten Affen nicht mehr zu bändigen waren, hatten die Götter die Nase voll vom Leben auf der Erde. Pikiert verlegten sie ihren Wohnsitz in luftigere Gefilde. Zwar nahmen sie weiterhin beträchtlichen Einfluss auf die Welt, doch ist er im Lauf der Jahrtausende immer subtiler und indirekter geworden. Zum Zeitpunkt unserer Geschichte und besonders in dem Land, in dem sie spielt, mischten sie sich allerdings noch einigermaßen aktiv in die Angelegenheiten der Lebenden ein, vor allem, wenn es um den Kontakt zwischen Mensch und Natur ging. Aus diesem Grund waren die Götter über die Heirat zwischen Miho und Tanuki genauso aufgebracht, wie Kitsune es vorausgesagt hatte. Allein Kitsunes hartnäckige Fürsprache hatte die göttliche Strafe verhindert (denn der schlaue, mit allen Wassern gewaschene Fuchs war als Mediator für die Wolkenfestung unentbehrlich). Fast zwei Jahre lang gelang es Kitsune, den Göttern die Tatsache zu verheimlichen, dass aus der verbotenen Verbindung zwischen einem animalischen Ahnen und einer Sterblichen ein Kind hervorgegangen war. Eines Morgens jedoch, als der Fuchs am Flussufer stand, um mit seiner langen Zunge Wasser zu schlabbern, traf ihn ein Sonnenstrahl wie ein Keulenschlag, eine unsichtbare Hand packte ihn am Schwanz und schleuderte ihn hoch. Er schnappte nach Luft. Auf der Stelle war ihm klar, dass irgendwer den Göttern einen Tipp gegeben haben musste. Wahrscheinlich war es ein Kuckuck gewesen. Alle Vögel sind Klatschbasen, aber der Kuckuck ist ein spezieller Fall. Auf Japanisch heißt er hototogisu, was je nach Kalligraphie «Vogel der anderen Welt» oder «Vogel der Zeit» bedeutet. Wie in einem Haiku von Basho, das entstand, als er nach langer Abwesenheit nach Kyoto zurückkehrte:
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Hier bin ich wieder in Kyo Trotzdem sehn ich mich nach Kyo – Oh, Vogel der Zeit! Gibt es eine bessere, eindringlichere und treffendere Art zu sagen: «Du kannst nicht mehr nach Hause»? Aber wir schweifen ab. Die Sache ist, dass der Kuckuck mit seinem unheimlichen Gesang Zonen durchquert, in die andere Vögel nie gelangen. Aber auch das spielt keine Rolle. Was zählt, ist, dass irgendwer das Geheimnis lüftete, und die Konsequenzen versprachen nicht gerade angenehm zu sein. Die Götter, denen es wie unseren militärischen und politischen Führern nie was ausgemacht hat, unschuldige Leben für ein «höheres Gut» zu opfern, wirbelten einen mächtigen Taifun vor der Westküste von Honshu auf. Doch als er die Berge im Landesinneren erreichte, hatte er viel von seiner Wucht eingebüßt, sodass er den Lebewesen, die in den Höhlen Zuflucht gesucht hatten, wenig anhaben konnte. Wegen des strömenden Regens musste die kleine Kazu zu Hause bleiben, aber abgesehen von ein paar Lecks im Dach der Höhle hatte der Sturm keine größeren Auswirkungen auf Chez Tanuki. Daraufhin schickten die Götter, die es nicht gewohnt waren, dass ihre Pläne durchkreuzt wurden, ein mächtiges Erdbeben, sobald die Regenwolken abgezogen waren. Es schüttelte die Bewohner der Höhle wie Aspirinpillen in einer Flasche, doch der Berg hielt stand. Mehrere Erdrutsche begruben ein Dorf und eine Hand voll Höfe am Fuß des Hanges unter sich, doch in der Höhle wurde niemand verletzt. Nachdem die letzte tektonische Platte ächzend und erschöpft in ihre neue Position gesackt war, machte sich Kitsune auf den Weg zur Höhle. Er wusste, was als Nächstes bevorstand. Die 41
Götter würden Dämonen auf die Erde schicken, die mit einem ganzen Sack voller dämonischer Dinge bewaffnet waren: Fieber, Erbrechen, Delirium, Tumore, Unfälle, Koma, Knochenbrüche, giftige Bisse usw. Und all dieses Hexenzeug würde sich gegen Kazu richten. Kitsune nahm die Beine in die Hand. Er war etwa einen Kilometer von der Höhle entfernt, als er Tanukis Kopf erblickte, der aus einem hohlen Baumstamm lugte. Anfänglich dachte Kitsune, sein Kollege sei vom Erdbeben erwischt und getötet worden, doch bald merkte er, dass der Dachs in Wahrheit einen Rausch ausschlief. Tanuki stank nicht nur nach Sake, sondern auch nach einer Mischung vaginaler Düfte, von denen, soweit der Fuchs seiner scharfen Nase trauen konnte, nicht alle menschlicher Natur waren. (Tatsächlich gab es in den Bergen auch Tanukiweibchen.) Zudem blutete er aus mehreren Wunden, die allem Anschein nach nicht von dem Erdbeben stammten, sondern von Männern, deren Frauen oder Töchtern er den Hof gemacht hatte. Seine kurzen Beinchen waren vom Tanzen geschwollen, und die Wampe war vom vielen Trommeln fast kahl. «Verzeih, wenn ich deiner eleganten Kleidung und vornehmen Haltung nicht gleich die angemessene Ehre erweise», erklärte Kitsune. «Die wohlverdienten Komplimente müssen leider warten. Und du musst sofort zu deinem Bau zurück und deine Familie in Sicherheit bringen.» Als Tanuki gereizt grunzte und sich wieder umdrehen wollte, packte ihn der Fuchs am Ohr. «Wach endlich auf, du nichtsnutziger Rüpel!» Dann erklärte Kitsune dem schlagartig ernüchterten Tanuki, dass die Wolkenfestung beschlossen hatte, die kleine Kazu zu vernichten. Tanukis erster Impuls war zu kämpfen. Zwar hatte er eine Menge Tricks auf Lager, doch gegen die geballte Macht der Götter konnte er nicht ankommen, und er war schlau genug, dies einzusehen. Und Kitsune? Er hatte die Götter schon häufiger ausgetrickst, aber dies war ein Fall, für den er nicht mehr 42
riskieren würde, als er es ohnehin schon getan hatte. «Es bleibt dir nichts anderes übrig, als sie außer Landes zu bringen, und zwar sofort.» Der Dachs wurde ernst: «Diese Miho», sinnierte er mit einer weniger rauen Stimme als sonst. «Diese Miho war eine gute Frau. So, wie Ehefrauen eben sind. Natürlich hat sie mich in letzter Zeit nicht gerade freundlich behandelt …» «Ich wüsste nicht, warum», erwiderte der Fuchs, und seine blutrote Zunge rollte sich sarkastisch zusammen. «Und Kazu. Wie kann man meiner süßen kleinen Kazu etwas Derartiges antun? Was soll aus ihr werden?» «Daran hättest du vorher denken sollen», schimpfte Kitsune. «Ein Kind auf die Welt zu bringen, ohne vorher für seine Sicherheit und sein Glück gesorgt zu haben, ist kriminell, und Eltern, die sich so verantwortungslos verhalten, sollte man die Genitalien entfernen.» Er hätte noch mehr in dieser Richtung von sich gegeben, wären da nicht die Tränen – echte Tränen – in den Knopfaugen des Dachses gewesen. Kitsune legte Tanuki eine Pfote auf die Schulter. So niedergeschlagen hatte er ihn noch nie erlebt. «Alles wird gut. Lass uns zum Fluss gehen, dort kannst du dich waschen. Dann begleite ich dich nach Hause, wenn du willst.» «Na schön», murmelte Tanuki. «Danke.» Dann zögerte er. Nach kurzem Nachdenken sagte er: «Zuerst muss ich noch etwas suchen.» Der Fuchs kniff misstrauisch die Augen zusammen. «Soso, und was musst du suchen?» Er dachte an ein Fässchen Sake, das irgendwo im Gebüsch versteckt war. «Den Samen einer Chrysantheme», antwortete Tanuki leise. «Ah so», sagte Kitsune und nickte verständnisvoll. «Ich verstehe. Ja. Den Samen einer Chrysantheme. Ich werde dir helfen. Aber jetzt lass uns gehen.» 43
* Nachdem sie auf allen vieren durch den Wald gerannt waren, blieben die beiden Tiere etwa fünfundzwanzig Meter vor dem Bau stehen, holten tief Luft und inspizierten die Umgebung. Es war fast dunkel und sehr still. Unter einer Kiefer nicht weit vom Höhleneingang entfernt spielte Kazu mit ihrer grob geschnitzten Holzpuppe. Am Eingang schmorten Yamswurzeln auf dem abendlichen Kohlenfeuer. Bei ihrem Duft fing Tanuki wortwörtlich an zu sabbern, und Kitsune musste ihn zurückhalten. «Miho ist da drin», erklärte der Fuchs. «Gut. Dann werde ich hineingehen und mit ihr reden, sonst haut sie dir noch den Reistopf um die Ohren.» «Danke, mir platzt jetzt schon der Schädel.» Während Kitsune in der Höhle verschwand, lief Tanuki zu Kazu. Die Kleine schrie vor Freude, als sie ihn sah. «Papa!» Er stellte sich auf die Hinterbeine, und die beiden umarmten sich. «Papa essen?», fragte sie, wie immer belustigt von der dynamischen Energie, mit der ihr Vater auf Futtersuche ging. Als sie das Essen erwähnte, drehte Tanuki unwillkürlich den Kopf zu den schmorenden Yamswurzeln um, und wieder lief ihm der Sabber aus der Schnauze. Dann aber nahm er sich stärker zusammen, als erfahrene Tanuki-Beobachter je für möglich gehalten hätten, und wandte sich wieder seiner Tochter zu. «Nix Essen», nuschelte er durch das Wasser, das ihm im Maul zusammengelaufen war. «Aber jetzt mach den Mund auf. Mach ihn ganz weit auf für Tanuki persönlich.» Das Mädchen tat wie geheißen, in der Hoffnung, mit einem Stückchen Honigwabe oder einer süßen Beere belohnt zu werden. «Nein, es ist nichts zum Lutschen», sagte ihr Vater. «Mach ihn ganz auf. Es wird ein bisschen piksen, aber nicht lange wehtun. 44
Sei tapfer, wie ein richtiger Tanuki.» Damit presste er den Chrysanthemensamen in Kazus Gaumen. Sie zuckte zusammen, und Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie hielt stand, und er drückte und drückte, bis er den Samen tief ins weiche Gewebe ihres Gaumens eingebettet hatte. Als er ihn so gut wie möglich fixiert hatte, versiegelte er ihn mit einem Tupfer Bienenwachs, damit er nicht verrutschte, bis das Gewebe wieder zusammengewachsen war. «Du musst Tanuki persönlich was versprechen. Ja? Das ist sehr, sehr wichtig. Hast du gehört?» «Ja», versicherte sie mit einem leichten Würgen. Sie hatte ihn verstanden. «Du darfst das, was ich dir in den Mund gesteckt habe, niemals ausspucken, auch dann nicht, wenn du ein großes Mädchen geworden bist oder eine erwachsene Frau wie deine Mutter. Hast du das verstanden? Versprichst du es mir?» Kazu war gerade mal zweieinhalb, aber klug. Sie hatte verstanden und versprach es ihm. Dafür wurde sie mit einem Stück süßen Reiskuchen getröstet, das er ihr aus seinem geheimen Lager mit Diebesgut auf halber Höhe des Berges mitgebracht hatte. Dann umarmte er sie noch einmal. «Jetzt lauf in die Höhle und schau nach, was deine Mutter und dieser alte Fuchs im Schilde führen.» Seine Tochter verschwand in der Höhle, und Tanuki sah ihr noch einige Sekunden nach. Dann wandte er sich um, wobei sein riesiges Gehänge über den Boden schleifte, und verschwand im Wald. * Wenige Stunden später, als der Mond unterging und die Nacht so schwarz war, dass nicht einmal Michael Jacksons 45
Schönheitschirurg ihre Farbe hätte aufhellen können, schlich sich Miho mit Kazu vorsichtig den Berg hinunter. Kitsunes Rat folgend, wollte Miho auf direktem Weg zum Meer. «Vielleicht kannst du einen Bootsmann überreden, dich an der Küste entlang nach Kyushu zu bringen», hatte der Fuchs gesagt. «Biete ihm deinen Körper an, wenn es sein muss. In Kyushu musst du einen anderen Seemann finden, der euch über die Meerenge bringt. Vielleicht mit einem dieser lauten neumodischen Dinger, die sie Motorboote nennen. Notfalls musst du auch mit ihm bumsen, aber versuch es zuerst mit deiner Verkleidung.» Miho trug einen Herrenkimono aus der Zeit, als Tanuki in Kyoto herumgegeistert war. Kitsune hatte ihr geholfen, aus trockenem Moos eine Perücke und einen falschen Bart zu basteln. Kazu lag unter dem Reisig verborgen, das unterm Deckel von Mihos Kiepe hervorlugte. Wenn man nicht allzu genau hinsah, sah sie aus wie ein alter Mann, der eine Ladung Brennholz schleppte. Meet me in Cognito, darling, Sure, some might think that it’s rash, But you’ll look chic incognito With your fake nose and Groucho mustache. Zugegeben, die Aussicht auf dieses neue Abenteuer erregte Miho. Die Neugier pikste sie schon von Geburt an. Diese anhaltende Neugier hatte sie letztlich auch dazu bewogen, das Undenkbare zu tun und die romantischen Entscheidungen zu treffen, denen sie ihre augenblickliche prekäre Lage verdankte. Der Schmerz wurde ein wenig gemildert durch die Einsicht, dass der Abschied unausweichlich war. Schon ehe sie erfahren 46
hatte, dass die Götter erzürnt waren – welch elende Heuchler! –, hatte sie mit dem Gedanken gespielt fortzugehen. Tanuki blieb immer öfter und immer länger weg, und wenn er nach Hause kam, war er besoffen, verkatert oder verdreckt und stank nach Sex. Diese Entwicklung war nicht überraschend gekommen. Und er war auch nicht allein schuld daran. Immerhin hatte sie aus freien Stücken einen Tanuki geheiratet. Und ein Tanuki war … ein Tanuki. Trotzdem war es kaum die richtige Umgebung, um ein empfindsames Kind aufzuziehen. Vor allem, wenn dieses Kind selbst Tanukiblut in den Adern hatte. Als sie bei ihrem letzten Auszug aus dem Kloster die Koffer gepackt hatte, war der Abt zu ihr ins Zimmer gekommen, um sich zu verabschieden. Sein Blick war klar, sein Nicken knapp. «Merke dir Folgendes», sagte er. «Es ist, was es ist, du bist, was du es, und es gibt keine Irrtümer.» Sie war nicht sicher, was die Worte bedeuteten. Sie war nicht mal sicher, dass sie überhaupt was bedeuteten. Vielleicht war es eine dieser vielen kryptischen Zenmaschen, die gesponnen wurden, um dem wilden Pferd der Phantasie einen silbernen Zaum überzustreifen. Wie auch immer, diese Worte spendeten ihr jetzt Trost und gaben ihr ein seltsames Gefühl von Leichtigkeit und Lebendigkeit, als sie sich einen Weg durch das Geröll bahnte und die rutschigen Hänge hinabstieg. Sie flüsterte sie vor sich hin, nur wegen des Kitzels, den sie dabei empfand. «Es ist, was es ist.» «Du bist, was du es.» «Es gibt keine Irrtümer.» Um den Samen in Kazus Gaumen bildete sich so etwas wie ein Furunkel. Trotzdem hielt sie ihr Versprechen und rührte ihn nicht an, nicht mal mit der Zungenspitze. Nur gelegentlich wimmerte sie, weil die entzündete Stelle schmerzte. Da Miho das Klagen auf zu wenig Schlaf oder die Enge im Korb zurückführte, sprach sie beruhigend auf sie ein. Sie gab sich 47
Mühe, sie so wenig wie möglich zu schütteln. Sie sang ihr leise ein Schlaflied vor. So wanderten Mutter und Tochter durch die Nacht. Ohne Ruhe. Ohne Reue. Sie zogen einfach weiter, immer weiter auf das zu, was sie auch vor sich haben mochten. Irgendwann jedoch blieb Miho plötzlich wie erstarrt stehen. Von hoch oben auf dem Berg hörten sie und Kazu – die ebenso plötzlich aufgehört hatte zu jammern – ein vertrautes Geräusch, das sanfte rhythmische Echo einer schrecklichen, unsäglichen und ungezügelten Freude. Pla-bonga. Pla-bonga. Pla-bonga.
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ZWEITER TEIL Sie gehörte zu den Frauen, die den Wechsel der Jahreszeiten süß finden. Ihre Schwester war noch schlimmer. Sie stand auf Clowns. «Ist das nicht hinreißend, ist das nicht goldig, wie die Tage ganz allmählich und ganz von selbst ein klitzekleines bisschen kürzer werden?», staunte Bootsey. «Und ein erster Hauch von Herbst die Luft küsst?» Pru schnupperte. Pru zuckte die Achseln. Einer Jahreszeit, die von Fäulnis und Zerfall charakterisiert ist, oskulatorische Attribute anzudichten erschien ihr wie ein Paradebeispiel für metaphorische Übertreibung. Jetzt, da sie sich nicht mehr im Badeanzug sehen lassen konnte, war es Pru offen gesagt völlig egal, wie lange der Sommer dauerte. Das Einzige, was sie am Ende eines dieser typisch saft- und kraftlosen Sommer von Seattle interessierte – und hey, Herbsthauch hin, Herbsthauch her, noch hatten sie gerade mal August –, war die Tatsache, dass höchstwahrscheinlich schon in Kürze ein bis zwei Zirkusse in der Stadt Station machen würden. Und tatsächlich, es vergingen keine zwei Wochen, da wurde genau ein solches Ereignis angekündigt. Die Schwestern sahen sich gerade wie üblich die Sechsuhrnachrichten an, als ein Werbespot die so genannte Mutter aller Shows ankündigte, die, wie eine Stimme aus dem Off erklärte, in etwa zehn Tagen in der Key Arena von Seattle Premiere feiern sollte. Es folgte ein Bombardement schneller Schnitte von Tieren, Requisiten und flittergeschmückten Künstlern, untermalt von ausgelassener Blasmusik. Dann kam die Kamera zur Ruhe und konzentrierte sich auf eine verführerische Asiatin in Reithosen und hohen schwarzen Lackstiefeln. Sie gab sich übertrieben 49
finster und knallte bedrohlich mit der Peitsche, während im Halbkreis hinter ihr ein Trupp von merkwürdigen, fast comicartigen Tieren Aufstellung genommen hatte. Es waren sieben an der Zahl, sie standen aufrecht auf den Hinterbeinen auf sieben gelben und roten Hockern. Die kaum meterhohen Viecher hatten putzige Schnäuzchen, und ihre wachsamen Knopfaugen und spitzen Ohren lauerten offenbar auf das Kommando ihrer Dompteuse, um irgendein Kunststück aufzuführen. Zwei von ihnen tanzten auf der Stelle. «Zum allerersten Mal auf dem nordamerikanischen Kontinent», rief die körperlose Stimme des Zirkusdirektors, «eine tolle Truppe, ein aufregendes Arrangement, das exotische Ensemble der seltensten Tiere auf der Erde – die tolldreisten, trommelnden Tanukis aus dem Dschungel Südostasiens, einzigartige mystische Tiere –, gefangen, gezähmt und abgerichtet, um die phänomenalsten und phantastischsten Possen zu reißen, von unserer bezaubernden Abenteurerin: Madame Ko!» «Ach du je!», rief Bootsey. «Sind sie nicht süß?» «Wenn du mich fragst, ich finde sie eher bräsig», entgegnete Pru. Offen gesagt, fand auch sie die Tanukos (sie hatte den Namen nicht richtig verstanden) irgendwie süß, aber da in dem dreißigsekündigen Werbespot nur eine einzige verhuschte Einstellung von einer roten Nase, Fettschminke, Halskrause und Pumphose auftauchte, war sie so enttäuscht, dass sie keine Lust mehr hatte, etwas Gutes darüber zu sagen. Kaum war der Werbespot zu Ende, stand sie gereizt auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Tomatensaft zu holen. In dem echten Zirkus würde es natürlich keinen Mangel an Clowns geben, aber … «Aber was baumelte da zwischen den Hinterbeinchen dieser Tiere?» fragte Bootsey, als Pru das Zimmer verließ. «Waren es ihre …?» «Niemals! Unmöglich!» 50
Pru beschloss, den Tomatensaft aus der Dose mit einem Spritzer Zitrone zu verfeinern. Sie kramte gerade im Gemüsefach des Kühlschranks, als Bootsey vom Wohnzimmer rief. «Pru! Komm mal, schnell!» Bootseys Stimme war so alarmierend, dass ihre jüngere Schwester die Kühlschranktür zuknallte und relativ eilig ins Fernsehzimmer kam. Was ist jetzt wieder los?, dachte Pru. Sogar ihren Tomatensaft hatte sie stehen lassen. «Sieh dir diesen Mann an, den Priester», sagte Bootsey und zeigte auf den Bildschirm. Offenbar wurde dort ein Geistlicher, dem man die Hände im Rücken gefesselt hatte, durch eine Halle geführt. Sie sah aus wie einer der palmengesäumten, luftigen und stuckverzierten Terminals, die man von den tropischen Flughäfen der Dritten Welt kennt. Noch ehe Pru richtig hinsehen konnte, wechselte das Bild zur Nahaufnahme eines Pappkartons, in den kleine Plastikbeutel mit einem beigefarbenen Pulver gestapelt wurden. Dann sprang das Bild plötzlich wieder in die Halbtotale und zeigte, wie der mit Handschellen gefesselte Mann in einen Jeep gestoßen wurde, der offenbar der US-amerikanischen Militärpolizei gehörte. Wenn Pru die Sache richtig verstanden hatte, war ein katholischer Priester aus Frankreich auf dem Flug von Bangkok nach L.A. mit Zwischenlandung in Manila am Flughafen von Agaña auf Guam mit Plastikbeuteln voller Rauschgift erwischt worden, die er sich unter der Soutane auf Oberkörper und Beine geklebt hatte. «Sieht er nicht genau so aus wie Dern?», sagte Bootsey. «Sieh ihn dir an! Ich meine, stimmt doch, oder?» «Hmm. Ja, schon. Ich weiß, was du meinst. Eine gewisse Ähnlichkeit ist da. Aber er ist viel älter.» Bootsey betrachtete Pru mit jener Mischung aus Entsetzen und Mitgefühl, die sie sich sonst für die konkurrenzlos inkompetenten Beamten im Postamt aufhob, wo sie arbeitete. 51
(Mittlerweile lief ein Bericht über die Studentenproteste gegen das geplante Raketenabwehrsystem der USA.) «Älter? Älter als Dern? In welcher Zeit lebst du, Schätzchen? Dern wird vermisst seit …» «Ich weiß, ich weiß», seufzte Pru. «Dern wird seit siebenundzwanzig Jahren vermisst.» «Achtundzwanzig.» Und vor ihrer Flimmerkiste versanken die beiden Schwestern in einen Zustand, der irgendwo zwischen Träumerei und Paralyse angesiedelt war. * Etwa um die gleiche Zeit, vielleicht einige Stunden früher oder später, erwachte in Bangkok eine zwanzigjährige Frau in einem fremden Bett. Der Künstlername dieser Frau, ihr professionelles Pseudonym – oder nom de guerre, wie sie selbst gern sagte –, lautete Miss Ginger Sweetie. Ihr richtiger Name tut nichts zur Sache. In Miss Ginger Sweeties zerebralem Verschiebebahnhof wurden jetzt langsam bazillengroße Güterwaggons aneinander gekoppelt. Mit einem elektrochemischen Ächzen setzte sich der Zug ruckartig in Bewegung. Zuerst fiel Miss Ginger Sweetie ein, dass sie sich im Green Spider befand, einem gemütlichen kleinen Hotel in einer Seitenstraße, dessen Klientel, überwiegend Ausländer, eine gewisse Abneigung hegte, mit Kreditkarte zu bezahlen, sich auszuweisen oder unangemeldeten Besuch zu empfangen: nicht unbedingt zwielichtige, aber vorsichtige Typen. Während der Zug in Fahrt kam, fiel Miss Ginger Sweetie als Nächstes der Mann ein, der neben ihr lag und dem sie ihren glatten, bronzeschimmernden Rücken zugewandt hatte. Liebe Güte, so was wie den gab es nicht alle Tage. Nett. Liebenswert 52
sogar. Aber entschieden ungewöhnlich. Er hatte behauptet, Franzose zu sein, dabei sprach er Englisch mit einem amerikanischen Akzent. Er sprach so, wie in ihrer Vorstellung William Faulkner gesprochen hätte. Und er hieß Dickie. Dickie? Miss Ginger Sweetie war nicht gerade eine Weltenbummlerin (bis vor einigen Jahren war sie nie aus den Slums von Chiang Mai herausgekommen), aber ein dummes Reisbauernding war sie nun auch nicht gerade. Sie studierte, wie sie jedermann versicherte, vergleichende Literaturwissenschaften an einer renommierten Universität – und, ja, es stimmte, sie ging in Patpong auf den Strich, aber nur, um ihr Studium zu finanzieren. Miss Ginger Sweetie wusste ganz genau, dass eine französische Mutter niemals auf die Idee gekommen wäre, ihren Sohn Dickie zu taufen. Und dieser Dickie hatte sie nicht angerührt. (Sie betastete sich zwischen den Beinen, um ganz sicher zu sein.) Er sah gut aus, war groß, schlank, aber zu alt für sein Gesicht. Das heißt, sein Haar war bereits ziemlich ergraut, trotzdem sah er so jungenhaft aus, wie sie sich Tom Sawyer vorstellte. Und obwohl Miss Ginger Sweetie den Feiertag zu schätzen wusste, diese Atempause von der täglichen Plackerei, hätte sie gar nichts dagegen gehabt, wenn er sich das genommen hätte, wofür er bezahlt hatte. Doch er hatte sie nicht angerührt. Zumindest nicht so, wie es sich gehört. Er hatte nur an ihr geschnüffelt – aber, rief sie sich schnell ins Gedächtnis zurück, nicht grob wie ein Perverser oder ein Hund. Er hatte sie auf eine wirklich äußerst schmeichelhafte Art betrachtet und dann vorsichtig an ihr geschnuppert, wie ein Weinkenner oder so was. Er hatte seine Nase über ihren parfümierten Nacken, die Nippel und ihre Achseln wandern lassen und schließlich die Nasenspitze sanft in ihren Nabel versenkt. Weiter jedoch war er nicht gegangen. Während seiner gründlichen Inspektion, dieser olfaktorischen Examination, war der Mann keineswegs kalt geblieben, wie 53
Miss Ginger Sweetie nicht ohne gewissen beruflichen Stolz bemerkt hatte. Wenn er auf dem Rücken lag, war die Ausbeulung, die aus der Tiefe kam und ein Stück des weißen Lakens lüftete, derart groß, dass Miss Ginger Sweetie einen verrückten Moment lang an … Moby Dick denken musste. Nach mehr als zwei Jahren Dienst in Patpong hatte die Zurschaustellung männlicher Größe sie mehr oder weniger abgestumpft, ja, sie langweilte sie sogar, aber aus irgendeinem Grund hatte der Hinweis auf dieses verschleierte, in scharfe Schüchternheit und allegorisches Weiß gehüllte Phantom auch in ihr einen Forscherinstinkt geweckt. Doch als sie Anspruch auf das Objekt ihres Interesses erhob, hatte er ihre Hand weggeschoben. Er sei verliebt, hatte Dickie erklärt. Er habe eine fiancée, Tausende von Meilen von Bangkok entfernt. «Okay.» Sie hatte gelächelt, als wäre das sehr nobel von ihm und als hätte sie Verständnis, dabei ergab es für eine Thailänderin wie sie überhaupt keinen Sinn. Seine Freundin war weit weg, und Miss Ginger Sweetie war vor Ort. Eine perfekte Gelegenheit, Spaß zu haben. Wo war das Problem? Dann erinnerte sie sich daran, dass Dickie nicht wegen Sex nach Patpong gekommen war. Normalerweise kamen die Männer ins Vergnügungsviertel von Bangkok (ein kleines Las Vegas ohne dessen Spielhöllen oder Glitzer) auf der Suche nach Sexshows, Girlie Bars, Go-go-Tänzerinnen, Alkohol, Speed, Heroin, Körpermassagen und freiberuflichen Nutten. Doch Dickie, ihr Dickie war nach Patpong gekommen, um eine Gitarre zu kaufen. Nicht, dass er mit dem Kauf der Gitarre unzufrieden gewesen wäre. In Wahrheit war er von seinem neuen Instrument – dem billigen Nachbau einer Martin D-28 – dermaßen entzückt, dass sie den Verdacht hegte, er habe sie nur aufgegabelt, um seine Freude mit jemandem teilen zu können. Vermutlich hatte es auch andere Gründe gegeben, sagte sie sich, ein Hauch von 54
Einsamkeit und, ja, auch von Verlangen, sosehr er sich bemüht hatte, es zu unterdrücken. Man stelle sich vor: Als er sie im Green Spider auf sein Zimmer mitgenommen hatte, das nach geöltem Teakholz und modriger Seide roch, hatte er die Gitarre gestimmt und ihr ihren Lieblingssong über einen Fluss, Orangen und ein Mädchen mit vollkommenem Körper vorgespielt. Zwar konnte er sich kaum mit Leonard Cohen messen, aber er war auch nicht schlecht gewesen. Sie hatte applaudiert, und er hätte sein ganzes Repertoire zum Besten gegeben, wäre sie in diesem Moment nicht aus ihrer Unterwäsche geschlüpft. Die Ablenkung war mehr, als der Musiker in ihm verkraften konnte. Miss Ginger Sweetie drehte sich auf die andere Seite. Als sie ihm einen Gutenachtkuss gegeben hatte, wirkte er so traurig – vermutlich, so sagte sie sich, war er hin und her gerissen zwischen der Begierde und dem Wunsch, sie nicht zu begehren –, aber jetzt saß er aufrecht da und grinste von einem Ohr zum anderen. Dickie strahlte wie die überbelichtete Vitrine eines Juweliergeschäfts. Hatte er es sich vielleicht doch anders überlegt? «Warum du lächeln?», fragte sie. «Ich haben Angst, du platzen vor Glück.» Sie war ein wenig pikiert und zugleich erleichtert, als sich herausstellte, dass seine Freude nichts mit ihr zu tun hatte. «Ah, Miss Ginger Cookie», sagte er. Er hatte zwar ihren Namen nicht richtig behalten, lächelte aber weiter. «Du sollst es als Erste erfahren.» Er räusperte sich. «Weißt du, seit gestern Nacht, besser gesagt, seit heute Morgen, habe ich die Traumschule geschmissen.» Derartige Äußerungen lagen sowohl jenseits von Miss Ginger Sweeties Englischkenntnissen als auch ihrem Intellekt. Sie war perplex und bat ihn, seinen Satz auf Französisch zu wiederholen, was er auch tat. Aber sein Französisch war schlecht, noch schlechter als ihres, und so sah sie ihn fragend an, während sie mit einem langen purpurroten Fingernagel ein Körnchen Schlaf aus ihrem Augenwinkel rieb. 55
«Na ja, weißt du», erklärte ihr gut aussehender, aber verwirrender falsch-französischer Faulknerianer, «seit ich erwachsen bin, werde ich von einem immer wiederkehrenden Traum geplagt, einem wahren Albtraum, könnte man sagen. In diesem Traum gehe ich wieder zur Schule. Manchmal ist es auch ein College, aber meistens die Highschool. An diesem Tag ist eine Prüfung angesagt, eine wichtige Abschlussprüfung, und als ich ins Klassenzimmer komme, wird mir klar, dass ich nicht dafür gelernt habe, kein bisschen. Ich werde keine einzige Antwort wissen, und ich finde meine Bücher nicht, um noch in letzter Minute einen Blick hineinzuwerfen. Und manchmal finde ich nicht mal das richtige Klassenzimmer.» Er schlug sich an die Stirn, um zu zeigen, was für eine grässliche Situation es war. «Oder», fuhr er dann fort, «ich muss vor der Klasse ein Referat halten, und wenn ich aufstehe, wird mir klar, dass ich nichts vorbereitet habe und nichts sagen kann. Manchmal habe ich mein Hausaufgabenheft vergessen oder die Hausaufgaben gar nicht gemacht, und alle um mich herum geben ihre Arbeiten ab, nur ich nicht. Verstehst du? Der Traum variiert, aber das Thema bleibt immer gleich: Frust, Verlegenheit, Angst, Versagen.» Miss Ginger Sweetie nickte. Sie liebte Diskussionen über bestimmte «Themen». «Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Nächte mich dieser Traum gequält hat. Wie oft ich schweißgebadet und verschreckt aufgewacht bin und mich auch am nächsten Tag mies gefühlt habe. Und das Schlimme ist, dass du diese Traumschule nie beenden kannst! Nie! Du bist dazu verdammt, dieselben grässlichen Zustände immer wieder zu erleben, bis zum Tod, und vielleicht gehen sie noch in der Hölle weiter. Aber – aber – letzte Nacht (oder heute Morgen) bin ich einfach ausgestiegen. Ich habe meine Schultasche auf den Boden geworfen und die Schule durch den Haupteingang verlassen. Es war klar, dass ich nicht zurückkomme. Es war für 56
immer. Und jetzt weiß ich, dass ich einen Schlussstrich gezogen habe – ich fühle es, und ich weiß es: Diesen schrecklichen Albtraum werde ich niemals mehr haben. Der Spuk ist für mich vorbei. Ich bin frei.» Sein Grinsen wurde noch breiter. «Du kannst dir gar nicht vorstellen, sweetie Cookie, was für ein befreiendes Gefühl das ist, welche Last von einem abfällt. So frei habe ich mich seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gefühlt, als ich beschloss, nicht mehr zurück …» Plötzlich verstummte er. Sein Lächeln verlor ein paar Watt, aber es war immer noch hell genug. «Gut, sehr gut, Dickie.» Sie faltete die Hände, die Fingerspitzen zum Himmel gerichtet, und grüßte ihn auf buddhistische Art. «Ich lieben Geschichten mit Happy End.» Sie warf einen Blick auf ihre niedliche Uhr. Für einen Quickie war noch Zeit, wenn er Lust hatte. Doch der Aussteiger schwelgte in seiner neuen Freiheit. Dann eben nicht. Das war schon ein komischer Vogel. Sie schlüpfte aus dem Bett, angelte ihr Höschen vom Boden (die an Dampfklößchen erinnernden Brüste brauchten keinen BH), griff nach der Handtasche und tappte ins Bad, um sich ihrer Toilette zu widmen. Die Mahidol-Universität lag in Nakhon Pathom, eine Busstunde von Bangkok entfernt. Am Mittag wollte sie im Seminar ihre neue Theorie vortragen. Danach war Rimbaud, der bahnbrechende, revolutionäre französische Dichter stark von Shakespeare beeinflusst gewesen, genauer gesagt, basierte sein gesamter lyrischer Ansatz auf der Rede des Mad Tom in König Lear, und sie wollte noch genug Zeit haben, um ihrem Vortrag den letzten Schliff zu verpassen. Keinesfalls sollte es ihr so ergehen wie in Dickies Albtraum. Sie wollte niemals von solchen Albträumen geplagt werden. Für Miss Ginger Sweetie kam schulisches Versagen einfach nicht in Frage. Ihren Wissensdurst zu befriedigen war für sie nicht nur ein inneres Bedürfnis, es bedeutete auch die Chance, Patpong hinter sich zu lassen. 57
Hin und wieder zwang sie sich, an ihre Cousine Sup (nom de guerre: Miss Pepsi Please) zu denken. Miss Pepsi Please war umwerfend gewesen – sie hätte das Zeug zum Filmstar gehabt –, aber nach sieben Jahren Patpong … nun ja, das letzte Mal, als sie sie gesehen hatte, erinnerte Miss Pepsi Pleases Gesicht an ein Spülbecken voller alter schmutziger Teller: fettig, verhärtet, verbraucht, vernachlässigt und vergessen. Wie sie gab es unzählige andere, und dann gab es auch noch die Mädchen, die das Pech gehabt hatten, sich mit Aids zu infizieren, und jetzt nur noch dahinvegetierten. Während sie Lipgloss auftrug, ermahnte sich Miss Ginger Sweetie wieder einmal, dass ihre eigene Geschichte so nicht enden durfte. Nachdem sie ihre Blase geleert, Lidschatten aufgetragen und das schwarze Haar ausgiebig gebürstet hatte, kehrte sie endlich ins Schlafzimmer zurück. Dickie saß auf der Bettkante und sah fern. Er war völlig konzentriert, und das strahlende Aussteigerlächeln war einem Ausdruck des Schocks, der Angst und der Ungläubigkeit gewichen. «Heiliger Strohsack», fluchte Dickie. «Das darf doch nicht wahr sein!» Am Akzent des Sprechers erkannte sie, dass Dickie CNN eingeschaltet hatte. Vielleicht hatte es irgendwo eine Naturkatastrophe gegeben oder einen terroristischen Anschlag. Sie hatte das Gefühl, dass Dickie ein sensibler Typ war. Doch als sie schließlich selbst einen Blick auf den Fernseher erhaschte, sah sie einen weißen katholischen Priester in Handschellen, der von Polizisten umringt war. Miss Ginger Sweetie zuckte die Achseln und hob die frisch nachgezogenen Augenbrauen. Aber Dickie … Dickie saß wie vom Blitz getroffen da. «Heiliger Strohsack!», wiederholte er. «Sie haben Foley geschnappt. Ich glaub es nicht! Sie haben Dern.» * 58
Fast zur gleichen Zeit, einige Stunden früher oder später vielleicht, als Miss Ginger Sweetie einem staunenden Professor und ein paar desinteressierten Kommilitonen zu erklären versuchte, dass irgendein shakespearisches Gebrabbel über Flut, Strudel und tote Hunde Rimbaud zu seiner strahlenden Metaphorik inspiriert hätte, die in herausragenden Gedichten wie Eine Zeit in der Hölle ihren Niederschlag fand, legte eine weitere attraktive Asiatin ebenfalls ihre Argumente dar. Sie war etwa zehn Jahre älter als Miss Ginger Sweetie, eleganter, vornehmer, wirkte eher japanisch als thailändisch und ging auf dem Bürgersteig vor dem Cow Palace Hotel in San Francisco auf und ab, während sie auf ein Taxi wartete, das sie zum Flughafen bringen sollte. «Noch drei Tage Show in San Francisco, ja? Dann Porkland.» «Portland.» «Okay, Portland. Wenn Show aufbauen in Seattle, ich schon wieder zurück. Gleich gleich wie Show.» «Nein, wirst du nicht, Lisa», protestierte ihre Begleiterin. «Du weißt genau, dass du länger wegbleibst. Und außerdem hast du einen Vertrag unterschrieben. Du bist der Show rechtlich verpflichtet. Du wirst in allen verdammten Fernsehspots angekündigt. Die haben Zehntausende von Dollars investiert. Du kannst nicht einfach alles hinschmeißen, nur weil du wieder mal Hummeln im Hintern hast.» Die Person, die Lisa Ko so energisch widersprach, war Bardo Boppie-Bip, der Clown (nicht zu verwechseln mit irgendeinem vergangenen oder zukünftigen Generalsekretär der Vereinten Nationen). Ein Beobachter hätte Bardo Boppie-Bip nicht erkannt, da sie kein Kostüm trug, sondern Jeans, ein Sweatshirt mit Harley-Davidson-Aufdruck, Arbeiterstiefel mit Stahlkappen und auf dem apricotfarbenen, militärisch kurz geschnittenen Haar eine Baseballkappe. «Keine Hummeln in keine Hintern», entgegnete Lisa Ko und starrte in die Richtung, aus der sie das Taxi erwartete. «Ich dir 59
sagen, ist dringlich.» «Ja, das hast du mir gesagt, aber was da eigentlich so dringend ist, hast du nicht erklärt. Ich meine, du siehst irgendwas in den Nachrichten – und da war nichts über Laos, ich hab es nämlich überprüft –, und schon rastest du aus, machst dicht, grübelst die ganze Nacht, versaust praktisch deinen Auftritt, und jetzt willst du dich auch noch klammheimlich nach Asien verdrücken, ohne dem Management Bescheid zu sagen.» «Ich lassen Nachricht.» Lisa Ko warf einen nervösen Blick auf das Cow Palace und hoffte, dass keiner vom Zirkuspersonal herauskam, bevor sie ins Taxi stieg. Die Nebelschwaden aus der Bucht waren nicht dicht genug, um sie zu verhüllen. «Wie gütig von dir. Wie rücksichtsvoll. Glaubst du im Ernst, dass du damit vor Gericht durchkommst? In diesem Land sagen wir, the show must go on. Und weißt du was? Ich vermute mal verschärft, dass dein dringlich was mit diesem Kerl zu tun hat, den du da unten heiraten sollst. Wenn du so drauf brennst, ihn zu sehen, wieso schickst du ihm dann nicht ein Flugticket, damit er herkommt? Das wäre für alle Beteiligten besser.» Lisa schüttelte den Kopf, sodass jede einzelne ebenholzschwarze Schicht ihrer hoch aufgetürmten Frisur in Bewegung geriet, und schlug den Seidenkragen des jadegrünen Kleides hoch. «Unmöglich. Nicht kommen in Frage.» Sie hielt inne. «Und heiraten nicht sicher.» Bardo Boppie-Bip wurde nachdenklich. Schließlich fragte sie leise und mit einem Lächeln, das halbwegs sarkastisch sein sollte: «Heißt das, dass ich eine Chance habe?» Lisa murmelte etwas auf Lao. (Die wichtigste Landessprache in Laos heißt Lao. Desgleichen sprechen korrekt informierte Kreise in Amerika von der «lao Wirtschaft», dem «lao Klima», dem «lao Bürgerkrieg» etc. Um 1960, als die Ereignisse in diesem kleinen südöstlichen Staat Asiens die westlichen Medien 60
zwangen, ihre Aufmerksamkeit auf Laos zu richten, kamen Associated Press, die Sender und die Nachrichtenmagazine zu dem Schluss, dass es den – rigiden, aber porösen – amerikanischen Intellekt überfordern würde, wenn er verstehen müsste, dass lao das Adjektiv von Laos ist. Da sie ihr Publikum lieber verdummen als fördern, erfanden sie das Wort laotian, das sich anhört, als hätte es irgendwer in Ohio erfunden, und das wir natürlich nicht benutzen wollen, schließlich sind wir keine Dorftrottel.) So gelb wie der Zahn eines Rauchers tauchte im ausgetrockneten Mund des Morgens plötzlich ein Taxi auf. Lisa, die auf den Bürgersteig gestarrt hatte, sah flehentlich zu Bardo Boppie-Bip auf. Ihre Augen waren feucht. «Du sorgen für meine Kinder? Versprochen?» «Ja, das weißt du doch.» «Bitte.» «Beruhige dich. Die kleinen Schmierenkomödianten sind so scharf aufs Rampenlicht, dass ich versuchen könnte, selbst mit ihnen aufzutreten. Verdammt, vielleicht sollte ich deine Nummer übernehmen. Nächsten Winter habe ich Tanukis in meiner TV-Show.» «Nein, bitte nicht. Du nur sorgen für sie. Wissen, wie?» «Du hast mir alles aufgeschrieben. Reg dich ab. Du musst nur verschärft dafür sorgen, dass du deinen Arsch so schnell wie möglich wieder hierher zurückbewegst. Inzwischen passe ich auf deine Viecher auf und versuche, deinen Job zu retten.» «Danke.» Es kam von Herzen, aber als Bardo Boppie-Bip sie umarmen wollte, hatte Lisa bereits die Tür geöffnet und war hinter ihrem Handgepäck im Taxi verschwunden. Dabei rief sie rasch «Auf Wiedersehen!». Dann setzte sich das Taxi in Bewegung und brachte die «bezaubernde Abenteurerin Madame Ko», die im Augenblick nicht ganz so selbstsicher wirkte wie in dem Werbespot, zum internationalen Terminal des Flughafens 61
von San Francisco. * Bis heute Abend, Schwesterchen.» Bootsey griff nach ihrer Winnie-the-Pooh-Lunchbox. Sie fuhr mit dem Bus zur Arbeit; bis zur Endstation, wo die Queen-Anne-Filiale des United States Postal Service von Seattle lag. An der Haustür blieb sie noch einmal stehen. «Weißt du, ich bin immer noch ganz durcheinander, so sehr hat mich dieser französische Priester gestern Abend an Dern erinnert.» «Vergiss es.» Pru nahm einen Schluck Tomatensaft. «Ein französischer Priester ist ein französischer Priester.» Bootsey griff nach dem Türknauf. «Gehst du heute auf Arbeitssuche?» Pru, die nach Rationalisierungsmaßnahmen bei Boeing ihren Job als technische Zeichnerin verloren hatte, lächelte zögernd: «Hm … ja … und nein.» «Was heißt das? Ja und nein?» «Es heißt», antwortete Pru ein wenig verlegen, «ich habe gehört, dass heute der erste Voraustrupp des Zirkus in die KeyArena kommt. Könnte sein, dass sie ein paar Leute aus Seattle einstellen. Solange der Zirkus hier gastiert. Vielleicht versuche ich es erst mal da, bevor ich meinen Lebenslauf wieder herumschicke.» «Im Zirkus? Als was, um Himmels willen? Als Laufbursche der Clowns? Meinst du, die lassen dich überhaupt bis zu den Clowns vor? Oder willst du die Elefanten tränken? Ich dachte, so was machen bloß zwölfjährige Jungs?» «Wieso sollen bloß zwölfjährige Jungs ihren Spaß haben, verfickt nochmal? Die Zeiten haben sich geändert.» «Das kann man wohl sagen. Wenn eine anständige Frau 62
mittleren Alters sich so einer Sprache bedient.» Bootsey öffnete die Tür und warf einen Blick nach draußen. «Wolkig», verkündete sie. «Und etwas kühl. Wäre es nicht wundervoll, wenn heute der Tag wäre, an dem sich die ersten Blätter verfärben?» * Kaum hatte Miss Ginger Sweetie ein Trinkgeld, das sie ihrer Meinung nach gar nicht verdiente, mit schlechtem Gewissen angenommen und das Green Spider Hotel verlassen, wählte Dickie auf dem uralten schwarzen Telefon eine Nummer. Er sprach die Person am anderen Ende der Leitung auf Lao an. Sie verstand kein Wort, obwohl Lao rein linguistisch gesehen eine Menge Ähnlichkeit mit Thai hat. Da Dickie dies zum Teil auf seinen Südstaatlerakzent zurückführte, wechselte er widerwillig in die melodische angelsächsische Babysprache über, die in diesem Teil der Welt so oft für Englisch gehalten wird. «Ich wollen sprechen Xing.» «Hu?» «Xing sprechen. Xing!» «Xing nicht da.» Die Stimme gehörte einer älteren Frau, wahrscheinlich der Mutter einer der Komplizen seines Kontaktmanns. «Wo Xing?» «Hu?» «Wo? Wo Xing? Sehr wichtig.» «Heute nicht wissen.» «Wann? Wann Xing zu Hause?» «Nicht wissen. Nächste Tag, vielleicht.» Das war nicht gut genug. Dickies Hals verkrampfte sich wie 63
eine Pfote um eine Erdnuss. Während er noch nervös seine Optionen sondierte, sagte Mama-san plötzlich ganz von sich aus: «Heute Abend Xing in Patpong.» Na bitte! Großartig! Wenn das kein Fortschritt war. «Wo?», fragte Dickie, da er wusste, wie groß Patpong war. Drei verschiedene Straßen hießen Patpong, und Anschriften waren ungefähr so nützlich wie Namensschilder für Fruchtfliegen. Bevor die Stimme am anderen Ende sagen konnte, das wisse sie nicht, ließ Dickie eine weitere, wahrscheinlich genauso vergebliche Frage los: «Was er machen in Patpong?» «Sehen Elvisuit.» Fast hätte Dickie losgebrüllt. Die Freude stieg ihm zu Kopf wie Champagner-Reflux. «Elvisuit!» Jetzt musste er nur noch herausfinden, wo Bangkoks berühmter Elvis-Presley-Imitator heute Abend auftrat, und mit etwas Glück würde er bald auf dem Weg nach Laos sein, um … alles zu tun, was an diesem Punkt überhaupt noch getan werden konnte. «Kaw roo nah», dankte er der Frau in faulknerianischem Thai. «Mögen die Buddhas in deiner Chilipaste singen.» * Der Nachmittag ging langsamer ab als ein walnussgroßer Nierenstein. Es war heiß und schwül wie üblich, und die Klimaanlage im Green Spider Hotel kam einfach nicht dagegen an. Dickie saß nackt auf einem Rattanstuhl und versuchte, sich auf seine neue Gitarre zu konzentrieren, horchte allerdings mit einem Ohr auf den laufenden Fernseher. Zwar brachte CNN keine weiteren Nachrichten über Derns Verhaftung, doch zumindest erfuhr er auf diese Art, dass am Tag zuvor alle Flughäfen auf den Philippinen wegen eines plötzlichen Taifuns geschlossen worden waren. Das war eine mögliche Erklärung für Derns Zwischenstopp auf Guam. Vermutlich war seine nach 64
Manila gebuchte Maschine umgeleitet worden – zu einer Insel, die noch immer unter amerikanischer Kontrolle stand, und das wiederum implizierte paranoische Sicherheitsmaßnahmen, übereifrige Drogenfahnder und Schnüffelhunde. Nun ja, vielleicht hatte Dern es einfach zu sehr auf die Spitze getrieben. Und Stubblefield auch. Die Gitarre, die Dickie auf einem der nächtlichen Märkte unter freiem Himmel erworben hatte, wo für zwanzig Dollar «Rolex»Uhren und für zehn «Gucci»-Slipper angeboten wurden, sah für das ungeübte Auge genauso aus wie eine echte Martin D-28, bis hin zum fischgrätengemusterten Zargenrand. «Ist dieses Ornament aus echten Fischgräten gemacht?», hatte Dickie den Verkäufer gefragt. Der Kerl schaute verdutzt drein, hatte sich aber gleich wieder gefasst. «O ja! Echt! Immer beste Fischglete. Fischglete Nummer eins.» «Prima», antwortete Dickie. «Aber stammen die Gräten auch von jungfräulichen Fischen?» Der arme Verkäufer zeigte sich ratlos. War ihm etwas entgangen, was für den erfolgreichen Verkauf von billigen Gitarrenfälschungen Bedeutung hatte, oder war sein Kunde ein gefährlicher Irrer? Doch er hatte nicht lange gefackelt. «Ja! Okay! Fischgleten Nummer eins, Jungflau, Nummer eins. Nur eins a melikanische Jungflau. Kein Problem.» Als er sich jetzt an das Gespräch erinnerte, grinste Dickie so gewinnend wie ein braver Junge aus den Südstaaten. Dann verdüsterte sich sein Gesicht wieder. Er klopfte auf den fischgrätengesäumten Resonanzboden. Er strich über den mit Intarsien verzierten Gitarrenkopf. Er zupfte jede Saite einzeln. Schließlich versuchte er sich an einem Stück von Phil Ochs, wobei er mit einem Auge auf den Fernseher schielte, kam aber nicht über die erste Strophe hinaus. Dasselbe passierte ihm mit seinen Lieblingssongs von Bob Dylan und Neal Young. Nicht 65
mal an den Text von Cohens «Suzanne» konnte er sich erinnern, obwohl er ihn erst gestern Abend dem süßen Flittchen fehlerfrei vorgesungen hatte. Es gab jedoch einen Song in seinem Repertoire, dessen Text nicht mal die größte Ungeduld zu löschen vermochte – und Dickie spielte ihn immer wieder, während der endlose Nachmittag endlos langsam verstrich. Meet me in Cognito, baby, We’ll soon leave our pasts behind us. The present is always a mystery, As the future never fails to remind us. Once we’re alone in Cognito, We’ll remove all of our clothes very fast, But though we be naked as jaybirds, At no time will we take off our masks. Cinderella went incognito, And it’s said that she had a ball. It’s always midnight in Cognito By the black clock at the end of the hall. We’re destined to be clandestine, Incognito is our very last hope. I’ll meet you where the sun don’t shine, With a fake I.D. and some dope. So do join me in Cognito, 66
You know that I’ll never tell. We’ll sneak in the back door of Heaven And stroll unnoticed through Hell. Incognito Incognito There, every day’s a surprise. Incognito Incognito Where truth tells all the best lies. * Treibt man den Sozialismus über einen gewissen Punkt hinaus, so wird er zum Totalitarismus. Treibt man hingegen den Kapitalismus zum Äußersten, so ist das Ergebnis Anarchie. Wer die Richtigkeit der letzteren Behauptung anzweifelt, ist noch nie durch die Straßen von Bangkok gegangen. Genau aus diesem Grund – Amoklauf des Kapitalismus samt chaotischen Konsequenzen – weigerte sich Stubblefield, nach Bangkok zu reisen (so zumindest behauptete er). Dern hingegen konnten die ewigen Auf-, Ab- und Umbauten, die endlosen Schlangen von Straßenhändlern, eine substanzfressende Umweltverschmutzung, der gehirnbetäubende Lärm und der rund um die Uhr anhaltende Verkehrsstau nicht von gelegentlichen riskanten Besuchen abschrecken. Auf Dickie übte die Stadt eine eigenartige Anziehungskraft aus, was verwunderte, da Bangkok, dieses böse, bunte Bordell, der krasse Gegensatz zu dem ruhigen Leben in Laos war, das er so liebte. Vielleicht war es die ausgewogene Mischung aus der sanften, naiven Güte des Buddhismus und einem schamlos grinsenden Sex-Kommerz, was ihn so faszinierte, auch wenn er an beidem höchstens mal schnupperte (wie Miss Ginger Sweetie jederzeit 67
bestätigen wird). Bangkok als Stadt voller Widersprüche zu bezeichnen wäre schlimmer als ein Klischee, es wäre eine banale Platitude, nicht nur weil es so verdammt offensichtlich ist, sondern weil irgendwie jede Stadt voller Widersprüche steckt. Sind wir nicht eine widersprüchliche Spezies auf einem zwiespältigen Planeten, der durch ein allem Anschein nach paradoxes Universum trudelt? Wenn wir uns darauf geeinigt haben, sind Bangkoks Kontraste einfach zu groß, zu dramatisch, um beiläufig als Norm abgetan zu werden. Wie keine andere Metropole schafft Bangkok – zugleich Hightech-Moloch und zeitloser asiatischer Traum – die Grätsche zwischen bitter und süß, weich und hart, heilig und profan. Bangkok ist die seidenweiche Kreissäge, der bunt lackierte Presslufthammer, die stahlgegürtete Verlockung, das digitale Gebet. Seine zahlreichen Tempel und Schreine verbergen sich hinter einem Schleier aus stinkenden Abgaswolken, seine unzähligen Laster und Verbrechen hinter einem Lächeln seliger Wonne. Und bei alledem gelingt es Bangkok, ein elegantes Gleichgewicht zu wahren, eine Anmut, die nichts von ihrer Echtheit einbüßt, bloß weil sie gut einstudiert ist, und nichts von ihrer Reinheit, weil sie von Verbrechern und Huren zur Schau getragen wird. Na schön, es hat wenig Zweck, sich endlos weiter über Bangkoks Widersprüche und sein chaotisches Gemenge von Gebet und Geprotze auszulassen. Für unsere Zwecke genügt die Bemerkung, dass Dickie Goldwire etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang vor lauter Zappeligkeit nicht mehr still sitzen konnte, seine neue Gitarre im Hotelzimmer einschloss und sich in das bereits erwähnte Getümmel aus Mystik und Schmuddelglamour stürzte. Selbst die heiße, schwere Luft schien ihre dicken Finger zu spreizen, rote Bäckerfinger, die die Passanten durchwalkten wie Teigklumpen. Vermutlich kein Wetter, das Bootsey als «süß» 68
bezeichnet hätte, aber man weiß ja nie. Wie üblich wimmelte es auf den Straßen von Menschen. Geschäftsleute in Leinenanzügen, Girlie Girls in winzigen Röckchen und Mönche in safrangelben Gewändern hielten sich die Waage. Dazu gesellte sich eine beträchtliche Zahl männlicher Bleichgesichter mit Khakihose und weißem Buschhemd: die Uniform der Ausländer. Dickie trug sie nur, um nicht aufzufallen, obwohl er die Straßenseite wechselte, sobald er sich dem Safari Club oder einer Bar näherte, die von in Bangkok lebenden Amerikanern bevorzugt wurde. Er wollte um keinen Preis erkannt werden, so unwahrscheinlich diese Möglichkeit auch schien. (Those who travel in Cognito − Their very lives can depend on a hunch. They eat intuition for breakfast And sip cold paranoia at lunch.) Die schnellste und effektivste Art der Fortbewegung im ständig verstopften Bangkok war das Wassertaxi; da aber das Green Spider Hotel vom Fluss genauso weit entfernt lag wie von Patpong, nahm Dickie ein tuk-tuk zu seinem Bestimmungsort. Vierzig Minuten vergingen, bis das dreirädrige Gefährt ihn am nördlichen Rand des Viertels absetzte. Patpongs Straßen waren seit Jahren für den Verkehr gesperrt, sodass Dickie zu Fuß weitergehen musste. Das war völlig in Ordnung, da er keine Ahnung hatte, in welchem der vielen Clubs Elvisuit auftrat. An den Grenzen von Patpong patrouillierten die freiberuflichen Prostituierten, die wenigen, die nicht in den Clubs angestellt waren oder von Zuhältern ausgebeutet wurden. Dickie hielt Ausschau nach Miss Ginger Sweetie und war enttäuscht und erleichtert zugleich, als er sie nirgends sah. 69
Wenige Meter weiter aber lief er dem «Professor» über den Weg. * Nur Dickie nannte ihn «Professor», sonst niemand, dabei war es durchaus angebracht: Die Aura des Akademikers, die den älteren Herrn umgab, war so prägnant, dass selbst der coolste Dropout ganz schlimme Traumschulenflashbacks gekriegt hätte. Der Professor war relativ klein, schlank, hatte wuscheliges graues Kraushaar und trug eine Nickelbrille, einen ausgebeulten blauen Anzug, hier und da mit Zigarettenasche bestäubt, eine spießige braune, mit Chili- und Fischsaucenspritzern verzierte Krawatte und braune Schuhe, an denen sich offenbar ein ganzes Rudel Rottweilerwelpen die Zähne ausgebissen hatte. Dazu strahlte er einen würdevollen Ernst aus, den ein wechselndes Mienenspiel extremer Zerstreutheit konterkarierte. Man konnte ihn sich sehr gut als Dozent im Physikseminar der MahidolUniversität vorstellen. Seit zwölf Jahren ließ sich Dickie zwei- oder dreimal im Jahr in Bangkok blicken, und jedes Mal, wenn er Patpong betreten hatte, war er dem Professor in die Arme gelaufen. Mit seinen durchgekauten Tretern schlurfte der Professor auf Dickie zu, so wie auf alle Männer ohne Begleitung (und westliche Paare, die wie Touristen aussahen), grüßte höflich und fragte, so ernst und hoffnungsvoll, als würde er einen geschätzten Kollegen einladen, an einer Konferenz über doppelt geladene subatomare Teilchen teilzunehmen: «Mister, bitte. Sie wollen sehen Mädchen ficken Affen?» *
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Dickie lehnte in derselben respektvollen und förmlichen Art ab. «Vielen Dank, aber ich habe kein Interesse an einer solchen Verbindung, nicht mal, wenn sie sich zwischen Cheetah und Jane abspielte. Zwischen King Kong und Fay Wray hätte mich eher gereizt, schon wegen der Problematik, die ihre unterschiedliche Größe mit sich brächte, aber natürlich handelt es sich rein technisch gesehen weder bei King Kong noch bei Cheetah um Affen.» Normalerweise brabbelte Dickie irgendwas in dieser Art, belohnte den Professor mit ein paar Baht für seine Mühe und ging seiner Wege, während er sich gleichzeitig Vorwürfe machte, weil er sich schon genauso anhörte wie Stubblefield. Doch jetzt blieb er stehen und stellte selbst eine Frage. «Können Sie mir sagen, wo heute Abend Elvisuit auftritt?» «Elvisuit?» «Ja. Sie wissen schon. Elvisuit. Wo spielen heute?» So, wie sich der Professor die Stirn kratzte, hätte man meinen können, er beobachte die dynamische Interaktion, bei der ein Nukleonenpaar die elektrischen Rollen tauscht. «Heute Abend», antwortete er ganz vorsichtig und langsam, «Elvisuit spielen Shay-ray-bom, ich glauben.» «Wo, sagen Sie?» «Shay-ray-bom.» «Sheraton?» «Shay-ray-bom.» «Sheraton. Sie meinen das Royal Orchid Sheraton.» Dickie fluchte leise. «Verflixt!» Das Royal Orchid Sheraton lag im luxuriösen Hotelviertel am Flussufer, mehr als eine Meile – eine dampfende, anstrengende Meile – entfernt. Doch der Professor schüttelte frustriert den grauhaarigen Kopf, als ärgerte er sich über einen begriffsstutzigen Studenten. «Nein! Nicht Rora Orchid Sharaton. Elvisuit spielen Shay-ray-bom. 71
Patpong. Shay-ray-bom Club.» Jetzt war es Dickie, der die Stirn runzelte. Doch dann fiel der Groschen. «Ach. Sie meinen Cherry Bomb. Im Cherry Bomb Club?» Der Professor lächelte gerade lang und breit genug, um den scharfen Hauch eines billigen Thai-Mundwassers freizusetzen, und sagte: «Ja. Ja. Shay-ray-bom. Kein Problem. Okay!» Er steckte die zerknitterten Bahtlappen mit einer würdevollen kleinen Verbeugung und dem buddhistischen Gruß ein und setzte seine Suche nach einem neuen Mister unverzüglich fort. Dickie machte einen Bogen um den Safari Club und den King’s Corner Club (Letzterer ein beliebter Treffpunkt für bestimmte Exilanten, die ihn als besten Transen-Club der Welt bezeichneten – abgesehen vom Vatikan) und bahnte sich einen Weg durch das dichter werdende Gewusel von Straßenhändlern und Gauklern zum Cherry Bomb Club. Am Eingang blieb er stehen und horchte auf die Klänge von «Hound Dog» oder «Love Me Tender». Doch aus dem Lokal drang kein einziger Ton, und es war auch kein Fünkchen Licht zu sehen. Still und dunkel lag das Cherry Bomb da. Vielleicht hatte jemand vergessen, den richtigen Kontaktmann zu schmieren. Oder ein paar ruppige Australier hatten das Lokal kurz und klein geschlagen. Wie auch immer, das Cherry Bomb war geschlossen. * Kein Grund, in die Luft zu gehen, oder? Kam Xing nicht eigens nach Patpong, um Elvisuit zu sehen? Ließ das nicht darauf schließen, dass Elvisuit heute Nacht in Patpong auftrat und nicht in einem der Hotels an der Silom Road, im Nana Plaza, Soi Cowboy oder in einem ganz anderen Viertel von Bangkok? Davon konnte man zumindest ausgehen, aber was, wenn Xing 72
gehofft hatte, Elvisuit im Cherry Bomb zu sehen, ohne zu wissen, dass der Club geschlossen hatte? Xing hatte Kontakte in Bangkok, okay, aber er wohnte weit weg in einem Dorf an der Grenze zu Laos. Was wusste er schon? Dickie begann, systematisch die Straßen zu durchforsten und schaute in jede einzelne Bar, die nach Live-Musik aussah. Da die Sex-Clubs nur Musik aus der Dose anboten, ließ er sie links liegen, ertappte sich allerdings wie üblich dabei, unwillkürlich vor der berüchtigtsten Reklametafel von Patpong stehen zu bleiben und sie zu studieren. PUSSY SPIELT PINGPONG PUSSY RAUCHT ZIGARETTE PUSSY ISST MIT STÄBCHEN PUSSY ÖFFNET BIERFLASCHE PUSSY SCHREIBT BRIEF Wenn der Zweck einer Reklame darin besteht, so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu wecken, dann war diese Reklame die erfolgreichste in der Geschichte der Branche. Sogar Passanten, die lieber eine Treppe runtergefallen wären, als sich eine genitale Stuntshow anzusehen, wurden von dieser Reklametafel regelrecht elektrisiert. Frauen waren schockiert, belustigt, fasziniert, manchmal auch insgeheim inspiriert. Männer waren angenehm erregt, erstaunt, vielleicht sogar von einem klitzekleinen Funken Vaginalneid gepikst. Ob nun fasziniert oder abgestoßen, niemand konnte das Schild ignorieren – und obendrein sagte diese Reklame im Gegensatz zu 95 Prozent aller amerikanischen Werbung die Wahrheit. Wer hinging, konnte all das, was da versprochen wurde, tatsächlich erleben, und noch viel mehr. Trotzdem war Dickie ein wenig enttäuscht, dass der Text auf 73
der Tafel seit mindestens zehn Jahren der gleiche war. Nicht dass er lebende Frösche in der Sex-Show erwartet hätte, wie es mittlerweile im Nana Plaza angesagt war, doch wenn man bedachte, wie technologieversessen Thailand in letzter Zeit geworden war, hätte er sich den einen oder anderen neuen Slogan gewünscht. Zum Beispiel: PUSSY SURFT IM INTERNET * Man stelle sich eine Stadt vor, in der drei Straßen mehr oder weniger parallel nebeneinander verlaufen, die alle den gleichen Namen tragen. Eine solche Stadt existiert. Man hätte meinen können, dass diese sich wiederholenden Straßen irgendwo in Pago Pago oder Walla Walla (oder besser Pago Pago Pago und Walla Walla Walla) hätten liegen müssen, doch weit gefehlt. Die Logik, gegen die diese spezielle Redundanz verstößt, lässt sich hier nicht weiter erläutern, andererseits kann man eine Gemeindeverwaltung, die die Regeln der Stadtplanung derart unverfroren missachtet, nur bewundern. Die alten, vorindustriellen Städte der Welt mit ihren organisch gewachsenen, kurvenreichen Gassen fördern die Freiheit des Geistes, obwohl sie pragmatische Denker durcheinander bringen, doch nur wenige, wenn überhaupt, haben sich so weit in Richtung seligen Selbstvergessens vorgewagt wie Bangkok. Als Stubblefield von den drei parallel verlaufenden Straßen in Patpong hörte, meinte er: «Wie erfrischend! Urbane Raster waren mir schon immer ein Dorn im Auge, Goldwire. Sie verstoßen gegen die Natur, unterbinden jede Spontaneität, sie sind ein Käfig für die Seele. Vielleicht ist Bangkok eine Reise wert.» Aber am Ende hatte Mars Stubblefield Bangkok doch nicht 74
besucht. Dickie Goldwire hingegen war in Bangkok und durchforstete beide Seiten einer Hauptverkehrsader, die in einigen Stadtkarten als «Patpong I» verzeichnet war, die wildeste und geschäftigste der drei Patpong Roads. Leider vergeblich. Allmählich hatte Dickie das Gefühl, dass es genauso schwer war, diesen Elvisuit in Patpong aufzutreiben, wie Jonas’ Kontaktlinsen im Bauch des Wals wiederzufinden. Außerdem fühlte er sich erschöpft und schwindelig – und erinnerte sich erst jetzt, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte bis auf einen Zimtapfel und eine kleine Tüte Shrimp Chips. Auf der Patpong III gab es ein kleines Restaurant, das für sein vorzügliches yang kung bekannt war. Zwar konnte er sich nicht mit einem Tanuki (oder Stubblefield) messen, wenn es ums Essen ging, doch lief ihm allein beim Gedanken an diese Köstlichkeit (in den Bergen von Laos war Fisch rar) plötzlich das Wasser im Mund zusammen. Patpong III war eine ruhigere Straße, im Grunde kaum breiter als eine Gasse, obwohl hier in letzter Zeit diverse gut besuchte Schwulenclubs wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Dickies Restaurant war, so stellte er misstrauisch fest, um eine Karaokebühne erweitert worden, aber im Augenblick war sie leer, und die Garnelen schmeckten genauso köstlich wie früher. Er spülte sie mit ein paar Bier hinunter und bestellte nach dem Essen einen doppelten Whisky, in der (natürlich idiotischen) Hoffnung, der Alkohol würde ihn etwas entspannen. Dabei war die augenblickliche Lage gar nicht so kompliziert. Er musste diesen Elvisuit ausfindig machen, um an Xing ranzukommen. Xing musste er auftun, damit der ihn sicher nach Laos zurückschmuggelte. Und nach Laos musste er, um so schnell wie möglich die Villa Incognito aufzusuchen und Stubblefield zu warnen, dass man Dern Foley geschnappt hatte, aber auch um seine Siebensachen zu packen und sich innerlich auf den nächsten Schachzug vorzubereiten. Dickie hatte wohl allzu versunken über seinem Glas gebrütet, 75
denn als die Restaurantbesitzerin ihn ansprach, fuhr er zusammen. Normalerweise hätte sein inneres Radar ihn vorher gewarnt, doch die Mischung aus Sorgen und Alkohol musste das Warnsignal übertönt haben. «Dir Laus auf die Leber krabbeln? Whisky nicht gut?» «Oh, wie bitte? Nein, nein, Whisky gut. Whisky sabai dee. Whisky sanuk. Kaw roo nah.» Die Besitzerin kicherte. «Du sprechen sehr gut Thai», schmeichelte sie ihm. «Nummer eins, aber mit Lao-Akzent.» Dickie wurde blass. Seine Wirbelsäule kribbelte. Er machte ein unschuldiges Gesicht (nichts leichter als das für einen Jungen aus der Oberschicht von Carolina) und zuckte die Achseln. «Danke», antwortete er. Genug Thai. «Du nicht glücklich», sagte die Frau anklagend. Obwohl sie ziemlich dick und nicht mehr die Jüngste war, trug sie ein knallenges blaues Kleid, und ihre Lippen und Nägel waren raketenrot geschminkt. «Warum nicht glücklich? Du wollen Mädchen?» «Mädchen? Nein. Ich glücklich. Ich nicht wollen Mädchen. Ich haben Mädchen.» «Wo?» Sie sah sich demonstrativ im Raum um. «Wo dein Mädchen? Dein Mädchen arbeiten? Schnappen sich andere Mann?» Wieder wurde Dickie blass. Er richtete sich auf und wünschte, ihm wäre nicht so komisch. «Mein Mädchen weit weg», sagte er schwach. Sie arbeitete tatsächlich, wenn auch nicht als Barmädchen. Aber wie er sie kannte, konnte es sehr gut sein, dass sie gerade mit einem anderen Mann im Bett lag. «Ah, Mädchen weit weg. Du brauchen Mädchen jetzt. Ich haben schöne Mädchen. Nummer eins. Machen sanuk. Machen glücklich.» «Ich nicht suchen Mädchen», beharrte Dickie. «Ich suchen 76
Elvisuit.» «Elvisuit?» Dickie nickte jämmerlich. «Ich nicht wissen, wo Elvisuit spielen. Ich müssen sehen heute Abend.» Die Frau grinste. «Kein Problem. Elvisuit mein Freund. Ich Elvisuit rufen, er hier kommen. Kein Problem.» «Jaja», murmelte Dickie, als seine Gastgeberin davoneilte. Kein Problem. Bei diesen Thais gibt es nie ein Problem. Wie bei den Laoten. Egal, ob sie dich übers Ohr hauen, dir zu Füßen liegen oder dir das Leben retten, immer heißt es kein Problem. Mai pen rai. Kein Problem. Liegt es am Buddhismus oder was, dass diese Menschen so viel glücklicher und entspannter leben als die Westler? Mitten in Bangkoks endlosem Durcheinander lächeln sie dich an und sagen «Kein Problem». Wäre Jean-Paul Sartre Thailänder gewesen, wäre der Existenzialismus zur Lachnummer verkommen. Heiliger Strohsack! Die Gäste am Nebentisch – zwei Paare – feierten einen Geburtstag. Sie waren betrunkener und weitaus geselliger als Dickie. Als er seinen Whisky ausgetrunken hatte und mit einer Handbewegung die Rechnung bestellte, schickten sie ihm einen weiteren Whisky an seinen Tisch. Keinen Doppelten. Und strahlten ihn an. Na schön. Er schenkte ihnen sein heuchlerisch nettes Südstaatlergrinsen, hob das Glas in ihre Richtung und nahm einen Schluck. Er war Alkohol nicht gewohnt. In Laos trank er so gut wie nie. Doch egal, wie hinüber er war, seine begrenzten Optionen waren ihm durchaus noch bewusst. Er konnte sich an den ursprünglichen Zeitplan halten und noch drei Tage warten, um wie abgemacht mit dem Bus in Xings Dorf zu fahren. Oder er konnte am Morgen mit dem Bus zur Grenze fahren in der Hoffnung, Xing würde sich dort früher als verabredet blicken lassen. Oder er konnte … Nein, Entschuldigung, das war schon alles. Klar, genau wie Dern hatte auch er einen falschen Pass 77
(den er nie benutzt hatte), aber kein Geld, um nach Vientiane zu fliegen. Er hatte fest mit dem gerechnet, was Dern ihm aus Manila mitbringen sollte, und jetzt war er geradezu gefährlich pleite. Nach dem heutigen Abendessen konnte er von Glück sagen, wenn er noch genug hatte, um die Hotelrechnung zu bezahlen, ganz zu schweigen von einem Flug nach Laos. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Whisky zu kippen. Und als sich alles in seinem Kopf zu drehen begann, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Karaokebühne zu torkeln, sich das Mikrophon zu schnappen und, ohne auf eine musikalische Begleitung zu warten, «Blue Christmas» zum Besten zu geben. Er hörte sich nicht mal entfernt an wie Elvis Presley. Und auch nicht wie Dickie Goldwire. Seine Stimme war so schmalzig wie eine Dose billiges Hundefutter, wenn eine Dose billiges Hundefutter singen könnte. Gemeiner Chow-Chow-Welpe singt die schönsten Weihnachtslieder. Auf dem Skippy Label. Es klang derart flach und falsch und mies, dass es in seinen eigenen Ohren wehtat. Da er für einen Amateur sonst gar nicht schlecht sang, war er über seine Misstöne selbst am meisten überrascht. Die anderen Gäste hörten höflich zu, die Geburtstagsgesellschaft lächelte aufmunternd, und Dickie gab sein Bestes, um ernst zu bleiben. Innerlich wäre er vor lauter Lachen beinahe geplatzt, er kam sich vor wie eine Champagnerflasche, die man fünf Minuten lang heftig geschüttelt hatte. Hätte man seine Stimmritze entkorkt, wären unter der Wucht des Gelächters sämtliche Fenster zersplittert. In diesem Augenblick hörte er eine laute Stimme mit starkem Südstaatlerakzent rufen: «See ya later, alligator!» Er schirmte, noch immer singend, mit der Hand die Augen ab und schielte zum Ausgang, um zu sehen, was für einen Landsmann er mit seiner entsetzlichen Vorführung von «Blue Christmas» aus dem Lokal verjagt hatte – wobei er gleichzeitig betete, dass es keiner war, der ihn möglicherweise erkannt hatte. 78
Doch musste er feststellen, dass der Spruch nicht von jemandem stammte, der das Restaurant verließ, sondern von jemandem, der gerade hereingekommen war. Genauer gesagt, einem Mönch in safrangelber Robe, der sich einen komischen safrangelben Seidenschal um den Kopf gewickelt hatte. Mit theatralischer Geste riss sich der Neuankömmling den Schal vom Kopf und entblößte lange Koteletten und eine schwarze pomadisierte Haartolle. Blitzschnell entledigte er sich des Mönchsgewands, unter dem er einen hautengen Overall trug, so weiß und glitzernd wie gefrorene Milch. (Die Mönchssandalen behielt er an, aber sie waren passend silbern gefärbt). Das Raunen der Gäste eskalierte, als ein Junge durch die Tür trat und ihm die Gitarre reichte, die er draußen auf der Straße als die seine ausgegeben hatte. Nicht länger inkognito, sprang Elvisuit auf die Bühne, schubste Dickie mit seinem knochigen Ellbogen zur Seite (abgesehen von Schmachtlocke und Koteletten hatte der schmächtige kleine Thai ebenso viel Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Mr. Presley wie mit der verstorbenen Mutter Teresa) und brüllte erneut: «See ya later, alligator!» Anscheinend war das seine obligatorische Begrüßung. Während Dickie wieder zum Tisch zurückschlurfte, machte Elvisuit genau da weiter, wo Dickie aufgehört hatte, und schmachtete «Blue Christmas». Es war offensichtlich, dass er nur phonetisch sang, ohne ein Wort vom Text zu verstehen (für ihn und die anderen Buddhisten im Publikum war Weihnachten nicht mehr und nicht weniger als eine komische amerikanische Gepflogenheit, so was Ähnliches wie Handfeuerwaffen, Rasenpflege und Psychoanalyse, für die sich die Thais nicht die Bohne interessierten). Trotzdem sang er so makellos, so präzise, jede Note so perfekt, dass man die Augen hätte schließen und sich vorstellen können, der König von Memphis sei wie sein Rivale, der König der Juden, von den Toten wiederauferstanden. Dickies aufgestaute Lachsalve verpuffte. War er gekränkt? 79
Irgendwie schon, und auch beschämt. Das war aber nicht das Schlimmste. Er sah, dass Elvisuit am Gitarrengurt einen kleinen Beeper befestigt hatte – sodass er jederzeit angefunkt und zum nächsten Gig bestellt werden konnte. Dieser Typ absolviert vermutlich zehn Auftritte pro Nacht, dachte Dickie. Ach, was sage ich, zwanzig! Um an Xing ranzukommen, war Elvisuit ungefähr so nützlich wie ein Taschenatlas von Venezuela. Kaum war Dickie dies klar geworden, dämmerte ihm auch, dass die Restaurantbesitzerin ihm wahrscheinlich die Rechnung für Elvisuits Auftritt aufbrummen würde, da er ihn bestellt hatte. Da kamen hundert Dollar (oder der entsprechende Gegenwert) schnell zusammen, von Trinkgeld gar nicht erst zu reden. Dazu das Abendessen und die Drinks. Wenn er sich stur stellte, würde sie die Polizei rufen, und das kam am allerwenigsten in Frage. Also beschloss er, sich aus dem Staub zu machen. Er wartete, bis ihm die Besitzerin und der Kellner den Rücken zuwandten, erhob sich schwankend und tat so, als müsste er zur Toilette. Mittlerweile trällerte Elvisuit «Blue Hawaii», während Dickie, ohne es zu merken, im Rhythmus der Musik schlingerte. Als er am Ausgang vorbeikam, ergriff er seine Chance. PENG! Blöderweise stieß er im gleichen Augenblick mit einem Gast zusammen, der gerade hereinkam. Einen Augenblick schienen die beiden ineinander verhakt. Dickie versuchte, sich loszureißen, doch der Mann hielt ihn am Buschhemd fest. Da er sich nicht befreien konnte, um seine Flucht fortzusetzen, verlor der ansonsten so gemütliche Dickie in seiner Panik die Nerven und holte zu einem Schlag aus. Erst da sah er zum ersten Mal das grinsende Gesicht des Mannes. Es war sein Schleuser. Es war Xing. * 80
Klopf! Klopf! «Wer da?» «Ich bin’s. Ich habe meinen Schlüssel verloren. Lass mich rein, schnell! Ich muss ganz dringend Pipi machen.» Pru öffnete die Tür. «Pipi machen?», wiederholte sie mit einem finsteren Blick. «Sind wir hier im Kindergarten oder was?» «Und wennschon!», gab Bootsey zurück und raste an ihrer Schwester vorbei ins Badezimmer, wo sie ungewöhnlich lange Zeit blieb. Klopf! Klopf! «Wer da?» «Wer glaubst du, würde wohl an deine Badezimmertür klopfen? Edgar Allan Poe? Was machst du so lange da drin?» «Geht dich nichts an. Hab mir beim Lunch den Magen verdorben.» «Und ich habe dir was mitzuteilen: Ich habe den Job.» «Welchen Job?», rief Bootsey durch die Tür. «Den Job im Zirkus. Sie haben heute Morgen angerufen. Sie zahlen nicht viel, und es ist bloß für ein paar Tage, aber es macht bestimmt Spaß.» «Das ist ja großartig! Vielleicht kannst du mir Freikarten besorgen. Ich hätte nichts dagegen, mir diese süßen kleinen Viecher anzusehen, die mit den putzigen Schnäuzchen, die Katunis. Sie sind goldig.» «Ich glaube, sie heißen Tazukis.» Pru hielt inne. «Noch was. Heute kam hier ein Mann vorbei. Offensichtlich von der Regierung. Er will, dass wir nach San Francisco kommen, sofort. Ich glaube, es ist wegen Dern.» Auf der anderen Seite der Tür herrschte Schweigen. Dann endlich das vertraute Rauschen des Wassers, das von einem 81
eifersüchtigen Liebhaber erwürgt wird. Die altmodische Spülung. Klopf! Klopf! «Wer da?» «Ich bin’s.» «Wer denn?» «Ich bin’s, Stub. Dickie.» «Ach, Goldwire. Schon zurück aus dem Nexus nirwanischer Nachtigallen in Buddhas brodelndem Bordell?» «Ich musste. Und zwar aus einem wichtigen Grund.» «Lan, kannst du bitte Monsieur Goldwire die Tür aufmachen? Komm rein, Dickie, aber halt den Mund. Du störst gerade.» Es war eine schwere Tür aus rotem Tropenholz, geschmückt mit Schnitzereien, die Volkshelden und eine Prozession von Dickhäutern darstellten. Es war eine Reverenz an die Zeit, da Laos als «das Land der Millionen Elefanten» bekannt war. In ihren wuchtigen Messingscharnieren öffnete sich die Tür langsam, elegant, beinahe luxuriös, schwang auf, trotz ihres Gewichts, wie eine fleischige Matrone, die ihren alten Drill im Mädchenpensionat nicht vergessen hat. Da Dickie aus dem hellen Sonnenlicht kam, war er vorübergehend blind und konnte in dem dunklen höhlenartigen Salon nichts erkennen. «Es ist wichtig, Stub», sagte er ins Schwarze. «Es ist dringend.» «Mein lieber Goldwire.» Dickie konnte Stubblefields heiteres, scharfsinniges und ewig ironisches Lächeln nicht sehen – aber er ahnte, dass es da war. «Du weißt doch genau, dass nichts in unserem kleinen grünen Mauseloch im Opiumschrank der Welt jemals dringend ist. Ich bin gerade dabei, mein Seminar zu beenden. Geh schon mal voraus ins Arbeitszimmer, ich komme gleich nach.» 82
Wenn du wüsstest, was ich durchgemacht habe, um herzukommen, dachte Dickie. Stellvertretend für ihn wollen wir die Highlights seiner Tortur hier nochmal kurz auflisten: 1. Xing hatte ihn überredet, zu seinem Tisch im Restaurant zurückzukehren, wo er noch ein paar Whiskys trank und zu guter Letzt eine ordentliche Summe für Elvisuits Privatvorstellung hinblättern musste. 2. Als die beiden anschließend auf Xings Motorrad zum Green Spider fuhren, entdeckte er an einer Straßenecke Miss Ginger Sweetie und bat Xing anzuhalten. Sie sah so hübsch aus, so sittsam, verletzlich und müde – und in seinem Rausch drückte er ihr die wenigen Scheine, die ihm von seinem Bündel noch übrig geblieben waren, in die Hand und bat sie, nach Hause zu gehen und zu schlafen. Miss Ginger Sweetie fiel ihm um den Hals und hätte dabei um ein Haar das ganze Motorrad umgestoßen. «Okay, Dickie, ich gehen schlafen. Kein Problem. Danke, Darling. Du auch gehen schlafen. Okay? Nicht Traumschule.» Er sah sich nach ihr um, bis ihn das Motorrad außer Sichtweite trug. 3. Im Morgengrauen durchquerte er die Hotelhalle so lässig wie nur möglich. Er war vollkommen blank. Den Rucksack ließ er zurück, seine Siebensachen hatte er im Gitarrenkoffer verstaut. Es war ihm sonnenklar, dass er nie wieder im Green Spider absteigen könnte – immerhin war er gerade dabei, die Zeche zu prellen. 4. Mit einem Brummschädel, bei dessen Vorstellung sich die Inquisition die Hände gerieben hätte, verbrachte er die nächsten vierzehn Stunden auf Xings schneller Yamaha. Es 83
war ein Erlebnis, das seine Wirbelsäule durchrüttelte, seine Hämorrhoiden anschwellen ließ und der Kirche, hätte sie über eine neue Interpretation des sechsten Gebotes verfügt, durchaus als Folterinstrument hätte dienen können. 5. In einem Stall in Xings Dorf versuchte er, neben einer Wasserbüffelkuh und ihrem Kalb ein paar Stunden zu schlafen, während er wartete, bis der Mond unterging. 6. Als sein Schlepper sich wutentbrannt weigerte, ihn auf Pump über die grüne Grenze zu schmuggeln, hatte er ihm seine kostbare brandneue Gitarre übergeben müssen. 7. Unter einer Decke versteckt, die schlimmer stank als beide Wasserbüffel zusammen, hatte er sich über den Mekong paddeln lassen. Am anderen Ufer hatte man ihn nass und übel riechend an einer Stelle abgesetzt, wo es angeblich keine Grenzpatrouillen gab. 8. Schlotternd vor Angst, auf eine Kobra zu treten, war er zwei Stunden durch sumpfiges Terrain zu der Stelle marschiert, wo er sein eigenes kleines Motorrad versteckt hatte. 9. Als ihm nach etwa dreißig Meilen der Sprit ausgegangen war, hatte er das Motorrad fünf Meilen weit bis zur nächsten Tankstelle schieben müssen. Sie war eine für das ländliche Laos typische «Tankstelle» und bestand aus einem niedrigen Holztisch, hinter dem eine Frau ein halbes Dutzend Plastikflaschen bewachte, die mit billigem Sprit gefüllt waren. Dickie tauschte seinen Ledergürtel, die leere Brieftasche und seinen Examensring von der Highschool gegen zwei Viertelliterflaschen Sprit und setzte seine 84
endlose Reise fort. 10. Die letzten vier Meilen nach Fan Nan Nan (oder «La Vallée du Cirque») musste er zu Fuß zurücklegen, da der Weg selbst für ein Motorrad zu steil und zerklüftet war. Als er endlich in dem kleinen Bergdorf ankam, machte er nicht mal bei sich zu Hause Halt, um sich zu waschen, zu essen und die Kleidung zu wechseln, sondern begab sich direkt zur Villa Incognito. Sie lag bloß ein paar hundert Meter von seinem Haus entfernt, doch die bildeten aus seiner Sicht den anstrengendsten Abschnitt der ganzen Reise. * Während der vom Monsun erzwungenen Ruhepause innerhalb der südostasiatischen Saison hatten viele bekannte und ungewöhnliche Zirkuskünstler wie Madame Ko und ihre Purzelbäume schlagenden Tanukis bei europäischen oder nordamerikanischen Shows angeheuert. Einige Artisten jedoch, vor allem die älteren, waren in die kühlen, trockenen Berge von Fan Nan Nan zurückgekehrt, um sich zu erholen oder neue Nummern einzustudieren. Eine ehemalige Luftakrobatin hatte sich bereit gefunden, Dickie in einer hölzernen Schubkarre über das Stahlseil zu schieben, das Fan Nan Nan mit der Villa Incognito verband. In vielerlei Hinsicht war Dickie Goldwire ein tollkühner Draufgänger. Wenn man ihn in eine Militärmaschine setzte und in ein Kampfgebiet schickte, war er so cool wie Eis am Stiel. Wenn sein Stützpunkt unter Beschuss geriet, war er der Letzte, der in Deckung ging, und fast immer hatte er ein Lied auf den Lippen, wenn er in den Bunker hechtete. Ah, aber diese Fahrt in der Schubkarre war was ganz anderes. 85
Das Stahlseil, über das ihr primitives Vehikel rollen sollte, war nicht dicker als das Handgelenk eines Kindes. Obwohl es so straff gezogen war, wie es unter den herrschenden physikalischen Umständen nur möglich war, schaukelte es im Wind sacht hin und her. Von Holzgerüst zu Holzgerüst führte das Kabel über den gähnenden Schlund des Abgrunds, der so breit wie ein Fußballfeld war. Es ging derart tief hinab, dass man im Dunst, den der felsgespickte Strom da unten hochwirbelte, den Grund kaum sehen konnte. Wie es hieß, gab es in der Schlucht Unmengen von Kobras und sogar den einen oder anderen Tiger. Aber die tatsächliche Verbreitung von Fauna und Flora würde einen kaum noch interessieren, wenn man das Pech hatte hinunterzufallen. Ein plötzlicher Windstoß, ein falscher Schritt des Luftakrobaten, und der Passagier würde in den letzten Sekunden seines Lebens das Gefühl kennen lernen, im freien Fall und ohne Schirm in den sicheren Tod zu stürzen. Das Merkwürdige an alledem war, dass Dickie nach diesem Gefühl geradezu lechzte. Nicht aus Todessehnsucht: In seinem ganzen Körper gab es keine einzige selbstmörderische Zelle. Es schien eher so, als erweckte gerade diese Empfindung, diese innere Kraft, die ihm den Hodensack zusammenzog, den Hals zuschnürte und Tränen in die Augen trieb, zugleich den Wunsch in ihm, sich in die endlose Leere zu stürzen. Und letzten Endes war die Angst vor seinem Verlangen, in den Abgrund zu stürzen, größer und verwirrender als die Angst zu fallen. Wenn in Fan Nan Nan weder Akrobaten noch Seiltänzer aufzutreiben waren, um die bunt bemalte Schubkarre hinüberzubringen, überquerte man die Schlucht am Seil hangelnd wie bei einem Kommandoeinsatz (Dickie hatte es bislang nur einmal versucht) oder wartete, bis Dern seinen alten russischen Hubschrauber zum Laufen brachte. Von den beiden Gründen (eigentlich drei, wenn man seine Fiancée dazuzählte), aus denen Dickie sich nur selten in der Villa Incognito blicken ließ, war die Angst vor der Überquerung des Abgrunds mit 86
Abstand der wichtigste. An jenem Nachmittag jedoch blieb ihm keine andere Wahl. Einen Boten konnte er nicht schicken, da der Ernst der Lage und auch eine gewisse Vertraulichkeit hinsichtlich der Information erforderten, dass er unverzüglich selbst mit Stubblefield sprach. Es ging um Kopf und Kragen. Daher stieg er in die rot und gelb bemalte Schubkarre, aus der seine langen Beine und Arme rechts und links herausbaumelten, kniff die Augen so fest zu wie ein Sechsjähriger in seinem ersten Horrorfilm und ließ sich über ein schaukelndes Stahlseil im Himmel rollen. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten, ohne ein einziges Mal zu schwanken oder den Rhythmus zu ändern, schob ihn die Seiltänzerin hinüber und lieferte ihn schlapp, aber lebendig auf der anderen Seite des Abgrundes ab, wo er langsam und dankbar zwischen den Bäumen hindurchtrottete und schließlich in der Villa Incognito vorstellig wurde. Ja, vorstellig wurde, aber in was für einem Zustand! Dickie war so zerlumpt, übel riechend, unrasiert und wackelig auf den Beinen, so gerädert und ausgehungert, dass niemand einen Pfifferling für ihn gegeben hätte. Er sah schlimmer aus als Tanuki nach einer seiner sagenhaften Sake-Sauftouren. Stubblefield bemerkte es nicht – zum Teil wegen des spärlichen Lichts, zum Teil wegen der geruchskaschierenden Räucherstäbchen, vor allem aber weil er vollauf mit der Fortbildung seiner Dienstboten und Konkubinen beschäftigt war. * Nun gut», fuhr Stubblefield fort, «kurz bevor wir unterbrochen wurden, hatte ich den englischen Ausdruck Soul benutzt, der weder den Buddhisten noch den Hmong-Animisten unter euch viel sagen wird. Was aber nicht weiter tragisch ist, denn auch 87
unter den Westlern verstehen nur die wenigsten, was gemeint ist.» Sein Publikum war hingerissen. Es bestand aus sechs Konkubinen (vier für Stubblefield, zwei für Dern), etwa zehn männlichen Dienstboten und zwei oder drei Dorfältesten. Sie hockten auf opulenten Perserteppichen, seltenen, kostbaren Stücken, die an manchen Stellen doppelt und dreifach übereinander lagen, und nippten an ihrem Tee. Mit den Jahren hatte Stubblefield den meisten seiner «Schüler» beigebracht, richtiges Englisch zu sprechen, nicht das übliche Babykauderwelsch, das keinerlei Zeiten kennt. Möglicherweise verstanden sie vieles von dem, was er sagte, nicht, aber sie hörten aufmerksam zu – genau so wie jetzt Dickie, der an der Tür stehen blieb und keine Anstalten machte, den Raum zu verlassen. Dickie liebte Stubblefields schulmeisterliche Vorträge, das hatte er schon immer getan, und wären nicht dieses Stahlseil und gewisse Geschäftsinteressen gewesen, hätte er bestimmt regelmäßig an den Seminaren in der Villa Incognito teilgenommen. «Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Soul oder Seele reden?» Das war eine rhetorische Frage, gewiss, trotzdem hielt Stubblefield inne, als erwartete er eine Antwort von seinem Koch oder der designierten Gespielin für die kommende Nacht. Der große Raum war gegen das Sonnenlicht abgeschirmt, aber auch gegen die Kakophonie der alltäglichen Dorfgeräusche und das schrille Tätärätätä der Zirkusmusik, die gelegentlich von der anderen Seite der Schlucht herüberschwappte. Nachdem sich Dickies Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte er den Eindruck, dass sich Stubblefields ohnehin beträchtlicher Leibesumfang seit ihrer letzten Begegnung noch vergrößert hatte. Es war schon eine ganze Weile zu beobachten, dass Stubblefields Silhouette mehr und mehr vom Rest der Welt verdrängte. Sein Körper hatte sich derart aufgebläht, dass 88
Verehrer der Buddhastatue bei seinem Anblick in ehrfürchtiges Schweigen verfielen, während die aus dem Gebirge stammenden Animisten wegen seines buschigen Bartes und dichten braunen Haars, das ihm bis auf den Rücken fiel, in ihm ein Abbild des Gottes – oder des Ungeheuers – aus der Schlucht zu sehen meinten. Dieser Eindruck wurde zweifellos noch verstärkt durch den sprungbereiten Tiger, der auf seine Brust tätowiert war. Er trug einen leichten, westlich geschnittenen Anzug aus glänzender violetter Seide ohne Hemd. Abgesehen von der Tätowierung war sein Oberkörper ebenso nackt wie seine Füße. Eines der Mädchen hatte die Nägel der beiden großen Zehen aus Spaß scharlachrot lackiert. Dickie fand, sie sahen aus wie die Raketenspitzen auf einer liliputanischen Weltraumstation. «Was meinen wir also, wenn wir von Seele reden? Tja, ganz anders als in der Popkultur hat Soul hier nichts zu tun mit einem übergewichtigen Nachtclubsänger, der eine unglückliche Liebe in Detroit anschmachtet. Die Seele hängt nicht in irgendeinem Barbershop von Memphis herum, sie brät keinen Katzenfisch zum Abendessen und hat keine .38er Special in der Wäscheschublade versteckt. Harte Zeiten und ein schweres Leben können die Seele reifen lassen, gewiss, aber die Hefe, mit deren Hilfe sie erst richtig aufgeht, ist die Freude.» Nach kurzer Pause fuhr er fort: «Andererseits ist die Seele auch kein blasser Dampf, der aus einem Eimer mit metaphysischem Trockeneis aufsteigt. Trotz aller ektoplasmischen Assoziationen widersetzt sie sich hartnäckig der Ansicht, sie sei das Produkt geheiligter Blähsucht oder ein Hauch von persönlichem Sumpfgas. Die Seele ist nicht mal das Überraschungsei, um das sich Gott und der Teufel streiten, nachdem die Würmer unsere Knochen blank geleckt haben. Wenn wir uns also Gedanken darüber machen – und früher oder später bleibt das niemandem erspart –, was wir mit unserer Seele anstellen sollen, wäre die Religion der falsche, allerdings konventionellste Ansprechpartner. Religion 89
ist nicht mehr als eine Transaktion, bei der besorgte Menschen ihre Seele gegen einen vorübergehenden, illusionären Trost für ihre Psyche eintauschen – nach dem alten Motto ‹Lass-es-losdamit-du-es-behalten-kannst›. Religionen verleiten uns zu glauben, die Seele sei unser wertvollster Familienschmuck, den sie für uns in ihren Safes einlagern oder zumindest gegen Feuer und Diebstahl versichern könnten, Hauptsache, wir gehorchen ihnen bedingungslos. Das aber ist ein Irrtum.» Stubblefield stapfte im Raum auf und ab, ruhelos wie der Tiger auf seiner Brust, obwohl sein Gesicht vollkommen entspannt war. «Wenn ihr unbedingt wissen wollt, wie die Seele aussieht, dann stellt euch …» – er machte eine kurze Pause, um nachzudenken –, «… dann stellt euch so etwas wie einen Zug vor. Ja, einen langen, einsamen Güterzug, der an einem endlos verregneten Morgen von Generation zu Generation rumpelt. Seine Waggons sind mit Seufzern und Lachen beladen, seine Hobos sind Engel, der Lokomotivführer ist die Pikdame. Die Pikdame ist eine ganz besonders Verrückte. Whooooowhoooooo! Hört ihr die epiphanische Pfeife?» Die Zuhörer kicherten über die Geräuscheinlage. «Das eigentliche Ziel des Zuges ist das Göttliche, aber er hält auch am Big Bang, am Orgasmus und an dem Loch im Zaun, durch das sich der Fuchs in den Hühnerstall schleicht. Er ist gleichzeitig Bummel- und Schnellzug, aber er transportiert keine Waffen und folgt vor allem keinem festen Fahrplan.» Ob seine Studenten verwirrt waren? Ihre Gesichter verrieten es nicht. Trotzdem sagte der große Mann: «Vielleicht habe ich ein bisschen zu dick aufgetragen, tut mir leid. Wirklich. Aber sehen wir uns das Ganze mal aus dieser Perspektive an, Freunde: Wahrscheinlich ist die Seele nichts anderes als die ursprüngliche Vibration der Biosphäre, die von den menschlichen Sinnesorganen registriert und verstärkt wird. Stellt sie euch so vor wie die zerfranste Wolke undefinierbarer Energie, die 90
freigesetzt wird, wenn menschliche Gefühle oder menschliche Intelligenz mit dem größeren Korpus der Natur in Verbindung treten. ‹Worin unterscheidet sich dann die Seele vom Geist?›, werdet ihr euch fragen» – dabei musste er ziemlich sicher wissen, dass sie gar nicht dran dachten, sich so etwas zu fragen –, «nun, die Farbe der Seele ist etwas dunkler, ihre Masse dichter, sie schmeckt salziger, ihre Oberfläche ist rauer, und sie ist eher maternalistisch als paternalistisch. Die Seele ist mit der Mutter Erde verbunden, so wie der Geist mit Vater Himmel. Natürlich kommt es vor, dass Mütter und Väter sich paaren, und in diesem Durcheinander ist es manchmal schwer, Seele und Geist auseinander zu halten. Im Großen und Ganzen könnte man es vielleicht so ausdrücken: Wenn der Geist der Lüftungsschacht und die indirekte Beleuchtung im Haus des Bewusstseins ist, das elektrische System, das dieses Haus erleuchtet, dann ist die Seele der qualmende Kamin, der duftende Ofen, der verstaubte Weinkeller, das merkwürdige Knarren in den Dielen, das man gelegentlich spätnachts hört. Es klingt zwar banal, aber wenn ihr euch die Seele vorstellt, solltet ihr an etwas denken, das unverfälscht ist, an etwas Profundes. Das Oberflächliche hat keine Seele. Das Künstliche, Nachgeahmte oder allzu Verfeinerte hat keine Seele. Holz hat einen stärkeren Bezug zur Seele als Plastik, obwohl gelegentlich, so paradox es klingt, ein ausgefallener Holztisch oder Stuhl gerade wegen seiner Beziehung zum Menschlichen die Fülle an Seele, die von einem lebenden Baum evoziert wird, noch übertreffen kann.» An dieser Stelle wird der Leser wahrscheinlich sagen: «Alles klar, Mann, und Pinocchios Samen ist die Quelle für die besten italienischen Möbel.» Das ist nur fair. Durchaus. Wir haben Stubblefield hier so ausgiebig zitiert, um festzustellen, dass er erstens gebildet, zweitens wortgewandt, drittens ein Freidenker ist und dazu neigt, in allen drei Disziplinen übers Ziel 91
hinauszuschießen. Der zitierte Vortrag beispielsweise zog sich noch ziemlich in die Länge, bis Stubblefield plötzlich unvermittelt stehen blieb und seine These folgendermaßen zusammenfasste: «Zum Schluss sollten wir uns vielleicht einfach einen Witz vorstellen, einen langen Witz, der immer wieder erzählt wird, aber mit einem derart stark aufgetragenen und fremdartigen Akzent, dass ihn nie jemand ganz versteht. Das Leben ist dieser Scherz, meine Freunde. Und die Seele seine Pointe.» Fast eine Minute starrte Stubblefield zu Boden, wo sich seine lackierten Zehennägel vom dunkleren Rot des Teppichs abhoben. Es war kein Theater. Er dachte nach. Im Zimmer war es so still, dass man fast hören konnte, wie die Räucherstäbchen glühten. Schließlich hob er den Bart von der Brust und sagte: «Aber diese letzte Bemerkung wollen wir nicht in Stein meißeln. Abgemacht? Sie könnte eine tiefe Wahrheit enthalten, aber vielleicht ist sie einfach nur Schwachsinn. Die Grenzlinie ist manchmal hauchdünn. Ich werde das Ganze beizeiten Lisa Ko darlegen und euch wissen lassen, was sie dazu meint.» Dickie, der immer noch an der Tür stand, wurde blass. * An den Wänden in Stubblefields Arbeitszimmer warben unzählige Buchrücken für ihre Spezialitäten, genau wie die Reklametafel in Patpong. BIOGRAPHIE RAUCHT ZIGARETTE POESIE ISST MIT STÄBCHEN PHILOSOPHIE SPIELT PINGPONG usw., usf.
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«Sind meine Schüler nicht nett?», meinte Stubblefield und schloss die Tür hinter sich. «Sie haben gelacht, als ich wie eine Lokomotive pfiff, obwohl keiner von ihnen jemals in die Nähe einer echten Lokomotive gekommen ist. Liebe Güte, Goldwire, wie siehst du denn aus? Man könnte meinen, Bangkok hat dich durchgekaut und wieder ausgespuckt. Dein gewohnter jungenhafter Charme braucht dringend eine Frischkur.» Da er spürte, dass Dickie seine Bibliothek bewundert hatte, fuhr er fort: «Weißt du noch, wie wir uns zum ersten Mal trafen und du mich gebeten hast, dir die Ausgabe von Ulysses zu leihen, weil du meintest, es wäre eine Biographie über General Grant?» «O ja, aber dank deiner Hilfe weiß ich jetzt, wer in Grants Gruft begraben liegt: James Joyce.» Stubblefield gluckste. «Ich hoffe sehr, dass mir Foley ein paar neue und lesenswerte Romane mitbringt. Bloß keinen pubertären Mist. Und bitte auch keine trübseligen, krebsleidenden, anwaltsgläubigen …» «Dern wird dir gar nichts mitbringen, Stub. Dern ist aufgeflogen.» «Wie bitte?» «Er sitzt auf Guam. Seine Maschine wurde umgeleitet. Ich habe ihn auf CNN gesehen. In Handschellen. Man war gerade dabei, euren Stoff sicherzustellen. Das ist drei oder vier Tage her.» Dickies Stimme verschmolz das Roheisen der Verzweiflung mit dem Buntglas der Hysterie. Stubblefield pfiff durch die Zähne, und dieses Mal klang es ganz und gar nicht nach einer Lok. «Verdammte Scheiße», fluchte er leise. Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, fuhr er fort: «Foley wird nicht singen, das steht fest, aber früher oder später werden sie ihn identifizieren. Wenn sie es nicht schon längst getan haben.» «Und das heißt …» 93
«Das heißt, dass das Spiel jetzt sehr, sehr spannend wird.» «Was findest du daran so toll?» Tatsächlich war ein ungewohntes Funkeln in den seetanggrünen Augen des älteren Mannes zu bemerken, als er antwortete: «Natürlich ist das schlimm für Foley. Aber vielleicht war es etwas, was wir alle brauchten. Es bringt ein bisschen Abwechslung in unseren Trott.» «Na prima! Zufälligerweise mochte ich meinen Trott ganz gern. Vor allem, wenn ich mir die Alternativen ansehe. Was zum Teufel sollen wir jetzt machen, Stub? Was? Wir müssen schnell handeln. Hier sitzen wir auf einem Pulverfass. Ich bin pleite. Ich …» «Ruhig Blut, Goldwire! Du brauchst nicht gleich die Panik zu kriegen. Nimm dich zusammen. Wir müssen Entscheidungen treffen, klar. Aber zuerst sollten wir uns ein Bild vom Ganzen machen. Die Situation in die richtige Perspektive rücken.» Seine Pranke, die so groß war wie ein Steak, legte sich auf Dickies zitternde Schulter. Die Fingernägel waren um eine Verschönerung herumgekommen. «Denken wir … denken wir an die Worte deiner Freundin.» Als Stubblefield seine Freundin erwähnte, erblasste Dickie erneut. Er hatte sich schon gefragt, ernsthaft gefragt, ob er diese Freundin je wieder zu Gesicht bekommen würde. Das war, ehrlich gesagt, seine größte Sorge. (Er konnte natürlich nicht wissen, dass Lisa Ko, nachdem sie wegen angeblicher Probleme mit dem Pass und der sozialistischen Bürokratie einige Tage in Vientiane aufgehalten worden war, in diesem Augenblick bereits auf dem Weg nach Fan Nan Nan war und noch vor Sonnenuntergang ankommen würde.) Dickie starrte Stubblefield an. «Welche Worte?», sagte er. «Oh, das weißt du. Das weißt du ganz genau.» Stubblefield hatte eigene Sorgen und wurde allmählich etwas ungeduldig. 94
«Lisas Familienmotto.» Da schloss Dickie die Augen. Und die Worte kamen ihm wieder ins Gedächtnis: Es ist, was es ist. Du bist, was du es. Es gibt keine Irrtümer. Dickie war weder gänzlich überzeugt, noch lehnte er die Möglichkeit, dass diese Litanei irgendeine Art von Erlösung bot, völlig ab. Deshalb wiederholte er sie um des Funkens Lisa wegen, der darin steckte, während in der Schlucht unterhalb der Villa Incognito und des singenden Zirkusseils, wo der Dunst so dicht war, dass er sich wie Fell auf den Augäpfeln anfühlte, zwei Tanukis, die Madame Kos Fallen entkommen waren, den Tiger, der sie gerade zum Mittagessen auserkoren hatte, mit ein paar witzigen Bemerkungen aus dem Konzept brachten.
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DRITTER TEIL If you won’t meet me in Cognito, Baby, I’m apt to go out of my head. But if you really can’t handle incognito Meet me in Absentia, instead. San Francisco. Die Stadt an der Bucht. Bootsey fand den Nebel süß. Die Foley-Schwestern bekamen den Gefangenen nicht sofort zu sehen. Sie nahmen ein Taxi zu dem unauffälligen Behördengebäude im Stadtzentrum und fuhren mit einem lautlosen Aufzug in den sechsten Stock. Dort wurden sie fast eine Stunde in einem fensterlosen Raum vernommen, in dem Franz Kafka die Motten gekriegt hätte. Die Vernehmungsbeamten waren ein Agent des militärischen Abschirmdienstes, auf dessen Namensschild Col. Patt Thomas stand, und ein ziviler Beamter im Tweedanzug, der sich als Mayflower Cabot Fitzgerald vorstellte. Namen und Verhalten nach zu urteilen, vertrat er wohl die Central Intelligence Agency. Der attraktive Colonel Thomas, ein hoch gewachsener Afroamerikaner, war so nett, dass man meinen konnte, er wolle mit ihnen flirten, der mürrische Fitzgerald hingegen blieb kalt wie ein Fisch. Er benutzte die offizielle Behördenleier nach dem Muster Ich-habe-Zugang-zu-Informationen-die-nicht-für-eureOhren-bestimmt-sind, und seine brummige Stimme hörte sich an, als käme sie geradewegs aus einem eisgekühlten Raketensilo. Die Fragen enthielten weder eine Drohung noch eine Anklage, dafür aber waren sie überaus gründlich. Und während Bootsey und Pru versuchten, sich an Einzelheiten über ihren großen 96
Bruder zu erinnern, den sie immer bewundert, aber seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatten, starrten sie auf drei große, grobkörnige Fotos (offensichtlich Vergrößerungen), die an der rotzgrünen Wand hinter dem Schreibtisch hingen, wo man sich eigentlich ein Fenster gewünscht hätte. Es waren Porträtaufnahmen von drei jungen Männern in US-Air-ForceUniform mitsamt Schirmmütze. Unter jedem einzelnen stand in großen sauberen Lettern, welchen Rang der Mann bekleidet hatte, wie alt er war und aus welcher Stadt er stammte. LINKS: Maj. Mars Albert Stubblefield, 30, Millard, Nebraska Major Stubblefield hatte ein joviales, leicht aufgedunsenes Gesicht, dessen scheinbare Sanftmut von Augen konterkariert wurde, die wie Leuchtspurgeschosse einer bohrenden Intelligenz alles andere überstrahlten. Aber auch die herabgezogenen Mundwinkel, die das sonst nachdenkliche Lächeln leicht spöttisch wirken ließen, trugen zu diesem Eindruck bei. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Orson Welles. MITTE: Capt. Dern V. Foley, 25, Seattle, Washington Seinem Nacken und sogar der Stirn nach zu urteilen, war Captain Foley kräftig gebaut, vermutlich nicht besonders groß, aber ein Muskelprotz, ein Bursche, bei dem man an raue Bartstoppeln und harte Nägel dachte. Die Nase sah ramponiert aus, der Mund wirkte ausdruckslos. In seinem Gesicht paarte sich Derbheit mit einer gewissen Vergänglichkeit wie bei einer aus frisch geschlagenem Holz gemachten Motte. «Da ich nicht im Geiste dabei sein kann», schien dieses Gesicht zu sagen, «bin ich gleich selbst gekommen.» Ein distanzierter Ausdruck, dem seine Schwestern in ihren 97
Familienalben immer wieder begegnet waren und der sie verunsicherte. RECHTS: lst Lt. Dickie Lee Goldwire, 23, Mount Airy, North Carolina Allem Anschein nach ein hoch aufgeschossener, liebenswerter Herzensbrecher aus der Provinz, ein Country-Club-Casanova und vermutlich der Schwarm aller Mädchen beim Ehemaligentreffen – allerdings keiner von der Sorte, die sich darauf was einbildet. Man konnte sich vorstellen, wie er mit einem hochtourigen kleinen Sportflitzer am Studentinnenwohnheim der UNC vorbeirauschte, die Finger zu einem Sinatra-Song schnippte und unbekümmert das Leben genoss, während ihn insgeheim – aber nur vage – der Gedanke plagte, er müsse etwas unternehmen, um denen zu helfen, die weniger privilegiert waren als er selbst. Er strahlte eine angeborene, lässige Aristokratie aus, im Gegensatz zu, sagen wir mal, Mayflower Fitzgerald mit seiner Ivy-League-Blasiertheit, die er wie eine zu klein geratene Rüstung trug. Pru fand Lieutenant Goldwire auf diesem alten Foto ziemlich attraktiv, und in Bootseys Augen war er so hinreißend wie, sagen wir mal, das erste Rotkehlchen des Jahres. Nachdem die beiden Vernehmungsbeamten sich vergewissert hatten, dass Bootsey und Pru tatsächlich Geschwister von Capt. Dern Foley waren, und – zumindest vorerst – akzeptierten, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatten, seit er und die Kameraden in seiner Crew (die sie nach eigener Aussage nie kennen gelernt hatten) im Winter 1973 über der Grenze von Laos und Vietnam abgeschossen worden waren, führten die beiden Männer die beiden Frauen einen langen grauen Flur entlang. Fast am Ende befand sich ein Raum mit einer Wand aus Einwegspiegeln. Auf der anderen Seite saß eine einsame Gestalt 98
auf der blanken Pritsche und las in einer Gideonbibel. Beide Schwestern waren auf der Stelle gleichermaßen verblüfft, weil der Mann in der Zelle so kahlköpfig war wie eine gekochte Kartoffel – dabei hatte Derns Haaransatz sich bereits Richtung Nordpol verflüchtigt, als er noch Außenverteidiger auf der Highschool war. Ungeduldig über ihr Schweigen, drehte sich Mayflower Fitzgerald zu ihnen um. «Nun?» Sie brachten immer noch kein Wort heraus. «Nun?», wiederholte er und starrte sie über den Rand seiner Nickelbrille hinweg an. «Ist das Ihr Bruder oder nicht?» Bootseys Augen schwammen bereits in Tränen, jetzt aber fing sie richtig an zu flennen. Colonel Thomas und sein ziviler Amtskollege nickten einander zu, offensichtlich fassten sie Bootseys Schluchzen als Zustimmung auf. Pru aber war weniger entgegenkommend. Offen gestanden ging Mayflower Fitzgerald ihr auf den Geist. «Hmm», sagte Pru und gab sich unschlüssig. «Hmm. Er sieht tatsächlich aus wie Dern. Zugegeben. Aber … ich bin nicht ganz sicher. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit Dern, ja, aber er erinnert mich auch an noch jemand anders. Ja, wissen Sie … er erinnert mich an Bozo. Bozo, den Clown. Ich meine, wenn man von dessen Mordszinken und sexy rotem Haar mal absieht.» Pru grinste unschuldig, als tue sie ihr Bestes, um ihnen zu helfen. Der CIA-Mann schäumte vor Wut. Colonel Thomas kämpfte darum, seine nette Haltung zu bewahren. Und selbst Bootsey warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu. * Am folgenden Nachmittag kam es zur Familienzusammenführung. Sozusagen. Denn wie kann man von Zusammenführung sprechen, wenn die Familienangehörigen eine sieben 99
Zentimeter dicke bruchsichere Glasscheibe zwischen sich haben, die so undurchdringlich ist, dass ihre Stimmen sie nur mit Hilfe einer Telefonanlage überwinden können? Weder Begrüßungsküsschen noch eine Umarmung waren hier möglich. Im Übrigen wurde die Wiedersehensfreude durch die Anwesenheit von Colonel Thomas und Einsatzoffizier Fitzgerald getrübt, die nebeneinander auf einer Holzbank am hinteren Ende des Besucherzimmers Platz genommen hatten. «Dern, Dern, Dern», sagte Bootsey immer wieder vor sich hin, als sei der Name ein Mantra, das sich in einer Ritze ihres Kehlkopfs verfangen hatte. Staunen und Ungläubigkeit, Kummer und Euphorie schwangen in ihrer Stimme mit. «Wo zum Teufel hast du gesteckt?», fragte Pru. Auf der anderen Seite der Glasscheibe sprach Foley in den Hörer: «In Südostasien, Schwesterherz. Um die Welt ein Stück sicherer für die Demokratie zu machen.» «Dern, Dern, Dern.» «Der Krieg ist seit einem verdammten Vierteljahrhundert vorbei, Dern.» «Nicht für alle. Ich musste nachsitzen.» «Dern, Dern.» «Ich hatte einen Spezialauftrag, Schwesterherz. Streng geheim und so, du weißt schon.» Er legte den kurzen, dicken Zeigefinger auf den Mund. «So furchtbar geheim ist er nun auch wieder nicht, Brüderchen. Wir haben dich im Fernsehen gesehen. Das war ein prima Einblick in deine streng geheimen Aktionen.» «Immer mit der Ruhe. Ihr glaubt doch wohl nicht alles, was im Fernsehen gezeigt wird?» «O Dern, Dern. Mir ist es schnurz, was du getan hast. Es spielt keine Rolle. Dern, Dern …» «Halt die Klappe, Bootsey!» Pru riss ihr den Hörer aus der 100
Hand. «Meine Güte, Pru, ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als du überzeugt warst, dass Howdy Doody echt ist.» Ohne es eigentlich zu wollen, musste Pru grinsen. Bootsey fing wieder an zu heulen. «Wir haben dich für tot gehalten», sagte Pru. «Oh, ihr Kleinmütigen! Ich nehme an, das erklärt, warum ihr nie geschrieben habt.» «Bu-hu-huu!» «Alle. Alle glaubten, dass du umgekommen bist.» Dern Foley schüttelte seine Honigbirne. «Irgendwer hat mal gesagt: ‹Nur die Überlebenden sind tot.› Aber wie ist es euch beiden ergangen? Gott, ist es schön, euch wieder zu sehen. Ihr habt euch kein bisschen verändert. Habe ich Nichten und Neffen? Keine Kids? Dann vielleicht Pudel? Wellensittiche? Weiße Mäuse?» «Bu-hu-huu.» «Hör auf zu heulen, Bootsey.» Und so ging es weiter. Colonel Thomas und Einsatzoffizier Fitzgerald warfen sich einen Blick zu, als stimmten sie überein, dass in der Foley-Familie mehr als eine Schraube locker war. * Wer die Einladung zum Krieg annimmt, muss mit Kugeln rechnen.» So sah Stubblefield die Sache. Für Stubblefield war es ganz einfach. «Jeder, der sich verpflichtet und in den Krieg zieht, hat eine Klausel im Vertrag, die lautet: ‹Ich akzeptiere, dass auf mich geschossen wird.› Und sie ist nicht etwa im Kleingedruckten versteckt, sondern steht gleich am Anfang. ‹Im 101
Gegenzug für die Beteiligung an Kriegshandlungen gegen Parteien einer Seite überträgt der Unterzeichnete hiermit Parteien besagter Seite das Recht, mit Kugeln, Bomben, Granaten, Mörsergranaten, Raketen und schwerer Artillerie auf seinen jämmerlichen Arsch zu ballern.› Landminen, Sprengfallen und Bajonettangriffe werden in einer besonderen Klausel geregelt. Was passiert denn bei einem Angriff? Entweder man wird getroffen, oder man hat Glück. Man kommt ums Leben, wird verwundet oder entwischt – um nach Hause zurückzukehren oder sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut unter Beschuss nehmen zu lassen. Manchmal wird man natürlich auch gefangen genommen. Und ein andermal weiß im Eifer des Gefechts niemand so genau, was einem zugestoßen ist. Man wird als vermisst gemeldet. MIA, missing in action. Man kann für sehr, sehr lange als vermisst gelten. Vielleicht für immer. Zugegeben, für Partner, Eltern, Geschwister etc. ist es schrecklich, über das Schicksal eines geliebten Menschen im Unklaren zu bleiben oder, falls man sich mit seinem Tod abgefunden hat, sich vorstellen zu müssen, dass seine sterblichen Überreste in der Fremde respektlos auf einer verschissenen Viehweide verstreut sind. Aber es ist nicht schrecklicher als die übrigen Früchte eines bewaffneten Konflikts. Es hat nichts mit persönlicher Verunglimpfung, Barbarei, Unfairness, Grausamkeit oder Perversion zu tun, sondern ist völlig normal in diesem verrückten Spiel des Krieges – eine Möglichkeit, die man sorgfältig abwägen sollte, bevor man den Vertrag unterschreibt oder die Einladung annimmt. Ein Ende wird ebenso wenig garantiert wie das Überleben. Ich verstehe einfach nicht, was all das öffentliche Jammern und Sichaufplustern wegen der vermissten Soldaten soll.» Es erübrigt sich der Hinweis, dass Stubblefields Sicht von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt wurde. Sie war vielleicht logisch, es schwang vielleicht sogar so etwas wie moralische 102
Autorität darin mit – vor allem, wenn man berücksichtigte, dass Major Stubblefield selbst als vermisst galt –, aber die öffentliche Meinung spiegelte sie nicht wider. Noch im Sommer 2001 konnte man überall Autoaufkleber mit der Aufforderung «Holt die Vermissten nach Hause» sehen, der Kongress wurde regelmäßig von den Angehörigen vermisster Soldaten und Hilfsvereinigungen bearbeitet, und im Internet bildeten die Elektronen tiefe Verwehungen, einen endlosen MIA-Blizzard, teils in Form herzzerreißender Klagen, teils aber auch nur in chauvinistischen Posen, etwa der alten Yankee-Leier von wegen Legt-euch-bloß-nicht-mit-Gottes-eigener-Republikan! Das Thema «Vermisste Soldaten» – im August 2001 galten immer noch 1966 amerikanische Vietnamkämpfer als spurlos verschwunden – war eine Kartoffel, die nie so richtig abkühlte, obwohl die US-Regierung 1992 mit der Aufstellung der Joint Task Force – Full Accounting, einer Spezialeinheit für die Suche nach vermissten Amerikanern im Südostasienkrieg, aufrichtige Anstrengungen unternahm, alle südostasiatischen Schlachtfelder zu durchkämmen, und an den bekannten Absturzorten keinen Stein auf dem anderen ließ. Teams von militärischen Gerichtsmedizinern und zivilen Archäologen suchten nach Knochenfragmenten, Zähnen, Namensschildern, Abzeichen, längst vergilbten Briefen und so weiter. Zwar waren die meisten Ausgrabungsstätten bereits von rührigen lokalen Plünderern systematisch durchwühlt worden, doch gelegentlich stießen die Einheiten tatsächlich auf eindeutig menschliche Überreste oder persönliche Habseligkeiten. Die Folge war, dass das Geschrei trauernder Angehöriger und professioneller Patrioten etwas weniger schrill klang. Doch jetzt war Capt. Dern Foley, inkognito unterwegs und obendrein im Besitz eines kleinen Vermögens in Form von Rauschgift, wie ein Springteufel aus der MIA-Schachtel geschnalzt. Buh! Plötzlich gab es einen störenden Knick in der zusammengelegten Flagge, den Colonel Patt Thomas und 103
Mayflower Cabot Fitzgerald im Namen ihrer jeweiligen Behörde wieder ausbügeln sollten. Einerseits würde das Auftauchen von Dern Foley mit hoher Wahrscheinlichkeit in vielen Familien neue – und zweifellos falsche – Hoffnungen wecken, dass ihre lang vermissten Angehörigen doch noch am Leben sein könnten. (In regelmäßigen Abständen kursierten Gerüchte, nach denen amerikanische Militärangehörige angeblich in Straflagern von Hanoi bis Moskau entdeckt worden waren.) Andererseits bedeutete die Tatsache, dass Captain Foley wegen versuchten Drogenschmuggels verhaftet worden war, einen Schlag ins Gesicht für alle Beteiligten – das war ein Geier, der sowohl den Falken wie den Tauben den Himmel streitig machte. Und der Geier war so hässlich, sein Kot ein derartiger potenzieller Schandfleck, dass seine mögliche Liquidierung bereits erörtert worden war – von Männern, die dafür bezahlt werden, solche Dinge zu erörtern. Doch ein Geier kommt selten allein. Und wie die süßesten kleinen Singvögel legen auch sie Eier. Wer waren Dern Foleys Komplizen? Woher stammte die Schmuggelware, die er bei sich hatte? Wie lange zog er diese Nummer schon ab? Wo waren die übrigen Crew-Mitglieder, die in der abgestürzten B-52 gesessen hatten? Worin war Foley sonst noch verwickelt, welche Informationen besaß er, um das majestätische Nest des amerikanischen Adlers mit einem stinkenden Klumpen Geierkacke zu besudeln? Foley weigerte sich, derartige Fragen zu beantworten. Foley weigerte sich, so gut wie alle Fragen zu beantworten, die ihm gestellt wurden. Die einzige bedeutsame Frage, auf die er überhaupt reagierte, machte die Sache nur schlimmer, und zwar erheblich. «Ich verstehe einfach nicht, warum Sie sich entschieden haben, in diesem Saustall voller Schlitzaugen zu bleiben», hatte Colonel Thomas erschöpft geseufzt. «Der Krieg war vorbei, Sie waren unverletzt und frei. Waren es die Drogen? 104
Die Beute? Der Kommunismus? Oder was?» Dern hatte dem Colonel ins Auge geblickt, sein nichts sagendes, distanziertes Grinsen aufgesetzt, das eigentlich nie ein echtes Grinsen gewesen war, und eiskalt geantwortet: «Vielleicht habe ich diesen Saustall unserem eigenen Saustall vorgezogen.» Auweia! Angenommen, die Presse bekäme davon Wind. Ein Vermisster, der es «vorzieht», vermisst zu bleiben. Ein amerikanischer Held, der auf Amerika scheißt. Und nicht mal abstreitet, dass es andere gibt, die sich ebenso verhalten würden. So viel zu stinkenden Geieromelettes. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass die FoleySchwestern angehalten wurden, niemanden über Derns Auftauchen zu informieren, und auch nicht, dass diese Warnungen mit unheilvollem Unterton eindringlich wiederholt worden waren. Was die Öffentlichkeit anging – und die hatte den Zwischenfall längst vergessen –, so war der Drogenschmuggler, den man auf Guam verhaftet hatte, genau der, als der er sich ausgab: Pater Arnaud Gorodish, ein französischer Missionar. In absehbarer Zukunft würden sämtliche Informationen, die das Gegenteil behaupteten, vehement dementiert und die entsprechenden Quellen ebenso vehement mundtot gemacht werden. Und wer hätte diese Informationen weitergeben können, wenn nicht Pru und Bootsey? Dern hatte nur wenige Freunde gehabt, und die Eltern waren, kurz nachdem er seinen Dienst in der Air Force angetreten hatte, bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Als die Foley-Schwestern drei Tage später an Bord einer Maschine der Alaska Airlines gingen, um nach Seattle zurückzukehren, standen sie unter Schock. Die Erschütterung darüber, Dern am Leben zu wissen (manche Leute behaupteten ja, die Foley-Schwestern hätten nie geheiratet, weil sie so sehr an ihrem verschollenen Bruder hingen), war durch den Zustand, in dem sie ihn antrafen, und die nicht gerade zimperlichen 105
Drohungen der Regierungsbeamten noch verstärkt worden. Obwohl Bootsey ständig beteuerte, dass am Ende alles gut würde, war sie derart nervös, dass die Stewardess ihr den Sicherheitsgurt anlegen musste. Und das, obwohl Bootsey aus einer Fliegerfamilie stammte! Beschämt über ihre Schwester und fest überzeugt, dass sie von einem von Fitzgeralds Schnüffelhunden beschattet wurden, vergrub Pru ihre Nase im San Francisco Chronicle, als wäre er eine Gesichtsmaske. «Die Tinte ist das Blut der Sprache», hatte Stubblefield einmal behauptet, um zu rechtfertigen, dass er das Papier dem Bildschirm vorzog. «Und das Papier ist ihr Fleisch.» Jetzt legte sich Pru das Gesicht einer Zeitung zu. Das Stirnrunzeln war ein Kreuzworträtsel, das Zwinkern der Augen die BaseballErgebnisse. Man hätte einen Fisch darin einwickeln können. Es stand irgendwo in der Mitte des Chronicle. Etwa da, wo die Maske den Mund hatte, stieß sie auf eine kurze Meldung über einen Zirkuszug, der in den Bergen Oregons zwischen San Francisco und Portland entgleist war. Offenbar hatte es keine ernsten Verletzungen gegeben, aber allem Anschein nach waren mehrere Tiere ausgebüxt. * Captain Foley zu liquidieren war eine ernst zu nehmende Option. Colonel Thomas wusste ebenso wie der Einsatzoffizier Fitzgerald, wie leicht es wäre, dafür zu sorgen, dass er in seiner Zelle einen «Herzinfarkt» erlitt. Die herrschende Administration hatte keine Probleme mit derartig drastischen Kündigungsmaßnahmen. Natürlich könnten sie ihn auch als promarxistischen Deserteur anschwärzen und dafür sorgen, dass er zum Tode verurteilt wurde oder lebenslänglich bekam. Doch das bedurfte eines Gerichtsverfahrens, und wer wusste schon, was der Kerl vor 106
Gericht so alles von sich geben würde, oder vor seinen Knastbrüdern, wenn es keine öffentliche Verhandlung war, oder vor den Journalisten, die über seine Hinrichtung berichten würden? Dieselben Probleme ergäben sich, wenn sie ihn als internationalen Drogenschmuggler vor Gericht brachten, was er ja zweifellos war. Aber spielte es wirklich eine Rolle, was Foley behauptete? Weder die Öffentlichkeit noch die Boulevardmedien würden auch nur einen Augenblick die verdrehte Aussage eines Drogen schmuggelnden Verräters ernst nehmen. Trotzdem, in jeder Pferdekur, die ihnen in den Sinn kam, steckte der Wurm. Ein dickbäuchiger Wurm in Gestalt von Maj. Mars Albert Stubblefield und 1st Lt. Dickie Lee Goldwire. Aus einer Vielzahl von Gründen konnte nichts Endgültiges gegen Foley unternommen werden, bis sie über den Aufenthaltsort, die Verfassung und die Beteiligung dieser beiden Vermissten genauestens im Bilde waren. Als sich Colonel Thomas und der Einsatzoffizier Fitzgerald (Rufname normalerweise Mayflower) trennten, waren sie übereingekommen, sich dieses Bild so schnell wie möglich zu verschaffen. «Übrigens», meinte Mayflower noch, als sie aus dem Gebäude traten, «wie hat den Kindern Ihres Cousins eigentlich die Zirkusvorstellung neulich abends gefallen?» «Oh, ich glaube, sie fanden es toll. Sie waren ganz begeistert. Nur schade, dass der Clown so abgefüllt war, dass er die Tiernummer vermasselte.» Ein messerscharfes Insiderlächeln flog über Mayflowers Gesicht. Er beugte sich vor und zischte dem Colonel durch seine allzu perfekten, mineralisch glänzenden Zähne ins Ohr: «Das war kein Clown. Das war eine Lesbe.» * 107
Klopf! Klopf! «Wer da?» Niemand antwortete. Das Dorf saß beim Abendessen, und das einzige Geräusch, das Dickie hören konnte, war der Bambushain, der im Dunkeln raunte wie die Klatschmäuler in einem Zenkloster. Klopf! Klopf! «Sabbaii dji? Sabbaii dji? Wer da? Wer will was?» Immer noch keine Antwort. Dickie war ziemlich sicher, dass es noch zu früh war, um mit den Bullen zu rechnen, selbst wenn Dern sie tatsächlich verpfiffen hätte. Trotzdem wurde er stocksteif. Er stand splitternackt auf der Bastmatte in der Mitte seiner Hütte, nachdem er gerade vom Bad in dem Bach zurückgekehrt war, der auf der anderen Seite am Dorf vorbeirauschte. Auch seine Kleider hatte er dort gewaschen. Kurz bevor er vom Klopfen an der Tür unterbrochen wurde, hatte er ein Paar frische Khakishorts gesucht, sein üblicher Aufzug hier in Fan Nan Nan. Als Dickie sah, wie sich die windschiefe Rattantür ein paar Zentimeter öffnete und eine Hand einen zylindrisch aussehenden Gegenstand hereinwarf, der über die Matte auf seine Füße zukullerte, stockte ihm der Atem. Instinktiv schaute sich Dickie um, wo er in Deckung hechten könnte. Zwar war seine Hütte für Fan-Nan-Nan-Verhältnisse ziemlich geräumig, doch gab es nicht ein einziges schweres Möbelstück, hinter dem er vor der Explosion hätte Schutz suchen, oder eine Nische, in der er sich hätte verkriechen können. Explosion? O ja, Dickie war so davon überzeugt, es mit einer Handgranate zu tun zu haben, dass in diesem Moment sein ganzes Leben noch einmal vor ihm ablief. Sein Lehrer in der sechsten Klasse flimmerte vorbei und fragte ihn nach den Mathematikaufgaben (eine Millisekunde lang war er wieder in der Traumschule); sein rotwangiger Daddy schwebte in einem 108
der Cabrios an ihm vorüber, die er im Autohaus Goldwire verkaufte, seine Mutter rollte in einem Caddie vorbei, seine ältere Schwester huschte quer durch den Raum und zeigte ihm ihre Brüste, wie früher, um ihn aus der Fassung zu bringen, da waren seine reichen Großeltern, sein alkoholkranker Gitarrenlehrer, eine Horde von Burschenschaftlern aus der UNC, der psychopathische Kommandant seiner B-52-Staffel: ein endloser Zug von Nebendarstellern in Szenen, die Dickie Goldwires Gehirn richtiger- oder fälschlicherweise als lebensentscheidend einstufte, tauchte auf und verschwand wieder; und er stand da und fragte sich, warum er mit 51 ausgerechnet nackt in einer Hütte in Laos sterben musste, in tausend Stücke zerfetzt von eines Mörders … Doch die Explosion blieb aus. Und als die «Handgranate» ausrollte, sah sie verdächtig nach einem Glas mit einem vertrauten gelbblauen Etikett aus. Das war kein Flashback. Kein gespenstisches Artefakt seiner Psyche, um ihn daran zu erinnern, dass er sein Leben verschwendet hatte, so, wie die meisten von uns ihr Leben vergeuden, weil sie partout nicht aufwachen wollen. Nein, es war weder eine Bombe noch ein halluzinatorisches Relikt der eigenen Schande – oder des eigenen Triumphs. Es war … es war ein Glas Mayonnaise. Best-FoodsMayonnaise (östlich des Mississippi als Hellmann’s vermarktet). Und während er noch mit angehaltenem Atem darauf starrte, ging die Tür etwas weiter auf, und jemand warf eine Packung Wonder Bread hinterher, die an seinem Penis abprallte. * Dickie machte Sandwichs. Nicht sofort, natürlich. Zuerst umarmten sie sich. Dann unterhielten sie sich über Derns Verhaftung (Lisa Ko war überrascht, dass er schon Bescheid 109
wusste und auch, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, einigermaßen sauer, denn immerhin war sie um den halben Erdball geflogen, hatte den Zirkus im Stich gelassen und ihre Tanukis einer unzuverlässigen Person anvertraut, nur um ihm die Nachricht zu überbringen.) Sie sprachen über die Folgen der Verhaftung für Dickie, für sie beide als Paar und für Stubblefield. Dann zog sie sich genauso nackt aus wie er, und sie vögelten. Sie vögelten so hektisch, wild und laut, als ginge es um ein illegales Dragsterrennen, und beide gelangten schneller zum Höhepunkt, als Daniel Boone gebraucht hätte, um einen Teddybär zu häuten. Dickies Klöten waren hart wie eine geballte Faust vor lauter angestauter Erregung nach der enthaltsamen Nacht mit Miss Ginger Sweetie (um die Wahrheit zu sagen, musste er während seines gewaltigen Orgasmus einoder zweimal an sie denken). Der einzige Sex, den Lisa Ko seit drei Monaten gehabt hatte, war der mit Bardo Boppie-Bip gewesen. Es war zwar neu, aufregend und sehr angenehm, aber doch anders, ganz anders. (Da Bardo eine Frau war, betrachtete Lisa Ko den Zwischenfall nicht als Bruch ihres Verlobungsschwurs, auch wenn Bardo Boppie-Bip sich offensichtlich Hoffnungen machte.) Mittlerweile war es ziemlich dunkel geworden, und Dickie schmierte seine Sandwichs bei Kerzenlicht. Er hatte Lisa Ko mal erzählt, was er in Laos am meisten vermisste, sei geschnittenes Brot und Mayonnaise. Jetzt hatte sie ihm beides mitgebracht, und das wiederum konnte nur bedeuten, dass sie ihn mehr liebte, als er manchmal glauben mochte. Alle Leute in Carolina sind verrückt nach Mayonnaise. Mayonnaise ist für sie wie Nektar, die Speise ihrer Schwarzfußgötter. Mayonnaise tröstet sie, sorgt dafür, dass die Vokale ihnen melodischer über die träge Zunge flutschen, befriedigt ihre auf Fett konditionierten Geschmacksknospen und erhebt diese zugleich auf kulinarische Höhen, von denen 110
Schweineschmalz nicht mal zu träumen wagt. Golden wie das Licht des Sommers, weich wie junge Schenkel, aalglatt wie ein schwadronierender Baptistenprediger und scheinbar unschuldig wie das Taschentuch eines Magiers lässt sie ein Salatblatt, ein paar Scheiben Kohl oder kalte Kartoffelwürfel in neuem Glanz erstrahlen, verleiht ihrem drögen Äußeren Stil, macht sie wieder lebendig und ansehnlich, sodass sie nicht nur die Speiseröhre, sondern auch das Herz erfreuen. Gebratene Austern, Reste eines Bratens, Erdnussbutter: Nur wenige Speisen bleiben vom Kontakt mit dieser seelenlosen Verführerin, dieser schmierigen Glückshändlerin, dieser Alchemistin im Glas unberührt. Das Geheimnis der Mayonnaise – und ich bin sicher, dass sich darüber schon mehr Leute den Kopf zerbrochen haben als unser Dickie Goldwire – besteht darin, Eigelb, Pflanzenöl, Essig (den zornigen Bruder des Weins), Salz und Zucker (die UrgrinsEnergie der Erde), Zitronensaft, Wasser und nicht zu vergessen eine Prise des guten alten Calzium Disodium (EDTA) so zu kombinieren, dass ein vielseitiges, köstliches, durch und durch majestätisches Gewürz entsteht, vor dem sich Senf, Ketchup und Konsorten entweder respektvoll verneigen (obwohl die Mayonnaise, bei zwei Dollar pro Glas, weiß Gott nicht eingebildet ist) oder beschämt das Weite suchen. Wer, wenn nicht ein Franzose, hätte sich ein solches gastronomisches Wunder ausdenken können? Mayonnaise ist Frankreichs Geschenk an den verdorbenen Gaumen der Neuen Welt, ein Segen, der das uralte instinktive Verlangen des Menschen nach der Wärme reiner Fettzellen mit dem modernen, romantischen Stolz auf komplexe Geschmacksrichtungen vereint: Mayo (wie Faulpelze gern sagen) klingt vielleicht mild und prosaisch, aber hinter dem cremigen Schleier versteckt sich ein würziges Wesen. Mal abgesehen vom Cholesterin strahlt sie all den Glanz aus, den wir Astro-Waisen mit Wohlgefühl assoziieren, seit wir von den Sternen fielen. Na schön, vielleicht geht das ein bisschen zu weit, trotzdem ist 111
und bleibt es eine Tatsache, dass sogar Mayonnaise-Kritiker ihren Glanz anerkennen müssen. Doch nirgends und unter keinen Umständen strahlt er heller als auf einer schlichten Scheibe Brot. Wonder Bread war Dickies Lieblingssorte. Als Lisa Ko die Packung aufriss, stellte sie bestürzt fest, dass sie das seltsame Muster von roten, blauen und gelben Punkten auf der Verpackung an den Zirkus erinnerte. Schuldbewusst breitete sie die Scheiben auf dem Tisch aus. Mit einer Klinge, die eher einem Bajonett als einem Küchenmesser glich, schmierte Dickie die seidenweiche Paste von Kruste zu Kruste, ohne das kleinste Stück Oberfläche auszusparen. Dickie verstand nämlich was von der wahren Schönheit eines perfekten Sandwichs. Leute, die trockene, leere Stellen auf ihrem Brot dulden und nicht jeden Millimeter sorgfältig mit Mayonnaise bestreichen, sind Banausen, primitive Stümper, unwürdig, den Titel eines «Sandwich-Machers» zu tragen. Die Füllung hingegen war einigermaßen problematisch. Die üblichen Anwärter – Thunfisch aus der Dose, Käse, Pastrami, reife Tomaten etc. pp. – waren in Dickies Fan-Nan-NanSpeisekammer nicht anzutreffen. Er experimentierte daher mit gekochtem Reis, den er mit Chili, Pfeffer, Knoblauch und màak kàwk (einer sauren olivenartigen Frucht) gewürzt hatte. Zwar schmeckte das so belegte Reis-Sandwich besser, als es klingt – zweifellos dank der Mayonnaise –, wurde aber seinen Erwartungen trotzdem nicht ganz gerecht. Ein Sandwich mit nàam phàk-kàat (fermentierter Salatpaste), Minze und nàng khwái haèng (getrockneter Wasserbüffelhaut) erwies sich als noch weniger befriedigend. Am Ende dann – Lisa Ko konnte nur noch ungläubig den Kopf schütteln – begnügte sich Dickie mit schlichten MayonnaiseSandwichs, so, wie er sie sich als kleiner Junge gemacht hatte, wenn seine Mutter Golf spielte, sein Daddy im Tontaubenschützenverein oder auf dem Parkplatz des 112
Autohauses Hof hielt und die Köchin ihren freien Tag hatte. Hmmmmm! Selbst nach einer tagelangen Flugreise um die halbe Welt war das Wonder Bread noch herrlich labberig, und die Mayonnaise darauf war – aus allen zuvor genannten Gründen – die triumphale Rechtfertigung für die Mühe, die sich Mutter Natur gemacht hatte, als sie einen Haufen ovaler Sinneszellen im Epithelium der Zunge einbaute. Hmmmmm! Bald war sein Bedarf an Sandwichs gestillt, keineswegs aber seine nostalgische Sehnsucht, denn jetzt spielte er mit dem weichen Brot und knetete Formen daraus, wie er es schon als Kind gemacht hatte. Er bastelte kleine Tiere. Kleine Tiere vom Bauernhof. Er formte ein Schwein, eine Ziege und eine Gans. Da er keine Ahnung von Lisa Kos schlechtem Gewissen wegen des Zirkus hatte, knetete er auch noch einen Elefanten und eine Giraffe. Gewissen hin, Gewissen her, Lisa Ko war entzückt. Noch nie hatte sie so etwas gesehen, nicht mal die Origamifiguren ihrer Großmutter konnten da mithalten. Als er dann aber auch noch einen Tanuki für sie machen wollte – wobei er sowohl mit dem Bauch als auch den Hoden Schwierigkeiten hatte –, war die Grenze ihrer Bewunderung erreicht. Sie küsste ihn so leidenschaftlich, dass ihr seine Aufmerksamkeit gesichert war. Dann ging sie zum Bett und legte sich darauf. Sie zog die Knie an und spreizte die Schenkel. Ihre glänzende schwarze Scham teilte sich wie ein Theatervorhang und offenbarte ganz langsam ein Bühnenbild, eine surrealistisch anmutende Architektur, so rosig wie die klassische Morgenröte. Geheimnisvoll, offen, glitzernd und gekräuselt schien die Bühne nur auf den Auftritt eines Darstellers zu warten, der ihre Bedeutung klar machen würde. Da er diese Rolle schon öfter erfolgreich absolviert hatte, fackelte Dickie nicht lange und betrat die Bühne, nicht etwa durch einen Seiteneingang, sondern im vollen Rampenlicht. Weder Laurence Olivier noch James Dean hätten sich besser in 113
ihren Auftritt einfühlen können. Und Lisa Ko gab alles zurück, was sie bekam. Dieses Mal vögelten sie langsam, behutsam, aufmerksam, hin und wieder angespornt von Schüben fiebriger Erregung. So ging es fast zwei Stunden, und als sie sich schließlich voneinander lösten, lagen sie keuchend in einer veritablen Lache aus Schweiß und verschiedenen anderen Flüssigkeiten. Der Nachgeschmack der Mayonnaise-Sandwichs vermischte sich in seinem Mund mit dem salzigen Lisa-Ko-Saft. Er wischte sich einen Brotkrümel aus dem Stoppelbart, zupfte ein Haar heraus, das sich zwischen den Zähnen verfangen hatte, und schlief ungeachtet des ungewissen Schicksals, das ihn erwartete, als glücklicher Mensch ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, sah er, dass Lisa Ko bereits aufgestanden und angezogen war und sich gerade ein paar Tropfen Parfum hinter die hübschen, etwas spitzen Ohren tupfte. Ohne zu fragen, wusste er, dass sie in ein paar Minuten die Hütte verlassen und nach einem Luftakrobaten suchen würde, der sie zur Villa Incognito brachte. Und obwohl dies alles andere als überraschend kam, fühlte sich Dickies Herz plötzlich an wie ein eisernes Klavier mit Saiten aus Stacheldraht und Tasten aus Skorpionen. * Jemand, der Dickie kannte, hätte gefragt, welche Richtung die grüne Musik seiner Eifersucht wohl nahm: Stubblefield oder Madame Ko? Denn die Wahrheit ist, dass Dickie den Mann fast genauso liebte wie die Frau. Er hatte Stubblefield vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an ins Herz geschlossen. Dieses Treffen hatte in der Offiziersmesse eines amerikanischen Stützpunktes auf der südlichsten Insel Japans stattgefunden. An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, 114
zurückzuscrollen, um einen Blick auf die Streuung von Ereignissen zu werfen, die Dickie zu diesem Stützpunkt gebracht und dafür gesorgt hatten, dass er so schnell von Major Mars Albert Stubblefield beeindruckt war. Man kann es bestenfalls als Streuung bezeichnen, da Ereignisse selten so linear auftreten, wie Geschichtsanbeter uns gern glauben machen wollen. In diesem Fall jedoch lässt sich die Spur ziemlich leicht zurückverfolgen. Anfang Herbst, im zweiten Jahr an der University of North Carolina, hatte Dickie bei einem Picknick seiner Burschenschaft am Lagerfeuer gesessen, Gitarre gespielt und ein paar Folksongs gesungen. Er spielte nicht unbedingt für ein Publikum, er klimperte einfach so vor sich hin, zur eigenen Unterhaltung, und sang dazu. Vier oder fünf Studenten hatten sich um ihn versammelt und stimmten bei den Refrains ein. Irgendwann, nachdem er «On Top of Old Smokey» zum Besten gegeben hatte, löste sich eine junge Frau, ein Mädchen, das er noch nie gesehen hatte, aus der Dunkelheit und nahm ihn an der Hand. «Mann, du bist viel zu gut, um vor diesen Pfeifen aufzutreten. Ich bring dich zu einem dankbareren Publikum. Na los, komm schon», beharrte sie, als Dickie sich sträubte, «es wird eine echte Galavorstellung.» Das Publikum im Rhinoceros Coffeehouse in Chapel Hill war zwar ruhiger, aber nur unwesentlich dankbarer als die johlenden Pi-Kappa-Phi-Picknicker, trotzdem sollte Dickies widerwilliges Debüt auf der Rhino-Bühne einen Wendepunkt in seinem Leben markieren. Das Mädchen hieß Charlene. Und obwohl sie mit ihrem krausen braunen Haar, den Springerstiefeln und barbarisch schwarz geschminkten Augen nicht so attraktiv war wie die Cheerleaders, mit denen er in Mount Airy ausgegangen war, oder die Studentinnen, die er auf dem Campus im Auge gehabt hatte, strahlte sie … na ja, strahlte sie eine solche Hochspannung, so viel Schneid und Geheimnis aus, wie die 115
anderen niemals haben würden. Zudem ging Charlene großzügiger und erfahrener mit ihren sexuellen Gefälligkeiten um als alle Mädchen, die er je zuvor kennen gelernt hatte. Und noch ehe die Nacht vorbei war, wurde ihm klar, dass er sein Leben bislang halbwegs blind und in einem Zustand geführt hatte, der gleichbedeutend mit Jungfräulichkeit war. Sicher, er hatte sein Eisen schon unzählige Male im Feuer gehabt, aber vor Charlene hatte er immer nur Marshmallows geröstet. Hatte Charlenes Muschi – metaphorisch gesprochen – in jenem Jahr die Mayonnaise in seinem Leben dargestellt, so waren Schinken, Tomaten und sogar Brot eher zerebraler Natur gewesen. Ohne sich viel Mühe zu geben, hatte Dickie in der Schule stets prima Zeugnisse bekommen, obwohl gute Noten keinerlei Aufschluss darüber geben, ob ein Schüler tatsächlich auch wach ist. Hätten Sie Dickie vor seiner Immatrikulation an der UNC gesagt, dass der amerikanische Bürgerkrieg nicht wegen der Sklaverei ausgebrochen war, dass es keineswegs Kolumbus war, der Amerika entdeckt hatte, dass Jesus Christus überhaupt kein Christ war, dass einzigartig kein Synonym für großartig ist oder dass ein schräger Erfinder namens Nikola Tesla der Vater der elektrischen und elektronischen Technologie in den Staaten war und Dinge hervorgebracht hat, neben denen die Leistungen von Thomas Edison wie die Stümperei eines xbeliebigen Klempners aussehen – hätten Sie ihm auch nur so elementare Wissenshäppchen wie diese hingeworfen, dann hätte er Sie, wie fast jeder in Mount Airy, ob «gebildet» oder nicht, für einen ketzerischen Spinner gehalten. Jetzt trieb er sich im Rhino Coffeehouse herum (wo er fast jeden Abend auftrat, obwohl jeder, ihn eingeschlossen, die Ansicht vertrat, dass seine Coverversionen von Bob-Dylan-Songs nicht besser waren als die eines gut abgerichteten mexikanischen Papageis) und hörte zu, wenn Charlene und ihre Freunde über Existenzialismus, Mord, Verschwörungen, Jungs UFO-Theorien, das tibetische Totenbuch, Gandhis Pazifismus und den dreifachen Aspekt der 116
Muttergöttin in der universellen Kunst debattierten. Er hörte aufmerksam zu und zuckte mit keiner Wimper. Da er nicht einfach nur wie ein Pickel auf der Pelle daneben sitzen, sondern aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen von diesen Campus-Freaks akzeptiert werden wollte, da er Charlene imponieren musste und vieles von dem, was er erfahren hatte, ihn tatsächlich faszinierte, begann er, ganze Nachmittage in der Bibliothek zu verbringen und über alle möglichen esoterischen Themen zu recherchieren. Sein Ingenieurstudium (Daddys Idee) setzte er erfolgreich fort, aber sein Herz war ganz woanders. Er las lieber Buckminster Fuller, unorthodoxe Neubewertungen des amerikanischen Bürgerkrieges und Biographien über Tesla oder den Mitfühlenden Buddha. Sein geistiger Horizont breitete sich aus wie Schmelzkäse auf einer Pizza. Im Rhino war er längst akzeptiert. Die Mädchen mochten ihn, weil er süß, ritterlich und irgendwie unschuldig war (selbst ein Boheme-Girl ist nicht vor mütterlichen Instinkten gefeit). Die Jungs mochten ihn, weil sie seinen Fiat Spider fahren durften und er ihnen Geld lieh, um Marihuana zu kaufen. Seine musikalischen Talente (so unterentwickelt sie auch waren) verliehen ihm zumindest einen Hauch von Hipness, und beide Geschlechter waren gleichermaßen von Charlenes versteckten Anspielungen auf die Größe seiner maskulinen Ausstattung beeindruckt. Jetzt, da er gelegentlich etwas von echtem Interesse zu den Coffeehouse-Gesprächen beisteuern konnte, hatte er sein Ziel erreicht und Anschluss bei den Außenseitern gefunden. Doch jede Gefahr, dass er mit zunehmender Reife aus seinen bisherigen Schuhen herauswachsen könnte, verflüchtigte sich am ersten warmen Apriltag, als der Frühling aus der zarten Erde Carolinas schoss wie die Gene eines Ziegenbocks aus seinem Schwengel, Charlene mit einem fahrenden Acid-Dealer namens Gypsy und ihren Pfauenfedern, Astrologiekarten und ColetteRomanen nach Berkeley durchbrannte und nichts als ein nach Patschuli und Pussy duftendes Vakuum hinterließ. Nicht mal 117
einen Zettel mit einer Nachricht. Dickies Herz war eher verwelkt als gebrochen. Er fühlte sich wie eine Topfpflanze in einem Geisterhaus. Sieben Monate lang hatte er im Wasser des Lebens gebadet – und jetzt hatte das Wasserwerk den Hahn abgedreht. Ein kleines Rinnsal war noch da, all die neu entdeckten Bereiche des Bewusstseins mussten noch erforscht werden, aber zum Eintauchen eigneten sich die Bedingungen nicht mehr. Da seine «persönliche Betreuerin» übergelaufen war und er nicht das geringste Interesse mehr für konventionelle Curricula aufbrachte, hatte er das Gefühl, auf dem Trockenen zu sitzen. Er wusste, dass er in diesem Zustand schnell verdorren konnte, und da er von Natur aus viel zu unbekümmert war, um zu kapitulieren, zwang er sich zu handeln. Sobald er das Examen bestanden hatte, meldete er sich gegen den energischen Widerstand seiner Eltern zur Air Force. «Die werden dich nach Vietnam schicken», zeterten sie. «Das will ich schwer hoffen», murmelte Dickie, und er meinte es auch so, obwohl er nicht so recht wusste, warum – vor allem nach all der überzeugenden Antikriegsrhetorik, die er im Rhinoceros über sich hatte ergehen lassen. Nachdenklich erinnerte er sich an die letzte Nacht, die er mit Charlene verbracht hatte. Sie hatten auf Charlenes schmaler Matratze gelegen und den Schlafsack, der ihnen als Decke diente, beiseite geschoben, um die postkoitale Abkühlung zu beschleunigen. Er schwafelte davon, dass das Universum nicht von den Prinzipien der Materie, sondern denen des Designs beherrscht wird, und von ähnlich erstaunlichen Erkenntnissen, die er bei Buckminster Fuller abgelinst hatte. Und während er sich mächtig ins Zeug legte, hatte Charlene ihn mit einem seltsamen Funkeln in den Augen angesehen. Jahre später entdeckte er dasselbe Funkeln hin und wieder auch in Lisa Kos Augen und staunte. Er fragte sich, von 118
welchem fernen, alten, ausschließlich femininen Ort es durchsickern mochte. Es war ein kaum wahrnehmbarer Glanz, von dem, man kann es glauben oder nicht (Zyniker dürfen ruhig buhen), etwas Heiliges ausging – und dennoch konnten weder ein Papst noch ein frommer Guru oder ein Schauspieler, der einen Papst oder einen frommen Guru spielte, darauf hoffen, es jemals zu besitzen. Eine Füchsin könnte es beim Anblick ihrer Welpen haben, doch im Reich des Männlichen glänzte es ebenso wie Milchdrüsen durch Abwesenheit. Auch bei Frauen war es selten, und Dickie hatte sich seine fernen, archaischen Ursprünge vielleicht nur eingebildet, obwohl die Welt der animalischen Ahnen vermutlich über seine Einbildungskraft hinausging. Jedenfalls hatte er irgendeine Veränderung in Charlenes Gesicht bemerkt, als sie sich in jener Nacht zu ihm umdrehte, ihm den Finger auf den Mund legte und sagte: «Vergiss nicht, dass der Kopfknochen mit dem Herzknochen verbunden ist.» «Hm?» «Als ich dich kennen lernte, warst du mit deinen Gefühlen noch wirklich im Einklang, Mann. Gerade das hat mich an dir so angetörnt, nehme ich an. Du hast aus dem Herzen heraus gelebt. Jetzt hast du deine Khakishorts und Poloshirts eingepackt und bist in deinen Kopf gezogen.» Sie stützte sich auf den Ellbogen. «Es muss aber beides sein, verstehst du, Mann? Egal, wie sensibel, schlau oder gebildet man ist, wenn man nicht beides gleichzeitig ist, wenn Herz und Verstand nicht miteinander verbunden sind, nicht miteinander harmonieren, dann hüpft man wie ein Einbeiniger durchs Leben. Vielleicht meinst du, ganz normal zu gehen oder sogar an einem Marathonlauf teilzunehmen, aber in Wirklichkeit bist du auf einem ganz anderen Trip, bist du nur ein x-beliebiger junger Hüpfer. Auf die Verbindung kommt es an.» Dann hatte Charlene gegähnt, ihn geküsst, wieder gegähnt und war schließlich eingeschlafen. 119
Als er dann auf dem Flug zu seiner Grundausbildung in Texas darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass sie ihm letztendlich doch eine Nachricht hinterlassen hatte. Und er fand, dass sich Vietnam genauso gut wie jeder andere Ort dazu eignete, den Kopf mit dem Herzen zu verbinden. * Klopf! Klopf! «Wer da?» «Der alles kontrollierende Herr des Schicksals und des Wandels.» «Bist du wirklich der alles kontrollierende Herr des Schicksals und des Wandels?» «Natürlich nicht, du Depp. So was gibt es gar nicht. Ich bin der Blinde Trunkenbold des Zufalls. Wenn du in meiner Bahn oder meinem Kielwasser bestimmte Muster entdecken willst, so ist das vermutlich dein gutes Recht, solltest du allerdings wichtige Entscheidungen von diesen ‹Mustern› abhängig machen, wirst du dein blaues Wunder erleben.» Nun, egal, worauf der Gang des Schicksals beruht – ob das Drehbuch unseres Lebens von göttlichem Schicksal, blindem Zufall oder Willenskraft diktiert wird –, ganz offensichtlich führt eins zum anderen, wenn auch manchmal auf Umwegen, und in Dickie Goldwires Geschichte gewannen die Rädchen der Zukunft an Fahrt. Dickies Großmutter, die aus einer wohlhabenden Tabakpflanzerfamilie stammte und mit ihrem Geld die Karriere mehrerer Kongressabgeordneter finanziert hatte, zog die entsprechenden Fäden und sorgte dafür, dass er in die Officers Candidate School aufgenommen wurde. Er selbst hatte sich nicht um seine Ernennung gerissen, hatte nicht mal dran 120
gedacht, da ihm aber Privilegien nicht fremd waren, akzeptierte er den Offiziersrang lässig als eine Verpflichtung. Als er die OCS als 2nd Lieutenant wieder verließ, steckte man ihn in die Navigationsschule. «Na schön», sagte er sich, «es kann nicht schaden, wenn man weiß, wie man auf dem schnellsten Weg ans Ziel kommt», hegte jedoch den heimlichen Verdacht, dass Buckminster Fuller damit nicht unbedingt einverstanden gewesen wäre. Nachdem er den Kurs als einer der Besten beendet hatte, beförderte man ihn zur Belohnung nach Vietnam. In Vietnam verbrachte er weniger als sechs Monate. Mit dem fürs Militär typischen Mangel an Logik hatte man ihn einem Flugsicherungsposten am Boden zugeteilt, wo er, wie so viele Opfer des Pentagons, weit unter seinen Fähigkeiten Dienst schieben musste. Gerade als er sich an Rauch und Verwesung, Krach und Ungeziefer den weißen Ausschlag auf der Haut – der immer wieder neu aufbrach und nicht aufhörte zu jucken – oder die roten Blitze gewöhnt hatte, die wie Neonfroschschenkel über den Jukebox-Himmel zuckten; gerade als er sich damit abgefunden hatte, nie wieder über was anderes als Schlitzaugen und Tod, Autos, Baseball und (wirkliche oder imaginäre) Freundinnen reden zu können, wachte irgendjemand irgendwo lange genug auf, um ihn zu einer in Japan stationierten B-52Staffel zu versetzen. Von da an sollte er Vietnam nur noch vom rot erleuchteten Wurlitzer-Himmel aus zu sehen bekommen. Nachdem er sich beim Kommandanten der Staffel gemeldet hatte, brachte ihn ein Offiziersbursche zu seinem Quartier. Der Bursche half ihm, den Koffer auszupacken, zeigte ihm die Offiziersmesse und den Tagesraum. Da es noch zu früh für einen Drink war, warf er einen Blick in den Tagesraum, an dessen anderem Ende zwei ziemlich verwahrloste Individuen in zerknitterten Hawaiihemden lautstark, aber wortgewandt darüber debattierten, was schlimmer sei, Konsumrausch oder Konsumverweigerung. Die Pokerspieler am Nebentisch und ein einzelner Captain, der versuchte, einen Brief nach Hause zu 121
schreiben, waren sichtlich verärgert, aber die beiden schienen keine Notiz davon zu nehmen. Mit einem kleinen Hoffnungsschimmer näherte sich Dickie den zwei Männern. Beide waren kräftig, der eine hoch gewachsen mit sanften Zügen, schmalen Augen und einer Mähne, deren Länge gefährlich gegen die Bestimmungen der Air Force verstieß, sein Kumpel dagegen eher untersetzt, mit einem mürrischen Ausdruck, der ihm ins Gesicht gemeißelt war, den Pranken eines Metzgers und einer hohen Stirn, die unter dem Schlachtruf «Hüa, hüa!» den Haaransatz so lange steil bergauf getrieben hatte, bis er den Scheitelpunkt des Schädels erreichte. Als Dickie sich in einen Ledersessel neben ihnen fallen ließ, waren sie gerade dabei, ins Detail zu gehen. Insbesondere erörterten sie den Unterschied zwischen: 1.) neureicher Protzerei, 2.) der Raffgier eines Erwachsenen als Kompensation für Entbehrungen in der Kindheit und 3.) den extremen Auswüchsen indianischer Potlatches, bei denen der Konsum die reine Gier transzendiert und sich als Sport oder Ersatzkrieg manifestiert. Ohne sich zu unterbrechen, reichte der Hochgewachsene Dickie ein Bier (offensichtlich war es doch nicht zu früh zum Trinken) und forderte sein Gegenüber auf, den Unterschied zu definieren zwischen einem echtem Asketen und dem, was er als bewusst sich dem Konsum verweigernden «Elendssnob» bezeichnete. Foley (denn um ihn handelte es sich) kam der Aufforderung nach, wich aber aus, als Stubblefield (wer sonst) ihn unterbrach und wissen wollte, zu welcher Gruppe Jesus Christus zählen würde. War Jesus ein aufgeklärter Mensch, der das Maya (die illusionäre Natur der materiellen Welt) verstand? Durchschaute er, welcher Wahnsinn es war, das Glück im Reichtum zu suchen? Oder war er bloß der humorlose, sexuell ausgehungerte, masochistische Prototyp eines Kommunisten mit einem Olivenzweig im Arsch? An dieser Stelle lief der Briefe schreibende Captain rot an. «Jetzt reicht’s aber!», brüllte er und knallte den Füller auf den 122
Tisch. «Ich werde nicht einfach hier sitzen und zulassen, dass ihr den Herrn, meinen Lord, beleidigt!» Stubblefield lächelte gütig. «Tut mir leid, Seward», sagte er. «Verzeih, mir war nicht klar, dass du Brite bist.» «Was soll das? Ich bin kein Brite, und das weißt du ganz genau.» Captain Seward kochte vor Wut. Die Pokerspieler verloren ihre Asse aus den Augen. «Aber Seward …» Stubblefields Stimme war mild wie ein Babyshampoo. «Hast du nicht eben von einem Lord gesprochen? Ich dachte immer, Lord wäre der Titel eines Adeligen, der kraft Erbrecht Autorität ausübt? Wenn du also einen Lord hast …» «Versuch’s mal mit der Bibel!» «Ich kenne die Bibel», mischte sich Dern Foley ein. Seine Stimme war flacher und kälter als die von Stubblefield. «Ich habe die Bibel auf Englisch, Hebräisch und Griechisch gelesen.» Jeder Anwesende im Tagesraum, bis auf den Neuankömmling, wusste, dass das stimmte. «Und Major Stubblefield hat Recht. Das Wort Lord gab es in biblischen Zeiten nicht. Es ist eine politische Bezeichnung aus Großbritannien, die erst König James’ chauvinistische Übersetzer in die Bibel eingeschmuggelt haben.» Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: «Interessanterweise bedeutete Lord auf Altenglisch ‹loaf ward›, also ‹Wächter des Brotes›. Daraus lässt sich vermutlich ganz gut ableiten, wie wichtig das Brot von jeher für die Menschheit war.» Dickie schloss die Augen und stellte sich eine längliche weiße Verpackung vor, die mit blauen, roten und gelben Punkten geschmückt war. Und daneben ein Glas Mayonnaise. «Da haben wir es», sagte Stubblefield. «Du bezichtigst mich, den Wächter deines Brotes beleidigt zu haben. Tja, Seward, ich konnte ja nicht wissen, dass es einen Brothüter in deinem …» 123
«Du kannst mich mal!», raunzte Seward ihn an. «Spar dir deine blöden Belehrungen. Hier geht es um einen entsprechenden Ausdruck. Wie sonst hätten die englischen Übersetzer …» «Sie haben nicht Jesus als Lord bezeichnet», berichtigte ihn Foley. «Das kam erst viel später, und nicht mal die King-JamesBibel meinte mit Lord Jesus, sondern fast immer Jehova. Was dich angeht, Seward, du könntest Jesus wahrscheinlich als deinen commander-in-chief bezeichnen und dem Trottel im Weißen Haus damit das Wasser abgraben, aber Jesus, verstehst du, Jesus war in Wirklichkeit ein fahrender Rabbi.» «Genau», stimmte Stubblefield zu. «Ein heimatloser jüdischer Friedensaktivist. Sag mal, Seward, jetzt, wo du das weißt, würdest du deiner Schwester erlauben, Jesus zu heiraten? Und was ist mit deiner Tochter? Wie würde es dir gefallen, wenn er neben dir einzöge? Wo sich dann Nutten, Zöllner und Sünder die Klinke in die Hand geben und er von deiner Frau erwartet, dass sie rüberkommt und ihm seine stinkenden Friedensquanten wäscht?» Seward, der noch tiefer errötet war als zuvor, hatte inzwischen die Nase voll. Er sammelte seine Schreibutensilien ein und ging auf die Tür zu. Zwei Pokerspieler legten ihre Karten auf den Tisch (die anderen beiden versuchten einen Lachanfall zu unterdrücken) und machten Anstalten, ihm zu folgen. «Oh, werd doch nicht gleich sauer», bat Stubblefield. Er schien es ehrlich zu meinen. Seward wirbelte auf dem Absatz herum. «Ich werde nicht sauer», erwiderte er. «Aber ich werde es dir heimzahlen.» «Was denn heimzahlen? Mir doch nicht. Ich bin gar nicht zu Hause.» Damit stand er auf, ließ seine Ausgabe von Joyces Ulysses zu Boden fallen und führte, die Arme über dem dichten Haarschopf kreisend, den seltsamsten kleinen Tanz auf, den Dickie jemals gesehen hatte. Stubblefield hopste herum wie ein 124
durchgedrehter Affe, erinnerte mal an einen klinischen Spastiker, inklusive Sabber vor dem Mund, legte dann wieder eine langsame, kontrollierte, sehr anmutige Walzerdrehung hin, und das alles, so unberechenbar es auch war, wunderbarerweise im Takt eines Beach-Boys-Stücks, das leise im Hintergrund lief. Foley, der zumindest auf den ersten Blick reservierter und introvertierter als der Major wirkte, stand langsam auf und begann ein wenig plump, Stubblefields Kreiselbewegungen nachzuahmen, wie ein Zirkusbär, der seinem Dompteur folgt. Seward knallte die Tür hinter sich zu. Die Kartenspieler, auch die beiden, die Stubblefield mit seiner Pietätlosigkeit vor den Kopf gestoßen hatte, schüttelten den Kopf und prusteten los. Und Dickie verliebte sich. * In Seattle heißt es, der Sommer beginnt am fünften Juli. Das ist natürlich keine besonders präzise Feststellung, die aber im Großen und Ganzen zutrifft. In Seattle ist der Juni meistens kühl und nass und der Unabhängigkeitstag berühmt für seine durchgeweichten Knallfrösche und abgesagten Barbecues. Interessant, unerklärlich und vielleicht sogar unpatriotisch ist es, dass häufig schon am nächsten Tag die Sonne ganz plötzlich herauskommt und sich wie ein Mauerblümchen, das aus Versehen zu tief in die Bowle geschaut hat, ein paar Monate lang tapfer hält. Aber auch das nicht unbedingt durchgängig. Mitunter kommt der lang erwartete Sommer im Norden der Pazifikstaaten – auch wenn sein Motor längst warmgelaufen ist – nur stockend voran, als sei er in einen meteorologischen Verkehrsstau geraten. An manchen Tagen im August, wenn «der erste Hauch von Herbst» in der Luft liegt, streifen Millionen von Einwohnern Pullover über den Kopf und packen ihre Shorts weg. Doch schon wenige 125
Tage später strahlt der blasse Gasballon der Sonne wie ein kosmischer Molotowcocktail, und sämtliche Coupés in der Stadt lassen im gleichen Moment ihre Hüllen fallen. In diesem Jahr zum Beispiel erwiesen sich Bootseys fröhliche Willkommensgrüße an den Herbst als peinlich voreilig. Jedenfalls hatte die Sonne auf ihre Frühpensionierung gepfiffen und die Arbeit wieder aufgenommen, als Bootsey Ende August besonders spät vom Dienst im Postamt nach Hause kam (es hatte eine Betriebsversammlung gegeben). Keuchend und schweißglänzend schleppte sie sich durch die Tür, als zerrte sie die Freiheitsstatue in einem Plutoniumkoffer hinter sich her. Dabei waren es bloß ihre Handtasche, die Winnie-the-PoohLunchbox und eine zusammengerollte Zeitung. «Uff!», stöhnte sie und fächelte sich mit der Zeitung Luft zu. Sie stand auf der Türschwelle und wartete vielleicht darauf, dass Pru sie fragte: «Und – ist es dir jetzt warm genug?» – eine Frage, die man Bootsey zu ihrem Entzücken heute mindestens dreißigmal gestellt hatte. Doch Pru rief nur: «Hi, Schwesterchen», und wandte sich wieder den Sechsuhrnachrichten zu, die fast zu Ende waren. Bootsey setzte sich zu ihrer Schwester aufs Sofa. «Ganz schön heiß!», verkündete sie triumphierend. Da sie weder Widerspruch noch Zustimmung erhielt, fragte sie enttäuscht: «Gibt’s was Neues?» «Wenn du unsere Freunde in Frisco meinst – nein, nichts. Ich habe das Gefühl, dass Dern den Bullen nicht mehr erzählt als uns. Und bis da was kommt …» Sie zuckte die Achseln. «Wer weiß? Vielleicht deckt er ein internationales Drogenkartell – oder er gibt einfach nur den alten Dern.» Schweigend und gedankenverloren öffnete Bootsey langsam die zwei obersten Knöpfe ihrer feuchten Bluse. Sie wedelte sich ein letztes Mal Luft zu und faltete die Zeitung auseinander. «Okay», schien sie zu sagen, doch es war eher ein Seufzer als 126
ein Wort. «Hier ist etwas, das dich interessieren dürfte. Ich habe den Artikel im Bus gelesen.» In der Tat interessierte sich Pru für den Artikel, den Bootsey meinte. Es ging um die Folgen des Zugunfalls in der Nähe von Grants Pass in Oregon. Der Meldung zufolge waren mehrere Affen und ein Löwe unverletzt und problemlos wieder eingefangen worden, doch die gesamte Truppe der seltenen Tanukis hatte das Weite gesucht und war in den Bergen untergetaucht. * Die Schlucht von Fan Nan Nan: erfüllt mit nichts als Dunst, schwindelnd vor Leere, eine Wunde im grünen Wind, eine Gruft, in der Tiger Pfauenknochenvorräte lagern und sich die Schatten uralter Elefanten stapeln. Ein einsames Stahlseil, das sich über den Abgrund spannt wie ein Spuckefaden, der zwei knutschende Gottheiten verbindet. Zwei Frauen, eine davon in einer Schubkarre, bewegen sich schwankend über das Seil wie Ameisen über den Halm eines Strohbesens – gebeutelt zwischen Feuer und Honig. Anders als ihr Verlobter genoss Lisa Ko den Kitzel des Seillaufens. Schließlich war sie ein Zirkuskind – keine Luftakrobatin, nein, und dennoch kannte sie seit ihrer goldkettchengeschmückten Kindheit Karl Wallenda und sein Credo: «Das Leben spielt sich auf dem Seil ab, alles andere ist nur Warterei.» Sie blickte nicht nach unten, nicht mal Wallenda hätte das getan, aber das war auch gar nicht nötig. Die Höhe, der Abgrund, das eifersüchtige Pulsieren der Schwerkraft, die Tollkühnheit des Ganzen, all das war offensichtlich, und so empfand sie hier, im gefährlich luftigen Morgenäther, einen Rausch herausfordernder Freiheit, den keine Möwe und kein 127
Falke, geschützt von Flügeln oder Instinkt, je erleben würden. Auf der Hälfte des Weges schwebte ein kleiner Vogel vorbei, es war weder eine Möwe noch ein Falke, und pickte ein langes schwarzes Haar von Lisa Kos Kopf. Klugerweise verzichtete sie darauf, aufzuschreien oder zurückzuzucken, bis sie die Bambusplattform auf der anderen Seite der Schlucht erreicht hatten. Die Luftakrobatin stellte das leere Taxi behutsam ab. Sie glaubte gesehen zu haben, wie sich das Haar im Schnabel des Kuckucks in eine leuchtende Nudel verwandelt hatte, behielt es jedoch für sich. * Lan (oder war es Khap?) ließ sie in die Villa Incognito ein und führte sie zu Stubblefields Arbeitszimmer. Mit nacktem Oberkörper, prächtiger Tigertätowierung und einer Hose mit gefälschtem Armani-Logo saß der große Mann da, nippte seinen Roederer-Cristal-Champagner und las Baudelaire. Als er sie entdeckte, tat er, als müsste er husten, damit sie nicht merkte, wie ihm der Atem stockte, und senkte die Lider, um seine Überraschung zu verbergen. «Bonjour, maestro», sagte Lisa Ko. Diesmal war keine Handgranate aus Mayonnaise oder ein fliegendes Brot im Spiel. «Deine kleine protégée ist zurück.» «Da verwechselst du wohl was, Baby. Ich bin hier der protégé. Das Einzige, was ich jemals dir beigebracht habe, müssen wir uns verkneifen, weil du jetzt so gut wie verheiratet bist.» Sie lachte. «Du bist wirklich unverbesserlich. Falsche Bescheidenheit passt nicht zu dir. Und schlechte Manieren auch nicht. Hier spricht deine Statue, Pygmalion, also steh endlich auf und küss ihr die Hand.» Stubblefield erhob sich langsam. «Lieber Gott, sieh mal einer an! Wieso bist du schon wieder zurück? Soll ich raten? Die 128
prüden Amerikaner haben dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ausgewiesen. Nur gut, dass die Dummköpfe nicht auch noch deine Gedanken lesen konnten.» Er nahm ihre Hand, als wollte er sie küssen, und zog Lisa dann ganz an sich. Sie leistete nur schwachen Widerstand. «Haben sie befürchtet, du wärst eine Bedrohung für ihren guten alten way of life?» «Nein. Und die Komplimente kannst du dir sparen. In Wirklichkeit bist du die Bedrohung. Mit meinen abgedroschenen Ideen könnte ich nicht mal einen Floh auf die schiefe Bahn bringen.» Eine Weile stritten sie, wer radikaler oder subversiver war und wer letztlich wen beeinflusst hatte. Hätte der Leser sie belauschen können, wäre ihm aufgefallen, dass sich die Frau, die jetzt mit Stubblefield debattierte, völlig anders anhörte als diejenige, die mit Bardo Boppie-Bip gesprochen hatte. War es überhaupt dieselbe Madame Ko? O ja. Ob es eine merkwürdige Fehlschaltung des Bewusstseins war oder listige Absicht (ein Trick, um inkognito zu bleiben), jedenfalls sprach Lisa Ko nur in Amerika oder mit bestimmten Ausländern so wie eine Wäscherin aus dem neunzehnten Jahrhundert in Chinatown. In Laos reparierte sich ihr gebrochenes Englisch wie durch ein Wunder ganz von selbst, und sie sprach fließend und mit der beinahe makellosen Syntax, die Stubblefield ihr beigebracht hatte, ehe er … zum unanständigen Teil seiner Lektionen übergegangen war. (Bei näherer Überlegung erscheint es unwahrscheinlich, dass man jemandem beibringen kann, wie man gut im Bett ist. Man kann in dem anderen höchstens sein bereits vorhandenes Talent wecken, gut im Bett zu sein. Nicht jeder eignet sich dazu. Die junge Lisa jedoch ganz offensichtlich. In ihr war diese Gabe so natürlich und unausweichlich wie die Akkumulation von Nektar in einer reifen Mango. Zum Glück hatte sie aber noch andere Vorlieben und Talente, die sie davor bewahrt hatten, ihr Leben der Libido unterzuordnen.) 129
Eng aneinander geschmiegt setzten sie ihre fröhliche Neckerei fort. Keiner gab nach, und schließlich sagte Lisa: «Ich kann nicht bleiben, sondern muss sofort wieder zu meiner Show zurück. Ich habe mich unentschuldigt entfernt, um Dickie und dich zu warnen, weil man Dern festgenommen hat. Aber offensichtlich ist das ja schon Schnee von vorgestern für euch.» «Nicht ganz. Ich zum Beispiel habe erst gestern davon erfahren. Unser kleiner Goldwire macht sich große Sorgen.» «Und du nicht?» Er zuckte die mächtigen Achseln. Der Tiger zuckte mit. «Nun, es ist, wie es ist. Es gibt keine Irrtümer.» «Du gemeiner Kerl!», rief sie, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. «Also? Was willst du unternehmen?» «Oh, vielleicht statte ich den europäischen Vergnügungstempeln einen Besuch ab. Unterziehe mich einer Brunnenkur. Einer Schönheitsoperation. Einer Geschlechtsumwandlung. Ich könnte einen auf Elektriker machen und Fernseher reparieren. Ich habe falsche Papiere und ein Konto bei einer Bank in Hongkong.» Er deutete auf die Teppiche, die französischen Kolonialmöbel, die SumiSchriftrollen, auf die bronzenen okimonos aus der Meiji-Ära, die thailändischen und burmesischen Holzbuddhas, die Shojo-NohMasken, die pornographischen Netsukes (shunga) und viele Regale voller kostbarer Bücher. «Ich könnte hier jederzeit einen privaten Flohmarkt abhalten, um das nötige Kleingeld zusammenzukriegen.» «Ja, du hast eine Menge Schätze angehäuft. Aber wie sollen die Händler herkommen oder du alles von hier wegschaffen? Den Luxus, sie einzeln wieder auszufliegen, auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen sind, kannst du dir nicht leisten.» «Vielleicht nicht, aber die US-Regierung ist langsamer als eine Schildkröte mit Verstopfung – und aus einer Schildkröte würden sie wahrscheinlich mehr Informationen rauspressen können als 130
aus Dern Foley. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von allein auf La Vallée du Cirque kommen, ist minimal. Und ich bezweifle, dass es irgendwem hier in den Sinn käme, uns zu verpfeifen.» «Da wäre ich nicht so sicher. Stell dir vor, sie blasen zur öffentlichen Menschenhatz. Was ist, wenn sie ein Kopfgeld aussetzen? Wie ich hörte, treibt sich seit Monaten ein amerikanischer Suchtrupp in Phou Louang herum und untersucht einen alten Flugzeugabsturz. Das ist keine fünfzig Kilometer von hier.» «Ja, ich weiß. Ein bisschen zu nah, um eine ruhige Kugel zu schieben. Aber eine ruhige Kugel heißt Stillstand. Mit anderen Worten, Verblödung. Ich will meine besten Jahre doch nicht in einem Kokon verbringen. Ich hatte immer vor, eines Tages wieder von hier zu verschwinden, mir die Welt anzusehen und mein restliches Pulver zu verschießen.» Er hielt inne und sah ihr in die Augen. «Natürlich hatte ich gehofft, dich mitzunehmen. Damals, meine ich.» Nur wenige Zentimeter lagen zwischen ihren Gesichtern, aber die Spannung in diesem schmalen Zwischenraum war so dicht, dass nicht mal ein Neutrino mit oben liegender Nockenwelle sie hätte durchdringen können. Wie frisch geölt und von selbst angetrieben bewegte sich ihr Mund auf den seinen und der seine auf den ihren zu. Eine kurze Berührung der Lippen – dann zuckten beide zurück. «Genug», sagte er, holte tief Luft und ließ sie los. «Ja», stimmte sie zu. Ihre Augen waren feucht und ihr Höschen auch, aber das hätte sie niemals zugegeben. «Ich bringe dir ein Glas Champagner, Baby, und dann erzählst du mir ein bisschen von Amerika. Allem Anschein nach versteckt sich die alte Heimat immer noch hinter ihrer Maske aus Lippenstiftdemokratie und Mascaraüberzeugung, aber lugt denn nirgendwo was Fröhliches, was Einfallsreiches und Verrücktes unter dem Saum ihrer Kostümierung hervor? Das ist 131
das wahre Amerika. Das, was ihm seine Existenzberechtigung verleiht.» Stubblefield trat zu dem bronzenen, mit Eis gefüllten Kübel, in dem die Champagnerflasche steckte. Plötzlich blieb er stehen und kam langsam, fast schüchtern wieder zurück. «Verzeih mir», sagte er. «Aber ich muss es einfach wissen.» Dann steckte er ihr den dicken Daumen, auf dem sich vom vielen Blättern in Büchern eine Hornhaut gebildet hatte, in den Mund. Lisa Ko entspannte die Kiefermuskeln und ließ den Finger eindringen. Sanft tastete er ihren Gaumen ab. Er fühlte sich warm, glatt und feucht an. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte. Es war nicht mal so groß wie eine Schrotkugel. Als er draufdrückte, zuckte sie ganz kurz zusammen. Er zog den Finger zurück. «Immer noch da», schloss er. «Ja», antwortete sie und lächelte, aber irgendwas an ihrer Stimme und ihrem Lächeln kam ihm rätselhaft vor. * Colonel Patt Thomas’ grauer Metallschreibtisch sah aus, als hätte jemand einen alten Saumagen drauf ausgekippt. Mitten in dem Durcheinander lagen zwei große steife Umschläge. Den einen reichte er Mayflower Cabot Fitzgerald, der soeben hereingekommen war und etwas mitgenommen aussah. «Ich will nicht einen auf Tom Clancy machen, Mayflower», sagte der Colonel und befreite eine Zigarre aus dem Schraubstock seiner Backenzähne. «Aber hier sind die technischen Daten über die B-52, die Foleys Schwadron damals flog. Sagen Sie mal, ist Ihnen nicht gut? Vielleicht war das Barbecue gestern Abend zu viel für Sie.» Colonel Thomas, der aus Louisiana stammte, hegte Zweifel an der gastronomischen Standfestigkeit gewisser Weißer. Sie vertrugen es einfach nicht, wenn man ihnen was Anständiges 132
vorsetzte. Mayflower zuckte zusammen. Es war ihm sichtlich unangenehm, mit seinem Militärkollegen über Privatangelegenheiten zu sprechen. Möglich, dass diese Zurückhaltung ein natürliches Nebenprodukt seiner CIAAusbildung war, vielleicht aber beruhte sie auch auf einem gewissen Unterschied von Klasse und Rasse. Schließlich antwortete er: «Ich habe gerade einige … Probleme. Musste heute Morgen zu einer Untersuchung. Deshalb habe ich mich auch verspätet.» «Oh! Was für eine Untersuchung?» «Äh, hmm. Ultraschall.» «Wirklich? Und was ist dabei rausgekommen?» Wieder zuckte Mayflower zusammen. «Ach, nichts Besonderes.» Er wollte es am liebsten dabei belassen, doch der Colonel starrte ihn erwartungsvoll an, also setzte er hinzu: «Drei Steine in der Gallenblase.» «Drei Steine, mehr nicht? Na, verdammt nochmal, solange nicht einer davon Keith Richards ist, sind Sie aus dem Schneider.» Mayflower wirkte leicht verdutzt und lächelte nicht. Mann, dachte Thomas, dieser Kerl kennt sich nicht mal mit weißen Musikern aus! «Aber versuchen Sie bloß nicht, sie einen Hang raufzurollen», riet Thomas. Sicher war dem Mann aus Langley (er hatte Yale und Princeton besucht) die Anspielung auf Sisyphus nicht entgangen, trotzdem blieb er todernst. Thomas gab auf, blies einen Rauchring und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umschläge. «Die technischen Daten erhellen den Fall auch nicht gerade. Bleibt nur die Frage, warum Foleys B-52 nicht mehr als drei Crewmitglieder an Bord hatte, als sie abstürzte. Die Besatzung einer B-52 besteht normalerweise aus fünf Mann.» «Vergessen Sie nicht, dass sich die Sache im Jahr 1973 133
abspielte. Damals ging der Krieg zu Ende. Es wurden mehr Männer nach Hause geschickt, als Nachschub kam. Foleys Schwadron litt an Personalmangel. Es war sicher nicht das übliche Procedere, aber drei erfahrene Männer waren durchaus in der Lage, die Maschine sicher und effizient zu fliegen, es sei denn …» «Es sei denn, irgendwas ging schief. Was auch tatsächlich der Fall war. Flogen denn alle Maschinen in der Staffel unterbesetzt?» «Nein, nur die eine. Der damalige Kommandant lebt in einem Pflegeheim in Wisconsin, ist aber noch ganz gut beisammen. Er behauptet, Foley und Stubblefield hätten sich freiwillig für die Mission gemeldet. Aber dieser Seward, den wir in Virginia befragt haben, hat es anders in Erinnerung. Der Bursche behauptet, der Kommandant habe sie unterbesetzt starten lassen, weil sonst keiner mit ihnen fliegen wollte. Es waren Intellektuelle!» Mayflower verzog das Gesicht, als hätte er auf einen Wurm gebissen. «Was heißt das?» «Dass sie ständig intellektuelle Palaver abhielten. Über Dinge debattierten, die kein normaler vernünftiger Mensch ernst genommen, geschweige denn verstanden hätte. Sie sind den anderen auf den Keks gegangen. Unsere Jungs versuchten einen Krieg zu gewinnen und heil wieder nach Hause zu ihren Familien zurückzukommen, und diese Snobs ließen sich ununterbrochen über irgendwelche Weicheier aus Europa aus … Seward war ihr Bordschütze gewesen, verstehen Sie, ein aufrechter, gottesfürchtiger Mann. Nun, anscheinend hatte Stubblefield es besonders auf ihn abgesehen. Er hat ihm dauernd blöde Fragen gestellt, zum Beispiel, was Jesus in den letzten zweitausend Jahren so ganz allein eigentlich gemacht hätte oder ob es im Himmel Toiletten gäbe. ‹Sind die Abwasserrohre unter den goldgepflasterten Straßen etwa aus Plastik, Seward?›» 134
Als Mayflower erneut und unverhohlen verächtlich das Gesicht verzog, wandte Thomas ein: «Hmm. Das ist doch eine interessante Frage. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ob man im Himmel immer noch die Hosen runterlassen muss, um zu …» «Vergessen Sie’s!» Mayflower knirschte mit seinen stählernen kleinen Zähnen. Wäre er derjenige mit der Zigarre gewesen, läge die jetzt in zwei Teilen auf dem Boden und kämpfte um ihr Leben, während vor ihrem inneren Auge lauter falsche Erinnerungen an Havanna Revue passierten. «Ich gehe davon aus, dass die Menschen im Himmel zu essen bekommen werden», sagte Thomas nachdenklich. «Und wenn es bloß Milch und Honig ist – obwohl ich nicht glaube, dass sich meine Leute in alle Ewigkeit damit zufrieden geben. Also wird es wohl auch so was wie Verdauung geben müssen, oder etwa nicht? Mit anderen Worten …» «Ich bitte Sie, Colonel! Verschwenden wir nicht unsere Zeit. Das Wasser steht uns bis zum Hals, obendrein könnte ich vorübergehend unpässlich sein.» Mayflower biss sich auf die schmale Unterlippe. Er fragte sich, ob er den obersten Chef der Marineaufklärung anrufen und ihn bitten sollte, Thomas abzulösen. «Na schön, wir wissen also, dass dieser Major Stubblefield ein Blasphemist …» «Blasphemiker heißt das.» «Nein, heißt es nicht!» «O doch. Man sagt zwar Bolschewist, aber Blas-phe-mi-ker!» Thomas spuckte rauchiges Gewölle aus. «Das Ganze macht keinen gottverdammten Sinn! Es heißt blasphemistisch, also sollte es auch Blasphemist heißen.» «Blasphemisch, mein Lieber. Ziehen Sie mal Ihren Duden zu Rate! In letzter Zeit ist zwar auch blasphemistisch erlaubt, aber 135
blasphemisch ist auf alle Fälle der korrektere Begriff.» «Nicht für mich, da können Sie Gift drauf nehmen!» «Na schön, Colonel. Denken Sie, was Sie wollen. Aber jetzt lassen Sie uns bitte fortfahren.» Kein Wunder, dass dieser Depp Gallensteine mit sich rumschleppt, dachte Thomas und sagte: «Okay, wir haben also festgestellt, dass Stubblefield ein gottverdammter Heide war, aber was ist mit unserem Foley, der ein Priesterseminar absolvierte? Während wir hier sitzen, brütet er nebenan über der Bibel, als wäre es eine Speisekarte, und er kann sich nicht entscheiden, ob er lieber Brathähnchen oder Milch und Honig bestellen soll. Was ist mit diesem Lieutenant Goldilocks? Inwieweit – und hier liegt eigentlich der Hase im Pfeffer – hat ihre klugscheißerische, pseudointellektuelle Einstellung gegenüber dem Christentum auf ihre politischen Überzeugungen abgefärbt? Ich meine, waren es Rote, waren es Verräter?» Mayflower runzelte die Stirn. «Nein. Und ja.» Er machte eine Pause. «Sehen Sie, sogar Seward, der sie nicht ausstehen konnte, gibt zu, dass sie gute Piloten waren, die ihre Aufträge routiniert und unerschrocken ausführten. Eigentlich hätte man Foley und Stubblefield schon Monate zuvor nach Hause schicken müssen, da aber Ersatz nur zögernd kam, hatten sie freiwillig den Dienst verlängert. Sie flogen gefährliche Missionen, obwohl sie zu Hause eine ruhige Kugel hätten schieben können.» Wieder machte er eine Pause. «Andererseits bezeichnet ihr Kommandant sie als die undiszipliniertesten Offiziere, die er jemals befehligt hat, und Seward erinnert sich, dass sie dauernd sarkastische und spöttische Bemerkungen über die USRegierung und deren Kriegsanstrengungen machten. Stempelt das allein sie zu unpatriotischen Roten ab? Nicht unbedingt. Ich darf Sie noch einmal daran erinnern, dass wir das Jahr 1973 schrieben.» Über den Schreibtisch hinweg starrten sie sich an. (Mayflower 136
fand Thomas’ überquellenden, unordentlichen Tisch einfach widerwärtig im Vergleich zu seinem eigenen eleganten, aufgeräumten Arbeitsplatz aus Mahagoni in Langley.) Der Colonel wusste, was Mayflower meinte, und Mayflower wusste, dass er es wusste. Nur noch ein paar unbelehrbare Dummköpfe, fanatische Glaubensbrüder wie Captain Seward und jener gefügige, ängstliche und kleinmütige Teil der Öffentlichkeit, der jede noch so unfassbare institutionelle Lüge schluckt, mit anderen Worten, nur komplette Idioten hatten 1973 im Vietnamkrieg noch etwas anderes sehen können als ein beschämendes Beispiel für ein politisches Gehabe, das auf schreckliche Weise gescheitert war. Ein oder zwei Minuten lang schwiegen sie. Gelegentlich stieß Thomas eine Rauchwolke aus, die wie die geballte Faust eines wütenden Schneemanns aussah, bevor sie dahinschmolz. Er beobachtete, wie sich der silberne Adler auf seinem rechten Schulterstück in Mayflowers blitzblank poliertem linkem Brillenglas spiegelte. Schließlich sagte er: «Allmählich kristallisiert sich für mich das klassische Bild braver Soldaten heraus, die ihre Befehle zwar in Frage stellten, sie aber ordnungsgemäß ausführten, egal, wie widerwillig.» «Es könnte trotzdem falsch sein», warnte Mayflower. «Seward behauptet, dass Foleys Maschine auf ihrer letzten Mission über dem Südchinesischen Meer eigenmächtig die Formation verlassen hatte. Sie drehte ab und verschwand zehn Minuten hinter einer Wolkenbank, ehe sie sich wieder in die Formation eingliederte. Seward hatte Grund anzunehmen, dass sie inzwischen ihre Bomben über dem Meer abgeworfen hatte.» «Soso.» Thomas nickte. «Um sie nicht über dem Ho-ChiMinh-Pfad abwerfen zu müssen, wo es fast immer Kollateralschäden gab.» «Richtig. Die Dörfer zu beiden Seiten der Grenze zwischen Laos und Vietnam haben gelegentlich welche abbekommen.» 137
«So ist es nun mal im Krieg, Mann.» «Genau», pflichtete Mayflower bei. Er ließ sich nicht gern als Mann titulieren, aber was sollte man schon von einem Kerl erwarten, der ihn überredet hatte, dieses komische Grünzeug zu essen? «Sieht ganz so aus, als hätte Stubblefields Crew eine ausgesprochene Abneigung gegenüber Kollateralschäden gehabt. Die Jungs haben sogar gemeutert, wenn die Möglichkeit bestand, dass sie mit ihren Geschützen wilde Tiere trafen …» «Wir haben es mit Vegetariern zu tun?» «… dabei gab es damals schon fast so gut wie keine wilden Tiere mehr in der Gegend. Von 1966 bis 1971 wurde der Pfad ununterbrochen bombardiert. Aber unsere Einsätze verfehlten ihr Ziel – die Truppen der NVA, Nachschub und Munition flossen unvermindert weiter –, und nach 71 haben wir ihn, wie Sie wissen, nur noch sporadisch bombardiert. Daher vermute ich, dass ein paar Bambusratten und Baumaffen möglicherweise überlebt hatten oder mittlerweile in das Gebiet zurückgekehrt waren.» Er grinste spöttisch. «Oder Tanukis», fügte Thomas hinzu. «Wie bitte?» «Tanukis. Diese komischen kleinen Tiere aus dem Zirkus. Angeblich stammen sie aus Südostasien. Mann, war dieser Bippie-Boppie-Clown besoffen oder was? Zuerst dachte ich, es gehörte zum Auftritt.» Mayflower verzog das Gesicht, allerdings nicht wegen der Schmerzen in seiner Gallenblase. Seine Frau und sein elfjähriger Sohn waren aus Washington, D. C, zu Besuch und hatten ihn so lange beschwatzt, bis er mit ihnen zum Zirkus gegangen war. Mayflower mochte keinen Zirkus. Mayflower mochte es auch nicht, wenn man ihn unter Druck setzte. «Im Fernsehen habe ich gesehen, dass ein Zug entgleist ist und 138
diese verdammten Tanukis das Weite gesucht haben», erklärte Thomas. «Da oben in Oregon oder …» «Ein gefundenes Fressen für Umweltschützer.» Obwohl seine Stimme nichts von ihrer Monotonie eingebüßt hatte, klang Mayflower fast fröhlich. «Wie auch immer, zurück zu ihrer letzten Mission: Scheinbar war Stubblefield der Kommandant der Maschine, die er selbst flog, Foley Kopilot und Bordschütze, und Goldwire war Navigator und hat sich außerdem um das Radargerät gekümmert. Sie gerieten unter schweren Beschuss, aber die B-52 flogen in einer Höhe, in der sie eigentlich nichts zu befürchten gehabt hätten. Trotzdem wurde Foleys Maschine von irgendwas getroffen, einer Rakete oder Gott weiß was. Seward hat beobachtet, wie sie an Höhe verlor, aber dann verschwand sie in einer Wolke, und er konnte nicht erkennen, ob die Männer abgesprungen waren oder nicht. Daraufhin wurden sie als vermisst gemeldet.» Thomas drückte seine Zigarre aus. «So weit, so gut. Bis fast dreißig Jahre später dieser Heroinpater auf Guam auftaucht. Sagen Sie mal – könnte nicht auch Captain Seward sie abgeschossen haben? Was meinen Sie?» «Lächerlich!» «Es gab jede Menge fehlgeleiteter Splittergranaten in Vietnam.» «Seward ist ein aufrechter Christ …» «Das waren die Päpste der Inquisition auch.» «… und ein loyaler Amerikaner. Einen unausstehlichen Kommandanten unter Beschuss zu nehmen ist eine Sache, aber hier ging es immerhin um Regierungseigentum im Wert von vierundsechzig Millionen Dollar.» «Sie sagen es! Heute kostet so ein Ding noch mehr. Wissen Sie, ich habe nie begriffen, wieso diese Maschinen so verdammt teuer sind. Für vierundsechzig Millionen könnte man bei mir zu Hause eine ganze Stadt kaufen, einschließlich der 139
Katzenfischfarm, und hätte noch genug übrig, um sich einen gebrauchten Cadillac und ein Wochenende in Vegas zu gönnen. Ich habe selbst B-52 geflogen, Mayflower. Wo versickert eigentlich all das Geld?» Falls Mayflower Cabot Fitzgerald auch nur die leiseste Ahnung hatte, wo es versickerte – und das war anzunehmen –, so hatte er bestimmt keine Lust, es Thomas zu verraten. Stattdessen stand er auf, richtete seine malvenfarbene Fliege und griff nach dem zweiten Umschlag auf dem Tisch. «Der ist nicht geheim, deshalb nehme ich ihn mit, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin mit einem Kollegen aus Washington zum Mittagessen verabredet. Tut mir leid, wenn ich Sie nicht dazubitten kann, aber …» «Kein Problem. Ich sehe Sie dann bei der Vernehmung um drei. Bon appétit. Aber lassen Sie die Finger von fettigen Rippchen.» Mayflower, der gerade den Umschlag in seinen Diplomatenkoffer stecken wollte, erstarrte. Ein kaltes, spöttisches Glucksen quetschte sich durch seine zusammengebissenen Zähne. «Da können Sie ganz beruhigt sein.» Kaum hatte der CIA-Mann den Raum verlassen, griff Thomas nach dem Handy und rief einen seiner Männer an. Er ordnete an, dass sich jemand an Mayflowers Fersen heftete und jede Bewegung überwachte, bis er fertig zu Mittag gegessen hatte. Offensichtlich gab es nicht den geringsten Anlass dazu. Es war nur eine Art Sport. Um ihm eins auszuwischen. * The One Who Is Missing is missing He can’t run but He certainly can hide. 140
His ghost car is parked in Cognito, Do you think He might give us a ride? Genau wie Jesus Christus ist Tanuki da und doch nicht da. Er ist immer unter uns und doch auffällig abwesend. Wird er eines glorreichen Tages in ferner Zukunft für immer wiederkehren? Nein. Er kehrt in alle Ewigkeiten wieder und bricht in alle Ewigkeiten auf. Ein um das andere Mal. Bei jedem Atemzug, den wir tun. Das ist der Rhythmus der zwei Welten. Die Spezies Nyctereutes procyonides stammt aus dem heutigen Japan – vielleicht aber auch nicht. Ebenso gut könnte sie sich in Ostchina entwickelt haben und vor vielen tausend Jahren auf die japanischen Inseln übergesetzt sein. Manche Leute glauben, dass sie in Sibirien heimisch war. Unbestritten ist nur, dass Tanukis Ruf, seine Legende, sein Erbe in Japan entstand. Und deshalb kehrt er immer wieder nach Japan zurück und bricht von da unablässig wieder auf. Nur dem Gott der geheimen Winkelzüge ist es zu verdanken, dass seine Bewegungen noch unbemerkter bleiben als die von Jesus Christus. Rein technisch gesehen hatte Colonel Patt Thomas Unrecht, als er erwähnte, dass Tanukis in Südostasien beheimatet sind (eine Information, die er dem Zirkusprogramm entnommen hatte). Doch das ist keine Frage, über die man streiten muss, denn Tanukis sind seit hundert Jahren oder mehr im Bergland von Thailand, Vietnam, Laos und Kambodscha ansässig. Wann und wie sie dort hinkamen, ist nicht bekannt. Wir wissen nur, dass N. procyonoides in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nach Zentralasien und in die alten Republiken der UdSSR ausschwärmte und gelegentlich weit im Westen, in Russland und Finnland etwa, gesichtet wurde. Ein- oder zweimal sollen Tanukis sogar in den französischen Alpen beobachtet worden sein! 141
In einer Zeit, da die grandiose Arroganz und unzählige schlechte Gewohnheiten der Menschheit viele wild lebende Spezies ausgerottet haben, scheinen Tanukis sich … nun, wenn nicht tatsächlich zu vermehren, so doch zumindest auszubreiten. Worauf dies hindeutet oder ob es überhaupt auf irgendwas hindeutet, ist keine Frage, über die sich ernsthaft spekulieren lässt. Doch wenn der Leser es nicht gerade furchtbar eilig hat, könnte er sich jetzt einen Augenblick Zeit nehmen, um über Tanukis in Frankreich nachzudenken. Man stelle sich die falschen Dachse in den Kiefernwäldern der alpinen Vorgebirge vor. Man male sich aus, wie ein winziges Kontingent von Tanukis sich heimlich zwischen Unterholz und Steinbrocken im Pariser Bois de Boulogne ansiedelt. Oder Tanuki persönlich, der spätabends auf allen vieren, wie einer jener fetten kleinen Straßenköter, für die Pariser so schwärmen, den Boulevard Saint-Germain entlangflitzt, zwischen schattenhaften Beinen hin und her wieselt, pommes frites von den Tischen der Straßencafés mopst, vielleicht sogar kurz ins Les Deux Magots huscht, um einer literarischen Größe wie Gérard Oberlé oder Jean Echenoz eine frisch entkorkte Flasche Hermitage Côte du Rhône zu entreißen und sie hinter ein paar Rosenbüsche im dämmrigen Jardin Luxembourg zu schleifen … Nein. Nein. Nein, es ist wirklich unmöglich, sich Tanuki in einer solchen Umgebung vorzustellen. Es passt einfach nicht zusammen. Ein Phantom kann man sich vielleicht mit Schneeflockenmelone oder sogar Dornenkrone vorstellen, Zylinder oder Baskenmütze aber sind was anderes. Es ist auch gar nicht einfach, sich Tanuki persönlich überhaupt vorzustellen. Wenn man sehr lange über ihn nachdenkt, werden die Furchen des eigenen Denkens so glitschig wie Froschhaut, wird der Stift in der Hand zum Stalaktiten, leuchtet der Monitor so grün wie Eulenpisse und sprießt der Tastatur plötzlich ein fettiger Schnurrbart. Als hätte jemand Sand in das kognitive Getriebe geworfen, attackiert ein 142
fernes, beharrliches Geräusch das innere Ohr: das Pochen des Herzens, so ahnt man instinktiv, wie es einst klang, bevor es domestiziert und eingespannt wurde, der Rhythmus reiner Begierde (so rein, dass sie beinahe heilig ist), das stampfende Dröhnen einer süßen und schrecklichen, unsäglichen Freude. Pla-bonga, pla-bonga, pla-bonga. * Während Dickie Goldwire Mayonnaise-Sandwichs mampfte und in seiner Hütte auf und ab marschierte, räkelten sich Mars Stubblefield und Lisa Ko im großen Haus jenseits der Schlucht auf Brokatkissen und schlürften Champagner. Dabei unterhielten sie sich über Amerika. Die Asiatin beschrieb, so gut sie konnte, Hiphop und Harry Potter, Wahlschwindel und Plymouth Cruisers, Piercing, Reality TV, Britney Spears, Glass Art, Proletengolf, Übergewicht bei Kindern und ein Phänomen namens «politische Korrektheit». Nachdem sie auch das Thema aktuelle Moden, Stile und Obsessionen abgehandelt hatte, wandte sie sich kurz dem Zustand der Vereinigten Staaten zu und sagte kopfschüttelnd: «Deine Heimat scheint alles zu haben und hat doch beinahe nichts. Es ist unglaublich. In einem riesigen, schönen und mächtigen Land von nie da gewesenem Reichtum leben einige der unglücklichsten Menschen der Welt. Oh, im Großen und Ganzen revanchieren sie sich für die verschwenderische Fülle, indem sie großzügig, dynamisch und einigermaßen anständig sind – bis auf ihre herrschende Klasse, die vor Bosheit strotzt wie alle herrschenden Klassen. Gleichzeitig aber sind sie chronisch depressiv und unzufrieden. Chronisch. Hast du schon mal von Prozac gehört?» Stubblefield nickte. Dank der regelmäßigen Berichte, die Dern und Dickie aus Bangkok mitbrachten, war er mehr oder weniger 143
im Bilde über das erstaunliche Ausmaß, in dem seine Landsleute Antidepressiva einwarfen. Dieses Wissen hatte letztlich dazu beigetragen, sein eigenes Engagement in der Pharmaindustrie zu rechtfertigen, obwohl er sich dabei ziemlich verbiegen musste. (Übrigens waren ihm dank seiner wagemutigen Kumpel auch einige der oben genannten Moden, Pop-Ikonen und so weiter vage vertraut. Dass er nicht erheblich besser informiert war, hatte damit zu tun, dass er bereits vor langer Zeit Kurzwellenradios, Satellitenschüsseln, Computer oder Telefone in der Villa Incognito verboten hatte. Sie besaßen ihren eigenen kleinen hydroelektrischen Generator, doch die damit erzeugte Energie wurde primär genutzt, um auf einem alten Plattenspieler Jazz zu hören und natürlich für den Kühlschrank: Niemand, nicht mal in La Vallée du Cirque, mochte warmen Champagner.) «In unserer Unabhängigkeitserklärung verpflichten wir uns als Nation dem Streben nach Glück», sagte er. «Das allein ist eigentlich schon ein Eingeständnis anhaltender Unzufriedenheit. Man muss nicht nach etwas streben, das man bereits besitzt.» «Irgendwie ist es rührend, wie stolz Amerikaner sein können, wie sie vor jugendlichem Draufgängertum strotzen», antwortete Lisa, «und andererseits so offensichtlich unsicher sind.» «Selbstgefälligkeit und Selbstzweifel sind meistens austauschbar. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Aber das weißt du ja alles. Du hast es immer gewusst.» Er schenkte ihr nach. «Also erzähl mal, mein Engel», sagte er und gab sich Mühe, spöttisch zu klingen, «wie viele meiner armen Brüder hast du aus ihrem künstlichen Medikamentenschlaf erweckt?» Sie schnaubte verächtlich, genau wie er erwartet hatte, und winkte mit der freien Hand ab. «Sei nicht albern. So was steht überhaupt nicht auf meinem Programm. Die Tanukis und ich, wir reisen von Stadt zu Stadt und ziehen unsere kleine Nummer durch. Hip-hip, huu-huu, pla-bonga, pla-bonga. Die Leute haben ihren Spaß dabei, aber deswegen rennt noch lange keiner 144
nach Hause und spült sein Prozac ins Klo.» Nein, vermutlich nicht, dachte er. Und doch hatte er nie ganz die Vorstellung, besser gesagt, den Verdacht abschütteln können, dass es unter der Oberfläche von Madame Kos Zirkusvorstellung noch etwas gab (wie übrigens bei Lisas meisten Aktionen), etwas indirekt Lehrreiches, die physische, wenn auch höchst subtile Manifestation eines geheimnisumwobenen philosophischen Systems. Allerdings gab es abgesehen davon, dass sie ihm eine kuriose Sammlung von Zen-Sprüchen nahe gebracht hatte, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte und deren Einfluss auf ihre Lebensanschauung zwar nachhaltig, aber nicht immer leicht zu definieren war, so gut wie keinerlei Hinweise, die eine solche Annahme gestützt hätten. Offenbar steigerte das angeblich generationsübergreifende Implantat, dem sie solch ominöse, nicht näher erläuterte Bedeutung gab, die Dimensionen ihres Geheimnisses, doch eine Schwellung im Mund ist wohl kaum das Fundament, auf dem ein zivilisierter Mensch seine Meinungen begründet. Stubblefield wusste sehr wohl, dass er, egal ob zu Recht oder nicht, immer ein wenig Ehrfurcht vor Lisa gehabt hatte, doch jeder Ausdruck dieser Empfindung endete gewöhnlich damit, dass er sie beide in Verlegenheit stürzte – ihn, weil es ihm einen intellektuellen Nachteil verschaffte, und sie, weil … nun, vielleicht war sie einfach nur scheu. Auf alle Fälle neigte er im Augenblick nicht dazu, das Thema weiterzuverfolgen. Er würde ihr unbesehen glauben, so als wäre sie genau das, als was sie ihm erschien – und möglicherweise war sie es ja. «Alles nur Show», sagte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen. «Und jetzt muss ich schnell wieder nach Amerika zurück.» «So bald? Au, hast du das gehört? Mein armes Herz zerspringt!» 145
«Das war ein Rülpser!» Sie drohte ihm mit dem Finger und lachte. «Wenn ich heute Abend in Vientiane bin, kann ich morgen früh einen Flug erwischen. Aber was ist mit dir und Dickie? Ich hatte eigentlich vor, Ende Oktober nach Laos zu kommen …» «Stimmt. Zur Hochzeit. Nun, als Trauzeuge darf ich die Braut ja wenigstens küssen.» Einen Augenblick lang starrten sie sich an, und man musste weder Detektiv noch Psychiater sein, um an diesem Blick zu erkennen, dass es keinen Zentimeter am Körper dieser zukünftigen Braut gab, den er nicht schon hundertmal geküsst hatte. Sie wehrte sich gegen das Blut, das ihr ins Gesicht stieg, und fuhr fort: «Nun, was aus diesen Plänen wird, steht im Augenblick noch in den Sternen. Früher oder später wird hier jemand auftauchen, der auf der Suche nach euch ist. Du scheinst es auf die leichte Schulter zu nehmen, aber eigentlich müsstest du wissen, in welcher Gefahr ihr schwebt.» «Wer noch nie in Gefahr war, soll sich was schämen!» «Ich lasse dir meine Handy-Nummer da. Ruf mich an, falls und wann ihr fliehen müsst. Ich weiß nicht, wohin Dickie überhaupt fliehen könnte. Vielleicht kann er nicht mal mehr seine Rubine verkaufen, und Dern ist ihm offensichtlich den Anteil für die letzte Lieferung schuldig geblieben. Er –» «Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um ihn. Ich persönlich glaube, dass die US-Regierung das kleinste von Goldwires Problemen ist.» Lisa war dabei, die Falten ihres Kleides zu glätten. Jetzt hielt sie plötzlich inne. «Was meinst du denn damit?» Stubblefield antwortete nicht, sein Ausdruck verriet nichts, doch beiden war klar, dass er auf ihr «Implantat» angespielt hatte.
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* Der Umschlag auf Colonel Thomas’ Schreibtisch – der zweite Umschlag – lag nun auf einem mit Leinen gedeckten Tisch im eichengetäfelten Speisesaal eines altehrwürdigen Restaurants in San Francisco, das für seinen Crab-Louie-Salat und Sauerteigbrot bekannt war. Einsatzoffizier Mayflower Cabot Fitzgerald hatte ihn zum Lunch bestellt und stocherte jetzt misstrauisch darin herum, fast so, als wollte er seine Steine ermuntern, Moos anzusetzen. Die Akte enthielt die FBI-Hintergrundinformationen über drei amerikanische vermisste Soldaten, deren B-52 Stratofortress (von Pilotenkollegen «Smarty Pants» und «The Think Tank» getauft) 1973 westlich der Grenze zwischen Laos und Vietnam abgestürzt war. Die Akten des Trios waren detailliert und ausführlich, doch für unsere Zwecke (was immer unsere Zwecke sein mögen) genügen einige hervorstechende Fakten. DERN V. FOLEY Sportstipendiat an der Roosevelt Highschool. Träumt davon, als Außenverteidiger für die University of Washington zu spielen. Als diese ihn nicht annimmt, lehnt er Stipendiumsangebote von mehreren kleineren Colleges ab. Soll seitdem zu Frust und Verschlossenheit neigen. Übernimmt Minijobs («Pizza Haven», «Dick’s Drive-In») und absolviert Flugunterricht bei seinem Vater, einem BoeingIngenieur. Macht seinen Flugschein, experimentiert mit Drogen. Auf Drängen seiner Mutter Immatrikulation am Union Theological Seminary, mit der Absicht, in Theologie zu promovieren. Im dritten Jahr des Priesterstudiums wird er wegen Handels 147
mit illegalen Drogen verhaftet. Er hat zwei Kilo Marihuana und fünfzig LSD-Trips in seinem Besitz. Aufgrund seiner tadellosen Vergangenheit und seiner akademischen Leistungen (Erwähnung in der Ehrenrolle, Präsident des Lateinclubs im Seminar) bietet ihm der Richter an, die Anklage fallen zu lassen, wenn er sich dafür zum Militär meldet. Eintritt in die Air Force. Wird für die Flugausbildung angenommen. Macht Pilotenabzeichen und wird einem Bombergeschwader in Asien zugeteilt. Ausgezeichnete Einsatzzeugnisse, aber zweimal Disziplinarverfahren wegen Ungehorsams. Bekannte Interessen: biblische Geschichte, tote Sprachen, Fliegerei, Bewusstseinsveränderung. MARS ALBERT STUBBLEFIELD Sohn eines Astronomie-Professors an der University of Nebraska. Frühe Anmeldung an einer Schule für besonders begabte Kinder in Lincoln. Mit sechzehn Immatrikulation an der University of Chicago. Drei Jahre später Abschluss in den Fächern Anthropologie und Philosophie. Studium an der Pariser Sorbonne und am Trinity College in Dublin. Spezialisiert sich auf die Analyse von Volkssagen. Treibt sich in Europa herum. Schwängert die Tochter eines hochrangigen belgischen Diplomaten. Arbeitet sechs Monate als Kellner im Village Vanguard von Greenwich Village, New York City. Lehrt an Junior Colleges in Illinois und Nebraska. An beiden Schulen Verwarnungen wegen inakzeptablen Verhaltens 148
(unorthodoxe Kleidung, Schimpfkanonaden bei Fakultätssitzungen, angebliche sexuelle Verfehlungen mit weiblichen Studenten). Veröffentlicht Artikel und Aufsätze über traditionelle asiatische Einflüsse auf das westliche Denken. Heirat mit Lisa Szaborska, einer früheren Schülerin und Vizekönigin beim Miss-Nebraska-Schönheitswettbewerb. Bewirbt sich offenbar aus einer Laune heraus bei der Air Force. Wird für die Flugausbildung angenommen. Macht sein Pilotenabzeichen und wird einem Bombergeschwader in Asien zugeteilt. Ausgezeichnete Einsatzzeugnisse, jedoch Disziplinarverfahren wegen Ungehorsams und militärisch unangemessenen Verhaltens. Besitzt die Gabe, sich aus Unannehmlichkeiten herauszureden. Bekannte Interessen: Literatur, Jazz, Erkenntnistheorie, Essen, Wein, Frauen. DICKIE LEE GOLDWIRE Über ihn sind wir bereits ausgiebig informiert. * Auf der Landeplattform von Fan Nan Nan kippte Madame Phom Madame Ko wie einen Sack Reis aus der Schubkarre. Kreischend griff Lisa nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich herunter, bis die beiden Zirkuskünstlerinnen sich auf der Erde wälzten und kicherten wie ausgelassene Schulmädchen. In dem Moment bog Dickie mit einem Strauß Wildblumen um die Ecke. Um sie zu pflücken, war er auf den Hängen über dem Dorf herumgekraxelt und hatte das Risiko auf sich genommen, von einer giftigen Bambusotter oder faustdicken Tausendfüßlern 149
gebissen zu werden. Typisch Dickie, dachte Lisa. Er ist so romantisch, so zärtlich. Und fügte dann, als sie mehrere wilde Chrysanthemen in dem Strauß entdeckte, hinzu: Und so ahnungslos. Obwohl er fast genauso oft wie Stubblefield in ihrem Mund gewesen war, hatte er entweder nie was gemerkt oder nicht daran gedacht zu fragen, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Polyp in ihrem Gaumen das Programm seines Herzens durcheinander bringen könnte. Ihre Stimmung verdüsterte sich, als sie sich fragte, was grausamer wäre: ihn sitzen zu lassen oder seine Frau zu werden. Nun, es gibt keine Irrtümer – und sie musste sich allmählich auf den Weg nach Vientiane machen. Nachdem er ihr beim Aufstehen geholfen hatte, küsste sie ihn und spürte, wie er beim Geschmack von Stubblefields Champagner leicht zurückzuckte. Sie küsste auch Madame Phom und folgte Dickie dann zu seiner Hütte. Während sie packte, unterhielten sie sich über die Zukunft und legten ihre Aussichten auf Waagschalen, die wissenschaftlich gesehen so ungenau waren, dass sie eine Melone mit einer Zahnbürste, oder sagen wir, Hochzeitsglocken mit einem Chrysanthemensamen aufwiegen konnten. «Wenn ich im Gefängnis lande, kommst du mich dann besuchen?» «Wahrscheinlich nicht», sagte sie, denn sie wollte ihm nichts vormachen. Andererseits wollte sie ihn aber auch nicht traurig machen, und deshalb setzte sie hinzu: «Aber ich sorge dafür, dass mein Manager dich regelmäßig mit Brot und Mayonnaise versorgt.» * Irgendwann nach 1971 fingen pronordvietnamesische Truppen aus Furcht vor einer amerikanischen Invasion damit an, ihre Kriegsgefangenen weiter ins Landesinnere zu schaffen, auf die 150
westliche Seite des Annam-Gebirges, das die Grenze zu Vietnam bildet. Zu einer dieser abgerissenen Gruppen von Kriegsgefangenen gehörte die Crew der «Smarty Pants». Sie kamen nur langsam voran, denn das Terrain war zerklüftet, Blindgänger machten als mörderische Spätzünder den Dschungel unsicher, und Captain Foley hinkte, weil er sich bei der Landung mit dem Fallschirm den Knöchel verstaucht hatte. Die Soldaten, die die Gefangenen eskortierten, verloren allmählich die Geduld. Sie wurden an der Grenze gebraucht, und es war noch ein langer Marsch bis zu den Lagern im Zentrum des Landes. Nach ein paar Tagen kamen sie auf die Idee, kleine Grüppchen von Kriegsgefangenen an lokale Polizeieinheiten zu übergeben, die sie ins Dorfgefängnis sperren sollten. So könnte man sie später bequem wieder einsammeln. Stubblefield, Foley und Goldwire wurden in einem offenen Pferch in den Ausläufern des Gebirges untergebracht, mehr als hundert Kilometer vom Bereich der US-Bombenangriffe entfernt. Die Dorfbewohner dort sympathisierten ziemlich offen mit den linksgerichteten Pathet Lao und hatten für die rechtsgerichtete nationalistische Regierung, die 1960 in einer von der CIA manipulierten Wahl an die Macht gekommen war, nichts als Hohn und Spott übrig und ansonsten nicht viel mit Politik am Hut. Sie bauten ihren Reis und ihr Gemüse an, fischten in ihren Gewässern, zogen ihre Kinder auf, feierten ihre Feste und praktizierten ihre urtümliche Form des Buddhismus. Sobald der Reiz des Neuen verflogen war, achteten sie kaum noch auf die komischen Amerikaner im Dorfpferch, sondern sahen in ihnen nur drei weitere Mäuler, die gestopft werden mussten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren lax. An einem bewölkten Aprilabend, als Derns Knöchel endgültig geheilt war, brach die «Smart-Pants»-Crew aus ihrem wackeligen Kittchen aus und flüchtete bergauf in wilderes Territorium, in der Annahme, dass man sie dort nicht so leicht einfangen konnte wie im Flachland. Eine Woche lang schliefen 151
sie tagsüber und marschierten nachts, oft mit Umwegen, wobei sie mehr und mehr an Höhe gewannen, jedoch stets von Schlangen, Tausendfüßlern und nicht identifizierbaren Gestalten und Geräuschen verfolgt wurden. Kam das samtweiche Grummeln etwa aus dem lechzenden Maul eines Tigers, der sein Abendessen plante? War dieses rhythmische pla-bonga die Begleitmusik für den hungrigen Herrscher der Hölle, der gerade den Deckel zu ihrem Sarg hämmerte? Der Mond brannte am Himmel wie eine Strahlenwunde, und die Bäume zitterten, so sehr flatterten ihnen die Eingeweide. Auf Fan Nan Nan stießen sie durch Zufall, aber es war ein glücklicher Zufall. Als sie unter dem Schutzdach des Waldes hervortraten und der Himmel über ihnen unvermutet einen astronomischen Anfall bekam, gefiel ihnen der Ort auf den ersten Blick. Sie vertrauten seiner Schwingung, könnte man sagen, vertrauten ihr so sehr, dass sie bei Tagesanbruch hungrig, durstig, schmutzig und erschöpft ins Zentrum des Dorfes schlenderten, wo sie mit gespielter Zuversicht und aufrichtig gutem Willen stehen blieben. Die überraschten Dorfbewohner nahmen sie in Gewahrsam, behandelten sie jedoch von Anfang an gastfreundlich. Stubblefields Intuition war richtig gewesen: Fan Nan Nan hatte etwas Besonderes. Im Lauf der Jahre sollte sich dieses Besondere noch verstärken. Fan Nan Nan und die Villa Incognito waren wie füreinander geschaffen. * Klopf! Klopf! Wer da? James Michener. Lügner! Sie sind nicht James Michener. Stimmt. Und Sie sind wahrscheinlich kein typischer MichenerLeser. Trotzdem werden wir, wenn Sie nichts dagegen haben, 152
einen Exkurs à la Michener einschieben, ganz kurz, ganz schnell, bloß um auf diese Art wenigstens ein Minimum an Hintergrundmaterial zu liefern. Natürlich gibt es nicht den geringsten Grund, den Teller des Lesers mit den versteinerten Fundstücken geologischer Forschung zu überhäufen. Wer geographische Orientierung benötigt, soll seinen Atlas zu Rate ziehen. Historisch könnten wir anmerken, dass das ursprüngliche Königreich Laos 1353 in der porösen Suppenschüssel des südostasiatischen Stammessystems erstarrte und Jahrhunderte von aufeinander folgenden Invasionen durch mächtige Nachbarn überdauerte, gefolgt von der französischen und japanischen Besetzung, bevor es 1975 durch die triste Faust des Kommunismus gestürzt wurde. Da dieser Bericht Laos jedoch anders behandelt als Michener Hawaii, Polen und Texas, ist jede höhere historische Warte vermutlich irrelevant. Die bis heute erhaltenen ländlichen Traditionen der kleinen Nation, ihr starker spiritueller Einschlag und die relativ spärliche Bevölkerung wurden bereits angesprochen. Was uns bei der Beschäftigung darüber hinaus nützlich sein könnte, ist die Zusammensetzung der Bevölkerung, insofern sie Fan Nan Nan betraf. Das Interessante an dieser Bevölkerung ist nicht, dass es sich um eine Mischung aus vier separaten größeren kulturellen Gruppen handelt, sondern dass diese Gruppen danach eingeteilt werden, in welcher Höhe sie sich ansiedeln, wobei wir auf ethnische Unterschiede wie Sprache, Kleidung, Religion und Herkunft nicht weiter eingehen wollen. In Laos wurde das Konzept des sozialen Aufstiegs völlig umgekrempelt und sozusagen auf den Kopf gestellt. Beispielsweise ist die Gruppe, die über Jahrhunderte hinweg die Regierung und die Gesellschaft geprägt hat – Lao Lum –, eine Kultur des Flachlands. Die Lao Lum leben knapp über dem Meeresspiegel, bestellen ihre Reisfelder an den Ufern des Mekong und dessen Nebenflüssen und führen die offiziellen 153
Geschäfte des Landes von der Hauptstadt Vientiane aus. Die ehemalige Aristokratie und das, was von der Mittelschicht übrig ist, bildet einen Teil dieser Gruppe. Sie sind Anhänger des Theravada-Buddhismus. Wenn wir uns weiter bergauf bewegen, stoßen wir als Nächstes auf die Lao Thai, deren Name ebenso angemessen wie verwirrend ist, denn die vererbte Grenze zwischen Laoten und Thais ist im Allgemeinen nur hauchdünn. Die Lao Thai praktizieren sowohl Bewässerungsanbau (Paddy-Reis) wie auch das Streusaatverfahren (Bergreis), so wie sie einerseits dem Geisterkult des Animismus und andererseits ihrer eigenen primitiven Form des Buddhismus anhängen. Der Pferch, in dem unsere drei Amerikaner vorübergehend eingesperrt wurden (vorübergehender, als ihre Häscher beabsichtigt hatten), lag in einem Lao-Thai-Dorf am Fuß der Berge. Sollten wir noch weiter vorstoßen und schließlich die hoch gelegenen Gebirgstäler erreichen, kämen wir zu den Lao Theung, einer verarmten animistischen Gesellschaft, die von Sklaven und Dienern des Adels abstammt. Die Lao Theung bauen Bergreis, Baumwolle und Tabak an, benutzen ausschließlich Holzwerkzeuge und Gerätschaften aus Bambus, siedeln in Flussnähe in Hütten mit nacktem Erdboden. Sie glauben, dass der menschliche Körper von dreißig bis hundertdreißig Geistern bewohnt wird. (Inwieweit Dickleibigkeit oder Magersucht das Ausmaß der Geisterbevölkerung bestimmt, ist unklar.) Und noch weiter oben erreichen wir schließlich die nebelverhangenen Berggipfel, wo die Stämme ansässig sind, die kollektiv unter dem Namen Lao Sung (Hohe Lao) bekannt sind. Zu ihnen zählen die Lisu, die Mien und vor allem die Hmong; sie sind die jüngsten Einwanderer in Laos und kamen vermutlich erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus China, Burma und Tibet. Zwar sind die Bedingungen für eine erfolgreiche Agrarproduktion in solch luftigen Höhen schlechter als 154
anderswo, dennoch sind die Lao Sung (insbesondere die Hmong) besser dran als die Lao Theung, die über ausgedehntere und fruchtbarere Böden verfügen. Warum? Weil sich die Hmong auf ein einziges, zum Verkauf bestimmtes Produkt konzentrieren: Schlafmohn. (Kaum eine einstündige Kraxeltour oberhalb von Fan Nan Nan befand sich ein Dorf der Hmong, und mit den Gartenbauingenieuren dieses Nestes sollten Stubblefield und Foley eine wechselseitig befruchtende Geschäftsbeziehung eingehen. Wir kommen später noch darauf zurück.) Okay, damit hätten wir die Michener-Zone hinter uns. Für den Fall, dass die Müdigkeit sich noch nicht bleischwer auf unsere Lider gesenkt hat und wir vor lauter Lao-dies und Lao-das in ein tiefes Koma gefallen sind, könnten wir jetzt, da wir den Fluss der Erzählung wieder aufnehmen, festhalten, dass Fan Nan Nan eine Lao-Theung-Gemeinde war. Oder doch nicht? Sie können mir glauben, dass die Regierung in Vientiane und selbst die Bewohner der umliegenden Dörfer uns in dieser Schlussfolgerung bestätigen würden. Ach, und trotzdem wären wir auf dem Holzweg. An diesem Punkt ist es dem wissbegierigen Leser vergönnt, eine kleine Geschichte zu hören, in Wirklichkeit kaum mehr als eine Anekdote, die aber vor Romantik trieft wie ein Krispy Kreme Doughnut vor Fett. Wie es scheint, war Fan Nan Nan um die Jahrhundertwende, also etwa 1900 oder 1899, vielleicht auch ein paar Jahre früher, tatsächlich ein winziger Außenposten der Lao Theung. In diesem Jahr wurden mehrere junge Männer aus dem Dorf in die königliche Armee eingezogen. Angesichts ihrer Vergangenheit als untadelige Diener des Königs und ihrer Reputation als besonders fleißige Untertanen ist es keine Überraschung, dass ihren Rekruten das Schlachtfeld erspart wurde und man sie stattdessen in einer Kaserne neben dem Palast in Vientiane einquartierte, wo sie dem Hof ihr Talent für handwerkliche 155
Arbeit am ehesten zur Verfügung stellen konnten. Beim Pii-Mai-Lao-Fest zu Beginn des neuen Jahres lernte einer der Soldaten eine junge Frau aus einem wohlhabenden Dorf außerhalb der Hauptstadt kennen. Schüchtern hielten sie Händchen während der Elefantenparade, spendeten gemeinsam Beifall, als der Vollmond aufging, und übergossen sich gegenseitig mit Wasser, wie es während der Pii-Mai-Lao-Feier Brauch ist. Am Ende des dreitägigen Festes hatte ein unhörbarer, unerklärlicher chemischer Dialog zwischen spezifisch männlichen und spezifisch weiblichen hormonellen Transmittern dafür gesorgt, dass sie hoffnungslos ineinander verliebt waren. Zwar hätten die Eltern des Mädchens es sehr viel lieber gesehen, wenn sie einen anderen Lao Lum geheiratet hätte, wollten die Verbindung aber auch nicht verbieten. Der Soldat war höflich und gut aussehend, kräftig und aufrichtig: Sie konnten verstehen, warum ihre Tochter ihn so anziehend fand, und da sie halsstarrig auf ihrer Wahl bestand, gaben sie ihre Einwilligung. Wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst wurde die Hochzeit im Elternhaus des Mädchens gefeiert. Nun traf es sich, dass der Bräutigam die reine Bergluft seiner Lao-Theung-Heimat schmerzlich vermisste, ebenso wie die üppige Fauna und Flora, die Wasserfälle und die Felsen (mitsamt den Geistern, die sie bewohnten), am meisten aber die Liebe seiner Familie. Er hatte es satt, Moskitos totzuschlagen. Er hatte keine Ahnung von Bewässerungsanbau, und der Gestank, der aus den Reisfeldern kam, beleidigte seine Nase. Als er erklärte, mit seiner Braut in die Berge zurückzukehren, waren ihre Eltern untröstlich vor Kummer und Reue. Man muss wissen, dass sie nicht etwa aus blinder Elternliebe oder Voreingenommenheit damit prahlten, dass ihre Tochter kein gewöhnliches Mädchen war. Sie war hübsch (vielleicht genauso hübsch wie Miss Ginger Sweetie), sie war würdevoll 156
(möglicherweise so würdevoll wie Lisa Ko), sie war die beste Tänzerin, die beste Sängerin und die beste Näherin im Dorf, und obendrein hatte noch nie jemand gehört, wie sie einen fahren ließ. Weder ihr Vater noch ihre Mutter, weder die Schwestern noch die Brüder ertrugen es, von ihr getrennt zu werden – deshalb verkauften sie etwa einen Monat nachdem der frisch gebackene Ehemann sie mitgenommen hatte, ihren Wasserbüffel, packten ihre Habseligkeiten zusammen und folgten ihr nach Fan Nan Nan. Einige Monate später kamen die übrigen Verwandten der Braut, darunter selbst entfernte Vettern und Kusinen, zu der Einsicht, dass ein Leben ohne dieses hoch begabte und entzückende Mädchen keinen Sinn hatte, von ihrer frommen und großzügigen Familie ganz zu schweigen, und so machten sich auch die Verwandten auf den Weg in die Berge und nach Fan Nan Nan. Ihr Aufbruch riss ein Loch ins Gefüge der Gemeinde; eine anhaltende Leere blieb zurück. «Es waren unsere besten Bürger», klagten die Dorfbewohner. «Und das hübsche Mädchen war die beste Tänzerin, die beste Sängerin und die beste Näherin des Dorfes. Solange sie lebt, hat noch nie jemand gehört, wie sie einen fahren ließ.» Innerhalb von anderthalb Jahren hatte die ganze verdammte Bevölkerung ihr Heimatdorf in der fruchtbaren Ebene verlassen und sich viele, viele Kilometer davon entfernt in einem hoch gelegenen Weiler zwischen einem rauschenden Bach und einer tiefen Schlucht angesiedelt. Nun, mittlerweile platzte Fan Nan Nan aus allen Nähten. Einige neue Häuser waren gebaut worden, doch wegen der natürlichen Hindernisse mangelte es an Raum für eine weitere Expansion. Drei oder vier Familien mussten sich in Häuser quetschen, die nur für eine Platz boten. Auf den Berghügeln konnte nicht genügend Reis angebaut werden, um die Nachfrage zu befriedigen, und die Infrastruktur stand – sagen wir es einmal so – unter einem enormen Druck. 157
Schließlich kam einer der Lao-Theung-Ältesten auf die Idee, einen der Lao-Lum-Ältesten zu fragen, was aus den Häusern und Reisfeldern geworden war, die sie im Flachland zurückgelassen hatten. «Oh, die sind alle verlassen», erwiderte der Lao Lum. «Wir haben alles zurückgelassen, was wir nicht huckepack nehmen konnten.» Die Vorstellung dieser hübschen, leer stehenden Häuser und unbebauten fruchtbaren Felder beschäftigte fortan die Phantasie der Lao Theung. Als sie die Nähe des verlassenen Dorfes zu Vientiane mitsamt seinem Reichtum, seinen Arbeitsplätzen, Unterhaltungsmöglichkeiten und seinem Prestige mit einbezogen, erwies sich die Verlockung als unwiderstehlich. Eines frühen Morgens erwachten die neuen Lao-Lum-Bewohner von Fan Nan Nan und entdeckten, dass sämtliche Familien der Lao Theung bis auf den letzten Mann mit allem, was sie schleppen konnten, hintereinander den Pfad hinabmarschierten. Nur eine einzige Familie war geblieben, die gemischte. So hatten die beiden Dörfer letztendlich den Platz getauscht. Das Ganze erinnerte an eine kommunale Reise nach Jerusalem. Klare Bergluft pfiff dem Exsoldaten um die aufnahmebereite Nase. Seine Ohren registrierten zufrieden das vertraute Donnern der Wasserfälle, das Geschrei der wilden Pfaue, das heisere Husten der Leoparden und das Zirpen einer halben Hundertschaft unterschiedlicher Fledermausgattungen. Im Ehebett löste sich die würdevolle Fassade seiner Braut unter einem ganz anderen Geschrei und Gequieke auf. Die ungezügelte Bekundung ihrer Leidenschaft brachte das Geschirr im Schrank zum Klirren; neben ihr erschien Chilipaste so mild wie Porridge. Das Leben schien es gut mit dem jungen Mann zu meinen. Doch sein Herz hatte einen Knacks. Er fühlte sich einsam, fremd, unzufrieden. Als er schließlich seiner Frau erklärte, dass er aufbrechen werde, um sich wieder mit seinem Clan zu vereinen (der mittlerweile festen Fuß in ihrem ehemaligen Dorf gefasst hatte), 158
war sie nicht überrascht. Und auch für uns dürfte es keine Überraschung sein, dass sie ihn in seiner Entscheidung unterstützte und ohne zu zögern sagte, dass sie ihn dorthin begleiten werde. «Nein», antwortete er. «Das geht nicht. Wenn du mitkommst, wird deine Familie erneut unglücklich sein, und im Nu wird sie wieder in ihr altes Dorf zurückziehen, um in deiner Nähe zu sein. Anschließend werden deine übrigen Verwandten – und wenig später das ganze Dorf – ihnen folgen, bis Fan Nan Nan verlassen ist. Erneut werden wir unter jämmerlich beengten Verhältnissen leben müssen, und schließlich wird mein Volk hierher zurückziehen und mich früher oder später zwingen nachzukommen, womit die ganze Pendelprozedur von neuem in Gang gesetzt würde. Das ist Wahnsinn. So kann es nicht weitergehen. Du musst bleiben, wo du bist. Ich liebe dich. Leb wohl.» Nachdem die junge Frau beobachtet hatte, wie seine Gestalt den Berghang hinab verschwand, trat sie – schwanger, wie sie war – würdevoll und entschlossen an den Rand des Abgrunds. Damals gab es noch kein Seil und noch kein großes Haus auf der anderen Seite, nichts als den klaffenden Schlund des Planeten, der gähnte, als langweilte ihn das Tempo der Evolution. Sehnsüchtig warf sie noch einen Blick zurück auf den Pfad, den ihr Mann eingeschlagen hatte, dann stürzte sie sich hinab. Die entsetzten (und später von Ehrfurcht erfüllten) Feuerholzsammler, die Zeugen ihres Sprungs wurden, waren sich über eine merkwürdige Tatsache einig: Auf halbem Weg in die Tiefe des bodenlosen, von Vögeln durchschwirrten Abgrunds hörte der Körper des Mädchens plötzlich auf zu fallen, änderte seine Richtung und stieg fast bis zum Rand der Schlucht wieder auf. Dann aber verlor er ebenso abrupt an Schwung und stürzte kopfüber in den endgültigen Nebel des Vergessens. Manche glaubten, dass ein Seitenwind, eine mächtige 159
Aufwärtsströmung sie für einen Augenblick gepackt und zum Himmel emporgetragen habe. Andere waren überzeugt, dass die Liebe des Lao-Lum-Mädchens zu dem Lao-Theung-Jungen so stark war, dass sie sogar die Schwerkraft vorübergehend außer Kraft setzte. Einige weniger sentimentale Zuschauer jedoch behaupteten, einen lauten Knall gehört zu haben, kurz bevor der vorübergehende Aufstieg begann, und folgerten, dass sie, nachdem sie ihr ganzes Leben lang eingehalten hatte, nun endlich gefurzt hatte – und der aufgestaute Druck so groß gewesen war, dass er sie hundert Meter nach oben katapultierte. Was immer sich abgespielt hatte, falls es denn mehr war als ein ganz normaler Sprung in den Tod und die Levitation des Mädchens nicht nur ein Trugbild – Fakt ist, dass Fan Nan Nan seit diesem Tag ein Lao-Lum-Dorf war, das sich den Anschein gab, ein Lao-Theung-Dorf zu sein. Die nationale Volkszählung rechnete es zu den Lao Theung, und auch in den Steuerregistern wurde es als Lao Theung geführt. Die Dorfbewohner kleideten sich und sprachen wie Lao Theung. Sie behielten ihre buddhistischen Schreine, versteckten sie allerdings hinter verschlossenen Türen und erwiesen ihre Reverenz zumindest pro forma magischen Göttern, die in Baumstämmen wohnten, und Geistern (dreißig bis hundertdreißig, wobei sie normalerweise von der kleineren Zahl ausgingen), die angeblich ihren Geistergeschäften in diversen Teilen ihres Körpers nachgingen. Nach zwei oder drei Generationen hatten sie LaoTheung-Züge angenommen. Und doch war alles nur eine Maskerade, ein Trick, den sie aus Schmach und Kummer angewendet und dann – wer weiß? – vielleicht nur aus Spaß aufrechterhalten hatten. Auf alle Fälle ist es vermutlich nicht allzu weit hergeholt, Fan Nan Nan als Stamm von Hochstaplern zu bezeichnen, als Ort hinter einer Maske, ein Dorf, das sich inkognito gab.
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* Falls der exzentrische Identitätsschwindel von Fan Nan Nan Einfluss auf die Entscheidung der «Smarty-Pants»-Crew gehabt haben sollte, nach dem Ende des Kriegs noch eine Weile in Laos zu bleiben (vorausgesetzt, die Flieger waren sich der Täuschung überhaupt bewusst), so fand es keine Erwähnung, als sie einander – eigentlich ungewollt – ihre verschwommenen Pläne, die Rückreise zu verschieben, offenbarten. Im Herbst 1973 befanden sich nur noch sehr wenige amerikanische Truppen in Vietnam. Trotz einer Reihe von Waffenstillstandsvereinbarungen wütete der Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden jedoch unvermindert weiter, wobei der von der US-Regierung unterstützte Süden zweifellos den Löwenanteil abbekam. Im April 1975 wurde Saigon schließlich überrannt, die Vereinigten Staaten evakuierten überstürzt ihre letzten militärischen und zivilen Mitarbeiter, und der Süden kapitulierte bedingungslos. Eine hoch angesehene Supermacht schlich sich mit eingeklemmtem rotweißblauem Schwanz nach Hause, und dieser überflüssigste von allen überflüssigen Kriegen war zu Ende. Die Nachricht von der Kapitulation brauchte mehr als eine Woche, um Fan Nan Nan zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich Foley, Stubblefield und Goldwire schon zwei Jahre in dem Bergdorf auf. Zwar waren sie theoretisch Gefangene, doch die meiste Zeit hatten sie Zugang zu allen Aktivitäten gehabt und sich überall frei bewegen können. Sie halfen bei der Aussaat und der Ernte, aßen mit ihren Wächtern, tranken ihren Reiswein und rauchten gelegentlich eine Opiumpfeife mit ihnen. Sie führten lebhafte Diskussionen mit den Ältesten, gaben Englischstunden (selbst denen, die nicht darum gebeten hatten), nahmen an Vogeljagd und Festivitäten teil und hatten regelmäßig Geschlechtsverkehr mit einer Vielzahl williger junger Mädchen und Frauen. Ihre ursprünglichen Häscher hatten sie längst aus den Augen 161
verloren, und den Fan Nannies, wie Stubblefield sie getauft hatte fehlte es an Motivation, sie den verantwortlichen Behörden zu melden. Die Friedensnachricht aus Saigon löste in Fan Nan Nan eine Feier aus, die bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Es war eine von Whisky, Cannabis und nackter Haut angeheizte Tanzparty, an der Einheimische und Amerikaner gleichermaßen ausgelassen teilnahmen, obgleich nie ganz klar war, wer hier eigentlich was feierte. Am frühen Abend hielt Stubblefield, der dank seiner Größe, Redegewandtheit und Intelligenz zu einer prominenten, ja, dominierenden Figur innerhalb der Gemeinde geworden war, eine lange Rede, an deren Inhalt sich später niemand, am wenigsten er selbst, erinnern konnte. Auf alle Fälle ergriff der Bürgermeister die Gelegenheit, seinen Gefangenen offiziell die Freiheit zu schenken. Man ging allgemein davon aus, dass sie so rasch wie möglich aufbrechen würden. Am nächsten Tag aber packte keiner der Fremden auch nur einen Knopf ein. Dickie vermutete, dass Dern und Stub zu verkatert waren, um ans Packen zu denken; sie glaubten dasselbe von ihm und dem jeweils anderen. Alle drei hatten Recht: Sie befanden sich in einem Zustand von Dehydrierung und gastroneurologischem Schock. Doch dann verging ein zweiter Tag und ein dritter, und keiner aus dem Trio hatte seine Hütte geräumt, obgleich jetzt alle wieder gesund genug gewesen wären. Jeder wirkte beschäftigt, bosselte herum, erledigte irgendwelche überflüssigen Aufgaben, lag in der Sonne und vermied jeglichen Augenkontakt mit seinen Landsleuten. Am vierten Tag berief Stubblefield als oberster Offizier und Flugzeugkommandant eine Versammlung ein. Um unter sich zu bleiben, trafen sie sich am Rand der Schlucht, nicht weit entfernt von der Stelle, wo Jahrzehnte zuvor die junge Ehefrau, von Herzschmerz (und möglicherweise Blähungen) getrieben, ins Nichts gestürzt war. Obwohl sie bei allen, die sie kannten, als gnadenlos streitlustige und diskussionsfreudige Zeitgenossen 162
galten, blieben sie bei diesem Treffen merkwürdig einsilbig. Eine ganze Weile plauderten sie nur über Belangloses und bewunderten die Wolken. Schließlich war es entgegen allen sonstigen Gewohnheiten Dern Foley, der Introvertierteste von ihnen, der das Eis brach. «Eine ganze Weile habe ich nun schon das Verlangen, die, äh, riesige, geheimnisvolle Auster von Asien zu knacken», sagte er und rutschte dabei nervös auf seinem Felsblock hin und her. «Ihr wisst schon, was ich meine. Ich möchte rauskriegen, ob sich außer dem morbiden Reiz einer Auster noch etwas anderes dahinter verbirgt. Ist diese östliche Weisheit, von der wir so viel gehört haben, nur einer von vielen esoterischen und gleichermaßen fruchtlosen Versuchen, das Unerklärliche zu erklären, dem Gott des Rauchs und der Spiegel eine Glocke umzuhängen, oder ist da letzten Endes etwas … nun, Effektiveres, Tiefgründigeres, schlussendlich, äh, etwas Schlüssigeres am Werk? Etwa dieser so genannte Animismus, den weniger die Fan Nannies als alle anderen hier praktizieren? Kann man ihn wirklich einfach als Amok laufenden primitiven Aberglauben abtun? Haben wirklich nur menschliche Wesen eine Seele, oder ist das narzisstische, chauvinistische Augenwischerei? Ich meine, kann man den herrlichen alten Teakbaum da drüben oder diese Schlucht nicht betrachten und darin genauso viel Göttliches entdecken wie in einem anthropomorphen Rauschebart aus der Sonntagsschule mit dröhnender Stimme und platinschimmerndem Bademantel? Lässt sich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es ein heiliges Etwas nicht nur am Kreuz, sondern auch im Kreuz gab? In letzter Zeit hat mich diese Vorstellung von einer vielköpfigen Gottheit, von Geistern und Dämonen, anorganischer Intelligenz und nichtmenschlichen Seelen, all dieses Zeug, mehr und mehr fasziniert, und … und … ich weiß auch nicht … es kommt mir irgendwie schändlich vor, 163
abzureisen, gerade jetzt, wo ich anfange, dahinterzusteigen, es ein kleines bisschen zu durchschauen. Versteht ihr, was ich meine? Es gibt in dieser Gegend einiges zu tun für unvoreingenommene, wissenschaftlich interessierte Köpfe. Bevor die Zugpferde des Monotheismus wiederkommen und versuchen, die ganze verschwenderische, phantastisch lebendige Veranstaltung auf eine verkniffene kleine One-Man-Show zurückzuschrauben.» Foley starrte auf das Gras zu seinen Füßen, als beobachtete er in seinen Halmen und Blättern tatsächlich irgendwelche spürbaren Aktivitäten. Dann ergriff Dickie das Wort. «Nun, Dern», sagte er vergnügt, «wenn du noch eine Weile hier bleiben und deinen wissenschaftlichen Ambitionen frönen willst, bin ich gern bereit mitzumachen. Mir fehlt North Carolina, klar, aber wenn ich nach Hause komme, bleibt mir nichts anderes übrig, als das College abzuschließen und in den Autohandel meines Vaters einzusteigen. Damit ist es mir nicht eilig, was ich gern zugebe.» Dickie warf einen Blick in Richtung Dorf. Er lächelte nervös. Dann zuckte er die Achseln. «Es lebt sich wirklich angenehm hier.» Dickie und Dern sahen Stubblefield an. Jetzt war er dran, und sie erwarteten einen dem Anlass entsprechenden Wortschwall von diesem Mann, der sich häufig so ausdrückte, als wäre sein Gehirn ein Rodeo-Champion und seine Zunge ein bockendes Wildpferd. Doch zu ihrem Erstaunen schüttelte Stubblefield nur den großen aufgedunsenen Kopf und murmelte etwas in seinen Bart. Sie glaubten, «sonnengereifte Tomaten» verstanden zu haben. «Wie war das?» In Dickies Kopf stürzten die Bilder übereinander: Wonderbread und Best-Food-Mayonnaise. Träumte Stubblefield etwa auch von solchen Leckereien? «Sonnengereifte Tomaten.» Jetzt sprach er deutlicher. «Diese Reklame, ein typisches Oxymoron übrigens, denn Tomaten sind Nachtschattengewächse, prangt in jeder Lebensmittelabteilung 164
sämtlicher amerikanischen Supermärkte. Man sieht sie sogar im Winter, wenn die Tomatenstauden unter einem Meter Schnee begraben sind. Dabei sind die Tomaten im Regal nicht mal im Juli oder August wirklich reif. Sie sind blass, hart und ohne jeden Geschmack. Sie sind weder in der Sonne gereift noch überhaupt reif. Aber kommt es etwa zu Protesten? Ruft irgendwer: ‹Wen wollt ihr eigentlich auf den Arm nehmen – diese verdammten geschmacklosen Tomaten wurden doch schon gepflückt, als sie noch grün waren!›? Oder zerreißen die Leute eine Speisekarte, wenn ‹farmfrische Eier› draufsteht, obwohl jeder Holzkopf weiß, dass die Eier im Restaurant wochenlang im Kühlschrank lagern und eine Farm nie auch nur von weitem gesehen haben? Ein Land, das eine derart dreiste und systematische Verarschung praktiziert und propagiert ist zu allem fähig – selbst dazu, Henry Kissinger für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.» Er seufzte. Es war ein dicker, feuchter Seufzer. «Menschen, die es willig hinnehmen, dass sie betrogen werden, sind genauso korrupt wie die Betrüger selbst. Ähem. Ja. So, wie meine Frau ebenso schuldig war wie ich, als ich meine falschen Schwüre murmelte. Sie war meine Komplizin.» Zwar wussten Dickie und Dern nicht so recht, was sie dazu sagen sollten, hatten jedoch den Eindruck, dass ihr Major offenbar nicht geneigt war, auf schnellstem Weg nach Nebraska zurückzukehren. Als Stubblefield merkte, wie unbehaglich sie sich fühlten, grinste er und deutete auf das Gebäude im französischen Kolonialstil, dessen Dachspitzen auf der anderen Seite der Schlucht sichtbar waren. «Bevor ich ins Land der gefälschten Eier und verratenen Tomaten zurückkehre, möchte ich mir das verlassene Haus dort drüben etwas genauer ansehen. Das heißt, falls ich eine Möglichkeit dazu finde, ohne mir den Hals zu brechen oder als Gratisglied in der Lebensmittelkette der einheimischen Fauna zu fungieren.» Innerhalb weniger Wochen nach dieser wenig 165
aufschlussreichen, aber schlüssigen Unterhaltung, in denen die Piloten weiterhin die Gastfreundschaft von Fan Nan Nan genossen und dabei ihre nebulösen Ziele verfolgten, hatten die von Hanoi unterstützten Pathet Lao die Kontrolle über den größten Teil von Laos übernommen. Am 23. August erklärte sich die Laotische Revolutionäre Volkspartei (die Vertreter des Marxismus benutzen den Terminus «Volk» mit einer Glaubwürdigkeit, die der «sonnengereifter Tomaten» oder «farmfrischer Eier» in nichts nachsteht) zur Regierungspartei der neu gebildeten Demokratischen Volksrepublik Laos. Sie beschloss eine Politik des «beschleunigten Sozialismus», wobei die allgemein im Volk verbreitete Ausübung des Buddhismus und andere sonnengereifte Reformen erheblich beschnitten wurden. Nun wären die neuen kommunistischen Machthaber wahrscheinlich verpflichtet gewesen, die amerikanischen Piloten zur Repatriierung ans Internationale Rote Kreuz zu übergeben, doch die Hardliner waren trunken von Sieg und Rache. Wären die nirgends registrierten Smarty Pantsers entdeckt worden oder hätten sich freiwillig gestellt, dann hätten sie gute Aussichten gehabt, als Spione erschossen zu werden. Wären sie schlau, vorsichtig und obendrein Glückspilze gewesen, hätten sie natürlich über den Mekong nach Thailand entwischen können, wo sie – Glory Halleluja! – von US-Agenten tagelang eingehend befragt worden wären, um anschließend als Helden eines Krieges, den alle am liebsten vergessen hätten, die Hauptstraße von Amerika entlangzumarschieren. «Wenn sie uns in den Rosengarten bringen, um uns mit Medaillen zu behängen, könnten wir uns auf den Präsidenten stürzen und ihm die Ohren abbeißen», schlug Stubblefield vor, doch diese Idee ging irgendwie unter. Weitere Versammlungen wurden nicht einberufen. Tatsächlich unterhielten sie sich nie wieder – kein einziges Mal mehr – darüber, ob sie nach Hause zurückkehren sollten oder nicht. 166
Sentimentale Gemüter mögen behaupten, dass sie zu Hause waren, aber so einfach war es nun auch wieder nicht. Zyniker mögen spotten, dass sie in der Romantik des Exils schwelgten, aber auch das war nicht so einfach. Die Tür zu etwas Neuem steht immer nur einen Spalt offen: Viele bemerken ihn kaum, manche spähen hinein, bleiben aber lieber draußen, andere stürmen hinein und genauso schnell wieder hinaus, und nur wenige trauen sich, getrieben von Neugier, Langeweile, Rebellion oder den Umständen, so tief hinein oder wandern so lange darin herum, dass sie den Ausgang nicht wieder finden. Im Oktober 75 war die Zeit für Plaudereien über eine Rückkehr – eine strahlende Zukunft, vernünftige Ziele und feste Bande – offensichtlich vorbei. Zu diesem Zeitpunkt hatten Dern und Stubblefield ein Geschäft in Fan Nan Nan aufgezogen. Dickie hatte sich eine Hand voll Rubine und eine billige Gitarre besorgt. Und außerdem war der Zirkus in der Stadt. * In Vientiane stieg Lisa Ko im Novotel Belvedere ab, dem teuersten Hotel in der Hauptstadt, aber sie wusste, dass sie hier einigermaßen gute Chancen hätte, ein störungsfreies Ferngespräch zu führen. Noch bevor sie sich vom Staub der Straße befreite, rief sie das Büro der Zirkusleitung in Tampa, Florida, an. Abe Altman war am anderen Ende. Abe war der Talentsucher, der die schöne, damals neunundzwanzigjährige Dompteuse ungewöhnlicher Tiere letztes Jahr in Singapur «entdeckt» hatte und in Nordamerika als ihr Manager fungierte. «Herro. Hier Madame Ko.» «Madame Ko», erwiderte Abe den Gruß. «Wo steckst du? Man macht sich Sorgen um dich.» «In Vientiane. In Laos. Morgen ich kommen nach Amerika.» «Ist alles in Ordnung mit dir? Wie geht es deiner Familie?» 167
«Alles okay. Sorry, wenn du machen Sorgen. Ich kommen morgen. Show jetzt in Porkland?» «Portland. Ja. Aber morgen geht es weiter nach Seattle.» «Ich kommen Seattle.» «Okay.» Abe zögerte. «Aber natürlich werden deine … deine Tierchen nicht da sein.» «Was? Was du sagen?» «Verdammt. Ich nehme an, du weißt noch nichts davon. Deine, äh, deine Natukis …» «Tanukis!» Sie schrie beinahe. «Tanukis. Sie sind weg. Allesamt. Der Zug ist zwischen Frisco und Portland entgleist. Der Clown, diese Bardo Boppie-Bip, sollte wohl auf sie aufpassen …» «Was sie tun?», fragte Lisa. «Nun, nach dem, was ich gehört habe, war sie betrunken und hat den Käfig nicht richtig verschlossen. Als der Zug entgleiste, flog die Tür auf, und sie entkamen. Sie waren auf und davon, in die Berge, bevor irgendwer sie einholen konnte. Man hat alles versucht. Die Direktion hat sogar professionelle Jäger angeheuert. Liebe Güte, die zogen mit Hunden los, aber die einzigen Tanukis, die sie aufspürten, zwei an der Zahl, lockten die Köter zu einem Fluss oder einem Teich oder so was, stürzten sich auf sie und ertränkten sie. Ertränkten zwei ausgewachsene Jagdhunde an Ort und Stelle.» Bei dieser Vorstellung musste Lisa unwillkürlich lächeln. «Sie … sie nicht finden?» «Nein. Mittlerweile haben sie den Versuch mehr oder weniger aufgegeben. Sie hoffen, dass du vielleicht rausfahren und die Viecher wieder einfangen kannst, wenn du zurück bist. Aber es ist mitten in den Wäldern, weißt du. Und ich vermute, dass die Tanukis sich zerstreut haben. Wanderer haben in verschiedenen Teilen der Berge von merkwürdigen Geräuschen berichtet, die 168
offensichtlich von ihnen stammten.» Lisa stöhnte leise. «Morgen ich kommen», sagte sie in den Hörer. «Gut, Schätzchen. Aber eins musst du wissen: Selbst wenn du es schaffst, deine Tiere wieder einzusammeln, ist für dieses Jahr vermutlich Sense mit deiner Nummer. Wir müssen abwarten, was die Zukunft bringt. Deine Show ist ziemlich populär. Dieser blöde Clown, ich wette, sie lassen sie die Saison beenden, und dann landet sie mit ihrer roten Nase wieder in irgendwelchen ausgeflippten Fernsehkanälen. Beim Zirkus mag man keine Säufer mehr; die Zeiten haben sich geändert. Also viel Glück, Madame Ko. Und guten Flug.» Nachdem sie aufgelegt hatte, setzte sich Lisa eine Weile aufs Bett. Dann ließ sie ein heißes Bad ein und versank bis zu den kleinen, aber perfekt geformten Brüsten im parfümierten Wasser. Das Haar hatte sie hochgesteckt, doch als sie sich mehr und mehr entspannte, wurde es trotzdem nass. Draußen, vor den offenen Fensterläden, spielte ein Monsunwind in den Palmwedeln, als wären es singende Sägen. Irgendwo unterhalb der Fenster veranstalteten die Zikaden eine politische Versammlung und morsten ihren einzigen Slogan – Leben und leben lassen! – wieder und wieder in alle vier unbewegten Himmelsrichtungen. Ein fleischfarbener Mond, so reif wie eine x-beliebige «sonnengereifte Tomate», badete in einem See aus eigenem Licht. Lisa lehnte sich zurück und beobachtete, wie er langsam außer Sichtweite schwamm, träge, nackt und schamlos. Die wenigen Sterne erinnerten an entzündete Augäpfel, die den Schwimmer – und die Badende – durch Spione im anthrazitfarbenen Vorhang beobachteten. Es war so spät, dass die beißenden Kohlenfeuer, die in der Stadt zum Kochen benutzt wurden, bereits erkaltet waren. Die Luft, die sich durch die Badezimmertür wälzte, war schwer von den süßen Düften, die sie erfüllten: Jasmin, Zitronengras, Sandelholz, Frangipani und olfaktorische Spuren des 169
nachmittäglichen Platzregens. Die Geräusche, Düfte und Farben der Natur waren eher dazu imstande, ihr Herz zu beruhigen, als das heiße Bad. Während sie sich ihnen überließ, hatte sie das Gefühl, selbst so etwas wie ein Geschöpf der Wildnis zu sein. Beim Abtrocknen gab sie leise, animalische Laute von sich, ohne es zu merken. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig wie der Schwanz eines wilden Tiers. Als sie trocken war, breitete Lisa das feuchte weiße Handtuch über den Fernseher. Aus ihrer Tasche kramte sie ein zerschlissenes Stück Seide – einen uralten Kimonofetzen – und legte ihn auf das Handtuch. Links daneben kam eine winzige gefaltete Figur aus Papier, nicht ganz ein Buddha, aber ziemlich ähnlich. Auf die rechte Seite legte sie den Rubinring, den Dickie für sie hatte anfertigen lassen, um ihre Heiratsabsichten zu besiegeln. Dann suchte sie nach etwas Passendem, um das Arrangement zu vervollständigen. Eine Chrysantheme wäre perfekt gewesen, sie hätte zu der auf die Seide gestickten Blüte gepasst, aber in Vientiane war es natürlich zu tropisch für Chrysanthemen. Am Schluss entschied sie sich für einen ihrer glänzenden schwarzen Lackstiefel, jener aufreizenden Dinger, die sie auf der Bühne trug. «Ist es nicht das, was ich im Leben bin: eine Schauspielerin?» Dann lächelte sie. «Und sind wir das nicht alle?» Sie stellte den Stiefel auf das Stück Seide. Und noch immer nackt, kniete sie vor dem improvisierten Schrein nieder. Zuerst kamen die Worte sehr langsam. «Mutter.» Lange Pause. «Mutter? Mutter, ich brauche deine Führung. Großmutter Kazu, auch dich rufe ich an. Hilf mir, bitte. Urgroßmutter Miho, du hast uns unser Wesen geschenkt, unsere Orientierung, unser Wissen, falls man es als solches bezeichnen kann; du hast uns überdies an etwas außerhalb des Reichs normaler Erwartungen gebunden, und obgleich meine irdische Verbindung zu dir auf 170
diesen alten Kimonofetzen beschränkt ist, habe ich das Gefühl, dass ich berechtigt bin, dich anzurufen und um Licht auf meinem Weg zu bitten. Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, bitte besucht mich heute Nacht. In meinem Traumbewusstsein wird eine Tür für euch offen stehen. Auf diesem dummen kleinen Schrein stelle ich Tee bereit oder Sake, falls euch das lieber ist. Ich bin eure Tochter, die Jüngste in eurer Ahnenreihe. Ich brauche euch. Ich brauche euch. Bitte. Bitte kommt.» * Ob Miho, Kazu oder Lisas Mutter O-Ko in dieser Nacht Kontakt zu ihr aufnahmen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie stieg nicht richtig dahinter. Der Radiowecker plärrte um fünf Uhr morgens los (so hatte sie ihn eingestellt, denn ihr Flug ging in aller Herrgottsfrühe) und katapultierte sie so abrupt und so heftig in den Wachzustand (die Stimme des US-Präsidenten in den Nachrichten war unangenehm scharf), dass jeder Traum, den sie möglicherweise gerade hatte, ja selbst die Erinnerung an einen Traum, auf der Stelle zu Staub zermalmt wurde. Hinter ihren Augen schien sich ein schattenhafter Rückstand zu halten, eine Spur von Ektoplasma auf ihrem Kopfkissen, doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts mehr rekonstruieren. Klopf! Klopf! «Wer da?» Keine Antwort. Falls es überhaupt wirklich geklopft hatte. In diesem Augenblick aber berührte sie, ohne darüber nachzudenken, mit der Zunge den Gaumen – und ein riesiger Schmerz durchfuhr sie. Sie schnappte nach Luft und setzte sich halb im Bett auf. Das Ding war doppelt so groß wie zuvor. Mehr als doppelt so 171
groß. Immer noch klein, aber es wuchs. Besser gesagt, schwoll an. Obendrein pochte es. Irgendwie rund. Hart und doch schwammig. Heiß, wenn die Zunge es berührte. Feucht, wenn sie mit dem Finger darüber fuhr. Man hätte an die Prostata des Lawrence von Arabien denken können. Eine radioaktive Stachelbeere. Frida Kahlos Klitoris. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war es nur eine Zyste oder ein Furunkel. Und doch war das Pochen alles andere als pathologisch. Es war nicht das rote Pulsieren einer Krankheit, sondern das blaue Beben der Empfängnis, der blaue Puls des Schicksals. «Es ist so weit», flüsterte Lisa Ko. «Nicht wahr? Es passiert in diesem Moment. Und es passiert mir.»
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VIERTER TEIL Als wahrer Gläubiger kann man an ein politisches System glauben, eine religiöse Doktrin oder eine soziale Bewegung, die Elemente aus beiden kombiniert, aber ans Leben nicht, jedenfalls nicht wirklich und wahrhaftig. Als wahrer Gläubiger verehrt man Jehova, Allah oder Brahma, jene übernatürlichen Wesen, die angeblich alles Leben geschaffen haben, sklavisch hängt man einem Dogma an, das theoretisch dazu diente, das Leben zu verbessern, doch für das Leben selbst – seine Freuden, Wunder und Reize – hat man so gut wie nichts übrig. Musik, Schach, Wein, Kartenspiel, schöne Kleider, Tanz, Meditation, Drachen steigen lassen, Fußballspiel, Parfum, Marihuana, Flirts, Cheeseburger, jeglicher Ausdruck von Schönheit, jede Anerkennung von Genie oder individueller Größe: All das wurde in moderner Zeit von dem einen oder anderen Kader wahrer Gläubiger streng verurteilt und sogar geächtet. Daher wird es niemanden erstaunen, dass die Kommunisten den Nationalzirkus von Vientiane schlossen, als sie 1975 die Macht in Laos übernahmen. Ein Zirkus ist eine leichtfertige Ablenkung vom ernsten Geschäft sozialistischer Reformen, oder etwa nicht? Unmittelbar nach der Schließung versammelte der Geschäftsführer (der außerdem als das fungierte, was man in Amerika unter einem Zirkusdirektor versteht) die gesamte Truppe um sich. «Unsere tapferen jungen Kommissare haben in ihrer Aufregung und ihrem patriotischen Eifer versäumt, sich klar zu machen, dass diese Arena mit sowjetischer Unterstützung gebaut und nach dem Vorbild des berühmten Moskauer Staatszirkus entworfen wurde. Europa ist das beste Beispiel dafür, dass ein Zirkus keineswegs unvereinbar mit den 173
Konzepten des marxistischen Staates ist. Früher oder später werden unsere tapferen jungen Kommissare sich ihres Irrtums bewusst werden, und dann wird der Nationalzirkus von Laos zu neuem Leben erweckt. Bis dahin aber sind unsere tapferen jungen Kommissare ein wenig nervös und neigen zu einer gewissen Wahllosigkeit bei ihrer Jagd nach Abweichlern, die sie einsperren oder totschießen können. Deshalb ist es am besten, wenn wir für eine Weile untertauchen.» Plötzlich redeten alle durcheinander, doch der Zirkusdirektor brachte sie rasch zum Schweigen. «Der Tag wird kommen, an dem man unsere Fähigkeiten nicht nur als ungefährlich für die Revolution ansieht, sondern sogar als förderlich für die Moral des Volkes, und deshalb müssen wir vorbereitet sein. Wir müssen uns zusammen verstecken, damit wir weiterhin zusammen trainieren und proben können.» Der Zirkusdirektor wusste auch schon, wo. Er war in Fan Nan Nan zur Welt gekommen und hatte dort gelebt, bis er vierzehn wurde und seine Eltern (heimliche Lao Lum natürlich) ihn zu einem Freund der Familie nach Vientiane geschickt hatten, damit er eine ordentliche Ausbildung erhielt. So machten sich unter seiner Anleitung die Zirkusartisten – einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen – auf den Weg zu dem isolierten Dorf am Rand der Schlucht, wo sie sich als unsichtbarer Zirkus wieder zusammenfanden und (psst!) La Vallée du Cirque ihren Namen verpassten. Wegen seiner französischen und russischen Einflüsse war der Nationalzirkus von Laos etwas facettenreicher als die Zirkusse von China und Japan, die traditionell fast ausschließlich aus Jongleuren, Seiltänzern und Bodenakrobaten bestanden. Trotzdem hatte er nur ganz wenige Tiernummern, und nachdem sich ein verstaatlichter Betrieb für Holzverarbeitung die Elefanten unter den Nagel gerissen hatte, war es bis auf das Problem, Kostüme und Ausrüstung zu verstecken, nicht besonders schwierig, sich Stück für Stück nach Fan Nan Nan 174
zurückzuziehen. Unter den Artisten, die sich im Dorf einfanden, war auch ein vierjähriges Mädchen namens Ko Ko gewesen. In diesem zarten Alter hatte Ko Kos einziger «Job» beim Zirkus darin bestanden, angetan mit dem Fernost-Imitat eines Cowgirl-Kostüms im Geweih eines Hirsches zu sitzen, der von seinem Dompteur im vollen Galopp durch die Manege gescheucht wurde. Der Hirsch hatte es nicht bis nach Fan Nan Nan geschafft, sondern war hungrigen Revolutionären zum Opfer gefallen, obwohl seine Steaks bestimmt zäh wie Leder waren. Die kleine Ko Ko wurde von ihren Pflegeeltern auf dem Rücken in die Berge getragen. Ihre biologische Mutter, eine androgyne Jongleuse namens O-Ko, hatte sie schon ein Jahr nach ihrer Geburt verlassen. Vielleicht ist «verlassen» etwas übertrieben. O-Ko hatte ihre kleine Tochter bis kurz vor ihrem Aufbruch gestillt und sich zärtlich um sie gekümmert. Dann aber hatte sie das Baby bewusst in der Obhut des weichherzigsten Paars im ganzen Zirkus zurückgelassen. (O-Ko hatte mit zahllosen Artisten geschlafen, doch keiner war je als Vater identifiziert worden.) Ein Zettel mit ein paar Anweisungen und vielen liebevollen und bedauernden Worten lag neben dem Kind, eine Erklärung aber, warum sie, O-Ko, beschlossen hatte, eines Nachts einfach im Wald zu verschwinden und nie wieder aufzutauchen, fehlte. Manche Leute machten ihre japanische Herkunft dafür verantwortlich. Und die meisten schienen sich damit zufrieden zu geben, dass eines Tages alles durch den zweiten Brief, den OKo hinterlassen hatte, offenbart würde. Dieser war versiegelt und sollte am Tag von Ko Kos erster Menstruation von ihr selbst geöffnet werden. Und dann war da noch etwas. Die kleine Ko Ko hatte am Gaumen eine wunde Stelle. Unter keinen Umständen, so hatte O-Ko bestimmt, durfte sie aufgeschnitten, ausgedrückt oder sonst wie behandelt werden. «Rührt sie nicht an», hatte die Mutter vor ihrem Verschwinden geschrieben. «Alles wird gut, 175
das verspreche ich euch. Eines Tages wird meine Tochter es verstehen.» Während sich der flüchtige Zirkus in Fan Nan Nan häuslich einrichtete, dachten unsere vermissten US-Soldaten über das Für und Wider einer Möglichkeit nach, die es ihnen erlauben würde, noch komfortabler als bislang vermisst zu bleiben – falls vermisst zu bleiben ihre Absicht gewesen sein sollte, und im Nachhinein sieht es ganz so aus, zumindest unbewusst. Bei seinem Versuch, den Animismus komplett zu verstehen, hatte Dern, der ewige Theologe, die größte Hmong-Siedlung in der Gegend besucht, die weiter oben in den Bergen lag. Stubblefield, der ohne Bibliothek in seiner Nähe von Tag zu Tag ruheloser wurde, und Dickie, der zwar mit dem laotischen Dorfleben eine ähnliche Symbiose eingegangen war wie Tesa mit Film, aber immer scharf auf neue Erfahrungen war, hatten sich angeschlossen. Was sie an diesem Tag da oben entdeckten, sollte den Abgrund des Neuen, den sie hinabgestiegen waren, noch vertiefen. Im vergleichsweise sanften Laos haben Angehörige des Hmong-Stammes den Ruf, von Natur aus aggressiv und kriegerisch zu sein. Als die CIA nach Widerstandskämpfern suchte, um die rechtsgerichtete königliche Regierung gegen linke Aufständische zu schützen, waren die Hmong ideale Kandidaten. Sie wurden von US-Spionen diskret bewaffnet, ausgebildet, geschmiert, belogen und dann losgeschickt, um für die «nationalen Interessen» Amerikas zu kämpfen und zu sterben. Ihre Mühe war umsonst, die rote Revolution siegte. Ende 1975 strömten Hmong-Flüchtlinge zu Tausenden nach Thailand, wo sie Zuflucht suchten oder einen Einreiseantrag für Kalifornien stellten. Zwar hatte die große Mehrheit der Hmong weder als Söldner für die Vereinigten Staaten gearbeitet noch die amerikanische Regierung aktiv unterstützt, doch das Stigma haftete jetzt allen an, und die Furcht vor 176
Vergeltungsmaßnahmen hatte den Massenexodus in Gang gesetzt. Hmong, die in Laos blieben, mussten sich bedeckt halten, mit der Folge, dass sie nun Angst hatten, ihr Opium auf den Markt zu bringen (1975 gab es eine hervorragende Ernte). Als unsere amerikanischen Piloten – unter dem Vorwand, Repräsentanten einer UN-Hilfsorganisation zu sein – die staubige Kornkammer entdeckten, die bis zum Rand mit teddybärbrauner Traumpaste voll gestopft war, kamen sie auf allerlei romantische und gefährliche Ideen. Diese Ideen wuchsen und nahmen deutlichere Gestalt an, nachdem sie ein paar Pfeifen mit den ortsansässigen Stammesführern geraucht hatten. (Ahhh! Als «Rauch des Paradieses» hat man das Opium bezeichnet, obwohl es technisch gesehen eher chemische Dämpfe als Rauch produziert: Es brennt nicht, sondern blubbert und schmilzt, wenn es erhitzt wird.) Die Ideen blähten sich mehr und mehr auf und entwickelten am Ende sogar schräge Beine, als die Gastgeber am anderen Ende des Weilers einen Haufen Grasmatten beiseite räumten, unter dem sich ein intakter, aber lahm gelegter kleiner Helikopter verbarg. Er war sowjetischer Bauart und hatte den Elitetruppen der Pathet Lao gehört. Irgendwann im Jahr 1972 war ihm der Sprit ausgegangen, denn die Lao gingen ziemlich sorglos mit ihrer technischen Ausrüstung um, und er hatte auf einem Felsvorsprung gleich unterhalb des Dorfes notlanden müssen. Die Hmong machten kurzen Prozess und brachten sämtliche Insassen um. Dann verbrachten sie Kräfte zehrende Wochen damit, den Hubschrauber unter Zuhilfenahme von Tauen und Gleitplanken auf das private Mohnfeld des Häuptlings zu bugsieren, wo er seitdem gut getarnt abgestellt war. Dern Foleys Pupillen, ohnehin erweitert, erinnerten mittlerweile an etwas im Sichtfeld von Stephen Hawkings theoretischem Teleskop. Man schloss einen Pakt. Dern zog zu den Hmong. Schließlich gelang es ihm, den Hubschrauber wieder in Gang zu setzen. 177
Man besorgte Sprit, und er lud den Häuptling und die zwei hübschesten Mädchen des Dorfes zu einer Spritztour ein. Dann wurde gefeiert. Wenig später versorgten sie die Schwarzmarkthändler, die am Fuß des Berges wohnten, mit Nachschub an Sprit. Der Helikopter wurde mit Klumpen und Laiben süß duftenden karamellfarbenen Götterteigs beladen. «Du bist jetzt ein Lord, Foley», erklärte Stubblefield, als sein Freund sich hinter den Steuerknüppel klemmte. «Wächter des Brotes.» Nur Dickie Goldwire war es mulmig, als der Hubschrauber nach Thailand abhob. So, als kringelte sich eine Made in seinen Eingeweiden. * Im Foley-Bungalow sorgte der Labor Day in diesem Jahr für eine Umkehrung der Rollen. Bootsey hatte den Montag frei, weil das Postamt am Feiertag geschlossen war, während Pru, die so lange arbeitslos gewesen war, ihren Aushilfsjob beim Zirkus begann: Die große Show, die gerade per Zug in Seattle eingetroffen war, sollte am Mittwoch beginnen und eine Woche lang laufen. «Irgendwie ist der Labor Day so … so männlich», sagte Bootsey. «Wundervoll, nicht?» Pru, die gerade in eine weite Polyesterhose stieg, hielt mitten in der Bewegung inne und schnaubte verächtlich. «Dann erklär mir mal eins», forderte sie ihre Schwester auf. «Wenn der Labor Day zum Feiertag erklärt wurde, um das Proletariat zu ehren, du weißt schon, ehrliche Arbeit et cetera pp., warum feiern die Leute ihn dann, indem sie zu Hause bleiben und abhängen? Ich finde, wenn die Arbeit so ehrenhaft und gut für uns ist, sollte man dann nicht an diesem besonderen Tag doppelt so lange und konzentriert arbeiten wie sonst? Was meinst du?» 178
Ihre Schwester starrte sie ungläubig an, doch Pru fuhr fort: «Wenn die Leute die Arbeit feiern, indem sie nicht arbeiten, dann feiern sie doch mehr das Vergnügen als die Arbeit. Sie geben zu, dass sie sich zehnmal lieber tagaus, tagein vergnügen würden, als sich auf der Arbeit abzurackern.» «Pru, wenn du nicht endlich für dich selbst sorgen willst, dann –» «Du verstehst nicht, was ich meine.» Pru zog schwungvoll den Reißverschluss der Hose hoch. «Es ist so, als würde man den Valentinstag feiern, indem man besonders gemein zu den Leuten ist und seine Lieben mit unflätigen Grußkarten belästigt. Kapierst du das nicht? Ach, schenk mir doch noch ein Glas Tomatensaft ein! Danke. Tatsache ist, ich finde den heutigen Tag aufregend. Ich freue mich darauf. Aber die Mehrheit der Leute hasst es, zur Arbeit zu gehen. Deshalb passieren so viele Herzinfarkte am Montagmorgen. Mensch, wenn ich jetzt so darüber nachdenke … vielleicht ist das der Grund, warum sie den Labor Day auf einen Montag gelegt haben.» Sprachlos angesichts einer solchen Logik, ließ Bootsey ein oder zwei Minuten verstreichen, ehe sie sagte: «Na schön. Vermutlich werden wir heute nichts aus San Francisco hören.» «Wohl kaum!» Pru trank ihren Tomatensaft aus. Sie hatte sich inzwischen etwas beruhigt und steuerte auf die Tür zu. «Weißt du was, Schwesterchen», sagte sie, «ich habe mir überlegt, vielleicht sollten wir losziehen und Dern einen Anwalt besorgen. Du weißt schon, einen von diesen berühmten Staranwälten, die immer im Rampenlicht stehen. Hier ist ganz offensichtlich mehr im Spiel als ein gewöhnlicher Fall von Rauschgiftschmuggel, irgendwas, das die Polizei vertuschen will, und ein heißer Anwalt würde den Fall möglicherweise schon wegen der Publicity übernehmen, die er ihm einbringt.» Bootsey runzelte die Stirn. «Oje! Colonel Thomas und die Regierungsagenten wären bestimmt nicht begeistert.» 179
«Wen juckt es, ob sie begeistert sind oder nicht? Vielleicht zwingt es die Polizei, Dern etwas fairer zu behandeln, etwas offener. Wenn ihnen ein Staranwalt wie Johnnie Cochran droht, werden sie es sich zweimal überlegen, bevor sie versuchen, dich oder mich unter Druck zu setzen. Na ja, wir können ja mal drüber nachdenken.» Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und intonierte dann zufrieden: «Meine sehr verehrten Damen und Herren, Mädchen und Jungen, Kinder jeden Alters! Hi ho! Manege frei für Prudence Victoria Foley.» * In Vientiane schlenderte Lisa Ko in ihrem jadegrünen Cheongsam grübelnd und vor sich hin murmelnd die alten, mit tropischen Bäumen bestandenen Alleen entlang. Hin und wieder fuhr sie mit der Zungenspitze über das Objekt – das Ereignis – in ihrem Mund, und gelegentlich blieb sie im Schatten eines Sandelholzbaums stehen und betete um Führung (den bröckelnden Tempeln mangelte es an Zen). Sie hatte ein Problem und brauchte etwas Spezifischeres als die uralte «Esist-was-es-ist»-Nummer. Lisa hatte den geplanten Flug in die Vereinigten Staaten storniert. Seitdem war sie mehrmals drauf und dran gewesen, ihn doch noch zu buchen, hatte sich aber jedes Mal eines Besseren besonnen und wieder aufgelegt. Sicher, einerseits hatte sie das Bedürfnis gehabt, so schnell wie möglich nach Oregon zu fliegen und ihre Truppe wieder zusammenzutrommeln, andererseits hörte sie beim Beten eine leise, sehr weit entfernte, aber beharrliche Stimme, die ihr davon abriet. Zumindest bildete sie sich ein, sie zu hören. Wessen Stimme war es wohl? Sie war zu maskulin für Miho oder Kazu oder ihre Mutter, und für Buddha klang sie nicht mitfühlend genug. Sie wirkte glatt und gerissen, fast schmierig, nicht 180
unbedingt die Stimme eines Strichers oder Zuhälters, aber sie erinnerte doch irgendwie an einen schlauen Fuchs. «Den Tanukis geht es prima, Schätzchen», glaubte sie die Stimme in ihr Ohr schnurren zu hören. «Ihr hattet euren Spaß miteinander, es war eine wilde Zeit in der Arena der Illusionen. Jetzt sollen sie wieder richtige Tiere sein, erlöst von brennenden Reifen und der Droge des Applauses. Lass sie machen, was sie wollen, in der neuen Welt, lass sie wild und frei sein. Das hat den Tanukis gefehlt. Und es könnte sein, dass es auch Amerika fehlt.» Komischerweise fing Lisa allmählich an zu glauben, dass die Stimme irgendwie Recht hatte. Sie fand sich mit der Option ab, ein Leben ohne ihre gewohnte Zirkusvorstellung zu führen. Doch das Loslassen war nicht leicht. Sie hatte sich angewöhnt, die dummen Dachse fast als ihre Ersatzkinder anzusehen. Das allerdings dürfte jetzt keine Rolle mehr spielen. Denn es sah ganz so aus, als erwartete sie selbst ein Kind. * You play the game incognito, You risk paying a very stiff price. You’ll bet the ranch on Number 13, Though that number is not on the dice. Mehrere Jahre lang flog Dern, manchmal in Begleitung Stubblefields, das Rohopium der Hmong über den Gebirgszug zu einem geheimen Basislager thailändischer Schmuggler. Für diesen Service wurden die drei vermissten Soldaten am Gewinn beteiligt (Dickie war damals noch widerstrebend dabei). Der Gewinn war ziemlich bescheiden, selbst nachdem Stubblefield einen höheren Preis von den Thais gefordert und schließlich 181
auch bekommen hatte. Die Jungs lernten schnell, dass Rohopium per se eine ziemlich unappetitliche Substanz ist – auf natürliche Weise verunreinigt von pflanzlicher Materie, Harz und Erde und obendrein von den Hmong mit pulverisiertem Aspirin, Melasse, Tabakspreu und so weiter versetzt, um das Gewicht auf der Waage des Abnehmers zu vergrößern. Das Zeug eignete sich nicht mal für die Pfeife eines Bauern, es sei denn, es wurde aufbereitet und in eine Paste namens chandoo verwandelt. «Wir sind die Blödmänner, die das Erz schaufeln, während die Eisenhändler die Kohle einstreichen», meinte Stubblefield. «Wir werden selbst ins chandoo-Geschäft einsteigen.» Zu diesem Zeitpunkt hatten die Amerikaner dank des Helikopters das große Haus auf der anderen Seite der Schlucht bereits besetzt. Noch während sie dabei waren, es zu renovieren, richteten sie eine Laborküche ein, wo man die Verunreinigungen aus dem Rohmaterial filtern und das Produkt veredeln konnte. Dann gingen sie dazu über, den Hmong-Bauern, die selbst kein Interesse an der Weiterverarbeitung hatten, das Rohopium abzukaufen, und verhökerten ihr chandoo in Thailand. Als die Einnahmen stiegen, kauften sie den Bauern schließlich auch den Helikopter ab. (Er trug noch immer die Pathet-Lao-Insignien, sodass er nie bedroht wurde, selbst wenn man ihn entdeckte, was selten war. Sie hatten ihn übrigens «Smarty Pants II» getauft.) Nun weiß jeder, auch der hinterletzte Volltrottel, dass Opiumrauchen mit dem Spritzen von Heroin ungefähr so viel zu tun hat wie Eiskunstlaufen mit russischem Roulette. Doch aus Gründen, die erhebliche Zweifel an der seelischen Ausgeglichenheit und dem emotionalen Gleichgewicht des modernen Menschen aufkommen lassen, sind glückliche Opiumraucher fast durchweg von diesem Planeten verschwunden, während es von nihilistischen Junkies nur so wimmelt. So mag chandoo zwar ein profitableres Gut als 182
Rohopium sein, doch richtiges Geld ist nur mit dem miesen und gefährlichen Stoff zu machen. «Jetzt sind wir ein paar bescheidene Eisenhändler», erklärte Stubblefield, «und die Stahlarbeiter verdienen sich dumm und dämlich an uns. Nein, nein, wir werden nicht anfangen, Heroin herzustellen, aber wenn wir uns weigern, den nächsten Schritt zu tun, ziehen wir genauso den Kürzeren wie die Hmong.» Der nächste Schritt war die Veredelung der chandoo-Paste zu einem Pulver, das nur einen Katzensprung von Morphium entfernt ist, während Morphium wiederum nur eine Nasenlänge von Heroin entfernt ist. Als Stubblefield und Foley sich für diesen Schritt entschieden, verblutete Dickies Herz wie eine Weintraube unter dem Huf eines Satyrs. Er zog aus der Villa Incognito aus, und da er keine andere Wahl hatte, hangelte er sich Stück für Stück an dem Seil entlang, das sich jetzt quer über die Schlucht spannte, mit blutenden Handflächen, aufgesprungenen Fingern, pochenden Schultern und schwindelndem Kopf. Die Gummisandalen fielen ihm von den Füßen und segelten in den Abgrund, um ein Haar hätte er sich die Arme ausgekugelt, und kaum war er drüben, kam ihm sein Frühstück hoch. Er reiherte los wie der Wasserspeier eines gotischen Brunnens. * Zwar unternahm Stubblefield keinen Versuch, Dickie von seinem Vorhaben abzubringen, doch war er alles andere als erfreut, ihn gehen zu sehen. Er hielt den Jungen aus Carolina mit dem sonnigen Gemüt für ein erfrischendes Gegengewicht zu dem launischen, oftmals zynischen Dern. Je mehr Dickie an Bildung und Selbstbewusstsein gewann, umso mehr hatte er zu den umfassenden, lautstarken Diskussionen beigetragen, die das soziale Miteinander in der Villa beherrschten. Die Unterhaltung 183
aber, die Dickies Exodus voranging, war eher angespannt als ausgelassen gewesen. «Was ihr vorhabt, ist kriminell!» «Alles, was wir seit Jahren tun, ist kriminell, Goldwire! Wir sind Deserteure. Allein unsere Anwesenheit hier ist ein Verbrechen.» «Okay, dann eben unmoralisch.» «Vom semantischen Standpunkt aus ist ‹unmoralisch› vermutlich das akkuratere Wort. Vom ethischen Standpunkt hingegen ist es nur scheinheilige Übertreibung und eine von Vorurteilen geprägte Verurteilung.» «Es ist keins von beidem. Ihr werdet dafür sorgen, dass noch mehr Morphium auf den Markt kommt, zum Teufel nochmal!» Müde schüttelte Stubblefield den großen Kopf. «Ach, Goldwire, du hast wirklich das Gen der Southern Baptists für flammende Reden geerbt. Wir sorgen für gar nichts. Die Nachfrage ist so groß, dass das bisschen, das wir liefern können, nicht mal einen unendlich kleinen Bruchteil davon befriedigen kann. Außerdem stellen wir streng genommen nicht mal Morphium her. Ja, ja, ich weiß, das ist Haarspalterei – aber was, wenn wir wirklich Morphium verkaufen würden? Morphium am richtigen Ort ist ein Freund der Menschheit.» «Benannt nach Morpheus, dem griechischen Gott der Träume», warf Foley ruhig ein. «Foley hat Recht. Viele arme, von Krankheit gezeichnete Seelen verdanken ihren gesegneten Schlaf dem –» «Ach, hör auf, Stub! Eine Bande philippinischer Quacksalber wird euer … euren Morphiumverschnitt, euer virtuelles Morphium schon in Heroin umwandeln!» Stubblefield schnalzte demonstrativ mit der Zunge. «Meine Güte, Goldwire. Welche Kraft deine rechtschaffene Hysterie in dieses simple Wort pumpen kann!» Er schnalzte wieder, wie 184
eine kurzsichtige Henne, die gluckend ein Omelette zurechtweist. «Heroin. Der chemische Erzfeind. Der kristalline Teufel. Eine Droge, die ebenso süchtig macht und fast so gefährlich ist wie Nikotin.» «Nikotin», sinnierte Foley. «Benannt nach Jacques Nicot, dem französischen Gott des Lungenkrebses.» Der Mann kannte sich mit Göttern aus. «Das ist Augenwischerei», protestierte Dickie. «Die beiden könnt ihr doch nicht in einen Topf werfen.» «Nein», räumte Stubblefield ein. «Vermutlich nicht. Wenn wir den philippinischen Quacksalbern Nikotin statt unser Opiat lieferten, hätte ich hinsichtlich der Moral genauso ein mulmiges Gefühl wie du. Natürlich lässt sich aus Monsieur Nicots tödlichem Alkaloid kaum medizinischer Nutzen gewinnen. Unser kriminelles Elixier dagegen, dieses unmoralische Tonikum … ach was, ich halte lieber den Schnabel, bevor ich zum Weltverbesserer werde. Passt nicht zu mir. Hier geht es um Profit. Es wird nämlich einen hübschen Batzen kosten, diesem alten Haus wieder zu seiner einstigen Grandeur zu verhelfen.» Stubblefields Verteidigung war keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Heroin, so muss man wissen, ist bei weitem das wirksamste Schmerzmittel, das der Medizinwissenschaft bekannt ist. Es besitzt die einzigartige Fähigkeit, selbst Schmerzen zu lindern, bei denen Morphium versagt, jene unvorstellbar schrecklichen Qualen, an denen viele Krebsopfer leiden müssen. Im Lauf der Jahrzehnte haben zahlreiche mitfühlende Ärzte in Amerika Anträge gestellt, ihren todkranken Patienten Heroin verabreichen zu dürfen, nur um von Politikern mit dem knappen Hinweis auf das Suchtpotenzial der Droge abgespeist zu werden. Warum es die geringste Rolle spielen sollte, ob ein dem Tod geweihter Patient, der nur noch wenige Wochen zu leben hat, abhängig wird, darüber haben sich diese weisen Männer allerdings nicht ausgelassen. Einige Kongressabgeordnete äußerten sich besorgt darüber, dass das in 185
Krankenhäusern aufbewahrte Heroin gestohlen und auf der Straße verkauft werden oder gar von Ärzten und Schwestern heimlich konsumiert werden könnte (so überzeugt ist Washington von der unwiderstehlichen Versuchung, die von dem weißen Pülverchen ausgeht); andere regten sich darüber auf, dass man hier ein schlechtes Vorbild für Kinder abgeben würde, ein Argument, dessen Logik den Verstand jedes normalen Menschen übersteigt. Was auch immer die eigentlichen Gründe der Politiker sein mögen – beispielsweise Druck vonseiten der Mafia, die ein finanzielles Interesse daran hat, Drogen illegal und damit teuer zu halten, oder von konservativen religiösen Kreisen, deren fanatischer Aberglaube jegliche Nächstenliebe erstickt, die sie möglicherweise in ihrer «christlichen» Brust hegen –, Tausende von todkranken Menschen müssen notgedrungen die letzten Tage ihres Lebens unter unvorstellbaren Schmerzen verbringen, obwohl Erleichterung, Würde und ein bewusster Abschied von ihren Familien nur eine Spritze entfernt ist. Jedenfalls begann gegen Ende der siebziger Jahre ein Labor in den Randbezirken von Manila, Opium aus nicht lizenzierten Quellen zu medizinisch reinem Heroin zu verarbeiten (USBehörden haben noch nie davor zurückgeschreckt, ihre puritanischen Werte anderen, weniger verklemmten Kulturen aufzuzwingen) und damit eine geheime Klinik auf den Philippinen und zwei andere in Indien zu beliefern. In diesen Kliniken – Hospizen, genauer gesagt – wurden todkranken Patienten Injektionen verabreicht, um ihre Qualen zu lindern. Viele, die sonst schreiend vor Schmerzen gestorben wären, schieden jetzt mit einem Lächeln aus dem Leben. Im Jahr 2001 wirkten dreizehn solcher Einrichtungen verdeckt in Asien, Lateinamerika und im südlichen Pazifik. Das Labor in Manila blieb der Hauptlieferant für Hospize im asiatischen Raum. Ein Einkäufer des Labors, ein Biochemiker, der auf der Suche nach neuen Quellen war, befand sich zufällig 186
in dem thailändischen Außenposten, als die «Smarty Pants II» mit einer Ladung chandoo dort landete. Stubblefield und Foley kamen ins Gespräch mit dem Filipino (er sprach gut Englisch, während die thailändischen Schmuggler nur über einen äußerst begrenzten Wortschatz verfügten) und erfuhren von seiner Mission. Innerhalb einer Stunde kamen sie dank Stubblefields XXL-Persönlichkeit und der beweisfähigen Qualität des chandoo aus Fan Nan Nan ins Geschäft. Wie bereits geschildert, war Dickie Goldwire gegen dieses Arrangement. Er hatte sich weder mit dem Rohopium noch dem chandoo anfreunden können, und jetzt war das Maß voll. «Wie könnt ihr sicher sein, dass nicht wenigstens ein Teil des Heroins in den Rauschgifthöhlen irgendwelcher Großstädte oder in den Venen eines Rockstars landet?», hielt er seinen Kameraden vor. Dern sah von seiner Flasche Beer Lao auf, in deren Anblick er so versunken gewesen war, als hätte er spirituelle Verbindung zu dem Tigerkopf auf dem Etikett aufgenommen. Nicht umsonst war er so fasziniert vom Animismus. «Du hörst dich allmählich genauso an wie die Regierung, vor der du abgehauen bist», sagte er. Stubblefield war höflicher. «Nein», räumte er ein, «der weiße Fluss des Mohnsaftes ist ein mäandernder Strom mit vielen Nebenflüssen, von denen nur wenige sichtbar sind. Wir können nicht hundertprozentig sicher sein, dass unser Anteil in den ihm bestimmten Kanälen verbleibt. Wir können es nur hoffen und darauf vertrauen.» «Sehr richtig. Hoffen, dass nicht irgendein junger Unglücksrabe an einer Überdosis des Stoffs stirbt, den ihr in Umlauf bringt.» «Es gibt jede Menge rücksichtslose Fahrer, die in den Autos, die dein Vater jeden Tag verkauft, sterben können – und sterben werden. Alles lässt sich missbrauchen. Im Übrigen muss jeder Einzelne Verantwortung für sein Handeln übernehmen, auch die 187
Armen und die Jungen. Ein Gesellschaftssystem, das etwas anderes beschließt, lädt zu intellektueller Verkümmerung und spirituellem Stillstand geradezu ein.» In der Nacht zuvor hatte Dickie eine besonders peinliche Lektion der Traumschule erleben müssen, eine mit endlosen verpatzten Aufgaben und abhanden gekommenen Klassenräumen, und jetzt lief das Fass seiner anhaltenden Frustration über. Stubblefields Argumente enthielten ein Körnchen Wahrheit, fand er, aber nicht genug, um die Alarmglocke seines Gewissens zu übertönen. Also sammelte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen, darunter auch die wertlose ukrainische Gitarre, auf der er, komme, was da wolle, «Meet Me in Cognito» komponieren würde, und stapelte sie ordentlich in eine Ecke, damit Dern sie bei Gelegenheit mit dem Hubschrauber ins Dorf bringen konnte. Dann schüttelte er Dern die Hand, ächzte laut, als Stubblefield seine Bärenpranken um ihn schloss, und wandte sich der Tür und damit dem Furcht einflößenden Seil über die Schlucht zu. Noch ehe er halbwegs zum Ausgang gelangt war, hatten die anderen beiden ihre Debatte wieder aufgenommen und diskutierten darüber, dass Substanzen wie Heroin relativ weit verbreitet waren, obwohl einem schon der gesunde Menschenverstand sagen müsste, dass ihr Konsum selbstzerstörerisch ist. Stubblefield behauptete, die Leute würden, solange es entsprechende Methoden gab, immer Mittel und Wege finden, um ihr Ego aufzulösen und die Zeit totzuschlagen – wohlgemerkt: sie nicht zu vertrödeln oder zu verbringen, sondern sie ganz aufzuheben –, und zwar ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Risiken. Das ekstatische Gefühl, ganz im Hier und Jetzt zu sein, das fast jeder Mensch beim Orgasmus kurz erlebt, das Mystiker in tiefer Meditation erreichen, Schamanen als Belohnung für ihre psychedelischen Feuerproben genießen und über das manche Künstler gratis stolpern, wenn sie sich in ihr Werk versenken, diese egolose 188
Euphorie sei, so Stubblefield, der Kern der Transzendenz, der befreite Zustand erhabener Unschuld, nach dem jedes menschliche Tier unbewusst hungere. Transzendenz sei wortwörtlich der Himmel auf Erden, und jedes Betäubungsmittel, das die Fahrkarte ins Paradies knipse, werde konsumiert, selbst wenn am Ende der Reise die Hölle wartet. Dern hielt unter Zuhilfenahme buddhistischer Texte und einer obskuren Passage aus der Genesis dagegen, dass es sich bei den Schranken, die den Zugang zum irdischen Paradies versperrten, nicht um Zeit oder Ego handele, sondern eher um Angst und Verlangen. Das einzige Problem, das der Mensch mit der Vorstellung von Zeit habe, so argumentierte er, sei, dass sie ihn unablässig an seine Sterblichkeit erinnere, aber auch an die stets ungewisse Zukunft, womit sie die Furcht vor dem Tod und dem Unbekannten verstärke. Dann nahm der Pilot mit dem schütteren Haar einen Schluck Beer Lao und stellte fest, dass das Ego, wenn es von der schweren, neurotischen Last der Ambitionen und der Habgier befreit werde, tatsächlich eher ein Segen als ein Hindernis sei. Könnten wir unsere Angst und unser Verlangen einfach über Bord werfen, würde unser entspanntes Ego uns ein hübsches Plätzchen in einem permanenten, tragbaren Garten Eden sichern. Der Junkie, der unter Heroin wegdämmert, empfinde weder Angst noch Begehren, weder Schrecken noch Verlangen, und nur um dieses unvergleichlichen Gleichmuts willen haue er sich die Nadel in die Vene, nicht um dem gesellschaftlichen Elend oder seiner persönlichen Verantwortung zu entkommen. So sprach Dern. Als Dickie das während des Packens und später beim Rausgehen hörte, murmelte er vor sich hin: «Heiliger Strohsack! Ich frage mich nur, wer der Gott des Schwachsinns ist!» Natürlich meinte er das nicht wirklich. Unter normalen Umständen hätte er sich liebend gern an diesem Diskurs beteiligt; außerdem hatte er nicht gedacht, dass die anderen ihn hören könnten. Doch da rief der stets aufmerksame Stubblefield 189
ihm nach: «Alle, Goldwire. Allesamt. Kein einzelner Gott darf über den Schwachsinn herrschen, sonst würden sich alle um dieses Privileg kloppen. Die Götter tolerieren die Menschheit nur, weil wir eine Begabung für Schwachsinn haben. Sie ist das Einzige an uns, das sie nicht zu Tode langweilt.» «Und was ist mit der Liebe?», hätte Dickie fast zurückgerufen. «Wie steht es mit unserer Fähigkeit zu lieben?» Doch da war die Tür schon hinter ihm ins Schloss gefallen. * Mehrere Jahre lang verließen sich unsere vermissten Unternehmer auf ein «Muli», das ihre Waren von Nordthailand auf die Philippinen transportierte. Das Muli war vom Labor empfohlen worden, wirkte zuverlässig und kehrte immer zum verabredeten Zeitpunkt mit der zuvor vereinbarten Summe in der zuvor vereinbarten Währung zurück: thailändische Baht, laotische Kip oder US-Dollars. Doch irgendwann Mitte der achtziger Jahre begann Dern Foley, zwei- bis dreimal im Jahr selbst nach Manila zu fliegen. Dern hatte es bereits zweimal nach Bangkok geschafft und bei seinem zweiten Ausflug dorthin falsche französische Pässe für sich und seine Komplizen anfertigen lassen. Außerdem besorgte er sich das offizielle Messgewand eines römisch-katholischen Priesters. Als er es zum ersten Mal anprobierte, erschien auf seinem Gesicht das mit Sicherheit breiteste Grinsen seines gesamten Erwachsenenlebens. «Ich dachte schon, ich würde an altersbedingtem Zipperlein sterben, bevor ich dich ein einziges Mal grinsen sehe», erklärte Stubblefield. Bei jedem Besuch in Manila setzte Dern alles daran, dass das in der Villa Incognito produzierte Heroin ausschließlich an Hospize ging und nicht auf der Straße verscherbelt wurde. Bei 190
der dritten Rückkehr waren Stubblefield und er «einigermaßen überzeugt» dass sie eine rein humanitäre Aufgabe erfüllten. Stubblefield war sich dessen so sicher, dass er gelegentlich den Morgenmantel seiner Lieblingskonkubine überstreifte, ein Geschirrtuch um den Kopf wickelte und in der Villa herumstolzierte, als sei er Mutter Teresa. (Der Champagner, den Dern in großen Mengen nach Fan Nan Nan mitbrachte, spielte bei diesem Theater keine unerhebliche Rolle.) Zwar war Dickie von Derns Berichten sehr erleichtert und blieb seinen desertierten Mitstreitern so freundschaftlich verbunden wie vorher, doch das Misstrauen verschwand nicht so weit, dass er mit reinem Gewissen wieder in das Geschäft hätte einsteigen können. Er hockte gemütlich in seiner Hütte und genoss den Rhythmus des Dorflebens, besonders als die Zirkusleute in den Ort kamen. Im Übrigen hatte er ein in bescheidenem Umfang erfolgreiches eigenes Geschäft gegründet. Oben im Dorf der Hmong hatte eine Frau sich unsterblich in unseren Dickie verknallt. Es handelte sich um eine Witwe mittleren Alters, die nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch dental derartige Defizite zu verbuchen hatte, dass sie auf dem besten Weg zum oralen Bankrott war. Die Witwe war sowohl im Bereich der Schneide- als auch der Backenzähne so benachteiligt wie das Objekt ihrer Begierde mit primären Geschlechtsmerkmalen angeblich verschwenderisch ausgestattet. Manche Leute behaupteten, dass die Witwe Dickie zufällig beim Baden in einem Fluss gesehen und sich, von seiner phallischen Pracht geblendet, in ihn verguckt hatte, doch diese Geschichte entsprang möglicherweise Stubblefields blühender Phantasie und ist nicht unbedingt glaubwürdig. Nun galt Dickie zwar als unbedingter Anhänger des Gleichheitsgedankens, doch die Anziehung war keineswegs wechselseitig, sodass er die Annäherungsversuche der Witwe höflich abwies. Eines Tages schenkte sie dem Amerikaner in ihrer Verzückung eine Hand 191
voll kleiner roter Rubine. Es wäre ein Zeichen überaus schlechter Manieren gewesen, ein Geschenk abzulehnen, daher nahm Dickie sie an und reinigte sie mit Sand als Schleifmittel, so gut er konnte. Dann verschickte er sie an Bord der «Smarty Pants II» nach Thailand, wo die Schmuggler erheblich weniger dafür bezahlten, als sie wert waren. Dickie gab fünfzig Prozent der Einnahmen an seine Bewunderin ab, deren Glut dadurch natürlich noch gesteigert wurde. Obendrein ermunterte er sie, ihm noch mehr Steine zu bringen, was sie tat, so schnell sie sie aus trockenen Flussbetten, Bergseen und Schluchten buddeln konnte. Das war nicht besonders schnell, erwies sich jedoch als ausreichend. Die meisten Rubine, die sie zutage förderte, gehörten zu der verbreiteten gelblich roten Sorte, doch alle drei oder vier Jahre hatte sie Glück und entdeckte einen jener kostbaren roten Steine mit bläulichem Schimmer, die als «Taubenblut» bekannt sind. Solche Rubine, wie auch die größeren Exemplare, waren gewöhnlich den Dorfältesten vorbehalten, doch Dickie überredete die Frau, sie an ihn zu verkaufen. Man munkelt, dass sie einwilligte und als Gegenleistung die Erlaubnis erbat, ihm einen abzulutschen, ein Akt, für den sie dank des Mangels an störenden Zahnstummeln möglicherweise ein außergewöhnliches Talent besaß – doch sollte der Leser wissen, dass auch diese Geschichte höchstwahrscheinlich zweifelhaft ist. Als Dickie es sich endlich leisten konnte, kaufte er einen handbetriebenen Edelsteinschneider. Seitdem machten die Rubine in seinem Lagerbestand einen erheblich besseren Eindruck. Das zahlte sich aus, als es Zeit wurde, sie mit Dern (alias Pater Gorodish) nach Manila zu schicken. Dickie hätte fast so vermögend sein können wie die Besetzer der Villa Incognito, hätte er seine Gewinne nicht mit den bedürftigen Einwohnern von Fan Nan Nan geteilt. Dem schlaksigen Amerikaner war es zu verdanken, dass Fan Nan Nan mehr als jedes andere Dorf in den Bergen von Laos einen ausreichenden 192
Vorrat an Medikamenten und Unterrichtsmaterialien besaß. Dies aber wurde geheim gehalten, denn wer weiß, was die Bürokraten in Vientiane davon gehalten hätten? Wenn wir an einen Rubin denken, fällt uns womöglich der dunkle Apfel ein, der den Nabel eines glänzenden heidnischen Götzen verschließt, das feurige Funkeln im Auge eines dekorativen Drachen, vielleicht auch der Juwel, der Burma in die Schlagzeilen brachte (ohne uns träumen zu lassen, dass Laos’ schuldbewusster Nachbar seinen Namen eines Tages in Myanmar ändern würde, um seine Beschämung zu verbergen: Myanmar ist Burma inkognito), oder aber, wenn wir Experten sind, auch dicke Tropfen Taubenblut. Normalerweise würden wir jedoch nicht an Aluminium denken, das sich, wenn es von einem lüsternen Spritzer Chrom erregt wird, in einen Rubin verwandelt. Vielleicht glauben wir auch nicht, dass Rubine teurer gehandelt werden als Diamanten, doch genau das ist der Fall. Wären die Steine größer oder von besserer Qualität gewesen und hätte Dickie einen faireren Preis dafür erzielt, hätte er es wirklich zu Wohlstand gebracht. Für einen Goldwire, der keine Ford-Vertretung hatte, ging es ihm unter den gegebenen Umständen jedoch nicht schlecht. Rubingeld hin, Rubingeld her, der Unterschied zwischen Dickies Hütte und der Villa Incognito wurde im Lauf der Jahre immer größer. Das weitläufige, im französischen Kolonialstil erbaute Haus war ursprünglich als Sommersitz eines mit der königlichen Familie verbandelten Beamten gedacht gewesen. Zum Zeitpunkt seiner Errichtung um 1950 hatte es einen schmalen Sandweg gegeben, der zu dem Anwesen auf der anderen Seite der Schlucht führte, sodass es per Büffelkarren oder sogar Automobil erreichbar gewesen war. Doch kaum ein Dutzend Jahre später hatte ein enormer Erdrutsch den Weg unter sich begraben und den Rand der Schlucht abgerissen, sodass der 193
Zugang zum Haus so gut wie unmöglich wurde. Einige verwegene Plünderer waren über den Steilhang nach oben geklettert und hatten das Haus ausgeräumt, und nachdem nichts mehr zu holen war, ließ man es einfach verrotten. Tatsächlich verrottete es so gut wie gar nicht. Möglicherweise begünstigt durch die trockene Bergluft, blieben Fundament und Gefüge relativ gut erhalten. Im Innern bestand Stubblefields und Foleys Hauptaufgabe darin, die Bambusratten zu verjagen und alle Spinnen und Schlangen zu beseitigen. Dern hatte vermutlich aufgrund seiner Faszination für den Animismus ein mulmiges Gefühl bei diesem Gemetzel, doch die einheimischen Helfer, jeder einzelne ein verkappter Buddhist, schlugen ungerührt nach rechts und links. Nachdem das Haus entvölkert worden war, machten sich Dern und ein Trupp der besten einheimischen Schreiner daran, die Wandtäfelung aus Teakholz zu restaurieren und die Mahagoniböden abzuschleifen. Stubblefield beaufsichtigte alles von einem großen Ledersessel aus, dem ersten von vielen Luxusobjekten, die im Lauf der Jahre die Villa schmücken sollten. Doch war es wirklich eine Villa? Ja, selbst nach europäischem Maßstab hätte sie sich wahrscheinlich als solche qualifiziert. Kaum war Stubblefield aus dem Helikopter gestiegen, da taufte er sie Villa Incognito. Dann änderte er seine Meinung. «Villa», so erklärte er, «ist ein feminines Subjekt, inkognito dagegen ein maskulines Adjektiv. Ich muss mich für dieses plumpe Versehen bei der Geschlechterzusammenführung entschuldigen.» Auf dem noblen Ross seiner Lateinkenntnisse kam Dern ihm zu Hilfe. Hätte Stubblefield eine der romanischen Sprachen gesprochen, so seine Erklärung, wäre es durchaus ein linguistischer Fauxpas gewesen, da aber sowohl Villa als auch inkognito längst in den englischen Sprachschatz eingegangen seien und die englische Sprache sich noch nie mit geschlechtsspezifischen Endungen geplagt hatte, erklärte Dern den Namen für grammatikalisch korrekt. So blieb es bei Villa 194
Incognito. Anfang der neunziger Jahre war das Haus trotz seiner Abgeschiedenheit so etwas wie ein kultureller Bienenstock. Die unzähligen Stunden, die Stubblefield mit seinen Büchern und Dern mit seinen Werkzeugen verbrachte (denn der in die Jahre gekommene Hubschrauber war so gut wie ständig reparaturbedürftig), bildeten einen lebhaften Kontrast zu dem Kichern, Plappern und lustvollen Stöhnen der Gespielinnen, den umherhuschenden Bediensteten die Teppiche ausklopften oder Champagnerflaschen, Humidors und objets d’art abstaubten, ganz zu schweigen von dem aromatischen Durcheinander in der Küche, wo unablässig Zitronengras Kurkuma, Tamarinde, Kokosschnitze und Korianderblätter im Mörser zerstoßen und ebenso unermüdlich Schalotten, scharfe Chili, Ingwer, Minze, Mangos und Knoblauch gehackt und gewürfelt wurden. Sie aßen gut in der Villa Incognito. Sie fickten gut. Sie strebten danach, ihr Bewusstsein zu erweitern. Mit gelegentlichen Unterbrechungen, in denen sie Nachschub an virtuellem Morphium fabrizierten, um sich ihr Einkommen zu sichern, lebten sie im einstigen Land der Millionen Elefanten wie schräge Potentaten. Das soll nicht heißen, dass sie der angrenzenden Gemeinde nichts abgaben. Abgesehen davon, dass sie Köche, Dienstboten und Schreiner aus der Gegend einstellten und ihnen einen anständigen Lohn zahlten, abgesehen von den ortsansässigen Schönheiten, die sie sich zu extralegalen Ehefrauen erwählten und an ihrem luxuriösen Leben beteiligten, ließen sie hin und wieder auch etwas für die Schatztruhe des Dorfes springen, allerdings nicht annähernd so viel wie der bedeutend ärmere Dickie. Vielleicht war der wichtigste Beitrag für Fan Nan Nan Stubblefields Pädagogik. Er zwang die Hälfte der Einwohner, flüssig Englisch zu sprechen, verbesserte ihr rudimentäres Französisch, unterrichtete sie oberflächlich in Geschichte, Astronomie, Geographie, Quantenphysik und Literatur, aber 195
gründlich in Philosophie (hauptsächlich seiner eigenen) und inspirierte sie dabei zu einer gewissen Wertschätzung sowohl der Allgemeinbildung als auch jenes Schwachsinns, den die Götter angeblich so anregend und unterhaltsam finden. Dieses Talent als Lehrer führte zu seiner Bekanntschaft mit Lisa Ko. Angesichts der malerischen Konfusion, die mit der unerwarteten Wiedervereinigung des Nationalzirkus von Laos im abgelegenen kleinen Fan Nan Nan einherging, ist es ein Wunder, dass ein vierjähriges Kind überhaupt auffiel. Doch die kleine Ko Ko erregte immer wieder Aufsehen bei denen, die inmitten der Jongleure, Akrobaten und Clowns einen Blick auf sie erhaschten. Trotz ihrer unmerklich spitzen Ohren und einer leicht schief geratenen Nase war sie bemerkenswert hübsch, allerdings nach japanischer Art, was viele Laoten (die offen gesagt nicht gerade zu den ansehnlichsten Bewohnern des Planeten gehören) entweder mit Neid oder Verachtung erfüllte. Sie hatte etwas außerordentlich Würdevolles an sich, wirkte dabei jedoch weniger wie eine Prinzessin, die auf den Thron wartet (ihr fehlte jede Arroganz oder Hochnäsigkeit) – sondern vielmehr wie eine Art seltenes Tier, das die neurotischen Launen der Menschen nicht gewohnt ist. Sie besaß die Selbstgenügsamkeit eines Tieres und die wachsame Anmut eines Tieres. Es umgab sie immer eine Aura des Mysteriösen, stets lag in ihren glänzenden schwarzen Augen ein Hauch von Verträumtheit, was den Eindruck erweckte, als würde sie mit fernen Elementen in Verbindung stehen, die sie nicht begriff oder nicht begreifen konnte. Andererseits schien sie mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, ganz im Hier und Jetzt verankert, und wirkte klüger, als es ihrem Alter entsprach, obwohl man nie genau sagen konnte, woher dieser Eindruck rührte. Sie ergriff nur selten das Wort, aber gerade wenn einem Beobachter angesichts ihrer 196
Ernsthaftigkeit der Begriff «Idiot Savant» einfiel, brach sie in ein so unbefangen süßes und albernes Lachen aus, dass man einfach mitlachen musste. Dickie war von Anfang an entzückt von ihr gewesen. Stubblefield fiel sie zum ersten Mal auf an dem Tag, als das Seil über die Schlucht gespannt wurde. Unter den Artisten, die in Fan Nan Nan ein Exil gefunden hatten, fanden vor allem die Luftakrobaten, dass sie hier am falschen Ort waren. Dem Zirkusdirektor war klar, dass diese Draufgänger die Risiko und Applaus brauchten wie die Luft zum Atmen, ohne ihren aufregenden Kitzel entweder nach Bangkok durchbrennen oder aber nach Vientiane zurückkehren könnten, und er forderte sie auf, ein Stahlseil über den dunstigen Abgrund zu spannen, um darauf zu balancieren, falls sie den Mumm dazu hätten. «Karl Wallenda hätte es umgehend getan», sagte er. «Philippe Petit schon vor dem Frühstück und freitags zweimal.» Nach einer Woche des Zögerns und Beratschlagens, in der sie Tag für Tag auf dem Furcht erregenden Vorsprung der Schlucht saßen, erklärten sie, dass dieses in der Geschichte Südostasiens beispiellose Kunststück genau die Meisterleistung sei, für die sie bestimmt waren. Unter Anleitung der Phom-Truppe zimmerten die Seiltänzer eine stabile Plattform auf der Dorfseite der Schlucht zusammen. An einem Gerüst in der Mitte der Plattform befestigten sie mit Metallklemmen ein Kabel aus sauberem, ungeöltem Stahl, das aus acht um einen Hanfkern komprimierten Strängen bestand, jeder siebzehn Millimeter dick. An der Spitze des anderen Endes bildeten sie eine gespleißte Schlinge mit einer Seilkausche, in der sie ein schweres Spannschloss verhakten. Dann ließen sie es zusammen mit dem anhängenden Stahlseil von der «Smarty Pants II» über die Schlucht befördern. Auf der Seite der Villa bauten sie eine identische Plattform, spannten das Seil mit Hilfe des Spannschlosses und eines Flaschenzuges straff und befestigten es an einem zweiten Gerüst. Trotz der Behinderung 197
durch die steilen Abhänge der Schlucht stabilisierten sie es, so gut es ging, auf beiden Seiten mit jeweils drei Spanndrähten. Dieser Mangel an Spanndrähten bedeutete, dass das Seil in der Mitte etwas durchhing, was die Herausforderung noch erhöhte, die Seiltänzer jedoch dermaßen stimulierte, dass ihre Schließmuskeln zuckten und ihr Puls raste. Das ganze Dorf, Zirkusleute und Einheimische gleichermaßen, versammelte sich vor der ersten Begehung des Stahlseils. Diese Ehre fiel Papa Phom zu, dem siebzigjährigen Patriarchen der laotischen Seiltänzer. Es dämmerte bereits, als der alte Phom in himmelblauer Strumpfhose und mit silbernen Sternen geschmückter Seidenjacke auf die Plattform kletterte, den vier Winden seine Gebete darbrachte und langsam den balancierenden Fuß, der in einem hellblauen Slipper steckte, auf das Seil stellte. So blieb er mehrere Minuten lang stehen, als spürte er mit dem ganzen Körper der Musik des Stahlseils nach. Dann griff er nach der Balancierstange, die man bei einer solchen Strecke unbedingt braucht, bog den Rücken durch und bewegte sich mit kleinen, kontrollierten, doch anmutigen Schritten vorwärts. Die Dorfbewohner begannen zu applaudieren. Die Zirkusleute brachten sie hastig zur Ruhe. Auf halbem Weg über die Schlucht, genau an dem Punkt, wo das Seil durchzuhängen begann, blieb Papa Phom stehen, drehte sich vorsichtig um, verbeugte sich tief und grüßte die Zuschauer. Alle lächelten ihm zu. Dann wandte er sich wieder um und setzte seinen Weg fort. In diesem Augenblick brach Ko Ko in Tränen aus. Das Kind war vollkommen durcheinander, und da sonst niemand versuchte, es zu trösten, nahm Stubblefield es auf den Arm. Er war gerade dabei, ihm ein Muskatnussbonbon in den kleinen, zitternden Mund zu stecken, als die Zuschauer hörbar nach Luft schnappten. Papa Phom schwankte. Manche Leute hielten es für einen Teil der Vorstellung, einen Trick, um das Publikum zu erschrecken und ihm einen Schauer der Erregung über den Rücken zu jagen, doch die Akrobaten 198
merkten sofort, dass etwas nicht stimmte. Ein Windstoß? Ein Herzinfarkt oder Schlaganfall? Eine Fledermaus, die zu nahe an seinem Kopf vorbeigehuscht war? Ein Wink der toten Braut auf dem Grund der Schlucht? Niemand sollte es je erfahren. Doch alle sahen voller Grauen mit an, wie sich die Beine des alten Mannes spreizten und erst ein Fuß den Halt auf dem Seil verlor, dann auch der zweite, und er fiel. Dabei ließ er wie ein echter Profi keine Sekunde seine Stange los. Tiefer und immer tiefer stürzte er ins Zwielicht hinab, seine himmlische Jacke im Wind gebläht wie ein Segel, immer tiefer, bis er im zahnlosen Dunst verschwand, der sich aufbäumte, ihn zu verschlingen, tiefer und tiefer, bis er auf dem einsamen Geist der Braut aufschlug. So muss es gewesen sein. In der Nacht der Trauer, die nun folgte, wurden viele Gedanken geäußert; zwei davon sollen hier wiedergegeben werden. «Er starb genau so, wie er lebte», bemerkte seine Schwester. «Er tat das, was ihn am lebendigsten erhielt. Mehr kann man nicht verlangen.» Der zweite Gedanke wurde erst geäußert, als eine ungewöhnlich blasse Sonne, der ihre Fröhlichkeit möglicherweise ein klein wenig peinlich war, über den Bergkamm blinzelte. «Wer sich als Seiltänzer heute nicht aufs Seil traut, wird es nie wieder tun.» Der Tau auf den Blüten der wilden Chrysanthemen war kaum getrocknet, als die Seiltänzer sich vor der Plattform aufstellten. Alle trugen sie nicht etwa Trainingsdress, sondern ihr farbenprächtigstes Manegenkostüm. Aus Respekt führte man die Phom-Truppe an die Spitze der Schlange. Papa Phoms ältester Sohn hatte die Ehre. Er trug die Ersatzjacke seines Vaters, deren Ärmel schon ein wenig zerschlissen waren und deren Sterne ihren Glanz eingebüßt hatten. Er nahm die Stange und setzte den balancierenden Fuß fest auf das Stahlseil. Dann horchten seine Zehen, bis sie jede Note, jede Veränderung des Tempos, jede Nuance seines harten, ätherischen Summens auswendig kannten. Der Akrobat dankte 199
den Winden aus allen vier Richtungen und setzte noch ein besonderes Gebet an den Gott der plötzlichen Windstöße hinzu. Dann fing er an, über das Seil zu gleiten, als wäre es eine Eisfläche. Dieses Gleiten war sein persönlicher Stil, und er schien ihm gute Dienste zu leisten. Als der Seiltänzer die Mitte erreichte, wo das Seil durchhängen würde, ließ Stubblefield die kleine Ko Ko nicht aus dem Auge. Sie blieb ruhig, beherrscht, wie hypnotisiert. Als Papa Phoms Sohn schließlich die Plattform auf der anderen Seite erreichte, nickte sie still und anerkennend. Stubblefield und alle anderen dagegen stießen einen solch riesigen, kollektiven Seufzer aus, dass es den Mann vom Seil gefegt hätte, wäre er nur eine Sekunde früher erfolgt. Als Nächstes war die Mutter an der Reihe, die alte Madame Phom, frisch verwitwet. Ihre rot geweinten Augen nahmen die ganze Länge des Seils in sich auf. Dann ging sie mit kleinen Trippelschritten los wie eine Geisha mit einer vollen Teekanne. Genau an der Stelle, wo ihr Mann sich umgedreht, verbeugt und die Menge gegrüßt hatte, machte sie dasselbe und ließ sich obendrein schwungvoll auf ein Knie nieder. Die Zuschauer konnten nicht mehr an sich halten und brachen in lauten Jubel aus. Und die anderen Seiltänzer fingen an zu drängeln vor lauter Eifer, um sich an dem dünnen Seil zu erproben, das sie vom Schwindel erregenden Abgrund trennte. Nachdem Madame heil am anderen Ende angekommen war, gingen die übrigen Phoms los, die Geschwister, Nichten, Neffen und Vettern. Papas siebenjährige Enkelin, mit der Lisa Ko ihr ganzes Leben lang gespielt hatte, weinte und stampfte in ihren Slippern auf, weil sie nicht auch mitdurfte. Dann liefen alle fünf Mitglieder der Anou-Familie (von denen nur zwei Blutsverwandte waren) über das Seil. Anschließend folgte das in Paris ausgebildete Trio, das sich selbst als Fliegende Gelbe Teufel anpries. Sie gingen zusammen – alle drei auf einmal – auf dem Seil und stachelten sich gegenseitig an. Am Ende war 200
der Große Kai an der Reihe. Kai, dessen Name auf Lao Hühnchen bedeutet, trug Fettschminke, einen spitzen Hut und ausgebeulte Karohosen. Pru Foley hätte sich auf der Stelle in ihn verliebt, vor allem, als er mitten auf dem Seil die Hosen runterließ und der johlenden Menge sein von der Sonne spektakulär beschienenes derrière präsentierte. * In den folgenden Monaten gab es kaum einen ruhigen, trockenen Tag, an dem keine Seiltänzer auf dem Seil waren. Was Stubblefield am Seillaufen schätzte, war nicht nur das Phänomen an sich, sondern auch, dass es eine praktische, wenn auch eingeschränkte Route bot, über die man die Villa erreichen und verlassen konnte Die «Smarty Pants II» wurde immer unzuverlässiger, und sie mussten den Sprit für ihre Geschäftsflüge nach Thailand sparen. Das Stahlseil kam als Übergang nur in Frage, wenn es absolut notwendig war, aber als zusätzliche Option bedeutete es eine riesige Erleichterung. Übrigens war der erste Amerikaner, der in einer Schubkarre auf die andere Seite befördert wurde, Dern Foley, eingefleischter Pilot, der die Höhe über alles liebte. An der Schubkarre wurden Gegengewichte befestigt, um die Stabilität zu gewährleisten (und den Schiebenden von der Notwendigkeit zu befreien, eine Stange mitzunehmen), trotzdem war es ein riskantes Vergnügen, ein Umstand, den Derns Adrenalindrüsen weidlich ausnutzten. Die Befürchtung der MIAs, dass die Neuigkeit von den Hochseilakrobaten Schaulustige anziehen würde, verflog recht schnell. Der Zirkus, selbst auf der Flucht, heuerte ein paar von Fan Nan Nans härtesten Burschen an, die sich einen Kilometer tiefer an dem einzigen Pfad postierten, der zu ihrem Dorf führte. Neugierige Fremde wurden ausnahmslos zurückgeschickt. Und da auch die Hmong Grund hatten, jede Art von Publicity zu 201
scheuen, gab es von weiter oben am Berg nichts zu befürchten. Alle schienen mehr oder weniger untergetaucht zu sein, und niemandem schien es groß was auszumachen. Es gibt kaum eine stabilere oder vorhersehbarere Aktivität im Kosmos als das Tempo, mit dem sich Uranisotopen in Bleiisotopen verwandeln. Das ist gut so. Wenn sich die universelle Uhr nach dem Tempo richtete, mit dem eine Neuigkeit zur Routine wird, würden wir vielleicht nie rechtzeitig zum Zahnarzt gehen. Doch früher oder später verfällt das «Oh, geil!» zum «Na ja», ganz gleich, wie unberechenbar und sprunghaft sich dieser Prozess entfaltet. Es ist daher kein Wunder, dass schon nach einem Jahr der Anblick eines Mannes oder einer Frau, die in mehreren hundert Metern Höhe über ein Stahlseil zur anderen Seite eines grässlichen Abgrunds spazierten, die Aufmerksamkeit der Fan Nannies nicht mehr von ihren eigentlichen Aufgaben abzulenken vermochte. Da die Zirkusakrobaten ihre Nummern ebenso leicht auf einem Stahlseil hätten üben können, das in einem Meter Höhe zwischen zwei Baumstämmen gespannt war, gab es eigentlich keinen plausiblen Grund, der Höhe, dem Dunst oder den Windstößen zu trotzen. Trotzdem konnten manche nicht widerstehen. Natürlich gab es, wie Stubblefield bemerkte, keinen plausiblen Grund, überhaupt über ein Stahlseil zu spazieren. Und genau deshalb gefiel es ihm. «Schau dir den dort an», sagte Stubblefield und lenkte Derns Aufmerksamkeit auf die Silhouette einer Gestalt, die ganz allein im leeren Raum über dem Abgrund zu tanzen schien. «Er füttert die Engel.» Die Amerikaner saßen auf der Veranda und tranken Cristal. Der eine hatte den Tag damit verbracht, das grobe Blätterdach zu verstärken, mit dem der Hubschrauber getarnt war, der andere Oscar Wilde gelesen. «Sieh ihn dir bloß an», fuhr Stubblefield fort, als die einsame Gestalt in der Ferne durch einen Reifen hüpfte und sicher wieder 202
auf dem beinahe unsichtbaren Seil landete. «Was du siehst, ist die Perfektion einer bewussten Wahnsinnstat. Was du siehst, ist absolute Konzentration, gepaart mit grenzenloser Hingabe, und zwar so, dass die Geister des Todes und die Euphorie des Lebens an einer Art Kreuzung aufeinander prallen. Die Funken, die bei diesem Zusammenstoß entstehen, sind wie kleine Splitter von Gott. Wenn du sie mehr als fünf Sekunden im Kopf behalten kannst, wirst du alles verstehen, was je war oder sein wird.» «Nun, vermutlich übertreibst du die Sache», sagte Dern mit schleppender Stimme, während seine rauen Wurstfinger unbarmherzig den eleganten Konturen des Champagnerglases folgten. «Tatsächlich plumpst du gerade in ein tiefes hyperbolisches Loch, Stub. Doch ich muss zugeben, dass diese Narren auf dem Seil eine Art Zen ausstrahlen, irgendwas Schönes, das unser, äh, gewöhnliches Verständnis von Schönheit übersteigt.» «Ja, ja, du hast ganz Recht. Aber Foley, alter Junge, es ist nicht Schönheit per se, die das Seiltanzen zum Zen oder zur Kunst erhebt. Es sind diese extremen Risiken, die die Akrobaten mit jeder exquisiten Geste, jedem unvorstellbaren Salto eingehen. Hier haben wir es mit einer radikalen Version gefährlicher Schönheit zu tun, so wie Stierkämpfe sie einst besaßen, bevor die Matadore sich in aufgebrezelte Schlappschwänze verwandelten und anfingen, die Tiere zu missbrauchen. Wir erheben uns nur dann über die Mittelmäßigkeit, wenn etwas auf dem Spiel steht, und damit meine ich etwas Folgenschwereres als Geld oder Ruhm. Der große Wert eines Hochseilakts liegt darin, dass er überhaupt keinen praktischen Nutzen hat. Allein die Tatsache, dass sich so viel Geschicklichkeit, Anstrengung und Mut in etwas bündeln lässt, das so offensichtlich nutzlos ist, macht es nützlich. Und verleiht ihm die Macht, uns aus unserem normalen Trott herauszuheben und wegzutragen – anderswohin.» 203
Dern nahm einen Schluck Cristal und verzog das Gesicht. Offen gesagt hätte er Bier vorgezogen. Dern fand, dass Stubblefield sich kaum jemals Sorgen darüber zu machen brauchte, dass er die Götter langweilen könnte. Allerdings war er, Dern, als Folge seiner persönlichen Beschäftigung mit dem Animismus schon lange nicht mehr bereit, die Vorstellung eines «anderswo», einer «Welt jenseits dieser Welt», als Schwachsinn abzutun, selbst wenn sie in den blumigsten Ausdrücken geschildert wurde. Nach einem weiteren, unbefriedigenden Schluck erklärte er: «Richtig, es gibt nicht viele Luftakrobaten, die es aufs Cover von People oder Fortune schaffen, aber ich gehe jede Wette ein, dass die verrückten Narren auch so irgendwas davon haben – mal ganz abgesehen vom ästhetischen und metaphysischen Aspekt. Was ist mit dem Scheinwerferlicht? Dem Applaus? Stell dir vor, wie die Hinterwäldler mit offenem Mund auf der Tribüne hocken und staunen, während du deine Nummer durchziehst, und am Ende, wenn du dich verbeugst, klatschen sie mit feuchten Händen und stellen sich vor, wie sie zu Hause von der selbstmörderischen Vorstellung erzählen, die ein übermenschlicher Verrückter zum Besten gab, nur um ihnen einen Kick zu verschaffen. Also hör mir auf. Wie man es auch dreht oder wendet, es bleibt Showbusiness. Wahrscheinlich sind jede Menge Streicheleinheiten fürs Ego damit verbunden.» «Zugegeben», meinte Derns beleibter Freund. «In einem Vakuum gehen Künstler schnell zugrunde. Andererseits, sieh dir dieses einsame Genie an, das sich da drüben in luftiger Höhe vergnügt. Für wessen Segen riskiert er Kopf und Kragen? Das ist keine Manege. Kein Mensch schaut ihm zu. Abgesehen von uns und den Vögeln – und dem Kind neben der Plattform.» Dern kniff die Augen zusammen. «Du hast bessere Augen als ich, alter Freund.» In Wahrheit konnte auch Stubblefield die Kleine nicht sehen. Doch er wusste, dass sie höchstwahrscheinlich dort war. Sie war 204
immer dort. Entweder dort oder beim Tanuki-Käfig. * Klopf! Klopf! «Wer da?» «Lisa Ko.» «Wir dachten, du heißt Ko Ko?» «Nur am Anfang. Bei meiner Geburt wurde mir der Name Ko Ko gegeben. Aber als ich sechzehn war und Stubblefield mehr für mich wurde als nur ein Englischlehrer, behauptete er, dass er unmöglich Sex mit mir haben könne, solange ich meinen Babynamen trug, meinen Kleinmädchennamen, meinen Schülerinnennamen. Also fing er an, mich Lisa zu rufen. Und dabei ist es dann wohl geblieben.» «Aber war Lisa nicht der Name seiner … seiner Frau?» «Ja, komisch, was? Vielleicht sogar eine Spur, wie heißt das noch bei euch, abartig. Natürlich hat Stub nie vorgegeben, normal zu sein. Wenn wir miteinander schliefen, hat er …» «Schon gut, schon gut. Erzähl uns lieber, wie du anfingst, dich für die Dachse zu interessieren.» «Ach ja, die Tanukis. Es sind eigentlich keine Dachse, wisst ihr es ist eine Spezies von Wildhunden, obwohl sie mit Sicherheit weder so aussehen noch sich verhalten wie Hunde. Tja, also das war so: Als Papa Phom vom Stahlseil fiel, kletterte ein Suchtrupp in die Schlucht hinunter, um seine Leiche zu bergen. Offenbar war Papa Phom auf ein Tanukiweibchen gefallen und hatte es zerquetscht. Seine beiden Jungen hatten die Leichen nicht verlassen, daher fingen die Männer sie ein und nahmen sie mit ins Dorf.» «Als Haustiere.» 205
«Haha. Nein, ich glaube, sie hatten vor, sie zu mästen und dann zu verputzen. Wie jeder weiß, sind die Laoten nicht gerade sentimental, wenn es um Tiere geht. Wie auch immer, jedenfalls steckten sie die Dinger in einen Drahtkäfig. Es war ein kleiner Käfig, sie hatten kaum Platz. Er stand neben dem Haus des Zirkusdirektors. Die meisten Leute ignorierten die Tanukis, und zwar aus gutem Grund. Sie zeigten sich von ihrer sanftesten Seite, waren unglaublich süß und knuddelig, aber sobald man ihnen zu nahe kam, fingen sie an zu zischen, stürzten sich auf einen und bissen zu. Man musste höllisch aufpassen. Weil sie ihre Boshaftigkeit so hinterhältig verbargen, verpasste Stubblefield ihnen die Spitznamen ‹Nixon› und ‹Kissinger›.» «Sehr passend. Aber du mochtest sie offenbar.» «O ja. Vermutlich, weil ich ein Kind war. Besser gesagt, ein Waisenkind. Ich brachte ihnen gebratene Bananen und Reiskuchen, sooft ich konnte. Tanukis haben einen gesunden Appetit und lieben Gebratenes. Mit der Zeit gewann ich ihr Vertrauen. Sie leckten mir die Finger oder schliefen auf meinem Schoß. Sie liefen mir sogar hinterher. Später brachte ich ihnen ein paar Tricks bei.» «Du hattest einen natürlichen Draht zu ihnen. Hattest du je zuvor mit Tanukis zu tun gehabt?» «Nicht, dass ich wüsste, allerdings habe ich manchmal das vage Gefühl einer Erinnerung an sie.» «Soso. Nun gut, wir hatten hier den Eindruck, dass du … dass du möglicherweise selbst Tanukiblut in den Adern hast. Dass du –» «Was redet ihr da? Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe! Völliger Quatsch! Wie kann man in diesen Zeiten und in unserem Jahrhundert glauben …? Allerdings, wenn man recht drüber nachdenkt, fällt es irgendwie auf, dass es heutzutage nur zwei Religionen gibt, die sich rasant ausbreiten: Die eine geht zurück auf einen Araber, der auf dem Rücken 206
eines Pferdes zum Himmel auffährt, und die andere auf einen Teenager, der irgendwo im Wald einem Engel namens Moroni begegnet und einen Satz goldener Schrifttafeln in die Hand gedrückt kriegt. Also muss man wohl zu dem Schluss kommen, dass selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert Millionen Menschen das Bedürfnis haben, wundersame Geschichten zu hören. Sie gehen sogar so weit, für derart primitive Zaubermärchen ihr Leben zu opfern. Auf eine gewisse perverse Art und Weise ist das ja vielleicht ganz nett, aber Tanuki-Gene in einem menschlichen Wesen? Jetzt kommt mal wieder auf den Teppich!» «Öhm, okay. Aber da wir gerade bei lehrreichen Schrifttafeln sind, äh …, wir möchten natürlich nicht neugierig sein, aber deine Mutter hat dir einen Umschlag hinterlassen, den du öffnen solltest, wenn du in die Pubertät kommst. Gab es darin keinen Hinweis auf Tanukis …?» «Nein. Nichts. Haha. Entschuldigt, wenn ich lache, aber damit seid ihr wirklich auf dem Holzweg!» «Dann verrate uns doch, was sich in dem Umschlag befand, wenn es dir nichts ausmacht.» «Mutter-Tochter-Zeug in der Hauptsache. Persönliche Gefühle. Ratschläge, die ursprünglich wohl von einem obskuren Zenmönch stammten und mir auch tatsächlich extrem gute Dienste erwiesen haben. Erbstücke. Familiengeschichten. Wie meine Urgroßmutter aus Japan emigrierte und meine Großmutter Kazu sich nach Laos durchschlug. Und dann klärte sie mich noch über mein … mein ‹Implantat› auf. Was da zu erwarten ist und wann.» «Aha! Waren wir nicht gerade beim Vordringen archaischer Magie ins einundzwanzigste Jahrhundert? Was hat es also mit dem Chrysanthemensamen in deinem Mund auf sich?» «Ich hoffe, ihr versteht, dass es sich um eine Metapher handelt. Es hat nichts mit archaischer Magie zu tun, um 207
Himmels willen – und es gibt auch keinen Chrysanthemensamen. Das war nur die phantasievolle Umschreibung meiner Mutter für ein körperliches Phänomen, das seit drei Generationen die Frauen meiner Familie prägt. Eine Art Erbkrankheit. Halt, nein, es ist mehr als eine Krankheit, wie gesagt. Allerdings hat sie definitiv gesundheitliche Folgen.» «Ist alles in Ordnung mit dir? Warst du beim Arzt?» «Mutter hat mich ausdrücklich vor Ärzten gewarnt. Aber klar, alles ist okay. Mit mir und mit uns allen.» «Es gibt keine Irrtümer?» «Haha. Das kommt ganz drauf an, wie man es sieht. Tja, also jetzt muss ich aber wieder los. Das war ein nettes Schwätzchen mit euch. Wenn es zur Klärung beigetragen hat, bin ich froh, dass ich geklopft habe. Sayonara.» «Sayonara, Madame Ko. Bis dann.» * Der Ausdruck in Mayflower Cabot Fitzgeralds Gesicht war so finster, dass jeder Kaktus sofort die Stacheln eingezogen hätte. Die finstere Miene eilte ihm in Colonel Patt Thomas’ Büro voraus und wurde nach und nach eingeholt von der braunen Fliege, dem kurzen Bürstenschnitt und den Tweed-Schultern. Überrascht fuhr der Colonel herum, um Mayflower zu begrüßen. Er hatte mit dem Rücken zur Tür gesessen und eine Neun, einen Buben und eine Königin in der Hand gehalten, was Mayflower nicht entging. Alles Kreuz. Die beiden Untergebenen ihm gegenüber – der eine Technical Sergeant, der andere Lieutenant – schauten verlegen drein. «Poker in dieser Herrgottsfrühe?», fragte Mayflower ungläubig, dabei hatte er dank seiner Beobachtungsgabe, die auf dem Wetzstein des US-Geheimdiensts ihren letzten Schliff 208
erhalten hatte, garantiert schon die unterschiedlich alten Schichten von Zigarrenrauch und überquellenden Aschenbechern analysiert und daraus folgern können, dass die Männer die Nacht durchgemacht hatten. Während er noch Colonel Thomas anstarrte, der darauf brannte, seinen Flush auszubreiten, wurde der finstere Ausdruck zu einem verächtlichen. Tja, dachte der Einsatzoffizier, was soll man schon von einem Mann erwarten, dem seine Mutter den Namen Pitter Patt gab, weil ihre weiße Herrin anlässlich ihrer zunehmenden Bauchrundung bemerkt hatte, sie werde sich wohl daran gewöhnen müssen, demnächst überall Spuren kleiner Patschhändchen zu sehen? Am verwirrendsten fand Mayflower, dass dieser Mann, der durch seine Hautfarbe schon genug gestraft war, sich keineswegs dazu herabgelassen hatte, an diesem unvorteilhaften Namen etwas zu ändern. Oder wenigstens die Air Force darauf bestanden hatte, bevor sie ihn einstellte. Mayflower selbst war als Junge wegen seines Namens weiß Gott oft genug aufgezogen und von diversen Debütantinnen ausgelacht worden, doch verwies der wenigstens auf seinen Stammbaum und war deshalb was ganz anderes. «Wenn Sie Ihre Männer bitte entschuldigen würden», sagte der Einsatzoffizier mit einer Stimme, die ein neugeborenes Katzenjunges hätte entwurmen können. «Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen, und meine Zeit ist kurz.» Jede Wette, dass dein Schwanz auch nicht länger ist, dachte Colonel Thomas und beäugte den Topf, den er mit Sicherheit gewonnen hätte und der jetzt zu gleichen Teilen zwischen den drei Spielern aufgeteilt wurde. Als die Flieger den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte er: «Gut, dass Sie so früh kommen, Mayflower. Ich habe Neuigkeiten.» Mayflower, der gerade dabei war, die Zigarrenasche vom Stuhl zu fegen, um sich hinzusetzen, erstarrte mitten in der 209
Bewegung. «Hat er gesungen?» «Liebe Güte, nein! Er hat das ganze Labour-Day-Wochenende genutzt, um sein Lieblingsbuch zu lesen. Er –» «Dann können Ihre Neuigkeiten warten», schnitt ihm der Einsatzoffizier das Wort ab. «Mein Flug geht in gut einer Stunde und –» «Sie gehen auf Reisen?» «Das hat man gewöhnlich vor, wenn man einen Flug bucht. Ja ich muss zurück nach Washington. Eine untergeordnete Mitarbeiterin im Außenministerium behauptet, Informationen über einen größeren terroristischen Anschlag auf das World Trade Center und/oder das Weiße Haus entdeckt zu haben. Irgendein komplett wahnsinniges Szenario, das angeblich für nächsten Montag oder Dienstag erwartet wird. Das ist natürlich lächerlich. Selbstverständlich wüssten wir in Langley Bescheid, wenn ein Anschlag solchen Ausmaßes geplant wäre. Völlig unglaubwürdig. Diese ungewaschenen Heiden können höchstens eine Autobombe basteln, etwas Ausgefeilteres bringen sie nicht zustande.» Er seufzte. «Trotzdem will der Direktor mich in der Nähe haben, falls irgendein durchgedrehter Abdul auf dumme Gedanken kommt und die Regierung …» «… jemanden braucht, der das Ganze ins rechte Licht rückt.» Thomas, der vor Jahren einmal mit dem Gedanken gespielt hatte, zum Islam überzutreten, bemerkte den fanatischen Unterton, behielt jedoch die Fassung. «… ein beruhigendes Statement vonseiten der Geheimdienste braucht. Reine Zeitverschwendung, aber wahrscheinlich werde ich höchstens zehn Tage wegbleiben. Im Übrigen» – Mayflower entsperrte seinen Diplomatenkoffer und nahm eine Mappe heraus – «habe ich mittlerweile den Bericht über die FoleySchwestern bekommen.» 210
«Was haben die reizenden Damen denn im Sinn? Sie hatten einen Beschatter und eine Wanze auf sie angesetzt, stimmt’s?» Mayflower zog eine Grimasse, und der Colonel fragte sich, ob etwa die Gallensteine des Mannes ins Rollen geraten waren. «Eine derartige Ausdrucksweise passt nicht ins heutige Klima», warnte er. «Allerdings haben wir die Aktivitäten der beiden Frauen dezent überwacht. Die Klugscheißerin jobbt vorübergehend beim Zirkus, ausgerechnet. Geht in aller Frühe hin und kommt sehr spät nach Hause. Die Verrückte …» «Sie meinen die süße Bootsey.» «… ist das eigentliche Problem. Sie versucht, eine gesetzliche Vertretung zu finden. Sie meint, sie könnte einen Staranwalt dazu bringen, den Fall ihres Bruders zu übernehmen. Es gibt natürlich gar keinen Fall, aber –» «Aber es könnte einen geben. Falls ein aufstrebender publicitysüchtiger Rechtsverdreher die Sache in die Finger kriegt. Verdammt!» «Bisher hat Johnnie Cochran noch nicht zurückgerufen. Doch früher oder später wird sie zu jemandem vordringen, der –» «… anbeißt wie ein Hobo bei einem Schinkensandwich. Wir müssen einschreiten – um es mit einem ins heutige Klima passenden Bild auszudrücken.» Der Einsatzoffizier nickte. «Aber keine Dummheiten. Reden Sie ihr ins Gewissen. Schüchtern Sie sie notfalls ein bisschen ein. Und wir sollten Foley verlegen. Leugnen, dass er je hier war. Oder auch nur existiert. Er ist ein vermisster Soldat, vermutlich tot. Die Schwestern sind ein wenig überspannt. Et cetera pp. Ich vertraue darauf, dass Sie das hinkriegen.» Colonel Thomas grinste. Sein Grinsen war so breit, dass er Mayflower überraschte. «Sie können ganz beruhigt sein, mein Freund. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Der alte Patt ist Ihnen diesmal einen Schritt voraus.» 211
«Was soll das heißen?», fauchte Mayflower noch verblüffter als zuvor. Lässig schälte der Colonel eine einheimische Zigarre aus ihrer Zellophanhülle. «Ich glaube, ich habe Ihnen bereits vor einiger Zeit erzählt, dass ich die Priesterklamotten unseres Freundes in die Reinigung geschickt hatte. Mineralischer Gehalt der Schmutzreste in den Säumen. Eventuelle organische Rückstände. Et cetera pp., wie Sie sagten. Nun, mittlerweile habe ich das Ergebnis aus dem Labor. Anscheinend hat Pater Gorodish auf den Hochebenen des Annam-Gebirges einigen Staub aufgewirbelt. Das wäre in Vietnam oder Laos, wahrscheinlich Laos, denn dort sind er und seine intellektuellen Freunde verschwunden. Ich werde mich also auf den Weg dorthin machen und mich ein wenig umsehen. Übermorgen. Am Freitag. Foley nehme ich mit.» Ungläubigkeit war das Menu des Tages, und jetzt servierte Mayflower auch noch einen Nachschlag. «Auf wessen Befehl?», fragte er. Pitter Patt entzündete ein Streichholz, hielt die Flamme an die Zigarre und kostete den Rauch, bevor er antwortete. «Auf Befehl des Vorsitzenden der Vereinten Generalstabschefs.» «Sie haben mich übergangen?» Mit der Glut, die Mayflowers Gesicht in diesem Augenblick ausstrahlte, hätte man glatt eine zweite Zigarre anstecken können. «Nein, ich habe die Resultate an meinen General weitergegeben, und der hat Sie übergangen. Schöne Scheiße, was? All diese Befehlsbereichsebenen.» Mit einigen Schwierigkeiten hatte er seine nüchterne Haltung zurückgewonnen. «Jedenfalls … es gibt da einen freien Mitarbeiter in Bangkok, früher war er einer von unseren eigenen Jungs, heißt es.» Er murmelte einen Namen und sah, wie sein Gegenüber zusammenfuhr. «Angeblich ist er Insider im südostasiatischen Drogenhandel und kennt sämtliche 212
bedeutenden Mitspieler.» «Ja, das traue ich ihm zu», antwortete Mayflower. «Dieser Spinner ist hochgradig unzuverlässig. Er würde Ihnen seine eigene Großmutter verkaufen.» Genau wie du, dachte der Colonel. Mit einem Unterschied: Du würdest sie auch liefern. «Wir weihen ihn nicht ein. Aber vielleicht führt er mich in die richtige Richtung. Und vielleicht bringt Foley auf seinem Territorium ein paar neue Töne zustande, an die er sich bei uns nicht mehr erinnern will. Wie auch immer, ihn außer Landes zu wissen dürfte für alle, die damit zu tun haben, eine Erleichterung bedeuten. Im AnnamGebirge gibt es weder Fernsehkameras noch Bürgerrechtsbewegungen oder hirnlose Schwestern, und Johnnie Cochran könnte mit der dortigen Herrenmode nichts anfangen. Wir fliegen die ganze Strecke mit einer Militärmaschine, Foley wird notfalls mit Beruhigungsmitteln kaltgestellt, und entweder Technical Sergeant Canterbury oder Lieutenant Jenks – die beiden Zocker, die Ihnen gerade begegnet sind – kommt als Wache mit. Auf die eine oder andere Weise werden wir versuchen, Foley dort loszuwerden. Hier macht er uns nur Probleme.» «Ja, aber was ist mit der Anklage wegen Drogenbesitzes? Was mit der DEA?» «Scheiß auf die Anklage, Mayflower! Und die DEA soll mir den Buckel runterrutschen. Hier geht es schließlich um die nationale Sicherheit. Es wird sich doch wohl niemand aus Ihrem Laden wegen simplen Rauschgiftschmuggels in die Hose machen, oder? Korrigieren Sie mich, falls ich Blödsinn rede.» Schweigend starrte Mayflower an die Decke und tat so, als machten ihm die widerlichen Flecken und Verfärbungen dort oben nichts aus. Dann warf er unvermittelt einen Blick auf seine Rolex und sprang auf. Während er den Diplomatenkoffer wieder verschloss, sagte er: «Im Großen und Ganzen ist es 213
wahrscheinlich so am besten. Rückblickend hätten wir ihn vermutlich gar nicht erst herbringen sollen. Mit Sicherheit war es ein Fehler, seine Schwestern einzubeziehen. Manchmal ist es tatsächlich klüger, keine schlafenden Hunde zu wecken, Colonel. Wenn Foleys Kollegen irgendwo da drüben noch leben, sozusagen inkognito … nun ja, darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist.» Wieder sah er auf die Uhr. «Ich muss mich beeilen.» «Kann ich Sie irgendwo absetzen?» Der weiße Mann reagierte, als hätte der Schwarze ihm einen unsittlichen Vorschlag gemacht. «Mein Fahrer wartet», antwortete er mit einer ruckhaften Kopfbewegung. Dann schnappte er sich ein Stück Papier vom Schreibtisch, ohne darauf zu achten, ob es wichtig sein könnte, und kritzelte mit einem Bleistift ein paar Zeilen darauf. «Das ist meine Geheimnummer. Direkte Durchwahl. Nicht mal meine Sekretärin wird antworten. Lernen Sie sie auswendig und zerreißen Sie den Zettel. Ich will über jeden Schritt informiert werden. Jeden einzelnen. Tag und Nacht.» Dann warf er dem anderen einen bohrenden Blick zu, um seine Forderung zu unterstreichen, und war im nächsten Augenblick zur Tür hinaus. Colonel Thomas salutierte vor dem entschwindenden Rücken. «Jawohl, Sir», murmelte er und blies eine dicke Rauchschwade in den Flur. Am gleichen Nachmittag hielt der Colonel auf dem Nachhauseweg an einer Schwulenbar im Mission District, die für ihre besonders aggressive und versaute Klientel bekannt war. Das Stimmengemurmel verstummte, als er das Etablissement betrat, und alle Blicke folgten ihm, doch dank seiner Uniform oder vielleicht seiner Größe, seiner Haltung und seiner Hautfarbe sprach ihn keiner an, weder mit rauer Stimme noch im Falsett. Lässig schlenderte er nach hinten zur Toilette, vergewisserte sich, dass sie nicht besetzt war, und trat ein. Dann 214
zog er einen dicken Filzstift aus der Tasche und schrieb in Großbuchstaben folgende Geheiminformation an die Wand: FIT IM SCHRITT UND AUCH SONST NICHT OHNE, TEL: Und darunter kritzelte er Mayflower Cabot Fitzgeralds geheime Telefonnummer. * Etwa vierundzwanzig Stunden später, am Donnerstag, stieg Bootsey Foley aus einem Metro-Bus und untersuchte den Ahornbaum im Nachbargarten nach ersten Anzeichen für einen Wechsel der Jahreszeit – «Nur ein Anflug von herbstlichem Rot. Gerissen, was?» –, als urplötzlich ein bärtiger Mann mit dunklem Anzug und Brille neben ihr auftauchte. «Ich würde Sie gern nach Hause begleiten, Miss Foley.» Bootsey errötete und stammelte: «Oh, oh, ich – lieber nicht.» «Ich bestehe darauf.» «I-ich …» Sie warf einen Blick über die Schulter. «Ich rufe die Polizei.» Der Mann lächelte unter seinem buschigen Bart. «Seien Sie nicht albern.» Er griff nach ihrem Arm. «Ich schreie.» «Damit machen Sie sich nur lächerlich.» «Ohhh.» «Ich bringe Sie bloß bis an die Tür. Colonel Thomas hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Colonel Thomas mag Sie.» Bootseys Gesicht hellte sich auf, doch dann errötete es erneut. «Colonel Thomas? Ja. Das dachte ich mir schon.» «Ja. Nun, ‹Thomas› ist natürlich nicht sein wirklicher Name …» 215
«Nein?» «… aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck und möchte, dass Sie über die neuesten Entwicklungen Bescheid wissen.» Bootsey nickte einsichtig und ließ sich jetzt ohne Widerstand begleiten. In diesem Augenblick aber wurde der Ton des Fremden, der bisher freundlich, ja ritterlich gewesen war, erheblich schärfer. «Hören Sie zu und sperren Sie die Ohren auf. Ich sage es nur einmal. Verstanden? Okay. Ihr Bruder sitzt nicht mehr im Gefängnis.» «Nein?» «Unterbrechen Sie mich nicht. Er ist vor einigen Tagen ausgebrochen, mit Hilfe einer satanischen Sekte. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass er sich im Playboy Mansion von Los Angeles versteckt. Kein Richter wird uns einen Durchsuchungsbefehl ausstellen, dazu ist der Playboy viel zu mächtig und einflussreich. Und Sie können es glauben oder nicht, Miss Foley, einige Richter aus L. A. sind selbst Anhänger des Satanismus. Wir werden Ihren Bruder also für absehbare Zeit dort lassen, wo er ist. Er ist völlig sicher, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, und er wird auch anderen nicht schaden können. Beten Sie einfach, dass der Status quo erhalten bleibt, denn wenn wir ihn nochmals in die Hände bekommen, wird er als Deserteur zum Tode verurteilt. Erzählen Sie niemandem davon außer Ihrer Schwester. Sollten Sie sich verplappern, könnten Sie selbst in Lebensgefahr geraten. Merken Sie sich gut, was ich gesagt habe. Vergessen Sie es niemals. Nun gut. Danken Sie dem lieben Gott für Ihr Glück, Ma’am. Schönen Tag noch.» Als er seinen Mietwagen einen Block von der Bushaltestelle entfernt erreichte, nahm Lieutenant Jenks seinen falschen Bart und die Fensterglasbrille ab und prustete los. «Soll sie mit dieser Geschichte zu Johnnie Cochran gehen», sagte er laut. «Selbst 216
die Schmierfinken der Weekly World News würden ihn für verrückt erklären.» * Madame Ko baute ihren Schrein wieder ab. Der unpassende Stiefel wanderte zurück in den Koffer, der alte Kimonofetzen mit der aufgedruckten Chrysantheme folgte. Die gefaltete kleine Papierfigur hielt sie einen Augenblick in der Hand, um sie zu betrachten, bevor sie sie in ihrer Handtasche verstaute. Großmutter Kazu hatte sie höchstwahrscheinlich tatsächlich als Tanuki entworfen, aber es gab keinen Grund, diese Information neugierigen Fragenstellern auf die Nase zu binden, oder? Wir menschlichen Wesen brauchen Geheimnisse ebenso, wie wir die Wahrheit verdienen, dachte sie. Nachdem sie ihre Rechnung bezahlt und das Hotelzimmer geräumt hatte, verstaute sie ihre Tasche für den Rest des Tages in der Gepäckaufbewahrung. Dann lief sie los in Richtung des Hong Kanyasin, wie der Nationalzirkus bei den Einheimischen genannt wurde. Es war ein schwüler Tag, und sie ging langsam. Die kleine Schwellung in ihrem Gaumen hatte mittlerweile die Größe einer Cocktailtomate (eindeutig sonnengereift), und das Schlucken schmerzte. Auch ihr Bauch war dicker geworden und wölbte sich von Tag zu Tag ein wenig mehr nach außen. O-Ko hatte sie nicht darauf vorbereitet, dass eine Schwangerschaft mit solchem Tempo voranschreiten konnte. Das Gelände des Hong Kanyasin befand sich in den nördlichen Ausläufern der Stadt, etwa zwei Kilometer vom Zentrum entfernt. Auf halbem Weg machte Lisa eine Pause, kaufte sich bei einem der fliegenden Händler ein Tamarindeneis und presste die klebrige Masse mit der Zunge gegen ihr «Implantat». Sie stellte sich vor, wie es wäre, Dickie jetzt einen abzulutschen. Oder Stubblefield. Für sie selbst erheblich 217
weniger wohltuend als das Eis, aber würden sie nicht überrascht sein? Doch wenn sie recht darüber nachdachte, gab es eigentlich nichts, was Stubblefield wirklich überraschen konnte. Zumindest noch nicht, sagte sie sich, und plötzlich – aus heiterem Himmel und trotz der Schmerzen – musste sie kichern, obgleich es eigentlich nichts zu lachen gab. Als die Manege in Sichtweite war, beschleunigte sich ihr Puls wie ein Außenbordmotor. Sie hätte den Mekong überqueren können, ohne nass zu werden. Als sie an ihr Leben im Zirkus zurückdachte, fragte sie sich, ob andere Leute auch unwillkürlich den Kopf schüttelten, wenn sie sich den Zickzackkurs ihres Lebens ins Gedächtnis zurückriefen und ihnen im Nachhinein aufging, wie wunderbar ihr Weg verlaufen war. Manchmal reichte «Es ist, was es ist» als Paradigma nicht aus: Es bezeichnete das Eis, das schon, nicht aber die Geschmacksrichtung. * Der Zirkusdirektor hatte Recht behalten. Nach knapp vier Jahren, als die in Laos herrschenden Marxisten sich ihrer Revolution sicher waren und ihre Feinde, egal ob echte oder eingebildete, exekutiert, verhaftet oder ins Exil getrieben hatten (vielleicht langweilten sie sich auch inmitten ihrer eigenen stetig wachsenden Bürokratie), wurde der Nationalzirkus rehabilitiert. Sofort kamen der Zirkusdirektor und die wichtigsten Artisten aus ihrem Versteck – und niemand stellte irgendwelche Fragen. Doch hatte sich mittlerweile eine so enge Verbindung zu Fan Nan Nan gebildet, dass es die zweite Heimat des Zirkus blieb, vergleichbar mit dem seit vielen Jahren etablierten «Winterquartier» amerikanischer Shows in Florida. Es wurde zum Ort, an den sie sich zurückzogen, wenn die Saison zu Ende ging, wo sie trainierten und sich neue Kunststücke ausdachten 218
und wo sich die Zirkusleute zur Ruhe setzten, wenn sie alt, krank oder zu pummelig wurden, um sich in ihre hautengen Kostüme zu zwängen. Ko Kos Pflegeeltern blieben in dem Gebirgsdorf, kümmerten sich um die Trainingsanlagen und hielten ein Auge auf den Besitz des Zirkus. So wuchs das Kind in beiden Welten auf: in dem traditionellen, ländlichen Fan Nan Nan – und in La Vallée du Cirque mit seiner engen Bindung an eine andere, glamouröse und extravagante Wirklichkeit. Und die Schwellung im Mund verband sie mit einer weiteren, noch exotischeren Realität – einer Welt jenseits dieser Welt –, doch davon hatte sie keinen Schimmer bis zu ihrer Pubertät, und selbst dann waren die Informationen ihrer Mutter nicht leicht zu verstehen. Die mütterliche Nachricht enthielt keine explizite Erwähnung der Tanukis, und eine Verbindung zwischen diesen unberechenbaren Tieren und der bizarren Natur ihres Familienerbes drang, wenn überhaupt, nur unterschwellig in Ko Kos Bewusstein. (Tatsächlich ist es sogar möglich, dass die Bedeutung einer solchen Verbindung eine reine Vermutung unsererseits ist.) Trotzdem zeigte sie bereits mit fünf Jahren eine ungewöhnliche Begabung, die Dachse zu zähmen und ihnen einfache Kunststücke beizubringen. Vielleicht war das weniger die Folge irgendwelcher angeborener Gemeinsamkeiten als des Umstands, dass sie schon früh die Vorlieben der Tiere erkannte und sah, wie sich ihre unersättliche Gier – und auch ihre beinahe theatralische Überschwänglichkeit – zu wechselseitigem Nutzen ausbeuten ließ. Trotz alledem war die Kleine schon fast ein Teenager, als sie auf die Idee kam, dass sich ihr geliebtes Freizeitvergnügen mit den Tanukis zu einem lukrativen Beruf entwickeln ließe. Mittlerweile hatte sie die Zahl ihrer ursprünglichen protégés verdreifacht, und mit Dickie Goldwires Hilfe stellte sie Fallen in den Bergen auf, um noch mehr zu fangen. Dickie hatte die Kleine bei ihren Unternehmungen oft unterstützt, denn es 219
machte ihm Spaß, und obendrein rührte ihn die Freude, die sie daran fand. Doch letztendlich war es der Zirkusdirektor, der das Potenzial dressierter Tanukis erkannte. Als sie etwa sechzehn war, drängte er sie, sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Das tat sie, aber es dauerte noch fast vier Jahre, bis ihr Auftritt so gut einstudiert und ausgefeilt war, dass sie mit zum Hong Kanyasin in Vientiane kommen konnte. Bis dahin lernte sie selbst einige Tricks. Stubblefield hatte aufgrund ihrer Begabung für die englische Sprache schon früh eine besondere Bindung zu ihr entwickelt. Von all seinen unfreiwilligen Schülern, ob jung oder alt, war Ko Ko bei weitem die Begabteste. Das Englische, egal ob formell oder idiomatisch, fiel ihr so leicht, als hätte man ihr einen linguistischen Chip in den Schädel gepflanzt. Ihr Fleiß und ihre Begabung hatten es dem ehemaligen Wissenschaftler angetan, aber auch die entzückende und zugleich etwas geheimnisvolle Art des Mädchens nahmen ihn für sie ein. Doch erst, als sie das rote Tor der Pubertät passiert und das von ihrer Mutter überlieferte Wissen vollständig verinnerlicht hatte, merkte er, dass sie anfing, seine Sicht von der Welt zu beeinflussen. Eines Tages setzte eine vom Wind gepeitschte Kerze ihr Haar in Flammen. Sie versengte nicht nur ihren Kopf, nein, einen ganzen Monat lang sah sie aus wie ein verkohlter Topfkratzer oder der Grund, warum Raggedy Ann aufgehört hatte, im Bett zu rauchen. Die meisten jungen Mädchen hätten sich selbst an einem Ort wie Fan Nan Nan zurückgezogen und erst wieder blicken lassen, wenn der Schorf abgefallen und das Haar wieder nachgewachsen war, doch Ko Ko ging ohne Hut oder Kopftuch ihren Geschäften im Dorf nach und wies sogar Leute, die höflich so taten, als bemerkten sie ihren verkohlten Schädel nicht, ausdrücklich darauf hin. Dabei lachte sie sich immer halb tot. «Ich war der letzte Affe, der dem Waldbrand entkommen ist», witzelte sie. Ein anderes Mal, als ein erregter Tanuki sie ins Handgelenk biss, revanchierte sie sich, indem sie so fest 220
zurückbiss, dass Blut floss. Anschließend kümmerte sie sich zuerst um seine Wunde, ehe sie sich selbst verarztete. Ko Kos furchtlose Gleichgültigkeit gegenüber Konventionen – ein bescheidener Sinn für die praktischen Dinge des Lebens, mit dem sie der allgemein anerkannten Logik trotzte – erweckte in Stubblefield etwa dieselbe Bewunderung, die er für die Seiltänzer empfand. Als sie älter wurde, regten sich auch andere Gefühle, und er musste sich anstrengen, ihnen keinerlei körperlichen Ausdruck zu gestatten. Zugleich kannte er sich gut genug, um zu wissen, dass es ein Kampf war, den er nicht gewinnen konnte. Vermutlich hatte auch sie das intuitiv gespürt. Stubblefields Worten zufolge muss eine ausgeprägt schicksalhafte Aura um die kleine Hütte gelegen haben, die sie mit Dickies Hilfe neben dem Tanuki-Gehege gebaut hatte. Eines Nachmittags, als Stubblefield vorbeikam, um mit ihr zu schimpfen, weil sie am Morgen allein in die Schlucht gegangen war, um ihre Fallen aufzustellen, war diese Aura zum Schneiden dick. Er fand sie damit beschäftigt, einen ihrer leicht erregbaren Schützlinge zu beruhigen, indem sie dessen überdimensionale Gonaden massierte. Gewöhnlich redete er wie ein Wasserfall, wenn er irgendwo zu Besuch kam, doch der Anblick dieses Mädchens, noch keine siebzehn, in billiger westlicher Bluse und Rock, wie es selbstvergessen ein riesiges Skrotum streichelte, verschlug ihm die Sprache. Er deutete mit dem Kinn auf den Abgrund und murmelte heiser: «Da unten könnten Tiger lauern.» Sie lachte. «Ich habe keine Angst vor Tigern.» Einen langen Augenblick starrten sie einander an und schielten nur hin und wieder verstohlen auf die zuckenden Bälle. Am Ende zeigte er auf seine Tätowierung (er trug nur ein weißes Seidenjackett ohne Hemd) und sagte leise, beinahe traurig: «Vor diesem hier solltest du dich lieber in Acht nehmen.» Ko Ko küsste den befriedigten Tanuki auf die Nase und 221
scheuchte ihn zurück ins Gehege. Dann kam sie langsam auf Stubblefield zu und knöpfte im Gehen ihre Bluse auf. Die kleinen blassen Brüste leuchteten wie die Scheinwerfer eines näher kommenden Kinderautos, und er musste blinzeln, als sie auf ihn zusteuerte. Dann fiel die Bluse zu Boden, und ihre festen kleinen Titten erwachten zum Leben wie Marionetten, die den Fäden ihres Herrn entkommen sind. Das Nächste, was Stubblefield wusste, war, dass sie an seiner nackten Brust auf und ab rieben. «Dieser Tiger macht mir auch keine Angst», flüsterte sie. Um zu verhindern, dass sie auf der Stelle bumsten, wäre eine derartige Umkehrung der Naturgesetze erforderlich gewesen, dass sich Newton im Grab umgedreht und die NASA das Raumfahrtprogramm abgebrochen hätte. * Im Lauf der nächsten paar Jahre brachte der bärtige vermisste amerikanische Soldat dem bezaubernden japanisch-laotischen Mädchen alles bei, was er über Sex wusste, und das reichte, um das Kamasutra von der ersten bis zur letzten Seite zu füllen und immer noch genug für ein paar Rezepte in einem TijuanaKochbuch übrig zu lassen. Diese Lektionen – falls man solche interaktiven Vorschläge überhaupt als «Lektionen» bezeichnen kann – saugte sie ebenso eifrig und gewandt auf wie das Englische. Nachdem Ko Kos Klitoris aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt worden war, neigte sie zu Neugier und Herumtreiberei. Gewiss konnte Stubblefield nichts dagegen haben, wenn sie junge Männer aus dem Dorf anprobierte, um zu sehen, ob sie passten. Er selbst hatte schließlich auch seine Erfahrungen gemacht, ganz zu schweigen von einer Villa voller Gespielinnen und dem Kopf voller freizügiger Ideale. Als sie ihm jedoch 222
anvertraute, dass sie scharf drauf war, mit ihrem anderen langjährigen Wohltäter Dickie Goldwire zu schlafen, wurde dem Maestro der Villa Incognito mulmig. Zynikern zum Trotz war es nicht die Tatsache, dass er häufig genug mit Goldwire geduscht hatte, um sich dessen prächtiger Ausstattung bewusst zu sein und sich bedroht zu fühlen, und auch die romantischer veranlagten Beobachter irrten sich, wenn sie vermuteten, ihr Geständnis habe ihn zu der Einsicht gebracht, dass ihm das Mädchen wichtiger war als seine freiheitlichen Prinzipien. Nein, der wahre Grund war, dass Stubblefield Dickies Herz kannte. Wir sollten darauf hinweisen, dass Lisa – so wurde sie jetzt von allen genannt, die sie nicht mit Madame Ko ansprachen – mittlerweile dreiundzwanzig und vom Hong Kanyasin, wo sie drei Jahre aufgetreten war, nach Hause zurückgekehrt war. (In Laos wurde ihre Popularität von Tag zu Tag größer, doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis sie und ihre Tanuki-Truppe Engagements in ganz Asien bekamen.) Eines dämmrigen Winternachmittags, als sich die Monsunwolken gleich unterhalb von Fan Nan Nan zusammenballten wie schwarze Boxhandschuhe, schlüpfte sie zu Dickie ins Bett. Er bumste sie ohne nennenswerte Unterbrechung, bis draußen die Hähne krähten. Sie erwachte um die Mittagszeit, zu spät für die Probe, und sah, wie Dickie beinahe entschuldigend lächelte. «Ich glaube, da hat sich zu lange was aufgestaut», sagte er. «Du hast mich ganz wund gevögelt», stöhnte sie, aber es klang nicht wie eine Beschwerde. Es folgte ein Jahr, in dem sie immer, wenn sie vom Zirkus nach Hause kam, die Beine für beide Amerikaner gleichermaßen breit machte (gleich häufig, gleich leidenschaftlich, gleich zärtlich), obwohl jede Frau, die auch nur halb so sensibel wie Lisa war, gemerkt hätte, dass keiner von beiden besonders glücklich mit diesem Arrangement war, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Einmal nahm sie den dritten Amerikaner beiseite, um ihn um Rat zu fragen, doch Dern fegte 223
ihre Bedenken beiseite. Dern wollte sich mit ihr über Animismus unterhalten. Dern fragte, ob sie glaube, dass es eine Schwelle zwischen Materie und Geist gibt, einen Punkt, an dem die Unterschiede zwischen beiden verschwinden, und wenn ja, welche Tiere, Pflanzen und Objekte, wenn überhaupt, sich am besten dazu eigneten, eine Brücke zwischen dem physischen und dem metaphysischen Reich zu bilden. Sie beteuerte, nichts davon zu verstehen, was zumindest teilweise ehrlich war, und dann machte sie sich daran, auch ihn zu verführen, um zu sehen, ob es ihn ablenken würde (ja), zu sehen, wie es war (nichts Besonderes), zu sehen, ob es die vorherrschende Dynamik auf die eine oder andere Art verändern würde (nein). Sie lernte nur ein für alle Mal, dass Sex ohne Liebe durchaus spannend und befriedigend sein kann, doch Sex ohne Seele wie ein Salat ohne Dressing ist – eine Schüssel Viehfutter, geeignet für Rinder und Ziegen. Doch das Schicksal wollte es, dass die vorherrschende Dynamik trotzdem verändert wurde, und im folgenden Jahr fing Stubblefield damit an. Er lud Lisa in die Villa ein, bewirtete sie mit Speisen und Getränken und setzte sie dann auf seinen breiten Schoß. Als sie sich dort gemütlich zusammenkuschelte, überraschte er sie mit der schockierenden Erklärung, dass er sie Dickie vermachen werde. «Egal, auf welchen Teil von dir ich mit Fug und Recht Anspruch erheben könnte – und ich bin eitel genug, ihn für relativ groß zu halten –, ich überlasse ihn hiermit unvoreingenommen, ohne Bedauern oder sonstige Bedingungen meinem Freund Goldwire. Keine Widerrede, bitte. Keine Diskussion. Es ist mein Geschenk an euch beide, ein Segen, den ihr verdient.» Er lächelte gelassen und wischte ihr eine Träne von der Wange. Lisa sah ihn an, sie betrachtete ihn lange und aufmerksam, doch seine Haltung verriet keine Spur von Bosheit, Ablehnung, mangelndem Ernst, Unaufrichtigkeit, Manipulation, Selbstmitleid oder falscher Noblesse, und sie konnte auch 224
keinen erkennbaren Hinweis auf die gute alte StubblefieldPerversion erkennen. «Such nicht nach Beweggründen», mahnte er. «Ich bin, was ich es. Es es, was es ist. Wir behalten es für uns, um unseren unschuldigen Goldwire nicht zu belasten, und solltest du unbedingt darüber nachdenken wollen, so stell es dir vor als … als den Schatten einer rückwärts fliegenden Wildente.» Nun weiß jeder Mann, der auch nur eine leise Ahnung von der weiblichen Psyche hat, dass jede gewöhnliche Frau, die von ihrem Geliebten erfährt, dass er sie seinem Rivalen «vermacht», Gift und Galle spucken und ihn aus tiefstem Herzen hassen würde – gleichzeitig aber doppelt so sehr begehren wie je zuvor, und dass sie weder ruhen noch rasten würde, bis sie auf irgendeine Art einen Weg gefunden hätte, ihm seinen Irrtum klar zu machen, wobei die Glut ihres Verlangens, ihn zurückzugewinnen, durch den Einsatz poetischer Bilder wie «der Schatten einer rückwärts fliegenden Wildente» erheblich gesteigert würde. Ach, aber Madame Ko war keine gewöhnliche Frau. Ziemlich rasch verstand sie, was Stubblefield im Hinblick auf Dickie bewog, und verzichtete darauf, weitere Fragen zu stellen oder auch nur ein Wort des Widerspruchs zu äußern. Von diesem Abend an war sie Dickies Freundin und erwiderte dessen Liebe, so gut sie konnte. Am Ende akzeptierte sie sogar seinen Heiratsantrag, obgleich ihr auf furchtbare Weise bewusst war, dass eine Zeit kommen würde, da ihr ererbtes physiologisches «Phänomen» ihn verstören und verletzen und sie beide auseinander reißen würde. * Mit dem neuen Programm für 2001 wollte der laotische Nationalzirkus erst im November eröffnen, wenn die 225
Monsunwolken sich ausgeregnet hatten und wie leere Weinschläuche davongewirbelt worden waren. Doch bereits am Ende der ersten Septemberwoche begannen die Arbeiter, das Innere des Hong Kanyasin zu streichen, Kulissen und Kostüme auf Vordermann zu bringen und die neue Beleuchtungsanlage und Aufhängung zu testen. Das Hippodrom wimmelte von Menschen, überall schepperte und raschelte es. Als Lisa an der Eingangsrampe stand und Maler, Elektriker, Schneiderinnen und Aushilfen sah, die alles für die kommende Saison vorbereiteten, spürte sie ein Flattern im Bauch, das nichts mit dem besonderen Teig zu tun hatte, der in ihrem Innern aufging. Es dauerte nicht lange, bis sie die Aufmerksamkeit des Zirkusdirektors auf sich zog. Er war mittlerweile in den Siebzigern und würde bald in den Ruhestand treten. Der alte Herr eilte herbei, um sie zu begrüßen, erklärte, wie sehr es ihn bekümmert habe, dass sie ihre wundervollen Tiere verloren hatte, und wie inbrünstig er sich wünsche, dass sie eine neue Truppe aufbauen und sich in ein oder zwei Jahren auf der Weltbühne zurückmelden werde. «Es war einmalig, wie deine Vorstellung die Leute berührte», sagte er. «Nichts kann sich damit messen, gar nichts.» Lisa bedankte sich, tätschelte die leichte Wölbung ihres Bauchs und erklärte, dass sie bald andere Prioritäten haben und ihm daher in den Ruhestand folgen werde. Man kann dem alten Zirkusdirektor nicht vorwerfen, dass ihm bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken lief, denn er erinnerte sich an den Tag, an dem ihre Mutter ihre Schwangerschaft bekannt gemacht hatte. Er dachte daran zurück, wie O-Ko mit dem gleichen (zuvor nicht existenten) Sprachfehler gesprochen hatte, wie sie sich anschließend verändert hatte, sogar als sie wieder normal hatte sprechen können, und schließlich nach einer Weile aufgebrochen und – soweit er wusste – spurlos von der Erdoberfläche verschwunden war. Zu höflich oder zu verwirrt, um seinen Gedanken Ausdruck zu 226
verleihen, drückte der Zirkusdirektor Madame Ko die Schulter, wünschte ihr zehntausendmal Glück und verabschiedete sich unter dem Vorwand, noch einen Haufen anderer Dinge zu tun zu haben. Lisa wanderte weiter ins Innere des Zirkuszelts hinein und setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, direkt vor der Manege, wo sie mit ihren kuriosen Gefährten einst die Massen unterhalten hatte. Der Zirkusdirektor hatte gesagt, Madame Kos Nummer sei mehr als nur unterhaltsam gewesen, sie habe die Leute irgendwie «berührt» – den Beweis für die Behauptung war er jedoch schuldig geblieben, und deshalb ist unklar, was er damit meinte. Sicher waren die Kunststücke, die die Tanukis vollführten, weder einmalig noch spektakulär gewesen. Sie hatten hauptsächlich Rad oder Purzelbaum geschlagen, sich zur Pyramide aufgestellt, Volleyballspiele und Ringkämpfe simuliert, waren durch Reifen gesprungen, am Ende der Vorführung sogar durch einen brennenden Reifen, und hatten alle möglichen Gegenstände auf der Schnauze balanciert. So musste ihre Fähigkeit, das Publikum zu «berühren», wie der Zirkusdirektor es ausdrückte, auf etwas anderem beruhen als dem eigentlichen Repertoire und zweifellos auch auf Qualitäten jenseits der beiden Testosteronbälle, die zwischen den Tanukihinterbeinen baumelten. Es stimmt zwar, dass die grandiose Gonadenshow vielen Zuschauern ein Kichern, anderen ein ungläubiges oder auch angewidertes Murmeln entlockte, und es stimmt sogar, dass sich in einigen amerikanischen Städten christliche Wächter über den natürlichen und unfreiwilligen Körperschmuck der armen Tiere beschwerten und forderten, dass man sie entweder kastrierte oder aus dem Zirkus verbannte, doch da der Leser vermutlich noch nie einen lebendigen männlichen Tanuki gesehen hat, sollte man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die prallen Billardkugeln zwar auffallend sind, sich aber in keinster Weise mit dem legendären Skrotum von Tanuki persönlich messen 227
können. Man stelle sich nur mal vor, wie das in einer Samstagsmatinee angekommen wäre! Letztlich basierte die Attraktion von Madame Kos Auftritt nicht auf bestimmten Fähigkeiten, sondern auf dem Erscheinungsbild dieser Tierchen, nicht cleveren Tricks, sondern der paradoxen und unschlagbaren Würde, mit der diese pummeligen Wesen, deren Verhalten so linkisch schwerfällig und cartoonhaft wirkte, ihre Nummern darboten – und nicht zuletzt auf dem unübersehbaren Vergnügen, das sie offenbar an sich selbst fanden. Exotische Geschöpfe zu sehen, die (zum gespielten Kummer ihrer Dompteuse) spontan ein HopsasaTänzchen hinlegten, eine übermütige Gigue à la Chaplin, strotzend vor Pathos und mühsam unterdrückter Aufsässigkeit, und zu hören, wie sie ihre Slapstick-Schritte plötzlich begleiteten, indem sie sich auf ihre Parabolbäuche trommelten und dabei einem Rhythmus folgten, der auf anarchistische Weise explosiv und gleichzeitig so gelassen und elegisch war wie Bachs Fugen (pla-bonga, pla-bon-bon-bonga-ga-ga), das hieß, sich dem zu stellen – im Scheinwerferlicht und dreidimensional –, was Alfred North Whitehead gemeint haben muss mit seiner Bemerkung, dass «die Vorstellung des Lebens eine gewisse Absolutheit an Selbst-Erleben impliziert». Vielleicht lag der rührende Aspekt darin, dass Madame Kos Tanukis in den Muskeln der Zuschauer eine kinetische Erinnerung an die unschuldige Freiheit der frühen Kindheit auslöste, als man sich aus einer munteren Laune heraus auf den Kopf stellen, in schierer Lust herumspringen, -plumpsen und hüpfen konnte, ohne dass einem etwas peinlich war, man deswegen verurteilt wurde oder sich am Riemen reißen musste. Vielleicht aber waren es auch «erwachsenere» Assoziationen. Beispielsweise die Erinnerung an einen sturzbesoffenen Betriebsausflug mit Picknick auf dem Land, nur dass jetzt verrückte kleine Tiere als Stellvertreter fungierten und einem die Möglichkeit gaben, diese herrlich befreienden und rebellischen 228
Augenblicke noch einmal zu durchleben. Wobei die Fassade zivilisierter Respektabilität gewahrt blieb und weder der Ruf im Bekanntenkreis, die Ehe oder der Job in Gefahr geriet. Vielleicht aber erkannten Zirkusbesucher auf einer gänzlich unbewussten Ebene in den Kapriolen der Tanukis – Kapriolen, die dumm und tollpatschig, zugleich aber kühn und gelungen waren – eine Analogie zu ihrem eigenen sinnlos hoffnungsvollen Schlingerkurs in einem komplexen, unbeständigen Universum, wo jeder selige Tanz im verlängerten Schatten des Todes endet. Vielleicht wurden sie inspiriert, und sei es nur für eine Nacht, der Fähigkeit der Tanukis zum SelbstErleben nachzueifern, eine Gabe, die zum Geburtsrecht jedes Homo sapiens gehören musste. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sind all diese Interpretationen einfach nur Götterspeise, also genau die Art von Schwachsinn, der, wie manche Leute glauben, ein Minimum göttlichen Interesses an unserer in Misskredit geratenen Rasse garantieren soll. In Lisas Fall war es sicherlich mehr Nostalgie als Analyse, was sie auf ihrem Platz vor der leeren Manege festhielt. Doch da saß sie und blickte reglos vor sich hin, und wer weiß, wie lange sie in dieser Haltung verharrt hätte, wäre da nicht plötzlich das Gefühl eines Mundes gewesen, der sich warm und vertraut auf ihren Nacken presste. * Sobald der von der Regierung geleaste Learjet nach dem Start von Hickam Field auf Hawaii seinen endgültigen Kurs eingeschlagen hatte, nahm man Dern Foley die Handschelle am linken Handgelenk ab. Die rechte Hand blieb an einen in der Kabinenwand eingelassenen Stahlring gekettet. Technical Sergeant Canterbury saß neben ihm auf der anderen Seite des 229
Gangs und behielt ihn im Auge. Canterbury, der mehrere asiatische Sprachen sprach und diverse Kampfsportarten beherrschte, war mindestens genauso kräftig wie Dern und zehn Zentimeter größer. In dieser Hinsicht, aber auch nur in dieser, fühlte sich Colonel Patt Thomas sicher. Noch nie in seiner gesamten Karriere war Thomas zu einer Mission aufgebrochen, deren Parameter so unzureichend definiert waren wie diese. Gewiss, das Ziel bestand darin, herauszukriegen, ob Foleys Fliegerkameraden in der als «Smarty Pants» bekannten B-52 ebenfalls irgendwo in Südostasien am Leben waren, und falls ja, inwieweit sie – und möglicherweise auch noch andere MIAs? – in irgendwelche Aktivitäten als Rauschgiftschmuggler verwickelt waren. Doch sollte er, bei einem derartigen Mangel an Hinweisen, einem Minimum an Unterstützung und einem nicht gerade kooperativen Verdächtigen entgegen allen Erwartungen diese Fragen tatsächlich klären, was dann? Aufgrund der mit der Desertion verbundenen Aspekte konnte man den Fall nicht einfach der DEA aufbürden. Amerika hatte es bereits mit einem kriminell gewordenen vermissten Soldaten zu tun, einem Helden, der zum Verräter geworden war. Würden zwei weitere dieses Schlages die Kacke nicht noch mehr zum Dampfen bringen? Tja, und angenommen, er würde keine Spur von Goldwire und Stubblefield finden – eine durchaus denkbare Möglichkeit – oder weitere Informationen bezüglich der Quelle von Foleys Rauschgift: was dann? Was machte er dann mit diesem mondgesichtigen, schmallippigen, Bibel lesenden Arschloch? Sollte er ihn den Behörden in Thailand oder Laos ausliefern und sie unter Druck setzen, damit sie ihn in einer rattenzerfressenen Zelle in der Bambushölle des Hinterlands schmoren ließen und dafür sorgten, dass die ausländischen Medien niemals Wind davon bekamen? Er hätte nicht unbedingt seine Pension auf ein Happy End für dieses Szenario gewettet. Ich könnte ihn 230
umbringen, dachte Thomas, aber da er in den fünfundzwanzig Jahren seines Militärdiensts noch nie jemandem das Leben genommen hatte – zumindest nicht direkt –, mangelte es dieser Vorstellung an glaubwürdiger Entschlossenheit. Besser gesagt, ich könnte ihn umbringen lassen. Einer von Mayflowers aalglatten arroganten Fatzken würde das nur allzu gern übernehmen. Ich könnte auch Canterbury befehlen, ihn aus dem Weg zu räumen. Schmutziges Geschäft, aber die Alternative wäre, den Scheißkerl wieder in die Vereinigten Staaten zurückzuverfrachten und dann undichte Stellen zu stopfen, die Schwestern aus dem Konzept zu bringen, die ganze Chose von vorn zu beginnen. Au Mann! Mehr aus Frust als sonst was klickte der Colonel seinen Sicherheitsgurt auf, schlenderte ans Ende des Flugzeugs und tauschte seinen Platz mit Sergeant Canterbury. Dern studierte die Bibel. Thomas starrte ihn an, bis er gezwungen war aufzusehen. «Was machen Sie da, Mann?», fragte Thomas. «Suchen Sie etwa nach einem Schlupfloch?» Zu seiner Überraschung fing der Gefangene tatsächlich an zu grinsen. Er schlug mit der Faust auf die Bibel. «Wenn ich das täte hätte ich Glück. Es gibt kaum was, das sich nicht mit dem einen oder anderen Spruch hier drin rechtfertigen ließe. Zweideutigkeiten und Widersprüche, daraus besteht die biblische Anleitung.» «Was Sie nicht sagen!» Thomas fühlte sich ermutigt. Dies war das erste Mal, dass er Foley drei zusammenhängende Sätze hatte sprechen hören. «Welche denn zum Beispiel?» «Nun, zum einen sind wir angehalten, Rache zu üben: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Zum anderen lehrt Jesus Christus, die andere Wange hinzuhalten und seine Feinde zu lieben. Das ist natürlich eine relativ leichte Entscheidung. Wenn man als echter Mann vor der gleichermaßen frommen Wahl zwischen altruistischer Nächstenliebe und entsetzlicher Verstümmelung steht, was wird man dann wohl tun?» 231
«Ich verstehe, was Sie meinen. Aber wissen Sie, man hat nicht häufig mit einem Schriftgelehrten im Rauschgifthandel zu tun. Das ist doch auch eine Art Widerspruch, finden Sie nicht, Foley?» Als Dern nicht antwortete, nickte der Geheimdienstoffizier erneut in Richtung Bibel. «Sie suchen dort also nach Gott?» Der Gefangene lachte spöttisch. «Hier drin?» Doch nach einem Augenblick setzte er hinzu: «Oh, vermutlich kann man Gottes Fingerabdrücke auch in einem Buch finden, sogar in einem so kunterbunten Mischmasch aus Mythos, Geschichte, Genealogie, Erfindung, Poesie, sexuellen Phantasien und Politik wie der Bibel, aber» – und damit zeigte er aus dem Fenster – «in diesem Riff da unten steckt erheblich mehr von Gott. Wenn ich glaubte, ich müsste nach Gott suchen, würde ich es an solchen Orten tun.» Gutes Zeichen, Mann!, dachte Thomas. Hauptsache, ich kann ihn am Reden halten, wer weiß …? Gleichzeitig war er sogar vage interessiert. «Das heißt vermutlich, dass Sie einer von diesen Umweltschützern sind.» Dern sah verwirrt aus. «Diesen was?» «Umwelt – ach, zum Teufel, wahrscheinlich gab es sie noch nicht, als Sie Amerikaner waren. Das sind, äh, ja, das sind Leute, die Ökologie – also Pampa, Sümpfe, Elritzen und gottverdammte gefleckte Eulen – höher einstufen als den Fortschritt. Höher als unsere Wirtschaft. Höher als die nationale Sicherheit. Der unberührte, verwanzte ‹natürliche› Zustand ist das Stärkste überhaupt für solche Typen. Wir nennen sie Baumumarmer.» Thomas hätte erwartet, dass Foley fragte, wozu eine Wirtschaft gut war, wenn ihr Erfolg und ihr Schutz darauf basierten, dass Menschen in einer hässlichen, sterilen, ungesunden Umgebung leben mussten – dieses Argument hatte er schon früher gehört und musste zugeben, dass es nicht leicht 232
zu widerlegen war –, doch der ehemalige Pilot zuckte nur die Achseln und sagte: «An Bäumen ist mehr dran, als man denkt. Ich habe in meinem Leben schon Bäume gesehen, die ich lieber umarmen würde als eine Frau.» So unvermutet diese Bemerkung auch sein mochte, Pitter Patt ließ sich die Chance auf eine Fortsetzung des Gesprächs nicht entgehen. «Da wir gerade von Frauen sprechen … sind Sie da drüben eigentlich verheiratet?» «Wo drüben?» Verflixt! Nun ja, versuchen konnte man es. «Laos.» «Wollen Sie mich etwa als Ungeziefer beschimpfen, Colonel?» Verflixt und zugenäht! «Ich hab bloß gefragt, ob Sie verheiratet sind.» Zum zweiten Mal an diesem Tag öffneten sich Derns Lippen zu einem angedeuteten Grinsen. «Nicht im juristischen Sinn», räumte er ein. «Und was ist mit Ihnen? Sind Sie verheiratet?» «Äh, ja. Bin ich.» «Hab Ihre Frau aber nie gesehen in Ihrer Luxussuite in Frisco. Darf sie Sie nicht im Büro besuchen?» Wer befragte hier eigentlich wen? Aus einem Bedürfnis heraus, das stärker war als das Protokoll, ließ Thomas sich zu einer Antwort herab. «Sie ist gerade in Louisiana und kümmert sich um meine Schwester.» «Ihre Schwester ist krank?» «Bauchspeicheldrüsenkrebs.» So, wie ihm das Wort über den Gaumen schrappte, hätte man dort auch ein «Implantat» vermuten können. «Verdammt, das ist wirklich schlimm. Er ist besonders schmerzhaft.» Thomas seufzte. «Extrem schmerzhaft. Wirklich extrem. Und es hört einfach nicht auf. Keins von den Scheißmedikamenten 233
nimmt ihr die Schmerzen.» Zum ersten Mal überhaupt sah Dern dem Colonel direkt in die Augen. Augen, die braun wie eine Bierflasche und in diesem Augenblick so feucht wie der Putzlappen eines Schankwirts waren. «Man sagt, dass Heroin sie lindern kann», bemerkte er. «Das habe ich auch gehört. Aber man kann ihr kein Heroin geben. Es ist gegen das Gesetz.» «In den Vereinigten Staaten.» «In anderen Ländern auch.» «Stimmt. Aber es gibt ein paar Kliniken auf der Welt, die ihre Kranken trotzdem damit behandeln.» Thomas runzelte die Stirn. «Welche Kliniken?» Zweifel und Misstrauen verschleierten jeden Anflug von Hoffnung oder Interesse, die möglicherweise in seiner Stimme mitschwangen. «Ach, na ja, medizinische Kliniken. Sicher und sauber, mit richtigen Ärzten. Ich selbst war nie in einer, ich habe nur geholfen –» Dern stockte. Dem Colonel entging es nicht. «Ich habe gehört, dass man dort sehr mitfühlend ist. Es gibt viele frische Blumen und leise Musik und sogar seelischen Beistand, wenn der Patient es wünscht. Dort versetzt man die Leute nicht in Tiefschlaf, sondern verabreicht ihnen gerade genug von dem Zeug, um den Übergang zu erleichtern. Macht einem das Sterben so angenehm und schmerzlos wie möglich.» Danach sagte Thomas für lange Zeit nichts. Dern war es ganz recht. Er hatte ohnehin das Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben. Also widmete er sich wieder seiner Bibel und meditierte über den Vers, in dem es heißt, dass die Lilien auf dem Felde sich nicht die Mühe machen, Buletten zu wenden oder die Karriereleiter eines Konzerns zu erklimmen. Zehn Minuten mussten verstrichen sein, als Thomas sich mit leiser Stimme 234
erkundigte: «Können Sie mir die Adresse von so einer Klinik geben?» Dern zog die Nase hoch. «Ich bin doch keine Auskunftei.» «Aber Sie könnten es?» «Vielleicht. Ich müsste drüber nachdenken.» «Worüber?» Dern klappte die Bibel zu, lehnte den glänzenden Kahlkopf zurück und schloss die Augen. Nach geraumer Zeit sagte er: «Vergessen Sie’s.» «Könnte man Sie nicht dazu bewegen –» «Nein», fauchte Dern. «Könnte man nicht. Ihnen darf man nicht über den Weg trauen. Ich kenne den Eid, den Sie geschworen haben. Ich habe ihn selbst abgelegt. Sie haben geschworen, zu unterstützen und zu verteidigen, was auch immer sich eine Bande von habgierigen Hillbillies und verlogenen Dreckskerlen ausdenkt, um der Verfassung ihre eigene verbohrte, inkompetente, selbstsüchtige, völlig korrupte Interpretation aufzuzwingen … Vergessen Sie’s. Sie haben geschworen, Ihre Pflicht zu tun, Thomas, und Menschen Ihres Schlages haben noch nie zugelassen, dass das Leid unschuldiger Menschen ihnen bei ihrer Pflichterfüllung im Weg steht. Nicht mal Ihr Gewissen, falls Sie überhaupt noch eins haben, würde Ihnen dabei im Weg stehen. Früher oder später wird der schmale Kanal, der in Ihrem Denken vielleicht noch offen steht, von Angst und Ambitionen überflutet werden, Sie hören, wie die Pflicht ruft, Sie hören, wie das Pentagon ruft, Sie hören, wie Macht, Ehre, Recht, Yankee und Doodle rufen. Sie … hören Sie, mag ja sein, dass Sie Schwarzer und für einen Stabsoffizier halbwegs auf Zack sind, aber trotzdem bleiben Sie nun mal ein williges Rädchen im großen hässlichen Getriebe des patriarchalischen Fortschritts, und die Vögel da auf Ihren Epauletten sind Raubvögel. Sie müssen mit denen tanzen, die Sie zu dem gemacht haben, was Sie sind, Colonel, und mögen 235
die Götter, einschließlich der Baumgötter, Erbarmen mit Ihrer armen Schwester haben.» Obgleich Derns leidenschaftliche Rede in einem relativ gemäßigten Ton gehalten wurde, schien diese verbale Anstrengung – untypisch für jemanden, der so sehr zur Einsilbigkeit neigte – ihn erschöpft zu haben. Mit einer müden Geste schlug er die Bibel wieder auf, als suchte er Zuflucht in einem nur allzu vertrauten Terrain. Colonel Thomas wandte den Blick ab. Dann stand er auf und kehrte an seinen Platz im vorderen Teil der Maschine zurück. * Madame Phom – die junge Madame Phom, Enkelin des seiltanzenden Patriarchen – und Lisa Ko waren zusammen aufgewachsen. Als beste Freundinnen waren sie daran gewöhnt, sich ständig zu umarmen, zu küssen und anzufassen. Die Tatsache, dass Lisas kleines Abenteuer mit Bardo Boppie-Bip ein für alle Mal ein neues Licht auf solche Intimitäten geworfen hatte, hinderte sie kaum daran, die Zärtlichkeiten des ZirkusStars zu erwidern. «Phommie! Hmmm. Darling! Was machst du denn hier?» «Ich bin gerade angekommen. Ich will mir den Aufbau ansehen, den wir in dieser Saison benutzen. Aber was hat dich hierher verschlagen, Schätzchen? Und wieso sprichst du so komisch?» «Ach, ich habe einen entzündeten Zahn. Ein Abszess, glaube ich. Morgen gehe ich zum Zahnarzt. Aber in Bangkok.» «Ja, ja. Die thailändischen Zahnärzte sind viel besser. Ich wünschte, ich könnte mit dir nach Bangkok kommen. Wäre das nicht lustig? Aber ich muss in ein, zwei Tagen nach Fan Nan Nan zurück.» 236
Im gleichen Augenblick, als Madame Phom ihre Pläne enthüllte, flammte eine Lampe in einem Hinterstübchen von Lisas Großhirn auf, wo die Dilemmazwillinge im Dämmerlicht Pingpong gespielt hatten. Egal, was dabei herauskam, sie wusste, was sie als Nächstes tun würde. «Phommie, könntest du mir einen großen Gefallen tun und einen Brief für mich in Fan Nan Nan abgeben? Besser gesagt, zwei Briefe. Würdest du das machen?» Als Madame Phom ohne zu zögern einwilligte, entschuldigte Lisa sich, um Papier, Bleistift und ein Plätzchen zu suchen, wo sie ungestört schreiben konnte. «Lass dir Zeit», sagte ihre Freundin (in Wirklichkeit sagte sie natürlich das laotische Äquivalent für Lass dir Zeit). «Ich muss dem Lichttechniker über die Schulter gucken. Manchmal glaube ich, die Geschäftsleitung will uns Seiltänzer mit den Scheinwerfern blenden, um der blutdürstigen Masse noch einen Extrakick zu verschaffen.» Lisa borgte sich das Büro des Zirkusdirektors aus. Dort saß sie nun und presste den linken Zeigefinger so nachdenklich und so fest gegen ihre leicht schief geratene Nase, dass ihr Gesicht vorübergehend seine Symmetrie zurückgewann. Ein Hollywood-Anwalt hätte vermutlich in derselben Zeit, die Lisa brauchte, um zwei kurze Briefe zu schreiben, die erste Fassung eines Ehevertrags entwerfen können. Doch so kurz die Briefe auch waren, als sie sie in ihre Umschläge steckte und zuklebte (das Ablecken der Laschen sorgte für einen unangenehmen Druck auf die Schwellung im Mund), hing eine so dichte Aura von Endgültigkeit in der Luft, dass man eine Gabel gebraucht hätte, um sie umzurühren. No news is good news in Cognito Addresses are damn hard to find. The queen of spades runs the mailroom 237
And all the postmen are legally blind. * Obgleich Colonel Thomas aus zuverlässigen Quellen gehört hatte, dass es sich beim Hotel Green Spider um einen obskuren, aber gemütlichen Unterschlupf handelte, wo nie die falschen Fragen gestellt wurden, runzelte er unbehaglich die Stirn, als der Pförtner Dern Foley wieder zu erkennen schien. Im Lauf der nächsten sechsunddreißig Stunden sollte er noch häufiger und mit ausgeprägterem Unbehagen die Stirn runzeln, während er vergeblich darauf wartete, dass der nebulöse freiberufliche Geheimagent und angebliche Computerfreak seine Anrufe erwiderte. Thomas und Sergeant Canterbury hatten nebeneinander liegende Zimmer. Dern wurde in Canterburys Quartier untergebracht und ans Wasserrohr gekettet, dem einzigen Metallstück weit und breit. Die Tür zwischen den beiden Zimmern stand offen, sodass Dern und der Sergeant zusehen konnten, wie Thomas auf und ab ging, auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Er wirkte nicht besonders beunruhigt, war jedoch ruhelos, ein wenig frustriert und dachte offensichtlich über etwas nach. Als das Telefon endlich klingelte und das emphysematische Pfeifen der Klimaanlage unterbrach, fuhren alle drei zusammen. Es meldete sich jedoch nicht der freie Mitarbeiter, sondern der amerikanische Geschäftsmann und ehemalige Informant, der jenen, ohne irgendwelche Einzelheiten zu kennen, seinem alten Kumpel Thomas als kenntnisreichen, diskreten und effektiven Kontaktmann empfohlen hatte. «Sorry, Patt, die Sache läuft nicht. Als unser Mann erfuhr, in welchen Kreisen du Spion spielst, hat er den Schwanz eingezogen.» «Du meinst, er hat was gegen unseren heiligen Mayflower? 238
Das ist gut, das ist ein sehr gutes Zeichen. Der Typ gefällt mir. Sorg nur dafür, dass ich mit ihm sprechen kann, und in drei Minuten habe ich ihn diesbezüglich beruhigt. Mach einen Termin für mich aus.» «Das kann ich nicht. Er hat die Stadt verlassen. Ist mit einer seiner Frauen irgendwo nach Süden verduftet.» «Einer von ihnen? Wie viele Frauen hat der Bursche denn?» «Nur zwei, glaube ich.» «Nur zwei. Wie schade. Diese Thai-Frauen sind spitze, Mann. Ich wusste gar nicht, dass sie hier drüben auf Polygamie stehen.» «Tun sie auch nicht. Eine seiner Frauen ist Europäerin, die andere Amerikanerin.» «Jetzt hör aber auf! Willst du mich etwa verscheißern?» «So hab ich’s gehört, und sie sind nicht etwa Mormonen. Es sind verrückte Zeiten, Patt. Wir schreiben das Jahr 2001. Überall sind die seltsamsten Dinge im Gang. Du hast dich zu lange in deinem Büro eingesperrt.» «Da hast du Recht, Bruder. Wie Recht du doch hast. Ich bin wild entschlossen, dieses stickige Zimmer zu verlassen und mir heute Abend die Szene von Bangkok zu Gemüte zu führen. Kümmer du dich inzwischen weiter um unseren Bigamisten, okay? Bleib ihm auf den Fersen, rede mit ihm, setz ihm die Pistole auf die Brust, sag ihm, ich bin der spitze Stein in Mayflowers Gallenblase, und wenn er sich erweichen lässt, ruf mich auf dem Handy an. Danke, Mann. Gott schütze dich.» Etwa eine Stunde später tauchten der Colonel, der Sergeant und der MIA in beinahe identischen Klamotten – Khakihosen und blauen Polohemden – Seite an Seite ins Nachtleben von Patpong ein. Die Handschellen (die im Hotel nicht mal ein Stirnrunzeln provoziert hatten) waren mittlerweile verschwunden, doch Thomas und Canterbury hatten Dern in die 239
Mitte genommen und hielten ihn so unauffällig wie möglich am Ellbogen oder am Hemd fest, während sie ihn gleichzeitig als Führer benutzten. Je dichter die Menschenmenge wurde, umso schwieriger war es, dieses Arrangement aufrechtzuerhalten. Mehr als einmal fand sich einer der beiden Wärter entweder vor oder hinter seinem Kollegen und dem Gefangenen. Auf diese Weise erreichten sie das Zentrum von Patpong. Plötzlich krachten lauter einander überbietende Lärmraketen aus allen Richtungen auf sie nieder: Geschwader von musikalischen Flugkörpern, abgefeuert aus übereinander gestapelten japanischen Verstärkern und voll aufgedrehten Jukeboxen. In der fleischdampfenden tropischen Luft schwammen unzählige entzückende Lächeln und attraktive Angebote, mit denen man sie begrüßte. Selbst die Gossen schienen mit berauschendem Parfum gefüllt, einer flüssigen Mischung aus buddhistischem Weihrauch, Kokosnusscocktails, blubberndem Speiseöl, Gewürzen, bei denen sich einem die Zunge pellte, dem göttlichen Geruch von Gras und den süßen Girlie-Duftmarken, die entweder deren Kosmetiktaschen entströmten oder biologische Ausdünstungen waren. Die Amerikaner spürten ein Prickeln, als hätten sie Sauerstoff im Blut, als sie sich von dieser geheimnisvoll-anrüchigen Pracht einhüllen ließen, die so alt war wie die Natur selbst. Es war, als blätterten sie durch die dreidimensionalen Seiten eines Herrenmagazins im VR-Format, publiziert in Gomorrah von Dragon Ladys nymphomanischen Nichten. Die Seiten waren dick und feucht, und die «Leser» wurden allmählich durstig. Sie steuerten gerade auf den nächstbesten gin garden zu, als ihnen ein älterer Herr in fleckigem, zerknittertem Anzug den Weg versperrte. Er wirkte zwar einigermaßen heruntergekommen, strahlte jedoch einen Ernst und eine Würde aus, die sie daran hinderte, ihn einfach beiseite zu schieben. Colonel Thomas war an der Spitze gegangen, und der alte Mann sprach ihn an. «Hey, Mister», fragte er allen Ernstes, «Sie 240
wollen sehen Mädchen ficken Tanuki?» «Wie bitte?» Thomas traute seinen Ohren nicht. Der Professor wiederholte höflich seine Einladung. «Sie wollen sehen Mädchen ficken Tanuki?» Thomas lachte belustigt. Dann drehte er sich zu Canterbury um. «Haben Sie das gehört?» Doch Canterbury hatte nichts gehört, denn Canterbury war von zwei atemberaubenden halbwüchsigen Prostituierten abgelenkt, die sich als katholische Schulmädchen herausgeputzt hatten. Thomas wandte sich an Foley. Doch Foley hatte ebenfalls nichts gehört – denn Foley war gar nicht mehr da. Dern Foley war bereits einen halben Block von ihnen entfernt und rannte, rannte so schnell er konnte, rannte mit Volldampf durch das Gewimmel. Er schnitt Fußgängern den Weg ab, wich ihnen aus, stolperte, duckte sich, drehte sich um sich selbst, breitete die Arme aus und warf die anderen um, er rannte herrlich, unschlagbar wie der Außenverteidiger am College, der er immer hatte sein wollen. Fluchend nahm Sergeant Canterbury die Verfolgung auf, doch Dern steuerte eher noch tiefer ins Chaos von Patpong hinein als heraus, stürzte sich in ein Durcheinander, das ihm – im Gegensatz zu den anderen – vertraut war, rannte voller Inspiration, und Thomas wusste, dass der Sergeant zwar mehr als zwanzig Jahre jünger war als Dern, aber trotzdem keine Chance hatte, ihn zu erwischen. Der ist weg, sagte sich Thomas. Dieser vermisste Soldat wird nun gleich doppelt vermisst. Thomas drehte sich zu dem Professor um. Der kleine Mann war einfach stehen geblieben, stoisch, ungerührt und undurchschaubar. «Sie wollen sehen …» Der Colonel grinste. «Bring mich hin», sagte er. «Und nenn mir deinen Preis.» 241
* Als die Seiltänzerin Madame Phom nach Fan Nan Nan zurückkehrte, traf sie Dickie Goldwire nicht zu Hause an. Er war an diesem Mittag zum Dorf der Hmong hinaufgestiegen, um zu sehen, ob er auf Pump genügend Rubine an Land ziehen könnte, um seine finanzielle Batterie aufzuladen. Der Tag neigte sich dem Ende zu, doch er war noch nicht wieder da. Da sie zur Villa Incognito und zurück gelangen musste, bevor die Dunkelheit eine Überquerung des Seils verhinderte, legte sie Lisa Kos Brief auf die Habseligkeiten, die Dickie in der Mitte seiner Hütte aufgestapelt hatte. Es sah aus, als bereitete er sich auf eine lange Reise vor. Madame Phom fragte sich, was los war, doch in dem Moment, als sie den balancehaltenden Fuß geschickt auf das Stahlseil setzte, löschte sie alle Gedanken an Lisa und Dickie aus ihrem Bewusstsein und konzentrierte jedes Erg ihrer geistigen und körperlichen Energie auf das, was sie tat. «Ohne Netz aufzutreten ist Ekstase», hatte Papa Phom ihr immer wieder eingehämmert, «ohne Fokus aufzutreten hingegen tödlich.» Daher achtete sie kaum auf belanglose Dinge wie den Kuckuck, der an dem Seil vorbeisauste und eine leuchtend goldene Nudel im Schnabel hielt. Der Hausdiener Lan ließ sie in die Villa eintreten, bedeutete ihr aber mit einer Geste zu schweigen, denn Mars Albert Stubblefield sprach gerade in einem mit Menschen voll gestopften Zimmer. Lan flüsterte, die Lektion habe erst vor kurzem begonnen, Madame könne sich also glücklich schätzen, nichts verpasst zu haben. Noch ehe die Seiltänzerin antworten konnte, wandte er sich ab, um sich in der ersten Reihe der Zuhörer auf den Fußboden zu hocken. Als Lan seinen Platz wieder eingenommen hatte, nickte Stubblefield Madame Phom zu, spülte seine Tonsillen mit kaltem Champagner und fing noch einmal von vorn an. «Wie bereits gesagt, vielen von euch ist die lange Abwesenheit von 242
Monsieur Foley sicher aufgefallen. Es gibt sogar ein paar junge Damen unter uns, die bereits Anzeichen von Vernachlässigung zeigen.» Stubblefield lächelte, doch da es nicht nötig war, die fraglichen jungen Damen extra aufzurufen, denn sie waren in einer unübersehbar zickigen, nervösen und reizbaren Verfassung, fuhr er fort: «Die meisten von euch haben jedoch nicht die kleinste Anspielung darauf gemacht, weder durch die Blume noch offen, dass mein und euer Freund mittlerweile seit mehreren Wochen verschwunden ist. Gewiss, es herrscht in dieser Gegend stets eine bewundernswerte Diskretion, die angeboren oder später erworben sein mag, und vielleicht ist Foley auch noch nicht lange genug weg, um Besorgnis auszulösen, doch ich bin überzeugt, dass ihr euch nicht anders verhalten würdet, falls seine Abwesenheit sich eines Tages als endgültig erweisen sollte. Das liegt daran, dass ihr Asiaten um die Unbeständigkeit der materiellen Welt wisst und sie akzeptiert, während wir im Westen uns mit Zähnen und Klauen daran klammern, dass alles so bleibt, wie es ist. O ja.» Stubblefield war barfuß und trug seinen geliebten Anzug aus violetter Seide ohne Hemd, sodass die Tätowierung in voller Pracht sichtbar war. Während der morgendlichen Toilette, bei der er gewöhnlich gebadet und mit diversen Ölen gesalbt wurde, hatte eine seiner Konkubinen frische Blumen in seinen Bart geflochten (vermutlich wilde Chrysanthemen, wenn man an die Jahreszeit denkt). Trotz aller Hochachtung behandeln die Mädchen ihn wie ein Spielzeug, dachte Madame Phom. Sie schwenkte den Brief, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch er kam gerade erst in Schwung und ließ sich durch nichts ablenken. «Im Westen haben wir ein verzweifeltes Bedürfnis nach Sicherheit, nach Erklärungen, nach dem Absoluten. Eine euphemistische Umschreibung für unseren einsamen Monogott lautet ‹der Absolute›. Es ist möglicherweise ein Witz, aber zufällig passt dieser Titel zu ihm. Gott ist tatsächlich absolut. 243
Absolut rätselhaft. Absolut mehrdeutig. Absolut unbeständig. Haha. In dieser Welt, die von Gott (oder der Mutter Natur) geschaffen wurde, sind es immer Gefahr und Wandel – Gefahr und Wandel –, die sich durchsetzen und damit alle Vorstellungen von Beständigkeit ad absurdum führen. Merkwürdigerweise aber empfinden wir in unserem Inneren immer dann die Präsenz des Absoluten am klarsten, wenn wir uns gestatten, das Ungewisse zu akzeptieren, ja, es willkommen zu heißen und zu kultivieren. Wer mit Ambiguität nichts anfangen kann, wird sich auch nichts aus Gott machen.» Es ging etwas Hypnotisches von Stubblefields Redeschwall aus. Madame Phom verstand nur die Hälfte, doch sie wäre gern geblieben und hätte sich auch den Rest angehört. Noch lieber wäre sie geblieben, um am anschließenden Abendessen teilzunehmen, dessen köstlicher Duft bereits aus der Küche drang, wo die Frauen bei der Vorbereitung waren. Doch leider würde es nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang dauern, daher hatte sie keine andere Wahl, als aufzubrechen. Noch einmal schwenkte sie den Brief, doch Stubblefield achtete nicht darauf, sondern stürzte sich in einen Exkurs über chronisch unsichere, egomane amerikanische Patrioten und ihre Neigung, die Lektionen der Geschichte und die Unausweichlichkeit der Veränderung zu vergessen. «Im Grunde ihres Herzens zwar insgeheim verunsichert, haben sie – weil sie nun mal verblendete Narzissten sind – sich eingeredet, dass ihre Nation die mächtigste ist, die es auf Erden je gegeben hat oder geben wird. Sie ignorieren die noch viel glanzvolleren Reiche, die in der Vergangenheit untergegangen sind. Weil es bequemer ist, vergessen sie, dass die Vereinigten Staaten gerade mal zweihundertfünfundzwanzig Jahre existieren und in zweihundertfünfundzwanzig Jahren vielleicht gar nicht mehr da sind. Die imposanten Wolkenkratzer, die jeder in diesem Raum für eindrucksvolle Symbole Amerikas hält, sein 244
Reichtum und seine Stärke können durch einen Eingriff der Natur oder des Menschen buchstäblich über Nacht zu Staub zerfallen. Widersprüchlicherweise beharren viele amerikanische Christen zwar einerseits darauf, dass Amerika für alle Zeiten Bestand haben wird, bekennen sich andererseits aber auch zu dem Glauben, dass das Ende der Welt in allernächster Zukunft bevorsteht – je eher, desto besser. Ihr seht also, dass sie das Prinzip des Absurden geradezu verkörpern, obwohl sie es weder erkennen noch davon profitieren können.» Er seufzte. «Ich muss zugeben, dass ich ihre großspurige Art von Schizophrenie fast vermisse. Ja. Manchmal sehne ich mich einfach danach. Es ist eine perfekte Tragikomödie. Faszinierend wie eine Schlange.» Diese letzten Worte und noch viele, die ihnen folgten (bereitete der Redner sein Publikum etwa auf sein eigenes unmittelbar bevorstehendes Verschwinden vor?) erreichten Madame Phoms Ohren nicht mehr. Nachdem sie Lisas Brief über die Teakholzschwelle von Stubblefields privatem Arbeitszimmer geschoben hatte, schlüpfte sie leise durch die große Vordertür hinaus. Sie lief über das Stahlseil, was auf berauschende Weise immer eine Herausforderung war, obwohl es längst Routine hätte sein müssen, und ging nach Hause, wo sie sich, erschöpft von der langen Reise aus Vientiane, bald zu Bett begab. Sie träumte schon (seltsamerweise von Vögeln und leuchtenden Nudeln), als Mars Stubblefield und Dickie Goldwire ihre Briefe entdeckten und lasen. Mein Liebster, mein Mentor, Freund, Geliebter und ja, auch mein «Vater», ich habe dir schon vor langer Zeit gesagt, dass ein Tag kommen wird – und jetzt ist dieser Tag da. So begann Lisa Kos Brief an Stubblefield. Darin erklärte sie ihm, dass der Schlüssel zu ihrer Zukunft ihr ganzes Leben lang 245
in der Vergangenheit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und Urgroßmutter verborgen gewesen sei. Nun endlich stehe ich kurz davor, das Geheimnis meiner Familie zu entdecken und herauszufinden, was mich so geprägt hat und mich von anderen Frauen unterscheidet. Vielleicht stellt es sich als etwas Unbedeutendes heraus, als banal, eine Enttäuschung. Doch je dramatischer sich der Zustand meines Gaumens verändert, umso mehr zittere ich vor Angst, dass etwas dahinter steckt, das zu seltsam ist, als dass ich es erklären oder ertragen könnte. Okay, es ist, was es ist, und ich bin, was ich es, aber seine Istheit und meine Esheit scheinen die Bedeutung von «ist» und «es» ins Unermessliche auszudehnen. Trotzdem bin ich (und ich weiß, wie sehr du das Paradoxe schätzt) zugleich von einem überirdischen Glücksgefühl erfüllt! Ich habe ein Gefühl, eine Ahnung, dass die Sache, die mich so ungewöhnlich macht, eigentlich allen Menschen gemein ist. Sie ist nur bei mir, in meiner mütterlichen Ahnenreihe, auf einzigartige Weise ausgeprägt. Bin ich eine Art Rückfall, das lebende Echo eines älteren, ursprünglichen Zeitalters – oder bin ich die vorzeitige Botin (die frühe Warnung) einer Zeit, die erst noch kommen wird? Könnte es sein, dass ich – wie ich dir bereits angedeutet habe – ein physiologisches Phänomen, das ich von zwei oder drei Generationen wurzelloser, primitiver, zenbesessener, abergläubischer Frauen übernahm, obendrein immer weiter ausgeschmückt, jetzt mit einer übertriebenen, theatralischen Bedeutung erfülle? Ich hoffe, dir eines Tages eine Antwort darauf geben zu können, Geliebter, obwohl es im Augenblick kaum vorstellbar ist, dass wir uns je wieder begegnen werden.
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Dann offenbarte Lisa ihm, dass sie schwanger war: Du kannst es glauben oder nicht, aber auch das war mir vorausgesagt worden. Ich kann dir nicht verraten, wer der Vater ist. Es ist nicht so, dass ich nicht will: Ich kann es nicht. Ich hatte vor, das Kind in Dickies Haus als Dickies Frau zur Welt zu bringen, und wenn der Tag kommen würde, an dem ich gehen müsste (um mein Schicksal zu erfüllen, wenn das nicht zu hochtrabend klingt), wollte ich das Kind seiner Obhut anvertrauen, denn ich weiß, dass er ein wundervoller Vater wäre. Doch Derns Verhaftung machte uns einen Strich durch die Rechnung, wie du sagen würdest. Jetzt muss Dickie – und du auch – wahrscheinlich fliehen, überstürzt aufbrechen, und vielleicht werdet ihr verfolgt. Immer auf der Flucht zu sein oder sich in einer großen Stadt verstecken zu müssen wäre kein Leben für meine kleine Tochter. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie in unmittelbarer Nähe zu dem aufwachsen muss, was von der natürlichen Welt noch übrig ist. Und wenn Dickie gefangen und eingesperrt wird, was dann? Was die Schwangerschaft und mein Bedürfnis wegzugehen betrifft, so habe ich auch Dickie geschrieben. Natürlich wird es ihn sehr treffen. Er steht dir ebenso nahe wie mir, und deshalb musst du ihm helfen es zu – nicht zu verstehen, denn er wird es niemals verstehen –, aber es zu akzeptieren. Dickie besitzt im Grunde seines Herzens eine große Fähigkeit zur Freude, einer Leichtigkeit, die weniger kompliziert ist als deine aggressive joie de vivre, und du musst mir versprechen, dass du ihm nicht erlauben wirst, sie zu verlieren oder sich in Verzweiflung zu flüchten. Das ist mein Abschiedswunsch. 247
Es folgten ein paar Zeilen liebevoller Erinnerungen an ihre – Lisas und Stubblefields – gemeinsame Zeit, Zeilen, die ebenso anmutig wie ein Phom über den schmalen Grat wanderten, der das Spirituelle vom Erotischen trennt. Sie endeten folgendermaßen: Die schönen Dinge, die du mir beigebracht hast (ganz abgesehen natürlich vom schönen Du-weißt-schonwas), lassen sich gewissermaßen als Negierung jener Weisheit sehen, die mir von meinen Ahnen überliefert wurde, aber ich glaube trotzdem, dass die Lektionen mir genützt haben. Man erreicht kein Nichtbewusstsein, wenn man kein Bewusstsein hat, von dem man ausgehen kann. Je heller das Bewusstsein leuchtet, umso sanfter ist die Stille des Nichtbewusstseins am Ende. Ähnlich einem umgestülpten Eimer, der einmal randvoll war und jetzt viel leerer wirkt als einer, der niemals Milch enthielt. Danke, dass du mein Eimerchen gefüllt hast. * Der Veranstaltungsort lag über einer Bar und war zu klein, um sich Theater oder Club zu nennen. Eine morsche, schlecht beleuchtete Treppe führte dorthin. Die Bar war eine ziemlich heruntergekommene Spelunke, in der eher Zuhälter und Tuktuk-Fahrer verkehrten als Touristen. Dafür besaß das Theater (wir können es ruhig so nennen, denn immerhin verfügte es über eine winzige Bambusbühne) eine Art ausgleichende Eleganz, denn es war an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit Tüchern aus blutroter Seide drapiert. Gerade mal ein Dutzend Kaffeetische mit Polstersesselchen füllten den Raum und 248
verliehen ihm die Aura einer Eisdiele auf dem Weg zur Hölle, eine Aura, die von der fehlenden Klimaanlage oder dem Mangel an Ventilatoren noch verstärkt wurde. An einem Ende der kleinen Bühne stand ein Käfig, bedeckt von einem überdimensionalen weißen Leintuch, gerade richtig für ein Bankett. Am anderen Ende, rechts von dem Käfig und neben einem fleckigen Feldbett, saß eine unscheinbare, etwas rundliche Thailänderin in einem weiten Gewand auf einem niedrigen Plastikschemel. Sie wartete reglos und mit halb geschlossenen Augen, während es im Käfig hoch herging. Man hörte ein unablässiges Rascheln, das von Grunzen und Fauchen begleitet war, als könnte sein Bewohner es kaum abwarten, zu vollziehen … was vollzogen werden sollte. Colonel Thomas und Sergeant Canterbury hatten an einem Tisch im hinteren Teil Platz genommen. Der Sergeant wirkte aufgewühlt – sicher machte es ihm zu schaffen, dass er Dern Foleys Flucht nicht hatte verhindern können; der Colonel hingegen sah aus, als nähme er die Sache gelassener. Falls er sich überhaupt über was aufregte, dann war es der Preis, den man ihnen für das Bier abknöpfte. Die meisten Tische waren von japanischen Männern mittleren Alters im Straßenanzug besetzt. Sie kippten einen schlechten Thai-Whisky nach dem anderen, plapperten durcheinander, kicherten, schwitzten und fuchtelten mit ihren Kameras herum. Eine Ausnahme bildete der Tisch neben den Amerikanern. Dort saß eine hübsche Asiatin um die dreißig in einem jadegrünen hochgeschlossenen Kleid – allein, unnahbar, cool, mit merkwürdig glänzenden Augen – und nippte an einer Cola. Colonel Thomas ertappte sich dabei, wie er sie anstarrte. Dann knuffte er Canterbury in die Seite. «Diese Frau», raunte er ihm zu. «Die Frau da neben uns.» «Sir?» «Das ist die Frau aus dem Zirkus. In San Francisco. Bei dem 249
Programm, das ich gesehen habe, hat sie nicht mitgemacht, aber ihr Bild war in allen Anzeigen. Sie hatte die Nummer mit den Tanukis, die der besoffene Clown dann ruiniert hat. Ich würde meine Pension darauf verwetten, dass sie es ist.» Thomas hatte als Geheimdienstagent nicht etwa deswegen Karriere gemacht, weil er so unaufmerksam war. «Sehen Sie nur, sie trägt die schwarzen Stiefel. Vielleicht ist sie auf der Suche nach neuen Talenten oder so was. Recherchiert für ihr nächstes Programm. Ich werd verrückt.» Überzeugt, auf der richtigen Fährte zu sein, wollte Thomas die Frau auf sich aufmerksam machen. Er beugte sich zu ihr hinüber (höflich, so hoffte er), um sie anzusprechen. Doch noch ehe er den Mund aufmachen konnte, passierten zwei Dinge gleichzeitig: Die Beleuchtung wurde gedimmt, um den Beginn der Show anzukündigen, und sein Satellitenhandy klingelte. Um ein Haar hätte Thomas es abgestellt. Irgendwer entfernte das Leintuch vom Käfig, das Mädchen auf der Bühne ließ sein Gewand fallen, und die Frau, die er hatte ansprechen wollen, lächelte ihm zu. Wenn das kein schlechtes Timing war! Und wer hat behauptet, die Ironie sei tot? Am Ende behielt sein (neuerdings ziemlich wackliges) Pflichtbewusstsein allerdings doch die Oberhand. «Ja?» Sollte sich rausstellen, dass es Mayflower war, würde er stinksauer sein. «Colonel Thomas, haben Sie die Neuigkeiten schon gehört, Sir?» Die Stimme gehörte Lieutenant Jenks und klang zittrig. Verstört. «Was für Neuigkeiten denn?» Bis zu diesem Augenblick hätte Canterbury seine Pension darauf verwettet, dass ein Schwarzer nicht blass werden kann. Thomas drehte sich hastig zu ihm um. «Kommen Sie, Sarge! Nichts wie raus hier!» Der Sergeant sprang auf. «Foley?», fragte er hoffnungsvoll. 250
«Ach was, vergessen Sie den. In New York und Washington ist die Kacke am Dampfen. Terroristen. Ein unglaublicher Anschlag!» Er strebte auf den Ausgang zu. Als sie die Treppe hinuntereilten, folgte ihnen ein seltsames plabonga pla-bonga. Komisch. Sie hatten gar keine Trommeln auf der Bühne gesehen. * Die Angestellten der Queen-Anne-Postfiliale von Seattle waren an diesem Dienstagmorgen nicht bei der Sache. Kein Kunde beschwerte sich, denn auch sie waren von den schrecklichen Nachrichten abgelenkt, die unablässig aus dem Radio im hinteren Teil des Postamts drangen. Bootsey Foley war nicht die Einzige im Raum, die Tränen in den Augen hatte, allerdings waren es bei ihr möglicherweise mehr als bei den anderen. In der Frühstückspause schloss sich Bootsey trotzdem nicht den Kollegen an, die in die umliegenden Bars, Cafés oder Geschäfte strömten, um immer wieder die gleichen Fernsehbilder von den beiden Todesflugzeugen zu verfolgen, die in die Hochhäuser rasten. Stattdessen ging sie auf die Suche nach Pru, die den ganzen Morgen nicht zurückgerufen hatte und auch jetzt ihr Handy abgeschaltet hatte. Zum Glück lag die Key Arena nur ein paar kurze Blocks vom Postamt entfernt. Als Bootsey (die heute im Gegensatz zu sonst den «entzückenden» Herbsthauch in der Luft gar nicht bemerkte) dort ankam, las sie auf der elektronischen Anzeigetafel, dass die für den Abend geplante Aufführung abgesagt worden war. Das Gelände lag verlassen da, daher trat sie zu der Schlange an der Kasse, wo die Leute ihre Eintrittskarten zurückgaben. Der Kartenverkäufer erklärte ihr, dass wegen der Tragödie alle Mitarbeiter des Zirkus in ihre 251
Wohnwagen oder Hotels geschickt worden waren, doch sicher morgen wieder da wären, und sei es nur, um alles abzubauen. Bootsey hatte sich in fast fünfzehn Jahren nicht einen Tag krankgemeldet, daher gab ihr Chef ihr verständnisvoll den Nachmittag frei, als sie ihn darum bat. Sie leistete sich ein Taxi und war erleichtert und beunruhigt zugleich, als sie Prus alten schwarzgrauen Hyundai (bei dessen Anblick man unweigerlich an einen Blechkochtopf aus dem Zeltlager denken musste) in der Einfahrt entdeckte. Vor der Haustür blieb Bootsey stehen, überrascht, keinen Fernseher zu hören. «Ach, du je», murmelte sie. Sie öffnete die Tür und das «Ach, du je» nahm kein Ende mehr. Es war «ach, du je» hoch zwei, «ach, du je» hoch drei, «ach, du je» bis zur dreizehnten Potenz. Denn da saß Pru, zerzaust und lippenstiftverschmiert auf dem Sofa, in den Armen eines Clowns. * Dickie hatte das Gefühl, dass ihm der Atem stockte. Er schnappte nach Luft. Er fiel sogar auf die Knie. Der Brief flatterte ihm aus der Hand. Gewiss, es war ein sanfter Brief, zärtlich und liebevoll, aber letztlich war es eine Abfuhr, und eine Abfuhr dieses Ausmaßes ist so bitter, dass kein Löffel im Zuckerland eine Glasur dafür zustande gebracht und kein Sirup aus Afrika sie hätte versüßen können. Dickie war verwirrt und verletzt. Elend traurig. Und obendrein wütend. Nachdem er den Brief wieder aufgehoben hatte, stapfte er in seiner Hütte auf und ab. So einfach würde Lisa Ko ihm nicht davonkommen. Sie schuldete ihm noch eine saftige Erklärung. Wenn das Baby von ihm war, wie konnte sie wagen, es ihm vorzuenthalten? Und wenn nicht, wie konnte sie es wagen, 252
überhaupt eins zu kriegen? Glaubte sie etwa, nach so vielen Jahren könnte sie einfach eine Nachricht in seiner Hütte hinterlassen und …? Wo steckte sie eigentlich? Ach ja, klar! Es gab nur einen Ort, der in Frage kam. Als Dickie aus der Hütte stürmte, war er in einer solchen Verfassung, dass er sogar vergaß, den Schatz zu sichern, den er an diesem Nachmittag erworben hatte. Nachdem er ein halbes Dutzend besonders primitive, kleine und unansehnliche Rubine auf Kommission bekommen hatte, wollte sich Dickie schon von der Hmong-Witwe verabschieden, als sie in ihren Röcken kramte und einen ungewöhnlich großen und klaren Taubenblutstein zutage förderte, wobei sie sich nervös umschaute und vergewisserte, dass niemand vorbeikam. Dickie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Er konnte nicht glauben, dass sie ihm ein so seltenes, kostbares Stück anvertrauen würde – eigentlich hätte sie es den Ältesten der Hmong aushändigen müssen. Unter normalen Umständen hätte er den Stein nicht angenommen. Unter normalen Umständen hätte er auch nicht getan, was sie zum Dank dafür erwartete. Doch das waren alles andere als normale Umstände. Er hatte sein schlechtes Gewissen und seinen Widerwillen beschwichtigt, indem er sich an Miss Ginger Sweetie erinnerte und welche Verletzung ihrer Intimsphäre diese wunderbare Frau regelmäßig und fröhlich in Kauf nahm, um die Kontrolle über ihr Schicksal zu behalten. Am Ende hatte der prachtvolle Rubin Dickie erheblichen Auftrieb gegeben. Sein Anteil am Verkaufserlös hätte ihn – und letztlich auch Lisa Ko – ganz schön weit bringen können. Jetzt aber stürzte er aus der Hütte und ließ ihn auf dem Tisch liegen wie ein vergessenes Stück Chili (oder ein kleines janisjopliniertes Stück seines Herzens). Was er brauchte, war ein Seiltänzer. Doch in Madame Phoms Haus war leider alles dunkel und still. Er eilte zum Haus ihrer Verwandten. Sie saßen beim Abendessen und luden ihn ein, sich 253
zu ihnen zu setzen. «Sehr gutes tam màak hung.» Als er erklärte, er sei auf dem Weg zur Villa Incognito, lachten sie und wiesen darauf hin, dass es schon Nacht war. «Niemand kann im Dunkeln über das Seil. Nicht mal der Geist von Papa Phom.» Und dann lachten sie erneut. Es war klar, Dickie hätte erst mal Dampf ablassen sollen. Er hatte es schon mal überlebt, dass ihn eine abblitzen ließ (weißt du noch, Charlene aus Chapel Hill?), und gehörte nicht zu den Weicheiern oder Egozentrikern, die es sich gestatten, im schleichenden Formaldehyd anhaltender Depressionen zu versauern. Doch der grüne Wurm hatte ihn am Wickel, und er hatte keine Lust, still abzuwarten, bis er wieder losließ (was er unweigerlich tut, wenn man nur Geduld hat und der Blickwinkel sich wieder verändert). Dickie musste etwas unternehmen, selbst wenn es konfus, vergeblich und falsch war. Möglich, dass er die Traumschule erfolgreich abgebrochen hatte, aber noch stand sein Name, wie der so vieler Verliebter, offensichtlich auf der Liste von Amors Akademie Überflüssiger Melodramen. Draußen an der Schlucht war es stockfinster, und der Mond, bleich und wächsern wie das verhärmte Gesicht eines Junkies, ging gerade erst auf. Dickie aber brauchte weder Lampe noch Laterne. Seine glänzenden Augen quollen hervor wie die eines Lemuren, wie die eines hungrigen Halbaffen, der aus seinem Tagesschlaf gerissen wird. So stand er auf der Plattform und studierte mit diesen großen Buschbabyaugen jeden Zentimeter des Zirkusseils zwischen sich und der Villa Incognito, wo Licht aus allen Fenstern drang und vermutlich genau die Dinge abgingen, die er mit aller Macht aus seiner Vorstellung zu verbannen suchte. Mindestens zehn Minuten stand er so da, kämpfte mit sich und dachte zurück an das letzte und einzige Mal, als er die Schlucht allein überquert hatte. Obgleich menschliche Wesen im Großen und Ganzen furchtsam sind, hinter ihrer zivilisierten, technologisierten Maske genauso furchtsam wie einst in 254
Dschungeln und Höhlen, gibt es Gefühle, die den schwarzen Schweiß der Angst in rosa Limonade verwandeln können. Nicht, dass unserem Dickie kein Elektrobohrer im Magen gesurrt hätte: Klar hatte er Angst, und wie, aber diese Angst wurde genau wie sein Urteilsvermögen einfach überstimmt und hinweggeschwemmt. Und dann gab es da diese wahnwitzige Hingezogenheit, die er spürte – nicht zu luftigen Höhen, sondern zu tiefem Fall. * Er schloss erst die rechte, dann die linke Hand um das Seil. In seinem überhitzten Hirn ging es drunter und drüber, der Stahl in seinen Händen hingegen fühlte sich kalt und stabil an. Obwohl er sich über einen schier bodenlosen Abgrund spannte, ging etwas Beruhigendes von ihm aus. Als Dickie ihn mit seinen Händen packte, fühlte er sich geerdet, war gefasst, hatte ein Ziel vor Augen. Es war kein bestimmter Augenblick, in dem er entschied, es zu riskieren. Eher so, dass seine Füße in diesem Moment noch auf dem Boden neben der Plattform standen, wo auch die kleine Ko Ko so oft gestanden hatte, und im nächsten Moment in der Luft baumelten. Zentimeter für Zentimeter bewegte er sich vorwärts. Es war kühl hier draußen im freien Raum, still und friedlich. Dickie konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich je so allein gefühlt hatte: nicht einsam, sondern allein in einem ozeanischen Sinn, so, als gäbe es nur ein großes, allumfassendes, pulsierendes Leben im Universum, und das verkörperte er selbst. Gewiss, in seinen Armen machte sich die Anstrengung allmählich bemerkbar, aber er kam gut voran. Es war mit Sicherheit leichter, den Abgrund bei Nacht zu überqueren. Zentimeter für Zentimeter. Hand für Hand. Etwa um diese Zeit befreite sich der Mond aus dem Gewirr der 255
Teakbaumäste. Seine Strahlen fielen über ihn wie ein Netz, und Dickie kam sich vor wie ein riesiges silbernes Insekt. Mein Gott, dachte er – und etwas Ähnliches hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht –, wenn mich jetzt die Leute zu Hause in Carolina sehen könnten! Mittlerweile gab das Seil ein wenig nach, er musste also fast die Mitte erreicht haben. Es schien stärker durchzuhängen, als er vom letzten Mal in Erinnerung hatte, und auch mehr zu zittern, aber vermutlich hatte er seitdem ein bis zwei Kilo zugelegt. Offensichtlich waren es keine Muskeln, die für das zusätzliche Gewicht sorgten, denn seine Schultern fingen mittlerweile an, gewaltig zu schmerzen. Das Seil sackte noch mehr ab. Ein mächtiges Zittern durchlief es und erschwerte das Festhalten. Panik stieg in Dickie auf wie Benzin in einem Saugheber. Er hörte Geräusche, menschliche Laute, als lachte und fluchte da jemand vor ihm. Es klang ziemlich nah. Er reckte den Hals in Richtung Villa Incognito und entdeckte nur wenige Meter entfernt eine schattenhafte Gestalt. Ein eisiger Schauer durchfuhr ihn, als ihm klar wurde, dass noch jemand am Seil hing. * «Ach! Lieutenant Goldwire, nehme ich an?» «Stubblefield? Was zum −?!» «Wir müssen wirklich aufhören, uns immer auf diese Weise über den Weg zu laufen.» «Stubblefield! Was machst du da?!» «Frische Luft schnappen, mein Junge, frische Luft schnappen. Hmmm. Ein Abend, der die süßesten Wonnen verspricht.» Er schnappte nach Luft, ja, tatsächlich, er keuchte fast. «Ich bin ganz in meinem Element. O ja. Wo die Biene saugt, saug ich, 256
Fledermausflügel tragen mich.» Dieses Shakespeare-Zitat wurde von Schnaufern und Japsern unterbrochen. «Was zum Teufel machst du hier draußen?» In Dickies Stimme breitete sich Verzweiflung aus wie in seinen Armen der Schmerz. «Ich wollte dich besuchen (schnauf). Foley hat den Hubschrauber in Thailand stehen lassen. Ich wusste, ich hätte hinfahren und ihn abholen sollen. Lieber Himmel! Ich glaube, ich bin zu alt für so was (keuch). Hatte noch nie was übrig für Gymnastik. Hab die falsche Figur dafür.» «Aber … wo ist Lisa?» Stubblefield seufzte. «Lisa? Jedenfalls hängt sie nicht zweihundertfünfzig Meter über Terra Firma, das kann ich dir sagen.» Er seufzte erneut. «Keine Ahnung, wo Lisa steckt. Madame Phom (keuch) brachte mir ihren Brief. Sie hat dir auch geschrieben, nehme ich an. Ich dachte, vielleicht regst du dich auf. Ich wollte sehen, ob ich dich aufmuntern kann. Herr im Himmel! Meine Schultern bringen mich um.» Dickie wusste nicht, was er davon halten sollte. «Lisa war überhaupt nicht hier? Okay, jetzt kapiere ich, ja. Und du wolltest mich beruhigen?» «Ich bin dein offiziell bestellter Seelentröster.» Japsend, aber mit kindlichem Überschwang stimmte Stubblefield einen alten Song aus der Sonntagsschule an: «If you’re happy and you know it, clap your hands.» Er warf einen Blick auf das durchhängende Stahlseil, an das sie sich klammerten. «Doch wenn ich recht darüber nachdenke …» «Du bist verrückt, Stub.» «Nein, du bist verrückt. Ich bin hier, um dich wieder zur Vernunft zu bringen.» «Hör zu, wir müssen hier weg. Hangle zurück.» Dickies Supraspinatus- und Infraspinatusmuskeln waren wie brennendes 257
Napalm, die Brachioradialissehnen bis zum Zerreißen gespannt. «Weiß nicht, ob ich das schaffe …» «Nimm denselben Weg zurück, den du gekommen bist. Es ist kürzer. Ich komme nach. Los, mach schon!» Dickie hangelte sich vorwärts, doch Stubblefield hatte sich nicht gerührt. Jetzt hingen sie sozusagen Wange an Wange in der Luft. «Du (schnauf) befindest dich in meinem Territorium, Goldwire. Ich schwöre, du hast nicht mehr Respekt vor meiner Privatsphäre als die Frauen in meiner Umgebung!» Nicht weit von ihnen entfernt flogen ein paar erratische Fledermäuse im Zickzack vorbei. Ihr Zirpen und Piepsen bildete den Science-Fiction-Soundtrack für den Anblick der beiden Männer, die Seite an Seite über dem Abgrund baumelten. Hätte es tatsächlich einen Luftgeist auf dem Rücken einer dieser Fledermäuse gegeben, hätte er die Männer, deren Silhouette sich vor dem schwachen Mondlicht abzeichnete, vielleicht für einen Ausschnitt aus der Skyline einer fernen Stadt gehalten. «Los, setz dich endlich in Bewegung, verdammt!» «Okay, okay. Du drängst mich zum Rückzug, Goldwire. Ist dir eigentlich klar (keuch), dass ich meine Reputation (keuch) der Tatsache verdanke, dass ich immer nur vorwärts gehe? Au!» Langsam, unter schmerzlichen Anstrengungen turnten sie auf den Rand der Schlucht zu. Trotz des Ernstes der Lage konnte Dickie sich nicht beherrschen. «Was ist mit dem Baby?», rief er. «Baby (schnauf)?» «Wer ist der Vater?» Stubblefield hielt abrupt in seiner Bewegung inne, und Dickie wäre fast gegen ihn geprallt. «Geht dich nichts an.» Er schnaufte und keuchte. «Geht dich nichts an, Goldwire. Frauen haben ihre Geheimnisse. Akzeptier das einfach.» Seine Stimme wurde schwächer. «Unsere Lisa leidet an einer … einer magischen Krankheit – oder weißt du das etwa nicht? Lisa hat mit 258
bedeutenden Mächten zu tun (schnauf). Mächten, die Ehre und Respekt verdienen. Du und ich, wir müssen nur mit unserer Regierung fertig werden.» Dabei gluckste er in sich hinein, und während er das tat, rutschte seine rechte Hand vom Kabel ab. Sein massiger, in violette Seide gekleideter Körper baumelte jetzt nur noch an einem schwabbeligen Arm. «Durchhalten, Stub! Klammer dich am Seil fest, Herrgott!» Dickie wusste, wie schwierig das war, denn auch seine Finger wurden von Minute zu Minute tauber. «Pack es! Halt dich fest! Bitte, Stub! Mach schon!» Er schluchzte. «Bitte!» «Ich … habe meine Illusionen … über diese Art … des Reisens … verloren.» Stubblefield schaukelte jetzt wild hin und her. «Es ist … würdelos. Ich denke … ich nehme … eine andere Strecke.» Dickie hörte noch etwas, das sich so anhörte wie: «Lass sie im Dunkeln tappen!» Und dann war er weg. Weg. Einfach so. Dickie sah ihn nicht mal richtig fallen. Stubblefield war in einem Augenblick da und im nächsten nicht mehr. Die Sohlen von Dickies Füßen spürten die Leere unter sich so deutlich, als stünden sie auf einem Haufen spitzer Steine. Und aus der Tiefe des Abgrunds drang kein Schrei, kein Klatschen, kein dumpfer Aufschlag oder Champagnerrülpser zum Abschied, der so etwas wie ein Ende signalisiert hätte. Nur das Zirpen einer Fledermaus, der Ruf eines Kuckucks und das verführerische Summen des Nichts waren zu hören. * Anhänger von Carl Jung behaupten, es gebe keine Zufälle. Überdies kennen wir Leute, die uns glauben machen wollen, dasselbe treffe auf Irrtümer zu, und daraus wiederum könnte man ableiten, dass es dann auch keine glücklichen Fügungen geben kann. Wie auch immer, wer wollte entscheiden, ob es 259
reiner Zufall war oder eine unerklärliche Eingebung, was Colonel Patt Thomas am 15. September in den Chingo-doTempel von Tokio führte? Chingo-do ist ein den Tanukis geweihter Tempel, und Thomas war dort bestimmt nicht mit Absicht hingegangen. Gleich nachdem die Nachricht von den terroristischen Anschlägen eingetroffen war, hatte sich der Colonel via Telefon beim kommandierenden General der Air Force Intelligence Agency gemeldet. Thomas und Sergeant Canterbury erhielten Befehl, sich unverzüglich zur amerikanischen Botschaft nach Tokio zu begeben und dort für mögliche Missionen im asiatischen Raum bereitzuhalten. Gegen Ende ihrer kurzen Unterredung hatte Thomas erwähnt, dass der Deserteur Dern Foley «ausgeschaltet» worden war und vermutlich keinen Schaden mehr anrichten könne. (Dabei hatte der gute Pitter Patt die Finger auf dem Rücken gekreuzt.) Der General hatte nur «Gut» gemurmelt, und damit war die Sache erledigt gewesen. Mayflower Cabot Fitzgerald musste sich wohl oder übel damit abfinden, obwohl der Schwachkopf jetzt vermutlich Wichtigeres im Kopf hatte als unbequeme MIAs. Ja, es stimmt, es wehte ein übler Wind, der nichts Gutes verhieß. In Tokio hatte der Colonel einen alten Freund besucht. Bill Leworc war ehemaliger Geheimdienstagent, der mittlerweile für die Abteilung Öffentliche Angelegenheiten an der Botschaft arbeitete. Am Samstagnachmittag, als noch keine weiteren Anweisungen gekommen waren und Thomas nichts zu tun hatte, nahm er Leworcs Angebot an, ihm die Stadt zu zeigen. Thomas, der seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in Tokio gewesen war, nannte ihm mehrere Orte, die ihn interessierten. Darunter befand sich auch ein bestimmter Tempel – allerdings nicht der Chingodo-Tempel. Leworc kannte sich mit Tempeln nicht besonders aus, und so hatte er seinen Kumpel irrtümlich zum Chingo-do gebracht. (Irrtümlich?) Vielleicht wäre es korrekter, zu sagen, dass Leworc ihn nach 260
Senso-ji geführt hatte, eine weitläufige buddhistische Tempelanlage in Asakusa, wo stets lebhaftes Gedränge herrscht. Dieses Viertel war zusammen mit dem benachbarten Yoshiwara für Tokio einstmals das, was Patpong heutzutage für Bangkok ist. Der Chingo-do-Tempel liegt ganz in der Nähe von Senso-ji, an der Einkaufsstraße des Tempelbezirks, wo man alles Mögliche kaufen kann, angefangen von billigem Touristenkram bis hin zu echten Edo-Antiquitäten, und steht in loser Verbindung mit dem viel größeren Senso-ji. (Die fünfstöckige Pagode von Senso-ji ist von Gärten umgeben, während der Eingang des Chingo-do-Tempels neben einem Schuhgeschäft liegt.) Verwirrt? Ja, das war Bill Leworc auch. «Nee», sagte er, «hier ist es nicht.» Er blieb stehen, um die Plakette am zinnoberroten Torii-Tor zu studieren, und erklärte Thomas jetzt, dass der Oberste Priester des Chingo-do – der so genannten Halle der Wächter – ihn im Jahr 1872 einem zum Gott erhobenen Tier geweiht hatte, dem so genannten Waschbärhund, der früher in großen Scharen das Gelände des Senso-ji-Tempels bevölkert hatte. Angeblich hielt er Räuber fern und schützte vor Bränden. «Klingt wie eine Mischung aus Smoky the Bear und Sergeant McDuff», spottete Leworc und wollte schon weitergehen. «Vielleicht ist dein Tempel irgendwo in der Nähe.» «Warte mal», sagte Thomas. «Wollen wir ihm ruhig einen Besuch abstatten. Wenn es funktioniert, kann ich meine Hausratversicherung kündigen. Die verdammten Einbruch- und Feuerversicherungen treiben mich noch in den Ruin.» Trotz der tragischen Ereignisse der vergangenen Woche war der Colonel in einer seltsam ausgelassenen Stimmung. Vielleicht war es die Aussicht auf den nächsten Einsatz, vielleicht aber hatte es auch irgendwie mit der Nachricht in seiner Uniformtasche zu tun. Als er in jener Nacht des 11. September zum Green Spider Hotel zurückgekehrt war, hatte er unter seiner Tür einen Zettel gefunden, auf den Name und Adresse eines Hospizes auf den 261
Philippinen gekritzelt waren, wo die Schmerzen seiner todkranken Schwester möglicherweise mit Heroin gelindert werden könnten. Unterschrieben war der Zettel mit «der Baumumarmer». Die Amerikaner traten durch das Torii-Tor, bezahlten links an der Kasse ein lächerlich geringes Eintrittsgeld, gingen zwischen zwei ziemlich großen steinernen Laternen hindurch und näherten sich dem eigentlichen Schrein. Er war in keiner Weise bemerkenswert, dieser Schrein, aber rechts neben ihm sah man zwei Keramikfiguren, die seltsame, auf den Hinterbeinen aufgerichtete Tiergestalten darstellten. Sie waren eins zwanzig bis eins fünfzig groß, schwarz lackiert, mit runden weißen Bäuchen und weißen Ringen um die unübersehbar wahnsinnigen Augen. Da die Figuren ansonsten ziemlich manierlich und zivilisiert wirkten, kam Colonel Thomas gar nicht darauf, worum es sich da handeln könnte, bis Leworc sagte: «Ach, jetzt fällt es mir wieder ein. Diese ‹Waschbärhunde›, das sind die legendären japanischen Dachse, die, äh … ich glaube, Tanukis heißen sie.» Kaum hatte sein Freund diese Worte gesprochen, entdeckte sie Thomas. Hochgeschlossenes grünes Kleid, schwarze Lackstiefel, ein hübsches, leicht schief geratenes Gesicht und ein Funkeln in den Augen, das ihr eine verspielt-bedrohliche Ausstrahlung verlieh. Sie warf gerade ein paar Fünf-YenMünzen in den Opferstock. Ohne ein Wort zu Leworc zu sagen, ging Thomas geradewegs auf sie zu. Sie erwiderte seinen Gruß mit eisiger Höflichkeit. Dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf. «Ah so. Aus Bangkok. Ja, ich mich an Sie elinnern. Sie suchen überall nach Tanuki, ne?» «Wie meinen Sie?» Er folgte ihrem Blick zu den Keramikfiguren. Dann lachte er. «Nein, nein. Tue ich nicht. Purer Zufall.» «Ich nicht glauben. Ich glauben – wie Sie sagen? –, Sie stehen 262
auf Tanuki. Tanuki-Fan. Sie heimliche Mitglied von TanukiSekte.» «Nein, wirklich, ich habe keinen Schimmer von Tanukis. Ich war eigentlich auf der Suche nach einem anderen Tempel, einem ganz anderen Tempel. Mein Kumpel meinte, es könnte hier sein.» Sie hatte an einem Tisch gesessen, als er sie in Thailand gesehen hatte, und jetzt bemerkte er zum ersten Mal, dass sie ungefähr im sechsten Monat war. Die Nähte ihres Cheongsam spannten sich. Er deutete mit dem Kinn auf ihren Bauch und sagte: «Ich habe das Gefühl, Sie könnten wissen, wo er steht.» «Oh? Was Sie sprechen?» Thomas antwortete, es solle einen Tempel in Tokio geben, dessen Name ihm nicht mehr einfiele, wo schwangere Frauen hingehen, um die Götter zu bitten, dass ihr Baby gesund zur Welt kommt, und kinderlose Paare darum beten, dass sie ein Kind bekommen. Eine Art Geburtshilfeund Fruchtbarkeitstempel. «Ich nicht kennen solche Ort. Ich erst kurze Zeit leben in Tokio.» Sie musterte ihn neugierig. «Warum Sie suchen solche Tempel?» Aus ihm selbst unerfindlichen Gründen ertappte sich der Colonel in letzter Zeit dabei, ziemlich offen auf persönliche Fragen zu antworten, was nicht gerade ein Markenzeichen seiner Branche war. «Tja, wissen Sie, meine Frau und ich, wir haben es einfach nicht geschafft, Kinder zu bekommen. Ich bin fünfundvierzig und sie achtunddreißig, die Zeit läuft uns allmählich davon. Meine Frau hat im Fernsehen gesehen, dass es in Tokio einen Tempel geben soll, in dem Unfruchtbarkeit geheilt wird, und als sie hörte, dass ich herkomme, hat sie mich bearbeitet, damit ich vorbeigehe und es ausprobiere. Sie tat so, als wäre es nur ein Witz, aber sie stammt aus Louisiana und hat noch jede Menge alten Voodoo-Aberglauben im Blut.» Er 263
drehte sich um und warf einen Blick auf die Statuen. Erst jetzt fiel ihm das riesige Skrotum des einen Tanukis auf. «Diese Viecher könnten uns nicht zufällig behilflich sein, oder?» Lächelnd schüttelte Lisa den Kopf. «Nein, hier Sie finden nicht Hilfe. Diese Tempel hübsch, aber auch ganz schwer verrückt.» «Ja? Wieso? Was ist denn so schwer verrückt daran?» «Japanische Leute glauben, dass Tanuki ihnen schützen vor Räuber, aber Tanuki sein größte Räuber von allen. Tanuki klauen alles: Essen, Sake, Frauen.» Klingt ganz wie einige meiner Freunde, dachte Thomas. «Im Englischen», sagte er dann, «haben wir ein Sprichwort: Man braucht einen Dieb, um einen Einbrecher zu schnappen. Das geht heutzutage so weit, dass sich die so genannten Gesetzeshüter in den Vereinigten Staaten ziemlich strikt an dieses Motto halten. Vielleicht sind ja die Tanuki-Wächter auch genau die Richtigen für den Job.» Lisa warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. «Ich unterwegs zu mehr bessere Tanuki-Platz. Viel mehr besser. Sie lieben Tanuki, Sie heimliche Tanuki-Fan, Sie kommen mit mir, ich zeigen Sie. Beste Tanuki-Schrein. Ichiban. Nummer eins. Sie wollen sehen?» Mit einem seiner langen Finger winkte Thomas Leworc herbei, der diskret im Hintergrund gewartet hatte. «Bill. Komm mal her, ich möchte dir Madame Ko vorstellen. Sie hat angeboten, uns zum globalen Hauptquartier der Tanukis zu bringen.» Dann wandte er sich wieder Lisa zu. «Aber das ist was anderes als der Schuppen in Bangkok, oder?» Leworcs Verbeugung wäre für jeden außer einem Japaner so gut wie unsichtbar gewesen. Madame Ko, der bei der Bemerkung des Colonels das Blut in die Wangen geschossen war, erwiderte den Gruß. «Noch mehr Tanukis?», fragte 264
Leworc. «Wozu, um alles in der Welt?» «Ich bin ein Fan», sagte der Colonel und zwinkerte ihm zu. «Ein geheimes Mitglied ihrer Sekte.» Er warf eine Münze in den Opferstock, und dann gingen die drei plaudernd zur nächsten Bahnstation. Die Männer fragten sich, ob Lisa vielleicht an einer ernsthaften Sprachbehinderung litt (es klang, als hätte sie einen riesigen Kaugummi im Mund), doch keiner von beiden fragte danach. Der Schrein, den Lisa gemeint hatte, hieß Yanagi Mori. Merkwürdigerweise stellte sich heraus, dass er in Akihabara lag, einem von Tokios unscheinbarsten Vierteln, das hauptsächlich für seine billigen Elektronikgeschäfte bekannt ist. Yanagi Mori ist von einem roten Palisadenzaun umgeben und liegt an einer ärmlichen Gasse, die von kleinen Geschäften und Buden gesäumt ist. Seine Rückseite geht auf das betonierte Ufer des Flusses Kanda hinaus, eines urbanisierten Wasserlaufs, dessen kanalisierte grüne Fluten sich bemitleidenswert durch Tokio wälzen, vergleichbar dem Los Angeles River in L. A.: ein flüssiges Zeugnis für die gescheiterte Phantasie des Menschen. Obgleich die Tempelanlage selbst nicht größer wirkte als, sagen wir, der Parkplatz einer vorstädtischen McDonald’sFiliale, war sie voll gestopft mit Tanuki-Figuren aus Stein, Holz, Ton, rostigem Eisen und anderen, eher undefinierbaren Materialien. Einige geschnitzte Exemplare waren wirklich sehr kunstvoll gearbeitet, und die Amerikaner mussten zugeben, dass das Ganze eine angenehme Atmosphäre ausstrahlte. Sicher war es ein Ort der Verehrung, aber mit komischen Untertönen, als sollte verhindert werden, dass die Ehrfurcht in Frömmigkeit ausartete. Nachdem sie eine Weile zwischen den Statuen umhergewandert waren, deutete Thomas auf ein Gebäude innerhalb der Anlage. «Da scheint es noch mehr Tanukis zu geben.» 265
«Nein», antwortete Lisa. «Das sein die Kitsune-Schrein. Kitsune sein nicht gleich gleich wie Tanuki. Kitsune sein, was heißen bei euch … Fuchs. In Japan Fuchs und Dachs haben besondere Kräfte, und die Leute verehren, aber sind nicht wahre Götter. Kitsune die Fuchs sein Bote von Gott. Er laufen hin und her zwischen die Welten. Zwischen andere Welt und diese Welt. Manchmal er machen Unfug, machen Streiche, aber arbeiten sehr schwer. Tanuki arbeiten nie. Nur für Spaß. Essen, trinken, tanzen, Sex. Immerzu Spaß.» «Verstehe», sagte der Colonel. «Warum gehen wir dann nicht rüber zu Kitsune? Scheint, als sei Gevatter Fuchs der eigentlich Wichtige.» Lisa musterte ihn von der Wölbung seiner Schirmmütze bis zu den stumpfen Spitzen seiner Militärschuhe. Ihre Augen, so schoss es ihm durch den Kopf, leuchteten wie das Innere einer grünen Paprika, aus der ein Stück herausgeschnitten war. Ihr Lächeln schien keine eigene Farbe zu haben, sondern alle Farben in ihrer Umgebung an sich zu reißen. Es vermischte die diversen Töne und warf sie ihm wieder vor die Füße. «Oh?», fragte sie. «Sie nicht finden Spaß wichtig? Spaß nicht wichtig gleich gleich wie Arbeit? Vielleicht Spaß mehr besser? Sie nicht glauben?» «Es braucht nicht viel, um mich zu überzeugen, Madame Ko. Und Sie machen Ihren Job sehr gut.» Sein Lachen klang tief, aber unsicher und führte eine Menge Bayou-Schlick mit sich. Leworc mischte sich ein. «Der Colonel hat eigentlich überhaupt nichts gegen Spaß einzuwenden.» «Eigentlich nicht», stimmte Thomas zu. «Eigentlich überhaupt nicht. Jedenfalls beabsichtige ich, noch jede Menge Spaß zu haben, wenn ich die Last dieser Adler erst mal los bin.» Er klopfte auf seine Epauletten und erklärte, an Lisa gewandt: «In fünf Jahren werde ich pensioniert.» «Was Sie machen dann?» 266
«Oh, wir haben uns eine hübsche Zedernholzhütte in Oregon gekauft. In den Hügeln unweit von Grants Pass. Da werde ich Forellen angeln, mir ein Paar von diesen famosen TimberlandWanderschuhen zulegen und vielleicht ein paar amis kennen lernen, die nur mit mir Poker spielen wollen und sich nicht von morgens bis abends über das aktuelle Tagesgeschehen aufregen müssen. Die meiste Zeit werde ich einfach auf meiner Veranda sitzen, Whisky trinken und mich mit den Spechten unterhalten. Teufel auch, vielleicht stehe ich sogar hin und wieder auf und umarme einen Baum. Oder zwei.» Unbemerkt von den anderen tastete er nach dem Zettel in seiner Tasche. «Aber da wir diesen Schwangerschaftstempel nicht gefunden haben, wird es natürlich auch keine Spuren von kleinen Patschhändchen bei uns geben.» Er seufzte. Leworc grinste bei der Anspielung. Lisa dachte: Sei da bloß nicht so sicher! Offensichtlich hatte sie ihre entwischten Tanukis im Sinn, die sich am Grants Pass herumtrieben – doch dann fiel ihr plötzlich etwas anderes ein. Eine Vorstellung summte durch ihren Schädel wie eine Kohlmotte. Sie wandte sich zu einem der Steindachse um und gab vor, ihn zu studieren. Ihre Kiefer mahlten derart heftig, dass man hätte meinen können, sie kaute auf einem Knorpel herum, doch in Wirklichkeit dachte sie nur angestrengt nach. Außerdem schmerzte ihr Gaumen immer stärker. Mehrere Minuten vergingen, bis sie wieder zu den Männern zurückkehrte. Mit unerwarteter Kühnheit griff sie nach der rechten Hand des Colonels und legte sie auf ihren Bauch. «In kurze Zeit werde ich haben Baby-san. Ich gehen weg. Nicht können behalten Baby. Vielleicht ich kann geben Baby Sie und Frau.» Thomas war sprachlos. Leworc fragte: «Meinen Sie das ernst?» «Ja. So sein.» Sie drückte Thomas’ Hand fester. «Sie denken nach die ganze Nacht, Sie sprechen mit Frau. Morgen oder nächste Tag Sie kommen hierher zu Schrein.» Dann zeigte sie 267
auf ein anderes Gebäude innerhalb der Anlage, nicht viel größer als Dickies Hütte. «Hausmeisterhaus. Wenn nicht hier, Sie lassen Antwort bei Hausmeister. Okay? Wenn Antwort sein Ja, Sie kommen zurück an diese Platz in eine Jahr.» Sie sah auf ihre Uhr. «Eine Jahr. 15. September. Wenn Baby nicht mehr trinken an die Brust. Wenn ich nicht hier, Baby in Haus von Hausmeister. Für Sie. Ihr Kind. Ich sorry, keine Papiere.» Für einen Mann wie Thomas, der über ausgezeichnete militärische und CIA-Kontakte verfügte, würde es kein Problem sein, ein nicht registriertes Kind aus Japan zu schmuggeln, trotzdem war der Colonel erschüttert. Es entging ihm auch nicht, dass Madame Ko es vollkommen aufrichtig meinte, obwohl man sie kaum noch verstehen konnte. Als Antwort murmelte er nur: «Danke. Ich kann es gar nicht fassen. Danke. Ich werde Sie benachrichtigen. Wir werden darüber nachdenken und Sie dann benachrichtigen. Ich danke Ihnen.» Im gleichen Augenblick riss Lisa weit die Augen auf, und ihr Gesicht verzerrte sich. Sie legte eine Hand auf den Mund und krümmte sich. Thomas war überzeugt, dass sie sich im nächsten Augenblick übergeben würde. Peinlich berührt, aber doch besorgt standen die Männer daneben und wechselten hilflose Blicke. Lisa gab einen schrecklichen, würgenden Laut von sich und wandte sich von ihnen ab. Dann fing sie an, etwas aus ihrem Mund zu ziehen. Etwas Helles. Weiches. Erstaunlich Großes. Eine volle Minute starrte sie auf etwas, das aussah wie eine wunderschöne frische Chrysantheme. Speichel glitzerte darauf wie Tau. Sie hielt sie hoch, damit die Männer sie sahen. Dann lächelte sie entschuldigend, aber auch mit einem Anflug von Stolz. Schließlich drehte sie sich um, ging rasch zum Schuppen des Hausmeisters und verschwand darin. «Lieber Himmel!», fluchte Bill Leworc. «Was zum Teufel war denn das?» «Oh», antwortete Colonel Thomas geringschätzig und 268
bugsierte seinen Freund Richtung Ausgang. «Madame Ko ist beim Zirkus. Das war nur irgend so ein Trick.»
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EPILOG I Stubblefields Leiche wurde nie gefunden. Daraus resultierte die logische Annahme, dass seine Überreste einem Tiger zum Opfer gefallen waren. Es war jedoch ein bisschen seltsam, dass ein Durchkämmen dieses Teils der Schlucht keinen einzigen Knochen, keinen Fetzen des violetten Seidenanzugs und kein Stück des Rucksacks zutage förderte, den er bei sich gehabt hatte (offensichtlich, weil er die Nacht bei Dickie hatte verbringen wollen). Die Suchmannschaft, zu der auch Dickie und ein halbes Dutzend schluchzender junger Frauen gehörten, entdeckte an einer Stelle, wo der Fluss über die Ufer getreten war, zwei tiefe Löcher im Schlamm, und da jedes etwa den doppelten Umfang eines menschlichen Beins hatte, kam die Theorie auf, dass Mars Albert Stubblefield mit den Beinen voran im Schlamm gelandet war und den Sturz wunderbarerweise überlebt hatte. Ein solches Wunder wäre keineswegs beispiellos. In Neuseeland etwa war einmal ein Fallschirmspringer, dessen Schirm sich nicht öffnete, in einem widerlichen Ententeich gelandet und ohne einen Kratzer nach Hause gegangen. Es gab ein paar Dorfälteste, die behaupteten, seine Tätowierung habe Stubblefield vor Tigern geschützt. Auch sie argumentierten, dass er gesund und munter war und womöglich mit einer Tanuki-Familie in einer Höhle lebte. Ein etwas glaubwürdigeres Gerücht, das von einigen weit gereisten Zirkusartisten nach Fan Nan Nan getragen worden war, wollte wissen, dass er sich nach Hongkong durchgeschlagen habe, wo er schon lange ein Konto eingerichtet und man ihn früher schon bei mehr als einer Gelegenheit angetroffen hatte. Angeblich hatte er sich in einer prächtig ausgestatteten Dschunke im Hafen verkrochen und schrieb seine 270
Memoiren. Nun, das könnte ein Buch werden, das für einiges Aufsehen sorgt. Wahrscheinlich würde es Lass sie im Dunkeln tappen heißen und einmütig attackiert werden. Jedenfalls von Leuten, die die Vorstellung, dass im Leben eines Individuums der Sinn für Ästhetik authentischer und auch löblicher ist als politisches oder religiöses Feingefühl, unerträglich finden. Bis eine solche Autobiographie jedoch erscheint, müssen wir wohl oder übel davon ausgehen, dass Mars Albert Stubblefield tot ist. Lang lebe Mars Albert Stubblefield. * Nach einem letzten halsbrecherischen Flug in der klapprigen «Smarty Pants II» nahm Dern V. Foley die Villa Incognito erneut in Beschlag. Er entließ das Personal und entlohnte es mit Teppichen und Teilen des Mobiliars. Die Konkubinen, darunter auch seine Lieblingsgespielin, wurden mit kostbaren objets d’art beschenkt und weggeschickt. Am gleichen Tag durchtrennte Dern mit einer Bügelsäge die Spanndrähte auf seiner Seite der Schlucht. Dann sägte er auch das Stahlseil des Zirkus durch. Als er fertig war, baumelte es nutzlos von der gegenüberliegenden Felskante und erinnerte im Schein der Nachmittagssonne an eine überdimensionale leuchtende Nudel, die über den Rand einer Schüssel hängt. Nachdem Foley ohne jedes Vorurteil sämtliche Verse unzählige Male sorgfältig studiert hatte, doch in keinem eine rationale Rechtfertigung für die weit verbreitete Überzeugung gefunden hatte, dass sie «das Wort Gottes» repräsentierten, legte er die Bibel endgültig beiseite und wandte seine ganze Aufmerksamkeit der Fauna und Flora in der Umgebung zu. Und sollte die Anrufung der «Naturgeister» sich am Ende doch wieder nur als Tanz um den Sog eines spirituellen schwarzen 271
Lochs erweisen, ein kraftloses Ausquetschen der kosmischen Steckrübe – nun, dann blieb immer noch der Weinkeller und das chandoo. Ganz zu schweigen von der exquisiten, wunderbaren Freude, die er in jedem bewussten Augenblick seines Lebens darüber empfand, wieder einmal dem stählernen Netz der Behörden entwischt zu sein. * Da wir gerade bei Behörden sind: Colonel Patt Thomas wurde vorübergehend nach Pakistan abbeordert. Doch bevor er nach Karatschi aufbrach, traf er sich noch einmal mit Lisa Ko am Tanuki-Schrein, wo er ihr erklärte, dass seine Frau und er nach einem einstündigen Telefongespräch mit großer Freude beschlossen hatten, ihr Angebot zu akzeptieren, und das kleine Mädchen adoptieren würden. In der Vergangenheit hatten sie sich nicht so recht mit der Vorstellung einer Adoption anfreunden können, doch diesmal war es irgendwie anders. Natürlich ergaben sich einige Fragen. Die nach der Identität des Vaters zum Beispiel. Als Madame Ko erklärte, die könne sie nicht beantworten, zuckte Thomas nur die Achseln und schrieb diese Aussage der Promiskuität zu, die im Showbusiness anscheinend gang und gäbe ist. Ebenso vage äußerte Lisa sich darüber, wo und wie das Paar sie im Verlauf des kommenden Jahres erreichen könne. Thomas verabschiedete sich jedoch mit dem Eindruck, dass sie einen Großteil der Zeit am Yanagi-Mori-Schrein verbringen werde und möglicherweise über den Hausmeister dort kontaktiert werden könne. Über ihren Aufenthaltsort nach der Übergabe des Babys an das Ehepaar Thomas sagte sie nur, dass sie sich irgendwo in die Wildnis des Biwa-Sees zurückziehen werde, wo immer das sein 272
mochte. Was sie dort vorhatte, wollte oder konnte sie nicht sagen, stellte aber klar, dass sie nicht zurückkommen werde. Nie mehr. Sie würde nur einen versiegelten Brief hinterlassen, den ihre Tochter lesen sollte, wenn sie die Pubertät erreichte. Da dies Madame Kos einzige Bedingung war, gab ihr der Colonel sein Wort darauf. Dann trafen sie die letzten Vereinbarungen. (Übrigens sprach Lisa perfekt, und es gab auch keine Zaubertricks mehr.) Vor seiner Abreise aus Tokio sorgte Thomas noch für etwas anderes. Allem Anschein nach würde seine Frau demnächst seine Schwester zu einer bestimmten Klinik unweit von New Delhi begleiten, wo sie sanft und in Würde sterben konnte, so wie jeder Mensch es verdient. Nur zu diesem Zweck kann Gott – oder Mutter Natur, wenn Sie so wollen – den Schlafmohn erschaffen haben. Pru Foley brannte mit Bardo Boppie-Bip nach New York durch und wurde wenig später Produzentin ihrer Kabel-TV-Show: Clownerien für Schwule und Lesben, Möchtegern-Schwule und -Lesben und Nichtsahnende. In ihren E-Mails an Bootsey machte Pru einen durchaus glücklichen Eindruck; allerdings entschlüpfte ihr einmal das Eingeständnis, dass sie nur dann romantische Gefühle entwickeln könne, wenn ihre Partnerin als Clown im getupften Anzug und mit weiß geschminktem Gesicht auftrat – ein Spleen, der mit einiger Wahrscheinlichkeit noch für Probleme sorgen würde. Bootsey war nicht ganz so einsam, wie jedermann befürchtete. Zur großen Überraschung im Postamt ließ sie sich eine grüne Strähne ins Haar färben, schminkte sich schwarze Ringe um die Augen, steckte sich ein Bukett aus schwarzen Papierrosen an und fing an, Etablissements wie den Werewolf Club zu besuchen, die alle erst gegen Mitternacht öffneten. Sie hatte vor, 273
eine satanische Sekte zu infiltrieren, in der Hoffnung, Kontakt zu anderen Satanisten in Los Angeles zu bekommen und eines Tages Dern aus dem Playboy Mansion zu befreien. Ihr Status in den lokalen Grufti-Zirkeln erlitt jedoch einen fatalen Rückschlag, als eines Abends jemand zufällig mitkriegte, wie sie Halloween als den «süßesten Feiertag überhaupt» und den ersten heftigen Herbststurm als «himmlisch» bezeichnete. Die minderwertigeren Rubine brachte Dickie in Bangkok an den Mann. Dann reiste er mit Hilfe seines falschen französischen Passes per Zug nach Singapur, wo er den Taubenblutstein für ein kleines Vermögen verkaufte. Zurück in Thailand, sorgte er dafür, dass Xing der Hmong-Witwe ihren Anteil am Erlös überbrachte, und besuchte wenig später Miss Ginger Sweetie. «Dickie!», kreischte sie. «Du nicht gehen Traumschule mehr? Wo Gitarre?» Innerhalb von einem Monat waren sie verheiratet. Das Gelübde war buddhistisch, die Feier jedoch folgte ganz dem westlichen Stil. Elvisuit sang, und er sang wunderschön, obwohl mitten in der Trauung zweimal sein Beeper losging und er gleich im Anschluss an die Zeremonie zum nächsten Auftritt rauschte. Das frisch verheiratete Paar zog nach Nakhon Pathom, unweit der Universität, doch es vergingen keine drei Monate, bis die Braut ein Studentenvisum für Amerika erhielt und sie im Flugzeug nach Colorado saßen – Mr. und Mrs. Pepe Gazeau –, wo sie am Naropa Institute die Schriften Allen Ginsbergs studieren wollte. Schockiert vom Niedergang der Freiheit in den Vereinigten Staaten und der allgegenwärtigen Ausbreitung der Werbung während seiner Abwesenheit, fiel es Dickie einigermaßen schwer, sich wieder einzuleben. Doch sosehr er Fan Nan Nan auch vermisste, er empfand weder Groll noch Bedauern. Dank des Rubinverkaufs führte er ein einigermaßen behagliches 274
Leben mit Miss Sweetie Ginger in Boulder. Da ihm klar war, welche Folgen es haben könnte, wenn er Kontakt zu seiner Familie aufnahm oder alten Freunden über den Weg lief, verhielt er sich so unauffällig wie möglich und kritzelte nur hin und wieder Stubblefield zu Ehren mit einem Filzmarker LÜGE! über die Reklamewände für «sonnengereifte Tomaten» überall in der Stadt. Bis zum Augenblick, da ich dies niederschreibe, wurde er noch nicht geschnappt. Darüber zu spekulieren, wie oft und mit welchen Empfindungen er an Lisa Ko dachte, ist müßig, doch wir können sicher sein, dass er in manch stillem Augenblick darüber nachsann, was Stubblefield wohl gemeint hatte, als er von «Lisas magischer Krankheit» sprach. Und was die Gitarren betrifft, so kaufte sich Dickie eine neue Martin D-28, diesmal eine echte. Und endlich schrieb er auch den Text für seinen Song zu Ende. Just because you’re naked Doesn’t mean you’re sexy, Just because you’re cynical Doesn’t mean you’re cool. You may tell the greatest lies And wear a brilliant disguise But you can’t escape the eyes Of the one who sees right through you. In the end what will prevail Is your passion not your tale, For love is the Holy Grail, Even in Cognito.
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So better listen to me, sister, And pay close attention, mister: It’s very good to play the game, Amuse the gods, avoid the pain, But don’t trust fortune, don’t trust fame, Your real self doesn’t know your name And in that we’re all the same: We’re all incognito.
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EPILOG II Klopf! Klopf! «Wer da?» «Ich bin’s. Persönlich.» «Was? Tanuki? Bist du es? Komm rein – wenn du kannst. Meine Höhle sieht aus, als wäre ein Taifun hindurchgefegt. Selbst der Gott der Junggesellenbuden wäre sprachlos, wenn er dieses Durcheinander sehen könnte.» Kitsune beobachtete, wie Tanuki hereinwatschelte. «Du bist es tatsächlich. Wo hast du gesteckt, alter Schlawiner, und wie ist es dir ergangen?» «Ach, du weißt schon. Genauso wie dir.» «Ja, ich weiß.» Kitsune seufzte. «Diese verdammten Menschen. Aber vielleicht brauchen wir uns bald keine Sorgen mehr über sie zu machen. Sie scheinen mehr denn je entschlossen, Massenselbstmord zu begehen.» «Ja, Harakiri. Bloß nennen sie es nicht so.» «Natürlich nicht. Sie nennen es Fortschritt. Sie nennen es Wachstum. Sie nennen es nationale Sicherheit und Energiepolitik und geben ihm alle möglichen verrückten Namen, aber sowohl die Motive als auch die Folgen sind dieselben. Die gute Neuigkeit ist, dass sie anfangen, die Kunst der speziesweiten Kommunikation wieder neu zu erlernen. Ich meine, sie benutzen Maschinen, die sie Computer nennen, und das ‹World Wide Web›, aber …» «Es führt geradewegs zurück zu den animalischen Ahnen. Vermutlich haben sie vergessen, wie es geht, als sie vergaßen, dass sie Tiere sind.» Der Fuchs nickte. «All diese wunderbare Technik in den Klauen einer Primatenbande, die in ihrer emotionalen Entwicklung kaum über das Niveau von Pavianen hinausgekommen ist. Sie sind 277
Schimpansen mit Bulldozern, Affen mit Bomben. Eine gefährliche Situation, aber das ist okay: Gefahr ist das Parfum der Veränderung und Veränderung der Auftrag der Zukunft. Es gibt noch Hoffnung für uns in diesem Bereich. Unterdessen geht es deinem Clan besser als den meisten anderen. Viel besser. Stell dir vor, dein Ruhm ist bis nach Amerika vorgedrungen!» «Ha!», schnaubte Tanuki. «Leg noch zweitausend Yen drauf, und du kannst dir einen Becher Sake davon kaufen.» «Oh, tut mir leid, ich bin wirklich ein schrecklicher Gastgeber! Aber ich schwöre, ich habe keinen Tropfen Alkohol im Haus. Alles, was ich dir anbieten kann, ist ein Rest Eule von gestern, fürchte ich.» Dem ewig hungrigen Dachs/Hund/Waschbär lief die Spucke im Mund zusammen wie das Wasser im Abfluss einer Dusche. Trotzdem sagte er: «Mach dir keine Umstände. Ich muss sowieso los. Ich bin auf dem Sprung zu einem Rendezvous.» «Ah so! Ja, ja. Du hast eine Verabredung. Ich weiß. Immer noch dasselbe, was? Deine größte Spinnerei – oder dein größter Triumph. Die Zeit wird es ans Licht bringen, wie die Menschen immer sagen.» Tanuki schnaubte erneut. «Die Zeit hat ein großes Mundwerk und ein kleines Hirn.» «Du sagst es», antwortete Kitsune. «Genau so ist es.» Gemeinsam kicherten sie über die diversen Missverständnisse im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeit. Dann sagte der Fuchs: «Okay, du bist Tanuki und wirst tun, was du zu tun hast. Aber ich will dir was sagen, ich denke an Miho und die kleine Kazu immer noch mit einer gewissen Zärtlichkeit zurück.» Er versetzte seinem Gast einen Stups mit der Schnauze. «Komm, ich begleite dich nach draußen. Wenn du das nächste Mal kommst, habe ich auch eine Flasche für dich besorgt. Und wir können etwas Produktiveres tun, als über die Menschen zu jammern. Wir sollten wirklich dem Vorbild der Götter folgen 278
und sie einfach ignorieren, bis sie zur Vernunft kommen.» Tanuki wollte schon antworten, dass es ganz einfach sei, die Menschheit zu ignorieren, wenn man sich in der Wolkenfestung oder in der Anderen Welt befand, doch dann fiel ihm plötzlich auf, was für ein herrlicher Tag es in dieser Welt war, und vor lauter Freude blieben ihm die Worte im Hals stecken. Überall in der Lichtung hatte das vertrocknete Gras praktisch dieselbe goldene Färbung angenommen wie die Sonne. Späte Kunden umlagerten die Pollensalons, und jeder zweite Blütenkopf beugte sich unter der Last der Bienen. Eine Brise mit höchstens ein oder zwei Kalorien Restwärme strich den Berghang hinab, als wollte sie noch ein letztes Mal in den Biwa-See tauchen. Die Zweige, vom nächtelangen Vorspiel bereits wund gerieben, erwarteten die transformative Ejakulation des Frosts. Jedes einzelne Blatt war hellwach. Die Luft roch nach fallenden Früchten und faulenden Pilzen. Kühl war sie jetzt, im historischen Hochbetrieb des Herbstes, und ein Krähenschwarm flatterte vorbei und ärgerte alles und jeden mit seinen unergründlichen Koans. Ein lebendiger Halbkreis aus glänzendem Ebenholz, der der Welt im Flug einen falschen Schnurrbart verpasste. «Wenn der Sommer in den Herbst übergeht», sagte Tanuki, «kriege ich unweigerlich Lust, mich zu … zu wälzen.» Damit schlug er sich auf den Bauch, sodass sein mächtiges Gehänge erzitterte, legte sich ins Gras und wälzte sich. «Ich weiß, was du meinst», sagte Kitsune. «Obwohl wir Füchse etwas diskreter sind. Das ist die einzige Zeit, die die Menschen je ernst nehmen mussten, weißt du. Den Wechsel der Jahreszeiten.» Dann ließ er sich lachend ins Gras fallen und wälzte sich wie sein Freund. Was meinen Sie: Könnte es sein, dass Bootsey trotz ihrer ungeschickten Ausdrucksweise von Anfang an auf der richtigen Spur war? 279
DANKSAGUNG Ich ziehe den hutlosen Hut vor James Gierman, der Südostasien ebenso liebt wie ich, William Crowell, der meine Faszination für Tanukis teilt, dem Zenmeister Rudolpho (möge er sein, was er nicht ist); meiner «trägen, diamantgeschmückten Gehilfin» Barbara Barker; meiner geschätzten Agentin Phoebe Larmore (und auch ihrem bösen Zwilling Skippy); meiner Lektorin Danielle Perez mit einem Kofferraum voller Schokolade; meiner Korrektorin Danelle McCafferty (die weiß, wohin die Gänse fliegen) und schließlich, vor dem Paten persönlich, meinem furchtlosen und stets geistreichen langjährigen Verleger Irwyn Applebaum. Bien joué! T. R.
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